Geschichte des Urchristentums / Grundrisse zum Neuen Testament 5: Das Neue Testament Deutsch (NTD), Erg.-Reihe [6 ed.] 9783525513545, 9783647513546, 3525513542

114 81 20MB

German Pages 173 [180] Year 2009

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Geschichte des Urchristentums / Grundrisse zum Neuen Testament 5: Das Neue Testament Deutsch (NTD), Erg.-Reihe [6 ed.]
 9783525513545, 9783647513546, 3525513542

Citation preview

Grundrisse zum Neuen Testament

5

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Grundrisse zum Neuen Testament Das Neue Testament Deutsch • Ergänzungsreihe Herausgegeben von Gerhard Friedrich

Band 5 Geschichte des Urchristentums

Göttingen • Vandenhoeck & Ruprecht • 1976 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Geschichte des Urchristentums

von Hans Conzelmann Dritte Auflage

Göttingen . Vandenhoeck & Ruprecht . 1976 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

ISBN 3 - 525 - 51354 - 2 © Vandenhocck & Ruprecht, Göttingen 1969. — Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Vorbemerkung Leben und Lehre Jesu sind die Voraussetzung der Kirchengeschichte. Ihre Darstellung gehört nicht in diese, sondern vor sie (siehe dazu Grundrisse Band 3). Die Geschichte der Kirche beginnt nach dem Tod Jesu. Sie ist durch die Erscheinungen des Auferstandenen gestiftet, wie immer der Historiker sich diese erkläre. Diese Tatsache stellt eines der schwierigsten und die Theologie bis heute bewegenden Probleme: Der urchristliche Glaube richtet sich in erster Linie auf die Person des auferstandenen Jesus, nicht bzw. erst in zweiter Linie auf sein geschichtliches Leben und seine Lehre. Der Glaubensinhalt kann in den einen Satz zusammengefaßt werden, daß Christus gestorben und auferstanden sei (s. S.30). Dadurch entsteht die Frage: Ist also der geschichtliche Mensch Jesus als der Stifter des Christentums vergessen? Ist er verdeckt durch das mythische Bild eines Himmelswesens? Dieses Problem bricht in der Tat früh auf. Es wird schon zwischen Paulus und den Korinthern verhandelt (s. S. 87 f.). Auch für Paulus spielen die einzelnen Ereignisse des Lebens Jesu (z. B. seine Wunder) keine Rolle; und aus den Lehren Jesu führt er nur wenige Sätze an. Aber gegenüber den Tendenzen zur Mythisierung betont er die Wirklichkeit des Menschseins und des Todes Jesu; das Kreuz als die Heilstat ist der geschichtliche Haftpunkt des Glaubens. In anderer Weise wird die Bindung des Glaubens an die geschichtliche Person Jesu da bewahrt, wo man die Erinnerung an sein irdisches Auftreten, seine Taten und Worte bewahrt, zunächst in mündlicher Weitergabe, bald auch schriftlich (siehe dazu Grundrisse Band 2). Auch da, wo man das tat, ist die Auferstehung Jesu der zentrale Glaubensinhalt. Von ihr fällt nun das Licht auf sein irdisches Auftreten, vor allem auf die Passionsgeschichte. In dieser erscheint die Einheit von Bekenntnis zum Erhöhten und Bindung an den geschichtlichen Jesus am klarsten; siehe noch S.58.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

EINLEITUNG

Geschichte und Geschichtsbild Der Leser einer „Geschichte des Urchristentums“ muß sich darauf gefaßt machen, mehr eine Darstellung von geschichtlichen Problemen vorgelegt zu bekommen, die studiert werden will, als eine flüssige Geschichtserzählung, die er sich genießend aneignen kann. Der Grund dafür liegt in der Sache selbst. 1. Es ist natürlich verlockend, den Ursprung der stärksten Weltreligion in einen weiten, weltgeschichtlichen Rahmen einzuzeichnen, also in die Blütezeit des römischen Reichs, die Epoche des römischen Weltfriedens, in das Bild einer politisch und doch auch weithin geistig geschlossenen Welt. Und es ist verführerisch, von diesem strahlenden Gebilde ein Licht auf die junge Kirche fallenzulassen, die zunächst unscheinbar am Rande wächst, sich aber schließlich als die dauerhaftere Größe erweist. Sie überlebt das Imperium und die antike Weltkultur. Ja, was als Erbe jener Epoche heute noch wirksam ist, das ist zum großen Teil durch die Kirche an die Gegenwart vermittelt, durch das „Mittelalter“ hindurch: politische Ideen und Formen, Grundlagen des Rechts und der Philosophie, Formen der Dichtung und der bildenden Kunst, kurz: das Fundament der Kultur und Humanität. Eine solche welt- und kulturgeschichtliche Betrachtung hat ihr Recht: Die Kenntnis der Umwelt der jungen Kirche ist für das Verständnis ihrer Geschichte unentbehrlich, nicht nur wegen ihrer äußeren Lage, ihrer Zusammenstöße und geistigen Auseinandersetzungen mit dem Staat, sondern auch, weil jede Bewegung in den Lebens- und Denkformen ihrer Welt lebt, mag sie sich zu diesen auch kritisch einstellen. Aber eine ausgeführte Darstellung der damaligen Welt braucht einen breiteren Raum. Sie wird daher in einem selbständigen Band (Neutestamentliche Zeitgeschichte) vorgelegt. 2. Geschichtsabschnitte sind nicht abgeschlossen. Sie sind auf ihre Zukunft hin offen. Ihre Nachwirkung ist auch für sie selbst aufschlußreich. So ist von einem Politiker oder Denker die Wirkung, die von ihm - auch nach seinem Tod - ausgeht, nicht zu trennen. Ohne deren Kenntnis ist auch er selbst nicht zu verstehen. Dasselbe gilt von Gruppen. Für die Kirche besteht aber noch ein anderer, unmittelbarer Bezug zwischen der Zeit der Stiftung und der nachfolgenden Geschichte. Er ist mit dem Zusammenhang von Glauben und Kirche selbst gesetzt: Die Kirche bekennt ihre Einheit, nicht nur durch die verschiedenen Konfessionen hindurch, sondern auch durch die Epochen ihrer Geschichte, von ihrer Stiftung an bis heute; und sie glaubt an diese Einheit in die Zukunft hinein - weil ihr Herr einer ist.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Geschichte und Geschichtsbild

