Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland: Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat [1 ed.] 9783428503810, 9783428103812

Krisen und Forderungen nach Reform haben die Geschichte der deutschen Rentenversicherung seit ihrer Entstehung vor über

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Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland: Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat [1 ed.]
 9783428503810, 9783428103812

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 141

Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland

Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat

herausgegeben von

Stefan Fisch und Ulrike Haerendel

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland : Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat / Hrsg.: Stefan Fisch; Ulrike Haerendel. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer ; Bd. 141) ISBN 3-428-10381-5

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-10381-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

e

Inhalt Stefan Fisch/ Ulrike Haerendel

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Sektion I: Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Rentenversicherung Gerhard A. Ritter

Einführung ............................................................................

25

Florian Tennstedt

Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Sicherung gewerblicher Arbeiter gegen Alter und Invalidität: Anstöße. Initiativen und Widerstände im Regierungslager und im Parlament zwischen dem Gründungsjahr der politischen Arbeiterbewegung (1863) und der Kaiserlichen Sozialbotschaft (1881) ............................

31

Ulrike Haerendel

Regierungen. Reichstag und Rentenversicherung. Der Gesetzgebungsprozeß zwischen 1887 und 1889 ......................................................................

49

Jens Flemming

Sozialpolitik. landwirtschaftliche Interessen und Mobilisierungsversuche. Agrarkonservative Positionen im Entstehungsprozeß der Rentenversicherung....................

71

Wilfried Rudloff

Politikberater und opinion-Ieader? Der Einfluß von Staatswissenschaftlern und Versicherungsexperten auf die Entstehung der Invaliditäts- und Altersversicherung. . . . . .

93

Sektion ll: Systemelemente und gesellschaftlicher Wandel Stefan Fisch

Einführung ............................................................................ 123 Lars Kaschke

Eine versöhnende und beruhigende Wirkung? Zur Funktion der Rentenverfahren in der Invaliditäts- und Altersversicherung im Kaiserreich ................................. 127

Inhalt

6 Philip Manow

Kapitaldeckung oder Umlage: Zur Geschichte einer anhaltenden Debatte .............. 145 Diether Döring

Grundlinien der langfristigen Systementwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung - Personenkreis. Rentenformel. Finanzierung - ...................................... 169 Marlene Ellerkamp

Die Frage der Witwen und Waisen. Vorläufiger Ausschluß aus dem Rentensystem und graduelle Inklusion (1889-1911) ................................................... 189 Heinz-Dietrich Steinmeyer

Das Verhältnis der Selbständigen zur staatlichen Versicherung und die Rolle privater Vorsorge (vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik) ............................... 209

Sektionill: Deutsche Rentenversicherung im internationalen und intersektoralen Vergleich Hans Günter Hockerts

Einführung ............................................................................ 227 Peter Hennock

Die Anfänge von staatlicher Alters- und Invaliditätsversicherung. Ein deutsch-englischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 231 Karl Christian Führer

Untergang und Neuanfang. Die Rentenversicherungen für Arbeiter und für Angestellte im Jahrzehnt der ..Großen Inflation" 1914-1924. Ein Vergleich ..................... 247 Martin H. Geyer

Von Europa lernen. Die amerikanische Altersversicherung und die Rezeption der europäischen Reformdebatten in den dreißiger Jahren.................................... 271 Dierk Hoffmann

Sozialistische Rentenreform? Die Debatte über die Verbesserung der Altersversorgung in der DDR 1956/57 ................................................................ 293

Inhalt

7

Sektion IV: Gegenwartsprobleme und Zukunftsperspektiven Jürgen Kohl

Einführung ............................................................................ 313 Detlel Merten

Rentenversicherung und deutsche Wiedervereinigung .................................. 317 Gisela Färber

Zur Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung 333 Win/ried Schmähl

Entwicklungstendenzen der deutschen Alterssicherung im internationalen Vergleich. Jüngere Erfahrungen und Perspektiven für die Zukunft.............................. 351

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................ 369 Verzeichnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Forschungsseminar vom 14. bis 16. 10. 1998 in Speyer ...................................................... 374

Abkürzungen AAÜG AfA-Bund AfS AHV AN AV AWI BArch BB BdL BGB BGBl. BGHZ BR-Drucks. BSGE BT-Drucks. BVerfGE CEH CES c.p. DAF DGB DHV DHW DIHT DNVP DVA EV FDGB GG

GuG

GK

GRV GStA HGB

= Anwartschaftsüberführungsgesetz = = = = = =

Allgemeiner freier Angestelltenbund Archiv für Sozialgeschichte Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung (Schweiz) Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes Arbeiter-Versorgung Arbeitswissenschaftliches Institut der Deutschen Arbeitsfront

= Bundesarchiv (Berlin) = Betriebsberater = Bund der Landwirte = Bürgerliches Gesetzbuch = Bundesgesetzblatt = Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen = Bundesratsdrucksache

= Entscheidungen des Bundessozialgerichts

= Bundestagsdrucksache = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts = Central European History

= Committee on Economic Security

= ceteris paribus = Deutsche Arbeitsfront = Deutscher Gewerkschaftsbund = Deutschnationaler Handlungsgehilfen-Verband = Deutsche Handels-Wacht

= Deutscher Industrie- und Handelstag = Deutschnationale Volkspartei = Deutsche Versicherungsanstalt = Einigungsvertrag = Freier Deutscher Gewerkschaftsbund = Grundgesetz Geschichte und Gesellschaft = Gesetzliche Krankenversicherung = Gesetzliche Rentenversicherung = Geheimes Staatsarchiv = Handelsgesetzbuch

=

Abkürzungen HStA

Hauptstaatsarchiv

HwVG

= Handwerkerversicherungsgesetz

HZ

= Historische Zeitschrift

IAV IAVG IVG KrZtg KVLG LP LVA

M MdR

= Invaliditäts- und Altersversicherung = Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz (1889) = Invalidenversicherungsgesetz (1899) = Kreuzzeitung

= Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte

= Legislaturperiode = Landesversicherungsanstalt = Mark

= Mitglied des Reichstags

RfA

= Nachlaß = Neue Zeitschrift für Sozialrecht = Politische Vierteljahresschrift = Recht der Arbeit = Reichsversicherungsanstalt für Angestellte

RGBl.

= Reichsgesetzblatt

NL NZS PVS

RdA

RVA RVO SAPMO SERPS SGB Soz Sich SPr SVAG TVG VDR VGfA VSWG

= Reichsversicherungsamt = Reichsversicherungsordnung = Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv

= State Earnings-Related Pension Scheme = Sozialgesetzbuch

= Soziale Sicherheit

= Soziale Praxis = Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz = Tarifvertragsgesetz

= Verband Deutscher Rentenversicherungsträger

= Versicherungsgesetz für Angestellte = Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

WiGBl.

= Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes

WP

= Wahlperiode

ZfG ZK

= Zentralkomitee (der SED)

ZSR

9

= Zeitschrift für Geschichtswissenschaft = Zeitschrift für Sozialreform

Einleitung Wenn gegenwärtig Krise und Reformbedürftigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland für gesellschaftlichen Zündstoff und intensive Fachdiskussion 1 sorgen, so darf man nicht vergessen, daß solche Debatten die Geschichte dieser Institution von Anfang an begleitet haben. Arbeiterversammlungen, Petitionen, wissenschaftliche Traktate, Streitgespräche zwischen Experten und Zeitungsartikel belegen das breite Spektrum an Meinungsäußerungen, das die Vorgeschichte und den Entstehungsprozeß des "Gründungsgesetzes" (Diether Döring) der Rentenversicherung von 1889 mitprägte. Regierung und Parlament handelten schon damals nicht in einem abgeschlossenen Raum; sie spürten den Druck, der von der Altersproblematik selbst und ihrer Wahrnehmung bei Wissenschaftlern, Publizisten und Betroffenen ausging. Seit die berühmte Kaiserliche Botschaft Wilhelms I. im Jahre 1881 denjenigen, "welche durch Alter und Invalidität erwerbsunfähig werden, [ ... ] ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zuteil werden können", versprochen hatte, war die Politik zudem gegenüber der Öffentlichkeit im Wort2 • Die Reichsleitung ließ sich dennoch einige Jahre Zeit mit der Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfs, weil ihre Aufmerksamkeit zunächst von der ebenfalls zu schaffenden Kranken- und Unfallversicherung absorbiert war. Auch wenn diese Versicherungen nach dem Prinzip der beitragsfundierten Pflichtversicherung organisiert wurden, gab es doch für die konkrete Ausgestaltung der Altersversicherung noch erhebliche Spielräume, die von der öffentlichen Diskussion zur Einbringung von Vorschlägen genutzt wurden. So war es zweifelsohne dem Einfluß von Expertenmeinungen zu verdanken, daß Bundesrat und Reichstag sich gegen die Regierungspläne zu einer Einheitsrente wandten und um eine "Individualisierung" des Rentenkonzepts bemühten und auf diesem Wege schließlich dazu kamen, Beiträge wie Leistungen nach Lohnklassen abzustufen3 . Das ist nur ein Beispiel für die vielfältigen Einflüsse, die auf die Altersversicherungspolitik einwirkten, im Stadium der Genese des Gesetzes oder später bei seiner Umsetzung. Es ist ein Grundanliegen dieses Bandes, politische Prozesse nicht 1 Vgl. statt vieler zuletzt die beiden Beiträge von Franz Ruland, Die Rentenversicherung in Deutschland im Zeichen der Jahrhundertwende, und Winfried Schmähl, Alterssicherung in Deutschland an der Iahrtausendwende - Konzeptionen, Maßnahmen und Wirkungen, in: Deutsche Rentenversicherung, H. 1- 2 (2000), S. 23 - 49 und 50 - 71. 2 Vgl. Eckart Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und theoretische Analyse von den Ursprüngen bis 1918, Opladen 1996, S. 229. 3 Vgl. dazu die Beiträge von Haerendel, S. 61-63, und Rudloff, S. 114f.

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Einleitung

als unabhängige Funktion, sondern im Gegenteil in ihren Wechselbeziehungen zu ihrer Umwelt zu betrachten. Dabei ist besonders die Reziprozität dieses Verhältnisses hervorzuheben: So haben sozialkulturelle oder ökonomische Faktoren auf der einen Seite die Politikformulierung und -umsetzung beeinflußt, auf der anderen Seite wirkten die fortschreitende Rechtsetzung und vor allem die Verwaltungspraxis auf die Gesellschaft zurück. Um die Darstellung der Altersversicherung in diesem Band nicht einseitig auf ihre im engeren Sinn politische Geschichte zu beschränken, war es uns ein Anliegen, nicht nur die Kompetenz von Sozialhistorikern, sondern darüber hinaus auch die von sozialwissenschaftlich Arbeitenden aus anderen Fachrichtungen, vor allem aus Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaft, heranzuziehen. Für alle Beiträge des Bandes läßt sich somit sagen, daß sie sich innerhalb des Kräftedreiecks von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik/Verwaltung bewegen, keiner ist nur auf die Ebene politischer Verhandlungen konzentriert oder läßt die ökonomische Dimension völlig außer acht. Natürlich neigen die einzelnen Beiträge mehr dem einen oder anderen dieser Pole zu und müssen bewußt ausblenden oder vernachlässigen, was in dem gegebenen Rahmen von etwa 15 Druckseiten keinen Platz mehr finden konnte. Wir glauben, daß der Leser anerkennt, daß auf derart beschränktem Raum eine Auswahl getroffen werden muß und die damit einhergehende Chance zu thematischer Konzentration und Knappheit eher als Gewinn empfindet. Stellvertretend für alle unsere Autoren bitten wir um Verständnis für deren Knappheit und setzen zugleich auf gewisse Kompensationswirkungen durch den Band als Ganzes - in der Hoffnung, daß das, was man an einer Stelle vermissen mag, an anderer wiedergutgemacht wird. Allerdings ist uns bewußt, daß im ganzen eine Dimension leider doch zu kurz kommt, der wir - nicht nur aufgrund eines boomenden Forschungsinteresses gerne mehr Raum gegeben hätten: die Geschlechterdifferenz. Ein Beitrag dazu in der letzten Sektion mit dem Arbeitstitel "Benachteiligung von Frauen in der Rentenversicherung und Ansätze zu ihrer Behebung" ist aufgrund von Arbeitsüberlastung der Autorin nicht geschrieben worden. Diese Lücke ist um so bedauerlicher, als die Debatte über einkommensunabhängige und familienbezogene Leistungen in der Rentenversicherung noch keineswegs zum Abschluß gekommen ist. Das Thema wird allerdings auch bei uns nicht vollkommen vernachlässigt, weil der Aufsatz von Gisela Färber dazu einen Diskussionsbeitrag liefert. Ist die Querschnittsperspektive der Beiträge also durch die Achsen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik/Verwaltung bestimmt, so bildet für den längsschnittartigen Blick, d. h. den historisch-genetischen Ablauf, das Verhältnis von Kontinuität und Reform gleichsam den "roten Faden". Auch für diese Fragerichtung läßt sich konstatieren, daß die Beiträge je nach ihrem Untersuchungsgegenstand mehr die eine oder die andere Seite "stark machen". Dabei ist uns als Herausgebern deutlich geworden, daß die gerade in der neueren Forschung oft vertretene ,Pfadabhängigkeit' der deutschen Sozialversicherung doch nicht überbetont werden

Einleitung

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sollte4 . Dieses Konzept verführt dazu, vom Ergebnis und damit von der Gegenwart her zu denken und an der heutigen Rentenversicherung vor allem wahrzunehmen, daß sie den Strukturen der "Invaliditäts- und Altersversicherung" von 1889 treu geblieben ist, in ihrer Organisation, in ihrer Ausrichtung am Versicherungsprinzip und in ihrer Anknüpfung an abhängige Erwerbstätigkeit. In geschichtlicher Betrachtungsweise aber ist auch zu fragen, was in den vor der Gegenwart liegenden mehr als hundert Jahren geschehen ist: Welchen Herausforderungen von außen mußte sich die Rentenversicherung stellen, welche Kräfte versuchten, sie - erfolgreich oder nicht - von ihrem ,Pfad' abzubringen, welche alternativen Wege eröffneten sich und welche Abweichungen vom ,Pfad' traten tatsächlich ein5 ? Mit einer solchen Perspektive öffnet sich der Blick für Bedeutung und Reichweite von Refonnen. Ein Beispiel möge das deutlich machen: Es läßt sich durchaus mit ,Pfadabhängigkeit' erklären, daß unsere Altersversicherung noch immer auf einer ,logic of welfare' beruht, die auf den ,male breadwinner' konzentriert ist, auch wenn der bundesdeutschen Realität von heute "ein lebenslanges Nonnalarbeitsverhältnis für Männer und die Hausfrauenehe" vielfach nicht mehr entsprechen6 • Mit der Abhängigkeit von einem ,Pfad' ist jedoch nicht zu erklären, wieso seit der Rentenrefonn von 1957 aus Renten, die ursprünglich den Unterhalt im Alter nur erleichtern, nicht aber vollständig decken sollten und die noch bis in die 1950er Jahre oftmals nicht zum Leben ausreichten, Lohnersatzleistungen wurden mit dem Ziel, den erworbenen Lebensstandard zu sichern. Wäre der subsidiäre Charakter der Altersrenten erhalten geblieben und der in den sozialpolitischen Auseinandersetzungen der Bismarck-Zeit begründete ,Pfad' konsequent weiter beschritten worden, so hätte die Rentenversicherung heute kaum mit ihren immensen Finanzierungsproblemen zu kämpfen. Auch Christoph Conrad als Vertreter der ,path dependency'-These mußte deshalb konzedieren, daß die "Koppelung der Renten [ ... ] an das Wachstum der Erwerbseinkommen in der Bundesrepublik [ ... ] durchaus als Überwindung, auf jeden Fall als durchgreifende Weiterentwick4 Aus der Literatur zum Pfadabhängigkeitsmodell seien hier zwei neuere Studien genannt, die pro und contra reflektieren. Kritisch, vor allem gegenüber der mangelnden Historizität dieses Ansatzes, ist eingestellt Jens Borchert, Ausgetretene Pfade? Zur Statik und Dynamik wohlfahrtsstaatlicher Regime, in: Stephan Lessenich/I1ona Ostner (Hrsg.), Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive, Frankfurt/New York 1998, S. 137 -176; für das Modell tritt, wenn auch nicht undifferenziert, dagegen ein Christoph Conrad, Alterssicherung, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S.101-116. 5 Vgl. Borchert, Ausgetretene Pfade, bes. S. 172, der in einer derartigen genuin historischen Betrachtungsweise vor allem den "Wandel" für eine unverzichtbare Kategorie hält. 6 Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt a.M. 1997, S. 170. - Zum Problem der Diskriminierung weiblicher Lebensläufe im deutschen Rentensystem gibt es mittlerweile nicht wenig Literatur, vgl. z. B. Jutta Allmendinger / Hannah Brückner / Erika Brückner, The Production of Gender Disparities over the Life Course and Their Effects in Old Age - Results from the West German Life History Study, in: A.B. Atkinson/Martin Rein (Hrsg.), Age, Work and Social Security, New York 1993, S. 187 -223.

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Einleitung

lung des institutionellen Erbes des Kaiserreichs angesehen werden" kann 7 • Zu erklären ist dieser Schritt nur aus der spezifischen Umbruchsituation der Nachkriegsjahre, in der die Sozialpolitik eng mit dem wirtschaftlichen Wiederaufstieg verknüpft wurde und einen Beitrag zur Legitimation der jungen Bundesrepublik leisten sollteS. Selbst wenn Elemente der Kontinuität die Beharrungskräfte einmal verfestigter Bestände der sozialpolitischen Institutionen zu bestätigen scheinen, ist ein zweiter Blick angebracht. So zeigt Diether Döring in seinem Beitrag, daß zwar der frühere Reichszuschuß als Bundeszuschuß auch nach 1945 in der gesetzlichen Rentenversicherung weiterlebte, seine klar definierte Funktion, die Sicherung der Sockelbeträge der Renten, aber verlor und statt dessen als Manövriermasse eingesetzt wurde, um nicht beitragsgedeckte allgemeine sozialpolitische Aufgaben in der Rentenversicherung zu bewältigen. Döring sieht demzufolge auch, im Gegensatz zu den Vertretern der ,Pfadabhängigkeit', im Reformwerk von 1956/57 eine ,,radikale Veränderung des alten Systems", wenn nicht sogar ein "neues" Rentensystem begründet9 . Wenn heute die Rentenversicherung in ihrer bisherigen Form zur Disposition steht und über eine grundlegende Reform diskutiert wird, so kann man feststellen, daß viele der jetzt kursierenden Vorschläge ähnlich schon in der Entstehungsphase in der Diskussion waren, durch die Grundsatzentscheidungen der 1880er Jahre aber zunächst auf einen Platz ,neben' dem damals eingeschlagenen ,Pfad' verwiesen wurden: Bismarcks Pläne zu einer steuerfinanzierten Staatsbürgerversorgung gehören dazu oder die vom Reichsamt des Innern zunächst vorgesehenen Einheitsrenten. Erst das 1889 parlamentarisch verabschiedete und 1891 in Kraft getretene "Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung" mit seiner Staffelung von Beiträgen und Leistungen nach Lohnklassen wurde schließlich ,pfadbegründend '. Der lange Gang durch die Geschichte macht aber augenscheinlich, daß auch die nicht zum Tragen gekommenen Alternativen eine erhebliche Rolle für die Weiterentwicklung spielen, weil sie als Optionen latent bleiben und in kritischen Momenten der Entwicklung neu diskutiert werden 10. So kam es auch in der Geschichte der Rentenversicherung immer wieder zu "prinzipiell offenen,,1I Conrad, Alterssicherung, S. 113. Dazu ausführlich Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980. 9 Wenn nichts anderes vermerkt ist, beziehen sich Zitate von Autoren dieses Bandes im folgenden immer auf TextsteIlen aus ihrem Beitrag, die nicht noch einmal nachgewiesen werden. 10 Zur Bedeutung der "critical junctures" - "oft krisenhaften Phasen der Neuorientierung, in denen verschiedene Entwicklungsszenarien denkbar erscheinen und die Weichen für zukünftige Entwicklungen gestellt werden" - vgl. Borchert, Ausgetretene Pfade, S. 150. 11 Auch Christoph Conrad betont diese Offenheit der jeweiligen Situation; "Pfadabhängigkeit" sei "ein genuin historisches Konzept", das sich erst in der TÜckschauenden Betrachtung anböte; Conrad, Alterssicherung, S. 110 f. 7

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Einleitung

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Entscheidungssituationen, bei denen niemand vorhersagen konnte, ob die alte Linie sich durchsetzen oder ein neuer Weg eingeschlagen würde. Das galt in ähnlicher Weise etwa beim Machtantritt der Nationalsozialisten, die sich dann schon im Dezember 1933 - zumindest nach außen - für eine Politik der Systemerhaltung entschieden, oder nach dem Zusammenbruch 1945. Damals wurde in der SBZ/ DDR und zunächst ganz Berlin erstmals in Deutschland das Prinzip der Einheitsversicherung für alle Versichertengruppen nicht nur theoretisch diskutiert, sondern auch praktisch umgesetzt, und auch in den westlichen Besatzungszonen und später der Bundesrepublik war die bruchlose Anknüpfung an das alte System nicht selbstverständlich. Der Streit um die "Versicherungsanstalt Berlin", die in den drei westlichen Sektoren der Stadt schließlich im Jahre 1953 aufgelöst wurde, gibt "ein Beispiel dafür, daß gegen bereits erfolgte Systemveränderungen der ,lange Pfad' wieder durchgesetzt wurde,,12. Auf der anderen Seite muß man sehen, daß die Geschichte der deutschen Rentenversicherung nicht gleichsam "aus dem Stand" in den 1880er Jahren beginnt und dann eine völlig neue Tradition begründet, sondern ihre Wurzeln und Prägungen schon deutlich früher zu suchen sind. In der ersten Sektion wird diese "Vorund Frühgeschichte" der gesetzlichen Rentenversicherung auf zwei Ebenen behandelt. Zum einen zeigt Florian Tennstedt die institutionellen Vorläufer auf und zeichnet die praktischen politischen Versuche nach, eine staatliche Versicherung aufzubauen. Zum anderen tastet Wilfried Rudloff das Ideenreservoir im wissenschaftlichen Umfeld der neuen sozialpolitischen Institution ab, in dem der Gedanke der Versicherung schon lange vor seiner Realisierung greifbar wird. Aus bei den Beiträgen wird deutlich, daß einige Schlachten längst schon geschlagen waren, als die sog. "Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter" von 1887 die eigentliche Gesetzgebungsphase eröffneten. Der staatliche Zwang, sich zu versichern, stand zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Frage, während er in den 1870er Jahren die Diskussionen noch zu einem guten Teil bestimmt hatte. Ähnlich hatten die Kranken- und die Unfallversicherung das Beitragsprinzip gegenüber der Finanzierung aus allgemeinen Steuermitteln bereits erfolgreich etabliert - und man mußte schon von der Hartnäckigkeit eines Bismarck sein, um daran noch rütteln zu wollen. Er rüttelte zwar, aber bewegte nichts mehr: Es ist erstaunlich, wie wenig Bismarck in diesen letzten Jahren seiner Regierung auf die Geburt der Altersversicherung Einfluß nahm, obwohl doch die Initiierung des Projekts staatlicher Sozialversicherung an sich so stark auf ihn zurückging. Ulrike Haerendel zeigt in ihrem Beitrag, daß bei der konkreten Ausgestaltung der Invaliden- und Altersversicherung nunmehr Bundesrat und Reichstag die politische Linie maßgeblich bestimmten. Mit ihnen mußte die Verwaltung um ihre Konzepte kämpfen, während der Reichskanzler auf seiner Idee der steuerfinanzierten Staatsbürgerversorgung gleichsam sitzenblieb. Zu den schwierigsten Verhandlungspartnern im Reichstag gehörten die Konservativen, mit deren agrarischer Fraktion sich der Aufsatz von 12

Ebenda, S. 111; vgl. auch den Beitrag von Phi1ip Manow in diesem Band.

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Einleitung

Jens Flemming beschäftigt. Nicht nur lehnten etliche Agrarier das vom Reichsamt des Innern entworfene Konzept ab, sondern einige von ihnen waren auch dezidierte Gegner der Versicherungsidee an sich. Zu Recht konstatierten sie, daß die staatliche Versicherung mit der überkommenen ländlichen Verfassung in den östlichen Provinzen des Reichs brechen sollte, indem an die Stelle von patriarchalischer Fürsorge und persönlicher Abhängigkeit Beitragszahlungen und Rechtsansprüche treten sollten. Allerdings funktionierten die von den Agrariern so hoch gepriesenen ländlichen Klientelbeziehungen längst nicht immer in der von ihnen idealisierten Weise, und häufig vermochten sie die ältere Bevölkerung auf dem Land nicht vor Armut zu bewahren.

Demgegenüber orientierte sich die deutsche Sozialversicherung von Anfang an vornehmlich an der Industriearbeiterschaft und nahm vor allem deren spezifische Probleme in den Blick. Bestätigt wird dieser Eindruck, wenn man einen vergleichenden Blick auf das Ausland wirft. Der Beitrag von Peter Hennock leistet das für Großbritannien. Er zeigt, daß vor allem die Probleme des britischen Armenwesens, und ganz besonders auf dem Lande, den Anstoß zur Schaffung eines Altersrentensystems lieferten, das im "Old Age Pensions Act" von 1908 - fast zwanzig Jahre nach dem entsprechenden deutschen Gesetz - etabliert wurde. Wegen dieser andersartigen Gründungskonstellation versuchte man in Großbritannien sehr viel mehr als in Deutschland, die Empfänger von Renten auf diese Weise von der Armenpflege fernzuhalten. In Deutschland dagegen blieben in der Tat viele Bezieher der neuen Renten dennoch weiter auf öffentliche Unterstützung angewiesen, wenn sie nicht andere Einkommensquellen hatten, die ihre bescheidenen Altersrenten ergänzen konnten 13. Trotz dieser Einschränkung in materieller Hinsicht sollte man die Tatsache nicht unterschätzen, daß ein völlig neues Prinzip sozialer Sicherheit die Wirkungen der Rentenversicherung im Verein mit Kranken- und Unfallversicherung kennzeichnete: Der Staat trat in die Verantwortung für soziale Risiken, denen seine Bürger ausgesetzt sind, und er tat das nicht für ausgewählte Gruppen, sondern für die Mehrheit der Bevölkerung (wenn auch nicht die Gesamtheit) 14. Erstmals hatte durch die "Invaliditäts- und Altersversicherung" jeder Arbeiter einen von seiner Bedürfnislage unabhängigen Rechtsanspruch auf eine regelmäßige Rente für sein Alter oder seine möglicherweise schon vorhergehende Erwerbsunfähigkeit. Um diesen Rechtsanspruch zu erwerben, mußten die Arbeiter und ihre Arbeitgeber Beiträge entrichten, die auf den Lohn bezogen waren. Die Grundrichtung des 13 Vgl. Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, S. 292-306. 14 Die Schaffung der Sozialversicherung, die Deutschland zum "PionierJand in der Entwicklung eines modemen Systems der sozialen Sicherheit" machte, ist vielfach behandelt worden. Weil ein großer Teil dieser Literatur in den Aufsätzen genannt ist, beschränken wir uns hier auf eine neuere Studie statt vieler: Gerhard A. Ritter, Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. JaJrrhunderts (= Otto-von-Freising-VorJesungen der Katholischen Universität Eichstätt, Bd. 16), Opladen 1998, S. 27 - 52, hier 28.

Einleitung

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neuen ,Pfades' war damit vorgegeben, sein tatsächlicher Verlauf, seine Erweiterungen und Verengungen freilich noch nicht. Die Ausgestaltung des neuen Weges ließ sich gesetzlich gar nicht im einzelnen vorherbestimmen, denn sie war auch eine Frage des konkreten Gesetzesvollzugs und lag damit vornehmlich in den Händen der Verwaltung, aber auch ihrer Klientel. Der Beitrag von Lars Kaschke, der die zweite Sektion über "Systemelemente und gesellschaftlichen Wandel" einleitet, hebt die praktische Rolle der Versicherten als Antragsteller hervor. Die Verwaltungsbehörden und die neuen Landesversicherungsanstalten wandten offenbar überwiegend ein pragmatisches Verfahren zur Feststellung der Erwerbsunfahigkeit an, das sich nicht so sehr an den (komplizierten) Buchstaben des Gesetzes als vielmehr an den individuellen ärztlichen Gutachten orientierte und damit letztlich den Versicherten zugute kam. Die Versicherten ihrerseits lernten aus der fortschreitenden Praxis und entwickelten die Techniken, erfolgreich eine Rente zu beantragen, mit der Zeit weiter. Auf diese Weise wurde die vom Gesetzgeber geschaffene Form der Rentenversicherung in der Praxis nicht nur ausgefüllt, sondern auch in kleinen Schritten verändert. Der Reformprozeß war in diesem Fall sachte und dehnte sich über einen längeren Zeitraum; er wurde von unten angestoßen und nicht von einem Entscheidungsträger oben bewußt herbeigeführt. Die Beiträge der zweiten und dritten Sektion liefern jedoch vor allem Beispiele für andere Typen von Reform und Veränderung, die im folgenden kurz charakterisiert werden sollen. Das Gegenbild einer ,Reform von oben' gibt Marlene Ellerkamp, wenn sie in ihrem Beitrag die lange verzögerte Ausdehnung der sozialen Absicherung auf Hinterbliebene beschreibt. Erst nach der Jahrhundertwende, als eine solche erweiterte Versicherung aus einer unverbindlichen sozialpolitischen "Wunschvorstellung" zu einem strategischen wahl- und steuerpolitischen Ziel der Zentrumspartei wurde, setzte sie sich durch. Soziale Notstände hatten die Lage vieler Arbeiterwitwen auch schon im Entstehungsprozeß der ursprünglichen Rentengesetzgebung gekennzeichnet, sie hatten aber noch keine ausreichende politische Durchschlagskraft entfalten können, und die Bekämpfung dieses Problems hatte noch keinen besonderen Vorrang. Auch der Beitrag von Dierk Hoffmann behandelt eine von oben initiierte Reform, wenngleich sie letztlich gescheitert ist. Beim DDR-Projekt einer sozialistischen Rentenreform fallt die für das SED-Regime wohl nicht untypische doppelseitige Orientierung auf: Einerseits holte sich die DDR-Führung die notwendige Rückendeckung in der Sowjetunion, andererseits reagierte sie mit ihrem Vorhaben auf die Mitte der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik akut gewordenen Pläne zu einer Rentenreform. Der Impuls, der von der Systemkonkurrenz ausging, konnte allerdings den in der DDR zu geringen finanziellen Spielraum für eine solche Reform nicht aufwiegen. Wahrend in den beiden genannten Beispielen politische Motive in jedem Fall den Vorrang hatten, schreibt Heinz-Dietrich Steinmeyer die von ihm behandelten 2 Fisch I Haerendel

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Einleitung

Schritte zur Integration immer weiterer Gruppen von Selbständigen in das gesetzliche Versicherungssystem überwiegend der Notwendigkeit zu, soziale Sicherungslücken zu schließen. Damit gerät ein weiterer Reformtyp ins Blickfeld: Reform als Reaktion auf sozialen oder ökonomischen Problemdruck. Gerade der Beitrag von Steinmeyer zeigt freilich, daß sich in der Wirklichkeit die Reformanlässe häufig vermischten. So waren es nicht nur Defizite in der sozialen Sicherung, die im Jahr 1938 den Ausschlag für die Einrichtung der Handwerkerversicherung gaben, sondern auch die mittelstandspolitischen Absichten der NSDAP. Umgekehrt gab es bei den schon genannten Beispielen einer politischen ,Reform von oben', sowohl bei den Witwen und Waisen im Kaiserreich als auch bei den DDR-Rentnern, bedenkliche soziale Notlagen, die zur Reform drängten. Bisweilen haben wirtschaftliche und soziale Faktoren in der Geschichte der Rentenversicherung einen so massiven Problemdruck erzeugt, daß eine Reform unausweichlich wurde und den Handlungsträgern kaum noch Gestaltungsspielraum beließ. Sie handelten dann im wesentlichen reaktiv, wie etwa Karl Christian Führers Darstellung des Schicksals der Altersversicherungen für Arbeiter und Angestellte in der Zeit der Inflation deutlich macht. Reform konnte unter solch prekären Umständen sogar Rückschritt bedeuten: So mußte die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte Anfang 1923 von einem modernen Kontenführungssystem auf das "versicherungstechnisch primitive" Beitragsmarkenverfahren umstellen, um damit die Anpassung an die Inflation zu erleichtern und Verwaltungskosten einzusparen. Schwerwiegender war der sozialpolitische Rückschritt, der in der Schaffung einer eigenen Sozialrentnerfürsorge schon Ende 1921 lag. Wenn nämlich Menschen im Alter wieder auf ,Wohlfahrt' angewiesen waren, wurde deutlich, daß das Rentensystem nicht mehr vor Armut zu bewahren vermochte. Noch stärker als Inflation und Hyperinflation stellte die wenige Jahre danach hereinbrechende Weltwirtschaftskrise die gesamten Grundlagen des Systems sozialer Sicherheit in Frage - und das nicht nur in Deutschland. Martin H. Geyer untersucht, welche Auswirkungen die Krisendebatten auf den amerikanischen Wohlfahrtsstaat hatten, der sich zu Anfang der dreißiger Jahre erst in seiner formativen Phase befand. Obwohl die Krise den Anstoß für ein neues, grundlegendes Programm sozialer Sicherheit gegeben hatte, war der Inhalt dieser Reformen - gerade was die Rentenversicherung angeht - von der gleichen Vorsicht und Zukunftsangst geprägt, die etliche Jahre zuvor auch in Deutschland die Geburt des Sozialstaats begleitet hatten. Die Leistungen der amerikanischen Rentenversicherung fielen entsprechend niedrig aus und waren vor allem darauf ausgelegt, daß ihre Deckung durch Beiträge jederzeit garantiert sein sollte. Daß Krisen nicht geeignet sind, großzügige Reformwerke in Gang zu setzen, sondern vor allem den Wunsch nach Sicherheit befördern, zeigt auch der Beitrag von Philip Manow. Zwar erzwang die Inflation in Deutschland vorübergehend eine Abkehr vom Prinzip der Kapitaldeckung und Umstellung auf das Umlageverfahren, aber auf der konzeptionellen Ebene wurde die neue Praxis weiterhin abgelehnt. Der erzwungenen Reform folgte alsbald die Revision der Reform und damit

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die (zumindest erstrebte) Rückkehr zur Anwartschaftsdeckung. Erst in den Kriegsjahren erhielt das Umlageverfahren aus den Reihen der Deutschen Arbeitsfront eine neue theoretische Fundierung, die - freilich unter Abstreifung der damit verbundenen völkischen Ideologie - bis in die Bundesrepublik der ,Wirtschaftswunder'jahre weitertransportiert wurde. Hier nun schien die Hinwendung zum Umlageverfahren nicht mehr nur Not, sondern geradezu Tugend zu sein, weil sie es erlaubte, die nicht mehr erwerbstätige Generation unmittelbar an dem im Wirtschaftsaufschwung erarbeiteten Sozialprodukt partizipieren zu lassen. Mit der großzügigen Ausdehnung der Rentenleistungen, die durch das Umlageverfahren oder - populär - den ,Generationenvertrag' getragen wurde, erlangte die gesetzliche Altersversicherung in der Bundesrepublik eine neue Qualität, die es - wie erwähnt - ebenso legitim erscheinen läßt, von einem "neuen System" wie von einem deutlich reformierten System zu sprechen. Der Reformimpuls wurde durch mehr als ökonomischen Zwang, in diesem Fall die Vernichtung der angesammelten Versicherungskapitalien durch nationalsozialistische Finanzpolitik und Krieg, getragen. Es ging auch um die Vision einer "integrierten" Nachkriegsgesellschaft 15, in der die Folgelasten des Krieges ebenso wie der neu erreichte Wohlstand nicht zu einseitig verteilt sein sollten. Die Rentenreform war damit wie auch Lastenausgleich und sozialer Wohnungsbau Teil einer umfassenderen Gesellschaftsreform, die für alle den "Abschied von der Proletarität" und einen deutlich über dem Existenzminimum liegenden Lebensstandard anstrebte 16 . In der DDR hingegen waren die Rentner wesentlich schlechter gestellt, weil die Leistungen der Sozialversicherung für die breite Masse der Versicherten niedrig waren. Für sie war daher die Übernahme des westdeutschen Rentenversicherungssystems im Prozeß der Wiedervereinigung, die im ersten Beitrag der Gegenwartssektion von Detlef Merten behandelt wird, überwiegend von Vorteil, sofern sie nicht ihrer Privilegien aus einem der am Ende zahlreichen Zusatz- oder Sonderversorgungssysteme der DDR verlustig gingen. Merten macht auch deutlich, daß für die Integration der Rentner aus der ehemaligen DDR in die Rentenversicherung der Bundesrepublik das Umlageverfahren geradezu eine Voraussetzung war, weil damit die neu hinzugekommene Ausgabenbelastung ohne Zeitverzögerung durch 15 Vgl. Hans Günter Hockerts, Integration der Gesellschaft. Gründungskrise und Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik, in: Manfred Funke (Hrsg.), Entscheidung für den Westen. Vom Besatzungsstatut zur Souveränität der Bundesrepublik 1949-1955, Bonn 1988, S.39-57. 16 "Daß mit der [ ... ] Dynarnisierung der Renten ein Absinken in die Proletarität mindestens bei anhaltendem Wirtschaftswachstum so gut wie ausgeschlossen ist, kann vielleicht als die wichtigste gesellschaftliche Modernisierung der 50er Jahre gelten." Arnold Sywottek, Wege in die 50er Jahre, in: ders./ Axel Schildt (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 13 -39, hier 33; vgl. auch Josef Mooser, Abschied von der "Proletarität". Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze/M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 143-189.

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die erwerbstätige Bevölkerung in den neuen Bundesländern getragen werden konnte. Ein solches Integrationsmodell hätte nach den Prinzipien der privaten Versicherungen, die Leistungen nur aufgrund vorheriger Beitragszahlung gewähren, nicht funktionieren können. Gisela Färber unterstreicht in ihrem Aufsatz, daß auch in anderen Fragen die Sozialversicherung nicht mit den gleichen Maßstäben wie die privaten Versicherungen zu messen ist. Sie will grundsätzlich aber auch für die gesetzliche Rentenversicherung am Prinzip der Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen festhalten und plädiert sogar dafür, es durch Reformen wieder stärker zur Geltung zu bringen, nicht zuletzt, um die Akzeptanz des Systems als Pflichtversicherung zu erhalten. Zu ähnlichen Forderungen kommt auch Winfried Schmähl, der einen Vergleich des deutschen Alterssicherungssystems mit denen in anderen marktwirtschaftlichen orientierten Industriestaaten anstellt. Gerade die ausländischen Beispiele lassen ihn davon abraten, aus dem eigenen System ausscheren zu wollen und etwa die Entwicklung hin zu einer Staatsbürgerversorgung anzustreben. Lösungen sollten in der Logik des Systems liegen. Das Vertrauen der Bürger in die Institution solle möglichst wenig gefährdet werden, zumal Globalisierung und sozioökonomische Strukturwandlungen ohnehin große Herausforderungen bedeuteten. Dieser Schlußbeitrag und auch manche anderen Beiträge unseres Bandes greifen mitten in die aktuellen politischen Diskussionen um ,die Rente' ein. Dabei kann es leicht geschehen, daß die eine oder andere hier noch als offen bezeichnete Frage bis zum Erscheinen des Bandes bereits politisch entschieden ist. Die Beiträge wurden ursprünglich als Vorträge für ein Forschungsseminar am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer formuliert. Es hat vom 14. bis 16. Oktober 1998 mit dem Titel "Vom bloßen Unterhaltszuschuß zur dynamischen Rente: Geschichte der Altersversicherung in Deutschland" in Speyer stattgefunden. Die ausgearbeiteten schriftlichen Fassungen reflektieren im allgemeinen den Stand der Dinge im Frühjahr 1999. Wenn die Politik an manchen Stellen inzwischen andere Wege gegangen ist, als es sich der eine oder andere unserer Autoren gewünscht haben würde, dann ist dies für diesen Band als Ganzes nicht so entscheidend. Er dient nicht der unmittelbaren Politikberatung, sondern soll das Orientierungswissen über die Institution der gesetzlichen Rentenversicherung mehren. Wir haben dazu Beiträge über die Entstehung, die geschichtliche Entwicklung und den gegenwärtigen Zustand der Rentenversicherung vereint, um manche gewachsenen Sachverhalte zu erklären, dabei die Augen für Zusammenhänge zu öffnen und historische Abhängigkeiten wie Spielräume deutlich zu machen. Dabei soll der Band nicht nur zeigen, ,wie es eigentlich gewesen ist', sondern auch, ,wie es nicht gekommen ist'. Gerade die Kenntnis von Alternativentwürfen und dann auch von Vergleichsfällen anderswo und das Nachvollziehen strittiger Auseinandersetzungen der Vergangenheit bereichern unserer Ansicht nach die Diskussion der Gegenwart um eine wichtige Dimension. Als Herausgeber möchten wir mit einem Dank an die Autorinnen und Autoren für ihre Vorträge und die Ausarbeitung zu Aufsätzen und an die Sektionsleiter für

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ihre Einführungen zu dem jeweiligen Themenkreis schließen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Tagung aus ihren Mitteln für Rundgespräche von Wissenschaftlern wesentlich gefördert. Das Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und sein Geschäftsführender Direktor sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Forschungsinstitut und Hochschule haben die Tagung möglich gemacht und angenehme Rahrnenbedingungen für sie geschaffen. Der Senat der Hochschule hat der Publikation der Ergebnisse in der "Schriftenreihe der Hochschule Speyer" zugestimmt. Für alle diese und weitere Hilfen bedanken wir uns! Speyer, im Februar 2000

Stefan Fisch Ulrike Haerendel

Sektion I: Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Rentenversicherung

Einführung Von Gerhard A. Ritter

Die Geschichte der deutschen Sozialversicherung, die den Charakter von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland bis in unsere Gegenwart wesentlich geprägt hat, ist erst in den letzten beiden Jahrzehnten als wichtiger Gegenstand der historischen Forschung "entdeckt" worden. Dabei ist bisher die Entstehung der Invaliditäts- und Altersversicherung durch ein Reichsgesetz vom 22. 6. 1889 trotz der überragenden Bedeutung, die dieses Gesetz für die weitere, weitgehend "pfadabhängige" Entwicklung der Sicherung gegen die Risiken von Invalidität und Alter in Deutschland hatte, noch nicht im Detail nachgezeichnet worden. Zwar ist Christoph Conrad in seiner grundlegenden Studie über den Strukturwandel des Alters der Frage nach den Vorläufern der gesetzlichen Rentenversicherung in der Beamtenversorgung, in der Versorgung von Soldaten und Kriegsinvaliden, die offenbar für Bismarck eine Vorbildfunktion für die "Soldaten der Arbeit" hatte, in der Knappschaft und in den Altersversorgungskassen einiger Firmen nachgegangen und hat Vorgeschichte und Entstehung des Gesetzes kurz skizziert!. Sehr viel eingehender hat Joachim Rückert anhand von elf Kernpunkten des Gesetzes wichtige Aspekte der zeitgenössischen Diskussion zwischen 1887 und 1889 in der Wissenschaft und den Verbänden der betroffenen Interessenten herausgearbeitet und hat präzise Angaben über die Veränderungen des 1887 zunächst in den "Grundzügen" vorgelegten Konzepts vor allem durch den Bundesrat und den Reichstag gemacht2 • Vereinzelt wurde schließlich die Haltung politischer Kräfte im Gesetzgebungsprozeß erörtert3 , und es wurden wichtige Probleme wie die intensiv diskutierte, aber schließlich bis zur Reichsversicherungsordnung von 1911 aufgeschobene Gewährung von Leistungen für die Hinterbliebenen von Versicher1 Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994. 2 Joachim Rückert, Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung. Festschrift aus Anlaß des l00jährigen Bestehens der gesetzlichen Rentenversicherung, hrsg. von Franz Ruland, Neuwied/Frankfurt a.M. 1990, S. 1-50. 3 Vgl. z. B. Gudrun Hofmann, Die deutsche Sozialdemokratie und die Sozialreformen von 1889. Das Ringen der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands um die Verbesserung des Entwurfs eines Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetzes, in: ZfG 30 (1982), S. 511523.

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ten behandelt4 . Die Diskussion von Alternativen, der konkrete Willensbildungsund Entscheidungsprozeß auf der Ebene der Reichsbürokratie und des preußischen Staatsministeriums, die Einwirkung gesellschaftlicher und politischer Kräfte auf die öffentliche Diskussion sowie die Herbeiführung der politischen Kompromisse im Gesetzgebungsverfahren blieben jedoch noch weitgehend im Dunkeln. Während wohl erst die Vorlage der geplanten Bände über die Entstehungsgeschichte der Invaliditäts- und Altersversicherung in der großen Quellenedition von Florian Tennstedt und seinen Mitarbeitern über die Sozialpolitik von 1867 bis 18905 und darauf beruhende Monographien es ermöglichen werden, den Entstehungsprozeß des Gesetzes und die diesem zugrundeliegenden Ursachen und Motive mit ähnlicher Präzision wie beim Unfallversicherungsgesetz von 18846 nachzuzeichnen, haben doch die in der Sektion vorgelegten und hier veröffentlichten Referate die Forschung wesentlich vorangetrieben und einige der bisher bestehenden Lücken geschlossen. Florian Tennstedt zeigt in seinem Aufsatz über "Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung", wie stark die Widerstände in der Ministerialbürokratie und bei den deutschen Bundesstaaten gegen die von Bismarck und einzelnen Personen, wie dem saarländischen SchwerindustrielIen und führenden Abgeordneten der Reichspartei Karl Ferdinand Stumm, immer wieder in die Diskussion gebrachten Vorschläge einer vom Staat garantierten Rentenversicherung oder einer staatlichen Versorgung invalider und alter Menschen waren. Zwar wurden unter Mitwirkung der Bundesstaaten mehrfach Material und statistische Daten gesammelt; grundsätzliche Erwägungen und politischer Gegenwind haben aber dazu geführt, daß alle Pläne zunächst auf Eis gelegt wurden. Hinderlich war etwa die Erwartung, daß Invaliditäts- und Alterszwangskassen die deutsche Industrie schwer belasten und eine Einschränkung des Arbeitswillens bewirken würden, aber auch die Unklarheit über die praktische Ausformung eines solchen bisher nicht erprobten Systems der sozialen Sicherheit - man war sich weder über die Abgrenzung des betroffenen Personenkreises noch die zu wählende Organisationsform klar. Auch das parlamentarische Scheitern von Bismarcks Plan, mit Hilfe eines staatlichen Tabakmonopols die finanzielle Lage des Reiches entscheidend zu verbessern und Mittel zur Finanzierung einer Altersversorgung zu erhalten, blockierte die Weiterentwicklung des Vorhabens. Da die Schaffung einer staatlichen Fürsorge für alte und inva4 Vgl. Barbara Fait, Arbeiterfrauen und -familien im System sozialer Sicherheit. Zur geschlechterspezifischen Dimension der "Bismarck'schen Arbeiterversicherung", in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1997/1, S. 171-205, bes. 187 -201. 5 Vgl. dazu Gerhard A. Ritter, Sozialpolitik im Zeitalter Bismarcks. Ein Bericht über neue Quelleneditionen und neue Literatur, in: HZ 265 (1997), S. 683 - 720, bes. 690 - 709. 6 Vgl. Quellensarnmlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abt., 2. Bd.: Von der Haftpflichtgesetzgebung zur ersten Unfallversicherungsvorlage, bearb. von Florian TennstedtlHeidi Winter, Stuttgart u. a. 1993; dies. (Bearb.), Quellensammlung, II. Abt., 2. Bd., 1. Teil: Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, Stuttgart u. a. 1995.

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lide Arbeiter aber in der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 versprochen worden war, konnte die Frage nicht dauerhaft von der politischen Tagesordnung verdrängt werden. Die Entwicklung der öffentlichen und vor allem der verwaltungsinternen Diskussion zwischen 1881/82 und Mitte 1887, als vom Reichsamt des Innern sog. "Grundzüge" zur Alters- und Invalidenversicherung formuliert und den Regierungen der deutschen Bundesstaaten zur Stellungnahme zugeleitet wurden, ist noch weitgehend unbekannt. Der folgende Gesetzgebungsprozeß - die Kritik der Bundesstaaten, die Überarbeitung der "Grundzüge" und deren Veröffentlichung, die Diskussionen im Preußischen Volkswirtschaftsrat, die Beratungen des schließlich vom Reichsamt des Innern vorgelegten Gesetzentwurfes im Bundesrat und im Reichstag - werden von Ulrike Haerendel eingehend analysiert. Der Aufsatz zeigt die wesentlichen Veränderungen, die das ursprüngliche Konzept im Gesetzgebungsprozeß erfuhr. So setzten die Bundesstaaten statt der zunächst vorgesehenen Organisation der Versicherung durch Berufsgenossenschaften der Unternehmer die föderalistische Lösung der Schaffung von Landesversicherungsanstalten durch. Noch wichtiger war, daß vor allem durch die Nationalliberalen und das Zentrum im Reichstag anstelle einer Einheitsrente ein System von vier Lohnklassen und damit die Staffelung von Beiträgen und Leistungen eingeführt wurde. Damit wurde eine Voraussetzung für den allerdings erst viel später erfolgten Ausbau der Rentenversicherung von einem Unterhaltszuschuß über eine Mindestversicherung zu einem Instrument der Sicherung des im Berufsleben erreichten Lebensstandards geschaffen. Besonders aufschlußreich sind die Ausführungen über die Verfassungspraxis der späten Bismarckzeit, die zumindest bei diesem Gesetz durch die enge Zusammenarbeit der zuständigen Ministerialbeamten mit Vertretern des Bundesrates, aber auch des Reichstages gekennzeichnet war. So hat eine Subkommission des Bundesrates sich unter Mitwirkung des Reichsamtes des Innern in einer sog. "freien" oder "Verständigungskommission", die man als eine Art Vorläufer des heutigen Verrnittlungsausschusses ansehen kann, mit Vertrauensmännern der konservativen Parteien, der Nationalliberalen und des Zentrums getroffen, um auf dem Wege des Kompromisses die Regelungen des Gesetzes im Detail auszuarbeiten. Der Aufsatz von Jens Flemming über die Haltung der konservativen Agrarier zur Schaffung der Rentenversicherung verdeutlicht, daß die konservativen Parteien zwischen einem gouvernementalen Flügel, der sich für die Annahme des Gesetzes einsetzte, und einer vor allem im östlichen Preußen starken agrarischen Lobby, die die Rentenversicherung wegen der finanziellen Belastung der landwirtschaftlichen Arbeitgeber und der befürchteten Erschütterung paternalistischer Sozialverhältnisse auf dem Lande ablehnte, hin- und hergerissen wurden. Die meisten der konservativen Reichstagsabgeordneten, zum Teil wohl beeinflußt durch ein eindringliches Werben um ihre Unterstützung in der letzten Reichstagsrede Bismarcks7, 7 Rede vom 18.5.1889, in: Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 3, S.1831-1836.

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haben dem Gesetz schließlich zugestimmt und damit dessen Annahme mit knapper Mehrheit gesichert. Die parteiinternen Auseinandersetzungen über das Gesetz haben aber die Erosion des die Regierung im Reichstag unterstützenden Kartells aus Deutschkonservativen, Reichspartei und Nationalliberalen gefördert und dadurch die Stellung Bismarcks geschwächt. Der Ansatz zur Mobilisierung agrarischer Interessen gegen die Regierung gehört zudem in die Vorgeschichte des 1893 geschaffenen Bundes der Landwirte, der die politische Landschaft Deutschlands grundlegend verändern sollte. Die abschließende Studie von Wilfried Rudloff untersucht am Beispiel der Entstehung der Rentenversicherung, inwieweit die Herausbildung des deutschen Sozialstaates und der durch diesen geschaffenen Sozial bürokratie mit dem Aufstieg und der Einflußnahme sozialpolitischer Experten zusammenfallt. Ausgehend von einer Analyse von sechs Etappen möglicher Intervention, die von der Formulierung der Themen in der sozialpolitischen Diskussion und der Ideengebung bis zur konkreten Diskussion der Gesetzesvorlage reichten, wird der Einfluß der Experten herausgearbeitet. Er lag weniger in der direkten Beratung der Verwaltungsspitze und der Parteipolitiker als in ihrer Rolle als sachverständige Autoritäten in der öffentlichen Debatte. Eine Reihe von Problemen der Forschung, von denen hier nur wenige angedeutet werden können, bleiben weiter offen. Wann und aus welchen Gründen wurden die Weichen von der von Bismarck zunächst anvisierten Lösung der Sicherung bei Alter und Invalidität durch eine allein vom Staat getragene Versorgung zu der schließlich verwirklichten Versicherungslösung gestellt? Gab es genaue Kenntnisse über das Ausmaß der zu erwartenden Invalidität und über die Zahl der Altersrentner? Warum wurde die ursprünglich vorgesehene Beteiligung des Reiches von einem Drittel des Gesamtbeitrages schließlich durch den für jede Rente bezahlten Reichszuschuß von 50 Mark ersetzt? Damit wurden die Lasten des Reiches langfristig erheblich reduziert8 , während das für die Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gewählte periodenbegrenzte Kapitaldeckungsverfahren durch ein Element des Umlageverfahrens ergänzt wurde. Wann und aufgrund welcher Motive und Einflüsse fiel die Entscheidung, die älteren Versicherten, die die geforderten Anwartschaften von fünf bzw. 30 Jahren für die Invaliditäts- bzw. Altersrente nicht erreichen konnten, doch in den Genuß einer Rente kommen zu lassen? Welche Rolle spielte die mögliche Entlastung der Armenhilfe für die Vorlage und die detaillierten Regelungen des Gesetzes? Wie intensiv wurden die Auswirkungen des geplanten Rentengesetzes auf die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie diskutiert? Welchen Einfluß hatten deren Vertreter auf die Gestaltung des Gesetzes? Welche Bedeutung hatte die von der Sozialdemokratie entfesselte, die politi8 Der Anteil des Reiches an den Einnahmen der Rentenversicherung stieg zunächst von 5,9% 1891auf 18,8% 1905, um dann bis 1914 auf 15,3% zu fallen. Vgl. Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983, S. 175.

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sche Mobilisierung der Arbeiter durch die Partei fördernde Kampagne 9 gegen die ursprünglich zum Nachweis der Beitragsleistungen vorgesehenen Quittungsbücher (die vom Arbeitgeber als verkappte Arbeitsbücher zur Kennzeichnung mißliebiger Arbeiter hätten mißbraucht werden können) für die schließliche Entscheidung, die Quittungsbücher durch Quittungskarten zu ersetzen? Diese Andeutung einiger der weiterhin klärungsbedürftigen Fragen, vor allem aber die hier veröffentlichten Aufsätze werden hoffentlich Impulse zur Erforschung der Entstehung eines Gesetzes geben, das von den drei grundlegenden Sozialversicherungsgesetzen der 1880er Jahre den spezifischen Charakter des deutschen Sozialstaates wohl am nachhaltigsten geprägt hat.

9 Von den 3287 Eingaben zum Entwurf des Gesetzes, darunter Massenpetitionen mit über 80000 bzw. 60000 Unterschriften, richteten sich 2142 gegen die Quittungsbücher, während 1004 für freie Kassen eintraten. Vgl. die Angaben des Berichterstatters der Reichstagskommission, Freiherr v. Manteuffe1, am 24. 5. 1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 3, S. 1997, sowie Hofmann, Sozialdemokratie, S. 513-517; Rückert, Entstehung, S. 9.

Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung Die Sicherung gewerblicher Arbeiter gegen Alter und Invalidität: Anstöße, Initiativen und Widerstände im Regierungslager und im Parlament zwischen dem Gründungsjahr der politischen Arbeiterbewegung (1863) und der Kaiserlichen Sozialbotschaft (1881)1 Von Florian Tennstedt

I. Private Initiativen, in- und ausländische Vorbilder Die Vorgeschichte einer öffentlichen Absicherung des Risikos Alter, seiner Ausdifferenzierung aus dem System der Armenfürsorge, beginnt in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, lange vor dem "Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung" vom 22. Juni 1889. Das war dennoch relativ spät, denn die staatlich induzierte Absicherung anderer Existenzrisiken setzte bereits im Vormärz mit den Mitteln der Gewerbegesetzgebung ein. Allerdings: Für das höhere Alter als soziales Problem seitens des Staates Vorsorge zu treffen, schien lange Zeit nicht notwendig zu sein, denn es lag offenbar kein allgemeines oder auch nur auf die Arbeiter bezogenes Bedürfnis vor; jedenfalls war die Absicherung anderer materieller Existenzrisiken wie Krankheit und Tod (bzw. Sterbefallkosten für die Familie) naheliegender, hier konnte auch auf gemeindliche oder genossenschaftliche Lösungsansätze zurückgegriffen werden. Für die "benachbarten" Risiken Alter und Invalidität zu sorgen, war somit lange Zeit Privatsache, bestenfalls Gegenstand von Sparappellen entsprechend den bürgerlichen Verbesserungsvorstellungen 2 . Die in Preußen bereits im Vormärz beginnende staatliche Kassengesetzgebung, die im örtlichen oder gar betrieblich begrenzten Rahmen Versicherungspflicht (zeitgenössisch: Kassenzwang) als Möglichkeit zur Absicherung vorsah, schien in der vorherrschenden Form kleiner und kleinster Kassen bzw. Einheiten auch schon rein verwaltungstechnisch nicht geeignet zu sein, größere und langfristige und 1 Erweiterte und mit Nachweisen versehene Fassung des Vortrags auf der Tagung in Speyer; die Vortragsform wurde beibehalten. 2 Vgl. Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der StrukturwandeI des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, S. 207ff.; es handelt sich um die grundlegende Monographie zum Thema, in deren Mittelpunkt allerdings mehr das Alter als die Alterssicherung steht.

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schwer kalkulierbare Risiken abzusichern. Wenn dort schon Kapital angesammelt wurde, dann für den Sterbefall. Die Sorge vieler Lohnabhängiger galt traditionell nur dem würdigen Lebensende3 . Der Tod war sicher, nicht das hohe Alter. Sterbekassen auf Vereinsbasis, die das Geld für eine würdige Bestattung sichern sollten, waren oft mit den primär gegen Krankheit sichernden Hilfskassen oder anderen Vereinen (Kriegervereinen) verbunden und darüber hinaus weit verbreitet4 • Die erste nennenswerte Inititative in Sachen Alter erfolgte nicht von seiten des Staates, sondern war ein Projekt des "Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen"; zu diesem wurden erste Überlegungen im Sommer 1848 angestellt und dann über ein Jahrzehnt lang beraten und erst um 1860 ansatzweise verwirklicht. Dieses durch die Arbeiten von Jürgen Reulecke 5 und Christoph Conrad6 bis heute bekannte Projekt basierte auf Sparen. Dafür sah es eine zentrale preußische Anstalt unter staatlicher Aufsicht vor, mit der man Rentensparverträge abschließen konnte. Bis zu einem vorher zu wählenden Lebensalter (50, 55 oder 60 Jahre) konnten auch unregelmäßige Einlagen geleistet werden; im Todesfall verfielen die Beiträge, in bestimmten Fällen von Invalidität konnte ausnahmsweise ein früherer Beginn der Rentenzahlung (mit Abschlägen) beschlossen werden. Die in Frankreich und Belgien erwogenen und dann seit 1850 etablierten Rentenkassen bzw. Altersrentenfonds dienten dem "Centralverein" als sozialpolitische Legitimation bzw. als Vorbild. In diesen Ländern gab es aber bereits Vorformen, d. h. schon vor den staatlichen Projekten erschien der Bevölkerung eine Altersrente relativ anziehend. Die vorangegangenen Formen der Absicherung auf Vereinsbasis waren aber an der Kapitalspekulation bzw. Bankrott und Veruntreuungen gescheitert7 • Das Altersversorgungsprojekt des "Centralvereins" stieß bei der preußischen Ministerialbürokratie und vor allem bei den Arbeitern auf wenig Gegenliebe. So kam es erst 1861 zu einer praktischen Form bzw. Institutionalisierung: Zusammen mit der 1854 durch Gustav Mevissen begründeten "Concordia Cölnischen Lebensversicherungsgesellschaft" etablierte man eine Kasse, die zum 55., 60. oder Ebenda, S. 200. Einer auf den Regierungsbezirk Liegnitz beschränkten Statistik Ludwig Jacobis zufolge, waren von den dort bestehenden freiwilligen Lokalversicherungsanstalten die weitaus meisten Sterbekassen, auf dem Lande wiederum bildeten die Kriegervereine als Militärbegräbnisvereine die große Mehrzahl der "Trägervereine". Dabei standen Sachleistungen wie freie Träger oder freier Leichenwagen, freie Musik usw. im Vordergrund und überwogen wertmäßig die Geldleistungen (Bericht vorn 31. 7. 1875, GStA Berlin Rep. 77 Tit. 1123 Nr. 5, Bd. 2, fol. 20-23; vgl. auch den in Anm. 29 genannten Kornrnissionsbericht). 5 Jürgen Reulecke, Sozialer Frieden durch soziale Reform. Der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen in der Frühindustrialisierung. Wuppertal 1983, S. 217 ff. 6 Conrad, Greis, S. 212ff. 7 Vgl. Max v.d. Osten, Arbeiterversicherung in Frankreich, Leipzig 1884, S. 21 ff.; Ernil Freitag, Geschichte und Entwicklung der französischen Sozialversicherung, Diss. Mannheim 1934, S. 30ff.; Heinrich Euler, Napoleon III in seiner Zeit, Würzburg 1961, S. 811 ff. 3

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Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung

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65. Lebensjahr entweder ein Kapital auszahlte oder Renten vorsah. Ihr Gebiet war faktisch auf Berlin und Umgebung beschränkt. Von der in Aussicht genommenen "Klientel" angenommen bzw. genutzt wurde sie wohl nicht. Der Präsident des "Centralvereins", Adolph Lette, meinte 1863: "So sehr dergleichen Altersversorgungsanstalten als Bedürfnis anerkannt und begehrt werden, so wenig ist nach den bisherigen Erfahrungen seitens des Arbeiterstandes davon Gebrauch gemacht. ,,8 Er führte dieses - für einen liberalen Politiker merkwürdig genug - auf mangelnde Unterstützung durch den Staat zurück und versuchte es mit der besseren Akzeptanz allgemeiner Rentenkassen in anderen europäischen Ländern zu begründen. Diese Beweisführung überzeugt nicht ganz, denn wohlweislich erwähnte er nicht das weitgehende Scheitern entsprechender bzw. ähnlich ausgestalteter Altersrentenbanken in den deutschen Staaten Braunschweig und Sachsen9 . Auch diese wurden, wie es in einem Bericht des preußischen Gesandten in Dresden Otto Graf zu Rantzau heißt, "von eigentlichen Arbeitern kaum bemerkt"lO. Der zuständige Subdirektor der "Concordia" Adelbert Delbrück führte das Fehlen "irgendeines Erfolgs" auf die niedrigen Arbeiterlöhne zurück. Falls ein Arbeiter mehr habe als für den notwendigen Lebensunterhalt gebraucht, nähme er es weniger zur Vorsorge für ein sorgenloses Alter als zur Gründung eines selbständigen Geschäfts 11. Insgesamt ist es also kaum anzunehmen, daß das Central vereinsprojekt, von dem zahlreiche Aktenkonvolute überliefert sind, auch nur einem Arbeiter das Alter erleichtert hat. In einem gewissen interpretationsbedürftigen Kontrast zu diesen Erfahrungen ("Arbeiter wollen nicht") steht nun allerdings, daß Alter bzw. Absicherung des Risikos Alter und Invalidität in der sich konstituierenden Arbeiterbewegung zunehmend Thema waren, dabei wurde immer wieder die Gründung einer zentralen Altersversorgungskasse diskutiert, die zugleich die Regionalisierung der Arbeitervereine überwinden sollte. Der liberale Freund der Arbeiterbewegung und des ADAV-Präsidenten Ferdinand Lassalle, der 48er-Politiker und Brandenburger Bürgermeister a. D. Franz Ziegler, hatte vorgeschlagen, Ferdinand Lassalle zum Präsidenten einer derartigen Versicherungsanstalt zu machen 12• Ein Freund Lassalles aus dem bürgerlichen Lager mit besten Kontakten zur Regierung, sein "Meschores", der Berliner Stadtrat a.D. Theodor Riedei, konzipierte ein Gesetz als Grundlage einer "Allgemeinen Preußischen Altersversor8 Adolph Lette, Zur Geschichte der Bildung und Wirksamkeit des Central-Vereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klassen, in: Der Arbeiterfreund 1 (1863), S. 1 ff., hier 16. 9 Braunschweigisches Gesetz vorn 28. 6. 1853 (GVO Sig. 1853, S. 163), Sächsisches Gesetz vorn 6. 11. 1858 (GVBI. 1858, S. 274). 10 BArch R 901 Nr. 63571, n.fo!. (Abdruck: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abt., 1. Bd.: Grundfragen staatlicher Sozialpolitik, bearb. von Florian Tennstedt I Heidi Winter, Stuttgart u. a. 1994, S. 54). II Schreiben vorn 15.4. 1863, GStA Berlin Rep. 77 Tit. 4013 Nr. 6 Bd. 1, n.fo!. (Abdruck: Quellensarnrnlung, Grundfragen, S. 30 Anrn. 4). 12 Vgl. Shlorno Na'arnan, Lassalle, Hannover 1970, S. 572.

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gungsanstalt" unter der "Garantie des Staats und unter Leitung der Regierung" und sandte es an Bismarck 13 , der diese Initiative 1863, im Jahr des Verfassungskonflikts und vor einer Landtagswahl stehend, gegenüber den Ressortministern positiv bewertete. Damit beginnt die erste Etappe der Alterssicherungsdiskussion im preußischen Regierungslager. Bevor diese dargestellt wird, sollen aber - gleichsam exkurshaft - einige Bemerkungen über den Stand der "öffentlichen" Altersabsicherung jenseits der Armenfürsorge in dieser Zeit in Preußen gemacht werden, d. h. über bestehende Pensionskasseneinrichtungen, auf die in der nUn folgenden Alterssicherungsdiskussion immer wieder zurückgegriffen wurde, in der Regel auf die Begrifflichkeit in ihren Satzungen und sonstigen Rechtsgrundlagen und auf Von ihnen produzierte Statistiken 14. Rechtliche Regelungen oder öffentliches Engagement für soziale Sicherung bei Invalidität und Alter beschränkten sich zunächst auf spezifische Beschäftigungsgruppen des öffentlichen Dienstes, insbesondere des Staates. Der öffentliche oder staatsnahe Bereich war Pionier der Altersabsicherung, wenn man davon ausgeht, daß in vielen Fällen ein hohes Alter durch Invalidität gekennzeichnet war: Soldaten, Beamte, Bergarbeiter und Eisenbahner sind hier zu nennen. Aus dem Recht der Versorgung für Staatsdiener (Beamte, Soldaten) stammt der für den Diskurs über Altersversorgung wesentliche Begriff der Invalidität, denn vielfach hielt man die Bürger weniger von einer bestimmten Altersgrenze ab für unterstützungs- bzw. versorgungsbedürftig als vielmehr erst von einem invaliden Alter ab, d. h. VOn einem Alter, das durch erheblich geminderte ErwerbsHihigkeit gekennzeichnet war. Preußische Beamte (ausgenommen Geistliche und Lehrer) hatten seit dem (nicht publizierten!) Pensionsreglement vom 30. 4. 1825 15 einen Anspruch auf lebenslängliche Pension, wenn sie eine etatmäßige Stelle bekleideten, eine bestimmte Dienstzeit "pflichtgemäß" abgeleistet hatten, und wenn sie "durch physisches Unvermögen und körperliche Gebrechlichkeit oder durch Schwächung der Geisteskräfte und der intellektuellen Thätigkeit dienstunfähig geworden" waren. Eine feste Altersgrenze gab es nicht, der einzelne Beamte hatte zwar ein Recht auf lebenslange Alimentation, aber nicht auf Pensionierung; noch "in den Siebzigern" tätige Beamte waren keine Seltenheit l6 . 13 GStA Berlin Rep. 90 Tit. 48 Nr. 56, fol. 143 -150 (Abdruck: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914,11. Abt., 2. Bd., 1. Teil: Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, bearb. von Florian Tennstedt I Heidi Winter, Stuttgart u. a. 1995, S. 655 ff.). 14 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Conrad, Greis, S. 234ff. 15 GStA Berlin Rep. 84a Nr. 3759, fol. 44 Rs. ff. 16 Der "extremste" Fall, der uns im Rahmen unserer biographischen Forschungen zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik bekannt wurde, war der Berliner Magistratsbeamte Robert Schüler, der noch im Alter von 78 Jahren seinen Dienst als oberster "Kassenaufseher" des Berliner Magistrats versah.

Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung

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Alterssicherung bei Lohnabhängigen im privaten Bereich gab es dann bei den Knappschaften. Ihre Tradition als Korporationen reicht in die Frühe Neuzeit zurück. Als in den 1850er Jahren der Bergbau in Preußen liberalisiert wurde, in Bayern und Sachsen fanden ähnliche Prozesse statt, wurden diese bewährten Einrichtungen der Knappschaftssicherung beibehalten, aber von der Verwaltung durch die Bergbehörden abgekoppelt. Mit dem Knappschaftsgesetz vom 10. April 1854 wurden die Knappschaften zu multifunktionalen Zwangsversicherungen für alle Bergleute umgewandelt, zu denen die Arbeitgeber mindestens ein Drittel der gesamten Beiträge zu leisten hatten und die paritätisch durch Arbeitgeber und Knappschaftsälteste selbstverwaltet werden sollten. "Abgesichert" waren die Risiken Krankheit, dauernde Invalidität, Begräbniskosten und die Versorgung der Hinterbliebenen. Allerdings: Nur die Vollmitglieder konnten Invaliditätspensionen erhalten, die Tagelöhner dagegen waren bloß notdürftig gegen kurzfristigen Verdienstausfall bei Krankheit und Unfall geschützt. Diese "Altersversorgung" der Bergarbeiter beruhte vollständig auf der Sicherung gegen das Risiko der Invalidität, allerdings in der besonderen Form der bergmännischen Berufsunfahigkeit 17 • Die Eisenbahner waren eine weitere Arbeitnehmergruppe, die früh und unter privilegierten Bedingungen Zugang zu einer arbeitsvertraglieh geregelten Altersversorgung bekam und für die Pensions- und Unterstützungskassen gegründet wurden, so seitens der preußischen Staatsbahnen seit 1854. Im Hinblick auf die preußischen Staatsbahnen bestimmte die Kabinettsordre vom 31. August 1859 Normen zur Errichtung von Unterstützungskassen für die Werkstättenarbeiter. Hier werden neben Leistungen im Krankheitsfall, die denen für die gewerblichen Gesellen und Fabrikarbeiter entsprachen, ausdrücklich Unterstützungen bei Invalidität und für Hinterbliebene als möglich aufgeführt l8 .

11. Positive Debatten und Vorschläge im Regierungslager Kommen wir nun auf die Initiative des Lassalle-Freundes Riedel von 1863 zurück, die Bismarck als preußischer Ministerpräsident mit folgenden Sätzen gegenüber dem Innenminister Friedrich Graf zu Eulenburg positiv aufgriff: "In neuerer Zeit ist die Errichtung von Altersversorgungsanstalten vielfach in Anregung gebracht worden. Sie sind aus dem Bestreben hervorgegangen, den arbeitenden Klassen die Gelegenheit darzubieten, sich durch eigene Anstrengungen und Sparsamkeit in jüngeren Jahren eine gegen Not gesicherte Existenz im Alter zu verschaffen. Mit Aufwendung 17 Vgl. Harry KarwehJ, Die Entwicklung und Reform des deutschen Knappschaftswesens, Jena 1907; Hans Thielmann, Die Geschichte der Knappschaftsversicherung, Bad Godesberg 1960. 18 Vgl. WilheJm Endemann, Das Recht der Eisenbahnen nach den Bestimmungen des Deutschen Reichs und Preußens, Leipzig 1886; WiJhelm Wiue, Die Rechts- und Dienstverhältnisse der Beamten und Arbeiter der Preußischen Staatseisenbahn-Verwaltung, 2 Bde., Elberfeld 1881/85.

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Florian Tennstedt seiner Ersparnisse kann der Arbeiter auf diesem Wege sich eine Invalidenpension sicherstellen, so daß er nach Erschöpfung seiner Arbeitskraft im gebrechlichen Alter nicht der öffentlichen Armenpflege anheimzufallen braucht. Es haben daher diese Anstalten die Tendenz, sowohl die Sparsamkeit und sittliche Selbständigkeit im Arbeiterstande zu heben als auch die Armenpflege zu erleichtern. Ein Arbeiter, welcher sich den Anspruch auf eine solche Pension in ausreichendem Maße erworben hat, wird auch in seinem Alter in der Wahl des Wohnsitzes nicht behindert sein, da die Kommunen nicht zu besorgen brauchen, daß er dem Armenwesen zur Last fallen werde. In allen diesen Richtungen hat die Regierung ein Interesse, die Gründung von Altersversorgungsanstalten anzuregen und zu befördern.,,19

Er bezog sich dann direkt auf das erwähnte Versicherungsprojekt des "Centralvereins", nicht, wie fast 30 Jahre später, auf seine Erfahrungen in Frankreich bzw. Kenntnis der Projekte Napoleons neo. Die Ressortminister Preußens waren allerdings sehr skeptisch, sie warnten mit Hinweis auf den geringen Erfolg privater oder (wie in Belgien) staatlicher Rentenkassen vor einer aktiven Rolle der Regierung, und die Sache versandete. Sie führte nur zu einer regen diplomatischen Korrespondenz, um Auskünfte über Regelungen zur Alterssicherung im Inland und im Ausland einzuholen 21 , die erst in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eingestellt wurde! Von einem Scheitern wie bei dem Experiment mit den Produktivgenossenschaften bei den schlesischen Webern, das ungefahr in die gleiche Zeit und den gleichen politischen Rahmen fällt, kann man nicht sprechen, denn das Projekt als solches wurde nicht ins Werk gesetzt: Fragen des Koalitionsrechts und einer Reform des Gewerberechts schoben sich bald in den Vordergrund, von den militärischen und politischen Vorgängen im Vorfeld der Annexionen und der Reichsgründung ganz zu schweigen. Aus dem Jahr 1868 ist noch aktenkundig überliefert, daß Bismarck auf die Anregung des Vortragenden Rats im preußischen Staatsministerium, Otto Wehrmann, die Post des Norddeutschen Bundes, ähnlich wie in England, zu einer Anstalt für Lebensversicherung und Altersversorgung, evtl. auch als Sparkasse zu benutzen, erklärte, er werde gern einen solchen Plan annehmen, wenn er ihm vorgelegt werde, zur eigenen Bearbeitung desselben habe er keine Zeie 2 . Auf der Tagesordnung stand die Frage der Invaliden- und Altersversorgungskassen dann 1872 im Vorfeld der preußisch-österreichischen Konferenz zur sozialen Frage und auf dieser selbst 23 . Diese Konferenz sollte auf Anregung der Minister19 GStA Berlin Rep. 77 Tit. 4013 Nr. 6 Bd. I, n.fol. (Schreiben vom 18.3. 1863; Abdruck: Quellensammlung, Grundfragen, S. 14), konzipiert wurde das Schreiben von dem Vortragenden Rat im Staatsministerium Immanuel Hegel (GStA Berlin H I Rep. 90 Tit. 48 Nr. 56, fol. 151). 20 Vgl. dazu Florian Tennstedt, Napoleon III. oder Zitelmann & Co., Frankreich oder Braunschweig. Anmerkungen zu möglichen Vorbildern der Alterssicherungspolitik Bismarcks, in: ZSR 41 (1995), S. 543 - 551. 21 Vgl. BArch R 901 Nr. 63571. 22 Quellensammlung, Grundfragen, S. 33 Anm. 4.

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präsidenten Bismarck und Friedrich Graf Beust die monarchischen Staaten zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der I. Internationale bringen, schon im Vorfeld wurde aber dieser enge polizeiliche Gesichtspunkt verlassen. Charakteristisch für diese Debatten war, daß sie sich fast ausschließlich auf Arbeiter konzentrierten, meistens sogar auf Fabrikarbeiter beschränkt waren, und daß sie im Hinblick auf Alter gänzlich um Versicherungslösungen kreisten, nicht aber um Modelle einer Staatsbürgerversorgung. Hinsichtlich der Vorfelddiskussion sei nur aus einer Aufzeichnung des Referenten für die Arbeiterfrage im preußischen Handelsministerium Theodor Lohrnann 24 , der zur Vorbereitung dieser Konferenz ins Handelsministerium berufen wurde, zitiert. Dieser sah die Frage der Invaliden- und Alterversorgungskassen als "viel schwieriger" an als die der Kranken- und Sterbekassen. Positive Vorschläge dazu unterbreitete er - anders als bei der Krankenversicherung - nicht, vielmehr notierte er nur Fragen, die zentrale Probleme, vor allem der Organisation, betrafen: "a. Kann für sie das System des Zwangsbeitritts und der Beitragspflicht der Unternehmer zur Anwendung kommen? b. Wie sind namentlich die Bezirke abzugrenzen? Wie die verschiedenen Industriezweige? c. Können diese Kassen zu eigentlichen Staatsanstalten gemacht werden? oder Prov[inzial-]anstalten? oder Kreisanstalten? d. Wie ist je nach Beantwortung der vorstehenden Fragen die Verwaltung zu organisieren?,,25

Bei der preußisch-österreichischen Konferenz selbst wurde dann unter der Federführung von Bismarcks sozialpolitischem Ratgeber Hermann Wagener "allgemein anerkannt, daß die Errichtung solcher Kassen ein dringendes Bedürfnis sei". Der Vorschlag, für dieselben - wie bei den Krankenkassen - eine obligatorische Beitragspflicht zu statuieren, konnte allerdings "die Zustimmung der Majorität nicht gewinnen", denn man fürchtete, ein solcher Zwang werde bei den Beteiligten keine hinreichende Einsicht und Zustimmung finden. Die Vorteile einer Invalidenkasse seien für Arbeiter zu sehr "in die Ferne gerückt". Im übrigen einigte man sich, daß die Organisation der Invaliden- und Altersversorgungskassen im großen und ganzen mehr an die staatliche, etwa die provinzielle Organisation 23 Vgl. zu dieser die ausführliche Dokumentation: Quellensammlung, Grundfragen, S. 202 ff. sowie Ludolf Herbst, Die erste Internationale als Problem der deutschen Politik in der Reichsgründungszeit, Göttingen 1975, S. 133 ff. 24 Vgl. zu diesem: Florian Tennstedt, Sozialreform als Mission: Anmerkungen zum politischen Handeln Theodor Lohmanns, in: Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Von der Arbeiterbewegung zum modemen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München u. a. 1994, S. 538-559, und Renate Zitt, Zwischen Innerer Mission und staatlicher Sozialpolitik. Der protestantische Sozialreformer Theodor Lohmann (1831-1905), Heidelberg 1997. 25 BArch 90 NL Lohmann 2 Nr. 3 fol. 45 RS.-46 (Abdruck: Quellensammlung, Grundfragen, S. 287 ff.)

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anschließen müsse, wobei die Provinz für eine gewisse Höhe des Invalidenfonds die Garantie übernehmen könne. Da indessen zu einer eingehenden Behandlung dieser Frage statistisches Material noch nicht hinreichend zur Hand war, sah die Konferenz von einer weiteren Erörterung über die Organisation dieser Kassen ab, indem sie es einer als notwendig bezeichneten Enquete unter Zuziehung von Fachgenossen und Sachverständigen überließ, Normativbestimmungen für die Errichtung solcher Invaliden- und Altersversorgungskassen zu entwerfen 26 . Dazu kam es aber nicht. Parallel und in Fortführung dieser Diskussion wurden dann 1872/73 auch die preußische Regierung und das Reichskanzleramt aktiv, die im Rahmen der anstehenden Hilfskassengesetzgebung27 über den "Stand" der gewerblichen Unterstützungskassen zunächst statistische Daten einforderten: Das preußische Handelsministerium verschickte einen Runderlaß, in dem es von Regierungen und Magistraten, aber - durch die weitere Verteilung - auch von Interessenverbänden, Arbeiterunterstützungskassen, Einzelpersonen detaillierte Antworten zu elf Fragen erbat. Das Generalthema lautete: "Ist die gesetzliche Regelung des Pensionskassenwesens für erforderlich bzw. für wünschenswert zu erachten?,,28 Das Reichskanzleramt gab 1879 einer in Sachen Alters- und Invalidenkassen tätigen Reichstagskommission das bislang gesammelte Material "über die Verhältnisse der in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden Sterbe-, Altersversorgungs- und Invaliden- und sonstigen Kassen zur Unterstützung der Arbeiter und Arbeiterfamilien in Fällen dauernder Bedürftigkeit" in - leider nicht überlieferten - drei großen Aktenbänden und zwei Heften. Danach bestanden in Preußen 111 Altersversorgungs- und Invalidenkassen mit 27 379 Mitgliedern und 1543613 M Vermögen. In Bayern waren es zehn Kassen mit 2 826 Mitgliedern und 556872 M Vermögen, in Sachsen 19 Kassen mit 4 106 Mitgliedern und 540 966 M Vermögen, im Deutschen Reich insgesamt 166 Kassen mit 39 107 Mitgliedern und 3,04 Millionen M Vermögen. Ungefähr gleich groß war die Anzahl der Witwenkassen, knapp das Zehnfache betrug die Anzahl der Sterbekassen29 • In dem Kommissionsbericht über das von der Regierung vorgelegte Material heißt es zur Erklärung des "im Verhältnis zu den übrigen so überaus geringen Bestandes der Alterversorgungs- und Invalidenkassen", daß die Sterbe- und Witwenkassen bei vielen Berufen verbreitet seien, "während die Mitglieder der Altersversor26 BArch R 1401 Nr. 1292/2, fol. 3-109 (Abdruck: Quellensammlung, Grundfragen, S. 380 ff., 400 f.). 27 Vgl. dazu die ausführliche Dokumentation: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abt., 5. Bd.: Gewerbliche Unterstützungskassen, bearb. von Florian Tennstedt / Heidi Winter, Darmstadt 1999. 28 Vgl. die Sammlung der Gutachten: GStA Berlin Rep. 120 BB VIII 1 Nr. 7 Bd. 1 u. 2. 29 BArch R 0101 Nr. 3028, fol. 282ff.; Anlage I A zum Bericht der VIII. Kommission vom 26. 6. 1879, Reichstags-Drucksache Nr. 314, Steno Berichte Reichstag, 4. LP, 11. Session 1879, S. 1770f., dort weitere genaue Daten bzw. Tabellen, die der Kommissionsvorsitzende, der Zentrumsabgeordnete Georg Freiherr v. Hertling, zusammengestellt hat.

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gungskassen weitaus zum größten Teile aus Fabrikarbeitern bestehen dürften. Mit wenigen Ausnahmen sind diese letzteren erst in den letzten 10 Jahren errichtet." Die Altersversorgungsunterstützungen variierten zwischen 7 und 36 M pro Monat. Zeitgenössisch versandete die Sache aber mehr oder weniger, einzig in Bayern produzierte das Statistische Büro unter Georg von Mayr interessante Veröffentlichungen3o • Die 1876 vom preußischen Statistischen Büro veröffentlichten Erhebungen des preußischen Handelsministeriums ermöglichen keine genauen quantitativen Angaben über die Alterskassen, da letztere in einer weiteren Veröffentlichung behandelt werden sollten, die aber nie erschien31 . Von den 1873 insgesamt in Preußen bestehenden 4 690 (Zwangs-)Kassen für Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen boten zwar nur 280 Leistungen für Invalidität und Alter an. Da es aber große Kassen waren, kamen 192 103 Personen, immerhin ein Viertel der 768977 überhaupt gegen Krankheit pflichtversicherten Arbeiter und Gesellen, in den Genuß dieses erweiterten Schutzes. Unter den Gesellen waren es vor allem die Buchdrukker, unter den Arbeitern vorwiegend die Maschinenbauer (Berliner Maschinenbauer Kranken- und Sterbekasse) sowie die Arbeiter der Hüttenbzw. Walz- und Hammerwerke, die bis 1865 zum Teil unter Aufsicht der Bergbehörden standen und sich so die Knappschaftskassen zum Vorbild genommen bzw. eine entsprechende eigene Tradition hatten. Die freiwilligen Pensionskassen unter keiner amtlichen Aufsicht wurden also auch nicht in dieser Enquete erfaßt. Ihre Zahl ist unbekannt, die Verbreitung wie ihr "Wirkungsgrad" in der Arbeiterbevölkerung auch. Mehr als ein marginaler Schutz wird nicht erreicht worden sein, im Zweifel ersetzten sie die Armenfürsorge, Eigenvorsorge und Familienunterhalt nicht, erleichterten nur die familiäre oder kommunale Kostgängerschaft. Eine traurige Berühmtheit erreichte die zentrale Invalidenkasse der HirschDunckerschen Gewerkvereine, die, als "Perle der Arbeiterbewegung" gepriesen, versicherungstechnisch einem Schneeballsystem verdächtig nahe kam. In den 30 Vgl. Georg Mayr, Statistik der in bayerischen Fabriken und größeren Gewerbebetrieben zum Besten der Arbeiter getroffenen Einrichtungen, in: Zeitschrift des Königlich bayerischen Statistischen Bureaus, 7 (1875), S. 38-175; vgl. auch die detailreichen und weiterführenden Angaben bei: Elmar Roeder, Die Bismareksehe Alterssicherung und die bayerischen Sparkassen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für bayerische Sparkassengeschichte 12 (1998), S. 29ff., hier 33; Roeder bezieht auch die Berichte auf Kreisebene in seine Darstellung ein. 31 Vgl.: Die unter staatlicher Aufsicht stehenden gewerblichen Hilfskassen für Arbeitnehmer (mit Ausschluß der sog. Knappschaftkassen) und die Versicherung gewerblicher Arbeitnehmer gegen Unfälle im preußischen Staate, bearb. im Auftrag des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Berlin 1876, S. VIII. Diese Studie wurde von Theodor Lohmann konzipiert und eingeleitet, vom Direktor des preuß. Statistischen Büros Ernst Engel technisch realisiert. Die Ausführung der Alterskassenenquete dürfte aufgrund der scharf ablehnenden Haltung des preußischen Innenministeriums gegenüber der Hilfskassenenquete bzw. dem Tätigwerden "seines" Statistischen Büros für das Ressort des Handelsministers gescheitert sein; vgl. zu diesem Konflikt die Dokumente Nr. 153, 154 u. 155 in: Quellensamrnlung, Gewerbliche Unterstützungskassen (1999).

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1880er Jahren ging sie bankrott und bedeutete für die Hirsch-Duncker-Bewegung auch auf diesem Sektor einen Rückschlag wie die Niederlage im Waldenburger Streik von 1869 auf dem Sektor von Arbeitskampfund Koalitionsreche 2 . 111. Die Abkehr von einer gesetzlichen Regelung der Altersversorgungskassen Die Komplexität der Materie, die Schwierigkeit, sachgerechte Detailregelungen zu finden, bewogen dann allerdings die Reichsregierung, die anstehende Hilfskassengesetzgebung auf den Sektor Krankenkassen zu beschränken. Das fast noch in den ersten Anfängen der Entwicklung begriffene Problem der Altersversorgungs- sowie Witwen- und Waisenkassen wurde ausgeklammert, aber auch das der Sterbekassen 33 . Für weite Kreise brachten dann die Anträge des SchwerindustrielIen und freikonservativen Abgeordneten Karl Ferdinand Stumm 1878 und 1879 im Reichstag 34 einen erneuten Anstoß zur Beschäftigung mit der Frage der Invalidenversorgung von Arbeitern, damit knüpfte er an bereits 1869 vorgelegte Pläne bzw. Ausarbeitungen an 35 • Nach seinen Vorstellungen sollte das Modell der Knappschaften mit gesetzlichem Zwang auf andere Arbeitergruppen ausgedehnt werden. Die An32 Vgl. Max Hirsch/Hugo Polke, Gewerkvereins-Leitfaden, Berlin 1876, Der Regulator Nr. 32 vom 10. 8. 1888; zur zeitgenössischen Kritik: Karl Heym, Über Invalidenkassen, in: Die Grenzboten 38 (1879), S. 308 ff., und Reinhold Stämmler, Haben sich die Invalidenkassen der deutschen Gewerkvereine bewährt? Berlin 1881; Hans-Georg Fleck, Sozialliberalismus und Gewerkschaftsbewegung. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine 1868 - 1914, Köln 1994, S. 134 ff. 33 Vgl. die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über die gegenseitigen Hilfskassen vom 27. 10. 1875 (Reichstags-Drucksache Nr. 15, Steno Berichte Reichstag, 11. LP, III. Session 1875, S. 25); die Schwierigkeiten mit der Durch- bzw. Umsetzung des Hilfskassengesetzes von 1876 allein im Krankenkassensektor bewirkten ein übriges, vgl. dazu Quellensammlung, Gewerbliche Unterstützungskassen (1999). 34 Vgl. dazu Fritz Hellwig, Karl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg 1836-1901, Heidelberg 1936, S. 211 ff., 216ff. Im einzelnen handelte es sich um zwei gleichlautende Anträge, nämlich: "Den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstag in der nächsten Session einen Gesetzentwurf vorzulegen, welcher auf die Einführung obligatorischer, nach dem Muster der bergmännischen Knappschaftsvereine zu bildenden Alterversorgungs- und Invalidenkassen für alle Fabrikarbeiter gerichtet ist." (Reichstags-Drucksache Nr. 9, Steno Berichte Reichstag, IV. LP, 1. Session 1878, und Nr. 16, IV. LP, H. Session 1879; dazu Kommissionsbericht Nr. 314), die beide unerledigt blieben, sowie eine Interpellation: "Beabsichtigt die Reichsregierung, dem Reichstag in dieser oder der nächsten Session einen auf die Begründung von Alterversorgungs- und Invalidenkassen für Fabrikarbeiter gerichteten Gesetzentwurf vorzulegen" (Reichstags-Drucksache Nr. 17, IV. LP, III. Session 1880), die beantwortet und besprochen wurde. Erst mit dem Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Alters- und Invaliditätsversicherung, vom 22. 11. 1888 wurde das Thema dann wieder im Reichstag debattiert, vgl. dazu den Beitrag von Ulrike Haerendel in diesem Band. 35 Wie Anm. 25, dazu Hellwig, Stumm, S. 189ff.

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träge führten zwar zur Einsetzung einer Reichstagskommission, deren Bericht blieb aber unerledigt, so daß sie letztlich weniger parlamentarisch wirkten als durch den Impuls, den Stumm damit der weiteren Diskussion von Akademikern, Unternehmern und Ministerialbeamten gab. In der Ministerialbürokratie war inzwischen die bislang bestehende Skepsis gegenüber einer Invaliden- und Altersversicherung völliger Ablehnung gewichen, in Stumms Antrag sah sie wohl zu Recht ein Mißtrauen gegenüber ihren eigenen Vorstellungen 36 . Der Referent im Reichsamt des Innern Amold Nieberding betonte in der Kommissionssitzung, die über Stumms Antrag beriet, daß die Verhältnisse des Bergbaus von denen des Fabrikbetriebs so verschieden seien, daß es bedenklich sei, die Knappschaftskassen zum Vorbild zu nehmen, ganz abgesehen von den "üblen Erfahrungen mit dem Knappschaftswesen,m. Ein Beschwerdebrief Stumms an Bismarck war die Folge, Stumm betonte, daß Nieberding seinen Plänen "entschiedensten Widerstand entgegensetzte,,38. Theodor Lohmann versuchte es etwas geschickter, er dachte sich eine Alternative aus, die mehr war als ein Ablenkungsmanöver und in der Konsequenz die Haftpflicht- bzw. Unfallversicherungsfrage in Bewegung brachte. Darüber schrieb er an seinen Freund Ernst Wyneken am 27. Juli 1879: "Die Regierung muß auf den Stummschen Antrag (wegen der Arbeiterinvalidenkassen) eine Antwort geben, das ist nicht zu vermeiden; und ich wünsche und hoffe, daß dieselbe pure verneinend ausfällt, weil ich Zwangsinvaliden- und Pensionskassen für einen Unsinn und ihre Einführung für einen sozialpolitischen Fehler halte. Dagegen habe ich eine andere Idee (für die ich Hofmann 39 schon halb und halb gewonnen), mit der ich den hochnäsigen Industriellen la Stumm gründlich das Maul zu stopfen denke, wenn was daraus wird. ,,40 Theodor Lohmanns Alternative bestand darin, das Reichshaftpflichtgesetz auf Arbeitsunfälle zuzuschneiden: Der Geltungsbereich sollte ausgedehnt und insgesamt sollte es zu einer besonderen sozialen Haftungsnorm für alle gewerblichen Arbeitsverhältnisse auf der Grundlage des Privatrechts werden; die Arbeitgeberhaftung sollte generell verschärft werden41 •

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36 So jedenfalls die Vermutung Sturnms gegenüber Bismarck, BArch R 43 Nr. 428, fo!. 42 Rs. (Brief vom 1. 5.1879). 37 BArch R 43 Nr. 428, fo!. 46 Rs. (Erklärung vom 3. 5. 1879). 38 BArch R 43 Nr. 428, fo!. 42 Rs. 39 Karl v. Hofmann war seinerzeit preußischer Handelsminister und Präsident des Reichskanzleramts. 40 BArch 90 NL Lohmann 2 Nr. 2, fo!. 115 -116 (Abdruck: Quellensarnmlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, I. Abt., 2. Bd.: Von der Haftpflichtgesetzgebung zur ersten Unfallversicherungsvorlage, bearb. von Rorian Tennstedt I Heidi Winter, Stuttgart 1993, S. 104). 41 Vg!. dazu Rorian Tennstedt/Heidi Winter, "Der Staat hat wenig Liebe - activ wie passiv". Die Anfange des Sozialstaats im Deutschen Reich von 1871, in: ZSR 39 (1993), S.362-392.

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Als weiteres Ablenkungsmanöver Theodor Lohmanns in diesem Sinne bewerte ich dann auch seinen realisierten Vorschlag, die Gelder der Kaiser-Wilhelms-Spende für Altersprobleme bei Arbeitern anzulegen42 . Die Kaiser-Wilhelms-Spende, Allgemeine Deutsche Stiftung für Altersrenten- und Kapitalienversicherung, entstand aus Anlaß der zwei Attentate auf den Monarchen im Jahre 1878, eröffnet wurde sie Ende 1879. Von 11,5 Millionen Spendern in 75 576 Gemeinden wurden über 1,7 Millionen Mark aufgebracht. Der Kronprinz wählte auf Vorschlag Lohmanns als Zweck der unter der Schirmherrschaft seines Vaters errichteten Stiftung "die Grundlage einer Altersrenten- und Kapitalversicherungsanstalt für die gering bemittelten Klassen des Deutschen Volkes, insbesondere für die arbeitende Bevölkerung, zu bilden,,43. Satzungsgemäße Aufgabe war es demgemäß, diesen Klassen bzw. "dem Arbeiterstande, Gelegenheit zu geben, für die Zeit des Alters Renten oder Kapital zu versichern,,44. Gegenüber der intensiven Diskussion um Staatseingriffe wurde dabei demonstrativ auf freiwillig-genossenschaftliche Vorstellungen zurückgegriffen. Das Kuratorium wählte für die Sicherung der Spende die Form einer individuellen Renten- oder Kapitalversicherung, wobei die Stiftung als Garant und Verwaltungsinstanz diente, zur Preußischen Rentenversicherungsanstalt bestanden in Direktion und Aufsichtsrat (Direktor Justizrat Reinhold Stämmier, Unterstaatssekretär a.D. Rudolf Jacobi) personelle Verknüpfungen. Die Oberaufsicht führte der preußische Innenminister. Leistungen konnten zwischen dem vollendeten 55. und 70. Lebensjahr beantragt werden; nur ausnahmsweise sollte eine Rente oder Kapital' schon vorher wegen Invalidität gezahlt werden, die maximale Jahresrente betrug 1 000 M45 . Der Erfolg auch dieser freiwilligen Einrichtung war bei Arbeitern - milde gesagt - mäßig, ihr Leistungsspektrum schlechter als das der sächsischen Altersrentenbank, immerhin war sie solider als die "Perle der Arbeiterbewegung", erst in der Inflation von 1922 scheiterte sie. Im übrigen führte die Stumrnsche Initiative wiederum zu einer Enquete seitens des Reichskanzleramts in Form einer Befragung der Bundesregierungen bzw. in Preußen der Bezirksregierungen über die Mach- und Wünschbarkeit von Altersbzw. Invalidenversorgungskassen46. 42 Vgl. seine Denkschrift vom 14.9. 1878 (GStA Berlin Rep. 120 BB VIII 5 Nr. 1 Adh. 1, Bd. 1, fol. 7 -17, Abdruck: QuelJensammlung, Grundfragen, S. 516) 43 Satzung der Kaiser-Wilhelms-Spende, Berlin 1879, S. 3, in: GStA Berlin Rep. 120 BB VIII 5 Nr. 1 Adh. 1, Bd. 1, fol. 123 ff. 44 Vgl. dazu auch GStA Berlin HA I Rep. 77 tit. 789 Nr. 152, Bd. 1-3. 45 Vgl. Conrad, Greis, S. 217, und die (kritischen) Angaben im ,,Jahrbuch für das Deutsche Versicherungswesen", hrsg. von Josef Neumann, Berlin 1880ff.; nur ein gutes Viertel der Mitglieder waren Arbeiter, Arbeiter(bildungs)vereine gingen auf Distanz; Einzelheiten in dem in Vorbereitung befindlichen Bd. 6 (Knappschaftskassen. Sicherung gegen Invalidität und Altersarmut) der QuelJensarnmlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik (I. Abteilung). 46 Vgl. das Rundschreiben des Reichskanzlers Bismarck vom 5. 8. 1879, GStA Berlin Rep. 120 BB VIII 4 Nr. 1, Bd. 1, fol. 139-141 Rs. (Abdruck: Quellensammlung, Haftpflichtgesetzgebung, S. 105 ff.).

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Die Stellungnahmen der größeren Staaten fielen insgesamt zurückhaltend aus 47 • Allein die sächsische Staatsregierung äußerte sich positiv, nach ihren Erfahrungen wäre aber mit Freiwilligkeit nichts zu erreichen, nicht nur eine Versicherungspflicht sei deshalb angesagt, sondern auch Zwangskassen und Absicherung des Risikos der Invalidität sowie der Witwen- und Waisenschaft bei Berg- und Fabrikarbeitern. Die bayerische Staatsregierung betonte, alle Kreisregierungen und Distriktpolizeibehörden hätten das Bedürfnis nach einer reichsgesetzlichen Regelung der Altersversorgung verneint, so daß sie sich nicht in der Lage sähe, sich dafür auszusprechen. Die württembergische Staatsregierung sah kein Bedürfnis für eine Alters- und Invalidenversicherung ihrer Fabrikarbeiter, da der Fabrikarbeiter häufig Nebenerwerbslandwirt sei, sein Bestreben ginge regelmäßig dahin, seine "Ersparnisse in Grund und Boden anzulegen und dadurch seine Zukunft zu sichern", im übrigen hätten sich "die über das ganze Land verbreiteten, das vollste Vertrauen genießenden Oberamtssparkassen" bewährt48 • Schließlich spräche die gegenwärtige Zeit "des gesellschaftlichen Stillstands" gegen die "pekuniären Opfer" einer derartigen Kasse49 • Die badische Staatsregierung sprach sich ebenfalls gegen die "angeregte Einführung der Zwangsversicherung der Arbeiter für das Alter und die Invalidität" aus, durch eine solche würde "eine tief greifende Änderung in der sozialen und wirtschaftlichen Stellung der Fabrikarbeiter erzeugt, deren Konsequenzen zur Zeit noch gar nicht zu überschauen" seien, letztlich sei dann "nur noch ein kleiner Schritt zur Verwirklichung des sozialistischen Gedankens der Pensionierung der Arbeiter aus Staatsmitteln zu tun,,50. Die hessische Staatsregierung (Hessen-Darmstadt) war zu der Ansicht gelangt, daß die Einführung von Zwangsalters- und -invaliditätskassen auf unüberwindliche Organisationsschwierigkeiten stoßen würde51 . Dabei nannte sie einige der Bedenken gegen die Alterszwangskassen "nicht ausschlaggebend", führte sie aber wohl auf, nämlich "daß es untunlich sei, die Arbeiterkreise genau und richtig zu bestimmen und zu begrenzen, auf welche dieser Zwang sich erstrecken solle, 47 Die - teilweise umfangreichen und mit zusätzlichen Denkschriften versehenen - Stellungnahmen (mit Ausnahme der von Theodor Lohmann hintertriebenen Preußens!) sind überliefert: BArch R 1501 Nr. 100063. 48 Die 64 Oberämter waren in Württemberg nach § § 68 - 70 des Verwaltungsedikts für die Gemeinden, Oberämter und Stiftungen v. 14. 3. 1822 (Königlich-Württembergisches Staatsu. Regierungsblatt, S. 131) die untere VerwaItungsinstanz bzw. Selbstverwaltungseinrichtung, entsprechend etwa den preußischen Landkreisen; Oberamtssparkassen waren die Sparkassen der entsprechenden Se1bstverwaltungskörperschaften. 49 BArch R 1501 Nr. 100063, fol. 150ff. 50 Ebenda, fol. 179 und 183 51 Ebenda, fol. 231 Rs.

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daß viele Arbeiter schon Versicherungskassen beigetreten seien und gegen diese ein Zwang zu doppelter Versicherung nicht ausgeübt und ihnen der Verlust ihrer seitherigen Einlagen nicht zugemutet werden könne, daß durch die Zwangsinvalidenkassen der Trieb zu selbständigen Ersparnissen und Gewinnung einer unabhängigen Stellung im Alter erlöschen und bei vielen arbeitsfahigen Arbeitern die Arbeitslust bei herannahendem Alter aufhören werde, daß durch die mit den Zwangskassen verbundenen Leistungen der Arbeiter und eventuell auch der Arbeitgeber eine Erhöhung der Produktionskosten und damit eine Verminderung der Konkurrenzfähigkeit der heimischen Industrie eintreten werde, daß der Zwang zur Zahlung der Versicherungsprämie bei den Arbeitern, namentlich den jüngeren Arbeitern, große Unzufriedenheit hervorrufen und dadurch den Klassenhaß und den sozialen Unfrieden nur verschärfen werde usw."

Dann nannte sie die für ihre ablehnende Haltung "ausschlaggebenden Bedenken", nämlich: "I) daß die Einführung der Zwangskassen undenkbar scheint, ohne daß für die Arbeiter die Erreichung des durch den Zwang angestrebten Zweckes auch sichergestellt wird, ohne daß also das Reich oder die Einzelstaaten für die jeweilige Erfüllung der Verbindlichkeiten der Kassen die unbedingte Garantie übernehmen; daß aber die eventuelle Tragweite einer solchen Staats- oder Reichsgarantie dermalen in keiner Weise übersehen und deren Übernahme daher auch nicht befürwortet werden kann; 2) daß bei den dermaligen noch sehr mangelhaften Erfahrungen auf dem Gebiete des Versicherungswesens der sehr ungleiche Verbrauch der Arbeitskraft in den verschiedenen Industriezweigen eine gerechte Stornierung der Versicherungsbeiträge nicht zu ermöglichen scheint, während eine Sonderung der Kassen nach Arbeitsbranchen, behufs Sicherstellung größerer Homogenität der Versicherten bei der ungleichen Verteilung der verschiedenen Industriezweige in Deutschland eine allzu komplizierte Organisation bedingen und bei der relativ geringen Arbeiterzahl einzelner eigenartiger Branchen eine Lebensfähigkeit derartiger Spezialkassen doch nicht gewährleisten würde; 3) daß bei eintretender Arbeitslosigkeit der zwangsweise versicherten Arbeiter kein genügendes Mittel zu Gebot stehen dürfte, um die Zahlung ihrer Versicherungsbeiträge sicherzustellen, während ein Verlust ihres Invaliditätsanspruchs der Tendenz der Institution gemäß doch nicht eintreten dürfte, daß es - namentlich bei vorwiegend industriellen Orten - untunlich scheint, den unterstützungsverpflichteten Arrnenverband subsidiär zur Zahlung der Versicherungsbeiträge heranzuziehen - und daß daher bei lang andauernden und weit verbreiteten industriellen Kreisen der materielle Bestand der Kassen sehr in Frage gestellt respektive die Staatsgarantie in noch unzulässigerem Maße in Anspruch genommen werden würde 52 •

Preußen sandte gar keinen zusammenfassenden Bericht an das Reichsamt des Innern. Immerhin können wir einem Konzept Theodor Lohmanns folgendes über das Ergebnis entnehmen: "Von den berichtenden Behörden haben sich nur die Regierungen zu Oppe1n und Magdeburg für die Errichtung von Invaliden- (Witwen- und Waisen-)kassen für Fabrikarbeiter 52

Ebenda, fol. 231 Rs.-232 Rs.

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nach dem Muster der Knappschaftskassen aufgrund eines allgemeinen gesetzlichen Zwanges ausgesprochen, während die Regierungen in Frankfurt, Liegnitz, Stenin, Schleswig, Kassel und Düsseldorf sowie das Polizeipräsidium hierselbst [Berlin] sowohl das Bedürfnis als die Ausführbarkeit einer solchen Regelung in Abrede stellen."

Lohmann berichtete dann über die Argumentation im einzelnen, die der Detailargumentation der süddeutschen und der hessischen Staatsregierungen in der Sache sehr stark ähnelt: "Von der Mehrzahl der Behörden, welche sich gegen jeden Zwang aussprechen, wird neben der Unmöglichkeit einer praktisch durchführbaren Abgrenzung der dem Zwange zu unterwerfenden Arbeiterklassen hauptsächlich hervorgehoben, daß in den meisten Industriezweigen, welche für die Einführung eines derartigen Zwanges überhaupt in Frage kommen können, das Bedürfnis der Invalidenversorgung keineswegs ein so dringendes sei, daß ein Zwang gerechtfertigt wäre. Gestützt auf Erhebungen, welche teilweise durch Vermittlung der Armenverwaltung, teilweise in einer größeren Anzahl von Fabriken angestellt sind, wird behauptet, daß die Zahl der Fabrikarbeiter, welche durch Krankheit oder frühzeitige Abnutzung ihrer Arbeitskraft dauernd erwerbsunfahig werden, verhältnismäßig gering und namentlich geringer sei als in den meisten anderen Berufszweigen - Handwerk, Hausindustrie, landwirtschaftliche und gewöhnliche Handarbeit -, auf welche sich die vorgeschlagene Regelung unter keinen Umständen beziehen könne. Es wird in dieser Beziehung namentlich darauf hingewiesen, daß die meisten Industriezweige eine Anzahl von Beschäftigungen darbieten, in welchen auch nicht mehr vollständig arbeitsflihige Personen gegen vollen oder wenigstens gegen ermäßigten Lohn mit Nutzen verwandt werden können, und daß auf diese Weise die meisten Fabrikarbeiter bis nahe an ihr Lebensende Gelegenheit finden, sich durch eine ihren Kräften entsprechende Arbeit den notwendigen Unterhalt selbst zu erwerben. Daneben wird mehrfach die Besorgnis ausgesprochen, daß gerade dieses in volkswirtschaftlicher wie sittlicher Beziehung wünschenswerte Verhältnis durch die Begründung von Zwangsinvalidenkassen sehr nachteilig beeinflußt werden würde. Bei Arbeitern, welche gezwungen seien, jahrelang Beiträge in eine solche Kasse zu zahlen, werde naturgemäß das Verlangen entstehen, auch die Früchte solcher Opfer zu genießen; ohne wirklich erwerbsunflihig zu sein, würden sie möglichst doch versuchen, sich für invalide erklären zu lassen." [ ... ] Daran würde "die weitere Besorgnis geknüpft, daß die in Aussicht genommenen Invalidenkassen eine schwere Belastung der Industrie zur Folge haben würden, welche um so drückender und ungerechtfertigter erscheine, als sie zur Befriedigung eines zum größten Teile erst künstlich geschaffenen Bedürfnisses eintreten würde .•.53

Man kann also sagen, daß man im Sommer 1880 regierungsseitig endgültig dazu neigte, die Frage einer öffentlich induzierten Alters- und Invaliditätsversicherung für gewerbliche bzw. Fabrikarbeiter mehr oder weniger ad acta zu legen. Aber es kam anders; Bismarck schob die Altersrentendebatte ungeachtet aller praktischen und politischen Bedenken im Regierungslager wieder positiv an.

53 GStA Berlin HA I Rep. 120 BB VII 1 Nr. 16, Bd. 2, fo1. 181-183 (Abdruck: Quellensammlung, Haftpflichtgesetzgebung, S. 190f.).

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Florian Tennstedt

IV. Bismarcks gescheiterte Initiativen zugunsten einer staatlichen Altersversorgungskasse als "Schwimmer" für eine Reform der Reichsfinanzen Im Kontext der Haftpflichtreform bzw. der Vorbereitung der Unfallversicherung verfolgte Bismarck trotz der geschickten Ab- bzw. Umlenkungsmanöver Theodor Lohmanns ab Winter 1880/81 den Gedanken, eine auf die Alterssicherung bezogene Gesetzesinitiative vorzubereiten, die allerdings mehr auf eine Altersversorgung abzielte und nicht unbedingt auf die Arbeiterbevölkerung beschränkt sein sollte. Auf jeden Fall dachte Bismarck an eine gesetzliche Altersversicherung mit dem "Benefizium eines Staatszuschusses"s4, d. h. nicht an eine nur beitragsfinanzierte Staatsbürgerversicherung. Die Mittel für diesen Staatszuschuß bis hin zur allgemeinen Staatsbürgerversorgung mußten natürlich durch (neue) Finanzquellen des Reiches erschlossen werden. Damit kommen wir einerseits in die Grundproblematik von Steuerreform und Tabakmonopol bzw. die Finanz- und Föderalismusprobleme des Reichs, andererseits zu Bismarcks Absicht, konservative Gesinnung bei Staatsbürgern mit Hilfe von Pensionsberechtigung herzustellen, also zu Gedanken, die die Altersversorgungsfrage zu einem Politikum eigener Art machten und die Frage der Risikoabsicherung instrumentalisiertenss . Diese Absichten und Anstöße Bismarcks sind zwischen August 1880 und August 1881 zunächst nur mehr oder weniger mühsam aus Randbemerkungen und Gelegenheitsäußerungen Bismarcks herauszufilterns6 . Publik werden sie dann aber, als Bismarck im Wahlkampf 1881 den Nationalökonomen Adolph Wagner als seinen Herold einspannt. Diesem wird mitgeteilt, daß es Bismarcks "persönliche Idee wäre, die Erträge des Tabakmonopols nach Abzug derjenigen Summe, welche das Deutsche Reich aus dem Tabak erzielt, gesetzlich für Zwecke der Altersversorgung festzulegen"s7. Die offiziöse "Norddeutsche Allgemeine Zeitung", das bekannte "Bismarckblatt", läßt Wagner das als "großartigen, epochemachenden Gedanken" preisen, "von dem auch die Sozialisten zugestehen müssen, daß er das enthält, was von ihrem Programm ausführbar und zu verwirklichen ist"s8. Innerhalb der zustän54 Aufzeichnung des Chefs der Reichskanzlei Christoph v. Tiedemann über ein Gespräch mit Bismarck vom 12. 12. 1880, BArch R 43 Nr. 507, fo1. 92-93 (Abdruck: Quellensammlung, Haftpflichtgesetzgebung, S. 402 ). 55 Vg1. dazu Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983.

56 Vgl. dazu das Material der Quellensammlungsbände "Grundfragen" und "Haftpflichtgesetzgebung". Am 15. 8. 1881 erklärte Bismarck im preußischen Staatsministerium, es sei seine Absicht, in der nächsten Legislaturperiode dem Reichstag "Grundzüge eines Altersversorgungsgesetzes" vorzulegen, GStA Berlin HA I Rep. 90a B III 2b Nr. 6, Bd. 93, fol. 156 (Abdruck: Quellensammlung, Grundfragen, S. 630). 57 So Herbert von Bismarck an Adolph Wagner, vg1. Heinrich von Poschinger, Fürst Bismarck als Volkswirt, Bd. 2, Berlin 1889, S. 79. 58 NAZ vom 23. 8. 1880 (Nr. 390), dabei handelt es sich um einen (von Bismarck?) redigierten Abdruck einer Rede Adolph Wagners in Elberfeld am 12. 8. 1881.

Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung

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digen Ministerialbürokratie (Reichsamt des Innern) war man anderer Ansicht. Der nunmehr auch im Reichsamt tätige Theodor Lohmann war, wie erwähnt, prinzipieller Gegner, und auch der Abteilungsdirektor Robert Bosse vertrat die Ansicht (gegenüber dem bayer. Gesandten), daß "die allgemeine Invalidenversicherung nicht auf dem Wege der Einrichtung von Versicherungskassen allein, sondern im innigen Zusammenhang mit dem Armenunterstützungswesen der Gemeinden überhaupt zu bringen und so durchzuführen seien [sie!], so daß also diese beiden Materien pari passu zu behandeln sein würden,,59. Im Juni 1881 äußerte Bismarck zu Moritz Busch noch hoffnungsvoll: "Der Staatssozialismus paukt sich durch. Jeder, der diesen Gedanken wieder aufnimmt, wird ans Ruder kommen.,,60 Das Problem war nur, daß die Arbeiter bzw. die Bevölkerung diesen Gedanken keineswegs großartig fanden - Adolph Wagner scheiterte in drei Wahlkreisen als konservativer Reichstagskandidat, und Bismarck erlitt im Herbst 1881 seine empfindlichste Wahlniederlage seit 186361 . Adolph Wagner wurde vom Herold Bismarcks zum Sündenbock des Kanzlers "er hat mir mein Tabakrnonopol verdorben", knurrte Bismarck, und in einer Staatsministerialsitzung im Dezember 1881 bemerkte er, "durch Professor Adolph Wagners Schuld sei das Monopol in die Wahlagitation geworfen worden sowie der Gedanke, den Ertrag zum Patrimonium der Enterbten zu machen". Dagegen könne man sich - so die Aufzeichnungen von Robert v. Lucius - "sehr wohl entsinnen, gerade diese Wendung wiederholt aus seinem [Bismarcks] Munde gehört zu haben." Und v. Lucius fahrt fort: "Das Altersversorgungsgesetz sollte als Schwimmer für das Tabakrnonopol dienen, um dieses vor Stranden zu bewahren. ,,62 Das zeigt deutlich den instrumentellen Charakter, den die Pläne für eine Altersversorgung für Bismarck 1880/81 hatten, sie erschöpften sich darin aber nicht. Es spricht für eine sozialstaatliehe Weitsicht, daß Bismarck trotz des aktuellen Scheiterns im Wahlkampf 1881 von seinen Plänen nicht abließ. In der von Robert Bosse und Karl Heinrich v. Boetticher entworfenen und vom Reichskanzler redigierten und verlesenen Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 63 wurde der Rahmen des gesamten Arbeiterversicherungswerks der folgenden Jahre abgesteckt. Auch wenn den Risiken Unfall und Krankheit eindeutige Priorität zukam, wirkte der Einschluß von Erwerbsunfähigkeit und Alter später als eine Art Selbstverpflichtung: "Aber auch diejenigen, welche durch Alter und Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch Bericht vom 27.8.1881, BayHStA MA 54095, n.fol. Moritz Busch, Tagebuchblätter, Bd. 3, Leipzig 1899, S. 44. 61 Vgl. Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871 - 1918, München 1980, S. 39 u. 54. 62 Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Freiherr Lucius v. Ballhausen, Stuttgartl Berlin 1920, S. 219f. 63 Vgl. dazu Florian Tennstedt, Vorgeschichte und Entstehung der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, in: ZSR 27 (1981), S. 663-710. 59 60

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auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zuteil werden können. ,,64 Nach Abschluß der Gesetze zur Kranken- und Unfallversicherung, die mindestens von 1881 bis 1885, d. h. über mehr als vier Jahre die Arbeitskapazität des Reichsamts des Innern bzw. seiner 11. (sozialpolitischen) Abteilung voll beanspruchten, gaben die Duzfreunde v. Boetticher und Bosse dem Referenten Erich v. Woedtke Anweisung, Grundzüge für eine Invaliditäts- und Altersversicherung auszuarbeiten. Staatssekretär v. Boetticher ließ dazu 1888 im preußischen Volkswirtschaftsrat verlauten, daß man Zweifel gehabt habe, ob man neben der Invalidenrente noch eine Altersrente - beginnend mit dem 70. Lebensjahr - in Aussicht nehmen solle: "Wer im hohen Alter von 70 Jahren noch arbeitsfahig sei, der müsse für dies seltene Geschenk Gott dankbar sein und könne eigentlich keine Rente verlangen. Jedoch sei den Verfassern der Grundzüge durch die Allerhöchste Botschaft vom 17. November 1881, welche ausdrücklich der Fürsorge für die durch Alter erwerbsunflihig gewordenen Arbeiter gedenke, eine feste Marschlinie vorgezeigt worden, die nicht verlassen werden dürfe. ,,65

64 Diese Formulierung geht in dieser Form auf den Abteilungsdirektor im Reichsamt des Innem Robert Bosse zurück, vgl. BArch N 1025 (Boetticher) Nr. 33, fol. 72 ff. 65 Volkswirtschaftsrat, Protokoll der Zweiten Sitzung des permanenten Ausschusses, Session 1887, S. 17f.; vgl. dazu auch: Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt/M. 2000, S. 308 ff.

Regierungen, Reichstag und Rentenversicherung Der Gesetzgebungsprozeß zwischen 1887 und 1889 Von Ulrike Haerendel

Die engere Entstehungsgeschichte des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes umfaßt die nur knappe Spanne zwischen dem Beginn des Jahres 1887 und dem Sommer 1889. In diesem kurzen Zeitraum wurden die zuvor existierenden Ideen, Pläne und Absichten zu einem - wie sich zeigen sollte - Gesetz von langfristiger Wirkung zusammengeschmiedet 1. Dabei traten nach- und nebeneinander die Reichsleitung und ihre Beamten, die im Bundesrat vertretenen Regierungen der Einzelstaaten und schließlich der Reichstag auf den Plan, um nur den Kreis der verfassungsmäßig involvierten Kräfte zu nennen. In das dichte Geflecht von Konzeptualisierung und kritischer Begutachtung, Änderungs- und Detaillierungsarbeit, Kooperation und Konflikt, parlamentarischen Debatten und Abstimmungen kann die nachfolgende Darstellung nur einige Schneisen schlagen. Es gilt dabei, ebenso die Urheber wichtiger Elemente des Gesetzes aufzuspüren wie das Verhältnis und jeweilige Gewicht der Reichsorgane in diesem sozialpolitischen Schaffensprozeß zu bestimmen. Weitergehend wird also auch die Verfassungspraxis der BismarckZeit in die Analyse einbezogen. Die Besonderheit des hier untersuchten Falles soll freilich nicht geleugnet werden: Die Invaliditäts- und Altersversicherung bildete zum einen das letzte Glied in der Kette der grundlegenden Sozialversicherungsgesetze der Bismarck-Zeit, so daß seine "Gründungsväter" in der Reichsbürokratie wie unter den Parlamentariern und Vertretern der Bundesstaaten bereits von einem sozialpolitischen Erfahrungsschatz profitieren und in manchem Argument und Lösungsansatz auf Bewährtes zurückgreifen konnten. Zum anderen stand das Gesetz auch am Ende der Ära Bismarck, als der Reichskanzler seine weiterreichenden politischen Ambitionen in bezug auf das Sozialversicherungsprojekt praktisch aufgegeben hatte. Für Verwaltung und Parlament ergaben sich damit neue Handlungsmöglichkeiten und erhöhte Durchsetzungschancen. Im folgenden ist zu zeigen, wie die handelnden Personen der verschiedenen politischen Ebenen ihre Gestaltungsräume nutzten und auf welche Weise sie somit die Architektur des Gesetzes beeinflußten. Vorweggenommen sei schon an dieser Stelle, daß die Vertreter von Bundesrat und Reichstag, die ja nach dem Verfassungstext strikt getrennte Organe 1 Zur Vorgeschichte die Beiträge von Wilfried Rudloff und Florian Tennstedt in diesem Band.

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waren 2 , in durchaus engen Formen zusammenarbeiteten. Diese informelle Kooperation wie überhaupt die Arbeitsweise von Bundesrat und Reichstag jenseits der parlamentarischen Tribüne erschließt sich kaum aus den gedruckten Quellen; erst die Auswertung von Berichten der Bundesratsvertreter und der ungedruckten Protokolle der Reichstagskommission konnte hier zu neuen Erkenntnissen beitragen3 . Die bisherige Forschung4 zum Gesetzgebungsprozeß hat sich dagegen fast ausschließlich auf die gedruckten Reichstagsprotokolle und die zeitgenössischen Kommentare und Presseartikel gestützt.

I. Die Entstehung des Entwurfs im Reichsamt des Innern und die Kritik der Bundesstaaten

Nach der Kaiserlichen Sozialbotschaft vom 17. November 1881 5 trat das Projekt der angekündigten Alters- und Invalidenversicherung noch keineswegs in eine akute Vorbereitungsphase. Zunächst standen die Fragen der Unfall- und Krankenversicherung im Vordergrund, während die Beamten im Reichsamt des Innem aber dennoch Material zum Problem der Altersversorgung sammelten, Denkschriften 2 Zu der durch die Inkompatibilität von Reichstags- und Bundesrats-Mitgliedschaft gesicherten "Trennung von föderativer und parlamentarischer Gewalt" in der Bismarck-Verfassung vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart u. a. 31988, S. 850. 3 Damit werden hier einige Ausschnitte aus dem Material vorgestellt, das in einem weiteren Band (11. Abt., 6. Bd.) der "Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914" ausführlich dargestellt werden wird. 4 Vgl. die sehr instruktive Darstellung von Joachim Rückert, Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung. Festschrift aus Anlaß des lOOjährigen Bestehens der gesetzlichen Rentenversicherung, hrsg. von Franz Ruland, Neuwied I Frankfurt a.M. 1990, S. 1- 50. Vgl. weiterhin zum parlamentarischen Prozeß Hans-Peter Benöhr, Gesetzgebungstechnik. Eine Bestandsaufnahme nach den Verhandlungen von 1881 bis 1889 zu den Sozialversicherungsgesetzen, in: De iustitia et iure. Festgabe für Ulrich von Lübtow zum 80. Geburtstag, hrsg. von Manfred Harder I Georg Thielmann, Berlin 1980, S. 699-725; ders., Verfassungsfragen der Sozialversicherung nach den Reichstagsverhandlungen von 1881 bis 1889, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abt. Bd. 97 (1980), S. 94-163; ders., Soziale Frage, Sozialversicherung und Sozialdemokratische Reichstagsfraktion (1881-1889), in: ebenda, Bd. 98 (1981), S. 95-156, bes. S. 134-152; Gudrun Hofmann, Die deutsche Sozialdemokratie und die Sozialreformen von 1889. Das Ringen der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands um die Verbesserung des Entwurfs eines Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetzes, in: ZfG 30 (1982), S. 511-523; Theo Wattler, Sozialpolitik der Zentrumsfraktion zwischen 1877 und 1889 unter besonderer Berücksichtigung interner Auseinandersetzungen und Entwicklungsprozesse, Diss. Köln 1978, bes. S. 188-300; Rudi Müller, Die Stellung der liberalen Parteien im Deutschen Reichstag zu den Fragen der Arbeiterversicherung und des Arbeiterschutzes bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, masch.schr. Diss. Sonneberg/Thür. 1952. 5 Vgl. Florian Tennstedt, Vorgeschichte und Entstehung der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, in: ZSR 27 (1981), S. 663-710; sowie den oben abgedruckten Beitrag von Tennstedt, S. 47 f.

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und andere Vorschläge prüften und ein gewisses sachliches Fundament für die spätere Wiederaufnahme des Vorhabens legten6 . Erst als die Kranken- und Unfallversicherung in wichtigen Änderungs- und Ausdehnungsgesetzen ihre Form gefunden hatten, waren wieder Kapazitäten frei, um das Altersversicherungsprojekt erneut in Angriff zu nehmen. Dabei mochte es manchen Kräften vor allem aus dem liberalen Spektrum, die hier ein zu weitgehendes sozialpolitisches Engagement fürchteten, ganz recht gewesen sein, daß diese schwierige und neuartige Aufgabe zunächst auf die lange Bank geschoben war. Den Quellen nach waren es der Abteilungsleiter Robert Bosse und sein Mitarbeiter Erich v. Woedtke, die zuerst und offenbar ohne unmittelbaren Auftrag ihrer Vorgesetzten den Faden wiederaufnahmen. Der stellvertretende bayerische Bundesratsbevollmächtigte Robert Landmann schrieb jedenfalls nach München: ..... auf meine direkte Frage, ob der Reichskanzler selbst die Ausarbeitung des Gesetzentwurfs befohlen habe, wurde mir eine verneinende Antwort zuteil; nicht einmal [der Innenstaatssekretär] Hr. von Boetticher scheint einen solchen Auftrag gegeben zu haben, es handelt sich vielmehr zur Zeit nur um Drängen des Direktors Bosse, des Vorstandes der wirtschaftlichen Abteilung des Reichsamtes des Innern, der glaubt oder wünscht, daß dem nächsten Reichstag ein Gesetzentwurf über die Altersversorgung der Arbeiter in Vorlage gebracht werde,,7. Es ist bezeichnend, daß die bayerische Regierung zu diesem Zeitpunkt keineswegs enthusiastisch auf diesen erneuten sozialpolitischen Vorstoß reagierte. Sie äußerte sogleich ihre Erwartung, daß schon vor der Einbringung eines Gesetzentwurfs in den Bundesrat die Meinungen der verbündeten Regierungen eingeholt würden 8 - wie es tatsächlich auch der Fall war. Als Mitte 1887 die Vorarbeiten der Mitarbeiter im Reichsamt des Innern zur Fertigstellung sogenannter ..Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung" geführt hatten, wurden diese als erstes den Bundesregierungen zugeleitet9 . Vor allem 6 R[obert] Bosse/E[rich] von Woedtke, Das Reichsgesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung. Vom 22. Juni 1889, Leipzig 1891, S. lOf. Vg!. die Akten "Rechnungsgrundlagen", BArch R 1501 Nr. 100096, 100097, die diese sachlichen Vorarbeiten seit 1883 nachvollziehbar machen und verschiedene Ausarbeitungen zur möglichen Finanzierung des Projekts enthalten. 7 Bericht Landmanns vom 17.1. 1887, BayHStA MArb Nr. 1179. Bei diesem wie bei den folgenden Quellenzitaten wurde die Schreibweise modernisiert. 8 Weisung des bayerischen Innenministers Freiherr v. Feilitzsch an Landmann vom 26. 1. 1888 (Entwurf), ebenda. 9 BArch R 43 Nr. 565, fo!. 74-86, 87 -98 Rs. (Grundzüge und Denkschrift). Die Grundzüge wurden mit Schreiben vom 6. 7. 1887 von v. Boetticher "vertraulich" an die verbündeten Regierungen gesandt mit dem Hinweis, daß die Reichsleitung zur Zeit noch kein Bekanntwerden des Inhalts wünsche (ebenda, fo!. 73). Rauh betont, daß diese Vorverständigung mit den Bundesstaaten ein übliches Verfahren war, das den eigentlichen Bundesratsverhandlungen viel von ihrer Bedeutung nahm. Allerdings mußte in unserem Fall der Bundesrat keineswegs nur noch über "technische Einzelheiten" beraten, sondern bewirkte, wie unten zu zeigen sein wird, durchaus einschneidende Veränderungen. Manfred Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich, Düsseldorf 1973, S. 97 f.

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die großen süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden, aber auch Sachsen, nutzten resolut die Chance, schon in diesem Stadium ihre Verbesserungsvorschläge einzubringen. Ein grundsätzlicher Punkt der Kritik war die Einrichtung einer eigenen Altersrente lO, die ab dem 70. Lebensjahr gewährt werden und sich mit 60 Mark im Jahr nur auf die Hälfte des Mindestsatzes in der Invalidenversicherung belaufen solltelI. Es werde, so argumentierte die bayerische Regierung, "in Arbeiterkreisen als ein sehr geringer oder gar kein Trost empfunden werden, in einem Alter, das verhältnismäßig nur wenige erreichen, eine unzureichende Versorgung als Äquivalent für Zahlungen, welche der Arbeiter von jungen Jahren an macht, zu erhalten". Besser als eine so unbefriedigende Lösung, die "das ganze Institut in Arbeiterkreisen unpopulär" mache, sei der völlige Verzicht auf eine eigene Altersversorgung. Die Beschränkung auf eine reine Invalidenversicherung sei "um so unbedenklicher", "als ja Arbeiter, welche das 70. Lebensjahr erreichen, fast ausnahmslos in der Lage sein werden, Invalidität nachzuweisen und so in den Bezug einer entsprechenden Rente zu gelangen" 12. Neben der Altersversicherung betraf ein zweiter Kritikpunkt den Versicherungsumfang, bei dem von mehreren Seiten zu einer vorsichtigeren und eventuell nur schrittweisen Ausdehnung geraten wurde. Bismarck - hier als preußischer Ministerpräsident votierend - gab zu erwägen, zunächst nur die Arbeiter der großen Städte und Industriebezirke, in denen die Armenpflege besonders unzureichend sei, einzubeziehen 13. Einigen Bundesstaaten galt das Modell der Unfallversicherung als günstigste Lösung, eventuell unter Ausschluß der landwirtschaftlichen Arbeiter, die ja in der Unfallversicherung anfangs ebenfalls nicht berücksichtigt worden waren. In jedem Fall gingen die "Grundzüge" dieser Kritik zufolge zu weit, wenn sie nicht nur die gewerblichen und landwirtschaftlichen Arbeiter sowie unteren Angestellten, sondern auch die Handwerksgesellen, Handlungsgehilfen und Dienstboten in eine Alters- und Invalidenversicherung einbeziehen wollten 14• Die letztgenannten Klassen blieben, so etwa die württembergische Stellungnahme, selten bis ins hohe Alter auf abhängige Lohnarbeit angewiesen; sie würden sich später selbständig machen oder im Falle der weiblichen Dienstboten nach der Verheiratung ausscheiden. Ihre Invalidität träte also ein, wenn sie längst nicht mehr dem Berufsstand angehörten, in dem sie sich einst gegen dieses Risiko versichert hätten. Sehr offen artikulierte die würt10 Vgl. Bayerisches Staatsministerium des Kgl. Hauses und des Äußern vom 25. 10. 1887 und Sächsisches Ministerium' der auswärtigen Angelegenheiten vom 29. 9. 1887 an das Reichsamt des Innern, beide in: BArch R 1501 Nr. 100100, fol. 68-79 Rs. (hier 70f.), fol. 80-86 Rs. (hier 80f.). 11 Frauen sollten sogar nur zwei Drittel dieser Sätze erhalten, vgl. Grundzüge zur Altersund Invalidenversicherung (wie Anm. 9), Punkt 12, fol. 78. 12 BArch R 1501 Nr. 100100, fol. 68-79 Rs., hier 70 Rs.-71. \3 Votum Bismarcks für das Preußische Staatsministerium vom 11. 9. 1887 (Abschrift), BArch R 1501 Nr. 100100, fol. 66-67 Rs., hier 67. 14 Vgl. Schreiben Bayerns vom 25.10.1887 (wie Anm. 10, fol. 71 Rs.-72) und Württembergischer Minister der Auswärtigen Angelegenheiten vom 10. 10. 1887 an das Reichsamt des Innern, BArch R 1501 Nr. 100100, fol. 88-106 Rs., hier 90-91.