3

Auf der anderen Seite ist es dem Glauben verwehrt, den Rückblick in die Geschichte zum Mittel der Selbstverklärung zu machen. Ein verklärendes Bild würde die wirklichen geschichtlichen Maße verzerren und ist überdies dem Glauben nicht gemäß. Denn für diesen sind Erfolge der Kirche nicht Verdienst der Christen, sondern Gabe des Herrn. Eine geschichtliche Darstellung darf ja auch nicht nur fragen, wie sich die Christen selbst in der Welt sahen, welche Rolle sie der Kirche hier, der Welt dort beimaßen. Sie muß auch versuchen, die Kirche von außen zu sehen, mit den Augen eines römischen Beamten, der von Amts wegen mit dem Christentum zu tun bekam; mit den Augen eines Philosophen, der die christliche Lehre kennenlernt. Im ersten Jahrhundert ist die junge Religion noch kein respektabler Faktor, weder für den Staat noch für die Geistesgeschichte. Lukas läßt zwar Paulus im Verhör vor dem König Agrippa II. und dem römischen Statthalter Festus erklären (Apg. 26,26): „Das ist nicht im Winkel geschehen.“ Das ist die christliche Überzeugung und zugleich das Programm der christlichen Mission, die sich als Weltmission versteht. Aber die „Welt“ hat es zu dieser Zeit noch nicht zur Kenntnis genommen. 3. Eine „gefällige“ Darstellung müßte vor allem dem Ablauf der äußeren Ereignisse nachgehen und die dramatischen Höhepunkte herausheben: Entstehung der Kirche, die führenden Männer, ihre Aktionen, die Krisen. Aber das bliebe an der Oberfläche. Es ist zu fragen: Warum ist die Kirche von Anfang an auf Ausbreitung angelegt? Das gehört nicht notwendig zum Wesen einer Überzeugungsgemeinschaft. Eine solche kann sich auch als Gruppe der Stillen im Lande absondern und mit sich selbst begnügen. Und wie breitet sich die Kirche aus? Nicht so, wie gelegentlich eine Idee, eine Mode, ein Stil auftritt und um sich greift. Ideen können „in der Luft liegen“. Sie setzen sich durch, wenn eine Gruppe oder eine Zeit sich selbst in ihnen erkennt. Der christliche Glaube lag nicht „in der Luft“. Die Christen glaubten zwar, daß Gott seinen Sohn sandte, „als die Zeit erfüllt war“ (Gal.4,4). Aber damit meinten sie weder, daß die Welt aus sich heraus für den Empfang des Erlösers reif, noch, daß damals die Weldage für den Erfolg des Christentums besonders günstig war, sondern, daß Gott die Zeiten und die Erfüllung bestimmt. Die neue Lehre greift nicht sozusagen ansteckend um sich. Sie wird von Zeugen des Glaubens durch die Welt getragen, weil der Herr der Kirche als der Weltherr anerkannt sein will. Dabei weiß die Kirche, daß der Erfolg nicht das Ergebnis menschlicher Tüchtigkeit ist; es ist der Herr selbst, der Gläubige „hinzufügt“ (Apg. 2,47). 4. Mit der Ausbreitung verändert sich die Form der Kirche, ihre Denkund Sprechweise. Eine große Gemeinschaft braucht andere Organisationsformen als eine Gruppe von zwölf Mann. Führt also das Wachstum dazu, daß sich die Kirche an die „Welt“ anpaßt, daß sie damit auch innerlich verweltlicht, nicht mehr das ist, was sie am Anfang war oder mindestens sein wollte? Nach welchem Maßstab ist zu beurteilen, was echt christliche Möglichkeit der Begegnung mit der „Welt“ ist, wo der Verlust der Glaubenssubstanz anfängt? Diese Frage nach dem Maßstab für Glauben und Han1* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