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tembergische Regierung aber auch, warum sie eine so weite Ausdehnung des Versichertenkreises außerdem politisch für verfehlt hielte: "Endlich trifft bei den landund forstwirtschaftlichen Arbeitern, namentlich bei denen von Süddeutschland, bei den Gehilfen im Handelsgewerbe und in den Apotheken und bei dem Hausgesinde ein wesentlicher Grund für die Einführung der Alters- und Invalidenversicherung, nämlich die Absicht einer Pazifikation sozialdemokratischen Anschauungen und Bestrebungen zuneigender Bevölkerungsklassen nicht oder nicht in gleichem Maße wie bei den Industriearbeitern ZU.,,15 Gab es also durchaus Kritik an qualitativen Merkmalen des Versicherungsprojekts, überwog bei den Bundesstaaten doch das Interesse an den Organisationsfragen, mit denen sie auf der Durchführungsebene später besonders konfrontiert sein sollten. Vor allem die vorgesehene berufsgenossenschaftliche Organisation der Versicherung traf auf wenig Begeisterung, befürchtete man doch, daß die Vielzahl der Einrichtungen und ihre branchenspezifische Gliederung mit der Struktur der geplanten Versicherung wenig in Einklang zu bringen seien. So fehle den Berufsgenossenschaften einerseits der zentralistisch-staatliche Charakter, wie ihn der vorgesehene Reichszuschuß und das Kapitaldeckungsverfahren mit der Ansammlung von großen Summen erforderten 16 • Andererseits seien die Berufsgenossenschaften zu ,,keiner individualisierenden Behandlung der einzelnen Arbeiter" geeignet, die man in der am Branchenrisiko orientierten Rechnungsführung der Unfallversicherung nicht benötige, während sie für die Alters- und Invaliditätsversicherung wegen der unterschiedlichen Erwerbsbiographien unerläßlich sei 17. Als Alternative wurden bereits - von Baden, Bayern und Sachsen - territoriale Versicherungsanstalten ins Gespräch gebracht, die den nötigen Verwaltungsaufwand, aber auch die häufigen Orts- und Betriebswechsel einer recht mobilen Arbeiterschaft leichter bewältigen könnten l8 . Die Einwände der Bundesstaaten in diesem frühen Stadium lieferten den Beamten im Reichsamt des Innern bereits einen Vorgeschmack auf die heftigen Kämpfe, die sie um ihre Vorlage noch zu führen haben würden. Bemerkenswerterweise gestalteten sich diese Auseinandersetzungen dort am wenigsten schwierig, wo man es vielleicht am meisten erwartet hatte: nämlich beim Reichskanzler. Obwohl Bismarck durchaus grundsätzliche Einwände gegen die "Grundzüge" formulierte, versuchte er sich weder mit Vehemenz durchzusetzen, noch Ebenda, fol. 91. Vgl. Badisches Staatsministerium vom 27.9. 1887 an das Reichsamt des Innem, BArch R 1501 Nr. 100100, fol. 107 -121 Rs., hier lll. 17 Schreiben Sachsens vom 29. 9. 1887 (wie Anm. 10), fol. 81-81 Rs. Zwar nahmen die "Grundzüge" noch keine Abstufung der Beiträge und Renten nach vorherigem Einkommen vor, gleichwohl war bereits ein Markensystem vorgesehen, das zum individuellen Nachweis von Beitragsjahren in versicherungspflichtiger Beschäftigung dienen sollte und die Höhe zumindest der Invalidenrente mitbestimmte. 18 Vgl. die in den Anmerkungen 10 und 16 zitierten Schreiben an das Reichsamt des Innem, hier 72 Rs., 82-82 Rs., 116 Rs.-117. 15

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reagierte er mit einer Blockadepolitik l9 . Dagegen hielt er sich aus den konkreten Vorarbeiten zum Gesetz völlig heraus und überließ das Feld seinen Beamten. Was die sachlichen Fragen des Gesetzesvorhabens anging, war dem Reichskanzler offenbar schon 1887 klar, daß die sozialpolitische Linie vom Konzept beitragsfinanzierter Sozialversicherung, das durch Kranken- und Unfallversicherung bereits etabliert war, nicht mehr wegzubringen war. Er selbst favorisierte aber weiterhin mit einem gewissen Starrsinn seine erstmals im Zusammenhang mit dem Tabakrnonopol 1880/ 81 formulierte Absicht20, das Reich alle Kosten der neuen Versicherung aus staatlichen Einnahmen tragen zu lassen, und lehnte das Beitragsprinzip ab: "Den Satz, daß man nicht die Gesamtheit der Steuerzahler zugunsten einzelner Klassen der Bevölkerung belasten dürfe, vermag ich als richtig nicht anzuerkennen. Vielmehr trifft hier der Grundsatz zu, auf dem schon die Fabel des Menenius Agrippa21 von den Gliedern des Körpers und dem Magen beruht. Wie jeder lebendige Organismus an der Erhaltung und dem Wohlbefinden eines jeden seiner Glieder ein vitales Interesse hat, so hat auch die zum Staat gefügte Gesamtheit aller Stände und Berufszweige ein Interesse daran, daß jeder einzelne - insbesondere auch Industrie und Landwirtschaft - gedeihe, und darf sich nicht scheuen, dafür Opfer zu bringen:.22 Hinter den nicht verwirklichten Finanzierungsplänen des Reichskanzlers stand die weitergehende politische Absicht, dem Reich eine stärkere Rolle innerhalb des stets prekären deutschen Verfassungsgefüges zuzuweisen, es zum Träger "staatssozialistischer" Wohltaten zu machen 23 . Im Reichsamt des Innern wehrte man die Gesamtfinanzierung durch das Reich mit dem Hinweis ab, daß es unmöglich sei - schon aufgrund des zu erwartenden Einspruchs der Bundesstaaten -, in absehbarer Zeit dem Reichshaushalt eine so hohe Summe zu beschaffen24 • Man kalkulierte durchschnittlich 156 Millionen 19

Vgl. Gerhard A. Ritter, Bismarck und die Entstehung der deutschen Sozialversicherung

(= Pforzheimer Hefte 8), Pforzheim 1998, S. 27 f.

20 Vgl. zum Zusammenhang von Bismarcks Altersversorgungs- und TabakmonopolPlänen: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abt., 1. Bd.: Grundfragen staatlicher Sozialpolitik, bearb. von Florian Tennstedt/Heidi Winter, Stuttgart u. a. 1994, S. 597ff., 612ff., 630; dies. (Bearb.), Quellensamrnlung I. Abt., 2. Bd.: Von der Haftpflichtgesetzgebung zur ersten Unfallversicherungsvorlage, Stuttgart u. a. 1993, S. 402 f. Vgl. auch Gerhard A. Ritter, Bismarck und die Grundlegung des deutschen Sozialstaates, in: Franz Ruland/Bernd Baron v. Maydell/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozial staats. Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, HeideIberg 1998, S. 789-820, bes. 808f., 816f. 21 Menenius Agrippa, römischer Patrizier, überredete im Ständekampf 494 v. ehr. die Plebejer mit Hilfe der Fabel vom Magen und den Gliedern zur Rückkehr nach Rom. 22 Votum Bismarcks vom 11. 9. 1887 (wie Anm. 13, fol. 66 Rs.). 23 Zu dieser Interpretation der Bismarckschen Absichten in bezug auf das Projekt Arbeiterversicherung vgl. prägnant Florian Tennstedt, Der deutsche Weg zum Wohlfahrtsstaat 1871-1881. Anmerkungen zu einem alten Thema aufgrund neu erschlossener Quellen, in: Andreas Wollasch (Hrsg.), Wohlfahrtspflege in der Region. Westfalen-Lippe während des 19. und 20. Jahrhunderts im historischen Vergleich, Paderborn 1997, S. 255-267.

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Mark an jährlichen Ausgaben für die geplante Versicherung, die gesamten Ausgaben des Reiches in einem Jahr beliefen sich zu dieser Zeit nur auf etwa das Fünffache25 . Angesichts der noch immer so starken föderalistischen Mauern um die Finanz- und Steuerverfassung des Reiches war tatsächlich nicht erkennbar, wie man den Reichshaushalt für diese neue Rolle hätte rüsten können. Dagegen sollte das Reich nach den Vorstellungen im Reichsamt des Innern nur ein Drittel dieser Kosten, nämlich 52 Millionen Mark jährlich - bei Anwendung des Umlageverfahrens aber zunächst weitaus weniger -, in Form des Reichszuschusses zur Versicherung aufbringen, der damit also in gleicher Höhe wie der Arbeitgeberund der Arbeitnehmeranteil vorgesehen war26• Gegen die weitergehende Alternative allerdings, das Reich ganz heraus zu halten und diese Versicherung wie die Unfall- und Krankenversicherung ausschließlich über Beiträge finanzieren zu lassen, sprachen nicht nur die Bedenken hinsichtlich einer zu hohen Belastung der Arbeitslöhne. Betont wurde auch, daß "das Bedürfnis der Invalidenversicherung [ ... ] ein allgemeines" sei und "der neuen Belastung eine Erleichterung der öffentlichen Armenpflege ausgleichend gegenüber" stehe 27 . Wenn die Versicherung im gesamtgesellschaftlichen Interesse lag, war es nur folgerichtig, daß die Allgemeinheit ihren Beitrag, eben den Reichszuschuß, dazu leistete 28 • Diese Argumentation ließ sich aber auch umdrehen, um die relativ weite Ausdehnung des Versichertenkreises zu rechtfertigen: "Die Gewährung eines Zuschusses aus Reichsmitteln aber weist naturgemäß auf die Notwendigkeit hin, die dadurch bedingte Wohltat von vornherein allen Reichsangehörigen zugänglich zu machen, weIche derselben bedürftig sind, d. h. allen Klassen der gegen Lohn arbeitenden Bevölkerung. ,,29 Die von den Bundesstaaten und preußischen Ministern vorgetragenen Argumente für eine Einschränkung des Versichertenkreises lehnte man ab, weil es sich eben um ein generelles Problem handle und eine Beschränkung auf bestimmte Bezirke oder Berufszweige der Mobilität der Arbeiterschaft, die "sowohl den Ort als auch die Art der Beschäftigung" häufig wechsle, nicht gerecht 24 Zu diesem Einwand vermerkte Bismarck lapidar: "dann warten wir". Und das Argument, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer die erforderlichen Summen leichter aufbringen könnten, parierte er mit der Bemerkung: "dann können die sämtlichen Deutschen es noch leichter" (Hervorhebung im Original). Reichsamt des Innern an Bismarck vom 13. 10. 1887, BArch R 1501 Nr. 100018, fo1. 138-168 Rs., hier 139-139 Rs. (mit Randbemerkungen Bismarcks). 25 Nach S. Cohn, Die Finanzen des Deutschen Reiches seit seiner Begründung. In den Grundzügen dargestellt, Neudruck Glashütten i.T. 1972 (Originalausgabe Berlin 1899), S. 196, betrug die Summe der Reichsausgaben im Rechnungsjahr 1886/87 693,5, im Rechnungsjahr 1887/88877 Millionen Mark. 26 Vgl. Denkschrift betr. Alters- und Invalidenversicherung (wie Anm. 9), fol. 97 -97 Rs. 27 Reichsamt des Innern an Bismarck vom 13. 10. 1887 (wie Anm. 24), fol. 142 RS.-143. 28 So dann später auch in der Begründung des Gesetzentwurfs vom 22. 11. 1888, in der es hieß, daß "das an der geplanten Einrichtung so stark interessierte Gemeinwesen einen Teil der erforderlichen materiellen Opfer auf seine eigenen Schultern, auf allgemeine Reichsmittel zu übernehmen" habe. Bosse/Woedtke, Reichsgesetz, S. 99. 29 Denkschrift (wie Anm. 9), fol. 88 Rs.

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würde 3o . Während die Redakteure der "Grundzüge" so auf einer breiten Einbeziehung der Lohnarbeiterschaft beharrten, konnten sie sich nicht dazu verstehen, auch die Witwen und Waisen, also die Hinterbliebenen der vormaligen Ernährer, in ihr Versicherungsprograrnrn zu integrieren. Obwohl diese Bevölkerungsgruppe bekanntermaßen besonders häufig zur Klientel der Armenpflege zählte, galt die "erhebliche Mehrbelastung" durch eine solche Erweiterung als ausreichendes Argument zur Vertagung der Frage31 . Robert Bosse und Erich v. Woedtke waren insgesamt gegenüber der skizzierten Kritik von seiten Bismarcks und der Bundesstaaten nicht bereit, die aufgestellten Grundsätze entscheidend zu verändern 32• An der Drittelfinanzierung durch Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Reich hielten sie fest, am geplanten Umfang des Versichertenkreises und schließlich auch an der vorgesehenen berufsgenossenschaftlichen Organisation. Es ging den Reichsbeamten nicht nur um die augenscheinliche Erleichterung, die darin steckte, die beiden verwandten Versicherungszweige durch die gleiche Organisation bewältigen zu lassen und den Neuaufbau weiterer Anstalten vermeiden zu können. Den Berufsgenossenschaften konnte angesichts ihrer weitgehend kritischen Aufnahme bei der Arbeiterbevölkerung auch ein Legitimationsschub durch die Alters- und Invaliditätsversicherung, der ihnen "einen neuen festen Kitt und mehr Inhalt" gegeben hätte, nur gut tun 33 . In einem entscheidenden Punkt aber nahm man die Kritik der Bundesstaaten schon jetzt auf: Es wurde anerkannt, daß die ohnehin umstrittene Altersrente mit nur 50 Prozent des Mindestbetrages der Invalidenrente "den Gegnern der Sozialpolitik Anlaß zur Herabwürdigung" bieten würde, so daß man sie auf 100 Prozent dieses Satzes anhob: auch das waren nur 120 Mark im Jahr34 .

Reichsamt des Innem an Bisrnarck vorn 13. 10. 1887 (wie Anrn. 24), fol. 144 Rs. Denkschrift (wie Anrn. 9), fol. 87 Rs .. Vgl. weiter den Beitrag von Marlene Ellerkamp in diesem Band und Barbara Fait, Arbeiterfrauen und -familien im System sozialer Sicherheit. Zur geschlechterpolitischen Dimension der "Bismarck'schen Arbeiterversicherung", in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1997/1, S. 171-205, bes. 187 -194. 32 Freilich gab es einige Modifizierungen. So wurde die zunächst vorgesehene Möglichkeit der freiwilligen Versicherung für Nichtversicherungspflichtige fallen gelassen. Vgl. Punkt 5 der Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung (wie Anm. 9), fol. 75 - 75 Rs., und Reichsamt des Innem an Bismarck vom 13. 10. 1887 (wie Anm. 24), fol. 140 Rs.-141. Eine beschränkte Möglichkeit zur Selbstversicherung für kleinere Selbständige brachte später der Reichstag wieder in das Gesetz hinein, vgl. § 8, in: Bosse 1Woedtke, Reichsgesetz, S.211-214. 33 Reichsamt des Innern an Bismarck vom 13. 10. 1887 (wie Anm. 24), fol. 158 Rs. 34 Ebenda, fol. 147 RS.-148. Während die bayerische Stellungnahme zu den Grundzügen (vgl. Anm. 10) erst verspätet eintraf, bezog sich das Reichsamt des Innern hier auf Kritik von seiten des preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten, Albert Maybach. 30

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ß. Der Entwurf im preußischen Volkswirtschaftsrat und im Bundesrat

Die revidierten Grundzüge wurden am sechsten Jahrestag der Kaiserlichen Sozialbotschaft, am 17. November 1887, veröffentlicht, um damit "den Männem der Praxis und der Wissenschaft Gelegenheit zur Kritik und zur Aufstellung anderer Vorschläge zu bieten,,35. Eine Art Zwitterstellung zwischen einer solchen FachÖffentlichkeit und den politischen Entscheidungsinstanzen bekleidete der preußische Volkswirtschaftsrat, der seinerseits im Dezember 1887 die "Grundzüge" beriet. Der preußische Volkswirtschaftsrat, der nur die Vorstufe zu einem gleichartigen Gremium auf Reichsebene darstellen sollte, war von Bismarck mit deutlicher Stoßrichtung gegen die Parteien und den Reichstag ins Leben gerufen worden36 . Entgegen Bismarcks Wünschen kam es aber nicht zur Etablierung eines berufsständischen Nebenparlaments auf Reichsebene. Bei insgesamt geringer politischer Signifikanz blieb der preußische Volkswirtschaftsrat seit seiner Eröffnung im Januar 1881 im wesentlichen auf die Beratung der Sozialversicherungsgesetze und einiger wirtschaftspolitischer Vorlagen beschränkt. Die Sitzungen über die "Grundzüge" im Dezember 1887 beendeten die kurze Phase seiner Aktivität. In der Altersversicherungsdebatte nahmen die Vertreter im Volkswirtschaftsrat immerhin manchen Einwand vorweg und brachten manche Anregung ein, die später im Reichstag wieder auftauchen sollten. Daher begleitete man in Regierungskreisen den Austausch der Argumente und die Ergebnisse der Abstimmungen mit Interesse, um sich gleichsam auf den eigentlichen "Kampf' in der Arena des Reichstags vorzubereiten 37 . Gleichzeitig kamen die Kommentierung in der Presse, besonders den staatswissenschaftlichen und sozialreformerischen Organen, sowie die Diskussion in den Verbänden der Wirtschaft und in den Berufsgenossenschaften in Gang, die auch durch die Verhandlungen des Volkswirtschaftsrats angeregt wurden, weil es über seine Sitzungen - anders als bei den Bundesrats-Arcana eine öffentliche Berichterstattung gab 38 . 35 R. van der Borght, Ueber den Entwurf eines Gesetzes, betreffend die AIters- und Invalidenversicherung der Arbeiter, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 52 (1889), S. 1 - 88, hier 1. 36 Vgl. Thomas Nip~rdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1993, S. 409f.; Gerhard A. Ritter, Politische Repräsentation durch Berufsstände. Konzepte und Realität in Deutschland 1871-1933, in: Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, S. 261- 280, hier 265 - 267. 37 Innenstaatssekretär v. Boetticher leitete die Sitzungen des preußischen Volkswirtschaftsrates als Vorsitzender; Bosse und v. Woedtke waren im allgemeinen als Regierungskommissare anwesend und verteidigten ihre Vorlage. Vgl. weiterhin den Briefwechsel zwischen dem ehemaligen Chemiefabrikanten und Mitglied des Volkswirtschaftsrates Fritz Kalle und dem Abteilungsdirektor Robert Bosse vom 20. und 23. 12. 1887 in: BArch R 1501 Nr. 100020, fol. 140-143. 38 Vgl. v. Boetticher an Bismarck vom 25. 12. 1887, BArch R 43 Nr. 565, fol. 214-227, und die bei Borght, Entwurf eines Gesetzes, S. 2 - 5, aufgelisteten publizierten Stellungnahmen zu den "Grundzügen".

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Da die Mitglieder des Volkswirtschaftsrats zumeist unmittelbar dem Wirtschaftsleben entstammten, sorgten sie sich besonders um die Anwendbarkeit des künftigen Gesetzes in der Arbeitswelt. Aus solchen Überlegungen ging etwa der mehrheitlich verabschiedete Zusatz hervor, "vorübergehende Dienstleistungen" mit Beschluß des Bundesrats von der Versicherungspflicht ausnehmen zu können einer der wenigen Vorschläge des Volkswirtschaftsrats, der schließlich bis in die Endfassung des Gesetzes erhalten blieb39 . Die Verfechter dieser Ausnahmeregelung dachten vor allem an Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, die etwa zu Erntezeiten in großer Zahl zusätzlich beschäftigt werden mußten40 . Nicht durchsetzen konnte sich dagegen das Votum für die Einführung eines Umlageverfahrens. Obwohl der Vorschlag wirtschaftsfreundlicher war und zunächst eine wesentlich geringere Beitragsbelastung als das regierungsseitig vorgesehene Prämiendeckungsverfahren bedeutet hätte, überwogen bei den meisten Mitgliedern schließlich die vom Reichsamt des Innern mehrfach vorgetragenen Sicherheitsbedenken. Mit zu vielen Risiken belastet erschien der Wechsel auf die Zukunft, der in der Umlage steckte, auch weil man "längeres Leben und längeren Rentenbezug" bereits einkalkulierte und Sorge hatte, daß die Beitragsentwicklung künftig aus dem Ruder laufen könne41 • Ein ähnliches Gespür für die Probleme der Zukunft bewies man beim Streit um das richtige Organisationsprinzip für die neue Versicherungsart. Die Tendenz zur Verstetigung von Institutionen richtig einschätzend, erklärte Johann Friedrich Jencke, Vorsitzender der sog. Prokura bei Krupp in Essen: "Die Organisationsfrage sei eine der schwierigsten und wichtigsten des ganzen Gesetzes und um so ernster zu nehmen, als sich einzelne Bestimmungen eines Gesetzes später wohl abändern ließen, eine einmal geschaffene Organisation aber bleibend sei. ,,42 Jencke konnte sich indes mit seinem Vorschlag für eine Reichsversicherungsanstalt, den er später zugunsten einer "Zentralkassenstelle" abmilderte, nicht durchsetzen. Es blieb erst dem Bundesrat vorbehalten, in der Organisationsfrage die Weichen neu zu stellen. Im April 1888 wurde dem Organ der "verbündeten Regierungen" der auf Basis der "Grundzüge" ausgearbeitete Gesetzentwurf des Reichsamts des Innern vorgelegt. Es erstaunt nicht, daß die föderalen Interessen sich besonders von der künftigen Organisation der Versicherung herausgefordert fühlten; der Bundesrat befaßte sich damit weitaus am meisten und hinterließ hier die deutlichsten Spuren. 39 Vgl. Protokolle der Sechsten Sitzung des pennanenten Ausschusses des Volkswirtschaftsrats, 12. 12. 1887 (Antrag von v. Roeder und Jencke), und der Dritten Sitzung des Volkswirtschaftsrats, 13. 12. 1887; außerdem § 3 Abs. 3 des Gesetzes vom 22. 6. 1889, Bosse/Woedtke, Reichsgesetz, S. 185, 188. 40 Vgl. Kiepert nach Protokoll der Sechsten Sitzung des pennanenten Ausschusses des Volkswirtschaftsrats, 12. 12. 1887. 41 Heimendahl nach Protokoll der Dritten Sitzung des Volkswirtschaftsrats, 13. 12. 1887; Wiederherstellung des Prämiendeckungsverfahrens durch einen Antrag von Frentzel ebenda. 42 Jencke nach Protokoll der Vierten Sitzung des Volkswirtschaftsrats, 14. 12. 1887; Jenckes Plädoyer für eine Zentralkassenstelle und Ablehnung seines diesbezüglichen Antrags ebenda.

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In den Ausschußberatungen43 fungierte der bayerische stellvertretende Bundesratsbevollmächtigte Robert Landmann als Referent, der intensiv daran mitwirkte, diese Gesetzesinitiative des Reiches auf den Weg zu bringen. Während er einerseits eine strikt föderalistische Linie vertrat und vom Innenstaatssekretär v. Boetticher wegen seiner "partikularistischen Ängstlichkeit,,44 mehr als einmal gescholten wurde, verteidigte er den Gesetzentwurf andererseits mit Zähnen und Klauen gegenüber ablehnend gesinnten Reichstagsabgeordneten. Landmann brachte für Bayern den grundlegenden Antrag zur territorialen Organisation der Versicherung in den Bundesratsausschuß ein, der dort eine Mehrheit erlangte45 . Daraufhin wurde eine Subkommission eingesetzt, die diesen Vorschlag ausarbeiten und in gesetzestaugliche Form bringen sollte. Der Subkommission gehörten Bundesratsvertreter der größeren Einzelstaaten, nämlich Badens (Adolf Freiherr Marschall v. Bieberstein), Bayerns (Landmann), Preußens (Theodor Lohmann), Sachsens (Eduard Böttcher) und Württembergs (Karl Schicker), sowie der Regierungskommissar v. Woedtke an. Sie erwies sich bei der Beratung der Organisationsartikel, aus der letztlich das Konzept der Landesversicherungsanstalten hervorging, als so effektiv, daß man das Gremium beibehielt, um auch bei den weiteren Bundesratsverhandlungen strittige Fragen zu klären und Kompromisse zu erarbeiten. Das war vor allem kurz vor der abschließenden Plenarrunde im November 1888 der Fall, weil sich das Reichsamt des Innern inzwischen entschlossen hatte, den von verschiedenen Vertretern in Wissenschaft und Öffentlichkeit erhobenen Forderungen nach einer stärkeren Individualisierung der geplanten Einheitsrenten nachzukommen. Nach Erwägung der verschiedenen Alternativen arbeitete Regierungsrat v. Woedtke den Vorschlag zur Einführung des Ortsklassensystems aus, den die Subkommission dann gewissermaßen in letzter Minute noch ausfeilen mußte46 . Die gemeinsame Arbeit im Gremium trug dazu bei, die quasi "natürliche" Koalition der süddeutschen Staaten Bayern, Baden und Württemberg weiter zu festigen, auch das Königreich Sachsen schloß sich durch seinen Vertreter dieser Linie an47 . Es war diese Koalition der Mit43 Die Bundesratsausschüsse für Handel und Verkehr, für lustizwesen und für Rechnungswesen wurden zur Beratung der IAV zusammengelegt und als gemeinsames Gremium konstituiert, das erstmals am 11. 5. 1888 tagte. 44 Bericht Landmanns an das Bayerische Staatsministerium des Innern vom 6. 6. 1888, BayHStA MArb Nr. 1180. 45 Vgl. Bericht Landmanns an das Bayerische Staatsministerium des Innern vom 25. 5. 1888, BayHStA MArb Nr. 1179. Der bayerische bzw. Landmanns persönlicher Einfluß auf das Gesetz wird aus den Quellen vielfach deutlich, etwa auch aus der scherzhaften Bemerkung eines Mitglieds der Reichstagskommission, "dies sei eigentlich kein deutsches, sondern ein bayerisches Gesetz" (zitiert vom Freisinn-Abgeordneten Reinhart Schmidt in der Sitzung vom 9. 4.1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 3, S. 1414). 46 Denkschrift V. Woedtkes vom 26. 10. 1888 betr. "die Rentenbemessung bei der Altersund Invalidenversicherung", BArch R 1501 Nr. 100024, fol. 45 -60 Rs., sowie Bericht Landmanns an das Bayerische Staatsministerium des Innern vom 2. 11. 1888, BayHStA MArb Nr. 1180. Vgl. weiter unten, S. 61 f. 47 Sachsen war aus historischen Ressentiments stets bereit, sich Koalitionen gegen Preußen anzuschließen. Vgl. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 95 f.

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telstaaten, die die territorialen Versicherungsanstalten gegen die Stimmen Preußens durchsetzte. Das veranlaßte den Zentrumsführer Ludwig Windthorst später im Reichstag zu bemerken, daß man sich über eine solche "Herrschaft der Mittelstaaten" nur freuen könne, weil damit im Bundesrat auch einmal andere als die preußische Stimme entschieden hätten 48 . Jedenfalls waren die Anhänger einer föderalen Versicherungs struktur auch im Reichstag zahlreich genug, um den Bundesratsentwurf zur Organisation nicht mehr zu kippen49 . Wie sah nun der Entwurf aus, den der Bundesrat am 15. November 1888 verabschiedete? In der Organisationsfrage hatte sich, wie erwähnt, das föderale Konzept der Landesversicherungsanstalten durchgesetzt, das gegen den auf die Berufsgenossenschaften setzenden Entwurf der Reichsleitung konkurrieren mußte. Das berufsgenossenschaftliche Modell konnte dabei auf den Vorteil der organisatorischen Synchronisierung von Unfall- und Altersversicherung verweisen, die als Versicherungsformen ja auch inhaltlich verwandt waren: "Beide Wohlfahrtseinrichtungen haben dauernde Verhältnisse derselben Personen, die Sicherung des Lebensunterhalts Erwerbsunfähiger durch Gewährung einer Rente, zum Ziel". Zudem konnte mit einiger Berechtigung auch die Invalidität als indirekte Folge der Erwerbsarbeit angesehen werden: "Insbesondere ist die Grenze zwischen einem Betriebsunfall und den allmählich wirkenden Einflüssen des Betriebes, welche beide die Erwerbsunfähigkeit hervorrufen, nicht immer leicht erkennbar. ,,50 Trotz dieser inhaltlichen Parallelen und des oben erwähnten Wunsches, den Berufsgenossenschaften eine neue Legitimationsbasis zu verschaffen, stellten die Einzelstaaten andere Interessen voran. Für sie mußte es vor allem darum gehen, in dieser neuen sozialpolitischen Institution präsent zu sein und das föderale Prinzip zu wahren, gegenüber den Rentenempfängern als Leistungsgewährende aufzutreten und nicht dem Reich allein die Rolle des Wohlfahrtsstaates zu überlassen51 . Während 48 Sitzung vom 9. 4.1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 3, S. 1409. 49 Es sei daran erinnert, daß die erste Unfallversicherungsvorlage 1881 unter anderem an der vorgeschlagenen Reichsanstalt scheiterte, die im Reichstag schon damals zugunsten von Landesanstalten abgelehnt wurde, vgl. Florian Tennstedt/Heidi Winter, ,,Jeder Tag hat seine eigenen Sorgen, und es ist nicht weise, die Sorgen der Zukunft freiwillig auf die Gegenwart zu übernehmen." (Bismarck). Die Anfänge des Sozialstaats im Deutschen Reich von 1871, Teil 2, in: ZSR 41 (1995), S. 671-706, hier 671. 50 Zitate aus der Begründung des Gesetzentwurfs vom 22. 11. 1888, in: Bosse/Woedtke, Reichsgesetz, S. 104. Hier werden noch die Argumente angeführt, die für die Berufsgenossenschaften gesprochen hätten, obwohl der Entwurf in diesem Stadium (nach den Beschlüssen des Bundesrats) bereits Landesversicherungsanstalten vorsah. Eine weitere Erörterung des ,,Pro und Contra" der Organisationsalternativen hatte der Reichskanzler für die Entwurfsbegründung verlangt, nachdem der Bundesrat das territoriale Prinzip beschlossen hatte und Bismarck offenbar noch hoffte, daß der Reichstag diesen Beschluß revidieren würde. Bericht Landmanns an das Bayerische Staatsministerium des Innern vom 3. 6. 1888, BayHStA MArb Nr. 1180. 51 Umgekehrt wollten die Gegner des föderalen und Anhänger eines zentralistischen Konzepts gerade nicht akzeptieren, "daß ein Gesetz, welches vom Reich eingeführt, im Reichstag beraten ist, in welchem ein sehr bedeutender Reichszuschuß vorgesehen wird", nicht auch

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das der politische Gehalt des territorialen Konzepts war, wurden nach außen "Gründe der Zweckmäßigkeit" zugunsten der Landesversicherungsanstalten vorgetragen52 • Sie würden sich problemlos in den bisherigen einzelstaatlich-dezentralen Verwaltungsautbau in Deutschland integrieren lassen, während für eine zentrale Anstalt eine völlig neue Reichsverwaltung mit zahlreichen Unterorganen geschaffen werden müsse. Gegen die Berufsgenossenschaften ließ sich andererseits anführen, daß ein selbstverwaltetes, branchenorientiertes System nicht in der Lage wäre, das notwendige finanzielle Rückgrat aufzubauen und den Verwaltungsaufwand einer Versicherungsform zu bewältigen, die den Arbeiter letztlich in der gesamten Zeit seines Berufslebens erfassen sollte. Vollends gewann dieses Argument an Bedeutung, als der Bundesrat sich gegen Ende seiner Verhandlungen für das Konzept der Ortsklassen entschied, das gegenüber den zuvor geplanten Einheitsrenten eine erhebliche Komplizierung der Versicherungsverhältnisse brachte. Eigentlich hatten die weitestgehenden Forderungen nach Individualisierung der Rentenberechnung sogar auf das gezielt, was heute selbstverständlich geworden ist, nämlich eine Zugrundelegung des individuellen Verdienstes während der gesamten Versicherungszeit53 . Aber letzteres schien den Beamten im Reichsamt des Innern erhebungstechnisch so schwierig, daß sie dadurch "die Durchführbarkeit der ganzen Einrichtung in Frage gestellt" sahen54 . Den letzten Lohn aber konnte man auch nicht einfach zugrunde legen, weil der Lohn eines Arbeiters "mit zunehmendem Alter nicht wie bei einem Beamten steigt, sondern eher abnimmt"ss. Mit dem von Erich v. Woedtke ausgearbeiteten Ortsklassensystem glaubten die Bundesratsvertreter dagegen, eine gangbare Lösung präsentieren zu können. Die Versicherten waren gemäß dem regional unterschiedlichen Lohnniveau, das nach "dem ortsüblichen Tagelohn gewöhnlicher erwachsener Tagearbeiter" ermittelt wurde, in fünf verschiedene Kategorien zu gliedern, für die entsprechende Marken zu kleben waren. Insbesondere sollte dadurch der Gefahr vorgebeugt werden, "daß die Renten und die Beiträge für einzelne Gegenden eine Höhe erreichen, welche mit den örtlichen Verhältnissen dieser Gegenden in zu großem Mißverhältnis mit Hilfe einer Reichsverwaltung durchgeführt würde. Nationalliberaler Abgeordneter Dtto Duvigneau in der Reichstagssitzung vorn 9. 4. 1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 3, S. 1396. 52 Badischer Gesandter Freiherr Marschall v. Bieberstein, ebenda S. 14ll f. (im gleichen Tenor auch der württembergische Gesandte Graf V. Zeppelin, ebenda S. 1412). Zu den einzelnen Argumenten für und gegen Reichsanstalt, Landesversicherungsanstalten und Berufsgenossenschaften S. die gesamte Reichstagsdebatte vorn 9. 4. 1889, ebenda, S. 1395 -1416. 53 Vgl. den Beitrag von Wilfried Rudloff in diesem Band, bes. S. 114 f. 54 ,,Eine Abstufung der Renten und der Beiträge [ ... ] nach dem Individualverdienst oder nach Lohnklassen der einzelnen Versicherten würde nämlich erforderlich machen, daß die Höhe des Individuallohnes und die Richtigkeit der auf diese Höhe sich beziehenden Angaben des Arbeitgebers oder des Versicherten von der Versicherungsanstalt fortlaufend kontrolliert würde." Begründung des Gesetzentwurfs vorn 22. 11. 1888, Bosse/Woedtke, Reichsgesetz, S.89f. 55 Bericht Landmanns an das bayerische Staatsministerium des Innem vorn 28. 10. 1888, BayHStA MArb Nr. 1180.

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stehen,,56. Mit Mißverhältnis war durchaus auch gemeint, daß einheitliche Renten im ganzen Reich vor allem auf dem platten Land zu hoch ausfallen und ein ähnliches Niveau erreichen könnten, wie ein einfacher Tagelöhner durch seine Arbeit erzielte5? .

111. Der Entwurf im Reichstag Mit den Ortsklassen wurde der Weg zu einer Differenzierung des Rentenversicherungssystems gewiesen, auf dem eine Mehrheit des Reichstags weiter und konsequenter fortschritt. Dabei mußte sie sich vor allem gegen die Positionen der Konservativen durchsetzen. So lehnten deren Abgeordnete Wilhelm v. Flügge und Oscar Hahn in der Reichstagskommission die Einführung eines wie auch immer differenzierenden Systems grundsätzlich ab und wollten zur Einheitsrente zurückkehren. Sie betonten, daß das Gesetz nur vor Not schützen solle und keinen weiteren Zweck habe. Insbesondere solle es keinen Beitrag leisten zu der höheren Lebenshaltung, an die sich einzelne Klassen der arbeitenden Bevölkerung gewöhnt hätten. Dem hielt der Nationalliberale Gustav Struckmann geradewegs entgegen: Auch nur der Anschein, daß es sich hier um eine verlängerte Armenpflege handele, müsse vennieden werden. Die Arbeiter bildeten keine große unterschiedslose Masse. Man müsse deshalb Wert darauf legen, daß besser situierte Arbeiter sich eine höhere Rente durch höhere Beiträge sichern könnten58 . Diese Argumentation setzte sich durch, allerdings nicht in der vom Bundesrat vorgeschlagenen Gliederung nach Ortsklassen, sondern in einem Lohnklassensystem, das der nationalliberale Abgeordnete Wilhelm Oeche1häuser zusammen mit einigen Fraktionskollegen und Zentrumsabgeordneten erfolgreich beantragte59 . Damit wurden an Stelle des regionalen Gefälles die Lohnunterschiede zum vorrangigen Differenzierungsmerkmal. Sie sollten der Binnenschichtung der Arbeiterschaft näher kommen als die häufig von Zufällen bestimmten Arbeitsorte6o. Allerdings wurden die Arbeiter weiterhin nicht nach ihrem Individualverdienst in eine der vier Lohnklassen eingestuft, sondern aufgrund eines für ihre Arbeiterkategorie errechneten Durchschnittslohnes, der sich an den Bestimmungen des Krankenversicherungsgesetzes orientierte. Hier setzte die Kritik der Sozialdemokratie ein, die in der zweiten Lesung des Reichstags möglichst eine Differenzierung nach Individuallöhnen verlangte, Bosse/Woedtke, Reichsgesetz, S. 93. Vg!. z. B. die Ausführungen von Karl Gamp (Reichspartei) in der Reichstagssitzung vom 5. 4. 1889: ,,Es kann sozialpolitisch nicht versöhnend wirken, wenn invalide oder alte Arbeiter eine so hohe Rente bekommen, daß dieselbe fast den Tagelohn erreicht, den ihre bisherigen Arbeitsgenossen an demselben Orte sich nur mit schwerer Arbeit verdienen können" (Sten. Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 2, S. 1320). 58 Wortbeiträge nach dem Protokoll der Sitzung der VI. Reichstagskommission am 31. 1. 1889, BArch R 101 Nr. 3138, fo!. 183 - 188 Rs., hierfo!. 183 - 184 Rs. 59 Antrag ebenda fo!. 181, Abstimmung fo!. 188 Rs. 60 Vg!. die Argumentation Oechelhäusers in der Kommissionssitzung vom 30. 1. 1889, BArch R 101 Nr. 3138, fo!. 173 -179, hierfo!. 176 Rs.-I77. 56 57

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mindestens aber die SchlechtersteIlung der Mitglieder freier Hilfskassen beseitigt wissen wollte61 . Während nämlich für die Versicherten einer Orts-, Fabrik- oder Knappschaftskasse der Durchschnittslohn innerhalb ihrer Arbeiterkategorie bestimmt wurde, sollte für die Mitglieder der freien Hilfskassen wiederum nur der "ortsübliche Tagelohn" als Maßstab gelten 62 • Weder ihre Minimal- noch ihre Maximalforderung konnte die Partei durchsetzen. Das Prinzip der Lohnklassen an sich wurde aber von den Sozialdemokraten, "die auf ihre starke Klientel unter den Facharbeitern Rücksicht nehmen mußten,,63, durchaus gegenüber der Einheitsrente bevorzugt. Auch bei einer von der Sozialdemokratie bis zur Reichspartei getragenen Mehrheit im Reichstag setzte sich die Auffassung durch, daß die im Arbeitsleben individuell erworbene Stellung über die eigentliche Erwerbsphase hinaus eine gewisse Geltung beanspruchen müsse. Seine ganze Tragweite zeigte dieses Konzept freilich noch nicht mit den Zuschußrenten des Kaiserreichs, sondern erst mit der Dynarnisierung der Renten in der Bundesrepublik, die nunmehr viel weitergehend das Ziel der Statussicherung verfolgten 64 • Nach Vorwegnahme dieses zentralen Diskussionspunktes der Reichstagsverhandlungen seien ihr Ablauf und ihre Ergebnisse in einem letzten Teil skizziert. Der vom Bundesrat verabschiedete Entwurf wurde am 22. November 1888 dem Reichstag vorgelegt, und es begann sodann ein Wettlauf gegen die Zeit, um das Gesetz noch in der laufenden Session verabschieden zu können; anderenfalls hätte es wieder eingebracht und völlig neu verhandelt werden müssen. In der Spanne von einem halben Jahr bewegten die Abgeordneten allerdings erstaunlich viel; deutlich mehr als bei den anderen Sozialversicherungsgesetzen. Überwiegend waren es zwar nicht Änderungen an den großen Linien der Versicherung, sondern an ihren Detailbestimmungen, immerhin konnten diese aber für die spätere Durchführungspraxis und historische Entwicklung der Rentenversicherung von wesentlicher Bedeutung sein: Genannt sei die von dem nationalliberalen Abgeordneten 61 Vgl. die Beiträge von Karl Grillenberger in den Reichstagssitzungen vom 5. und 6. 4. 1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 2, S. 1318 f. und 1348-1350, sowie die Abänderungsanträge unter Nr. 149 von Bebel und Genossen, ebenda, Bd. 6, S. 1184f. 62 Eine Ausnahme galt freilich für alle: Arbeitgeber und Versicherter konnten sich gemeinsam darauf einigen, daß ein höherer Betrag als lahresarbeitsverdienst zugrunde gelegt und entsprechend die Versicherung in einer höheren Lohnklasse abgeschlossen wurde. Zur Bedeutung dieser nach ihrem Urheber benannten "Wichmannschen Klausel" S. den Bericht der VI. Kommission vom 22.3. 1889, Drucksache Nr. 141, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 5, S. 956f. 63 Gerhard A. Ritter, Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998, S. 43. 64 Gleichwohl unterschieden sich die erreichbaren Renten in den einzelnen Lohnklassen auch nach dem Gesetz von 1889 schon erheblich, teilweise um mehr als 100% zwischen der ersten und vierten Klasse (Ähnliches gilt für die Beiträge). Vgl. die Modellrechnungen von Michael Nitsche, Die Geschichte des Leistungs- und Beitragsrechts der gesetzlichen Rentenversicherung von 1889 bis zum Beginn der Rentenreform, Frankfurt a.M. u. a. 1986. S.493-495.

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Gustav Struckmann eingebrachte Möglichkeit zur Übernahme des Heilverfahrens durch die Versicherungsanstalt für einen Versicherten, dem aufgrund seiner Krankheit Erwerbsunfähigkeit drohte (§ 12)65. Freilich wurde hier nur der gesetzliche Grundstein gelegt; für die weitere Ausdehnung dieser Aufgabe sorgten dann die Landesversicherungsanstalten selbst, die sich alsbald vor allem in der Tuberkulosefürsorge und Heilstättenbewegung engagierten66 . Die Gründe für die Intensität der Reichstagsberatungen sind - so paradox das klingt - ebenso in der Neuartigkeit dieses Versicherungsprojektes zu suchen wie in seiner Anknüpfung an die bereits verabschiedeten Sozialversicherungsgesetze. Neu war, daß eine staatlich geregelte und mitfinanzierte Versicherung sich der nicht nur schwer kalkulierbaren, sondern auch schwer durch allgemeingültige Kriterien erfaßbaren Risiken Alter und Invalidität annehmen sollte. Ausführlichere Diskussionen und kontroverse Anträge gab es daher sowohl zur Festlegung einer angemessenen Altersgrenze wie auch zur Definition der Erwerbsunfähigkeit. Im ersten Fall blieb es schließlich bei der schon im Entwurf vorgegebenen hohen Hürde von 70 Jahren für den automatischen Bezug einer Altersrente. Obwohl allen klar war, daß damit nur sehr wenige Arbeiter in den Genuß einer Altersrente gelangen würden, sah man diesen Mangel durch die (altersunabhängigen) Invalidenrenten kompensiert. Nicht das Alter an sich galt als schützenswert, sondern der Zustand der eingeschränkten Erwerbsfähigkeit, den man allerdings mit gutem Grund bei einem 70jährigen Arbeiter voraussetzen durfte 67 . So lautete auch die Begründung des Abgeordneten der Reichspartei und Beamten im Reichsamt des Innern, Karl Gamp, für die unbedingte Altersrente: "Lediglich um den Beweis der verminderten Erwerbsfähigkeit zu sparen, schlägt die Gesetzgebung vor, vom 70. Jahre ab eine Minimalrente zu gewähren.,,68 Selbst SPD und Freisinn, die am nachdrücklichsten für eine Herabsetzung dieser hohen Altersgrenze stritten, wollten eigentlich nur eine großzügigere Behandlung des Invaliditätsfalles erreichen, auch sie gingen noch nicht so weit, den verdienten Ruhestand für die Arbeiter zu fordern 69 . War der Konsens im Hinblick auf die Nachrangigkeit der Alters- gegenüber der Invaliditätsversicherung also hoch, machte gerade die Definition der Invalidität 65 Zur problemlosen Verabschiedung des Antrags s. Kommissionssitzung vom 22. 1. 1889, BArch R 101 Nr. 3138, fol. 114-116 Rs. (Antrag ebenda, fol. 79). 66 Vgl. Florian Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialversicherung, in: Maria Blohrnke u. a. (Hrsg.), Handbuch der Sozialmedizin, Bd. 3: Sozialmedizin in der Praxis, Stuttgart 1976, S. 385 -492, hier 453 f. 67 Vgl. Gerd Göckenjan/Eckhard Hansen, Der lange Weg zum Ruhestand. Zur Sozialpolitik für das Alter zwischen 1889 und 1945, in: ZSR 39 (1993), S. 725-755, bes. 727729. 68 Sitzung vom 2.4.1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 2, S. 1196. 69 Vgl. die Redebeiträge des Freisinn-Abgeordneten Reinhart Schmidt (ebenda, S. 11911193) und von August BebeI, der erklärte, "daß ich für meine Person [ ... ] ohne weiteres auf die Altersrente verzichten würde, wenn die Invalidemente in einer unseren Wünschen entsprechenden Weise angenommen [ ... ] würde" (ebenda, S. 1196-1199, hier 1196).

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große Schwierigkeiten und führte zu wechselnden Vorschlägen in allen Stadien des Gesetzgebungsprozesses70. Schließlich einigte sich der Reichstag zur Bestimmung der Erwerbsunfähigkeit auf eine sehr komplizierte Formel, die schon zehn Jahre später zugunsten einer realitätsnäheren Bestimmung aufgegeben wurde7l : Nach dem Text von 1889 galt ein Arbeiter erst als erwerbsunfähig, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr in der Lage war, eine festgelegte "Drittel-Grenze" verdienstmäßig zu erreichen. Dieses Drittel setzte sich zusammen aus einem Sechstel des eigenen durchschnittlichen Lohnsatzes in den vergangenen fünf Jahren und einem Sechstel des ortsüblichen Tagelohns gewöhnlicher Tagearbeiter. Damit war ein Kompromiß gefunden zwischen denjenigen, die den Invaliditätsfall an den subjektiven Verdienstmöglichkeiten des Individuums orientieren wollten, und denjenigen, die den einfachen Tagelohn bevorzugten, der zwar ein sehr niedriges, dafür aber standardisiertes Maß bot72 . Obwohl die spezifischen Risiken Alter und Invalidität ein neues Diskussionsfeld eröffneten, konnten die Abgeordneten an das Sachwissen, aber auch das politische Selbstbewußtsein anknüpfen, das sie sich während ihrer Beschäftigung mit den ersten Sozialversicherungsgesetzen aufgebaut hatten. Das galt im Fall einzelner Protagonisten wie der nationalliberalen Abgeordneten Franz Armand Buhl oder Wilhelm Oechelhäuser, das galt jedoch außerdem für den Reichstag insgesamt, der seinen Gestaltungswillen bei dieser Vorlage unter Beweis stellen wollte. Selbst Vertreter der Deutschen Freisinnigen Partei, die dem ,,zwangsgesetz" mit seiner Begünstigung eines "Staatspensionärsturns" grundsätzlich ablehnend gegenüber stand73 , beteiligten sich mit Energie und konstruktiver Kritik an der parlamentarischen Arbeit. Ihr Abgeordneter Heinrich Rickert verwies darauf, daß "die Volksvertretung" sich auf keinen Fall von Bismarck oder den Vorgaben der Kaiserlichen Botschaft "die volle Verantwortung, die sie selber neben der Krone für gesetzgeberische Akte hat", abnehmen lassen sollte74 • Tatsächlich war die politische Konstel70 Über den entsprechenden § 7 des Entwurfs diskutierte die Reichstagskommission in ihrer ersten Lesung allein während vier Sitzungen vom 18. bis 22. l. 1889. Auch die von Struckmann u. a. beantragte Einführung der "Halbinvalidität" in das Gesetz spielte dabei eine Rolle, allerdings ohne Erfolg, weil man sich kaum auf eine Definition der Erwerbsunfahigkeit, geschweige denn auf einen Unterfall derselben einigen konnte (BArch R 101 Nr. 3138, fol. 82-116 Rs.). Vgl. zur Problematik auch Florian Tennstedt, Berufsunfahigkeit im Sozialrecht. Ein soziologischer Beitrag zur Entwicklung der Berufsunfahigkeitsrenten in Deutschland, Frankfurt a.M. 1972, bes. S. 25-29. 71 Vgl. den Beitrag von Lars Kaschke in diesem Band, bes. S. 131 f. 72 Zu dieser Kompromißfindung kam es durch einen Antrag von Hermann Fürst v. Hatzfeld-Trachenberg (Reichspartei) u. a. in der Sitzung vom 8. 3. 1889 in der zweiten Kommissionslesung, BArch R 101 Nr. 3139, fol. 228 -235 (Abstimmung fol. 233 Rs., Antrag fol. 187). 73 Vgl. z. B. die Rede von Karl Schrader in der Generaldebatte des Reichstags am 7.12.1888, Steno Berichte Reichstag, vn. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 1, S. 183-192, bes. S. 191 f. Vgl. auch Müller, Stellung der liberalen Parteien, bes. S. 35 f. 74 Sitzung vom 2. 4.1889, Steno Berichte Reichstag, vn. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 2, S. 1199.

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lation für den Eifer der Parlamentarier günstig, denn Bismarck hatte offensichtlich kein Interesse mehr daran, seine Kräfte bei einem Projekt zu messen, das sich weit von seinem "Vater" entfernt hatte. Vor der Schlußabstimmung des Reichstags über das Gesetz im Mai 1889 erklärte er seine Zurückhaltung in den vergangenen zwei Jahren aus der Notwendigkeit, mit fortschreitendem Alter seine Energie auf die "Hauptrichtungen" der inneren und äußeren Politik zu konzentrieren. "Ich habe [ ... ] schon hervorgehoben, daß meine Nichtbeteiligung an den Diskussionen im einzelnen nicht aus Mangel an persönlichem Interesse hervorgeht, sondern aus Mangel an Kräften, der Gesamtheit meiner Aufgaben nach allen Seiten hin wie früher zu genügen."75 Bei dieser Gelegenheit trat er zum letzten Mal in seiner Amtszeit persönlich im Reichstag auf. Die Beratungen zur Alters- und Invaliditätsversicherung fielen in die Periode des sog. Kartellreichstags, dessen Zusammensetzung durch Wahlbündnisse zwischen Deutsch-Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen wesentlich bestimmt worden war. Das Kartell bildete allerdings keine selbstverständliche Regierungsmehrheit, wie auch die Rentenversicherungsfrage zeigt. In allen drei Parteien überwogen zwar die Befürworter des Gesetzes, waren aber auch dezidierte Gegner zu finden. Ein Fraktionszwang wurde nicht praktiziert, d. h. abweichende Positionen konnten bis hinein in die Schlußabstimmung des Gesetzes aufrechterhalten werden. Die wurde dann auch zu einer Zitterpartie76 : Bismarck betrat zwar noch einmal persönlich die parlamentarische Bühne, um insbesondere die "konservativen" Abgeordneten - zu denen er hier in einer weiten Auslegung des Begriffes auch Nationalliberale und Zentrums mitglieder rechnete - auf Zustimmung einzuschwören, er war damit aber nur teilweise erfolgreich. In der Schlußabstimmung wurde das Gesetz recht knapp mit 185 zu 165 Stimmen verabschiedet. Ablehnend stimmten insbesondere der größere Teil der Zentrumsfraktion und fast alle Freisinnigen, aber eben auch einige Konservative und Nationalliberale. Die Sozialdemokraten waren prinzipiell und damit geschlossen gegen das Gesetz in dieser Form. Unterstützung gewann die Reichsleitung also (um es noch einmal positiv zu formulieren) von den Großteilen der Konservativen, der Reichspartei und der Nationalliberalen und von einem kleineren Teil der Zentrumsfraktion. In der Arbeit der VI. Reichstagskommission, die seit Anfang 1889 das Gesetz beriet, war bereits auffällig geworden, daß sich funktionale Koalitionen zwischen Abgeordneten bildeten, die offensichtlich weniger von den Grenzen der Partei oder des Kartells bestimmt waren als von Übereinstimmung in der Sache und dem Wunsch, konsensfähige Lösungen zu finden 77. Als Beispiel sei angeführt, daß die 75 Sitzung vom 18. 5. 1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 3, S. 1831. 76 Zur Schlußabstimmung vgl. Rücken, Entstehung und Vorläufer, S. 11 f. 77 Vgl. Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, S. 252: "Der Kompromißcharakter des Gesetzes kam in einer ganzen Reihe von einzelnen Verhandlungs- und Entscheidungs-

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Herabsetzung der Altersgrenze auf 65 Jahre, die die Kommission in erster Lesung beschlossen hatte, durch einen Antrag des Zentrums-Abgeordneten Freiherrn v. Gagern, des Konservativen Freiherrn v. Manteuffel und des Nationalliberalen Struckmann wieder rückgängig gemacht wurde. Sie argumentierten mit der beträchtlichen Erhöhung des Reichszuschusses, die sich bei Annahme der 65 Jahre ergeben würde, und konnten eine Wiedereinsetzung der 70-Jahresgrenze in zweiter Lesung erreichen 78 • Nicht vertreten waren in der Kommission die Polen, die Elsässer und die Sozialdemokratie79. Das trug dazu bei, daß sich bei den Kommissionsmitgliedern und den begleitenden Regierungsvertretern offensichtlich ein Gefühl des "entre nous" entwickelte, gestört allerdings noch durch die Anwesenheit der Freisinn-Abgeordneten. Als nach der ersten Lesung der Kommission die Regierungsseite Handlungsbedarf sah und versuchen wollte, die parlamentarischen Änderungsbeschlüsse wieder auf den Boden der Regierungskonzepte zurückzuführen, wurden die freisinnigen Abgeordneten daher nicht an den Verständigungsgesprächen beteiligt80 . Unter der Ägide des Reichsamts des Innern traf sich die erwähnte Subkommission des Bundesrats mit "Vertrauensmännern" der konservativen Parteien, der Nationalliberalen und des Zentrums 81 • In dieser sog. "freien" oder "Verständigungskommission" unterbreiteten die Bundesratsbevollmächtigten den Reichstagsabgeordneten die Vorschläge, die sie in Marathonsitzungen ausgearbeitet hatten, um die Beschlüsse der Reichstagskommission in erster Lesung da zu korrigieren, wo es ihrer Meinung nach notwendig war82 • Gemeinsam entwickelte man jetzt Anträge, die die Reichstagsabgeordneten unter Führung des Nationalliberalen Buhl dann in der zweiten Lesung einbrachten. Zum Beispiel ging daraus schritten zustande. Es ist deshalb schon methodisch fragwürdig, das eine oder andere Element direkt dem Einfluß einer Gruppe zuzuordnen." 78 Vgl. Sitzung vom 8. 3. 1889, BArch R 101 Nr. 3139, fol. 228-235 (Abstimmung fol. 233 Rs., Antrag ebenda, fol. 198). 79 Zu den Kommissionen und ihrer Wahl vgl. Norbert Ullrich, Gesetzgebungsverfahren und Reichstag in der Bismarck-Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Fraktionen, Berlin 1996, S. 42-44. Die Sozialdemokraten hatten mit nur elf Abgeordneten keinen Fraktionsstatus und waren daher auf das Entgegenkommen der Fraktionen der anderen Parteien angewiesen, um auch Kommissionsmitglieder stellen zu können. Im vorliegenden Fall wurde das der Sozialdemokratie offenbar verweigert; vgl. Grillenberger am 29.3. 1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 2, S. 1103. 80 Dennoch handelte sich der Freisinn-Abgeordnete Heinrich Rickert einen Ordnungsruf ein, als er in einer Plenardebatte davon sprach, daß einige Herren "außerhalb des Hauses in geschlossenen Konventikeln" die Dinge unter sich abgemacht hätten. Sitzung vom 11. 4.1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 3, S. 1487; vgl. auch Benöhr, Verfassungsfragen, S. 100. 81 Vgl. Bericht Schickers an das Württembergische Staatsministerium vom 10. 3. 1889, HStA Stuttgart E 130a Nr. 1043, und Bericht Böttchers an das Sächsische Innenministerium vom 9. 3. 1889, SächsHStA MdI Nr. 13350, fol. 159-162. 82 Vgl. Berichte V. Marschalls an das Badische Staatsministerium vom 23. 2. und 2.3. 1889, Generallandesarchiv Karlsruhe Abt. 233 Nr. 13442, und den Bericht Böttchers an das Sächsische Innenministerium vom 20. 2. 1889, SächsHStA MdI Nr. 13350, fol. 157 f. 5'

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die endgültige Ausgestaltung des Lohnklassensystems mit der Festlegung der Verdienstgrenzen zwischen den vier Klassen hervor 83 . Den Anträgen war aufgrund der Beteiligung aller Fraktionen bis auf den Freisinn natürlich ein hoher Erfolg beschieden. Mit der informellen Verständigung zwischen Regierungsvertretern der Länder, der Reichsbürokratie und den Parlamentsabgeordneten war aber auch der Boden bereitet, daß das Gesetz in der vom Reichstag verabschiedeten Form die Zustimmung des Bundesrats erlangte. Schlägt man abschließend noch einmal den Bogen von der Ausgangskonzeption der "Grundzüge" 1887 bis zum fertigen Gesetz vom 22. Juni 188984 , so läßt sich die Vielfalt der auf den Gesetzgebungsprozeß wirkenden Einflüsse nicht auf einen maßgeblichen Hauptfaktor reduzieren. Die Architekten des Gesetzes in der Reichsleitung konnten ihre Grundkonzeption im Hinblick auf einen weiten Versichertenkreis und eine hohe Altersgrenze von 70 Jahren, die der eigentlichen Altersrente eine subsidiäre Funktion gegenüber der Invalidenrente zuwies, beibehalten. Auch die Aufteilung der Beiträge auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Anteilen oder der Reichszuschuß, der allerdings von einem Drittel-Anteil in einen festen Betrag von 50 RM pro Rente umgewandelt wurde, blieben bestehen. Nachgeben mußte das Reichsamt des Innern dagegen hinsichtlich der Organisation der Versicherung, in der sich der Bundesrat mit seinem Konzept der territorialen Anstalten durchsetzte. Auch das Prinzip der Einheitsrenten wurde zunächst vom Bundesrat mit dem Ortsklassensystem aufgeweicht, dann aber vom Reichstag zugunsten eines Lohnklassensystems außer Kraft gesetzt. Darüber hinaus gab es eine Reihe sehr ernsthafter Änderungsvorschläge aus der Mitte des Reichstags, etwa im Hinblick auf eine Senkung der Altersgrenze oder die Einbeziehung einer Hinterbliebenenversicherung, die nur knapp scheiterten. Eine Mehrzahl der Abgeordneten in der Kommission entschied sich schließlich für einen Kurs, der Experimente ausschlug, um das finanzielle Risiko für das Reich möglichst gering zu halten. Dabei spielte auch eine Rolle, daß Regierungsmitglieder und Bundesratsvertreter das Gespräch mit den Abgeordneten suchten und sie zu ihren Partnern machten. Nicht der verfassungsmäßige Antagonismus, sondern die informelle Kooperation bestimmte hier den relativ schnellen Weg zum Gesetz 85 . In der Forschung zum Parlamentarismus des Kaiserreichs spielen die Thesen von Manfred Rauh über die "stille Parlamentarisierung", die in der zweiten Hälfte 83 Vgl. den Antrag von Buhl (Nat.lib.), Hahn (Kons.), Fürst v. Hatzfeld (Reichspartei) und Felix Porsch (Zentrum) Nr. 101 vom 6. 3.1889, BArch R 101 Nr. 3139, fol. 188-194. 84 Eine gute Zusammenfassung der wesentlichen Veränderungen von der Ausgangskonzeption bis zur Endfassung vgl. bei Rückert, Entstehung und Vorläufer, S. 12-17. 85 Insbesondere beim Vergleich mit dem Unfallversicherungsgesetz, bei dem 1881 und 1883 zwei Regierungsvorlagen am Reichstag scheiterten, konnte man über den Ausgang des gedrängten parlamentarischen Beratungsprozesses bei der IAV keineswegs gewiß sein. In dem Zeitraum von genau einem halben Jahr (Ende November 1888 bis Ende Mai 1889) fanden nicht nur drei Lesungen des Plenums, sondern auch zwei Lesungen der Kommission mit 43 Sitzungen statt.

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der Wilhelminischen Ära einsetzte, eine größere Rolle 86 . Rauh geht dabei von einem wachsenden Einfluß des Reichstags und nachlassender Macht seines Gegenparts, des Bundesrats, aus. Für die Endphase der Bismarck-Zeit kann von einer solch schwächeren Stellung des Bundesrats noch keine Rede sein. Es wurde im Gegenteil gezeigt, daß die Bundesratsvertreter nicht nur in den offiziellen Reichstagsverhandlungen, sondern auch auf informellem Wege die Entscheidungen des Reichstags mitbeeinflußten87 . Dennoch ist der parlamentarische Gestaltungswillen und der hohe Stand von Sachwissen und Argumentation etlicher Abgeordneter bemerkenswert88 . Bismarck hat das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz einige Jahre später einmal als "parlamentarischen und geheimrätlichen Wechselbalg,,89 bezeichnet, vielleicht könnte man das Adjektiv "bundesrätlich" noch ergänzen. Ist für die Ingangsetzung des großen Projekts Arbeiterversicherung Bismarck sicher ausschlaggebend gewesen und kann man etwa für das Krankenversicherungsgesetz die maßgebliche Rolle Theodor Lohmanns eindeutig ausmachen, ist für das Altersversicherungsgesetz die Pluralität der Einflüsse das eigentlich Besondere. Denn trotz gewaltiger Differenzen in einzelnen inhaltlichen Punkten schafften es die Organe der Reichsgesetzgebung nicht nur innerhalb ihrer Strukturen, sondern auch in Vernetzung miteinander, ihre konkurrierenden Vorstellungen in gesetzestaugliche Kompromisse zu bringen. Der Preis war ein detailgenaues, hochkomplexes, von der Kritik vielfach als überkompliziert gescholtenes Gesetz. Das hier geschaffene System wurde im Verlauf der letzten hundert Jahre immer wieder beträchtlichen Anpassungen unterworfen, so durch die Einbeziehung weiterer Bevölkerungsgruppen und die Einführung der dynamischen Rente. Diese Veränderungen haben die Rentenversicherung noch weiter von den ursprünglichen Intentionen des Reichskanzlers entfernt, als es im Gesetz von 1889 bereits der Fall war. Eine "Bismarcksche Rentenversicherung" haben wir heute mit Sicherheit nicht.

86 Vgl. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, und ders., Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977. 87 Vgl. Rückert, Entstehung und Vorläufer, S. 19. 88 Auch im Vergleich mit dem parlamentarischen System Großbritanniens wurde festgestellt, "daß der Einfluß des Reichstages auf den Aufbau des Sozialversicherungswesens [ ... ] erheblich größer war als der Beitrag des britischen Unterhauses zum Ausbau der staatlichen Sozialpolitik in dem Jahrzehnt vor 1914". Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983, S. 49. 89 Zitiert nach ebenda, S. 42.

Sozialpolitik, landwirtschaftliche Interessen und Mobilisierungsversuche Agrarkonservative Positionen im Entstehungsprozeß der Rentenversicherung

Von Jens Flemming ,Will man Revolution venneiden, so soll man zur rechten Zeit reformieren." Otto v. Helldorff-Bedra arn 20. 5. 1889 im Reichstag

I. Die parlamentarischen und außerparlamentarischen Schlachten waren geschlagen, die Würfel gefallen: für die "Kreuzzeitung", das Sprachrohr der konservativen Fronde gegen Bismarck, die dabei hatte Federn lassen müssen, ein Anstoß, bilanzierende Nachlese zu veranstalten. Gegenstand der Betrachtung war das am 24. Mai 1889 vom Reichstag verabschiedete Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz. Dessen Entstehung hatte das Blatt mit tiefem Unbehagen verfolgt, hatte unverdrossen Einwände vorgebracht und kaum verhüllt mit den Widersachern der Vorlage geliebäugelt. Nun, da weitere Interventionen zwecklos erschienen, galt es, obsolet gewordene Positionen zu räumen, zugleich aber die bis dahin verfochtene Linie noch einmal zu unterstreichen. "Fast täglich", hieß es rechtfertigend, "erhalten wir Zuschriften aus landwirtschaftlichen Kreisen, in denen einer gewissen Bitterkeit gegen die Fraktion der Deutschkonservativen lebhaft Ausdruck gegeben wird." Dahinter verbarg sich die Überzeugung, daß den Belangen der agrarischen Arbeitgeberschaft, besonders der aus Mecklenburg und den östlichen Provinzen Preußens, nicht genügend Rechnung getragen worden sei. Zwar hätte man am Ende einige Verbesserungen erzielt, und es war unter taktischen Aspekten nicht uninteressant, daß die Redaktion in diesem Punkt die "Konservative Korrespondenz" ihres innerparteilichen Antipoden Otto v. Helldorff als Kronzeugen bemühte. Grundsätzlich aber hätte mehr erreicht werden sollen: wenn schon nicht Ablehnung, so doch, wie zuvor empfohlen, Vertagung auf die nächste Legislaturperiode. Voraussetzung dafür wäre freilich gewesen, sich frühzeitig und nicht erst in letzter Minute in den Willensbildungsprozeß einzuschalten, nicht nur Interessen zu artikulieren, sondern auch die Interessenten energisch zu mobilisieren, nämlich "vor oder

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unmittelbar nach der ersten Lesung mit vollem Nachdruck die Wünsche der Landwirtschaft im Lande" zu bündeln und in die Waagschale zu werfen. Dies jedoch habe man versäumt: "Was dann später geschah, kam zu spät."J Trotz schwerwiegender "Bedenken", die allenthalben erhoben worden seien, hätten sich die Deutschkonservativen zu einem positiven Votum durchgerungen: ein neuerlicher "Beweis für die wirkliche Opferbereitschaft, die, im Unterschied zu anderen Leuten, bei ihnen stets zu finden ist, wenn der König ruft." Das Bild patriotischer Entsagung und monarchischer Gesinnung, das hier in hellem Licht erstrahlte, wurde durch sieben Fraktionsmitglieder, die sich dem verweigert hatten, allerdings leicht verdunkelt. Da sie deren Bestrebungen mit warmer Sympathie begleitet hatte, beeilte sich die "Kreuzzeitung", den Dissidenten beizuspringen und Vorwürfe abzubiegen: "Daß diejenigen unserer Parteigenossen, welche sich in diesem Falle von der Mehrheit getrennt haben, ebenso treue Konservative sind, versteht sich von selbst." Schließlich sei es weder illegitim noch ein Zeichen von schnödem Egoismus, auf die sozialen Gegebenheiten und die begrenzte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ihrer "Heimatgebiete" hinzuweisen und daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Nachdem der Reichstag nun aber entschieden habe, sei das Gebot der Stunde, die Reihen wieder zu schließen. Jedenfalls sei es fortan die "Pflicht" aller, die Verantwortung für die Durchführung der getroffenen Regelungen "nach bestem Wissen und Gewissen" schultern zu helfen, "die Schwierigkeiten nicht zu erhöhen, sondern sie durch treue Mitarbeit zu vermindern". Indes, ohne skeptischen Seitenhieb an die Adresse der Befürworter mochte man auch diese, auf Versöhnung und Integration bedachte Absichtserklärung nicht stehen lassen. Denn: "Auf baldigen Erfolg ist nicht zu rechnen. Wenn man vielfach der Ansicht begegnet, daß das Zustandekommen des Gesetzes die Wahlbewegung im regierungsfreundlichen Sinne erleichtern werde, so halten wir das für falsch. Die wohltätigen Wirkungen des Gesetzes, die auch wir von der Zukunft erwarten, dürften sich in der Gegenwart nicht geltend machen, schon deshalb nicht, weil mit verschwindenden Ausnahmen noch niemand eine Vorstellung davon hat, was das Gesetz, praktisch genommen, bedeutet. Nichts leichter mithin, als diese Bedeutung agitatorisch zu entstellen und in einem völlig verkehrten Lichte zu schildern. Daß dies in der umfassendsten Weise geschehen wird, ist nicht zu bezweifeln. Der Abgeordnete Bebel hat unseres Erachtens die Wahrheit gesprochen, als er dem Gesetze, völlig kühl' gegenüberzustehen erklärte. Er weiß eben genau, daß er die Meinung der Arbeitermassen sozusagen in der Hand hat, weshalb die Sozialdemokraten auch keinen Anstand genommen haben, im Sinne der Verneinung zu stimmen. ,,2 1 Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung: im folgenden KrZtg) Nr. 246 vom 28. 5. 1889. Zu den Strömungen und Auseinandersetzungen in der Deutschkonservativen Partei vgl. Hans Leuss, WiJhelm Freiherr von Hammerstein. 1881-1895 Chefredakteur der Kreuzzeitung, Berlin 1905; Heinrich Heffter, Die Kreuzzeitungspartei und die Kartellpolitik Bismarcks, Leipzig 1927 sowie James N. Retallack, Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany 1876-1918, Boston 1988, S. 13 -73. 2 KrZtg Nr. 243 vom 26. 5.1889.

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Zwar divergierten die Motive, aber die Tatsache, daß sich Repräsentanten des Regierungslagers auf die Seite der Opposition schlugen, war bemerkenswert. Bei den Freikonservativen zählte man vier, bei den Nationalliberalen elf Abgeordnete. Mit den sieben Deutschkonservativen resultierte daraus ein Negativsaldo von 22 Stimmen, d. h., die Parteien des Kartells, die seit 1887 den Reichstag dominierten, hatten in der Frage der Rentenversicherung keine Mehrheit auf die Beine bringen können. Da die Freisinnigen (bis auf einen), die Sozialdemokraten, die Polen, die Welfen und die Elsaß-Lothringer (bis auf einen) quasi geschlossen mit Nein votierten, hing das Ergebnis vom Zentrum ab, bei dem 13 vorwiegend adlige Mandatsträger mit agrarischem Hintergrund aus der von Windthorst und Hertling angeführten, ablehnenden Front ausscherten und so ein Scheitern der Vorlage verhinderten 3 • Nachdem bereits 1887 das zweite, auf Beendigung des Kulturkampfs zielende Friedensgesetz in Preußen ebenso wie im Reich die abermalige Erhöhung der Zölle und ein Jahr später die Verschärfung des Sozialistengesetzes auf Widerstand der Nationalliberalen gestoßen waren, trat hier erneut die Erschöpfung des MitteRechts-Bündnisses zutage, mit der die schleichende Erosion des "Systems Bismarck" Hand in Hand ging. Vor allem bei den Konservativen favorisierten gewisse Kreise ein antiliberales, christlich-soziales Reformprogramm, für dessen Realisierung das Zentrum als geeigneter Partner erschien. Damit verknüpfte sich die Absicht, eine populäre, von Kanzler und Bürokratie möglichst unabhängige, auf breite Schichten der Bevölkerung gestützte Volkspartei zu schaffen. Deren Protagonisten waren der Hofprediger Adolf Stoecker, das Haupt der antisemitischen Berliner Bewegung, und Wilhelm v. Hammerstein, der Chefredakteur der "Kreuzzeitung" , der dem über Jahre kraftlos dahindümpelnden Blatt zu steigender Auflage und wachsender Resonanz verhalt. Was ihnen vorschwebte, war freilich Zukunftsmusik und gelangte über Ansätze kaum hinaus. Denn ihre Hochburgen hatten die Deutschkonservativen nach wie vor in den agrarischen Bezirken des Ostens: 1887, auf dem "Höhepunkt ihrer parlamentarischen Machtstellung", entfielen von den 80 errungenen Reichstagssitzen 54 auf die östlichen und neun auf die westlichen Provinzen Preußens und nur 17 auf die übrigen Bundesstaaten5 . Aber unter dem Eindruck sinkender Produktendpreise und ökonomischer Kalamitäten, rückten die Landwirte enger zusammen, häuften sich schroff artikulierte Klagen über einseitige Begünstigung von Handel, Industrie und ,,Manchestertum". Die 1887 ausSteno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 2001 ff. Neben den in Anrn. 1 genannten Arbeiten vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen bei Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 413 ff.; Hans-Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 18711918, Frankfurt 1995, S. 89ff.; Wilfried Loth, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, München 1996, S. 80ff.; sowie speziell zu den Konservativen Hellmut von Gerlach, Erinnerungen eines Junkers, Berlin o.J., S. 81 ff., und Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfangen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, S.111ff. 5 Gerhard A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830-1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, Göttingen 1985, S. 76ff. 3

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gesprochene Forderung des pommersehen Rittergutsbesitzers v. Diest-Daber, sich nicht länger "schlecht behandeln" zu lassen und die "Glacehandschuhe" abzustreifen 6 , war ein untrügliches Indiz für das Ende der Geduld, für die in den ländlichen Regionen sich aufladende Atmosphäre und einen sich zunehmend aggressiver gebärdenden Lobbyismus, der in den Debatten um die Ausgestaltung des Rentenversicherungsgesetzes jedoch relativ chancenlos blieb. Gleichwohl lohnt es, die damals entstehenden Konstellationen ins Auge zu fassen: dabei im Blick auf das eigentümliche Schwanken zwischen gouvernementaler Loyalität und antigouvernementaler Mobilisierung die sozialpolitischen Horizonte des ostelbischen Konservatismus im Zusammenhang mit der unübersehbar anschwellenden agrarischen Politisierung näher zu beleuchten.

11. Die Erwerbsrisiken Invalidität und Alter mit Hilfe einer Zwangsversicherung abzufedern, werteten die Opponenten im Lager der Rechten als Angriff auf die überlieferte Arbeitsverfassung des flachen Landes. "Der Staat setzt sich jetzt gewissermaßen in das Patronatsverhältnis", entrüstete sich der reichsparteiliche Abgeordnete Holtz, ein Rittergutsbesitzer aus Westpreußen, der im dortigen landwirtschaftlichen Verein über starken Rückhalt verfügte 7 • Ähnlich argumentierte Graf v. Mirbach, Mitglied der deutschkonservativen Fraktion, Rittergutsbesitzer auf Sorquitten in Ostpreußen und Vorsitzender der vom Grundadel dominierten Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer. Auch er mochte für das - wie er meinte - wesentlich städtischen Interessen entsprungene Projekt in den von ihm repräsentierten Distrikten kein echtes "Bedürfnis" erkennen: "Die Güter, insbesondere die größeren in den östlichen Provinzen, haben überall mehr oder minder umfassende Einrichtungen, welche es ermöglichen, die Fürsorge für den Arbeiter in annähernd vollkommener Weise durchzuführen,,8. Zwar akzeptierte man die Motive des Entwurfs, die Not der "armen Bevölkerung" zu lindern und sich gegen die "Irrlehren der sozialdemokratischen Agitatoren" zu immunisieren9 . Dergleichen aber sollte sich tunliehst auf die wirklich gefährdeten Bezirke, mithin auf den industriell-gewerblichen Sektor beschränken. Denn die Landarbeiter litten weder unter materiellen Kümmernissen noch sympathisierten sie mit revolutionären Ideen. Ihre Existenz beruhe auf soliden, rundum vorteilhaften Fundamenten: geprägt von schlichter, sättigender Kost, einfachem Lebenswandel und gesunder Betätigung an der frischen Luft. Im Alter würden sie trotz nachlassender Leistungsfähigkeit nicht ausgemustert, vielmehr bei leichter, kontinuierlicher Beschäftigung 6 Bericht über die Verhandlungen des Achtzehnten Congresses Deutscher Landwirte zu Berlin am I. und 2. März 1887, Berlin 1887, S. 66. 7 Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1798 (17. 5.1889). 8 Bericht über die Verhandlungen der XIV. General-Versammlung der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer zu Berlin am 25. Februar 1889, Berlin 1889, S. 117 f. 9 Formulierungen V. Holtz, ebenda, S. 115.

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bis ans Ende ihrer Tage auskömmlich alimentiert. Früher Verschleiß, in den Fabriken die Regel, sei selten, die ..Klasse" der ..Berufsinvaliden" daher ..nicht vorhanden". Die Vorlage greife insofern ins Leere, würde allerdings, sei sie erst einmal in Kraft, Begehrlichkeiten wecken und ein Heer von Simulanten schaffen lO • Befangen in Vorurteilen und pessimistischen Anwandlungen, sah man die Leute künftig "vor der Türe sitzen" und "Pfeife rauchen", ihre Renten verzehren und dem Müßiggang frönen: für die Betriebe mit ohnehin knappen Ressourcen ein herber, kaum zu kompensierender Verlust an nützlichem, dringend benötigtem, zumal billigem Personal. Schon dies wog schwer, nicht minder jedoch die Befürchtung, die ..christliche Caritas" könne Schaden nehmen 11. Das war an die Adresse der Standesgenossen gerichtet, die das Gesetz womöglich als Einladung interpretieren würden, von der Nächstenliebe abzulassen und die Pflichten gegenüber den Bedürftigen, die traditionell den Herrschaften oblagen, dem Staat zu überantworten. Namentlich die "Invaliditäts-Erklärung" wurde als heikel empfunden: für "gewissenlose Arbeitgeber" eine wohlfeile Handhabe, sich ..wenig taugliche Arbeiter" einfach ..vom Halse zu schaffen." In dieser Hinsicht sei sehr "Menschliches" zu gewärtigen - eine Prognose, die Graf Mirbach unverzüglich ins Prinzipielle wendete: "Die persönlichen Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter werden zweifellos erheblich erschüttert, der letzte Rest des segensreichen patriarchalischen Verhältnisses wird in Frage gestellt.,,12 Ohne Rücksicht auf bewährte Ordnungen würden Keile geschmiedet, Vertrauen und Anhänglichkeit verspielt, sekundierte Mirbachs Kollege Holtz, der vor den Zuhörern im Parlament ein Idyll ausbreitete: ,,Der Arbeiter bei uns im Osten sieht in seinem Arbeitgeber mehr als den Mann, der ihm seinen Lohn zahlt, und dem er die Arbeitskraft dafür verkauft: er sieht in ihm seinen Helfer in der Not, seinen natürlichen Fürsorger; und wenn der Arbeiter sich in Verlegenheit befindet, so weiß er, wo er Rat und Hilfe zu suchen hat und auch findet."I3 Was hier gemütvoll ausgemalt wurde, war ein Modell, das kritische Beobachter "in das Reich der Fabel" verwiesen: "gewohnheitsmäßige Schönfarberei,,14, die sich mit den strukturellen Veränderungen des Agrarsektors und der agrarischen Betriebsführung nur schwer in Einklang bringen ließ. In deren Verlauf nämlich hatte sich der ,Stand' der Grundherren in eine ,Klasse' rational kalkulierender, an Marktexpansion und Gewinnchancen orientierter Großproduzenten verwandelt, die eine Reihe feudaler Residuen behaupten konnten und rechenhaftes Geschäftsgebaren 10 Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1795 f. (Holtz arn 17.5. 1889). 11 Ebenda, S. 1570 (Mirbach arn 8. 5. 1889). Befürchtungen, daß die Caritas an Bedeutung verlieren könnte, spielten auch beim Zentrum eine wesentliche Rolle. Zu dessen Haltung vgl. Georg von Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 2, Kempten 1920, S. 92-109. 12 KrZtg Nr. 188 vom 23. 4. 1889 (Die Stellung der Landwirtschaft zu dem Gesetz der Alter~- und Invaliden-Versicherung). 13 Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1798 (17. 5.1889). 14 Leo Verkauf, Das deutsche Invaliditäts- und Altersversicherungs-Gesetz, in: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik 2 (1889), S. 590.

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zuweilen ostentativ verachten mochten, sich in Wirtschaftsgesinnung und beruflichem Habitus jedoch dem Typ des industriell-gewerblichen Unternehmers anpaßten. Zu den daraus resultierenden Konsequenzen gehörte, daß die in den ostelbischen Regionen beheimatete ,Instenverfassung', die den Tagelöhnern ein jeweils anteiliges Quantum an den Erträgen der Güter gewährt hatte, Schritt für Schritt ausgehöhlt wurde. In das überlieferte Geflecht patriarchalischer Bindungen schoben sich dadurch unpersönliche, gleichsam ,objektivierte' Momente, die den vielgepriesenen Paternalismus seiner ökonomischen Basis beraubte l5 . Wenn überhaupt, so war er am ehesten dort anzutreffen, wo der Besitz über Generationen in derselben Familie vererbt und die Gemeinschaft mit den Gutsansässigen bewußt gepflegt wurde l6 . Aus Erhebungen, die der Evangelisch-soziale Kongreß Anfang der 1890er Jahre veranstaltete, kann man ablesen, daß sich rudimentäre Formen wie "Weihnachtsbescherungen, Geschenke bei Konfirmationen" und Krankenhilfe erhalten hatten, aber selbst dies nicht Normal-, sondern "Ausnahmefälle" waren: "Die Herrschaften haben meist nur ein Interesse daran, daß die Arbeit gemacht wird, sie sind weit mehr auf ihre Rechte als auf irgendwelche sozialen Pflichten bedacht." An die Stelle des "gegenseitigen Treueverhältnisses", das der Notifizierung nicht bedurfte, war nach und nach das "moderne Kontraktverhältnis" getreten 17. Von kirchlichen Kreisen wurde in diesem Zusammenhang ein um sich greifender "brutaler Egoismus" beklagt l8 , der mit einem Minimum an Kosten ein Maximum an Profit zu erzielen suchte, lieber in den Bau von "Schweineställen" investierte als in die Unterkünfte der Leute l9 , sich weder um deren Sonntagsruhe noch sonst um deren Wohl15 Dies ist natürlich ein Extrakt aus den Analysen Max Webers, dem der Verein für Sozialpolitik die Auswertung der auf den Osten bezogenen Teile seiner Landarbeiter-Enquete anvertraut hatte: Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (= Schriften der Vereins für Sozialpolitik, Bd. 55), Leipzig 1892. Die Ergebnisse faßte Weber auf der Tagung des Vereins von 1893 zusammen: ders., Die ländliche Arbeitsverfassung, in: Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1924, S. 444-469. Zur Thematik vgl. auch meine Beiträge: (Jens Aemming) Die vergessene Klasse. Literatur zur Geschichte der Landarbeiter in Deutschland, in: Klaus Tenfe1de (Hrsg.), Arbeiter und Arbeitgeber im Vergleich, München 1986, S. 389-418 sowie: (ders.) Fremdheit und Ausbeutung. Großgrundbesitz, .. Leutenot" und Wanderarbeiter im Wilhelminischen Deutschland, in: Heinz Reif (Hrsg.), Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Berlin 1994, S. 345 - 361. Zu den Funktionsweisen und symbolischen Einkleidungen des Paternalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts s. Robert M. Berdahl, The Politics of the Prussian Nobility. The Deve10pment of a conservative Ideology 1770- 1848, Princeton 1988, S. 44-76. 16 Vg!. dazu die Bemerkungen bei Ulrich Hintze, Die Lage der ländlichen Arbeiter in Mecklenburg, Phi!. Diss. Rostock 1894, S. 72 f. 17 So - beispielhaft - Alfred Klee, Die Landarbeiter in Nieder- und Mittelschlesien und der Südhälfte der Mark Brandenburg (= Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands. In Einzeldarstellungen nach den Erhebungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Drittes Heft), Tübingen 1902, S. 144f. 18 So die Evangelische Kirchen-Zeitung Nr. 14 vorn 5. 4. 1890 (Die Aufgabe der conservativen Partei auf social-politischem Gebiet).

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fahrt scherte 2o . Gestützt auf Gesindeordnungen, in den preußischen Kerngebieten zudem auf das Dienstpflichtgesetz von 1854, das Verabredungen zum Streik unter Androhung von Gefangnis- oder Geldstrafe verbot, erwartete man fromme Demut, fleiß und bedingungslosen Gehorsam21 . Gewiß, mit dem "patriarchalischen Königtum" war das "patriarchalische Arbeitgebertum" unwiederbringlich "zu Grabe getragen" worden 22 . Aber zumindest die Rittergutsbesitzer waren "Territorialberren en miniature"23, wegen der an den Gütern haftenden politischen Privilegien fühlten und handelten sie auch so, und die Mentalitäten, die darin wurzelten, lebten fort. Wie sehr: dies demonstrierten Jahrzehnte später noch die Erinnerungen des Ostelbiers Elard v. Oldenburg-Januschau, der das karge Los seiner Arbeiter mit den üblichen, in seinen Milieus kursierenden Versatzstücken verklärte 24 . Im Blick auf die skizzierten Entwicklungslinien mutete das anachronistisch an, war von den gesellschaftlichen Konflikten dementierte Ideologie, jedoch Ausdruck eines ungebrochenen Herrschaftswillens, in dessen Horizont sozialrechtliche Interventionen des Staates "wirtschaftlich ruinös" und "moralisch zerstörend" erschienen 25 . Wer so dachte, konnte ein Freund der Rentenversicherung nicht sein. Insofern waren Reaktionen, die zwischen Skepsis und Ablehnung pendelten, nicht verwunderlich. Die Konservativen im Reichstag wurden dadurch in eine Zwickmühle gestürzt: eine mißliche Situation, die ihnen zweifache Loyalität abverlangte. Als Gralshüter der Monarchie mußten sie die 1881 verkündete sozialpolitische Botschaft des Kaisers in ihr Kalkül ziehen, als Repräsentanten ihrer Partei die davon abweichenden Interessen ihrer Klientel. Hier die Balance zu finden, dem Gesetz über die Hürden zu helfen und den eigenen Zusammenhalt zu wahren, war schwierig, brauchte Geschick und Unbeirrbarkeit. Denn die Befürworter des Entwurfs kamen nicht umhin, wollten sie dessen Notwendigkeit begründen, auch die dunk19 Dies zu beobachten, hätte ihm "immer in's Herz geschnitten", teilte Graf von der Groeben 1872 auf der Konferenz ländlicher Arbeitgeber mit, die der Centralausschuß für Innere Mission veranlaßt hatte: Theodor Frhr. von der Goltz (Hrsg.), Die Verhandlungen der Berliner Conferenz ländlicher Arbeitgeber, Danzig 1872, S. 62. 20 Zur Sonntagsruhe vgl. sehr eindringlich bereits 1862 die Schilderungen in: Evangelische Kirchen-Zeitung Nr. 99 vom 10. 12. 1862 (Der Sonntag der Tagelöhner) sowie später der pommersche Pastor W. Quistorp, Die soziale Not der ländlichen Arbeiter und ihre Abhilfe (= Evangelisch-soziale Zeitfragen I/lO), Leipzig 1891. 21 Zum ländlichen Arbeitsrecht in Preußen vgl. Jens Flemming, Obrigkeitsstaat, Koalitionsrecht und Landarbeiterschaft, in: Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 247 -272. 22 So der Sozialkonservative Rudolf Meyer, Der Emancipationskampf des vierten Standes, 2. verm. Aufl. Berlin 1882, S. 384. 23 Max Weber, Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, in: Preußische Jahrbücher 77 (1894), S. 441. 24 Elard von Oldenburg-Januschau, Erinnerungen, Leipzig 1936, S. 44ff. 25 So die Formulierungen in einem zu Unrecht vergessenen Buch: Ottoheinz von der Gablentz I Carl Mennicke, Deutsche Berufskunde. Ein Querschnitt durch die Berufe und Arbeitskreise der Gegenwart, Leipzig 1930, S. 50.

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len Seiten der Landarbeiterexistenz zu beleuchten. Dies geschah in moderaten, gleichwohl deutlichen Tönen, die ahnen ließen, daß es um die Alten und Invaliden weder auf den Gütern noch in den Bauerndörfern zum Besten stand, und einen ähnlichen Eindruck vermittelten wie kurz darauf die erwähnten Erhebungen des Evangelisch-sozialen Kongresses. "Sowohl die Gutsherrschaften als auch die Gemeinden" seien bestrebt, "erwerbsunfähige oder mit Arbeitsunfähigkeit bedrohte Personen fernzuhalten oder abzuschütteln", wurde zum Beispiel aus den Regierungsbezirken Stralsund und Stettin berichtet: "Dabei wird manchmal in ganz rücksichtsloser Weise verfahren und die Leute werden, wenn sie schon eine lange Reihe von Jahren gearbeitet und also nicht ohne weiteres abgeschoben werden können, von den Aufsehern, dem Inspektor im Auftrage des Gutsherrn ,weggeärgert ' .,,26 Praktiken wie diese legten den Schluß nahe, daß mit den patriarchalischen Verhältnissen "kein großer Staat mehr zu machen" sei 27 . Ja, dürfe man überhaupt noch davon sprechen, wenn die "Hand" der Besitzer "oft verschlossen" 28 und "jährlich" etwa jeder fünfte der "stehenden Tagelöhner" gezwungen sei, seine Wohnung zu wechseln, argwöhnte der Hochkonservative v. Kleist-Retzow, der sich nach Jahren der Entfremdung wieder mit Bismarck ausgesöhnt hatte: "Suchen wir solch Verhältnis darin, daß arme, völlig hilflose Arbeiter unbedingt von ihrem Arbeitgeber abhängen? Ist das unsere Arbeiterfreundlichkeit, daß wir um der wenigen Arbeitgeber willen, welche ihnen eine wohlwollende Behandlung gewähren, die Masse der Arbeiter in deren hilfloser Lage lassen wollen? Hat unsere Aufopferungswilligkeit für sie ein Ende, und setzen wir sie nur widerwillig fort, wenn nunmehr das Gesetz auf unsere Gesinnung sich stützend das fordert, was wir sonst freiwillig geben würden?,,29 Eingekleidet in ein Bündel rhetorischer Fragen, war dies ein entschiedenes Plädoyer, sich nicht in kleinlichen Einwänden und unfruchtbarer Negation zu verlieren. In dieselbe Kerbe schlug der Vorsitzende der deutschkonservativen Fraktion, Otto v. Helldorff-Bedra , der das Unterfangen für illusionär hielt, die Agrarbezirke gegen die Einflüsse der modernen Welt abzuschotten und sich dabei 26 Karl Borr. Breinlinger, Die Landarbeiter in Pommern und Mecklenburg. Dargestellt nach den Erhebungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses. I. Teil: Die Regierungsbezirke Stettin und Stralsund, Phi!. Diss. Heidelberg 1903, S. 63. 27 Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1784 (v. Manteuffel-Crossen, 17.5. 1889). 28 Darauf machte der pommersche Rittergutsbesitzer V. Kleist-Retzow, deutschkonservativer Reichstagsabgeordneter und Vertreter seines Familienverbandes im preußischen Herrenhaus, in seinem Referat vor der Generalversammlung der Pommerschen ökonomischen Gesellschaft am 3. 5. 1889 aufmerksam, in: Wochenschrift der Pommerschen ökonomischen Gesellschaft Nr. 13 vom I. 7. 1889, S. 168. 29 Kleist-Retzow, Meine Stellung zur Invaliditäts- und Alters-Versicherung, in: KrZtg Nr. 233 vom 21. 5. 1889. Zur Biographie vg!. Herman von Petersdorff, Kleist-Retzow. Ein Lebensbild, Stuttgart 1907, hier besonders S. 437 ff. Fast wörtlich mit Kleist übereinstimmend argumentierte im Reichstag der Staatssekretär des Innern, von Boetticher: Steno Berichte Reichstag, VII. LP, 4. Session 1888/89, S. 1573 (8. 5. 1889).

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auf zerschlissene partriarchalische Traditionen zu berufen. Vielmehr müsse man das Selbständigkeitsbestreben der Leute akzeptieren, und das hieß, sie im Alter auf gesicherte Rechtsanspruche zu stellen, sie nicht länger den diskriminierenden Regelungen der Armenkassen oder dem individuellen Belieben ihrer Brotherren zu überlassen. Daß neben dem Reich und den Arbeitgebern auch die Arbeiter an der Aufbringung der Beiträge beteiligt werden sollten, sei ein "sittliches Moment" von hohem erzieherischen Wert 30 . Dadurch nämlich würde ihnen zum einen die Notwendigkeit vor Augen geführt, mit fleiß und Sparsamkeit Vorsorge für die Wechselfälle des Lebens zu treffen, zum andern das Bewußtsein geschärft, daß ihr "Wohl und Wehe" aufs engste mit dem des Staates verknüpft sei31 . Dies bedeute nicht, wie manchen Ortes befürchtet, Lockerung, sondern Festigung der Arbeitsbeziehungen, biete Chancen für neue Formen der Integration, die geeignet seien, heftig beklagte Abwanderungsbewegungen einzudämmen, den inneren Frieden zu wahren und der Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Gesetz abzulehnen, sei daher politisch unklug, den Interessen der Landwirtschaft ebenso schädlich wie denen der Gesellschaft. Eine Partei, die sich darauf versteifen wollte, warnte Helldorff, würde "ihre Zukunft verscherzen" und vor der Aufgabe kapitulieren, die "Ausläufer" der Ideen von 1789, "Sozialismus und Kommunismus," zu überwinden. Denn schließlich: "Es hat noch jeder verständige Mann gesagt: will man Revolution vermeiden, so soll man zur rechten Zeit reformieren. ,,32

ID. Den Vorwurf, sie ließen sich vom "Egoismus des Geldbeutels,,33 leiten, suchten die Kritiker der Vorlage mit Hilfe zweier Argumentationsstränge zu entkräften, die partikulare Bedürfnisse in die Sphäre unabweisbarer Prinzipien hoben. Beide gehörten zusammen und waren in spezifisch konservativen Ordnungsmodellen verankert. Unter dem Stichwort patriarchalische Verhältnisse zielte der eine auf Verteidigung überlieferter Kontroll- und Herrschaftsinstrumente. Der andere orientierte sich am Ideal wirtschaftlicher Harmonie und organischen Gleichgewichts. Der Schlachtruf hier lautete Parität. Dahinter steckte die Auffassung, daß der Agrarsektor "durch den allmählichen Übergang zur Großindustrie" und die Förderung, die diese von Staats wegen erfuhr, ins Hintertreffen geraten see 4 . Um die Ebenda, S. 1842 (20. 5. 1889). Wie Helldorff oder Kleist-Retzow hegte diese Erwartung in Anlehnung an die Kaiserliche Botschaft von 1881 auch der freikonservative Abgeordnete v. Kardorff: Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1829 (18. 5.1889). 32 Ebenda, S. 183 (7. 12. 1888) und S. 1844 (20.5. 1889). 33 Mit diesen Worten kritisierte Helldorff seine innerparteilichen Kontrahenten: ebenda, S. 183 (7. 12. 1888). 34 In diesem Sinne äußerte sich rückblickend der Direktor des Preußischen Landes-Ökonomie-Kollegiums Walther von Altrock, Agrarische Bewegung, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Bd. I, 4Jena 1923, S. 73. 30 31

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Balance zwischen den verschiedenen Erwerbszweigen wiederherzustellen, hatte sich bereits Anfang der 1870er Jahre eine hauptsächlich vom östlichen Adel inspirierte Bewegung formiert, aus der 1876 als "Kampforganisation gegen das mobile Kapital,,35 die Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer hervorgewachsen war. Deren Antriebsmomente wurzelten in der Überzeugung, daß die Gesetzgebung der liberalen Ära nicht nur die "Interessen der Landwirtschaft und des Handwerks" sträflich vernachlässigt habe, sondern auch verantwortlich sei für die insgesamt "krankhafte Entwicklung der Neuzeit": für die, wie es im Vorfeld der Gründung hieß, "Übervölkerung der großen Städte durch Arbeitermassen" und die "Entvölkerung des platten Landes", für den "sinkenden Wohlstand der Landstädte" und das "Verschwinden des Mittelstandes", für den "immer schroffer werdenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit", den "wachsenden Luxus auf der einen und das zunehmende Proletariat auf der anderen Seite" und die daraus "notwendig" resultierende "Verschlechterung der Sitten,,36. Folgt man den Einlassungen der Lobbyisten, dann hatte sich an dieser Situation seither nichts geändert: trotz zweimaliger Erhöhung der Getreidezölle, trotz veterinärpolizeilicher Behinderung der Vieh- und Fleischimporte, trotz der "Liebesgaben", die in die Taschen der Brennereibesitzer und ZuckeITÜbenproduzenten flossen 37 . Von akutem Notstand oder drohender Verarmung konnte ernsthaft keine Rede sein. Das gehörte zu den Übertreibungen einer Interessenpolitik, die habituell die Dinge dunkler färbte, als sie in Wirklichkeit waren, und stets die schwächsten Glieder der Kette zum allgemein gültigen Maßstab machte. Zwar ging die Landwirtschaft durch eine schwierige Phase, die Umdenken und Anpassung erforderte. Aber die Krise, die manche ihrer Vertreter beschworen, war bei näherer Betrachung eher eine Krise der Mentalitäten und Erwartungshorizonte, war Autosuggestion und ressentimentgeladenes Eingeständnis, mit dem Wachstum und den Renditen der Industrie, des Handels und der Banken nicht Schritt halten zu können 38 . Wie sehr das Gefühl, fortwährend am kürzeren Ende zu sitzen, die 35 Oscar Stillich, Die politischen Parteien in Deutschland. Die Konservativen, Leipzig 1908, S. 136. 36 Landwirtschaft und Politik, in: Deutsche Landwirtschaftliche Presse Nr. 6 vom 14. 10. 1874. 37 Kritisch dazu aus linksliberaler Sicht: Eugen Richter, Politisches ABC-Buch. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen, Berlin 1896 (Art. Branntweinbesteuerungen S. 80-90: Zitat auf S. 82, sowie Art. Zuckersteuer, S. 507 -511). 38 Ob und in weIchem Umfang von Agrarkrise gesprochen werden kann, ist umstritten. Zeitgenossen, darunter seriöse Agrarwissenschaftler, hatten daran keinen Zweifel. Vgl. Theodor Frhr. von der Goltz, Geschichte der deutschen Landwirtschaft, Bd. 2, Stuttgart 1903, S. 390 ff. Dagegen wie gegen "landläufige" Vermutungen in der neueren Literatur argumentiert Klaus Hess, Zur wirtschaftlichen Lage der Großagrarier im ostelbischen Preußen 1867/ 71 bis 1914, in: Reif, Ostelbische AgrargeseIlschaft (wie Anm. 15), S. 157 -172. Nicht ganz so konträr, wie Hess suggeriert, lauten die Befunde meiner Studie: (Jens Aemming) Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche GeseIlschaft, Agrarverbände und Staat 1890-1925, Bonn 1978, S. 18ff.

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Gemüter erhitzte, zeigte sich nicht zuletzt in den Debatten um die Rentenversicherung. Deren Widersacher jedenfalls schreckten vor starken, bisweilen apokalyptischen Vokabeln nicht zurück, sprachen vom "Niedergang" des Ostens und sahen in einer anschwellenden Zahl von Subhastationen den Beleg dafür, daß die Betriebe dort, die größeren ebenso wie die kleineren, um ihre "Existenz" rangen 39 . Vage, weder nachprüfbare noch repräsentative Berechnungen sollten die These erhärten, daß zusätzliches Gepäck nicht mehr geschultert werden könne. Wegen der überwiegend in Naturalien verabreichten Löhne seien die Arbeitgeber gezwungen, nicht nur die eigenen, sondern obendrein auch die Beiträge ihrer Arbeiter aufzubringen, die sich infolgedessen bis zur Höhe der Grundsteuer sumrnierten40 • Was die Industrie und die "Millionäre,,41 in den Städten, ja selbst die kapitalkräftigeren Landwirte des Westens problemlos leisten könnten, sei für die durch Klima, Bodenbeschaffenheit und Verkehrs lage kraß benachteiligten Distrikte des Nordostens ruinös. Auf kompensatorische Erleichterungen zu hoffen, sei verfehlt, und für die auferlegten "Opfer" werde man von "niemandem" Dank ernten42 . Da Witwen- und Waisenrenten nicht vorgesehen waren, würden sich nicht einmal die kommunalen und gutsbezirklichen Arrnenlasten wesentlich verringern. Derartige Befürchtungen beruhten auf Irrtümern, mangelnder Kenntnis und willkürlich überhöhten Kostenansätzen43 . Gegen Vorurteile und berufsmäßige Schwarzmalerei war mit realistischen Daten indes wenig auszurichten44 • Das Unbehagen war und blieb virulent, auch dann wenn es sich nicht in offener Ablehnung niederschlug - eine diffuse Stimmung, die der schlesische Majoratsherr Graf zu Stolberg-Wernigerode, deutschkonservativer Reichstagsabgeordneter, Mitglied des Herrenhauses und der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, vor Augen hatte, als er sehr moderat fonnulierend konstatierte: "Ich glaube nicht, daß die Lasten dieses Gesetzes an und für sich für die östlichen Provinzen schwerer sind als für die anderen; aber sie werden von den östlichen Provinzen schwerer empfunden, weil eben die Landwirtschaft dort sich in einer Depression befindet. ,,45 39 So der frisch nobilitierte Rittergutsbesitzer, General-Landschaftsdirektor in Posen und deutschkonservative Abgeordnete v. Staudy: Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1823 f. (18. 5. 1889). 40 Ebenda, S. 1824 (Staudy) oder auch S. 1795 (Holtz am 17.5.1889). 41 Ebenda, S. 1569 (Mirbach am 8. 5. 1889). 42 Rittergutsbesitzer V. Dewitz-Zachow auf der Generalversammlung der Pommersehen ökonomischen Gesellschaft am 3. 5. 1889: Wochenschrift (wie Anm. 28), S. 173. 43 Vgl. in diesem Sinne etwa die Argumente Manteuffels: Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1785 (17. 5.1889). 44 Manteuffel zum Beispiel, auf dessen Gut wegen der Nähe zu Berlin vermutlich höhere Löhne gezahlt werden mußten als weiter östlich, kam auf knapp 300 Mark an jährlichen Beiträgen (ebenda). Der Vorsitzende der Pommersehen ökonomischen Gesellschaft, V. BelowSaleske, errechnete 442 Mark. Das war, gemessen an der Grundsteuer von 1 500 Mark, ein Prozentsatz von nicht einmal einem Drittel: Wochenschrift (wie Anm. 28), S. 173. 45 Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1603 (9. 5. 1889).

6 Fisch I Haerendel

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Viel Aufhebens wurde um die verwaltungstechnischen Modalitäten gemacht, die den Landwirten abverlangten, wöchentliche Beitragsmarken in Quittungskarten einzukleben. Dies sei, so wurde moniert, bürokratisch und zeitraubend, vor allem zu kompliziert für die nicht buchführenden Bauern und die Gutstagelöhner, die Hofgänger quasi als Subarbeiter stellen mußten46 : ein Ablenkungsmanöver, das die Leute dümmer machte, als sie es waren, und nebenbei die Qualifikationen der Berufsgenossen in ein schlechtes Licht rückte. Ähnlich durchsichtig war die Polemik gegen die Strafbestimmungen, die Verstöße der Arbeitgeber ahnden sollten, nicht minder auch der Hinweis, daß die "Lebenshaltung" der kleineren Besitzer, die nicht in den Genuß sozialer Segnungen kamen, oft "kümmerlicher" sei als die der "bezahlten Arbeiter,,47. Besonderes Gewicht hatten derlei Einwände allerdings nicht. Damit wurden Nebenkriegsschauplätze eröffnet, die das, worum es eigentlich ging, eher vernebelten. Tatsächlich nämlich stand die Sorge im Vordergrund, daß sich die Asymmetrien zwischen Agrar- und Industriesektor, zwischen Ost und West vertiefen würden. Da das Gesetz verschiedene Ortsklassen bzw. im Ergebnis der Beratungen verschiedene Lohnklassen vorsah, prognostizierte man gravierende arbeitsmarktpolitische Konsequenzen. Die Leute würden sich den Branchen und Regionen zuwenden, in denen bessere Bezahlung und damit bessere Invalidenund Altersrenten winkten. Der gegenwärtig schon schwere Konkurrenzdruck würde sich daher beträchtlich verschärfen, würde entweder die Lohnbudgets in unerschwingliche Höhen treiben oder aber die ohnehin regen Abwanderungstendenzen von den "ärmeren Distrikten in die reicheren" beschleunigen, die Betriebe gerade ihres tüchtigsten Personals berauben und das flache Land unaufhaltsamer Auszehrung anheimgeben. Namentlich die gewerbsmäßigen Stellenverrnittler hätten dadurch künftig leichtes Spiel, den Arbeitern verführerische Trugbilder vorzugaukeln. "Die Agenten werden überall den Hebel ansetzen bei den Frauen", glaubte Graf Mirbach zu wissen, die ihrerseits die Männer bedrängen würden, das Dasein in den Dörfern und Gütern mit dem vermeintlich bequemeren und abwechslungsreicheren in den Städten zu vertauschen48 . Die Opponenten des Entwurfs propagierten daher die Einheitsrente49, zumindest aber die Reduzierung der LohnBeispielhaft dazu Staudy, ebenda, S. 1825 (18.5. 1889). So das Vorstandsmitglied der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer v. Frege-Abtnaundorf, ebenda, S. 1588 (8. 5. 1889). 48 Ebenda, S. 1571 (8. 5. 1889). Mirbachs Kollege Frege machte dafür mit einem sehr konservativen Topos auch die Volksschule verantwortlich, die "Halbbildung" und "gemeine Genußsucht" fördere, S. 1587 (8. 5.1889). 49 Daß auch dafür nicht partikulare, sondern allgemeine Gesichtspunkte ins Feld geführt wurden, versteht sich fast von selbst. Denn die Einheitsrente sei ein Beitrag zum sozialen Frieden: "Es darf doch nicht verkannt werden, daß, wenn verschiedene Lohnklassen an einem Orte, in derselben Gegend sind, das Drängen nach einem höheren Lohn unter den Arbeitern vorhanden sein wird, daß die Begehrlichkeit nach einem höheren Lohn sich bei ihnen vermehren wird, daß sie die Arbeiter einer höheren Lohnklasse beneiden werden. Dies wollen wir verhindern im Interesse der Arbeiter selbst. Wir glauben außerdem, daß durch die Lohnklassen das Verziehen der Arbeiter aus den Gegenden mit geringerem Arbeitslohn noch mehr befördert wird, und dies halten wir auch für bedenklich im Interesse dieser Gegenden und 46 47

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klassen. Das System sollte am besten steuerfinanziert werden, keinesfalls jedoch im Deckungs-, sondern wenn überhaupt im Umlageverfahren, wobei sie nicht bedachten, daß dabei der anfängliche Vorteil niedriger Kosten durch die steigende Zahl der Rentenberechtigten in wenigen Jahren dahin sein würde. Wie man sieht, beherrschte auch hier materielle Vorteilsjägerei die Szene, ein Wunsch nach Gleichmacherei, ganz und gar nicht im Einklang mit jenem ansonsten gepflegten altpreußischen Habitus, der noch stets das "suum cuique"SO zu eigenem Nutz und Frommen auf die Fahne geschrieben hatte. Beachtung verdient, daß die Losung: ,,Jedem das Seine" trotzdem nicht in Vergessenheit geriet. Obwohl sie sich damit in Widersprüchen verhedderten, pochten die Kritiker der Vorlage darauf, daß die "eigentümlichen Verhältnisse der Landwirtschaft" respektiert werden müßten. Das gehörte zum eisernen Schatz ihrer Glaubenssätze, aus denen sie Sonderrechte und Sonderbehandlung ableiteten. Mit "anderen Berufsarten" in einen Topf geworfen zu werden, sei illegitim und schädlich, den spezifischen Bedingungen des agrarischen Gewerbes nicht angemessenSI. Daraus resultierte die Forderung, einen sauberen Trennungsstrich zur Industrie zu ziehen. Deutlich wurde dies in der Diskussion über die Träger der Rentenversicherung. Als solche sollten nicht, wie letztlich statuiert, territoriale Versicherungsanstalten, sondern in Anlehnung an die Regelungen des UnfallversicherungsgesetzesS2 Berufsgenossenschaften fungieren, die den Postulaten der Kaiserlichen Botschaft von 1881 kongenialer seien als jene: ein Modell, das ursprünglich auch das Reichsamt des Innern favorisiert, aber mit Rücksicht auf die verbündeten Regierungen fallengelassen hatte. In konservativen Kreisen knüpfte man daran die weitgespannte Erwartung, die Atomisierung der Gesellschaft zu überwinden, "die rohe Masse, die sich heute in der Sozialdemokratie zusammendrängt, aufzulösen und ihre einzelnen Teile den übrigen Gesellschaftsklassen wieder organisch anzugliedern."s3 Nach Ansicht der "Kreuzzeitung" war dies der geeignete "Boden" für eine in die Zukunft gerichtete, korporativ gebundene Sozialverfassung: "Lasse man den Arbeiter in die Berufsgenossenschaft, soweit sie die Alters- und Invaliditätsrenten für die Arbeiter selbst." So v. Saldern-Plattenburg, brandenburgischer Rittergutsbesitzer und Mitglied im Ausschuß der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, ebenda, S. 1317 (5. 4. 1889). 50 Daran erinnerte nicht zufaJlig der Altkonservative v. Kleist-Retzow: KrZtg Nr. 233 vom 21. 5. 1889. 51 Steno Berichte Reichstag VII. Lp, IV. Session 1888/89, S. 1797 (Holtz am 17.5.1889). Ähnlich bereits, obwohl "im Allgemeinen mit der Vorlage einverstanden", der Landrat und Rittergutsbesitzer v. Risselmann-Crussow, Mitglied des Abgeordnetenhauses und der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, im preußischen Volkswirtschaftsrat: Session 1887. Protokoll der ersten Sitzung, 5. 12. 1887, S. 2. 52 Einzelheiten vgl. bei Otto Quandt, Die Anfange der Bismareksehen Sozialgesetzgebung und die Haltung der Parteien. Das Unfallversicherungsgesetz 1881- 1884, Berlin 1938, bes. S. 93 ff. 53 So Ende April ein Artikel in der konservativen "Schlesischen Zeitung", abgedruckt in der KrZtg Nr. 194 vom 26. 4.1889 (Zur Alters- und Invaliditäts-Versicherung). 6'

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verwaltet, mit eintreten und von ihm beraten, lasse man ihn mit dem Arbeitgeber zusammen seine, des Arbeiters, eigensten Lebensinteressen wahrnehmen, und es müßte in der Tat wunderbar zugehen, wenn die Gegensätze sich nicht milderten." Mit der territorialen Gliederung allerdings würden die "besten Wirkungen der Reform" verschenkt: "Der Arbeiter wird hier nicht auf das gleiche Interesse mit seinem Arbeitgeber, sondern auf das mit allen übrigen Arbeitern, welcher Art auch immer, verwiesen." Dabei würde das "Gefühl einer Standesgemeinschaft" genährt, das die bestehenden Konflikte nur verschärfen könne. "Das sind", hieß es weiter, "Imponderabilien, welche der Geschäftsmann, der Bureaukrat, vielleicht auch der große Industrielle übersehen mag, die aber für den Politiker Bedeutung haben müssen. Am wenigsten werden sie von den Kennern ländlicher Verhältnisse unterschätzt werden. Man braucht sich nur vergegenwärtigen, daß auf der einen Seite die ländlichen Arbeiter unter sich und mit ihren Arbeitgebern innerhalb der Berufsgenossenschaft die Rentenversicherungs-Angelegenheiten betreiben, und daß sie es auf der anderen Seite mit den städtischen Fabrikarbeitern tun. Kein Landmann wird in Zweifel über die praktische Bedeutung dieses Unterschiedes sein.,,54 Daß dem so war, bezeugen die Debatten inner- und außerhalb des Parlaments. Von überraschend positiven Erfahrungen berichtete auf der Generalversammlung der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer der sächsische Rittergutsbesitzer v. Frege-Abtnaundorf. In den bisher installierten "Selbstverwaltungskörpern der sozialen Gesetzgebung" träten "der Staat, seine Aufsichtsorgane und seine Beamten geradezu als Tribunen" der Bedürftigen auf, und zwar durchaus gegen deren "gewählte Vertreter", weil diese, darunter auch Sozialdemokraten, die Ansprüche der eigenen Klientel "viel weniger tolerant und liberal" beurteilten als jene: eine bemerkenswerte Umkehr im Vergleich zu früher, "wo man oft flilschlicherweise hören mußte", die Obrigkeit begegne den Forderungen und Schutzbedürfnissen der Arbeiter mit harter Hand55 . Als sich am Ende der Beratungen herausschälte, daß die Einwände gegen die territorialen Versicherungsanstalten nicht fruchteten, führte die "Kreuzzeitung" noch einmal beredte Klage darüber, daß nun die Landwirtschaft in eine unnatürliche "Interessengemeinschaft mit der Industrie und dem Gewerbe" hineingezwängt würde. Dies galt als "die prinzipielle Seite", als "Quelle der Hauptbedenken", hinter der die finanziel1en Erwägungen "in die zweite Linie" rückten: "Aber auch hierüber kommt man nicht mit dem bloßen guten Herzen hinweg. ,,56 Trotzdem sollten sich Grundbesitz und Partei hüten, den Entwurf abzulehnen und sich dem Odium auszusetzen, "ein großes sozialreformerisches Werk verhindert zu haben", gab der Vorsitzende des konservativen Wahlvereins in Schlesien, Freiherr v. Durant-Baranowitz, zu Protokoll. Dringend geboten seien allerdings kompensatorische Maßnahmen auf anderen Gebieten, um die Ebenda Nr. 24 vom 15. 1. 1889 (Berufsgenossenschaften oder territoriale Gliederung?). Bericht über die Verhandlungen der XlV. General-Versammlung der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer zu Berlin am 25. Februar 1889, Berlin 1889, S. 121 (Frege war zweiter Vorsitzender der Vereinigung und deutschkonservativer Reichstagsabgeordneter). 56 KrZtg Nr. 214 vom 8. 5. 1889 (Das Alters- und Invaliditäts-Versicherungs-Gesetz). 54 55

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aufgebürdeten Lasten abzufedern; selbstverständlich "nicht als Entschädigung für das, was durch die Sozialgesetzgebung gefordert wird", wohl aber "im Bewußtsein der Pflicht, denjenigen Teil der Bevölkerung, weIcher nicht allein die große Mehrheit, sondern die sicherste Stütze des Staatswesens und der Monarchie bildet, nicht zu Grunde gehen, nicht das Opfer des Kapitalismus werden zu lassen. ,,57 IV.

Wo die Gegner der Vorlage saßen, war der Öffentlichkeit naturgemäß nicht verborgen geblieben. Sie "rekrutieren sich", hoben die industrienahen "Berliner Politischen Nachrichten" hervor, "einesteils aus der bekannten grundsätzlich oppositionellen Richtung der Freisinnler, Sozialdemokraten, Polen, WeIfen und Französlinge, anderenteils aber aus jener kleinen Gruppe von Frondeurs, weIche unter Vorantritt der ,Kreuzzeitung' dem Gange der inneren Politik bald mehr, bald minder versteckten Widerstand leisten,,58. Obwohl ihre Stärke sich nicht genau beziffern läßt, war diese Gruppe keineswegs eine ,quantite negligeable'. Die Deutschkonservativen jedenfalls boten ein Bild der Zerrissenheit und liefen Gefahr, ihren Zusammenhalt zu verlieren. Dabei waren die entschiedenen Anhänger ebenso in der Minderheit wie die entschiedenen Widersacher. Dazwischen bewegten sich die Schwankenden, die "stillen und verschämten Freunde" im Land und in der Fraktion, die es nicht wagten, aus der Deckung zu springen, Ja und doch Nein sagten und voreilige Festlegungen scheuten: für einen Anonymus aus Pommern ein bedauerlicher, allerdings zeittypischer Mangel an "Charakter,,59. Insofern fällt es schwer, die Konstellationen im einzelnen zu rekonstruieren, zumal Informationen über interne Prozesse nur spärlich fließen. Immerhin, die Positionen, um die gefochten wurde, waren deutlich, denn Pro und Contra füllten die Spalten der Presse. Im agrarischen Milieu waren dies die "Kreuzzeitung", das bismarcktreue "Deutsche Tageblatt", die "Konservative Korrespondenz" des gemäßigten Vorsitzenden Helldorff, die "Schlesische Zeitung", die "Mecklenburger Nachrichten" und das "Vaterland", das Organ des konservativen Landesvereins im Königreich Sachsen, den der Freiherr v. Friesen-Rötha leitete, wie Helldorff ein Protagonist der Kartellpolitik60 . Zu den profiliertesten Köpfen in der Front der Ver57 KrZtg Nr. 199 vom 30. 4. 1889 (Die Stellung der Landwirtschaft zu dem Gesetze der Alters- und Invaliden-Versicherung). 58 Zit. in KrZtg Nr. 212 vom 7. 5. 1889 (Das Alters- und Invaliditäts-VersicherungsGesetz). 59 KrZtg Nr. 196 vom 27. 4. 1889 (Die stillen und verschämten Freunde im Reichstag und im Lande. Von einem praktischen Landwirte aus Pommern). 60 Die Pressestimmen sind gut dokumentiert in der Kreuzzeitung. Vgl. u. a. Nr. 170 vom 10. 4. 1889 (mit einer Verteidigung Mirbachs gegen Angriffe in der "Konservativen Korrespondenz"), Nr. 186 vom 20. 4. 1889 (mit einem Grundsatzartikel Mirbachs gegen seinen Fraktionskollegen Stolberg-Wernigerode, der sich im "Deutschen Tageblatt" zugunsten des Gesetzes geäußert hatte), Nr. 211 vom 7. 5. 1889 (Abdruck eines langen Aufsatzes, den der

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weigerer gehörte Graf Mirbach, der vom "steifen Wind" sprach6 I, der die Debatten begleitete, den anzufachen er selber durch fundamentale Kritik nach Kräften beitrug. Mit den Kreuzzeitungsleuten um den Chefredakteur Hammerstein traf er sich in der Überzeugung, daß die Konservativen ihre ,raison d'etre', nicht im willfährigen Abnicken von Regierungsinitiativen erschöpfen dürften. "Jede Partei ist jetzt mehr oder weniger abhängig von den großen Massen und muß mit ihnen rechnen, ob es ihr bequem ist oder nicht", bekannte er später im Herrenhaus: "Ich glaube, daß dort (gemeint waren die östlichen Wahlbezirke) nicht sehr viele Reichstagsmandate meiner Partei erhalten geblieben wären, wenn ich nicht - natürlich nicht aus taktischen, sondern aus rein sachlichen Gründen - wenn ich nicht für meine Person in die Lage gekommen wäre, eine scharfe Opposition zu machen gegen das Alters- und Invalidengesetz. Wenn es damals nicht möglich war, durch einen solchen Vorstoß die Selbständigkeit der konservativen Partei klarzustellen, dann verschwanden wir im Osten einfach von der Bildfläche. ,,62 Diese Einsicht hatte sich spät herauskristallisiert, schob sich dann aber in den Wochen des April und Mai 1889, vor und während der dritten parlamentarischen Lesung, mächtig nach vom. In der "Kreuzzeitung" hieß es entschuldigend, daß die "volle Tragweite des Gesetzes erst allmählich" deutlich geworden sei63 . Daß die ursprünglich eher positive Auffassung revidiert wurde, reflektierte die insbesondere in den preußischen Kemprovinzen anschwellende Unzufriedenheit, suchte sie zu bündeln und nicht zuletzt wegen der in Bälde anstehenden Wahlen auf die eigenen Mühlen zu lenken. Zuvor hatten sich die beiden Interessenverbände, der Kongreß deutscher Landwirte und die Vereinigung der Steuer- und WirtschaftsreformeT, relativ bedeckt gezeigt. Jener hatte das Thema Rentenversicherung auf seiner Jahrestagung Ende Februar gar nicht behandelt, diese sah trotz etlicher Monita darin einen "weiteren Schritt auf der segensreichen Bahn der Sozialgesetzgebung", der - "wenn auch ohne Überstürzung" - zu fördern sei. Der Vorsitzende Mirbach teilte mit, er würde eine ablehnende Entschließung "beklagen", fügte dem jedoch gewundene Sätze hinzu, die sein künftiges Votum ahnen ließen: "Wir können in diesem Augenblick nichts mehr und nichts weniger tun, als daß wir unsere Petita klar und kurz zum Ausdruck bringen. Es kann die Gestaltung der Gesetzgebung im Reichstag sich allerdings so vollziehen, daß diejenigen, welche den ärmeren Gebieten angehören, erklären: Wir halten den Augenblick nicht für gekommen, wir sind nicht in der Lage, weder den Arbeitgebern, den Kleingrundbesitzern, noch den Arbeitern diese Lasten aufzubürden, ehe nicht auf dem wirtschaftlichen Gebiet die Garantie dafür geboten wird, daß eine dauernde Besserung eintreten wird. ,,64 dissentierende Abgeordnete v. Oertzen-Brunn in den "Mecklenburger Nachrichten" veröffentlicht hatte), oder auch die Fehde mit Friesen-Rötha, der im "Vaterland" polemisch auf das anonym Eingesandte aus Pommern reagiert hatte: Nr. 211 vom 7.5. und Nr. 222 vom 13.5. 1889. 61 Zit. in KrZtg Nr. 196 (wie Anrn. 59). 62 Am 26.3. 1896, zit. nach Stillich, Die politischen Parteien (wie Anm. 35), S. 118. 63 KrZtg Nr. 212 vom 7.5. 1889.

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Was man hier im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit erwartete, hatten unmittelbar vorher die Beratungen illustriert, die um die Leutenot, den "Mangel an Arbeitern und Gesinde" kreisten. Dabei präsentierte der Referent v. Below-Saleske einen langen, an die Regierung adressierten Wunschkatalog. Um Parität mit der Industrie zu erreichen, müsse die Leistungsfähigkeit der Agrarbetriebe durch zweckdienliche Maßnahmen nachhaltig gesteigert werden: durch Steuererleichterungen, verbilligte Frachttarife und Beseitigung preislicher Verzerrungen zwischen Ost und West, durch Verkürzung der Fristen beim Erwerb des Unterstützungswohnsitzes, mithin durch eine Reform der Armenpflege zugunsten der ländlichen Gemeinden und Gutsbezirke, durch Zulassung russischer Saisonarbeiter, wirksame Strafen gegen Kontraktbruch. Beschränkung der Freizügigkeit und durchgreifende Kontrollen des "Agentenwesens", der gewerbsmäßig betriebenen Stellenvermittlung65 . Auf dieser Linie operierte auch die Pommersche ökonomische Gesellschaft, die Dachorganisation der landwirtschaftlichen Vereine Hinterpommerns66 , die Anfang Mai ihre Zustimmung explizit mit subventionspolitischen Forderungen verband. Hier plädierten der Präsident v. Below-Saleske, die Reichstagsabgeordneten v. Kleist-Retzow und v. der Osten-Blumberg für, v. Flügge-Speck gegen die Vorlage. Anträge, sie entweder ganz zu verwerfen oder den Gang der Dinge durch Wiederaufnahme der Kommissionsberatungen im Parlament zu verzögern, fanden keine Mehrheit67 • Derart dilatorischen Taktiken hatte bereits wenige Wochen zuvor der Deutsche Landwirtschaftsrat eine Absage erteilt und die Gleichbehandlung von Industrie- und Landarbeitern ausdrücklich begrüßt. Zwar machte er auf die "schwere Krisis" aufmerksam, in der sich das agrarische Gewerbe "seit einer Reihe von Jahren" befand, die daraus resultierenden, im Detail ausgebreiteten Bedenken aber stellte er zurück, um die ,,hohen Ziele" der Reform: "die Erlangung einer materiell 64 Bericht (wie Anm. 55), S. 129 (Entschließung) und S. 118. Aufschlußreich war in diesem Zusammenhang Mirbachs Erklärung, die sein Fraktionsgenosse Staudy dem Plenum des Reichtstags unterbreitete: ,.zur Zeit der Versammlung der Steuer- und Wirtschaftsreformer sei es ihm noch nicht möglich gewesen, die Bestimmungen des Gesetzes in allen Einzelheiten und in allen ihren Konsequenzen zu übersehen", Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1825 (I8. 5. 1889). 65 Bericht (wie Anm. 55), S. 126 ff. (Eingabe an den Reichskanzler mit der Bitte, eine Erhebung über das Ausmaß der Abwanderung und die ländlichen Arbeiterverhältnisse in Angriff zu nehmen) sowie S. 20-27 (Referat des Landtagsabgeordneten und Fideikommissbesitzers v. Below). Ausführlich dazu vgl. Klaus Saul, Um die konservative Struktur Ostelbiens. Agrarische Interessen, Staatsverwaltung und ländliche "Arbeiternot", in: Dirk Stegmann u. a. (Hrsg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert, Bonn 1983, S. 129-198. 66 Für die Vereine Vorpommerns war der Baltische Zentralverein zur Beförderung der Landwirtschaft zuständig: vgl. Ilona Buchsteiner, Großgrundbesitzer in Pommern 18711914. Ökonomische, soziale und politische Transformation der Großgrundbesitzer, Berlin 1993, S. 252. 67 Vgl. dazu KrZtg Nr. 211 vom 7. 5. 1889 (Pommersehe ökonomische Gesellschaft), Deutsche landwirtschaftliche Presse Nr. 37 vom 8. 5. 1889 sowie Wochenschrift der Pommersehen ökonomischen Gesellschaft Nr. 10 vom 15.5. und Nr. 13 vom 1. 7. 1889.

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gesicherten Lage der arbeitenden Klassen und die Herbeiführung des sozialen Friedens" nicht zu gefährden. Das war insofern realistisch, als zu diesem Zeitpunkt kaum ernsthaft zu hoffen war, noch "wesentlichen Einfluß" auf den Entscheidungsprozeß zu gewinnen 68 • Anders dagegen sah die Situation in den Vereinen des äußersten Ostens aus, wo sich in eigens dazu einberufenen Versammlungen vehementer Protest artikulierte. Dies galt für Posen ebenso wie für Ost- und Westpreußen. Beklagt wurde das zu rasche Tempo der sozialen Gesetzgebung, beklagt wurden allenthalben spürbare "Schäden der Unfall- und Krankenversicherung", beklagt wurden Leutenot und Moralverschleiß, sinkende Gelderträge und drückende Steuerlasten. Wohltaten wollte man für sich, nicht aber für die Arbeiter. Dabei entpuppte sich die Beteuerung, auf dem Boden der Kaiserlichen Botschaft zu stehen, regelmäßig als leere Floskel. Denn die mit jeweils geringfügigen Abweichungen formulierten Resolutionen verfolgten einzig und allein den Zweck, den unliebsamen Gesetzentwurf in letzter Minute zu Fall zu bringen oder doch zumindest dessen Verabschiedung zu vertagen und auf günstigere parlamentarische Konstellationen zu hoffen 69 • Beobachter zeigten sich überrascht von der Heftigkeit und der Resonanz der Kundgebungen 7o . Sie wähnten daher das Schicksal der Vorlage auf der Kippe. Linksliberale Blätter malten genüßlich die möglichen Konsequenzen aus, die "Konservative Korrespondenz", das Organ des Vorsitzenden Helldorff, goß Öl auf die Wogen und warnte vor summarischer Verurteilung des ostelbischen Großgrundbesitzes 71, und selbst diejenigen, die durch ihre Auftritte die Ergebnisse herbei geredet hatten - Holtz im westpreußischen, Staudy im Posener und Mirbach im ostpreußischen Verein - wehrten Vorwürfe ab, sie hätten in agitatorischer Absicht gehandelt72 . Schließlich sei es die Pflicht eines Abgeordneten, so Mirbach im Reichstag, sich mit seinen Wählern und Vertrauensmännern darüber auszutauschen, wie man sich bei einem derart schwerwiegenden "Sprung ins Dunkle" verhalten solle: "Wer die Interessen der Landwirtschaft vertritt, wie ich es mit aller 68 Deutscher Landwirtschaftsrat an Bundesrat und Reichstag, 26. 3. 1889, in: Sächs. HStA, MdI 13349. Bericht über die Versammlung am 20.3. in: Deutsche landwirtschaftliche Presse Nr. 25 vorn 27. 3. 1889. Der 1872 ins Leben gerufene Landwirtschaftsrat repräsentierte die landwirtschaftlichen Zentralvereine sämtlicher Bundesstaaten: vgl. Johannes Croner, Die Geschichte der agrarischen Bewegung in Deutschland, Berlin 1909, S. 28 f. 69 Vgl. KrZtg Nr. 215 vorn 9.5. 1889 (Landwirtschaftlicher Provinzial-Verein für Posen: dort auch das Zitat aus einern Redebeitrag des Kammerherrn v. Wilamowitz-Möllendorff); Nr. 193 vorn 26. 4. 1889 (Resolution des Zentralvereins westpreußischer Landwirte); Deutsche landwirtschaftliche Presse Nr. 35 vorn 1. 5. 1889 (Stellung des ostpreußischen landwirtschaftlichen Zentralvereins), Abendausgabe der Königsberger Hartungschen Zeitung, Beilage Nr. 98 vorn 26. 4. 1889 sowie Jahresbericht des Ostpreußischen landwirtschaftlichen Centralvereins pro 1888, Königsberg 1889, S. 40-43 und 61-63. 70 Vgl. Zeitschrift für das Versicherungswesen Nr. 17 vorn 29. 4.1889. 71 In Auszügen abgedruckt in: Deutsche landwirtschaftliche Presse Nr. 32 vorn 20. 4. 1889. 72 Typisch dafür die Bemerkungen Staudys vor dem Posener Verein: KrZtg Nr. 215 vorn 9.5. 1889.

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Entschiedenheit tue, der wird seine Bedenken unumwunden zur Sprache bringen müssen.,,73 Graf Stolberg-Wernigerode, der auf Bitte des Oberpräsidenten v. Schlieckmann nach Königsberg geeilt war, um das Schlimmste zu verhüten, berichtete gleich darauf an Rottenburg, den Chef der Reichskanzlei, die Veranstaltung sei wie befürchtet verlaufen: "Mirbach machte den Leuten klar, daß ihnen die Sache Unbequemlichkeiten verursachen und Geld kosten würde". Dagegen anzukämpfen, sei chancenlos gewesen. Auch stünden bei den kommenden Wahlen beträchtliche Schwierigkeiten ins Haus. Um einer "Spaltung der Partei" vorzubeugen und die Klientel im Lande zu besänftigen, schlug er vor, das Gesetz nicht sofort in Kraft treten zu lassen und unterdes ökonomische Kompensationen zu gewähren, den Identitätsnachweis aufzuheben oder die "Eisenbahntarife für Getreide, Mehl und Holz" zu ermäßigen. Denn: ,,Mirbach hätte mit seinem Appell an den Eigennutz nicht ein solches Unheil anrichten können, wenn die wirtschaftliche Lage im Nordosten nicht eine so außerordentlich heikle wäre". Im übrigen Deutschland sei überall ein "erfreulicher Aufschwung" zu verzeichnen, hier jedoch ginge es "immer mehr bergab,,74. Mirbach und seine Mitstreiter dachten ähnlich, zogen daraus aber konträre Schlüsse, entschieden sich für Agitationstouren in der Provinz und mobilisierten die Basis, deren Stimmungen aufgenommen, angefacht und ausgebeutet wurden. Der Beifall, den sie ernteten, zeigt, daß die agrarische Organisationslandschaft in Bewegung geraten war. Aus Vereinen, die sich satzungsgemäß nicht mit Politik zu beschäftigen hatten, sich vielmehr auf Fragen der Technik und betrieblicher Rationalisierung konzentrierten, zudem finanziell vom Staat abhingen, wurden während jenes kurzen Moments im Frühjahr 1889 Resonanzkörper für politische Mobilisierung. Darin konkretisierten sich Perspektiven, die man während der gesamten 1880er Jahre im Kongreß ebenso wie in der Vereinigung diskutiert hatte. Auslöser dafür war die Gründung freier und autonomer Bauernvereine, namentlich in Süd-, West- und Mitteldeutschland, im Osten nur vereinzelt, die einen zum Teil außerordentlich radikalen Stil pflegten75 . Darauf galt es zu reagieren. 73 Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1557f. (7. 5. 1889). 74 BArch R 43 Nr. 568, Stolberg an Rottenburg, 22.4. und 25. 4. 1889. Die Aufhebung des Identitätsnachweises sollte für Getreide die Preisdisparität zwischen Ost und West ausgleichen und die Landwirte im Osten in den vollen Genuß der Zölle kommen lassen. Zu den Einzelheiten vgl. Richter, ABC-Buch (wie Anm. 37), S. 220ff., Konservatives Handbuch, 2Berlin 1894, S. 191-194, sowie Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Bd. 5, 4Jena 1923, S. 377 - 382. 75 Beispielhaft dazu die Schrift des Gutsbesitzers, Generalsekretärs des Landwirtschaftlichen Bezirksvereins Lothringen und Mitglieds in der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer Heinrich Gerdolle, Die Notlage der Landwirtschaft und die ländlichen Vereinigungen, Leipzig 1884. Bereits in den späten 60er und frühen 70er Jahren gab es Bestrebungen zu einer umfassenden "Agrarpartei": vgl. Adalbert Hahn, Die Berliner Revue. Ein Betrag zur Geschichte der konservativen Partei zwischen 1855 und 1875, Berlin 1934, S. 159 ff. Die vereins- und verbandspolitische Entwicklung bis zur Gründung des Bundes der Landwirte umfassend und regional differenzierend zu untersuchen, wäre sicher eine lohnende Aufgabe. S. einstweilen die ältere Arbeit von Croner, Bewegung (wie Anm. 68), S. 23 - 33; die Bemer-

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Um sich nicht von diesem einerseits willkommenen, andererseits aber für die eigenen Führungs- und Machtansprüche gefährlichen Trend überrollen zu lassen, schien es nötig, die Vereine zu aktivieren, sie von liberalen Elementen zu säubern und zu institutionellen Bollwerken in den konservativen Milieus auszubauen, dabei je nach Opportunität die Partei zu stützen oder unter Druck zu setzen76. Gewiß, von den Techniken und der Effizienz des 1893 ins Leben gerufenen Bundes der Landwirte (BdL) war das noch weit entfernt, aber es gehört zur Vorgeschichte, war Präludium der später so erfolgreichen Bemühungen, die Welt der Dörfer und Güter gegen die der Fabriken und Städte auszuspielen. Solidarität zwischen den verschiedenen Regionen und Besitzklassen: dies war die Parole, und es war kein Zufall, daß in den Debatten um die Rentenversicherung immer wieder das Argument auftauchte, gerade dem Kleinbesitz würden untragbare Lasten zugemutet. Kurzum, es wurden damals neue Qualitäten sichtbar, Umrisse einer klassenpolitischen Homogenisierung des flachen Landes, mit der sich die traditionellen Spannungen zwischen Großlandwirten und Bauern allmählich zu verwischen begannen: ein, wie Hans Rosenberg formulierte, "säkularer Trendumschlag" in den Beziehungen "zwischen den ,großen' und den ,kleinen Leuten' der Agrargesellschaft"77.

v. "Die Stimmung gegen das Invalidengesetz ist in konservativen Kreisen im Steigen", meinte der Zentrumsführer Windthorst Anfang Mai: "Wenn die Leute frei abstimmen könnten oder wollten, würde es mit Glanz verworfen. Aber die Regierung arbeitet mit Hochdruck, und dem werden die schwachen Herren kaum widerstehen.,,78 Sogar der Kanzler sprang in die Bresche. Als er am 18. Mai gegen Ende der dritten Lesung das Wort ergriff, galt seine Rede fast ausschließlich den Konservativen. Er wisse aus Erfahrung, daß "Hyperkonservative" sich bisweilen, nämlich dann "wenn sie zornig" würden, "im politischen Effekt von den Sozialdemokraten nur mäßig" unterschieden. "Wie können Sie von Seiten der konservativen Partei", fragte er sodann direkt, "dem Verdruß, dem lokalen Interesse Raum geben gegenkungen bei Horst Müller-Link, Industrialisierung und Außenpolitik. Preußen-Deutschland und das Zarenreich von 1860-1890, Göttingen 1977, S. 145 ff., sowie sehr eindringlich Wolfram Pyta, Landwirtschaftliche Interessenpolitik im Deutschen Kaiserreich. Der Einfluß agrarischer Interessen auf die Neuordnung der Finanz- und Wirtschaftspolitik am Ende der 1870er Jahre am Beispiel von Rheinland und Westfalen, Stuttgart 1991. 76 Vgl. Mirbachs Referat auf der IX. Generalversammlung der Vereinigung der Steuerund Wirtschaftsreforrner am 20.2.1884, Bericht, Berlin 1884, S. 64-90. 77 Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, S. 151. In diesem Sinne hatte bereits Emil Lederer argumentiert: Sozialpolitische Chronik. Agrarische Sozialpolitik, in: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik 32 (1911), S. 252 ff. 78 Brief an Hertling, 3. 5. 1889, in: Hertling, Erinnerungen (wie Anm. 11), S. 105 f.