4

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

deln muß das Verstehen der Kirchengeschichte leiten. Dadurch wird das verstehende Eindringen schwieriger, aber auch tiefer, und es wird unmittelbar aktuell. Denn diese Frage ist heute die Lebensfrage der Kirche nicht anders als jederzeit. Aus dem Ganzen des Glaubens- und Kirchenverständnisses ist auch das Wesen der Verfolgung zu begreifen. Wieder muß man durch den äußeren Verlauf hindurchzudringen suchen: Warum stößt die Kirche nicht lediglich auf Zustimmung oder Ablehnung? Warum wird sie verfolgt? Welches ist der kritische Punkt? Ist die Verfolgung ein Zufall, oder ergibt sie sich aus dem Inhalt der christlichen Botschaft, die sich ja als ein Ärgernis für die Welt versteht? Und wie begegnet die Kirche ihrerseits der Verfolgung? Hier wird das Maß des Glaubens sichtbar: Es gilt, der feindlichen Welt ihren Herrn zu zeigen - den Herrn, der gerade keine Weltmacht aufbietet. Darum gilt für die Gläubigen, die zu segnen, die ihnen fluchen. 5. Ein weiteres Hindernis für eine geradlinige, zusammenhängende Erzählung liegt in der Überlieferung der Quellen (s. dazu das nächste Kapitel): Aus früher Zeit ist nur eine einzige Schrift überliefert, die die Geschichte der Urkirche zum Gegenstand hat, die „Apostelgeschichte“ (der Titel stammt wohl nicht vom Verfasser). Dieses Fehlen von früher Geschichtsschreibung ist kein Zufall. Es hängt mit dem urchristlichen Glaubensverständnis zusammen: Die Urkirche missioniert, und sie ist überzeugt, daß sie bis zur Grenze der Welt durchdringen wird. Aber sie erwartet nicht, daß sich die Welt bekehren werde. Im Gegenteil! Die Welt wird den Glauben verweigern. Die Gläubigen bleiben eine kleine Herde, die dem baldigen Ende der Welt entgegenblickt. Sieht man die Welt so, dann schreibt man nicht Geschichte für künftige Geschlechter. Daß es der Verfasser der Apostelgeschichte dann dennoch tut, ist schon das Ergebnis einer Entwicklung des christlichen Geschichtsbildes: Er und seine Generation - gegen das Ende des ersten Jahrhunderts - rechnen bereits mit einer längeren Dauer der Welt. Wie es dazu kam, was das für den Glauben und die Gestaltung der Kirche bedeutete, das ist später im einzelnen zu schildern. Hier ist zunächst festzustellen, daß die Nachrichten, die wir besitzen, trotz der Apostelgeschichte sehr lückenhaft sind. Zudem urteilt die moderne Forschung über die Zuverlässigkeit ihres Geschichtsbildes zum Teil skeptisch. Große Strecken, ja die größte Strecke und der größte Teil des Raumes des Urchristentums bleiben für uns verborgen. Und bei den erhaltenen Nachrichten muß ständig methodisch gefragt werden, wie zuverlässig sie sind. Das betrifft Ereignisse, Personen und den Ausbreitungsraum. 6. Schon aus Mangel an Material kann die urchristliche Geschichte nicht als Geschichte hervorragender Persönlichkeiten geschrieben werden. Auch das ist kein Zufall. Es gab solche Persönlichkeiten, aber sie werden nicht zum Gegenstand der Heldenverehrung. Der Glaube bleibt an der Glaubensbotschaft orientiert. Die Lebensläufe ihrer Träger werden nicht überliefert. Nur einen zeitlich und geographisch begrenzten Raum und die Arbeit eines Mannes kann man als geschlossene Erscheinung erfassen: die Mission des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Geschichte und Geschichtsbild

5

Paulus. Man mag auch hier die Frage stellen, ob das Zufall sei. Man wird mit ihr freilich vorsichtig umgehen. Denn es ist billig, über Notwendigkeit und Zufall in der Weltgeschichte zu befinden. Man kann sich auf der anderen Seite scheuen, angesichts eines Paulus zu erklären, sein Werk habe nur zufällig seine geschichtlichen Spuren eingegraben. Und wiederum: Hätte es nicht ebensogut aus der Erinnerung verschwinden können wie das Leben des Petrus und der Kreis der Zwölf, von dem wenig mehr als die Namen blieb? Im Falle des Paulus sprechen nun allerdings die Tatsachen selbst ihre Sprache. Daß seine Briefe gesammelt wurden, daß damit die Erinnerung an sein Werk blieb, das ist eine Wirkung, die in seiner Theologie angelegt ist. Denn er baut seine Lehre und seine Gemeinden nicht auf sein persönliches religiöses Erlebnis, sondern auf das Glaubensbekenntnis. Dadurch wird die Gemeinde als geschichtliche Gemeinschaft und die Kirche als Einheit durch die ganze Welt begriffen. Paulus löst durch seine Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben und von der Freiheit vom Gesetz das Problem der Einheit von Juden und Heiden in der einen Kirche, und er löst es nicht nur praktisch (gerade da gab es Kämpfe), sondern grundsätzlich-theologisch. Damit ist sein Werk auf Grund der Sachlichkeit seiner Theologie auf Bestehen angelegt. Seine Arbeit wird von seinen Schülern weitergeführt, die seine Erkenntnisse vor allem auf das Verstehen und die Gestaltung der Kirche anwenden. 7. Ein letztes Hindernis bildet endlich das durchschnittliche Bild, das man sich bis heute vom Urchristentum macht. Wegen dieses Bildes kann sich die Geschichtsschreibung nicht begnügen, das Wissen über diesen Gegenstand zu sammeln. Sie muß auch herrschende Vorstellungen über ihn kritisch durchleuchten. Das Problem zeichnet sich schon in den Grundbegriffen ab, mit denen man den Tatbestand zu erfassen sucht: Den ersten Abschnitt der Kirchengeschichte pflegt man als „das apostolische Zeitalter“ zu bezeichnen. In dieser Definition liegen zwei Bedeutungsschichten übereinander, eine historische und eine „theologische“ oder besser bekenntnismäßige. Die historische These lautet: Es gab eine Zeit, in der die Kirche durch die Apostel oder wenigstens durch Apostel bestimmt war. Die theologische heißt: Diese Zeit ist nicht lediglich ein erster Abschnitt der Kirchengeschichte; sie ist vielmehr für alle folgende Zeit verpflichtend. Die Apostel sind auch für die Nachwelt die grundlegende Autorität, sowohl für die Ausbildung der Lehre als auch für die Gestaltung der Kirche. Darin sind sich Evangelische und Katholiken weithin einig. Sie gehen aber bei der Frage auseinander, in welcher Weise die Autorität der Apostel in die Gegenwart hereinwirkt. Für die Evangelischen geschieht das wesentlich durch die Schrift, also in der unmittelbaren Begegnung der heutigen Kirche mit der apostolischen Lehre. Die Katholiken stimmen dem zu. Aber außerdem kennen sie eine Fortsetzung des Apostelamtes selbst bis in die Gegenwart: Die Bischöfe sind die Nachfolger der Apostel und vertreten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

6

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

deren Autorität heute. Mit der Fortdauer des apostolischen Amtes ist auch eine ständige Weiterentwicklung der Lehre, im ständigen Zusammenhang mit den apostolischen Ursprüngen, gegeben. Für die Zeit vor der modernen Geschichtsforschung waren das Bild von der apostolischen Zeit der Kirche und die Überzeugung von der Autorität der Apostel eine Einheit. Aber diese löste sich auf: Es kam an den Tag, daß man gar nicht eindeutig feststellen kann, was ein „Apostel“ war, nicht, wie viele es waren, nicht, ob sie eine geschlossene Gruppe bildeten oder ein offener Kreis von Missionaren waren. Es wurde zweifelhaft, ob auch nur eine einzige Schrift des Neuen Testaments von einem Apostel verfaßt ist außer einigen Briefen des Paulus. Und dieser nennt sich zwar „Apostel“. Aber er war nicht überall als solcher anerkannt, zumal er keine persönlichen Beziehungen zu Jesus hatte. Aus diesen Erkenntnissen wurden die Folgerungen nicht immer mit der erforderlichen Deutlichkeit gezogen. Man stellte zwar den geschichtlichen Befund im einzelnen fest. Aber man übernahm weithin, auch in der kritischen Forschung, nach wie vor die Vorstellung vom apostolischen Zeitalter als einer geschichtlichen Gegebenheit. Darin wirkt also noch das vorkritische Geschichtsbild samt der dogmatischen Theorie nach. Dem apostolischen läßt man dann noch ein „nachapostolisches“ Zeitalter folgen. Diese Einteilung erweckt den Eindruck, dies sei die Zeit der zweiten Generation, die das Erbe der ersten sammelt und bewahrt. Es muß aber nicht nur für die Einzelheiten, sondern für den Gesamtbestand der frühen Kirche methodisch zwischen diesem Geschichtsbild und der historischen Wirklichkeit unterschieden werden. Die Untersuchung der Quellen wird zeigen: Die Anschauung, daß es einmal eine Zeit der Apostel gab, ist selbst eine Gtschichtstheorie. Sie geht freilich in eine frühe Zeit zurück, aber nicht in die allererste. Sie wurde in einer Zeit entworfen, die sich von der Gründung der Kirche schon durch eine gewisse Distanz getrennt sah. Es ist die Zeit gegen und um das Jahr 100 n.Chr. In den Schriften, die damals geschrieben wurden, stößt man auf die Spuren eines bestimmten Selbstbewußtseins: Diese Generation sieht sich selbst als das dritte Glied in der Kette der Tradition. Sie weiß sich mit der Zeit der Stiftung der Kirche verbunden durch die Vermittlung der Schüler der ersten Generation, vor allem der des Paulus. Das Bild der Urkirche wird jetzt idealisiert: Ihr eigentliches Wesensmerkmal sieht man nunmehr im Dasein „der Apostel“. Es ist deutlich: Die Idee der apostolischen Zeit entstand erst, als man mit der Frühzeit keinen unmittelbaren Kontakt mehr hatte und Zwischenglieder ansetzen mußte. Aber die Idee setzte sich durch und herrscht bis heute. Daß sie aber nicht der Wirklichkeit entspricht, kann man zeigen, wenn man fragt, wo denn die Grenze zwischen der apostolischen und der nachapostolischen Zeit verlaufen soll. Die normale Auskunft ist: Die Grenze ist durch den Tod des Paulus und Petrus gesetzt (Knopf, Lietzmann). Bis dahin habe die lebendige Tradition über Jesus geherrscht, die ungebrochene © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Geschichte und Geschichtsbild

7

Erwartung, daß er bald erscheinen werde, das lebendige Walten des Geistes, von dem Paulus im l.Korintherbrief (Kap. 12-14) eine Ahnung vermittelt. Man mag noch ergänzemjn denselben Jahren stirbt auch der dritte führende Mann der Urkirche, Jakobus, der Bruder Jesu. Einen sichtbaren Einschnitt bildet auch der Jüdische Krieg (66-70 n.Chr.), der mit der Zerstörung Jerusalems endet und die Geschichte der Urgemeinde abschließt. Dieses Bild ist nicht ohne Anhalt in den Quellen. In den sechziger Jahren liegt in der Tat ein Einschnitt. Die Jahre von ca. 60 bis 100 n.Chr. stellen eine Lücke in unserem Wissen dar, obwohl in ihnen ein wesentlicher Teil der Schriften des Neuen Testaments und darüber hinaus weitere Schriften (1.Clemensbrief; s.u.S. 14f.) entstanden. Es ist aber zu fragen, ob auch für das Bewußtsein der damaligen Generation ein solcher Einschnitt vorliegt, ob eine unmittelbare, kirchenweite Auswirkung des Todes jener drei zu bemerken ist. Und wenn man schon die Vorstellung von den „zwölf Aposteln“ als historisch nimmt: Was ist mit den übrigen? mit denen, die spurlos aus der Geschichte verschwanden? mit Johannes, der angeblich noch jahrzehntelang lebte und die Epochen überbrückte? Es ist festzustellen, daß erst nach und nach „das Apostolische“ als Normbegriff ausgearbeitet wurde; und erst auf Grund dessen wurde jener Einschnitt entdeckt. Die Einteilung in apostolische und nachapostolische Zeit hält sich (wenigstens vermeintlich) an den Ablauf der Geschichte. Daneben gibt es eine andere, die sich an der Entstehung der altchristlichen Schriften orientiert: die Unterscheidung einer „neutestamentlichen“ und einer „nachneutestamentlichen“ Zeit. Auch hier schieben sich historische Feststellung und dogmatisches Urteil ineinander. Denn das Neue Testament ist ja nicht nur (historisch) eine Sammlung ältester Urkunden des Christentums, sondern auch (dogmatisch) die Norm der Lehre („Kanon“), und diese Autorität stützt sich wieder auf die „Apostel“. Selbst wenn man den vorgeschlagenen geschichtlichen Einschnitt in den sechziger Jahren anerkennt, käme man mit der Annahme eines „neutestamentlichen“ Zeitalters in unlösbare Schwierigkeiten. Nur wenige Schriften des Neuen Testaments stammen aus dieser Zeit. Und ein „Neues Testament“ gab es erst, als eine Gruppe von Schriften als „kanonisch“ herausgehoben wurde, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts. Dabei ist der Maßstab nicht einfach der des Alters: Manche Schriften der „Apostolischen Väter“ sind älter als manche des Neuen Testaments (z.B. ist der 1.Clemensbrief älter als der 2.Petrusbrief). Beide herkömmlichen Einteilungsschemata erweisen sich also für eine geschichtliche Darstellung als unbrauchbar. Zudem suggerieren sie mehr oder weniger unbewußt eine Wertung, die besonders durch den Pietismus verbreitet wurde: Die Urzeit gilt als die Zeit der reinen Kirche, rein in Lehre und Liebe. Nach der Zeit der Apostel geht es abwärts, in Irrlehre und Streit. Die Geschichtsschreibung muß aber u.a. deutlich machen, daß es die reine Kirche und die reine Lehre nie gab. Die Historie kann nur beschreiben, wie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