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über einer Frage, welche die Gesamtheit des Reiches bis in ihre innersten Tiefen berührt"? Ein Abgeordneter, der sich in "Kirchturmspolitik" und "Provinzialpatriotismus" verliere, verfehle die Anforderungen, die das Mandat an ihn richte, denn Aufgabe sei es nicht, sich den Sympathien oder Antipathien der Wahlkreise zu unterwerfen und "eigenwillige" Sonderbelange zu verfolgen, sondern sich am Gemeinwohl zu orientieren. Daß dessen Definition jeweils der Regierung oblag, versteht sich von selbst. Am Schluß appellierte Bismarck an die Konservativen, "sich von der Gemeinschaft von Sozialdemokraten, Polen, Welfen, Elsässer-Franzosen" und "Freisinnigen absolut loszusagen". Als Adressaten figurierten hier die Parteien des Kartells, also auch die Nationalliberalen sowie - das Zentrum, was zu interessanten Spekulationen über künftige koalitionspolitische Kombinationen einladen mochte 79. Vielleicht war es diese scharfzüngige, wohlberechnete Intervention, welche die Zögernden und nur halbherzig Renitenten an die Stange zwang. Vielleicht war es auch nur die Ehrfurcht vor dem "teuren Vermächtnis" des verstorbenen Kaisers Wilhelm 1. 80 Vielleicht steckte immer noch die von der "Schlesischen Zeitung" ausgegebene Parole: ,,Festina lente,,81 in den Köpfen, die Erwartung an die verbündeten Regierungen, das Gesetz nicht ohne begleitende Reformen zu ihren Gunsten zu implementieren82 . Ganz sicher spielten "Verbesserungen" eine Rolle, die während der Beratungen erreicht worden waren 83 : der einheitliche Reichszuschuß, ein "großes Beneficium für die landwirtschaftlichen Arbeiter,,84, oder die Möglichkeit, einen Teil der Rente in Naturalien auszuzahlen. Jedenfalls scherten am Ende nur sieben Abgeordnete aus der Front der deutschkonservativen Majorität aus, einige, die noch kurz vorher "schwere Bedenken" geäußert hatten, glänzten bei der Abstimmung durch Abwesenheit85 , darunter der Generallandschaftsdirektor v. Staudy aus Posen. Zufriedenheit herrschte danach allerdings nicht. Am ehesten fand man sie bei den Arbeitern, die nach und nach die Bedeutung der Renten anerkannten. Auch die "Pietät" der Kinder gegen die Eltern wurde anscheinend gefördert: "Man verpflegt jetzt den Alten hinter dem Ofen lieber, wo er 180 Mark zur Verfügung Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1831 - 1836 (18. 5. 1889). Dies sei der "einzige Grund", meinte Dewitz-Zachow auf der Generalversammlung der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer im Februar 1889: Bericht (wie Anm. 55), S.119. 81 Wiedergegeben in KrZtg Nr. 194 vom 26.4. und Nr. 216 vom 9.5.1889. 82 Von freikonservativer Seite wurde vor der Schlußabstimmung ein Antrag auf Reform des Unterstützungswohnsitzes eingebracht, dann aber wieder zurückgezogen: Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, S. 1995 f. Der Redakteur der Kreuzzeitung v. Harnmerstein nutzte die Aussprache über die eingegangenen Petitionen für die Forderung, das Gesetz erst nach vollzogener Reform der direkten Steuern in Preußen in Kraft zu setzen, ebenda, S. 1999 (24. 5. 1889). 83 Zusammenfassend: KrZtg Nr. 246 vom 28. 5.1889. 84 Below-Saleske auf der Generalversammlung der Pommersehen ökonomischen Gesellschaft, 3. und 4. 5. 1889: Wochenschrift (wie Anm. 28), S. 173. 85 Zeitschrift für Versicherungswesen Nr. 21 vom 27. 5. 1889. 79

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hat"s6. Die Arbeitgeber dagegen blieben argwöhnisch. Unter dem Eindruck der sich verschärfenden Leutenot wurden die Konservativen sozialpolitisch vollends "steril", und "alle Versuche, von evangelisch-sozialer Seite besonders, neues Leben in ihnen zu erwecken, sind resultatlos verlaufen"s7. Sozialpolitik wurde defensiv, sofern es um die Besitzlosen, aber offensiv, sofern es um die Besitzenden ging - in diesem Zusammenhang ein letztes Zitat. Es stammt aus einer Programmschrift des späteren BdL-Journalisten Georg Oertel: "Auf die Durchführung der Versicherungs gesetzgebung sind große Hoffnungen gesetzt worden, die bisher nicht in Erfüllung gegangen sind und nach menschlicher Voraussicht nicht in Erfüllung gehen werden. Man hoffte, wenn man die bleiche Sorge um Unfall und Krankheit, um Siechtum und Alter von den Arbeiterhäusern gebannt hätte, in ihnen wieder der Zufriedenheit eine Heimstätte breiten zu können. Aber noch herrscht in den Hütten der dumpfe Groll; wie eine kleine Abschlagzahlung auf eine große Forderung nahm man das Gebotene an, und die Faust blieb geballt."ss

86 So eine Äußerung aus dem Regierungsbezirk Kassel, mitgeteilt von Kuno Frankenstein, Die Arbeiterfrage in der deutschen Landwirtschaft, Berlin 1893, S. 311. Ähnliche Beobachtungen finden sich in den Erhebungen des Evangelisch-sozialen Kongresses: vg!. etwa S. Goldschmidt, Die Landarbeiter in der Provinz Sachsen sowie den Herzogtümern Braunschweig und Anhalt, Tübingen 1899, S. 119. 87 Elisabeth von Richthofen, Über die historischen Wandlungen in der Stellung der autoritären Parteien zur Arbeiterschutzgesetzgebung und die Motive dieser Wandlungen, Phi!. Diss. Heidelberg 1901, S. 72. 88 Georg Oertel, Der Konservatismus als Weltanschauung, Leipzig 1893, S. 101.

Politikberater und opinion-Ieader? Der Einfluß von Staatswissenschaftlern und Versicherungsexperten auf die Entstehung der Invaliditäts- und Altersversicherung Von Wilfried Rudloff

Die bürgerliche Sozialrefonn, so lautet eine gängige Interpretation, zählte zu den einflußreichsten Größen des sozialpolitischen Aufbruchs seit der Reichsgründung 1871. Als Bewegung ist sie eng mit den großen Namen der Staatswissenschaften - von Gustav Schmoller bis Werner Sombart, von Adolph Wagner bis Max Weber - verbunden, die ihre Hörsäle verließen, um extra muros die öffentliche Meinung anzustoßen, oder aber ihre Katheder zum Scharnier zwischen nationalökonomischer Fachwelt und Bürokratie zu machen suchten. Insbesondere Pierangelo Schiera hat in den zeitgenössischen Staatswissenschaften einen Verfassungsfaktor ersten Ranges ausmachen wollen. Vornweg die "Kathedersozialisten" des Vereins für Sozialpolitik hätten zur Planung, Legitimierung und Durchführung der neuen interventionsstaatlichen Politik in der Ära Bismarck eine unverzichtbare Rolle gespielt!. Vom Bruch ordnet die wissenschaftliche Politikberatung, wie sie die "Kathedersozialisten" anstrebten, den bedeutsamsten Wirksarnkeitsstrategien der "Ge1ehrtenpolitik" im Kaiserreich zu 2 • Andere Autoren argumentieren im Hinblick auf die unmittelbare Beraterrolle der wissenschaftlichen Meinungsführer zurückhaltender3 . Lindenfeld etwa versteht die Hauptwirkungsweise der Sozialrefonner als eine indirekte; ihre Konzepte beein1 Pierangelo Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992, S. 174ff., bes. 182f. 2 Rüdiger vom Bruch, Nationalökonomie zwischen Wissenschaft und öffentlicher Meinung im Spiegel Gustav Schmollers, in: Pierange10 Schiera/Friedrich Tenbruck (Hrsg.), Gustav Schmoller in seiner Zeit: die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien, Bologna/Beriin 1989, S. 153 -180, hier 176 f.; vgl. auch ders., Gelehrtenpolitik und politische Kultur im späten Kaiserreich, in: Gustav Schmidtl Jörn Rüsen (Hrsg.), Gelehrtenpolitik und politische Kultur in Deutschland 1830-1930, Bochum 1986, S. 77 -106, bes. lOOff. 3 Dieter Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des "Neuen Kurses" bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890-1914), Wiesbaden 1967, S. 15ff. und 28ff.; Harald Winkel, Nationalökonomie und Gelehrtenpolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Schmidt/Rüsen (Hrsg.), Gelehrtenpolitik, S. 107 -132, bes. 113 und 123 ff.

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flußten, via Beamtenausbildung und öffentliche Meinung, das Denken der maßgeblichen Vertreter des Regierungsapparates - eine Auffassung, die gewissermaßen den Minimalkonsens der Forschung verkörpert4 • Beschränkt man sich auf solch allgemeine Aussagen, ohne in den einzelnen Entscheidungsprozessen jenen Wirkungschancen und Wirkungsmechanismen nachzuspüren, die sich aus der fallweise-konkreten Berührung von Verwaltung und Experten in den politischen Abläufen ergaben, entzieht sich allerdings die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen entscheidungswirksamer Intervention verwaltungsexternen Sachverstandes einer genaueren Evaluierung. Um nicht nur die Einflußkanäle aufzeigen, sondern auch den Wirkungsgrad sachverständigen Ratgeberturns nachzeichnen zu können, soll deshalb im folgenden neben der "Angebotsseite" der Gelehrten deutlicher als in den Studien zur "Gelehrtenpolitik" mitunter üblich auch die "Nachfrageperspektive" der hohen Reichsverwaltung zum Blickwinkel gewählt werden. Ganz allgemein läßt sich zunächst beobachten, daß der Austausch zwischen externen Experten und Verwaltung, wiewohl kein gänzlich neuartiges Phänomen5 , im Kaiserreich an Intensität gewann. Adolph Wagners Ideen nahmen Einfluß auf die preußische Finanzreform der Ära Miquel, Wilhelm Lexis wurde zu einem engen Berater des preußischen Ministeriums für Kultus und Erziehung, Gustav Schmollers Ansichten färbten auf die Arbeiterschutzgesetzgebung des "Neuen Kurses" ab6 . Gesprächszirkel wie die "Staatswissenschaftliche Gesellschaft" in Berlin dienten namhaften Gelehrten als "Transmissionsriemen", um Einfluß auf die hohe Beamtenschaft zu erlangen7. Neben die freie Konsultation traten festere Formen sachverständiger Politikberatung. Bei der Entstehung des BGBs erlangten die Rechtspraktiker insbesondere in der ersten Ausarbeitungskommission erhebliches Gewicht, während die Rolle der Rechtsgelehrten insgesamt eher begrenzt 4 David F. Lindenfeld, The Practical Imagination. The German Science of State in the Nineteenth Century, Chicago/London 1997, S. 227. Schon Schmollers Sichtweise wurde von einer solchen Selbsteinschätzung bestimmt, vgl. Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890-1914), Husum 1980, S. 65. 5 Hinweise etwa bei Stefan Fisch, Verwaltungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als Gegenstand neuerer deutscher Dissertationen und Habilitationsschriften, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 9 (1997), S. 281-305, hier 302. 6 Hans Herzfeld, Johannes von Miquel. Sein Anteil am Ausbau des Deutschen Reiches bis zur Jahrhundertwende, Bd. II, Detmold 1938, S. 203 - 286; Lindenfeld, Practical Imagination, S. 241 f. und 267; Karl Erich Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz, Wiesbaden 1957, S. 41 ff.; die Nationalökonomen Brentano, Conrad, Schmoller und Wagner waren so auch an der Kartellenquete des Reichsamtes des Innern in den Jahren 1903 bis 1905 beteiligt, vgl. Fritz Blaich, Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland, Düsseldorf 1973, S.257ff. 7 Rüdiger vom Bruch, Die Staatswissenschaftliche Gesellschaft. Bestimmungsfaktoren, Voraussetzungen und Grundzüge ihrer Entwicklung 1883-1919, in: Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin 1883-1983, Berlin 1983, S. 9-69; Bödiker 1887 und v. Woedtke 1889 sprachen hier über Fragen der Invaliden- und Altersversicherung, vgl. das Verzeichnis ebenda, S. 131 f.

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blieb8 . Um die Jahrhundertwende traten als verwaltungsflankierende Ratgebergremien Einrichtungen wie der Versicherungsbeirat oder der Reichsgesundheitsrat ins Leben, der erste mehr mit privatwirtschaftlichen Interessenten, der zweite auch mit wissenschaftlichen Experten besetzt9 • Die zunehmende Ausdehnung und wachsende Differenzierung der staatlichen Handlungsfelder erhöhte auf Reichsebene wie in den Einzelstaaten die fachlichen Anforderungen an die Verwaltung und machte diese stärker von äußeren Wissensressourcen abhängig. Der Wirksamkeit der auf Dauer gestellten Beratungsgremien blieben allerdings noch enge Grenzen gezogen JO • Auch wenn man berücksichtigt, daß bei ihrer Errichtung in aller Regel die Absicht im Vordergrund stand, die gesellschaftlichen Interessen in die Entscheidungsvorbereitung der Verwaltung mit einzubinden, war die Vermehrung der sachverständigen Beiräte und Ad-hoc-Komrnissionen doch auch ein Zeichen dafür, daß die Vor- und Nachbereitung staatlicher Steuerung allein innerhalb des Horizontes der Verwaltung nicht mehr genügte l1 . Eine systematische Beleuchtung dieser Frage steht bislang noch aus. Frühformen des Experteneinflusses im Interventionsstaat zu untersuchen, und dies auf einem Testfeld, welches in späteren Jahren eine überaus rege Sachverständigenkultur hervorbringen würde, ist Zweck der folgenden Betrachtung l2 . Es geht um eine Antwort auf die Frage, ob und in welcher Weise die Geburt des deutschen Sozialstaates mit dem Aufstieg der Figur des sozialstaatlichen Experten zusammenfallt. Daß sich als Ausgangsannahme ein allzu schlichter Dualismus vom Typ ,hier Sachverstand, dort Verwaltung' auch im vorliegenden Kontext kaum eignen dürfte, liegt auf der Hand 13 . Angesichts des Erfahrungsschatzes, der beim Model8 Michael John, Politics and the Law in Late Nineteenth-Century Germany. The Origins of the Civil Code, Oxford 1989; Barbara Dölemeyer, Kodifikationen und Projekte, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 3: Das 19. Jahrhundert, 2. Teilbd., München 1982, S. 1440-1625, hier 1572 ff. 9 Paul Hacker, Die Beiräte für besondere Gebiete der Staatstätigkeit im Deutschen Reich und in seinen bedeutenderen Gliedstaaten, Tübingen 1903, hier bes. S. 26 ff.; Friedrich Zahn, Verwaltungsbeiräte, in: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. 2. Aufl., hrsg. von Max Fleischmann, Bd. 3, Tübingen 1914, 727 -732. 10 Hacker, Die Beiräte, S. 90 f. 11 Vgl. als Überblick auch: Hannes Friedrich, Staatliche Verwaltung und Wissenschaft. Die wissenschaftliche Beratung der Politik aus der Sicht der Ministerialbürokratie, Frankfurt a.M. 1970, S. 47 ff. 12 Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980; Wemer Tegtmeier, Sachverständigenkomrnissionen, Räte, Konzertierte Aktion, in: Handbuch Sozialpolitik, hrsg. von Bemd v. Maydell/Wemer Kannengießer, Pfullingen 1988, S. 190-199; Lutz Raphael, Experten im Sozialstaat, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 231-258. 13 Renate Mayntz, Politikberatung und politische Entscheidungsstrukturen: Zu den Voraussetzungen des Politikberatungsmodells, in: Axel Murswieck (Hrsg.), Regieren und Politikberatung, Opladen 1994, S. 17 -29, hier S. 17 f.

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lieren der vorhergegangenen Entwürfe zur Sozialversicherungs gesetzgebung angesammelt worden war, muß vielmehr dem Sachverstand des Regierungsapparates ein erhebliches Eigengewicht zugeschrieben werden. Neben der Funktionsvielfalt - die Experten wirkten als Ideenproduzenten oder Aufbereiter von sozialstatistischen Informationen, als externe Legitimitätsstifter für politische Programme oder interne Begutachter von Gesetzesvorhaben - interessieren auch die Formen der Politikberatung: Auf welcher Ebene der institutionellen Verfestigung zwischen persönlichem Berater, Ad-hoc-Kommissionen und ständigem Beirat waren solche Konsultationen angesiedelt? Analysiert wird eine Sequenz von sechs Etappen möglicher Expertenintervention, eine Schrittfolge, die im vollständigen "Politikzyklus" den Teilausschnitt zwischen Agenda-Gestaltung und Politikformulierung umfaßt und damit nur die Phase der Gesetzesformulierung, nicht aber die des Gesetzesvollzugs umschließt l4 - wobei dann grosso modo den einzelnen Stadien unterschiedliche Funktionen des Sachverständigenurteils zugeordnet werden können. In den Bedingungen der Gründungsphase des Sozialstaats liegen zugleich die Sonderheiten, die ins Auge stechen, sobald man das ganze im Rahmen einer politikfeldbezogenen Langzeitperspektive betrachtet: Im Gegensatz zum Inkrementalismus der nur noch schrittweisen Anpassungskorrekturen, wie er gewöhnlich bei einmal bestehenden Institutionenarrangements aufzutreten pflegt, waren die politischen Entscheidungen im Vorfeld der gesetzgeberischen Gründungsakte durch eine größere Grundsätzlichkeit, Offenheit und Optionen vielfalt geprägt, und, damit zusammenhängend, noch weniger durch festgefügte sozialstaatliche Interessenkoalitionen gehemmt. Gerade deshalb darf sich der Blick nicht nur auf die schließlich entscheidungsrelevant gewordenen Beiträge heften. Vielmehr soll, um Spannweite und Durchschlagskraft der von sachverständiger Seite eingebrachten Realisierungsvorschläge genauer bemessen zu können, ein Augenmerk auch auf die im politischen Konkretisierungsprozeß unberücksichtigt gebliebenen, in den breiten Meinungsstrom aber sehr wohl eingeflossenen Alternativen gerichtet werden.

I. Die Etablierung politischer Themenhorizonte war auch im Kaiserreich keine geschlossene Veranstaltung von Exekutive und Legislative. Der sich herausbildende politische Massenmarkt verstärkte das Gewicht der öffentlichen Meinung bei der Zielbestimmung der politischen Akteure. Eine Untersuchung des Experteneinflusses in der Politik hat deshalb bei dem einzusetzen, was die Politologen agendasetting nennen l5 • Dabei kann es hier nicht um die diskursive Konstituierung der 14 Vgl. Paul Kevenhörster, Politikwissenschaft. Bd. 1: Entscheidungen und Strukturen der Politik, Opladen 1997, S. 368 ff. 15 Allgemein zur Auseinandersetzung mit der Frage der Arbeiterversicherung in Wissenschaft und Publizistik: Friedrich Zahn, Die wissenschaftlichen Ansichten über das soziale

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sozialen Probleme Alter und Invalidität an sich gehen - eine solche Betrachtung müßte weiter ausholen, als es in diesem Rahmen möglich ist. Im Blickpunkt steht nicht die Aufdeckung problematischer gesellschaftlicher Bedingungen, sondern stehen die Auswahlentscheidungen beim Versuch ihrer Bekämpfung 16 . Die breitere Öffentlichkeit für sozialpolitische Fragen zu interessieren und die Anliegen der Sozialreform in dieser Weise auf die politische Tagesordnung zu hieven, war das Ziel des 1873 gegründeten Vereins für Socialpolitik 17 • Der Verein widmete 1874 eine seiner ersten Generalversammlungen, fortan die aufmerksam verfolgten Herbstmanöver der bürgerlichen Sozialreform, dem Thema der Altersund Invalidenkassen. Man kann für die Phase des agenda-setting dieses gemischte Forum von Professoren, Geheimräten und Unternehmern als wichtigsten Bestimmungsfaktor nehmen, um nach dem Einfluß der sozialpolitischen Experten auf die öffentliche Meinungsbildung zu fragen. Die Auswahl der Berichterstatter und der Gang der Verhandlungen im Jahre 1874 bestätigten zunächst einen allgemeinen Befund. Als sachverständige Autoritäten traten noch kaum die Vertreter der akademischen Nationalökonomie in Erscheinung. Eher noch als daß die universitäre Versicherungswissenschaft an der Versicherungswesen, in: Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im neunzehnten Jahrhundert. Gustav Schmoller zur siebzigsten Wiederkehr seines Geburtstages, Leipzig 1908, Zweiter Teil; Moritz Wagner, Die deutsche Arbeiterversicherung. Ihre Entstehung und Weiterentwicklung, Berlin-Grunewald 1906, S. 69ff.; Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung. Ihre Entstehung im Kräftespiel der Zeit, Braunschweig 1951, S. 67 ff.; Willi Fritz Kops, Bismarcks Sozialgesetzgebung in der wissenschaftlichen Publizistik 1878 - 1890, Diss. phil. Tübingen 1953 (MS), Kap. ill/2; Joachim Rückert, Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung. Festschrift aus Anlaß des l00jährigen Bestehens der gesetzlichen Rentenversicherung, hrsg. von Franz Ruland, Neuwied I Frankfurt a.M. 1990, S. 1- 50, hier 19 ff. 16 Vgl. die Überlegungen bei Christoph Conrad, Zur Konstitution einer Lebensphase als Gegenstand der Sozialpolitik, in: ders./Hans-Joachim Kondratowitz (Hrsg.), Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters, Berlin 1983, S. 365 - 378; für einen breiter angelegten Zugang zur publizistischen Thematisierung der sozialen Probleme Erwerbsunfahigkeit und Alter vgl. ders., Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, S. 218 ff.; für einen weiter zuruckreichenden Diskussionsausschnitt ferner: Jürgen Reulecke, Sozialer Friede durch soziale Reform. Der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen in der Fruhindustrialisierung, Wuppertal 1983, S. 217 ff. 17 Dietrich Rueschemeyer/Ronan van Rossern, The Verein für Sozialpolitik and the Fabian Society. A Study in the Sociology of Policy-Relevant Knowledge, in: Dietrich Rueschemeyer/Theda Skocpol (eds.), States, Social Knowledge, and the Origins of Modem Social Policies, Princeton/New York 1996, S. 117 -162; zum nur geringen direkten Einfluß des VfS auf die Politik, bei stärkerer, wiewohl schwankender Wirkung auf die öffentliche Meinung vgl. lngo Töpfer, Die Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik und die Rechtspolitik der späten Bismarck- und Wilhelminischen Zeit, Diss. jur. Frankfurt a.M. 1970, allg. S. 17 ff., für die Alters- und Invaliditätsversicherung S. 187 ff.; ferner: Marie-Louise Plessen, Die Wirksamkeit des Vereins für Socialpolitik von 1872-1890, Berlin 1975; Else Conrad, Der Verein für Sozialpolitik und seine Wirksamkeit auf dem Gebiete der gewerblichen Arbeiterfrage, Zürich 1906. 7 Fisch I Haerendel

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Wiege der Sozialversicherung stand, ließe sich sagen, daß die Sozialversicherung an der Wiege der universitären Versicherungswissenschaft stand (das erste versicherungswissenschaftliche Seminar wurde erst 1895 in Göttingen gegründet) 18. Das Wort führten entweder Fabrikanten mit praktischer Erfahrung bei der Errichtung von Alters- und Invalidenkassen, Vertreter der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, d. h. Befürworter von freiwilligen Alters- und Invalidenkassen nach dem Gegenseitigkeitsprinzip, oder aber Versicherungstechniker aus dem Umkreis der bestehenden privaten Personalversicherungen. Die frühen Diskussionsphasen können deshalb auch als Positionskämpfe unter den Expertengruppen verstanden werden, ein Ringen zwischen dem experimentellen Erfahrungswissen der Fabrikanten und Gewerkvereinler, dem technokratischen Versicherungs-Know-how der privaten Assekuranzen und der auf jenem Politikfeld noch keineswegs gesicherten wissenschaftlichen Autorität der Nationalökonomen. Die Vorgutachten zu den Verhandlungen deuteten die Bandbreite der zeitgenössisch diskutierten Modelle an 19 • Das Votum des rheinischen Fabrikanten Fritz Kalle - Kassen auf territorialer Basis, deren obligatorische Mitgliedschaft nicht allein auf die Industriearbeiterschaft beschränkt sein sollte, Kassenzwang, aber keine Zwangskassen 2o, paritätischer Arbeitgeberanteil an Beiträgen und Verwaltung, gleichmäßige Renten als feststehende Prozentanteile an den lokalen Tagelöhnen - kam in vielem, wenn auch nicht in allem, den späteren Eckdaten der Invaliditäts- und Altersversicherung nahe 21 • Das Votum des Direktors der Nordstern-Versicherung, des renommierten Versicherungsmathematikers Zillmer, verwarf hingegen den Versicherungszwang und wollte eine etwaige Versicherungsgesetzgebung auf die Aufstellung von Nonnativbestimmungen für den Betrieb freiwilliger Kassen beschränkt sehen 22 • Die Assekuranzexperten als Sachwalter der versicherungstechnischen Solidität waren angesichts fehlender Invaliditätsund Sterbetafeln - und anderer statistisch-mathematischer Probleme mehr - nicht selten geneigt, die im Zusammenhang mit der Altersversicherung vielstrapazierte 18 Paul Moldenhauer, Das private Versicherungswesen, in: Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im neunzehnten Jahrhundert, Leipzig 1908, Zweiter Teil, hier S. 1 f.; Peter Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft in Deutschland, Karlsruhe 1998, S.134ff. 19 Die ThemensteIlung war im vorbereitenden Ausschuß von seiten der Zwangsversicherungsgegner Hirsch und Engel präzisiert, gleichwohl aber sehr offen gehalten worden, Protokoll der Sitzung vom 1. 4. 1874, GStA Berlin HA I Rep. 196 Verein für Socialpolitik Nr. 64, BI. 27 f. 20 Dies allerdings erst stärker in seinem Referat bei den Verhandlungen, vgl. Verhandlungen der zweiten Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 11. und 12. Oktober 1874, Leipzig 1875, S. 65 ff. 21 Fritz Kalle, Die deutschen Arbeiter-, Invaliden-, Witwen- und Waisen-Cassen. Gutachten, in: Über Alters- und Invalidencassen für Arbeiter, Leipzig 1874 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik V), S. 1- 22. 22 Zillmer, Ueber Alters- und Invaliden-Pensions-Cassen, in: ebenda, S. 23-34; zum Folgenden auch der Diskussionsbeitrag Zillmers, Verhandlungen der zweiten Generalversammlung, S. 99 ff.; zu Zillmer: Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft, S. 92 ff.

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Metapher vom "Sprung ins Dunkle" als Absturz in die Untiefen statistisch-mathematischer Unberechenbarkeit zu verstehen. F. Gerkrath, ebenfalls Generaldirektor einer großen privaten Lebensversicherungsgesellschaft, versuchte in einer Schrift den Nachweis zu erbringen, daß angesichts der Prämienhöhe, wie sie für die verschiedenen Versicherungsarten den Arbeitern abverlangt werden müsse, in der Alterssicherung am ehesten noch an eine Kapital-, nicht aber eine Rentenversicherung gedacht werden könne, eine Einrichtung im übrigen, die statt unter Beteiligung der Arbeiter von privaten Aktien-Gesellschaften verwaltet werden müßte23 • Solche Diskussionsbeiträge, in denen sich sachlogische Bedenken mitunter kaum verhüllt mit wirtschaftlichen Interessengesichtspunkten verbrüderten, veranlaßten Schmoller in den achtziger Jahren, die von versicherungstechnischer Seite beanspruchte Autorität durch die Bemerkung in Frage zu stellen, alles "was bis jetzt im Arbeiter-Kassenwesen großes geleistet worden ist, ist nicht mit Versicherungstechnik, sondern durch genossenschaftlichen Geist und staatliche Initiative trotz der Versicherungstechnik geleistet worden. ,,24 Zurück zur Debatte des Jahres 1874 im Verein für Socialpolitik. Wichtiger als die Vorberichte waren die nachfolgenden Verhandlungen der Generalversammlung 2s . Die Diskussion zirkulierte ganz um die zentralen Polarisierungs begriffe des Zwangs und der Freiwilligkeit. Vor dem Hintergrund der Gründerkrise und des in die Kritik geratenen Laissez-faire-Liberalismus verliehen solche Etiketten zugleich auch dem grundsätzlichen Streit darüber Ausdruck, wie stark der Staat in die Sphäre der Gesellschaft regulierend einzugreifen berechtigt sein sollte. Bei der abschließenden Abstimmung trugen die Verfechter des Freiwilligkeitsprinzips einen deutlichen Sieg davon, das kehrte die in den Gutachten vorwaltende Tendenz zur Zwangsversicherung kurzerhand um. Die moralpolitische Kernfrage der Debatte, ob nämlich der Staat, sobald er ein dringendes, ungedecktes Bedürfnis einzelner Klassen ausgemacht habe, die notwendige Vorsorge gesetzlich erzwingen dürfe, nur um dann über die Pflichtbeiträge auch noch in deren private Eigentumsrechte einzugreifen, wurde einstweilen von der Mehrheit mit Nein beantwortet26 • Der sich 23 F. Gerkrath, Zur Frage der Arbeiter-Versicherung, Berlin 1880; zur "Unmöglichkeit" einer obligatorischen Alters-, Invaliden-, Witwen- und Waisenversicherung aus versicherungswirtschaftlicher Sicht ferner C. G. Molt, Zur Arbeiterversicherungs-Frage, in: Assecuranz-Jahrbuch In (1882), S. 40-67, hier S. 42ff. (Molt war der Schöpfer der modemen Haftpflichtversicherung). 24 Gustav Schmoller, Aeltere und neuere Literatur über Hilfskassenwesen, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft 5 (1881), S. 271-294, hier 280. 25 Vgl. Verhandlungen der zweiten Generalversammlung; ferner den von Hermann Wagener im Auftrag Bismarcks angefertigten Bericht über die Jahres-Versammlung des Vereins für Socialpolitik im Jahre 1874, BArch Koblenz NL Otto von Bismarck B 121, BI. 120-143; Wagener stellte sich dabei auf die Seite der Befürworter des Zwangs und wollte es auch als nicht weiter bedeutsam erachten, daß bei der abschließenden Abstimmung die Zwangsgegner die Oberhand behielten, da doch "die wissenschaftlichen Autoritäten überwiegend auf der anderen Seite standen." 26 In eben diesem Sinne ließ 1874 auch Heinrich von Treitschke in seiner berühmten Streitschrift gegen die "Kathedersozialisten" eine Bemerkung gegen staatlich verantwortete

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in all dem äußernde Zielkonflikt war als Kollision von fundamentalen Wertbezügen so eng mit der Auswahl der Mittel (Zwang/Freiwilligkeit) verknüpft, daß die Zielbestimmung zugleich auch als eine Funktion der Mittelauswahl diskutiert wurde. Als Kompromißidee, einen Mittelweg zwischen der nicht gewollten Omnipotenz des Staates und den Unzulänglichkeiten freiwilliger Selbsthilfe einzuschlagen, trat dabei aber auch schon der Gedanke einer korporativen Organisation der Versicherung nach Gewerbegruppen hervor - so vor allem in den Ausführungen des Bonner Nationalökonomen Adolf Held 27 . Es sollte bis in die achtziger Jahre dauern, ehe dann in den öffentlichen Meinungskämpfen der Gedanke der Zwangsversicherung dominant wurde. Als sich der Verein für Socialpolitik 1882 erneut mit der Arbeiterversicherung beschäftigte, stellte sich einer obligatorischen Alters- und Invalidenversicherung kaum noch ein Redner entgegen. Gleichennaßen bezeichnend war allerdings, daß ebenfalls kaum einer, auch nicht Gustav Schmoller, die Modalitäten einer solchen Versicherung schon für spruchreif hielt und ihre allgemeine Einführung bereits für unmittelbar bevorstehend. Allenfalls nach und nach, so der Tenor, und nur mit äußerster Vorsicht sei dies geboten 28 . Für viele Nationalökonomen dürfte gegolten haben, was Gustav Schönberg hinsichtlich der Alters- und Invalidenversicherung noch 1886 in seinem vielgelesenen Handbuch der politischen Ökonomie aussprach: "die Wissenschaft bietet zur Zeit für eine verständige Realpolitik Vorschläge Einzelner, aber keine Lösung dieser schwierigen und complicirten Frage, und sie kann die gesetzgebenden Faktoren vor einem definitiven Vorgehen nur warnen.,,29 Das Ziel war benannt, aber die Wege dorthin lagen noch weitgehend im Dunkeln. Die Reichsverwaltung freilich feilte derweilen bereits an den Konzepten. Sie besaß einen Vorsprung an praktischer Kreativität.

11. Der Einfluß externer Fachkompetenz auf die Politik, so ließe sich als einfache, nach Zeit, Ort und Gegenstandsbereich allerdings stark zu differenzierende Regel Invaliditätszwangskasse fallen, vgl. Heinrich von Treitschke, Der Socialismus und seine Gönner, in: Preußische Jahrbücher 34 (1874), S. 67 -110 und 248-301, hier 298. 27 Verhandlungen der zweiten Generalversammlung, S. 103 ff. 28 Vgl. die Diskussion zusammenfassend das Schlußwort des Vorsitzenden Nasse: Verhandlungen der am 9. und 10. Oktober 1882 in Frankfurt a.M. abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik, Leipzig 1882, S. 186 (für Schmoller S. 172 f.). 29 Gustav Schönberg, Die gewerbliche Arbeiterfrage, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der politischen Ökonomie. 2., stark vermehrte Aufl., Bd. 2: Volkswirtschaftslehre, 2. Teilbd., Tübingen 1886, S. 549 ff., hier 628; bezeichnender noch war, daß Schönberg auch in der überarbeiteten Fassung seines Artikels für die dritte, 1891 erschienene Auflage des Handbuchs betonte, man habe bei dem nunmehr ins Leben getretenen Gesetz nicht gewartet, bis die prinzipiellen und versicherungstechnischen Vorfragen wissenschaftlich unanfechtbar gelöst worden seien (S.756).

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aufstellen, ist in der gesetzgeberischen Vorbereitungsphase, wenn es um die Sichtung und Auswahl der Grundkonzepte geht, gemeinhin am stärksten30 . Mögliche Handlungshorizonte aufzuspannen eignet sie sich mehr, als politische Handlungskorridore auszumessen. Als nächster Schritt ist somit die Frage nach der Rolle der Experten als Ideenspender für die Gesetzesmodellierung aufzuwerfen. Seit 1871 versammelte sich in den Akten der obersten Reichsverwaltung eine stattliche Anzahl von Denkschriften und Petitionen, die mit schwankendem Präzisionsgrad und in verschiedenster Ausmalung Modelle für eine Invaliden- oder Alterskasse unterbreiteten. Unter den Einsendern fanden sich neben Vertretern der öffentlichen Verwaltung ebenso Groß- und Kleingewerbetreibende wie Handwerker und Lohnarbeiter. Nicht selten wurde dabei die Trommel für bereits bestehende Fabrikkassen gerührt und deren Modell als Blaupause eines generalisierbaren Lösungsansatzes gehandelt. Staatswissenschaftler allerdings sucht man unter den Eingaben nahezu vergebens 3 !. Noch vor der kaiserlichen Botschaft von 1881, als die staatliche Kassenpolitik um den Aspekt der Alters- und Invalidenversicherung erweitert wurde, erhielt ein Mitarbeiter des Reichsamtes des Innern den Auftrag, anband des vorliegenden Materials einen Überblick über den aktuellen Diskussionsstand zu erstellen. Die Inventarisierung der aktenkundig gewordenen Ideenproduktion schien freilich kaum dazu angetan, einen kraftvollen konzeptionellen Schub zu verleihen. Zu den privaten Eingaben hieß es, "sachlichen Wert" hätten von ihnen nur die wenigsten, "zur Aufstellung einer halbwegs brauchbaren Rechnungsgrundlage" sei es noch in keinem Falle gekommen 32 • Immerhin schälten sich in den Eingaben einige Grundfragen heraus, welche die allgemeine Diskussion bewegten und die es präliminar zu klären galt. Wie weit sollte der Radius der Versicherung gezogen werden? Einige Vorschläge hatten das Unternehmen auf engumgrenzte Gruppen der Arbeiterschaft mit hoher Betriebsund Branchenstabilität beschränken, andere ganz im Gegenteil auf jedwede gruppenbezogene Grenzziehung verzichten wollen. Daß nur der Versicherungszwang jene Dauerhaftigkeit der Kalkulationsgrundlagen sichern würde, auf die gerade bei den Alters- und Invaliditätskassen nicht verzichtet werden konnte, machte zunehmend die Mehrheitsauffassung der Zuschriften aus, und gleiches galt auch für die Ansicht, daß die Arbeitgeber einen Beitrag zu der Versicherung zu leisten hätten. In der Frage, ob die Witwen und Waisen in diese einzubeziehen seien, sprach sich ein Gutteil der Stellungnahmen dafür aus, nur bei Beteiligung der Hinterbliebenen sei eine sozial befriedende Wirkung zu erwarten. In vielem repräsentativ war der - auch gedruckt erschienene - Vorschlag des Königsberger Regierungsrats 30 So auch aus aktueller Sicht: Klaus von Beyme, Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, Opladen 1997, S. 155; anders hingegen auf der Basis einer empirischen Auswertung Axel Murswieck, Wissenschaftliche Beratung im Regierungsprozeß, in: ders. (Hrsg.), Regieren und Politikberatung, S. 103 -119, hier 111 f. und 114. 31 BArch R 1501 Nr. 100054-100059. 32 Denkschrift Julius Schulze, bett. Invaliden- und Altersversorgungskassen, Teil I, 20.6.1881, BArch R 1501 Nr. 100016, BI. 118-170.

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Kretschmann, der sich 1882 für eine obligatorische Altersversicherung stark machte. Bei paritätisch von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern zu entrichtenden Jahresbeiträgen in Höhe von nicht mehr als drei Mark sollte allen unselbständigen Arbeitern eine Einheitsrente in Aussicht gestellt werden, die dann etwa der Armenunterstützung entsprechen würde, wie sie zu dieser Zeit im Regierungsbezirk Königsberg üblich war: Das war nicht gerade viel, nämlich 108 Mark im Jahr, sollte immerhin aber bereits ab dem 56. Lebensjahr ausgezahlt werden 33 . Ähnliche Vorschläge gab es manche mehr34 . Im Hinblick auf die Finanzierungsverfahren zogen es die meisten Eingaben freilich vor, auf allzu eingehende Ausführungen zu verzichten. Für die konzeptionellen Auswahlentscheidungen im Reichsamt des Innern erlangte all dies kaum ein ersichtliches Gewicht. Auch eine zweite Denkschrift des dortigen Mitarbeiters Julius Schulze, die sich diesmal ausschließlich mit den einschlägigen Publikationen aus wissenschaftlicher Feder befassen sollte, kam zu dem Ergebnis, daß sich aus den vorliegenden Arbeiten - darunter diejenigen der Nationalökonomen Brentano, Wagner und Miaskowski - konzeptionell kaum Funken schlagen ließen35 • Kurzum, statt sich an die vorgelegten Vorschläge externer Ratgeber anzulehnen, verließen sich die federführenden Beamten, in ihrem Vertrauen auf die eigene Urteilskraft durch die vorangegangenen Erfahrungen bei der Gesetzesmodellierung gestärkt, auch bei der Abfassung der ersten Denkschriften zur Alters- und Invalidenversicherung 1883 und 1884 auf ihre eigenes konzeptionelles Know-how. Selbst wenn sie nach wissenschaftlichem Rat Ausschau hielten, erschien ihnen das, was sie im Schrifttum vorfanden, kaum hilfreich. Gerade für die Alters- und Invaliditätsversicherung galt, was Robert Bosse, Direktor der für die Gesetzesvorbereitung zuständigen Abteilung im Reichsamt des Innern, rückblickend für die Arbeiterversicherung im ganzen notieren sollte: "Ich studierte, soviel ich irgend vermochte, volkswirtschaftliche Werke, fand aber für unsere praktischen Aufgaben darin fast gar keine Ausbeute ... 36 33 Franz Kretschmann, Die Altersversorgung der Arbeiter in Deutschland, Leipzig 1882, BArch R 1501 Nr. 100055, BI. 27. 34 In enger Anlehnung an Kretschmann beispielsweise: v. Stemberg-Skirbs, Die Altersund Invaliden-Versicherung. Vorschläge zu ihrer Verwirklichung, Berlin 1884, ebenda, BI. 110, nun auch unter Einbezug von Invalidenrenten. 35 Denkschrift Julius Schulze, betr. Altersversicherung, Teil II, 13.9. 1881, BArch R 1501 Nr. 100016, BI. 171-212; Schulze selbst, "Hilfsarbeiter" im Reichsamt des Innem und Komprornißkandidat zwischen Christlich-Sozialen und Konservativen für die Reichstagswahl, hatte sich in den "Grenzboten" ein Jahr zuvor zur Frage der Altersversorgung geäußert und ein gesetzliches Recht der Gemeinden befürwortet, die Arbeiter einzelner Industriezweige qua Ortsstatut zum Eintritt in eine Altersversorgungskasse zu verpflichten; ders., Zur Frage der Altersversorgungskassen, in: Die Grenzboten 39 (1880), S. 112-118 und 154-161. 36 Robert Bosse, Zehn Jahre im Reichsamt des Innem 1881-1891, GStA Berlin HA I Rep. 92 NL Bosse, Nr. 16, BI. 2 f. Er habe, so Bosse, rlir die Arbeiterversicherung "damals in unserer Literatur kaum praktisch verwertbare Vorgänge und Vorschläge gefunden" und sich "oft genug in einem Zustand verzweifelnder Ratlosigkeit" befunden.

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ill. Von der Sammlung und Sichtung der eingabehalber aktenkundig gewordenen Ideenproduktion ist die aktive Beratung der politisch Verantwortlichen zu unterscheiden. Die Verwaltung sucht sich gezielt den Sachverstand zu Nutzen zu machen, den sie bei wissenschaftlichen oder sonstigen Fachautoritäten anzutreffen erhofft. Ein punktuell auch auf die anderen Zweige der Sozialversicherung erweiterter Blick läßt hier Wirkungschancen wie Einflußgrenzen schärfer noch sichtbar werden. Bismarck sah im Ratschlag amtsferner Autoritäten ein mitunter willkommenes Gegengewicht zur Präponderanz seiner Berliner Geheimräte. Zwar bemerkte er 1881 einschränkend, daß die Wissenschaft in den jetzt vordringlichen Fragen der Arbeiterversicherung "bisher nicht so tief eingedrungen" sei, "daß sie uns hinreichend Belehrung gäbe,,37 - dies mußte jedoch nicht unbedingt heißen, daß der Reichskanzler für einen solchen Ratschlag kein Organ besaß. Wenn überhaupt, war freilich der informelle Austausch seinem Politikstil weit eher angemessen als institutionalisierte Konsultationsformen. Kurz zuvor noch hatte er das Reichsamt des Innern wissen lassen, "daß es dem Reichskanzler wünschenswerth erscheine, zwei Autoritäten wie Schäffle und Wagner zu den Berathungen über die Altersversorgung zuzuziehen. ,,38 Schäffle diente dann nicht zuletzt als kurzfristiger Alliierter im Meinungskampf mit den internen Regierungsexperten, Adolph Wagner hingegen mehr als Sprachrohr im Hinblick auf die breite Öffentlichkeit. Unterschiedliche Rollenzuschreibungen dieser Art, hier allerdings eher dem Kontext der Unfallversicherung zuzuordnen 39 , verdeutlichen etwas von der Funktionsvielfalt wissenschaftlicher Beratung im politischen Prozeß. Mit Wagner verband Bismarck vornehmlich der Gedanke, die finanziellen Grundlagen der Alters- und Invalidenversicherung auf einem staatlichen Tabakmonopol zu errichten4o . Nach dem Scheitern jener Idee im Zuge der Reichstagswahlen von 1881 war der Stern des konservativen Staatssozialisten bald wieder am Sinken - auch wenn er dann Ende 1881 nochmals um ein Gutachten gebeten 37 Reichstagsrede, betr. die Errichtung eines deutschen Volkswirtschaftsraths, 1. 12. 1881, in: Heinrich von Poschinger (Hrsg.), Fürst Bismarck als Volkswirth, Bd. 11: Von der Übernahme des Handelsministeriums bis Ende 1884, Berlin 1890, S. 94ff., Zitat S. 95. 38 Rottenburg an ?, Varzin 24. 10. 1881, BArch R 1501 Nr. 100016, fo!. 19. 39 Im Zusammenhang mit der Unfallversicherung allerdings wäre dann insbesondere auf die Rolle des Generaldirektors des Bochumer Vereins, Louis Baare, hinzuweisen, vg!. Florian Tennstedt/Heidi Winter, "Der Staat hat wenig Liebe - activ wie passiv". Die Anfange des Sozial staats im Deutschen Reich von 1871, in: ZSR 39 (1993), S. 362-392, hier bes. 374ff. 40 Schreiben Herbert von Bismarck an Prof. Dr. Wagner (Auszug), in: Poschinger, Fürst Bismarck als Volkswirth, Bd. H, S. 78 f.; Auszug aus der Wahlkampfrede von Prof. Wagner in Elberfeld, Aug. 1881, in: ebenda, S. 79f.; vg!. auch Adolph Wagner an Hermann Wagner, 6.11. 1881, in: Adolph Wagner. Briefe - Dokumente - Augenzeugenberichte 1851-1917. Ausgewählt und herausgegeben von Heinrich Rubner, Berlin 1978, S. 203 f.

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wurde41 • Insbesondere aber Albert Schäffle, ehemals Professor der Staatswissenschaften in Tübingen, kurzzeitig österreichischer Handelsminister und nunmehr Privatgelehrter in Stuttgart, vermochte 1881/82 für einen Moment in die Rolle des sozialpolitischen Ratgebers Bismarcks zu schlüpfen - eine Rolle, die ihm zwar schmeichelte, jedoch auch in diesem Fall nur von kurzer Dauer war42 • Der bayerische Gesandte in Berlin urteilte nicht zu Unrecht: "Wie die meisten seiner Kollegen soll es nicht der Reichtum an Gedanken und Vorschlägen sein, an dem es dem ehemaligen österreichischen Minister gebricht, wohl aber soll manchmal ihm das Unterscheidungsvermögen zwischen dem, was durchführbar und was undurchführbar ist, mangeln. ,,43 Im Grunde benannte er damit, über den konkreten Fall hinaus, ein allgemeines Spannungsverhältnis in der Beziehung von Wissenschaft und Politik. Seitdem Schäffle sich 1870 in seiner Abhandlung "Kapitalismus und Sozialismus" mehr im Vorbeigehen, immerhin aber deutlich vor dem Rest seiner nationalökonomischen Kollegen für eine obligatorische Arbeiterversicherung auf genossenschaftlicher Basis ausgesprochen hatte44 , war diese Idee in seinen Publikationen regelmäßig wiedergekehrt und zunehmend auch verfeinert worden45 . Bismarck wurden Schäffles Überlegungen wohl erstmals 1881 bekannt, als ihm der Nationalökonom eine Artikelfolge zur Versicherungsfrage zusandte, die er für die Augsburger "Allgemeine Zeitung" verfaßt hatte. Schäffle machte dort geltend, daß zur Finanzierung der körperschaftlichen Zwangsversicherung, wie sie in der Unfallversicherungs-Frage nunmehr ins Auge gefaßt wurde, ein Umlageverfahren vollauf genügen würde. Die staatlich verbürgte Kontinuität der Einrichtung und die gesicherte Aufeinanderfolge der einzahlenden Generationen sorge für die nötige finanzielle Deckung - zwischen freiwillig-privater und obligatorisch-staatlicher Versicherung bestünde in diesem Punkt ein fundamentaler Unterschied. Mit Nachdruck hatte Schäffle sodann einer körperschaftlichen Organisation der Invaliden41 Vgl. Wagner, Briefe, S. 425 f.; Gutachten Professor Dr. Adolph Wagner, 29. 12. 1881, Dok. Nr. 30, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, H. Abt., 2. Bd., 1. Teil: Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, bearb. von Florian TennstedtlHeidi Winter, Stuttgart u. a. 1995, S. 116-118. 42 Vgl. Albert Eberhard Friedrich Schäffle, Aus meinem Leben, Berlin 1905, S. 151 ff. und 174 ff.; Florian Tennstedt/Heidi Winter, ,,Jeder Tag hat seine eigenen Sorgen, und es ist nicht weise, die Sorgen der Zukunft freiwillig auf die Gegenwart zu übernehmen." (Bismarck), in: ZSR 41 (1995), S. 671-706, hier 674 und 678 f. 43 Bericht des bayerischen Gesandten in Berlin, Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering, an den bayer. Staatsminister des kgl. Hauses und Außenminister Freiherr von Crailsheim, 15. 1. 1882, Dok. Nr. 38, in: Quellensammlung, 11. Abt., 2. Bd., 1. Teil, S. 152-155, hier 153. 44 Albert Eberh. Friedr. Schäff1e, Kapitalismus und Socialismus mit besonderer Rücksicht auf Geschäfts- und Vermögensformen. Vorträge zur Versöhnung der Gegensätze von Lohnarbeit und Kapital, Tübingen 1870, S. 702. 45 Vgl. insbes. ders., Die Grundsätze der Steuerpolitik und die schwebenden Finanzfragen Deutschlands und Oesterreichs, Tübingen 1880, S. 624ff.

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versicherung nach Berufsarten und Produktionsgruppen das Wort geredet - dies allein schon deshalb, um die Gefahr eines bürokratischen "Staatsversicherungsmolochs" gebannt zu sehen. Schließlich hatte er sich - darin nun allerdings von Bismarcks Vorstellungen deutlich abweichend - gegen einen Staatszuschuß ausgesprochen, denn das "allgemeine Staatspensionistenthum ergäbe", wie er vorherzusehen wage, "ein allgemeines Faulenzer-, vielleicht Schnapsbrüderthum der Greise, wie es schädlicher für die Nation und den Fortschritt nicht gedacht werden kann.,,46 Nach der Lektüre von Schäffles Ausführungen lud ihn der Reichskanzler, um Sukkurs gegen die ihm mitunter zu eigensinnigen Geheimräte im Reichsamt des Innern bemüht, zu einem mündlichen Austausch ein (bei Aussicht auf später engere geschäftliche Zusammenarbeit) - was nicht zuletzt dadurch begünstigt worden war, daß Schäffle es vorzog, in der Frage des Staatszuschusses keine dogmatische Position einzunehmen. Die Einschaltung externen Sachverstandes diente dem Reichskanzler also auch zu dem Zweck, sich die Options-Spielräume gegenüber den eigenen Verwaltungsexperten (hier vor allem Theodor Lohmann) zu erweitern. Insbesondere die Bismarck überaus sympathische Idee der korporativen Zwangsgenossenschaften, von "Schäffle dem Fürsten in den Kopf gesetzt,,47, wie Lohmann meinte, erwies sich neben dem Vorschlag einer Umlagenfinanzierung als jene konzeptionelle GelenksteIle, an der Bismarcks und Schäffles Gedankengänge ineinandergriffen. Das braucht hier im einzelnen nicht weiter vertieft zu werden48 . Schäffles Eifer im Hervorbringen immer neuer Pläne und Ideen erlahmte auch dann keineswegs, als sich ihm das Ohr des Reichskanzlers schon bald wieder verschlossen hatte. So bewegte den Privatgelehrten, um hierfür nur ein Beispiel zu geben, Mitte der achtziger Jahre das Problem des moral hazard (wenn man die Sache auf einen modemen Begriff bringen will), und damit ein Dauerbrenner der Sozialversicherungsdebatte49 . Um der Gefahr des Versicherungsmißbrauchs zu begegnen, wollte Schäffle nunmehr die Versicherungsleistungen mit einem beweglichen Element kombinieren, das sich aus der individuellen Ökonomie der Leistungsbeanspruchung ableiten würde. Das ganze nannte er "Vereinigter Versicherungs- und Spardienst bei Zwangshülfs46 Die körperschaftliche Gestaltung der zwangsweisen Arbeiterversicherung, in: Augsburger Allgemeine Zeitung 7./8.10.1881, BArch R 1501 Nr. 100016, BI. 220-225. 47 Lohmann an E. Wyneken, 4. 12. 1881, Dok. Nr. 26, in: Quellensarnrnlung, II. Abt., 2. Bd., I. Teil, S. 92 f. 48 Vgl. aus der älteren Literatur: Hans Rothfels, Tbeodor Lohmann und die Kampfjahre der staatlichen Sozialpolitik (1871- 1905), Berlin 1927, S. 56 ff.; Otto Quandt, Die Anfange der Bismarckschen Sozialgesetzgebung und die Haltung der Parteien, Berlin 1938, S. 87 ff. Schäffle unterbreitete 1882 sein Gesamtkonzept der Zwangsversicherung auch einer weiteren Öffentlichkeit, vgl. Albert E. Fr. Schäffle, Korporativer Hilfskassenzwang, Tübingen 1882. 49 Fritz Kalle beispielsweise hatte 1874 auf das Mißbrauchsproblem damit antworten wollen, daß in das neuzuschaffende Recht der Alters- und Invalidenkassen die Arbeitshauseinweisung, bislang die ultima ratio straf- und arrnenrechtlicher Fehlverhaltenssanktion, eingebaut werden sollte; vgl. Kalle, Invaliden- und Alterskassen, in: Verhandlungen der zweiten Generalversammlung, S. 75.

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kassen,,5o. Neben den Versicherungsansprüchen sollte für jedes Kassenmitglied ein aus Beitragselementen genährtes (Zwangs-)Sparguthaben bestehen, von dem bei überdurchschnittlicher Inanspruchnahme der Kasse ein gewisser Teil abgezogen, bei unterdurchschnittlicher hingegen gutgeschrieben würde. Der Anreiz, die Kasse auszunutzen, würde damit durch ein materielles Eigeninteresse untergraben werden. Ein solches Verfahren, so Schäffles Erwartung, könne nicht nur im Falle der Krankenkasse, sondern auch der Alters- und Invaliditätsversicherung von großem Nutzen sein. Hier wäre dann die möglichst späte und - was die Invalidität betraf unterdurchschnittliche Inanspruchnahme zu prämieren, im umgekehrten Falle aber durch Abzüge vom Sparguthaben zu sanktionieren gewesen. Der Stimulus, frühzeitig aus der Arbeit auszuscheiden, sollte tunlichst umgekehrt, eine moralisch bedenkliche Wirkungsmöglichkeit der Versicherung in eine moralisch förderungswürdige gewendet werden 5l . Schäffle begleitete den Weg der Versicherungsgesetzgebung als publizistischer Kommentator unermüdlich weiter fort. Er tat dies mit einer Konstanz und konzeptionellen Originalität, die seine Stimme aus dem Chor der zeitgenössischen Experten deutlich herausragen ließ. Sein konkreter Einfluß auf die Sozialgesetzgebung sollte jedoch nicht überschätzt werden, die maßgeblichen Beamten im Reichsamt des Innern jedenfalls sahen in ihm vornehmlich einen Störfaktor52 . Im Zuge der Fortschreibung seiner versicherungspolitischen Überlegungen mündete Schäffle in Bahnen, die sich von denjenigen der Gesetzesvorbereiter zeitweilig deutlich abgabelten. Es wird hierauf noch zurückzukommen sein. Außer Wagner und Schäffle sind, was das Schmieden der Grundkonzeptionen betrifft, kaum nennenswerte Fälle direkter Einwirkung externer Sachverständiger auf die Vorbereitung der Sozialversicherungsgesetze auszumachen. Unter den Statistik-Experten, denen als Verwalter und Aufbereiter grundlegender Basisinformationen eine konzeptionell zwar eher bescheidene, für das rechnerische Ausloten von Handlungsmöglichkeiten und -schranken (Risikostrukturen, Kalkulation von Kosten und Beitragslasten etc.) indes nicht unwichtige Rolle zufiel, trat im Zuge der Vorbereitung zum Unfallversicherungsgesetz besonders der Versicherungsmathematiker Karl Heym in Erscheinung53 . Während der Vorarbeiten zur Alters50 Albert E.Fr. Schäffle, Vereinigter Versicherungs- und Spardienst bei Zwangshülfskassen, Tübingen 1884. 51 In abgewandelter Form und veränderter Terminologie taucht der Gedanke auch 1889/ 90 wieder auf, vgl. Schäffle, Alters- und Invalidenversicherung, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Hrsg. von J. Conrad/L. Elster/W. Lexis/Edg. Loening. I. Bd, Jena 1890 (1. Aufl.), S. 204- 238, hier S. 233 f. 52 Lohmann an Ernst Wyneken, 1. 2. 1882, Dok. 40, in: Quellensammlung, 11. Abt., 2. Bd., 1. Teil, S. 158 ff.; für SchäffIes Einfluß auf die österreichische Sozialversicherungsgesetzgebung vgl. Herbert Hofmeister, Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Österreich, Berlin 1981, S. 482 ff. 53 Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, S. 116 f.; Otto Pflanze, Bismarck and the Development of Germany. Vol. III: The Period of Fortification, 1880 - 1898, Princeton 1990, S. 154; Schreiben von Prof. Dr. Karl Heym an den Unterstaatssekretär im preußischen Han-

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und Invalidenversicherung wurde dann allerdings versucht, geeignete Experten (anfänglich etwa Rechnungsrat Behrn aus dem preußischen Handelsministerium) direkt in das Reichsamt des Innern zu holen 54 . In der hier beschriebenen Phase der Gesetzesvorbereitung trat schließlich für einen Moment noch Emil Witte in Bismarcks Gesichtskreis. Nach einem Gedankenaustausch in Varzin 1884, der durch Bismarcks Lektüre einer wirtschafts- und sozialpolitischen Schrift des Mathematikprofessors an der Fürstenschule in Pleß angestoßen worden war, versuchte der Reichskanzler, Witte ganz für die Vorbereitung der Alters- und Invalidenversicherung zu gewinnen55 . Witte legte mehrere Denkschriften vor; nach Berlin, wohin ihn Bismarck gerne haben wollte, zog es den Gelehrten nicht56 . Bemerkenswert an Wittes in der Folge dann weitgehend wirkungslos gebliebenen Überlegungen war am ehesten wohl der Umstand, daß er stärker noch als andere Vordenker der Rentenversicherung dieselbe "derartig eingerichtet" sehen wollte, "daß sie eine Erziehungsanstalt für das Volk wird. Dieses Ziel" - die Sozialversicherung als moralische Anstalt - "ist in meinen Augen sogar wichtiger als die Linderung der materiellen Not." Neben den Kassenbeiträgen als zwangserzieherischer Fonn des Sparens - und damit der Vorsorge - dachte Witte deshalb auch an eine obligatorische Verheiratungsabgabe. Vor Eintritt in die Ehe zu entrichten, würde die Abgabe nicht nur den in seinen Augen verantwortungslosen Verehelichungssitten entgegentreten, sondern auch das individuelle Versichedeisministerium Dr. Rudolf Jacobi mit Gutachten, Dok. 167, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, I. Abt., 2. Bd.: Von der Haftpflichtgesetzgebung zur Ersten Unfallversicherungsvorlage, bearb. von Florian Tennstedt 1Heidi Winter, Stuttgart u. a. 1993, S. 41Off. 54 Für die der zeitgenössischen Literatur entnommenen Zahlenreihen (Invaliditäts- und Sterbetafeln, Alter und Zahl der zu versichernden Personen), wie sie für die Berechnung der Versicherungslasten als Kalkulationsgrundlagen benötigt wurden und also eine Angewiesenheit der Gesetzesvorbereiter auf die Vorarbeiten der wissenschaftlichen Statistik signalisierten, vgl. Denkschrift über die Höhe der finanziellen Belastung, welche durch den Gesetzentwurf, betreffend die Alters- und Invalidenversicherung, voraussichtlich hervorgerufen werden wird, Steno Berichte Reichstag VII. LP, IV. Session 1888/89, Erster Anlagenband, Berlin 1889, S. 102-124. 55 Rottenburg an Herbert von Bismarck, 4. 4. 1884, BArch Koblenz NL Otto von Bismarck F 99; vgl. auch als Schilderung aus Wittes Feder: Emil Witte, Unser Invalidenversicherungsgesetz. Ein Beitrag zur Geschichte seiner Entstehung, seine Fehler und der Weg zu seiner Verbesserung, Berlin 1906, S. 5 ff. (I. Teil: Beim Fürsten Bismarck); darauf fußend: Heinrich von Poschinger, Bismarck und die Altersversicherung, in: ders., Stunden bei Bismarck, Wien 1910, S. 75 ff.; in der genannten Schrift Wittes war allerdings gerade zur Arbeiterversicherung nichts konzeptionell Nennenswertes enthalten; vgl. Emil Witte, Die soziale Krankheit und ihre naturgemäße Behandlung durch wirtschaftliche Maßregeln, Leipzig 1883, dort v.a. S. 167 f. 56 Witte an Bismarck, 14.5. 1884, BArch R 43 Nr. 565, BI. 53-54; E. Witte, Wesentliche Bestimmungen über die Alters- und Invaliden-Versorgung, BArch R 150 I Nr. 100096, BI. 43-48; ders., Motive zur Alters- und Invalidenversorgung, ebenda, BI. 48-72; ders., Abänderungen zu den wichtigsten Bestimmungen der Alters- und Invalidenversorgung, ebenda, BI. 76f., ders., Begründung, ebenda, BI. 78-81.

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rungskapital des Versicherten mehren. Der Gedanke war keine ganz singuläre Schrulle. Ähnliches hatte schon Schäffle vorgetragen 57 . Mitte der achtziger Jahre wollte der Breslauer Professor für Staatswissenschaften Karl Umpfenbach das Problem der Altersversorgung gar dadurch lösen, daß jedes heiratswillige Paar gesetzlich verpflichtet werden sollte, vor der Verehelichung eine bestimmte Summe in eine staatliche Alterskasse einzuzahlen. Mit dem so angesammelten Kapital würden Jahrzehnte später, reichlich verzinst, die Alterspensionen der jeweils nachfolgenden Generation finanziert werden können 58 - gleichsam ein umgekehrter Generationenvertrag: Die Eltern stehen für das erwerbsunfähige Alter ihrer Kinder ein59 • Gesellschaftspolitik nicht durch die kühle Arithmetik von Beitrag und Leistung, sondern durch die zwangspädagogische Beeinflussung des Verhaltens der Individuen - das jedenfalls war ein Grundanliegen, wie es in der Frage der Altersversicherung bei durchaus vielen Diskutanten zu Buche schlug.

IV. Wir sind damit bei jenen Fonnen expertenbeeinflußter Meinungsbildung angelangt, die als Stellvertreter- oder Platzhalterfunktion in der Phase vorlegislativer Profilierung verstanden werden können. Statt um internen Ratschlag geht es hier gleichsam um die Beratung der Öffentlichkeit. Zwischen der ersten Ankündigung in der kaiserlichen Botschaft von 1881 und der Veröffentlichung der Grundzüge zum Alters- und Invalidengesetz 1887 lag mehr als ein halbes Jahrzehnt, in dem im Reichsamt des Innern zwar an den Konzepten gefeilt wurde, davon aber noch nichts nach außen drang. Solange die Intentionen der Reichsleitung noch im Dunkeln lagen, wirkten die von sachverständiger Seite unterbreiteten Diskussionsbeiträge als konzeptionelle Platzhalter: Mit ihnen und gegen sie ließen sich Positionen beziehen und im Für und Wider Argumente schmieden6o . Ein solches Abstecken des Diskussionsfeldes trug bei zur Vorklärung des politischen Raums. Die Übergänge von der Phase des agenda-setting waren fließend, Zielbestimmung und Instrumentenwahl kaum sauber zu trennen. Die Diskussionsprozesse, die dabei in Schäffle, Kapitalismus und Socialismus, S. 689 ff. Karl Umpfenbach, Die Altersversorgung und der Staatssozialismus, Stuttgart 1883. Auch bei sofortiger Etablierung allerdings wäre die Einrichtung aus eigener Kapitalbildung erst im Jahr 1950 selbständig lebenstüchtig gewesen, derweilen und übergangsweise hätte sie, wie Umpfenbach forderte, eben vom Staat alimentiert werden müssen. 59 Der Vorschlag wurde in der allgemeinen Publizistik durchaus diskutiert; vgl. Joseph Schlossmeister, Ein neues Altersversorgungs-Projekt, in: Die Gegenwart, 17. 11. 1883, S. 306 f. (zustimmend); Eine neue Blüthe des Staatssozialismus, in: Vossische Zeitung, 6. 3. 1886 (ablehnend); Zur Altersversicherung der Arbeiter, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 25.8.1887. 60 Als frühe Sammelbesprechungen: Schmoller, Aeltere und neuere Literatur; A. v. Miaskowski, Zur Geschichte und Literatur des Arbeiterversicherungswesens in Deutschland, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 38 (1882), S. 474-496. 57 58

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Gang gesetzt wurden, waren allerdings nicht annähernd von vergleichbar intensiven Mühen gouvernementaler Lenkung begleitet61 , wie dies später insbesondere bei der Flotten- und streckenweise auch der Finanzpolitik der Fall sein sollte, als zahlreiche namhafte Gelehrte vor den Karren des Regierungsapparates gespannt wurden, um dessen Vorhaben die Weihen wissenschaftlicher, und das sollte heißen: einer gegenüber den Niederungen des politischen Alltagskampfes höherwertigen Beglaubigung zu verleihen62 . Wohl die meiste Beachtung fand zunächst - in Zustimmung und Widerspruch der sozialliberale Kathedersozialist Lujo Brentan063 . Brentanos Schriften gehörten zu den bedeutsamsten Ausläufern des Konzepts der Freiwilligkeit in der Arbeiterversicherung. Sein etwas mechanischer Grundgedanke ging dahin, daß zwischen Erwerbsordnung und Versicherungsordnung ein notwendiger und unauflöslicher Zusammenhang bestehe. Nachdem aber als Grundpfeiler der geltenden Erwerbsordnung - so Brentano - nun einmal die Prinzipien der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit angesehen werden mußten, könne, so die Quintessenz seiner Überlegungen, ein gesetzlich stipulierter Versicherungszwang nicht anders als unwirksam bleiben. Die Zwangsversicherung setze eine Einkommensgarantie voraus, 61 Was nicht heißt, daß sich das Reichsamt des Innern aller Versuche enthielt, auf die Debatten der Vorbereitungsphase Einfluß zu nehmen. Dies konnte etwa dadurch geschehen, daß man durch gezieIte Hinweise in der regierungsnahen Presse die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit auf einen bestimmten Diskussionsbeitrag zu lenken bemüht war - ein Verfahren, dessen sich das Reichsamt des Innern beispielsweise Anfang 1887 bediente, um die Aufmerksamkeit auf einen pseudonymen Artikel in den Preußischen Jahrbüchern (w. Winnich, Die Altersversicherung, in: Preußische Jahrbücher 58 (1886), S. 525-537) zu lenken; vgI. Politischer Tagesbericht, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 86, 21. 2. 1887. Der Artikel in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung stammte aus dem Reichsamt des Innern, vgI. den Entwurf BArch R 1501 Nr. 100017, BI. 111-116. Die Ausführungen jenes Beitrags kamen dem gleichzeitig im Reichsamt des Innern ausgebrüteten Konzept immerhin so nahe, daß gar vermutet werden könnte (und bereits zeitgenössisch vermutet wurde, vgI. Alterversicherung, in: Zeitschrift für Versicherungswesen 11 [1887], S. 141), der Beitrag selbst sei aus dem Reichsamt souffliert worden. 62 Vom Bruch, Wissenschaft, S. 66f.; Wilhelm Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda. Das Nachrichtenbüro des Reichsmarineamtes 1897 -1914, Stuttgart 1976, bes. S. lOOff.; Peter-Christian Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913. Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland, Lübeck/Hamburg 1970, S. 217 ff., bes.223. 63 Lujo Brentano, Die Arbeiterversicherung gemäß der heutigen Wirtschaftsordnung, Leipzig 1879; ders., Der Arbeiter-Versicherungszwang, seine Voraussetzungen und seine Folgen, Berlin 1881; ferner: James J. Sheehan, The Career of Lujo Brentano. A Study of Liberalism and Social Reform in Imperial Germany, Chicago/London 1966, S. 75ff.; Werner Barich, Lujo Brentano als Sozialpolitiker, Berlin 1936, bes. S. 54ff.; Georg Römer, Lujo Brentano in den geistigen Strömungen seiner Zeit, Diss. (MS) München 1954, S. 134ff. Für die bereits genannte Tagung des Vereins für Socialpolitik 1882 hatte Prof. Nasse als dessen Vorsitzender Schäffle und Brentano, wiewohl vergeblich, als Referenten zu gewinnen versucht - deren jeweilige Positionen steckten in der Tat in mancher Hinsicht antipodisch das Diskussionsfeld ab, Nasse an Schmoller, 7. 5. 1882, GStA Berlin HA I Rep. 92 NL Schmoller 136, BI. 43-45.

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ohne die die notwendige Gewähr für die dauerhafte Fähigkeit der Versicherten, die erforderlichen Beiträge entrichten zu können, entfallen müsse. Ein Recht auf Arbeit, wie es die daraus logisch folgende Konsequenz sein müßte, sei aber mit der bestehenden Erwerbsordnung nicht zu vereinbaren. Brentano mußte mithin als den eigentlichen Kern der - freiwilligen - Arbeiterversicherung die Sicherung gegen Arbeitslosigkeit ansehen, ein Unternehmen, das wenn überhaupt, dann - nach dem englischen Modell - nur den Gewerkvereinen anvertraut werden könne (die dafür freilich gründlich reformiert und ausgebaut werden müßten). Die Altersversicherung der Arbeiter hingegen wollte Brentano ganz den Privatassekuranzen, wie sie für die wohlhabenderen Klassen bereits bestanden, überlassen sehen. Wer aber Abhilfe vom staatlichen Versicherungszwang erwarte, begebe sich, so Brentanos unheilkündender Mahnruf, auf die schiefe Bahn der Abtötung eines jeden kulturverbürgenden Individualismus64 . Die Reaktion auf Brentanos Schriften war denkbar kontrovers. Im Briefwechsel mit Schmoller mußte er sich gegen dessen Vorwurf zur Wehr setzen, seine Position sei doktrinär, dogmatisch und abstrakt, ja ein Rückfall in die Vorstellungen des Manchestertums65 • Theodor Lohmann fand sich, wie er 1882 in einem Brief an Lorenz von Stein bemerkte, durch Brentano, was jedenfalls die Krankenversicherung betraf, gerade zu jenem Versicherungszwang bekehrt, den dieser eigentlich in Frage gestellt sehen wollte. Andere Autoren folgten, was das Gebot der Freiwilligkeit betraf, zwar Brentanos Spuren, etwa weil die Zwangskasse anstatt der Armenpflege nur "ein Übel an die Stelle eines anderen" treten lassen würde, wollten dann aber - so Sartorius von Waltershausen, Privatdozent der Staatswissenschaften in Göttingen - eine von Staats wegen organisierte allgemeine Alters- und Invalidenkasse geschaffen sehen, die den Einlegern die Wahl zwischen Renten- und Kapitalbezug überlassen und ihnen bei Rücktritt ihre Einlagen wieder auszahlen sollte66 . Den Privatversicherungen war Brentanos Argumentation, was nun allerdings kaum überraschen konnte, sehr willkommen. Im "Assecuranz-Jahrbuch" schloß sich 1882 der Herausgeber, Adolf Ehrenzweig, der Brentanoschen Auffassung an, daß die Aufgabe der Altersversicherung den privaten Trägem überlassen bleiben müsse; eine zwangsweise Verteilung der Prämienlast auf Kapital und Arbeit sei im Rechtsstaat schier "undenkbar". Ehrenzweig beteuerte zugleich einmal mehr, "dass die Versicherungs-Technik nur die Alters-Invalidität beherrschen kann, während sie keinen Sicherheits-Apparat gegen die vorzeitige Erwerbsunfähigkeit zu bieten Brentano, Der Arbeiterversicherungs-Zwang, S. 102 ff. Brentano an Schmoller, 31. 12. 1878, BArch Koblenz N 1001 Nr. 59; vgl. auch Brentano an Schmoller, 27. 10. 1878, ebenda, und Brentano an Schmoller, 4. 11. 1878, ebenda; vgl. dazu auch Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931, S. 109f. Die schärfste Kritik floß allerdings aus der Feder des damaligen Altonaer Bürgermeisters Adickes, vgl. ders., Zur Frage der Arbeiterversicherung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 35 (1879), S. 599 - 640, sowie dessen Besprechung des Werkes von 1881 ebenda 37 (1881), S. 606-619. 66 A. Sartorius von Waltershausen, Die Stellung des Staates zu der Alters- und Invalidenversicherung für Lohnarbeiter, Berlin 1880, Zitat S. 10. 64

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vennag.,,67 Jenseits der Fachöffentlichkeit zog die zentrumsnahe Tageszeitung "Gennania", ähnlich wie das ihr ansonsten kaum nahestehende liberale "Berliner Tageblatt", mit Brentanoschen Argumenten gegen Bismarcks Plan einer staatsfinanzierten Alters- und Invalidenkasse zu Felde, also dagegen, daß der Staat die Sache selbst,jedenfalls mehr als rahmensetzend, in die Hand nehmen sollte68 . Mit Brentanos Schriften setzte im übrigen ein auf Ernst Engel, den 1882 im Konflikt mit Bismarck um die Unfallstatistik und -versicherung aus dem Amt geschiedenen Direktor des preußischen statistischen Büros, zurückgehendes Argument seinen Siegeszug fort, das man im Streit um die Arbeiterversicherung nun in den verschiedensten Begründungszusammenhängen wieder auftauchen sah. Engel hatte in den sechziger Jahren gefordert, der Preis der Arbeit, also der Arbeitslohn, habe die Selbstkosten der Arbeit abzudecken. Zu diesen sei jedoch nicht nur der Unterhalt während der Periode der Erwerbstätigkeit zu rechnen, sondern auch die Amortisation der Erziehungskosten und die Vorsorge für das Alter69 . Von solcher Prämisse ausgehend, konnte man nun beispielsweise die Höhe des individuellen Prämienaufkommens berechnen, das für die von Engel als notwendig in Anschlag gebrachten Versicherungen benötigt wurde, um dann feststellen zu müssen, daß hierfür die Löhne schlechterdings nicht reichten, oder man konnte für den Arbeitgeberbeitrag streiten, da doch gerade die Unternehmer als Nutznießer der Arbeitskraft für die Selbstkosten der Arbeiter aufzukommen hatten, oder es ließ sich ganz einfach dagegen angehen, daß die Kostenanteile der Arbeit, die für den Unterhalt bei Alter und Invalidität benötigt wurden, nicht wie bisher auf die Annenpflege abgewälzt und damit die Steuerzahler zu einem Zuschuß für die Produktionskosten angehalten würden. Neben den unbeirrt auf freiwillige Selbsthilfe setzenden Konzepten - Engel legte den Unternehmern noch 1886 am Beispiel des Berliner Metallindustriellen Borchert nahe, ihren Arbeitern bei geeigneten Privatversicherungen eine Altersrente zu verschaffen (ein Beitrag, der in der Presse einige Beachtung fand)7o - wurden dem interessierten Publikum eine Reihe diametral entgegengesetzter Vorschläge unter67 A. Ehrenzweig, Die "sociale Frage" vom Standpunkte der Privatversicherung, in: Assecuranz-Jahrbuch III (1882), S. 68- 107, Zitate S. 74 und 86; zu Ehrenzweig: Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft, S. 119 f. 68 Berliner Tageblatt Nr. 391, 23. 8. 1881, Dok. Nr. 194, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, I. Abt., 1. Bd: Grundfragen staatlicher Sozialpolitik, bearb. von Florian Tennstedt/Heidi Winter, Stuttgart u. a. 1994, S. 636-638. 69 Ernst Engel, Der Preis der Arbeit. Zwei Vorlesungen, Berlin 1866, dort bes. die zweite Vorlesung zu den Selbstkosten der Arbeit. 70 Ders., Ein praktisches Beispiel der Altersfürsorge, in: Assecuranz-Jahrbuch V (1884), S. 261-288; ders., Nachtrag zu dem praktischen Beispiel der Altersfürsorge, in: ebenda VIII (1887), S. 141-155 (allerdings mit dem Eingeständnis, daß ein allgemeiner Versicherungszwang der Einrichtung einen festeren Boden verschaffen würde); zur Rezeption in der Presse vgl. z. B.: Geh.Rat Engel über die Altersfürsorge, in: Berliner Zeitung, 28. 12. 1886 (zustimmend), sowie die Notiz in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, 31. 12. 1986 (ablehnend), BArch R 1501 Nr. 100084, BI. 123 f., dort auch weitere Presseartikel zu Engel.

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breitet. Für einen Moment enstand das Bild einer zunehmenden Aufgabelung der alternativen Wege zur Invaliditäts- und Altersversorgung. So veröffentlichte 1881 der reformkonservative Reichstagsabgeordnete Otto Arendt eine Schrift, in der er einer steuerfinanzierten "Allgemeinen Staatsversicherung" das Wort redete 71. Als an minimalen Bedürfnissen orientierte Grundsicherung konzipiert und Krankheit, unfreiwillige Arbeitslosigkeit wie auch Arbeitsunfähigkeit umfassend, sollte die Staatsversicherung nur demjenigen Ansprüche auf ihre nicht-äquivalenten Leistungen gewähren, der auch regelmäßig seine als Einkommensteuer gedachte Versicherungstaxe entrichtet hatte. Dieses Konzept besetzte im Spektrum zeitgenössischer Ordnungsideen den Pol des "Staatssozialismus" und damit eine Position, wie sie insbesondere auch von Adolph Wagner eingenommen wurden.

v. Gegen Mitte der achtziger Jahre allerdings flaute die Diskussion dann deutlich ab und lebte erst wieder auf, als sich die Experten einen Schritt im Gesetzgebungsprozeß weiter aufgefordert sehen durften, die vom Reichsamt des Innern der Öffentlichkeit unterbreiteten Gesetzesmaterialien auf den Prüfstand einer eingehenden wissenschaftlichen Kritik zu legen. Gefragt war nun nicht mehr die Ideengeber-, sondern die Gutachterfunktion der Sachverständigen, das kritische Korrektiv. In der Tat: Die 1887 vom Reichsamt des Innern veröffentlichten "Grundzüge" einer Alters- und Invalidenversicherung - wie auch der im darauffolgenden Jahr vorgelegte Gesetzesentwurf - wurden in Fachöffentlichkeit und Presse mit einer solchen Gründlichkeit durchleuchtet, daß Staatssekretär von Boetticher sich berechtigt glaubte, im Reichstag festzustellen, kaum jemals habe ein anderer Gesetzesentwurf eine vergleichbar intensive Erörterung in Wissenschaft und Publizistik gefunden 73 • Wiewohl sich die Diskussion bald wieder vom Votum der staatswissenschaftlichen Experten emanzipierte und die Vertreter der politischen Parteien die Meinungsführerschaft übernahmen, stellte, wie aus dem Echo der Tagespresse zu ersehen ist, die Besprechung der Gesetzesmaterialien durch die wissen71 Otto Arendt, Allgemeine Staatsversicherung und Versicherungssteuer. Ein Beitrag zur Frage der Arbeiterversicherung, Leipzig 188l. 72 Zu den späteren Befürwortem einer Weiterentwicklung der Sozialversicherung in Richtung allgemeiner Staatsbürgerversicherung zählte dann etwa: W. Kulemann, Die Reform unserer Sozialversicherung, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 18 (1894), S. 853-919 und 1117-1179. 73 Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 1,9. Sitzung, 6.12.1888, S. 139; ebenso: Die Agitation gegen die AIters- und Invaliditätsversicherung, in: Allgemeine Zeitung Nr. 119,30. 4. 1889, BArch R 0901 Nr. 3481/3; einen breiten und detaillierten Überblick über die Gesetzesmusterung gewährt R. van der Borght, Ueber den Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 52 (1889), S. 1-88.

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schaftliche Fachwelt doch einen beachtlichen Faktor der allgemeinen Urteilsbildung dar. Die aufmerksame Frankfurter Zeitung bemerkte 1888 allerdings verwundert die Zurückhaltung mancher Zelebritäten des nationalökonomischen Fachs. Schmoller etwa und auch Adolph Wagner, "auf deren Urtheil man", wie die Zeitung schrieb, "wohl gespannt gewesen wäre", schwiegen 74. Zudem sahen die Vertreter der privaten Versicherungswirtschaft dem neuen Vorhaben nun doch etwas gelassener entgegen, gelassener jedenfalls als im Falle des mit schneidender Kritik überzogenen Unfallversicherungsgesetzes. Die Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiter rührte kaum an ihren wirtschaftlichen Interessen, ja schien, indem sie für den Gedanken der Alterssicherung Werbung machte, auch für die privaten Lebensversicherungen noch ein Gutes zu haben75 . Dafür begegnete man einigen alten Weggenossen. Lujo Brentano zum Beispiel, der sich 1888 ausführlich in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik äußerte, und - zunächst überraschend, bei genauerem Hinsehen aber hintersinnig - konzedierte, das Projekt löse die ihm gestellte Aufgabe auf ganz vorzügliche Weise. Nicht darum nämlich gehe es, den Arbeitern eine menschenwürdige Existenz zu sichern - dafür seien Beiträge und Leistungen viel zu gering. Nein, es handele sich um nichts anderes als lediglich eine sinnvoll gestaltete Armensteuerreform. Denn indem alle Versicherten eine gleich bemessene Rente auf solch kargem Niveau erhielten, daß sie kaum die Armenunterstützung übersteige, dafür nun aber die Kosten nicht mehr die Armensteuerpflichtigen tragen müßten, sondern wenigstens zu zwei Dritteln Arbeitnehmer und -geber selbst, bleibe nur der Reichszuschuß als "ein Rest der früheren kommunistischen Deckungsweise,,76. Frankfurt, 17. Mai, in: Frankfurter Zeitung, 18.5.1888. Assecuranz-Jahrbuch XI (1890), S. 156 ff.; kurz zuvor hatte jedoch auch das Assecuranz-Jahrbuch X (1889), S. 198 ff., die "Grundzüge" der Reichsregierung noch als sozialpolitische ,,Fata morgana" verworfen; als ablehnender Standpunkt ferner: Arbeiter-Versicherung, in: Zeitschrift für Versicherungswesen, 27. 6. 1887, S. 293, und 11. 7. 1887, S. 315 f.; vgl. im übrigen Peter Borscheid, Die Entstehung der deutschen Lebensversicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert, in: VSWG 70 (1983), S. 305-330, hier 325f.; ders., Mit Sicherheit leben. Die Geschichte der deutschen Lebensversicherungswirtschaft und der Provinzial-Lebensversicherungsanstalt von Westfalen, Greven 1989, S. 41 und 48. 76 Lujo Brentano, Die beabsichtigte Alters- und Invaliden-Versicherung für Arbeiter und ihre Bedeutung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 50 (1888), S. 1-46. Wie sehr Brentano an einer politischen Wirkung seines Urteils gelegen war, wird etwa daraus ersichtlich, daß er politisch nahestehende Reichstags-Abgeordnete wie den Linksliberalen Richard Roesicke mit seiner Schrift bedachte (Richard Roesicke an Lujo Brentano, 30. 1. 1888, BArch Koblenz N 1001 Nr. 51, BI. 127 -129), hatte aber auch schon in dem Bemühen Ausdruck gefunden, über Ernst Lieber, einen Schulfreund Brentanos, Einfluß auf die Zentrumsfraktion zu nehmen, vgl. etwa bereits Brentanos Mahnung an Ernst Lieber vom 2. 11. 1881 (PfaIzische Landesbibliotbek Speyer, NL Lieber B 144): Verhelfe das Zentrum Bismarck zu der geplanten "Staatsomnipotenz", "indem es die Erfüllung der ethischen Pflichten, welche die Kirche lehrt, zur staatlichen Aufgabe macht, so beraubt das Centrum selbst die Kirche ihres Einflusses auf die Massen, und die 2. oder vielmehr 3. Auflage des Culturkampfes hat für die preuß. Regierung dann bessere Chancen denn je. Ich hoffe diese Erkennt74

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8 Fisch I Haerendel

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Wo Brentano mit versteckter Ironie zu Werke ging (mochten seine Einwendungen auch nicht mehr ganz so apriorisch klingen wie noch zu Beginn der achtziger Jahre 77 ), ließen sich andere mit massiver Kritik vernehmen. Am schneidensten war das Urteil des Züricher Staatswissenschaftlers Platter im neugegründeten Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik (umbenannt dann später das Hausorgan von Werner Sombart und Max Weber). Das Gesetzesvorhaben unter der Flagge der Sozialreform segeln zu lassen, empfand Platter als "reinste Kontrebande,,78: Entlastet würden die Gemeinden als Träger der Armenpflege, die minimalen Renten der Grundzüge aber - angesichts von 48 erforderlichen Beitragsjahren in ihren Höchstbeträgen zudem kaum zu erreichen - demaskierten das ganze als "Armenpflege in Gestalt von Versicherung". In der Hauptsache schoß sich die Kritik jedoch auf die schematische Einheitsrente ein, wie sie das Reichsamt des Innern zunächst noch vorgesehen hatte, ein Leistungszuschnitt, der von den nationalökonomischen Kommentatoren ob seiner nivellierenden Wirkung als nicht zu rechtfertigende Abweichung von tief verwurzelten sozialen Leitvorstellungen gegeißelt wurde 79 . Hier nun legten die Nationalökonomen endlich auch alternative Konzepte vor. Theodor Laves schlug in Schmollers Jahrbüchern ein kombiniertes System gleichzeitig orts- und lohngruppenbezogener Rentenabstufung vor, wollte dafür aber auf die Variable der Beitragsdauer verzichten8o . Die fulminanteste Kritik am Mangel jeglicher Individualisierung bei der Rentenbemessung unterbreitete aber einmal mehr Albert Schäftle er präsentierte mit einem Lohnklassensystem zugleich auch eine der konkretesten konzeptionellen Alternativen 81 . Der Angelpunkt seines Gegenkonzepts zu jener nis wird das Centrum vor allem Staatssocialismus bewahren u. es auf freiheit!. Wegen erhalten." 77 1884 deutete er Schmoller gegenüber an, seine Grundauffassungen zur Arbeiterfrage hätten sich inzwischen in relevanter Weise geändert, Brentano an Schmoller, 19. 6. 1884, GStA Berlin HA I Rep. 92 NL Schmoller, Nr. 114; durchaus denkbar wäre, auch wenn klare Hinweise fehlen, daß dies ein stückweit auch die Arbeiterversicherungsfrage betraf; vg!. auch Sheehan, The Career, S. 103 ff. 78 J. Platter, Die geplante Alters- und Invalidenversicherung im Deutschen Reich, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik I (1888), S. 7 -42. 79 Als Ausnahme unter den akademischen Nationalökonomen hierin: H. von Scheel, Die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeitnehmer in Deutschland, in: Unsere Zeit (1888), S.237-248. 80 Theodor Laves, Bemerkungen zu den Grundzügen der in Vorschlag gebrachten Altersund Invalidenversicherung, in: Jahrbücher für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft 12 (1888), S. 335 -354. 81 A. Schäffle, Der Mangel an Individualisierung in der Alters- und Invalidenversicherung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888), S. 417 - 491. Erneut fand das Urteil Brentanos und Schäffles in Tageszeitungen und sonstiger Publizistik den meisten Widerhall, vg!. als Beispiele: Zur Alters- und Invalidenversicherung, in: National-Zeitung, 18. 1. 1888 (zu Brentano); Herr Schäffle, in: Berliner Volksblatt, 21. 8. 1888; K. Oldenberg, Stimmen über das Projekt der Alters- und Invalidenversicherung: L. Brentano, A. Schäffle, K. Schrader, in: Jahrbücher für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft 12 (1888), S.243-249.

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"kahlen Gleichmacherei,,82, die nach oben zu wenig, nach unten aber zu viel biete (und damit das Simulantenturn großzüchten werde), war das Postulat, es müsse unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht nur im Leistungsgefüge der Versicherung die soziale Gliederung der Arbeiterschaft hinreichend abgebildet sein, sondern es dürften dabei, die Versicherungen übergreifend, auch vergleichbare Notstände nicht krass asymmetrisch behandelt werden. Vor dieser Aufgabe allerdings hatten die Urheber der "Grundzüge" von 1887, sollte sie sich ihnen überhaupt gestellt haben, in der Tat kapituliert. Schäffles Abrechnung mit dem nivellierenden Rentenzuschnitt der "Grundzüge" zeigte auch im Reichsamt des Innern Wirkung. Eine Denkschrift des zuständigen Referenten, Geheimrat von Woedtke, nannte Schäffles Ausführungen "unwiderleglich,,83. Man besann sich nun darauf - damit jedoch Schäffle nur auf halbem Weg folgend -, dem Bundesrat ein System der Rentenabstufung angelehnt an die ortsüblichen Tagelöhne vorzuschlagen84 . Hier allein, so ist hervorzuheben, geben die Akten des Reichsamts des Innern einen direkten Hinweis, daß der Einwurf eines externen, nicht über die politischen Mitbestimmungsorgane des Reichstags und Bundesrats agierenden Experten die Gesetzesarchitekten zu konzeptionell bedeutsamen Korrekturen veranlaßte. Es bedurfte dann allerdings noch immer des Reichstages, um zu einem Lohngruppensystem zu gelangen. Aber auch diese Regelung deckte sich keineswegs mit der individualisierten Rentenbemessung als Prozentwert am Durchschnittslohn der Versicherungszeit, wie sie Schäffle ins Auge gefaßt hatte. Neben den hier hervorgehobenen Kritikpunkten normativer Natur traten kaum minder gewichtige eher operativen Zuschnitts. In ihrer Wirkung konkret nur schwer zu gewichten, dürften diese Beanstandungen - wiewohl nur flankierend und unterstützend zum hier nun ausschlaggebenden Einwirken des Bundesrates das ihre dazu beigetragen haben, wenn das ursprüngliche Vorhaben wieder gestrichen wurde, die Berufsgenossenschaften zum Träger der neuen Versicherung zu machen. So hatten sich auch die Einwände Schäffles keineswegs auf das Gesagte beschränkt85 . Seine Forderung nach organisatorischer Zusammenfassung der ver82 Albert Schäffle, Die geplante Alters- und Invalidenversicherung, in: Allgemeine Zeitung Nr. 127,7.5. 1888. 83 V. Woedtke an Boetticher, 6. 10. 1888, mit beiliegender Denkschrift v. Woedtkes, BArch R 1501 Nr. 100024, BI. 2-14. 84 A.S. [= Albert Schäffle], Die Verständigungspunktation des Hrn. v. Bötticher über die Invaliditätsversicherung, in: Allgemeine Zeitung Nr. 354, 21. 12. 1888. 85 Albert Schäffle, Die geplante Alters- und Invalidenversicherung, in: Allgemeine Zeitung 125 -127, 130 und 132,5.5,6.5.,7.5., 10.5. undl2. 5. 1888. Zu SchäffIes kritisch-konstruktiver Sichtung zählte neben anderem auch die ältere Idee des Kombinierens von Versicherung und Sparen, das Festhalten an der Einbeziehung der Witwen und Waisen, der Vorzug, der einem Umlagen- gegenüber dem Kapitaldeckungsverfahren gegeben wurde, oder der an die letztendliche Gesetzesregelung erinnernde Vorschlag, anstelle eines prozentualen Reichsanteils an den Versicherungsbeiträgen feste Mark-Beträge einzusetzen. Weitere den Gesetzgebungsprozeß begleitende Diskussionsbeiträge Schäffles, die zum Teil nur die bereits



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schiedenen Versicherungszweige bei gleichzeitiger Dezentralisierung des Vollzugs (und stärkerer Gliederung der Alters- und Invaliditätsversicherung nach gleichartigen Risiken) trug in prominenter Weise dazu bei, eine langlebige Tradition der Organisationskritik an der Sozialversicherung zu begründen, wobei freilich sein Insistieren auf den lokalen Krankenkassen als Basisorganisationen künftig mit einer Reihe anderer Reorganisationsvorschläge zu konkurrieren hatte 86 • VI.

Es bleibt eine letzte Beratungsfunktion, die gesetzestechnische Musterung der Vorlagen, zu streifen. In den Fragen der Versicherungsmathematik drängte das Reichsschatzamt auf externe Begutachtung, um die Modellrechnungen zur Höhe der finanziellen Belastungen, wie sie dem Reichstag vorgelegt werden sollten, auf das genaueste überprüft zu wissen 87 • Das Urteil der dafür herangezogenen Fachautorität, des Mathematikers Prof. Wittstein aus Hannover, hätte abschätziger kaum ausfallen können 88 . Die Verlegenheit, in die das Reichsamt des Innern durch das kritische Gutachten geraten war, wurde auf bezeichnende Weise gelöst. Man bemühte einen Zusatzgutachter, der anders als Wittstein nicht dem privaten Versicherungswesen, sondern der staatlichen Eisenbahnverwaltung nahestand. Seine angerissenen Kritikpunkte wiederholten, keinesfalls aber schon alle Stellungnahmen des Nationalökonomen umfassen: Der bundesräthliche Entwurf der Alters- und Invalidenversicherung, in: Deutsches Wochenblatt 1. Jg., Nr. 17-29, 19.7.-11. 10. 1888; Die Verständigungspunktation des Hm. v. Bötticher über die Invaliditätsversicherung, in: Allgemeine Zeitung Nr. 354-356, 21.-23.12. 1888; Vor der dritten Lesung des Gesetzentwurfes über Altersund Invaliditätsversicherung, in: Deutsches Wochenblatt 2. Jg., Nr. 18 -19, 2. und 9. 5. 1889 (nach der vorhergegangenen Kritik sehr versöhnlich!) 86 V gl. auch Oswald Keiner, Die Entwicklung der deutschen Invaliden-Versicherung, München 1903, S. 35 ff.; Staatssekretär v. Boetticher setzte sich im Verlauf der Gesetzesdebatte im Reichstag, ohne freilich den Namen zu nennen, mit Schäffles Organisationsvorschlag auseinander, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 1,9. Sitzung, 6. 12. 1888, S. 144; als Organisationskritik fernerhin wichtig: Richard Freund, Bemerkungen zum Entwurf eines Gesetzes betreffend die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter, Berlin 1888 (an die Stelle der territorialen Versicherungsanstalten sollen selbstverwaltete, eng mit den Krankenkassen verbundene lokale Versicherungs-Genossenschaften als Nuklei einer künftigen Zusammenfassung aller Zweige der Sozialversicherung treten); vgl. zu Freund und Schäffle auch: J. Platter, Zur projektierten Organisation der deutschen Altersund Invalidenversicherung, Wien 1889. 87 Reichsschatzamt an v. Boetticher, 27. 10. 1887, BArch R 1501 Nr. 100096, BI. 186188; vgl. allg.: Günther Rodenstock, Versicherungstechnische Probleme in der Geschichte der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung, Köslin 1934, S. 66 ff. 88 Prof. Dr. Wittstein, Gutachterlicher Bericht über die "Mathematischen Anlagen" zu der Denkschrift, betreffend die finanzielle Belastung durch die Alters- und Invalidenversicherung, 15. 12. 1887, BArch R 1501 Nr. 100096, BI. 272-279; dort, BI. 199-210 sowie 213268, auch der Gegenstand der Begutachtung; sowie die Erwiderung des Verfassers der "Denkschrift" wie des "Mathematischen Anhangs", des extra für diesen Zweck ins Reichsamt berufenen Mathematikers Adolf Beckmann, BI. 283 - 290.

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Beurteilung mündete in die Bestätigung, daß der Autor der Modellrechung der rechnerischen Gesetzeskalkulation "sich der Ausführung auch der schwierigsten versicherungstechnischen Berechnungen gewachsen zeigt, und daß gegen die Richtigkeit der Rechnung kein Einspruch zu erheben ist."s9 Vermochten im übrigen auch die Kommentatoren der privaten Versicherungswirtschaft jene Skepsis nie ganz abzustreifen, mit der sie die Solidität der mehrfach dem Wechselgang der Reichstags-Verhandlungen angepaßten Berechnungen zu betrachten pflegten, so blieben solche versicherungstechnischen Bedenken doch ohne konzeptionell schlagkräftige Vetoposition 9o . Die möglichen Spielformen sachverständiger Einflußnahme, die zu diskutieren wären, sind damit noch nicht erschöpft, die wichtigsten gleichwohl genannt. Die gelegentlichen Verweise auf die Auslassungen wissenschaftlicher Autoritäten, wie sie auch im Laufe der Reichstagsdebatten zu vernehmen waren, dienten kaum mehr als zur rhetorischen Veredelung91 . Da nicht nur die Reichsbürokratie, sondern auch das Parlament längst ausgewiesene Experten hervorgebracht hatte, blieben solche Anleihen weithin Beglaubigungs-Dekor. Verfolgt man das Schicksal der Sozialversicherung über die Phase der Gründungsgesetzgebung hinaus, so lassen sich auf der Stufe der erstmaligen Gesetzesevaluierung auch schon stärker institutionalisierte Formen der Politikberatung ausmachen. So wurde 1887 beim Reichsamt des Innern eine Kommission externer Sachverständiger eingesetzt und ihr der Auftrag erteilt, die im Vollzug des Krankenversicherungsgesetzes gemachten Erfahrungen auszuwerten. Nicht nur bei dieser Gelegenheit, als es um die Erörterung von Durchführungsproblemen ging, waren es jedoch vorrangig die Verwaltungspraktiker, nicht die Wissenschaftler, deren Expertenurteil gefragt war92 • Ähnliches galt auch, unter stärkerer Beteiligung von Vertretern der politischen Organe, für eine 1895 eingesetzte "freie Kommission", die sich einer Evaluierung des Invaliditäts- und Altersversicherungs89 Dr. Herm. Zimmermann, Begutachtung der Denkschrift über die Höhe der finanziellen Belastung, welche durch die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter voraussichtlich hervorgerufen werden wird, nebst der mathematischen Anlagen zu dieser Denkschrift, BArch R 1501 Nr. 100097, BI. 3-14. 90 Vgl. z. B.: Die Alters- und Invaliditäts-Versicherung der Arbeiter, in: Assecuranz-Jahrbuch XII (1891), S. 190-243, hier 224; zur in der Folge dann allerdings zutage getretenen Sicherheit der Modellrechnungen vgl. Monika Sniegs, Die Gestaltungskraft der Prognose: Modellrechnungen in der Invaliditäts- und Altersversicherung 1891-1912, MS Bremen 1996 (Arbeitspapier des Teilprojekts Dl Sonderforschungsbereich 186 "Statuspassagen und Risiken im Lebensveriauf"). 91 Vgl. bspw. in der Generaldebatte der ersten Lesung im Reichstag die Abg. Grillenberger (SPD, er zitierte Brentano, Schäffle, Platter und van der Borght) und Rickert (Freisinn, er zitierte Brentano), Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 1,9. und 10. Sitzung, 6.17.12.1888, S. 146f. und 223. 92 Lohmann an Boetticher, 26. 2. 1986, BArch R 1501 Nr. 100803, BI. 2; Verzeichnis Kommissionsmitglieder 22. 11. 1887, ebenda, BI. 239; vgl. auch: Tagebuch Robert Bosse 23.1. 1887 -11. 3.1897, BI. 10, GStA Berlin HA I Rep. 92 NL Bosse 8.

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gesetzes und der Frage möglicher Ansatzpunkte einer Revision widmen sollte. Wenn dort im Zuge der Kommissionsarbeiten vor allem die Vorschläge des Präsidenten des Reichsversicherungsamtes, Tonio Bödiker, und des Vorsitzenden der Versicherungsanstalt Berlin, Richard Freund, in den Mittelpunkt rückten, so macht dieser Umstand bereits deutlich, wie sehr die neu entstandene Sozialbürokratie selbst zum Wurzelgrund sozialstaatlichen Expertentums werden sollte93 . Lediglich auf die Phase der Gesetzgebung beschränkt, bleiben im Ergebnis vor allem vier Punkte festzuhalten: 1. Zu den entscheidenden Geburtshelfern der Rentenversicherung zählten die wissenschaftlichen - und auch sonstigen - Experten nicht. Die Vaterschaft sich streitig zu machen, blieb anderen überlassen. Für die Entstehung der Invaliditäts- und Altersversicherung würde eine bipolare Zuschreibung etwa des Zuschnitts, daß Regierung und Politik, befangen in der Sphäre kurzatmigen piecemeal-engineerings, zur Initiierung und Formulierung tiefgreifender Reformschritte des konzeptionellen Anschubs der Wissenschaft, ihrerseits Nähr- und Resonanzboden weitschauender Großentwürfe, bedürfen, in vielerlei Hinsicht fehlgehen. Die maßgeblichen Vertreter der Reichsbürokratie vertrauten bei der Konzipierung weitgehend auf ihr eigenes Urteil, luden die interessierte Öffentlichkeit anschließend zwar zu einer intensiven Debatte ein, um jedoch Korrekturen am Ausgangsmodell dann vorwiegend auf den Aushandlungsprozeß mit den politischen Gesetzgebungsorganen zu beschränken. 2. Die entscheidungsferneren Funktionen des Sachverständigenurteils - im Rahmen des agenda-setting, der Vorläufer- und Stellvertreter-Diskussionen oder der öffentlichen Kritik an den Gesetzesentwürfen - fielen bei all dem noch ungleich stärker ins Gewicht als die entscheidungs nahen - die unmittelbare Beratung der Entscheidungsbeteiligten oder die gesetzestechnische Musterung. Der umgekehrte Befund wäre allerdings überraschender. Wiewohl durchaus begrenzt, waren die reaktiven und korrektiven Funktionen der externen Experten bedeutsamer als die explorativen und innovativen. Nicht der vertrauliche Kontakt zu den Verwaltungsspitzen, sondern die öffentliche Debatte entpuppte sich als das maßgebliche Medium sachverständigen Einwirkens. Noch kaum Politikberater, waren die Staatswissenschaftler immerhin Faktor der öffentlichen "Meinungsbildung" - und mitunter auch schon "opinion leader". 3. Das schloß, wie vornehmlich das Beispiel Albert Schäffles zeigt, eine intensive, oft einfallsreiche und auch weithin konstruktive Auseinandersetzung mit den anstehenden Gesetzgebungsproblemen nicht aus. Schäffles nimmermüde theoretische wie praktische Phantasie überforderte allerdings die im politischen Raum angetroffenen Vorstellungen operativer Praktikabilität, während die metapolitische Überzeugung von der rationalen Durchschlagskraft seiner Argu93 Vgl. die Niederschrift der Komrnissionssitzungen, BArch R 1501 Nr. 100035; ferner Keiner, Die Entwicklung, S. 44.

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mente zu sehr über die Spielregeln des Betriebs hinwegsah. Immerhin, der außenseiterische Schäffle war, abgesehen von der gesetzestechnischen Musterung, als einziger externer Akteur auf allen beschriebenen Ebenen der Expertenintervention - und das zumeist in zentraler Position - präsent. 4. Die seitens der Staatswissenschaftler unterbreiteten Kommentare deckten insgesamt, in freilich sehr unterschiedlicher Dichte, den weiten Spannungsbogen jener Ordnungsideen ab, wie sie das Lager der bürgerlichen Sozialrefonn überwölbten. Dies reichte vom Sozialliberalismus Brentanos bis zum Staatssozialismus eines Otto Arendt und Adolph Wagner. Wenngleich Schäffle sich von den Kathedersozialisten fernzuhalten pflegte, bildete sein korporativ-föderaler Vorschlag, auf Konzentration, Dezentralisierung und Individualisierung bedacht, konzeptionell in mancherlei Hinsicht die Mitte. Wie Brentanos allerdings ganz anders geartete Überlegungen sollte im übrigen die korporative Organisation bei Schäffle, darin nun wieder über die zögernde Haltung manch anderer Nationalökonomen hinausgreifend, die Grundlage für eine die Zwecke der Versicherung weit transzendierende Umstrukturierung der sozialen Verhältnisse bilden94 .

94 Vgl. z. B. Schäffle, Die Grundsätze, S. 640; ders., Der korporative Hilfskassenzwang, S. 45 ff., ders., Der bundesräthliche Entwurf der Aiters- und Invalidenversicherung, in: Deutsches Wochenblatt 1 (1888), Nr. 28, S. 329-331, hier 331.

Sektion 11: Systemelemente und gesellschaftlicher Wandel

Einführung Von Stefan Fisch

Nach dem Blick auf die Entstehungsbedingungen der deutschen Invalidenund Altersversicherung zu Beginn des Buches konzentriert sich die zweite Sektion auf die Funktionsweise der gesetzlichen Rentenversicherung, nachdem sie etabliert war. An Hand von Querschnittsfragen werden wichtige Einzelelemente des Systems in Beziehung zu seiner Umwelt analysiert. Der Akzent liegt dabei teilweise besonders auf der Bedeutung der gesetzlichen sozialen Sicherung für die Lebenswelt des einzelnen, teilweise mehr auf den Umfeldbedingungen, die in der mehr als hundertjährigen Geschichte des deutschen Sozialstaats zu Veränderungen seiner Strukturen durch den Gesetzgeber führten. Der Beitrag von Lars Kaschke stellt die praktische Handhabung des Invaliditätsund Altersversicherungsgesetzes von 1889 während des Kaiserreichs in den Mittelpunkt. Neu war vor allem, daß im Vergleich zur berufsgenossenschaftlich organisierten Unfallversicherung an der Rentenversicherung der Staat und seine Beamten mit einer aktiven Rolle beteiligt waren. Sie erschöpfte sich nicht in der Gewährung des Reichszuschusses zur Rente, sondern bestand auch in einer intensiven Beteiligung der Verwaltung am Rentenantragsverfahren. In mündlichen Verhandlungen fand nämlich eine Art "Aushandlungsprozeß" zwischen Staatsbeamten und Antragsteller statt, wenn zu klären war, ob und in welchem Ausmaße eine Erwerbsunfähigkeit vorlag, die zu einer Invalidenrente berechtigte. Arbeitersekretariate und Gewerkschaften empfanden dieses mündliche Verfahren, selbst wenn es zur Ablehnung von Anträgen auf Invalidenrente führte, weitgehend als unproblematisch: korrekt und unparteiisch trat der Staat durch die zuständigen Beamten seinen Bürgern gegenüber, die ihnen zustehende Rechte geltend machten, nicht aber Bittsteller waren. Die auch bei Ablehnungen zumeist "versöhnende und beruhigende" Atmosphäre dieser Verhandlungen trug erheblich zur frühen und breiten Akzeptanz der neuen Institution Invaliden- und Altersversicherung bei. Allerdings wurden diese Verfahren in den preußischen Ostprovinzen sehr viel schroffer und sehr viel öfter mit ablehnendem Ergebnis geführt - hier unterstellten die örtlichen Verwaltungsbeamten den Angehörigen der nicht-deutschen Minderheiten eine unbegründete "Rentensucht". Allgemein entwickelte sich im massenhaften Verwaltungsvollzug auf der unteren Ebene immer mehr die Tendenz, daß für eine Rentengewährung die von den Versicherten beizubringenden ärztlichen Gutachten die entscheidende Rolle spielten. Nach 1900 versuchte die Zentrale im Berliner Reichsamt des

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Innern gegenzusteuern und die eingespielten Verfahren zu straffen und zu regulieren, doch die Landesversicherungsanstalten konnten, gestützt auf die günstige Finanzlage der Sozialversicherung, die Freiräume ihrer versichertenfreundlichen Praxis weitgehend verteidigen. Der Versuch, dieses im Ganzen erfolgreiche "Aushandlungs"modell im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens für die Reichsversicherungsordnung auch auf die Unfallversicherung zu übertragen, scheiterte jedoch am Widerstand der Berufsgenossenschaften. In der Invaliditäts- und Altersversicherung selbst wurde es in den Inflationsjahren zur Verfahrensvereinfachung auf ein bürokratisches Modell mit Gutachten und Gegengutachten reduziert. Zur Akzeptanz eines jeden Systems staatlicher sozialer Sicherung gehört seine Glaubwürdigkeit. Die Sicherheit der künftigen Renten hat viel zu tun mit der Frage nach der Finanzierung des Systems. Philip Manow verfolgt dazu die Entwicklung der deutschen Prinzipiendebatte um Kapitaldeckung oder Umlageverfahren. Ehrlichkeit in der Belastung und Solidität der Finanzierung waren in der Entstehungsphase der Invaliden- und Altersversicherung entscheidend, als man das entstehende staatliche System sozialer Sicherheit noch analog zu privatwirtschaftlich organisierten Versicherungen dachte und eine möglichst vollständige Deckung nicht nur der jeweils fälligen Rentenausgaben, sondern auch aller allmählich erst anwachsenden Anwartschaften auf Renten erstrebte. Der Erste Weltkrieg und in seinem Gefolge die Inflation brachten freilich mit dem Verzehr der angesammelten Vermögen faktisch den Übergang zu einer Finanzierung der ausgezahlten Renten allein aus Umlagen, wenngleich die Verwaltungsexperten des Reichsarbeitsministeriums weiterhin dem Stabilitätsversprechen der Anwartschaftsdeckung anhingen. Dementsprechende ,Sanierungs 'bemühungen der späten Weimarer Republik schufen dann eine Grundlage für die nationalsozialistische Ausnutzung des wieder angewachsenen Kapitalstocks der Sozialversicherung für die Zwecke der Finanzierung des Zweiten Weltkriegs. Propagandistisch verschleiert wurde sie mit schönen Programmsätzen für eine umfassende, vom Staat garantierte Altersversorgung aller "Volksgenossen" - und nur dieser - in der Zeit "nach dem Kriege". Adenauers Rentenreform nahm dagegen den Staat wieder zurück und suchte dem Umlageverfahren die nötige Stabilität als "Vertrag zwischen den Generationen" zu geben. Entscheidende Angelpunkte der Entwicklung der deutschen Rentenversicherung über mehr als einhundert Jahre faßt Diether Döring zusammen. Dabei hebt er insbesondere die ,statische' Ursprungskonzeption der Invaliden- und Altersversicherung hervor, die dem Zeitalter des inflationsdämmenden Goldstandards entsprach. Die Einführung einer Rentenversicherung für Angestellte schuf 1911 ein eigenständiges und wegen seiner stärkeren Versicherungsorientierung auch etwas anderes System für den Mittelstand. Zugleich setzte damit aber auch ein Prozeß der schrittweisen Vereinheitlichung von Angestellten- und Arbeiterversicherung ein. Die Sicherung des vorherigen Lebensstandards auch im Rentenalter wurde wichtigstes Ziel von Adenauers Rentenreform 1956/57, die zu einer Dynamisierung der Sozialversicherungsleistungen führte. Wegen der in der neuen Rentenformel

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wichtiger gewordenen Beitragsgerechtigkeit (die in gewisser Weise Vollbeschäftigung voraussetzt) wurde das Versicherungselement gestärkt und zugleich die Mindestsicherung abgebaut. Über der allgemeinen Erhöhung der Renten darf somit die nun deutlicher hervortretende Ungleichheit in den Rentenhöhen nicht übersehen werden. In einer langfristigen vergleichenden Bewertung werden schließlich einige Besonderheiten der deutschen Sozialversicherung innerhalb Europas deutlich: sie gehört heute zu den wenigen Systemen mit einem tendenziell eher schmalen Begünstigtenkreis und mit einer nahezu ausschließlichen Orientierung der Leistungen an den im Arbeitsleben erzielten Einkommen. Unter der Annahme einer Konvergenz der Systeme ergeben sich daraus bestimmte wahrscheinliche Richtungen der Entwicklung des deutschen Modells, die zum Schluß kurz angesprochen werden. Nicht alle Staatsbürger waren und sind in Deutschland Begünstigte des Systems der Sozialversicherung. Eine besonders wichtige Gruppe von Ausgeschlossenen waren für lange Zeit die Witwen. Marlene Ellerkamp verfolgt, wie in der parlamentarischen Diskussion um die Ausgestaltung der deutschen Sozialversicherung eine Versorgung von Arbeiterwitwen zunächst zwar durchaus als grundsätzlich wünschenswert anerkannt wurde, die sehr viel begrenzteren Konzepte von Reichsleitung und Bundesrat aber schließlich nicht mehr als eine Erstattung der von einem verstorbenen ,,Farnilienernährer" bezahlten Sozialversicherungsbeiträge zuließen. Witwen erhielten erst mit der Reichsversicherungsordnung von 1911 einen aus dem Anspruch ihres verstorbenen Ehemannes abgeleiteten Rentenanspruch. Wegen der grundsätzlichen konzeptionellen Anbindung der sozialen Sicherung an vorhergehende Erwerbsunfähigkeit kam er freilich nur bedingt, im Falle ihrer eigenen Invalidität, zur Geltung. Erst im Nationalsozialismus wurden erstmals Witwen in das System der deutschen Sozialversicherung integriert, sofern sie mehr als drei Kinder zu versorgen hatten. Erst sehr spät, seit 1949, wurde die Zuerkennung von Witwenrenten an keine anderen Voraussetzungen mehr gebunden als das vorgängige Bestehen einer Ehe. Anfangs waren auch die Selbständigen aus der Teilhabe an der Sozialversicherung ausgeschlossen, eine definitorisch im Detail ähnlich schwierig zu fassende Gruppe wie die Angestellten, wie die anhaltende Diskussion um "Scheinselbständigkeit" zeigt. Heinz-Dietrich Steinmeyer beschreibt die langsame Einbeziehung bestimmter Gruppen von Selbständigen in das System sozialer Sicherung unter den beiden Leitlinien ihrer arbeitsrechtlichen Stellung, die der von abhängig Beschäftigten nahekam, und des Hervortretens ihrer sozialen Schutzbedürftigkeit. Insgesamt waren im Kaiserreich die kleinen Selbständigen nur sehr rudimentär durch die Pflichtversicherung erfaßt, und auch in der Weimarer Republik änderte sich hier nichts Entscheidendes. Erst im Nationalsozialismus wurde 1938 den selbständigen Handwerkern die Möglichkeit zur Fortsetzung ihrer Pflichtversicherung aus Lehrlings- und Gesellenzeiten ermöglicht; alternativ konnten sie sich aber auch für die private Vorsorge durch eine Lebensversicherung entscheiden. Vor allem in der Bundesrepublik erweiterte dann die Gesetzgebung den Kreis der Versicherten

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um so bedeutsame Gruppen von Selbständigen wie die Landwirte (ab 1957) oder die Künstler und Publizisten (1983), während die freien Berufe ihre privaten Versorgungswerke ausbauen konnten und der klassische selbständige Unternehmer weiterhin außer Betracht blieb.

Eine versöhnende und beruhigende Wirkung? Zur Funktion der Rentenverfahren in der Invaliditätsund Altersversicherung im Kaiserreich J

Von Lars Kaschke

Das Regelungs- und Leistungsprofil der Invaliditäts- und Altersversicherung im Kaiserreich wird im allgemeinen als unattraktiv angesehen. Die Zugangsvoraussetzungen gelten als restriktiv, die gezahlten Renten als "erschreckend niedrig,,2 und für die Bestreitung des Lebensunterhalts unbedeutend 3 . Ein näherer Blick zeigt jedoch, daß diese Einschätzung der Korrektur bed~. Die Invaliditäts- und Altersversicherung wies in bezug auf die Kriterien Zugänglichkeit, Stabilität und Wert der Leistungen durchaus ein attraktives Regelungsund Leistungsprofil5 auf. So wurden zwischen 1892 und 1913 reichsweit durchschnittlich 80 Prozent aller formell entschiedenen Invalidenrentenanträge in erster Instanz anerkannt6 , entzogen dagegen in den 1890er Jahren durchschnittlich knapp vier Prozent und in den Jahren bis 1914 knapp zehn Prozent aller bewilligten Renten, Vergleichswerte aus der Unfallversicherung liegen bei 70 Prozent7 • Auch die Renten selber können nicht als quantite negligeable gelten. Unter den verschiedenen Quellen, aus denen der ältere Lohnarbeiter in der Regel seinen LebensunterI Der vorliegende Aufsatz basiert auf meiner im Teilprojekt D I des SFB 186 entstandenen Dissertation: (Lars Kaschke) "Kommission für Rentenquetsche? Die Rentenverfahren in der Invalidenversicherung und die ,Bereisung' der Landesversicherungsanstalten, 190 I - 1911 " (Bremen 1998). 2 Aorian Tennstedt, Berufsunfähigkeit im Sozialrecht, Frankfurt 1972, S. 18. 3 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 351. 4 Ich habe diese Frage ausführlich behandelt in: (Lars Kaschke) Nichts als ,,Bettelgelder"? Wert und Wertschätzung der Alters- und Invalidenrenten im Kaiserreich, in: HZ 270 (2000), S.345-388. 5 Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, S. 244. 6 Sämtliche statistischen Angaben sind entnommen: Monika Sniegs/Lars Kaschke, Kommentierte Statistiken zur Sozialversicherung in Deutschland von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Abt. I, Bd. 1: Die Invaliditäts- und Altersversicherung im Kaiserreich (18911913), unveröff. Manuskript Bremen 1999. 7 Bericht über die Verwaltung der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie 1907, Anhang 11.

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halt bestritt, wurde die Rente ob ihrer Stetigkeit rasch zu einem Hauptstützpfeiler. Darüber hinaus verbesserte die Rente den sozialen Status der älteren Lohnarbeiter in zwei zentralen Bereichen. Zum einen stärkte sie die Position des Seniors gegenüber den Kindern beträchtlich, da dieser nun nicht mehr als Bittsteller auftrat, sondern als Bezieher eines bescheidenen, aber festen eigenen Einkommens. Zum anderen konnte die große Mehrheit der Rentenempfänger die entehrende Inanspruchnahme der Annenhilfe vermeiden. Insbesondere auf dem Land, wo niedrige Geldeinkommen noch über 1900 hinaus weit verbreitet blieben, hatte das Wort Rente einen guten Klang und genoß eine beträchtliche Wertschätzung. Wenn es unstrittig sein dürfte, daß Versicherte und Rentenempfänger seinerzeit die Invalidenversicherung in erster Linie an der Höhe der Renten maßen, so wurde doch schon in den 1890er Jahren deutlich, daß die positive Wirkung der Invaliditäts- und Altersversicherung auf ihre Adressaten zum guten Teil auf der besonderen Struktur der Rentenverfahren und deren Handhabung durch die rechtsanwendenden Verwaltungsbeamten beruhte. Wenn sich die folgenden Ausführungen dabei auf die Invalidenversicherung konzentrieren, so bedeutet dies keine Abweichung vom Thema des vorliegenden Bandes. Damals wie heute galt, daß nur ein Bruchteil der Versicherten Versicherungsleistungen mit dem Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze in Anspruch nahm. Der Anteil von eigentlichen Altersrenten am Neuzugang lag 1913 bei acht Prozent. Unter den Invalidenrentnern jedoch waren um 70 Prozent über 55 Jahre alt. Die Invalidenversicherung sicherte somit überwiegend gegen die Einbuße der Erwerbsfähigkeit durch altersbedingte Verschleißerscheinungen ab. Bis zur Einführung der Invaliditäts- und Altersversicherung im Jahre 1891 waren Arbeitern Rentenverfahren lediglich aus der Unfallversicherung bekannt. Hier spielte sich das erstinstanzliche Verfahren unter weitgehendem Ausschluß der Betroffenen ab. Die Ortspolizei behörde führte die Unfalluntersuchung durch und leitete deren Ergebnis an die Berufsgenossenschaft weiter. Diese entschied sodann über eventuell zu gewährende Renten und erteilte einen entsprechenden Bescheid. Der Rentenbewerber konnte in diesem Stadium des Verfahrens lediglich seine Sicht der Dinge gegenüber der Polizei schildern und griff eigentlich erst dann aktiv in das Verfahren ein, wenn er Berufung gegen den Bescheid der Berufsgenossenschaft einlegte. Der Kontakt mit den für die Durchführung der Versicherung zuständigen Organen stand in der Unfallversicherung somit von Anfang an unter negativen Vorzeichen. Der Konfliktcharakter der Verfahren wurde noch durch das allgemeine Mißtrauen der Versicherten gegenüber den Berufsgenossenschaften, die als Organe der Arbeitgeber galten, verschärft. Die Abläufe bei der Invalidenversicherung wiesen eine ganz andere Struktur auf. Zum einen lag die Durchführung des Verfahrens in den Händen von Staatsbehörden, denen im allgemeinen mehr Vertrauen entgegengebracht wurde als den Berufsgenossenschaften, und zum anderen bezog das Verfahren in der Invalidenversicherung den Rentenbewerber von Anfang an aktiv ein.

Eine versöhnende und beruhigende Wirkung?

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Das erstinstanzliche Verfahren in der Invalidenversicherung gestaltete sich folgendennaßen: Der Rentenantrag wurde unter Beifügung der "zur Begründung des Anspruchs dienenden Beweisstücke"S an die nächste erreichbare Behörde gerichtet. Auf dem Lande konnten dies Ortsvorsteher, Gemeindesekretär oder Bürgermeister sein, in der Stadt vielfach die Ortspolizeibehörde. Je nach Lage der Dinge wurde der Antrag mit Ergänzungen versehen und an die zuständige untere Verwaltungsbehörde - Landrat, Kreisdirektion, Oberarnt, Stadtmagistrat, in einigen Großstädten eine besondere Magistratsabteilung für Invalidenversicherungsangelegenheiten - weitergereicht. Dieser oblag das sog. "Vorbereitungsverfahren", d. h. sie hatte alle für die Entscheidung des jeweiligen Antrags relevanten Materialien zusammenzustellen und zu prüfen, gegebenenfalls auch durch Einvernahme des Rentenbewerbers und anderer Personen, z. B. Hausarzt, Arbeitgeber oder Arbeitskollegen. Nach Abschluß der Ennittlungen gab die untere Verwaltungsbehörde den Antrag mit einem befürwortenden oder ablehnenden Kommentar an die Landesversicherungsanstalt (LVA) ab. Idealerweise sollten die Anträge nur spruchreif abgegeben werden, in der Realität waren die LVAen bei einem erheblichen Prozentsatz der Anträge zu Rückfragen gezwungen9 . Mit der Entscheidung der LVA war das Verfahren für ca. 90 Prozent aller Anträge beendet. Bis hierhin konnte der Rentenbewerber an drei Punkten Einfluß auf den Gang des Verfahrens nehmen. Dies betraf zunächst das Schlüsseldokument jeden Antrags, ein die Invalidität bescheinigendes Attest. Wer sich mit den Ärzten seines Kreises auskannte, wählte einen Mediziner zum Gutachter, der für seine Bereitschaft bekannt war, auf die Schilderung der subjektiven Beschwerden durch den Rentenbewerber einzugehen. Mit einem überzeugenden Attest war die Rentenbewilligung bis 1900 in den meisten Fällen Fonnsache. Zweitens konnte der Antragsteller die Hilfe eines Arbeitersekretärs oder eines wohlmeinenden Verwaltungsbearnten in Anspruch nehmen. Diese Handlungschance bestand vorwiegend in größeren Städten ab 1900. Die Arbeitersekretäre lieferten das notwendige fachliche Hintergrundwissen, das dem Rentenbewerber in aller Regel abging, und ennöglichten es diesem damit, seine Argumentation auf die versicherungsrechtlich relevanten Punkte zu konzentrieren. Andererseits wurde bei aussichtslosen Fällen von der Stellung eines Antrags abgeraten. Damit fungierte der Arbeitersekretär als eine in ihrer Effizienz nicht zu unterschätzende Verlängerung 8 § 75 Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz (IAVG). Die hier zitierten Paragraphen des IAVG sind nachzulesen bei: R[obertl Bosse/E[richl v. Woedtke, Das Reichsgesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung. Vorn 22. Juni 1889, Leipzig 1891; für das Nachfolgegesetz von 1899 wurde folgender Kommentar verwendet: Wilhelm Isenbart/Walter Spielhagen, Das Invalidenversicherungsgesetz vorn 13. Juli 1899, Berlin 1900. 9 So karnen z. B. bei der LVA Rheinprovinz 1900 nur 69% der Anträge spruchreif ein. Die vorn RVA ausgehende Straffung der Verwaltungspraxis der LVAen nach 1900 ließ den Anteil der spruchreifen Anträge sogar bis auf 34% im Jahre 1907 fallen. 1913 waren erst wieder 61 % erreicht. LVA Rheinprovinz, Bericht des Vorstandes über die Geschäfts- und Rechnungsergebnisse, 1900, S. 26; 1907, S. 30; 1913, S. 34.

9 Fisch/Haerende.

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der Binnenstruktur lO der "Institution Invalidenversicherung", die den Behörden Arbeit ersparte und zugleich die Legitimation der Invalidenversicherung stärkte. Drittens wurde der Rentenbewerber formell aufgerufen, sein Begehren gegenüber der Behörde direkt zu vertreten, wenn die untere Verwaltungsbehörde den Antrag für zweifelhaft oder nicht begründet hielt. In diesem Fall mußte seit 1900 eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden, bei der es ein dreiköpfiges Gremium von einem Verwaltungsbeamten als Vorsitzenden und je einem Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern als Beisitzer zu überzeugen galt. Der Rentenbewerber hatte hier die Möglichkeit, Arbeitgeber und Bekannte als Zeugen aufzubieten, gegebenenfalls ein weiteres ärztliches Gutachten zu fordern und in direkter Gegenrede die Bedenken der Behörde auszuräumen. Trat der Rentenbewerber der Behörde allein gegenüber, hing es wesentlich vom Fingerspitzengefühl des zuständigen Verwaltungsbeamten ab, ob im wahrsten Sinne des Wortes "Legitimation durch Verfahren"ll zustande kam. Auch auf abgewiesene Antragsteller konnte die mündliche Verhandlung nach Beobachtungen eines beteiligten Stuttgarter Beamten eine " versöhnende und beruhigende" Wirkung haben, wenn diese den Eindruck gewannen, "daß man ihre Sache eingehend und liebevoll behandelt" hatte 12. Insgesamt kann die Bedeutung der mündlichen Verhandlung als der Ort, an dem sich der Aushandlungsprozeß im Rentenverfahren konzentrierte, kaum überschätzt werden. Ließ sich die untere Verwaltungsbehörde vom Vorliegen der Erwerbsunfähigkeit überzeugen, waren die Aussichten auf Bewilligung der Rente vorzüglich. Wie die Statistiken der LVAen ausweisen, urteilten diese in den allermeisten Fällen in Übereinstimmung mit dem Gutachten der unteren Verwaltungsbehörden 13 . Allerdings hatte die LVA jederzeit die Möglichkeit, unabhängig vom Urteil der unteren Verwaltungsbehörde eigene Ermittlungen anzustellen. Wurde der Rentenantrag von der LVA abgelehnt, stand dem Rentenbewerber in jedem Fall die Berufung vor dem Schiedsgericht und unter bestimmten Bedingungen die Revision vor dem Reichsversicherungsamt (RVA) ZU 14 • Die Aussichten auf 10 Johann August Schülein, Theorie der Institution. Eine dogmengeschichtliche und konzeptionelle Analyse, Opladen 1987, S. 132 - 170. 11 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969. 12 Wilhelm Bazille, Die mündlichen Verhandlungen im Sinne des § 59 I.V.G, in: ArbeiterVersorgung [im folgenden "AV"jI8 (1901), S. 285-289. 13 Vorsichtig geschätzt dürfte die Übereinstimmung bei über 80% gelegen haben. Angaben der LVA Hessen-Nassau für die Jahre 1899 bis 1902 zufolge lag hier die Übereinstimmung bei über 90 %, in der Rheinprovinz in den Jahren 1900 bis 1913 sogar bei über 95 %. BArch R 39.01 Nr. 4017 (Anlage 2 zum Rundschreiben der LVA Hessen-Nassau vom 11. 8. 1903). LVA Rheinprovinz, Bericht des Vorstandes über die Geschäfts- und Rechnungsergebnisse, 1900-1913, Rubrik "Statistik über die Vorbereitung und Erledigung der Rentenanträge". 14 Revision konnte nur eingelegt werden, wenn dem Schiedsgericht "Nichtanwendung oder unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts", ein "Verstoß wider den klaren Inhalt der Akten" oder "wesentliche Mängel" in der Verfahrensführung vorgeworfen wurden (§ 116 Abs. 3 Invalidenversicherungsgesetz). Neue Tatsachen durften jedoch nicht mehr vorgebracht werden, in diesem Fall hatte der Betroffene einen neuen Antrag bei der LVA zu stellen.

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Erfolg standen für die Rentenbewerber hier jedoch ungleich schlechter. So wurden bis 1913 insgesamt ca. 30 Prozent der Berufungen und lediglich knapp ein Prozent der von den Versicherten eingelegten Revisionen anerkannt. Welche Inhalte wurden in den Rentenverfahren verhandelt und in welchem Bezugsrahrnen bewegten sich die Beteiligten hierbei? Ein Teil der Verfahren hatte lediglich Formfragen zum Gegenstand, die wenig Diskussionsspielraum ließen. Hier drehte es sich vor allem darum, ob der Rentenbewerber den erforderlichen Zugangskriterien genügte, d. h. ob überhaupt Versicherungspflicht vorlag, ob die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft gewahrt waren. Diese Fälle dürften vor 1900 über 50 Prozent aller Ablehnungen ausgemacht haben, ihr Anteil an den Ablehnungen ging aber bis 1913 auf ca. 20 Prozent zurück. Soweit das Verfahren in seine eigentliche Funktion als Aushandlungsprozeß eintrat, war zu erörtern, ob der Rentenbewerber erwerbsunfähig war. Die Definition von Erwerbsunfähigkeit mit ihren weitreichenden sozialen und medizinischen Implikationen, die Gegenstand zahlreicher Revisionsentscheidungen des RVA war, bildete den Hintergrund für die Argumentationen aller am Verfahren Beteiligten. Um die Frage der ErwerbsunHihigkeit im Sinne des Gesetzes zu klären, war ein Doppelschritt erforderlich. Zuerst mußte die sog. "Verdienst-" oder "Verweisungsgrenze" bestimmt werden, d. h. der Betrag, den der Rentenbewerber noch maximal verdienen können durfte, wenn er als erwerbsunfähig gelten wollte. Erheblich komplizierter gestaltete sich dagegen der zweite Schritt. Hier war zu bestimmen, welche Tatigkeiten der Rentenbewerber mit seinen Leiden noch ausüben und welches Einkommen er dabei erzielen konnte. Das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz (lAVG) definierte Erwerbsunfähigkeit wie folgt (§ 9 Abs. 3): ,,Erwerbsunfähigkeit ist dann anzunehmen, wenn der Versicherte in Folge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr im Stande ist, durch eine seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechende Lohnarbeit mindestens einen Betrag zu verdienen, welcher gleichkommt der Summe eines Sechstels des Durchschnitts der Lohnsätze (§ 23), nach welchen für ihn während der letzten 5 Jahre Beiträge entrichtet worden sind, und eines Sechstels des dreihundertfachen Betrages, des nach § 8 des Krankenversicherungsgesetzes [ ... ] festgesetzten Tageslohns gewöhnlicher Tagearbeiter des letzten Beschäftigungsortes, in welchem er nicht lediglich vorübergehend beschäftigt gewesen ist."

Die Verdienstgrenze war nach dieser Definition aus der Addition des Sechstels zweier Werte zu errechnen und entsprach damit entgegen einem auch in der neueren Sekundärliteratur noch verbieiteten lrrtum 15 ungefahr einem Drittel des Einkommens eines Normalarbeiters. Bei der Berechnung der Verdienstgrenze fanden 15 Klaus Rother, Die Reichsversicherungsordnung. Das Ringen um die letzte große Arbeiterversicherungsgesetzgebung des Kaiserreichs unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Sozialdemokratie, phil. Diss. Düsseldorf 1994, S. 31. Nipperdey, Arbeitswelt, S. 351.