8

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Kirche und Lehre damals aussahen. Und eine theologische „Wertung“ ist nur durch die Erkenntnis möglich, daß das Wort Gottes nur als geschichtliches Menschenwort erfahrbar ist. Aus den genannten Gründen ist in diesem Buch die offene Bezeichnung „Urchristentum“ gewählt. Es bleibt zu fragen, wo die Grenze desselben liegt. Für ihre Bestimmung gibt es eine Anzahl von objektiven Merkmalen. Aber man muß darüber hinaus nach einem solchen suchen, in dem sich die moderne historische Rekonstruktion und das damalige Selbstbewußtsein decken. Nun zeigt sich, wie schon erwähnt, ein deutlicher Übergang da, wo die Kirche oder wenigstens ein bedeutender Teil der theologischen Denker ihr Verhältnis zur Tradition neu bestimmen, indem sie die Idee des apostolischen Zeitalters entwerfen und dadurch sich selbst von diesem abheben. Nach diesem Selbstbewußtsein kann man die Grenze etwa beim Jahr 100 n.Chr. ziehen. Natürlich sind die Übergänge fließend. Auch der Begriff des „Urchristentums“ bedarf noch einer Klärung: Das Urchristentum ist keine Einheit. Es faßt in sich Übergänge, Gruppierungen mit Spannungen bis zum Widerspruch und Bruch. Schon in der Urgemeinde in Jerusalem tritt neben die älteste Gruppe (um Petrus und die Zwölf, in Apg. 6 die „Hebräer“ genannt) eine neue, die „Hellenisten“. Es folgt der für alle Zukunft bestimmende Übergang zur Heidenmission. Das Nebeneinander von Juden und Heiden in der Kirche wirft Probleme auf, die sich in heftigen Krisen äußern und eine grundsätzliche, theologische Lösung fordern. Ein weiteres Sachproblem ist durch das Stichwort „Frühkatholizismus“ angezeigt, das neuerdings wieder lebhaft diskutiert wird: Wo fängt der Frühkatholizismus an? Finden sich schon im Neuen Testament Spuren von ihm? Im Mittelpunkt der Debatte stehen vor allem die beiden Bücher des „lukanischen“ Geschichtswerks. Die Frage ist an sich legitim. Aber sie muß streng geschichtlich bleiben. Sie muß sich von der da und dort zu bemerkenden Verflechtung mit dem pietistischen Geschichtsbild freihalten, als ob man hinter diesem Katholizismus eine reine Urgestalt des Christentums finden könne, vor allem bei Paulus. Gewiß sind die Unterschiede zwischen Paulus und Lukas vorhanden. Lukas ist ein typischer Vertreter der dritten Generation. Aber er muß zunächst, bevor er bewertet wird, da gesehen werden, wo er lebt und denkt. Gewichtiger als das mehr unterschwellige Element einer Abwertung ist ein Mangel in der Methode. Wenn man mit einem solchen Stichwort arbeitet und damit nicht nur die Feststellung eines Tatbestandes meint, sondern auch Werturteile hereinspielen läßt, dann muß klare Auskunft gegeben werden, was „Frühkatholizismus“ ist und mit welchen Maßstäben man ihn mißt. Für eine zutreffende Bestimmung ist von da auszugehen, wo die frühkatholische Kirche als geschichtliche Erscheinung voll ausgebildet ist. Deren wesentliche Züge erscheinen im zweiten Jahrhundert: Die Organisation der Kirche ist nicht mehr frei. In der Frühzeit konnte eine Gemeinde von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Geschichte und Geschichtsbild

9

„Ältesten“ geleitet sein oder nicht; sie brauchte keine definierten Ämter. Die Organisation war keine Sache, die das Heil betraf. Das ändert sich. Schon um das Jahr 100 verknüpft der Bischof Ignatius von Antiochia den Kirchenbegriff mit der dreistufigen Hierarchie von Bischof, Presbytern und Diakonen. Das Heil ist nicht mehr ausschließlich an Wort, Geist und Glauben geknüpft, sondern auch an bestimmte Übermittler der Heilskräfte, an den Klerus. Durch ihn wird das Sakrament verwaltet. Der Geist wird an das Amt gebunden. Auch die Weitergabe der Tradition, die Bewahrung der reinen Lehre und ihre richtige Auslegung wird von ihm verwaltet. Dann muß aber auch die Übertragung des Amtes von Inhaber zu Inhaber gesetzlich und gedanklich reguliert werden. Der Gedanke der „Sukzession“ wird ausgebildet: Der Nachfolger empfängt nicht nur die äußere Würde, sondern auch den Geist, der ihn befähigt, jene Pflichten auszuüben, und er empfängt die Tradition der apostolischen Lehre. Geht man von diesen Merkmalen aus, dann ist es nicht sachgerecht, die Theologie des Lukas als frühkatholisch zu bezeichnen. Dagegen sind frühkatholische Spuren in dem etwa gleichzeitigen 1. Clemensbrief zu erkennen, deutlicher schon bei dem kaum späteren Ignatius. Von vorn und von rückwärts her gesehen bestätigt es sich, daß hier ein Übergang liegt, an dem man die Darstellung des Urchristentums sinnvoll abschließen kann.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

I.KAPITEL

Die Quellen 1. Die Lage Umfang und Zuverlässigkeit der Quellen sind für die einzelnen Personen, Orte, Zeiten, Ereignisse und Fragenkreise sehr verschieden. Beispiele: a) Personen. Über einen Teil des Lebens des Paulus ist Material aus erster Hand vorhanden: Briefe von ihm selbst. Dabei ist zu prüfen, ob alle, die ihm zugeschrieben werden, wirklich von ihm stammen. Auf jeden Fall bleibt ein beachtlicher unangefochtener Bestand. Dazu kommen die Daten aus zweiter oder dritter Hand, welche die Apostelgeschichte bietet. Dagegen gibt es für die Urgemeinde in Jerusalem nur wenige Daten aus erster Hand, und diese ausnahmslos in den Briefen des Paulus, also eines Außenstehenden, der aber immerhin wiederholt nach Jerusalem kam. Es handelt sich vor allem um seinen Bericht über das „Apostelkonzil“ in Gal.2. Alle übrigen Nachrichten stammen aus der Apostelgeschichte und müssen von Fall zu Fall nachgeprüft werden. Außerdem läßt sich - mit größter Vorsicht - aus den Evangelien dies und das erheben: In ihnen spiegeln sich Auseinandersetzungen zwischen den Christen und den Juden in Palästina, Verfolgungen und disziplinare Maßnahmen, andeutungsweise auch das Schicksal der Gemeinde beim Ausbruch des Jüdischen Kriegs (66 n. Chr.). Aus der Zeit, in der Jakobus in Jerusalem an der Spitze steht, berichten einige Fragmente des Schriftstellers Hegesipp (um 180), die von Euseb in seiner Kirchengeschichte erhalten sind. Sie bedürfen scharfer historischer Kritik. Insgesamt ist festzustellen, daß von allen hervorragenden Personen außer Paulus nur verwehte Spuren geblieben sind. b) Orte und Landschaften. Über Palästina (Judäa, Samaria, die Küstenebene bis Phönizien) gibt es nur die lückenhaften Angaben der Apostelgeschichte. Die Existenz von Gemeinden in Galiläa kann aus Ortsangaben der Evangelien erschlossen werden. Es bleibt verborgen, wie das Christentum z.B. nach Damaskus kam (Apg.9,2), und vor allem, wann und wie nach Rom. Nur auf die Entstehung der Gemeinde in Antiochia fällt ein wenig mehr Licht. Quellen erster Hand und breite Schilderungen der Apostelgeschichte haben wir nur für die Gemeinden des Paulus. Doch bestehen auch hier Lücken und Unklarheiten: Alle erhaltenen Briefe stammen erst aus den letzten Jahren seiner Wirksamkeit, aus der Zeit nach dem Apostelkonzil (ca.48 n.Chr.). Es ist nicht mehr sicher festzustellen, wann die Gemeinden

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Quellen

11

gegründet wurden, an die sich der Galaterbrief wendet, und wo sie liegen. In späterer Zeit werden eine Anzahl Orte und Landschaften genannt, in denen sich das Christentum ausgebreitet hatte (l.Petr. 1,1; Offb.2 ,1-3,22; Ignatius; Polykarp). Aber Ereignisse sind nur angedeutet. c) Zeiten. Auch hier hebt sich Paulus ab, einerseits von dem spärlichen Material über die Urgemeinde, andererseits von dem Dunkel, das über dem letzten Drittel des ersten Jahrhunderts liegt, obwohl aus dieser Zeit der größte Teil des erhaltenen Schrifttums stammt. d) Ereignisse. Wenigstens im Umkreis des Apostelkonzils ist die Rolle einiger Personen und Gruppen erkennbar: Jerusalem wird von den drei „Säulen“ (Jakobus, Petrus, Johannes), radikalen Judenchristen, repräsentiert; Antiochia läßt sich durch Barnabas und Paulus vertreten. e) Fragenkreise. Hier sind wir naturgemäß besser im Bild. Die Quellen erschließen reiche Einblicke in eine Fülle von Typen der Lehre, Kämpfe um die rechte Lehre, Probleme und Lösungen der Lebensgestaltung; sie spiegeln die Lage der Kirche im Verhältnis zur Welt. 2. Das Neue Testament Die wichtigsten Quellen sind die Schriften des Neuen Testaments. Für alle mit ihnen verknüpften geschichtlichen Fragen (nach Verfasser, Zeit und Ort der Entstehung, geschichtlicher Ergiebigkeit) muß auf die „Einleitung in das Neue Testament“ (auch die Einleitungen zu den einzelnen Schriften) verwiesen werden. Es ist schon gesagt, daß die Briefe des Paulus als die einzigen Quellen aus erster Hand eine Sonderstellung einnehmen. Wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Ergiebigkeit für eine Geschichtsdarstellung auswertet, so ist dies eine einseitige Betrachtung: Ihr Lehrgehalt wird in den Hintergrund gedrängt. Das ist unvermeidlich. Man wird aber immer auch die andere Seite der Medaille mit ansehen, also die theologischen Gedankengänge. Denn gerade durch diese wurden die Briefe des Paulus geschichtswirksam, was sich in den nachpaulinischen Schriften niederschlägt. Aber es ist nützlich, die beiden Möglichkeiten der Auslegung methodisch zu unterscheiden: Man kann eine Schrift um ihres Gehaltes willen lesen. Dann ist das Verstehen selbst der letzte Zweck: Der Leser erwartet von der Lektüre unmittelbare Förderung. Eine Schrift kann auch als historische Quelle verwendet werden. Dann ist die Auslegung Mittel zum Zweck; Zweck ist die Rekonstruktion der Geschichte. Man kann sich das Verhältnis beider Möglichkeiten am Galaterbrief verdeutlichen. Der sachliche Schwerpunkt liegt in der Darlegung der Rechtfertigungslehre in Kap. 3 und 4. Diese kann als unmittelbarer Beitrag zu den theologischen Grundlagenfragen durchdacht werden. Für den Historiker wird sie in erster Linie unter dem Gesichtspunkt interessant, welche Wirkungen in der Geschichte sie auslöste. Er wird sich im Galaterbrief vor allem dem Bericht über das Apostelkonzil in Kap. 2 zuwenden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