9"

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individuelle wie allgemeine Gesichtspunkte Berücksichtigung. Die Festlegung der ersten Hälfte orientierte sich ganz an der individuellen Situation des Rentenbewerbers. Aus den letzten 235 verwendeten Beitragsmarken - das entsprach fünf Beitragsjahren - wurde ein an den vorgegebenen Lohnsätzen der jeweiligen Lohnklasse orientierter Durchschnittswert gebildet 16 . Je höher demzufolge die Lohnklassen dieser Marken waren, desto mehr durfte der Rentenbewerber auch zum Zeitpunkt der Antragstellung noch verdienen können, ohne als erwerbsfähig zu gelten. Die zweite Hälfte des Verdienstlimits bezog sich auf die allgemeinen Verdienstmöglichkeiten ungelernter Arbeiter vor Ort, berücksichtigte aber insofern die individuelle Lage des Rentenbewerbers, als der Tagelohn des letzten Hauptarbeitsorts zugrunde gelegt werden mußte l7 . Das Invalidenversicherungsgesetz (lVG) schaffte die als zu starr empfundene Berechnung der Verdienstgrenze nach Individualverdienst und ortsüblichem Tagelohn ab und bestimmte, daß Versicherte dann als erwerbsunfähig zu gelten hatten, wenn sie "nicht mehr im Stande sind, durch eine ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechende Thätigkeit, die ihnen unter billiger Berücksichtigung ihrer Ausbildung und ihres bisherigen Berufes zugemuthet werden kann, ein Drittel desjenigen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen." (§ 5 Abs. 4IVG).

Als Bezugsgröße diente nunmehr also der gesunde Normalarbeiter des Berufsfelds, in dem der Rentenbewerber zuletzt mit im wesentlichen ungeschwächter Arbeitskraft gearbeitet hatte. Es wurde das gesamte Arbeitsleben des Versicherten in Betracht gezogen, was zumeist zu seinen Gunsten gewirkt haben dürfte, da Arbeiter im fortgeschrittenen Alter vielfach in schlecht bezahlte Tätigkeiten absanken. Der Verweis auf das gesamte Erwerbsleben erlaubte es ehemals besser gestellten Arbeitern, eine Rente auch dann zu erhalten, wenn sie noch über einen zum Teil beträchtlichen Rest von Arbeitskraft verfügten 18. 16 Die Lohnklassen waren Einkommensklammem, die bestimmten, welche Beitragssätze der Versicherte zu entrichten hatte. Die Lohnsätze der Lohnklassen lauteten bis 1899 wie folgt: Lohnklasse I bis 350 M, Lohnklasse II 350 bis 550 M, Lohnklasse III 550 bis 850 M und Lohnklasse IV über 850 M. Ab 19DO bestand eine Lohnklasse V für Jahreseinkommen von über 1 150 M. 17 Vgl. veranschaulichend das bei Bosse / v. Woedtke, Reichsgesetz, S. 235 f., geschilderte Beispiel. 18 Hatte z. B. ein Arbeiter überwiegend in der hochgelohnten Metallverarbeitung gearbeitet und dort einen Jahreslohn von 1 DOO M erzielt, so wurde dieser Betrag als Bezugsgröße gesetzt. Gemäß der in § 5 Abs. 4 festgelegten Zwei-Drittel-Invalidität durfte dieser Mann also noch maximal 333 M verdienen können, um für die Rente in Frage zu kommen. Unerheblich für die Festlegung der Verdienstgrenze war dagegen das Einkommen, das dieser Arbeiter erzielte, nachdem er in fortgeschrittenem Alter aus der Metallverarbeitung ausgeschieden war. Hätte er z. B. noch als Pförtner gearbeitet und dabei nur 3DO M im Jahr verdient, wäre seine Verdienstgrenze nicht auf I DO M festgesetzt worden. Diese Tätigkeit hätte auch der Rentenbewilligung nicht im Wege gestanden, es sei denn, die LVA wäre zu der Erkenntnis gekom-

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Die Ermittlung der Verdienstgrenze bildete jedoch lediglich den ersten Schritt bei der Prüfung der Frage, ob ein Rentenbewerber erwerbsunfähig im Sinne des Gesetzes war. Ungleich schwerer fiel es, präzise zu bestimmen, welche Arbeiten der Rentenbewerber noch verrichten und welchen Verdienst er dabei erzielen konnte. Dieser Vorgang, der eigentliche Kern der Entscheidungsfindung im Invalidenrentenverfahren, ist durch ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen ärztlichem Gutachten und dem arbeitsweltlichen Laienwissen der Verwaltungsbeamten vor Ort bzw. bei den LVAen gekennzeichnet 19 • Es liegt auf der Hand, daß eine Entscheidungsfindung ohne ärztliche Gutachten ausgeschlossen war. Damit ist jedoch nur wenig über die Tragweite der Gutachten ausgesagt. Da bis 1900 seitens der Berliner Zentralinstanzen, RVA und Reichsamt des Innern, keinerlei Richtlinien zum Stellenwert des ärztlichen Gutachtens im Invalidenrentenverfahren ausgegeben wurden, bürgerte sich bei den chronisch überlasteten unteren Verwaltungsbehörden und LVAen die Praxis ein, die Gutachten de facto über den Rentenantrag entscheiden zu lassen. Sofern der Rentenbewerber mit seinem Antrag ein ärztliches Gutachten vorlegte, das ihm das Vorliegen der Invalidität im Sinne des Gesetzes bescheinigte, wurde die Rente in aller Regel anstandslos befürwortet bzw. bewilligt, auch wenn sich das Gutachten inhaltlich auf eine knappe Aufzählung von Krankheitserscheinungen beschränkte2o . Als die Berliner Zentralinstanzen ab 1900 erstmals regulierend in die Rentenverfahren eingriffen, wurde deutlich, daß diesen ein vollkommen anderer Stellenwert der ärztlichen Gutachten vorschwebte. So betonte der Staatssekretär des Innern, Posadowsky, anläßlich der Lesung einer Novelle zum Unfallversicherungsgesetz im Jahr 1900, daß sich die Tätigkeit des Arztes in der Sozialversicherung auf die genaue Beschreibung der vorhandenen Leiden und ihrer Auswirkungen auf die Gebrauchsfähigkeit der einzelnen Körperteile und Organe zu beschränken habe. Am 31. Dezember 1901 erließ das RVA ein diesbezügliches Rundschreiben an alle LVAen 21 . Hier hieß es: "Die Aufgabe der ärztlichen Begutachtung findet im Allgemeinen in der Feststellung der physiologischen Folgen [ ... ] der eine Invalidität begründenden Gebrechen ihre Grenzen." Dem Arzt wurde damit eine Rolle als men, daß der Betreffende in einem anderen zumutbaren Beruf mehr als 333 M im Jahr verdienen konnte. Die Fortsetzung der Arbeit als Pförtner wäre bei Bezug der Rente ebenfalls statthaft gewesen. 19 Dietrich Milles, Die Physiologie als Grundlage ärztlicher Gutachten bei der Etablierung der deutschen Sozialversicherung, in: Philipp Sarasin/ Jakob Tanner (Hrsg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1998, S. 369-397. 20 So genügte z. B. 1897 einer 26jährigen Frau ein Gutachten, dessen objektiver Befund sich auf die Feststellung "Eiweiß im Urin. Sieht sehr krank aus" beschränkte, zur Rentenbewilligung. Doepner, Ein Fall von Simulation eines Nierenleidens, in: Zeitschrift für Medizinalbeamte 21 (1908), S. 864-867. 21 Steno Berichte Reichstag, 1898/00, Bd. 6, 8. 5.1900, S. 5339f.; ebenda 1900/02, Bd. 2, S. 1846f.; Rundschreiben des RVA vom 31. 12. 1901, in: Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes [im folgenden "AN"] 1902, S. 178 f.

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"sachverständiger Gehilfe,,22 der Behörde zugewiesen. Die eigentliche Entscheidungsfindung lag jedoch in den Händen des zuständigen Verwaltungsbeamten vor Ort bzw. bei der LVA. Dieser hatte zunächst wie erwähnt die Verdienstgrenze zu bestimmen und sodann anhand der präzisen physiologischen Angaben des Gutachtens zu prüfen, welche konkreten Arbeiten der Rentenbewerber mit seinen Gebrechen noch ausführen konnte. Er mußte daher über ein ausgedehntes Wissen bezüglich der Anforderungen, die die verschiedensten Tätigkeiten an den Körper stellten, verfügen und gleichzeitig eine solide Kenntnis des regionalen Arbeitsmarktes haben, da nach der Rechtsprechung des RVA dem Rentenbewerber nicht jede ihm völlig fremde versicherungspflichtige Arbeit zugemutet werden durfte. So war der Verweis auf Arbeiten, die die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Rentenbewerbers deutlich überstiegen, ebenso unstatthaft wie der auf Arbeitsgelegenheiten, die einen Umzug über größere Entfernungen hinweg nach sich gezogen haben würden. Außerdem mußten sich die Tätigkeiten in einem "nicht ganz unerheblichen Maße,,23 bieten, der Verweis auf praktisch ausgestorbene oder für den Rentenbewerber aufgrund der spezifischen Form seiner Erwerbsminderung nicht zugängliche Arbeiten war nicht zulässig24 . Wurde nachgewiesen, daß der Rentenbewerber aufgrund seiner spezifischen Erwerbsminderung faktisch keine Chance mehr hatte, eine Arbeit zu finden, so mußte die Rente auch bewilligt werden, wenn eindeutig keine Erwerbsminderung von 66 Prozent oder mehr vorlag. Dies betraf vorwiegend in den Großstädten ansässige ältere Arbeiter, die bei einsetzenden Rezessionen als erste entlassen wurden und dann auf dem überfüllten Arbeitsmarkt keine Aussichten auf Anstellung hatten. Die LVAen Berlin und Schlesien bewilligten solchen Versicherten in aller Regel die Rente, eine Praxis, die seitens der Berliner Zentralinstanzen nicht beanstandet wurde 25 . Der Versuch der Berliner Zentralinstanzen, den hier skizzierten Entscheidungsfindungsprozeß gegenüber der verbreiteten Entscheidung anhand des ärztlichen Gutachtens durchzusetzen, scheiterte am gemeinsamen Widerstand der LVAen und der Ärzte 26 . Zwar erfolgte zwischen 1901 und 1910 eine beträchtliche Straffung des Rentenverfahrens - so wurden standardisierte Formulare eingeführt, die ein ausführliches Gutachten im Sinne des RVA garantierten, und die Nachbegutachtung durch Vertrauensärzte der LVAen stark ausgedehnt -, doch blieb das ärztliche Gutachten letztlich das Schlüsseldokument des Rentenverfahrens. Bis in die 1930er Jahre hinein weisen immer wieder Urteile der Rechtsprechungsinstanzen GSTA Berlin HA I Rep. 77 tit. 923 Nr. 8 - Beiakten 6 - Bd. 1, BI. 114. Revisionsentscheidung 1311, 17. 12. 1906, in: AN 1907, S. 465 f. 24 Wer ist dauernd erwerbsunfahig im Sinne des Invalidenversicherungsgesetzes?, in: Monatsblätterfür Arbeiterversicherung 1 (1907), S. 8- 10. 25 V. Köbke, Zur Auslegung des § 5 Abs. 4 I.V.G, in: AV 21 (1904), S. 9-11. Hans Seelmann, Zum Begriff "Invalidität", in: Reformblatt für Arbeiterversicherung 2 (1906), S. 344346. Geschäftsbericht des Vorstandes der Landes-Versicherungsanstalt Schlesien, 1905, S. 3 f. VerwaItungsbericht der Landes-Versicherungsanstalt Berlin, 1906, S. 20; 1908, S. 13 f., 21 f. 26 Lars Kaschke, Kommission für Rentenquetsche? 22 23

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darauf hin, daß die Entscheidung über das Vorliegen von Invalidität eigentlich nicht von den ärztlichen Gutachten, sondern von der Frage der gesellschaftlichen Verwertbarkeit der dem Rentenbewerber verbliebenen Erwerbsfähigkeit abhänge, nur um zu konstatieren, daß dies de facto kaum noch geschehe 27 • Angesichts der hochkomplexen Materie, die auch dem versiertesten Verwaltungsbeamten immer noch ein Gutteil individuelles Einschätzung- und Entscheidungsvermögen abverlangte, ist der Hang der Verwaltung, sich dem Urteil des ärztlichen Gutachtens anzuschließen, nur zu verständlich. Dies bedeutete nicht nur eine erhebliche Arbeitserleichterung, sondern auch eine deutliche Reduzierung der persönlichen Verantwortung der beteiligten Verwaltungsbeamten. Wenn demzufolge der schwierige Gegenstand des Rentenverfahrens von Anfang an dessen Aushandlungscharakter entgegenwirkte, so blieb doch im Kaiserreich die zumindest in allen zweifelhaften Fällen abzuhaltende mündliche Verhandlung als Gegengewicht bestehen. Mit dem Wegfall der mündlichen Verhandlung im Rahmen einer in der Inflationszeit vorgenommenen Vereinfachung der Verfahren 28 wurde dann in der Weimarer Republik die Reduktion des Verfahrens zu einem wechselseitigen Austausch von Gutachten immer höherer Kapazitäten eingeleitet, die im Dritten Reich zu ihrem Abschluß gelangte. Für den Rentenbewerber im Kaiserreich bildete dementsprechend die richtige Auswahl ärztlicher Gutachter und die angemessene Darstellung der eigenen Leiden ihnen gegenüber eine der einfachsten und zugleich erfolgversprechendsten Handlungschancen. Das Wissen um geeignete Mediziner verbreitete sich nicht selten in großem Umkreis, zahlreiche Rentenbewerber scheuten weder Kosten noch Mühen, um in den Besitz eines günstigen Attests zu gelangen. So verzeichneten die stets zuverlässig auf "invalide" gutachtenden Ärzte Schrney und Riesenfeld aus Beuthen / Oberschlesien um 1904 "einen ganz enormen Zulauf' an Rentenbewerbern. Interessenten kamen bis aus den entferntesten Teilen der benachbarten Provinz Posen und waren bereit, die für damaligen Verhältnisse hohen Gebühren von 10 bis 20 M pro Gutachten zu bezahlen29 . Die sich den Rentenbewerbern über die ärztlichen Gutachten bietende Möglichkeit, ihre Handlungschancen gleichermaßen effektiv und erfolgreich einzusetzen, ist als ein wesentliches Ergebnis der ungewöhnlich günstigen Rahmenkonstellation anzusprechen, in der sich die Invalidenversicherung entfalten konnte. Die über Erwarten positive Entwicklung der Finanzen verschaffte den LVAen bei der Durchführung der gesetzlichen Bestimmungen einen weitgesteckten Gestaltungsspielraum, der sich vor allem in einer vom RVA ausdrücklich befürworteten liberalen 27 Landesversicherungsamt Saarlouis, 22. 10. 1934: Zur Auslegung des Begriffs der Invalidität, in: AV 52 (1935), S. 227. RVA, 17. 1. 1935: Invalidität und Lohndritte1, in: AV 53 (1936), S. 54f. (Beilage). 28 Geschäftsbericht der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte für das Jahr 1924, S.7. 29 BArch R 1501 Nr. 258, BI. 165.

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Bewilligungspraxis niederschlug. Damit verfügte die "Institution Invalidenversicherung" bei der als problematisch eingeschätzten Etablierung einer positiven Beziehung zu ihrer Zie1gruppe3o über eine ungleich günstigere Ausgangslage als die Unfallversicherung, in der die Arbeitgeber die Berufsgenossenschaften von Anfang an auf eine möglichst sparsame Bewilligungspraxis verpflichteten. Das Zustandekommen der Freiräume der LVAen ist letztlich auf den für die Invalidenversicherung gewählten Finanzierungsmodus zurückzuführen. Nach kontroversen Erörterungen hatte sich der Gesetzgeber entschieden, die Invalidenversicherung durch ein Kapitaldeckungsverfahren nach Perioden zu finanzieren. Die nach diesem Konzept aufgestellten versicherungsmathematischen Kalkulationen hatten zu gewährleisten, daß die in einer bestimmten Periode anfallenden Renten - nicht aber die in dieser Zeit entstehenden Anwartschaften - gedeckt waren 3 !. Um jegliche Gefahr einer Insolvenz der Invalidenversicherung zu bannen, hatte der Gesetzgeber 1889 die auf der Basis von "worst-case"-Szenarien errechneten Deckungssummen noch mit erheblichen Sicherheitszuschlägen versehen. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zeigte sich bald, daß dauerhaft erhebliche Überschüsse entstehen würden, zumal die Rentenzahlen während der gesamten Ge1tungsdauer des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes (1891 - 99) weit hinter den Erwartungen des Gesetzgebers zurückblieben. Zwar stiegen nach 1892 die Anerkennungsquotienten stark an und lagen ab 1897 außer in Berlin und den fünf ostelbischen LVAen fast überall über 80 Prozent doch in absoluten Zahlen wurden die Werte, mit denen man gerechnet hatte, deutlich unterschritten. Der Gesetzgeber war davon ausgegangen, daß von Anfang an jährlich ca. 115000 Invalidenrenten bei steigender Tendenz zu bewilligen wären, von denen elf Prozent im ersten auf die Bewilligung folgenden Jahr wieder in Wegfall kommen würden 32 . Tatsächlich wurden 1892 knapp 16 000 Renten und 1899 erst 89 140 Renten bewilligt. Der jährliche Wegfall gemessen an den im selben Jahr neubewilligten Renten überschritt schon 1893 die Marke von 20 Prozent und kletterte bis 1899 auf 39 Prozent. Insgesamt fiel von 1892 bis 1899 ziemlich genau ein Drittel aller bewilligten Renten wieder weg. Schon im Etatansatz für 1892 korrigierte das Reichsamt des Innern die Zahl der erwarteten Renten auf 67 000 steil nach unten 33 , die mathematische Denkschrift zu der 1897 gescheiterten ersten Novelle zum Invaliditäts- und 30 Bericht über die Verhandlungen der XlV. General-Versammlung der Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer zu Berlin am 25. Februar 1889, hier TOP 3: Die Stellung der Landwirthschaft zur Alters- und Invaliditäts-Versicherung, Berlin 1889, S. 83 - 124, hier 106. 31 Monika Sniegs, Statistik als Steuerungsinstrument in der historischen Entwicklung der Invaliditäts- und Altersversicherung 1889 - 1911. Diss. rer. pol. Bremen 1998, S. 105 - 107. 32 Denkschrift über die Höhe der finanziellen Belastung, weIche durch den Gesetzentwurf, betreffend die Alters- und Invalidenversicherung, voraussichtlich hervorgerufen werden wird. In: Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, 1. Anlagenbd., Nr. 10, S. 124. 33 Drucksachen zu den Verhandlungen des Bundesraths des Deutschen Reichs, 1892, Nr. 123: Entwurf eines Gesetzes betreffend die Feststellung des Reichshaushalts-Etats für das Etatsjahr 1893/94, Abt. IV, Reichsamt des Innem, S. 10- 11.

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Altersversicherungsgesetz bilanzierte einen Vennögensbestand, der 33 Prozent über den Erwartungswerten lag 34 • Die günstige Entwicklung der Finanzen der Invalidenversicherung veranlaßte das RVA, die LVAen zu ennuntem, bei der Rentenbewilligung großzügig zu verfahren 35 . Gleichzeitig verzichtete man darauf, die Rentenverfahren näher zu regulieren. Soweit bei den routinemäßigen Prüfungen der Geschäftsführung der LVAen überhaupt Rentenakten durchgesehen wurden, achtete das RVA eher darauf, ob die Rente zu Unrecht vorenthalten worden war, als darauf, ob Renten zu Unrecht bewilligt worden waren 36 . Damit stellte das RVA den LVAen quasi einen Blankoscheck hinsichtlich der Gestaltung der Verfahren aus, den diese angesichts ihrer erheblichen Arbeitsbelastung wie erwähnt nur zu gerne nutzten, um hier möglichst einfache Abläufe zu installieren. Das Auftreten der unteren Verwaltungsbehörden und der LVAen im Verfahren wurde von den Rentenbewerbern überwiegend als unproblematisch empfunden. Wie die Berichte der Arbeitersekretariate dokumentieren, gab es seitens der Arbeiter so gut wie keine Beschwerden über die LVAen, während die Klagen über die Berufsgenossenschaften nicht abrissen 37 . Die Arbeit der LVAen Württemberg und Thüringen dokumentiert, daß selbst abgelehnte Anträge nicht zur Verbitterung des Antragstellers führen mußten. Beide Versicherungsanstalten legten von Anfang an Wert darauf, in allen die Versicherten betreffenden Vorgängen von einiger Bedeu34 Beginn und Wegfall der in den Jahren 1891 bis 1899 festgesetzten Invaliden- und Altersrenten, in: Die Invaliditäts- und Alters-Versicherung im Deutschen Reiche 11 (1900 / 01), S. 65-67. Denkschrift betreffend die finanzielle Entwickelung der Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalten und der zugelassenen besonderen Kasseneinrichtungen, in: Steno Berichte Reichstag 1895/97,6. Anlageband, Nr. 696, S. 3557. 3S SO der Leiter des Reichsamts des Innem, Graf Posadowsky, in einer das erste Jahrzehnt Invalidenversicherung zusammenfassenden Rede im Reichstag am 13. 2. 1899. Wie aus einern Schreiben an die LVA Mecklenburg vorn 20.3. 1907 hervorgeht, ermunterte das RVA die LVAen in den 1890er Jahren wiederholt zu einer "wohiwollende[nJ Behandlung der Rentenansprüche". Gleiches berichtete der Vorsitzende der LVA Ostpreußen auf einer Konferenz der LVAen 1896, als er festhielt, daß angesichts der negativen Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Gesetz die Rentenbewilligung von der LVA unter ausdrücklicher Billigung durch das Reichsamt des Innern mit "großer Liberalität" gehandhabt wurde. Ein offizielles Dokument des Reichsamts des Innern oder RVA, in dem eine liberale Bewilligungspraxis empfohlen wird, war bislang jedoch nicht auffindbar. Wahrscheinlich erfolgte der entsprechende Austausch anläßlich der Geschäftsprüfungen durch das RVA, deren Akten nur in Bruchstücken erhalten sind. Steno Berichte Reichstag 1898/1900, Bd. 1, 13. 2. 1899, S. 816. Geschäftsbericht des Vorstandes der Landes-Versicherungsanstalt Mecklenburg, 1906, S. 4f. Staatsarchiv Bremen 2 - M.6.e.7.d. Bd. 3 (1895-97): Konferenz der VorstandsMitglieder der deutschen Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalten, S. 20. 36 BArch R 1501 Nr. 249, BI. 246. 37 Richard Soudek, Die deutschen Arbeitersekretariate, Leipzig 1902, S. 53, 56; Karl Böhmer, Die Arbeitersekretariate Bayerns mit besonderer Berücksichtigung des Nürnberger, Diss. phil. Erlangen 1914, S. 70, 74, 79. Die Zahl der Belegstellen ließe sich anhand der Berichte verschiedener Sekretariate sowie weiterer zeitgenössischer Sekundärliteratur weiter vermehren.

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tung einen direkten Kontakt herzustellen. So wurde in Thüringen jeder zweifelhafte Antrag persönlich vor Ort mit dem Rentenbewerber durchgesprochen, was in den meisten Fällen zur Anerkennung der Rente führte. Ansonsten konnte den Rentenbewerbern häufig vermittelt werden, weswegen ihr Antrag aussichtslos war, so daß sie ihn zurückzogen. Wenn eine Rente entzogen werden sollte, erging ein Anschreiben, das dem Betroffenen genau auseinandersetzte, weswegen er nicht mehr als erwerbsunfähig gelten konnte und ausdrücklich darauf hinwies, daß er bei einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes wieder Rente erhalten könne, die dann wegen der Anrechnung der Rentenbezugszeit sogar höher sein werde als seine derzeitige Rente. Gleichzeitig wurde der Betroffene ausdrücklich aufgefordert, eventuelle Gegenargumente vorzubringen, aufgrund derer die LVA nicht selten die Rente beließ. Soweit doch zur Entziehung geschritten werden mußte, hatte das auf den Dialog mit dem Rentenempfänger abzielende Vorgehen der LVA den Erfolg, daß über 60 Prozent der für eine Entziehung vorgesehenen Rentenempfänger freiwillig auf die Rente verzichteten. Bei anstehenden mündlichen Verhandlungen wurde den betroffenen Rentenbewerbern zuvor schriftlich mitgeteilt, welche Bedenken gegen ihren Anspruch bestanden, um ihnen Zeit zu geben, Beweismittel für ihre Sicht der Dinge zusammenzustellen38 • Diese Vorgehensweise war geeignet, einen grundsätzlichen Nachteil, den der Laie in einer mündlichen Verhandlung gegenüber den regelmäßigen Teilnehmern hat, zum Teil auszugleichen. Laien sind in mündlichen Verfahren apriori benachteiligt, da ihr lückenhaftes Wissen über den institutionellen Rahmen und den normalen Ablauf der Verhandlung ihre Fähigkeit, sich ganz auf den eigentlichen Entscheidungsvorgang zu konzentrieren, erheblich beeinträchtigt39 . Diesen auf den Rentenbewerbern lastenden Druck federte die LVA Thüringen ab und ermöglichte damit den Rentenbewerbern in der Verhandlung eine gesteigerte Eingangssicherheit. Damit demonstrierte die LVA, daß es innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen möglich war, eine moderne, adressatenbezogene Verwaltungspraxis zu betreiben, die dazu geeignet war, das in der Invalidenversicherung angelegte sozialintegrative Potential zur Entfaltung zu bringen. Auch die LVA Württemberg entwickelte eine versichertenfreundliche und effiziente Verwaltungspraxis. Im Umgang mit den Antragstellern vertrat man den Grundsatz, daß diese generell als krank bis schwerkrank anzusehen und daher rücksichtsvoll zu behandeln seien 4o . Die Entscheidung über die Erwerbsunfähigkeit orientierte sich mehr an konkreten Gegebenheiten als an theoretischen Setzungen. So galt als invalide, wer in seinem Berufsfeld erwerbsunfähig war. Antragsteller, deren Erwerbsfähigkeit strenggenommen noch über 33 Prozent lag, erhielten die Rente, wenn angenommen wurde, daß sie faktisch keine Chance mehr hatten, 38 Verwaltungsbericht des Vorstandes der Thüringischen Landesversicherungsanstalt 1896, S. 5; 1910, S. 17f.; 1911, S. 18; 1913, S. 20f., 25f., 29, 32f. 39 Luhmann, Legitimation, S. 45 -49. 40 Wilhelm Bazille, Die Begutachtung der Ansprüche auf Invalidenrente durch die unteren Verwaltungsbehörden, in: AV 19 (1902), S. 685f.

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eine Beschäftigung zu finden 41. Als die LVA Württemberg ab 1910 zu einer systematischen Nachkontrolle der jüngeren Rentenempfänger überging, behielt sie ihre von Effizienz und Rücksichtnahme auf die Versicherten geprägte Linie bei. Die Entscheidung, alle über 60 Jahre alten Rentenempfänger, d. h. ca. 70 Prozent aller Rentner, von der Nachkontrolle auszunehmen, entsprang sowohl der Erwägung, daß ältere Rentenempfänger nach einer Rentenentziehung binnen kurzem doch wieder invalide würden, als auch der Überzeugung, daß diese Personen sich kaum wieder Arbeit beschaffen könnten, die Rentenentziehung somit einen existenzbedrohenden Schlag bedeutete42 . Der Rücksichtnahme im Vorfeld entsprach auch das Vorgehen bei den Nachuntersuchungen. Die LVA Württemberg operierte nach der Maxime, daß schroffes Vorgehen grundsätzlich zu vermeiden sei. So wählte man bei den Nachuntersuchungen vor Ort die Untersuchungslokale und -zeiten so, daß alle vorgeladenen Rentenempfänger bequem erscheinen konnten. Bei den Nachuntersuchungen gab man ihnen ausgiebig Gelegenheit, ihren Standpunkt zu vertreten, und legte den von Entziehungen Betroffenen ausführlich dar, weswegen die Voraussetzungen für den Bezug der Rente nicht mehr gegeben waren43 • Ähnlich verfuhr man bei der Nachkontrolle per Anfrage, deren Resultate zeigen, daß Nachkontrollen und Rentenentziehungen bei einem entsprechenden Vorgehen der LVA in weitreichendem Einvernehmen mit den Betroffenen durchgeführt werden konnten. So erreichte es der für die Nachkontrolle per Anfrage 1911 eigens eingestellte Beamte 1912, daß 500 Rentenempfänger, d. h. 99 Prozent der Betroffenen, freiwillig verzichteten, hiervon zogen nur 19 ihren Verzicht später zurück44 . Das Beispiel der LVAen Thüringen und Württemberg illustriert, wie LVAen ihre Gestaltungsspielräume nutzten, um eine versichertenfreundliche Verwaltungspraxis aufzubauen. Sie wurde auch in der Zeit von 1900 bis zum Kriegsausbruch, die unter dem Zeichen einer von den Berliner Zentralinstanzen ausgehenden merklichen Straffung der Verwaltungspraxis der LVAen und insbesondere der Rentenverfahren stand, aufrechterhalten. Wo die institutionell angelegten Handlungschancen im Verfahren von den rechtsanwendenden Verwaltungsbeamten auch zur Entfaltung gebracht wurden, gewann die "Institution Invalidenversicherung" bei den Versicherten in der Regel Akzeptanz und Legitimation. Dies zeigt sich nicht zuletzt im Abebben der anfänglich massiven Unmutsäußerungen über die Invaliditäts- und Altersversicherung45 . 41 Ders., Die Rentenbescheide der Versicherungsanstalten, in: AV 20 (1903), S. 102f.; Gustav Hochstetter, Warum ist das Invalidenversicherungs-Gesetz unbeliebt? Ein Beitrag zur Ehrenrettung des Gesetzes, Stuttgart 1897, S. 8. 42 BArch R 39.01 Nr. 3034, Schreiben der LVA an das Landesversicherungsamt Württemberg, 5.3. 1912. 43 Geschäfts-Bericht des Vorstands der Versicherungsanstalt Württemberg, 1911, S. 24f.; 1912, S. 43. 44 Ebenda, 1912, S. 44. 45 Diese beruhten wesentlich auf der zunächst weitverbreiteten irrtümlichen Ansicht, Leistungen des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes könnten generell erst mit 70

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Es gab jedoch auch Regionen des Reichs, in denen die Rentenverfahren eine andere Entwicklung nahmen. Dies betraf Elsaß-Lothringen und insbesondere die östlichen preußischen Provinzen, wo sich die LVAen und die unteren Verwaltungsbehörden durch eine ausgeprägte Schroffheit gegenüber dem Publikum und insbesondere den Angehörigen der slawischen Minderheiten sowie eine besondere Strenge in der Entscheidung über die Rentenanträge auszeichneten. Die Rentenzahlen beleuchten die gravierenden Unterschiede in der Verwaltungspraxis schlaglichtartig: 1899 wiesen die Provinzen Ostpreußen (70 Prozent), Pommern (66 Prozent), Posen (59 Prozent), Schlesien (70 Prozent) und Westpreußen (75 Prozent) die fünf niedrigsten Anerkennungsquotienten im ganzen Reich auf. Während diese LVAen nur gut 20 Prozent aller Versicherten umfaßten und zwischen 30 und 37 Prozent aller Rentenanträge verzeichneten, vereinten sie 1899 knapp 60 Prozent aller im Reich ausgesprochenen Ablehnungen auf sich. Dem sog. "slavischen Element" wurde seitens der Behörden eine körperliche und moralische Inferiorität attestiert - so neigten die Slawen nach Ansicht der LVA Schlesien in ungleich stärkerem Maße zu "Hysterie und Neurasthenie, Übertreibung und Schlaffheit als das germanische Volkse1ement,,46. Dies hatte nach Ansicht der unteren Verwaltungsbehörden zu einer allgemeinen Rentensucht geführt. Behörden und LVAen waren nach eigener Ansicht nachgerade dazu verpflichtet, sich dieser Springflut unberechtigter und in betrügerischer Absicht gestellter Rentenanträge entgegenzustemmen47 . Ein näheres Eingehen auf die Argumente der Rentenbewerber erübrigte sich hierbei. Ein Schlaglicht auf die Art der Bearbeitung der Rentenanträge im Osten und damit zugleich auf die Travestie, die der Aushandlungsprozeß hier erfuhr, wirft der Bericht des RVA über die Arbeit der Rentenstelle Beuthen in Oberschlesien. Rentenstellen - de facto lokale Abteilungen der LVAen - konnten seit 1900 auf Initiative von LVAen eingerichtet werden und sollten neben der Pflege intensiver direkter Kontakte zu den Versicherten einer besonders gründlichen Vorbereitung der Rentenanträge dienen. Diesen Vorgaben entsprach die Arbeit der Rentenstelle Beuthen in keinster Weise: Für den fraglichen Termin waren 30 Fälle, überwiegend polnische Rentenbewerberinnen, angesetzt. Das Verfahren wurde im Eiltempo abgespult, der Vorsitzende trat nach den Wahrnehmungen des RVA "außerordentlich kurz und schneiJahren bezogen werden. Verwaltungsbericht des Vorstandes der Versicherungsanstalt für Niederbayem, 1891-1910, 1892, S. 13-16; 1896, S. 15f. Verwaltungsbericht des Vorstandes der Versicherungs-Anstalt für Mittelfranken, 1896, S. 3. Verwaltungsbericht des Vorstandes der Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalt für Unterfranken und Aschaffenburg, 1892, S. 5; 1904, S. 8. Geschäfts-Bericht des Vorstandes der Invaliditäts- und AltersversicherungsAnstalt der Provinz Westpreußen, 1893, S. 5. 46 Geschäftsbericht des Vorstandes der Landes-Versicherungsanstalt Schlesien, 1905, S.21. 47 BArch R 1501 Nr. 100249, BI. 234.

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dig" auf und behandelte die Rentenbewerberinnen "nicht gerade zart". Den Verlauf der Verfahren charakterisierte der Beamte des RVA wie folgt: "Ein Anhören der Klagen der Bewerber, ein Eingehen auf ihre Klagen wurde nicht beliebt [ ... ] Die Erschienenen sprachen fast nur polnisch, der Protokollführer fungierte als Dolmetscher, er machte sich sein Amt recht leicht, da er nur wenig von dem Vorbringen der Bewerber und diesen nur kurz die Gutachten übersetzte. Man hatte das Gefühl, daß die Leute eigentlich nicht recht wußten, was mit ihnen gemacht wurde, jedenfalls konnten sie die Rentenstelle nicht mit dem Gefühl verlassen, daß ihr Anliegen einer ordnungsmäßigen und eingehenden Prüfung unterzogen worden wäre."

Auf seine Art der Verhandlungsführung angesprochen, erwiderte der Vorsitzende der Rentenstelle, ein Beamter der LVA, "daß die Leute eine andere Behandlung nicht gewöhnt seien, daß eine solche aber auch auf die Dauer nicht möglich sei." Der Vertreter des RVA konstatierte nüchtern: "Eine den sozialen Gedanken fördernde Verhandlung war es gewiß nicht!,,48 Dennoch sah das RVA keine Veranlassung zu einer Rüge der verantwortlichen LVA Schlesien, hier zeigt sich die Kehrseite der weitreichenden Gestaltungsspielräume der LVAen. Eine Auswertung der Rentenzahlen unterstreicht, daß es sich bei der "Rentensucht" der Slawen um einen Mythos handelte, der für die Betroffenen fatale Folgen hatte. Soweit entsprechende Daten vorliegen, weisen die Kreise mit einem slawischen Bevölkerungsanteil von über 30 Prozent hinsichtlich der Variablen "Anerkennungsquotient", "Rentenanträge" und "bewilligte Renten" durchgehend Werte auf, die unter dem Anteil der Slawen an Bevölkerung und Versicherten bzw. unter den Durchschnittswerten der LVA lagen. Insgesamt ist zu konstatieren, daß die Akzeptanz der Invalidenversicherung im Osten und insbesondere unter den slawischen Minoritäten durchgehend äußerst gering gewesen sein dürfte. Ab 1901 änderte sich das Klima, in dem die LVAen bislang operiert hatten, grundlegend. Von diesem Jahr an bereiste eine Kommission aus hochrangigen Beamten des Reichsamts des Innern und des RVA die Bezirke von sämtlichen der Aufsicht des RVA unterstellten LVAen. In einer weit über das Maß der routinemäßigen Geschäftsprüfungen hinausgehenden Untersuchung wurde hier die Arbeitsweise von LVAen und unteren Verwaltungsbehörden einer kritischen Revision unterzogen. Den Anlaß für dieses Vorgehen bot der außerordentliche Anstieg der Rentenzahlen zwischen 1899 und 1900. Die Verabschiedung der zum 1. Januar 1900 in Kraft tretenden Novelle zum Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz von 1889 war mit der Erwartung einer mäßigen Rentenprogression verbunden gewesen, doch als im Frühjahr 1901 die Zahlen für das Vorjahr vorgelegt wurden, sahen sich Reichsamt des Innern und RVA mit einem reichsweiten Anstieg von 37 Prozent konfrontiert. Die Bereisung sollte die Ursachen für diese außerordentliche Zunahme feststellen und dem Anstieg, soweit er auf mangelhafter Bearbeitung der Rentenanträge beruhte, entgegenwirken. 48

BArch R 1501 Nr. 100258, BI. 164f.

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Nicht zuletzt infolge der im Rahmen der Bereisung getroffenen Maßnahmen fiel die Zahl der bewilligten Renten zwischen 1904 und 1906 gegenüber dem 1903 erreichten Vorkriegshöchststand von 151 669 auf 111 382 oder um 27 Prozent ab. Diese Entwicklung ging mit einem steilen Anstieg der Rentenentziehungen von ca. 2 800 auf ca. 8 000 einher. Die Monita der Bereisungskommission konzentrierten sich auf das Vorbereitungsverfahren, d. h. die Arbeit der unteren Verwaltungsbehörden und die ärztlichen Gutachten. Kritisiert wurde die enge Orientierung am Urteil der ärztlichen Gutachten, die wiederum als oberflächlich und sachunkundig bezeichnet wurden. Die Kommission forderte demgegenüber eine strikte Beachtung des oben beschriebenen Doppelschritts bei der Prüfung der Anträge ein. Die LVAen, die in der Regel von der Kritik weitgehend ausgenommen wurden, hielt die Bereisungskommission dementsprechend dazu an, die von den unteren Verwaltungsbehörden einkommenden Gutachten erheblich genauer zu prüfen und durch regelmäßige Entsendung von Vorstandsmitgliedern zu den mündlichen Verhandlungen eine stetige Kontrolle der Arbeit der unteren Verwaltungsbehörden zu gewährleisten. Bei den bereisten LVAen zog die Umgestaltung des Rentenverfahrens verschiedene Auswirkungen nach sich. Für die Rentenbewerber bedeutete sie eine spürbare Erhöhung der an sie gestellten Anforderungen. Wo zuvor die geschilderten Handlungsstrategien vor allem hinsichtlich der Beschaffung eines ärztlichen Gutachtens ausgereicht hatten, um mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Genuß der Rente zu gelangen, sahen sich die Antragsteller nun mit einer erheblich genaueren Überprüfung der von ihnen eingereichten Unterlagen konfrontiert. Vor allem die Anforderungen an die ärztlichen Gutachten wurden deutlich erhöht. Neue Formulare verlangten eine detaillierte Beschreibung der vorliegenden Leiden, bei unklarem Befund schritten die LVAen immer häufiger zu Nachuntersuchungen, die z.T. in mehrtägigen Beobachtungen im Krankenhaus gipfelten. Trotz dieser Straffung des Rentenverfahrens nahm die Aussicht auf Erfolg im Verfahren kaum ab. Der 1904 einsetzende Rückgang der Zahl der bewilligten Renten beruhte überwiegend auf einem Rückgang der Zahl der gestellten Anträge49 und nur zu einem geringen Teil auf einem Ansteigen der Zahl der abgelehnten Anträge. Mit Ausnahme von vier der fünf östlichen preußischen LVAen - Posen, Schlesien, Ost- und Westpreußen -, deren Anerkennungsquotient zwischen 1904 und 1913 durchgehend unter 65 Prozent lag, sank der Anerkennungsquotient be49 Dieser wiederum sollte nicht einem abschreckenden Effekt der Bereisung zugeschrieben werden als vielmehr der Tatsache, daß der außergewöhnlich hohe Rentenzugang in den Jahren 1900-1903 das Reservoir der potentiellen Rentenempfänger stark dezimiert hatte und es von daher auch ohne die steuernden Eingriffe der Berliner Zentralinstanzen zu einem deutlichen Rückgang der Rentenzahlen kommen mußte. Dieter Schewe/Detlev Zöllner, Die vorzeitige Invalidität in der sozialen Rentenversicherung. Umfang, Entwicklung und Bestimmungsgründe Berlin 1957, S. 33, 35, 40 f.

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reister LVAen nur in Hannover (1906 - 1911) und Berlin (1907 - 1913) für längere Zeit unter 75 Prozent. Bei den acht "westlichen" preußischen LVAen Berlin, Brandenburg, Hannover, Hessen-Nassau, Rheinprovinz, Sachsen-Anhalt, SchleswigHolstein und Westfalen lag der gemeinsame Anerkennungsquotient überhaupt nur in den Jahren 1909-1911 unter 80 Prozent. Vergleicht man den durchschnittlichen Anerkennungsquotienten der 1890er Jahre und der Jahre 1900-1913, so ergibt sich nur in Ostpreußen mit 13 Prozent (von 71,7 auf 58,3 Prozent) und in Schlesien mit fünf Prozent (von 67,5 auf 62,5 Prozent) ein deutlicher Rückgang, während zwölf der 19 bereisten LVAen einen Anstieg zu verzeichnen hatten. Danach ist zu konstatieren, daß sich trotz der Bereisung die Aussicht auf Rentenbewilligung für die Masse der Rentenbewerber verbesserte - ein Zeichen, daß die Antragsteller offensichtlich in der Lage waren, die eigene Argumentation etc. den neuen Ansprüchen anzupassen. Dies dürfte wesentlich damit zusammenhängen, daß der Aushandlungscharakter des Verfahrens intakt blieb und sogar noch ausgeweitet wurde. So war in Preußen ab 1909 bei jedem Rentenantrag eine mündliche Verhandlung durchzuführen5o . Aus verwaltungstechnischer Sicht mag dieser Schritt, der im übrigen schon mit der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab 1912 rückgängig gemacht wurde, eine unnötige zusätzliche Arbeitsbelastung dargestellt haben, da in den meisten Fällen die Rente ohnehin anstandslos bewilligt wurde. Gerade letzteres dürfte aber für die anhaltend hohe Akzeptanz der Invalidenversicherung von erheblicher Bedeutung gewesen sein. Ab 1909 machte die große Mehrzahl der Rentenbewerber in direkter Konfrontation mit der zuständigen Behörde die Erfahrung, daß man sich ihr gegenüber durchsetzen konnte, bzw. der eigene Antrag mit Wohlwollen behandelt wurde. Dies traf jedoch nicht auf die östlichen Provinzen Posen, Schlesien, Ost- und Westpreußen zu, die die Bereisung offensichtlich als Bestätigung in oder Aufforderung zu einer autoritären Verfahrenspraxis mißverstanden, die den Aushandlungscharakter des Rentenverfahrens weitestgehend abwürgte und die Bezeichnung "Rentenquetsche" im Sinne einer einseitigen Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen zu Ungunsten der Rentenbewerber verdient. Die ohnehin im Vergleich sehr niedrigen Anerkennungsquotienten im Osten sanken unmittelbar nach der Bereisung dramatisch ab und bewegten sich etliche Jahre auf niedrigstem Niveau. Westpreußen verzeichnete 1901/02 einen Rückgang des Anerkennungsquotienten von 78 auf 62 Prozent. Schlesien zwischen 1903 und 1905 von 76 auf 52 Prozent, Posen 1907/08 von 54 auf 47 Prozent. Im Reich schwankte der Anerkennungsquotient in dieser Zeit zwischen 76 und 87 Prozent. Welcher Wert dem als Aushandlungsprozeß gestalteten Rentenverfahren vom Gesetzgeber beigemessen wurde, zeigen im übrigen auch die im März 1908 fertig50 Anweisung des königlich preußischen Ministers für Handel und Gewerbe, betreffend das Verfahren vor den unteren Verwaltungsbehörden vom 15. 11. 1908, in: AN 1908, S. 705711.

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gestellten "Grundzüge" zur RVO. Vorgesehen war hier mit den Versicherungsämtern ein gemeinsamer Unterbau für Unfall- und Invalidenversicherung, dem die Abwicklung des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens nach dem Muster der Invalidenversicherung obliegen sollte. Begründet wurde diese weitreichende Umgestaltung der Sozialversicherungsverfahren mit dem Verweis darauf, daß die Rentenbewerber den Versicherungsämtern als unbeteiligter staatlicher Instanz erheblich mehr Vertrauen entgegenbringen würden als den Versicherungsträgern, die im Verfahren Partei waren 51 . Diese Feststellung bezog sich in erster Linie auf die unpopulären Berufsgenossenschaften. Die Einführung der Versicherungsämter in ihrer ursprünglichen Form hätte die Rentenverfahren in der Unfallversicherung ebenfalls zu Aushandlungsprozessen unter Beteiligung von Vertretern der Versicherten und der Leitung einer neutralen Behörde umgestaltet. Dies hätte erheblich dazu beigetragen, die weitverbreitete Unzufriedenheit der Versicherten mit der Unfallversicherung abzubauen. Man kann so weit gehen, zu konstatieren, daß die RVO in ihrer Ausgangsfassung dem großen sozialpolitischen Wurf, als den ihre Schöpfer sie immer ausgaben, tatsächlich nahe kam. Die Versicherungsämter gerieten jedoch umgehend unter massiven Beschuß der Versicherungsträger, die es strikt ablehnten, Kompetenzen abzugeben. Von Vorlage zu Vorlage weiter verwässert, blieben ihnen in der RVO schließlich nur noch geringfügige Befugnisse. Am Verfahren in Unfallrentensachen änderte sich so gut wie nichts. Die Legitimation, die sich die "Institution Invalidenversicherung" in den meisten Regionen des Reichs bei den Versicherten erwarb, beruhte neben den durchgehend sehr guten Aussichten auf Rentenbewilligung vor allem auf dem als Aushandlungsprozeß gestalteten Rentenverfahren und dem überwiegend als korrekt und unparteiisch empfundenen Auftreten der Behördenvertreter im Verfahren. Die Beibehaltung und Ausweitung des Aushandlungscharakters des Rentenverfahrens dürfte als wesentliche Ursache dafür anzusehen sein, daß die Akzeptanz der Invalidenversicherung durch die im Zuge der Bereisung erfolgte Straffung der Rentenverfahren nur geringfügig beeinträchtigt wurde. Eine Ausnahme bildet in jeder Beziehung der Osten, wo Behörden und LVAen den Aushandlungscharakter nicht zur Entfaltung kommen ließen. Insgesamt kann der Invalidenversicherung - die im übrigen bei den Versicherten erheblich besser angesehen war als die Unfallversicherung - im Gegensatz zur bislang gültigen Lehrmeinung ein erheblicher Anteil an der sozialintegrativen Wirkung der Sozialversicherung auf deren Adressaten zugesprochen werden.

51 Grundzüge für die Abänderung der Organisation, des Verfahrens und des Instanzenzuges in Arbeiterversicherungssachen, in: Staatsarchiv Bremen 3 - V.6. Nr. 183/1/.

Kapitaldeckung oder Umlage: Zur Geschichte einer anhaltenden Debattel Von Philip Manow I. Einleitung

Umfragen zeigen, daß das Vertrauen in die Sicherheit von Rentenansprüchen deutlich gesunken ist. So ergab eine 1997 durchgeführte Allensbach-Umfrage, daß nur noch 16 Prozent der Befragten ihre Rente für sicher hielten. Im Vergleich hierzu waren es selbst 1977 - also kurz nach dem aufwühlenden Wahlkampf von 1976, in dem die sog. Rentenlüge eine so prominente Rolle gespielt hatte - noch immerhin über 34 Prozent (1979 dann schon wieder 52 Prozent)2. Nach der neuerlichen, aktuellen parteipolitischen Auseinandersetzung um das Rentenanpassungsverfahren (Nettolöhne versus Preissteigerungsrate) muß damit gerechnet werden, daß das Vertrauen in die Sicherheit der Rente weiter geschwunden ist. Die Vorstellung von der ,sicheren Rente' zielt insbesondere auf die Glaubwürdigkeit von Politikversprechen, die weite Zeiträume umfassen, d. h. auf die langfristige Glaubwürdigkeit politischer Selbstbindungen. Damit steht die Debatte über die Sicherheit der Rente in unübersehbarer Parallele zu Debatten über Wahrungsstabilität. Beidemal geht es um die vor allem institutionellen Voraussetzungen politischer Langfristversprechen. Wenn jedoch in einem Überblicksartikel zur wirtschaftswissenschaftlichen Literatur über die "policy credibility" im Bereich der Geldpolitik3 neben der Bedeutung der institutionellen Dimension die Bedeutung von Theorien 1 Dank für hilfreiche Hinweise an Florian Tennstedt und Ulrike Haerendel. Für hilfreiche Kritik und Kommentierungen bin ich außerdem Philipp Genschel, Martin Geyer, Hans-Willy Hohn und Eric Seils dankbar. Eine frühere Version dieses Papiers wurde in der Kolloquiumsreihe des Instituts für Sozialpolitik der Universität Göttingen und an der Universität Gesamthochschule Kassel, sozialpolitisches Kolloquium, vorgestellt.· Vielen Dank für die Gelegenheit zur Präsentation und für die kritische Diskussion. Sehr hilfreich war Annette Vogel beim Korrekturlesen, dem Erstellen der Grafiken und bei der allgemeinen Fehlerbeseitigung. Herr Mörschel vorn Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) und Herr Genske von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) waren mit Angaben zu der Vermögenslage der Arbeiter- und Angestellenversicherung behilflich. Auch hierfür vielen Dank. 2 Renate Köcher, Vor den Reformen. Die Bevölkerung unterschätzt die Tragweite der geplanten Steuer- und Rentenreform. Eine Dokumentation des Beitrags in der FAZ Nr. 12 vorn 15. Januar 1997, Allensbach 1997. 3 Keith Blackbum/Michael Christensen, Monetary Policy and Policy Credibility: Theories and Evidence, in: Journal ofEconomic Literature 27 (1989), S. 1-45.

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und Überzeugungen über die Wirkungsweise der Geldpolitik für die Effektivität solcher Selbstbindungen der Politik hervorgehoben wird4 , so läßt sich diese Einsicht auch auf die Rentenpolitik übertragen. Für unseren Zusammenhang heißt das, daß die Glaubwürdigkeit langfristiger Versprechen in der Rentenpolitik nicht nur davon abhängt, inwieweit institutionelle Möglichkeiten zur glaubwürdigen politischen Bindung bestehen (beispielsweise parafiskaler Status der Rentenversicherung, Regelgebundenheit von Rentenanpassung und / oder Reservekapitalbildung etc.), sondern daß die politische Glaubwürdigkeit auch von den vorherrschenden Theorien oder Wahrnehmungen über die Wirkungsweisen dieser institutionellen Arrangements bestimmt wird.

In der auf die 1880er Jahre zurückgehenden und bis heute andauernden Debatte über Umlage oder Kapitaldeckung hat sich der ,intellektuelle und politische Konsens' über das richtige Finanzierungsverfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung immer wieder deutlich verschoben. Galt das Umlageverfahren bis in die 1930er Jahre hinein als ein grundsätzlich unseriöses Verfahren der Rentenfinanzierung, so herrschte für die ganz überwiegende Dauer der Nachkriegszeit der Bundesrepublik das gegenteilige Credo: Nun erschien das Umlageverfahren aus "volkswirtschaftlichen, kapitalmarkt- und konjunkturpolitischen", und nicht zuletzt auch aus sozialpolitischen Gründen, als "unbedingt erforderlich"s. Erst seit kürzerem ist die Debatte über ein angemessenes Finanzierungsverfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung erneut voll entbrannt6 • Die letzten rentenpolitischen 4 "Credibility of monetary policy will depend not just upon monetary policy alone but rather upon the perceived coherence of the overall macroeconomic program, together with the intellectual and political consensus on the economic theory being used and the objectives and conduct of economic policy": ebenda, S. 4; Hervorhebungen: P.M. 5 So Bundeswirtschaftsminister Erhard 1957 in der Stellungnahme zum Rentenreformentwurf. Stellungnahme des BMWi, in: Max Richter (Hrsg.), Die Sozialreform. Dokumente und Stellungnahmen. B IV I, Bad Godesberg 1970, S. 5. 6 Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Kapitaldeckung: Kein Wundermittel für die Altersvorsorge. Wochenbericht des DIW 65 (1998), H. 46, S. 833 - 840; Stefan Eitenmüller 1Winfried Hain, Potentielle Effizienzvorteile kontra Übergangskosten. Modellrechnungen zu den Belastungswirkungen bei einem Wechsel des Finanzierungsverfahrens in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Deutsche Rentenversicherung (1998), S. 634-678; dies., Renditen im Umlageverfahren. Anmerkungen zu einem "einfachen Zusammenhang", in: Wirtschaftsdienst 1998/XI, S. 676-683; Hans H. Glismann/Ernst-lürgen Horn, Renditen in der deutschen gesetzlichen Alterssicherung, in: Wirtschaftsdienst 1998/VIII, S. 474482; Hans-lürgen Krupp, Langfristige Perspektiven der Alterssicherung, in: Wirtschaftsdienst 1998/X, S. 582-590; ders., Wie sicher und rentabel kann Alterssicherung sein - Private oder gesetzliche Rentenversicherung, Umlage- oder Kapitaldeckungsverfahren?, in: Sozialer Fortschritt (1998), H. 12, S. 293-303; Reinar Lüdeke, Das "Pay-as-you-use"-Prinzip und die intergenerative Lastverschiebung durch Staatsverschuldung, im veränderten Gewand des "generational accounting", in: Eckhard Knappe/Norbert Berthold (Hrsg.), Ökonomische Theorie der Sozialpolitik. Bernhard Külp zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1998, S. 260-281; Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, Bonn, 19. März 1998; Manfred I.M. Neumann, Ein Einstieg in die Kapitaldeckung der gesetzlichen Renten ist das Gebot der Stunde, in: Wirtschaftsdienst 19981 V, S. 259 - 264; Winfried Schmähl, Kapitalmarktorientierte Reform der gesetz-

Kapitaldeckung oder Umlage

147

Gesetzesinitiativen zeigen dabei, daß mittlerweile wieder eine Mehrheit zumindest eine Teilkapitalisierung der Rentenversicherung für nötig zu halten scheint, um sich der sehr ungünstigen demographischen Entwicklung der nächsten drei Jahrzehnte gewachsen zu zeigen. Dieser Beitrag zeichnet den Wandel der Vorstellungen davon nach, wie institutionelle Anreizstrukturen, hier Finanzierungsverfahren, die Stabilität und Gerechtigkeit der Rentenversicherung gewährleisten können. Bei diesem Wandel spielten politische und wirtschaftliche Krisen, Theorien über die Handlungs- und Verpflichtungsfähigkeit politischer und staatlicher Akteure sowie wechselnde Konzeptionen der mit der Rentenversicherung definierten Risikogemeinschaft eine zentrale Rolle. Die Darstellung folgt einer groben Periodisierung, die in einem ersten Abschnitt von der Bismarckschen Sozialgesetzgebung bis zum Ersten Weltkrieg reicht, dann in einem zweiten Abschnitt Kriegsfinanzierung, Hyperinflation, die Weltwirtschaftskrise und die konstitutionell-politische Krise Weimars umfaßt und in einem dritten Abschnitt die beginnende Durchsetzung des Umlageverfahrens im Zuge der nationalsozialistischen Kriegsmobilisierung und seine dann vollständige Durchsetzung in der Nachkriegsbundesrepublik schildert. Der abschließende Abschnitt nimmt einen kurzen Blick auf den gegenwärtigen Stand der Kontroverse.

n. Das Umlageverfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung7 1.1889-1914 Das Umlageverfahren galt in Deutschland unter den akademischen Experten und den zuständigen Fachbürokraten lange Zeit als ein besonders unseriöses Verfahren zur Finanzierung der sozialen Rentenversicherung. In den parlamentarischen Beratungen zum Gesetz betreffend die 1nvaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889 machte sich die Untemehmerschaft dennoch dafür stark, die lichen Rentenversicherung - der Stein der Weisen?, in: Wirtschaftsdienst 1998/V, S. 264267; Holger Bahr IUlrich Kater, Umlageverfahren versus Kapitaldeckungsverfahren - quo vadis Rentenversicherung?, in: Wirtschaftsdienst 1997 I IV, S. 212-219; Hans-Jürgen Krupp, Makroökonomische Perspektiven einer Teilkapitalisierung der Rentenversicherung, in: Wirtschaftsdienst 1997/IV, S. 203 - 211; Sabine Ohsmann I Ulrich Stolz, Beitragszahlungen haben sich gelohnt. Betrachtungen zur Rendite der Altersrenten in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Deutsche Angestelltenversicherung (1997), H. 3, S. 119-124; Günter Buttler, Alterssicherung im Umlageverfahren und im Kapitaldeckungsverfahren, in: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), Reform des Sozialstaats. Vorschläge, Argumente, Modellrechnungen zur Alterssicherung, Köln 1997, S. 84-108; Stefan Eitenmüller, Die Rentabilität der gesetzlichen Rentenversicherung - Kapitalmarktanaloge Renditeberechnungen für die nahe und feme Zukunft, in: Deutsche Rentenversicherung (1996), S. 784 - 798. 7 Die nachfolgenden Abschnitte rekurrieren auf Philip Manow, Individuelle Zeit, institutionelle Zeit, soziale Zeit. Das Vertrauen in die Sicherheit der Rente und die Debatte um Kapitaldeckung und Umlage in Deutschland, in: Zeitschrift für Soziologie 27 (1998), S.193-211. 10'

148

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Alters- und Invalidenversicherung durch das Umlageverfahren zu finanzieren, wenn schon die Einführung der Versicherung im ganzen politisch nicht abzuwenden sei 8 • Dies hatte in erster Linie darin seinen Grund, daß die Unternehmen vom Umlageverfahren zunächst nur geringe, langsam steigende und somit erst später spürbare Beitragsbelastungen erwarteten. Doch erschien dieser Vorteil des Umlageverfahrens aus der Sicht der zuständigen Ministerialreferenten gerade als Beweis seiner mangelnden Solidität und des in ihm zum Ausdruck kommenden "Leichtsinn[s]", welcher geeignet war, "die Gegenwart auf Kosten späterer Jahrzehnte zu entlasten,,9. Der Vorteil der Kapitaldeckung wurde dagegen in ihrer größeren, wohl auch als erzieherisch wirksam vorgestellten Transparenz gesehen. Die Kapitaldeckung offenbare "die ganze Last [ ... ] zwar schneller, aber dann auch konstanter [ ... ] als das Umlageverfahren, wo sich die volle Auswirkung der Belastung, d.i. der Beharrungszustand, in dem ,ein stationärer Rentenbestand mit unveränderlicher Anzahl und gleichbleibender Alterszusammensetzung einem stationären Versicherungsbestand gegenübertritt', erst nach Jahrzehnten gezeigt hätte. ,,10 Es ging also darum, daß das Verfahren der Kapitaldeckung angeblich ,ehrlicher' war, und nur diese größere Ehrlichkeit schien langfristiges Vertrauen in die finanzielle Solidität der Rentenversicherung rechtfertigen zu können. Auch wenn schließlich im weiteren Gesetzgebungsprozeß statt des Anwartschaftsdeckungsverfahrens ein zunächst auf zehn Jahre berechnetes Kapitaldeckungsverfahren eingeführt wurde 11 , so blieb doch die Anwartschaftsdeckung "als das prinzipielle Ziel,,12, sozusagen als regulative Idee der Altersversicherung, in den zuständigen Expertenkreisen weitgehend unumstritten. Heinrich Rosin, einer der führenden Sozialrechtsexperten der Zeit, meinte durch ein einfaches Gedankenexperiment aufzeigen zu können, inwiefern das Umlageverfahren im Vergleich zum System der Kapital- oder Anwartschaftsdeckung der nötigen "ver8 Günther Rosenstock, Versicherungstechnische Probleme in der Geschichte der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung, Königsberg 1934, S. 64; Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, S. 251, 254-255; Monika Sniegs, Statistik als Steuerungsinstrument in der historischen Entwicklung der Invaliditäts- und Altersversicherung 1891-1991, Diss. Bremen 1998, S. 105. 9 Rosenstock, Sozialgesetzgebung, S. 65. IO Ebenda; Zitat im Zitat aus Manes Versicherungslexikon, Berlin 1930. 11 Die heutige Diskussion kennt diese Differenzierung zwischen Anwartschafts- und Kapitaldeckung zumeist nicht mehr. In der zeitgenössischen Debatte meinte Kapitaldeckung die Deckung der Anwartschaften eines bestimmten Zeitabschnitts. Das Anwartschaftsdeckungsverfahren war hingegen nicht zeitbegrenzt. Die Abkehr von der Anwartschaftsdeckung zugunsten der auf zehn Jahre berechneten Kapitaldeckung war vor allem durch Befürchtungen begründet, die Anhäufung sehr großer Kapitalien habe wirtschaftliche Nachteile und provoziere politischen Mißbrauch. 12 Hans Rosin, Prämiendurchschnittsverfahren und Anwartschaftsdeckung. Monatsschrift für Arbeiter- und Angestellten-Versicherung 2 (1914), S. 103.

Kapitaldeckung oder Umlage

149

sicherungstechnische[n] Sicherheit entbehrt" 13. In welchem Ausmaß - so fragte Rosin1 4 - sind durch Prämienzahlungen gewonnene Ansprüche an ein Versicherungsinstitut gesichert, "wenn man sich die Geschäftstätigkeit des Instituts am Schlusse eines Geschäftsjahres eingestellt denkt?,,15 Die Beweisführung schien ausgesprochen einleuchtend. Allein beim Anwartschaftsdeckungsverfahren wären nicht nur die bereits bewilligten Renten gesichert, sondern darüber hinaus auch alle bereits durch die Beitragszahlungen erworbenen Leistungsansprüche (Anwartschaften), während beim Umlageverfahren, "soweit nicht besondere Massen, insbesondere ein Reservefonds, zur Verfügung stehen, nicht einmal soviel Vermögen vorhanden [ist], um auch nur die Jahresraten späterer Jahre auf die schon bewilligten Renten zu zahlen.,,16 Beim Anwartschaftsdeckungsverfahren hingegen könne im Falle der ,,Einstellung des Versicherungsbetriebs" die "aufgelöste Anstalt sowohl die Rentner als auch die Gesamtheit der Aktiven mit einem ihrem Anspruch bzw. ihrer Anwartschaft entsprechenden Kapitalbetrag abfinden." Rosin folgerte: "Es ist klar, daß damit die größte Sicherheit erreicht iSt.,,17 Daß in Rosins Argumentation der fiktive ,Tod einer Institution', die "Einstellung des Versicherungsbetriebs", eine zentrale Rolle spielte, verweist darauf, daß für Rosin die Einrichtungen der Arbeiterselbsthilfe oder Unterstützungsvereine auf Gegenseitigkeit, also freiwillige Organisationen, die gedankliche Referenzgröße darstellten, nicht aber die staatliche Zwangsversicherung gegen die ,Wechselfälle des Lebens'. Genau gegen diese Vorstellung des Todes einer Institution bzw. einer ,moralischen Person' hatte sich Bismarck unter Verweis auf den ,ewigen' Bestand staatlicher Arrangements vehement gewandt, als der Streit um Kapitaldeckung oder Umlage bereits bei der Unfallversicherungsvorlage aufgebrochen war. Den Bedenken des Referenten des Reichsamts des Innern, Theodor Lohmann, gegen das Umlageverfahren, daß nämlich mit ihm "die entstehenden Verpflichtungen nicht von den gegenwärtig vorhandenen Beteiligten, sondern von den mit diesen vielleicht nicht identischen künftigen Mitgliedern der Genossenschaft zu tragen sein werden", setzte Bismarck knapp und bestimmt entgegen: "Der Wechsel der Individuen ist irrelevant, findet in allen staatlichen Verhältnissen statt. Die Corporation, moralische Person, ist permanent wie der Staat.,d8 Die Vorstellung, daß Ebenda, S. 96. Ebenda, S. 96 f. 15 Dieses Argument geht nicht auf Rosin selber zurück, sondern war bereits bei der Debatte um die Invaliditäts- und Altersversicherung prominent (siehe etwa R[obert] Bosse! E[rich] von Woedtke, Das Reichsgesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung. Vorn 22. Juni 1889, Leipzig 1891). 16 Rosin, Prämiendurchschnittsverfahren, S. 97. 17 Ebenda, S. 98 f. 18 Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Sozialpolitik, 11. Abt., 2. Bd., 1. Teil: Von der Zweiten Unfallversicherungs-Vorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vorn 6. Juli 1884, bearb. von Florian Tennstedt! Heidi Winter, Stuttgart 1995, Nr. 44, S. 171 und Fn.9. 13

14

ISO

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"korporative Verbände nicht sterben,,19, daß sich schließlich die "unbeschränkte Dauer" der neuen Versicherung im Staat begründet, daß es nun der Staat - und nicht mehr die Familie oder Eigenverantwortung - ist, der die "nie unterbrochene Folge versicherter Generationen" garantiert, daß der Staat für die "perennite,,20 einer "öffentlich-rechtlichen, gesetzlich verankerten obligatorischen Rentenversicherung" bürgt21 , war - zumindest für Deutschland - eine radikale und visionäre Idee, die von der zeitgenössisch ,herrschenden Lehre' von der Überlegenheit der privatversicherungsrechtlichen Kapitaldeckung wenig beeinflußt und beeindruckt war. Es war dann bezeichnenderweise auch der Streit um Kapitaldeckung oder Umlage, in dessen Zusammenhang der bekannte Bismarcksche Satz fiel: "Der Staat und seine Einrichtungen sind nur möglich, wenn sie als permanent identische Persönlichkeiten gedacht werden. ,,22 Doch der Nationalstaat war für die Deutschen ein so neues Phänomen, und der Zeitpunkt, zu dem der Staat Verantwortung für die Versicherung der Bevölkerung gegen die sozialen Risiken übernahm, war so früh, daß gegen Bismarcks Willen privatversicherungsrechtliche, liberale Formelemente in der Gestaltung der neuen öffentlich-rechtlichen Rentenversicherung noch lange Zeit prägend blieben. Für die Unfallversicherung und auch für die Krankenversicherung wurde zwar das Umlageverfahren festgeschrieben, bei der auf längere Zeiträume berechneten Alters- und Invalidenversicherung kam hingegen zunächst das auf einen zehnjährigen Abschnitt berechnete Kapitaldeckungsverfahren zum Zuge. Bismarck selbst intervenierte in den Gesetzgebungsprozeß zur Alters- und Invalidenversicherung nicht mehr sonderlich. Bestimmend waren nun stärker die Referenten des Reichsamts des Innern und die Parteien. Bei ihnen bekam die Vorstellung von der Rolle des Staates in der neuen Sozialversicherung eine andere Akzentsetzung. Mit einer bezeichnenden Argumentationsfigur lehnte man das Umlageverfahren ab: "Durch das Umlageverfahren werde allerdings die Gegenwart entlastet, aber die Belastung der Zukunft sei eine unberechenbare, und eine derartig leichtsinnige Wirtschaft dürfe sich ein bonus pater familias nicht zu Schulden kommen lassen; als solchen aber müsse der Gesetzgeber sich immer betrachten. ,.23 Der vollen Kapitaldeckung hingegen standen schon in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts jene Bedenken über die Mißbrauchsmöglichkeiten und mögBismarck, zit. ebenda, Nr. 26, S. 93, Fn. 4. Ich vennute, es ist kein Zufall, daß dieser versicherungsmathematische Fachbegriff aus dem Französischen stammt, denn die Vorstellung eines sich im Rahmen des Nationalstaats fonnenden und sich durch ihn definierenden Risikokollektivs, dessen ,ewige' Reproduktion der Staat garantiert, konnte in Frankreich wohl seine früheste und akzentuierteste Ausprägung finden. 21 Peter ThulIen, Das Prinzip der Beitragsäquivalenz im Zusammenhang mit den Finanzierungsverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Deutsche Rentenversicherung (1982), S. 126. 22 Quellensammlung, II. Abt., 2. Bd., 1. Teil, Nr. 48, S. 183. 23 Bosse/Woedtke, Reichsgesetz, S. 285; Hervorhebung: P.M. 19

20

Kapitaldeckung oder Umlage

151

lichen volkswirtschaftlichen Verwerfungen entgegen, die ein großer staatlich angesammelter Kapitalstock in sich berge. Dies ist bis heute ein zentrales Argument der Gegner des Kapitaldeckungsverfahrens geblieben. Zugleich lösten sich die Vorstellungen zunehmend von der Fixierung auf die strikte, privatversicherungsrechtliche Äquivalenz zwischen Beiträgen und Leistungen. Als man zehn Jahre nach Verabschiedung des Ursprungsgesetzes mit dem Invalidenversicherungsgesetz 1899 das Verfahren der allgemeinen Durchschnittsprämie einführte, meinte man zwar, dem Ideal der Anwartschaftsdeckung näher gekommen zu sein, vor allem, da der neue Kalkulationshintergrund nun tatsächlich die staatlich garantierte ,ewige Abfolge zukünftiger Generationen' war. Doch der Einwand der Versicherungsmathematik, daß zwangsläufig zwischen den Generationen umverteilt werde, wenn sich die Altersstruktur zwischen ihnen verändere (etwa durch ein geringeres Invaliditätsrisiko oder längere Erwerbsbiographien späterer Generationen), tat nun schon nichts mehr zur Sache24 . Faktisch hatte sich gegen das bei der Privatversicherung abgeguckte Gebot individueller (und generationaler) Beitragsäquivalenz bereits das Recht des Staats zur abstrakten Gleichbehandlung ,seiner' Bürger durchgesetzt. "Das Verfahren der allgemeinen Durchschnittsprämie kam [ ... ] der sozialpolitischen Vorstellung entgegen, im Zeitverlauf einen konstanten Beitragssatz zur Rentenversicherung zu haben und damit nicht eine Generation von Beitragszahlern stärker zu belasten als die andere. ,,25 So wurde allmählich klar: "Das moralische Universum ist nicht mehr das Verwandtschaftsnetz oder [ ... ] die lokale Gemeinschaft, sondern der neue Nationalstaat.,,26 Wichtiger noch als das bei der Bismarckschen Sozialgesetzgebung zunächst im Vordergrund stehende Projekt - die Generierung von Arbeiterloyalität gegenüber dem neuen Staat durch besondere sozialstaatliche Leistungsgewährung - war somit wohl, daß "das Wohlfahrtssystem [ ... ] dazu bei [trug] , die Nation als einen kollektiven Bezugsrahmen für die Identität zu konstruieren. ,,27

2. 1914 -1935 Die Überzeugung von der Überlegenheit und der größeren Seriösität des Verfahrens der Anwartschaftsdeckung hielt sich bis Mitte der 30er Jahre und wurde zwischenzeitlich nicht von· der Erfahrung demographischer Wechsellagen, sondern von der Erfahrung extremer wirtschaftlicher Volatilität erschüttert. Der Wechsel Vgl. Rosin, Prämiendurchschnittsverfahren. Richard Mörschel, Die Finanzierungsverfahren in der Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Deutsche Rentenversicherung (1990), S. 619-661, hier 627. 26 Martin Kohli, Moralökonomie und .. Generationenvertrag", in: Max Haller/Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny /Wolfgang Zapf (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt a.M. 1989, S. 538 f. 27 Ebenda, S. 539. 24

25

152

Philip Manow

von der Anwartschaftsdeckung zum Umlageverfahren war zunächst ein unfreiwilliger und wurde mehr stillschweigend denn explizit vollzogen - im Zuge der großen Inflation in den Jahren zwischen 1921 und 1923 28 • Die weiterhin vorherrschende Überzeugung, daß das Verfahren der Kapital- oder das der Anwartschaftsdeckung das eindeutig seriösere Finanzierungsverfahren repräsentierte, wurde durch den Umstand herausgefordert, daß der Staat zwar möglicherweise ein Garant der "nie unterbrochenen Folge versicherter Generationen" (s.o.) war, er aber nicht den Wert des Geldes und damit der angesammelten Kapitalien der Rentenversicherung garantieren konnte (bzw. wollte). Der Nationalstaat wurde eben nicht nur zunehmend zum Bezugsrahmen für die Sicherung sozialer Risiken, mit der Aufgabe des internationalen Goldstandardregimes 1914 war der Staat zugleich zum Garanten des Geldwerts geworden. Bekanntlich hat in Deutschland der Staat in der Erfüllung dieser Aufgabe weitgehend versagt. Der neue Staat, für den im Weltkrieg gekämpft und gestorben werden sollte und wurde, war ein Staat, der kein hinreichendes eigenes Steuereinkommen zur Finanzierung dieses Krieges besaß 29 • Der Reichshaushalt mußte im wesentlichen aus den Matrikularbeiträgen der Länder finanziert werden, und zur Deckung der enormen zusätzlichen Kosten des Krieges mußte das Reich ,Anleihen' bei seiner Bevölkerung aufnehmen. Reichsanleihen hatten nach §§ 1807 -1808 BGB den gesetzlichen Status einer ,mündelsicheren' Anlageform. Gesetzlich30 waren die Arbeiter- und Angestelltenversicherung ohnehin dazu verpflichtet, mindestens ein Viertel ihrer Kapitalien in solchen mündelsicheren Staatspapieren anzulegen. Doch beide Versicherungen überschritten diesen Pflichtanteil im Ersten Weltkrieg deutlich. An den insgesamt neun Kriegsanleihen zeichneten die Invaliden- und Angestelltenversicherung - ins Verhältnis gesetzt zum Gesamtvolumen aller Kriegsanleihen - zwar keinen besonders gewichtigen Anteil. Gemessen in Prozent ihrer gesamten Kapitalien war ihre Beteiligung jedoch beträchtlich. Den im Verlauf des Krieges wachsenden Zweifeln an der zukünftigen Einlösbarkeit jener enormen staatlichen Zahlungsversprechen, die die Kriegsanleihen darstellten, wurde von offizieller Seite mit einem Argument begegnet, das im Kontext der früheren Diskussion um die Finanzierungsverfahren in der Rentenversicherung noch ganz abseitig erschienen wäre 31 : Zum einen meinte man, alle Zweifel mit dem Hinweis auf den bevorstehenden ,Siegfrieden ' entkräften zu können, durch den man die Kosten des Krieges auf die Verlierernationen würde abwälzen können. 28 Martin H. Geyer, Die Reichsknappschaft. Versicherungsreformen und Sozialpolitik im Bergbau 1900-1945, München 1987, S. 83-108. 29 Vgl. zum Folgenden insbesondere Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the Gerrnan Inflation, 1914-1924, New York/Oxford 1993, chapter 1. Siehe auch Karl Christi an Führer, Für das Wirtschaftsleben "mehr oder weniger wertlose Personen". Zur Lage von Invaliden- und Kleinrentnern in den Inflationsjahren 1918 -1924, in: AfS 30 (1990), S. 145 -180. 30 Vgl. § 26 Abs. 1 Satz 1 RVO. 31 Vgl. Feldman, Disorder, S. 25-51.

1343,1

Kumuliert 1918 (Gesamtsumme)

2450

2519

54,8

40,9

600

100

100

75

260

60

60

140

40

797

630

491

374

Gesamtvermögen am Jahresende (in Mio. RM)

75,3

63,5

53,0

37,4

Anteil am Gesamtvermögen (in %)

Quellen: Monatsschrift für Arbeiter- und Angestellten-Versicherung 3 (1915) H.4, S. 217 -223 (I. und 2. Kriegsanleihe [KA]); Monatsschrift 3 (1915) H. 10, S. 609611 (3. KA); Monatsschrift 4 (1916) H. 4, S. 201-203 (4. KA); Monatsschrift 4 (1916) H. 10, S. 569-571 sowie 4 (1916) H. 11, S. 625 (5. KA); Monatsschrift 5 (1917) H. 5, S. 373-375 (6. KA); Monatsschrift 5 (1917) H.ll, S. 741-743 (7. KA); Monatsschrift 6 (1918) H. 5, S. 217 -219 (8. KA); Monatsschrift 6 (1918) H. 11, S. 505507 (9. KA).

149,1

1030,5

Kumuliert 1917

163,5

149,8

7. (1917)

8. (1918)

400

176,1

6. (1917)

9. (1918)

65

704,6

Kumuliert 1916 29,0

153,8

5. (1916) 2428

146,7

4. (1916)

17,2

404,2

Kumuliert 1915

2354

140,4

3. (1915)

60

40

Angestelltenversicherung (in Mio. RM)

126,2

Anteil am Gesamtvermögen (in %)

137,6

Gesamtvermögen am Jahresende (in Mio. RM)

1. (1915)

Invalidenversicherung (in Mio. RM)

2. (1915)

Kriegsanleihe (Jahr)

Tabelle 1 Beteiligung von Invaliden- und Angestelltenversicherung an den Kriegsanleihen (I. Weltkrieg)

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Philip Manow

154

Zum anderen gewann ein neues Argument an Überzeugungskraft, das die Nation als Summe aller "produktiven und Vermögen schaffenden Fähigkeiten des deutschen Volkes,,32 definierte. Diese Summe fungierte quasi als Sicherheit für die Kriegsanleihen und schien durch die Anleihen lediglich hypothekarisch belastet. Wie man weiß, waren es die Siegermächte, die ihre Kriegsführungskosten auf Deutschland abzuwälzen suchten, und die Reichsanleihen erwiesen sich als alles andere als ,mündelsicher'. Die Invaliden- und Angestelltenversicherung verloren in der großen Inflation nahezu ihr gesamtes Vermögen, d. h., die durch die Beiträge der Vergangenheit erworbenen Anwartschaften waren beinahe vollständig ohne Deckung (s. Abbildung 1). Das bürgerliche Projekt einer verantwortungsvollen Planung für die Zukunft durch ,Hortung' von Kapitalien schien ad absurdum geführt. In der Hochphase der Inflation lautete die Klage: "Die Vorsorge vergangener Zeit war zwecklos, die Vorsorge für kommende Zeiten ist gegenwärtig ebenso zwecklos, unsere Zeit ist ganz allein auf sich selbst gestellt, kann in der Gegenwart nur für die Gegenwart sorgen.,,33 Aus einer Institution, deren erster Zweck die Sicherung gegen zukünftige Risiken war, machte die galoppierende Inflation in der Wahrnehmung der Versicherten durch die rasche und nahezu vollständige Entwertung ihrer Beiträge eine Institution, die lediglich in der Gegenwart "für die zwangsweise Konfiskation von [ ... ] Löhnen,,34 sorgte.

3.500

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3..

00

-

Systementwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung

185

einbezieht). Mit Blick auf die Zukunft spricht viel dafür, daß der Druck auf die Arbeitnehmerversicherungen weiter zunehmen wird und daß mindestens der Schritt zu einer Koppelung der Versicherungspflicht an Erwerbstätigkeit und Erwerbseinkommen unvenneidlich sein wird38 . 2. Zur Struktur der RentenjormeZ 39

Betrachtet man die großen Linien der Entwicklung der Rentenfonnel in der gesetzlichen Rentenversicherung, so kann man eine stufenförrnige Veränderung der Ausrichtung beobachten. Ein nicht realisiertes Konzept von 1887 hatte ursprünglich eine (Fast-)Einheitsrentenlösung ins Auge gefaßt40 . Die faktisch im Gründungsgesetz von 1889 angelegte Fonnel kombinierte eine eher spartanische Sockelung mit einer beitrags- und lohnbezogenen Zusatzrente. Mit der Angestelltenversicherung 1912 wurde ihr eine stärker beitragsorientierte Lösung an die Seite gestellt. Diese Konstellation galt im Kern bis zur Rentenrefonn 1956/57; abgesehen von der 1949 vom Wirtschaftsrat beschlossenen Ergänzung einer Mindestrentenregelung. Die Rentenrefonn der Adenauer-Ära beseitigt dann alle mindestsichernd gemeinten Regelungen des älteren Systems und setzt statt dessen auf eine ausschließlich am Prinzip der Beitragsgerechtigkeit orientierte Lösung. Die Entwicklung wird man durchaus als "historische Zuspitzung" eines Elements der Gründungsgesetzgebung bezeichnen können; eine Zuspitzung, die noch deutlicher wird, wenn man die Refonnen der "beitragslosen Zeiten" gedanklich einbezieht, die von einer ursprünglich einheitlichen Anrechnung von Zeiten der Arbeitsunfähigkeit bis hin zum "Gesamtleistungsmodell" reichen. Die historische Zuspitzung auf die Nonn der "Beitragsgerechtigkeit", die vennutlich in Einklang mit den dominierenden Werthaltungen in der Bevölkerung steht, ist seit dem Verlust der Vollbeschäftigung Mitte der 1970er Jahre stärker in die Kritik geraten, da bei dieser Konstellation ein verstärktes Auftreten von Unterversorgungslagen befürchtet wird. Unterzieht man den heutigen Entwicklungsstand einer europäisch-vergleichenden Betrachtung, so zeigt sich die deutsche Rentenfonnel in einer eher polaren Position: Sie zählt zu jener Ländergruppe mit rein einkommensorientierter Ausrichtung, zu der z. B. auch Belgien und Luxemburg gehören (vgl. Übersicht 1). Den Gegenpol hierzu bilden die Basisrentenlösungen in Dänemark, Irland und den Niederlanden, wo die Rentenfonnel keinen Bezug auf das persönliche Einkommen vorsieht. In der Mitte stehen solche Länder-Kernsysteme, die Einkommensbezüge mit unterschiedlichen Fonnen von Mindestsicherungslösungen kombinieren. Diese 38 Vgl. u. a. Diether Döring, Alterssicherung in der EU und veränderte erwerbsbiographische Muster, in: WSI-Mitteilungen (1999), H. 1. 39 Im Folgenden wird nicht auf die Entwicklung des Rentenniveaus abgehoben; nur auf die strukturelle Seite. 40 V gl. hierzu den Beitrag von Ulrike Haerendel in diesem Band.

186

Diether Döring

"gemischte" Lösung stellt heute die dominante Gruppe unter den hier betrachteten EU-Kernsystemen dar. Dieser gemischten Lösung stand das ältere deutsche System nahe. 3. Zur Finanzierungsstruktur41

Die Struktur der Finanzierung hat sich insofern nicht grundlegend verändert, als sie im Verlaufe der Geschichte des Systems durchgängig eine Mischung aus lohnbezogenen Beiträgen und staatlichen Zuschüssen beinhaltete. Die Konzeption ebenso der Beiträge wie auch der staatlichen Zuschüsse und im Zuge dessen auch das Mischungsverhältnis zwischen beiden Elementen hat sich dagegen deutlich verändert. - Der staatliche Zuschuß hat sich verschoben von der Finanzierung definierter Elemente auf der Leistungsseite der Rentenversicherung hin zu einer Position, bei der der Staat heute de facto als Beitragszahier des Systems auftritt. Allerdings hat es immer wieder zusätzliche Korrekturen aus pragmatischen, finanzpolitischen oder auch arbeitsmarktpolitischen Gründen gegeben. Die Kompensation eines Beitragsteils von 0,8 Prozent durch Steuermittel kann als aktuelles Beispiel genannt werden. Im ganzen muß gesagt werden, daß die systematische Qualität der ursprünglichen Lösung heute nicht erreicht wird, was eine Ursache für die wiederholten Diskussionen über das Niveau des Staatszuschusses bildet. - Der Charakter der Beiträge hat sich insbesondere durch die Abkehr vom ursprünglich implementierten Anwartschaftsdeckungsverfahren und die Hinwendung zum Umlageverfahren verändert. Trotz des formalen Vollzugs dieses Schrittes in der Reform 1956/57 liegt der faktische Einschnitt eher am Ende des Zweiten Weltkrieges in Verbindung mit der Währungsreform 1948, als verbliebene Ansprüche der Rentenversicherung gegen das Reich gestrichen wurden. Das Abschnittsdeckungsverfahren im Anschluß an die Reform 1956/57 bildet mehr eine Übergangslösung zur reinen Umlage. In der historischen Darstellung ist deutlich geworden, daß für die Veränderungen der Finanzierungsmethode weniger abstrakte Abwägungen maßgeblich waren. Sie waren eher Reaktionen auf die Katastrophen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht erstaunlich, daß nach fünf Jahrzehnten einer vergleichsweise ungestörten Entwicklung der Bundesrepublik und angesichts einer starken demographischen Verschiebung nach der Jahrtausendwende eine erneute Abwägung zwischen den unterschiedlichen Finanzierungsmethoden stattfindet. Stellt man die heutige deutsche Finanzierungsstrategie in einen europäischen Vergleich, so zeigt sich, daß sie mit einer breiten Strömung von Landesentscheidungen korrespondiert (v gl. Übersicht 1). In den meisten europäischen Kernsystemen dominiert der bruttoeinkommensbezogene Beitrag. Auch kennt die Mehrzahl 41 Im Folgenden wird nur auf die Struktur und nicht auf die Belastungsniveaus durch Beiträge oder Steuern abgestellt.

Systementwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung

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der Systeme unterschiedlich begründete "Beimischungen" von öffentlichen Mitteln, die hier nicht genauer betrachtet werden können. Angemerkt sei jedoch, daß sie im Gegensatz zum deutschen Beispiel stärker auf die Finanzierung ausgleichender und mindestsichernder Elemente ausgerichtet sind und zudem im Durchschnitt höhere Anteile an der Gesamtfinanzierung repräsentieren42 . Bezüglich der Beitragsmethode zeigt der Vergleich, daß mehr oder weniger alle Rentensysteme im Kern umlagefinanziert sind. Allerdings haben einzelne staatlich organisierte Systeme stärkere "Beimischungen" von Kapitaldeckung. 4. Abschließende Bemerkung

Richtet man den Blick, wie vorstehend geschehen, ausschließlich auf die Struktur der Grundentscheidungen im deutschen Rentensystem, so sind zwei sich stark unterscheidende Entwicklungsetappen zu unterscheiden. Nach Zurückweisung des Vorläuferkonzepts eines (Fast)Einheitsrentensystems aus dem Jahre 1887 repräsentierte die gesetzliche Rentenversicherung vom Gründungsgesetz 1889 bis zur Einführung der dynamischen Rente 1956/57 eine eher "gemischte" Grundentscheidung: Eine spartanische Grundsicherung wurde mit dem Interesse vieler Erwerbstätiger an der Absicherung des Lebensstandards verbunden. Unter dem Druck des Nachkriegselends nach 1945 wurde mit der Ergänzung einer Mindestrentenregelung die Grundsicherungsorientierung für eine kurze Zeitspanne stärker, als sie dies jemals zuvor gewesen war. Den Start der zweiten Entwicklungsetappe, die von der Reform 1956/57 bis in die Gegenwart reicht, kann man ebenso als radikale Veränderung des alten Systems, aber auch als "neues" Rentensystem betrachten. Die Neukonzeption der Rentenformel auf das Ziel der Lebensstandardsicherung hin, verbunden mit der Delegation der Mindestsicherungsaufgabe an die Sozialhilfe, sowie die völlige Veränderung des Finanzierungsverfahrens erlauben auch die zweite Interpretation. Der europäische Vergleich zeigt, daß die ältere Lösung eher nahe der heutigen Hauptorientierung der europäischen Kernsysteme liegt, jedenfalls wenn man ebenso Länder mit bedarfsorientierten wie auch bedarfsunabhängigen Mindestsicherungslösungen im ansonsten einkommensorientierten Versicherungssystem zum Kriterium macht. Das deutsche Kernsystem Rentenversicherung hat sich dagegen mit seiner alleinigen Verpflichtung auf das Ziel der Lebensstandardsicherung in eine heute polare Position bewegt.

42 Vgl. u. a.: Diether Döring I Richard HauserlSusanne Rechmann/Gabriele Rolf, Alterssicherung in der EU, Berlin 2000 (i. Vorb.).

Die Frage der Witwen und Waisen Vorläufiger Ausschluß aus dem Rentensystem und graduelle Inklusion (1889-1911)

Von Marlene Ellerkamp

Witwen und Waisen waren jahrhundertelang eine traditionelle Armutsgruppe. "Die Ärmsten der Armen, die Witwen und Waisen", lautete eine Redewendung seit der Neuzeit. Der Verlust des "Familienernährers" war ein gesellschaftlichanerkannter, mitleiderregender Schicksalsschlag. Verwitwung machte nicht zwangsläufig zum "Sozialfall", sondern führte vorzugsweise dort in existentielle Problemlagen, wo kein Vermögen vorhanden war, d. h. besonders in den handarbeitenden, unterbürgerlichen Schichten l . Die Kirche, die kommunale Armenpflege und die private Wohltätigkeit sprangen in die Bresche für den ausbleibenden Familienlohn des "Familienernährers", vor allem wenn es sich um jüngere Witwen mit kleinen Kindern oder um alte Witwen handelte. Als Beispiel für die "Witwenpflege" des kommunalen Armenwesens mag das Bremer Armenhaus in den 1840er Jahren gelten: Witwen jenseits des 50. Lebensjahres stellten hier etwa 80 Prozent der weiblichen bzw. 40-50 Prozent sämtlicher Insassen. Dieses Zahlenverhältnis spiegelt kein spezifisch bremisches Phänomen2 . Die "Witwen- und Waisenfrage" war stets eine "Soziale Frage"; im Ausgang des 19. Jahrhunderts wurde sie vor allem eine "Witwenversicherungs-Frage". Im Verlauf des 19. Jahrhunderts lief die Wahrnehmung, Zuspitzung und Behandlung der "Sozialen Frage als Arbeiterfrage" zunehmend auf versicherungsförrnige Lösungen zur sozialen Sicherung hinaus ("Arbeiterversicherung,,)3. Solches galt auch für 1 Zur oft prekären ökonomischen Situation von Witwen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vgl. u. a.: Claudia Opitz, Emanzipiert oder marginalisiert? Witwen in der Gesellschaft des späten Mittelalters, in: Bea Lundt (Hrsg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1992, S. 25 - 48, hier 32 Cf.; Peter Borscheid, Geschichte des Alters. Vom SpätmitteIalter zum 18. Ih., München 1989, bes. Kap. 7: Das Los der Witwen - ein materielles Problem, S. 396-419. 2 Vgl. Marlene Ellerkamp, Wege in die Institutionen. Armenhaus und Stift als Alterssicherung in Bremen, in: Gerd Göckenjan (Hrsg.), Recht auf ein gesichertes Alter? Studien zur Geschichte der Alterssicherung in der Frühzeit der Sozialpolitik, Augsburg 1990, S. 63 - 104. 3 V gl. etwa die zeitgenössischen Klassiker: Heinrich Herkner, Die Arbeiterfrage. Eine Einführung, BerIin, 4. erw. u. umgearb. Aufl. 1905, bes. S. 413 Cf., 541 Cf., 553; Gustav Schmoller, Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, München/Leipzig 1918, bes. S. 367 Cf.

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die "Witwenfrage", die in den 1870er Jahren parlamentarisches Terrain erreichte und dort als "Witwensicherungs-Frage" den noch engeren Zuschnitt der "Arbeiterwitwen-Frage" erhielt4 • Ein gesetzgeberisches Ergebnis ließ aber zunächst auf sich warten: Witwen und Waisen wurden erst 1911 mit der Hinterbliebenenversicherung im Rahmen der Reichsversicherungsordnung (RVO) abgesichert. Die späte Inklusion bzw. die vorhergehende Exklusion der Hinterbliebenen aus der Bismarckschen Sozialversicherung wird im folgenden an zentralen Etappen des parlamentarisch-sozialpolitischen Prozesses aufgerollt. Dabei liegt das Augenmerk vor allem auf dem sich verändernden Gewicht, das Kindererziehung und Familienarbeit als Zugangskriterien zur Rentenversicherung hatten. Inwieweit bildeten die Faktoren Kinder und Familie, die den weiblichen Lebenslauf sehr viel stärker als Erwerbsarbeit bestimm(t)en, Anknüpfungspunkte für den Einschluß von Witwen im lohnarbeitsbezogenen Rentenversicherungssystem? Diese Frage hat einen "modernen" Aufhänger: Heute gilt die Witwenrente als Inbegriff der Anerkennung von Leistungen der Ehefrau in Familie und Haushalt. Heute wird die sog. "abgeleitete" oder "akzessorische Sicherung" der Witwe unter dem Stichwort "Nachteilsausgleich für Familienlasten und Kindererziehung" diskutiert5 . Bei dieser Wertung handelt es sich jedoch um eine "moderne" Interpretation, die seit der Rentenreform 1957 mit der Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrenten auch ihre Berechtigung hat. In der Entstehungsgeschichte der Renten- und der Hinterbliebenenversicherung vor 1911 waren "Familie", das "Vorhandensein von Kindern", die "familiäre Arbeit" von Frauen zwar diskursiver Anknüpfungspunkt für eine Witwenrente; sie fanden aber keinen Niederschlag im Gesetzestext. Dort bildete die Erwerbsarbeit, konkret: die Erwerbsunfähigkeit den zentralen Bezugspunkt, denn die erste Witwenrente der Rentenversicherung war eine Witweninvalidenrente. Die Faktoren Kinderzahl und Lebensalter der Witwe, nach denen sich heute die Höhe des unbedingten Witwenrentenanspruchs bestimmt (seit 1957: "große" und "kleine Witwenrente"), waren irrelevante Tatbestände. Gerade über diese familiär-sozialen Faktoren vollzog sich nach der Grundsteinlegung der Hinterbliebenenversicherung von 1911 die weitere Inklusion der Witwe. Sie waren das Einfallstor für eine Erweiterung der leistungsberechtigten Klientel. 4 Eine frühe außerparlamentarische Stellungnahme gegen die Begrenzung auf ArbeiterWitwen und für eine Orientierung an der Bedürftigkeit bzw. der Armenpflege-Statistik: Die Absicherung von Witwen sei keine Standes-, sondern eine Einkommensfrage, so [Wilhelm] O.[echelhäuser], Die Wittwen- und Waisenversicherung, in: Deutsche Arbeiter-Zeitung, Berlin 4 (1891), Nr. 41 u. 42, S. 323 und 330f. 5 Zum "typisierend zu unterstellende[n] Vorsorgenachteil des Ehegatten, der Kinder erzogen hat", vgl. etwa: Franz Ruland/Monika Rahn, Renten wegen Alters, verminderter Erwerbsfahigkeit und Todes, in: Sozialer Fortschritt 43 (1994), Nr. 4, S. 84-89, hier 89; Franz Ruland, Soziale Sicherung der Frauen. Bedarf, Ziele und Elemente einer Reform, in: Deutsche Rentenversicherung (1993), Nr. 6, S. 337-357, hier u. a. 350f., 355; zuletzt ders., Reform der Hinterbliebenenrenten als Schwerpunkt der Rentenpolitik, in: VDR (Hrsg.), Aktuelles Presseseminar des VDR, 23.124. November 1998 in Würzburg, Frankfurt a.M. o.J., S. 35-66.

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Die These lautet somit: Im Entstehungsprozeß der Hinterbliebenenversicherung fand vor 1911 eine Verengung der Zugangsvoraussetzungen von familienbezogenen Aspekten auf den Arbeitsmarktfaktor "Invalidität" statt. Diese Verengung lief im System der "Arbeiterversicherung" über die Etappen: "alle Witwen", "Witwen mit Kindern", "invalide Witwen". Erst nach 1911 erfolgten Ausbau und Weiterentwicklung der Hinterbliebenenversicherung über die familienbezogenen Elemente, ganz spät erst über explizit ehebezogene Komponenten. Um den Prozeß der Exund Inklusion aufzuzeigen, bilden die Beratungen über das "Gesetz, betreffend die Alters- und Invalidenversicherung" von 1888/89 und die hier diskutierte Frage "Rentenversicherung mit oder ohne Hinterbliebenenversicherung?" einen Schwerpunkt (I). Es folgen die zentralen Etappen im Diskussionsprozeß bis zur ersten Inklusion der Witwen mit der Grundsteinlegung der Hinterbliebenenversicherung von 1911 (TI), die Grundlinien des Hinterbliebenenrechts (1lI) und ein abschließender Ausblick auf seine Weiterentwicklung nach 1911 (IV).

I. Die "Witwenfrage" in der Rentenversicherungsdebatte 1888/89 Mit den Beratungen über die Alters- und Invalidenversicherung von 1888/89 hielt die "Witwenfrage" erstmals breiten Einzug auf der parlamentarischen Bühne, allerdings nur durch einen Seiteneingang. Denn die Agenda hieß Rentenversicherung der Arbeiter, nicht "Witwen- und Waisenversorgung,,6. Ein eigenständiger Tagesordnungspunkt wurde die Hinterbliebenenversicherung im Reichstag erst zwölf Jahre später. 1889 steht zwar im Ergebnis für den Ausschluß der Witwen und Waisen aus der sozialen Sicherung, zugleich aber auch für eine lebhafte Diskussion über diese Personengruppe und ihre etwaige Inklusion in die Renten6 Die umfängliche Vorgeschichte der "Witwenfrage" vor 1888 kann hier nur angedeutet werden. Der parlamentarische Vordenker einer Witwenversicherung war der Eisenhüttenbesitzer Karl Ferdinand Freiherr v. Stumm-Halberg (Deutsche Reichspartei). Bei den Beratungen zur Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes stellte er 1869 einen Antrag zur Einrichtung von Zwangs-Hilfskassen für Fabrikarbeiter mit Alters- und Hinterbliebenensicherung (Sten. Berichte Reichstag des Norddeutschen Bundes, I. LP, Session 1869, Bd. 3, Nr. 132, § 162, S. 461-463). Das Modell für Stumms Vorschlag bildete das Preußische Knappschafts-Gesetz vom 10.4. 1854, das eine erste öffentlich-rechtliche Arbeiterversicherung, zudem mit Hinterbliebenensicherung, schuf (§ 3, PrGS 1854, S. 139; vgl. dazu auch Hugo v. Loeper, Die Versicherung der Arbeiter-Witwen und -Waisen in Deutschland, Berlin 1907, bes. S. 22-27). Weitere Anträge von Stumm folgten im Deutschen Reichstag am 16. 10. 1878 (Drucks. Nr. 9; verhandelt: Steno Berichte Reichstag, IV. LP, I. Session 1878, Bd. 1, S. 330-332) und gleichlautend am 12.2. 1879 (Sten. Berichte Reichstag, IV. LP, II. Session 1879, Bd. 4, Nr. 16, S. 339). Die "Witwenfrage" wurde zudem im Kontext der drei Anläufe für ein Unfallversicherungs-Gesetz ab 1881 thematisiert, das eine reichsgesetzliche Hinterbliebenenversicherung einschloß. Dazu detailreich: Barbara Fait, Arbeiterfrauen und -familien im System sozialer Sicherheit. Zur geschlechterpolitischen Dimension der "Bismarck'schen Arbeiterversicherung", in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1997), Bd. 1, S. 171 - 205, bes. 180 - 186; vgl. auch Wolfgang Dreher, Die Entstehung der Arbeiterwitwenversicherung in Deutschland nach z.T. unveröffentlichten Quellen, Berlin 1978, S. 26ff.

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versicherung. Diese Frage wurde jedoch schon frühzeitig im vorparlamentarischen Raum verneint: Bereits in der "Denkschrift" zu den "Grundzügen zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter" vom 6. Juli 1887 und nahezu wortgleich in der späteren "Begründung" des Regierungsentwurfs für den Reichstag vom November 1888 wurde die "Witwen- und Waisenfürsorge" aus dem Gesetzesvorhaben ausgeklammert. "Bevor an die Lösung der Aufgabe [die Rentenversicherung] selbst herangetreten werden konnte, handelte es sich zunächst um die Vorfrage, ob mit der Fürsorge für alte und erwerbsunfahige Arbeiter gleichzeitig die Fürsorge für die Wittwen und Waisen verstorbener Arbeiter zu regeln sei. ,,7

Eine Kombination sei "zwar erwünscht", so hieß es in der "Denkschrift", aber aus "praktischen Gründen", so der Entwurf, nicht möglich. Als Begründung wurde ein Finanzierungsvorbehalt bemüht: Zunächst müsse es darum gehen, mit dem neuen Rentengesetz Erfahrungen zu sammeln, inwieweit Industrie und Gewerbe eine zusätzliche Belastung durch eine Hinterbliebenenversicherung überhaupt verkraften könnten 8 • Die im Reichsamt des Innern zuständigen Autoren 9 von Denkschrift und Entwurf verwiesen zum Trost auf die eher klassischen Formen der Witwensicherung: Zum einen werde "ein erheblicher Theil" der Witwen durch Berufsarbeit und damit aufgrund einer eigenständigen Sicherung "an den Wohlthaten" des zukünftigen Rentengesetzes teilhaben. Zum anderen existierten bereits die Hinterbliebenenversorgung der Unfallversicherung, ferner die private Wohlfahrt 7 Begründung des Entwurfs vom 22. 11. 1888, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 4, Nr. 10, S. 49-101, hier 49; "Denkschrift" zu "Grundzüge zur Altersund Invalidenversicherung der Arbeiter" vom 6. 7. 1887, beides abgedruckt bei R[obert] Bosse/E[rich] v. Woedtke, Das Reichsgesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung. Vom 22. Juni 1889, Leipzig 1891, S. 11-25 (Grundzüge), 25-35 (Denkschrift; im folg.: Denkschrift 1887), hier 26. Zur Resonanz der "Grundzüge" in Wissenschaft, Politik und Verbänden vgl. bes. Nachweise bei Joachim Rückert, Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung. Festschrift aus Anlaß des lOOjährigen Bestehens der gesetzlichen Rentenversicherung, hrsg. von Franz Ruland, Neuwied/Frankfurt a.M. 1990, S. 1-50, hier 6; aus katholischer Sicht: Gutachten des Vorstandes des Verbandes "Arbeiterwohl" zu den Grundzügen ... , in: Arbeiterwohl. Organ des Verbandes katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde 8 (1888), Nr. 1, Januar, S. I - 17, mit Kritik an fehlender Hinterbliebenenversicherung S. 5 f. Zur Konzeptualisierung im Vorfeld der Reichstags-Beratungen (Preuß. Volkswirtschaftsrat, Bundesrat) vgl. den Beitrag von Haerendel in diesem Band; Rückert, Entstehung und Vorläufer, S. 6-9; ferner den Kommentar von Bosse 1Woedtke, Reichsgesetz, S. 11,35 ff. 8 Zitate: Begründung des Entwurfs, S. 49; Denkschrift 1887, S. 26. Wünschenswert, aber nicht finanzierbar - so war im Vorfeld bereits aus dem Kreis der verbündeten Regierungen eine Ausklarnmerung der "Witwenversicherungs-Frage" begründet worden. Vgl. Z. B. die Stellungnahme Württembergs vom 10. 10. 1887, BArch R 1501 Nr. 100100, fol. 88106 Rs. 9 In der U. a. für Sozialpolitik zuständigen "Abteilung 11" oder "Wirtschaftlichen Abteilung" des Reichsamts des Innern waren dies vor allem die Dezernenten Robert Bosse (Unterstaatssekretär) und Erich V. Woedtke (Vortragender Rat). Vgl. zu beiden biographisch: Rückert, Entstehung und Vorläufer, S. 18.

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und das Annenwesen als allerletzte Auffangstation. Die Familie als quasi natürliche Ressource blieb unerwähnt. "Im Uebrigen ist für Wittwen und Waisen [ ... ] durch eine Reihe von Wohlthätigkeitsanstalten, wenn auch nicht ausreichend, so doch einigermaßen gesorgt. Auch werden nach dem Inslebentreten der Invaliditätsversicherung diejenigen Anstalten, welche gegenwärtig genöthigt sind, ihre Mittel durch Unterstützung von Invaliden neben deIjenigen von Wittwen und Waisen zu zersplittern, dazu übergehen können, den letzteren eine erhöhte Fürsorge zuzuwenden, weil die Invaliden ihrer Fürsorge dann nicht mehr im gleichen Maße bedürftig sein werden." 10

Die Verfasser des Regierungsentwurfs setzten also darauf, daß kommunale Armenpflege und private Caritas ihre Fürsorge demnächst ungeschmälert den Witwen und Waisen zukommen lassen könnten, wenn erst die zukünftigen Alters- und Invalidenrentner über eine reichsweite Rentenversicherung versorgt seien. Sollten Arbeiter gerade durch die Sozialversicherung aus den unzureichenden Leistungen und sozialen Diskriminierungen des Annenwesens herausgelöst werden, so aber nicht deren Witwen. Der Entwurf für den Reichstag vom November 1888 betonte die eigenständige Sicherung von Frauen, sah sie als zunehmend erwerbstätig an und nahm sie deshalb überhaupt erst in den Kreis der Versicherungspflichtigen auf - zwecks Aufbau einer eigenen Sicherung. Heirat und damit eine etwaige soziale Sicherung durch Ehe war hier kein Ausschließungsgrund. Vielmehr hieß es dazu: ,,Die Aussicht, welche weibliche Arbeiter auf Eingehung einer Ehe haben, darf nicht dazu führen, ihnen die Versicherung um deswillen vorzuenthalten, weil sie nach Begründung eines eigenen Hausstandes nicht mehr auf Lohnerwerb angewiesen sein würden. Bei den in Deutschland bestehenden Verhältnissen bildet der Fall, daß weibliche Personen mit der Verheirathung aufhören, gegen Lohn zu arbeiten, keineswegs die Regel; die Haushaltung unserer Arbeiterfarnilien ist vielmehr häufig auf Miterwerb durch die Ehefrau geradezu angewiesen ... 11

Mit dieser durchaus richtigen Sicht der "Mitarbeit" und des ,,zuverdienstes" von Ehefrauen in Arbeiterkreisen war aber die wichtige Frage der Kontinuität von eheweiblicher Erwerbsarbeit noch nicht berührt. Die Reichstags-Abgeordneten beur10 Begründung des Entwurfs, S. 49; nahezu wortgleich: Denkschrift 1887, S. 26, dort allerdings fehlend: der o.g. Passus zur eigenständigen Alterssicherung der Frau. 11 Begründung des Entwurfs, S. 51. Eine Versicherungspflicht auch für Arbeiterinnen war vorgesehen, weil sie nach Einschätzung der Referenten im Reichsamt des Innern den Lebensrisiken Krankheit, Betriebsunfall, Invalidität "in gleichem Maße ausgesetzt" waren wie Arbeiter (ebenda). In der Denkschrift 1887 wurden Frauen und ihre Erwerbsarbeit noch nicht eigens thematisiert. Hier ging es vielmehr noch gänzlich unspezifiziert um die Erfassung "sämtlicher gegen Lohn arbeitenden Personen des Arbeiterstandes" (S. 27). Bei den weiteren Darlegungen, z. B. zum Versichertenkreis, zu etwaigen diskontinuierlichen Versichertenbiographien, zu Ersatzzeiten, waren diese "Personen" hingegen ausschließlich Männer (bes. S. 28 f.); einzige Ausnahme: die um ein Drittel abgesenkte Invalidenrente für Frauen (S.32).

13 Fisch/Haerendel

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teilten die Häufigkeit und Dauerhaftigkeit der Frauenerwerbsarbeit indes anders als die Autoren des Entwurfs. Deshalb rückte schon am ersten Tag der Generaldebatte (6. Dezember 1888) eine bis heute zentrale Frage in den Mittelpunkt der "Witwen-Diskussion": War und ist Frauenerwerbsarbeit eine "lebenslängliche Erwerbsarbeit" oder eine "Episode ihres Lebens" bis zur Heirat mit anschließender Bricolage l2 ? Die Mehrheit der Abgeordneten aller parteipolitischen Schattierungen erblickte darin ein vorübergehendes Phänomen, erhoffte es zumindest. Deshalb sollte - so die Kurzfassung der Redebeiträge - die Möglichkeit des Austritts aus der Rentenversicherung mit Rückerstattung der gezahlten Beiträge geschaffen werden. Damit kam die - für viele Frauen bis heute sich fatal auswirkende - "Beitragserstattung bei Heirat" ins Spiel, die als Lücke im Entwurf identifiziert wurde 13. Den "modemen" Optimismus des Gesetzentwurfs im Hinblick auf die Erwerbsarbeit von Frauen teilten die Abgeordneten nicht. Sie setzten Heirat gleich mit dem Ende zumindest der regelmäßigen, oft auch der versicherungspflichtigen Erwerbsarbeit und sahen die Sicherung der Frau nach ihrer Verehelichung wesentlich über Ehe und Familie gegeben. Eine andere Regelung für das Ausscheiden aus der Versicherung kam ebenfalls auf Betreiben der Reichstags-Abgeordneten neu hinzu: die Beitragserstattung bei 12 Belegt mit zahlreichen Beispielen aus dem Arbeits- und Lebenszusarnmenhang von Arbeiterinnen malte der Abgeordnete Arnold Lohren (Dt. Reichspartei) arn 10. 12. 1888 die Wirkungen des Rentengesetzes für Frauen aus und benannte darin die Punkte, die bis heute für die "weibliche Rentenmisere" verantwortlich sind: Diskontinuität, Lohnniveau, nichtversicherungspflichtige Beschäftigung (Sten. Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/ 89, Bd. 1, bes. S. 205 - 209). Zur Rede Lohrens vg!. auch Fait, Arbeiterfrauen, S. 196 f. 13 Acht von 17 Rednern der ersten Lesung griffen die Beitragserstattung bei Heirat auf, die zuerst vom SPD-Abgeordneten Karl Grillenberger am 6. 12. 1888 nach dem Muster der bayerischen Eisenbahn-Pensionskassen angedacht worden war (Sten. Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 1, S. 148, 159). In der Kommission stellte der Elberfelder Fabrikant und Abgeordnete des Freisinns Reinhart Schmidt den entsprechenden Antrag als § 2b (BArch R 101 Nr. 3138, fo!. 44: interne Drucks. Nr. 13 der VI. Kommission, Abänderungsanträge, II.l, 15. 1. 1889; auch: Kommissionsbericht vom 22. 3. 1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 5, Nr. 141, S. 895 -1138, hier 899, 914, 960), in der Kommission und in der 2. Lesung als § 23a beraten, später § 30 des Gesetzes. Inhalt dieser SonderregeJung nur für weibliche Versicherte: War die fünfjährige Mindestbeitragszeit erfüllt, konnten sich Frauen bei Heirat ihre Rentenversicherungsbeiträge auf Antrag auszahlen lassen und verloren so sämtliche Anwartschaften. Die Beitragserstattung bei Heirat erlebte in der Arbeiterrentenversicherung (nicht in der Angestelltenversicherung!) eine wechselvolle Geschichte der Abschaffung (1911, 194511947, 1967) und Wiedereinführung (1937, 1957). Zum Jahresende 1967 fand sie ihr vorläufiges Ende (Finanzänderungs-Gesetz vom 21. 12. 1967; BGB!. I, S. 1259) und mit einer von 1992 bis Dezember 1995 befristeten Sonder-Nachzahlungsregelung ihr endgültiges Ende (Karin Becker, Nachzahlung für Zeiten der Heiratserstattung gemäß § 282 SGB VI, in: Die Angestellten-Versicherung 42 [1995], Nr. 7/8, S. 258 - 262). Schätzungen gehen dahin, daß zwischen 1957 - 1968 bis zu drei Viertel aller heiratenden Frauen die Beitragserstattung bei Heirat beantragten und für ein bißchen Bargeld vor dem rentenrechtlichen Nichts standen (Annelies Kohleiss, Sie heiratet ja doch ... Ehe und soziale Sicherheit der Frau gestern, heute und morgen, Freiburg 1983, S.73).

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Tod, die speziell auf Witwen zielte l4 . Beim Tod des "Familienernährers" sollten die von ihm geleisteten Rentenversicherungsbeiträge an die Angehörigen zurückgezahlt werden, sofern der Verstorbene bis dahin noch keine Rente bezogen hatte, die fünfjährige Wartezeit aber erfüllt und die Anwartschaft erhalten war. Schon in der Generaldebatte schrumpfte die "Witwenfrage" auf diese Notlösung zusammen: auf eine einmalige Abfindung der Witwe mit den Rentenbeiträgen des verstorbenen Ehemannes 15. Zugleich herrschte ein breiter Konsens über die Dringlichkeit einer "richtigen" Witwenabsicherung, deren Notwendigkeit mit der prekären sozialen Lage vieler Witwen und ihrem ersten Platz in der Statistik der Arrnenpflege begründet wurde 16. Dabei wurde unterstrichen, daß eine Witwenversorgung das weitaus dringendere soziale Problem sei als eine Altersversorgung der Arbeiter was auch die Arbeiter selbst so sähen 17 • Stellvertretend dazu der Abgeordnete der Freisinnigen Partei Heinrich Rickert am 10. Dezember 1888: "Was den Mann in schwere Sorgen gebracht hat, das war nicht der Gedanke an seine eigene Zukunft - es liegt nicht in der Art des Mannes, sich ausschließlich den Kopf zu zerbrechen, wie es ihm im Alter ergehen wird - nein, meine Herren, die schweren Sorgen um Weib und Kind sind es, die ihn bewegen. Da hat er lange seine Beiträge gezahlt, und 14 Die Beitragserstattung bei Tod war eine alte Zentrums-Idee. Vgl. Gutachten des Vorstandes des Verbandes ,,Arbeiterwohl" zu den Grundzügen ... , in: Arbeiterwohl 8 (1888), Nr. 1, Januar, S. 1-17, hier 6,8. Im Reichstag formulierte sie zuerst der Zentrums-Vertreter Franz Hitze. Für den Fall, daß es keine Rentenversicherung mit integrierter Hinterbliebenenversicherung geben sollte, schlug er am 7. 12. 1888 wenigstens eine Beitragsrückzahlung, hier "Sterbegeld" genannt, vor (Sten. Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 1, S. 178). Neben Hitze griffen zwei weitere der 17 Redner der 1. Lesung das Thema auf. Der Antrag in der Kommission ging - so wie jener zur Beitragserstattung bei Heirat - auf den Freisinnigen Reinhart Schmidt (Elberfeld) zurück (BArch R 101 Nr. 3138, fol. 44: interne Drucks. Nr. 13 der VI. Kommission, Abänderungsanträge, II.2, § 2c, 15. 1. 1889), hier als § 23b beraten, später § 31 des Gesetzes. 15 Beim Tod eines versicherten Mannes bestand der Erstattungsanspruch nur für die Witwe, war keine vorhanden, dann für die ehelichen Vollwaisen unter 15 Jahren. Eine versicherte Frau vererbte einen Erstattungsanspruch nur an ,,hinterlassene vaterlose Kinder" bis zum 15. Lebensjahr, somit an eheliche Vollwaisen und an ihre nichtehelichen Kinder (vgl. Bosse/ Woedtke, Reichsgesetz, S. 336f.). Die Rentenversicherungs-Novelle von 1899 brachte eine Gleichbehandlung der Geschlechter: Nunmehr hatten auch die Witwer bisheriger "Familienernährerinnen" einen Erstattungsanspruch, zudem die Waisen von eheverlassenen Frauen. 16 Zeitgenössische monographische Studien zur sozialen Lage von Witwen sind rar, Splitter finden sich in der Armen- und Altersliteratur. Die einzige wissenschaftlich fundierte Untersuchung ist: Friedrich Prinzing, Die sociale Lage der Witwe in Deutschland, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft 3 (1900), Nr. 2 und 3, S. 94-109,199-205. Ein Aufruf der Familienzeitschrift "Die Gartenlaube" lieferte 1906 zahlreiche autobiographische Zeugnisse von ledigen und verwitweten, vorwiegend bürgerlichen Frauen: Vor den wirtschaftlichen Kampf gestellt ... ! Ein Preisausschreiben der "Gartenlaube", Leipzig 1906. 17 In der 1. Lesung: Karl Grillenberger (SPD) am 6. 12. 1888, Franz Hitze (Zentrum) und Karl Schrader (Freisinnige Partei) am 7. 12. 1888, Heinrich Rickert (Freisinnige Partei) am 10. 12. 1888 (Sten. Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 1, S. 148, 178, 191,224); in der 2. Lesung: Reinhart Schmidt (Freisinnige Partei) und Oscar Hahn (Konservative Partei) am 29.3. 1889 (ebenda, Bd. 2, S. 1093 f., 1101). So auch außerparlamentarisch: O.[echelhäuser] in der Dt. Arbeiter-Zeitung 4 (1891), Nr. 41, S. 323.

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gerade ein Jahr vor der Erreichung des Zieles stirbt er, nichts davon bleibt der Familie, keinen Pfennig von dem erhält sie, was er sein ganzes Leben lang beigetragen hat."

Rickert war zu Recht der Ansicht, daß die zukünftigen Minimal-Renten für Arbeiter systematisch diejenigen verfehlten, die sich längst als die wahren Bedürftigen erwiesen hätten: die zahllosen Witwen im Armenwesen l8 . Der Abgeordnete der Konservativen Partei Otto v. Helldorff-Bedra war eine Ausnahme im recht unisono klingenden Witwensicherungs-Konsens der ersten Lesung. Auch er vertrat das Argument der fehlenden Finanzen für einen Einschluß der Hinterbliebenen, hatte darüber hinaus aber grundlegende Bedenken, da "die Verfolgung dieses Zieles etwas über den wirklichen, zunächst zu verfolgenden Rahmen unserer Gesetzgebungsaufgabe hinausgehen" würde: Helldorff definierte Familie als Privatangelegenheit eines Arbeiters und benannte als Grundgedanken des Rentenversicherungsgesetzes "die Regulirung der Natur des Arbeitslohns", nicht der Familie, womit er eine nur erwerbsarbeitsbezogene Sozialversicherung geradezu einforderte: "Es kommt zunächst nur der Arbeiter in seinem individualen Verhältniß zur Sprache, nicht in dem Verhältniß, was er freiwillig eingeht in der Ehe und der Bildung der Familie, und wir müssen uns doch hüten, von diesem Grundgedanken der Gesetzgebung zu weit abzuweichen in einem ja höchst achtungswerthen humanen Sinne; eine gewisse Konsequenz ist unerläßlich".19

Der Konservative v. Helldorffblieb ein einsamer Rufer im Chor der Befürworter einer Hinterbliebenenversicherung. Fast die Hälfte aller Redner der ersten Lesung plädierte für ihre Einrichtung. Witwen und Waisen wurden dabei zumeist in einem Atemzug, im Verbund, als etwas Zusammenhängendes genannt, d. h. die Personengruppe "Hinterbliebene" wurde noch nicht nach Kriterien wie Alter, Anzahl, sozialer Stand differenziert. Wie aber eine "richtige" Hinterbliebenenversicherung aussehen sollte - das hatte noch kein Abgeordneter zu formulieren versucht. Das Unfallversicherungs-Gesetz von 1884 mit seinen unbedingten Witwen- und Waisenrenten für die Hinterbliebenen von Betriebsunfalltoten diente unausgesprochen als Muster. Die Idee einer Witwenrente für alle Witwen und ohne einschränkende Konditionen beherrschte die Vorstellungswelt der Abgeordneten - dieses Ideengebäude schrumpfte dann schnell zusammen. 18 Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. I, S. 224, mit Zahlen aus dem Berliner Armenpflege-Verwaltungsbericht für 1887. So bereits: Die Invaliden-, Wittwen- und Waisen-Versorgung der Arbeiter [Beschlüsse zweier "Arbeiterwohl"-Vorstandssitzungen am 9.2. und 14.4.1887 in Kölnl, in: Arbeiterwohl 7 (1887), H. 4/5, April/Mai, S. 61-79, bes. 62, 78. 19 Am 7.12.1888; Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. I, S. 180. So auch vehement: O.[echelhäuserl in der Dt. Arbeiter-Zeitung 4 (1891), Nr. 42, S. 331; dazu Widerspruch im anonymen Leserbrief: ebenda, bes. Nr. 48, S. 379 f. Helldorffs Lösungsvorschlag für die "Witwenfrage" war die private Caritas: "Wenn irgend ein Gebiet mehr und zweckmäßiger der Thätigkeit der kleineren Organisationen, der freiwilligen Thätigkeit der einzelnen Kreise überlassen werden kann, so ist es gerade dieses." (ebenda).

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Schon in den Kommissionsberatungen bis März 1889 war die "Witwenfrage" kein eigener Diskussionspunkt mehr, sie wurde allenfalls im Kontext der Modellierungen der Beitragserstattung bei Tod mitgedacht. Nur zu Beginn tauchte hier noch ein Antrag des Nationalliberalen Gustav Siegle für eine partielle Inklusion von Witwen und eine universale Inklusion von Waisen auf: eine unbedingte Waisenrente bis zum 15. Lebensjahr, eine Witwenrente nur, solange rentenberechtigte Kinder vorhanden waren 20 . Dieser Antrag beinhaltete drei Premieren zugleich: Mit ihm wurde die Witwen- und Waisenversicherung erstmals konkretisiert, wurden Hinterbliebene spezifiziert und Witwen über eine bedingte, nämlich kindbegründete Witwenrente inkludiert21 • Einen letzten, im Ansatz vergleichbaren Versuch für eine Witwensicherung unternahm der rege Freisinn-Abgeordnete Reinhart Schmidt - der geistige Vater der Beitragserstattungen in der Kommission - noch in der zweiten Lesung: Wenn es schon im Rahmen des Rentengesetzes keine Witwen- und Waisenversorgung geben sollte, die "von der allergrößten Wichtigkeit ist, daß sie hier mit hineingehört und besser noch vorher gemacht wäre", dann doch wenigstens ein "Erziehungsgeld" für die Witwe mit Kindern unter 15 Jahren. Schmidts Begründung dieser "Erziehungsrente" war kindorientiert, der Anknüpfungspunkt war die Mutter, aber keineswegs die Ehefrau bzw. die Witwe: "Denn das ist wiederum der allerwundeste Punkt bei der Versorgung der Wittwen und Waisen. Die Wittwe ist, namentlich wenn sie wenig oder keine Kinder hat, immer noch in der Lage, ihren Unterhalt zu verdienen; die Kinder aber sind nicht in der Lage und werden ohne Erziehungsgelder, in Waisenhäuser und dergleichen, jedenfalls nicht in der Weise erzogen, wie das Familienleben auf die Kinder einwirken würde.,,22

Schmidt unterschied bei der Notwendigkeit einer Witwensicherung zwischen Witwen mit und ohne Kinder und votierte für eine Einbeziehung wenigstens der 20 Antrag für einen zusätzlichen § la mit Hinterbliebenenrenten, wenn der verstorbene Versicherte "unter Hinterlassung von versorgungsbedürftigen Kindern" nicht wenigstens drei Jahre lang Alters- oder Invalidenrente bezogen hatte: 15 % bzw. 20 % der Invalidenrente des Versicherten für Halb- bzw. Vollwaisen unter 15 Jahren; 20 % für die Witwe, sofern rentenberechtigte Kinder vorhanden waren; Begrenzung der Hinterbliebenenrenten auf 75 % der Invalidenrente. Die geplanten Rentensätze entsprachen - mit Ausnahme der Begrenzung jenen der Unfallversicherung (§ 6), deren Bezugsgröße indes das Jahreseinkommen des Versicherten war. Vgl. BArch R 101 Nr. 3138, fol. 44: interne Drucks. Nr. 13 der VI. Kommission, Abänderungsanträge, 1., § 1, 15. I. 1889 (für die Überlassung einer Kopie dieses Aktenstücks danke ich Prof. Florian Tennstedt, Kassel); vgl. auch Kommissionsbericht vom 22.3.1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 5, Nr. 141, S. 8951138, hier 898. 21 Der Antrag ging im weiteren Beratungsverlauf aus banalen Gründen - fehlende Unterlagen z.zt. der Antragstellung - undiskutiert unter. Vgl. Kommissionsbericht vom 22. 3. 1889, S. 898. Der Antragsteller Gustav Siegle, Fabrikbesitzer aus Stuttgart, trat im Reichstagsplenum nur einmal als Redner in der Rentendebatte auf, nicht aber zu dieser Sache und dazu auch kein anderer Vertreter seiner Partei. 22 Am 8. 4.1889, Steno Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 3, S. 1366. Obiges Zitat ebenda.

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Witwen mit jüngeren Kindern. Diese Minimal-Lösung per Teil-Inklusion sollte nach 1889 bei der weiteren Konzeptualisierung einer Hinterbliebenenversicherung noch zur erstrebenswerten Ideal-Lösung werden. 1889 aber blieben Witwen und Waisen zunächst aus dem Rentensystem ausgeschlossen. Fazit: Im politischen Prozeß der Gestaltung und Entscheidung der Rentenversicherung - in der Wünsch- und Machbarkeit des Gesetzesvorhabens - zeigte sich 1888/89 eine deutliche Trennlinie zwischen dem Diskurs im Reichstag und den regierungsseitig vorbereiteten Entwürfen: Die Abgeordneten der verschiedenen Parteien forderten andere und weitere Lösungen für Witwen als das Reichsamt des Innern bzw. der Bundesrat. Als Ergebnis der Debatten um die Inklusion oder Exklusion der Witwen in das Rentensystem kam die Beitragserstattung beim Tod des "Familienernährers" heraus. Sie war im Rentenrecht eine erste Form der Witwen versorgung aufgrund vom Ehemann abgeleiteter Sicherungsansprüche. Sie war zugleich ein "Trostpflaster" und hatte Ersatzfunktion für die zwar allseits gewünschte, aber aus Kostengründen verworfene Hinterbliebenenversicherung. In der Rechtspraxis erwies sie sich zudem als eine "Spekulation mit der Lebenserwartung des invaliden Arbeiters,,23. Zu Beginn der Rentendebatten hatte eine universale Inklusion der Witwen und Waisen das Denken beherrscht und war als noch undifferenzierte, quasi "ganzheitliche Witwen- und Waisenversorgung" thematisiert worden. An ihrem Ende kam die partielle Inklusion der Witwen ins Blickfeld. Renten für Witwen mit Kindern, nicht Renten für invalide Witwen wurden im Kontext knapper finanzieller Ressourcen als das dringendste Problem identifiziert. Der Antrag Schmidt wies den zukünftigen Weg: Es ging vor allem um Waisenrenten, weniger um Witwenrenten, und wenn doch letzteres, dann um kindbegründete Witwenrenten. Aus "alle Arbeiter-Witwen" wurde hier "Witwen mit Kindern", eine weitere Eingrenzung der Klientel ließ nicht lange auf sich warten. ll. Die "Witwenfrage" bis zur RVO Nachdem das Rentengesetz als die "Krönung der Sozialreform" 1889 abgearbeitet war, firmierte fortan die "Witwen- und Waisenfrage" als Restaufgabe unter diesem Signum24 . Ihre Erörterung und ihre aktivsten Vorkämpfer - der Freikonservative Karl Freiherr v. Stumm und der Zentrums-Abgeordnete Franz Hitze - ruhten im Reichstag keineswegs, so etwa bei Debatten über den Haushaltsetat des Reichsamts des Innern, der traditionell zur Abrechnung des Reichstags mit der Sozial23 Zitate: Dreher, Entstehung, S. 32. Zum "Ersatz" auch Bosse/Woedtke, Reichsgesetz, S. 335; Kommissionsbericht vom 22. 3. 1889, bes. S. 960. 24 Mehrfach, z. B. ironisch Karl Grillenberger (SPD) in der Generaldebatte arn 6. 12. 1888 und Paul Singer arn 17. 5. 1889 bei der Begründung der Ablehnung des "Klebegesetzes" durch die SPD (Sten. Berichte Reichstag, VII. LP, IV. Session 1888/89, Bd. 1, S. 139-161, hier 146; ebenda, Bd. 3, S. 1787 - 1793, hier 1788). Nach 1889 wiederholt, z. B. im Kommissionsbericht für die Renten-Novelle vom 6. 5. 1899 (Sten. Berichte Reichstag, X. LP, I. Session 1898/1900, Bd. 3, Nr. 270, S. 1703-1804, hier 1793).