12

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Mit diesem Beispiel ist schon ein weiterer Punkt berührt: die kritische Beurteilung der Quellen. Über das Apostelkonzil ist in Apg. 15 eine zweite Darstellung vorhanden, und diese weicht in wesentlichen Punkten von der des Paulus ab. Wer hat in welchen Punkten recht? Will man ein gesichertes Urteil gewinnen, so ist von der Tatsache auszugehen, daß Paulus Augenzeuge ist, während sich Lukas auf Nachrichten aus zweiter oder dritter Hand stützen muß (einen direkten Augenzeugenbericht besitzt er nicht). Vielleicht sind seine Nachrichten überhaupt spärlich, und er versucht, sie durch eigene Überlegungen zu einem geschlossenen Bild auszugestalten. Andererseits ist in Rechnung zu stellen, daß Paulus eben seine Sicht der Dinge vorträgt, daß seine Darstellung also einseitig, vielleicht auch absichtlich unvollständig ist. Er liegt mit den Galatern in offener Fehde und erwähnt möglicherweise nur das, was ihm als Argument für seine Polemik dienen kann. Verfolgt man nun diesen Streit des Paulus mit einigen Gemeinden, dann gewinnen die Kapitel über die Rechtfertigungslehre auch - über ihren systematischen Lehrgehalt hinaus und neben diesem - Interesse als Quellen nicht nur für die Nachwirkung des Paulus, sondern auch für die Geschichte seiner eigenen Zeit. Sie erschließen die Tiefe eines Kampfes zwischen zwei verschiedenen Auffassungen von Glauben und Heilsweg, der die Kirche weithin durchtobt. Eine wesentliche Schwierigkeit liegt darin, daß sich die Forschung teilweise in einem Zirkel bewegen muß. Von keiner neu testamentlichen Schrift außer den Briefen des Paulus sind die Umstände der Abfassung (Verfasser, Zeit, Ort, Anlaß und überhaupt die näheren Umstände) bekannt. Die Forschung muß dies alles aus inneren Merkmalen erschließen. Diese aber lernt sie gerade aus den Schriften selbst kennen. Dann erarbeitet sie sich, nunmehr in umgekehrter Richtung, aus den Merkmalen ein Bild der betreffenden Epoche, z.B. ein Bild der Kirche in Kleinasien aus der Zeit gegen das Jahr 100 aus dem 1. Petrusbrief und der Offenbarung, ergänzt aus den Briefen des Ignatius. Das bedeutet nun nicht, daß die Forschung in der Luft hängt und überhaupt nicht zu gesicherten Ergebnissen kommt. Es gibt objektive Anhaltspunkte, z.B. an gesicherten Geschichtsdaten, an erkennbaren literarischen Beziehungen. Man kennt im groben das Leben des Paulus nach seiner Bekehrung bis kurz vor seinem Tod. Danach läßt sich manches Spätere zuordnen. Spätere Briefe und die Apostelgeschichte blicken deutlich auf seinen Tod zurück. Die letztere ist nicht nur eine unschätzbare Quelle für die Ereignisse, die sie erzählt, sondern auch für das Denken der Zeit nach Paulus. Mit ihr ist das Lukas-Evangelium verknüpft. Beide Bücher sind vom selben Verfasser geschrieben. Das LukasEvangelium wiederum ist vom Markus-Evangelium abhängig. Damit kommen wir zeitlich ein Stück zurück. Es ist umstritten, ob das Markus-Evangelium vor oder nach dem Jüdischen Krieg geschrieben ist. Das Urteil hängt daran, ob sich der Fall von Jerusalem in ihm spiegelt; darüber kann man © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Quellen

13

geteilter Meinung sein. Jedenfalls hat Lukas an dieser Stelle verdeutlicht (vgl.Mk. 13,14 mit Lk.21,20). Bei ihm ist klar, daß er auf den Fall Jerusalems zurückblickt. Damit ist ein Zeitpunkt gegeben, nach welchem das Buch verfaßt ist. Die Apostelgeschichte setzt das Evangelium voraus, ist also nach diesem verfaßt. Auch das Matthäus-Evangelium gehört in dieselbe Zeit: Es steht zu Markus in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis wie Lukas und spielt ebenfalls unverkennbar auf den Fall Jerusalems an (Mt.22,7). Joh.21 blickt auf den Märtyrertod des Petrus zurück, der 1. Clemensbrief (ebenso Ignatius) auf den Tod des Petrus und Paulus. Es bestehen noch mehr literarische Zusammenhänge. Im Namen des Petrus wurden zwei Briefe von verschiedenen Verfassern - geschrieben. Der zweite kennt den ersten (2.Petr.3,l), darüber hinaus den Judasbrief und eine Sammlung von Briefen des Paulus (2.Petr.3,15 f.). Folgt man solchen Spuren, so lassen sich Anhaltspunkte für zeitliche Einordnungen und sachliche Zusammenhänge gewinnen. 3. Quellen außerhalb des Neuen Testaments Die wichtigsten sind die Schriften der „Apostolischen Väter“. Unter dieser Bezeichnung (sie stammt nicht aus der Alten Kirche, sondern wurde erst im 17. Jahrhundert geprägt) faßt man eine Gruppe von Schriften zusammen, die sich zeitlich mit den späteren Schriften des Neuen Testaments berühren, ja, überschneiden. So ist der 1. Clemensbrief wohl gleichzeitig mit dem 1. Petrusbrief verfaßt, also früher als der 2. Petrusbrief. Diese Quellen lassen nur in begrenztem Umfang Ereignisse erkennen. Vor allem eröffnen sie Einblicke in die Formen des kirchlichen Lebens und in theologische Gedankenbewegungen. Für die Erfassung des Übergangs von der urchristlichen zur frühkatholischen Epoche sind sie grundlegend. Zu den „Apostolischen Vätern“ rechnet man folgende Schriften: a) Die „Lehre der zwölf Apostel an die Völker“ (Didache). Sie ist aus zwei Teilen zusammengesetzt. Der erste ist ein Katechismus über den rechten Lebenswandel (Kap. 1-6). Er ist so aufgebaut, daß die beiden „Wege“ des Lebens und des Todes einander gegenübergestellt werden. Dieser Katechismus ist eine christliche Überarbeitung eines jüdischen Katechismus. Das kann nachgewiesen werden: Derselbe jüdische Katechismus ist noch in einer zweiten Schrift dieser Gruppe, dem Barnabasbrief, eingearbeitet. Ein Vergleich zeigt den rein jüdischen Charakter der Grundschrift: Im Barnabasbrief fehlen die christlichen Stellen der Didache. Diese sind also nachträgliche Zusätze. Daß eine jüdische Morallehre von Christen aufgenommen ist, ist nicht verwunderlich. Jesus steht ganz in der Tradition der jüdischen Ethik, die er radikalisiert. Und das Urchristentum übernimmt die Formen und Inhalte der jüdischen Anweisungen. Der zweite Teil der Didache (Kap.7-15; Beilage 11 a) ist eine Kirchenordnung mit Anordnungen für den Gottesdienst (Taufe, Fasten, Abendmahl, Gebete). In diesem Abschnitt steht auch das Vaterunser (Kap. 8). Es folgen 2 Conzelmann, Geschichte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