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politik der Regierung genutzt wurde 25 , und so auch bei der einzigen Novellierung des Rentengesetzes vor der RVO. Die erste Lesung im Februar 1899 wurde von einer ausgeprägten, aber inhaltlich nicht neuen Diskussion um die "Witwenfrage" beherrscht, obwohl die Gesetzesvorlage - anders als diejenige von 1888 und anders als damals von Regierungsseite und verbündeten Regierungen zugesagt keine Silbe dazu enthalten hatte. Die Frage einer Hinterbliebenenversorgung erwies sich zu keinem Zeitpunkt als strittig, im Gegenteil: Thre dringliche Notwendigkeit wurde gern betont, grundlegende Änderungen in der Problemwahrnehmung, -thematisierung und -argumentation lassen sich indes nicht ausmachen. Witwen, Waisen und ihre Versorgung wurden erneut als der ungetrennte, unspezifizierte Block diskutiert. Je weiter der parlamentarische Gesetzgebungsprozeß jedoch fortschritt, um so mehr erstarb - wie schon 1888/89 - die "Witwenfrage,,26. Für die potentiellen Witwen der Seeleute aber hatten die Beratungen ein konkretes Ergebnis: Die See-Berufsgenossenschaft übernahm die Vorbereitungen für eine Altersversicherung mit integrierter Hinterbliebenensicherung, die 1907 in Kraft trat27 . Im Januar 1900 war die "Witwenfrage" erstmals einziger Tagesordnungspunkt im Reichstag und wurde nicht im Kontext anderer Themen mit-beraten. Zur Diskussion standen Reslutionen des Abgeordneten v. Stumm sowie der ZentrumsVertreter Schaedler und Hitze. Es waren Relikte der Renten-Novellierung von 1899, die zunächst auf den Herbst, von dort auf den Jahresanfang 1900 verschoben worden waren. "Im Anschluß an die Invalidenversicherung" forderte der Stummsche Antrag einen Gesetzentwurf für eine Hinterbliebenenversicherung für den Versichertenkreis der Rentenversicherung, der Zentrums-Antrag dagegen dasselbe nur für Fabrikarbeiter. Stumms Resolution fand - bei allerdings "schwach besetzt[em] Haus" - einmal mehr größte Zustimmung 28 . Die neue Qualität dieser 25 Franz Hitze am 18.2. 1895 und - inhaltlich gleich - am 28. 1. 1896 bei den Beratungen zum Haushalt des Reichsamts des Innern für 1895/96 bzw. 1896/97 (Sten. Berichte Reichstag, IX. LP, III. Session 1894/1895, Bd. 2, S. 952-957, hier 955; Steno Berichte Reichstag, IX. LP, IV. Session 1895/1897, Bd. I, S. 590f., hier 590). 26 Vgl. zu den zwei Anläufen zum "Invalidenversicherungs-Gesetz" vom 13. 7. 1899: (1.) Entwurf vom 26. 2. 1897 (Sten. Berichte Reichstag, IX. LP, IV. Session 1895/1897, Bd. 6, Nr. 696, S. 3462-3576), mit l00seitiger "Denkschrift" ohne ein Wort zur "Witwenfrage" (Zu Nr. 696); 1. Lesung vom 28.-30. 4. 1897 ohne Ergebnis und mit nur zwei von 21 Rednern (v. Stumm, Eugen Richter) für eine Hinterbliebenenversicherung (ebenda, Bd. 7, S. 56255700). In relativ unveränderter Form (2.) Entwurf vom 19. 1. 1899 (Sten. Berichte Reichstag, X. LP, I. Session 1898/1900, Bd. I, Nr. 93, S. 589-754); 1. Lesung vom 13.-16. 2.1899 mit elf von 28 Rednern pro Hinterbliebenenversicherung (ebenda, Bd. I, S. 811-917). 27 Zur Hinterbliebenenversicherung für Seeleute, die hier nicht weiter ausgeführt werden kann, vgl. Loeper, Arbeiter-Witwen, S. 19 ff., dort auch die Vorgeschichte; Hugo Hanow, Erläuterungen zu den Satzungen der Invaliden-, Witwen- und Waisen-Versicherungskasse der See-Berufsgenossenschaft. Unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1907, dort bes. die Einleitung zum parlamentarischen Werdegang. 28 Steno Berichte Reichstag, X. LP, I. Session 1898/1900, Bd. 4, 12. 1. 1900, S. 34853504. Zitat: Eugen Richter, S. 3499. Ablehnung der Resolutionen indes aus Kostengründen

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Debatte lag in der Tatsache, daß sie stattgefunden hatte; ein greifbares Ergebnis brachte sie nicht. Den entscheidenden Anstoß erhielt die Hinterbliebenenversicherung vielmehr vom Zolltarif-Gesetz von 1902, mit dem das finanzielle Fundament und ein konkreter Termin festgelegt wurden. Die hier als § 15 verabschiedete sog. Lex Trimborn erwies sich als der "Sauerteig", der letztlich zur Hinterbliebenenversicherung in der RVO aufquoll. Der Paragraph - dem der Zentrums-Abgeordnete Karl Trimborn den Namen, aber nicht die Idee gab - sah vor, daß die Zusatzeinnahmen aus der politisch hart umkämpften Erhöhung der Agrarzölle als Kapitalstock für eine Hinterbliebenenversicherung ab Jahresbeginn 1910 festgeschrieben wurden29 . Ausschlaggebend dafür, daß die Hinterbliebenenversicherung nach langen Jahren der Absichtserklärungen und noch längerem Problemdruck ihren parlamentarischen Weg nahm, war nicht primär eine zielgerichtete sozialpolitische Inangriffnahme der allseits bekannten Problemlagen von verwitweten Frauen und ihren Kindern, sondern wahl-, steuer- und finanzpolitische Taktik unter Federführung der Zentrums-Partei. Das Zentrum hielt zwar einerseits immer die gesellschaftliche Bedeutung und den Schutz der Familie hoch, und die Hinterbliebenenversicherung war nicht nur nach Einschätzung Karl Trimborns "besonders ein alter Lieblingsgedanke meiner [Zentrums-]Freunde". Beim Zolltarif-Gesetz wogen andererseits aber strategische Überlegungen mindestens ebenso schwer3o. Die Partei mußte um ihre Wählerschaft - neben agrarischen Kreisen auch katholische städtische Arbeiter - fürchten, weil die handarbeitende Bevölkerung von der Lebensmittelverteuerung aufgrund der erhöhten Agrarzölle besonders betroffen war. Nun lautete der politische Tauschhandel: Grundsteinlegung und Zusage einer Hinterbliebenenversicherung in Gestalt der Lex Trimborn gegen höhere finanzielle Belastungen der Einzelhaushalte. Der Lex Trimborn folgten erstmals schnelle und konkrete Reaktionen. Bereits im Juni 1903 war eine Denkschrift zum Entwurf einer Hinterbliebenenversicherung im· Reichsamt des Innern fertiggestellt. Sie zeigte die Verengung der potentiell abzusichernden Klientel an 31 • Schon in den "Vorbemerkungen" hieß es, daß bei den Konservativen (v. Richthofen, S. 3493). Antrag Stumm: ebenda, Bd. 3, Nr. 283 vorn 10. 5. 1899, S. 1987; Antrag Franz Xaver Schaedler, Franz Hitze und 14 andere: ebenda, Bd. 3, Nr. 321 vorn 18.5. 1899, S. 2192. 29 Metapher von Friedrich Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, Berlin 1928/Nachdruck 1981, S. 185. Zur Lex Trimbom, als "Antrag Heim" in der Kommission im November 1902 gestellt, vgl. Loeper, Arbeiter-Witwen, S. 49-51; Dreher, Entstehung, bes. S. 52 ff. 30 Trimbom arn 21. 11. 1902, Steno Berichte Reichstag, X. LP, 11. Session 1900/1903, Bd. 7, S. 6487 -6490, hier 6488. Dreher, Entstehung, unterstreicht die partei- und finanzpolitischen Motive, bes. S. 34,41 ff., 44f. mit zeitgenössischen Zitaten, die U. a. den Dauerstreit um direkte Steuereinnahmen des Reichs betonen: Wenn schon mehr Zolleinkünfte, dann zweckgebundene. 31 "Denkschrift der Referenten Geheimer Ober-Regierungsrat [und Jurist] Dr. [Paul] Kaufmann und Regierungsrat [und Versicherungsmathematiker] Dr. [Adolf] Beckmann, betr. die

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- anders als ursprünglich geplant - aus Finanzierungsgründen keine Gleichbehandlung der Witwen von Betriebsunfalltoten und von natürlich Verstorbenen erfolgen könne. Die Reichsmittel für eine Hinterbliebenenversicherung, d. h. die zusätzlichen Zolleinnahmen, reichten für eine unbedingte Witwenrente an alle Arbeiterwitwen nicht aus. Damit werde sich aber leider auch der "sozialpolitisch erwünschte Erfolg [ ... ], die Witwen mehr wie bisher von der Erwerbstätigkeit fernzuhalten und ihnen eine wirksamere Pflege des Haushalts und der Erziehung der Kinder zu ermöglichen", nicht einstellen können 32 • Angesichts knapperer Kassen als erwartet erfolgte eine Eingrenzung der Klientel. Die partielle Inklusion orientierte sich nun nicht mehr am Kriterium "Kinder", sondern ,,Erwerbsfähigkeit", somit an einem Element des Arbeitsmarktes und keinem der Familienpolitik. "So wünschenswert an sich die Fürsorge für alle Witwen und deren Gleichstellung mit den Unfall witwen sein mag, so ist doch nicht zu verkennen, dass eine [ ... ] auf die Befriedigung des dringendsten Bedürfnisses zu beschränkende Hinterbliebenenversicherung von einer Fürsorge für die erwerbsfähigen Witwen absehen darf. ,,33 Vier Kategorien von Witwen wurden diskutiert: I) die erwerbsfähige kinderlose Witwe, 2) die erwerbsfähige Witwe mit erwerbstätigen Kindern, wobei bei den Gruppen bei frauenspezifischen haushaltsnahen Betätigungen als "Aufwartefrauen, Kinderfrauen pp." gleiche, oft sogar bessere Erwerbschancen als ledigen Frauen zugedacht wurden, 3) die erwerbsfähige Witwe mit Kindern im "fürsorgebedürftigen Alter", schließlich 4) die erwerbsunfähige Witwe jedweden Alters. Nur für letztere wurde "unter allen Umständen", selbst beim Vorhandensein von Waisenrenten, ein Unterhaltsbedarf gesehen. Demgegenüber galt die erwerbsfähige Witwe mit jüngeren Kindern wegen zukünftiger Waisenrenten nicht als stützungsbedürftig: Zum einen sei "durch ausreichende Bemessung der Waisenunterstützung der Unterhalt der Waisen hinreichend sichergestellt", zum anderen müsse die Witwe dann nur noch den eigenen Lebensbedarf durch Lohnarbeit abdecken. Der hier formulierte faktische Vorrang der Waisenrenten vor den Witwenrenten deckte sich mit den Prioritäten des Namensgebers der Lex Trimborn. Der Zentrums-Vertreter Karl Trimborn hatte bei den Beratungen des Zolltarif-Gesetzes im November 1902 seine "ganz unverbindlichen Gedanken eines einzelnen Abgeordneten" zur Konzeptualisierung einer Hinterbliebenenversicherung formuliert. Ausarbeitung des Entwurfs eines Hinterbliebenenversicherungsgesetzes, vom 25. Juni 1903", 121 S., Ms. (im folg.: Denkschrift 1903; BArch R 1501 Nr. 100968, fol. 326-447). Eine spätere Druckfassung "Denkschrift, betr. den Entwurf eines Hinterbliebenenversicherungsgesetzes" vom März 1904,92 S. (im folg.: Denkschrift 1904) ging zur Stellungnahme an die verbündeten Regierungen (BayHStA MA Nr. 97158, fol. 326-447). Alle folg. Zitate nach der Denkschrift 1903. 32 Denkschrift 1903, S. I; Denkschrift 1904, S. 7, hier mit veränderter Reihenfolge: erst Kinder, dann Haushalt. 33 Denkschrift 1903, S. 2; die nachfolg. Zitate S. 2, 2, 3, 2.

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"Meine Freunde und ich legen vor allen Dingen Werth darauf, daß die [VolI-]Waisen berücksichtigt werden; [ ... ] für diese Hilflosesten müßte in allererster Linie gesorgt werden. Weiter sind wir der Meinung, daß noch vor der Fürsorge für die Wittwe gesorgt werden sollte für das Kind der Wittwe, und daß erst in letzter Linie für die Wittwe selbst die Fürsorge einzutreten hätte. Was diese Fürsorge angeht, so bin ich [ ... ] der Auffassung, daß hier eine Beschränkung von vornherein wohl gegeben ist. Ich meine, daß nur diejenigen Wittwen zu unterstützen sind, die nach den Vorschriften des Invalidenversicherungsgesetzes als erwerbsunfähig anzusehen sind. Jede Wittwe zu unterstützen, die unter das Invalidenversicherungsgesetz fällt, dazu liegt unseres Erachtens, wenigstens zunächst, keine Veranlassung vor. ,,34

Auf die "ganz unverbindlichen Gedanken" Trimborns nahmen die Autoren der Denkschrift von 1903 gern Bezug und legitimierten damit die Begrenzung der zu versichernden Klientel. Dies war die regierungsseitige Grundsteinlegung einer unbedingten Waisenrente und einer bedingten Witwenrente als eigentlicher Witweninvalidenrente. Das Konzept einer "Verbindung von Waisen- und Witweninvalidenfürsorge" der Denkschrift von 1903 wurde im weiteren Gesetzgebungsprozeß nicht mehr aufgebrochen. Der RVO-Entwurf von 1910 lobte es als "eine sozialpolitisch wirksame Hinterbliebenenversicherung,,35. Viele Abgeordnete waren dagegen von der Witweninvalidenrente des Entwurfs - der hierin der Denkschrift nahezu wortgleich folgte - offenbar unangenehm überrascht. Ihre Vorstellungen kreisten noch um eine Absicherung für "alle Arbeiterwitwen". Einige forderten in der ersten Lesung der RVO im April 1910 die Kindererziehung als rentenauslösendes Moment ein und eine dahingehende Abänderung des Invaliditätsbegriffs für Witwen. Kindererziehung sei mit Erwerbsunfähigkeit gleichzusetzen. Anstelle einer gesundheitlich-körperlich orientierten Erwerbsunfähigkeit verlangten sie eine an sozialen bzw. familiären Kriterien ausgerichtete Definition. Für diese Sichtweise sei hier stellvertretend ein Redeauszug des Abgeordneten Viktor Kulerski von der Polnischen Partei zitiert: ,,Das Allerschlimmste bei der Sache [d.i. die niedrige Witwenrente; ME] ist aber das, daß die Witwenrente nur an eine invalide Witwe gewährt werden soll. [ ... ] wir haben tatsächlich etwas anderes erwartet. Wir glaubten, daß man jeder Witwe eine Rente gewähren wür34 Trimbom am 21. 11. 1902, Steno Berichte Reichstag, X. LP, 11. Session 1900/1903, Bd. 7, S. 6489 (Hervorh. im Orig.). Auszugsweise zit. in Denkschrift 1903, S. 3. In den ersten Jahren nach dem Zolltarif-Gesetz befaßte sich der Reichstag nicht mehr mit der Hinterbliebenenversicherung, wohl aber die außerparlamentarischen sozialpolitischen Expertenzirkel (vgl. Kleeis, Geschichte, S. 187). Ein früher Vordenker war hier der Oldenburger LVA-Vorsitzende Augustin Düttmann mit einem Hinterbliebenenversicherungs-Konzept nur für invalide und 1oder 70jährige Witwen (Komzölle und Wittwen- und Waisenversorgung, in: Arbeiterwohl 21 [1901], H. 1-5, Jan./Mai, S. 74-83, hier 75f.). Das erste Hinterbliebenenversicherungs-Konzept stammt wohl von Friedrich Prinzing, der eine Hinterbliebenenversicherung für jede Arbeiterwitwe forderte (Grundzüge und Kosten eines Gesetzes über die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Arbeiter, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft 3 [1900], H. 4, S. 262-277, hier 270 ff.) 35 Denkschrift 1903, S. 3; RVO-Entwurf vom Frühjahr 1910, Steno Berichte Reichstag, XII. LP, 11. Session 1909/1910, Bd. 274, Zu Nr. 340 o.D., S. 366.

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de, und sind darüber enttäuscht, daß es sich nur um invalide Witwen handelt. Wenn man wenigstens sagen wollte: eine erwerbsunfähige Witwe [ ... ] Aber daß nur eine invalide Witwe eine Rente beziehen soll, das finden wir nicht weitgehend genug. Wie soll beispielsweise eine Witwe, die mit vier bis sechs ganz kleinen Kindern nach dem Tode des Mannes hinterbleibt, auskommen? Weshalb soll sie nicht die Witwenrente erhalten? Sie ist doch tatsächlich erwerbsunfähig, da sie vor allen Dingen die Aufgabe hat, die Kinder zu erziehen, sodaß sie dem Erwerb nicht mehr nachgehen kann. Solchen Witwen müßte man ganz entschieden die Witwenrente gewähren.,,36

Derlei Klage half nichts - der Entwurf für die Hinterbliebenenversicherung passierte das RVO-Gesetzgebungsverfahren nahezu unverändert. Die Debatten lassen sich in der "Witwensicherungs-Frage" auf einen knappen Nenner bringen: Das, was am Ende der Rentenberatungen 1889 als erreichbare Minimal-Lösung gefordert wurde - eine Witwenrente für die Witwe mit Kindern -, erwies sich 1911 als eine utopische Ideal-Lösung. Aus ,jede Arbeiterwitwe" war über "Witwe mit Kindern" bereits 1903 die "invalide Witwe" geworden. Die "heiße Phase" der Entwicklung einer Hinterbliebenenversicherung war eher 1889 als 1911, nach 1903 tauchten keine neuen Muster im ohnehin variantenarmen Argumentationsspektrum mehr auf. III. Die Hinterbliebenenversicherung von 1911: Grundzüge und Leitlinien An die Stelle der Beitragserstattung bei Tod des Versicherten trat zum Jahresbeginn 1912 die Hinterbliebenenversicherung für Arbeiterwitwen, die ein Teilbereich der Rentenversicherung war und im Rahmen der RVO im Mai 1911 verabschiedet wurde. Die Prinzipien des Hinterbliebenenversicherungsgesetzes hießen: Versicherungsprinzip, Prinzip der abgeleiteten Sicherung und der abgesenkten Rente 37 • Sie waren in der Konzeptualisierungsphase zu keinem Zeitpunkt umstritten, waren indes auch keine neuen Erfindungen von 1911. Im Sozialversicherungsbereich gab es sie bereits in der Unfallversicherung von 1884 für die Witwen von Betriebsunfalltoten, in abgewandelter Form in der bisherigen Beitragserstattung bei Tod in der Rentenversicherung, ferner in den Knappschaftskassen, vordem in den (privaten) Witwenkassen des 18. und 19. Jahrhunderts 38 . Mit der Hinterbliebenenver36 Am 19. 4. 1910, Steno Berichte Reichstag, XII. LP, II. Session 1909/1910, Bd. 261, S. 2506. Vgl. ebenso Otto Mugdan (Freisinnige Volkspartei) und Hermann Molkenbuhr (SPD) am 18.4. 1910, Robert Schmidt (SPD) am 20. 4. 1910, ebenda, S. 2481 f., 2490, 2541. 37 Vgl. zu den drei zentralen Prinzipien des Sozialrechts: Peter Quante, Grundsätze der Versorgung, Versicherung und Fürsorge, in: Erik Boettcher (Hrsg.), Sozialpolitik und Sozialreform, Tübingen 1957, S. 227 - 244. Bei der Hinterbliebenenversicherung ist das Versicherungsprinzip strittig - dazu grundlegend Rudolf Kolb, Hinterbliebenenversicherung oder Hinterbliebenenversorgung?, in: Deutsche Rentenversicherung (1984), Nr. 11, S. 635-649. 38 Seit 1907 auch Hinterbliebenenversicherung für Seeleute. Zu den frühen Witwenkassen: Bernd Wunder, Pfarrwitwenkassen und Beamtenwitwen-Anstalten vom 16. -19. Jh. Die Entstehung der staatlichen Hinterbliebenenversorgung in Deutschland, in: Zeitschrift für histo-

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sicherung wurden diese Prinzipien lediglich über "Sondergruppen" hinaus für breiteste Teile der Bevölkerung universalisiert, zumal die Rentenversicherung das Sozialversicherungsgesetz mit dem größten Versichertenkreis war.

1. Witwenrente

Ab Jahresbeginn 1912 konnten Arbeiterwitwen einen Rechtsanspruch auf Witwenrente geltend machen, allerdings nur für zukünftige Todesfälle. Die konditionale Witwenrente als Mischfinanzierung aus Arbeiter-, Arbeitgeberbeiträgen und Reichszuschuß war an Voraussetzungen geknüpft. Erste Bedingung waren eine bis dato gültige Ehe und der abrupte Übergang von der Ehefrau zur Witwe. Anders als heute reichte der Tatbestand "Ehe" allein als Rentenzugang nicht aus. Der Versichertenstatus des verstorbenen Ehemannes (versicherungspflichtige Beschäftigung, Erfüllung der Wartezeit, bestehende Anwartschaft) war die zweite Voraussetzung, die bis heute gilt. Die dritte Voraussetzung untersagte eigene Rentenanwartschaften der Witwe. Waren solche doch vorhanden, dann erhielt die Witwe eine einmalige Abfindung: Das sog. Witwengeld stand für ein Kumulationsverbot von eigenständiger und abgeleiteter Rente. Ausschlaggebendes Moment war der Nachweis der Invalidität - die im Gesetzgebungsprozeß und im nachhinein umstrittenste Bedingung für eine Witwenrente. "Als invalide gilt die Witwe, die nicht imstande ist, durch eine Tätigkeit, die ihren Kräften und Fähigkeiten entspricht und ihr unter billiger Berücksichtigung ihrer Ausbildung und bisherigen Lebensstellung zugemutet werden kann, ein Drittel dessen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Frauen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen." (§ 1258 RVO)

Der Invaliditätsbegriff der Hinterbliebenenversicherung war fast wortgleich mit demjenigen der Rentenversicherung, der kleine Unterschied eröffnete jedoch große geschlechtsspezifische Wirkungen: Die ,,Ausbildung und bisherige Lebensstellung" der Witwe hieß dort "Ausbildung und ... bisherigen Berufs" (§ 1255 RVO). Letzteres war im Entscheidungsfall ungleich konkreter und weniger interpretierbar als eine vielsagende, vom sozialen Stand des Ehemannes abgeleitete "Lebensstellung,,39. "Invalidität" war und ist ein Element des Erwerbsarbeitslebens und hebt vorzugsweise auf gesundheitliche Gründe der Erwerbsunfähigkeit ab. Die Zugangsvoraussetzung "Invalidität" für eine Witwenrente war kein Bruch in der Logik der Rentenversicherung, sondern fügte sich nahtlos in deren damalige prirische Forschung 12 (1985), Nr. 4, S. 429-498; Marlene Ellerkamp, Stichwort: Witwen- und Waisenversorgung, in: Rudolph Bauer (Hrsg.), Lexikon des Sozial- und Gesundheitswesens, Bd. 3, München 1992 e1996), S. 2163-2165; Borscheid, Alter, S. 112ff., 401 ff. (bes. Beamte). 39 Zur Rechtsprechung zum Invaliditätsbegriff vgl. Dreher, Entstehung, S. 79-87. Vgl. auch den Kommentar von Fritz Stier-Somlo, RVO vom 19. Juli 1911 nebst dem Einführungsgesetz. Handausgabe mit Einleitung, Erläuterung ... , München 1913, S. 907 f.

Die Frage der Witwen und Waisen

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märe Zielsetzung ("lnvalidenversicherung,,)40 ein, so daß auch eine Witwen- und Waisensicherung keine systemfremde Leistung war. Die Versorgung von Kindern und Haushalt, damit frauentypische Tätigkeiten, blieben in dieser zentralen Zugangsvoraussetzung gänzlich unberücksichtigt, frauenspezifische Bedingungen oder Zumutbarkeits-Definitionen für Arbeiterwitwen kamen nicht vor41 . Waren die vier Bedingungen erfüllt ("bedingte Witwenrente"), bekam die Arbeiterwitwe eine Witwenrente: 30 Prozent der Invalidenrente des verstorbenen Mannes plus jährlicher Reichszuschuß von 50 Mark42 . Bei Wiederheirat entfiel diese Rente ersatzlos. Anders bei der Angestelltenwitwe, die zudem mit dem ebenfalls 1911 verabschiedeten Angestelltenversicherungsgesetz einen unbedingten Witwenrentenanspruch und "Unterhalt" in Höhe von 40 Prozent des "Ruhegelds" ihres Mannes ab 1913 erhielt43 . Für Arbeiterfrauen kamen kleinste Witwenrenten heraus, die zum Leben nicht reichten und die oft geringer ausfielen als die lokalen Armenpflegesätze. Der RVO-Entwurf hatte die Dimensionen vorweg benannt: Die Witwenrente der höchsten Lohnklasse V sollte bei fünf Beitragsjahren in etwa der Invalidenrente der niedrigsten Lohnklasse I entsprechen, rund 120 M im Jahr.

2. Waisenrente

Die vielgepriesenen Halbwaisenrenten stockten die dürftige Witwenrente auf. Das älteste Kind erhielt 15 Prozent der Invalidenrente, alle weiteren 2,5 Prozent plus Reichszuschuß von 25 M jährlich, zusammen maximal 100 Prozent der Invalidenrente des verstorbenen Vaters 44 . Waisen hatten bis zum 15. Lebensjahr einen unbedingten Rentenanspruch. Er differierte indes nach der Ehelichkeit der Kinder bzw. dem elterlichen ,,Erblasser": Der Vater hinterließ einen Waisenrentenanspruch 40 1899 war das ..Gesetz betr. die Invaliditäts- und Altersversicherung" von 1889 bei seiner ersten und einzigen Novellierung vor der RVO in ..Invalidenversicherungsgesetz" umbenannt worden, um diesen Zweck stärker zu unterstreichen. 41 Bei der frauenspezifischen Interpretation der Invaliditäts-Definition wurde die Führung eines Mehr-Personen-Haushalts sogar als Indiz für Erwerbsfähigkeit gewertet (vgl. Dreher, Entstehung, S. 81). Die Reichstags-Abgeordneten hatten hingegen 1910 Kindererziehung als Grund der Erwerbsunfähigkeit gefordert. 42 Gemäß dem Prinzip der Absenkung bewegte sich die Witwenrente auf einem niedrigeren Niveau als die Rente des Versicherten. Schon in der Unfallversicherung trat die Witwe nicht das volle Beitragserbe ihres Mannes an, sondern nur einen Bruchteil davon. Das Prinzip der abgeleitet-abgesenkten Witwenrente reichte indes weiter zurück als 1884. Es bildete bereits ein Kernstück der frühen Pensions- und Witwenkassen der privaten Vorsorge und war schon im 18. Jahrhundert unstrittig und nicht mehr begründungsbedürftig. 43 Renten nach dem VGfA hatten keinen Reichszuschuß und erschwerte Anwartschaftsbedingungen. In der weiteren Entwicklung der Hinterbliebenenversicherung nach RVO und VGfA wurden die Prozentsätze mehrfach geändert und erst 1957 mit 60% vereinheitlicht, der Witwenrenten-Anspruch aber bereits 1949. 44 Begrenzung der Hinterbliebenenrenten zusarnrnen auf die 1,5fache Invalidenrente des Verstorbenen (§ 1294 RVO).

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an eheliche Voll- und Halbwaisen, die Mutter hingegen nur an "vaterlose" eheliche Kinder (Vollwaisen) und an ihre unehelichen Kinder45 . Sarkastisch formuliert: Vom Tod des Vaters profitierten Waisen mehr als vom Tod der versicherten Mutter. Bei den Waisenrenten schlug das Leitbild des "männlichen Farnilienernährers" somit voll zu Buche. Waisen waren im Hinterbliebenenrecht formal stets stärker inkludiert als Witwen und in ihrer Sicherung unabhängig vom Erwerbsstatus der Mutter bzw. von deren Wiederverheiratung. Fazit: Die frühe Witwenrente knüpfte zum einen über den Tod hinaus an das Erwerbsverhältnis des Mannes, zum anderen an die Erwerbsfähigkeit der Ehefrau! Witwe an, basierend auf einer bis dato bestehenden Ehe. Die an Invalidität gebundene Witwenrente zeigte eine große Systemkonformität mit der Rentenversicherung: Alle Arbeitsfähigen mußten auf den Arbeitsmarkt - nur Erwerbsunfähige erhielten einen Ausgleich durch Rente. Familie, Kinderzahl, Lebensalter von Kindern und Witwen aber machten nach zeitgenössischer Sicht keine Erwerbsunfähigkeit aus und mußten folgerichtig auch nicht abgesichert werden, Verwitwung als sozialer Tatbestand schlechthin ohnehin nicht. Betrachtet man das Hinterbliebenen-Rentenrecht mit Blick auf die privat-familienrechtlichen Bestimmungen des BGB, so zeigt sich Übereinstimmung, aber auch Kontrast. Das BGB von 1900 unterstrich das Leitbild des männlichen Farnilienernährers, der mit seinem Einkommen die Familie - die Kinder und die primär im Hause waltende Ehefrau - unterhielt. Entfiel dieses Einkommen durch Tod, mußte ein Unterhaltsersatz in Gestalt von Renten her. Bei den Waisenrenten wurde diese Logik strikt realisiert - sogar bis hin zum geschlechts spezifisch ungleichwertigen Renten"nachlaß". Bei den Witwenrenten ergab sich hingegen eine gewisse Reibung mit dem BGB. Immerhin war dort die Abhängigkeit der Frau von der Versorgung durch Ehe und Ehemann gerade 15 Jahre zuvor kodifiziert worden und hatte der Ehemann - anders als die Frau - eine unbedingte Unterhaltspflicht gegenüber der Ehefrau 46 • Als Witwe aber stand sie vor dem "Unterhalts-Nichts", es sei denn, sie war eine invalide Witwe. Zusarnrnengefaßt: Die Witwenrenten-Regelung von 1911 war nur voll konform mit der eigenen Systemlogik der Rentenversicherung und dem hier dominierenden Leitfaktor Erwerbsunfähigkeit. Bei den Waisenrenten und beim Angestelltenversicherungsgesetz regierte hingegen das Leitbild vom männlichen Familienernährer und wurde rentenrechtlich umgesetzt in Form von unbedingten Rentenansprüchen.

45 § 1259 RVO. Beim Tod einer versicherten Mutter, die bislang den Familienunterhalt überwiegend erworben hatte (§ 1260 RVO) oder die eheverlassen war (§ 1261), war der Rentenanspruch der Waisen und der des Witwers an Bedürftigkeit geknüpft. Vgl. Kommentar von Stier-Somlo, RVO, S. 908 f. 46 Zur Unterhaltspflicht vgl. § 1360, ferner § 1389 Abs. I, zum ehelichen Güterrecht bes. §§ 1363ff. BGB 1896.

Die Frage der Witwen und Waisen

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IV. Ausblick: Ausbau der Hinterbliebenenversicherung mit familienbezogenen Elementen Invalidität war nicht der Weg, auf dem die Weiterentwicklung der Hinterbliebenenversicherung voranschritt. Nach 1911 wurden vielmehr nacheinander das Lebensalter der Frau, Familienarbeit und Kindererziehung und schließlich einzig der Ehestatus die rentenbegründenden Bezugspunkte für eine Witwenrente. Die gewichtigsten Durchbrüche erfolgten im Zeichen nationalsozialistischer Familienpolitik und wurden nach 1945 nicht wieder unterschritten. 1927 wurde - wie bereits 1916 in der Invalidenversicherung - die Altersgrenze von 65 Jahren für Witwen eingeführt, somit erstmals ein soziales Kriterium, das den strikten Invaliditätsnachweis und den Zwang zur Witwen-Erwerbsarbeit in jedem Alter entscheidend abschwächte47 . Im Zuge der NS-Familienpolitik wurde dann das realisiert, was die Reichstags-Abgeordneten bereits 1888 gefordert hatten und was in der eigenständigen Alterssicherung der Frau erst ab 1986 gelten sollte: Kindererziehung wurde 1938 erstmals rentenbegründend für Witwen. Eine Rente erhielt fortan die Witwe, die beim Tod des Ehemannes "mehr als drei waisenrentenberechtigte Kinder" erzog48 • Dies war nach den Waisenrenten die erste Anerkennung des Vorhandenseins von Kindern im Hinterbliebenen-Rentenrecht, allerdings nicht in der Rentenversicherung insgesamt49 • 1942 kamen weitere rentenauslösende Bedingungen hinzu: Eine Kombination aus Lebensalter und Gebärprämie sah eine Witwenrente für kinderreiche Frauen, die vier und mehr lebende Kinder geboren hatten, ab dem 55. (statt dem 65.) Lebensjahr vor. Ferner bekamen Witwen, solange sie mindestens zwei Kinder unter sechs Jahren erzogen, eine unter Umständen vorübergehende Rente 5o • Zumindest für neue Verwitwungsfälle erfolgte schließlich 1949 die Einführung der unbedingten Witwenrente und damit auch die langerwartete Gleichstellung des Witwenstatus nach RVO und Angestelltenversicherungsgesetz. Zugleich wurde die Waisenrente bis zum 18. Lebensjahr verlängert51 . Das Witwenrentenrecht der 47

Gesetz über Leistungen und Beiträge in der Invalidenversicherung vom 8. 4. 1927,

§ 1258 (RGB!. I, Nr. 16, S. 98 f.)

48 Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. 12. 1937, § 114 (RGB!. I, Nr. 140, S. 1393 ff.). Die Regelung galt auch für Altfalle mit drei Kindern. Zudem wurde die 1911 abgeschaffte Beitragserstattung bei Heirat wieder eingeführt. 49 Im Kinderzuschuß zur Invalidenrente ab 1911 wurde die Existenz von Kindern erstmals rentenwirksam (§ 1291 RVO). Dieser Zuschlag war als "Erziehungsbeihülfe" bereits 1887 in Zentrums-Kreisen angedacht worden. Vgl. Invaliden-, Wittwen- und Waisen-Versorgung ... ["Arbeiterwohl"-Vorstandsbeschlüsse im Frühjahr 1887], in: Arbeiterwohl (1887), H. 4/5, S.68. 50 Zweites Gesetz über die Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung vom 19. 6. 1942 (RGB!. I, Nr. 69, S. 407f.). Zudem wurde Witwen mit vier Lebendgeburten ein Rentenanspruch ab dem 55. Lebensjahr aus eigener Versicherung eingeräumt, ferner wurde die Geschiedenen-Witwenrente eingeführt.

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frühen Bundesrepublik trat nicht mehr hinter das NS-Recht zurück, mußte es quasi aus Gründen der "moralischen Diskontinuität" überragen. Mit der Abschaffung sämtlicher Bedingungen für eine Witwenrente reichte der Ehestatus allein für einen Rentenanspruch aus. Die einstigen Zugangserleichterungen (Alter, Kindererziehung) in den Zeiten der bedingten Witwenrente bestimmen seitdem nur noch die Höhe des nunmehr unbedingten und lebenslänglichen Witwenrentenanspruchs, realisiert in der Rentenreform 1957 mit der "großen" und "kleinen Witwenrente,,52. Der "Blick zurück nach vorn" zeigt: Die gegenwärtigen Reformüberlegungen kreisen um eine Rückkehr zur konditionalen Witwenrente, d. h. kind- und altersbezogene Elemente werden zukünftig wieder die leitenden Bedingungen sein53 . Der historische "Langzeit-Blick" weist zudem aus, daß die starke Ehebezogenheit der Witwenrente eine vergleichsweise neue Entwicklung ist, die wohl schon wieder zu Ende geht und durch eine stärkere Kindbezogenheit ersetzt werden wird.

51 Gesetz über die Anpassung von Leistungen der Sozialversicherung an das veränderte Lohn- und Preisgefüge und über ihre finanzielle Sicherstellung - Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz (SVAG) vom 17.6. 1949, § 3 Abs. 1 (WiGBI. 1949, Nr. 20, S. 99ff.). Für Altfälle gab es Zugangserleichterungen in Übergangsregeln, die z.T. an NS-Recht anknüpften und bis zur Rentenreform 1957 immer wieder modifiziert wurden. Vgl. zuerst Verordnung zur Durchführung des SVAG vom 27. 6. 1949 (WiGBI. 1949, S. 101 ff.). 52 Die "große Witwenrente" beträgt 60% der Versichertenrente des Ehemannes, die ,,kleine Witwenrente" nur 25%. Erstere erhält, wer ein Kind unter 18 Jahren erzieht oder älter als 45 Jahre oder berufs- / erwerbsunfähig ist. Seit 1986 gilt für die abgeleitete Witwenrente eine Einkommensanrechnung, seit der Rentenreform 1992 auch für Waisenrenten. 53 Vgl. zuletzt: Ruland, Reform der Hinterbliebenenrenten, bes. S. 44ff.; guter Überblick auch bei Monika Rahn / Susanne Becker, Reform der sozialen Sicherung der Frau - Bestandsaufnahme und Perspektiven aus deutscher und internationaler Sicht, in: Deutsche Rentenversicherung (1997), Nr. 11/12, S. 662-689, bes. 675f.; Manfred Glombik, Fortentwicklung der Rentenversicherung, in: Die Rentenversicherung 38 (1997), Nr. 1, S. 11 f.

Das Verhältnis der Selbständigen zur staatlichen Versicherung und die Rolle privater Vorsorge (vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik) Von Heinz-Dietrich Steinmeyer

I. Einleitung Die Gruppe der Selbständigen war und ist für die Sozialpolitik ein eher sperriger Personenkreis. Zwar ist der Gesamtanteil der Selbständigen an der erwerbstätigen Bevölkerung niedrig und hat seit Schaffung der ersten staatlichen sozialen Sicherungssysteme nahezu kontinuierlich abgenommen. Auf der anderen Seite weist die Personengruppe der Selbständigen aber eine außerordentlich vielfältige Struktur auf. Das Fehlen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ist das einzige gemeinsame Kennzeichen selbständiger Erwerbstätigkeit. Beginnend mit den sog. "kleinen Selbständigen", die häufig zu einer eigenen Absicherung aus wirtschaftlichen Gründen kaum in der Lage sind und die deshalb schon sehr früh von den staatlichen Sicherungssystemen erfaßt wurden (arbeitnehmerähnliche Selbständige), über die freien Berufe, die sich insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg ihre eigenen Sicherungssysteme geschaffen haben (berufsständische Versorgungswerke), gibt es schließlich die Selbständigen, die angesichts der Größe ihrer Unternehmen sich nach eigenem Selbstverständnis nicht als Personenkreis verstehen, dem sich staatliche Sozialpolitik widmen sollte. Wir haben es weiterhin auch mit Personen zu tun, die sowohl eine selbständige als auch eine abhängige Beschäftigung ausüben. Der Nebenerwerbslandwirt mag hier insbesondere in ländlichen Gebieten das deutlichste Beispiel sein; aber auch in anderen Wirtschaftsbereichen hat eine derartige Kombination schon immer bestanden und dürfte angesichts der sich ausbreitenden neuen Formen der Erwerbstätigkeit an Bedeutung eher noch zunehmen.

11. Überblick über die derzeitige Situation Kennzeichen sozialer Sicherungssysteme ist es, daß sie diejenigen Personenkreise erfassen und schützen wollen, die als schutzbedürftig angesehen werden. Die Frage, welche Personen schutzbedürftig sind, läßt sich nur bis zu einem gewissen Grade objektiv bestimmen. Im Grenzbereich mischen sich objektive Betrach14 Fisch I Haerendel

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tung und politische Beurteilung. Diese Grenze verläuft im deutschen System sozialer Sicherung traditionell entlang der Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen, indem die gesetzlichen Regelungen zum erfaBten Personenkreis regelmäßig vorrangig auf ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis abstellen. So benennt § 5 Abs. 1 Nr. I Sozialgesetzbuch (SGB) V vorrangig die als Arbeiter, Angestellte und zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, als versicherungspflichtigen Personenkreis in der gesetzlichen Krankenversicherung. Gleiches findet sich in § 1 SGB VI für die gesetzliche Rentenversicherung, § 2 SGB VII für die gesetzliche Unfallversicherung und § 24 SGB m für das Arbeitsförderungsrecht. Die Einbeziehung Selbständiger in die Sozialversicherung geschieht nicht flächendeckend. Sie ist im Bereich des Arbeitsförderungsrechts gar nicht vorgesehen, in der gesetzlichen Krankenversicherung auf einige Personenkreise beschränkt (Landwirte, Künstler und Publizisten) und in der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 2 SGB VI) etwas weiter ausgedehnt (Lehrer und Erzieher ohne Arbeitnehmer, Pflegepersonen, Hebammen und Entbindungspfleger, Seelotsen, Künstler und Publizisten, Hausgewerbetreibende, Küstenfischer und Küstenschiffer, Handwerker). In der gesetzlichen Unfallversicherung sind Landwirte, Küstenfischer und Küstenschiffer versicherungspflichtig; für die übrigen Selbständigen besteht als Unternehmer die Möglichkeit einer Versicherungspflicht kraft Satzung des Unfallversicherungsträgers (§ 3 SGB VII). Im Sozialrecht ist die Einordnung als Arbeitnehmer verbunden mit der Beitragspflicht zur Sozialversicherung, die in der Regel Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen trifft. Diese Anknüpfung an das abhängige Beschäftigungsverhältnis ist sozialpolitisch nicht die einzige mögliche Option. Vielmehr finden sich international verschiedene Ansätze. Grundsätzliche Unterschiede in der Situation der Selbständigen gibt es zwischen den Staaten, die von Sozialversicherungssystemen geprägt sind, und denen, die über eine allgemeine staatliche Grundsicherung verfügen. Ist in einem Sicherungssystem das Kriterium für die Leistungsberechtigung nur Staatsbürgerschaft und / oder Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt, so sind Selbständige ohne weiteres miterfaBt. Sozialversicherungssysteme hingegen knüpfen häufig an die Arbeitnehmereigenschaft an, so daß Selbständige von ihnen zunächst ausgeschlossen sind. Hier ist international insgesamt eine Tendenz zur möglichst flächendeckenden Einbeziehung Selbständiger festzustellen I. Unter dem Stichwort "Scheinselbständigkeit" findet zur Zeit eine Diskussion statt, die sich um die Problematik der sozialen Situation eines Personenkreises im Grenzbereich zwischen Arbeitnehmereigenschaft und Selbständigkeit dreht2 • DaB I Vgl. insoweit näher Heinz-Dietrich Steinmeyer, Die Alters-, Invaliditäts-, und Hinterbliebenensicherung Selbständiger in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft Bestandsanalyse und Entwicklungsmöglichkeiten, in: NZS (1994), S. 103 ff. 2 Vgl. etwa Altmann, "Schein"-Selbständigkeit, in: (Betrieb und Personal) b+p 1994, S. 88 ff.; Hans-Jörg von Einem, "Abhängige Selbständigkeit" - Handlungsbedarf für den Gesetzgeber?, in: BB (1994), S. 60ff.; Udo Mayer/Ulrich Paasch/Hans-Jürgen Ruthenberg, Umgehung der Sozialversicherungspflicht durch Scheinselbständigkeit, in: SozSich (1988),

Das Verhältnis der Selbständigen zur staatlichen Versicherung

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diese mit dem Begriff "Scheinselbständigkeit" belegt wird, weist darauf hin, daß es sich um Personen handelt, die möglicherweise formal die Voraussetzungen für die Selbständigkeit erfüllen, aufgrund der tatsächlichen Situation aber eher mit den klassischen Arbeitnehmern vergleichbar sind. Der Begriff der "Scheinselbständigkeit" mag schließlich auch nahelegen, daß es sich hier um Fälle handelt, bei denen die Einordnung als Selbständiger dazu dient, dem für den Personenkreis der Arbeitnehmer vorgesehenen arbeits- und sozialrechtlichen Schutzmechanismus mit den damit verbundenen Kosten zu entgehen. Im geltenden Recht existiert keine allgemeine Definition des Arbeitnehmerbegriffs3 • Es findet sich lediglich in § 84 Abs. 1 Satz 2 Handelsgesetzbuch (HGB) die Formulierung, daß "selbständig ist, wer im wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann ...". § 7 Abs. 1 SGB IV spricht davon, daß Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis, ist. Im Gesetz findet sich schließlich noch eine Definition der sog. "arbeitnehmerähnlichen Person". § 12 a Tarifvertragsgesetz (TVG) versteht unter arbeitnehmerähnlichen Personen solche, "die wirtschaftlich abhängig und vergleichbar einem Arbeitnehmer sozial schutzbedürftig sind." § 12 a TVG erläutert dann diesen Begriff der arbeitnehmerähnlichen Person näher. Aus den bisherigen Überlegungen wird deutlich, daß der Gegensatzbegriff zur Arbeitnehmereigenschaft der der Selbständigkeit ist und daß soziales Schutzbedürfnis sowie möglicherweise die wirtschaftliche Abhängigkeit eine Rolle spielen. Angesichts der fehlenden Begriffsbestimmung hat sich eine umfassende Rechtsprechung dazu herausgebildet, wie der Arbeitnehmer genau abzugrenzen ist. Der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung ist es aber bisher nicht gelungen, eine klare und eindeutige Formel zu entwickeln, mit der alle relevanten Fälle erfaßt und zugeordnet werden können. Dies liegt insbesondere darin begründet, daß die Erscheinungsformen des Arbeitslebens zu vielfältig sind. Nahezu jedes mögliche Kriterium für die Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft muß bei einzelnen Arbeitnehmergruppen relativiert werden. Es hat sich deshalb ein System von Entscheidungskriterien herausgebildet, die in jedem Einzelfall zu prüfen sind. Sodann ist in einer Gesamtschau abzuwägen, ob die betreffende Person Arbeitnehmer ist oder nicht. Diese Grundsätze gelten im Arbeitsrecht4 und im Sozialrecht5 in gleicher Weise 6 . S. 77 ff.; Ulrich Paasch, Abhängige Selbständigkeit - Rechtliche, politische, ökonomische und soziale Aspekte sowie mögliche Ansatzpunkte tarifvertraglicher Regelung, in: WSI-Mitteilungen (1991), S. 216ff.; RolfWank, Die "neue" Selbständigkeit, in: Der Betrieb (1992), S.90ff. 3 Vgl. hierzu auch Heinz-Dietrich Steinmeyer I Raimund Waltermann, Casebook Arbeitsrecht, München 22000, S. 1 ff. 4 Vgl. insbesondere Marie-Luise Hilger, Zum "Arbeitnehmer-Begriff', in: RdA (1989), S. 1 ff.; zur Kritik am geltenden ArbeitnehmerbegriffWank, Die "neue" Selbständigkeit. 5 Vgl. DetlefMerten, GK-SGB IV, Neuwied 1992, § 7 Rz. 8ff. 6 Vgl. übergreifend Rolf Wank, Arbeitnehmer und Selbständige, München 1988. 14"

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Heinz-Dietrich Steinmeyer

Insgesamt zeigt sich dabei, daß die Konkretisierung des Arbeitnehmerbegriffs als Gegensatzbegriff zu dem des Selbständigen nur schwer durch eine klar handhabbare Definition zu fassen ist. Die Rechtsprechung hat sich in diesen Fällen mit einer Mehrzahl von Kriterien beholfen, die jeweils isoliert die Arbeitnehmereigenschaft nicht zu begründen vennögen, sondern zusammen mit anderen Kriterien in einer Gesamtschau für die Einordnung einer Person als Arbeitnehmer sprechen.

111. Historische Entwicklung im Überblick Wegen der fehlenden vollständigen Deckung von Arbeitnehmereigenschaft und sozialer Schutzbedürftigkeit sind sowohl im Arbeitsrecht als auch im Sozialrecht Schritte erfolgt, um den Schutzbereich über die Arbeitnehmereigenschaft hinaus auszudehnen. Dies geschah im Arbeitsrecht insbesondere durch die zumindest teilweise Einbeziehung sog. arbeitnehmerähnlicher Personen in den Anwendungsbereich des Arbeitsrechts. § 12 a TVG versteht deshalb auch unter arbeitnehmerähnlichen Personen solche, "die wirtschaftlich abhängig und vergleichbar einem Arbeitnehmer sozial schutzbedürftig sind." Im Sozialrecht ist der Gesetzgeber den Weg der Einbeziehung bestimmter Gruppen Selbständiger gegangen. Dies ist in Deutschland schon sehr frühzeitig geschehen für solche Selbständige, deren Schutzbedürfnis dem von Arbeitnehmern als vergleichbar angesehen wurde 7 • Dabei hat sich der Gesetzgeber darauf beschränkt, bestimmte Gruppen von Selbständigen zu bezeichnen. Zu nennen sind hier etwa Lehrer und Erzieher, die im Zusammenhang mit ihrer selbständigen Tätigkeit keine Arbeitnehmer beschäftigen, Hebammen und Entbindungspfleger, Seelotsen und Küstenschiffer sowie Küstenfischer (vgl. hierzu insbesondere § 2 SGB VI). Die Aufzählung zeigt bereits, daß es sich hier um kleine Gewerbetreibende handelt, die sich in einer sozialen Situation befinden, die der von Arbeitnehmern vergleichbar ist. Dieser Personenkreis wird während seines gesamten Erwerbslebens von der Versicherungspflicht im allgemeinen System erfaßt8 . Der jüngste Fall einer derartigen Einbeziehung Selbständiger ist das 1983 in Kraft getretene Gesetz über die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten (Künstlersozialversicherungsgesetz - KSVG)9. Während diese Regelungen bestimmte Gruppen Selbständiger als solche in das Sozialversicherungssystem einbeziehen, ist für den 7 Vgl. zur historischen Entwicklung auch Hans-Jürgen Kretschmer, Abhängige und selbständige Erwerbstätigkeit in der Sozialversicherung - Bemerkungen zum Problem der "abhängigen Selbständigkeit", in: ZSR (1994), S. 463 ff., 471 ff. S Vgl. hierzu auch Steinmeyer, Die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung, bes. S. 105; ders., Study on Social Protection of the Self-Employed - Report on Germany, November 1991. Diese Studie hat der Verf. im Auftrag der Europäischen Kommission - Generaldirektion V - erstellt. 9 Gesetz vom 27. 7. 1981 - BGBI. I, S. 705.

Das Verhältnis der Selbständigen zur staatlichen Versicherung

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Personenkreis der selbständigen Handwerker eine Fortsetzung ihrer Zugehörigkeit zur gesetzlichen Rentenversicherung vorgesehen (§ 2 Nr. 8 SGB VI), der sie als Arbeitnehmer zunächst ohnehin angehört haben. Hier wird der Tatsache Rechnung getragen, daß die Erwerbsbiographie eines Selbständigen häufig dadurch gekennzeichnet ist, daß er zunächst eine Arbeitnehmertätigkeit ausgeübt hat, um sich dann selbständig zu machen. Ein anderes Beispiel für die Erfassung Selbständiger ist das 1957 für die Landwirte geschaffene spezielle Alterssicherungssystem lO • Staatliche Sozialpolitik setzt jeweils dann ein, wenn sich ein Bedürfnis ergibt, sich also eine Sicherungslücke aufgetan hat. Diese Vorgehensweise läßt sich exemplarisch an der Entwicklung der Alterssicherung für Selbständige in Deutschland ablesen. Bereits sehr frühzeitig wurden Selbständige, die in ihrer Schutzbedürftigkeit den Arbeitnehmern weitgehend gleichstehen, in das allgemeine System aufgenommen. Jeweils dann, wenn sich die Schutzbedürftigkeit eines bisher nicht erfaßten Personenkreises herausstellte, wurde dieser in das allgemeine System einbezogen oder aber es wurde für ihn ein eigenständiges Sicherungssystem geschaffen. So erfolgte etwa die Einbeziehung selbständiger Handwerker in die allgemeine Rentenversicherung im Jahre 1938 11 • Ein Alterssicherungssystem für Landwirte wurde im Jahre 1957 geschaffen, nachdem deutlich geworden war, daß wegen des dörflichen Strukturwandels und der gestiegenen Lebenserwartung die bisherigen traditionellen Formen der Alterssicherung nicht mehr funktionierten. Die späte Einbeziehung der Künstler und Publizisten in das allgemeine System läßt sich mit ähnlichen Gesichtspunkten erklären. Allerdings ist dieser Ansatz nun an seine Grenzen gekommen, da er jeweils eindeutig abgrenzbare Selbständigengruppen voraussetzt. Bei den traditionellen Formen der Selbständigkeit läßt sich das vernünftig realisieren; die heutige Situation ist aber gekennzeichnet durch neue Formen der Selbständigkeit, die sich nicht in bestimmte abgrenzbare Berufsbilder einordnen lassen. Deshalb bereitet es in einem System, das für den persönlichen Anwendungsbereich sozialer Sicherungssysteme vorrangig an Arbeitnehmereigenschaft und Beschäftigungsverhältnis anknüpft, auch erhebliche Schwierigkeiten, solche Selbständigen zu erfassen, die formal Selbständige sind, aber mindestens ebenso sozial abhängig und schutzbedürftig sind wie Arbeitnehmer. IV. Die Zeit des Kaiserreichs Aus den vorhergehenden Überlegungen dürfte sich bereits ergeben haben, daß die Gruppe der Selbständigen zunächst nicht im Brennpunkt sozialpolitischer Bemühungen gestanden hat. Man setzte voraus, daß die große Mehrzahl der Ange10 Vgl. dazu Heinz-Dietrich Steinmeyer, Landwirtschaftliches Sozialrecht, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied, Loseblatt, Gruppe 11 Nr.31O. 11 Vgl. dazu Heinz-Dietrich Steinmeyer, Handwerkerversicherung, in: ebenda, Gruppe 11 Nr.160.

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hörigen dieser Personengruppe über Sicherungsformen verfügt, die eine staatliche Absicherung nicht erforderlich machen. So konnte man damals davon ausgehen, daß bei den Landwirten weiterhin die traditionelle Sicherungsform des Familienverbundes funktioniert, und die Handwerker waren im Zunftsystem sozial eingebettet. Die Unternehmer der Gründerjahre glaubte man ebenfalls nicht zum Gegenstand staatlicher Sozialpolitik machen zu müssen. Bei diesen Personenkreisen lagen auch nicht die zentralen sozialen Probleme der damaligen Gesellschaft. Die Zielrichtung Bismarck'scher Sozialpolitik war vielmehr geprägt von der Überzeugung, "daß es im Prinzip möglich sei, den politischen Repräsentanten bestimmter sozialer Gruppen und Interessen sozusagen von Staats wegen das Wasser abzugraben, sie mit dem Zangengriff direkter politischer Repression und staatlicher Begünstigung ihrer Anhänger auszuschalten" 12. Noch deutlicher wird dies in einer anderen Aussage Bismarcks, wonach ein vom Staat getragenes und auf den Staat verweisendes Versicherungssystem geeignet sei, "in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung zu erzeugen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt,,13. "Wer eine Pension hat für sein Alter, der ist viel zufriedener und viel leichter zu behandeln, als wer darauf keine Aussicht hat.,d4 Bei einer solchen Zielrichtung bestand aber kein Anlaß, Selbständige in die staatlichen Sicherungssysteme einzubeziehen. Die Sozialpolitik konzentrierte sich vielmehr auf solche Personenkreise, die mangels eigenen Besitzes und eigener Produktionsmittel nicht in der Lage waren, für die WechseWille des Lebens selbst vorzusorgen. Etwas anderes konnte nur gelten für diejenigen Selbständigen, die ausschließlich auf die Verwertung ihrer eigenen Arbeitskraft angewiesen waren und kein größeres Einkommen erzielen konnten 15 . Die staatliche Sozialpolitik hat sich hier deshalb zunächst konzentriert auf die Erfassung der arbeitnehmerähnlichen Selbständigen. So konnten Hausgewerbetreibende bereits nach den Gesetzen von 1889 und 1899 durch Bundesratsbeschluß für invalidenversicherungspflichtig erklärt werden. Im Jahr 1922 wurde die Invalidenversicherungspflicht generell auf sie ausgedehnt. Entsprechendes galt auch für selbständige Lehrer und Erzieher. Im Kaiserreich war aber die Erfassung Selbständiger insgesamt rudimentär. Man ging vielmehr davon aus, daß sie für sich selbst vorsorgen würden und zu einer derartigen Eigenvorsorge auch in der Lage seien. Bei den Selbständigen hat schon immer die private Vorsorge eine besondere Rolle gespielt, wobei aber hier zu bedenken ist, daß die Formen privater Vorsorge nicht unbedingt denen entsprechen, die aus der sozialpolitischen Diskussion üblicherweise bekannt sind. Lothar GaU, Bismarck - Der weiße Revolutionär, Frankfurt 1980, S. 605. Otto von Bismarck, Die Gesammelten Werke (sog. Friedrichsruher Ausgabe), 15 in 19 Bdn., Berlin 1924 ff., Bd. 6 c, S. 230. 14 Moritz Busch, Tagebuchblätter 3 (1899), S. 10. 15 S. näher Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, I. Bd., Tübingen 1965, S. 361 ff. 12 13

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Neben den traditionellen Sicherungsformen der Lebensversicherung und der Ansammlung von Vermögen finden sich auch Formen wie der Verkauf oder die Verpachtung des Unternehmens oder der Praxis bzw. die Übergabe an ein Familienmitglied, das Unternehmen oder Praxis weiterführt. Bedeutsam ist schließlich auch die fortdauernde Erwerbstätigkeit im Alter. Verläßliches Zahlenmaterial über den Umfang der privaten Absicherung ist kaum zu erhalten, da es keine konkreten Erfassungsmöglichkeiten gab und gibt und sich die geschilderte Vielfalt der möglichen Sicherungsformen auch ohnehin einer solchen Erfassung entzieht. V. Die Zeit der Weimarer Republik

Die krisenhafte wirtschaftliche Situation nach Ende des Ersten Weltkrieges ließ das bisherige System der weitgehenden Ausklammerung Selbständiger fragwürdig erscheinen. Inflation, Arbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise stellten auch die Existenzgrundlagen vieler Selbständiger in Frage; die soziale und wirtschaftliche Not erfaßte nicht nur die Arbeitnehmer, und die bisherigen Formen der Eigenvorsorge der Selbständigen hielten den Wirtschaftskrisen nicht immer stand. Wir finden deshalb eine Reihe gesetzgeberischer Schritte, mit denen diesen Problemen begegnet werden sollte. Allerdings ist festzustellen, daß diese Maßnahmen eher punktuell waren, was darauf zurückgeführt werden könnte, daß den Regierungen der Weimarer Republik die Kraft für umfassende Reformen fehlte. Sie mußten sich vielmehr mit den dringendsten sozialen Problemen beschäftigen, was zur Einführung der Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927 führte. Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges war man angesichts der zahlreichen Kriegsbeschädigten im übrigen auch stark mit der Schaffung einer Kriegsopferversorgung befaßt. Fragen der sozialen Sicherung Selbständiger waren dann offenkundig nicht so dringend, daß man ihnen eine herausgehobene Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Vielmehr blieb es dabei, daß man im Jahr 1922 die Invalidenversicherungspflicht für alle Hausgewerbetreibenden allgemeinverbindlich machte und sie auch in die Krankenversicherungspflicht einbezog. Im Jahr 1929 wurden die Musiker durch Gesetz vom 8. Oktober 16 der Angestelltenversicherungspflicht unterstellt. Dieses Gesetz dehnte die Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung auch auf Hebammen aus. Insgesamt zeigt sich in der Weimarer Republik ein etwas uneinheitliches Bild. Es ist weiterhin die Tendenz festzustellen, die sog. ,,kleinen Selbständigen" in die sozialen Sicherungssysteme einzubeziehen. Andere Gruppen wie die freien Berufe, die Handwerker und die Landwirte bleiben weiter ausgeklammert. Bei den "kleinen Selbständigen" wird auch vorrangig für eine Erfassung durch die Systeme der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung gesorgt. Erst zweitrangig wird die Versicherungspflicht auf die Krankenversicherung erstreckt, wenn auch diese 16

RGBI. I, S. 151.

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Aussage mit einer gewissen Vorsicht gemacht werden muß, da die Tendenz nicht ganz einheitlich gewesen ist. Es ging offenbar nach konkretem praktischen oder politischen Bedarf, wie sich etwa auch daran zeigt, daß die selbständigen Artisten im Jahr 1928 der gesetzlichen Unfallversicherung unterstellt wurden, während sie erst während des Dritten Reiches auch von der Kranken- und Rentenversicherung erfaßt wurden. VI. Die Zeit des Dritten Reiches

Bedeutsamere Änderungen bei der sozialen Sicherung Selbständiger ereigneten sich während des Dritten Reiches. Gegenüber der Uneinheitlichkeit der Weimarer Zeit wirken die Reformen in der Diktatur geschlossener und zeigen sogar die Tendenz zu einer gewissen Abrundung des Systems. Hierfür dürften mehrere Gründe maßgeblich sein. Zum einen verschaffte ein restriktives Leistungsprofil in der Sozialversicherung bei gleichzeitiger wirtschaftlicher (Schein-)Prosperität einen gewissen Spielraum; es mußten nicht mehr wie vor allem in der Zeit der Weltwirtschaftskrise notdürftig Löcher gestopft werden. Zum anderen entsprach es der nationalsozialistischen Ideologie, dem Führerprinzip die staatliche Fürsorge für die "Volksgenossen" - und nur diese - gegenüberzustellen. Ausbau und Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme fügten sich daher in die Vorstellungen von der "Volksgemeinschaft". So findet sich im Parteiprogramm der NSDAP die Aussage, daß ein großzügiger Ausbau der Altersversorgung des deutschen Volkes vorgesehen sei. 1940 wurde von Hitler und Robert Ley der Auftrag erteilt zur Vorbereitung "einer umfassenden und großzügigen Altersversorgung des deutschen Volkes, die für alle Zeit unser Volk an den gemeinsamen Kampf der Front und der Heimat um die Freiheit und Unabhängigkeit des Großdeutschen Reiches erinnern soll" 17. Es war also letztlich die Schaffung einer Staatsbürgerversorgung vorgesehen. In diesem Zusammenhang ist wohl auch die soziale Sicherung Selbständiger zu sehen, die sich zunächst in der Einführung einer Handwerkerversorgung manifestierte. Zwar hatten bereits im Jahre 1902 die Handwerker für sich eine durch Reichsgesetz einzuführende obligatorische Alters- und Hinterbliebenensicherung gefordert, dem stand damals jedoch die Reichsregierung ablehnend gegenüber 18 . Die Handwerker haben sich deshalb zunächst bemüht, privaten Versicherungsschutz zu erhalten, worauf sich die Versicherungswirtschaft mit speziellen Angeboten auch einstellte. Im Dritten Reich war dann aber der Boden bereitet für eine stärkere und umfassendere Ausdehnung des von den staatlichen Sicherungssystemen erfaßten Personenkreises. Das fügte sich einerseits in die Erfahrungen der Jahre zuvor, die die Notwendigkeit staatlicher Sicherungssysteme auch für bisher nicht erfaßte Personenkreise gezeigt hatten. Andererseits war es kein Zufall, daß 17

18

Heyn, Die Versicherungspflicht der Selbständigen, 1951, S. 1l. Ebenda, S. 29.

Das Verhältnis der Selbständigen zur staatlichen Versicherung

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man sich gerade der Handwerker annahm, die im Rahmen der nationalsozialistischen Mittelstandspolitik zu den besonders umworbenen Berufsgruppen gehörten. Nach umfassenden Beratungen mit Vertretern des Handwerks wurde am 21. Dezember 1938 das Gesetz über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk 19 verkündet. Das Gesetz führte eine Rentenversicherungspflicht, nicht aber eine Krankenversicherungspflicht der Handwerker ein. Die Erfassung dieses Personenkreises fiel auch verwaltungstechnisch eher leicht, da man mit der Handwerksrolle ein Register hatte und hat, das alle Berufsangehörigen zuverlässig erfaßt. Dies ist im Auge zu behalten, wenn man sich der sozialen Sicherung anderer Selbständigengruppen widmet. Interessant ist hier, daß Handwerker sich von der Versicherungspflicht befreien lassen konnten, wenn sie in der Lage waren, eine gleichwertige Lebensversicherung vorzuweisen. Hier zeigt sich die besondere Bedeutung auch der privaten Absicherung, die für die Selbständigen alternativ zur staatlichen Sicherung treten kann. Im Ergebnis war damit die Handwerkerversorgung von 1938 eine Verpflichtung der Handwerker, angemessen für das Alter vorzusorgen sei es durch das staatliche System oder durch private Vorsorge. Neben dieser nachhaltigen Veränderung für die Handwerker finden sich für die Zeit des Dritten Reiches noch einige kleinere Maßnahmen, die Konsolidierungscharakter haben. So wurden 1938 die Artisten von der Krankenversicherung und der Angestelltenversicherung erfaßt und 1945 die Musiker der Krankenversicherungspflicht unterstellt. Ebenfalls 1938 unterwarf das Hebammengesetz vom 21. Dezember20 die Hebammen der Krankenversicherungspflicht. Im Jahre 1940 schließlich wurden mit den Küstenschiffern und Küstenfischern Unternehmer gewerblicher Betriebe der Seeschiffahrt in die Arbeiterrentenversicherung einbezogen. In die Zeit des Dritten Reiches flillt auch der erste fundamentale Schritt zur Einbeziehung der selbständigen Landwirte in die sozialen Sicherungssysteme. Durch das Fünfte Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 17. Februar 193921 wurden alle landwirtschaftlichen Unternehmer und die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft lebenden Ehegatten gesetzlich gegen die Folgen von ArbeitsunflilIen und Berufskrankheiten versichert. Die Sozialversicherung des Dritten Reiches war also gekennzeichnet durch einen bedeutsameren Expansionsschritt in Gestalt der Handwerkerversorgung und Erweiterungen des Schutzes durch soziale Sicherungssysteme für einige andere Gruppen Selbständiger. Immer aber handelt es sich um in sich abgeschlossene Gruppen, deren Zugehörigkeit zu dem jeweiligen Berufsstand eindeutig definiert werden kann. Neben dieser Tendenz zur Inklusion gab es' - das sei hier nur erwähnt - einschneidende Maßnahmen zur Exklusion all derer, die nicht als "Volksgenossen" angesehen wurden oder sich dem Regime widersetzten. 19 20

21

RGBL I, S. 1900. RGBL I, S. 1893. RGBl. I, S. 267.

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VII. Die Bundesrepublik bis zur Gegenwart Die Zeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges war ebenso wie die nach dem Ersten Weltkrieg geprägt von der Bewältigung der Kriegsfolgen. Die durch die Hitlerdiktatur ausgelöste Katastrophe, der völlige Zusammenbruch der Wirtschaft und die Vertreibung vernichteten für große Bevölkerungskreise - ob nun Arbeitnehmer oder Selbständige - Maßnahmen der Eigenvorsorge und erforderten von der jungen Bundesrepublik die Lösung zahlreicher sozialer Probleme. Das hat insgesamt zu einer weiteren Ausdehnung der sozialen Sicherungssysteme auf Selbständige geführt, wenn auch heute noch - anders als zum Teil im Ausland - die Selbständigen nicht umfassend in das Netz sozialer Sicherung einbezogen sind. Die Entwicklung in der Bundesrepublik läßt sich dahingehend charakterisieren, daß die Altersversorgung der Handwerker konsolidiert, die soziale Sicherung selbständiger Landwirte, der Künstler und Publizisten eingeführt wurde sowie die freien Berufe sich, basierend auf Landesrecht, ein eigenes Alterssicherungssystem schufen. Am vorläufigen Ende stehen nun die Bestrebungen zur Einbeziehung Scheinselbständiger und vielleicht eines Tages eine obligatorische Grundsicherung für alle Selbständigen. 1. Landwirtschaft

Wahrend die in der Landwirtschaft tätigen Arbeitnehmer schon sehr frühzeitig vom deutschen System sozialer Sicherung erfaßt wurden, war dies für die selbständigen Landwirte, ihre mitarbeitenden Familienangehörigen und die Altenteiler erst später der Fall. Das Reichsgesetz betreffend die Unfall- und Krankenversicherung der in forst- und landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen vom 5. Mai 188622 erfaßte die in diesem Wirtschaftsbereich tätigen Arbeiter und Betriebsbeamten; nach dem Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 188923 waren sie auch in der Rentenversicherung versichert. In welchem Umfang landwirtschaftliche Unternehmer und deren Familienangehörigen versichert sein sollten, blieb der Landesgesetzgebung überlassen. Im Jahr 1957 wurde mit dem Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte vom 27. Juli 24 , an dessen Stelle am 1. Januar 1995 25 das Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte getreten ist, eine bäuerliche Alterssicherung für die Selbständigen errichtet, nachdem deutlich geworden war, daß wegen des dörflichen Strukturwandels und der gestiegenen Lebenserwartung die bisherigen Fonnen der Alterssicherung nicht mehr funktionierten. Versuche, die Absicherung über private Vorsorge sicherzustellen, waren zuvor gescheitert. Anders als in fast allen sonsti22 23

24 25

RGBI., S. 132. RGBI., S. 97. BGBI. I, S. 1063. BGBI. I, S. 1890.

Das Verhältnis der Selbständigen zur staatlichen Versicherung

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gen gesellschaftlichen Bereichen sind die traditionellen Sicherungsfonnen Familien verband und dörfliche Gemeinschaft in der Landwirtschaft bis weit in unser Jahrhundert hinein intakt geblieben 26 . Nachdem sich aber auch hier die Großfamilie aufzulösen begann und wirtschaftliche Gegebenheiten zur Veränderung der Höfestruktur zwangen, entstand das Bedürfnis, diesen Personenkreis ebenfalls in das System sozialer Alterssicherung einzubeziehen. Erst 1972 wurde das System sozialer Sicherung für die Landwirtschaft durch das Gesetz zur Weiterentwicklung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung vom 10. August 197227 abgerundet, das den Untertitel "Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG)" trägt. Bedingt durch zahlreiche Änderungen im Rahmen der Gesundheitsrefonn ging dieses Gesetz weitgehend im Zweiten Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG 1989) vom 20. Dezember 1988 28 auf. Mit dem Gesetz von 1972 wurde auch im Bereich der Krankenversicherung die Versicherungspflicht für die selbständigen Landwirte, ihre mitarbeitenden Familienangehörigen sowie Altenteiler eingeführt. Die Krankenversicherung der Landwirte war damit die erste umfassende gesetzliche Krankenversicherung für Selbständige. 2. Handwerker

Die Altersversorgung der Handwerker wurde nach dem Zweiten Weltkrieg weiter ausgebaut und verfeinert. Nunmehr ist durch das Rentenrefonngesetz 1992 vom 18. Dezember 1989 29 das Handwerkerversicherungsgesetz (HwVG) in das neu geschaffene Sechste Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) eingegliedert. Bis Ende 1991 fand die Rentenversicherung der selbständigen Handwerker ihre Rechtsgrundlage im Gesetz über eine Rentenversicherung der Handwerker (Handwerkerversicherungsgesetz) vom 8. September 19603 Vorgänger dieses Gesetzes war das bereits erwähnte Gesetz über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk vom 21. Dezember 1938, mit dem erstmals die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung auf einen größeren Kreis von Selbständigen ausgedehnt worden war. Dabei war damals der Gedanke ausschlaggebend gewesen, daß häufig Handwerker, die zunächst als Lehrlinge oder Gesellen versicherungspflichtig gewesen waren, diese Alterssicherung nicht auf freiwilliger Basis fortsetzten, nachdem sie selbständig geworden waren. Sofern sie keine anderweitigen Vorsorgemaßnahmen ergriffen hatten, standen sie im Alter ohne ausreichende Sicherung da31 •

°.

Vgl. dazu Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, I. Bd., S. 378. BGBl. I, S. 1433. 28 BGBl. I, S. 2477, 2557. 29 BGBl. I, S. 2261, 2393. 30 BGBl. I, S. 737. 31 Vgl. Hoernigk, Zum Problem der Altersversorgung des Handwerks, in: BB (1959), S.502. 26

27

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Versicherungspflichtig sind gemäß § 2 Nr. 8 SGB VI Handwerker, die in die Handwerksrolle eingetragen sind. Die Handwerksrolle ist ein gemäß § 6 Handwerksordnung von der örtlich zuständigen Handwerkskammer zu führendes Verzeichnis der selbständigen Handwerker ihres Bezirks. Nach § 7 Handwerksordnung wird in die Handwerksrolle eingetragen, wer die Meisterprüfung in dem jeweiligen Handwerk mit Erfolg abgelegt hat. Die besondere Versicherungspflicht für Handwerker fügt sich damit an die Zeit an, in der der selbständige Handwerksmeister als Auszubildender und als Geselle gemäß § I S. I Nr. I SGB VI versicherungspflichtig war. Im Unterschied zur früheren Rechtslage nach dem HwVG tritt die Versicherungspflicht eines in die Handwerksrolle eingetragenen Handwerkers nur ein, wenn dieser die selbständige handwerkliche Tätigkeit auch tatsächlich ausübt. Die Versicherungspflicht wird damit nicht bereits durch die bloße Eintragung in die Handwerksrolle ausgelöst, die die tatsächliche Ausübung des Handwerks nicht zwingend voraussetzt. Tatsächlich bedarf ein Handwerker, der nicht arbeitet und insoweit kein Arbeitseinkommen erzielt, keiner Absicherung durch eine Rentenversicherung. Demnach beginnt die Versicherungspflicht mit dem Tag der Eintragung in die Handwerksrolle, wenn die selbständige Tatigkeit bereits aufgenommen wurde, andernfalls mit dem Tag der Aufnahme dieser Tätigkeit. Die Versicherungspflicht endet folglich mit der Aufgabe der selbständigen Tatigkeit oder der Löschung aus der Handwerksrolle. Die Versicherungspflicht nach dem alten HwVG erfaßte selbständige Handwerker nur so lange, bis sie aus den Beiträgen zur Rentenversicherung als abhängig Beschäftigte und als Selbständige einen Sockel von insgesamt 216 Beitragsmonaten als Grundsicherung erworben hatten. Nach Ende der Versicherungspflicht blieb es dann dem Handwerker überlassen, ob er die Versicherung freiwillig fortsetzen wollte. Für Neufalle ist es zwar bei der Sockelsicherung von 18 Pflichtbeitragsjahren geblieben, allerdings fallt jetzt die Versicherungspflicht nicht mehr automatisch fort. Es bedarf vielmehr einer besonderen Befreiung, die von dem Träger der Rentenversicherung auf Antrag gewährt wird; das bedeutet zugleich auch, daß der Handwerker weiter die rentenversicherungsrechtlich günstigeren Pflichtbeitragszeiten zurücklegt, während das nach altem Recht nach Ende der Pflichtbeitragsjahre nur auf der Basis der ungünstigeren freiwilligen Zeiten möglich war. Lediglich Bezirksschornsteinfeger sind von dieser Regelung ausgenommen, bleiben also weiter versicherungspflichtig. Antragsberechtigt ist der Handwerker gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI selbst. Eine besondere Form ist für den Antrag nicht vorgeschrieben, es muß lediglich erkennbar sein, daß eine Befreiung von der Versicherungspflicht gewollt ist. Die Befreiung wirkt gegebenenfalls auch rückwirkend vom Zeitpunkt des Eintritts der Befreiungsvoraussetzungen an, sofern der Antrag innerhalb von drei Monaten gestellt worden ist. Ansonsten gilt die Befreiung vom Tage des Eingangs des Antrags bei dem Rentenversicherungsträger an. Auf diese Weise wird der Handwerker dazu veranlaßt, sich eine Vollsicherung aus der gesetz-

Das Verhältnis der Selbständigen zur staatlichen Versicherung

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lichen Rentenversicherung aufzubauen, sofern er sich nicht ausdrücklich dagegen entscheidet. 3. Die freien Berufe Die Alterssicherung der freien Berufe wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg in größerem Umfang in Angriff genommen. Zwar wurden erste Pflichtversicherungsformen bereits 1923 in Bayern eingeführt, umfassendere Regelungen gab es aber erst ab 1950. Die Systeme der Altersversorgung der freien Berufe zeichnen sich dadurch aus, daß sie mit der Kammerorganisation dieser Berufe verknüpft sind 32 . Angehörige freier Berufe sind in Deutschland kraft Berufszugehörigkeit obligatorisch Mitglied einer Kammer. Im Rahmen dieser Kammer kann dann beschlossen werden, für die Mitglieder eine Alterssicherung zu schaffen, der alle selbständig erwerbstätigen Mitglieder kraft Satzungsrecht angehören. Diese berufsständischen Versorgungssysterne sind zumindest in Deutschland vom staatlichen Einfluß weitgehend frei. Angesichts einer offenkundig besseren Risikostruktur ist das Leistungsniveau dieser Versorgungseinrichtungen auch in Relation zu den eingezahlten Beiträgen regelmäßig höher als in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Solidität dieser Systeme wird auch daraus ersichtlich, daß als Arbeitnehmer tätige Angehörige dieser freien Berufe sich bei Nachweis einer Mitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreien lassen können. Angesichts seines Leistungsniveaus kann dieses System sowohl die Funktionen der ersten als auch die der zweiten Säule erfüllen. Das System berücksichtigt auch den Umstand des Übergangs von der Arbeitnehmereigenschaft zur Selbständigkeit. Es handelt sich hier um eine Versicherungspflicht kraft Satzung für die selbständig Tatigen, während die als Arbeitnehmer tätigen Angehörigen dieser Berufe die Möglichkeit haben, sich bei Zugehörigkeit zu diesem System von der Versicherungspflicht im allgemeinen System (gesetzliche Rentenversicherung) befreien zu lassen. Dies ermöglicht es etwa dem Arzt oder Anwalt, bereits zu Beginn seines Berufslebens während einer Arbeitnehmertätigkeit dem Sicherungssystem beizutreten. Die berufsständischen Sicherungssysteme haben sich seit Beginn der Bundesrepublik erheblich ausgeweitet und sind inzwischen auch in den neuen Bundesländern flächendeckend anzutreffen. Insgesamt handelt es sich hier um eine Regelung öffentlich-rechtlicher Art, die aber gekennzeichnet ist durch Eigeninitiative des Berufsstandes, da die Landesgesetze nur den Rahmen abstecken, innerhalb dessen die Kammern diese Altersversorgungssysteme ausgestalten. Die berufs ständische Versicherung läßt sich nicht als ein Fall privater Vorsorge kennzeichnen, weist aber aufgrund ihrer Eigenarten nicht unbeträchtliche Elemente davon auf. 32 Vgl. näher Winfried Boecken, Die Pflichtaltersversorgung der verkammerten freien Berufe und der Bundesgesetzgeber, Berlin 1986; ders., Berufsständische Versorgungswerke, in: Bernd v. Maydell/Franz Ruland, Sozialrechtshandbuch, Neuwied 1988, C 17 (S. 829ff.).

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4. Die Sozialversicherung der Künstler und Publizisten

Die vorläufig letzte gesetzgeberische Aktion zur Einbeziehung Selbständiger stellt das Künstlersozialversicherungsgesetz dar, das am 1. Januar 1983 in Kraft getreten ist. Es hatte schon lange Bestrebungen gegeben, die Künstler und Publizisten in die Sozialversicherung einzubeziehen. Der hier gegebene historische Überblick hat auch immer wieder auf - allerdings rudimentäre - Ansätze zur Einbeziehung dieses Personenkreises hinweisen können. Auftrieb haben die Bestrebungen zur Einbeziehung auch dieses Personenkreises insbesondere durch den sog. Künstlerbericht33 erfahren, der auf den lückenhaften bzw. fehlenden sozialen Schutz hinwies. Angestoßen durch diesen Bericht wurde das Künstlersozialversicherungsgesetz geschaffen, das - anders als das landwirtschaftliche Sozialrecht - kein eigenes Leistungssystem aufbaute, aber - anders als das System der Handwerkerversicherung - mit der Künstlersozialkasse über eine spezielle Institution verfügt. Der erfaßte Personenkreis ist in der Kranken- und Rentenversicherung versichert, und die Künstlersozialkasse ist dabei mit der Erfassung und der Beitragserhebung befaßt. Die Leistungsgewährung erfolgt durch die Sozialleistungsträger des allgemeinen Systems. Das Beispiel der Künstlersozialversicherung zeigt auch, daß es schwierig ist, bei Selbständigen das Beitragssystem zu gestalten. Da ein Arbeitgeber fehlt, muß der Selbständige im Grundsatz den vollen Beitrag zahlen, was ihm finanziell insbesondere zu Beginn seiner Laufbahn oft nur unter Schwierigkeiten möglich ist. Deshalb sieht die Handwerkerversicherung hier gewisse Erleichterungen vor, arbeitet das landwirtschaftliche Sozialrecht mit Beitragszuschüssen und die Künstlersozialversicherung mit der Künstlersozialabgabe, die die Honorare dieses Personenkreises erfaßt und dem "Vermarkter" praktisch die Rolle des Arbeitgebers zuweist. 5. Die Scheinselbständigkeit

Der vorläufig letzte Schritt dürfte die vermutlich anstehende Einbeziehung der sog. Scheinselbständigen34 in die Sozialversicherung sein. Man mag darüber streiten, ob dieser Personenkreis noch zu dem hier diskutierten Thema gehört, da es um Personen geht, die man richtigerweise den Arbeitnehmern zuordnen muß. Ihre (Schein-)Zugehörigkeit zur Gruppe der Selbständigen beruht darauf, daß die vertragliche Gestaltung des Verhältnisses zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer wie zwischen Selbständigen ausgestaltet ist, die Auftragnehmer auch Risiken wie BT-Drucks. 7/ 307l. S. dazu eingehend Heinz-Dietrich Steinrneyer, Die Problematik der Scheinselbständigkeit, in: ZSR (1996), S. 348 ff. 33

34

Das Verhältnis der Selbständigen zur staatlichen Versicherung

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Selbständige tragen, sie aber in ihrer sozialen Situation und ihrer persönlichen Abhängigkeit eher den Arbeitnehmern zuzuordnen sind. Dieser Personenkreis ist deshalb schwer zu fassen, weil er sich in einer Grauzone bewegt. Es ist häufig eine besonders starke wirtschaftliche Abhängigkeit festzustellen, die es den fraglichen Personen als zu riskant erscheinen läßt, ihr Recht auf Einbeziehung in die sozialen Sicherungssysteme gegenüber ihrem Auftraggeber geltend zu machen. Andere sind mit dem ohne Abzug der Sozialversicherungsbeiträge höheren Einkommen durchaus zufrieden, ohne aber zu bedenken, daß sie ohne sozialen Schutz dastehen, den sie vielleicht in einem bestimmten Lebensalter als nicht erforderlich ansehen mögen; die Notwendigkeit angemessener Abdeckung wird oft erst dann erkannt, wenn es zu spät ist. Diesen Personenkreis zu erfassen, dürfte eines der sozialpolitischen Vorhaben der neuen Bundesregierung sein. Dabei wird die Tendenz dahin gehen, eine Gesetzesformulierung zu finden, die in diesem Grenzbereich Ausweichreaktionen durch geschickte Gestaltungsformen weitgehend unmöglich machen soll. Damit mag dann der Anwendungsbereich in Grenzfällen auch in die echte Selbständigkeit hineingezogen werden, was aber wohl in Kauf genommen wird 35 . Eine allgemeine Einbeziehung der Selbständigen in die sozialen Sicherungssysteme scheint nicht sehr wahrscheinlich zu sein.

VllI. Gegenwärtiger Zustand und Ausblick Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß im Laufe der Entwicklung immer weitere Personenkreise in die Sozialversicherung einbezogen worden sind. Die Selbständigen sind zwar nicht flächendeckend erfaßt, es kann aber festgestellt werden, daß - vom Grenzbereich der Scheinselbständigkeit einmal abgesehen die Vorsorge durch staatliche oder private Sicherungsformen für diesen Personenkreis weitgehend sichergestellt ist. Alle (echten) Selbständigen haben sich nach eigenen, im Auftrag der EU-Kommission durchgeführten Erhebungen 36 in irgendeiner Weise gegen das Krankheitsrisiko abgesichert. In der gesetzlichen Unfallversicherung wird von der Möglichkeit der Versicherungspflicht kraft Satzung für die Unternehmer Gebrauch gemacht und die gesetzliche Rentenversicherung ermöglicht die Entrichtung freiwilliger Beiträge oder der Versicherungspflicht auf Antrag. Gleichwohl mag man ein sozialversicherungsrechtliches Auffangnetz für erforderlich halten, da sonst bei Fehlschlagen der Kalkulation des Selbständigen die Sozialhilfe eingreifen muß. 35 Inzwischen - zum Zeitpunkt der Überarbeitung des Vortrages zum Zwecke der Drucklegung (April 1999) - ist die Problematik der Scheinselbständigkeit gesetzlich geregelt, wenn auch die Diskussion um die Scheinselbständigkeit aus anderen Gründen wieder aufgeflammt ist. 36 Steinmeyer, Study on Social Protection of the SeIf-Employed.

Sektion III: Deutsche Rentenversicherung im internationalen und intersektoralen Vergleich

15 Fisch/Haerende1

Einführung Von Hans Günter Hockerts

Die folgenden Beiträge rücken die Geschichte der deutschen Rentenversicherung ins Licht vergleichender Perspektiven. Sie tun dies auf recht unterschiedliche Weise. Neben Aspekte des internationalen Vergleichs - vor allem im Blick auf England und die USA - tritt ein deutsch-deutscher Vergleich; hier wird nach dem Alternativpotential des Kontinuitätsbruchs in der DDR gefragt. Hinzu kommt ein sektoraler Vergleich, der sich auf die für Arbeiter und Angestellte getrennten Zweige der deutschen Rentenversicherung bezieht. Die komparative Betrachtung dieser sehr verschieden konstruierten Zweige in der Zeit der "Großen Inflation", die im Gefolge des Ersten Weltkriegs die deutsche Rentenversicherung fundamental erschütterte, lenkt den Blick nicht - wie die anderen Beiträge - auf externe Alternativen, sondern auf intern eingebaute Varianten. England, die USA und die DDR bezeichnen drei Alternativen zum deutschen Weg bzw. zu dem von ,Bismarck bis Blüm' führenden Hauptweg der deutschen Altersversicherung. Die vergleichenden Beiträge fragen nach Unterschieden, aber auch nach Ähnlichkeiten und Parallelen. Während die Unterschiede das Spezifische des deutschen bzw. westdeutschen Entwicklungspfades klarer hervortreten lassen, fördert die Beobachtung der Ähnlichkeiten die Einsicht in generalisierbare Zusammenhänge, wie z. B. die weichenstellende Bedeutung der Weltwirtschaftskrise für den "Geist der konservativen Reformen" in Europa und den USA (Manin H. Geyer). Die Beiträge federn den Vergleich im jeweils nötigen Maße beziehungsgeschichtlich ab, indem sie nach der Vorbild- oder Konkurrenzwirkung des deutschen bzw. westdeutschen Beispiels fragen, nach Anziehung und Abstoßung. So verschieden die Beiträge im einzelnen angelegt sind, so kommt doch stets ein Vorzug komparatistischer Verfahren zur Geltung: Im Licht der Alternativen und Varianten verliert die Geschichte der Rentenversicherung an fragloser Selbstverständlichkeit; der Vergleich erweitert den Raum der historischen Konstellationen und Optionen; er schärft das Möglichkeitsbewußtsein. Peter Hennock untersucht die Anfänge der Alters- und Invaliditätsversicherung im englisch-deutschen Vergleich, bezogen auf Ausgangskonstellationen, Entscheidungsverläufe, Gestaltungsprinzipien und Leistungsprofil. Dabei treten Ursprungsalternativen der Rentenversicherung zutage. Mit dem Modell der steuerfinanzierten Einheitsrente für die Staatsbürger im hohen Alter wählte England einen deziIS'

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Hans Günter Hockens

diert anderen Weg als Deutschland (Old Age Pensions Act 1908). Zwar näherte der National Insurance Act von 1911 die Unterstützung im Fall der Invalidität dem deutschen Beispiel der beitragsgestützten Pflichtversicherung an; doch zählt auch dieser Gründungsakt zu den Wurzeln der englischen Tradition einheitlicher Leistungen ("flat-rate-benefits"). Anders als im englischen Vergleichsfall beeinflußte das Prinzip der lohnbezogenen Differenzierung von Beiträgen und Leistungen bereits die formative Phase des deutschen Rentensystems. Der Vergleich lenkt das Augenmerk auf divergierende Ausgangspunkte, die eine erhebliche Prägekraft für spätere Entwicklungen gewannen: Der britische Ansatz führte zu dem mit Beveridges Namen verbundenen Konzept einer über die Staatsbürgerschaft (nicht die Erwerbsarbeit) vermittelten allgemeinen sozialen (Grund-)Sicherung; der deutsche Weg mündete in das Konzept der Sicherung des individuell erarbeiteten Lebensstandards. Der englische Vergleichsfall kennt auch keine institutionelle Differenzierung nach Art des deutschen Versicherungsgesetzes für Angestellte, das 1911 im Zuge einer lobbyistischen Interessenformierung der Angestelltenbewegung mit antisozialdemokratischer Stoßrichtung verabschiedet wurde. Karl Christian Führer untersucht und vergleicht die Auswirkungen der Inflationsepoche auf die beiden Versicherungszweige, ebenso die Reaktionen der Versicherungsträger auf die damit verbundenen Anforderungen. Der inflationsbedingte Bankrott entfachte aufs neue kontroverse Debatten über die Legitimität einer Sonderversicherung der Angestellten; umgekehrt förderte die Inflation deren strikte versicherungsrechtliche Separierung, da nun der Rest der doppelt versicherungspflichtigen Angestellten dahinschmolz. Führers Beitrag zeigt, wie die "Standesversicherung" der Angestellten ihre Fortexistenz retten konnte, die dann seit 1924 - und nicht schon seit der Gründung 1911 -langfristig gesichert war.

Manin H. Geyer rückt die Gründung der amerikanischen Rentenversicherung ins Zentrum der Betrachtung (Social Security Act 1935). Dessen "konservative Grundstruktur" - strikte Betonung des Versicherungsprinzips mit Anwartschaftsdeckungsverfahren und relativ niedrigen Leistungen - erklärt er großenteils mit der Rezeption europäischer Krisenerfahrungen. Diese spitzten sich im Zeichen der Weltwirtschaftsdepression dramatisch zu und führten zu Konsolidierungsdebatten, die amerikanische Experten gerade auch am deutschen Beispiel aufmerksam studierten. Eine Gemeinsamkeit von weichenstellender Bedeutung sieht Geyer darin, daß sowohl die neue amerikanische als auch die ab 1930 reformierte deutsche Altersversicherung "die Knappheitspostulate der Weltwirtschaftskrise" auf Dauer stellten. In einem Ausblick skizziert er den Konstellationswechsel, der diese Knappheitspostulate in den USA überwand; dazu zählen die propagandistische Aufwertung der Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg und der schleichende, zum Teil mit keynesianischer Argumentation unterstützte Übergang zum Umlageverfahren. Das beispiellose Wirtschaftswachstum der 1950er und 1960er Jahre sprengte die "Kultur der Knappheit der 1930er Jahre" dann vollends - auch auf der anderen Seite des Atlantiks. Im Westen Deutschlands bezeichnet die große Renten-

Einführung

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reform von 1957 die einschlägige Zäsur; sie nahm die Dynamik des Wirtschaftsgeschehens in das Recht derer auf, die nicht mehr im Erwerbsprozeß stehen. Wie der Beitrag von Dierk Hoffmann zeigt, setzte die westdeutsche Rentenreform die SED-Führung 1956/57 unter Zugzwang. Die Ära Adenauer war im Hinblick auf die Institutionenordnung der Sozialversicherung traditionalistisch, aber in puncto Leistungsrecht dynamisch. In der DDR verhielt es sich umgekehrt: Der Umbau zur Einheits- und Volksversicherung vollzog einen institutionellen Traditionsbruch, der 1956 mit der Übernahme der Verwaltung der Sozialversicherung durch den FDGB abgeschlossen wurde; aber das Leistungsrecht blieb im herkömmlichen Zirkel von Alter und Armut befangen. Im Konkurrenzkampf der Systeme erwog das Politbüro zwar, der westdeutschen Rentenreform mit einer "sozialistischen Rentenreform" zu begegnen; aber die Initiative blieb stecken und reichte am Ende nur für ein Zulagengesetz. Für eine konzeptionell anspruchsvolle Reform fehlten aktuell die Mittel, und generell kam die Tendenz der SED hinzu, die sozialpolitischen Ressourcen auf produktionsnahe Bereiche und die erwerbstätigen Teile der Bevölkerung zu konzentrieren. Das dürftige Renten-Niveau der Pflichtversicherung bildete daher je länger, um so mehr das schwächste Glied im Sozialleistungssystem der DDR. Hingegen gewann die Rentenversicherung im demokratisch verfaßten Sozialstaat der Bundesrepublik - nicht zuletzt dank des Gewichts der Wählerstimmen der älteren Generation - eine besonders hohe Priorität.

Die Anf'änge von staatlicher Alters- und Invaliditätsversicherung Ein deutsch-englischer Vergleich l Von Peter Hennock

I. Eine politische Materie oder zwei? Für Alter und Invalidität wurden in Großbritannien unterschiedliche Versicherungen geschaffen. a) Altersrenten wurden aus Steuermitteln finanziert und von einer Bedürftigkeitsprüfung abhängig gemacht. Korrekt sind sie als eine Weiterentwicklung der älteren Instrumente des Armenrechts beschrieben worden. b) "Disablement Pensions", so heißen in Großbritannien die Invalidenrenten, wurden in einer Weise gewährt, die der deutschen sehr viel ähnlicher ist, nämlich durch eine beitragsgestützte Pflichtversicherung, die von Arbeitern, Arbeitgebern und Staat getragen wird. ll. Das Problem im zeitgenössischen Kontext Die Gesetzgebungsinitiativen reiften in beiden Ländern alles in allem vor einem unterschiedlichen Hintergrund heran. Die deutsche Sozialversicherungsgesetzgebung war in erster Linie eine Antwort auf den Übergang zur industriellen Produktionsweise und die damit verbundenen Folgekosten der Erwerbsarbeit. Sie nahm ihren Ausgang von der Unfallversicherung, die von der Krankenversicherung flankiert wurde. Die Alters- und Invaliditätsversicherung ergänzte die vorherigen Gesetze und wurde als Vervollständigung des Programmes betrachtet, das I Dies ist eine verkürzte und überarbeitete Fassung meines Artikels "Public Provision for Old Age. Britain and Germany 1880-1914", in: AfS 30 (1990), S. 81-103. Die Überarbeitung basiert auf Forschungen, die vom Leverhulme Trust finanziell unterstützt wurden, dem ich dafür meinen Dank ausspreche. Es sei darauf hingewiesen, daß das Buch von lohn Macnicol, The Politics of Retirement in Britain 1878-1948, Cambridge 1998, zu spät erschienen ist, um bei der Ausarbeitung dieses Beitrags berücksichtigt zu werden. Eine Ausnahme bildet das Kapitel über die "Friendly Societies", das der Autor mir freundlicherweise vor der Publikation in der Manuskriptfassung zur Verfügung stellte (vgl. Anm. 19).

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die Kaiserliche Botschaft vom November 1881 verkündet hatte. Im Unterschied dazu war das britische Rentenversicherungsgesetz von 1908 eine Antwort auf die Probleme des Annenrechts. Wie in Deutschland hinterließ auch in Großbritannien die Ausgangsgesetzgebung ungelöste Probleme. Invalidenrenten wurden nach dem britischen "National Insurance Act" von 1911 gewährt, der als Antwort auf diese offenen Probleme gedacht war, auch wenn er außerdem für die Risiken zeitweiser Krankheit und Arbeitslosigkeit Vorsorge traf. UI. Das Armenrecht und die alten" würdigen" Armen

Bis in die 1870er Jahre hatte das englische Annenrecht, zumindest auf dem Land, den älteren Annen normalerweise offene Fürsorge gewährt. Das Unterstützungsniveau stand in einem angemessenen Verhältnis zum Lebensstandard einfacher Arbeiter. Erst in den 1870er und 1880er Jahren verwarf das "Local Government Board", die zentrale Instanz im Annenwesen, diese Praxis. Obwohl seine Vorschläge keine Gesetzeskraft hatten, führten sie zur Kürzung der offenen Fürsorge für die Älteren. Immer häufiger wurde die Unterstützung versagt, außer der Bittsteller ließ sich ins Arbeitshaus einweisen. Auf diese Weise wurde der Abschreckungseffekt der Arbeitshäuser, der üblicherweise im Hinblick auf jüngere arbeitsfahige Unterstützungsbewerber eingesetzt worden war, auf die sogenannten "Alten und Schwachen" ausgedehnt. Systematisch wurden auch die Familien unter Druck gesetzt, für ihre älteren Angehörigen zu sorgen, indem die gesetzliche Verpflichtung von Söhnen und unverheirateten Töchtern, ihre Eltern zu unterstützen, strikter durchgesetzt wurde. Es wurden sogar Versuche unternommen, auch von Familienangehörigen finanzielle Beiträge zu erhalten, die dazu nicht durch das Gesetz verpflichtet waren. In dieser Hinsicht dehnte das englische Recht das Prinzip der Farnilienpflicht nicht so weit aus, wie es in Deutschland der Fall war2 • Dieser Angriff auf die Erwartungen der Annen, im Alter vom örtlichen Gemeinwesen aus der Annensteuer unterstützt zu werden, liefert den Hintergrund für die Forderungen nach staatlichen Altersrenten in Großbritannien. Er weckte das Inter2 David Thomson, I am not my Father's Keeper. Families and the Elderly in nineteenthcentury England, in: Law and History Review 2 (1984) H. 2, S. 265 -286; ders., The Decline of Social We1fare: Falling State Support for the Elderly since Early Victorian Times, in: Ageing and Society 5 (1985) H. 4, S. 451-482; und besonders ders., Provisions for the Elderly in England 1830-1908, unveröff. Ph.D. Dissertation, Cambridge 1980. Das Verhältnis des Unterstützungsniveaus in offener Fürsorge zum Lebensstandard einfacher Arbeiter basiert auf Thomsons Untersuchung einer kleinen Zahl ländlicher Annenrechtsvereinigungen. Diese sind vermutlich nicht repräsentativ für entsprechende Annenverbände in Industriegebieten. Vgl. E.H. Hunt, Paupers and Pensioners: Past and Present, in: Ageing and Society 9 (1989) H. 4, S. 407 - 430. Zur gesetzlichen Verpflichtung der Familienangehörigen in Deutschland s. Statistik der öffentlichen Annenpflege im Jahr 1885, Einleitung, in: Statistik des Deutschen Reichs, N.F. Bd. 29, Berlin 1887, S. 5*.

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esse an einer Statistik über ältere Empfänger von Armenhilfe, das sich insbesondere in zwei Erhebungen von 1890 und 1892 niederschlug, die es ermöglichten, den Anteil älterer Bedürftiger an der Bevölkerung in Alterskohorten von fünf Jahren zu berechnen. Der Anteil der über 65jährigen, die auf Unterstützung angewiesen waren, betrug 30 Prozent, während nur drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung unter 60 Armenhilfe bezogen3 • Das zeigte die quantitative Bedeutung der "alten würdigen Armen", derjenigen, die es geschafft hatten, unabhängig von Armenhilfe zu bleiben, bis fortschreitendes Alter und Schwäche sie in diese Abhängigkeit zwangen. Die Zahlen weckten Zweifel, ob eine Politik der systematischen Abschreckung gerechtfertigt sei oder ob Bedürftigkeit im Alter einfach als ein Faktum zu akzeptieren war. Diese Menschen waren keine Müßiggänger, sondern respektable ältere Leute. Außerdem warfen die Zahlen Zweifel auf, ob es überhaupt machbar wäre, bei einer so großen Anzahl eine signifikante Wirkung zu erzeugen. Nachdem sie überdies zeigten, daß ab einem Alter von 60 Jahren die Abhängigkeit vom Armenwesen in jeder Fünfjahres-Alterskohorte zunahm, führten sie zu der naheliegenden Schlußfolgerung, daß der kritische Übergang in die Armut nicht bei allen gleich lag. Man hätte daher annehmen können, daß diese Statistik die Forderung nach Invaliditätsrenten unterstützt haben würde. Tatsächlich führte die nachfolgende Debatte über die Art und Weise, wie die alten "würdigen" Armen zu behandeln seien, zu zwei Arten von Reformvorschlägen, die beide vorsahen, das abschreckende Armenrecht zugunsten einer Unterhaltshilfe ohne Stigmatisierung aufzugeben. Einige meinten, daß die Armenverwaltung innerhalb der traditionellen Klassifizierung der ,,Alten und Schwachen" eine neue Kategorie der "würdigen alten Bedürftigen" bilden solle. Ihnen sollte offene Fürsorge problemlos gewährt werden, oder, falls sie Anstaltsunterbringung benötigten, eine Behandlung zuteil werden, wie sie einem Heim für Bedürftige angemessen war. So lautete die Empfehlung einer königlichen Kommission von 1895, die in Runderlassen des "Local Government Board" zwischen 1895 und 1900 ihren Niederschlag fand4 • Diese Rundschreiben beließen der Armenverwaltung ein großes Maß an Entscheidungsfreiheit. Sie konnte selbst bestimmen, ob sie den Empfehlungen der Zentralbehörde folgen sollte und in welchem Maße. Sie konnte außerdem entscheiden, wer als "würdig" einzustufen sei und ab welchem Zeitpunkt dieser neue Status gelten sollte. 3 Return ... of the Number of Persons ... in Receipt of In-door Relief and of Out-door Relief Aged over 60 Retumed in Quinquennial Groups on 1 August 1890 (Burt's Return), in: British Parliamentary Papers 1890 - 1891 (36) Ixviii.563; Return ... of the Number of Persons ... over 65 Years and Upwards ... in Receipt of Indoor Relief and Out-door Relief on 1 January 1892 and at Any Time during the 12 Months Ended Lady Day 1892 (Ritchie's Return), in: British Parliamentary Papers, 1892 Session 1 (265) lxviii. Die Zahl von 3 % schließt Vagabunden und Geisteskranke aus. Vgl. weiter Charles Booth, The Aged Poor in England and Wales, London I New York 1894, S. 42 f. 4 Sidney and Beatrice Webb, English Poor Law Policy, London 1910, S. 231-240.

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Die konkurrierenden Vorschläge zur Gewährleistung von Altersrenten unabhängig von den bestehenden Annenpflegebehörden basierten auf einer Ablehnung gerade dieser Entscheidungsfreiheit. Unabhängig davon ob die Verfechter dieser Vorschläge eine beitragsfinanzierte Versicherung mit Staatszuschuß oder rein steuerfinanzierte Renten befürworteten, empfanden sie in jedem Fall die Verfügungsgewalt der Annenverwaltung und ihrer Annenpfleger als vollkommen inakzeptabel. Sie hielten daher Ausschau nach einem objektivierbaren Kriterium, das automatisch eine Unterstützungsberechtigung nach sich zöge, und sie fanden es in der Altersgrenze, die von einigen auf 60, von anderen auf 65 Jahre angesetzt wurde. Die Zahl hing davon ab, wie der jeweilige Reformbefürworter die mögliche Höhe der von der Regierung zu stellenden Mittel einschätzte. Die Regierung war sich ihrerseits wohl bewußt, daß es "eines der vorrangigen Ziele, die hinter dem Rentenvorschlag standen, war, die Entscheidungs- und Prüfungsgewalt zu beseitigen, die von dem ,out-doOf relief committee of boards of guardians' wahrgenommen wurde" - so formulierte es Premierminister Asquith 5 . Die Regierungsvorschläge von 1908 übernahmen eine Altersgrenze von 65 Jahren. Obwohl es durch die Biographien zahlreicher Arbeiter gerechtfertigt gewesen wäre, war ein niedrigeres Eintrittsalter politisch ganz und gar unrealistisch. Wenn andererseits die "würdigen" alten Annen vor der Stigmatisierung durch das Armenrecht bewahrt werden sollten, war eine Altersgrenze von 70 Jahren auf der Basis der bekannten Zahlen unmöglich zu vertreten. Als sich das Kabinett im letzten Moment bewußt wurde, daß die Mittel, die für Renten bereitgehalten worden waren, unzureichend wären, und sich daher entschloß, die vorgeschlagene Altersgrenze auf 70 anzuheben, untergrub es die Logik seiner eigenen Politik in erheblichem Maße. Es gab niemals irgendeinen Versuch, diese Bestimmung des Gesetzes zu rechtfertigen. Der Premierminister machte deutlich, daß das Gesetz als erster Schritt angesehen werden sollte, und daß eine befriedigendere Lösung getroffen würde, sobald das Geld vorhanden wäre. Weil dieses Versprechen nicht eingelöst werden konnte, ohne mehr Steuermittel auszugeben, als er bereit war, dafür ins Auge zu fassen, begann Lloyd George, der neu ernannte Schatzkanzler, sich in Richtung einer Nachahmung Deutschlands zu bewegen. Es gab zwei Aspekte des deutschen Systems, die ihm von Anfang an gefielen. Der eine war die Aussicht, das Prinzip steuerfinanzierter Renten, auf dem das Gesetz von 1908 basierte, zu umgehen, und das Geld für künftige Ausgaben zu weiten Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern durch wöchentliche Pflichtbeiträge zu beschaffen. Der andere war die Tatsache, daß in Deutschland Renten unter der Grenze von 70 Jahren innerhalb eines Ermessensspielraums in der Form von Invalidenrenten bezahlt wurden. Das Ergebnis war, daß eine Invalidenunterstützung für unter 70jährige geschaffen wurde, die ein Bestandteil des 1911 entstandenen nationalen britischen Versicherungssystems 5 Hansard, Parliarnentary Debates, 4 th series, Cornmons 190 (24 June 1908), Sp. 1742 (Zitat übersetzt).

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war6 . Dadurch rückte die öffentliche Versorgung der Älteren in Großbritannien in deutlicher Weise an das System heran, das in Deutschland seit 1889 existierte7 • IV. Wie vergleicht sich der britische Fall mit der Bedeutung des Armenrechts für die deutsche Versicherungsgesetzgebung? Es wäre merkwürdig gewesen, wenn die Gründungsväter der deutschen Arbeiterversicherung das Armenrecht überhaupt nicht in ihre Überlegungen einbezogen hätten. Dennoch lieferte es kein Motiv, das dem Impuls vergleichbar gewesen wäre, der von der tiefsitzenden, weitverbreiteten Unzufriedenheit mit dem englischen Armenrecht für die Forderung nach Altersrenten ausging. Der Kontrast, nicht die Ähnlichkeit zwischen den beiden Ländern ist das eigentlich Auffällige. In Deutschland gab es keine der britischen vergleichbare Entschlossenheit, Formen der Unterhaltshilfe zu etablieren, die die Armenfürsorge vollkommen ersetzen und ihre Empfanger von jedem Kontakt mit den Armenbehörden befreien könnten. Das deutsche Rentenniveau erlaubte dem Rentner aus einer gering bezahlten Beschäftigung nicht immer ein Einkommen, das zum Lebensunterhalt ausreichte. Ergänzend trat die öffentliche Armenpflege ein, wenn es nötig war. In dieser Formierungsphase wurden daher - so läßt sich resümieren - beide Arten der Unterstützung in Großbritannien als Alternativen betrachtet; in Deutschland galt das nichtS. Es gibt keine lückenlosen und zuverlässigen Daten darüber, wieviele deutsche Rentner ihre Invalidenrente durch öffentliche Armenhilfe aufstocken mußten. Christoph Conrad spricht von einer Größenordnung zwischen acht und zwölf Prozent, die aber in Berlin bedeutend höher gelegen habe 9 . Obwohl das deutsche Versicherungssystem einen ausgedehnten statistischen Apparat ausbildete, hielt niemand diese Daten für regulär erhebenswert. Diese Tatsache allein spricht Bände hinsichtlich der Differenzen, die zwischen den politischen Prioritäten in beiden Ländern bestanden.

6 Der Fehler, die Regelungen des Gesetzes von 1911 nicht einzubeziehen, verzerrt den Vergleich mit Großbritannien in dem ansonsten interessanten Artikel von Christoph Conrad, Die Entstehung des modemen Ruhestandes. Deutschland im internationalen Vergleich 1850-1960, in: GuG 14 (1988), S. 417 -447. 7 E. P. Hennock, British Social Reform and German Precedents. The Case of Social Insurance 1880-1914, Oxford 1987, S. 130-151. 8 Das betreffende britische Verfahren wurde 1920 abgeschafft. Angesichts des realen Wertverlustes der Rente durfte sie demnach auch in Großbritannien im geeigneten Fall von der Armenfürsorge aufgewertet werden. 9 Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göningen 1994, S. 296f.

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V. Der politische Prozeß Der Unterschied zwischen dem "Old Age Pensions Act" von 1908 und dem "National Insurance Act" von 1911 liegt nicht nur in der Art und Weise, in der die beiden Formen von Renten finanziert wurden. Er liegt auch in dem jeweiligen politischen Prozeß, aus dem sie hervorgingen. a) Altersrenten waren Ergebnis des Drucks, der auf eine widerstrebende Regierung ausgeübt wurde: zunächst durch außerparlamentarische Mittel, dann durch eine Wählerbewegung und schließlich durch die Hartnäckigkeit von Parlamentsmitgliedern, sowohl aus der Liberalen wie aus der Arbeiterpartei. Die Rolle der liberalen Regierung war reaktiv und vor allem darauf ausgerichtet, die finanziellen Forderungen, die an sie gerichtet wurden, einzudämmen lO • Das stand in auffalligern Kontrast zu der ursprünglichen deutschen Versicherungsgesetzgebung, die von einem Kanzler in Gang gesetzt und vorangetrieben wurde, der entschlossen war, die von ihm gewählte Politik einer Pflichtversicherung durchzusetzen, bevor er Forderungen aus dem Reichstag und von anderer Seite nach einer Reform des Haftpflichtgesetzes nachgäbe. Auch 1887 kam die Initiative zu einer Gesetzgebung für eine Invaliditäts- und Altersversicherung aus der Mitte des kaiserlichen Regierungslagers ll. b) Im Fall des "National Insurance Act" spielte die britische Regierung eine ähnlich aktiv-fördernde Rolle wie Bismarck in den frühen 1880er Jahren. Sie wollte keinesfalls in die Lage kommen, den Forderungen nach einer Herabsenkung der Altersgrenze für steuerfinanzierte Altersrenten von 70 auf 65 oder sogar 60 Jahre nachgeben zu müssen. Deshalb ergriff sie die Initiative und schlug Invalidenrenten aus einer beitragsfinanzierten Pflichtversicherung vor. Dies war keine Politik, die einer populären Forderung in Großbritannien entsprochen hätte 12. Die britische Regierung lehnte sich daher nicht nur bewußt an spezifische inhaltliche Aspekte der deutschen Politik an, sondern verfolgte unbewußt auch eine ähnliche politische Strategie wie Bismarck. In beiden Fällen führte das zu unerwarteten und radikalen Vorschlägen wie auch zu dem Versuch, die hier berührten organisierten Interessen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen.

Hennock, British Social Reform, S. 124-128. Florian Tennstedt/Heidi Winter, "Der Staat hat wenig Liebe - aktiv wie passiv". Die Anfänge des Sozialstaats im Deutschen Reich von 1871, Teil I, in: ZSR 38 (1993), S. 362392; dies., "Jeder Tag hat seine eigenen Sorgen, und es ist nicht weise, die Sorgen der Zukunft auf die Gegenwart zu übernehmen." Die Anfänge des Sozialstaats im Deutschen Reich von 1871, Teil 2, in: ZSR 41 (1995), S. 671 - 706. Zum Jahr 1887 s. den Beitrag von Ulrike Haerendel in diesem Band. 12 Hennock, British Social Reform, S. 148-151, 168-172. 10

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VI. Die Rolle der Arbeiterbewegung In der deutschen Gesetzesgenese der frühen 1880er Jahre war die Rolle der SPD in den Reichstagsdebatten zwar ablehnend, aber von relativ marginaler Bedeutung. Außerdem wurden die Gewerkschaften ganz ignoriert, im Gegensatz zu den Arbeitgeber- und Industrieverbänden, deren Meinungsäußerungen von der Regierung im Verlauf des Gesetzgebungsprozesses ausgiebig eingeholt wurden. Gewiß war dies die Zeit des Sozialistengesetzes, aber die Haltung der Regierung scheint gegenüber den nicht-sozialistischen Gewerkschaften nicht weniger geringschätzig gewesen zu sein 13. Bei der Entstehung des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes 1888/89 wurde die SPD aus den Gremien, in denen die wichtigen Entscheidungen fielen, herausgehalten. Im Gegensatz dazu brachte das ,,National Committee of Organised Labour for Old Age Pensions", die britische Interessengruppe, die die öffentliche Meinung zugunsten von Renten aus allgemeinen Steuermitteln mobilisierte, Philanthropen und Kirchenmänner mit den Führern der Arbeiterbewegung zu gemeinsamer Aktion zusammen. Das Komitee spielte die entscheidende Rolle in der Koordination der Kampagne für Altersrenten außerhalb des Parlaments und bei den Parlamentsmitgliedern. Im Parlament fiel den Labour-Abgeordneten eine besonders wichtige Rolle zu, weil sie von der Parteidisziplin der Liberalen unabhängig waren. Der gleiche Kontrast zu Deutschland trifft auf die Politik für eine "National Insurance" zu, nachdem diese zu einer Zeit verfolgt wurde, als die Regierung für die parlamentarische Mehrheitsbeschaffung auf Labour-Abgeordnete angewiesen war. Dieser grundlegend unterschiedliche Einfluß, den die Arbeiterbewegung im politischen Prozeß der beiden Länder ausübte, geht an erster und wichtigster Stelle auf unterschiedliche politische Strukturen zurück und kann schon in den 1880er Jahren beobachtet werden 14• Aber der Unterschied wird auch durch die zeitliche Distanz zwischen den 1880er Jahren und 1908-11 kompliziert, einer Epoche, in der der politische Einfluß der Arbeiterbewegung in beiden Ländern im Zunehmen begriffen war. Vll. Der Reiz steuerfinanzierter Renten für die Arbeiterbewegung15 Britische Befürworter von Altersrenten waren sich darin einig, daß das Armenrecht für die Bedürfnisse respektabler älterer Menschen ungeeignet sei, und daß ein automatischer Rechtsanspruch der einzig akzeptable Schritt nach vorne sei. Sie 13 Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abt., 2. Bd.; 11. Abt., 2. Bd., I. Teil, bearb. von Florian Tennstedt/Heidi Winter, Stuttgart 1993, 1995. 14 Hennock, British Social Reform, S. 39-51. 15 Dieser Abschnitt basiert auf Hennock, British Social Reform, Kap. 8 und 9.

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waren aber tief gespalten zwischen Anhängern und Gegnern eines beitragsgestützten Systems. Dabei handelte es sich nicht um eine Spaltung zwischen solchen Personen, die deutsche Vorbilder übernehmen wollten, und solchen, die das nicht wollten. Beide Gruppen waren gleichermaßen entschlossen, sich nicht auf eine beitragsgestützte Pflichtversicherung nach deutschem Modell einzulassen. Die eine Seite lehnte das Modell ab, weil es eine Pflichtversicherung war, die andere Seite, weil es auf Beiträgen beruhte. Dahinter steckte allerdings bei beiden das gleiche Motiv: Sie wußten, daß die Rentenversicherungsgesetzgebung sich den Wählern empfehlen müßte. Warum sollte sie dazu in der Lage sei? Die Antwort auf diese Frage führt uns zurück zu den Erhebungen über Altersarmut von 1890 und 1892 und zu der zahlenmäßigen Bedeutung der alten "würdigen" Bedürftigen, die sie aufgedeckt hatten. Die Klientel der Armenpflege war nicht, wie man angenommen hatte, eine Randgruppe ohne die Fähigkeit, sich selbst politisch zu organisieren. Die Zahlen machten deutlich, daß ein erheblicher Teil der Wähler aus der Arbeiterschaft, Personen, deren Lebensgewohnheiten sich weit von denen der üblichen Klientel des Armenpflegers abhoben, unter dem Damoklesschwert einer schließlichen Entwürdigung lebte. Diese Menschen waren in der Lage, sich politisch einzusetzen, und sie konnten, wenn sie die Botschaft einmal verstanden hätten, zugunsten einer Rentenpolitik mobilisiert werden, die ihnen versprach, sie vor der "Schande" des Armenunterstützungsempfängers zu bewahren. Der erste Politiker von Rang, der das verstanden hatte, war Joseph Chamberlain. Seine Vorschläge, Sparprogramme für Altersrenten, und zwar einschließlich solcher, die von Arbeiter-Sparkassen organisiert werden sollten, staatlich zu subventionieren, gehörten zu seiner Werbekampagne um die Stimmen der organisierten Arbeiterschaft, das heißt der Arbeiter, die in den "Friendly Societies", den Gewerkschaften und ähnlichen Einrichtungen vertreten waren. Chamberlains Beharrlichkeit rückte das Thema Altersrenten in den politischen Vordergrund und hielt es dort zwischen 1891 und 1898, bis der Faden von anderen aufgenommen wurde. Chamberlain machte nicht den Fehler, sich mit einer mächtigen Interessenlobby im Land anzulegen, wie es Canon Blackley, ein früherer Verfechter von Renten, getan hatte. Dessen Vorschläge hatten sich auch auf Krankenunterstützung erstreckt und damit die Gegnerschaft der "Friendly Societies" heraufbeschworen. Chamberlain konzentrierte sich auf die Vorsorge für das Alter, ein Gebiet, das den "Friendly Societies" als schwieriges Terrain galt. Er machte außerdem deutlich, daß seine Rentenversicherungsvorschläge kein Element des Zwanges enthielten, sondern mit dem Anreiz staatlicher Subventionierung locken konnten. Er bot den größeren "Friendly Societies" den Vorteil finanzieller Unterstützung durch den Staat an. Er schaffte es aber nicht, ihr Mißtrauen zu überwinden, daß einer solchen Partnerschaft mit dem Staat höchstwahrscheinlich eine Kontrolle über ihre Institutio-

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nen folgen würde. Nachdem Arbeitersparkassen vor allem wegen der Unabhängigkeit geschätzt wurden, die sie vor der Bevormundung durch eine übergeordnete Autorität gewährten, ging das an die Substanz. Die Einstellungen zu Altersrenten waren unter den "Friendly Societies" während der 1890er Jahre sehr unterschiedlich. Es gab keine geschlossene Front von Gegnern. Aber es gab von dieser Seite auch keinen starken politischen Druck, ohne den das Programm der subventionierten Renten politisch eine verlorene Sache war. Da dieser Druck von außen fehlte, fiel Chamberlains Plan im Kabinett den Einwänden der für Finanzen zuständigen Regierungsmitglieder zum Opfer. Nach 1898 wurde erneuter Druck durch das "National Comrnittee of Organised Labour for Old Age Pensions" mobilisiert, jedoch nicht zugunsten des Chamberlain-Planes, sondern des konkurrierenden Planes von Charles Booth, der steuerfinanzierte Renten für sämtliche Bürger vorschlug. Die Gewerkschaftsführer, die das Nationalkomitee ins Leben riefen, erkannten schnell, daß Booth's Vorschläge "keine Beeinträchtigung oder Überwachung der Gewerkschaften seitens der Regierung herausfordern würden" - wie sie es ausdrückten 16 . Die Rente war eine Zusatzvergütung, die ohne Bedingungen zu jedwedem Einkommen, das ein Empfänger aus anderen Quellen bezog, hinzugefügt wurde. Es sollte also keine Bedürftigkeitsprüfung geben, wie auch nicht an eine Subventionierung bestehender Institutionen gedacht war. Diese Züge ließen Booth's Vorschlag der Arbeiterbewegung attraktiv erscheinen. Das Problem lag bei den Kosten. Kritiker schätzten diese auf 26 Millionen Pfund, was etwas mehr als einem Sechstel der Gesamteinnahmen der Regierung im Jahr 1899 entsprach. Booth's eigene Berechnungen bewegten sich zwischen 17 und 20 Millionen Pfund. Das waren "Vorschläge, die niemals von einer Regierung dem Parlament hätten empfohlen werden können" - so der Schatzkanzler 1899 17 • Nichts als ein utopischer Glaube an die Möglichkeit, das Wahlklima völlig verändern zu können, kann die Bereitschaft der Führung der Arbeiterbewegung, einschließlich der erst vor kurzem gegründeten Labour Party, erklären, sich einem solchen Programm zu verschreiben. Tatsächlich ging sie sogar noch weiter als Booth, indem sie ein Rentenalter von 60 Jahren forderte. Natürlich erhielten sie keine allgemeinen Renten. Als die Regierung begriff, daß etwas getan werden müßte, konzentrierte sie sich darauf, das Minimum zu gewähren, das benötigt wurde, um die Rentenkampagne aufzulösen. Dafür waren zwei Bedingungen unverzichtbar. Die alten "würdigen" Armen konnten nicht der Gnade der Armenverwaltung überlassen werden, und Renten durften nicht auf einer Beitragsfinanzierung beruhen. Der Rest hing von Kalkulationen über die finanziellen Möglichkeiten ab. Die Mittel, die sofort verfügbar waren, verwiesen auf eine harte 16 Zitiert aus Francis H. Stead. How Old Age Pensions Began To Be, London o.J. [1909], S.28. 17 Sir Michael Hicks-Beach, Aged Poor, Cabinet memorandum, 20. 11. 1899. Public Records Office, CAB 37/51/89.

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Bedürftigkeitsprüfung als Zugangsschwelle und bewirkten schließlich sogar, daß die Altersgrenze auf 70 Jahre festgesetzt wurde. Diese Entscheidung sprach der ursprünglichen Absicht Hohn, die alten "würdigen" Armen vor der Demütigung durch das Armenrecht zu bewahren. Zu viele von ihnen mußten lange vor diesem Alter der Bedürftigkeit anheimfallen. Die Definition des "würdigen" Empfängers, die in das Gesetz hineingeschrieben wurde, war daher völlig unangemessen. Nur die nämlich, die unabhängig von der Armenfürsorge geblieben waren, sollten sich für den Rentenbezug qualifizieren. Dieser Ausschluß der Armenunterstützungsempfänger lag so eklatant im Widerspruch zu dem angeblichen Ziel der Politik, daß das Parlament auf der Beseitigung dieser Hürde bis 1911 bestand. Erst dann war die Masse der in offener Fürsorge Unterstützten über 70 Jahre dazu in der Lage, sich aus der Armenfürsorge heraus zu begeben (95 Prozent von ihnen) und statt dessen Altersrenten zu beziehen.

VIII. Die Bedeutung des demographischen Wandels In seinem Buch über Deutschland ,Vom Greis zum Rentner' hat Christoph Conrad darauf hingewiesen, daß der demographische Wandel im langen 19. Jahrhundert - wie er es nennt - keine Gründe für eine vorrangige Beschäftigung mit den Problemen des Alters lieferte. Im Gegenteil, die Schwierigkeiten waren an der Basis, nicht an der Spitze der Alterspyramide zu finden. Alte Menschen stellten einen kleinen Anteil der Gesamtbevölkerung; diejenigen, die von dem ökonomisch aktiven Teil der Bevölkerung abhingen, waren ganz überwiegend die Jungen, nicht die Alten 18 . Das gleiche traf mit wenig bedeutsamen Differenzen auf die Bevölkerung Großbritanniens zu. Dennoch haben - im Gegensatz zur deutschen Geschichtsschreibung - britische Sozialhistoriker ein wesentlich größeres Interesse an der Bedeutung des demographischen Wandels gezeigt. Sie haben auf zwei Formen davon aufmerksam gemacht: die Zunahme der Lebenserwartung und die Zunahme der Gesamtzahl von älteren Menschen. Zwischen den 1850er und den 1890er Jahren erhöhte sich die Lebenserwartung eines zwanzigjährigen Mannes um 2,5 Jahre; bis 1911 waren nochmals 2,2 Jahre dazugekommen. Das Buch James Rileys über die Gesundheit der Älteren hat das Interesse an den Auswirkungen dieser erhöhten Lebenserwartung auf die Finanzierung der "Friendly Societies" wiederbelebt 19 . Von meinen Standpunkt aus ist hingegen der Anstieg der Gesamtzahl von älteren Menschen bedeutsam. Obwohl der Anteil der Bevölkerung im Alter über 60 Conrad, Vom Greis zum Rentner, S. 56-94 James C. Riley, Siek not Dead: The HeaIth of British Workingmen during the MortaIity DecIine, Baltimore I London 1997; Maenicol, Polities of Retirement, S. 112 - 136. 18

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zwischen 1861 und 1901 leicht fiel, nahm ihre absolute Zahl um eine Million zu20 • Die Armenrechtspolitik, die nach 1870 eingeführt wurde und die Abschrekkung von den jüngeren arbeitsfähigen Unterstützungsbewerbern auf die älteren Bedürftigen ausdehnte, traf somit auf eine namhafte Gruppe der organisierten und ökonomisch aktiven Mitglieder der Arbeiterschaft. In einer Lebensphase, in der sie ohnehin durch den Unterhalt für ihre Kinder belastet waren, wurden sie in wachsendem Maße mit Forderungen konfrontiert, auch noch ihre älteren Angehörigen zu unterstützen. Kein Wunder, daß sie sich einer Kampagne, das Armenrecht durch steuerfinanzierte Altersrenten zu ersetzen, anschlossen! Ob diese Veränderungen nur von Bedeutung waren, weil die britische Rentenpolitik von unten angetrieben wurde, ist eine Frage, die es sich zu stellen für Historiker der deutschen Sozialpolitik lohnenswert sein könnte.

IX. Vergleich der Rentenleistungen - das Problem zeitlicher Differenz

Jeder Vergleich zwischen der deutschen und der britischen Versicherung ist dadurch kompliziert, daß die maßgeblichen Ereignisse durch den Abstand einer ganzen Generation voneinander getrennt sind. Wir müssen bedenken, daß wir keine synchronen Prozesse vergleichen. Dieses Problem ist auch schon beim Vergleich der jeweiligen Rolle der Arbeiterbewegung aufgetaucht. Es tritt noch akuter auf, wenn wir versuchen, Rentenleistungen miteinander zu vergleichen. Renten wurden in Deutschland seit 1891 gewährt, und 1908 war bereits eine Gesamtsumme von 1 476 Millionen Mark ausgezahlt worden. In diesem Jahr gab es über eine Million deutscher Rentner21 . Keine der britischen Leistungen war vor 1909 zu beziehen. Davor können weder die Anzahl der bewilligten Renten noch die Höhe der ausgegebenen Summen miteinander verglichen werden. Ein Vergleich macht überdies wenig Sinn vor dem Jahr 1911, als Großbritannien schließlich ein funktionierendes Altersversicherungssystem hatte, das von dem Ausschluß der Armenunterstützungsempfanger durch das Original gesetz befreit war. Eine Invalidenunterstützung nach dem "National Insurance Act" von 1911 war erst seit 1913 zu beziehen. 20 B.R. Mitchell/Phyllis Deane, Abstract of British Historical Statistics, Cambridge 1962, S.I2f. 21 Nach der offiziellen Statistik betrug die genaue Zahl der Rentner, die Invaliden- bzw. die ähnlichen Krankenrenten (vorübergehende Renten für diejenigen, die nach Ablauf des 26wöchigen Anspruchs auf Krankenversicherungsleistungen immer noch - aber nicht dauerhaft - erwerbsunfähig waren) bezogen, 1 118749. Die 1 476 Millionen Mark bilden die Gesamtsumme (auf Millionen gerundet), die an Rentenzahlungen seit 1891 geleistet wurde. Die Zahlen wurden berechnet nach Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, Einführungsband, bearb. von Karl Erich Bom/Hansjoachim Henning/Manfred Schick, Wiesbaden 1966, S. 152f.

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Diese Umstände reduzieren die Zeitspanne beträchtlich, die für einen Vergleich bleibt, bevor die Kriegsinflation den Realwert der ausgezahlten Summen aushöhlte, der früher oder später, aber meistens später, auf unterschiedlichsten Wegen ersetzt werden mußte. Außerdem mischten sich jetzt die Regelungen für Kriegsveteranen und Kriegerwitwen in das Leistungsspektrum. In Deutschland war die Nachkriegsinflation so gravierend, daß bis 1923 das Versicherungssystem völlig zusammengebrochen war und nach Beendigung der Währungskrise neu errichtet werden mußte. Es ist daher schwierig, irgendeine Basis zu finden, um die tatsächlichen Auswirkungen der jeweiligen Systeme auf die Bevölkerung der beiden Staaten miteinander zu vergleichen. Eher kann man Absichten als Errungenschaften vergleichen.

X. Rentenleistungen

Unter diesem Vorbehalt wenden wir uns den Leistungen zu, die gewährt wurden. Man kann die Renten auf zwei Arten vergleichen: nach den Berechtigungskriterien und nach der Leistungshöhe. In Großbritannien lagen die Zugangshürden höher. Altersrenten waren an eine Bedürftigkeitsprüfung gebunden. Erst 1925 führte man eine beitragsgestützte Alterspflichtversicherung ein, welche bei einem Alter von 65 Jahren griff. Invalidenrenten waren nur für "Arbeitsunfähige". Es gab nicht wie in Deutschland Renten für diejenigen, deren Erwerbsfähigkeit zu mehr als zwei Dritteln eingeschränkt war. Um die deutschen Rentenhöhen zu berechnen, greife ich zu der einfacheren Methode, wie sie 1899 eingeführt wurde. Die britischen Werte werden in Mark umgerechnet - auf der gleichen Basis (ein Schilling = eine Mark), die W. H. Dawson benutzt hat, von dem die meisten dieser Zahlen stammen22 . Die folgende Tabelle stellt die Leistungen nach drei Perioden dar. Die erste urnfaßt eine sehr kurze Spanne, aber zeigt an, welche Beträge bis 1900 erreichbar waren. Die zweite bezeichnet die längstmögliche Beitragszeit bis 1914. Diese Zahlen sind noch im Bereich des historisch Möglichen, während wir es danach mit theoretischen Angaben zu tun haben, die anzeigen, was ohne Krieg und Inflation hätte sein können. Weil aber sehr ähnliche Einwände gegen die britischen Zahlen gemacht werden können, wurden die Rentenhöhen für den Endpunkt der Zeitspanne eingesetzt, die damals offiziell als durchschnittliche Lebensarbeitszeit galt, also etwa 34 Jahre. Die Zahlen sind zwar die gleichen für männliche und weibliche Beitragszahier, aber in Wirklichkeit wären Frauen am unteren Ende der Skala angetroffen worden. 22 Die Berechnungen in E.H. Phelps Brown / Margaret H. Browne, A Century of Pay, London 1968, Tab. 2, basieren auf einem Wechselkurs von 1 Pfund = 20,45 M. Das würde den Wert der britischen Renten in der nachstehenden Tabelle von 5 auf 5, 11 M erhöhen.

Die Anfange von staatlicher Alters- und Invaliditätsversicherung

243

Tabelle Höhe der wöchentlichen Leistungen23 Deutschland Beitragsjahre

Mindesthöhe Maximalhöhe

Differenz in % der Mindesthöhe

5M

2,12 M

4,42M

109%

nach 10 J.

5M

2,40M

4,04M

68%

nach 24 J.

5M

2,80 M

5,65 M

101%

nach 34 J.

5M

3,13 M

6,96M

122%

Altersrente ,,Disablement Pension" oder Invalidenrente

Großbritannien

Das Renteneinkommen für ein Ehepaar zu berechnen, würde zwar der Realität näherkommen, aber uns noch weiter in den Bereich der Spekulation führen. Nur bei den britischen Altersrenten wäre es möglich, einen festen Betrag anzugeben (10 Schilling bzw. 10 Mark). Die Rentenhöhen, wie sie in dieser Tabelle gezeigt werden, hätten kein für den Lebensunterhalt notwendiges Einkommen ermöglicht, außer vielleicht im Fall der deutschen Maximalrenten nach mehr als 24 Beitragsjahren. In beiden Ländern war die Rente in der Tat als Ergänzung anderer Unterhaltsquellen konzipiert, ob es sich nun um kleinere Ersparnisse, schmale Lohneinnahmen oder Logis im Heim eines anderen handelte. In beiden Ländern wurde es als Vorzug der Rente gepriesen, daß der Rentner als Hausgast besser gelitten würde, als es sonst der Fall gewesen wäre 24• Wenn wir die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in Rechnung stellten, läge die Kaufkraft der britischen Renten näher bei sechs Mark in bezug auf deutsche städtische Preise, das heißt im Vergleich zu den deutschen Renten am oberen 23 Die Zahlen wurden nach den Tabellen in William H. Dawson, Social Insurance in Germany 1883-1911, London/Leipzig 1912, S. 143-145, berechnet. In der Quelle sind die Zahlen für Deutschland in Jahressummen angegeben, und die hier verwendeten Prozentsätze wurden nach diesen Jahresangaben errechnet. Die wöchentlichen Sätze wurden auf Pfennige gerundet. 24 Joachim Rückert, Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Franz Ruland (Hrsg.), Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung. Festschrift aus Anlaß des l00jährigen Bestehens der gesetzlichen Rentenversicherung, Neuwied/Frankfurt a.M. 1990, S. 1-50, hier 13, 31; Bismarck zitiert nach Florian Tennstedt, Vorgeschichte und Entstehung der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, in: ZSR 27 (1981), S. 663710, hier 676; Charles Booth, Old Age Pensions and the Aged Poor, London 1899, S. 59. Zu Rentnern als Zimmerrnietem vgl. Se1ect Committee on the Aged Deserving Poor, Minutes of Evidence, Appendix 19, in: British Parliamentary Papers 1899 (296) viii.

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Ende der Skala25 • Die niedrigen deutschen Mindestrenten gehen darauf zurück, daß im deutschen System die Leistungshöhe enger an die gesamte Beitragszahlung des Individuums gekoppelt war, als es in Großbritannien der Fall war. In dieser Hinsicht gibt es zwei Unterschiede: In Deutschland wurden diejenigen, die in der Lage gewesen waren, länger zu verdienen und daher länger beizutragen, als berechtigt angesehen, von dieser Gunst zu profitieren. Damit sollten sich die Renten für die weniger Begünstigten reduzieren. Bei den britischen Altersrenten, die nicht aus Beiträgen finanziert wurden, kamen derartige Überlegungen gar nicht in Betracht. Aber selbst die britischen Invalidenrenten wurden einheitlich berechnet, wenn die Mindestzahl an Beiträgen entrichtet worden war. Zweitens gab es bei dem deutschen System eine weitere Form der Differenzierung, die man in Großbritannien nicht kannte. Die Beiträge und Leistungen variierten nach Lohnklassen. Wie die letzte Spalte der Tabelle zeigt, konnte dieser Faktor allein den zustehenden Betrag verdoppeln. Wie bereits in Ulrike Haerendels Aufsatz herausgearbeitet wird, war ein stufenweiser Rentenanstieg nach Lohnklassen nicht Teil der Regierungskonzeption gewesen, sondern wurde ihr durch den Reichstag aufgestülpt. Man sollte einen dritten Punkt berücksichtigen: Es gibt kein britisches Äquivalent zu der separaten deutschen Angestelltenversicherung, die 1911 ins Leben gerufen wurde. In einem Rentensystem, in dem die Besserverdienenden höhere Leistungen auf eigene und auf Kosten ihrer Arbeitgeber beziehen konnten, trug die 1911 eingeführte Differenzierung das gleiche Prinzip einen Schritt weiter, und damit einen Schritt weiter weg von der bestimmenden politischen Linie in Großbritannien. Nach Christoph Conrads Berechnung der Durchschnittsrenten im Verhältnis zu dem Durchschnittseinkommen machten die Renten in Großbritannien einen höheren Prozentsatz aus. Der Unterschied betrug 21 zu 17,6 Prozent26 . Ein derartiges Verfahren verdeckt zwar den Unterschied in der tatsächlichen Rentenberechtigung einzelner Arbeiter, zeigt aber deutlich, daß die höheren britischen Renten nicht einfach höhere britische Löhne widerspiegeln. Was die britische Arbeiterschaft durch ihr politisches Gewicht für die Bedürftigen erreichte, war daher, wenn nicht in bezug auf die Berechtigungskriterien, so jedoch in bezug auf die Rentenhöhe besser als das, was die deutsche Arbeiterschaft von ihrer Regierung erhielt. Das war nicht nur bei den Altersrenten der Fall, sondern im Großen und Ganzen auch bei den Invalidenrenten. Dazu lief das deutsche 2S Board of Trade, Cost of Living of the Working Classes: German Towns, S. Ii-lii, in: British Parliamentary Papers, 1908, Cd. 4032, cviii, 1. Das wird bestätigt von Brownl Browne, Century of Pay, S. 46, Tab. 2.1. 26 Conrad, Entstehung des modemen Ruhestandes, S. 417 -447, Tab. 3.

Die Anfange von staatlicher Alters- und Invaliditätsversicherung

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Ergebnis mehr auf soziale Trennung hinaus, und diese Tendenz wurde stärker mit jeder Ergänzung des Systems27 • Man sollte auch berücksichtigen, daß nur ein Drittel der Kosten deutscher Renten von den Steuerzahlern getragen wurde. Da Steuerzahler und Verbraucher infolge der Finanzpolitik weithin identisch waren, wurden die Leistungen durch die nachfolgenden Preiserhöhungen teilweise aufgewogen. Für die Beschäftigten machte das wenig aus, weil es sich um eine Zeit handelte, in der die Reallöhne in Deutschland stiegen. Aber für die Rentner, da sie keine Löhne bezogen, machte es sehr wohl etwas aus. In Großbritannien wurden sowohl der Staatszuschuß zur Versicherungsleistung als auch die steuerfinanzierten Altersrenten aus zusätzlicher direkter Besteuerung der Wohlhabenden aufgebracht. Hier finden wir einen letzten Gegensatz zu Deutschland, einem Staat, in dem die Strukturen politischer Macht vor 1914 es nicht gestatteten, die steuerliche Belastung auf die Bessergestellten zu verschieben.

XI. Zusammenfassung 1940 gab es in elf westeuropäischen Ländern eine gesetzliche Rentenversicherung 28 • Dieses Faktum regt zum Vergleich der Entstehungskonstellationen für diese Systeme an; und es scheinen wenige Länder geeigneter für einen Vergleich mit Deutschland zu sein als Großbritannien. Beide erlebten eine frühe Industrialisierung, waren in hohem Maße urbanisiert und wiesen ähnliche soziale und demographische Strukturen auf. Dennoch legt der Vergleich nahe, daß die Anfänge der Alters- und Invaliditätsversicherungen aus insgesamt unterschiedlichen politischen Prozessen hervorgegangen sind. Der jeweilige politische Kontext war ebenso verschieden wie die Wahl des Zeitpunkts, und die beiden Systeme wurden durch diese unterschiedlichen politischen Konstellationen geprägt. Die deutsche Rentenversicherungspolitik wurde von oben initiiert, um die Rolle des jungen Kaiserreichs durch Leistungen für die Bevölkerung aufzuwerten, und zwar vor allem für die Industriearbeiterschaft. Die britische Rentenversicherungspolitik wurde von unten angestoßen und war Ausdruck einer verbreiteten Kritik am Armenwesen. Die Altersrenten von 1908 waren in hohem Maße bedürftigkeitsabhängig und auf die sehr Armen beschränkt. Reformbedarf im Armenrecht war dagegen in Deutschland nur ein nachrangiges Motiv. Hätte die britische Regierung 1911 nicht Aspekte des deutschen Rentensystems übernommen, wäre dieser Versuch eines Vergleichs zwischen den beiden Ländern sogar noch bemühter gewesen, als er es ohnehin schon ist. Für nähere Details s. Hennock, Public Provision for Old Age, S. 95 - 100. Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt/New York 1987, Tab. A2. 27 28

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Diese Anlehnung an das deutsche Vorbild, und vor allem der Schwenk von steuerfinanzierten Renten zu einem durch Pflichtbeiträge finanzierten System, weist uns auf die auffälligsten Ähnlichkeiten hin. Wir sollten uns daran erinnern, daß in . Deutschland ursprünglich ebenso die Absicht bestanden hatte, die Renten für den änneren Teil der arbeitenden Bevölkerung hauptsächlich aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren, und daß Beiträge der niedrig entlohnten Arbeiter erst eingeführt wurden, als deutlich war, daß eine andere Lösung politisch nicht akzeptiert würde. Wenn wir das berücksichtigen, werden die Parallelen zwischen den beiden Ländern doch auffälliger29 • Pflichtbeiträge sind natürlich auch nichts anderes als eine Steuer, aber es handelte sich um eine neue Form der Steuer, und sie wurde zeitgenössisch noch selten als solche wahrgenommen. Häufiger wurden die Beiträge als Pflichtsparen dargestellt, gewissermaßen als ein Rege1werk, um die Sparsamkeit der Arbeiter zu erhöhen. Eine Versicherung durch Beiträge paßte daher gut zu jedwedem Staat - war es das deutsche Kaiserreich oder das freihändlerische Großbritannien -, der kostspielige Leistungen für die Masse der Lohnabhängigen bereitstellen wollte, ohne zusätzliche direkte Steuern zu erheben oder Konsumgüter zu besteuern. Es war ein Modell, das zur weltweiten Nachahmung geschaffen war. Übersetzung von Ulrike Haerendel und Peter Hennock

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Vgl. Tennstedt I Winter, "Der Staat hat wenig Liebe".

Untergang und Neuanfang Die Rentenversicherungen für Arbeiter und für Angestellte im Jahrzehnt der "Großen Inflation" 1914-1924. Ein Vergleich

Von Karl Christian Führer

In diesem Beitrag wird - das sei gleich zu Beginn gesagt - grundsätzlich Verschiedenes synchron betrachtet, d. h. es handelt sich in gewisser Weise um den sprichwörtlichen Vergleich von "Äpfeln und Birnen". Allerdings möchte ich zugleich behaupten, daß diese komparative Betrachtung von Ungleichem - konkret der Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiter und der parallelen Versicherungseinrichtung für Angestellte im Jahrzehnt der "Großen Inflation" von 1914 bis 1924 - durchaus zu wichtigen historischen Erkenntnissen führen kann. Zu skizzieren ist hier vor allem die Geschichte eines Scheiterns, des Scheiterns der für Arbeiter wie für Angestellten geschaffenen sozialen Sicherungssysteme an den Herausforderungen, die der zunächst schleichende, dann zunehmend rapide voranschreitende Wertverfall der deutschen Währung an die Versicherungsträger und an den Gesetzgeber stellte. Wie ich meine, ist dies in vieler Hinsicht die problematischste, die kritischste Phase in der Entwicklung der sozialen Absicherung der Bürger in Deutschland, ein zentraler, lange nachwirkender Negativposten in ihrer historischen Gesamtbilanz und ein dunkler Fleck in ihrer Geschichte, die allzu oft ungebrochen als Erfolgsstory präsentiert wird. Durch den Vergleich der beiden Versicherungen treten die Dimensionen dieses Scheiterns noch deutlicher zutage als bei Konzentration auf nur eine der beiden Versicherungen. Zugleich aber ist dies - unter verändertem Blickwinkel - die Geschichte eines Erfolges, zeigt sich doch, wie die Eigenständigkeit der separaten Angestelltenversicherung trotz geradezu dramatischer praktischer Probleme und trotz fortgesetzter grundsätzlicher Kritik an dem sozialpolitischen Konzept, das ihrer Existenz zugrunde lag, in der Inflationsepoche bewahrt wurde. Nachdem die Angestelltenversicherung diesen äußerst schweren Sturm überlebt hatte, brauchte sie für die Zukunft kaum noch etwas zu befürchten. Die höchst umstrittene Trennung der Altersund Invaliditätssicherung in je eine spezielle Einrichtung für Arbeiter und für Angestellte war damit langfristig gesichert. Insofern beleuchtet eine synchrone Betrachtung der beiden Versicherungen in den Jahren 1914 bis 1924 eine für die Struktur des deutschen Sozialversicherungssystems entscheidende, bis heute nachwirkende Epoche. Zudem ist dies auch ein Beitrag zur "Wirkungsgeschichte" der

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Sozialversicherungsgesetze, die einen nach wie vor unterbelichteten Bereich der Geschichte der sozialen Sicherung der Bürger in Deutschland darstellt: Wir sind in vielen Bereichen weit besser darüber informiert, wie die Versicherungseinrichtungen zustande gekommen sind, als darüber, was sie eigentlich in der Praxis für die Beitragszahier geleistet haben. Am Anfang soll hier ein kurzer Überblick über die Unterschiede zwischen den beiden Versicherungen stehen, wie sie sich 1914, vor Beginn des Ersten Weltkrieges und des von ihm ausgelösten inflationären Prozesses, darstellten. Zu diesem Zeitpunkt blickten die Träger der Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiter! bereits auf eine über 30jährige Praxis zurück; die Arbeit der Versicherungseinrichtungen, die praktische Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen, war längst eingespielt und routinisiert; die Versicherung war eine respektierte und - nach durchaus schwierigen Anfängen - auch von der Arbeiterschaft mit Wohlwollen wahrgenommene Einrichtung von gewaltigen Dimensionen: Etwa 16,3 Millionen versicherte Arbeitnehmer zahlten Beiträge für die Invalidenversicherung; die Zahl der laufenden Alters-, Erwerbsunfähigkeits- und Hinterbliebenenrenten lag bei etwa 1,220 Millionen 2 . Die Angestelltenversicherung stellte sich im Vergleich dazu vollständig anders dar: Das ihrer Existenz zugrundeliegende Gesetz war erst am 1. Januar 1913 in Kraft getreten; der zentrale Versicherungsträger, die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA), war somit eine noch ganz junge, mitten im Aufbau befindliche Einrichtung. Es handelte sich um eine vergleichsweise exklusive Einrichtung: Die Zahl der Versicherten lag bei etwa 1,8 Millionen - d. h. nur wenig höher als die Zahl der Rentner der Invalidenversicherung3 . Die für die Versicherten entscheidenden Teile des Gesetzes - die Bestimmungen über die Rentenzahlungen - hatten 1913 / 14 noch keinerlei praktische Bedeutung, weil der Gesetzgeber vor ihrem Wirksamwerden eine langwierige Karenzphase verfügt hatte, in der die RfA im wesentlichen nur Beiträge für die künftigen Rentenleistungen einzog. Laut dem "Versicherungsgesetz für Angestellte" (VGfA) waren Rentenzahlungen (Erwerbsunfähigkeits- und Altersrenten) für weibliche Versicherte erst ab dem 1. Januar 1918 möglich; Männer konnten frühestens mit Jahresbeginn 1923 Leistungen beziehen. Die gleichen Fristen galten auch für Hinterbliebenenrenten4 . Bis zu diesen Daten konnten die Versicherten im wesent1 Im folgenden wird diese Versicherung der sprachlichen Einfachheit halber nur noch als "Invalidenversicherung" bezeichnet. 2 Karl Christian Führer, Für das Wirtschaftsleben "mehr oder weniger wertlose Personen". Zur Lage von Invaliden- und Kleinrentnern in den Inflationsjahren 1918-1924, in: AfS 30 (1990), S. 145-180, hier 146. 3 Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983, S. 59. 4 Vgl. § 48 VGfA. Reichsversicherungs-Ordnung nebst dem Einführungsgesetz vom 19. Juli 1911. Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20. Dezember 1911. Textausgabe mit Sachregister, Berlin 1913, S. 465. Die Bestimmung über die Wartezeit für die Hinterbliebenenrente führte im Krieg dazu, daß viele Soldatenwitwen keinerlei Renten von der RfA erhielten, weil die Wartezeit noch nicht erfüllt war. Sie konnten lediglich die von dem Gefal-

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lichen nur auf eine Leistung der RfA hoffen: auf das sogenannte "Heilverfahren", d. h. auf die Finanzierung von Kuren zur Verhinderung von drohender Invalidität konkret handelte es sich meist um Kuraufenthalte zur Bekämpfung der Tuberkulose5 . Die gesetzlich festgelegten Leistungen der Angestelltenversicherung fielen durchweg besser aus als die der Invalidenversicherung: Sie sahen die Gewährung einer Altersrente bereits mit Vollendung des 65. Lebensjahres statt erst am Ende des 70. Lebensjahres vor; die Bestimmungen zur Gewährung der Invaliditätsrente waren weniger restriktiv gefaßt; Witwen hatten in jedem Fall einen Anspruch auf eine Rente (in der Invalidenversicherung galt dies nur für erwerbsunfahige Hinterbliebene); eine Waisenrente sollte drei Jahre länger gezahlt werden (bis zur Vollendung des 18. statt des 15. Lebensjahres des Waisenkindes). Vor allem aber waren deutlich höhere Renten vorgesehen, obwohl die Angestelltenversicherung - anders als die Invalidenversicherung - ohne einen laufenden Zuschuß des Reiches zu den gezahlten Renten auskommen mußte6 . Insgesamt war die Angestelltenversicherung dezidiert als "Standesversicherung" konzipiert, die soziale Ungleichheit sowohl reflektierte als auch erhalten sollte7 • Die spezifische Struktur der Gruppe der Versicherten, die insbesondere im Hinblick auf die Gefahr der Erwerbsunfahigkeit eine Ansammlung besonders günstiger Risiken darstellte, und deutlich höhere Beiträge machten dieses Konzept möglich: Der Beitrag in der Angestelltenversicherung (zu gleichen Teilen vom Arbeitgeber und Angestellten zu zahlen) betrug etwa lenen persönlich eingezahlten Versicherungsbeiträge zurückfordern. Vgl. die Proteste einer Witwe gegen diese Regelungen: Eingabe der Witwe M. V. an den Reichswirtschaftsrat, 31. 7. 1918 und 2. 12. 1918, beide in: BArch R 39.01 Nr. 3890. 5 Solche Heilverfahren wurden großzügig gewährt, um den Versicherten zu demonstrieren, daß die Versicherung auch schon vor Beginn der Rentenzahlungen konkrete Gegenleistungen für die Versicherungsbeiträge bot. Zum Umfang der Heilverfahren vgl.: Der Stand des Heilverfahrens durch die Angestelltenversicherung, in: Soziale Praxis (SPr) 26 (1916/ 17), Sp. 445; Die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte im Jahr 1917, in: SPr 27 (1917 /18), Sp. 779; Das Heilverfahren in der Angestelltenversicherung, in: SPr 30 (1921), Sp.383. 6 Zu den Einzelheiten vgl. etwa Ritter, Sozialversicherung, S. 59. Anders als hier angegeben, kannte die Rentenberechnungsformel der Angestelltenversicherung keinen Bezug auf das Gehalt des Versicherten. Sie setzte das Ruhegeld vielmehr in Prozentsätzen der für den Rentner geleisteten Beiträge fest. Vgl. § 55 VGfA, in: Reichsversicherungs-Ordnung, S. 467. Zu den Details vgl. etwa: Ruhegeld und Hinterbliebenenrenten in der Angestelltenversicherung, in: Die Angestelltenversicherung 7 (1919), S. 160-161. Die Bestimmungen waren so konstruiert, daß der Versicherte schon bei zwei Jahren Rentenbezug seine persönlich geleisteten Beiträge vollständig zurückerhielt. 7 Max Habermann, Der Werdegang der Angestelltenversicherung, in: Deutsche HandelsWacht (DHW) 28 (1921), S. 397-399. Kritik am ständischen Charakter der Angestelltenversicherung ließ die rechtsstehenden Angestelltenverbände gänzlich unbeeindruckt, weil sie genau dies wollten: "Wir haben diesen Charakter gewollt, und wir wollen ihn auch in alle Zukunft. Wir wollen kein Proletariat sein [ ... ]." (Ebenda.) Zur Entstehung des VGfA und insbesondere zum Anteil der Angestelltenverbände an dessen Ausformulierung vgl. ausführlich: Barbara Bichler, Die Formierung der Angestelltenversicherung im Kaiserreich und die Entstehung des Angestelltenversicherungsgesetzes von 1911, Frankfurt a.M. u. a. 1997.

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sieben bis acht Prozent des Gehaltes, während der Beitrag in der Invalidenversicherung nur 1,5 bis zwei Prozent des Lohnes ausmachte 8 . Die mannigfachen Besserstellungen der Versicherten bei der sozialen Ausstattung, die die Angestellten- von der Invalidenversicherung unterschieden, stellten - wie gesagt - 1913 / 14 nur ein Versprechen, einen Wechsel auf die Zukunft dar. Generell war die neue, gerade in die Praxis startende Versicherung mit großen Hoffnungen befrachtet, mit Hoffnungen zweierlei Art. Einerseits betrachteten die nichtsozialistischen Angestelltenverbände die neu eingerichtete Sparte des deutschen Sozialversicherungssystems - durchaus mit gutem Recht - als ihr ureigenes Kind und zugleich als entscheidenden Sieg ihrer ,,standespolitik", d. h. ihrer Bemühungen, die Tendenzen zur Verwischung der sozialen Grenze zwischen Handund Kopfarbeitern, zwischen Arbeitern und Angestellten zu bekämpfen, die sie als drohende Proletarisierung wahrnahmen 9 . Das VGfA war in dieser Sicht ein "Eckstein der gesetzlichen Anerkennung der Sonderstellung unseres Standes"lO. Andererseits blickten paradoxerweise auch die Gegner einer separaten Sozialversicherung für die rasch wachsende Berufsgruppe der Angestellten mit großen Hoffnungen auf den Start der neuen Institution. Das einstimmige Votum des Reichstags für die Schaffung der RfA im Dezember 1911 war ja nicht nur deshalb zustande gekommen, weil deren Gegner die Vergeblichkeit ihrer Oppositionshaltung erkannten. Vor allem die Sozialdemokraten - aber auch Teile der liberalen Reichstagsabgeordneten - votierten nicht zuletzt deshalb für das von ihnen ursprünglich abgelehnte VGfA, weil sie hofften, die damit geschaffenen Diskrepanzen in der sozialen Absicherung der heiden Berufsgruppen würden über kurz oder lang die Rentenversicherung der Arbeiter "nach oben ziehen", d. h. die Besserstellung der Angestellten werde zur Optimierung und Angleichung der Leistungen der Träger der Invalidenversicherung führen. Auf diese Weise sollte das VGfA letztlich auch den Interessen der Arbeiter dienen 11. Wie im folgenden gezeigt werden soll, trogen - zumindest auf kurze und mittlere Sicht - nahezu alle diese Hoffnungen. Die Strategie, die Angestelltenversicherung gewissennaßen als Hebel zur Verbesserung der Invalidenversicherung zu benutzen, war zunächst nur einmal wirklich erfolgreich: Anfang 1916 - also noch relativ früh im Inflationsprozeß - beschloß der Reichstag, die Altersgrenze für den Bezug der Altersrente in der Invalidenversicherung von 70 auf 65 Jahre herabzusetzen und damit den Bestimmungen der Angestelltenversicherung anzugleichen l2 . Ansonsten aber vollzog sich in den Jahren 1918 bis 1924 nur insofern eine Ritter, Sozialversicherung, S. 59. Vgl. etwa die rückblickende Darstellung in: Habennann, Werdegang, S. 398. 10 Spektator, Die Angestelltenversicherung im Reichstag: in: DHW 28 (1921), S. 218. 11 Vgl. die rückblickende Darstellung: Zur Frage der Verschmelzung der Angestelltenversicherung mit der Invalidenversicherung, in: SPr 30 (1921), Sp. 1258-1260, hier 1258. 12 Führer, Wirtschaftsleben, S. 150. Die Reichstagsmehrheit hatte die Angleichung der Bestimmungen über die Altersrente bereits 1911 bei den Beratungen der RVO vornehmen 8

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Angleichung der sozialen Ausstattung der beiden Versicherungen, als die in dieser Hinsicht bestehenden Unterschiede im Zuge des Inflationsprozesses bedeutungslos wurden: Die Entwertung der geleisteten Zahlungen vollzog sich in so dramatischer Form, daß fortbestehende nominelle Diskrepanzen praktisch völlig insignifikant waren. Die Rentner beider Versicherungen waren in diesen Jahren bedrückender Not ausgesetzt. Damit scheiterten in der Praxis sowohl die Hoffnungen der nichtsozialistischen Angestelltenverbände, das VGfA werde zur sozialen Stabilisierung "ihres" Standes beitragen, als auch die Erwartungen der Sozialdemokraten, dank der Existenz der Angestelltenversicherung werde auch ihre Klientel bessergestellt werden. Zugleich wurden die Träger beider Versicherungen in den Bankrott getrieben. Nur eine völlige Neuordnung des Beitrags- und Leistungssystems - d. h. die Abkehr vom zuvor angewandten Kapitaldeckungsverfahren zugunsten des Umlageverfahrens und die Zahlung von Einheitsrenten für alle bereits im Rentenbezug stehenden Versicherten - rettete Ende 1923 / Anfang 1924 die Existenz und die Zukunft der beiden Versicherungen. Ursache dieses Scheitern war - wie gesagt - die Unfahigkeit der Versicherungsträger, angemessen auf die Anforderungen zu reagieren, die der Prozeß der Geldentwertung an sie stellte. Hierbei lassen sich grob drei Aufgabenbereiche unterscheiden: 1. die Anpassung des Beitragssystems mit seinen Lohn- bzw. Gehaltsklassen an die inflationär bedingt nominell rasch steigenden Einkünfte der Versicherten, 2. die Sicherung der angesammelten Rücklagen der Versicherungsträger gegen inflationäre Entwertung und 3. die Anpassung der geleisteten Renten an den Prozeß der Geldentwertung. Im folgenden möchte ich überblicksartig die Strategien der Träger der beiden Versicherungen in diesen drei Aufgabenbereichen darstellen, vergleichen und bewerten. I. Die Anpassung des Beitragssystems Die Träger beider Versicherungen waren in dieser Hinsicht weitgehend machtlos: Jede Korrektur am Beitragssystem, d. h. die Einführung neuer Beitragsklassen, die Änderung der Beitragshöhe etc., bedurfte eines Reichstagsbeschlusses; die Institutionen der Versicherungen konnten nur mahnen, wenn das reale Lohn- bzw. Gehaltsniveau der Versicherten die festgesetzten Lohn- und Gehaltsklassen überflügelte. Das in dieser Beziehung wirksam werdende Beziehungsgeflecht konfligierender Interessen kann an dieser Stelle nicht ausführlicher analysiert werden; es muß der Hinweis genügen, daß Vertreter der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer, die bürokratisch dominierten Leitungsinstitutionen der Versicherungen, die Ministerialbürokratien von Reich und Ländern und die politischen Parteien an der Auswollen, auf Druck der Reichsregierung, die drohte, im Falle eines solchen Beschlusses die ganze RVO scheitern zu lassen, aber darauf verzichtet. Vgl. die rückblickende Darstellung der MdR Johannes Becker (Zentrum) und Ernst Bassermann (Nationalliberal), 15. 1. 1916, in: Steno Berichte Reichstag, Bd. 306,13. WP, 11. Session 1914/16, S. 646ff.

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handlung solcher Veränderungen des Beitragssystems beteiligt waren. Kennzeichnend ist generell ein überaus schleppender Gang der Entscheidungsfindung, der die realen ökonomischen Gegebenheiten zumal der späten Phase des Inflationsjahrzehnts souverän mißachtete. Die Leidtragenden dieser Verschleppungstaktik waren ganz unmittelbar die Versicherungsträger; in längerer Perspektive schädigte sie auch die Versicherten, die paradoxerweise aktuell aber davon profitierten. Den Versicherungsträgern entgingen Milliarden an Einnahmen, weil das starre System der Beitragsklassen nicht an die inflationäre Einkommenssteigerung angepaßt wurde. Dies gilt für die Invaliden- wie für die Angestelltenversicherung. 1920 etwa war die übergroße Mehrheit der Versicherten der Invalidenversicherung - 77 Prozent waren es bei den Landesversicherungsanstalten (LVAen) - in der höchsten Lohnklasse eingestuft; die unteren drei der seit 1899 unverändert bestehenden fünf Beitragsklassen waren kaum noch besetzt. Im Vergleich zu den Vorkriegsjahren, in denen nur eine kleine Minderheit der Beitragszahier zur oberen Lohnklasse gehört hatte, fielen die Einnahmen der Versicherungsträger damit zwar stark erhöht aus; zugleich aber ließ der Einheitsbeitrag für die fünfte Klasse große Einkommensanteile der Versicherten unberücksichtigt, weil er sich auf die untere Grenze der Beitragsklasse bezog. Die in der RVO als Grenze der fünften Beitragsklasse genannten 1 150 M Jahreseinkommen, die 1899 noch einen für Arbeiter ganz ungewöhnlich hohen Lohn bezeichnet hatten, wurden 1920 aber selbst für ungelernte Tätigkeiten deutlich überschritten 13. Zwar wurden nach 1920 verschiedentlich neue Beitragsklassen zur besseren Berücksichtigung des tatsächlich gegebenen Lohngefüges eingeführt; die entsprechenden Beschlüsse erfolgten aber so unsystematisch und zögerlich, daß keine grundlegende Änderung gelang. In der Konsequenz ging die reale Belastung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch die Beiträge zur Invalidenversicherung stark zurück. Ende 1920 etwa zahlten sie zusammen nur noch 0,25 bis 0,5 Prozent des Lohnes an die Versicherungsträger statt 1,5 bis zwei Prozent wie in der Vorkriegszeit l4 . In den Folgejahren wurde dieser niedrige Stand allenfalls kurzfristig wieder überschritten; in der Gesamttendenz aber machte die Inflation den Versicherungsbeitrag zu einer völlig bedeutungslosen ökonomischen Größe: Im Herbst 1923 betrug der Beitrag zur Invalidenversicherung nur noch den 250. bis 300. Teil des nach unseren Begriffen ja auch schon äußerst niedrigen Vorkriegsstandes l5 . Für die versicherten Arbeitnehmer bedeutete das eine unmittelbare Entlastung des Haushaltsbudgets. Auch die Arbeitgeber wurden dank der Entwertung der Versicherungsbeiträge einer ökonomischen Sorge ledig, über die sie schon im Kaiserreich zunehmend dringlich geklagt hatten. Ärgerlich blieben aus ihrer Sicht allenfalls die entstehenden Verwaltungskosten für die Beitragsentrichtung, die späAmtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes 38 (1922), S. 83. Ida Meyer, Über die Anpassung der reichsgesetzlichen Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung an die wirtschaftlichen Verhältnisse, in: Zentralblatt der Reichsversicherung 17 (1921), Sp. 71-75, hier 73. 15 Führer, Wirtschaftsleben, S. 159. 13

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testens seit 1921 deutlich über dem Wert der geleisteten Beiträge gelegen haben müssen. Langfristig allerdings kamen für die versicherten Arbeitnehmer nach der Logik des zeitgenössischen Versicherungs systems durch den Niedrigstand der Versicherungsbeiträge völlig unzulängliche Renten zustande. Dieser Gesichtspunkt aber hat in den sozialpolitischen Diskussionen der Jahre 1918 bis 1924 nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt. Auch die Gewerkschaften blieben in dieser Hinsicht bemerkenswert passiv; d. h. sie duldeten die Entwertung der Beiträge der Invalidenversicherung im Interesse der Haushaltsführung der versicherten Arbeiter l6 . Etwas anders verhielt es sich hier bei der Angestelltenversicherung. Zumindest die Vertreter der nichtsozialistischen Angestelltenverbände kamen weitaus öfter und deutlich drängender auf die Frage der Anpassung des Beitragssystems zu sprechen als die Delegierten der Arbeiterorganisationen in den Institutionen der Invalidenversicherung. Das ist insofern bemerkenswert, als die ökonomische Belastung des einzelnen Arbeitnehmers durch den Versicherungsbeitrag bei der Angestelltenversicherung ja deutlich höher als in der Invalidenversicherung ausfiel- mit zusammen sieben bis acht Prozent des Gehaltes entrichteten Angestellte und Arbeitgeber in der Angestelltenversicherung vor Beginn des Inflationsjahrzehnts viermal höhere Zahlungen als die Beitragsleistenden der Invalidenversicherung. Dennoch waren die im "Hauptausschuß für die soziale Versicherung der Privatangestellten" zusammengeschlossenen nichtsozialistischen Verbände in dieser Frage sehr aktiv. Dafür bieten sich verschiedene Erklärungen an. Zunächst einmal lag das finanzielle Wohlergehen der RfA diesen entschiedenen Verfechtern der separaten Angestelltenversicherung aus verständlichen Gründen besonders am Herzen: Mit der Finanzkraft der Reichsanstalt verteidigten sie das Konzept der "Standesversicherung"l7. Zudem reagierten die Verbände mit dieser Haltung auch auf Einstellungen ihrer Mitglieder: Die Mehrheit der Angestellten hatte - so scheint es - ein weitaus größeres Interesse an Fragen der langfristigen sozialen Sicherung, als dies bei Arbeitern der Fall war. Herrschte hier vielfach eine von der Knappheit des Haushaltsbudgets erzwungene Lebensführung nach dem Prinzip "Von der Hand in den Mund" vor, so orientierten Angestellte - insbesondere gutverdienende, männliche Angestellte - ihr Handeln weitaus stärker an langfristigen Lebensplanungen und Lebensperspektiven. Der lange Blick auf die in der Zukunft liegende Rente und deren konkrete Höhe war deshalb hier häufiger anzutreffen als bei Arbeitern l8 . Die Interessenvertretungen der Angestellten bemühten sich deshalb intensiv um eine angemessene soziale Absicherung ihrer Klientel auch in der mittelfristigen Zukunft. Vgl. dazu ebenda, S. 159 f. Vgl. etwa: Eingabe des Hauptausschusses an den Reichstag, 8. 1. 1920, BArch R 39.01 Nr. 3908; DHV an Reichskanzler Wirth, 14. 5. 1921, ebenda Nr. 3910; Eingabe des Hauptausschusses an den Reichstag, 22. 8. 1922, ebenda Nr. 3915. 18 Ein wichtiges Indiz dafür ist das starke Interesse von Angestellten, die wegen ihres zu hohen Gehalts nicht mehr der Versicherungspflicht unterlagen, an der freiwilligen Weiterversicherung. Vgl. dazu: Else Lüders, Zur Frage der Vereinheitlichung der Angestelltenversicherung mit der Arbeiterversicherung, in: SPr 26 (1916/ 17), Sp. 893 - 898, hier 896. 16

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Darüber hinaus war das Problem der starren Beitragsklassen in der Angestelltenversicherung insofern weitaus gewichtiger als in der Invalidenversicherung, als das VGfA eine Grenze der Versicherungspflicht kannte, die für Arbeiter nicht existierte: Wer als Angestellter mehr als 5 000 M jährlich verdiente, war nicht mehr bei der RfA pflichtversichert, weil der Betreffende zu einem Personenkreis gerechnet wurde, der zu eigener Altersvorsorge imstande sei. Bezieher solch hoher Einkommen konnten sich, wenn sie zuvor pflichtversichert gewesen waren, allenfalls noch freiwillig der Versicherung anschließen (wobei der Betreffende allerdings den vollständigen Beitrag aus eigener Tasche aufbringen mußte). Diese Bestimmung des VGfA über das Erlöschen der Versicherungspflicht ab einer bestimmten Einkommenshöhe führte seit 1918/19 dazu, daß zahlreiche, durchaus ganz normal besoldete Angestellte aus dem System der sozialen Absicherung herausfielen. Für längere Phasen scheint dies sogar für die Mehrheit aller Angestellten gegolten zu haben 19 . Der grundlegende Reformvorschlag, auf die Einteilung der Angestelltenschaft in pflichtversicherte und nicht-pflichtversicherte Arbeitnehmer zu verzichten, wurde zwar frühzeitig diskutiert; politisch aber war dies aufgrund der Widerstandes der Arbeitgeber nicht durchsetzbar. Bereits im April 1918 erarbeitete das Reichswirtschaftsamt einen Gesetzentwurf, der die Versicherungspflicht auch für Angestellte aufrechterhielt, deren Einkommen auf mehr als 5 000 M im Jahr anwuchs. Da dieser Vorstoß jedoch auf den "schärfsten Widerstand" der Arbeitgeber stieß, ließ das Ministerium den Entwurf rasch wieder fallen. In der Folgezeit kam es daher im August 1918 nur zu einer Heraufsetzung des Jahresgehalts, das die Grenze der Versicherungspflicht bezeichnete (von 5 000 auf 7000 M)2o. Damit aber war nichts Entscheidendes gewonnen, denn der Inflationsprozeß trat schon kurz darauf mit Kriegsende in eine neue Phase. Der Streit um die in Zeiten der rapiden Geldentwertung kontraproduktive Bestimmung zur Unterscheidung von pflicht- und nicht pflichtversicherten Angestellten zog sich deshalb wie ein roter Faden durch die folgenden Jahre. Im August 1920 befürworteten sowohl die sozialdemokratisch orientierte "Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände" als auch der im "Hauptausschuß" zusammengeschlossene Block der nichtsozialistischen Angestelltenverbände erneut die vollständige Beseitigung der Versicherungspflichtgrenze, weil die bestehende Vorschrift dazu führe, daß "fast alle qualifizierten Angestellten aus der 19 Vgl. etwa: Verein deutscher Chemiker an Bundesrat, 7. 8. 1918, BArch R 39.01 Nr. 3847; Deutscher Werkmeister-Verband an Reichsarbeitsministerium, 13.8. 1919, ebenda, und eine Fülle weiterer Eingaben in: ebenda, Nrr. 3847-3852. 1921 waren 40 bis 50% der ursprünglich Versicherten aufgrund der Vorschriften zur Grenze der Versicherungspflicht aus der Angestelltenversicherung ausgeschieden. Auszug aus der Niederschrift über die 35. Sitzung des Verwaltungsrats der Angestelltenversicherung am 8. Juni 1921, in: Die Angestelltenversicherung 9 (1921), S. 157 -159, hier 158. 20 Staatssekretär des Reichswirtschaftsamts an den Präsidenten des Direktoriums der RfA, 16. 4. 1918, BArch R 39.01 Nr. 3841; Präsident des Direktoriums der RfA an Reichswirtschaftsamt, 27. 4. 1918 (Zitat), ebenda; RGBI. 1918, S. 1085-1086.

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Versicherung heraus[fallen], vor allem die verheirateten. Dies bedeute, abgesehen von den sozialen Schäden für die Versicherten selbst, auch eine große finanzielle Schädigung für die Anstalt." Die Vertreter der Arbeitgeber im Verwaltungsrat der RfA lehnten diesen Vorstoß jedoch rundum ab; ja, sie wollten selbst von einer substantiellen Erhöhung der Versicherungsgrenze (die die beiden Angestelltendachverbände alternativ gefordert hatten) nichts wissen, weil ein solcher Beschluß unweigerlich zu neuen Gehaltsforderungen der Angestellten führen werde 21 . In der Sicht der Arbeitgeber bedeutete die Ausweitung der Versicherungspflicht auf alle Angestellten "eine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen Auffassung [ ... ], die Fürsorge nur dem zu gewähren, der es notwendig habe" und einen Schritt hin "zur allgemeinen Volksversicherung", den sie kompromißlos ablehnten 22. Angesichts dieser entschiedenen Opposition verwundert es nicht, daß der Reichstag die Angelegenheit dilatorisch behandelte. Die Grenze der Versicherungspflicht blieb in immer neuen Modifikationen bestehen, obwohl die ständigen Bemühungen, die Vorschrift durch Erhöhung der Einkommensgrenze an die Geldentwertung anzupassen, die RfA und auch den einzelnen Arbeitgeber mit ebenso kostspieligen wie unsinnigen Verwaltungsarbeiten belasteten. Zwar beschuldigten die rechtsstehenden Angestelltengewerkschaften in der Folgezeit immer wieder die Sozialdemokratie, sie verhindere im Parlament eine Anpassung der Bestimmungen des VGfA an die wirtschaftlichen Gegebenheiten, um die RfA "auszuhungern,m. Angesichts der Tatsache, daß die Entwicklung des Beitragssystems bei der Invalidenversicherung kaum anders als bei der Angestelltenversicherung verlief, entbehrte dieser Vorwurf jedoch offensichtlich der Grundlage. Aufgrund der zögerlichen Behandlung der Frage der Versicherungspflichtgrenze im Reichstag war die Angestelltenversicherung zwischen 1920 und 1923 in eklatanter Verletzung ihres eigentlichen Auftrages eher eine Versicherung für Angehörige der unteren Gehaltsgruppen - die man wohl mit Fug und Recht vor allem mit den weiblichen Beschäftigten im Handel und in den Büros identifizieren darf - als ein Sicherungssystem für den gesamten "Stand,,24. 21 Auszug aus dem Bericht über die 31. Sitzung des Verwaltungsrats der Angestelltenversicherung am 19. August 1920, in: Die Angestelltenversicherung 8 (1920), S. 173-175, hier 174; Auszug aus dem Bericht über die 33. Sitzung des Verwaltungsrats der Angestelltenversicherung am 4. November 1920, in: ebenda, S. 206 - 208, hier 206. 22 Niederschrift über die Besprechung mit Vertretern der Angestellten- und Arbeitgeberverbände, 13. 1. 1920, BArch R 39.01 Nr. 3908. Vgl. auch: Niederschrift über die Sitzung mit Vertretern der Arbeitgeber- und Angestelltenverbände, 1. 11. 1920, ebenda; DIHT an den Vorsitzenden der DNVP-Fraktion im Reichstag, 24. 6.1922, BArch NS 5 VI Nr. 3962. 23 Vgl. etwa: Otto Thiel, Die parlamentarischen Kämpfe um den Ausbau der Angestelltenversicherung, in: DHW 28 (1921), S. 401-403; Jörg, Um das Schicksal der Angestelltenversicherung, in: DHW 29 (1922), S. 289; Hans Bechly, Geheimratspolitik, in: ebenda, S. 466-469, hier 467. 24 Das Problem der Einkommensgrenze wurde Ende 1922 nur insofern entschärft, als das Ausscheiden aus der Versicherung bei Überschreitung der Grenze nicht mehr unmittelbar, sondern immer erst nach einer dreimonatigen Frist wirksam wurde. Zwischenzeitliehe Neu-

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Es kennzeichnet die Machtlosigkeit der Vertreter der Versicherten in den Selbstverwaltungseinrichtungen der Angestelltenversicherung, daß es trotz entsprechender Vorschläge nicht gelang, das Ausscheiden vieler Angestellter aus der Versicherung und die Entwertung der Versicherungsbeiträge zu korrigieren. In der Gesamtbilanz vollzog sich jedenfalls bei der RfA der gleiche Prozeß wie bei der Invalidenversicherung. Die inflationäre Entwicklung der Gehälter wurde vom Beitragssystem nur höchst unzureichend erfaßt, da die konsequente Einrichtung neuer Gehaltsklassen unterblieb. 1913 hatten nur 2,4 Prozent der männlichen Versicherten der RfA ihre Zahlungen in der höchsten der neun Beitragsklassen entrichtet; Anfang 1920 war dieser Prozentsatz auf 66,8 Prozent angewachsen. Zugleich lag die Gesamtzahl der männlichen BeitragszahIer trotz der zwischenzeitlich eingetretenen enormen Vergrößerung der Angestelltenschaft um 330 000 unter der von 1913 25 . Auch Zahlen vom März 1923 belegen die Mißwirtschaft, die sich aus der ausgebliebenen Anpassung des Beitragssystems an die Geldentwertung ergab: Zu diesem Zeitpunkt endete die Versicherungspflicht für die Angestelltenversicherung bei einem Jahreseinkommen von 7,2 Millionen M; alle Angehörigen der oberen Gehaltsklasse aber zahlten Beiträge auf der Berechnungsbasis von lediglich 720000 M 26 • In der Konsequenz wurde auch dieser Versicherungsbeitrag ökonomisch bedeutungslos. 1914 hatte der höchste Beitrag der Angestelltenversicherung 26,60 M monatlich betragen; inflationsbereinigt war diese Summe im Januar 1921 auf 2,25 M gesunken; im August 1923 schließlich betrug sie nur noch 0,0055 M27 . Verständlicherweise brachte dieser Tiefstand der Beiträge die Finanzen beider Versicherungen vollständig durcheinander, denn ihre Ausgaben stiegen inflationsbedingt stark an. Dies gilt insbesondere für die Personal- und Verwaltungskosten sowie für die Aufwendungen für Heilbehandlungen, weit weniger - darüber wird noch zu sprechen sein - für die Rentenzahlungen. Die Invalidenversicherung als große, in allen Aufgabenbereichen praktisch arbeitende Einrichtung wurde von dem Mißverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben früher und heftiger getroffestsetzungen der Einkommensgrenze, die den Betroffenen wieder der Versicherungspflicht unterwarfen, konnten dann verwaltungstechnisch problemloser umgesetzt werden. Vgl.: Eine neue Gehaltsgrenze in der Angestelltenversicherung, in: DHW 30 (1923), S. 27. 25 Berechnet nach: Verteilung der Versicherten nach Altersgruppen und Gehaltsklassen, Bestand arn 1. 1. 1913 und 1. 1. 1920, BArch R 39.01 Nr. 3909. Die absolute Zahl der männlichen BeitragszahIer lautet für Anfang 1913: 1 205945, für Anfang 1920: 876083 (minus 27,4 %). Die Zahl der versicherten Frauen war nur leicht zurückgegangen, da sie schlechter verdienten und damit seltener aus der Versicherung herausfielen (1913: 631913 Versicherte, 1920: 621 372). Ebenda. 26 Angestelltenversicherung, in: DHW 30 (1923), S. 155. 27 Alfred Diller, Die Krise der Angestelltenversicherung und ihre Ueberwindung, in: DHW 30 (1923), S. 398-403, hier 398. Auch Vereinfachungen des Verfahrens änderten an diesem Ergebnis nichts. Seit dem Juni 1922 konnten Änderungen der Versicherungsgrenze vorn zuständigen Reichstagsausschuß (mit Zustimmung des Reichsrats) beschlossen werden; seit Anfang November 1922 hatte das Reichsarbeitsministerium das Recht dazu (wiederum vorbehaltlich der Zustimmung des Reichsrats). Erich Stolt, Die Neuregelung der Angestelltenversicherung, in: DHW 29 (1922), S. 533 -539, hier 533.

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fen als die Angestelltenversicherung, die ja noch vornehmlich nur mit der Einsammlung der Beiträge beschäftigt war. Bereits 1918 verzeichneten 14 der 41 Versicherungsträger der Invalidenversicherung ein Defizit, das durch Rückgriff auf das Vermögen gedeckt werden mußte. Diese für die Bestreitung der laufenden Kosten aufgewandten Summen standen nicht mehr für die Deckung der von den Versicherten erworbenen Rentenansprüche zur Verfügung 28 . In den folgenden Jahren verschärfte sich die Situation; den dramatischen Höhepunkt der Geldentwertung, das Katastrophenjahr 1923, schließlich überlebten die Träger der Invalidenversicherung nur dank hoher Reichskredite, weil die Einnahmen noch nicht einmal mehr die Kosten der Verwaltung deckten 29 • Bei der Angestelltenversicherung sah die Situation kaum anders aus: Auch hier entwickelte sich im Zuge der Geldentwertung eine "Fehlwirtschaft", die Mittel, die in die Vermögensrücklage gehört hätten, für laufende Unkosten zweckentfremdete. Ende 1920 fehlten der RfA unter Berücksichtigung des Wertverlustes der von ihr zwischen 1914 und 1918 in großem Stil gezeichneten Kriegsanleihen bereits 70 Millionen Mark an den im Prämiendeckungsverfahren geforderten Rückstellungen; 1921 stieg dieser Fehlbetrag auf 140 Millionen Mark an. Dies entsprach etwa zehn Prozent der Summe, die bei strikter Beachtung der versicherungstechnischen Grundsätze des VGfA hätte vorhanden sein sollen3o • Zwar überstand die RfA die Inflationszeit ohne Kredite; aber auch hier dienten die Einnahmen in den letzten Jahren der Inflation nicht mehr der Sicherung zukünftiger Renten, sondern ganz überwiegend nur noch der Bestreitung der laufenden Kosten von Verwaltung und Heilbehandlung31 . Auf sehr spezielle Weise wurde das Umlageverfahren mithin in beiden Versicherungen bereits vor dessen offizieller Einführung Anfang 1924 praktiziert32 . Eine bedeutsame praktische Auswirkung der wachsenden Finanznöte war die Änderung des Beitragsverfahren der RfA Anfang 1923. Verwaltungs- und versicherungstechnisch war die Angestelltenversicherung sehr viel moderner konzipiert als die Invalidenversicherung. Sie führte für jeden einzelnen Versicherten in der zentralen Instanz der RfA ein eigenes Beitragskonto, d. h. sie war im Prinzip jederzeit zur Aufstellung einer versicherungstechnischen Bilanz in der Lage. Die Träger der Invalidenversicherung, deren Beiträge durch den von der Post organisierten Verkauf von Beitragsmarken eingebracht wurden, wußten hingegen so gut wie nichts über ihre Versicherten: "Sie wissen nicht, wieviel Personen bei ihnen versichert sind, sie kennen weder deren Alter, Familienstand, Beitragsklassen und Anwartschaften - die Feststellung ihrer Verpflichtungen und die zulässige Prüfung des rechten Verhältnisses zwischen Beiträgen und Leistungen ist ihnen unmöglich Führer, Wirtschaftsleben, S. 149f. Ebenda, S. 163 f. 30 Aktenvennerk des Reichsarbeitsministeriums über die Finanzlage der RfA, 28. 6. 1921, BArch R 39.01 Nr. 3910. 31 Diller, Krise, S. 398. 32 Zum Streit um die Versicherungsfinanzierung durch Umlage oder Kapitaldeckung vgl. den Beitrag von Philip Manow in diesem Band. 28 29

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[ ... ].'.33 Dieses versicherungstechnisch staunenswert primitive Markenverfahren hatte allerdings den Vorteil der Kostengünstigkeit: Da die Versicherten quasi selbst ihre Beitragskonten führten, war der Personal bestand der Träger der Invalidenversicherung nur unwesentlich größer als der der RfA, obwohl sie ja fast zehnmal so viele Personen versicherten. Auf 1 000 Versicherte kamen in der Invalidenversicherung 3,4 Beamte, während dieser Schlüssel bei der Angestelltenversicherung bereits 1919 die beachtliche Zahl von 22,8 erreichte34• Nach heftiger Kritik an den ständig steigenden Verwaltungsaufwendungen der RfA wurde das von ihr stolz immer wieder als vorbildlich herausgestrichene Kontensystem Anfang 1923 beseitigt und durch ein der Invalidenversicherung nachgebildetes Markensystem ersetzt35 . Dieser versicherungstechnische Rückschritt stellt ein wichtiges Element der in den Inflationsjahren generell zu verzeichnenden Angleichung von Angestellten- und Invalidenversicherung nicht durch Verbesserung der letzten, sondern durch Verschlechterung der Angestelltenversicherung dar.

11. Die Wertsicherung der Versicherungsrücklagen

Dieser Punkt braucht hier nur kurz behandelt zu werden, weil Gerald D. Feldman ihn 1986 in einem Aufsatz bereits umfassend untersucht hat. Die gesetzlichen Vorschriften zur "mündelsicheren" Anlage des Vermögens behinderten alle Sozialversicherungsträger beim Schutz ihrer Rücklagen vor der Inflation so stark, daß deren schließliche Lockerung im Jahr 1923 viel zu spät kam: Zu diesem Zeitpunkt 33 Alfred Diller, Bedarf das Beitragsverfahren der Angestelltenversicherung einer Aenderung?, in: DHW 26 (1919), S. 165 f., hier 165. 34 Zur Frage der Verschmelzung der Angestelltenversicherung mit der Invalidenversicherung, in: SPr 30 (1921), Sp. 1258-1260, hier 1258. In absoluten Zahlen beschäftigte die RfA Ende 1919 3 405 Beamte; bei den Trägern der Invalidenversicherung lautete deren Zahl 5379. Ebd. Auf 100 Mark Beitragseinnahmen betrugen die Verwaltungskosten der RfA 1913 2,1 %, 1918 bereits 6,9 % und 1920 schließlich 13,4 %. Denkschrift des Direktoriums der RfA, 29. 8. 1921, BArch R 39.01 Nr. 3910. 3S Wichtiges zur Angestelltenversicherung, in: DHW 30 (1923), S. 11; Erich Stolt, Die neue Beitragsordnung zur Angestelltenversicherung, in: ebenda, S. 20 f. Zu den Vorteilen des Markensystems vgl.: Ausarbeitung der RfA über die Verbesserung und Verbilligung des Einzahlungs- und Verbuchungsverfahrens, Feb. 1921, BArch R 39.01 Nr. 3909. Der Abschied vom Kontensystem war auch deshalb durchsetzbar, weil es in der Praxis nur höchst unzulänglich umgesetzt worden war: In den Kriegsjahren, in denen die RfA wegen der Einberufung von Beschäftigten mehr als 90 % ihrer damaligen Stellen neu besetzen mußte, hatte die Behörde offensichtlich weitgehend den Überblick über die eingehenden Zahlungen verloren. Die Versicherten erhielten erstmals 1920 eine Aufstellung über die für sie geleisteten Beiträge, die eigentlich jährlich hätte erstellt werden sollen. Vgl. dazu: Kriegswirtschaftlicher Bericht der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte, in: Die Angestelltenversicherung 8 (1920), S. 161-171, hier: 161; Bericht des Direktoriums der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte über das Geschäftsjahr 1920, in: ebenda 9 (1921), S. 98-156, hier 106. Auch danach gab es noch Kritik, die Konten würden vielfach unzulänglich geführt. Vgl. MdR Gustav Hoch (SPD) im Reichstag am 5.7.1921 in: Steno Berichte Reichstag, Bd. 350,1. WP, 1920, S. 4409.

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war der größte Teil der angesammelten Gelder bereits vollständig entwertet36 . Das Problem der wertbeständigen Sicherung der Rücklagen wurde in den Selbstverwaltungsorganen der Angestelltenversicherung allerdings intensiver diskutiert als bei den LVAen, die in dieser Hinsicht völlig passiv blieben. So warf der Haushaltsausschuß des Verwaltungsrates der RfA im Dezember 1921 die Frage auf, "ob es nicht möglich sei, Vorkehrungen dagegen zu treffen, daß das Vermögen der Reichsversicherungsanstalt durch den katastrophalen Sturz der Mark fortdauernd entwertet werde". Der Vorsitzende des Verwaltungsrates bemerkte dazu, das Gesetz ließe zwar nur wenig Spielraum für solche Bemühungen; immerhin aber habe das Direktorium der Reichsanstalt beschlossen, "sein Augenmerk auch auf die Beleihung industrieller Anlagen zu richten,,37. Vergleichbare Debatten und Beschlüsse sind aus den LVAen nicht dokumentiert. Noch 1922/23 vergaben sie - wie gewohntDarlehen zur Förderung der Wohnungsbaus, obwohl jedem einigermaßen vernunftbegabten Zeitgenossen spätestens zu diesem Zeitpunkt klar sein mußte, daß Hypotheken in Zeiten der Hyperinflation alles andere als "mündelsicher" waren 38 . Zu erklären ist die große Aufmerksamkeit der Institutionen der Angestelltenversicherung für das Problem der Geldentwertung wohl durch ein anderes Verständnis vom Wesen der Versicherung: Zumal die Vertreter der Versicherten aus den nichtsozialistischen Angestelltenverbänden betrachteten die RfA dezidiert als nach "privatwirtschaftlichen Grundsätzen" arbeitende Einrichtung und drangen deshalb auf entsprechende Entscheidungen, während der laufende Reichszuschuß zu den Renten und der bereits seit Jahrzehnten fest etablierte und erstarrte bürokratische Habitus der Invalidenversicherung keinen Raum für ein solches Denken ließ 39 . Es gelang daher der RfA in der ersten Jahreshälfte 1923, einen kleineren Teil ihrer Rücklagen inflationsresistent zu sichern. Dieser Erfolg blieb allerdings nur eine Episode: Bereits in der zweiten Jahreshälfte wurden zwei Drittel dieser wertbeständigen Vermögensanteile wieder aufgelöst, da nur auf diesem Wege die Fortführung der Heilverfahren gesichert werden konnte. Die Öffentlichkeit hatte die Einstellung der Gesundheitsfürsorge, die die Reichsanstalt Ende September 1923 verfügt hatte, weil die gesamten Beitragseinnahrnen eines Monats nicht einmal mehr ausreichten, um deren Kosten im gleichen Zeitraum zu decken, als ,,zusammenbruch der Angestelltenversicherung" registriert4o• Diese Wertung entbehrte in36 GeraId D. Feldman, The Fate of the Social Insurance System in the German Inflation, 1914-1923, in: ders. u. a. (Hrsg.), Die Anpassung an die Inflation, Berlin/New York 1986, S.432-447. 37 Auszug aus dem Bericht über die 38. Sitzung des VerwaItungsrats der Angestelltenversicherung am 6. Dezember 1921, in: Die Angestelltenversicherung 9 (1921), S. 238-240, hier 239. 38 Führer, Wirtschaftsleben, S. 156. 39 Hans Bechly, Die Zukunft der Angestelltenversicherung, in: DHW 26 (1919), S. 5456, hier 54. 40 Der Zusammenbruch der Angestelltenversicherung, in: Berliner Tageblatt vom 23. 10. 1923.

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sofern nicht einer gewissen Berechtigung, als die Heilfürsorge angesichts der Wertlosigkeit der Renten die einzige Leistung der RfA darstellte, die für die Versicherten von praktischer Bedeutung war. Zudem erfolgte die Durchführung der Kuren in "standesgemäßer Fonn": Unterbringung und Verpflegung der behandelten Kranken entsprachen "den Lebensgewohnheiten des Mittelstandes" - d. h. die ansonsten Chimäre gebliebene Besserstellung der Angestellten durch die Einrichtung der Angestelltenversicherung war zumindest hier Realität geworden41 • Vor die Alternative gestellt, diesen kostspieligen Tätigkeitsbereich aufzugeben oder den letzten Rest des Vennögens fahren zu lassen, entschied sich die RfA im Interesse ihrer stark gefährdeten Legitimität bezeichnenderweise für die zweite Lösung42 • So traten Angestellten- und Invalidenversicherung 1924 gleichennaßen mit stark reduzierten Vennögensbeständen in die neue Epoche der stabilen Währungsverhältnisse ein: Unter Anwendung der gesetzlich fixierten Aufwertungsregelungen mußten durchschnittlich 90 Prozent der Rücklagen verloren gegeben werden. Die Umstellung auf das Umlageverfahren, das alle laufenden Kosten durch laufende Einnahmen deckt und die Thesaurierung großer Vennögen venneidet, machte - wie Feldman gezeigt hat - sowohl die Invaliden- als auch die Angestelltenversicherung zwar rasch wieder zu wichtigen sozialen Einrichtungen, bedeutete aber insofern doch eine Hypothek, als beide Versicherungen dadurch weitaus anfälliger für Zeiten wirtschaftlicher Rezession wurden, als sie es zuvor gewesen waren43 .

m. Die Anpassung der gezahlten Renten an den Prozeß der Geldentwertung

Vor der Behandlung dieses Punktes ist noch einmal daran zu erinnern, daß diese Frage bei der Invalidenversicherung von großer sozialpolitischer Bedeutung war, während ihr bei der Angestelltenversicherung vergleichsweise geringe praktische Bedeutung zukam: Ende 1920 - zwei Jahre nach Beginn der Rentenzahlungen an weibliche Versicherte - zahlte die RfA ganze 1 245 Renten für weibliche Ruhegeldempfanger, 11 797 Renten an Witwen / Witwer und 12 729 Waisenrenten. 1923 - nach Ende der Karenzzeit für Männer - stieg die Zahl der Ruhegeldempfanger zwar auf 9827 an (1924 dann auf 24645); im Vergleich zu den mittlerweile 41 Ausarbeitung des DHV über die Leistungen der Angestellten- und Invalidenversicherung, o. Datum [Anfang 1924], BArch NS 5 VI Nr. 3937. Anders als bei den Heilverfahren der Invalidenversicherung zahlte die RfA für die Unterbringung in Ein- oder Zwei-Bett-Zimmern, für die ein hotel artiger Service geboten wurde. Auch deshalb zahlte die RfA 1921 pro Kopf des Versicherten 28,91 M für Heilverfahren, während die Träger der Invalidenversicherung nur 15,57 M dafür aufwandten, ebenda. 42 Diller, Krise, S. 398. Der verbitterte Kampf vieler Angestellter um Leistungen im Heilverfahren belegt, wie wichtig es ihnen war, eine "Gegenleistung" für ihre Versicherungsbeiträge zu erhalten. Vgl. die Fülle entsprechender Eingaben und Beschwerden in: BArch R 39.01 Nrr.3890-3892. 43 Feldman, Fate, S. 440 f.

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mehr als zwei Millionen Rentnern der Invalidenversicherung aber waren auch das noch keine wirklich nennenswerten Zahlen44 . Unabhängig von diesem qualitativen Unterschied jedoch war die sozialpolitisch grundlegende Frage nach der Diskrepanz zwischen der Altersversorgung der Arbeiter und der der Angestellten zu diesem Zeitpunkt in einem Sinne entschieden, der nichts mit den Planungen des Gesetzgebers in der Vorkriegszeit zu tun hatte: Ebenso wie die Beitragszahlungen an die Versicherungen hatten auch deren Leistungen an die Versicherten kaum noch eine ökonomische Bedeutung. Dies galt für die Angestelltenversicherung ebenso wie für die Invalidenversicherung. Beide Sicherungssysteme kannten von ihren Grundsätzen her nur eine unveränderliche Rente: Einmal bewilligt war eine Rentenzahlung allenfalls noch durch die von den Umständen abhängigen Kinderzuschläge zu verändern; die eigentliche Rente aber blieb ohne Teuerungsausgleich auf ihrer ursprünglichen Höhe. Dieser Grundsatz der deutschen Sozialversicherungen galt auch in den ersten, bereits von starken Preissteigerungen gekennzeichneten Kriegsjahren. Hier machte es sich erstmals schmerzlich bemerkbar, daß die Leistungsbezieher der Sozialversicherungen - die alten und arbeitsunfahigen Menschen - sowohl in den Institutionen der Versicherungen als auch in der Öffentlichkeit ohne Lobby waren. Zwar blieben sie keineswegs stumm: Sowohl individuell - mit einer Fülle von Eingaben an die Behörden - als auch kollektiv - durch Gründung einer Vielzahl von lokalen und überregionalen Invaliden- und Renterverbänden - protestierten sie gegen ihre zunehmende Verarmung45 . Bei diesen Protesten fanden sie allerdings nicht die Unterstützung einer breiteren Öffentlichkeit; ja, ihre Stimme besaß noch nicht einmal in den Versicherungs gremien ein besonderes Gewicht. Die Vertreter der Versicherten agierten hier jedenfalls stets sehr viel entschiedener als Fürsprecher der Beitragszahier denn als Advokaten der Leistungsbezieher. Für die Arbeitgeber gilt das natürlich ohnehin. Die praktische Schwierigkeit, einen Inflationsausgleich mit den versicherungstechnischen Grundlagen der Invaliden- und der Angestelltenversicherung zu vereinbaren, kam hinzu. So erhielten die Rentner der Invalidenversicherung erstmals im Januar 1918 eine Aufstockung ihrer Bezüge; zu diesem Zeitpunkt lagen die Lebenshaltungskosten selbst nach der offiziellen Statistik, die mit Sicherheit stark geschönte Angaben bietet, um 100 Prozent über denen des Jahres 1913. Der Rentenzuschlag, der für den einzelnen Leistungsempfänger durchschnittlich wohl weniger als 50 Prozent der empfangenen Rente ausmachte, fiel höchst unzulänglich aus; die erforderlichen Mittel stellte das Reich vorschußweise zur Verfügung; diese Kredite hatten die LVAen in den folgenden Jahren abzutragen. Weitere Zuschläge - auch sie waren für die einzelnen Rentner und Rentnerinnen stets von bedrückender Unzulänglich44 Übersicht über die Rentenleistungen der RfA seit dem Jahr 1921, o. Datum [Feb. 1925], BArch R 39.01 Nr. 3890. Ende 1923 betrug die Zahl der Witwenrenten 17 953, die der Waisenrenten 17 505, ebenda. 45 V gl. Greg A. Eghigian, The Politics of Victimization: Social Pensioners and the Gennan Socia! State in the Inflation of 1914-1924, in: CEH 26 (1993), S. 375 -403, hier 383 - 388.

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keit - folgten, wobei deren Finanzierung ohne Rücksicht auf die finanztechnischen Probleme, die sich aus diesem Einstieg in das der Invalidenversicherung fremde Umlageverfahren ergaben, seit dem Mai 1920 nicht mehr durch Reichskredite, sondern direkt aus dem laufenden Beitragsaufkommen erfolgte46 . Für die Rentenempfänger der Angestelltenversicherung geschah bis Mitte 1921 nichts Vergleichbares. Zwar erklärte das Direktorium der RfA schon im Januar 1919, es stehe der Idee des Rentenzuschlages für die inflationsgeschädigten Leistungsbezieher "grundsätzlich sympathisch gegenüber"; zugleich aber machte es Beschlüsse in dieser Sache von einer genauen Prüfung der finanziellen Konsequenzen abhängig47 . In der Folgezeit passierte dann überhaupt nichts. Offensichtlich konnte sich das Direktorium nicht zu einer Abkehr vom Prämiendeckungsverfahren durchringen; Beitragszuschläge zur Aufbringung der für den "Teuerungsausgleich" erforderlichen Mittel waren bei den Verbänden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht durchzusetzen; die geringe Zahl der vom Tiefstand der Renten der RfA betroffenen Personen schließlich ermöglichte es - anders als bei der Invalidenversicherung - dem Gesetzgeber, in Passivität zu verharren48 . Erst sich mehrende Klagen der Versicherten und Berichte, die Wertlosigkeit der Renten untergrabe das Ansehen der Reichsanstalt, bewirkten hier eine Änderung. Der "Evangelische Frauenbund" meldete im Januar 1921 anklagend, die Rentnerinnen der Angestelltenversicherung befänden sich "in drückender Notlage"; eine Versammlung ehrenamtlicher Obmänner der Angestelltenversicherung in Weimar vermerkte einen Monat später, Alters- und Hinterbliebenenrenten in Höhe von typischerweise vier bis höchstens acht Mark monatlich riefen unter den Beitragszahlern der RfA "allgemeines Staunen" hervor und verursachten den Obmännern bei ihrer Tätigkeit "große Unannehmlichkeiten,,49. Die genannten Summen waren in der Tat staunenswert gering, erhielt ein männlicher, lediger Arbeitsloser zu diesem Zeitpunkt doch pro Werktag von der öffentlichen Hand mehr Geld als Unterstützungszahlung, als einer Rentnerin der RfA typischerweise im ganzen Monat zur Verfügung stand5o . Vgl. dazu ausführlich: Führer, Wirtschaftsleben, S. 147 -160. Direktorium der RfA an den Staatssekretär des Reichsarbeitsamtes, 20. 1. 1919, BArch R 39.01 Nr.3841. 48 Zum Widerstand gegen Beitragssteigerungen in der Angestelltenversicherung vgl. etwa: Handelskammer zu Berlin an Reichsarbeitsministerium, 10. 1. 1921, BArch R 39.01 Nr. 3909; Aktenvermerk des Reichsarbeitsministeriums über die Besprechung mit dem AfABund, 3. 2. 1921, ebenda Nr. 3908; Eine Versicherung gegen die Angestellten, in: Vorwärts Nr. 294 vom 24.6.1921. 49 Vorstand des Evangelischen Frauenbundes an den Reichstag, 29. 1. 1921, BArch R 39.01 Nr. 3910; Niederschrift über die Hauptversammlung der Ortsausschusses im Wahlbezirk Weimar, 23. 2. 1921, ebenda. 50 Vgl. Karl Christian Führer, Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland 1902-1927, Berlin 1990, S. 447 f. Die Unterstützung von Arbeitslosen erfolgte zu diesem Zeitpunkt durch eine besondere, vom Reich und von den Kommunen finanzierte Erwerbslosenfürsorge. Sie zahlte Unterstützungen, die keinen Bezug auf den vorherigen Lohn des Arbeitslosen hatten, sondern nur nach Ortsklassen, Familienstand und Alter abgestuft waren. 46

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Auch der Vergleich mit der Invalidenversicherung fiel äußerst ungünstig aus: Allein deren (unzulängliche) Rentenzuschläge waren im Frühjahr 1921 viermal so hoch wie die reguläre Rente für die Witwe eines in der höchsten Beitragsklasse versicherten Angestellten. Das Direktorium der Reichsanstalt meldete im Mai 1921, es gingen täglich und "vielfach in erregter Form" Gesuche um Erhöhung der Renten ein. Die Empörung über die unzulänglichen Leistungen der Versicherung habe bereits "weite Teile" der Angestelltenschaft erfaßt51 . Die Beschäftigten der RfA hingegen hatten zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach großzügig bemessene Teuerungszuschläge erhalten, war die Behörde doch der Ansicht, sie müsse in Punkto Besoldung ihrer Angestellten "für andere Privatdienstverhältnisse vorbildlich sein"s2. An der Diskrepanz zwischen diesem sozialen Engagement für die Beschäftigten der Versicherung und der langen Tatenlosigkeit in bezug auf das Schicksal der Rentner scheint im Verwaltungsrat der RfA niemand Anstoß genommen zu haben. Der 1921 offensichtlich rapide voranschreitende Legitimitätsverlust der Angestelltenversicherung bewog schließlich den Reichstag zu handeln: Per Gesetz wurde auch die RfA im Juli 1921 verpflichtet, ihren Rentnern einen Teuerungszuschlag aus den laufenden Beitragseinnahmen zu zahlens3 . Dieser den Regelungen bei der Invalidenversicherung nachgebildete Einstieg in das Umlageverfahren zur Finanzierung der Renten stieß auf den heftigen Protest sowohl der nichtsozialistischen Angestelltenverbände als auch des Direktoriums der Reichsanstalt. Der "Hauptausschuß für die soziale Versicherung der Privatangestellten" bezeichnete den Parlamentsbeschluß als "Raubzug am Vermögen" der Versicherung und fürchtete, die "einseitige Belastung der jetzigen Versicherten mit Aufwendungen für die Rentenempfanger" nehme den ersteren "die Sicherheit ihrer künftigen Rentenansprüche"s4. Versicherungstechnisch war dieses Argument zweifellos vollauf berechtigt; angesichts der unbestreitbaren Notlage der Rentnerinnen der RfA ist diese Stellungnahme allerdings doch ein bemerkenswertes Dokument des Besitzegoismus der Beitragszahler. Der Gedanke des "Generationenvertrages" war den Zeitgenossen der frühen Weimarer Republik offensichtlich noch völlig fremd. Auch das Direktorium der Reichsanstalt verwahrte sich entschieden gegen die Umlage51 Direktorium der RfA an Reichsarbeitsministerium, 19. 5. 1921, BArch R 39.01 Nr. 3910. Zum Vertrauensverlust in die RfA vgl. auch: Bericht des Direktoriums der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte über das Geschäftsjahr 1921, in: Die Angestelltenversicherung 10 (1922), S. 82-144, hier 143; Reichstagsabgeordneter Thiel zu den grundsätzlichen Fragen der Sozialversicherung, in: DHW 30 (1923), S. 243; Diller, Krise, S. 398. 52 Auszug aus dem Bericht über die 22. Sitzung des Verwaltungsrats der Angestelltenversicherung am 6. und 7. Februar 1919, in: Die Angestelltenversicherung 7 (1919), S. 29-32, hier 29. 53 RGBl. 1921/1, S. 1173. Der Zuschlag betrug pauschal 70 M für Ruhegeldempfänger, 35 M für Witwen und 30 M für Waisen. Die Kosten mußten ohne Beitragserhöhung von der RfA übernommen werden. 54 Entschließung des Hauptausschusses für die soziale Versicherung der Privatangestellten, 14.9. 1921, BArch R 39.01 Nr. 3910.

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finanzierung der aus der Sicht der einzelnen Rentnerin im übrigen höchst unzureichenden Rentenzuschläge. In dieser Neuerung sah das Gremium nichts weniger als "das Ende der Angestelltenversicherung,,55. Das System der Rentenzuschläge blieb vielleicht auch wegen dieser harschen Kritik in der Angestelltenversicherung nur eine nicht besonders bedeutungsvolle Episode: Bereits im Dezember 1921 schuf der Reichstag eine spezielle öffentliche Unterstützung für Rentner der Invaliden- wie auch der Angestelltenversicherung, die Sozialrentnerfürsorge. Die Kommunen hatten deren Lebensunterhalt zu garantieren (dafür wurde per Gesetz ein Mindesteinkommen festgesetzt, das durch staatliche Leistungen für jeden Rentner erreicht werden sollte); die erforderlichen Gelder gingen zu 80 Prozent zu Lasten des Reiches, zu 20 Prozent wurden sie von den Kommunen bestritten. Unterschiedliche Leistungen für Rentner der Invaliden- und der Angestelltenversicherung waren dabei nicht vorgesehen56 . Die Zahlungen dieser Sonderfürsorge fielen stets überaus dürftig aus - zumal nachdem die Vorschriften über das von der öffentlichen Hand zu garantierende Mindesteinkommen im Juni 1922 in Regelungen zur Bestimmung von Maximalzahlungen umgewandelt wurden. Diese "Reform" erfolgte, um Unterstützungen von Familienangehörigen und eventuelle Arbeitseinkommen der Rentner stärker auf die Leistungen der Sonderfürsorge anrechnen zu können, d. h. sie diente der Entlastung der öffentlichen Haushalte. Wegen dieser rigiden Bestimmungen kam nur ein Drittel der Sozialrentner überhaupt in den Genuß der öffentlichen Unterstützung57 . Zwar liegen keine exakten Angaben zur Einkommenssituation von Rentnern der Invaliden- und der Angestelltenversicherung aus dieser Zeit vor; es ist aber davon auszugehen, daß alte bzw. erwerbsunfähige Angestellte und Arbeiter - wenn sie nicht über ein eigenes, umfangreicheres Einkommen verfügten - bis Anfang 1924 de facto sozial gleichgestellt waren. Die 1911 mit der Verabschiedung des VGfA versprochene soziale Privilegierung der Angestellten im Alter blieb ein Wunschtraum, da die eigentlichen Renten der Angestelltenversicherung (inklusive der weiterlaufenden "Teuerungszuschläge") 1922/23 vollständig entwertet waren. Sie besaßen nur noch insofern eine Bedeutung, als ihr Bezug die Voraussetzung für den Empfang der vom Reich und den Gemeinden gewährten, höchst unzureichenden Sonderfürsorge darstellte 58 . Das Fürsorgegesetz vom 7. Dezember 1921 war - wie die Reichsregierung sehr klar erkannte - nichts anderes als die Bankrotterklärung der Sozialversicherungen für Alter und Invalidität und ein Sprung zurück in die Zeit vor 1881, ein Zurückgehen hinter die berühmte Kaiserliche Botschaft vom 17. November jenes Jahres, in der die Schaffung des Versicherungssystems ja gerade mit der Notwendigkeit Denkschrift des Direktorium der RfA, 23. 7. 1921, ebenda. Führer, Wirtschaftsleben, S. 158 ff.; Eghigian, Politics, S. 392ff. 57 Vgl. Young-Sun Hong, Welfare, Modemity, and the Weimar State, 1919-1933, Princeton 1998, S. 101 f. 58 August Karsten, Wertbeständigkeit der Sozialrenten, in: AfA-Bundeszeitung 5 (1923), S.66. 55

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begründet worden war, die unverschuldet in Not Geratenen vor der öffentlichen Armenunterstützung zu bewahren59 • Trotz dieser grundsätzlichen Bedeutung wurde das Fürsorgegesetz ohne große öffentliche Aufmerksamkeit beraten und beschlossen - die überaus turbulenten Zustände der Zeit ließen wohl auch keinen Raum für dieses sozialpolitische Thema. Der Regelung vom Dezember 1921 kommt auch insofern grundsätzliche Bedeutung zu, als sie den beiden Versicherungen die Fortführung der bisherigen Praxis ermöglichte: Die Versicherungsbeiträge blieben entwertet bzw. verfielen wertmäßig trotz ihrer nominalen Steigerung in astronomische Höhen noch weiter. Die Alternative - den Arbeitgebern wie den versicherten Arbeitnehmern den ökonomischen Vorteil der Entlastung von den Versicherungsbeiträgen zu nehmen und im Umlageverfahren mit den so gewonnenen Einnahmen die laufenden Kosten auch für die Renten zu decken - wurde jedenfalls kaum ernsthaft geprüft und diskutiert. Bei den parlamentarischen Beratungen des Fürsorgegesetzes hatte von den Reichstagsparteien nur die kleine Fraktion der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gegen den Regierungsentwurf votiert, der die beitragsfinanzierte Sozialversicherung de facto durch die steuerfinanzierte Sozialfürsorge ersetzte. Sie wollte die unbestreitbar nötigen Teuerungszuschläge auf dem Wege der Beitragserhöhung aufbringen. Dieser Vorschlag wurde jedoch von den anderen Fraktionen und von der Reichsregierung beiseite gewischt, weil er "Arbeitgeber und Arbeitnehmer außerordentlich belasten würde,,60. Die Übernahme der Kosten in die ohnehin defizitären Haushalte von Reich und Kommunen war demgegenüber der politisch leichter gangbare Weg. Auch noch in anderer Hinsicht stellte die Einführung der Sonderfürsorge eine bedeutsame Weichenstellung dar: Da die Versorgung der Alten und Invaliden seitdem von der öffentlichen Hand übernommen wurde, konnten die Versicherungsträger im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit gewissermaßen als Merkposten für die Zukunft weitergeführt werden - was so nicht möglich gewesen wäre, wenn sie weiterhin direkt für die soziale Lage der Rentner verantwortlich gewesen wären61 . Die Auseinandersetzung um das weitere Schicksal von Invaliden- und Angestelltenversicherung wurde nach dem Fürsorgegesetz zu einer reinen Expertendiskussion, die weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfand, obwohl das praktische Versagen beider Versicherungen in der Inflation und der unbestreitbare Legitimitätsverlust der RfA bei ihren eigenen Beitragszahlern durchaus ein günstiges Klima für eine grundSätzliche Reformdebatte hätte schaffen können. Be59 VgI. das Schreiben des Reichsfinanzministeriums an das Reichsarbeitsministerium, 29.8.1921, BArch R 39.01 Nr.4547. 60 Gesetz über Notstandsmaßnahmen zur Unterstützung von Rentenempfängern der Invaliden- und Angestelltenversicherung, in: SPr 30 (1921), Sp. 1259. 61 So erklärte das Reichsarbeitsministerium im April 1923, eine Erhöhung der mittlerweile von der Inflation entwerteten "Teuerungszuschläge" der Invaliden- und Angestelltenversicherung sei nicht erforderlich, da durch die Sozialrentnerfürsorge ja bereits "eine ausgedehnte Fürsorge für die Sozialrentner gesichert" sei. Gesetzentwurf des Reichsarbeitsministeriums zur Abänderung des AVG [Angestelltenversicherungsgesetz] mit Begründung, 26. 4. 1923, BArch R 39.01 Nr. 3915.

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ständig wiederholte Vorstöße zur Verschmelzung der beiden Sozialversicherungen - vorgetragen sowohl von sozialdemokratischer Seite als auch von liberalen Sozialreformern - scheiterten am entschlossenen Widerstand der nichtsozialistischen Angestelltenverbände, die - in der Hoffnung auf die Rückkehr normaler Währungsverhältnisse - nicht von ihrem Anspruch einer "Standesversicherung" lassen wollten. Das gleiche gilt für das noch sehr viel weiterreichende Projekt einer beitragslosen, steuerfinanzierten, allgemeinen "Staatsbürgerversorgung", das von einigen links stehenden Sozialdemokraten verfochten wurde. Die in dieser Debatte ausgetauschten Argumente für oder gegen die Sonderversicherung der Angestellten waren im wesentlichen die gleichen wie seinerzeit bei der Beratung des VGfA. Die Gegner der RfA schmähten die Angestelltenversicherung als ineffektive und teure Separierung einer Berufsgruppe, der es aus durchsichtigen politischen Gründen gestattet werde, sich aus der Solidargemeinschaft aller Arbeitnehmer zu exkludieren 62 . Ihre Verteidiger beharrten jedoch gerade auf dieser sozialen Exklusivität der Angestelltenversicherung. Insbesondere für die nichtsozialistischen Angestelltengewerkschaften war es keine Frage, "daß der Risikenausgleich [ ... ] unter den Angestellten allein erfolgen soll, daß diese also nicht die schlechten Risiken der großen Masse der Arbeiter aus ihrer Tasche bezahlen sollen,,63. Vor diesem ausgeprägtem Standesdenken versagten alle Argumente für eine Zusammenführung der beiden Versicherungen, obwohl am praktischen Scheitern der mit großen Versprechungen gestarteten Angestelltenversicherung nicht gezweifelt werden konnte. Im Interesse der langfristigen Sicherung der RfA nahmen die nichtsozialistischen Angestelltenverbände die aktuelle Proletarisierung ihrer alten und arbeitsunfähigen "Standesgenossen" klaglos hin. Zwar war sich der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband (DHV), der politisch einflußreichste dieser Verbände, sehr wohl der Tatsache bewußt, daß die Rentner der Reichsanstalt zu den "Aermsten der Armen" gehörten; nennenswerte Initiativen zur Verbesserung ihrer Lage aber unternahm die DHV-Führung nicht64 . Die linksstehenden Gegner der separaten Angestelltenversicherung wiederum benutzten das Elend der Rentnerinnen und Rentner der RfA im wesentlichen nur, um ihrer Agitation für eine Beseitigung der Reichsanstalt Nachdruck zu verleihen. Für deren konkrete soziale Lage aber interessierten sie sich deutlich weniger als für das Wohlergehen der Beitragszahier, die Erhöhungen der entwerteten Versicherungsbeiträge hätten tragen müssen 65 . 62 Vgl. etwa: AfA-Bund an Reichsarbeitsministerium, 10. 12. 1920, BArch R 39.01 Nr. 3908; Eine Eingabe des Afabundes zur Angestelltenversicherung, in: SPr 30 (1921), Sp. 176; August Karsten, Die Neugestaltung der Sozialgesetzgebung, in: Mitteilungsblatt des Allgemeinen freien Angestelltenbundes 4 (1922), S. 7-9; ders., Was ist aus der Sozialversicherung geworden?, in: ebenda, S. 133 -135. 63 Bechly, Zukunft, S. 54. Hervorhebungen im Original. Vgl. auch: Entschließung des Hauptausschusses für die soziale Versicherung der Angestellten, 14.9. 1921, BArch R 39.01 Nr.391O. 64 Spektator, Die Angestelltenversicherung im Reichstag, in: DHW 28 (1921), S. 218. 65 Vgl. die angesichts der realen Wertlosigkeit der Beiträge nahezu groteske Klage des AfA-Bundes über die "unglaublich hohen Beiträge" der Angestelltenversicherung Mitte

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Zeitgleich mit dieser Debatte in einer kleinen sozialpolitischen Expertengruppe beschäftigte sich der Reichstag 1922 mit einer Novelle des VGfA, die dezidiert darauf abzielte, die Sonderversicherung für Angestellte für die Zukunft zu sichern. Die im November 1922 verabschiedete Neufassung des Gesetzes beseitigte das seit 1913 bestehende Problem, daß gering besoldete Angestellte sowohl in der Invaliden- als auch in der Angestelltenversicherung versicherungspflichtig waren. Diese Bestimmung war seinerzeit geschaffen worden, weil auch die ,,kleinen" Angestellten in den Genuß des Reichszuschusses zu den Renten kommen sollten, den - wie oben bereits ausgeführt - zwar die Invaliden-, nicht aber die Angestelltenversicherung kannte. Dank einer besonderen Regelung der Beiträge zahlten die doppel versicherten Angestellten keine höheren Beiträge als ihre bessergestellten "Standesgenossen". Die Inflation machte diese komplizierten Vorschriften schlicht überflüssig: Da der Reichszuschuß - zusammen mit den Renten der Invalidenversicherung - entwertet wurde, bestand spätestens seit 1921 keine Notwendigkeit mehr für die doppelte Beitragszahlung, die unter ordnungspolitischen und versicherungstechnischen Gesichtspunkten ohnehin stets als mißlich gegolten hatte 66 . Zudem gab es aufgrund der inflationären Einkommensentwicklung kaum noch Angestellte, die auch in der Invalidenversicherung pflichtversichert waren: 1913 hatte dies noch für 63 Prozent der männlichen Beitragszahler der RfA und - wegen ihrer deutlich niedrigeren Einkommen - sogar für 97 Prozent der weiblichen Versicherten der Angestelltenversicherung gegolten. 1920 aber betraf die unverändert gültige Bestimmung, daß Angestellte mit einem Verdienst von bis zu 2 000 M jährlich auch der Invalidenversicherung angehören mußten, nur noch 10,5 Prozent der männlichen und 24,5 Prozent der weiblichen Beitragszahier der RfA. Im Frühjahr 1922 war dann auch ,jener Rest der doppeltversicherten Personen [ ... ] verschwunden,,67. Die von der Inflation praktisch bewirkte versicherungstechnische Separarierung von Arbeitern und Angestellten konnte deshalb problemlos gesetzlich sanktioniert werden. Mit der Neufassung des VGfA wurden Ende 1922 erstmals "sehr klar und deutlich die gesamten Angestellten von den gesamten Arbeitern getrennt", was nach dem Willen der bürgerlichen Reichstagsparteien und der nichtsozialistischen Angestelltenverbände "zu einer weiteren Konsolidierung der Angestelltenversicherung führen" sollte68 . Die SPD hatte dem nichts in den Weg 1923.42000 Mark Monatsbeitrag, in: AfA-Bundeszeitung 5 (1923), S. 42. Vgl. ferner: Fritz Pfirrrnann, Der Milliardenraub in der Angestelltenversicherung, in: ebenda, S. 23 f.; Siegfried Aufuäuser, Eine Novelle zur Angestelltenversicherung, in: Freiheit Nr. 301, 1. 7. 1921; Ein Ueberfall und ein Raubzug, in: Der freie Angestellte Nr. 12,29.6. 1921. 66 Vgl. zur Kritik daran etwa: Brunn, Zur Frage der Beseitigung der Sonderversicherung für Angestellte, in: SPr 27 (1917/18), S. 177 - 180, hier 179; Sitzung des Sozialpolitischen Ausschusses [des DIHT], Berlin, den 13. Juni 1922, Berlin 1922 (= Verhandlungen des DIHT 1922, H. 6), S. 16f. 67 Bericht des Sozialpolitischen Ausschusses des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats, März 1922, BArch NS 5 VI Nr. 3936. Vgl. auch: Augustin Düttmann, Wo bleiben unsere Versicherungsbeiträge?, in: Der freie Angestellte Nr. 5, 16.3. 1921. 68 MdR Walter Lambach (DNVP) im Reichstag, 21. 10. 1922, in: Steno Berichte Reichstag, Bd. 357, 1. WP, 1922/23, S. 8857. Lambach war hauptberuflicher Funktionär des DHV.

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gelegt, sondern bereits in den Ausschußberatungen ausdrücklich auf die Forderung nach Verschmelzung der beiden Rentenversicherungen verzichtet69 . Das war offensichtlich Teil eines politischen Handels, denn das vom Reichstag verabschiedete Gesetz brachte - anders als die Regierungsvorlage - auch Neuerungen in der RVO mit sich: Mit Jahresanfang 1923 wurden die Bestimmungen der Invalidenversicherung über die Altersrenten beseitigt; seitdem setzten die Versicherungsträger neue Renten nur noch in der Form der Invalidenrente fest. Diese Änderung hatte große Bedeutung für alle Versicherten, die über 65 Jahre, aber noch arbeitsfähig waren. Zuvor hatten sie nur dann eine Rente erhalten, wenn sie die mit 1 200 Beitragswochen sehr lange Anwartschaft der Altersrente erfüllten; seit dem 1. Januar 1923 war zur Erlangung der Rente generell nur eine Anwartszeit von 200 Wochen nachzuweisen 70. Dieser sozialpolitische Fortschritt, der zumal Frauen (deren Erwerbsbiographie typischerweise sehr viel kürzer als die der Männer war) den Rentenbezug stark erleicherte, bewog die SPD, sich mit der Weiterexistenz und langfristigen Sicherung der Angestelltenversicherung abzufinden. Die Tatsache, daß die Träger der Invalidenversicherung 1923 in der Altersgruppe der 65- bis 69jährigen sechsmal so viele Renten bewilligten wie 1922, zeigt die konkrete Bedeutung der Bestimmung71. Allerdings ist dabei zu bedenken, daß die neuen Rentner aktuell de facto nur den Anspruch auf die unzureichenden Zahlungen der Sonderfürsorge erwarben - die Leistungen der Versicherungsträger waren (wie gesagt) gerade 1923 vollständig wertlos. Nach der Stabilisierung der Währung im Herbst 1923/Frühjahr 1924 trug die langfristig orientierte Strategie der Verteidiger der gesonderten Angestelltenversicherung rasch erste Früchte: Die trotz Reduzierung gegenüber dem Vorkriegsstand im Vergleich zur Invalidenversicherung nach wie vor höheren Beiträge der RfA und ihre dank der geringeren Zahl der Leistungsempfänger günstigere Finanzlage ermöglichten es dieser, die mit dem Ende der Geldentwertung neu festgesetzte und über das Umlageverfahren finanzierte Einheitsrente für alle Ruhegeldempfänger auf 360 Rentenmark (später dann: Reichsmark) jährlich festzusetzen, während die ebenfalls zur Umlagefinanzierung der Renten übergegangenen Träger der Invalidenversicherung "ihren" Rentnern lediglich 120 RM Einheitsrente zahlen konnten (hinzu kam ein Reichszuschuß von 36 RM). Die meisten Ruhegeldempfänger der Angestelltenversicherung standen sich mit dieser Einheitsrente wohl sogar besser als es bei Fortführung des alten Systems der Fall gewesen wäre, während es sich bei der Invalidenversicherung genau anders herum verhielt: Hier hatte die Enteignung der Versicherungsträger zu einer partiellen Enteignung des einzelnen 69 Vgl. den Bericht des Sozialen Ausschusses in: Steno Berichte Reichstag, Bd. 375, I. WP, Anlagen 1922, Nr. 5093, S. 5512-5583, hier 5520. 70 Führer, Wirtschaftsleben, S. 165. 71 Alois Egger, Die Belastung der neuen Wirtschaft durch die Sozialversicherung, Jena 1929, S. 145. Ca. 79 000 der 187000 neuen Renten in der genannten Altersgruppe entfielen allerdings auf in Invaliditätsrenten umgewandelte, bereits laufende Altersrenten.

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Versicherten geführt72 . Die Wahrung der wirtschaftlichen Selbständigkeit war trotz dieser Diskrepanz allerdings auch den Rentnern der RfA nicht möglich 73 • Der "Standescharakter" der Angestelltenversicherung war somit für die Leistungsempfanger auch weiterhin eher ein Anspruch auf dem Papier als soziale Realität. In der gesamten Weimarer Republik blieben die meisten Sozialrentner auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen 74.

72 Die Aufwertung der Leistungen in der Angestelltenversicherung, in: DHW 31 (1924), S. 269; Führer, Wirtschaftsleben, S. 166 f. Die Beiträge der reformierten Angestelltenversicherung betrugen 1924 nur noch 3,6 bis 4 % der versicherten Durchschnittsgehälter. Vgl.: Eingabe des Hauptausschusses für die soziale Versicherung der Angestellten an den Reichstag, 18. 12. 1924, BArch R 39.01 Nr. 3937. Zur Geschichte der Finanzierungsverfahren in den Sozialversicherungen vgl. etwa: Richard Mörschel, Die Finanzierungsverfahren in der Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Deutsche Rentenversicherung (1990), S. 619-661, sowie den Beitrag von Philip Manow in diesem Band. 73 Ausgestaltung der Angestelltenversicherung, in: DHW 31 (1924), S. 562. 74 Vgl. David F. Crew, Germans on Welfare. From Weimar to Hitler, New York/Oxford 1998, S. 94 f. und 105 f.; Führer, Wirtschaftsleben, S. 168; Hong, Welfare, S. 133 - 140.

Von Europa lernen Die amerikanische Altersversicherung und die Rezeption der europäischen Refonndebatten in den dreißiger Jahren

Von Martin H. Geyer

Kurz vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1932 äußerte sich der Forschungsdirektor der Metropolitan Life Insurance Company, Roderik Olzendam, in einem Brief an den Stellvertretenden Direktor des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, Harold Butler, befriedigt darüber, daß die Republikanische Partei ein, wie er meinte, in vielen Punkten arbeiterfreundlicheres Programm als die Demokraten aufzuweisen habe; diese Tatsache und die insgesamt konservative Einstellung der amerikanischen Wahlbevölkerung würden die Wiederwahl des amtierenden Präsidenten Herbert Hoover erleichtern. Die Anwort aus Genf war zutiefst pessimistisch: Wenn der amtierende Präsident Hoover siegen würde, meinte Butler, "so grenze dies an ein Wunder", da er "von noch keiner Regierung gehört habe, die Wahlen während einer Depression überlebt habe"l. Dieser Pessimismus gründete sich auf Erfahrungen. Die wirtschaftliche Depression drohte in allen Ländern, in politische Krisen, wenn nicht in Staatskrisen zu münden. In Deutschland und Großbritannien stürzten 1930 bzw. 1931 sozialistische Koalitionsregierungen über die Frage der Arbeitslosenversicherung; in Deutschland profitierten radikale Parteien wie die Nationalsozialisten von der Krise. Europa zeigte, daß die umstrittene Sozialpolitik nicht nur Lösung, sondern auch mit Ursache politischer Krisen sein konnte2 . Umgekehrt mußte sich in den Vereinigten Staaten die Regierung den Vorwurf gefallen lassen, der Wirtschaftskrise tatenlos zuzusehen. Die bestehenden sozialen Einrichtungen versagten auf breiter Front. Nicht die vermeintlich "überzogene Sozialpolitik" wie in Deutschland, sondern das Scheitern des in den zwanziger Jahren als Alternative zu den staatlichen Sozialsystemen konzipierten "corporate welfare capitalism" und die Unzulänglichkeiten der bestehenden, meist lokalen Fürsorgernaßnahmen rückten in den Vordergrund der politischen Debatten. Der Glaube, daß eine kontinuierlich wachsende Wirtschaft wirtschaftliche SicherI Brief von Roderik Olzendam, 28. 9. 1932; Brief von Butler, 5. 10. 1932, Archiv der Metropolitan Life Insurance Company, New York (zitiert: Met. Life), Box 070301. 2 Für einen kurzen Überblick vgl. Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989, S. 112-129.

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heit und Wohlstand für die ganze Gesellschaft erzeugen würde, war fundamental erschüttert. Trotz vieler neuer sozialpolitischer Initiativen, die unter Hoover entwickelt wurden und auf die Franklin D. Roosevelt als Präsident zurückgreifen konnte, galt Hoover in der breiten Öffentlichkeit als ein Exponent des "alten Systems", dessen Versagen in der Wirtschaftskrise unübersehbar war. Erst Roosevelt setzte neue Akzente, indem er nach seinem Amtsantritt Einrichtungen schuf, die in den Vereinigten Staaten neue sozialpolitische Traditionen begründeten3 . Die unterschiedlichen Wege in und aus der Weltwirtschaftskrise sind für eine Geschichte der Sozialpolitik von großer Bedeutung. Neben dem Ab- und Umbau der bestehenden Leistungen und den Bemühungen um organisatorische Konsolidierung in einigen Ländern, die begleitet waren von teilweise heftigen Debatten über die "Krise der Sozialpolitik" und ihre politischen Ursprünge, wurde in anderen Ländern der Aus- und Neubau sozialpolitischer Einrichtungen forciert. Die USA, wo mit dem Social Security Act von 1935 Versicherungs- und Fürsorgeprogramme für Arbeitslose und Alte geschaffen wurden, einerseits und Großbritannien sowie vor allem Deutschland, wo die Ministerialbürokratie seit 1930 einen Umbau und die Konsolidierung des gesamten sozialen Sicherungssystems anstrebte, andererseits sind Beispiele für zwei unterschiedliche sozialpolitische Wege, die in der Wirtschaftskrise eingeschlagen wurden. Trotz aller politischen und ideologischen Unterschiede nicht nur zwischen den europäischen Ländern und den USA, sondern auch zwischen England und Deutschland sind grundsätzliche Gemeinsamkeiten nicht zu übersehen. Wie in diesem Aufsatz gezeigt werden soll, rezipierten die amerikanischen Reformer auf Studienreisen sowie durch persönliche Kontakte und Expertenstudien sehr aufmerksam nicht nur die zu Beginn der dreißiger Jahre in allen europäischen Ländern intensivierten Reformen, sondern auch die Debatten über die Ursachen und Probleme der europäischen Sozialversicherungssysteme. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß der Social Security Act von 1935 ein "erstaunlich unausgereiftes und konservatives Gesetzeswerk" darstellte4 . Diese konservative Grundstruktur, insbesondere des Systems der Alterssicherung, ist auch darauf zurückzuführen, daß in den USA ähnlich wie in England und Deutschland die Gefahren und Folgen der "Politisierung" der Sozialpolitik große Beachtung fanden. Vier Punkte sollen im folgenden herausgearbeitet werden: 3 Nach wie vor den besten Überblick geben Theda Skocpoll lohn Ikenberry, The PoliticaI Formation of the American Welfare State, in: Comparative Social Research 6 (1983), S. 87147, hier 120-126; Ann Shola Orloff, The Political Origins of America's Belated Welfare State, in: Margaret Weir u. a. (Hrsg.), The Politics of Social Policy in the United States, Princeton 1988, S. 37 - 80. Zur Politik Hoovers vgl. loaD Hoff Wilson, Herben Hoover: Forgotten Progressive, Boston 1975, Kap. 5 und 6. 4 William E. Leuchtenberg, FrankIin D. Roosevelt and the New Deal, New York 1965, S. 132; Andrew W. Achenbaum, OId Age in a New Land, Baltimore 1978, S. 135 f.; Skocpol I Ikenberry, PoliticaI Formation, S. 137f.; lerry R. Cates, Insuring Inequality: Administrative Leadership in Social Security, 1935 - 54, Ann Arbor 1983, S. 13 - 17 und passim.

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[I.] Von der Rezeption der Debatten über die Refonn der englischen Arbeitslosenversicherung gingen wichtige Impulse für die amerikanische Diskussion aus, namentlich um die Abgrenzung von "Versicherung" und "Versorgung", die Beanspruchung der Staatsfinanzen für soziale Zwecke sowie die (sozial-)politische Konstruktion "sozialer Rechte". [11.] Die amerikanische Option für das beitragsbezogene, auf einer Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen beruhende Versicherungsprinzip ließ die Refonner besonders das deutsche Modell studieren, das exemplarisch Fragen der Finanzierung des Systems und der Sicherung sozialer Rechte aufwarf. [m.] Gemeinsam war der neuen amerikanischen und der nach 1930 grundlegend reformierten deutschen Altersversicherung5 , daß sie aufgrund der starken Orientierung am Versicherungsgedanken und der starken Betonung "konservativer" Finanzierungsverfahren die Knappheitspostulate der Weltwirtschaftskrise weit in das zwanzigste Jahrhundert fortschrieben. [IV.] Dagegen gab es in beiden Ländern Widerstände. In einem abschließenden Teil soll am amerikanischen Beispiel skizziert werden, welche strukturellen Änderungen notwendig waren, diese Knappheitspostulate zu überwinden; nur dadurch konnte das beitragsbezogene Altersversicherungssystem zu dem bis heute populärsten sozialen Programm der amerikanischen Bundesregierung werden.

I. Seit 1930 diskutierte man in der amerikanischen Öffentlichkeit auf breiter Front die Notwendigkeit von sozialpolitischen Refonnen. Vor allem die seit 1930 rasch wachsenden Arbeitslosenzahlen schufen neuen Handlungsbedarf. Die lokalen Fürsorgeeinrichtungen waren in jeder Hinsicht überfordert, und es kam zunächst auf der Ebene der Einzelstaaten zu politischen Initiativen, neue soziale Einrichtungen zu schaffen. Die Arbeitslosigkeit warf zugleich auch das Problem der Versorgung der in Not geratenen Alten auf. Veteranen des Ersten Weltkrieges forderten eine vorzeitige Auszahlung ihrer Militärpensionen. Der Protest dieser sog. "bonus marchers" führte 1932 nach Einsatz des Militärs gegen demonstrierende Veteranen in der Bundeshauptstadt zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen. Unübersehbar war die wachsende Kritik an den politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes. Populistische Refonner und Demagogen wie Huey Long aus Mississippi und der katholische "Father Coughlin" verbanden sie mit Forderungen nach sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit. Unter den vielen neuen sozialen Massenbewegungen, die während der Weltwirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten aus dem Boden schossen, war das sich nach 1933 rasch ausbreitende Citizen bzw. Old Age Pension Movement unter Führung des kalifornischen Arztes Francis E. Townsend die schlagkräftigste. Jeder amerikanische Staatsbürger, so lautete die Forderung dieser Bewegung, sollte nach dem Erreichen des 60. Lebensjahrs eine Pension von 5 Der Einfachheit halber wird hier von der Altersversicherung und nicht von der Invaliden- und Altersversicherung und ihren verschiedenen Zweigen gesprochen. 18 Fisch I Haerende1

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200 Dollar im Monat erhalten. Die einzige Bedingung, die an den Bezug der Pension geknüpft werden sollte, war, daß das Geld innerhalb eines Monats wieder ausgegeben werden mußte. Aus der Sicht der Befürworter konnte man damit nicht nur die Altersarmut bekämpfen; wie in kryptokeynesianischer Manier argumentiert wurde, ließ sich mit den hohen Pensionen zugleich die Wirtschaft stimulieren, womit Arbeit geschaffen würde. Über eine bundesstaatliche Umsatzsteuer sollten die Leistungen finanziert werden. Von den Gegnern als utopisch verlacht, waren "citizens pensions" für die Anhänger Townsends der Königsweg aus der Wirtschaftskrise. Dabei traf Townsend mit seiner Forderung offenbar den Nerv der Zeit, denn der amerikanische Kongreß wurde noch während des Krieges mit Petitionen aus der Bevölkerung und Anträgen von Abgeordneten überflutet6 • Vor dem Hintergrund dieses wachsenden innenpolitischen Reformdrucks ist das neue Interesse von Sozialreformern, Wissenschaftlern und Experten aus der Versicherungwirtschaft an europäischen Erfahrungen mit sozialen Sicherungssystemen zu sehen7. Die zweifellos gründlichste Bestandsaufnahme öffentlicher Sozialversicherungseinrichtungen in Europa unternahm 1931 eine Untersuchungskommission der Metropolitan Life Insurance Company unter Leitung des bekannten Experten auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung, Lee K. Frankei, der zugleich einer der stellvertretenden Präsidenten der Gesellschaft war8 • Ausgestattet mit Empfehlungsschreiben des Präsidenten Hoover, der American Federation of Labor und von Arbeitgeberorganisationen führte diese Kommission in verschiedenen europäischen Ländern Gespräche mit Vertretern der Ministerialbürokratie, Sozialpolitikern sowie Vertretern der Gewerkschaften und der Unternehmer. Metropolitan Life hatte ein spezifisches Interesse an Fragen der Sozialversicherung. Es war die größte amerikanische Lebensversicherungsgesellschaft, die, wie immer wieder betont wurde, als Versicherung auf Gegenseitigkeit den Mitgliedern "gehörte". Angesichts der im Vergleich zu Europa großen Verbreitung von Lebensversicherungspolicen in amerikanischen Haushalten übernahm sie, so das Selbstverständnis, Funktionen europäischer Sozialversicherungseinrichtungen. Vor allem in 6 Vig. die Literatur in Anm. 4; Alan Brinkley, Voices of Protest: Huey Long, Father Coughlin and the Great Depression, New York 1982; Abraham Holtzman, The Townsend Movement, New York 1963. 7 Dieser Wissenstransfer war nicht neu. Schon im Zusammenhang mit den Debatten über die Einführung einer Arbeiterversicherung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hatte es ähnliche Initiativen gegeben wie jetzt, nach dem Einsetzen der Wirtschaftskrise, vgl. Theda Skocpol, Protecting Soldiers and Mothers. The Political Origins of Social Policy in the Uni ted States, Cambridge, Mass. 1992, passim; Daniel T. Rogers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, Mass. 1998. 8 Lee K. Frankel/Miles M. Dawson in Zusammenarbeit mit Louis I. Dublin, Workingmen's Insurance in Europe, New York 1910; seine Biographie findet sich unter dem Stichwort ,,Lee Kaufer FrankeI, " in: National Encyc\opedia of American Biography 45 (1962), S. 208 f. Nach seiner Rückkehr aus Europa wurde er führender Mitarbeiter der Metropolitan Life, vgl. James Marquis, The Metropolitan Life. A Study in Business Growth, New York 1947, S. 183 - 194. Die Ergebnisse wurden in einer Social Insurance Se ries in der Form von Broschüren seit 1930 veröffentlicht. Vgl. auch Rogers, Atlantic Crossings, S. 262 - 264, 440 f.

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den zwanziger Jahren hatte sich die Gesellschaft in dem rasch expandierenden Bereich betrieblicher Wohlfahrtseinrichtungen, dem sogenannten "welfare capitalism", engagiert9 . Angesichts der Wirtschaftskrise waren neue Lösungen gefragt. Wie Frankel und Olzendam ihren Zuhörern im American Club in London im Mai 1931 erklärten, befand sich Amerika in einem "hysterischen Zustand"; angesichts der zahlreichen sozialpolitischen Gesetzesinitiativen in den Staatsparlamenten mußte man befürchten, daß die Abgeordneten nur ,,half-baked legislation" verabschieden würden 10. Die Vertreter von Metropolitan Life waren nicht die einzigen Amerikaner, die zu dieser Zeit Europa besuchten und die politischen Ereignisse aufmerksam verfolgten. Auch Francis Perkins, damals Industrial Labor Commissioner im Staat New York, informierte sich im Auftrag Roosevelts über die Sozialpolitik in England 11. Als Secretary 0/ Labor und Vertraute des neuen Präsidenten Franklin Roosevelt wurde sie 1934 Mitglied des "Committee on Economic Security" (CES), das für den Präsidenten einen ersten Entwurf des Social Security Act ausarbeitete. Der spätere Executive Director des CES, Edwin Witte, ein Ökonom von der Universität von Wisconsin, hielt sich 1931 ebenfalls mit einem Stipendium des "Carnegie Endowment for International Peace" in England aufI2 . Welche europäischen Länder boten sich den Amerikanern als Studienobjekte an? Die Kommission von Metropolitan Life ging davon aus, daß sich dafür vor allem die Schweiz und Dänemark aufgrund ihrer politischen Stabilität, demokratischen Traditionen und der Tatsache, daß die sozialen Einrichtungen hier auf Freiwilligkeit beruhten, anböten; hinzu kam in der Schweiz die kantonale Verfassung\3. Bundesstaatliche Zwangseinrichtungen schienen den Amerikanern 1931 nicht nur unvereinbar mit der amerikanischen Verfassung, sondern auch wenig wünschenswert. Metropolitan Life spielte zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Gedanken, möglicherweise in Eigenregie Aufgaben europäischer Sozialversicherungen zu übernehmen. Die Arbeitslosenversicherung war nur ein Feld. Der Staat New York könnte, so der wenig entwickelte Plan, die Bevölkerung verpflichten, sich entweder privat, betrieblich oder eben in einer neu zu etablierenden, halböffentlichen Versicherungsanstalt gegen die Risiken Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter zu versichern; ausgehend vom Staat New York ließe sich eine bundes9 Ca. 4.500 betriebliche Versicherungspläne wurden von der Versicherung betreut. Vgl. Marquis, Metropolitan Life, S. 259-273. Zum System des amerikanischen "welfare capitalism" vgl. Stuart Brandes, American We\fare Capitalism, 1880-1940, Chicago 1976; David Brody, Rise and Decline of Welfare Capitalism, in: ders., Workers in Industrial America. Essays on the 20 th Century Struggle, New York 1980, S. 48 - 81. \0 Debatte im American Club, Picadilly, 14.5.1931 (Met. Life, Box 070304). 11 Daniei Nelson, Unemployment Insurance, Madison, Wisc. 1969, S. 167. 12 Vgl. Diary, 24.6.-30. 9. 1931 (State Hist. Society, Madison, Wisc., Edwin E Witte Papers, Box 9); Theron F. Schlabach, Edwin E. Witte: Cautious Reformer, Madison 1969, S.97. 13 FrankellCraig, Notes on Geneva, 18.-28.4.1931, S. 2, 8 (Met. Life, 07301).

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weite Versicherung aufziehen: "Thus you would have a certain amount of freedom of choice as weIl as compulsion, and the company would be about as free from political influence as such an institution could ever be,,14. Die Erfahrungen, die die Kommission 1931 sammelte, zeigten nun aber auch, daß die Wirtschaftskrise allenthalben Zwang und Zentralisation begünstigte, auch in Ländern wie Dänemark und der Schweiz. Überall hörte sie, daß öffentlichen Zwangsversicherungen die Zukunft gehöre, daß Privatversicherungen und Versicherungen, die auf Freiwilligkeit beruhten, die Probleme nicht lösen könnten. Damit gewannen Großbritannien und Deutschland mit ihren etablierten nationalen Versicherungssystemen, die auf einem Beitrittszwang beruhten, als Studienobjekte an Bedeutung. Besondere Beachtung fanden die aktuellen Probleme der Arbeitslosenversicherungl 5 • Die amerikanischen Kommissionsmitglieder von Metropolitan Life, aber auch Francis Perkins und Edwin Witte, verfolgten mit größtem Interesse die Sitzungen der "Royal Commission on Unemployment Insurance" I 6. Im September 1931 konnten die Amerikaner die englische Regierungskrise verfolgen, die ihre Ursache im Streit über die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung hatte und schließlich zum Sturz der englischen Koalitionsregierung unter dem Sozialisten Ramsay MacDonald führte. In einer Vielzahl von amerikanischen Monographien und Aufsätzen wurden in der Folgezeit die Probleme der britischen Arbeitslosenversicherung sowie die Reformanstrengungen der neuen britischen "Nationalen Regierung" dargestellt 17 • Diese amerikanische Rezeption der Auseinandersetzungen über die britische Arbeitslosenversicherung ist auch mit Blick auf die Altersversicherung von großer 14 Schreiben Olzendams an den Leiter der Abteilung Sozialversicherung im Internationalen Arbeitsamt, A. Tixier,l. 7. 1931 (ebenda). 15 Die erste Monographie der Social Insurance Se ries, mit dem Titel "Unemployment Insurance", New York 1932, 2. erw. Ausg. 1935, beschäftigte sich mit den deutschen, britischen, dänischen, Schweizer und diversen öffentlichen und betrieblichen amerikanischen Einrichtungen. Leider waren die Notizen zu den Interviews, die in Deutschland geführt wurden, im Archiv der Metropolitan Life Insurance Company nicht auffindbar; auf deutscher Seite liegen nur Dankesbriefe und ein sehr detaillierter Fragebogen vor (BArch R 89 Nr.l047). 16 Vg!. Metropolitan Life Insurance Company, British Experience with Unemployment Insurance. A Summary of Evidence taken by the Royal Commission on Unemplyoment Insurance, Vo!. 7 -10, Series of Sodal Insurance (New York 1932 ff.) 17 Die besten Untersuchungen über europäische Versicherungs systeme wurden damals in den USA herausgegeben: Mary Bamett Gilson, Unemployment Insurance in Great Britain: The National System and additional Benefit Plans, New York 1931; Percy Cohen mit einer Ein!. von NeviIIe Chamberlain, The British System of Sodal Insurance, New York 1932; Helen Fisher Hohmann, The Development of Sodal Insurance and Minimum Wage Legislation in Great Britain: A Study of British Sodal Legislation in Relation to a Minimum Standard of Living, Boston/New York 1933; National Industrial Conference Board, Unemployment Insurance: Lessons from the British Experience, New York 1934; E. Wight Bakke, Insurance or Dole: The Adjustrnent of Unemployment Insurance to Economic and Sodal Facts in Great Britain, New Haven 1935; Isaac M. Rubinow, The Quest for Security, New York 1934.

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Bedeutung. Denn über den speziellen Bereich dieses Versicherungszweiges hinaus wurden allgemeine, keineswegs nationalspezifische Grundprobleme sozialer Sicherungssysteme thematisiert; in allen Ländern tauchten vergleichbare Probleme auf und wurden ähnliche Fragen diskutiert 18 • Welche Art von Rechten sollten und konnten durch öffentliche Versicherungen gewährt werden? Welche institutionellen und technischen Vorkehrungen waren erforderlich, um diese Rechte zu sichern? Die Vertreter von Metropolitan Life meinten schon gleich nach den ersten Gesprächen in Genf: ,,Many people feel that we will learn in Europe what not to do [in the United States],,19. In der Folgezeit war immer wieder zu hören, daß es in Amerika die Fehler zu vermeiden gelte, die man in Europa gemacht hatte; man wolle mehr als nur "europäische Methoden kopieren", hieß es seitens des CES in seinem Bericht an den Präsidenten2o . Hinter diesen Bekenntnissen verbirgt sich die Rezeption einer konservativen Kritik, die in der Regel nicht die Prinzipien der Sozialversicherung, wohl aber ihren spezifischen Ausbau seit dem Weltkrieg in Frage stellte. Sie fiel nicht zuletzt deshalb auf fruchtbaren Boden, weil aus Sicht Roosevelts und der Reformer, die er mit der Ausarbeitung des Social Security Acts betraut hatte, in den Vereinigten Staaten ähnliche politische Gefahren wie in Europa lauerten. Der Streit in Großbritannien entzündete sich vor allem an der raschen Ausweitung von Leistungen, wobei, wie die Kritiker argumentierten, die Versicherung ihren ursprünglichen Charakter weitgehend verloren hatte. Die Rede war von der "Politisierung" und "unverantwortlichen Ausdehnung" der Versicherung, die sich nach dem Weltkrieg zum "Spielball von Sonderinteressen", namentlich der Arbeiterbewegung, entwickelt habe 21 • Tatsächlich hatte sich die britische Arbeiterbewegung nach dem Krieg nachhaltig für die Beseitigung der verhaßten Bedürftigkeitsprüfungen des alten Armengesetzes eingesetzt, mit der Folge, daß auch Versicherungsleistungen ohne bzw. bei unzureichenden Beitragszahlungen gewährt wurden. Diese "extended", "transitional" oder "uncovered" Leistungen für Personen ohne Anwartschaften wurden nun auf der Grundlage eines Rechtsanspruchs ("statutory right") verliehen. Die Grenzen zwischen Versicherung und Versorgung wurden damit verwischt, wobei die rapide steigenden Aufwendungen für die Versicherung auf den Staat abgewälzt wurden: Aus der Versicherung wurde nach Meinung der Kritiker eine "dole", d. h. ein öffentliches Unterstützungsprogramm. Der Premier 18 Vgl. die Länderstudien zu Großbritannien, Deutschland, Belgien, der Schweiz des Social Security Boards: Social Security in America: The Factual Background of the Social Security Act as Summarized from Staff Reports to the Committee on Economic Security, published for the Committee on Economic Security, Washington, D.C. 1937, S. 17 - 54. 19 FrankellCraig, Notes on Geneva, S. 8. 20 Comrnittee on Economic Security, Report to the President, Washington 1935, S. 50. 21 Zum folgenden Punkt siehe auch: Alan Deacon, In Search of the Scrounger: The Administration of the Unemployment Insurance in Britain, London, 1976; Bentley Gilbert, British Social Policy, 1914-1939, London 1970; Derek Fraser, Evolution of the British Welfare State, London 1973, S. 172 - 183.

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Ramsey MacDonald erklärte schon im Mai 1931 den Amerikanern von Metropolitan Life, es gäbe eine große Diskrepanz zwischen dem, was wünschenswert und dem, was machbar sei; Forderungen der Gewerkschaften nach auskömmlichen Leistungen waren nicht nur in seinen Augen unrealistisch22 . Den Pionier der englischen Sozialversicherung, Lloyd George, erinnerte das ganze System an die biblischen "Arbeiter im Weinberg" (Matthäus 20, 1-16), die sich früh zur Arbeit einfanden, aber nicht mehr bekamen als die, die zur elften Stunde kamen. Wie die meisten Kritiker befürwortete Lloyd George die Rückkehr zu einer Versicherung, die auf einer "acturial basis", dem Versicherungsprinzip, aufgebaut war23 . Diese englischen Debatten und Reforminitiativen fanden in den USA einen außerordentlich starken Nachhall. Die U.S. Chamber of Commerce wies schon 1931 darauf hin, daß ein "ursprünglich gesundes Versicherungssystem" nicht nur zu einem "hoffnungslos insolventen" staatlichen Unterstützungssystem, sondern auch zu einem "hochpolitischen Thema" degeneriert sei 24 . Francis Perkins kehrte aus Großbritannien. als glühende Verfechterin der Arbeitslosenversicherung zurück, wobei sie in ihrem Bericht an Roosevelt aber monierte, daß hier "Fürsorge mit Versicherung vermischt wurde, Versicherungsprinzipien über Bord geworfen wurden und Politiker das Ausmaß der Leistungen ohne Rücksicht auf Beiträge erweitert hatten,,25. Mit dieser Kritik konnte sich auch Roosevelt identifizieren. Im Vorfeld der Ausarbeitung des Social Security Acts betonte er gegenüber seiner Arbeitsministerin Perkins immer wieder: "I'm against the dole, Francis. Don't you get any dole in here,,26. Derartige Warnungen bezogen sich wohlgemerkt gleichermaßen auf die Arbeitslosen- wie auf die Pensionsversicherung. Schon 1931 erklärte Roosevelt mit Blick auf die im Jahr zuvor im Staat New York eingeführten staatlichen Fürsorgernaßnahmen für Senioren, daß sie zwar den Vorteil hätten, die bisherige Form der Armenunterstützung und des Armenhauses abzulösen, schränkte jedoch ein: "Jede Ausweitung des Grundgedankens dieses Gesetzes könnte den Charakter öffentlicher Almosen ("dole") annehmen. Unsere amerikanischen Senioren wollen jedoch kein Almosen, sondern Renten, die sie sich selbst durch ihren eigenen Reiß und ihre eigene Voraussicht rechtmäßig erworben haben,m. Diese Forderungen Interview am 6.5.1931 (Met. Life, Box 070304). Interview am 13. 5. 1931 (ebenda). 24 U.S. Chamber of Commerce, Report of the Committee on Continuity of Business and Employment, October 1931, S. 33 f.; ein anderer Beobachter meinte, ,,[the British system] had been made the football of party politics", John G. Gall, The Advisability of the Social Security Bill in the Light of Foreign Experience, in: National Association of Manufacturers, The Social Security Bill, New York 1935, S. 8-15, hier 10. Vgl. auch Rogers, Atlantic Crossings, S. 433-435. 25 Zitiert in: Nelson, Unemployment insurance, S. 167. 26 Zitiert in: George Martin, Madame Secretary: Francis Perkins, Boston 1976, S. 223. 27 Metropolitan Life, The Problem of Old Age Dependency. Some Observations on its Relief and Prevention, 0.0. 0.1. (1932), S. 24. 22 23

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nach Trennung von Versorgung, der "dole", und Versicherung stieß im Kreis des CES auf breite Zustimmung. Vor allem Edwin Witte, der als Executive Director ganz maßgeblich die Ausarbeitung des Social Security Acts in der Hand hatte, entpuppte sich bald als ein vehementer Verfechter des Versicherungsprinzips, das es gegen "utopische Versorgungspläne" zu verteidigen gelte 28 • Der britische "Unemployment Act" von 1934 diente den amerikanischen Reformern als wichtiges Vorbild. Die scharfe Trennung zwischen einerseits einer Arbeitslosenversicherung, die Leistungen auf der Grundlage von Beitragszahlungen zu einem Rechtsanspruch machte und Wartezeiten sowie Leistungsdauer bestimmte, und andererseits einer speziellen Arbeitslosenfürsorge unter der Obhut des neu geschaffenen "Unemployment Assistance Boards", deren Leistungen von der Prüfung der individuellen Bedürftigkeit abhängig waren, fand auch in der Alterssicherung nach dem Social Security Act ihre Entsprechung. Fixiert wurde damit die Zweiteilung des Systems sozialer Sicherung in einen Versicherungs- und einen Fürsorgezweig, wobei die Reformer in den USA die Versicherung konzeptionell ganz in den Mittelpunkt des neuen Systems rückten. Da in den Vereinigten Staaten zu keinem Zeitpunkt die englische Tradition einheitlicher Leistungen, der sog. "flat-rate-benefits", auch nur zur Debatte stand, könnte man etwas pointiert formulieren, daß das Vorbild der englischen Reformen mit ihrer Betonung des Versicherungsgedankens auch dazu beitrug, eben die englische Tradition der Armengesetzgebung zu überwinden29 .

ll. Metropolitan Life zog aus den Erfahrungen in Europa den Schluß, daß es für die Gesellschaft nicht opportun sei, "to experiment with unemployment insurance,,3o. Der Vorteil öffentlicher Versicherungseinrichtungen schien unbestritten. Das gilt auch für die staatliche Altersvorsorge. Öffentliche Altersversicherungen mit ihren geringen Leistungen träten nicht notwendigerweise in Konkurrenz zur privaten und betrieblichen Vorsorge; im Gegenteil, öffentliche und private Systeme könnten sich ergänzen31 . Die Entscheidung, auch in den USA öffentliche Einrichtungen der Sozialversicherung zu schaffen, vor allem der Bundesregierung ganz neue Kompetenzen zu verleihen, ging aber nicht auf die Initiative privater Unternehmen zurück 32 . Schlabach, Edwin Witte, S. 135 -144, 160-163. Interessanterweise wurde diese Rezeption des Modells in der amerikanischen Forschung nicht beachtet, auch nicht von Ann Shola Orloff, The Politics of Pensions. A Comparative Analysis of Britain, Canada, and the Uni ted States, Madison, Wisc. 1993. 30 Memorandum, vorgestellt von Roderic Olzendam, Social Insurance Research Director der Metropolitan Life Insurance Company beim Joint Legislative Committee on Unemployment des Staates New York, New York Dec. 1932, S. 4 ( Met. Life, Box 070304). 31 Marquis, Metropolitan Life, S. 338. 32 In der amerikanischen Diskussion wurde von einigen Autoren die unternehmerische Initiative maßlos übertrieben, vgl. die kritische Zusammenfassung der Literatur bei Orloff, Politics of Pensions, S. 296 f. 28

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Präsident Roosevelt selbst unternahm diesen verfassungspolitisch höchst bedeutsamen Schritt, als er 1934 das CES mit der Ausarbeitung des Entwurfs eines Sozialversicherungsgesetzes beauftragte. Die Wirtschaftskrise war auch in den USA die Zeit der Exekutive33 . Nichts deutet darauf hin, daß diejenigen, die die europäische Entwicklung verfolgt hatten, den Schritt Roosevelts erwartet hatten. Aber es ist zugleich bezeichnend, daß die Mehrheit der Reformer im CES, darunter auch Vertreter von Unternehmen, diese Initiative nicht nur sofort aufgriffen, sondern auch die stark zentralistischen Lösungen Europas favorisierten. Das gilt gleichermaßen für die Arbeitslosen- wie die Altersversicherung34 . Die Entscheidung, der Bundesregierung weitreichende Aufgaben auch im Bereich der sozialen Sicherheit zu übertragen, warf strittige Fragen auf. Wie ließ sich die "Politisierung" sozialer Einrichtung verhindern? Die Ablehnung der "dole" zugunsten der Versicherungslösung stellte eine wichtige Grundsatzentscheidung dar. In den Vordergrund rückte in diesem Zusammenhang der Finanzierungsmodus einer künftigen Rentenversicherung. Die Meinungen darüber gingen scharf auseinander, in Europa wie in den USA. Eine Gruppe von Reformern argumentierte, daß man sich über die Zukunft der Stabilität einer Rentenversicherung wenig Sorgen zu machen brauche. Ein hoher Beamter der dänischen Alterspensionskasse erklärte den skeptischen Vertretern von Metropolitan Life in diesem Sinne, daß man in seinem Land der Auffassung sei, "daß so wie wir uns um unsere Vater gekümmert haben, so werden unsere Kinder sich um uns kümmern, wenn sie an der Reihe sind,,35. Auch Deutschland hatte nach der Inflation 1924 seine Rentenversicherung auf einem derartigen "Generationenvertrag,,36 aufgebaut. Die erwerbstätige Generation der Gegenwart habe, so das diesem System zugrundeliegende Prinzip, eine Pflicht gegenüber den Alten, die in früheren Jahren ihrerseits Leistungen für den Staat und die jüngere Generation erbracht hatten. Vor dem Hintergrund der Vernichtung der Versicherungsvermögen durch die Inflation handelte es sich im Fall Deutschlands zugleich um ein Argument der Opportunität, wollte man die überkommene Rentenversicherung beibehalten, angemessen hohe Renten zahlen und den Reichshaushalt nicht übermäßig belasten37 . Zugleich ist nicht zu übersehen, daß man in den meisten anderen 33 Bezeichnend dafür ist, daß die Frage von Metropolitan Life "Was würden Sie tun, wenn Sie Mussolini wären?" offenbar bei keinem ihrer Interviewpartner in Europa auf Widerspruch stieß. 34 Edwin E. Witte, The Development of the Social Security Act, Madison 1970; vgl. auch Committee on Economic Security, Report to the President; Skocpol / Ikenberry, Political Formation, S. 120-131. 35 Interview with Mr. Konrad, Copenhagen, 3. 7. 1931 (Met. Life, Box 070303); Metropolitan Life, The Problem of Old Age Dependency, S. 25. 36 Der Begriff des Generationenvertrags war zwar in den 1920er Jahren nicht gebräuchlich, wurde aber von dem christlichen Bergarbeiterführer Heinrich Imbusch benutzt, vgl. Martin H. Geyer, Die Reichsknappschaft. Versicherungsreformen und Sozialpolitik im Bergbau 1900-1945, München 1987, S. 153-156.

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europäischen Rentenversicherungen ganz ähnlichen Überlegungen folgte, auch wenn in der Regel eine langfristige Kapitalakkumulation vorgesehen war. In der 1925 in England geschaffenen Pensionsversicherung, die die bis dahin staatsfinanzierten Pensionen ablösen und Versicherungsleistungen (auf der Grundlage von Einheitsleistungen) als Rechtsanspruch sicherstellen sollte, kalkulierte man zwar mit langfristig steigenden Beiträgen zur Finanzierung der wachsenden Rentenlast; zugleich rechnete man aber mit ebenfalls zunehmenden Staatsbeiträgen, da, wie der damalige Schatzkanzler, Winston Churchill, argumentierte, sonst das ganze System überhaupt nicht in Gang gebracht werden könne und die gegenwärtige Generation alter Männer und Frauen leer ausgehen würde: "Here, then, is where the State, the capitalist State, with its strong and stable finance, with its carefullyguarded credit, can march in to fill the immense gap,,38. Es ist kein Zufall, daß eine derartige Lösung der Finanzierungsfrage in Europa wie in Amerika viele Anhänger hatte, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen: wegen der ihr zugrundeliegenden Vorstellung nationaler und sozialer Solidarität, wegen der Herleitung der Altersversorgung aus der Armenfürsorge und ihrer engen Verbindung mit dieser, wegen der Sorge, daß sonst keine adäquaten Leistungen gewährt werden könnten, oder weil man einfach der Meinung war, daß das Wohlbefinden der Bevölkerung in der Gegenwart Priorität habe und daß sich für Probleme in der fernen Zukunft immer auch Lösungen finden lassen würden. Für Verfechter von ,,reinen" Versicherungslösungen waren solche Annahmen fundamental unseriös, ja politisch höchst gefährlich. Sie verstießen gegen das Gebot der Vernunft. Eine auf dem reinen Umlageverfahren aufgebaute Rentenversicherung unterschied sich, je mehr sie zum "Generationenvertrag" hin tendierte, dem Prinzip nach nur wenig von steuerfinanzierten Systemen. Leistungen drohten von Parlamenten ohne Rücksicht auf künftige Kosten erhöht zu werden. Der Vorsitzende des CES, Edwin Witte, der zum Vorkämpfer einer "actuarial sound" Versicherungs lösung wurde, brauchte nicht unbedingt auf Europa zu verweisen, um auf die drohenden Gefahren aufmerksam zu machen 39 . Die Versorgung der amerikanischen Kriegsveteranen war für die amerikanischen Reformer ein Negativbeispiel, da sich dahinter ein kryptisches, ausgesprochen politisiertes System der Versorgung für amerikanische Staatsbürger verbarg, das schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine starke Ausweitung der Bezugsberechtigten über den eigentlichen Kreis der Veteranen hinaus zur Folge gehabt hatte. Wie Kritiker stereotyp argumentierten ,,[War Veterans Pensions] had been put up for sale by the party who gets the greatest benefit,,4o. Angesichts der heftigen Agitation des schon erwähnten 37 Vgl. den Beitrag von Karl Christian Führer in diesem Band; Martin H. Geyer, Soziale Rechte im Sozialstaat: Wiederaufbau, Krise und konservative Stabilisierung der deutschen Rentenversicherung, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S.406-434. 38 Metropolitan Life, The Problem of Old Age Dependency, S. 29f.; vgl. auch die kurze Darstellung des Social Security Board, Socia! Security in America, S. 442 - 449. 39 Schlabach, Edwin Witte, S. 100 - 110.

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Townsend Pension Movement für steuerfinanzierte Pensionen, mußte man, so die Befürchtung, mit dem Umlageverfahren vom Regen in die Traufe kommen41 . Ein anderes Negativbeispiel stellten die amerikanischen Werkspensionskassen dar, deren versicherungsmäßige Bilanzen in einigen Fällen riesige Defizite aufwiesen. In der Phase wirtschaftlicher Hochkonjunktur waren diese Defizite nicht so sehr aufgefallen. Erst als seit 1930 die Altersarbeitslosigkeit auf die Pensionskassen abgewälzt wurde, traten diese Mängel zum Vorschein, wobei zahlreiche Firmen nun einen Offenbarungseid leisten und in einigen Fällen sogar ihre Pensionspläne einstellen mußten. Besonders kritisch war die Lage bei den amerikanischen Eisenbahnen, die seit jeher ein wenig solides Finanzgebaren an den Tag gelegt hatten und die nun besonders von der Wirtschaftskrise betroffen waren. Die parallel zum Social Security Act neu geschaffene bundesstaatlich verwaltete Pensionskasse für Eisenbahner fungierte in diesem Fall als Auffangbecken, deren Kosten sehr weitgehend vom Bundeshaushalt gedeckt wurden42 . Die finanziellen Schwierigkeiten der Werkspensionskassen ließ Metropolitan Life schon 1932 zu dem Schluß kommen, daß, egal ob eine künftige Pensionsversicherung privat oder staatlich organisiert werden würde, "the magnitude of the obligations which it places upon present or future generations should be thoroughly investigated and understood. Nor should the question of the security behind the expectations which it holds out to present and future wage earners, or the possible effect of the plan upon political institutions, morale of the people, and upon the economic stability of the country be lightly passed over.,,43 Die im internationalen Vergleich "reife" deutsche Rentenversicherung diente den Reformern nicht nur als Vorbild, sondern auch als Menetekel; denn rückläufige Beitragszahlungen drohten nach 1930 plötzlich riesige Deckungslücken aufzureißen. Nicht zuletzt weil innerhalb der vierzig Jahre ihres Bestehens alle unterschiedlichen Finanzierungsformen erprobt worden waren, widmete das CES der deutschen Versicherung eine sehr ausführliche Darstellung 44 . Das deutsche Bei40 Albert HaJstead, Generalkonsul in London, während der Debatte im American Club (Anm. 10). S. auch Skocpol, Protecting Soldiers and Mothers, S. 533 - 536; Orloff, The Political Origins, S. 45 - 52. 41 Die Gefahr, die darin gesehen wurde, wird daran deutlich, daß Witte 1934 anregte, Townsend und seiner Organisation die Benutzung der Post zu untersagen, vgl. Schlabach, Edwin Witte, S. 109. 42 Murray W. Latimer, Industrial Pension System in the United States and Canada, 2 Bde., New York 1932, Bd. 1, V, Kap. XIX; Metropolitan Life, The Problem of Old Age Dependency, S. 39-47. Offenbar wurde ein Teil der Anwartschaften der bankrotten Werkspensionskassen durch den Social Security Act abgedeckt, vgl. den Brief von Witte an Wilbur Cohen vorn 30. 3. 1939 (State Hist. Society, Madison, Wisc.,Witte Papers, Box 132), in dem er sich über die eigennützigen Motive der Unternehmen und speziell der Versicherungsgesellschaften bei der Behandlung des Social Security Acts beklagt. 43 Metropolitan Life, The Problem of Old Age Dependency, S. 47. 44 SociaJ Security Board, Social Security in Arnerica, S. 469-497. Die Studie wurde von Marianne Sakrnann unter der Anleitung von Edwin Witte erstellt. Es handelt sich m.E. um

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spiel zeigte, wie ein einmal etabliertes Rentenversicherungssystem trotz zeitweise widriger ökonomischer Umstände kontinuierlich expandierte, indem nicht nur neue Personengruppen, sondern auch neue Leistungen einbezogen wurden. Weder politische Regimewechsel noch Inflation oder Deflation konnten im Falle der deutschen Rentenversicherung (im Gegensatz zu der 1932 de facto demontierten Arbeitslosenversicherung) den einmal eingeschlagenen institutionellen Entwicklungspfad aufhalten. Für die amerikanischen Reformer war dies eine wichtige Beobachtung, da mit dem Social Security Act zunächst einmal eine eigene, ausbaufähige Sozialstaatstradition begründet werden sollte. Zugleich illustrierte das deutsche Beispiel grundsätzliche Probleme einer jeden Rentenversicherung: Prognosen hinsichtlich der Zukunft waren höchst unsicher; niemand konnte im Kaiserreich die Folgen von Krieg und Inflation voraussehen. Daraus wurden zusammenfassend wichtige Schlußfolgerungen gezogen: ,,A sodal insurance scheme is not aseparate entity; it is an integral part of the economic Iife of a nation, and the forces which influences our enterprises shape its course as weil. It

changes its character with a change in govemment, becomes more liberal when labor has political power, and is limited in scope when labor is suppressed. It is not a scheme that is adopted once and for all rather it is in a constant state of flux reflecting all changes in the economic Iife of a country. It was "under control" under the monarchy of pre-war Germany, and benefits were increased only if a careful investigation of the finances seemed to justify such a change. Never was labor allowed to exert political press ure for higher benefits. This situation was changed entirely under the Republic. There we find frequent increases in benefits, extension of benefits to new groups of workers, and this in spite of the doleful prophesies of the actuaries that a deficit was impending. ,,45

Deutschland zeigte in anderen Worten, daß das Sozialversicherungssystem auf das engste mit den wirtschaftlichen Entwicklungen des Landes verknüpft war, daß es nicht stabiler war "than the government or the financial condition of the country which administers it,,46. Mit dieser Diagnose verband sich eine gewisse Skepsis, daß man, wie es hieß, auf dem Verordnungswege zu einem reinen, versicherungsmäßigen Deckungsverfahren und damit zum Status quo der Vorkriegszeit zurückkehren könne47 • Genau das strebte aber die deutsche Ministerialbürokratie des Reichsarbeitsministeriums seit dem Einbruch der Wirtschaftskrise mit großer Zielstrebigkeit und unter Inkaufnahme massiver Leistungskürzungen an. Wie man in den USA sehr wohl registrierte, wurde damit binnen weniger Jahre die Gesetzgebung der vorangegangenen Jahre aufgerollt48 . Auch wenn man den deutschen die wohl beste Darstellung der rein faktischen Entwicklung der deutschen Rentenversicherungbis 1933/34. 45 Sodal Security Board, Social Security in America, S. 496 (Hervorheb. durch den Verf.). 46 Ebenda, S. 477. 47 Ebenda. 48 Martin H. Geyer, Soziale Rechte; ders., Bismarcks Erbe - weIches Erbe?, in: Lothar Machtan (Hrsg.), Bismarcks Sozialstaat. Beiträge zur Geschichte der Sozialpolitik und zur sozialpolitischen Geschichtsschreibung, Frankfurt/New York 1994, S. 280-309.

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Kurs anfangs mit einiger Skepsis beurteilte, ist nicht zu übersehen, daß sich aus der Sicht gerade Edwin Wittes Deutschland auf dem rechten Weg befand. Nach einer kurzen Stippvisite in Berlin im Jahr 1935, wo er auch die Gelegenheit hatte, mit Vertretern des Reichsarbeitsministeriums zu sprechen, notierte er mit einiger Befriedigung in sein Tagebuch, daß nun das ganze deutsche System auf eine "actuarial sound basis" gestellt sei und daß alle Änderungen ganz im Geiste der deutschen Versicherungstradition stünden. Die Einschränkung, daß "Kommunisten und Juden" im Zusammenhang mit der Einführung des "Führerprinzips" aus administrativen Positionen entfernt worden seien, erwähnte er nur nebenbei49 . Witte und andere amerikanische Versicherungsexperten stimmten mit den deutschen Ministerialbeamten, aber auch den meisten ausländischen Versicherungsexperten in der Ablehnung des Umlageverfahrens überein. Der Grund dafür ist nicht nur darin zu suchen, daß Rentenversicherungen, die, wie die deutsche nach 1924, auf dem Umlageverfahren beruhten, als sehr krisenanfällig galten. Diese Krisenanfälligkeit war, so die verbreitete. Meinung, nicht per se im Umlageverfahren begründet, sondern in der Art und Weise, wie ein darauf basierendes Sozialversicherungssystem von den politischen Parteien vereinnahmt werden konnte. In dem oben angeführten längeren Zitat (S. 283), das auf den Einfluß der Arbeiterbewegung und die ohnmächtige Rolle der Versicherungsmathematiker abhebt, wird das gut deutlich. Juristen in der deutschen Sozialbürokratie mochten unter "Sicherung von Rechtsansprüchen" etwas anderes verstehen als ihre amerikanischen und allemal ihre britischen Kollegen. Alle waren sich aber darin einig, daß man einer politisch motivierten Expansion von Rechten entgegenwirken müsse. Eine versicherungsmäßige Deckung der Anwartschaften in der Rentenversicherung hatte denn auch zum Ziel, Vorsorge zu treffen, daß auf den Staatshaushalt in naher oder ferner Zukunft keine unkalkulierbaren Belastungen zukamen. Für die amerikanischen Reformer, die wie Witte aus der Tradition der amerikanischen Progressives mit ihrer Betonung der ausgeglichenen Staatshaushalte, der transparenten und rationalen administrativen Prozeduren sowie des "honest government" stammten 50, war das ebenso ein Selbstzweck wie für deutsche Ministerialbeamte, die die Krise der Staatsfinanzen im überzogenen Anspruchsdenken ausmachten und unter dem Slogan "Rückkehr zu Bismarck" den Staat gegen die vermeintliche Offensive gesellschaftlicher Gruppen und parlamentarischer Interventionen verteidigten51 • Die Rentenversicherung sollte Versicherungsexperten und nicht den politischen Tagebuch, 17.-18.7.1935 (State Hist. Society, Madison, Wisc.,Witte Papers, Box 239). "Only through a balanced budget could the moral credibility of the New Deal be maintained", schreibt Dean L. May, From New Deal to New Economics: The American Liberal Response to the Recession of 1937, New York 1981, S. 26,113; eine gute Zusammenfassung gibt James D. Savage, Balanced Budgets and American Politics, Ithaca, NY 1988, S. 143 ff., 158 ff.; Margaret Weir/Theda Skocpol, States Structures and the Possibilities for ,Keynesian' Responses to the Great Depression in Sweden, Britain and the Uni ted States, in: P. B. Evans u. a. (Hrsg.), Bringing the State Back in, Cambridge, Mass. 1985, S. 107 -163. 51 Geyer, Bismarcks Erbe. 49

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Interessen in die Hand gegeben werden. Diese Prämisse genoß den Status eines religiösen Gebotes 52 . Hielt man sich an die versicherungsmathematischen Regeln, so würde eine öffentliche Rentenversicherung gleich dem privatwirtschaftlichen Vorbild große Stabilität aufweisen. Mehr als alle anderen zeitgenössischen Rentenversicherungssysteme orientierte sich das amerikanische am privatwirtschaftlichen Modell. Die ausgeprägte Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen, das Fehlen von einheitlichen Grundbeträgen wie eines Staatszuschusses unterstrichen den versicherungsmäßigen, kontraktuelIen Charakter der künftigen Pensionen. Wie amerikanische Kritiker argumentierten, wurde der Staat gewissermaßen als Versicherungsanstalt konzipiert53 • Präsident Roosevelt hatte alles getan, um genau diesen Eindruck zu vermitteln; denn als er unmittelbar vor der bevorstehenden Unterzeichnung des Sodal Security Acts erfuhr, daß die geplante Rentenversicherung ab 1965 Bundesmittel benötigen würde, weil nur ein Kapital- und kein Anwartschaftsdeckungsverfahren vorgesehen war, ließen er und sein Finanzminister in letzter Minute Nachbesserungen am Gesetz vomehmen 54 • Damit schwenkte man in den USA zu der in Deutschland favorisierten Lösung einer reinen versicherungsmathematischen Deckung der Renten über.

ill. Die Initiatoren und Verteidiger des Social Security Acts rückten bei der Propagierung der neuen sozialpolitischen Institutionen die Schaffung neuer Rechte ganz in den Vordergrund: Roosevelts Argument, "that we put those payroll contributions there so as to give the contributors a legal und political right to collect their pensions and their unemployment benefits" spielte in der Öffentlichkeitsarbeit des neuen .,social Security Boards" eine wichtige Rolle 55 • Von der bundes staatlich organisierten Altersversicherung abgetrennt war ein steuerfinanziertes Versorgungssystem ("welfare") vorgesehen, das die Funktionen der alten Armenfürsorge 52 .,Except on the part of the actuaries. there is no religion in social insurance" • meinte der Abteilungsleiter für Sozialversicherung im Internationalen Arbeitsamt. Dr. A. Tixier. auch wenn sich Tixier im übrigen für die Bildung von Reserven aussprach. Interview mit Tixier•. 27.5.1931 (Met. Life Box 070305). 53 Douglas J. Brown. The American Philosophy of Social Insurance, in: Social Service Review 30 (1956). S. 1- 8. hier 6. Brown weist zu Recht darauf hin, daß die Konzeption sozialer Sicherung nicht in der britischen Tradition liegt, ders., British Precedent and American Old Age Insurance, in: American Labor Legislation Review 27 (1937), S. 18 - 23. 54 Witte betonte, daß alle Mitglieder des CES mit diesen Änderungen einverstanden waren, Edwin E. Witte, The Development of the Social Security Act, Madison 1970, S. 150. 55 Zitiert nach Arthur M. Schlesinger, The Age of Roosevelt, Bd. 2: The Coming of the New Deal, Boston 1959, S. 308 f.; auch für das Folgende vgl. Cates, Insuring Inequality, S. 5 - 21; Skocpoll Ikenberry, Political Formation, S. 134 -136; W. Andrew Achenbaum, Social Security's Three Rs. in: Gerald D. Nash u. a. (Hrsg.). Social Security. The First HalfCentury, Albuquerque 1988, S. 113 -144.

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übernahm; der Kongreß hatte diese auch aus Bundesmitteln finanzierte Versorgung - entgegen den Absichten der Reformer - weitgehend in die Hände der Einzelstaaten gelegt und die Schaffung nationaler Minimalstandards verhindert. Wahrend in den meisten europäischen Staaten staatliche Mittel für die Altersversicherung sicherstellen sollten, daß nach Inkrafttreten der Gesetze zumindest minimale Leistungen gezahlt werden konnten, entschied man sich in den USA dafür, diese Versorgungselemente ganz abzukoppeln. Die Versicherungsbeiträge, so das Argument, dürften keinesfalls mit Steuern verwechselt werden; vielmehr schufen sie - wie Prämien für eine Privatversicherung - Anrechte auf Leistungen, denen nicht der Geschmack von staatlichen Wohlfahrtsleistungen anhaften sollte. Entsprechend handelte es sich nicht um "kollektive" oder "soziale", sondern, wie immer wieder betont wurde, um "individuelle", von jedem einzelnen durch seine eigene Arbeit erworbene Rechte, die durch das zu akkumulierende Versicherungsvermögen gedeckt waren. Das paßte gut in die amerikanischen Rechtskultur mit ihrer Betonung individueller Rechte gegenüber der von Gruppen. Die Verfechter der Sozial versicherungslösung waren denn auch schnell dabei, von einem genuinen "American approach" zu sprechen56 . So typisch die amerikanische Zuspitzung des Versicherungsprinzips in der Altersversicherung auch war, so sind die Parallelen zur Entwicklung in Europa doch nicht zu übersehen. Zwar stand der defensive Reformimpetus, das Zurückschrauben von "überzogenen" Leistungen, in Deutschland und Großbritannien weit mehr als in den USA im Vordergrund, wo die Reformer den Befürwortern von staatsfinanzierten Pensionen Paroli zu bieten versuchten. Zugleich ist nicht zu übersehen, wie sehr der Social Security Act den Geist der konservativen Reformen in Europa atmete 57 . Daraus ergaben sich eine Reihe von strukturellen Ähnlichkeiten: 1. Der gravierendste Punkt war zweifellos, daß eine auf dem Anwartschaftsdeckungsverfahren aufgebaute Rentenversicherung keine Leistungen gewähren konnte, die auch nur annähernd die Aufrechterhaltung des früheren Lebensstandards möglich machten. Dazu hätten die Versicherungsbeiträge stark erhöht werden müssen. Hinzu kommt, daß 1942 zwar die ersten Rentenzahlungen hätten beginnen sollen; jedoch mußte es ein ganzes Arbeitsleben dauern, bis die ersten Versicherten die höchstmöglichen Renten erhielten. Bis dahin waren die Alten auf die Altersfürsorge mit ihren von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr unterschiedlich gehandhabten· Bedürftigkeitsprüfungen angewiesen. Das war ein in Deutschland seit langem bekanntes Dilemma. Auf dem Verordnungswege waren hier nach 1930 die aktuellen Leistungen und - das wird leicht übersehen! - vor allem auch die Anwartschaften stark gekürzt worden, um auf diese Weise den Übergang zum Anwartschaftsdeckungsverfahren einzuleiten. Zieht man zudem noch die in den USA wie in Deutschland wenig optimistischen, aus56 57

Skocpol/Ikenberry, Political Formation, S. 134f.; Cates, Insuring Inequality, S. 22-49. Darauf hat schon Ritter, Sozialstaat, S. 143, hingewiesen.

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gesprochen statischen wirtschaftlichen Zukunftserwartungen der Versicherungsmathematiker in Betracht, so offenbart sich das andere, ebenfalls nicht neue Dilemma, nämlich daß in der Sozialversicherung die Knappheitspostulate der Depressionszeit gewissermaßen als eisernes Gesetz bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts fortgeschrieben wurden. Dagegen regte sich gerade auch in Deutschland großer Unmut unter den Versicherten 58 . 2. Wie alle Versicherungs systeme war der Social Security Act auf einer "male breadwinner logic of welfare,,59 (Susan Pedersen) aufgebaut: Renten waren wie in Deutschland primär von der Erwerbsarbeit und nicht der Staatsbürgerschaft abgeleitet. Rentenbestandteile, die wie in Deutschland und Großbritannien den Familienstand berücksichtigten, waren in den USA nicht vorgesehen und im übrigen auch in Europa unter dem Slogan der Rückkehr zum Versicherungsprinzip radikal gekürzt oder gestrichen worden60 • Obwohl eine Novelle des Social Security Acts von 1939 auch Hinterbliebenenrenten einbezog, waren erwerbstätige Frauen - wie Personen mit unregelmäßiger Erwerbsbiographie generell - in einer vergleichsweise ungünstigen Position. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund plädierten auch viele New Dealer dafür, die Rentenfürsorge rasch auszubauen, ein Ansinnen, das auf massiven Widerstand der neuen Sozialversicherungsbürokratie und Roosevelts stieß61 • 3. Niedrige Leistungen und die Zentrierung des Systems auf Erwerbsarbeit hatten zur Folge, daß auch der amerikanischen Altersversicherung zunächst das Stigma einer Versicherung der Lohnarbeiter anhaftete. Hausangestellte und die Beschäftigten im Agrarsektor wurden, entgegen den ursprünglichen Plänen des CES, nicht der Versicherungspflicht unterworfen; dasselbe gilt für die Eisenbahnarbeiter und die verschiedenen Gruppen des öffentlichen Dienstes auf Gemeinde-, Staats- und Bundesebene, die über eigene Pensionskassen mit in der Regel besseren Leistungen verfugten62 .

Geyer, Reichsknappschaft, S. 315-319. Susan Pedersen, Family, Dependence, and the Origins of the Welfare State. Britain and France, 1914-1945, New York 1993, S. 17, vgl. bes. auch Kap. 6. Martha Derthick, Policymaking for Social Security, Washington 1979, S. 260-263. 60 Vgl. eben da. ftir Großbritannien; Geyer, Soziale Rechte. 61 Cates, Insuring Inequality, S. 50-85. 62 Als Begründung dafür wurden "organisatorische Gründe", nämlich die Schwierigkeit, binnen kurzer Zeit auf dem Land eine neue bundesstaatliche Administration aufzubauen, genannt. Neben der prinzipiellen Verteidigung der Rechte der Einzelstaaten stand dahinter (unausgesprochen) aber auch die Besorgnis des Südens, daß sich mit der Altersversicherung auch der Rechtsstatus der schwarzen Bevölkerung ändern würde. Witte, Development, S. 143 -145. Zur Bedeutung des Problems der Rassen vgt Dona Cooper Hamilton/Charles V. Hamilton, The Dual Agenda. Race and Social Welfare of Civil Rights Organizations, New York 1997, Kap. 4; Jill Quadagno, From Old-Age Assistance to Supplemental Security Income: The Political Economy of Relief in the South, 1935 - 1972, in: Weir u. a. (Hrsg.), Politics of Social Policy, S. 235 - 264, hier 237 - 239. 58 59

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Von Anfang an regten sich in den USA Widerstände gegen diese doppelte Verengung des Systems sozialer Sicherheit auf eine Versicherung der Unselbständigen und vor allem auf den Primat der Versicherung mit ihren niedrigen Leistungen. Die Pläne für eine umfassende Staatsbürgerversorgung waren darauf eine Antwort, in den USA wie in Deutschland: Steuermittel sollten höhere Leistungen ermöglichen; die Universalisierung der Mitgliedschaft die Beschränkung der Versicherung auf den Kreis der Unselbständigen überwinden helfen. Bei den Befürwortern der Versicherungslösung stießen derartige Vorschläge auf beiden Seiten des Atlantiks auf Ablehnung 63 • Ein entscheidender Unterschied zwischen den Reformern in Amerika und ihren Kollegen in Deutschland und Großbritannien bestand darin, daß die konservativen Reformer in der Ministerialbürokratie sehr viel stärker auf eine defensive Konsolidierung setzten, während ihre amerikanischen Kollegen im Social Security Act einen ersten Schritt hin zum Aufbau eines umfassenden Sozialstaates sahen: "Ein Programm wirtschaftlicher Sicherheit, wie es uns vorschwebt", hieß es im Bericht der CES, "muß als wichtigstes Ziel die Sicherstellung eines ausreichenden Einkommens für jeden Menschen während Kindheit, Jugend, Erwerbsleben und im Alter - bei Krankheit und Gesundheit - gewährleisten. Es muß ein Netz von Sicherungen bieten, gegen alle Gefahren, die zu Elend und Abhängigkeit führen. ,,64 Alters- und Arbeitslosenversicherung sollten zum Nukleus eines umfassenden Systems von Social Security werden. Kaum war Roosevelts Unterschrift unter dem Gesetz trocken, diskutierte man auch schon den Ausbau des bestehenden Systems, teilweise an die ursprünglichen Entwürfe des CES anknüpfend, teils auch darüber hinausgehend65 . Die weitreichenden Forderungen des Townsend Pension Movement wirkten dabei als treibende Kraft. In den ersten Kriegsjahren nahmen diese amerikanischen Pläne für einen Ausbau auf der Grundlage des Social Security Acts schnell konkrete Gestalt an, und noch bevor im Dezember 1942 Lord William Beveridge in Großbritannien seinen berühmten Bericht über "Social Insurance and Allied Services" vorlegte, gab es in den USA in die gleiche Richtung zielende Vorschläge und Pläne. Beveridge hatte von den Amerikanern den Begriff der Social Security entliehen66, dessen welt63 Auf diese unterschiedlichen Pläne, einschließlich die der Deutschen Arbeitsfront, kann hier nicht eingegangen werden; der Verf. arbeitet an einem Vergleich. 64 Committee on Economic Security, Report to the President, S. 3 65 Confidential Memo, 9. 11. 1936, B-l, B-11 (State Hist. Society, Madison, Wisc.,Witte Papers, Box 33). Zur Strategie des "Social Security Boards" siehe auch: Derthick, Policymaking, S. 23-27,195-198; SkocpollIkenberry, Political Formation, S. 130f. 66 Beveridge sprach zwar vom "trans-Atlantic origin" des Ausdrucks Socia! Security, rechnete es aber den Amerikanern zu, diesen eingeführt zu haben, vgl seine Rede, die dem "Social Security Board" vom State Department überstellt wurde: Social Security: Some Trans-Atlantic Comparisons (National Archives, Washington, RG 47, Correspondence of the Executive Director, 1941-1948,050.12, Box 50).

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weiter Siegeszug nicht zuletzt dank der Mithilfe amerikanischer Reformer im Zweiten Weltkrieg begann67 • Zur Enttäuschung der Reformer zeigte der überlastete Roosevelt nach dem amerikanischen Kriegseintritt jedoch an dem Thema wenig Interesse. Infolge der Stärke konservativer und rassistischer Abgeordneter stand der Ausbau der Sozialpolitik im Gegensatz zu Großbritannien in den USA während des Krieges nicht auf der politischen Agenda. Wichtig ist in diesem Zusammenhang ein anderer Punkt: In der alliierten Kriegspropaganda, die sich u. a. in der Atlantic Charter 1941 und der Philadelphia Erklärung der Internationalen Arbeitsorganisation 1944 niederschlug, rückten Grundfragen sozialer Sicherheit ganz in den Vordergrund der internationalen Nachkriegsordnung. Diese Nachkriegspläne fanden große internationale Resonanz68 • Kennzeichnend dafür ist die Tatsache, daß selbst im Reichsarbeitsrninisterium 1944 plötzlich der eingedeutschte Begriff Soziale Sicherheit auftauchte. Die Stoßrichtung war hier bemerkenswert ähnlich: Es handelte sich um einen Gegenentwurf zu den von der Deutschen Arbeitsfront propagierten Plänen einer Staatsbürgerschaftsversorgung. Dabei ging es nicht um die Konservierung der überkommenen Institutionen des Sozialversicherungssystems. Im Gegenteil, der "totale Krieg" diente als Begründung für eine Generalreform des deutschen Sozialversicherungssystems69 . Die seit 1942 propagierte Social Security hieß zunächst einmal Universalisierung der Risikoabsicherung durch soziale Einrichtungen. Nicht ohne Neid sahen die amerikanischen Reformer im Umkreis der neuen Sozialversicherungsverwaltung, daß der Slogan eines sozialen Schutzes "Von der Wiege bis zum Grab" William Beveridge und nicht ihnen und Franklin D. Roosevelt zugeschrieben wurde 70• 67 Auf diese Debatten gehe ich ausführlicher ein in meinem Aufsatz: Social Rights and Citizenship during the Second World War, in: Manfred Berg/Martin H. Geyer, Cultures of Rights in the United States and Germany (erscheint 2(01); die Reformbemühungen und die innovativen Ansätze der Reformer des "Social Security Boards" werden m.E. nicht ausreichend.berucksichtigt in dem wichtigen Aufsatz von Edwin Arnenta/Theda Skocpol, Redefining the New Deal: World War 11 and the DeveJopment of Social Provision in the United States, in: Weir u. a. (Hrsg.), Politics of Social Policy, S. 81-122; für einen guten Überblick vgl. Rogers, Atlantic Crossings, S. 489-508. 68 Für eine kurze Zusammenfassung vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 145-159; für eine gute Einordnung im Zusammenhang mit den skandinavischen Plänen und Reformen vgl. Peter Baldwin, The Politics of Social Solidarity. Class Bases of the European Welfare State 18751975, Cambridge u. a. 1990, Kap. 2. 69 Rundschreiben des Reichsarbeitsministers vorn 27. 9. 1944; Vermerk des Reichsarbeitsministeriums betr. Fortschritte der englischen Sozialversicherung, 10. 11. 1944 (BArch R 2 Nr. 18563). Einen Überblick über die Reformpläne während des Krieges gibt Marie-Luise Recker, Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg, München 1985; der Reformimpetus des Jahres 1944 wird von ihr m.E. falsch bewertet und nicht richtig eingeordnet. Der Verf. arbeitet an einern Vergleich der verschiedenen sozialpolitischen Nachkriegsund Reformpläne, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. 70 Arthur Altmeyer, The Formative Years of Social Security. A Chronic\e of Social Security Legislation and Administration, 1934-1954, Madison, Wisc. 1968, S. 142; Perkins, Roosevelt, S. 283.

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Diese Universalisierung der Risikoabsicherung verbanden die Amerikaner mit der Absicht, das gesamte System unter bundesstaatlicher Oberherrschaft institutionell zu zentralisieren. Das Herzstück einer solchen Zentralisierung war die Einführung eines Einheitsbeitrages für die gesamte Sozialversicherung, wie er von Beveridge ebenfalls vorgesehen war und 1944 mit Hinweis auf Verwaltungsvereinfachungen auch in Deutschland zur Debatte stand. Verfassungspolitisch hätte eine derartige Zentralisierung in den USA nachgerade revolutionäre Implikationen gehabt; nach 1945 erwiesen sich diese Pläne im Gegensatz zum Ausbau des Systems der Sozialen Sicherheit dann auch als völlig unrealistische Planspiele. Social Security hieß zweitens Universalisierung der Mitgliedschaft. Staatsbürgerschaft und soziale Leistungen sollten gekoppelt werden. Unselbständige Arbeit sollte nicht länger die Grundlage der Sozialversicherungspflicht bilden. Neben Landarbeitern und öffentlichen Bediensteten sollten auch Selbständige und Farmer in das soziale Netz mit einbezogen werden. Dieses Ziel wurde in den USA mit großer Zielstrebigkeit verfolgt und in der Nachkriegsgesetzgebung erfolgreich realisiert. Dahinter stand von Anfang an auch das Kalkül, denVerfechtern von Staatsbürgerpensionen das Wasser abzugraben 71. Das von den Amerikanern propagierte Konzept der Social Security setzte drittens ganz auf eine beitragsfinanzierte (Versicherungs)Lösung, wenngleich der Ausbau des sozialen Netzes umfangreiche Hilfsprogramme für einzelne bedürftige Gruppen vorsah. 1942 zielte Beveridge mit seinen Vorschlägen prinzipiell in die gleiche Richtung; denn auch ihm ging es um eine stärkere Fundierung des Systems durch Beiträge, ein Punkt, der angesichts der konkreten Entwicklung nach 1945 oft übersehen wird72 • Die Betonung des Versicherungsgedankens bedeutete Ende der 1940er Jahre aber nicht mehr das gleiche wie zur Zeit der Verabschiedung des Social Security Acts. Wenngleich in den USA die Reformer nach wie vor von der Fundierung des ganzen Systems auf dem "Versicherungsgedanken" sprachen, ist ein sukzessives Abrücken von einer versicherungsmäßigen Deckung der Rentenversicherung zu beobachten. Dieser Änderung des Finanzierungsverfahrens lag zu keinem Zeitpunkt eine klare konzeptionelle Planung zugrunde, sondern sie war vielmehr die Folge eines schleichenden Wandels. Ein erster wichtiger Schritt erfolgte mit der Novelle des Social Security Acts im Jahr 1939: Witwen- und Waisenrenten wurden eingeführt, ohne zugleich die Beiträge zu erhöhen; der Zeitpunkt der Auszahlung der ersten Leistungen wurde von 1942 auf 1940 vorgeschoben; zugleich wurde die im ursprünglichen Gesetz vorgesehene Beitragserhöhung für 1940 ausgesetzt, eine Praxis, an der der Kongreß trotz massiver Einwände der Social Security AdminisVgl. Geyer, Social Rights. Auf diese wichtige Frage kann hier nicht eingegangen werden, vgl. Michael S. Lund, Politics of a National Minimum Income: The Poor Law Coalition in Postwar Britain, in: Douglas E. Ashford/E. W. Kelley (Hrsg.), Nationalizing Social Security in Europe and America, Greenwhich, Conn. 1986, S. 25-58. 71

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tration während des Krieges und dann bis 1950 festhielt. Die versicherungsmathematische Deckung des Systems war damit völlig unterminiert, wenngleich die Bilanz der Rentenversicherung infolge der Kriegskonjunktur große Überschüsse aufwies73. 1950, also zu einem Zeitpunkt, als die Zahl der Rentenempfanger schnell zunahm,erhöhte der Kongreß schließlich die Renten auf einen Schlag um durchschnittlich 77 Prozent, womit der bis dahin eingetretene Kaufkraftverlust infolge der Nachkriegsinflation mehr als ausgeglichen wurde 74•

Verschiedene Faktoren lagen diesem schleichenden Übergang zum Umlageverfahren zugrunde. Konservative Abgeordnete wie Vertreter der Banken und der Wirtschaft sahen von Anfang an mit Mißtrauen die Entstehung eines gigantischen alternativen Kapitalmarktes, dessen sich die Bundesregierung bedienen konnte, sei es für den sozialen Wohnungsbau oder zur Durchführung der umstrittenen bundesstaatlichen Infrastrukturprojekte. Zugleich gewannen Politiker Einfluß, die einer Umverteilung zwischen den Generationen das Wort redeten und dabei argumentierten, daß für die Leistungsaufbringung in der Sozialversicherung die Leistungskraft der Volkswirtschaft von entscheidender Bedeutung sei. Sie konnten sich seit Ende der 1930er Jahre zunehmend auf eine Gruppe von keynesianischen Ökonomen auf beiden Seiten des Atlantiks berufen, die - zumal in der optimistischen amerikanischen Variante - eine Konsumgesellschaft auf der Grundlage stetigen wirtschaftlichen Wachstums und Vollbeschäftigung vorhersagten. Kapitalakkumulationen wie in der Rentenversicherung waren für sie, zumal in einer ,,reifen" Volkswirtschaft, nicht eine Tugend, sondern ein Übel, ja, es gab Stimmen, die die im Jahr 1937 in den USA erneut hereinbrechende tiefe Rezession mit dem Beginn der Erhebung der ersten Versicherungsbeiträge in Verbindung brachten. Die Kapitaldeckung der Renten wurde unter Keynesianern primär als ein Teilaspekt der Konjunkturpolitik thematisiert und rückte als Selbstzweck in den Hintergrund, auch wenn sie sich offenbar nicht systematisch mit diesem Thema auseinandergesetzt haben75. Schließlich darf die rein politische Opportunität, zwar die Leistungen, aber nicht die Beiträge zu erhöhen, als Erklärung für die Politik des Kongresses nicht unterschätzt werden. Ausgerüstet mit der seit 1935 propagierten, äußerst populären Versicherungsideologie, die besagte, daß jeder seine Leistungen "erarbeitet" und "verdient" habe und daß das System somit nicht auf der "dole" oder "welfare" aufbaute, erwies sich die Ausweitung der Versicherung, namentlich auch die Einbeziehung neuer Gruppen, als äußerst populär: Über Jahre konnte es nur "Gewinner" des neuen Systems geben. 73 Auch für das Folgende vgl. ebenda; Bruno Stein, Funding Social Security on a Current Basis: The 1939 Policy Change in the United States, in: Ashford I Kelley, N ationalizing Social Security, S. 105-125; Derthick, Policymaking, S. 213-292; John Myles. Postwar Capitalism and the Extension of Social Security into a Retirement Wage, in: Weir u. a. (Hrsg.), Politics of Social Policy, S. 265 - 284. 74 Mark H. Leff, Speculating in Social Security Futures. The Perils of Payroll Tax Financing. 1939-1950, in: Nash u. a. (Hrsg.), Social Security. S. 243-278, 269. 75 Stein, Funding, S. 116-119; ders., The Fiscal Revolution in America, Washington,

D.C. 1990, S. 169-204. 19"

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v. Amerika galt nie als Pionier auf dem Feld der Sozial(versicherungs)politik. Verweisen kann man in diesem Zusammenhang unter anderem auf die im internationalen Vergleich niedrige Sozialstaatsquote, die geringe Ausbildung von sozialen Minimalstandards und das Fehlen einer Krankenversicherung; viele amerikanische Wissenschaftler und Reformer haben in der Tradition des Townsend Pension Movement und mit Blick auf den skandinavisch-britischen Weg nach 1945 die starke Betonung des "konservativen" Versicherungsprinzips bemängelt. Wie in diesem Aufsatz gezeigt wurde, basierte der Social Security Act von 1935, mit dem in den USA eine eigene Sozialstaatstradition begründet wurde, in der Tat auf ausgesprochen konservativen Vorstellungen, die zugleich aber auch symptomatisch für die internationale Reformdebatte der Zeit der Wirtschaftskrise sind. Die Rentenversicherungspolitik während der Weltwirtschaftskrise, namentlich die Betonung des Versicherungsprinzips und die Wahl des Finanzierungsverfahrens, illustriert, wie sehr die Knappheitspostulate der Weltwirtschaftskrise ältere Ansätze, die in Europa auf Expansion und Liberalisierung abgezielt hatten, in Frage stellten: Die wirtschaftliche Kontraktion schlug sich in Europa in politisch wie sozial defensiv konzipierten Konsolidierungsbemühungen nieder, die auch den Social Security Act von 1935 konzeptionell prägten. Zugleich verdeutlicht die Entwicklung der amerikanischen Altersversicherung einen möglichen Weg des Ausbruchs aus der Kultur der Knappheit der 1930er Jahre, gegen die sich in allen Ländern Widerstand regte: Die Ausweitung des Kreises der Versicherten und vor allem die Erhöhung der Leistungen durch den de facto vollzogenen Übergang zum Umlageverfahren, das eingebettet war in ein robustes, wie viele nach 1945 meinten, zumindest in Umrissen planbares Wirtschaftswachstum, schufen dafür die Voraussetzungen.

Sozialistische Rentenreform ? Die Debatte über die Verbesserung der Altersversorgung in der DDR 1956/57

Von Dierk Hoffmann

Die SBZ/DDR hat bekanntlich beim Neuaufbau der Sozialversicherung nach dem Zweiten Weltkrieg einen anderen Weg beschritten als die Bundesrepublik und den deutschen Traditionspfad zum Teil deutlich verlassen. Über die Frage nach den Vorbildern für diesen Neuanfang wird in der wissenschaftlichen Zunft stellenweise kontrovers diskutiert. Während einige das Vorbild der Sowjetunion beschwören 1, verweisen andere auf Vorstellungen aus der Weimarer Republik, die sich mit neuen DDR-spezifischen Elementen vermischten 2 . Die Entstehungsgeschichte der Einheitssozialversicherung im Osten Deutschlands und der institutionelle Umbau der Sozialversicherung, der mit der Übernahme durch den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) endete, ist bereits hinreichend untersucht worden. Weitgehend unbeachtet ist dagegen die Phase Mitte der fünfziger Jahre geblieben, als im Zuge des xx. Parteitages der KPdSU auch in der DDR ein zaghaftes Tauwetter einsetzte, das von Walter Ulbricht aber - unter dem Eindruck des niedergeschlagenen Aufstandes in Ungarn - rasch wieder beendet werden konnte. Die im Zuge dieses sog. Tauwetters einsetzenden Reformbestrebungen werden in der historischen Forschung weitgehend auf den Bereich der Parteien (vor allem der SED), der Wirtschaft (speziell der Wirtschaftswissenschaften) und allgemein der Hochschulen und Universitäten beschränke. Der folgende Beitrag versucht, diesen 1 Vgl. Johannes Frerich/Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 2: Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, München / Wien 1993, S. 12. 2 Vgl. zu zahlreichen sozialpolitischen Themenfeldern die Beiträge im kürzlich erschienenen Sammelband: Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich. Hrsg. von Hans Günter Hockerts, München 1998. Zur Sozialversicherung der SBZ/DDR: Dierk Hoffmann, Sozialpolitische Neuordnung in der SBZ/DDR. Der Umbau der Sozialversicherung 1945 - 1956, München 1996. 3 Vgl. allgemein zum Tauwetter in Osteuropa: Das Jahr 1956 in Ostrnitteleuropa, hrsg. von Hans Henning Hahn/Heinrich Olschowsky, Berlin 1996; Inge Kircheisen (Hrsg.), Tauwetter ohne Frühling. Das Jahr 1956 im Spiegel blockinterner Wandlungen und internationaler Krisen, Berlin 1995. Vgl. speziell zur DDR: Thomas Klein/Wilfriede Otto/Peter Grieder, Visionen. Repression und Opposition in der SED (1949-1989), Frankfurt/Oder 1996,

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Blickwinkel etwas zu öffnen und auf ein zentrales sozialpolitisches Themenfeld zu lenken: die Altersversorgung. Diese hatte bei der Neuordnung der Sozialversicherung eine eher untergeordnete Rolle gespielt, was sich auch in der zum Teil unzureichenden materiellen Versorgung der Rentner ausdrückte. Für die SED-Führung genoß diese Bevölkerungsgruppe keine Priorität, da sie nicht mehr im Produktionsprozeß stand. Parallel zur Diskussion über die Rentenreforrn4 vollendete sich aus Sicht von SED- und FDGB-Führung die organisatorische Umgestaltung der Sozialversicherung, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann. Beides überlagerte sich im Laufe des Jahres 1956. Da die SED-Führung letztlich nur ein Ziel verwirklichte, nämlich die Übernahme der Sozialversicherung durch den FDGB, lassen sich daraus auch Rückschlüsse auf die mangelnde Reformfähigkeit in sozialpolitischer Hinsicht ziehen. Im folgenden sollen jedoch nicht nur die einzelnen sozialpolitischen Reformvorstellungen skizziert werden, sondern soll auch der Versuch unternommen werden, das Thema mit anderen für die Bewertung der DDRGeschichte zentralen Fragestellungen zu verknüpfen: der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte 5 sowie der Frage nach der Sowjetisierung6 . I. Rentenreform in der DDR?

Am 16. März 1956 befaßte sich das SED-Politbüro seit längerer Zeit wieder einmal mit Fragen der Altersversorgung in der DDR. Das wie immer äußerst knapp gehaltene Protokoll enthielt jedoch nur wenige konkrete Angaben. So erklärten die Politbüro-Mitglieder, daß die Höhe der gegenwärtigen Rentenzahlungen "nicht befriedigend" sei7 • Im Verlauf des zweiten Fünfjahrplanes sollte daher eine "Verbesserung" erfolgen. Finanzminister Willi Rumpf und der Mitarbeiter der Staatlichen Plankommission (SPK), Friedrich Behrens8 , wurden beauftragt, eine entS. 46-65, 241-280, 562-619; I1ko-Sascha Kowalczuk, Frost nach dem kurzen Tauwetter: Opposition, Repressalien und Verfolgungen 1956/57 in der DDR. Eine Dokumentation des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1997, S. 167-215; Ulrike Poppe/Rainer Eckert/llko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995. 4 Erstmals erwähnt bei Frerich/Frey, Sozialpolitik in der DDR, S. 335; Hans Günter Hockerts, Soziale Errungenschaften? Zum sozialpolitischen Legitimationsanspruch der zweiten deutschen Diktatur, in: Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, hrsg. von Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhlel Klaus Tenfelde, München u. a. 1994, S. 790-804, hier 797. 5 V gl. Arnd Bauerkämper / Martin Sabrow / Bemd Stöver (Hrsg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945 - 1990, Bonn 1998. 6 Vgl. dazu: Konrad Jarausch 1Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945 -1970, Frankfurt am Main/New York 1997. 7 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) DY 30/ J IV 2/2/464, BI. 7.

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sprechende Vorlage "mit mehreren Varianten" auszuarbeiten. Einen öffentlich wirksamen Anstoß für eine Reform der Rentenversicherung in der DDR sollte nach dem Willen einiger Mitglieder der SED-Führung die 3. Parteikonferenz bringen, die vom 24. bis 30. März in Berlin tagte und vor dem Hintergrund des XX. Parteitages der KPdSU und der Entstalinisierung in Osteuropa gesehen werden muß. Zur Vorbereitung der Konferenz war das Zentralkomitee (ZK) der SED am 22. März zusammengetreten. In der Diskussion spielten unter anderem Fragen der Arbeitszeitverkürzung und Rentenversicherung eine nicht unerhebliche Rolle. Einleitend zu den sozialpolitischen Themenbereichen hatte Walter Ulbricht, der auf der Parteikonferenz einen längeren Bericht halten sollte, darauf hingewiesen, daß die Renten im zweiten Fünfjahrplan zu verbessern seien. Gleichzeitig sprach er sich allerdings gegen eine grundlegende Änderung der Rentenversicherung zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus: "Das System der Rentenversorgung zu ändern, das ist eine Aufgabe, die erst bedeutend später steht. ,,9 Der für Wirtschaftsfragen zuständige Sekretär im ZK, Gerhart Ziller, gab sich mit Ulbrichts Perspektivplanungen aber nicht zufrieden, sondern sprach sich für eine weitergehende Verbesserung im Rentensystem aus. Nach seinen insgesamt recht vagen Vorstellungen sollten Altersund Invalidenrentner ,,50 % des bisherigen Monatsgehalts" 10 erhalten. Die Rentenhöhe ließe sich - so Ziller weiter - in verschiedene Kategorien unterteilen. Obwohl Ziller keine näheren Angaben zu seinem Reformkonzept machte, war doch offensichtlich, daß ihm eine Anbindung an die Löhne und Gehälter vorschwebte. Ulbricht, der aus finanzpolitischen Erwägungen heraus eine solche Reform für nicht realisierbar hielt, konterte daher auch sofort mit der Frage: "Wieviel kostet das im Jahre 1965?,,1I Die Diskussion im ZK der SED muß vor dem Hintergrund der mehrjährigen Debatte in der Bundesrepublik über eine grundlegende Sozialreform sowie die Verabschiedung der Rentenreform im Deutschen Bundestag 1957 gesehen werden l2 • 8 Dabei handelte es sich vennutlich um den Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Siatistik und Stellvertreter des Vorsitzenden der SPK. Gegen den Wirtschaftswissenschaftler und stellvertretenden Direktor des Instituts für Wirtschaftswissenschaften der Deutschen Akademie der Wissenschaften wurden 1956/57 Revisionismusvorwürfe erhoben, die zu einem Partei verfahren und letztlich zum weitgehenden Ausschluß aus Wissenschaft und Politik führten. Vgl. dazu: Wer war wer. Ein biographisches Lexikon, hrsg. von Jochen Cerny, Berlin 21992, S. 32; Wer war wer in der DDR. Ein biographisches Handbuch, hrsg. von Bernd-Rainer Barth u. a., Frankfurt am Main 1995, S. 51 f. 9 SAPMO DY 3D/IV 2/ I / 156, Stenographische Niederschrift der 26. Tagung des ZK der SED am 22. 3. 1956. Zitiert nach: Karl-Heinz Schmidt, Die Deutschlandpolitik der SED, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDikiatur in Deutschland". Hrsg. vom Deutschen Bundestag. Bd. V / 3: Deutschlandpolitik, innerdeutsche Beziehungen und internationale Rahmenbedingungen, Baden-Baden 1995, S. 2114-2293, hier 2268. 10 Ebenda, S. 2271. 11 Ebenda. 12 Vgl. Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980.

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Die öffentlich geführte Diskussion in Westdeutschland wurde von der SED-Führung aufmerksam verfolgt und hinterließ dort einen nachhaltigen Eindruck. Zillers Vorschläge lehnten sich punktuell an Programmteile der beiden Volksparteien CDU und SPD an. Ein wesentlicher Unterschied bestand jedoch in der fehlenden Dynamisierung der Renten, die in den Planungen der SED-Führung zu keinem Zeitpunkt vorgesehen war. Bei einzelnen ZK-Mitgliedern erhielt Ziller Unterstützung: So erklärte etwa Paul Verner, daß "die Tatsache gewisser Förderungsprogramme der CDU und insbesondere der SPD hinsichtlich der Pensionsberechtigung auf der Höhe von 75 % des letzten Jahresdurchschnittslohnes für die Arbeiter und Angestellten eine Frage [sei], mit der wir rechnen müssen."I3 Auf den Einwurf, daß dies doch nur "Wahlagitation" sei, antwortete Verner: "Was heißt Wahlagitation? Natürlich hast du recht. Aber die Frage ist nicht, wie wir das sehen, sondern wie das auf die Arbeiterklasse und die Werktätigen in Westdeutschland wirkt.,,14 Letztlich gelang es Ulbricht, die Diskussion über eine Rentenreform abzubrechen. Darüber hinaus war er davon überzeugt, daß es SPD und CDU nicht gelingen werde, die Höhe der Renten an die Entwicklung der Nettolöhne zu koppeln. Dies seien demagogische Forderungen, auf die man sich nicht einlassen wolle. Die SED könne "in der Frage der Demagogie mit ihnen [SPD und CDU] keinen Wettbewerb antreten."15 Eine Reform wollte Ulbrichtjedoch zu einem späteren Zeitpunkt nicht ausschließen: "Deshalb waren wir jetzt für Vorsicht, und wenn die sich festgelegt haben, werden wir mit der Rentenreform kommen. Dann werden wir einmal sehen, was herauskommt." Auf der 3. Parteikonferenz, bei der Wirtschaftsprobleme und die Beratung des zweiten Fünfjahrplanes im Mittelpunkt standen, behielt Ulbricht diese Linie bei. Während er sich "im Zusammenhang mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Senkung der Selbstkosten" für eine Erhöhung der Renten im Laufe des Jahres 1957 aussprach, war allerdings von einer späteren Rentenreform keine Rede mehr 16 . Wenige Wochen später - am 2. Mai 1956 - bildete das Politbüro eine Kommission, die allerdings nur für die "Arbeiter und das ingenieur-technische Personal bestimmter Industriezweige" konkrete Vorschläge für eine Neuregelung der Renten ausarbeiten sollte l7 • Der Kommission gehörten Gerhart Ziller, der Vorsitzende 13 Schmidt, Die Deutschlandpolitik der SED, S. 2272 f. Innerhalb der SED-Führung wurde ganz gezielt der Begriff "Pension" gewählt, um den Reformaspekt und die angestrebte materielle Verbesserung auch sprachlich deutlich zu machen. Nach Ansicht einiger SED-Sozialpo1itiker verband nämlich damit die "Arbeiterklasse traditionsgemäß [ ... ] die Vorstellung über eine gute und ausreichende Versorgung [ ... ], die jedoch früher nur den Beamten des kapitalistischen Staates zugebilligt wurde." SAPMO NY 4090/572, BI. 167174, hier 168, Notizen für Genossen Grotewohl betr. Fragen des neuen Pensionsrechts (o.D., o.Verf.). 14 Schmidt, Die Deutschlandpolitik der SED, S. 2273. 15 Ebenda, S. 2275. 16 Protokoll der Verhandlungen der 3. Parteikonferenz der SED, 24.-30. 3. 1956, Berlin (-Ost) 1956, S. 154. 17 Zitiert nach: SAPMO DY 30/IV 2/1/160, BI. 133.

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des FDGB-Bundesvorstandes Herbert Wamke, Fritz Macher und Willi Rumpf an. Die vom Politbüro eingesetzte Rentenkommission tagte bereits am 12. Mai und steckte den weiteren Fahrplan für die Richtlinienausarbeitung abis. Dazu wurde zunächst einmal die Reihenfolge der Industriezweige bestimmt, in denen die Rentenreform sukzessive verwirklicht werden sollte. An der Spitze standen die Wirtschaftsbranchen der Schwer- und Grundstoffindustrie, das Schlußlicht bildete die Lebensmittelindustrie. Auch hier spiegelte sich das wirtschaftspolitische Verständnis der SED-Führung wider, nach dem den schwerindustrielIen Sektoren Vorrang einzuräumen war - etwa bei der Lohngestaltung, aber auch bei Fragen der Altersversorgung. Darüber hinaus verständigten sich die Mitglieder der Kommission auf einen Termin für den Beginn der Reform, nämlich zum 1. Januar 1957. Auch darin folgten sie weitgehend den Vorstellungen des Politbüros. Eine Unterkommission, die sich interessanterweise auch mit der Rentenneuregelung in der UdSSR, Österreich und der Bundesrepublik zu beschäftigen hatte, sollte innerhalb von 14 Tagen entsprechende Vorschläge ausarbeiten und der Kommission vorlegen. Die ausgearbeiteten Vorschläge wurden am 22. Juni an alle Mitglieder und Kandidaten des ZK zur Vorbereitung der 28. ZK-Tagung verschickt l9 ; dort sollte offenbar das Thema "Rentenreform" erneut diskutiert werden. Das Konzept, das den bezeichnenden Titel "Vorschlag für eine neue Pensionsrege1ung für die Arbeiterklasse und alle Werktätigen" der DDR trug, zielte insgesamt auf eine stärkere Koppelung der Renten an die Löhne und Gehälter und damit auf eine Differenzierung der Rentenzahlungen. Berechnungsgrundlage sollte der Durchschnittsverdienst der letzten fünf Jahre vor Renteneintritt sein; die Leistungen bewegten sich den Plänen zufolge zwischen einer "Mindestpension" von 130 und einer "Höchstpension" von 600 DM. Bei einem Bruttoverdienst von bis zu 200 DM war eine Rente in Höhe von 70 Prozent vorgesehen, d. h. 140 DM. Nach den Vorstellungen der Rentenkommission sollte der Prozentsatz sinken, je höher das Einkommen stieg 20 : Bei einem Bruttoverdienst bis zu 600 DM waren 60 Prozent eingeplant, bei einem Einkommen über 800 DM nur noch 50 Prozent. Dadurch sollte vermutlich eine allzu starke Ausdifferenzierung der Renten verhindert werden; Nivellierungsbestrebungen sind auch bei diesen Reformvorschlägen unübersehbar. Darüber hinaus konnte aufgrund langer Betriebszugehörigkeit ein Zuschlag bis zu 15 Prozent gewährt werden. Als finanziellen Mehraufwand errechnete die Kommission für 1957 insgesamt 1,35 Milliarden DM; ein Ansteigen der Summe auf etwa 1,84 Milliarden DM für 1960 wurde erwartet. Am Beitragssystem mit seiner eingefrorenen Beitragsbemessungsgrenze (600 DM) sowie dem Beitragssatz (10 %) sollte dagegen nichts geändert werden. Nach den Vorstellungen der Kommissionsmitglieder war auch die Altersversorgung der Bergarbeiter weiter zu verbessern, wobei vor allem die Untertage-Beschäftigten gemeint waren. Völlig unverbindlich wurde außerdem 18 SAPMO DY 34/23960, Protokoll der Sitzung der Rentenkommission des Politbüros am 12. 5. 1956. 19 SAPMO DY 30lIV 211 1160, BI. 125 -179. 20 Ebenda, BI. 128.

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noch festgestellt, daß Anreize für Rentner geschaffen werden sollten, auch nach der Verrentung berufstätig zu bleiben. Ende Juni 1956 kehrte eine Studiendelegation nach Berlin zurück, die sich zwei Wochen lang in der Sowjetunion aufgehalten hatte, um unter anderem das sowjetische System der Altersversorgung kennenzulernen 21 . Solche Reisen waren ein zentraler Bestandteil der Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR und erstreckten sich inhaltlich auf nahezu alle Politikfelder2. So hatte sich beispielsweise schon im Frühjahr 1955 eine Studiendelegation in der Sowjetunion befunden, um sich über die dortige Lohnpolitik und Arbeitskräftelenkung zu informieren 23 . Der FDGB hatte noch früher, nämlich im Dezember 1952/ Januar 1953, eine Abordnung nach Moskau geschickt, die sich über die Gewerkschaftsarbeit und über Fragen der Sozialversicherung kundig machen wollte24 . Insofern stellte also das Instrument der Studienreise in die UdSSR keine Besonderheit dar. Die Reise im Juni 1956 gewann allerdings dadurch an Bedeutung, daß einzelne Delegationsmitglieder gleichzeitig auch Mitglieder der vom Politbüro berufenen Rentenkommission waren: Gerhart Ziller und Fritz Macher. Die beiden anderen Vertreter, Otto Lehmann und Fritz Schellhorn, saßen 1955 in der Kommission, die sich mit der organisatorischen Neuordnung der Sozialversicherung zu befassen hatte. Neben dieser personellen Zusarnrnensetzung war aber auch ein inhaltlicher Faktor bedeutsam: In der Sowjetunion brachte 1956 das sog. Rentengesetz den eigentlichen, gesicherten Einstieg in die gesetzliche Rentenversicherung 25 . Das System sozialer Sicherheit sah dort insgesamt keine Beitragszahlungen von der Arbeitnehmerseite vor; die Finanzierung erfolgte ausschließlich durch die Betriebe bzw. letztlich durch den Staatshaushalt26 . Das unterschiedliche Niveau der sozialen Leistungen in beiden Staaten und die vergleichsweise späte Einführung einer gesetzlichen Altersversorgung in der UdSSR erklären sich daraus. Deshalb müssen Forderungen von seiten der SED-Führung nach einer Angleichung der Sozialversicherung an das sowjetische Modell kritisch hinterfragt werden und können nur im Zusammenhang mit der allgegenwärtigen Propagandaformel "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen,,27 gesehen werden. BArch DE 1/11664, BI. 6-14. Dieses Thema ist m.E. nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Die Bedeutung der Delegationsreisen in die Sowjetunion wird für ein ausgewähltes Politikfeld diskutiert von: Monika Kaiser, Sowjetischer Einfluß auf die ostdeutsche Politik und Verwaltung 19451970, in: Jarausch 1Siegrist (Hrsg.), Arnerikanisierung und Sowjetisierung, S. 111- 133, hier 121 ff. 23 Vgl. BArch DQ 2/2209, Bericht der Studiendelegation (29.4.-26. 5. 1955). 24 Vgl. BArch DQ 2/581, Bericht der FDGB-Studiendelegation in der Sowjetunion (28.11. 1952-31. 1. 1953). 25 Pavel Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung 1917 -1977, Köln 1979, S. 19. 26 Ders., Sozialpolitik in der UdSSR 1950 - 1980. Eine Analyse der quantitativen und qualitativen Zusammenhänge, Baden-Baden 1983, S. 44. 27 Vgl. dazu auch: Jürgen DanyeI, Politische Rituale als Sowjetimporte, in: Jarauschl Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung, S. 67 - 86, hier 71 f. 21

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Aus dem überlieferten Reisebericht geht hervor, daß die ostdeutschen Vertreter ihren sowjetischen Gesprächspartnern die eigenen Vorstellungen für eine Neugestaltung der Rentenversicherung vorgetragen haben. Dabei wurden zum einen die strukturellen Unterschiede zwischen den Systemen der Altersversorgung in beiden Ländern deutlich, zum anderen aber auch die erheblichen Handlungsspielräume der DDR-Sozialpolitiker. So wurde im Bericht festgehalten, daß die Vorlage "die Zustimmung der sowjetischen Genossen" gefunden habe. Und weiter heißt es: "Was die verschiedenen dargelegten Varianten über einige Hauptfragen betrifft, so vertraten die Genossen die Meinung, daß sie uns bei der Wahl der richtigen Variante nicht beraten könnten, da dies von der genauen Kenntnis der Lage in der DDR und von der bisherigen Entwicklung abhinge. ,,28 Diese Aussage bezog sich vermutlich unter anderem auf eine Neueinteilung der Invalidenkategorien. Die Rentenkommission des Politbüros scheint vor dem Hintergrund dieser Gespräche dem sowjetischen Vorschlag gefolgt zu sein, sah doch der spätere Reformentwurf in diesem Punkte eine Festlegung von drei Invalidengruppen vor, die sich nicht mehr primär nach dem Prozentsatz der Invalidität orientierten, sondern die Möglichkeit einer Eingliederung in die Arbeitswelt zu berücksichtigen suchten 29• Bei der Ausarbeitung eines neuen Rentengesetzes diskutierten die beteiligten SED-Sozialpolitiker zwei unterschiedliche Varianten, die jedoch im nachhinein nicht mehr den entsprechenden Protagonisten zugeordnet werden können. Zur Beantwortung dieser Frage ist die Quellenlage unzureichend. Dagegen schälen sich aber die Umrisse der beiden Lösungsansätze etwas klarer heraus. Die erste Variante brach weitgehend mit dem bisherigen, auch noch in der DDR geltenden Prinzip, die Renten von der Höhe der Beiträge und der Anzahl der Beitragsjahre abhängig zu machen. Nunmehr sollten "Werktätige" mit niedrigen Einkommen eine wesentlich höhere Rentenleistung "im Verhältnis zu ihrem bisherigen Lohn als die besser Verdienenden" erhalten30• Das lief letztlich auf eine weitere Nivellierung der sozialen Leistungen hinaus. Gleichzeitig verlängerte sich aber die Wartezeit von 15 auf 20 Jahre bei Frauen und 25 Jahre bei Männern. Eine neue Ungleichheit erkannten wohl auch die SED-Sozialpolitiker, wiesen sie doch in dem Zusammenhang darauf hin, daß "ein Arbeiter, der 20 bzw. 25 Jahre gearbeitet hat, Pension in der gleichen Höhe erhält wie ein Arbeiter, der 30, 40 oder 50 Jahre gearbeitet hat". Dieser Vorschlag, bei dem die Mindestrenten wie auch die nach dem Einkommen gestaffelten "Pensionen" angeblich insgesamt über den bisherigen Renten lagen, orientierte sich offenbar am neuen sowjetischen Rentenrecht. Im Gegensatz dazu bewegte sich die zweite Variante sehr viel stärker in den traditionellen Bahnen der DDR-Rentenversicherung: Die "Pension" wurde von der Dauer der beruflichen Tätigkeit und der Höhe des in den letzten fünf Jahren erreichten DurchBArch DE 1111664, BI. 8. SAPMO DY 30lIY 2/1/160, BI. 128 f., Brief an alle Mitglieder und Kandidaten des ZK vom 22. 6. 1956. 30 SAPMO NY 4090/572, BI. 50-60, hier 50, Notizen zum neuen Pensionsgesetz vom 21.7.1956 (o.Yerf.), die an den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl gerichtet waren. 28

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schnittsverdienstes abhängig gemacht31 . Dadurch fiel die Verbesserung für die Arbeiter mit niedrigen Einkommen und kurzer Lebensarbeitszeit deutlich geringer aus als beim ersten Vorschlag. Die SED-Führung entschied sich schließlich für die zweite Variante und damit gegen eine Annäherung an das sowjetische Modell. Während Ulbricht zunächst zu den Bremsern einer grundlegenden Umgestaltung der Altersversorgung in der DDR gezählt hatte, versuchte er sich im Sommer 1956, an die Spitze der Reformbefürworter zu stellen. Auf der 28. Tagung des ZK der SED, die vom 27. bis 29. Juli stattfand, erklärte er im Rahmen eines Grundsatzreferates, daß "nicht nur eine Verbesserung der Renten, sondern eine Rentenreform vorbereitet werden soll.'.32 Nach Ansicht Ulbrichts entsprach das "gegenwärtige, aus der kapitalistischen Zeit übernommene Rentenrecht [ ... ] nicht den Bedingungen unserer gesellschaftlichen Entwicklung." Das neue sog. Pensionsrecht sollte daher auf "sozialistischen Grundsätzen" basieren und bereits 1957 umgesetzt werden. Er begründete seinen Meinungsumschwung mit dem Hinweis, daß die "Arbeiterklasse" durch das "alte Recht" benachteiligt werde, da die Arbeiter aufgrund ihres niedrigen Lohnes "in der Zeit des Kapitalismus" nur die Mindestrente erhalten würden. Das stehe jedoch im "krassen Widerspruch zur Rolle und den Leistungen der Arbeiterklasse beim sozialistischen Aufbau." Das neue Pensionsrecht biete dagegen allen "Werktätigen [ ... ] einen gesicherten Lebensabend." Die Höhe der Pensionen sei abhängig von den Arbeitsleistungen der Arbeiter und würde damit auch zur Steigerung der Produktionsleistungen beitragen. Ulbricht führte weiter aus: "Die Schaffung dieses neuen Pensionsrechts sowie die generelle Erhöhung der Altrenten stellen eine echte Sozialreform dar." Sowohl in der Wortwahl (Rentenreform, Sozialreform) als auch in wichtigen inhaltlichen Fragen sind Anlehnungen an die westdeutsche Debatte unübersehbar. Anschließend trug Ulbricht den ZK-Mitgliedern die Eckpunkte des Reformpaketes vor und übernahm dabei im wesentlichen die von der Rentenkommission ausgearbeiteten Vorschläge33 . Auf dieser Grundlage verabschiedete dann das ZK einen "Vorschlag für eine neue Pensionsregelung für die Arbeiterklasse und alle Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik,,34. Für die weitere inhaltliche Ausarbeitung wurde eine neue Kommission gebildet, der insgesamt 16 Mitglieder angehörten 35 . Ebenda, BI. 50f. SAPMO DY 3D/IV 2/1/161, BI. 67. 33 Vgl. ebenda, BI. 68. 34 SAPMO DY 3D/IV 2/ 1 / 164, BI. 120-127. 35 Ihr gehörten an: Otto Grotewohl, Walter Ulbricht, Karl Schirdewan, Herbert Warnke, Gerhart Ziller, Otto Buchwitz, Willi Rumpf, Karl Moltmann, Hans Kiefert, Käte Kern, Richard Brust (Brigadier im Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf), Walter Fischer (Hauer im "Karl-Liebknecht-Werk" Karl-Marx-Stadt), Ilse Thiele (1. Vorsitzende des DFD), Kurt Zierold (Werkdirektor im Steinkohlenwerk "Deutschland"), Hermann Redetzky (Stellv. Minister für Gesundheitswesen) und Helmut Lehmann. V gl. SAPMO NY 4095/64, BI. 49 f., Schreiben von Otto Schön an Otto Buchwitz vom 31. 7.1956. 31

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Auffallend ist, daß der FDGB-Bundesvorstand erst relativ spät in die Diskussion mit einbezogen wurde und auch dann nur Propagandaaufgaben zugewiesen bekam. Dies überrascht nicht weiter, da der Gewerkschaftsbund bereits bei der Umstrukturierung der Sozialversicherung bis 1956 eine eher untergeordnete Rolle gespielt hatte36 • So verfaßte das Sekretariat des FDGB-Bundesvorstandes einen Brief, der an den Leiter der Hauptabteilung Sozialpolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gerichtet war und in dem ein Informationsaustausch über die jeweiligen Vorstellungen zur Neuordnung des Rentensystems angeregt wurde37 • Der Vorsitzende des FDGB-Bundesvorstandes, Herbert Warnke, der zwar Mitglied der Rentenkommission, aber durch keine eigenen inhaltlichen Vorschläge besonders aufgefallen war, erläuterte auf der FDGB-Bundesvorstandstagung am 22.124. August 1956 nur äußerst knapp die geplante Rentenreform38 . Ohne auf inhaltliche Details einzugehen, erklärte Warnke, daß die "sozialistische Rentenreform [ ... ] das kapitalistische Versicherungsprinzip durch das sozialistische Versorgungsprinzip" ersetzen werde. Dies stimmte jedoch nur teilweise, blieb doch die Rentenhöhe vom jeweiligen Bruttoverdienst abhängig. Da das Beitragssystem nicht angepaßt und damit die Beiträge nicht erhöht wurden, mußte dies auf eine noch stärkere Bezuschussung durch den Staatshaushalt hinauslaufen.

ß. MinimaUösung: Die Übernahme der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten

Nahezu zeitgleich kam die institutionelle Neuordnung der Sozialversicherung im August 1956 zum Abschluß. Nachdem die weitere Ausarbeitung der Verordnung zur Übernahme der Sozialversicherung durch die Gewerkschaften im Frühjahr noch ins Stocken geraten war, nahm das Sekretariat des FDGB-Bundesvorstandes diese Aufgabe nunmehr wieder auf und verabschiedete am 2. Juli 1956 einen entsprechenden Verordnungsentwurf für die Verwaltung der Sozialversicherung. Entgegen früheren Planungen fehlte nun aber ein genauer Zeitplan für die Übernahme der Sozialversicherung durch die Einzelgewerkschaften. Statt dessen legte der Entwurf unverbindlich fest, daß der FDGB-Bundesvorstand das Recht haben sollte, den Zentralvorständen der Einzelgewerkschaften die volle Verantwortung für die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten für ihren Bereich zu übertragen 39 • Bei der Ausarbeitung des Entwurfes konnte in allen Fragen Konsens mit dem Finanzministerium hergestellt werden. Mit dem Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung gab es in einem Punkt keine Übereinstimmung. Das Ministerium forderte die Aufnahme eines Paragraphen in die Verordnung, der das Vgl. Hoffmann, Sozialpolitische Neuordnung, passim. SAPMO DY 34/ A 200-4380, Protokoll der Sitzung des Sekretariats des Bundesvorstandes am 2. 7. 1956. 38 SAPMO DY 34/ A 201-6837. 39 SAPMO DY 34/ A-4380, § 1 des Verordnungsentwurfes vom 28. 6.1956. 36

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Aufsichtsrecht des Ministeriums gegenüber der Sozialversicherung festschreiben sollte. Dies lehnte wiederum die Verwaltung der Sozialversicherung entschieden ab, die eine solche Bestimmung für überflüssig hielt: Damit würde man gesetzlich festlegen, daß "staatliche Organe die Gewerkschaften beaufsichtigen, auch wenn man das nur auf die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten beschränkt,,4o. Die Verwaltung erblickte darin also ein Einfallstor für weitere staatliche Kontrollen der Gewerkschaften. Im Grunde genommen zeigte sich in diesem Punkt aber die alte Auseinandersetzung zwischen FDGB und Arbeitsministerium über die Zuständigkeit bei der Sozialversicherung. Das Präsidium des Ministerrates beriet am 2. August 1956 über den vom Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung vorgelegten Verordnungsentwurf und stellte die Verabschiedung vorerst zurück. Der Entwurf sei vom Minister für Arbeit und Berufsausbildung in Zusammenarbeit mit dem FDGB "noch einmal hinsichtlich ihrer Auswirkungen genau zu überprüfen,,41. Das Präsidium wollte zunächst Informationen über die finanziellen Auswirkungen des Beschlusses einholen, vor allem über die zu erwartenden Verwaltungskosten. Der FDGB-Bundesvorstand entwickelte daraufhin eine Prognose über die Entwicklung der Verwaltungs- und Personalkosten und legte am 9. August erste Ergebnisse vor42 . Demzufolge waren am 31. Dezember 1955 insgesamt 7 600 Beschäftigte bei der Zentral verwaltung der Sozialversicherung (mit ihren Bezirks- und Kreisgeschäftsstellen) angestellt. Hinzu kamen noch 90 Beschäftigte bei den Zentralvorständen der Einzelgewerkschaften sowie beim FDGB-Bundesvorstand. Durch die Bildung der Verwaltung der Sozialversicherung beim FDGB verringere sich - so das Ergebnis der Untersuchung diese Gesamtzahl um 1 385 Verwaltungsangestellte. Der Gewerkschaftsbund erwartete durch die Übernahme der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten eine Einsparung bei den Verwaltungskosten in Höhe von 2,1 Millionen DM. Am 23. August 1956 verabschiedete das Präsidium des Ministerrates die Verordnung über die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten, die dem Entwurf vom 28. Juni fast vollständig entsprach43 . Damit war der Übernahmeprozeß endgültig abgeschlossen. Die Einzelgewerkschaften wurden zwar mit dieser Verordnung in die Verwaltung der Sozialversicherung mit eingebunden. Der FDGB besaß jedoch die "gesamte politische, organisatorische und finanzielle Leitung,,44. Die 40 SAPMO DY 341 A-4380, Sekretariatsvorlage der Verwaltung der Sozialversicherung vom 28. 6. 1956, S. 2. 41 BArch De 20 114 - 194, Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Ministerrates am 2.8. 1956, S. 7. 42 SAPMO DY 34/Buvo, 3751, Begründungsentwurfvom 9. 8. 1956 zur Verordnung über die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten, S. 7. 43 BArch De 20 114-197, Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Ministerrates vom 23.8. 1956. 44 BArch De 20 114 -197, Verordnung über die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten vom 23. 8. 1956, § 1, Abs. 1. Die Verordnung ist abgedruckt in: Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1956, S. 681- 683.

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Verordnung enthielt nur eine nicht näher präzisierte Option zur Übernahme der Sozialversicherung durch die Einzelgewerkschaften. Zunächst blieb dieser Schritt aber noch ausgespart.

ill. Ende der Reformdiskussion Die auf der 28. Tagung des ZK eingesetzte Kommission intensivierte im Laufe des Spätsommers 1956 ihre Tatigkeit. Jedes Kommissionsmitglied erhielt den Auftrag, unter Hinzuziehung weiterer "erfahrener Experten" Einzelfragen der geplanten Rentenreform zu untersuchen und Vorschläge auszuarbeiten 45 . Als Koordinator der einzelnen Arbeitskreise fungierte Gerhart Ziller. Nachdem sowohl der Bericht Ulbrichts auf der 28. ZK-Tagung als auch das Referat Warnkes vor dem FDGBBundesvorstand im ,Neuen Deutschland' veröffentlicht worden waren46 , wußte nunmehr auch die DDR-Bevölkerung von den Plänen zur Rentenreform. Damit setzte sich die SED-Führung selber unter Erfolgsdruck. Otto Buchwitz, der für die Rentenkommission ,,Fragen der Pensionsregelung für die antifaschistischen Widerstandskämpfer, für die Opfer des Faschismus und deren Hinterbliebene,,47 zu bearbeiten hatte, wies gegenüber Ziller auf die Notwendigkeit hin, die öffentliche Diskussion zur Rentenreform gezielt zu steuern. Ansonsten könnten "übertrieben falsche Vorstellungen unter der Bevölkerung entstehen, die auf das richtige Maß zurückzuführen alsdann schwierig sein würde. ,,48 Verstärkt wurde der Handlungsdruck durch die bereits angesprochene Debatte in der Bundesrepublik über eine grundlegende Verbesserung der Altersversorgung. Aus Sicht der SED-Führung stellten die Vorschläge sowohl der Regierungsparteien als auch der Opposition im Deutschen Bundestag wahltaktisches Verhalten dar. Als Beispiel sei nochmals Buchwitz zitiert: "Natürlich weiß ich, daß diese Verhandlungen den Zweck haben, als Wahlköder für die nächstjährige Wahl zum Bundestag zu dienen. Ich bin immer noch der Meinung, daß in der Bundesrepublik neben den Milliarden für die Remilitarisierung es unmöglich sein wird, die Maßnahmen auf sozialpolitischem Gebiet durchzuführen, von denen man bis zur kommenden Wahl schreiben wird. ,,49 Die westdeutsche Diskussion erscheint somit als reine Propagandaveranstaltung, auf welche die SED aber reagieren müsse. Ähnlich wie Ulbricht forderte auch Buchwitz: "Keine Versprechungen, die wir nicht erfüllen können, sondern reale Vorschläge, die wir wirklich durchführen." Bei der Gruppierung der Renten nach einzelnen Prozentsätzen entsprechend der Höhe der Bruttolöhne sprach sich Buchwitz für eine noch feinere Staffelung aus. 45

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SAPMO NY 4095/64, BI. 82-84, hier 82, Gerhart Ziller am 24. 9.1956 an Otto Buch,Neues Deutschland', 2. 8. 1956, S. 4; 25. 8. 1956, S. 3. SAPMO NY 4095/64, BI. 82. SAPMO NY 4095/64, BI. 85, Schreiben von Buchwitz an Ziller vom 27.9.1956. Ebenda.

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Die Arbeitsgruppe unter Leitung von Herbert Warnke legte am 1. Oktober 1956 ein Statut über die Neuregelung der Invalidenpensionen vorm. Demzufolge sollten spezielle Arbeiter- und Ärztekommissionen in den Bezirken und Kreisen über den Rentenanspruch der einzelnen Antragsteller entscheiden. Oberstes Ziel sei - so die Arbeitsgruppe in dem von ihr vorgelegten Entwurf - die "völlige[] Wiederherstellung der Gesundheit und damit [die] volle[] Arbeitsfähigkeit"sl. Die Neuregelung der Invalidenrenten dürfe jedoch nicht "allein und ausschließlich vom ärztlichen Standpunkt" aus gesehen werden. Deshalb war auch die Mitwirkung von Gewerkschaftsvertretern in den Kommissionen vorgesehen: Gemeinsam sollten Ärzte und Vertreter des FDGB die Einstufung der Antragsteller in die drei verschiedenen Kategorien vornehmen. Etwa zeitgleich gab die Rentenkommission den Mitgliedern der Delegation, die sich im Juni 1956 in der Sowjetunion befunden hatte, den Auftrag, "den Gesetzentwurf für die sozialistische Rentenregelung auszuarbeiten"s2. Die übrigen Arbeitsgruppen legten ebenfalls ihre Stellungnahmen bzw. Entwürfe vor: so etwa eine Denkschrift zur Altersversorgung der "Intelligenz"S3 sowie einen Vorschlag für die Neuregelung der Renten für "Verfolgte des Naziregimes"s4. Vor einer Verabschiedung der einzelnen Teilbereiche der Rentenreform sollte vermutlich eine Regierungskommission nach Moskau fliegen, die das weitere Vorgehen abstimmen solltess . Erst danach war eine erneute Sitzung der Gesamtkommission geplant. Ob diese Reise zustande kam, läßt sich nicht mehr belegen. Fest steht allerdings, daß die Rentenreform im Herbst 1956 bereits in Stocken geriet. Das Politbüro verabschiedete zwar am 9. Oktober 1956 eine ErklärungS6, die einen Tag später auf der Titelseite im ,Neuen Deutschland' abgedruckt wurde. Inhaltlich war diese Mitteilung aber völlig belanglos und sogar ein Rückschritt gegenüber den Verlautbarungen im Sommer; der Begriff "Rentenreform" tauchte in der Erklärung überhaupt nicht mehr auf. Dies schien darauf hinzudeuten, daß an eine Verwirklichung der angestrebten Reform so rasch nicht mehr zu denken war. Hintergrund dafür dürfte wohl die allgemeine Haushaltslage gewesen sein, die aus Sicht der SED-Führung eine erhebliche Verbesserung der Rentenleistungen nicht zuließ. In der offiziellen Pressemitteilung wies das ZK der SED auf diesen Zusammenhang auch selber hin: "Es ist verständlich, daß nur das verteilt werden kann, was durch ständige Entwicklung der Wirtschaft erarbeitet wird."s7 Unter Verweis auf Zuschriften aus der 50

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witz.

SAPMO NY 4095/64, BI. 92-97. Ebenda, BI. 92. SAPMO NY 4095/64, BI. 98f., hier 99, Schreiben Zillers vorn 3. 10. 1956 an Buch-

SAPMO NY 4095/64, BI. 187 -193. SAPMO NY 4095/64, BI. 235 - 238. 55 SAPMO NY 4095/64, BI. 228, Schreiben von Buchwitz an Georg Spielmann (Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR) am 2. 10. 1956. 56 SAPMO DY 30/ J IV 2/2/502. 57 ,Neues Deutschland', 10. 10. 1956, S. 1. 53

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Bevölkerung wurde die Überprüfung einzelner Aspekte des Refonnvorhabens angekündigt, so z. B. die Berechnung der Rentenhöhe anhand des Einkommens der letzten fünf Jahre. Einzelne "Werktätige" hätten ihre ablehnende Haltung angeblich damit begründet, daß "in den letzten fünf Jahren infolge natürlichen Absinkens der Arbeitsleistung in vielen Fällen Verdienstminderungen" eingetreten seien. Daher werde erwogen, die fünf günstigsten, zusammenhängenden Jahre seit 1945/46 bei der Berechnung heranzuziehen. Die ursprünglich geplante Senkung des Rentenalters wurde indirekt wieder zurückgenommen: "Gewiß werden zu einem späteren Zeitpunkt bessere Voraussetzungen hierfür vorliegen. Der Zeitpunkt wird vor allem durch das Wachstum unserer Volkswirtschaft, also durch die Werktätigen selbst, bestimmt." Nachdem die Pressemitteilung der ZK-Kommission im ,Neuen Deutschland' veröffentlicht worden war, erhielt die Rentenkommission "in verstärktem Maße" Zuschriften aus der Bevölkerung58 , die von der ZK-Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen sorgfaltig ausgewertet wurden 59 . Eine Analyse vom 23. Oktober 1956 ergab beispielsweise, daß insgesamt etwa 2 000 Briefe eingegangen waren, von denen 1 000 ausgewertet wurden. Der Hauptteil dieser Zuschriften, nämlich ca. 90 Prozent, stammte von sog. Altrentnern, die davon ausgingen, daß ihre Renten automatisch nach den veröffentlichten Grundsätzen des "neuen Pensionsrechtes" umgerechnet würden 60 . Aus den Zuschriften werde - so die ZKAbteilung - deutlich erkennbar, daß sich das Ziel der Rentenrefonn, langsam vom Versicherungs- zum Versorgungsprinzip überzugehen, noch nicht hinlänglich herumgesprochen habe. Daher seien auch die zahlreichen Ablehnungen des Vorschlages zu erklären, die "Pensionen" nach dem Einkommen von fünf Jahren zu berechnen. Vor allem aber werde die geplante Rentenerhöhung mit dem Vorhaben eines neuen "Pensionsrechts" verwechselt. Die Neuregelung der Renten umfasse jedoch zwei verschiedene Teile: Die einmalige Erhöhung sowie die strukturelle Erneuerung. Schenkt man der Analyse Glauben, so enthielten die Zuschriften in der Regel keine Hinweise auf die Rentenversicherung in der Bundesrepublik. Einzige Ausnahme war die Forderung nach einer Wiederherstellung einer besonderen Versorgung der Kriegsversehrten und -hinterbliebenen. Hierbei zogen einige Petenten wohl den Vergleich zum westdeutschen Sozialsystem61 . Interessanterweise enthielten einige Zuschriften die Forderung nach Wiederherstellung der Beamtenpensionen sowie der betrieblichen Pensionskassen. Beides war bereits Anfang der fünfziger Jahre im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der Sozialversicherung weitgehend beseitigt worden. SAPMO NY 4090/572, BI. 223 f., Schreiben von Ziller an Grotewohl vom 27. 10. 1956. Vgl. zum Eingabewesen in der DDR während der achtziger Jahre den sehr instruktiven Aufsatz von: Jonathan R. Zatlin, Ausgaben und Eingaben. Das Petitionsrecht und der Untergang der DDR, in: ZfG 45 (1997), S. 902-917. 60 SAPMO NY 4090/572, BI. 225-241, hier 225, Analyse der ZK-Abteilung Arbeit, Sozial- und Gesundheitswesen vom 23. 10. 1956. 61 Ebenda, BI. 227. 58 59

20 Fisch/Haerendel

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Dierk Hoffmann

Während im Laufe des Oktobers 1956 die Frage einer Rentenreform bzw. einer Neuregelung der "Pensionen" immer mehr in den Hintergrund geriet, gewann für die SED-Führung die Erhöhung der Mindestrenten stetig an Bedeutung, vermutlich auch aufgrund der zahlreichen Zuschriften an die Rentenkommission, die Handlungsbedarf signalisierten. Bereits Anfang November unterbreitete die Rentenkommission dem Politbüro eine Beschlußvorlage, derzufolge die Renten um 20 bis 25 DM erhöht werden sollten62 . In der Begründung zu diesem Entwurf wiesen die Kommissionsmitglieder darauf hin, daß eine Rentenerhöhung, "die unter DM 20,je Monat liegt, [ ... ] auf Grund der bisherigen Diskussion den Erwartungen der Rentner nicht entsprechen und keine politischen Auswirkungen haben,,63 würde. Bereits einen Tag später legte die Kommission einen weiteren, überarbeiteten Entwurf vor, der die Erhöhung sämtlicher Renten um 30 DM vorsah64 • Diesen Vorschlag bestätigte dann auch das Politbüro auf seiner Sitzung am 8. November; nur der Vorsitzende der SPK, Bruno Leuschner, stimmte dagegen 65 . Die SED-Führung ging davon aus, daß diese Rentenerhöhung die Lebenslage der Rentner verbessern und "zweifellos die Erwartungen der Rentner in hohem Maße befriedigen" werde66 . Darüber hinaus vermutete man sogar "bedeutende politische Auswirkungen auf die Arbeiterklasse, auch in Westdeutschland." Die Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes in der Volkskammer wurde ebenfalls sorgfältig vorbereitet67 . Am 16. November war es dann soweit: Die Volkskammer verabschiedete das Gesetz über die Erhöhung der Renten und der Sozialfürsorgeunterstützung68 , das dann am selben Tag noch in Kraft treten konnte 69 . Bei der Begründung des Gesetzes wies Ministerpräsident Otto Grotewohl ausdrücklich darauf hin, daß die Realisierung eines "sozialistischen Pensions gesetzes" aus Kostengründen verschoben worden sei: "Man muß klar und eindeutig sagen, damit es die ganze Bevölkerung weiß: Unsere Staatsverwaltung und die Regierung haben keine Dukaten62 SAPMO NY 4090/572, BI. 264-266, hier 265, Entwurf einer Beschlußvorlage mit Anschreiben Zillers an Grotewohl vom 2. 11. 1956. 63 Ebenda, BI. 266. 64 SAPMO NY 4090/572, BI. 270 - 273, Beschlußvorlage mit Anschreiben Zillers an alle Mitglieder des Politbüros vom 3. 11. 1956. 65 SAPMO DY 30 I J IV 2/2/511. Die Tatsache, daß das abweichende Stimmverhalten Leuschners im Protokoll festgehalten wurde, ist überraschend, da die SED-Führung ansonsten immer Geschlossenheit auch in den Protokollen ihrer Spitzengremien demonstrierte. Leuschner war zunächst Kandidat, ab 1958 Mitglied des Politbüros. 66 SAPMO NY 4090/572, BI. 282 f., hier 282, Begründung zum Vorschlagsentwurf (o.D., o.Verf.). 67 SAPMO NY 4090/572, BI. 289 f., Schreiben Zillers an Grotewohl vom 9. 11. 1956; SAPMO DY 3011 IV 2/2/512, außerordentliche Sitzung des Politbüros am 10.11. 1956 im Amtssitz des Gen. Pieck. 68 Volkskammer der DDR, I. Teil: Sitzungsprotokolle, 1956, S. 587 - 606. 69 Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1956, S. 1279f. Dazu wurde noch am 16. 11. 1956 eine 1. Durchltihrungsbestimmung erlassen, in: ebenda, S. 1281. Eine 2. Durchführungsbestimmung stammte vom 11. 4. 1957, in: Gesetzblatt der DDR, Teil 1,1957, S. 266f.

Sozialistische Rentenreform ?

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männchen.,,7o Für 1957 müßten allein 1,049 Milliarden DM für die Altrenten veranschlagt werden; hinzu kämen 663 Millionen DM für das "Pensionsgesetz". Nach dem gegenwärtigen Stand der wirtschaftlichen Entwicklung ginge jedoch - so Grotewohl weiter - die Summe von 1,712 Milliarden DM für Rentenleistungen "über unsere Kraft". Daher habe die Staats- und Parteiführung entschieden, die gesamten zur Verfügung stehenden Mittel zunächst "in einer kompakten Fonn der Erhöhung der Renten für die Altrentner [zu] verwenden." Aus Sicht der SED-Führung waren also in erster Linie finanzpolitische Erwägungen entscheidend dafür, die Rentenrefonn zu verschieben und nur eine begrenzte Erhöhung der Renten vorzunehmen. Offensichtlich hat es parteiintern eine Kontroverse darüber gegeben, den finanziellen Handlungsspielraum zu erweitern, etwa durch eine weitere Reduzierung der Verwaltungs- und Personalkosten, um dann wiederum die Renten weiter erhöhen zu können. Diese Debatte war jedoch nicht neu, sondern seit Beginn der Neuordnung der Sozialversicherung unmittelbar nach Kriegsende mehrfach aufgeflackert7!. Vor allem Ministerpräsident Grotewohl hatte den Umbau des Systems sozialer Sicherheit stets kritisch begleitet und etwa auf dem Leipziger Sozialversicherungskongreß am 3. Dezember 1951 zum Teil harsche Kritik an der Tatigkeit der Verwaltung der Sozialversicherung geübt72 • Innerhalb des Politbüros stellte sich Grotewohl 1956 hinter die Einheitsversicherung und wies weitere Kürzungsvorschläge zurück: "Die Kosten der Verwaltung haben mit der Höhe der Renten nichts zu tun.'.73 Nach den Berechnungen, die ihm vorlagen, hatte sich die Verwaltung seit Anfang der fünfziger Jahre systematisch verkleinert. Seien 1950 noch 19 199 Angestellte beschäftigt gewesen, so hätten 1952 nur noch 8 840 und 1955 sogar nur 7 670 Angestellte in der Verwaltung der Sozialversicherung gearbeitet. Auch der Anteil der Verwaltungsausgaben sei stetig gesunken: Von 2,31 Prozent (1950) und 1,27 Prozent (1952) auf 0,88 Prozent (1955). Es sei - so Grotewohl - eine ,,[i]rrige" Auffassung zu glauben, daß man die Renten erhöhen könne, wenn man "die Bürokratie der SV [Sozialversicherung] abbaut". Die demographische Struktur der DDR-Bevölkerung beeinflußte sehr wahrscheinlich auch die Diskussion in der SED-Führung über eine grundlegende Verbesserung der Altersversorgung und grenzte somit die Gestaltungsmöglichkeiten ein. Nach Berechnungen, die innerhalb des ZK-Apparates erstellt und dem Ministerpräsidenten vorgelegt worden waren, gewährte die Einheitsversicherung 2,58 Millionen Menschen eine Rente. Hinzu kamen sog. Haushaltsrenten sowie die Altersbezüge der in der Deutschen Versicherungsanstalt (DVA) Versicherten. Zusarnrnen mit den freiwillig Versicherten sowie den Sozialfürsorgeempfangern, die Volkskammer der DDR, I. Teil: Sitzungsprotokolle, 1956, S. 590. Vgl. Hoffmann, Sozialpolitische Neuordnung, passim. 72 Ebenda, S. 239-242. 73 SAPMO NY 40901572, BI. 300, handschriftliche Notizen Grotewohls (0.0., vermutlich 1956). 70 71

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erstaunlicherweise in diese Rechnung eingeschlossen waren und immerhin rund 200 000 Personen umfaßten, waren das 3,633 Millionen Renten. Die SED-Sozialpolitiker wiesen auf das vergleichsweise ungünstige Zahlenverhältnis zur arbeitenden Bevölkerung hin: ,,Auf 2 1/ 2 Beschäftigte kommt 1 Rentner.,,74 Im Frühjahr 1957 tauchten erneut Überlegungen auf, den Vorschlag nach einer "sozialistischen Rentenrefonn" aufzugreifen und dazu wieder eine Studiendelegation in die Sowjetunion zu entsenden. Die Anregung ging vom Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung aus, das sich zur Vorbereitung der Reise unter anderem an die DDR-Botschaft in Moskau wandte, die jedoch von der Entsendung einer Delegation abriet. Die Erfahrungen in der Frage der Organisationsformen der Rentenversicherung seien bei weitem nicht so groß wie in der DDR, so Attache Dahms in seinem Antwortschreiben an das Außenministerium in Berlin75 . Das neue sowjetische Pensionsgesetz habe eine ganze Reihe von Mängeln, auf welche bereits "viele kritische Stimmen" hingewiesen hätten. Demgegenüber könne die DDR auf ,jahrzehntelange Erfahrungen" zurückblicken. Der Botschaftsmitarbeiter zog daraus eine unmißverständliche Schlußfolgerung: "Unter diesen Bedingungen würde das Ergebnis der hier zu sammelnden Erfahrungen den Aufwand für eine solche Studiendelegation bestimmt nicht rechtfertigen." In der Folgezeit verfolgte die SED-Führung die Pläne für eine Rentenreform nicht weiter. Zwar wies Gerhart Ziller noch im Herbst 1957 den Ministerpräsidenten auf das ungelöste Problem und die nach wie vor bestehende öffentliche Erwartungshaltung hin76, doch weder das ZK noch das Politbüro oder das Sekretariat des ZK griffen das Thema jemals wieder auf. Zu groß waren offensichtlich die finanzpolitischen Bedenken und zu gering die Bereitschaft, grundsätzliche strukturelle Veränderungen vorzunehmen. Somit blieb es bis zum Untergang der DDR bei der Praxis, daß die SED-Führung in unregelmäßigen Abständen die Mindestrenten anhob77 • Bis auf die Einführung der freiwilligen Zusatzversicherung Ende der sechziger bzw. Anfang der siebziger Jahre hat es eine grundlegende Verbesserung der Altersversorgung in der DDR nicht gegeben.

74 SAPMO NY 40901572, BI. 313. Stichtag war vermutlich der I. 12. 1956. Vgl. auch ebenda, BI. 328 - 330, Berechnungen des Staatssekretärs im Finanzministerium Willi Georgino über die Mehrausgaben durch die Rentenerhöhung. 75 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin (PA), A 498, BI. 9, Schreiben von Attacbe Dahms vom 10. 4. 1957 an das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) Berlin. Dem Ministerium für Arbeit wurde diese Position wenig später ebenfalls mitgeteilt. Vgl. ebenda, BI. 12f., Schreiben der DDR-Botschaft (Oberreferent Kerff) am 19.6.1957 an das Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung (Abt. Sozialversicherung). 76 SAPMO NY 4090/572, BI. 351 - 353, Schreiben Zillers an Grotewohl vom 29. 11. 1957. 77 Vgl. Frerich/Frey, Sozialpolitik in der DDR; Elke Hoffmann, Das Alterssicherungssystem in der DDR: Zur Geschichte der Rentengesetzgebung 1946-1990, Berlin 1995.

Sozialistische Rentenreform ?

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IV. Zusammenfassung Ausschlaggebend für die Debatte innerhalb der SED-Führung waren offensichtlich die immer konkreter werdenden Vorstellungen der westdeutschen Parteien (vor allem CDU und SPD) für eine Rentenreform in der Bundesrepublik. Dadurch geriet die SED in Zugzwang, was sich auch in der Übernahme der Begriffe "Rentenreform" und "Sozialreform" niederschlug. Begünstigt wurde die Reformdiskussion vermutlich durch die politischen Rahmenbedingungen, welche sich im Zuge des XX. Parteitages der KPdSU leicht gewandelt hatten. Bereits in einem frühen Stadium war die Debatte geprägt durch den Finanzierungsvorbehalt, den vor allem Walter Ulbricht immer wieder einbrachte. Daran scheiterte letztlich auch die Reform, die vor allem von Gerhart Ziller unterstützt worden war. Nach dessen Freitod Ende 1957 geriet auch die "Rentenreform" in Vergessenheit. Aufschlußreich ist ebenfalls, daß Grundpfeiler der ostdeutschen Einheitsversicherung sogar in der intern geführten Diskussion unangetastet blieben. Dazu zählte etwa das Beitragsfinanzierungssystem; so blieben die Beitragshöhe sowie die Beitragsbemessungsgrenze unangefochten. Insgesamt muß man der SED-Führung auch in dieser Frage eine gewisse Konzeptionslosigkeit attestieren. Trotz der Wortwahl blieben die Überlegungen für eine Rentenreform immer nur Stückwerk; eine langfristige Perspektive war nicht erkennbar. Erwähnenswert ist ebenfalls die Tatsache, daß sich Ulbricht mit seiner Position auf einem Sachgebiet durchzusetzen vermochte, das bis zu diesem Zeitpunkt nicht zu seinen Steckenpferden gehört hatte. Insofern läßt sich die Debatte über die Rentenreform auch einbetten in einen größeren Zusammenhang, nämlich den Konflikt innerhalb der SED-Führung 1956/57, den Ulbricht Anfang 1958 endgültig zu seinen Gunsten entscheiden konnte. Diese Verbindungslinien sind jedoch nur indirekter Art; es besteht kein ursächlicher Zusammenhang.

Sektion IV: Gegenwartsprobleme und Zukunftsperspektiven

Einführung Von Jürgen Kohl

Die Referate in dieser Sektion setzten sich mit einigen ausgewählten Problemen und Herausforderungen auseinander, mit denen sich das deutsche Alterssicherungssystem heute konfrontiert sieht. Eine solche Herausforderung von wesentlicher Bedeutung stellt ohne Zweifel die deutsche Wiedervereinigung dar, deren integraler Bestandteil bekanntlich die Herstellung einer Wirtschafts- und Sozialunion war. Es ist geradezu von symbolhafter Bedeutung, dass die Rentenreform 1992 am gleichen Tag im Bundestag verabschiedet wurde, als in Berlin die Mauer sich öffnete. Derle! Merten zeichnet in seinem Beitrag "Rentenversicherung und deutsche Wiedervereinigung" die rechtlichen Grundlagen, Leitlinien und Prinzipien der Übertragung des westdeutschen Sozialversicherungssystems auf das Gebiet der ehemaligen DDR nach, wie sie zuerst im Staatsvertrag zur Wlihrungs-, Wirtschaftsund Sozialunion, später im Einigungsvertrag niedergelegt worden waren. Im Grundsatz wurde dieser Institutionentransfer in der Weise vollzogen, dass sowohl die Organisations strukturen (gegliedertes System, Selbstverwaltung) als auch die wesentlichen Prinzipien der Finanzierung und Leistungsgewährung (insbesondere die Beitragsfinanzierung und der Grundsatz der Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rentenleistungen) auch in den neuen Bundesländern Anwendung fanden. Zu beachten ist jedoch, dass für die neuen Länder andere Einkommens- und Bemessungsgrundlagen für Beiträge und Leistungen zugrunde gelegt wurden, was u. a. zur Folge hat, dass das gleichartig definierte Rentenniveau (in Prozent des jeweiligen Nettoarbeitsentgelts) unterschiedlichen absoluten Rentenhöhen entspricht. Außerdem wurden bestimmte Übergangsregelungen vorgesehen, die dem Gedanken des Vertrauensschutzes Rechnung tragen sollten.

Im Ergebnis führte die Einführung des westdeutschen Rentensystems zweifellos für den weitaus überwiegenden Teil der Rentner in den neuen Ländern - verglichen mit den Leistungen unter dem Rentensystem der früheren DDR - zu deutlichen Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Lage. Dies gilt jedoch nicht in gleicher Weise für alle Gruppen von Rentnern, wie Derle! Merlen im zweiten Teil seiner Ausführungen am Beispiel der Überleitung der Ansprüche und Anwartschaften aus den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der früheren DDR zeigt. In Bezug auf diese spezielle Problematik gelangt er schließlich, gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, zu der betont kritischen Einschät-

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Jürgen Kohl

zung, dass verschiedene Detailregelungen nicht verfassungsgemäß waren bzw. sind. Insbesondere bezeichnet er es als einen untauglichen Versuch, die (politische) Vergangenheit der DDR mit Hilfe des Rentenversicherungsrechts bewältigen zu wollen. Gisela Färber setzt sich in ihrem Beitrag mit der Bedeutung eines der tragenden Prinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung, des Äquivalenzprinzips, auseinander. Die Sozialversicherung teilt zwar dieses allgemeine Legitimationsprinzip mit der Privatversicherung; die Autorin macht jedoch deutlich, dass "Beitragsäquivalenz in der gesetzlichen Rentenversicherung ... an anderen Maßstäben zu messen ist als in der privaten Lebensversicherung". Demzufolge müssen auch bei Renditevergleichen, wie sie von interessierter Seite gerne gefordert bzw. angestellt werden, die unterschiedlichen Gestaltungsmerkmale von Sozial- und Privatversicherung angemessen berücksichtigt werden.

So ist es für Sozialversicherungen durchaus typisch, dass sie an Lohn bzw. Gehalt anknüpfen (Lohnersatzfunktion der Leistungen), andererseits aber auch beitragslose Zeiten (z. B. Ausbildung, Kindererziehung) bei der Leistungsbemessung berücksichtigen, also über eine rein monetär verstandene Äquivalenz hinausgehen. Ferner sehen sie meist die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern und minderjährigen Kindern vor, jedoch typischerweise keine Leistungsdifferenzierung entsprechend der unterschiedlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen. Dies führt dann dazu, dass auch die Beitrags-Leistungs-Relationen (interne Renditen) je nach Alter, Geschlecht und Familienstand unterschiedlich ausfallen. In diesem Zusammenhang erörtert Gisela Färber auch spezifische Aspekte der sozialen Sicherung der Frau, sei es in Form der Hinterbliebenensicherung, sei es in Form der Berücksichtigung von Kindererziehungsleistungen. Sie untersucht dabei die Konsequenzen, die verschiedene in der Diskussion befindliche Reformvarianten in Bezug auf die Beitrags-Leistungs-Äquivalenz und auf die intergenerationale Verteilung haben. Die Leistungen der Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung müssen bei einem Renditevergleich ebenso Berücksichtigung finden wie andererseits die meist relativ hohen renditemindernden Verwaltungskosten in der Privatversicherung. Hinzu kommt, dass die Annahmen bzw. Prognosen über die künftige Entwicklung des Kapitalmarktzinses einerseits und der Reallöhne andererseits mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind. Bei realistischer Betrachtung schrumpfen daher nach dem Urteil der Autorin die komparativen Renditevorteile privater Lebensversicherungen gegenüber den in der Öffentlichkeit verbreiteten Zahlen erheblich zusammen bzw. treffen nur noch für bestimmte Teilpopulationen zu. Winfried Schmiihl stellt in seinem Beitrag die Entwicklungsprobleme und -tendenzen der deutschen Alterssicherung in den Kontext eines Vergleichs mit anderen marktwirtschaftlich organisierten modemen Industriegesellschaften. Die vergleichende Perspektive macht zweierlei deutlich:

Einführung

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- zum einen die Ähnlichkeit der Problemlagen und Herausforderungen, vor denen die westlichen Industriegesellschaften in Bezug auf die Alterssicherung stehen (Alterung der Bevölkerung, Strukturveränderungen im Beschäftigungssystem, im Erwerbsverhalten und in den Familien); - zum anderen aber die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der institutionalisierten Fonnen der Alterssicherung (Verhältnis von öffentlicher, betrieblicher und privater Sicherung, Finanzierungsfonnen, Sicherungsziele etc.), die mit Beispielen aus verschiedenen Ländern illustriert werden. Die Systematisierung der institutionellen Gestaltungsmöglichkeiten erlaubt in einem zweiten Schritt eine genauere Einordnung und Charakterisierung des deutschen Alterssicherungssystems. Hinsichtlich der Sicherungsziele in den obligatorischen Regelsicherungssystemen lassen sich nach Schmähl zwei verteilungspolitische Ziele (Annutsvenneidung vs. Einkommensverstetigung) und zwei Fonnen der Einkommensumverteilung (interpersonell vs. intertemporal) unterschieden. Das deutsche Alterssicherungssystem lässt sich demnach dadurch charakterisieren, dass in ihm das Ziel der Einkommensverstetigung (häufig auch als Lebensstandardsicherung bezeichnet) und demzufolge die intertemporale Umverteilung zwischen Erwerbstätigkeits- und Ruhestandsphase eindeutig dominiert. Letzteres wiederum legitimiert eine enge Verknüpfung von Beitrag und Leistung, wie sie im Äquivalenzprinzip zum Ausdruck kommt. Als generelle Entwicklungstendenzen zeichnen sich im internationalen Vergleich zum einen Versuche ab, das (effektive) Renteneintrittsalter hinauszuschieben, zum anderen Bemühungen, die ergänzende priva~e Vorsorge auszuweiten. In den staatlichen Systemen ist einerseits eine verstärkte Ausrichtung auf eine Versicherungskonzeption im Sinne einer stärkeren Betonung von Leistung und Gegenleistung zu erkennen, andererseits eine Tendenz zur Ausgliederung von Umverteilungsaufgaben und deren Finanzierung aus allgemeinen Haushaltsmitteln. Vor dem Hintergrund dieser international festzustellenden Entwicklungstendenzen spricht sich Schmähl für eine Stärkung der Beitrags-Leistungs-Beziehung auch in der Weiterentwicklung der deutschen Rentenversicherung aus und äußert sich skeptisch gegenüber einer Integration bedarfsgeprüfter Mindestsicherungselemente in die gesetzliche Rentenversicherung. Bezüglich der häufig diskutierten Alternative Umlagefinanzierung vs. Kapitalfundierung verweist er auf die gravierenden Probleme und zusätzlichen Belastungen, die sich bei einer Umstellung ergeben würden, ferner auf die zu erwartenden (negativen) Verteilungs wirkungen, die mit einer Absenkung des Niveaus der staatlichen (umlagefinanzierten) Alterssicherung verbunden wären.

Rentenversicherung und deutsche Wiedervereinigung Von Detlef Merten

I. Einleitung

Im Zuge der Wiedervereinigung wurde das Sozialversicherungsrecht, insbesondere das Rentenversicherungsrecht, der Bundesrepublik auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen. Eine politische Alternative gab es bei realistischer Betrachtung nicht. Denn die friedliche Revolution in der DDR, die nach einer Emanzipierungsphase ("Wir sind das Volk"') in die Vereinigungsphase ("Wir sind ein Volk"2) eintrat, wollte nicht nur an der freiheitlichen und demokratischen Staatsordnung, sondern auch an der Wirtschafts- und Sozialverfassung, insbesondere an der sozialen Marktwirtschaft und deren Errungenschaften, teilhaben. Dazu gehörte die soziale Alterssicherung, auch wenn verständlicherweise nicht die alte, sondern die junge Generation an der Spitze der revolutionären Bewegung stand. Maßlose Haßtiraden, die die Flüchtlinge aus der DDR als "ein paar tausend DM- und Blue Jeans-gierige Jugendliche,,3 hinstellten oder einen "DM-Nationalismus,,4 beschworen, sind wohl nur aus Enttäuschung über den epochalen Zusammenbruch von Kommunismus und Sozialismus zu erklären. Sie lassen außer acht, daß Flüchtlinge aus der DDR jahrzehntelang Leib und Leben - vielfach unter Zurücklassung ihrer Familien und ihrer Habe - gewagt hatten, um einem totalitären Regime zu entkommen. Die fragwürdige Anziehungskraft von "Blue Jeans" dürfte für diese Fluchtbewegung wohl kaum ursächlich gewesen sein.

1 So die Sprechchöre und I oder Transparente bei den Leipziger Montags-Demonstrationen, insbesondere am 9.10., 23.10. und 20. 11. 1989; hierzu auch die Predigt Dr. Christoph Köhlers in der Nikolaikirche (Leipziger Volkszeitung vom 14. 11. 1989); Nachweise in: Wolfgang Schneider, Leipziger DEMONTAGEBUCH, Leipzig 1990, S. 8,42,59,103, 118. 2 So Transparente am 4.12. und 11. 12. 1989 (Nachweise in ebenda, S. 141, 154). Schon vorher war die Wiedervereinigung in Transparenten und Sprechchören gefordert worden, z. B.: "Warum kein geeintes Deutschland", "Deutschland einig Vaterland", ,,- jetzt Wiedervereinigung", "DDR zum Bundesland", ,,ziel: ein Deutschland"; ,,Freistaat Sachsen' - Einheit Deutschlands", "wir sind ein Deutschland"; "Wir sind eine Nation - Deutschland!", "Deutschland mein Vaterland" (Nachweise in ebenda, S. 104, 117, 118, 122, 128, 133, 141, 141, 143, 154, 155, 158). 3 Erich Kuby, Der Preis der Einheit, Hamburg 1990, S. 16. 4 Jürgen Habermas, in: Die Zeit, Nr. 14 vom 30.3. 1990.

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11. Die Ausgangslage Angesichts des erheblichen Rentengefälles zwischen beiden Teilen Deutschlands ging nach dem Fall der Mauer vom Sozialversicherungssystem der Bundesrepublik eine Sogwirkung aus, die den Prozeß der Wiedervereinigung stören mußte. Die Renten-Unterschiede werden durch folgende Zahlen augenfällig: Altersrenten aus der Pflichtversicherung der DDR erreichten höchstens den Betrag von 510,- M. Hierzu konnte noch einmal eine Rente aus der freiwilligen Zusatzrentenversicherung, von der 85 Prozent aller Berechtigten Gebrauch machten, in Höhe von knapp 100,- M treten, so daß die Höchstrente in der DDR rund 600,- M ausmachte. Demgegenüber erhielt in der Bundesrepublik ein "Standardrentner", der 45 Jahre lang ein Entgelt in Höhe des Durchschnittsentgeltes erzielt hatte, im Jahr 1989 eine Rente in Höhe von 1 702,25 DM, also knapp das Dreifache eines Ostrentners. Unter Berücksichtigung des Wechselkurses 5 betrug das Verhältnis etwa 1 zu 28. Daher verwundert es nicht, daß der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Momper, in einem Gespräch mit dem Bundeskanzler am 1. Dezember 1989, also rund drei Wochen nach dem Fall der Mauer, berichtete, Rentner nähmen vielfach einen Scheinwohnsitz in West-Berlin, obwohl ihr Lebensmittelpunkt weiter in Ost-Berlin oder der DDR liege; zahlenmäßig seien diese Fälle nur schwer zu erfassen6 . Angesichts der vielfältigen familiären Beziehungen zwischen Berlinern im Ost- und Westteil der Stadt stießen Scheinwohnsitznahmen auf keine praktischen Schwierigkeiten und hätten nur mit einer immensen Überwachungsbürokratie verhindert werden können, die jedoch für die beginnende Annäherung problematisch gewesen wäre. Deshalb riet der bei dem Gespräch anwesende Bundesminister Blüm zu "großer Behutsamkeit bei der Behandlung dieser Fragen,,7. Den Schlüssel zum Einlaß in die Sozialversicherung der Bundesrepublik stellte das Fremdrentengesetz8 dar. Dieses gliederte Vertriebene und Flüchtlinge in das deutsche Sozialversicherungssystem ein und stellte sie mit ihren Beitragsleistungen und ihrer Beschäftigung im Herkunftsland, insbesondere in der DDR und Polen, den Versicherten mit gleichartiger Beschäftigung im Bundesgebiet gleich. Im Ergebnis wurde die Rente von Übersiedlern aus der DDR oder Aussiedlern aus Polen nach diesem Gesetz so bemessen, als hätten die Berechtigten die außerhalb Hierzu Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Juli 1990, s. 23 ff. Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit - Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/1990, bearb. von Hanns Jürgen Küstrus/Daniel Hofmann, München 1998, Nr. 103, S. 578 (584). 7 Ebenda. s Vorn 7. 8. 1953 (BGBI. I S. 848), Die Leistungen wurden später durch Art. 14 des Renten-Überleitungsgesetzes (Anm. 34) sowie Art. 3 des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 25. 9. 1996 (BGBI. I S. 1461) erheblich gekürzt. Hierzu auch Adalbert Podlech 1Axel Azzola 1Udo Dieners, Die Vereinbarkeit fremdrentenrechtlicher Kürzungsregelungen mit dem Grundgesetz, in: Die Rentenversicherung (1998), S. 177 ff. 5 6

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des Bundesgebietes geleistete Arbeit in der Bundesrepublik erbracht. Die damit verbundene soziale Vergünstigung für einen relativ kleinen Personenkreis hätte sich bei massenhafter Inanspruchnahme nicht aufrechterhalten lassen. Deshalb wies der Bundessozialminister in dem erwähnten Gespräch darauf hin, daß man das dem Gesetz zugrunde liegende Eingliederungsprinzip durch ein Leistungsexportprinzip "im Rahmen der angestrebten konföderativen Strukturen" ersetzen müsse9 • Theoretisch hätte man das Rentenversicherungsrecht im Wege einer Eilgesetzgebung novellieren können. In gleicher Weise hätte man die Übersiedlung von Deutschen mit Wohnsitz in der DDR oder in Ostberlin in die Bundesrepublik durch eine Änderung des Notaufnahmegesetzes lO an engere Voraussetzungen knüpfen können. Dieses Gesetz hatte seinerzeit die Freizügigkeit aller Deutschen eingeschränkt, um insbesondere in der Zeit vor Schließung der deutsch-deutschen Grenze die Ströme der Einreisewilligen zu kontrollieren, Fluchtgründe festzustellen und die Verteilung auf die einzelnen Bundesländer zu erleichtern. Jede Erschwerung des Zuzugs hätte sich jedoch belastend auf den Prozeß der Annäherung und des Zusarnmenwachsens ausgewirkt. Es wäre der Eindruck entstanden, daß nach dem Fall der Ost-Mauer der Westen nunmehr seinerseits Sperren und Hürden gegen eine Zuwanderung von Deutschen errichtete. Beschränkungen der Freizügigkeit wären, wie der damalige Innenminister Schäuble zu Recht feststellt, zu einem "Debakel für unsere Freiheitsordnung" geworden ll . Der nach dem Fall der Mauer anschwellende Übersiedlungsstrom zeigte zum einen dem Ausland, daß die deutsche Einheit nicht von der Bundesrepublik, sondern von den Bewohnern der DDR im Wege einer friedlichen Revolution bewirkt wurde, und er verdeutlichte denjenigen, die nach der Revolution an der DDR als einem eigenständigen Staat mit einem reformierten sozialistischen System festhalten wollten, daß ihnen die Menschen wegliefen l2 • Obwohl der Zustrom in erster Linie die junge Generation betraf, beunruhigten der Übersiedlungsdruck und dessen Auswirkungen auf die Rentenversicherung das Bundessozialministerium. Staatssekretär Dr. Tegtmeier machte in einem Gespräch Anfang Januar 1990 mit Wirtschaftsexperten darauf aufmerksam, daß 100 000 Übersiedler im Rentenalter eine Mehrbelastung für die Rentenversicherung in Höhe von zwei Milliarden DM ausmachten; die neue DDR-Führung habe bisher lediglich Amtshilfe bei der Verhinderung von Arbeitsaufnahmen von DDR-Bürgern in der Bundesrepublik erhalten wollen l3 . Nach allem war die Übersiedlungsflut ein wesentlicher Faktor für die Beschleunigung der deutschen Wiedervereinigung, insbesondere für den Weg über Art. 23 Dokumente (Anm. 6), Nr. 103, S. 578 (584). Gesetz über die Notaufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet vom 22. 8. 1950 (BGB!. I S. 367). 11 Wolfgang Schäuble, Der Vertrag, Stuttgart 1991, S. 68 f. 12 Hierzu auch ebenda, S. 69 ff. 13 Dokumente (Anm. 6), S. 693. 9

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GG a.F., d. h. den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Gleichzeitig war sie ausschlaggebend für das Angebot einer vorgezogenen Wirtschafts- und Währungsunion mit der DDR. Denn einerseits sah sich die Bundesregierung dem Vorwurf der DDR ausgesetzt, deren Bewohner finanziell anzulocken 14; andererseits war in der Bevölkerung der Bundesrepublik die anfänglich überschwengliche Freude über die Flüchtlinge, die über Ungarn oder Prag in den Westen gekommen waren, längst Ernüchterung und Unmut gewichen. Vielen fehlte das Verständnis dafür, daß die Deutschen aus der DDR immer noch wie Flüchtlinge behandelt wurden, obwohl mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze Fluchtgründe entfallen waren 15 • Daher wurde das Notaufnahmegesetz auch im Juni 1990 aufgehoben 16 • 111. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion 1. Der Weg zum Staatsvertrag

Die Pläne für eine Wirtschafts- und Währungsunion zur Stabilisierung der Lage in der DDR, aus denen später der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 17 hervorging, stammen aus dem Bundeskanzleramt. Anfang Februar 1990 wurden dem Kanzler eine Skizze zur Verwirklichung der politischen Einheit und ein Konzept "Schritte zur wirtschaftlichen Einheit" vorgelegt, das unter Punkt 7 die soziale Sicherung von Renten und Einkommen, den Aufbau eines leistungsfähigen sozialen Sicherungssystems und das Ziel eines einheitlichen Sozialleistungssystems in Deutschland vorsah 18 • Nach Billigung durch das Bundeskabinett 19 betonte Bundeskanzler Kohl in einem Gespräch mit Ministerpräsident Modrow am 13. Februar 1990 die Bedeutung der sozialen Probleme sowie der Sicherung der Renten und schlug die Schaffung einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft im Interesse der Stabilität voro. Dabei wies er darauf hin, daß allein für Januar und Februar 1990 von 100000 Übersiedlern auszugehen sei, was der Einwohnerzahl von Dessau entspreche. Für konföderative Strukturen sah Kohl übrigens bereits zu diesem Zeitpunkt keinen Raum mehr. Bundesminister Blüm betonte in einem Delegationsgespräch an diesem Tag die Notwendigkeit, beide Systeme der sozialen Sicherung zusammenzufügen, ohne daß dadurch die Freizügigkeit in Deutschland beeinträchtigt werde; die Bundesrepublik sei zu einer Vgl. ebenda, S. 818. Schäuble (Anm. 11), S. 72. 16 Durch Art. 1 § 1 des Gesetzes zur Aufhebung des Aufnahmegesetzes vorn 26. 6. 1990 (BGBl. I S. 1142). 17 Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vorn 18.5. 1990 (BGBl. II S. 537). 18 Dokumente (Anm. 6), Nr. 157 B, S. 752f. 19 Ebenda, S. 759, vgl. auch S. 768. 20 Ebenda, Nr. 177, S. 814ff. 14

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Anschubfinanzierung bereit, das Ziel müsse aber die Selbstfinanzierung des Systems sein21 • Bundeskanzler Kohl hob die Ängste um die Rente auf beiden Seiten hervor: Im Westen befürchte man, daß sich die Bundesrepublik übernehme, im Osten habe man Angst wegen der ungewissen zukünftigen Höhe der Rente22 • Bei einer Unterredung mit dem Regierenden Bürgermeister Momper Ende Februar 199023 wurden schon detailliertere Pläne besprochen. Staatssekretär Jagoda berichtete über eine Reihe von Gesprächen, in denen die Übernahme des westdeutschen Sozialversicherungssystems unter folgenden G!!sichtspunkten erörtert worden sei: Die Rentenversicherung solle beitrags- und lohnbezogen sein; nach Ermittlung des Rentenbestandes müßten die Renten in der DDR dann schrittweise an das Lohnniveau herangeführt werden; bei Verwirklichung der Einheit komme es wesentlich auf die Kompatibilität der Systeme an. Die Rentenfrage spielte auch für die Währungsumstellung eine bedeutsame Rolle. Blüm wies in einem Schreiben von Ende März 1990 an den Bundeskanzler darauf hin, daß ein Umstellungssatz von ,2 zu l' für drei Millionen Rentner mit einer durchschnittlichen DDR-Rente von 450,- M krasse Folgen hätte, weil die Rente für die Existenzsicherung nicht mehr ausreiche, die Rentner die Sozialhilfeschwelle vor Augen hätten und destabilisierende politische Folgewirkungen einträten24 • Zutreffend meinte dagegen der Präsident der Deutschen Bundesbank, Pöhl, die Währungsumstellung im Verhältnis ,2 zu l' wäre nur auf den ersten Blick eine unzumutbare Härte, weil die Rentenhöhe ohnehin nach einem neuen Verfahren zu ermitteln sei; demgegenüber erweise sich dieser Umstellungssatz im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der DDR als notwendig, weil die Umstellung im Verhältnis von ,1 zu l' zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit in der DDR mit allen Konsequenzen führen müsse25 . Und so ist es dann auch trotz eines gespaltenen Umstellungssatzes und unter Hinzutreten anderer, unvorhersehbarer Faktoren gekommen. 2. Die sozialrechtlichen Regelungen

Die Grundzüge der Übertragung des westdeutschen Sozialversicherungssystems auf die DDR waren bereits im Staatsvertrag zur Wahrungs-, Wirtschafts- und Sozialunion enthalten und wurden später durch den Einigungsvertrag vom 31. August 199026 nur noch näher ausgestaltet und geringfügig modifiziert. Ebenda, Nr. 179, S. 821 (825). Ebenda, S. 826. 23 Ebenda, S. 887 ff. 24 Schreiben des Bundesministers Blüm an Bundeskanzler Kohl vom 27.3. 1990, in: ebenda, Nr. 231, S. 979f. 25 Schreiben des Bundesbankpräsidenten Pöhl an Bundeskanzler Kohl vom 30. 3. 1990, in: ebenda, Nr. 239, S. 1002. 26 Siehe Anm. 31. 21

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Art. 18 des Staatsvertrages verpflichtete die DDR zur Einführung eines gegliederten Systems der Sozialversicherung, das von Selbstverwaltungskörperschaften des öffentlichen Rechts durchgeführt und hinsichtlich der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung durch Beiträge finanziert werden sollte, die je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern entsprechend den Beitragssätzen in der Bundesrepublik Deutschland zu tragen waren 27 • Auch für Versicherungspflicht und Beitragsbemessungsgrenzen galten die Grundsätze des westdeutschen Sozialversicherungsrechts. Für eine Übergangszeit sollte die Sozialversicherung zunächst von einem gemeinsamen Träger durchgeführt, und konnte die umfassende Sozialversicherungspflicht, wie sie in der DDR bestand, fortgeführt werden; jedoch sollte für Selbständige und freiberuflich Tatige bei Nachweis ausreichender anderweitiger Sicherung eine Befreiung von der Sozialversicherungspflicht vorgesehen werden. Nach Art. 20 des Staatsvertrages hatte die DDR ihr Rentenrecht an das auf dem Grundsatz der Lohn- und Beitragsbezogenheit beruhende Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik anzugleichen, wobei in einer Übergangszeit von fünf Jahren für die rentennahen Jahrgänge dem Grundsatz des Vertrauensschutzes Rechnung getragen werden sollte. Die bestehenden Zusatz- und Sonderversorgungssysteme sollten grundsätzlich zum 1. Juli 1990 geschlossen werden. Die bisher erworbenen Ansprüche und Anwartschaften wurden in die Rentenversicherung überführt. Für die Umstellung der Bestandsrenten der Rentenversicherung auf Deutsche Mark wurde ein Nettorentenniveau festgesetzt. Es betrug bei einem Rentner mit 45 Versicherungs- oder Arbeitsjahren, dessen Verdienst jeweils dem volkswirtschaftlichen Durchschnittsverdienst entsprochen hatte, 70 Prozent des durchschnittlichen Nettoarbeitsverdienstes in der DDR. Umstritten war zwischen den Regierungen die Aufbesserung der sog. Kleinrenten, weil die Bundesregierung die Einführung einer Mindestrente fürchtete, die DDR dagegen die teilweise unzureichenden Renten erhöhen wollte. Auf Drängen der Regierung de Maiziere wurde schließlich ein Mindestbetrag von monatlich 495,- DM garantiert, der aus dem DDR-Staatshaushalt finanziert werden sollte. Nach beschönigender westdeutscher Interpretation sollte es sich bei diesem Zuschlag für Kleinrenten nicht um eine Mindestrente, sondern um eine "pauschalierte Sozialhilfe" handeln, solange die DDR ein Sozialhilfesystem nach bundesdeutsehern Muster nicht besitze. Mit dessen Einführung sollte der Zuschlag jedoch entfallen und gegebenenfalls Sozialhilfe gewährt werden 28 • 27 So schon Art. 16 eines Arbeitspapiers für die Gespräche mit der DDR für einen Vertrag über die Schaffung einer Währungsunion, Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 24. 4. 1990, in: Dokumente (Anm. 6), Nr. 256, S. 1034 (1039). 28 Vgl. Vorlage des Beauftragten des Bundeskanzlers, Tietrneyer, und des Ministerialrats Ludewig an Bundeskanzler Kohl vom 13.5. 1990, in: ebenda, Nr. 276, S. 1108 (1109); auch in: Wege zur Sozialversicherung (1990), S. 171.

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In Erfüllung der Aufträge des Staatsvertrages erließ die nunmehr demokratisch legitimierte Volkskammer der DDR innerhalb nur weniger Wochen fünf wichtige Arbeits- und Sozialgesetze, darunter das Gesetz über die Sozialversicherung29 und das Gesetz über den Anspruch auf Sozialhilfe3o .

IV. Der Einigungsvertrag

Ausweislich der Präambel des Staatsvertrags waren beide Vertragspartner der Auffassung, "in diesem Vertrag einen ersten bedeutsamen Schritt in Richtung auf die Herstellung der staatlichen Einheit nach Art. 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland" zu sehen. In der Folgezeit trat daher die Wiederherstellung der staatlichen Einheit in den Mittelpunkt der politischen Bemühungen. Parallel zu den Beratungen eines Staatsvertrages verhandelten die Regierungen beider Staaten über einen "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands,,31, den sog. Einigungsvertrag. Dieser Vertrag, der wegen der erforderlichen Detailliertheit der Regelungen 360 Seiten des Bundesgesetzblatts füllt, wurde nicht zuletzt dank eines bewundernswerten Einsatzes der Beamtenschaft32 im August des Jahres 1990 ausgehandelt. Eine der zentralen und zunächst umstrittenen Fragen war, ob das DDR-Recht weitergelten und bundesdeutsches Recht für die fünf neuen Länder Ausnahme sein sollte oder ob umgekehrt das bundesdeutsche Recht übertragen werden und DDRRecht nur in Ausnahmefällen befristet weitergelten sollte. Die Bundesressorts sprachen sich dafür aus, daß Bundesrecht die Regel, DDR-Recht die Ausnahme sein müsse. Insbesondere Bundesminister Blüm setzte sich nach dem Zeugnis Schäubles vehement dafür ein, das Bundesrecht zu transformieren, um auf diese Weise schneller und konfliktärmer die sozialen Errungenschaften des Westens auf das Beitrittsgebiet zu übertragen33 , was den Finanzminister allerdings teuer zu stehen kam. Art. 30 Abs. 5 des Einigungsvertrages sah dann vor, daß die Einzelheiten der Überleitung des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (Rentenversicherung) und der Vorschriften des Dritten Buchs der Reichsversicherungsordnung (Unfallversicherung) in einem Bundesgesetz geregelt werden sollten.

29 Vom 28. 6. 1990 (Gesetzbl. I S. 486), dazu Horst Marburger, in: Wege zur Sozialversicherung (1990), S. 193 ff. 30 Vom 21. 6. 1990 (Gesetzbl. I S. 392). 31 Vom 31. 8. 1990 (BGBI. 11 S. 889). 32 Hierzu auch Schäuble (Anm. 11), S. 152. 33 Ebenda, S. 154.

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V. Die Vereinheitlichung des Rentenversicherungsrechts Mit dem Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Rentenund Unfallversicherung 34 , dem Renten-Überleitungsgesetz, wurde dann Mitte 1991 ein einheitliches Renten- und Unfallversicherungsrecht für ganz Deutschland geschaffen. Es erstreckte grundsätzlich das in der Bundesrepublik geltende und teilweise vor der Wiedervereinigung im Rentenrefonngesetz vom Dezember . 1989 35 gerade kodifizierte Recht auf das Beitrittsgebiet. Beiträge und Leistungen bemessen sich nunmehr in der Regel nach demselben Recht. Lediglich Rentenhöhe und Rentenanpassung differieren nach wie vor zwischen den alten und neuen Bundesländern, weil sie sich nach dem jeweiligen Nettoarbeitsentgelt richten, das sich in beiden Teilen Deutschlands immer noch unterscheidet. Die Differenzen werden jedoch im Laufe der Zeit abgebaut. Ab 1. Juli 1998 beträgt die Standardrente für die alten Bundesländer 2 144,25 DM, für die neuen Bundesländer 1 839,15 DM 36, so daß ein Unterschiedsbetrag von rund 300,- DM bleibt. Ähnlich wie bei der Eingliederung des Saarlandes wurde nach dem Beitritt der DDR das Sozialversicherungssystem auf die neuen Länder übertragen. Daß damit der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten in den alten Ländern versicherungsfremde Leistungen aufgebürdet wurden, ist unrichtig, und der Hinweis, den Renten in den neuen Bundesländern stünden keine Beiträge - jedenfalls an die jetzigen Sozialversicherungsträger - gegenüber, ist vordergründig. Zwar gehört die Beitragsentrichtung während eines gewissen Zeitraums zu den Voraussetzungen einer Rentenberechtigung, wie auch die Höhe der gesetzlichen Altersrente grundsätzlich von der Höhe der gezahlten Beiträge abhängt (Beitragsäquivalenz der Rente). Wirtschaftlich betrachtet ist die Rentenleistung der Versicherungsträger ebenfalls die Gegenleistung für die von den Sozialversicherten und deren Arbeitgebern gezahlten Beiträge. Anders als im Privatversicherungsrecht werden diese Beiträge jedoch nicht angespart und an den Versicherten später zuzüglich einer Verzinsung wieder ausgekehrt. Die Sozialversicherung folgt vielmehr seit der Rentenrefonn von 1957 dem Prinzip des Umlageverfahrens. Die eingehenden Beiträge der Sozialversicherten werden an die Rentner der jeweiligen Periode ausgezahlt. Dafür erwirbt der Sozialversicherte eine in ihrer Höhe steigende Rentenanwartschaft, die in seinem Alter dann von den künftigen Beitragszahlern eingelöst werden muß 37 • Dieses Prinzip wird, wenn auch juristisch unzutreffend, als "Generationenvertrag" bezeichnet. Daraus folgt, daß durch die Einbeziehung der neuen Länder in das Rentenversicherungssystem keine versicherungsfremden Leistungen begründet wurden. Der gestiegenen Zahl von Rentnern steht Vom 25. 7. 1991 (BGB!. I S. 1606). Gesetz zur Refonn der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenrefonngesetz 1992 RRG 1992) vom 18. 12. 1989 (BGB!. I S. 2261). 36 Quelle: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger. 37 Vg!. statt aller Wolfgang Gitter, Sozialrecht, München 4 1996, § 5 11, S. 62f. 34

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eine gestiegene Zahl von Beitragszahlern gegenüber. Wiedervereinigungslasten hätten allenfalls entstehen können, wenn die Bevölkerungsstruktur der ehemaligen DDR wesentlich ungünstiger gewesen wäre als die der Bundesrepublik. Das ist jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil war der Anteil der über Sechzigjährigen in der DDR mit 18,8 Prozent um zwei Prozentpunkte geringer als in der alten Bundesrepublik, in der er 20,8 Prozent betrug38 . Auch die nicht vorhersehbare höhere Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern, die im wesentlichen auf den Zusammenbruch der Märkte des Ostblocks zurückzuführen ist, gebietet keine andere Beurteilung. Zwar wird rentenversicherungsrechtlich die Zeit der Arbeitslosigkeit berücksichtigt. Für diese Zeiten entrichtet jedoch die Bundesanstalt für Arbeit als Träger der Arbeitslosenversicherung sogenannte Trägerbeiträge39 , so daß auch insoweit die Rentenversicherung nicht mit versicherungsfremden Leistungen belastet wird. Allerdings mußten wegen des geringen Beitragsaufkommens in den neuen Bundesländern erhebliche Transferleistungen aufgebracht werden, die für die soziale Sicherheit im Zeitraum von 1991 bis 1994 etwa 240 Milliarden DM ausmachten40 • Für die Mehrzahl der Rentner hat die Transformation des bundesdeutschen Sozialversicherungsrechts keine Probleme gebracht, wenn man von den Schwierigkeiten jeder Umstellung absieht. Sie hat im Gegenteil die wirtschaftliche Situation des weitaus überwiegenden Teils der Rentner in sehr beträchtlicher Weise verbessert. Verschlechterungen konnten für den durchschnittlichen Rentner insbesondere deshalb nicht auftreten, weil die schon im Staatsvertrag41 enthaltene Bestandsgarantie im Einigungsvertrag42 nochmals bekräftigt wurde.

VI. Besonderheiten der Versorgungssysteme der DDR Anders stellt sich jedoch die Situation für bestimmte Gruppen von Rentenbeziehern oder Rentenanwartschaftsberechtigten dar, die in Zusatz- oder Sonderversorgungssysteme der DDR eingegliedert waren. Für diese Personenkreise hat die Umstellung teilweise zu Renten unterhalb des Sozialhilfeniveaus geführt.

38 Statistisches Jahrbuch 1992 für die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Statistischen Bundesamt, S. 63. 39 § 170 Abs. 1 Nr. 2 b Sozialgesetzbuch VI. 40 Vgl. Regierungserklärung vom 12. 10. 1995, Deutscher Bundestag, 13. WP., Steno Berichte, S. 5057 ff. 41 Art. 20 Abs. 2 Satz 3. 42 Anl. II Kap. VIII Sachgebiet HAbschnitt III Nr. 9 lit. b Satz 1 EV.

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1. Die Zusatzversorgungssysteme

Die unübersichtlichen Zusatzversorgungssysteme43 betrafen nicht nur sog. Mitglieder des Staatsapparates sowie gesellschaftlicher Organisationen des FDGB, sondern auch die wissenschaftliche und technische Intelligenz, Ärzte, Künstler, Mitglieder des Schriftstellerverbandes bis hin zu Ballettmitgliedern. Das RentenÜberleitungsgesetz (Art. 3 Anl. 1) führt 27 verschiedene Zusatzversorgungssysteme auf. Deren Sinn war es, den Berechtigten im Alter in der Regel 90 Prozent des Nettolohns unter Anrechnung der Rente aus der Sozialpflichtversicherung zu sichern. Die Einbeziehung war für manche Berufsgruppen (z. B. Hochschullehrer, Pädagogen, Mediziner) obligatorisch, konnte im Einzelfall aber auch durch Ministerentscheidung erfolgen. Seit 1971 war für die Zusatzversorgungssysteme ein Beitrag zu entrichten, der in der Regel zehn Prozent, mitunter aber auch nur fünf oder drei Prozent des maßgeblichen Verdienstes ausmachte. Leistungen aus Zusatzversorgungssystemen bezogen rund 200 000 bis 225 000 Versorgungsberechtigte. Die Zusatzversorgungsrenten betrugen zum Zeitpunkt der Umstellung in etwa der Hälfte aller Fälle nicht mehr als 200 Mark, in 800 Fällen mehr als 2 000 Mark. Die Zusatzversorgung in der ehemaligen DDR ähnelte der Zusatzversorgung für Arbeiter und Angestellte des öffentlichen Dienstes in der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder sowie der betrieblichen Altersversorgung in den alten Bundesländern. 2. Die Sonderversorgungssysteme

Im Unterschied hierzu stellten die Sonderversorgungssysteme44 eine eigenständige Sicherung außerhalb der Sozialpflichtversicherung für Staatsbedienstete dar. Sonderversorgungen bestanden nicht nur für die Angehörigen der Nationalen Volksarmee und des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit, sondern auch für Angehörige der Zollverwaltung, der Deutschen Volkspolizei, der Organe der Feuerwehr und des Strafvollzugs. Insgesamt gab es rund 120 000 Empfanger von Sonderversorgungen. Der betroffene Personenkreis erhielt seine Altersversorgung ausschließlich aus den Sonderversorgungssystemen. Dafür waren zehn Prozent der vollen Bezüge ohne Bemessungsgrenze als Beiträge an den Sonderversorgungsträger zu entrichten. Die Rente betrug grundsätzlich 90 Prozent der jeweiligen Nettobesoldung. Die Bezieher von Renten aus der Sonderversorgung hatten einen den Ruhestandsbeamten in den alten Bundesländern vergleichbaren Status.

43 Hierzu Detlef Merten, Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, Berlin 2 1994, S. 13 f. 44 Vgl. ebenda, S. 14f.

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3. Überführung der Versorgungssysteme in die Rentenversicherung

Durch das Renten-Überleitungsgesetz wurden die Ansprüche und Anwartschaften aus den Versorgungssystemen in die gesetzliche Rentenversicherung überführt. Es enthält hierfür in seinem Art. 3 ein spezielles "Gesetz zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebietes" (Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz - AAÜG). Dabei wurden jedoch eine Reihe von Modifikationen vorgenommen, die schwierige verfassungsrechtliche, aber auch sozialpolitische Probleme verursacht haben, welche hier nur im Überblick erörtert werden können.

Vll. Probleme der Anspruchs- und Anwartschaftsüberführung 1. Die Beitragsbemessungsgrenze

Die Höhe der Rente aus den Versorgungssystemen soll sich nach der Überführung grundsätzlich nach der Dauer der Erwerbstätigkeit und dem tatsächlich erzielten Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen bestimmen. Allerdings werden die individuellen Einkünfte von vornherein nur bis zur Höhe der jeweils im (alten) Bundesgebiet geltenden Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt. Diese Regelung betrifft also die Höherverdienenden und ist verfassungsrechtlich, vor allem aber sozialpolitisch problematisch. Für das westdeutsche Rentenversicherungsrecht macht die Beitragsbemessungsgrenze einen Sinn und ist sogar verfassungsrechtlich geboten45 • Da die Altersrente in der gesetzlichen Rentenversicherung jedenfalls für die Bezieher höherer Einkünfte nur die Aufgabe einer Mindestsicherung, nicht aber einer Lebensstandardsicherung hat, ist es systemgerecht, die Beitragspflicht durch eine Beitragsbemessungsgrenze zu limitieren und auch nur in dieser Höhe Rentenanwartschaften entstehen zu lassen. Höherverdienende haben dann die Möglichkeit, aber auch die Last, nach freier Entscheidung und eigener Wahl für eine einkommens-adäquate Alterssicherung, z. B. durch Abschluß privater Lebensversicherungsverträge, zu sorgen. Demgegenüber bezweckte die Sonderversorgung in der DDR keine Mindest-, sondern eine Vollsicherung. Deshalb hatten die Versorgungsberechtigten zehn Prozent ihrer vollen Bezüge ohne jede Bemessungsgrenze als Beiträge zu entrichten, und betrugen die Versorgungsrenten grundsätzlich 90 Prozent der jeweiligen Nettobesoldung. Sinn der Zusatzversorgung war es, den Berechtigten über die Mindestsicherung in der Sozialpflichtversicherung hinaus durch zusätzliche Leistungen einen prozentualen Teil ihres letzten Erwerbseinkommens (90 Prozent 45 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 29, S. 221 (242f.); Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSGE) 23, S. 241 (246f.); Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (BGHZ) 67, S. 262 (270).

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des Nettolohns) zu sichern. Unbeschadet des fehlenden Bedürfnisses hätten die Berechtigten auch gar keine Möglichkeit gehabt, in der DDR eine zusätzliche Alterssicherung im Wege einer Privatversicherung zu erreichen. Zwar ordnet der Einigungsvertrag die Überführung der erworbenen Versorgungsansprüche und Anwartschaften in die Rentenversicherung an, wobei diese nach Art, Grund und Umfang den Ansprüchen und Anwartschaften nach den allgemeinen Regelungen der Sozialversicherung anzupassen sind. Daß damit auch automatisch eine Beitragsbemessungsgrenze nachträglich für die Versorgungssysteme eingeführt werden sollte, folgt aus dieser Regelung nicht zwingend. Dagegen spricht, daß der Einigungsvertrag ebenfalls bestimmt, daß eine Besserstellung "gegenüber vergleichbaren Ansprüchen und Anwartschaften aus anderen öffentlichen Versorgungssystemen nicht erfolgen darf'46, womit ausdrücklich zwischen der Sozialversicherung und öffentlich-rechtlichen Versorgungssystemen differenziert wird. Sinn der Regelung kann nur sein, eine Besserstellung gegenüber dem westdeutschen Versorgungssystem, nicht aber gegenüber dem westdeutschen Sozialversicherungssystem zu vermeiden. Die Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften in die gesetzliche Rentenversicherung, die als "Systementscheidung,,47 qualifiziert wird, bedeutet nicht ohne weiteres, daß das westdeutsche Sozialversicherungssystem nachträglich für die Art und den Umfang des Erwerbs von Versorgungsansprüchen ausschlaggebend sein soll. Auch bei der Rückgliederung des Saarlandes hatte man die "saarländischen Beiträge" privilegiert, so daß die hieraus resultierenden Werteinheiten um rund 75 Prozent höher lagen als im übrigen Bundesgebiet48 . Angesichts dieser für das Saarland in Kauf genommenen bewußten System widrigkeit hätte eine Ausnahmeregelung für die ehemalige DDR nahegelegen, da die Beitragsbemessungsgrenze kein unantastbares sozialversicherungsrechtliches Tabu darstellt. Die jetzige Regelung führt zur Ungleich behandlung vergleichbarer Gruppen. Für diejenige Gruppe von Versorgungsbeziehern, deren Einkommen sich innerhalb der Beitragsbemessungsgrenze hielt, wird das Einkommen bei der Rentenberechnung voll berücksichtigt. Bei derjenigen Gruppe, deren Entgelt die Beitragsbemessungsgrenze überstieg, werden alle übersteigenden Einkünfte fallbeilartig gekappt. Auf diese Weise erhält ein Versorgungsberechtigter, dessen Einkünfte die Beitragsbemessungsgrenze um 50 Prozent übertrafen, nicht mehr als ein solcher, dessen Einkünfte gerade die Beitragsbemessungsgrenze erreichten. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht49 die Absenkung des Sicherungsniveaus auf die Beitragsbemessungsgrenze als verfassungskonform erachtet, weil im Rahmen gesetzgeberischer Gestaltungsbefugnis gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG die Überführung als 46

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Nachweis in Anm. 41. So BSGE 72, S. 50 (65, 67). Hierzu Merten (Anm. 43), S. 1l0f. BVerfGE 100, S. 59 (98 f.).

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Ganzes einem wichtigen Gemeinwohlbelang diene, indem "mit der Rechtsangleichung im Rentenrecht zugleich die Finanzierbarkeit der Sozialversicherung insgesamt erhalten" bleibe. 2. Bereichsspezijische undfunktionsspezijische SchlechtersteIlungen

Weiterhin enthält die VersorgungsüberJeitung eine Reihe bereichs spezifischer oder funktionsspezifischer Ausnahmen. Dabei werden von diesen Vorschriften wiederum Ausnahmen gemacht, so daß das Gesetz insgesamt ein schwer durchschaubares Dickicht von Sonderbestimmungen beinhaltet, die darüber hinaus noch novelliert wurden. Bereichsspezifische Ausnahmen betreffen solche Regelungen, die Ausnahmen für einzelne Zweige (z. B. Nationale Volksarmee, Deutsche Volkspolizei oder Zollverwaltung) festlegen. Funktionsspezifisch sind Ausnahmen, die unabhängig von dem zuständigen Versorgungssystem Regelungen für bestimmte Tätigkeiten (z. B. Betriebsdirektor, Fachdirektor, Richter oder Staatsanwalt) enthalten. Für bestimmte, gesetzlich im einzelnen aufgeführte Zusatz- und Sonderversorgungssysteme, die sogenannte "staatsnahe Tätigkeiten" betreffen, wurden die erzielten Arbeitsentgelte in einem komplizierten Verfahren angerechnet5o• Nur wenn das individuelle Arbeitseinkommen ein in Tabellen niedergelegtes Durchschnittsentgelt um nicht mehr als das l,4fache übertraf, findet eine vollständige Anrechnung statt. Bei einer Übersteigung um mehr als das l,4fache, aber nicht um das 1,6fache, wird der Versorgungsberechtigte so behandelt, als ob er 140 Prozent des Durchschnittsentgelts erzielt hätte. Verdiente der Versorgungsberechtigte jedoch mehr als 160 Prozent des Durchschnittsentgelts, so werden ihm nicht einmal 140 Prozent gutgebracht. Vielmehr wird das anzurechnende Entgelt degressiv bis maximal zur Höhe des Durchschnittsverdienstes abgesenkt51 . Dieselben Beschränkungen gelten für bestimmte, im einzelnen aufgeführte Funktionen, z. B. für die eines Betriebsdirektors, des Fachdirektors eines Kombinats auf Leitungsebene, eines Richters oder Staatsanwalts. Dabei werden dann wieder Ausnahmen für Personengruppen gemacht, die trotz ihrer Zugehörigkeit zu staatsnahen Versorgungssystemen aufgrund ihrer Funktion (z. B. als Angehörige der Berufsfeuerweh2 2 ) weniger belastet erscheinen und daher im Ergebnis privilegiert werden. Zwar sah der Einigungsvertrag bei der Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus den Versorgungs systemen vor, daß "ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen" waren 53 • Daß jedoch jedes § 6 Abs. 2 AAÜG i.V.m. Anl. 1 Nr. 2, 3, 19 bis 27 und Anl. 2 Nr. 1 bis 3. Vgl. im einzelnen Merten (Anm. 43), S. 17 ff., 126 ff. 52 Vgl. Anl. 7 AAÜG. 53 V gl. Anl. II Kap. VIII Sachgeb. HAbschnitt III Nr. 9 lit. b Nr. 1 EV. 50 51

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Arbeitsentgelt von mehr als 140 Prozent des Durchschnittsverdienstes in einer "staatsnahen" Funktion im Vergleich mit westdeutschen Verhältnissen oder der Einkommenssituation in der DDR überhöht gewesen sein soll, läßt sich angesichts der Fülle der erfaßten Versorgungssysteme und der Vielzahl der Betroffenen nicht schlüssig behaupten, zumal der Gesetzgeber hierzu auch keine Ermittlungen durchgeführt hat. Zutreffend hat daher das Bundesverfassungsgericht die Wirklichkeitsnähe der Grenzwerte vemeint54 und eine unzulässige Typisierung gerügt. Es hat demzufolge § 6 Abs. 2 (in Verbindung mit den Anlagen 4, 5 und 8) sowie § 6 Abs. 3 Nr. 7 AAÜG mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 GG für unvereinbar erklärt.

3. Versorgungsleistungenfür Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit Die empfindlichste Beschränkung erfolgte bei Zugehörigkeit zu dem Versorgungssystem des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit! Amtes für nationale Sicherheit55 . Hier wird Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen höchstens bis zu 70 Prozent des Durchschnittsentgelts berücksichtigt. Zudem wird angeordnet, daß Vorschriften über die sogenannte Mindestrente nicht anzuwenden sind, so daß es auf jeden Fall bei der 70-Prozent-Begrenzung bleibt. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß das deutsche Sozialversicherungsrecht traditionell wertneutral ist56 . So stellt die Versicherungspflicht lediglich darauf ab, daß jemand gegen ein Arbeitsentgelt oder zu seiner Berufsausbildung beschäftigt ist, ohne daß es auf die Gesetzes- oder Sittenkonformität des Arbeitsvertrages ankommt. Selbst schwerste Kriminalität führt nicht zu einem Ausschluß aus der Versichertengemeinschaft, weil das Sozialversicherungsrecht keinen derartigen Verwirkungstatbestand kennt. Lediglich während des Dritten Reiches wurde durch eine Ergänzung der Reichsversicherungsordnung die Möglichkeit geschaffen, Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung ruhen zu lassen, wenn der Berechtigte sich nach dem 30. Januar 1933 in staatsfeindlichem Sinne betätigt hatte 57 . Anläßlich des Übertritts des ehemaligen Gruppenleiters im Bundesamt für Verfassungsschutz, Hans-Joachim Tiedge, in die DDR im Jahre 1985 wurde erwogen, einen Versagungstatbestand in das Rentenrecht einzuführen, wenn der Berechtigte sich einem Strafverfahren wegen Landesverrats oder einer vergleichbaren Straftat entzieht. Angesichts einhelliger und massiver Ablehnung des Gesetzesentwurfs durch alle Sachverständigen wurde der Plan jedoch fallengelassen 58 . BVerfGE 100, S. 59 (97). Hierzu auch Markus Heintzen, Vergangenheitsbewältigung durch Rentenversicherungsrecht - dargestellt am Beispiel der hauptberuflichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, in: Vietteljahresschrift für Sozialrecht (1995), S. 1 ff. 56 Hierzu Metten (Anm. 43), S. 50ff. 57 Vgl. ebenda, S. 54. 58 Ebenda. 54 55

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Selbst wenn man im Zuge der Bewältigung der DDR-Vergangenheit von dem Prinzip der Wertneutralität des Sozialversicherungsrechts hätte abgehen wollen, hätte ein Rentenzugriff als strafahnliehe Sanktion in einem Rechtsstaat des Nachweises individueller Schuld bedurft. Zwar sieht der Einigungsvertrag die Kürzung oder Aberkennung von Versorgungsansprüchen und Anwartschaften bei Verstößen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit vor. Hierfür reicht es jedoch nicht, den Angehörigen bestimmter Versorgungs systeme pauschal zu unterstellen, sie hätten diese Grundsätze verletzt. Die Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem der Angehörigen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit kann nicht eo ipso den Schluß auf eine rechtsstaatswidrige oder die Grundsätze der Menschlichkeit verletzende Tatigkeit zulassen. Das gilt beispielsweise für den Medizinischen Dienst, aber insbesondere für weniger qualifizierte Hilfsfunktionen (Verkäuferin, Küchenhilfe). Sogar der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg hatte bei der Feststellung des verbrecherischen Charakters der Gestapo das "für reine Büroarbeiten, Pförtner-, Boten- und andere nichtamtliche Aufgaben beschäftigte Personal" ausgenommen und bei der Einbeziehung des Reichssicherheitshauptamtes nur bestimmte Ämter berücksichtigt. Zu Recht hat daher das Bundesverfassungsgericht59 entschieden, daß die durch § 7 Abs. 1 Satz 1 AAÜG (in Verbindung mit Anlage 6) für Angehörige des Sonderversorgungssystems des Ministeriums für Staatssicherheit! Amtes für Nationale Sicherheit vorgenommene Begrenzung der berücksichtigungsfahigen Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen auf 70 Prozent des jeweiligen Durchschnittsentgelts im Beitrittsgebiet mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 GG nicht vereinbar und nichtig ist, soweit für die Rentenberechnung das zugrunde zu legende Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen unter das jeweilige Durchschnittsentgelt im Beitrittsgebiet abgesenkt wird. 4. Die Zahlbetragsbegrenzung Darüber hinaus wurde bei der Versorgungsüberleitung zusätzlich die Summe der Zahlbeträge aus gleichartigen Renten der Rentenversicherung und Leistungen der Versorgungssysteme begrenzt. Für Angehörige des Sonderversorgungssystems des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit betrug diese Begrenzung für Versichertenrenten 802,- DM (§ 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AAÜG). Auf diese Weise wurden viele Sonderversorgungsberechtigte von anderen Sozialleistungen (Sozialhilfe, Wohngeld) abhängig. Die Höchstbetragsregelungen der Versorgungsüberleitung sind zudem in sich widersprüchlich, weil sie allein an unterschiedliche Versorgungssysterne anknüpfen. So beträgt z. B. der Zahlbetrag für einen Mediziner im Ministerium für Staatssicherheit höchstens 802,- DM, während ein für die Kommandierung von Todesschüssen an der Mauer zuständiger Offizier der Nationalen Volksarmee 2 010,- DM und damit das Zweieinhalbfache erhalten kann. 59

BVerfGE 100, S. 138.

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Detlef Merten

Das Bundesverfassungsgericht hat nun die Vorschrift des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AAÜG über die Begrenzung von Zahlbeträgen der Leistungen des Sonderversorgungssystems des Ministeriums für Staatssicherheit/ Amtes für Nationale Sicherheit auf 802,- DM monatlich bei Versichertenrenten wegen Verstoßes gegen Art. 14 GG für nichtig erklärt6o. Insgesamt ist der Versuch, die Vergangenheit der DDR mit Hilfe des Rentenversicherungsrechts zu lösen, untauglich. Die Regelungen sind vielfach willkürlich und verstoßen teilweise gegen Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 14 Nr. 1 GG. So sehr aber die Eingliederung der Versorgungssysteme in das deutsche Sozialversicherungsrecht mißlungen ist, so sehr kann andererseits die Erstreckung des Sozialversicherungsrechts auf das Beitrittsgebiet als ein gelungenes Kapitel der deutschen Wiedervereinigung bezeichnet werden.

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Ebenda.

Zur Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung Von Gisela Färber

I. Der letzte Bundestagswahlkampf hat der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) unendlich geschadet. Erstmals wurde nämlich eine alte Übereinkunft zwischen den Parteien gebrochen, dieses Thema nicht zum Gegenstand von Wahlkampfauseinandersetzungen zu machen, um vor allem die, die nur wenig von den Dingen verstehen, nicht zu verunsichern. Darüber hinaus beherrschten Polemiken, Halb- und Unwahrheiten, neue Wahlgeschenke und zum Teil absurde Versprechungen das Wahlkampfklima, so daß eine an der Sache orientierte notwendige Reformdebatte ohne Gesichts- und neuerlichen Wahlerstimmenverlust wohl auf längere Zeit nicht geführt werden kann. Die Rücknahme der letzten Rentenreform durch die neue Bundesregierung und die Senkung der Beitragssätze durch eine Subventionierung der gesetzlichen Rentenversicherung aus dem Aufkommen der "Ökosteuer" hat die Strukturprobleme der Rentenversicherung sogar noch verstärkt. Am meisten geschadet hat der gesetzlichen Rentenversicherung aber die unsägliche Debatte über ihre Finanzierung nach dem Umlage- oder dem Kapitalstockverfahren. Unter letzteres ist im Grunde auch das Grundrentenmodell von Biedenkopf! Miegel 1 zu zählen, weil es nur noch eine steuerfinanzierte Grundrente für alle vorsieht (die aber im übrigen so teuer ist, daß sie ohne substantielle Streichungen in anderen Bereichen nicht finanziert werden kann!) und jede weitergehende Alterssicherung auf einen privaten Kapitalstock gründen will. Regelrecht grotesk hinsichtlich ihres ökonomischen Realitätsgehalts muteten auch Beiträge und Annoncen an (z. B. zuletzt die des damaligen Schatten-Wirtschaftsministers lost Stollmann in der FAZ wenige Tage vor der Wahl), die behaupteten, private Rentenversicherungen brächten vier Prozent Realzins, die gesetzliche Rentenversicherung hingegen null Prozent. Allein deshalb müsse "man" auf das Kapitalstockverfahren umstellen. I Vgl. Kurt Biedenkopf, Die neue Sicht der Dinge, München, Zürich 21985, S. 4ooff.; Meinhard Miegell Stefanie Wahl, Gesetzliche Grundsicherung. Private Vorsorge - Der Weg aus der Rentenkrise, Stuttgart 1985.

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Gisela Färber

Einmal abgesehen davon, daß beide Renditeangaben zwar durch die wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Literatur geistern, aber nachweislich falsch sind, verkennt die Kritik, daß es keinen pareto-optimalen Übergang vom bestehenden Umlage- zum Kapitalstockverfahren gibt2 . Daneben abstrahieren alle einschlägigen kritischen Modellrechnungen davon, daß in der gesetzlichen Rentenversicherung aus Beitrags- und Steuermitteln auch nicht beitragsgedeckte Leistungen gezahlt werden. Bei der realen Verzinsung des Kapitalstocks wird meistens die der langfristigen Staatsanleihen angeführt, abgesehen wird aber von allen versicherungsmathematischen Abschlägen für Friihverrentung, Altersarbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit und Hinterbliebenensicherung; die nicht unerheblichen Verwaltungskosten der Lebensversicherer werden ebensowenig in Rechnung gestellt. So sind also schon die Annahmekonstruktionen "schiefäugig". Einmal abgesehen von der notwendigen Klärung, von welchen Annahmen denn auch am Kapitalmarkt im Zeichen schrumpfender Bevölkerung zukünftig ausgegangen werden muß, verursacht die ideologisch ausgetragene Debatte der gesetzlichen Rentenversicherung indes heute schon Schäden, weil dem Publikum "vorgerechnet" wird, seine Beitragszahlungen würden in Zukunft nicht nur schlechter verzinst als die der Eltern (was wohl zutrifft, aber nicht nur demographische Ursachen hat), sondern seien sogar unrentabel 3 . Schattenwirtschaft, Steuerhinterziehung und "Trittbrettfahren" in den sozialen Sicherungssystemen erscheinen den "Cleveren", vor allem dann, wenn sie annehmen müssen, daß die Politik sie "betrüge", nicht nur als logischer, sondern auch als moralisch legitimierter Ausweg, der seinerseits die kollektiven Systeme der Haushalte der Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen weiter aus dem Lot bringt. Wird kein hinreichend starker Zusammenhang zwischen geleisteten Beiträgen und erwarteten Leistungen mehr gesehen, dann nehmen überdies die Bemühungen zu, vermehrt Leistungen z. B. in der Krankenversicherung, aber auch durch Friihverrentung in der gesetzlichen Rentenversicherung in Anspruch zu nehmen, um sich "schadlos" zu halten. Diese Leistungen können entweder solche sein, die für versicherte Risiken gewährt werden, oder solche, die im Rahmen von Umverteilungsmaßnahmen beitragsfrei vorgenommen werden. Schließlich kann es zu "Mitnahmeeffekten" indirekter Art dadurch kommen, daß Leistungen, die im kollektiven System für besondere soziale Sicherungslücken gewährt werden, auch von denen in Anspruch genommen werden, auf die die Sicherungsziele infolge gewan2 Vgl. Bert Rürup, Rentenfinanzierung nach dem Kapitalstockverfahren - Möglichkeiten und Probleme, in: Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Hannonisierung der Rentenversicherungssysteme, Bonn 1995, S. 71-80; Franz Ruland, Rentenversicherung zwischen Steuer- und Beitragsfinanzierung, in: Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Sozialversicherung im Spannungsfeld von Beitrags- und Steuerfinanzierung. 7. Speyerer Sozialrechtsgespräch, Speyer 1997, S. 17 - 38; Hans-Wemer Sinn, Sozialstaat im Wandel. Vortrag auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik in Rostock im September 1998. 3 Vgl. Hans H. Glismann/Emst-Jürgen Horn, Renditen in der deutschen gesetzlichen AIterssicherung, in: Wirtschaftsdienst 1998/VlII, S. 474-482.

Zur Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen

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delter Lebensgewohnheiten gar nicht mehr zutreffen. Auch der notwendige Strukturwandel der gesetzlichen Rentenversicherung kann durch die nicht rechtzeitige Anpassung von Leistungen an veränderte Lebensumstände verhindert werden. Wichtigstes Beispiel hierfür ist wohl die Hinterbliebenensicherung, die "beitragsfreie" Leistungen an Witwen und Witwer gewährt - seit 1986 allerdings unter Anrechnung eigener Renten und anderer Erwerbseinkommen4 • Konservative argumentieren hier gerne, die gesetzliche Rentenversicherung sei nun einmal eine Versicherung auf "verbundene Leben". Das gäbe es auch in der privaten Lebensversicherung - was durchaus zutrifft. Dort allerdings müssen auf eine Versicherung auf verbundene Leben, d. h. mit Hinterbliebenensicherung, höhere Beiträge gezahlt werden, während in der gesetzlichen Rentenversicherung Ledige wie Verheiratete, Männer wie Frauen die gleichen, von ihrem Einkommen abhängige Beiträge zahlen und nach dem gleichen Formelzusammenhang Leistungen erhalten. Das Beispiel der Hinterbliebenensicherung zeigt, daß es außerordentlich schwer ist, Beitragsäquivalenz zu messen und zu bewerten. Die Akzeptanz eines Kollektivsystems - gleichgültig, ob es ein öffentliches oder ein privat finanziertes ist hängt aber entscheidend von der Überzeugung der Mitglieder und Beitrittsanwärter ab, daß es einen dauerhaften, Nettonutzen stiftenden Zusammenhang zwischen den zunächst zu zahlenden Beiträgen und den darauf aufbauenden Leistungen gibt, daß Beiträge und Leistungen insofern äquivalent sind. Die folgenden Überlegungen setzen sich deshalb zunächst mit dem Begriff der Beitragsäquivalenz auseinander. Danach wird geprüft, ob und gegebenenfalls warum die gesetzliche Rentenversicherung diese Beziehung zu verlieren droht, d. h. ein so viel schlechteres Beitrags-Leistungsverhältnis aufweist als private Alters- und Invaliditätsversicherungen. Private Versicherungen folgen nämlich offensichtlich einer anderen, von den Regeln des Kapitalmarkts determinierten Äquivalenz. Aus den Ursachen für die Diskrepanzen lassen sich wiederum Rückschlüsse auf erfolgversprechende Reformmaßnahmen ziehen.

11. Das Verhältnis von Beiträgen und Leistungen privater Versicherungen in marktwirtschaftlichen Systemen wird von den Regeln des Kapitalmarktes bestimmt: Der Versicherte zahlt Beiträge, die der Versicherer in einem Kapitalstock anlegt, aus dem später die vereinbarten Leistungen gezahlt werden. Gegenüber privatem Sparen ist die Einschaltung eines Versicherers dann von Vorteil, wenn die Leistungen auch dann gewährt werden sollen, wenn der Versicherte wegen Krankheit oder Tod 4 Gesetz zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 11. Juli 1985, BGB!. I 1985, S. 1450-1471. Zu den aktuellen entsprechenden Regelungen vg!. §§ 18a und b Viertes Buch Sozialgesetzbuch.

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nicht mehr in der Lage ist, die Beiträge über den festgelegten Zeitraum und in der festgelegten Höhe zu zahlen. Für die Absicherung dieser Beiträge nimmt die Versichertengemeinschaft eines Versicherers einen Abschlag ihrer Kapitalverzinsung in Kauf, der - neben den Verwaltungskosten - gerade so hoch ist wie das versicherungsmathematisch berechnete Risiko, daß der "Schadensfall" eintritt. Schwer tun sich Versicherer mit "Risiken", die der Versicherte selbst beeinflussen kann, so ist z. B. Selbstmord ein Ausschlußgrund. Aber auch Arbeitslosigkeit ist privat kaum versicherbar. Sie hängt nun zwar in den meisten Fällen nicht vom Willen des Versicherten ab, denn er erleidet dabei in jedem Fall einen Verlust. Die Eintrittswahrscheinlichkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos ist aber für die Versicherer nur schlecht zu kalkulieren, weil es gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen unterliegt, die über die Laufzeit einer privaten Arbeitslosenversicherung weder individuell noch kollektiv vorhersehbar sind, und infolgedessen die Beiträge für den Risikokapitalstock so hoch wären, daß sich diese Versicherung kaum jemand leisten kann oder will. Offensichtlich hängt also die Beitragsäquivalenz privater Versicherungen nicht nur vom individuellen Vertragsverhältnis zwischen Versicherung und Versichertem ab, sondern auch von der Entwicklung der versicherten Risiken innerhalb der jeweiligen Versichertengruppe. Private Versicherer differenzieren deshalb auch die Beiträge je nach Versichertengruppe, je nachdem, wie groß die gruppenspezifischen Risiken eingeschätzt werden. Auch Veränderungen von Risiken in der Zeit - wie z. B. die steigende Lebenserwartung - führen in der privaten Versicherung immer und meist schon recht prompt zu einer Erhöhung der Beiträge oder einer Minderung der Leistungen. Im Unterschied zu den privaten Versicherern dominieren bei den staatlich organisierten Sozialversicherungen die kollektiven Elemente. Alle Beitragszahier finanzieren z. B. die Rentenansprüche aller Rentner. Die durchschnittliche Rentenhöhe und die Rentenanpassungen werden ihrerseits wiederum aus den Löhnen und Gehältern der BeitragszahIer abgeleitet. Das System der Sozialversicherungen ist gegliedert nach den wichtigsten sozialen Risiken (Alter, Hinterbliebene und Erwerbsunfähigkeit, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflege), wobei die Versicherungspflicht für diese Systeme auf die abhängig Beschäftigten begrenzt ist, weil man annahm, daß alle anderen ihre Sicherungsbedürfnisse selbständig über private Systeme oder freiwillige Mitgliedschaft regeln (können) würden 5 • Anknüpfungspunkt ist regelmäßig der Lohn bzw. das Gehalt. Sowohl der Beitrag richtet sich nach dem Lohn wie auch alle Leistungen mit Lohnersatzfunktion. 5 Daß auch diese Annahme nicht mehr zutrifft, wird am Beispiel der sog. "Scheinselbständigen" deutlich, wiewohl die gerade erlassene bürokratische Regel kaum als "Stein der Weisen" angesehen werden kann - vgl. auch Bert Rürup, Zukunft der Arbeit - Zukunft des Rentensystems: Zur Ausweitung des Versichertenkreises; in: Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Ausweitung der Sozialversicherungspflicht? - 8. Speyerer Sozialrechtsgespräch, Speyer 1999, S. 56 ff.

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Behandlungskosten im Krankheitsfall und Pflegeleistungen sind ohne Bezug zu Lohn bzw. Beiträgen. Typisch für die Sozialversicherungen ist überdies die beitragsfreie Mitversicherung des Ehepartners und der minderjährigen bzw. noch in Ausbildung befindlichen Kinder6 . Diese Mitversicherung gilt im übrigen nicht nur für die Kranken- und Pflegeversicherung, sondern implizit auch für die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung. Bei ersterer wird die Höhe des Arbeitslosengeldes explizit an das Vorhandensein der Unterhaltspflicht gegenüber kindergeldberechtigten Kindern angeknüpft (68 Prozent gegenüber 63 Prozent des letzten Nettoeinkommens für den kinderlosen Arbeitslosen). Außerdem wird das Nettoeinkommen zugrunde gelegt, das über das Ehegattensplitting die geminderte Leistungsflihigkeit infolge der Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Ehepartner großzügig7 honoriert. Bei der gesetzlichen Rentenversicherung ist die beitragsfreie Hinterbliebenensicherung direkter Ausdruck der "Mitversicherung". Implizit enthält aber auch das Ziel der Lebensstandardsicherung bei der Altersrente starke Elemente der Mitversicherung des Ehepartners, indem das Netto-Haushaltseinkommen im Alter für beide in angemessener Höhe (Nettorentenniveau bei etwa 70 Prozent der Nettoeinkommen der abhängig Beschäftigten8 ) abgesichert sein soll. Daneben urnfaßt die Beitragsäquivalenz in der gesetzlichen Rentenversicherung auch Rentenbestandteile aus sog. beitragsfreien Zeiten. Ob Wehrdienst, Kriegszeiten und Gefangenschaft, Ausbildungszeiten und in letzter Zeit in wachsendem Umfang Kindererziehungszeiten, schließlich Zurechnungszeiten bei Erwerbsunflihigkeitsrenten 9 , für all diese renten steigernd angerechneten Zeiten wurden niemals Beiträge gezahlt lO • Statt dessen werden die diesbezüglichen Leistungen implizit über den Bundeszuschuß abgerechnet. Für die Berechnung des Bundeszuschusses wird zwar ein Verfahren benutzt, das keinen expliziten Bezug zu den beitragslosen Leistungen aufweist, was im übrigen für die Stabilität der Rentenfinanzen von hohem Wert ist. Die Diskussion der letzten Jahre über die sog. versicherungsfremden Leistungen sowie die Verknüpfung der letzten Mehrwertsteuer6 In der gesetzlichen Krankenversicherung bis zum Alter von 25 Jahren zuzüglich Zeiten des Wehr- und Ersatzdienstes, § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch. 7 Beim derzeitigen Einkommensteuertarif bis zu einem Betrag von 22 915,26 DM zuzüglich 5,5% Solidaritätszuschlag, insgesamt also 24 175,60 DM bei Einkünften über 240 083 DM. 8 Vgl. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Rentenversicherung in Zeitreihen 1998, Frankfurt a.M. 1998, S. 208. 9 Hier ist zu differenzieren zwischen den Leistungen wegen vorzeitigen Renteneintritts einerseits, der in jedem Fall den versicherten Risiken zuzurechnen ist, und besonderen Teilen der Zurechnungszeiten, die als eher verteilungspolitisch motiviert anzusehen sind. Unterscheidungsmerkmal ist hier, ob eine private Versicherung die Leistungen nach denselben Regeln versichern würde. 10 Von Fremdrenten und Auffüllbeträgen für Rentner aus Ostdeutschland soll hier abstrahiert werden, weil ihre finanziellen Wirkungen im Laufe der Zeit herauswachsen und ihre Gewährung überdies von besonderen politischen Ereignissen wie Motiven getragen waren.

22 Fisch I Haerendel

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erhöhung mit der Erhöhung des Bundeszuschusses ll für die höher bewerteten Kindererziehungszeiten haben hier aber mit einem gewissen Recht eine legitimatorische Beziehung hergestellt. Denn schließlich müssen für Renten aus beitragslosen Zeiten höhere Beiträge von den Beitragszahlern erhoben werden, als dies ohne diese Leistungen erforderlich wäre. Die Beitragszahier erwerben dabei außerdem keine ihren c.p. höheren Beiträgen entsprechenden höheren Rentenanwartschaften, so daß die Rendite ihrer Beitragsleistungen um den Wert geschmälert wird, den im Leistungsbezugszeitraum beitragslose Zeiten am Rentenvolumen haben. Umgekehrt sind allerdings RentnerInnen ohne beitragslose Zeiten ebenfalls undenkbar, d. h., praktisch alle Renten enthalten neben beitragsfundierten Leistungen Rententeile, für die keine Beiträge gezahlt wurden. So müßte die Kunstfigur des Eckrentners mit 45 Beitragsjahren, der dabei heute noch auf ein Nettorentenniveau von etwa 70 Prozent kommt, eigentlich dahingehend modifiziert werden, daß ihm höchstens noch 40 Jahre Beitragszeit, dafür aber 1,5 Jahre Wehr- oder Ersatzdienst, drei Jahre Ausbildungszeit, bei der Eckrentnerin statt dessen Erziehungszeiten für im Mittel 1,7 Kinder als beitragslose Zeiten angerechnet werden. Unter intertemporalen Verteilungsgesichtspunkten kommt hier erschwerend hinzu, daß sich die Verteilungswirkungen der beitragslosen Zeiten im Lauf der Jahre durch Modifikation der Ansprüche und ihre Häufigkeit verändern. Mehrfach wurde in den letzten Jahren die Bewertung der beitragslosen Zeiten - mit Ausnahme der Kindererziehungszeiten - zurückgenommen. Da sie aber immer nur für den Rentenzugang verschlechtert werden, der Rentenbestand seine Verteilungsposition jedoch behält, zahlt der Beitragszahier recht lange noch Beiträge im Umlageverfahren für Umverteilungsleistungen, die er selber nicht mehr erhält. Politökonomisch mag sich hier die Möglichkeit intergenerativer Umverteilung im Umlageverfahren niederschlagen, nach der das, was eine Generation "zuviel" bekommt, die nächste entsprechend weniger erhält I2 • Daß diese zusätzlichen "Opfer" allerdings in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit und angesichts der Anpassungsprobleme der demographischen Entwicklung als zusätzliche Hypothek vernünftige Problemlösungen erschweren, ist ebenso unschwer einzusehen. Beitragsäquivalenz in der gesetzlichen Rentenversicherung ist also an anderen Maßstäben zu messen als in der privaten Lebensversicherung. Sie umfaßt Leistungen, die im Rahmen eines individual orientierten Kapitalstockverfahrens zumindest dann zu Beitragsdifferenzierungen führen, wenn z. B. nicht alle Versicherten verheiratet sind und Kinder haben. Diese Abweichungen von der kapitalmarktmäßigen Äquivalenz werden allerdings nur so lange akzeptiert, wie die Mehrzahl der Versicherten 11 Gesetz zur Finanzierung eines zusätzlichen Zuschusses zur gesetzlichen Rentenversicherung vom 19.12.97, BGBI. I, S. 3121-3126. 12 Vgl. Sinn, Sozialstaat im Wandel.

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die Umverteilungsmerkmale aufweist, - sich dieser Umverteilungswirkungen zugunsten einer bestimmten Gruppe nicht bewußt ist oder - die Umverteilungswirkungen als gerechtfertigte Bestandteile des Systems ansieht. Diese Bedingungen waren in der Phase der Vollbeschäftigung der Männer, hoher Kinderzahlen mit geringer Erwerbstätigkeit der Frauen und stabiler Ehen, in der die gesetzliche Rentenversicherung 1957 in den heute geltenden Grundregeln etabliert wurde, sicherlich gegeben. Fragil wird die Zustimmung zum System jedoch, wenn immer weniger Versicherte von den Umverteilungsmaßnahmen begünstigt werden, die gesetzliche Rentenversicherung auch infolge ihrer Umverteilungsmaßnahmen eine insgesamt deutlich schlechtere Verzinsung als am Kapitalmarkt aufweist und dies den Menschen auch bewußt wird, - die Biographien einer wachsenden Zahl von Versicherten nicht mehr dem ursprünglich "versicherten" Lebensverlauf entsprechen und - die institutionelle Rücknahme von Leistungsbestandteilen - sei es ein gegenüber der Lohnentwicklung verzögerter Anstieg des aktuellen Rentenwerts, sei es die Minderbewertung oder fehlende Anerkennung beitragsfreier Zeiten - die Erwartungswerte der Renten nachhaltig verschlechtert. Nach gut 40 Jahren haben sich die Arbeitsbiographien und Lebensverläufe der Menschen unzweifelhaft verändert: weniger Kinder, wachsende Scheidungsquoten und steigende Lebenserwartung, instabile Beschäftigungsbiographien und sinkende Bedeutung des Beschäftigtenstatus - all dies führt dazu, daß der Zusammenhang zwischen den geleisteten Beiträgen und erwarteten Renten für eine wachsende Gruppe unter den beitragszahlenden Versicherten immer ungünstiger wird, zumal sie in ihrer Altersphase individuell kaum mehr auf ein Rentenniveau kommen können, das ihnen aus der Rente allein ein auskömmliches Leben sichert 13 •

ill. Das Problem der sinkenden Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung infolge einer sich für eine wachsende Zahl von Versicherten verschlechternden Beitrags-Leistungs-Äquivalenz kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Über13 Das konnte zwar ernsthaft nie versprochen werden, denn die GRV war immer nur das System der "ersten Säule". Aber dennoch hat sich in den letzten Jahren auch unter dem Einfluß einer immer stärkeren (Partei -)Politisierung der Diskussion um die Sicherheit der Renten der fatale Eindruck wettgemacht, die Rente sei alleine vollständig lebensstandardsichemd. Bei einem Nettorentenniveau von ca. 70% waren allerdings immer noch weitere (Alters-)Einkünfte erforderlich, wenn der Lebensstandard vollständig gesichert werden sollte.

22*

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nimmt man einmal die Modellrechnungen von Schnabel im Hinblick auf die Rendite von GRV-Renten für verschiedene Geburtsjahrgänge 14 und akzeptiert vorläufig die unterstellten Annahmen, auch wenn sie zum Teil nicht richtig sind, so wird erkennbar, daß die "Verzinsung" von GRV-Beiträgen allein wegen der demographischen Entwicklung im Zeitablauf c.p. schlechter werden muß. Abb. 1 zeigt die Entwicklung der Renditen in der gesetzlichen Rentenversicherung für Geburtsjahrgänge von 1930-1980. Basis der Berechnungen sind Versicherte mit 35 Beitragsjahren von jeweils einem Entgeltpunkt, Renteneintrittsalter ist 62, die Lebenserwartung der 60jährigen steigt um drei (Männer) bzw. 3,2 Jahre (Frauen). Das Bruttoarbeitsentgelt steigt real um jährlich ein Prozent. Der erforderliche Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung resultiert c.p. aus der Veränderung des Verhältnisses von Beitragszahlern zu Rentenempfängern, das sich bis 2030 von 100:53 auf 100: 110 in etwa um Faktor zwei verschlechtern wird, danach bis 2050 noch bis etwa 100: 120 leicht weiter verschiebt 15 . Mithin steigt der Beitragssatz von zur Zeit gut 20 Prozent auf etwa 34 Prozent im Jahr 2050 16• Die Abbildung 1 zeigt den Rückgang der Renditen für jeden Geburtsjahrgang, was wiederum eine direkte Folge der steigenden Beiträge bei C.p. mit ihnen verzögerten Steigerungen des aktuellen Rentenwerts ist.

4,--------------------------------------------------------- - - - alleinstehender Mann 3 t-:--..::....l!~--------------_i ....... alleinstehende Frau - - verheiratete Frau

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1970

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1980

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Quelle: nach Schnabel, Interne Renditen, S. 24.

Abb. 1: Interne Renditen von GRY·Beiträgen für Geburtsjahrgänge 1930 bis 1980 im Status·quo-Szenario 14 Ygl. Reinhold Schnabel, Interne Renditen in der gesetzlichen Rentenversicherung; in: Deutsches Institut für Altersvorsorge (Hrsg.), Renditen der gesetzlichen Rentenversicherung im Vergleich zu alternativen Anlageformen, Frankfurt a.M. 1998, S. 15 ff. IS Ygl. ebenda, S. 19. 16 Ygl. ebenda, S. 21.

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Mit -0,9 Prozent bzw. knapp unter null Prozent erleiden ledige Versicherte des Jahrgangs 1980 sogar Nettoverluste aus ihren Beitragszahlungen, d. h. erhalten nach diesen Modellrechnungen ihre Beiträge real nicht mehr in Form von Renten zurück. Verheiratete Versicherte haben infolge der Hinterbliebenenversicherung deutlich höhere Renditen: Verheiratete männliche Versicherte haben eine etwa um 1,5 Prozentpunkte höhere Realverzinsung als ledige. Verheiratete Frauen stehen sich lediglich um etwa 0,3 Prozentpunkte besser als ihre ledigen Kolleginnen. Prozentual gesehen erhalten aber z. B. die verheirateten männlichen Versicherten der derzeit in Rente gehenden Jahrgänge von +/-1940 eine mehr als doppelt so hohe Realverzinsung ihrer Beitragsleistungen wie ihre ledigen männlichen Kollegen. Die Modellrechnungen von Schnabel gehen im übrigen von "klassischen" EinVerdiener-Ehepaaren aus. Paare, bei denen beide Partner über die ganze Erwerbsphase voll erwerbstätig waren bzw. sind, dürften wegen des Anrechnungsverfahrens in der Hinterbliebenensicherung nur leicht erhöhte Renditen gegenüber ledigen Versicherten aufweisen, da ihre eigene Rente dominiert. D.h., je weniger einer der Ehepartner erwerbstätig war und damit auch Beiträge gezahlt hat, um so besser ist die Verzinsung der Beiträge des anderen. Scheidungen wirken sich renditemindernd aus: Da die während der Ehe erworbenen Rentenansprüche zwischen den ehemaligen Partnern geteilt werden und von da an als eigene Ansprüche der beiden Personen gelten, vermindert sich sowohl die Rentenzahlphase für die im Durchschnitt jüngere Ex-Ehefrau wegen späteren Renteneintritts als auch infolge des Anrechnungsverfahrens ihre Hinterbliebenenrente aus einer neuen Ehe. Bemerkenswert in Abb. 1 sind dennoch die Renditeunterschiede für RentnerInnen unterschiedlichen Familienstands, die aus den Regeln zur Hinterbliebenensicherung und der unterschiedlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen resultieren. Eine private Versicherung müßte von einer für alle gleichmäßigen Verzinsung ausgehen und würde Beiträge oder Leistungen danach modifizieren, wie ihr Verhältnis unter Berücksichtigung des zeitlichen Anfalls ist, weil alle Leistungen aus Zins und Tilgung finanziert werden müssen. Unterschiedliche Lebenserwartungen werden ebenfalls berücksichtigt: So sind z. B. Kapitallebensversicherungen mit Rückzahlung in einer Festbetragssumme für Frauen preiswerter als für Männer, während solche auf Rentenbasis teuerer sind, bei des infolge der höheren Lebenserwartung der Frauen. Würde man in der gesetzlichen Rentenversicherung die beitragsfreie Mitversicherung des Ehepartners abschaffen, würde sich die Verzinsung der Beiträge langfristig verbessern. Nimmt man einmal an, ab morgen gäbe es neue Rentenansprüche auch für Ehepartner nur noch beitragsfundiert, dann würden die Zahlungen für abgeleitete Hinterbliebenenrenten im Laufe der Zeit sukzessive abnehmen. In der schwierigen Phase um 2020/40 herum dürften bereits merkliche Entlastungen beim Rentenvolumen und entsprechend minder ansteigende Beitragssätze erreicht sein. Wünschenswert wäre allerdings auch, daß heute zusätzliche freiwillige Beiträge gezahlt würden, weil damit im Umlageverfahren eine Entlastung des aktuellen Beitragssatzes verbunden wäre. In Anbetracht der allerdings noch signifikant

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schlechteren bzw. "schlecht geredeten" Renditen der gesetzlichen Rentenversicherung gegenüber privaten Kapitalanlagen wäre zu erwarten, daß die zusätzlichen Beiträge zur Alterssicherung dem privaten Anlagekapital und damit aber direkt dem gesamtwirtschaftlichen Kapitalstock zugute kommen würden. Deshalb wäre dann von der Abschaffung beitragsfreier Hinterbliebenenansprüche zumindest auf kurze Sicht keine Beitragsentlastung zu erwarten (solange die gesetzliche Rentenversicherung im Hinblick auf ihre internen Renditen nicht wenigstens mit privaten Kapitalmarktanlagen gleichziehen kann) 17. Für die Größenordnung einer durchgängigen Beitragsfundierung von Ansprüchen bleibt an dieser Stelle festzuhalten, daß eine Abschaffung neuer beitragsloser Hinterbliebenenansprüche die internen Realverzinsungen für ledige Versicherte vor allem der Geburtsjahrgänge ab 1950 um überschlägig 0,5 - 0,7 Prozentpunkte verbessern würde. IV.

So überfallig wie aus den verschiedenen Gründen eine Reform der Hinterbliebenensicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung auch ist, niemand wird den Sicherungsbedarf von Frauen im Alter ersatzlos "enteignen" wollen und können. Zwei Aspekte sind bei einer Reform immer zu berücksichtigen: - Trotz Hinterbliebenensicherung ist ein unzureichendes Sicherungsniveau von Frauen heute immer noch eine der wesentlichen Ursachen von Altersarmut. Dahinter verbirgt sich das Problem mangelhafter eigener und die Dominanz abgeleiteter Rentenansprüche. - Die Aufgabe der Kindererziehung, die nach wie vor nur ausnahmsweise von beiden Eltern wahrgenommen und überwiegend der Frau übertragen wird, hat Lohndiskriminierung und Sicherungslücken in der Rentenbiographie zur Folge, so daß auch längerfristig damit zu rechnen ist, daß Frauen geringere Rentenansprüche als (ihre) Männer haben. Wenn aber Kinder die Ursache für die unzureichende Erwerbstätigkeit und daraus resultierend schlechtere Rentensituation von Frauen sind, dann müssen einschlägige Reformen an diesem Sachverhalt anknüpfen. Es gibt hier eine Vielzahl von Vorschlägen, sei es, daß Beiträge und / oder Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung nach Kinderzahl gestaffelt werden sollen, sei es, daß Frauen bzw. Eltern renten steigernde beitragsfreie Kindererziehungszeiten, seit kurzem drei Jahre pro Kind mit je einem Entgeltpunkt 18 , angerechnet werden. Schließlich sind in diesem Kontext auch die Ansätze der Reform speziell der Hinterbliebenensicherung durch die Einführung eigenständiger Sicherungsmodelle für Frauen (Rentensplitting und eigenständige Beitragspflicht für nicht erwerbstätige Frauen) zu beachten. 17 18

Hierzu siehe Ziff. V. Vgl. § 56 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch.

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Unter dem Aspekt der Beitragsäquivalenz ergeben sich eine Reihe von bemerkenswerten Unterschieden zwischen diesen Vorschlägen. Die ersten beiden Modelle (Staffelung von Beiträgen oder Rentenleistungen nach der Kinderzahl) fokussieren überwiegend die Alterssicherung von Paaren. Im Unterschied zum geltenden Rentenrecht sollen Paare mit Kindern insgesamt eine bessere Rentenrendite erzielen, wobei die (statistisch überlebende) Frau nach wie vor auf die abgeleitete Hinterbliebenensicherung verwiesen wird. Je nach Ausgestaltung gibt es aber in heiden Modellen nicht nur Renditeunterschiede zu Ledigen, sondern auch zwischen Paaren mit und ohne Kindern. Das Umverteilungsgefälle über unterschiedliche Verzinsungen der eingezahlten Beiträge wird bei allen einschlägigen Modellen größer. Zwangsläufig müßten dann entweder die Beiträge gegenüber den Status-Quo-Szenarien des geltenden Rentenrechts stark steigen oder aber die Renten für Ledige und kinderlose Paare und mit ihnen die zu erwartenden Renditen für das BeitragsLeistungs-Verhältnis dieser Gruppen entsprechend stärker sinken. Kaum auszudenken, was das für die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung vor dem Hintergrund der wachsenden Individualisierung der Gesellschaft bedeuten könnte! Kindererziehungszeiten, die Frauen als beitragsfreie Rentenansprüche gutgeschrieben werden, haben andere Folgen für die Beitragsrendite der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie erhöhen zunächst die eigenständigen Rentenansprüche von Frauen und zwar um so mehr, wie sie wegen Kindererziehung auf Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise tatsächlich verzichten. Vollerwerbstätige Mütter mit überdurchschnittlichem Einkommen können hingegen in den drei Jahren zusammen mit eigenen Beiträgen aus Beschäftigung maximal zwei Entgeltpunkte erreichen, erhalten also quasi "gedeckelte" Kindererziehungszeiten. Die Folgen der Kindererziehungszeiten auf die interne Rendite von gezahlten Beiträgen hängen vom Finanzierungsverfahren ab: - Werden Kindererziehungszeiten als "echte" Beitragsäquivalente angesehen, werden sie also nicht aus dem Bundeshaushalt vom Steuerzahler "erstattet" und prospektiv für ab dem 1. 1. 1998 geborene Kinder gewährt, dann steigen c.p. die Rentenausgaben etwa 35 -49 Jahre später um diese Kindererziehungszeiten ohne externe Gegenfinanzierung an. Folge davon wären Beitragssteigerungen in der Phase nach 2035/40, von der man unter Einbeziehung der anderen Folgen der demographischen Entwicklung annehmen kann, daß sich dann die Beitragsbelastungen auf sehr hohem Niveau "stabilisieren" werden. Es erscheint jedoch schon von der Logik her nicht empfehlenswert, Kindererziehungszeiten als monetären Beiträgen äquivalent anzusehen. Die gesetzliche Rentenversicherung ist nämlich ein Zwei-Generationenvertrag, der die erwerbstätige beitragszahlende Generation mit der älteren Generation verbindet, die ihre heutigen Rentenansprüche durch Beitragszahlungen in früheren Jahren erworben hat. Kinder sind allenfalls ein Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Drei-Generationen-Vertrag, der verursachungsgerecht aus Steuermitteln in den verschiedenen Zweigen des gegliederten Alterssicherungssystems kompensiert werden muß.

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Nachgeführte Finanzierungsbeiträge für Kindererziehungszeiten aus dem Steuerhaushalt - also implizit die derzeitige Regelung - sind für das BeitragsLeistungs-Verhältnis in der gesetzlichen Rentenversicherung renditeneutral, wenn man einmal von marginalen Interdependenzen zwischen Steuer- und Beitragsbelastung absieht. Unsicher in Anbetracht des zu erwartenden Finanzierungsvolumens einerseits und anderer langfristiger Belastungen der Staatsfinanzen andererseits ist allerdings, ob die Politik die Mittel auch in Zukunft bereitstellen oder ob sie schlicht den aktuellen Rentenwert geringer bewerten und damit die Rentnergeneration (weiter) enteignen wird. Schon aus diesem Grund sollte deshalb der echten Beitragsfundierung von Kindererziehungszeiten aus dem Haushalt des Gesetzgebers, d. h. des Bundes, der Vorzug gegeben werden. Zwar entstehen hierbei ähnlich hohe Rentenmehrausgaben ab dem Jahr 2035 /40 wie in allen anderen Modellen, und sie werden dann nicht aus Steuermitteln erstattet, sondern müssen über höhere Beiträge kompensiert werden. Es gibt jedoch in dieser Phase dann auch mehr "BeitragszahIer": Nach Maßgabe der Zahl der dann aufwachsenden Kinder und des jeweils geltenden Beitragssatzes müßten Beiträge aus dem Bundeshaushalt entrichtet werden, was sich wiederum dämpfend auf den Beitragssatzanstieg auswirken würde. Neuerliche Veränderungen der Geburtenrate könnten außerdem nur noch "gefiltert" auf den Beitragssatz durchschlagen, weil mehr Kindererziehungszeiten infolge von höheren Geburtenzahlen schon einige Jahre zuvor durch einen entsprechenden Anstieg der Erwerbspersonenzahlen kompensiert worden wären. Der größte Vorteil einer vorfälligen echten Beitragsfinanzierung von Kindererziehungszeiten liegt allerdings in der schon kurzfristigen Entlastung der Beitragssätze, wodurch das aus früheren Beitragszahlungen erworbene Rentenvolumen nunmehr durch eine höhere Anzahl von Beiträgen finanziert werden könnte. Die aus dieser Preissenkung für den Faktor Arbeit resultierenden Beschäftigungs- und Wachstumsgewinne sind ihrerseits wiederum mit einer Renditeverbesserung der Renten für alle BeitragszahIer verbunden, solange die Geburtenrate - auch auf niedrigem Niveau - stabil bleibt. Lediglich neue Verwerfungen beim generativen Verhalten lösen neue Renditeverschiebungen zu Lasten zukünftiger Rentnergenerationen aus. Die Modelle einer eigenständigen Alterssicherung von Frauen in der gesetzlichen Rentenversicherung führen ebenfalls zu unterschiedlichen Auswirkungen auf die Rendite von Beitragszahlungen. Hier entfallen in fast allen Modellen die Renditevorteile der Verheirateten, vor allem der mit nicht erwerbstätigen Ehepartnern, wenigstens teilweise 19 . Je nach Ausgestaltung bleibt jedoch festzuhalten: Beim Splitting-Modell ergeben sich Renditevorteile für Verheiratete vor allem noch dann, wenn das Splitting erst bei Tod eines Ehepartners durchgeführt wird. 19 Ausnahme bildet das Splitting-Modell der SPD, das die geteilten Rentenansprüche im Todesfall mit einem Zuschlag versehen will, vgl. Vorschläge der Alterssicherungskommission der SPD vom 4. Mai 1997, S. 10.

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Die vorher nur ideell geteilten Rentenansprüche von Ehepaaren führen wegen des (statistischen) Altersunterschiedes der Ehepartner zu einer früheren Zahlung der (typischerweise) höheren Rente des Mannes als in dem Fall, daß das Splitting beim Renteneintritt des ersten Partners durchgeführt und die Rente des jüngeren Partners erst bei dessen Renteneintritt ausgelöst wird. In diesem Fall reduzieren sich die Renditeunterschiede auf die, die die längere Lebenserwartung der Frauen bewirkt. - Die Modelle einer eigenständigen Beitragspflicht für nicht erwerbstätige Ehepartner weisen bei einer Individualisierung der Rentenansprüche am Ende nur die Renditeunterschiede zwischen Männern und Frauen wegen ihrer unterschiedlichen Lebenserwartung auf, weil es keine Rente ohne entsprechende vorherige Beitragszahlung mehr gibt. Beziehen sich die Rentenansprüche hingegen nach wie vor auf Paar- bzw. Hinterbliebenenrenten - z. B. nach dem Vorbild der schweizerischen Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung -, dann bleiben Renditeunterschiede zugunsten von Paaren in der Höhe bestehen, wie aus den Mindestbeiträgen der Nichterwerbstätigen, die aller Erfahrung nach nicht sehr hoch sind, die Hinterbliebenenrenten nicht finanziert sind. Bei absolut gleichen Mindestbeiträgen nicht erwerbstätiger Ehepartner findet darüber hinaus eine Umverteilung von unten nach oben statt, weil die mit Mindestbeiträgen fundierte Hinterbliebenenrente für die Witwen reicher Rentner größer ist als für die Witwen von armen Rentnern. Eine Beitragspflicht mit (ausschließlich) eigenständigen Rentenanwartschaften für nicht erwerbstätige Ehepartner schafft unter Renditegesichtspunkten allerdings auch zusätzliche Probleme, wenn man sie als freiwillige Alterssicherung anstelle der Hinterbliebenensicherung begreift bzw. begreifen muß. Dann werden zumindest vor dem Hintergrund der derzeitigen Diskussion um die Renditeunterschiede zwischen gesetzlicher und privater Altersvorsorge kaum Beiträge bei der gesetzlichen Rentenversicherung eingezahlt werden, sondern wird eine Absicherung des Hinterbliebenenrisikos allenfalls bei privaten Lebensversicherern vorgenommen werden. Abschließend zum Problernkomplex einer "besseren" Alterssicherung für Frauen ist noch die Frage zu stellen, wie denn generell mit der besseren Verzinsung der Rentenbeiträge von Frauen als Folge ihrer höheren Lebenserwartung umgegangen werden soll. Ist es sinnvoll, einen Renditeausgleich durch Einführung geschlechtsspezifischer Rentenformeln zum Ausgleich unterschiedlich langer Rentenbezugszeiten bei gleichen Beiträgen durchzuführen, oder sollte die bessere Rendite von Renten an weibliche Versicherte als Ausgleich für andere Nachteile hingenommen werden, der allerdings anders als verminderte Erwerbstätigkeit wegen Kindererziehung dann alle Frauen treffen müßte? Ich neige dazu, an einer einheitlichen Rentenformel für beide Geschlechter festzuhalten, weil auch ledige und kinderlose Frauen von der insbesondere durch das "Gebärrisiko" verursachten Lohndiskriminierung betroffen sind. Sollten eines Tages Frauen auch in Führungsetagen zahlenmäßig gleich wie Männer vertreten und keine Lohndiskriminierung mehr feststell-

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bar sein, dann bin ich gerne bereit, die "geschlechtsneutrale" Rentenformel in Frage zu stellen, zumal die besondere Altersgrenze für Frauen bei 60 Jahren, die ihrerseits zusätzliche Ertragsvorteile bewirkt hat, gerade abgeschafft wird. Die beitragslose Mitversicherung von (nicht erwerbstätigen) Frauen hingegen, die nachgerade die Altersarmut von Frauen verursacht hat20 , wird allerdings in Zeiten zunehmender eigener Erwerbstätigkeit zur Subvention der Ehe und nicht der Frauen ..

v. Die Probleme einer freiwilligen (Höher-)Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung oder auf dem Markt der Lebensversicherungen führen zurück auf die Frage, wie groß denn die Renditeunterschiede zwischen gesetzliche Rentenversicherung und privater Lebensversicherung auch mit Blick auf die weiter anstehenden Verwerfungen aus der demographischen Entwicklung überhaupt sind. Modellrechnungen, die von vier Prozent Realverzinsung für Lebensversicherer ausgehen und z. B. für Jahrgänge ab 1970 eine negative Verzinsung der Beiträge in der gesetzliche Rentenversicherung vorrechnen 21 , ist mit äußerster Skepsis zu begegnen. Sie gehen mit einer unglaublichen Blauäugigkeit davon aus, daß in der gesetzliche Rentenversicherung der "worst case" eintritt, die private Lebensversicherung hingegen ohne Risiken und ohne jegliche Transaktions- und Verwaltungskosten agieren kann: - Die hohe Realverzinsung für private Lebensversicherungen muß um die Abschläge für versicherte Risiken sowie um Verwaltungskosten vermindert werden, was in Anbetracht der bekannt hohen Kosten der Lebensversicherer durchaus einen Prozentpunkt der Rendite kosten kann. Des weiteren sind Vorbehalte im Hinblick auf die langfristig erzielbare Bruttorendite angebracht: Im langjährigen Durchschnitt seit 1950 wurden gerade einmal 3,5 - 3,6 Prozent Realverzinsung erwirtschaftet22 . Durchschnittlich vier Prozent sind empirisch erst seit 1980 nachzuweisen. Seit dieser Zeit wird allerdings auch eine restriktive Geldpolitik betrieben. Außerdem standen die Reallohnsteigerungen (teilweise mit negativen Vorzeichen!) und mit ihnen die Lohnquote unter Druck, so daß vieles dafür spricht, daß nach dem Ausbruch der Massenarbeitslosigkeit in den 1970er Jahren eine Art von mittel- bis langfristiger Korrektur der Preise für Arbeit und Kapital gegenüber der Phase der hohen Lohnsteigerungen in der direkten Nachkriegszeit einsetzte. Überdies dürfte der außergewöhnlich hohe Realzins seit ca. 1980 durch die in dieser Phase herrschenden Probleme exzessiver Staatsdefizite - allen voran in den USA unter Ronald Reagan - mitverursacht worden sein. Die Globalisierung wie die finanzpolitisch disziplinierenden Wirkungen der euTO20 Vgl. Heike Ernestus, Altersarrnut von Frauen, in: Soziale Sicherheit (1994) H. 2, S.50-58. 21 Vgl. Schnabel, Interne Renditen, S. 24. 22 Vgl. Institut der Deutschen Wirtschaft, Wirtschaft in Zahlen 1998, Köln 1998, S. 18.

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päischen Währungsunion könnten allerdings umgekehrt auch zu einem nachhaltigen Druck auf die Realzinsen in Europa - bei ungewissen Inflationserwartungen und Nominalzinsen - führen, so daß die meist nominal ausgebrachten Renditeversprechen der Lebensversicherer auf tönernen Füßen stehen könnten mit entsprechenden Zukunftsaussichten für die Verzinsung privater Altersvorsorge. Ungewiß ist außerdem bis heute, welche Auswirkungen die demographische Entwicklung selbst auf die Realzinsen hat23 . Wenn als Faustregel weiterhin gilt, daß der Realzins langfristig in etwa dem realen Wirtschaftswachstum entspricht, dann müßten sich beide Größen c.p. rückläufig entwickeln, wenn infolge der seit längerem fehlenden Geburten die Erwerbspersonenzahl und mit ihr die Erwerbstätigenzahl schrumpft, ohne daß diese Verluste durch eine entsprechende Steigerung der Arbeitsproduktivität (mit entsprechend anziehenden Reallöhnen?) ausgeglichen werden. - Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung hingegen dürften selbst im Status quo auch nicht mit nur null Prozent verzinst werden, sondern insbesondere auch durch die Gewährung versicherungsfremder Leistungen (und ihrer ideellen Deckung durch den Bundeszuschuß) und unter Berücksichtigung der Hinterbliebenensicherung mit etwa zwei Prozent real. Diesen Wert hat auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ermitte1t24 . Darüber hinaus ist nach der Phase der Rückentwicklung der Reallöhne, d. h. bei wieder ansteigender Konjunktur sowie einer demographisch bedingten "Verknappung" des Faktors Arbeit, erneut mit höheren Reallohnsteigerungen zu rechnen, die auch auf den aktuellen Rentenwert und die Rentenanpassungen durchschlagen werden. Schnabel gibt die diesbezügliche Sensibilität seiner Rechnungen mit einem Prozentpunkt besserer Verzinsung der Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung bei einem Prozentpunkt mehr Reallohn an25 . Schließlich ist zu berücksichtigen, daß der Einbau einer demographischen Komponente in die Rentenformel so lange nicht renditeneutral ist, wie die GRV-Beiträge tatsächlich eine andere Verzinsung aufweisen als Zahlungen in eine kapitalmarktüblich verzinste Lebensversicherung. Bei der seit kurzem wieder gültigen Rentenformel, die die Kosten der wachsenden Lebenserwartung allein den Beitragszahlern (und über den Bundeszuschuß den Steuerzahlern) aufbürdet, verzeichnen Rentner und rentennahe Jahrgänge eine wachsende Rendite ihrer Beitragszahlungen, während die jüngeren BeitragszahIer eine Verschlechterung hinnehmen müssen, da sie später einmal ihre eigene, c.p. gleich hohe Rente mit höheren Beiträgen erkaufen müssen. 23 Vgl. bereits Gisela Färber, Private Altersvorsorge bei schrumpfender Bevölkerung; in: WS I-Mitteilungen (1988) H. 5, S. 286 ff. 24 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1996/97, S. 235 ff. 25 Vgl. Schnabel, Interne Renditen, S. 30

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Die demographische Komponente in der zurückgenommenen Rentenformel, die die Kosten der wachsenden Lebenserwartung im Umlageverfahren zwischen BeitragszahlerInnen und RentenempfangerInnen hälftig teilte, beließ den Rentnern nur 50 Prozent ihres Renditegewinns aus ihrem längeren Leben. Die anderen 50 Prozent wären über Minderbeitragsanhebungen an die Beitragszahier weitergegeben worden, die aber auch eine entsprechend gekürzte Monatsrente zu erwarten gehabt hätten. Ist die Verzinsung von Beiträgen in den GRV-Renten schlechter als die von Kapitalmarktanlagen - dies dürfte zumindest bei geltendem Hinterbliebenenrecht für Ledige mit fortschreitendem Geburtsjahrgang als sicher anzunehmen sein -, dann entstehen hieraus für die zukünftigen Rentner insofern Nettogewinne gegenüber einer Rentenformel ohne demographische Komponente, als sie die Differenz der Beitragszahlungen (mit und ohne demographische Komponente) am Kapitalmarkt für sich per Saldo gewinnbringend und damit ihr individuelles Alterseinkommen steigernd anlegen können. Insbesondere der Minderanstieg der Rentenbeiträge in der nahen Zukunft vermindert also die Renditeverluste für die jüngeren Beitragszahier erheblich, zumal eine wegen längerer Lebenserwartung verlängerte Rentenbezugsdauer und eine entsprechende Senkung des Rentenzahlbetrags renditeneutral sind 26 • Wie sind nun aber die Maßnahmen der neuen Bundesregierung, die Beiträge zur Rentenversicherung (= Lohnnebenkosten) aus dem Aufkommen von zusätzlichen Steuern auf den Energieverbrauch herunterzusubventionieren, unter dem Aspekt der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz zu beurteilen? Was auf den ersten Blick wie ein löblicher Impuls für Mehrbeschäftigung aussieht, stellt sich auf den zweiten Blick als abträglich für die Beitrags-Leistungs-Äquivalenz heraus. Im Grunde wiederholt sich der Bismarck'sche Vorschlag, die Renten aus dem Aufkommen des Tabakmonopols zu finanzieren 27 . Die Beitrags-Leistungs-Äquivalenz wird auf diese Weise geschwächt, zumal die versicherungsfremden Leistungen schon seit der letzten Mehrwertsteuererhöhung praktisch völlig aus Steuermitteln nachfinanziert werden. Eine über dieses Maß hinausgehende Subventionierung der sozialen Sicherung verdeckt, daß wirtschaftlicher Wandel, veränderte Lebensumstände und veränderte Präferenzen der "versicherten" Menschen Reformen bei den Leistungen erforderlich machen, die ihrerseits trotz Zeitverzögerung entlastende Wirkungen auf die Beiträge haben werden. Insofern sollte durch die "Ökosteuer" allenfalls ein beschäftigungspolitischer Anschub mit Hilfe zeitlich befristeter zusätzlicher Staatszuschüsse in dem Sinn unternommen werden, als die entlastenden Wirkungen von Reformen der Leistungsseite u. a. zur Kompensation der Kosten der demographischen Entwicklung zwischenJinanziert werden. 26 Bei einer Teilung der Lasten einer wachsenden Lebenserwartung zwischen dem Beitragszahler und dem Rentenbezieher, wie sie von der demographischen Formel vorgenommen wird, erhält also der Rentenbezieher nur noch die Hälfte seiner Renditeverbesserung aus der längeren Rentenbezugsdauer. 27 Vgl. Otto Pflanze, Bismarck: der Reichskanzler, München 1998, S. 407, sowie Florian Tennstedt, Vom Proleten zum Industriearbeiter, Köln 1983, S. 335.

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VI.

Zum Abschluß ist auf die Frage zurückzukommen, warum die angestellten Renditeüberlegungen für das Verhältnis von Beiträgen und Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung und in der privaten Lebensversicherung denn überhaupt von Bedeutung sind, wenn in der gesetzlichen Rentenversicherung nach wie vor Aspekte der kollektiven Äquivalenz zumindest auch bei einer zahlenmäßig großen Gruppe dominieren? Der nächstliegende Grund besteht schlicht darin, daß der gesetzlichen Rentenversicherung diese Debatte von den Befürwortern des Kapitalstockverfahrens aufgezwungen worden ist und daß die demographische Entwicklung zu intergenerativen Verteilungswirkungen führt, die die Renditen von GRVBeiträgen zwar wahrscheinlich nicht negativ werden lassen, aber unter Status-quoRegeln für den Leistungsbezug mit einiger Sicherheit zu einer schlechteren Verzinsung als am Kapitalmarkt führen. Infolge der Individualisierung der Lebensläufe der Versicherten und der von der Globalisierung aufgezwungenen räumlichen Flexibilisierung von Standortentscheidungen von Unternehmen und Arbeitnehmern sind umverteilenden Maßnahmen auch in der gesetzlichen Rentenversicherung Grenzen gesetzt, weil die, die die Umverteilung finanzieren sollen, sich diesem Ansinnen schlicht ins Ausland oder in die Schattenwirtschaft entziehen können, während Immigranten unter bestimmten Voraussetzungen an den Transfersystemen des Inlandes partizipieren können, ohne im gleichen Umfang Beiträge gezahlt zu haben wie Inländer. Außerdem unterliegt das, was unter Umverteilung zu subsumieren ist, einem Wandel der Akzeptanz. Je stärker nämlich die privat erzielbare Rendite von Kapitalanlagen als Vergleichs- und Akzeptanzmaßstab für Beitragsleistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung herangezogen wird, um so mehr müssen sich die Regeln für den Bezug auch sozialer Versicherungsleistungen von Umverteilungen verabschieden, die nicht mehr der Leistungslogik des Kapitalmarktes entsprechen. Das gilt auch für Überlegungen der neuen Bundesregierung, die beitragsbezogene Rente zu einer De-facto-Grundrente abzuwerten. Da die Rente auch bei diesem Konzept auf lange Sicht zum großen Teil aus einkommensabhängigen Beiträgen finanziert werden muß, entstehen immer neue Ansprüche, deren "Verzinsung" über viele Jahre hinweg so miserabel ausfallen wird, daß die Akzeptanz für dieses Umverteilungsspiel dramatisch sinken wird, wenn nicht vorher das Bundesverfassungsgericht schon einen verfassungsrechtlichen Riegel gegen die kalte Enteignung vorschiebt. Zu den neuen Regeln einer stärkeren Beitragsäquivalenz gehört dann auch, daß insofern keine neuen "ungedeckten Schecks" auf die Zukunft ausgestellt werden, als neue beitragsfreie Leistungen nicht ohne Beiträge in der Periode ihrer Entstehung an die Rentenversicherung abgeführt werden dürfen. Diese Maßnahme schützt vor einem Übermaß an versicherungsfremden Leistungen in späteren Zeiten schon allein deswegen, weil die Politik noch auf Sicht und nicht erst durch ihre "budgetären Erben" Umverteilung aus begrenzten Ressourcen finanzieren muß.

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Durch die striktere Bindung von Beiträgen und Leistungen an Kapitalmarktregeln und die Reduzierung von intergenerativer und interpersoneller Umverteilung wird das Umlageverfahren nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt, weil z. B. die bloße Mitnahme von Sozialleistungen mit den gleichen marktäquivalenten Sanktionen versehen wird wie in der privaten Versicherung. Das Umlageverfahren ist im übrigen stärker als das Kapitalstockverfahren "psychologisch" darauf angewiesen, daß die Beitragszahier von heute darauf vertrauen können, daß sie selbst Leistungen nach den gleichen ökonomischen Regeln erhalten wie die, die sie heute den Rentnern finanzieren. Fehlende Geburten und die Individualisierung von sozialen Biographien in Familie und Beruf für Männer und Frauen sind offenkundig die veränderten Merkmale gegenüber der Beitragszahiergeneration der 1950er und 1960er Jahre, die lange dem sozialen Mythos der Einverdienerehe anhing. Diese Veränderungen haben nicht nur Auswirkungen auf die Rentenfinanzen und die individuellen Rentenansprüche, sondern auch auf das, was die Versicherten als Beitragsäquivalente akzeptieren. Sie sollten so schnell wie möglich im Rentenrecht umgesetzt werden.

Entwicklungstendenzen der deutschen Alterssicherung im internationalen Vergleich Jüngere Erfahrungen und Perspektiven für die Zukunft Von Winfried Schmähl

I. Anlässe für eine weltweite Diskussion über die Alterssicherung am Ende des 20. Jahrhunderts Das gerade zu Ende gegangene 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch eine Fülle struktureller Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, im Bevölkerungsaufbau und in den Familienstrukturen, aber auch im internationalen Umfeld der nationalen Volkswirtschaften. Hierzu gehört u. a. der intensivere ökonomische Wettbewerb, auch als Folge neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und der Integration vieler weiterer Länder in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung. Dies wie auch die zunehmende Bedeutung der Dienstleistungsproduktion hat zu tiefgreifenden Veränderungen im Beschäftigungssystem und im Erwerbsleben geführt, vor allem in hochindustrialisierten Ländern. Hinzu tritt dort - wenngleich unterschiedlich ausgeprägt - eine Alterung der Bevölkerung. All dies waren wichtige Gründe für Reformdiskussionen und auch Reformmaßnahmen in der Alterssicherung. Die konkreten Anlässe dafür und deren jeweiliges Gewicht sind in den einzelnen Ländern allerdings unterschiedlich. So wird auch in vielen Ländern mit einer bislang noch ,jungen Bevölkerung", d. h. einem hohen Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung, die Alterssicherung zum Thema. Hier sind es u. a. Veränderungen der Farnilienstrukturen, die zunehmend befürchten lassen, daß die bisher in hohem Maße durch familiale Unterstützungssysteme gewährleistete ökonomische Sicherung im Alter sich als nicht mehr tragfähig erweisen wird. Vielfach wird es im Zeitablauf auch in diesen Ländern zu einer raschen Alterung der Bevölkerung kommen. In den ehemals sozialistischen Ländern, die eine tiefgreifende Transformation ihres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems durchlaufen, zwingen die hohen Staatsausgaben, die ökonomischen Probleme, aber auch ordnungspolitische Notwendigkeiten zu Reformen. Hierzu gehört u. a. eine funktionale Differenzierung in der Durchführung von Aufgaben, d. h. eine Aufgabenteilung zwischen zum Teil erst neu zu schaffenden Institutionen. Voraussetzung dafür ist oftmals ein Herauslösen von Regelungen der Alterssicherung aus dem Staatshaushalt.

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Winfried Schmähl

Schließlich sei auf die Entwicklung in Mittel- und Südamerika hingewiesen, wo in den letzten Jahren zum Teil tiefgreifende strukturelle Reformen der Alterssicherung durchgeführt wurden. Ein besonders stark beachtetes Beispiel dafür findet sich in Chile, wo allerdings die grundlegende Reform der Alterssicherung (im Sinne einer weitgehenden "Privatisierung") durch ein auf den Bankrott zugleitendes staatliches System ausgelöst wurde. Man sieht hieran, daß Umgestaltungen mehr oder weniger weitreichender Art in der Alterssicherung aus unterschiedlichen Gründen ausgelöst werden können. Oft wirken verschiedene Anlässe zusammen, was zum einen die Diagnose, zum anderen die Therapie nicht gerade erleichtert. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf industrialisierte, marktwirtschaftlieh organisierte Volkswirtschaften und besonders auf formelle Arten der Alterssicherung außerhalb des Familienverbandes. Dabei wird zunächst kurz auf Träger der Alterssicherung eingegangen [11.], sodann auf Konzeptionen und dominierende Ziele in der Alterssicherungspolitik [111.]. Dies wird verknüpft mit einigen Beispielen aus Ländern mit unterschiedlichen Gestaltungen im Bereich der Alterssicherung. Von der Einordnung der verschiedenen Systeme wird dann zu einigen Entwicklungstendenzen der Alterssicherung in jüngerer Zeit übergeleitet [IV.]. In [111.] und [IV.] erfolgt zugleich eine Verortung der bundesrepublikanischen Situation. Das soll in der Diskussion einiger Perspektiven für die weitere Entwicklung der Alterssicherung in Deutschland fortgeführt werden [V.].

11. Träger formeller Alterssicherung In den Diskussions- und politischen Entscheidungsprozessen ist die Rolle des Staates in der Alterssicherung eine besonders wichtige Frage. Insbesondere nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme ist dies vermehrt in den Vordergrund getreten 1• Der Staat kann in der Alterssicherung in unterschiedlicher Weise eine Rolle spielen, so als Träger einer Alterssicherung, bei der Finanzierung und Leistungsbereitstellung durch ein öffentliches System gestaltet werden, wie z. B. in der Sozialversicherung in Deutschland oder der Beamtenversorgung. Dies sind budgetwirksame Aktivitäten, die sich in Einnahmen und/ oder Ausgaben öffentlicher Haushalte niederschlagen. Es kann jedoch auch eine Trennung dieser beiden Aufgaben - also der Finanzierung und der Leistungsbereitstellung - und deren Aufteilung auf Staat und Privatsektor erfolgen, beispielsweise indem durch eine öffentliche Einrichtung die Beitragserhebung erfolgt, die Anlage dieser Mittel aber von privaten Fonds durchgeführt wird. - In Übersicht 1 sind für die UnterscheidungskriteI Siehe exemplarisch hierfür Weltbank, Weltentwicklungsbericht 1997: Der Staat in einer sich ändernden Welt, Washington, D.C. 1997.

Entwicklung der deutschen Alterssicherung im internationalen Vergleich

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rien "öffentlich oder privat" sowie "Finanzierung und Leistung" dafür exemplarisch einige Beispiele aufgeführt. Übersicht 1 Private und öffentliche Trägerschaft von Finanzierung und Leistungsbereitschaft

Finanzierung

öffentlich

privat

Leistung

• Sozialversicherung öffentlich ........-... -........__ ............ _-

privat

• Staatsbiirgerrente • Transferzahlung mit

(freiwilliger Beitrag zur Sozialversicherung)

Einkonunen~chnung ·Pfliciitbeiträg·der······················l·;···pri~i~s·spärim········

Sozialversicherung mit privat verwalteter Anlage

j.

I

(freiwillige) betriebliche Altersversorgung

Bei privat organisierter Alterssicherung hat jedoch der Staat gleichfalls eine wichtige Aufgabe, insbesondere wegen der Langfristigkeit hiermit verbundener Transaktionen. Auch für die private Alterssicherung ist ein gesetzlicher Rahmen erforderlich. Allgemein kann dies als Regulierung (durch Aufsichtsregelungen, Anlagevorschriften usw.) bezeichnet werden. Regulierungsaktivitäten werden im Unterschied zur staatlichen Trägerschaft in öffentlichen Haushalten nicht budgetwirksam. Zu den budgetwirksamen Aktivitäten gehören aber auch fiskalische Anreize, so durch Steuern oder Transferzahlungen, die für Alterssicherung allgemein - auch wenn sie privat organisiert wird - oder für bestimmte ihrer Formen oder unter bestimmten Bedingungen erfolgen. Eng verbunden mit der Rolle des Staates in der Alterssicherung ist auch die Frage nach freiwilligen oder obligatorischen Formen der Alterssicherung (wobei es verschiedene Zwischenstufen zwischen Freiwilligkeit und Zwang geben kann, wie das soeben erwähnte Beispiel der gezielten Anreize zeigt). In vielen Ländern besteht ein Alterssicherungssystem aus mehreren, oft aufeinander aufbauenden Schichten. Hierfür wird allerdings meist der Begriff der "Säulen" verwendet, was - um im Bild zu bleiben - jedoch vielfach ein "Gebäude" der Alterssicherung kennzeichnen würde, das recht "schief' gestaltet ist, da die "Säulen" höchst unterschiedlich aussehen. Das gilt auch für Deutschland. 23 Fisch I Haerendel

354

Winfried Schmähl

Als erste Schicht sind Regel-Sicherungssysteme zu nennen, die für die gesamte Bevölkerung oder für größere Personengruppen die Basis der Alterssicherung darstellen. Hierbei handelt es sich im Normalfall um ein Pflichtsystem. In Deutschland haben wir verschiedene Regel-Sicherungssysteme, so neben der gesetzlichen Rentenversicherung und dem beamtenrechtlichen Versorgungssystem die Alterssicherung der Landwirte und berufsständische Versorgungswerke für verkammerte freie Berufe. Die zweite, auf den Regel-Sicherungssystemen - zumeist für unselbständig Beschäftigte - aufbauende Schicht sind ergänzende Systeme der Alterssicherung, so in Deutschland die betriebliche Alterssicherung im privaten und im öffentlichen Sektor. Schließlich gibt es eine Fülle unterschiedlicher Formen zusätzlicher freiwilliger Alterssicherung, so private Lebensversicherung und verschiedene Formen der Ersparnisbildung. Die statistische Abgrenzung der spezifisch der Alterssicherung dienenden Formen ist allerdings recht schwierig. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal bei diesen zusätzlichen Formen der "dritten Schicht" ist, ob sie mit Risikoausgleich verbunden sind oder ob es sich um reine Formen der Ersparnisbildung ohne Risikoausgleich handelt 2 . Für die Gestaltung und Struktur der Alterssicherung in einem Land sind neben den ökonomischen, demographischen und politischen Rahmenbedingungen die jeweils dominierenden Ziele und maßgebenden Konzeptionen von großer Bedeutung (wobei allerdings Rahmenbedingungen auch die Ziele und deren Veränderungen beeinflussen können). Um die deutsche Diskussion und Entwicklung wie auch einige sich international abzeichnende Entwicklungstendenzen zu verdeutlichen und einzuordnen, soll im folgenden zunächst kurz eine Kategorisierung der verschiedenen Systeme nach den wichtigen Grundkonzeptionen und Zielen für die Alterssicherungspolitik vorgenommen werden.

Irr. Konzeptionen und dominierende Ziele in obligatorischen Regel-Sicherungssystemen und ihre Verknüpfung mit ergänzenden Formen der Alterssicherung Die obligatorischen Systeme der Regelsicherung (erste Schicht) sind weit überwiegend staatlich organisiert. Eine Ausnahme stellt das chilenische System einer obligatorischen privaten Alterssicherung dar. 2 Einen Überblick über das Gesamtsystem der Alterssicherung in Deutschland findet sich in geraffter Form in: Winfried Schmähl, Das Gesamtsystem der Alterssicherung, in: JÖrg-E. Cramer / Wolfgang Förster / Franz Ruland, Handbuch zur Altersversorgung, Frankfurt a.M. 1998, S. 59-83.

Entwicklung der deutschen Alterssicherung im internationalen Vergleich

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Zur Charakterisierung dieser ersten Schicht der Alterssicherung werden zwei zentrale verteilungspolitische Ziele und zwei Formen der Einkommensumverteilung unterschieden. In der Realität gibt es allerdings auch Mischformen. In der in Übersicht 2 enthaltenen Aufgliederung handelt es sich um die jeweils dominierende Art der Umverteilung bzw. um das dominierende verteilungspolitische Ziel. Übersicht 2 Obligatorische Regelsicherungssysteme

~

Umverteilung (dominierendes) verteilungsI politisches Ziel Armutsvermeidung

intertemporal

interpersonell

(enge BeitragsI, Leistungs-Beziehung)

• steuerfinanzierte StaatsbÜfgerrente • Transferzahlung mit Einkommens-

beitragsfmanzierte Mindestrente (öffentlich oder privat)

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iSystem ! System

bezogenheit)

I. Schicht (Säule) - obligatorisch

~

Umverteilung (dominierendes) verteilungsI politisches Ziel

!

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interpersonell

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intertemporal (enge BeitragsLeistungs-Beziehung)

• steuerfmanzierte StaatsbÜfgerrente : beitragsfinanzierte Armutsvermeidung 1Mindestrente • Transferzahlung mit Einkommens- i(öffentlich oder privat) übeq!________ _________ rüfun,lL __________i,_______________ ,__________________ EiIik:ömmensverstetigungi ibeitrags- i leistungs(Einkommens! i defmiertesi defmiertes bezogenheit) ! i System i System 2. Schicht (Säule)

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Hinsichtlich der Umverteilung wird unterschieden zum einen die interpersonelle Umverteilung, bei der gezielt durch die Ausgestaltung des Systems bestimmte Personen(Gruppen) (auch über den Lebenszyklus) begünstigt, andere belastet werden. Dies kann auch als ein System der "Versorgung" bezeichnet werden. Demgegenüber wird bei der intertemporalen Einkommensumverteilung eine enge BeitragsLeistungs-Beziehung angestrebt. Hier basieren spätere Leistungen auf früher erfolgter "Vorsorge". Im folgenden sei allein auf solche Systeme abgestellt, bei denen ein Risikoausgleich (Absicherung biometrischer Risiken) integraler Bestandteil des Systems ist. Als zentrale verteilungspolitische Ziele seien unterschieden die Armutsvermeidung und eine Einkommensverstetigung, bei der die Einkommenslage im Alter an die Einkommenssituation in der vorgelagerten Erwerbsphase anknüpfen soll ("einkommensbezogene Systeme"). Hinsichtlich der Armutsvermeidung sind drei unterschiedliche Konzeptionen anzutreffen: Eine ist die steuerjinanzierte Staatsbürgerrente (wobei diese Zahlung gegebenenfalls in der Höhe nach der Wohnsitzdauer differenziert ist). Neuseeland und Dänemark besitzen eine lange Tradition in der Realisierung eines solchen Systems. Auch Schweden war bisher ein prominentes Beispiel für ein Land mit einer Staatsbürgerrente. In der Geschichte der deutschen Alterssicherung spielte das Konzept der Staatsbürgerrente immer wieder eine Rolle, beginnend mit den ursprünglichen Vorstellungen Bismarcks für die Invaliditäts- und Alterssicherung, dann u. a. in der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch mehrfach in der Nachkriegszeit. Seit den 1980er Jahren wurde dieses Konzept von Biedenkopf immer wieder in die Diskussion gebracht 3 • Eine weitere Variante einer auf Armutsvermeidung ausgerichteten Konzeption mit interpersonellen Umverteilungseffekten stellt das australische staatliche System von Transferzahlungen im Alter auf der Basis einer Einkommensüberprüfung dar. Schließlich gibt es auch ein auf intertemporaler Umverteilung im Rahmen einer Versicherung basierendes Konzept der Armutsvermeidung im Alter durch eine beitragsJinanzierte Mindestrente. Hier ist als eine privatwirtschaftliche Variante das chilenische Modell einzuordnen. Dieses Konzept wurde und wird allerdings 3 Für einen knapp gefaßten historischen Überblick s. Winfried Schmähl, Proposals for flat-rate public pensions in the German debate, in: los Berghman/Bea Cantillon (Hrsg.), The European Face of Social Security, Aldershot u. a. 1993, S. 261-280, für eine ausführliche Analyse sowohl der Umstellungsprobleme auf ein solches System als auch der möglichen Wirkungen vgl. Winfried Schmäh!, Systemänderung in der Altersvorsorge - Von der einkommensabhängigen Altersrente zur Staatsbürger-Grundrente. Eine theoretische und empirische Untersuchung ökonomischer Probleme im Übergangszeitraum, Opladen 1974, und Winfried Schmähl (Hrsg.), Mindestsicherung im Alter - Erfahrungen, Herausforderungen, Strategien-, Frankfurt a.M./ New York 1993, S. 265 - 333.

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auch für staatliche Systeme vorgeschlagen - so, um einen prominenten Vertreter zu nennen, von Lord Beveridge. In den letzten Jahren gibt es verschiedene Varianten eines solchen Konzepts auch in der deutschen Diskussion, indem sie entweder ausschließlich auf Armutsvermeidung ausgerichtet ist (z. B. Kronberger Kreis) oder die Mindestrente als ein Element in einem über die Armutsvermeidung hinausreichenden einkommensbezogenen Alterssicherungssystem gedacht ist (Krupp)4. Daß nicht alles so neu ist, wie es oftmals in den aktuellen Diskussionen den Anschein hat, mag der Hinweis belegen, daß in Deutschland bereits 1810 (von Leopold Krug) ein solches beitragsfinanziertes Modell der Armutsvermeidung in sehr differenzierter Weise entwickelt wurde5 . Im Hinblick auf Systeme, die eine Einkommensverstetigung anstreben, seien unterschieden zum einen die leistungsdeJinierten Systeme, in denen eine bestimmte "Leistung" im Alter (als Absicherungsniveau nach einer bestimmten Zahl von Beitragsjahren usw.) vorgegeben ist. In Deutschland sind dafür Beispiele die gesetzliche Rentenversicherung und die Beamtenversorgung. Im Unterschied dazu ist in beitragsdeJinierten Systemen die Leistung abhängig von der absoluten Höhe der Beiträge und deren Verzinsung im Zeitablauf, ohne daß dabei explizit ein Absicherungsziel definiert ist. Diese Gestaltungsform der Alterssicherung ist seit längerem in Betriebsrentensystemen bekannt. Neuerdings wird dieses Konzept jedoch auch in öffentlichen Alterssicherungssystemen eingeführt, so beispielsweise im reformierten schwedischen System6, aber auch in Lettland und in Italien7 • Betrachtet man nun verschiedene Länder mit unterschiedlich konzipiertem Regel-Sicherungssystem, so ist auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam zu machen: Solche Länder, die eine steuerfinanzierte Staatsbürgerrente oder - wie Australien eine auf EinkommensüberpTÜfung basierende Transferzahlung bzw. allgemein ein sehr niedriges Niveau der staatlich organisierten Alterssicherung besitzen, wo also Armutsvermeidung im Alter als Ziel dominiert, haben in der überwiegenden Zahl der Fälle obligatorische ergänzende Formen der Alterssicherung eingeführt. Aus dem Zusammenwirken der beiden obligatorischen Schichten ergibt sich dann eine Einkommensbezogenheit der Alterssicherung insgesamt. 4 Für eine vergleichende Darstellung dieser Konzepte s. Schmähl, Mindestsicherung, S.334-36O. 5 Siehe dazu Winfried Schmähl, Vermeidung von Armut im Alter durch eine obligatorische beitragsfinanzierte Mindestsicherung - Leopold Krugs Plan einer "Armenassekuranz" von 1810, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 203 (1992), S. 323-336 (eine englischsprachige Version ist erschienen unter dem Titel: Avoiding Poverty in Old Age by an Obligatory Contribution-Financed Minimum Insurance. Leopold Krug's ,Poor Man's Insurance' of 1810 in the Light of Present Day Discussions, in: Jürgen G. Backbaus (Hrsg.), Essays on Social Security and Taxation, Marburg 1997, S. 15-33). 6 Siehe z. B. Edward Palmer, The Swedish Pension Reform Model - Framework and Issues (hektographiertes Manuskript) 1998. 7 Siehe u. a. Sandro Gronchi/Rocco Aprile, The 1995 Pension Reform: Equity, Sustainability and Indexation, in: Labour 12 (1998), S. 67- IOD.

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Demgegenüber ist in Ländern mit leistungsdejinierten einkommensbezogenen Alterssicherungssystemen die zweite Schicht der Alterssicherung in der Regel eine freiwillige Einrichtung, wie z. B. die betriebliche Alterssicherung in Deutschland oder in den USA. Interessant ist, daß einige Länder, die beitragsdejinierte Systeme als erste Schicht der Alterssicherung einführten, nun zusätzlich eine zweite, allerdings obligatorische Schicht einrichten. Dies ist besonders deutlich in einigen ehemals sozialistischen Ländern zu erkennen. Eine solche Entwicklung liegt auf der Linie eines Konzepts, das die Weltbank seit einigen Jahren propagiert: Reduzierung der staatlich organisierten umlagefinanzierten Alterssicherung auf das Ziel der Armutsvermeidung und Ergänzung durch obligatorische, dann jedoch kapitalfundierte Formen der Alterssicherung 8 . Es ist allerdings nicht überraschend, daß diese Weltbank-Strategie gerade in einigen der "Transformationsländer" implementiert wird9 . Hier wird die Verknüpfung von Konzeptionen der Alterssicherung mit der Frage nach der Finanzierungsmethode - also Umlagefinanzierung oder Kapitalfundierung - überaus deutlich. Dieses Thema hat in jüngerer Zeit in vielen Ländern zunehmende Bedeutung erlangt und steht in enger Beziehung zur Frage nach der Rolle des Staates in der Alterssicherung. Denn die Forderungen nach vermehrter Kapitalfundierung implizieren häufig zugleich die Forderung nach einer "Privatisierung" der Alterssicherung. All diese Fragen spielen auch in der deutschen Diskussion eine Rolle. Im nächsten Abschnitt sollen daher einige neuere internationale Entwicklungstendenzen - auch mit Blick auf die deutsche Alterssicherung - skizziert werden.

IV. Einige Entwicklungstendenzen in der Alterssicherung aus jüngerer Zeit Weit verbreitet ist in den staatlichen Systemen das Bemühen, das Ausgabenwachstum und damit den Finanzbedarf zu begrenzen. Verschiedene Wege wurden eingeschlagen bzw. werden diskutiert. Dazu gehört in vielen Ländern der Versuch, das (effektive) Renteneintrittsalter hinauszuschieben. Im Zusammenhang mit Diskussionen über die langfristige Finanzierbarkeit staatlicher Systeme gab es in vielen Ländern auch Bemühungen, ergänzende private Vorsorge auszuweiten. In den staatlichen Systemen gibt es vielfach deutliche strukturelle Veränderungen. Ein herausragendes Beispiel ist die stärkere Betonung von Leistung und Siehe World Bank, Averting the Old Age Crisis, Oxford u. a. 1994. Zur Diskussion über Kapitalfundierung in der Alterssicherung in Transforrnationsländem s. u. a. Robert Holzmann, Funded and Private Pensions for Eastem European Countries in Transition? (Europa Institut Universität des Saarlandes, Forschungsbericht 9404), Saarbrücken 1994. 8

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Gegenleistung in staatlichen Systemen, also eine entschiedenere Vorsorgeorientierung bzw. verstärkte Ausrichtung auf eine Versicherungskonzeption. Sozialversicherungseinrichtungen stellen in aller Regel eine Mischung aus unterschiedlichen Systemelementen dar, aus intertemporaler Einkommensumschichtung im Lebensablauf und interpersoneller Einkommensumverteilung. Deutlich zeigt sich, daß die interpersonelle Umverteilung in den staatlichen Alterssicherungssystemen zurückgedrängt wird. Die hierfür gewählten Maßnahmen sind unterschiedlich. So gibt es in verschiedenen Ländern, in denen die Berechnung der Rente auf einen begrenzten Zeitraum der Versichertenbiographie beschränkt ist (so beispielsweise in Österreich und Schweden), die Tendenz, diesen Zeitraum stufenweise auszudehnen (wie in Österreich) bzw. zu einer die gesamte Versicherungsbiographie umspannenden Rentenberechnung überzugehen, wie in Schweden. Ein anderer Ansatz ist die Ausgliederung von Umverteilungsaufgaben, aber auch eine Finanzierung damit verbundener Ausgaben aus allgemeinen Haushaltsmitteln bzw. durch spezifische Steuern. Letzteres erfolgt beispielsweise in Frankreich durch eine zweckgebundene spezifische Einkommensteuer, die nach und nach zur Finanzierung der Umverteilungsaufgaben in der Sozialversicherung eingesetzt werden soll. Diese Entwicklung hin zu stärkerer Beitrags-Leistungs-Verknüpfung findet sich auch in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. Beispiel dafür ist die Reduzierung von Umverteilungselementen, denen keine Beitragszahlungen gegenüberstehen, so durch Verminderung der angerechneten Ausbildungszeiten und durch die stufenweise Einführung von Abschlägen von der vollen Rente bei vorzeitigem Bezug der Altersrente. Nach der Bundestagswahl vom September 1998 wurde zudem die Finanzierung bestimmter - im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses in die Rentenversicherung eingefügter - Umverteilungsmaßnahmen für Rentner in Ostdeutschland (Auffüllbeträge) aus allgemeinen Haushaltsmitteln beschlossen sowie die Finanzierung der Kindererziehungszeiten durch Beiträge, die vom Bundeshaushalt an die Rentenversicherung entrichtet werden. Eine besonders deutliche konzeptionelle Kehrtwendung ist in Schweden erfolgt durch die verstärkte Orientierung an einer Versicherungskonzeption und an intertemporaler Einkommensumschichtung. Verbunden damit ist eine Abkehr von der Staatsbürgerrente - allerdings mit längeren Übergangsfristen. Das obligatorische Sicherungssystem nutzt teilweise Elemente, die in der Privatversicherung üblich sind. Hierzu gehört die Orientierung der Rentenhöhe an der absoluten Höhe der Beiträge. Durch diesen Übergang von einem leistungsdefinierten zu einem beitragsdefinierten System wird eine langfristige Konstanz des Beitrags zur Rentenversicherung angestrebt. Ergänzt wird dies durch eine "Garantierente", die im unteren Rentenbereich eine Aufstockung auf eine Mindesthöhe vorsieht, also keine unbedingte Mindestrente mehr ist, sondern eine Rentenaufstockung nach einer begrenzten Einkommensüberprüfung. Darüber hinaus erfolgt eine partielle Kapitalakkumulation im staatlichen Rentensystem, indem der Pflichtbeitrag höher fest-

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gesetzt wird als zur Finanzierung der laufenden Ausgaben (im Umlageverfahren) erforderlich ist. Hierdurch wird eine DiversifIkation der Risiken angestrebt, wie sie in anderen Ländern durch eine Kombination von Umlagefinanzierung und Kapitalfundierung in unterschiedlichen "Schichten" erfolgt. Während einerseits international eine deutliche Tendenz hin zur stärkeren Beitrags-Leistungs-Verknüpfung besteht, verliert andererseits das Konzept der Staatsbürgerrenten international an Bedeutung. Dieses System, das hinsichtlich seines Finanzbedarfs gleichfalls von Veränderungen im Beschäftigungssystem oder im Altersaufbau der Bevölkerung betroffen wird, ist vergleichsweise "teuer", da hier ohne Einkommensüberprüfung Zahlungen an alle älteren Menschen erfolgen, auch an Personen, die zum Teil über hohe andere Einkünfte verfügen. Die Konsequenz ist, daß dann (zumeist über die Einkommensteuer) eine nachträgliche "Abschöpfung" von Einkommen bzw. eine Art nachträglicher Einkommensüberprüfung erfolgt. In Neuseeland wurde zeitweise eine "surtax" erhoben. In der deutschen Diskussion wird in jüngerer Zeit verstärkt auf das "Schweizer Modell" Bezug genommen, wobei in der Regel nur dessen "erste Säule", die Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung (AHV), betrachtet wird, die stark umverteilende Wirkungen aufweist aufgrund einer vergleichsweise geringen Spreizung der Renten (die Maximalrente beträgt das Doppelte der Minimalrente) und einer einkommensbezogenen Finanzierung ohne Ober- (d. h. Beitragsbemessungs-) Grenze. Übersehen wird in der deutschen Diskussion allerdings zumeist, daß - wie erwähnt - typischerweise in einem Land mit geringer Differenzierung der Rentenhöhe in der "ersten Säule" (und damit faktisch weitgehend einer Mindestsicherung) eine obligatorische "zweite Säule" existiert, in der Schweiz als obligatorische Betriebsrente. Bei einem Vergleich sind folglich beide Elemente zu berücksichtigen. Würde ein Ansatz - wie er in der AHV realisiert ist - in Deutschland für die weitere Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung als Leitbild dienen, so würde mit großer Wahrscheinlichkeit die sich jetzt schon anbahnende Diskussion über obligatorische Zusatzsysteme verstärkte Bedeutung gewinnen: Hingewiesen sei auf die Vorschläge zur Schaffung kollektivvertraglich vereinbarter "Tariffonds", mit Allgemeinverbindlichkeitserklärung, oder für obligatorische Zusatzbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zum Aufbau eines "Teilkapitalstocks"IO. Schließlich seien noch zwei allgemeine Aspekte genannt, die im Zusammenhang mit Neuregelungen aus jüngerer Zeit festzuhalten sind. (1) In den Ländern, in denen tiefgreifendere Strukturänderungen im Alterssiche-

rungssystem angestrebt werden, sind notwendigerweise lange Übergangsfristen für die Umstellung erforderlich.

10 Zu letzterem vgl. z. B. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, Bonn (hektographiert) 1998.

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(2) Gerade im Bereich der Alterssicherung ist ein breiter politischer Konsens zumindest über die zentralen Konzeptionen des Systems wünschenswert, um zu vermeiden, daß beim Wechsel parlamentarischer Mehrheiten zugleich ein Kurswechsel in der Alterssicherung erfolgt. Denn in der Alterssicherung geht es um längerfristige Planungen der Betroffenen. So hat man sich jahrelang in Schweden um einen solchen Konsens bemüht, bevor im Sommer 1998 endgültig über das neue beitragsdefinierte obligatorische System politisch entschieden wurde. Was aber geschieht, wenn ein solcher Konsens nicht erreicht wird ll , das zeigte sich in Deutschland Ende der 1990er Jahre, als das von der Regierung unter Bundeskanzler Kohl geschaffene "Rentenreformgesetz 1999" zum Teil gegen den heftigen Widerstand der parlamentarischen Opposition verabschiedet wurde. Nach dem Wahlsieg im September 1998 setzte die neue Mehrheit die Realisierung einiger Elemente dieses Gesetzes aus. In früheren Fällen war es dagegen in Deutschland gelungen, weiterreichende Reformmaßnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung auf der Grundlage eines breiten politischen Konsenses zu verabschieden 12 . Doch in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde in Deutschland verstärkt die Auffassung vertreten, Konsens sei etwas Hemmendes. Aber gerade in der Alterssicherung ist dies aus meiner Sicht eine Fehleinschätzung, da eine Kontinuität wichtiger Grundelemente, die für die Planung der Wirtschaftssubjekte wichtig ist, nur dann erreicht werden kann, wenn diese Grundelemente auch bei wechselnden parlamentarischen Mehrheiten nicht in Frage gestellt werden - unbeschadet der Notwendigkeit einer Anpassung von Regelungen an sich ändernde Bedingungen des Umfeldes der Alterssicherung. Insbesondere Alterssicherung erfordert eine Langfrist-Perspektive, da Systeme der Alterssicherung vielfach die Menschen über den größten Teil ihres Lebenslaufs "begleiten". Insofern spielt der Aspekt der "Sicherheit", das Sicherheitsgefühl der von den Institutionen erfaßten Personen eine wichtige Rolle, aber auch die für diese Institutionen erforderliche Akzeptanz, ohne die eine Bereitschaft der Menschen, zur Finanzierung der Systeme beizutragen, schwerlich zu erreichen ist. Seien es staatliche oder private Systeme, sie müssen sich um ein hohes Maß an Vertrauen und Akzeptanz bemühen.

11 Lange Zeit war in Großbritannien zu beobachten, daß ein Wechsel parlamentarischer Mehrheiten zugleich zu signifikanten Veränderungen in der Alterssicherung führte. 12 Vgl. für einen gerafften Überblick über wichtige Weichenstellungen für die gesetzliche Rentenversicherung nach dem Zweiten Weltkrieg Winfried Schmähl, Rentenversicherung in der Bewährung: Von der Nachkriegszeit bis an die Schwelle zum neuen Jahrhundert - Stationen und Weichenstellungen, in: Max Kaase, Günter Schrnid (Hrsg.), Eine lernende Demokratie, Berlin 1999, S. 397 -423.

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v. Perspektiven für die deutsche Alterssicherung zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Die Diskussion über die Perspektiven der Alterssicherung in Deutschland wird in der öffentlichen Darstellung und Wahrnehmung oftmals recht "verzerrt". Das beginnt bereits damit, daß Alterung der Bevölkerung im Sinne eines steigenden Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung als etwas "Belastendes", Negatives angesehen wird, nicht nur im engeren Bereich der Alterssicherung, sondern auch im Gesundheitswesen (Krankenversicherung und Pflegeversicherung). Die Diskussionen konzentrieren sich - wie vielfach in der Sozialpolitik allgemein - auf die "Kosten", die zum erheblichen Teil in den erforderlichen Finanzierungsmitteln (Beitragssätzen, Steuersätzen) unmittelbar sichtbar werden. Im Unterschied zu den Kosten sind die mit den Alterssicherungssystemen verbundenen "Leistungen", ihr "Nutzen", zum einen häufig schlechter meßbar und werden im Vergleich zu den Kosten auch oftmals erst später wirksam. Insofern ist die sozialpolitische Diskussion in Deutschland vielfach von einer "Schieflage" gekennzeichnet. Für die weitere Entwicklung der Einrichtungen und Maßnahmen zur Alterssicherung in Deutschland kommt es entscheidend darauf an, welche konzeptionellen Vorstellungen sich politisch durchsetzen. Das betrifft zum einen Niveau und Struktur des zentralen Alterssicherungssystems, der gesetzlichen Rentenversicherung, sodann Art und Umfang ergänzender Formen der Alterssicherung. Dabei ist zu beachten, daß sich eine Änderung der konzeptionellen Ausrichtung z. B. der gesetzlichen Rentenversicherung unter Umständen auch eher unauffällig, schleichend vollziehen kann und nicht etwa nur durch einen offenkundigen Richtungswechsel. Niveau- und Strukturfragen sind dabei nicht unabhängig voneinander zu sehen. Eine - wenn auch allmähliche - deutliche Reduzierung des Absicherungsniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung mit der Folge, daß auch nach langer Versicherungsdauer und Zahlung von Pflichtbeiträgen für einen großen Teil von Versicherten nur noch eine Rente erreichbar wäre, die sich kaum von der vorleistungsunabhängigen Sozialhilfe unterscheidet J3 , würde m.E. die Legitimationsbasis des Systems unterhöhlen und schließlich in ein steuerfinanziertes Versorgungssystem münden 14.

13 Das bedeutet nicht, daß diese Versicherten zu Sozialhilfeempfängem würden, da dies von anderen Einkünften des Individuums bzw. im Haushalt abhängt. 14 Siehe für eine Analyse unterschiedlicher Vorschläge Winfried SchmähI, Alterssicherung - Quo vadis?, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 216 (1997), S. 413 -435.

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1. Mehr Umverteilung oder Stärkung der Beitrags-Leistungs-Beziehung in der gesetzlichen Rentenversicherung?

Hinsichtlich der Strukturentscheidungen in der gesetzlichen Rentenversicherung geht es vor allem darum, ob die Beitrags-Leistungs-Beziehung gestärkt werden soll oder ob verstärkt Elemente der interpersonellen Umverteilung zu integrieren sind. In diesem Zusammenhang ist auf die Forderung nach einer "armutsfesten" Alterssicherung hinzuweisen, die auf der politischen Tagesordnung steht. Diese kann auf unterschiedlichen Wegen realisiert werden. Ein Vorschlag dazu ist die Integration einer bedarfsgeprüften Mindestsicherung in die gesetzliche Rentenversicherung. Die Finanzierung soll dabei aus allgemeinen Haushaltsmitteln erfolgen. Doch selbst wenn diese Mindestsicherung durch zusätzliche Zuführung aus dem Bundeshaushalt 15 dauerhaft realisiert würde - obgleich bereits heute vielfach auf den hohen Anteil von Bundesmitteln zur Finanzierung der Rentenversicherung verwiesen wird -, ist auf verschiedene Wirkungen dieses Vorschlags hinzuweisen, die abzuwägen sind mit Wirkungen alternativer Maßnahmen zur Vermeidung von Armut im Alter. Hierzu gehört zum einen die im Rahmen der Europäischen Union wohl zu erwartende Exportpflichtigkeit solcher bedarfs geprüfter Zahlungen, die über die Sozialversicherung abgewickelt werden (während Leistungen der Sozialhilfe nicht exportpflichtig sind)16. Wichtiger ist aber wohl ein sozialpsychologischer Aspekt: Die Versicherungspflichtigen werden kaum zwischen dem Rentenanspruch, den man auf der Basis von Beitragszahlungen erwirbt, und den zusätzlichen Transferzahlungen bei unzureichendem Einkommen, die allerdings über die Rentenversicherung ausgezahlt werden, unterscheiden. Die Erfahrungen mit dem zeitweise nach der deutschen Vereinigung in Ostdeutschland gezahlten Sozialzuschlag zeigten dies überaus deutlich. Zudem ist dies ja gerade eines der Ziele derjenigen, die eine solche Integration der bedarfsgeprüften Leistungen in die Rentenversicherung befürworten. Aus Sicht der Versicherungspflichtigen würde jedoch die Beitrags-Leistungs-Beziehung in der Rentenversicherung geschwächt. Unter Anreizgesichtspunkten und im Hinblick auf die Akzeptanz eines Systems mit weiterhin hohen Abgabenverpflichtungen würde das aus meiner Sicht negativ wirken. Anders ausgedrückt: Die von den Befürwortern einer Integration solcher Mindestsicherungselemente in die Rentenversicherung unterstellte Annahme, die Akzeptanz des Rentenversicherungssystems würde hierdurch gefördert und damit auch die Bereitschaft, zu seiner Finanzierung beizutragen, halte ich nicht für überzeugend begründbar. Vielmehr sollte demgegenüber im Sinne einer Aufgabenteilung zwischen Institutionen die gezielte Armutsvermeidung im Alter durch Prüfung des Einkommens15 Fragen des Finanzausgleichs zwischen den verschiedenen Ebenen öffentlicher Gebietskörperschaften bei finanzieller Entlastung der Sozialhilfeträger wären gleichfalls zu klären. 16 Dem wird entgegengehalten, daß dies durch Regelung auf EU-Ebene ausgeschlossen werden könne. Allerdings erfordert dies eine einstimmige Entscheidung aller EU-Mitgliedsländer, von der nicht ohne weiteres oder ohne Kosten ausgegangen werden kann.

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bedarfs 17 außerhalb der Rentenversicherung erfolgen. Ob dies durch eine Modifizierung von Sozialhilferegelungen für ältere Menschen (insbesondere im Hinblick auf den Regreß und die Einkommens- und Vermögensüberprüfung l8 ) oder durch Regelungen der Bedarfsprüfung in einer z. B. dem Pflegewohngeld angenäherten separaten Ausgestaltung erfolgt, mag hier dahingestellt bleiben l9 . Sicherlich spielt für die politische Akzeptanz auch symbolisches Handeln eine wichtige Rolle. Für die Weiterentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung halte ich aus ökonomischen Gründen - aber auch im Interesse einer notwendigen Verbesserung der Akzeptanz des Systems - eine Stärkung der Beitrags-Leistungs-Beziehung als Leitlinie für die Ausgestaltung einzelner Maßnahmen für erstrebenswert. Diese Strategie wurde - wie erwähnt - in der Vergangenheit schon verfolgt (sie spielte auch immer wieder in der deutschen Diskussion eine wichtige Rolle 2o) und kann mit unterschiedlichen Maßnahmen weitergeführt werden 21 . Bei der Diskussion über die Vermeidung von Armut durch unterschiedlich gestaltete Alterssicherungssysteme sollte auch der empirische Befund beachtet werden, daß Systeme mit deutlicher Beitrags-Leistungs-Beziehung, die dem Ziel der Einkommensverstetigung dienen, in höherem Maße armutsvermeidend wirken als solche Systeme, die primär Armutsvermeidung erreichen sollen22 • Dieser empirische Befund widerspricht einer weit verbreiteten Auffassung, die vor allem von 17 Und dies muß sich auf das Gesamteinkommen beziehen, nicht auf die Rentenhöhe allein - die über das Einkommen, gerade bei geringer Rentenhöhe, vielfach nichts aussagt. 18 Entscheidend dürfte der mögliche oder erwartete Rückgriff auf Familienangehörige sein, denn in anderen Zusammenhängen besteht ja keine Scheu, einkommensüberprüfte Leistungen in Anspruch zu nehmen, so z. B. beim Wohngeld. 19 Durch die Regelungen muß auch sichergestellt sein, daß dann kein Sozialhilfeanspruch mehr - auch im Hinblick auf Einmalleistungen usw. - entsteht. Dies setzte flankierende Regelungen (auch im Sinne von vennehrter Pauschalierung von Leistungen und der Angleichung der Regreßregelungen) im Sozialhilferecht voraus. 20 Nur ein Zitat zum Beleg: Der Kölner Versicherungswissenschaftler Moldenhauer äußerte sich in seinem Beitrag "Versicherungsprinzip oder Versorgungsprinzip in der deutschen Sozialversicherung" nach der Darlegung verschiedener Gründe, die aus seiner Sicht für das Versicherungsprinzip sprachen: "Aus allen diesen Gründen wird man, glaube ich, auch in der Zukunft, solange wir an unserer heutigen Wirtschaftsordnung festhalten und sie nicht durch eine sozialistische ersetzen, an dem Versicherungsprinzip auch in der Sozialversicherung festhalten. Es erscheint mir so wenig veraltet, wie die private Versicherung etwa sozialisierungsreif ist." Paul Moldenhauer, Versicherungsprinzip oder Versorgungsprinzip in der deutschen Sozialversicherung, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 22 (1922), S. 177 -181, Zitat 181. 21 Zur Begründung aus allokations- und verteilungspolitischer Perspektive sowie zu hierauf gerichteten Maßnahmen s. Winfried Schmähl, Änderung der Finanzierungsstruktur der sozialen Sicherung und insbesondere der Sozialversicherung als wichtiges Element eines "Umbaus" des deutschen Sozialstaats, in: Richard Hauser (Hrsg.), Refonn des Sozial staats I - Arbeitsmarkt, soziale Sicherung und soziale Dienstleistungen, Berlin 1997, S. 121-167. 22 Siehe Walter Korpi/Joakim Palme, The Paradox of Redistribution and Strategies of Equality: Welfare State Institutions, Inequality, and Poverty in the Western Countries, in: American Sociological Review 63 (1998), S. 661-687.

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denjenigen vertreten wird, die verstärkt spezifisch armutsvermeidende Maßnahmen in der Rentenversicherung fordern 23 • Auch ein Vergleich zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland unterstreicht diese Aussage: Wahrend in Deutschland weniger als zwei Prozent der Rentner der gesetzlichen Rentenversicherung ergänzende Sozialhilfeleistungen (zur Finanzierung des laufenden Lebensunterhalts) in Anspruch nehmen, ist der Prozentsatz der Rentner in der Schweiz, die steuerfinanzierte ,,Ergänzungsleistungen" beziehen, deutlich höher, obgleich dort die AHV (die "erste Säule") das Existenzminimum decken soll. 2. Umlagejinanzierung und "Kapitalfundierung" in der Alterssicherung

Auch im Zusammenhang mit der Frage nach der relativen Bedeutung und dem Umfang von umlagefinanzierter und kapitalfundierter Alterssicherung ist eine differenziertere Sicht notwendig, als sie oft in der Diskussion anzutreffen ist. In der ökonomischen Fachliteratur werden seit langem die Unterschiede der Finanzierungsverfahren analysiert24• Häufig werden dabei allerdings Effekte der Finanzierungsverfahren vermischt mit der Art der Einkommensumverteilung, indem umlagefinanzierte öffentliche Systeme mit (starker) interpersoneller Umverteilungskomponente verglichen werden mit kapitalfundierten privaten Systemen, die nur intertemporale Umverteilung anstreben 25 • Aus der Umverteilungskomponente resultierende unerwünschte Wirkungen - wie z. B. Verzerrungen auf dem Arbeitsmarkt - können aber auch innerhalb der Umlagefinanzierung durch stärkere Beitrags-Leistungs-Verknüpfung vermieden werden und erfordern keine Veränderung des Finanzierungsverfahrens 26• Es geht also sowohl um Maßnahmen inner23 Hierzu auch Jens Alber, Der deutsche Sozialstaat im Licht international vergleichender Daten, in: Leviathan 26 (1998), S. 199-227, hier 215 f.: "Um so bemerkenswerter ist es, daß die Bundesrepublik im europäischen Vergleich noch nie durch überdurchschnittliche Armutsquoten aufgefallen ist." Und weiter (S. 217): "Im internationalen Vergleich läßt sich demnach kaum behaupten, daß der deutsche Sozialstaat bei der Bekämpfung der Armut in auffallendem Maße versage." 24 Zum Überblick über zentrale Aspekte sei exemplarisch verwiesen auf Lawrence Thompson, Older and Wiser: The Economics of Public Pensions, Washington, D.C. 1998; B. R. Hernrning, Should Public Pensions Be Funded? IMF Working Paper WP/98/35, Washington, D.C. 1998, Hans-Jürgen Krupp, Ist das Kapitaldeckungsverfahren in der Alterssicherung dem Umlageverfahren überlegen?, in: WS I-Mitteilungen 50 (1997), S. 289-298. 25 Vgl. ausführlich zu den Vergleichsebenen und hierbei zu berücksichtigenden Aspekten Winfried Schmähl, Zum Vergleich von Umlageverfahren und kapitalfundierten Verfahren zur Finanzierung einer Pflegeversicherung in der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie und Senioren, Bd. 10), Stuttgart u. a. 1992. 26 In diesem Sinne auch Robert Holzmann, Pension Reform, Financial Market Development, and Econornic Growth: Prelirninary Evidence from Chile (International Monetary Fund, Working Paper WP/96/94), Washington, D.C. 1996, S. 5: "Public and earnings-related pension schemes traditionally have distributional and annuity components, and it is the

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halb umlagefinanzierter Systeme als auch um das Gewicht von kapitalfundierten und umlagefinanzierten Einrichtungen im Gesamtspektrum der Alterssicherung. Bei der letztgenannten Frage ist in Deutschland wichtig, ob eine weithin akzeptierte Stärkung kapitalfundierter Alterssicherung durch Rückführung der Umlagefinanzierung oder ergänzend hierzu bei weitgehendem Erhalt des Umfangs der umlagefinanzierten Alterssicherung erfolgen soll. Im ersten Fall spielt die Frage des Übergangs von der Umlagefinanzierung zur Kapitalfundierung eine wichtige Rolle, da bei einer Niveaureduktion im umlagefinanzierten System die dort früher erworbenen Ansprüche noch längere Zeit zu finanzieren sind, die Finanzierenden aber durch ihren Finanzierungsbeitrag selbst nur einen Anspruch auf niedrigerem Niveau erwerben. Wollen sie das "alte" Absicherungsniveau auch für sich selbst erreichen, so müßten sie zusätzlich vorsorgen (in welcher Form auch immer). Es entsteht also eine Zusatzbelastung, die übrigens auch bei der Beurteilung der Rentabilität der kapitalfundierten Alterssicherung berücksichtigt werden muß (diese folglich mindert). Dies ist um so ausgeprägter der Fall, je mehr Umlagefinanzierungdurch Kapitalfundierung ersetzt werden soll. Dies beleuchtet exemplarisch einen der Gründe für eine oft konstatierte "Pfadabhängigkeit,,27, denn die Übergangsprobleme werden hinsichtlich Ausmaß und Zeitdauer um so ausgeprägter, je tiefgreifender die geplante Umstellung ist. Wird zusätzliche kapitalfundierte Alterssicherung angestrebt, so stellen sich verschiedene Fragen, von denen nur einige hier angedeutet werden können: Soll die zusätzliche Absicherung freiwillig erfolgen oder obligatorisch (sei es über Tarifvertrag oder Gesetz)? Sollen bei nicht obligatorischen Formen steuerliche oder andere Anreize erfolgen? Wer soll gegebenenfalls dann für welche Formen der Altersvorsorge (mit oder ohne Risikoausgleich, bei welcher Bindungsdauer der Vorsorgeaufwendungen) und in welchem Ausmaß z. B. steuerliche Vergünstigungen erhalten? Wie verändert sich bei einer obligatorischen zusätzlichen Vorsorge die gesamte Abgabenbelastung und wie wird darauf reagiert, z. B. auch im Rahmen freiwilliger betrieblicher Alterssicherung? Allgemein stellt sich auch die Frage nach der Substitution von Ersparnis für verschiedene Zwecke, wenn es zu zusätzlichem Sparen für die Alterssicherung kommt. Die politischen Entscheidungen über die künftige Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung werden mitentscheidend für die Wege sein, die hinsichtlich weiterer - vor allem kapitalfundierter - Formen der Alterssicherung eingeschlagen werden. mingling of both components and the lack of a c1ear contribution I benefit link which is c1aimed to be responsible for the distortions ... However, these distortions mayaiso be reduced in an unfunded scheme ... ". 27 Generell in diesem Sinne John Myles I Paul Pierson, The Comparative Political Economy of Pension Reform (hektographiertes Manuskript), Dezember 1998: " ... pension policy is a loeus classieus for the study of ,path dependent' change, processes in which choices made in the past systematically constrain the choices open in the future."

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3. Schlußbemerkung Dies führt abschließend auch zur Frage, inwieweit unter Berücksichtigung sich wandelnder Erwerbsbiographien und sich wandelnder Bedingungen in der Arbeitswelt Ansprüche im Rahmen gesetzlicher Systeme erworben werden können und inwieweit die Einkommenssituation zusätzliche private Vorsorge erlaubt. Man sieht hieran, daß z. B. auch kapitalfundierte Formen der Altersvorsorge Einkommen - und zwar in der Regel Erwerbseinkommen - voraussetzen. Für die gesetzlichen Systeme wird von Bedeutung sein, ob und inwieweit weitere ökonomische Aktivitäten, die nicht Erwerbsarbeit sind, Rentenansprüche begründen 28 . Insgesamt ist aus meiner Sicht die Hypothese plausibel, daß sich in Zukunft die Einkommenssituation im Alter (noch) weiter differenzieren wird29 . Dies wird um so ausgeprägter sein, je stärker die obligatorischen öffentlichen Regel-Sicherungssysteme in ihrem Niveau reduziert werden. Die Vielzahl nahezu gleichzeitig sich vollziehender Strukturwandlungen ökonomischer, demographischer und sozialer Art, verknüpft mit zunehmender internationaler ökonomischer Verflechtung, der europäischen Integration und den weiteren Veränderungen im Prozeß der deutschen Vereinigung, verlangt allerdings Bescheidenheit bei Voraussagen über die Zukunft, dies um so mehr, wenn man Aaron in seiner Aussage folgt, es bestehe eine " ... current impotence of social science before most large social and economic problems ... ,,30.

4. Nachbemerkung Seit Fertigstellung dieses Beitrags im März 1999 hat sich deutlich gezeigt, daß es in den künftigen Entscheidungen zur Alterssicherung in Deutschland um zentrale ordnungs- und verteilungspolitische Fragen geht. Die seit Herbst 1998 amtierende Bundesregierung strebt u. a. einen partiellen Ersatz umlagefinanzierter Alterssicherung durch freiwillige, wenngleich geförderte private Vorsorge an und damit eine Veränderung nicht nur im Gewicht der Finanzierungsverfahren zueinander (UrnIagefinanzierung und Kapitalfundierung), sondern auch in der Aufgabenteilung zwischen Staat und Privatsektor - auch mit der Konsequenz einer stärkeren Differenzierung von Alterseinkommen. Die endgültigen politischen Entscheidun28 Siehe zum Zusammenhang zwischen Entwicklungen in der Arbeitswelt und sozialer Sicherung die Beiträge in Winfried Schmähl / Herbert Rische (Hrsg.), Wandel der Arbeitswelt - Folgerungen für die Sozialpolitik, Baden-Baden 1999. 29 Verschiedene Argumente dazu finden sich in Winfried Schmähl/Uwe Fachinger, Einkommen und Vermögen älterer Haushalte - Anmerkungen zur heutigen Situation und zur künftigen Entwicklung, in: Dieter Farny u. a. (Hrsg.), Lebenssituationen älterer Menschen, Berlin 1996, S. 93 -124. 30 Henry J. Aaron, Public Policy, Values, and Consciousness, in: Journal of Economic Perspectives 8 (1994), Nr. 2, S. 3-21, Zitat 13.

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gen stehen zwar im Sommer des Jahres 2000 noch aus. Es deutet sich aber flir die gesetzliche Rentenversicherung eine Hinwendung zum Konzept "einnahmeorientierter Ausgabenpolitik" an, das schon seit längerem im Gesundheitswesen eine zentrale Rolle spielt. Ob es bei einem dann deutlich reduzierten Leistungsniveau der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung längerfristig bei einer engen Beitrags-Leistungs-Beziehung bleiben kann und wird oder ob es zu einer Rückwendung zu einer auf Armutsvermeidung ausgerichteten Konzeption staatlicher Alterssicherung kommt, die bis 1957 faktisch dominierte, das ist eine der offenen Fragen31 .

31 Eine Analyse und Diskussion der im Sommer 2000 vorgelegten Pläne rrndet sich in Winfried Schmähl, Perspektiven der Alterssicherungspolitik in Deutschland - Über Konzeptionen, Vorschläge und einen angestrebten Paradigmenwechsel -, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik I (2000).

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Diether Döring, Prof. Dr. rer. pol., Jg. 1939, lehrt Sozialpolitik sowie Steuer- und Finanzpolitik an der Akademie der Arbeit und am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Frankfurt a.M. Seine neueren Forschungsprojekte sind an den Entwicklungen in Europa orientiert, so in einer vergleichenden Untersuchung der Alterssicherung in der Europäischen Union. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit richten sich auf die nonnative Basis der Sozialpolitik und deren langfristige Finanzierbarkeit. Neuere Veröffentlichungen: Soziale Sicherheit im Alter?, 1997; (Hrsg.) Sozialstaat in der Globalisierung, 1999; (zus. mit R. Hauser/S. Rechmann/G. Rolf) Alterssicherung in der Europäischen Union, 2000 (in Vorb.); Systemlogik der Alterssicherung, 2000 (in Vorb.). Marlene Ellerkamp, Dr. phil., Jg. 1956, ist als Historikerin am Institut für Sozialpolitik der Universität Göttingen beschäftigt. Ihre Arbeitsgebiete betreffen die Sozialgeschichte des 19./20. Jahrhunderts, die soziale Sicherung von Frauen und besonders die Geschichte der Witwen- und Waisenversorgung. Wichtige Veröffentlichungen: Industriearbeit, Krankheit und Geschlecht. Zu den sozialen Kosten der Industrialisierung: Bremer Textilarbeiterinnen 1870-1914, 1991; Stichworte: Marie Baum, Agnes Bluhm, Hinterbliebenenversicherung, Karl Trimborn, Waisenrente, Witwen- und Waisenversorgung, Witwenrente, in: Lexikon des Sozial- und Gesundheitswesens, 3 Bde., hrsg. von Rudolph Bauer, 1992; Mutterschaftsversicherung und städtische Mutterschaftskassen, Konzeptionen und ihre Umsetzung im Kaiserreich, in: Jörg Vögele/Wolfgang Woelk (Hrsg.), Stadt, Krankheit und Tod. Städtische Gesundheit während der Epidemiologischen Transition, 2000 (im Erscheinen). Gisela Färber, Prof. Dr. rer. pol., Jg. 1955, ist Professorin für wirtschaftliche Staatswissenschaften, insbesondere Volkswirtschaftslehre, an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und arbeitet in verschiedenen politikberatenden Gremien zur Verwaltungsmodemisierung und Zukunft der Sozialpolitik mit. Ihre Forschungen widmen sich der öffentlichen Finanz- und Steuerpolitik, insbesondere im Zusarnrnenhang mit der Sozial- und Bildungspolitik, und den wirtschaftlichen Problemen des Föderalismus, der europäischen Integration und der Globalisierung; spezielle Schwerpunkte liegen im Bereich der Beamtenbesoidung, der Verwaltungsmodernisierung und der Refonn der Staatsausgaben. Wichtige Veröffentlichungen: Probleme der Finanzpolitik bei schrumpfender Bevölkerung, 1988; Binnenmarktgerechte Subventionspolitik in der Europäischen Gemeinschaft. Strukturen, Nonnen und Defizite, 1995; Revision der Personalausgabenprojektion der Gebietskörperschaften bis 2030,41995. Stefan Fisch, Prof. Dr. phil., Jg. 1952, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte, insbesondere Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Seine vielfach international vergleichenden Forschungen befassen sich u. a. mit Entstehung und Entfaltung von Stadtplanung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, mit innovativen sozialpolitischen Ansätzen in der kommunalen Selbstverwaltung dieser Zeit und mit Themen der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Wichtige Veröffent24 Fisch/Haerendel

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lichungen: Stadtplanung im 19. Jahrhundert. Das Beispiel München bis zur Ära Theodor Fischer, 1988; (zus. mit Chr: Comelißen/ A. Maas) Grenzstadt Straßburg. Stadtplanung, kommunale Wohnungspolitik und Öffentlichkeit 1870-1940, 1997; Dimensionen einer historischen Systemtransformation. Zur Verwaltung des Elsaß nach seiner Rückkehr zu Frankreich (1918-1940), in: K. Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung. Fünfzig Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer 1997, S. 381-398. Jens Flemming, Prof. Dr. phi!., Jg. 1944, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Gesamthochschule Kasse!. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Alltagsgeschichte zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, der Geschichte der ländlichen Gesellschaft und konservativen Bewegungen und der Kulturgeschichte der Modeme um die Wende zum 20. Jahrhundert. Neuere Veröffentlichungen: (zus. mit K. Saul/ P.-c. Witt) Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914, 1997; Junge Front. Bemerkungen zum generationellen, politischen und kulturellen Profil der "Tat", in: M. Grunewald (Hrsg.), Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933-1939), 1999, S. 233 - 263; "Sexuelle Krise" und ,,Neue Ethik". Wahrnehmungen, Debatten und Perspektiven in der deutschen Gesellschaft um 1900, in: H. Scheuer/Mo Grisko (Hrsg.), Liebe, Lust und Leid. Zur Gefühlskultur um 1900, 1999, S. 27 - 55. Karl Christian Führer; ap!. Prof. Dr. phi!., Jg. 1954, lehrt Neuere Geschichte an der Universität Oldenburg. Er war von 1995 bis 1999 Schriftleiter des von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen "Archivs für Sozialgeschichte" und arbeitet jetzt an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg in einern Projekt zur Geschichte der Tarifverträge. Seine Forschungen widmen sich der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte vorwiegend des 20. Jahrhunderts, wobei besondere Schwerpunkte in der Geschichte der Arbeitsmarktund Wohnungspolitik und der modemen Massenmedien liegen. Wichtige Veröffentlichungen: Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland 19021927, 1990; Mieter, Hausbesitzer, Staat und Wohnungsmarkt. Wohnungsmangel und Wohnungszwangswirtschaft in Deutschland 1914-1960, 1995; Wirtschaftsgeschichte des Rundfunks in der Weimarer Republik, 1997. Martin H. Geyer; Prof. Dr. phi!., Jg. 1957, ist seit 1997 Professor für Neuere Geschichte an der Universität München. Er war zeitweise in den USA tätig, so zuletzt als Stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington von 1995 bis 1997. Der international vergleichende Blick kennzeichnet etliche seiner Publikationen, die sich mit der Sozialpolitik sowie der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigen. Wichtige Veröffentlichungen: Die Reichsknappschaft. Versicherungsreformen und Sozialpolitik im Bergbau, 1900-1945, 1987; Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Modeme: München 1914-1924, 1998; One Language for the World: The Metric System, International Coinage and the Rise of Internationalism, 1850-1900, in: Martin H. Geyer/ Johannes Paulmann (Hrsg.), The Mechanics of Internationalism in the 19th Century, 2000 (im Erscheinen). Ulrike Haerendel, Dr. phi!., Jg. 1964, war Forschungsreferentin beim Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer und ist jetzt freiberuflich als Historikerin in München tätig. Gegenwärtig schreibt sie eine Monographie zur Entstehungsgeschichte der deutschen Rentenversicherung und bereitet zusammen mit Florian Tennstedt den Band 11.6 über "Invaliditäts- und Altersversicherung" der "Quellensarnm1ung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik" vor. Wichtige Veröffentlichungen: Berufliche Mobilität von Flüchtlingen im Nach-

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kriegsbayern, 1994; Kommunale Wohnungspolitik im Dritten Reich. Siedlungsideologie, Kleinhausbau und "Wohnraumarisierung" arn Beispiel Münchens, 1999; Wohnungspolitik im Nationalsozialismus, in: ZSR 45 (1999), S. 843-879. E. Peter Hennock, em. Prof. Ph.D., Jg. 1926, war bis 1993 Professor für Neuere Geschichte an der University of Liverpool. Geboren in Berlin, ist er als Kind aus Nazi-Deutschland geflohen und wurde britischer Staatsbürger. Sein Hauptforschungsgebiet liegt in der vergleichenden Analyse der Sozialpolitik in Deutschland und England; dazu bereitet er derzeit eine Studie vor, die zunächst den Zeitraum von 1850 bis 1914 abdecken, in einem zweiten Band bis zur Ölkrise der frühen 1970er Jahre weiterführen soll. Wichtige Veröffentlichungen: British Social Reform and German Precedents. The Case of Social Insurance 1880-1914, 1987; Lessons from England: Lujo Brentano on British Trade Unionism, in: German History 11 (1993), S. 141-160; Vaccination Policy against Smallpox, 1835 -1914: A Comparison of England with Prussia and Imperial Germany, in: Social History of Medicine 11 (1998), S.49-71. Hans Günter Hockerts, Prof. Dr. phil., Jg. 1944, ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität München, Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Historischen Kollegs. Seine gegenwärtigen Forschungen betreffen die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR. Wichtige Veröffentlichungen: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980; Sicherung im Alter. Kontinuität und Wandel der gesetzlichen Rentenversicherung 1889-1979, in: W. ConzelM. R. Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1983; (Hrsg.) Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, 1998. Dierk Hoffmann, Dr. phil., Jg. 1963, wurde nach seiner Promotion 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Außenstelle Berlin des Münchener Instituts für Zeitgeschichte. Seine Forschungen widmen sich vor allem der DDR-Geschichte; derzeit arbeitet er an einer Studie über die ,,Arbeitskräftelenkung in der SBZ/DDR 1945 -1963". Wichtige Veröffentlichungen: (Hrsg. zus. mit K.-H. SchmidtlP. Skyba) Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949-1961, 1993; Sozialpolitische Neuordnung in der SBZ/DDR. Der Umbau der Sozialversicherung 1945-1956, 1996; (Hrsg. zus. mit M. Schwanz) Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeit der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ I DDR, 1999. Lars Kaschke, Dr. phil., Jg. 1966, ist seit 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 186 der Universität Bremen. Dort arbeitet er im Teilprojekt "Risikobiographie im historischen Wandel des Sozialversicherungssystems" an der Erforschung der Binnenstruktur und der Wirkungsgeschichte der Rentenversicherung seit dem Kaiserreich mit. Wichtige Veröffentlichungen: ,,Ein Gift, dessen Umsichgreifen in unseren Volkskörper zu verhindern meine Pflicht als Mensch und Staatsbürger war ... " Aus dem Alltag des wilhelminischen Kulturbetriebs: Börries von Münchhausens Angriffe auf Richard Dehmel, in: Text und Kontext 25 (1997); Kommission für "Rentenquetsche"? Die Rentenverfahren in der Invalidenversicherung und die Bereisung der Landesversicherungsanstalten 1901-1911, Diss. Bremen 1998. Jürgen Kohl, Prof. Dr. rer. pol., Jg. 1946, ist Professor für Soziologie an der Universität Heidelberg. Er betreibt vergleichende Sozialpolitikforschung, insbesondere zu Fragen von Alterssicherung und Armut, derzeit als Fellow am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst. 24*

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Wichtige Veröffentlichungen: Staatsausgaben in Westeuropa. Analysen zur langfristigen Entwicklung der öffentlichen Finanzen, 1985; Alterssicherung im internationalen Vergleich. Analysen zu Strukturen und Wirkungen der Alterssicherungssysteme in fünf westeuropäischen Ländern, Habil. 1994; Wohlfahrts staatliche Regimetypen im Vergleich, in: W. Glatzerl I. Ostner (Hrsg.), Deutschland im Wandel, 1999. Philip Manaw, Dr. rer. pol., Jg. 1963, ist seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am MaxPlanck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln und derzeit Stipendiat am Minda de Gunzburg Center for European Studies der Harvard University in Carnbridge, Mass. Seine Forschungen widmen sich der deutschen Sozialpolitik, und hier besonders der Gesundheitspolitik, auch im Vergleich mit anderen Staaten. Wichtige Veröffentlichungen: Gesundheitspolitik im Einigungsprozeß, 1994; Die Sozialversicherung in der DDR und der BRD, 1945 - 1990: Über die Fortschrittlichkeit rückschrittlicher Institutionen, in: PVS 35 (1994), S. 40-61; (zus. mit Marian Döhler) Strukturbildung von Politikfeldern. Das Beispiel bundesdeutscher Gesundheitspolitik seit den fünfziger Jahren, 1997. Detle! Merten, Prof. Dr. rer. pol. Dr. iur., Jg. 1937, ist seit 1972 Professor für öffentliches Recht, insbesondere Wirtschaftsverwaltungsrecht und SoziaJrecht, an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; von 1977 bis 1979 nahm er dort das Amt des Rektors wahr. Neben seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor ist er beratend für Politik und Verwaltung tätig und wirkt als Richter im Nebenamt; seit 1983 ist er Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz. Neuere Veröffentlichungen: Grundfragen des Einigungsvertrags unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, 1991; Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, 21994; Zum Selbstverwaltungsrecht Kassenärztlicher Vereinigungen, 1995. Gerhard A. Ritter, em. Prof. Dr. phil. Dr. h.c. (Bie1efeld) Dr. h.c. (HU Berlin), Jg. 1929, war - nach Professuren in Berlin und Münster - von 1974 bis zu seiner Emeritierung 1995 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität München. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und hat in vielen Gremien gewirkt, so als Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands von 1976 bis 1980. Mehrfach nahm er Forschungsstipendien und Gastprofessuren im Ausland wahr und hat dem internationalen Vergleich in seinen Werken, deren gegenwärtiger Schwerpunkt die Geschichte des Sozialstaats ist, einen hohen Stellenwert eingeräumt. Wichtige Veröffentlichungen: Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, 1983; Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 21991; Bismarck und die Grundlegung des deutschen Sozialstaates, in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats. Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 1998, S. 789 - 820. Wilfried Rudlaff, Dr. phil., Jg. 1960, ist wissenschaftlicher Assistent an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Nach etlichen Veröffentlichungen zur Geschichte der Wohlfahrtspolitik insbesondere auf kommunaler Ebene liegt sein derzeitiger Forschungsschwerpunkt auf der Geschichte der Bildungsidee und Bildungspolitik in der Bundesrepublik. Wichtige Veröffentlichungen: Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910-1933, 1998; Öffentliche Fürsorge, in: H.G. Hackerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, 1998, S. 191-229; Die Tradition der deutschen Wohlfahrtspflege und der Weg der DDR, in: I. HÜbnerIJ.-C. Kaiser (Hrsg.), Diakonie im geteilten Deutschland, 1999, S. 37 - 61.

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Winfried Schmähl. Prof. Dr. rer. pol., Jg. 1942, ist Professor für Wirtschaftswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik und Leiter der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung des Zentrums für Sozialpolitik an der Universität Bremen. Er widmet sich besonders den ökonomischen Fragen der Sozialpolitik und der Analyse der sozialen Sicherungssysteme, vor allem der Pflegeversicherung und der Altersversicherung. Im Verein für Socialpolitik ist er seit 1998 Vorsitzender des Ausschusses für Sozialpolitik. An der Gestaltung der aktuellen Sozialpolitik nimmt er maßgeblich u. a. durch seine Tätigkeit als Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung für die gesetzliche Rentenversicherung teil. Wichtige Veröffentlichungen: Systemänderung in der Altersvorsorge - Von der einkommensabhängigen Altersrente zur Staatsbürger-Grundrente. Eine theoretische und empirische Untersuchung ökonomischer Probleme im Übergangszeitraum, 1974; (Hrsg.) Mindestsicherung im Alter - Erfahrungen, Herausforderungen, Strategien, 1993; (Hrsg. zus. mit H. Rische) Wandel der Arbeitswelt - Folgerungen für die Sozialpolitik, 1999. Heinz-Dietrich Steinmeyer, Prof. Dr. iur., Jg. 1949, ist Professor für Sozialrecht an der Universität Münster. Er hat mehrfach an Expertengremien zur Beratung sozialpolitischer Fragen innerhalb der Europäischen Union teilgenommen. Auch seine Veröffentlichungen beschäftigen sich vielfach mit Fragen des europäischen Sozialrechts sowie insbesondere mit dem sozialen Schutz Selbständiger und allen Formen der Alterssicherung. Wichtige Veröffentlichungen: Die Einstrahlung im internationalen Sozialversicherungsrecht - Kollisionsnormen für ins Inland entsandte Arbeitnehmer und vergleichbare Selbständige, 1981; Betriebliche Altersversorgung und Arbeitsverhältnis - Das betriebliche Ruhegeld als Leistung im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis, 1991; Das europäische Sozialrecht nach Maastricht, in: Vierteljahresschrift rur Sozialrecht (1996), S. 49 ff. Florian Tennstedt. Prof. Dr. iur., Jg. 1943, ist Professor für Jugend- und Sozialrecht sowie Sozialpolitik an der Universität Gesamthochschule Kassel. Er ist geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Sozialreform und Mitherausgeber der QuellensarnmIung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik. Seine Forschungsaktivitäten richten sich seit etlichen Jahren auf historische Sozialpolitik, vor allem die Geschichte der Armenfürsorge sowie der Sozialversicherung und ihrer Vorläufer. Wichtige Veröffentlichungen: (zus. mit ehr. Sachße) Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 3 Bde., 1979 ff.; Vom Proleten zum Industriearbeiter. Arbeiterbewegung und Sozialpolitik in Deutschland 1800 bis 1914, 1983; (Mithrsg. und Autor mehrerer Bände) Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1993 ff.

Verzeichnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Forschungsseminar vom 14. bis 16.10. 1998 in Speyer Dr. Heike Amos, Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof Dr. Diether Döring, Universität Frankfurt a.M. Dr. Marlene Ellerkamp, Universität Göttingen Prof Dr. Gisela Färber, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof Dr. SteJan Fisch, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof Dr. Jens Flemming, Universität Gesamthochschule Kassel Prof Dr. Karl Christian Führer, Universität Oldenburg Prof Dr. Martin H. Geyer, Universität München Marion Götz, Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt a.M. Dr. Ulrike Haerendel, Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof em. Dr. E. Peter Hennock, University of Liverpool Prof Dr. Hans Günter Hockerts, Universität München Dr. Dierk Hoffmann, Institut für Zeitgeschichte - Außenstelle Berlin Dr. Lars Kaschke, Universität Bremen Dr. Christian Koch, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof Dr. Jürgen Kohl, Universität Heide1berg Prof Dr. Dr. Klaus König, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Dr. Hans-ChristoJ Kraus, Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungs wissenschaften Speyer

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Dieter Lutz, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn/Berlin Dr. Philip Manow, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln Prof Dr. Dr. Detle! Merten, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Reinhard Meyer, Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz Dipl.-Ökon. Angelika Oelschläger, Universität Bremen Dr. Monika Rahn, Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt a.M. Dr. Christiane Reuter-Boysen, Universität München Prof em. Dr. Dr. h.c. Gerhard A. Ritter, Universität München Dr. Wilfried Rudloff, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Dipl.-Ökon. Marika Sauckel, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof Dr. Winfried Schmähl, Universität Bremen Prof Dr. Heinz-Dietrich Steinmeyer, Universität Münster Prof Dr. Florian Tennstedt, Universität Gesamthochschule Kassel