14

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

kirchenrechtliche Vorschriften über wandernde Apostel und Propheten und über Gemeindebeamte, nämlich Bischöfe und Diakone. Den Schluß des Buches bildet eine kleine Apokalypse (Kap. 16). Wichtig ist noch eine Sammlung von Worten Jesu, die in den Katechismus eingeschoben ist (in Kap. 1 und 2) und sich mit der Bergpredigt berührt. Die kirchlichen Verhältnisse, die sich in diesem Büchlein spiegeln, wirken, von der späteren Entwicklung her gesehen, noch sehr altertümlich: Freie, vom Geist getriebene Propheten durchwandern die Kirche. Die Organisation der Gemeinde, die Definition von Ämtern ist noch wenig entwickelt. Aber man erkennt schon die beginnende Ausbildung von Formen. Zudem ist es nötig geworden, sich gegen Schwindler zu sichern, die sich als Apostel und Propheten aufspielen, um ein Geschäft zu machen. Wägt man die verschiedenen Merkmale des kirchlichen Lebens gegeneinander ab, so wird man die Entstehung der Didache in den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts ansetzen, wahrscheinlich in Syrien. Ihre Wirkung auf spätere Kirchenordnungen ist stark. b) Der sogenannte 1. Clemensbrief. Er ist ein breit angelegtes Schreiben der Gemeinde von Rom an die Gemeinde in Korinth, wahrscheinlich während der Regierung Domitians oder kurz danach, also in den neunziger Jahren verfaßt. Der Anlaß ist: In Korinth rebellierten „Junge“ gegen die Ältesten (1,1; 3,3). Die Nachricht davon soll nicht nur nach Rom, sondern auch über die Kirche hinausgedrungen sein (47,6 f.). Nun reagiert die römische Gemeinde. Sie erinnert an den l.Korintherbrief des Paulus, der gegen Spaltungen kämpft, mahnt zur Buße und Liebe und zur Unterordnung unter die Presbyter (57,1). Weit über den gegebenen Anlaß hinaus wird die Lehre, vor allem die moralische, entfaltet. Das Alte Testament wird breit zitiert und ausgelegt, zahlreiche Beispiele aus der Bibel, gelegentlich auch aus der heidnischen Welt und aus der Natur werden angeführt. Besonders wertvoll sind einige Gebete, wohl aus der römischen Gemeindeliturgie (Beilage 11 b). Die Lage der Kirche in Rom wird angedeutet: Bis vor kurzem wurde sie verfolgt (1,1). Das ist ein Anhaltspunkt für die Datierung. Um die Verfolgung unter Nero kann es sich nicht handeln. Auf diese blickt der Brief schon aus einiger Distanz zurück. Er führt nämlich als stärkende Beispiele den Märtyrertod des Petrus und Paulus an, dann den Tod vieler Märtyrer (Kap. 5 und 6). Das können nur die Opfer der neronischen Verfolgung sein. Diese Stelle ist, nebenbei, ein Angelpunkt in der Diskussion über das Ende des Petrus und des Paulus. Die neue Verfolgung dürfte in die Zeit Domitians gegen Ende seiner Regierung weisen (95/96 n.Chr.). Abgesandt ist der Brief von der „Kirche Gottes, die in Rom als Fremdling weilt“ (vgl. zu diesem Gedanken der Fremdlingschaft l.Petr. 1,1). Schon im zweiten Jahrhundert gilt als Verfasser ein Clemens. Als sich später das Geschichtsbild veränderte und man die Einführung des Bischofsamts auf die Apostel zurückführte, wurde er zum zweiten oder dritten Nachfolger des Petrus auf dem römischen Bischofs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Quellen

15

stuhl gemacht. Aber der Brief zeigt, daß es um das Jahr 100 in Rom noch kein monarchisches Bischofsamt gab. Die Bedeutung des Briefs ist von der Frage nach dem Verfasser unabhängig. Er besitzt eine Schlüsselstellung für die Erkenntnis der Entwicklung der Organisation, des Traditions- und Sukzessionsgedankens, der Einstellung der Kirche zum Staat. Trotz der Verfolgung beten die Christen für das Wohl des Herrschers. In der Lehre spielt das Alte Testament eine hervorragende Rolle. Es ist das Lehrbuch der Moral. Das Ritualgesetz ist ohne Bedeutung für die Praxis. Es ist gar keine Frage, daß die Christen nicht daran gebunden sind. Aber es ist das Vorbild für die liturgische und hierarchische Ordnung der Kirche. Schließlich ist der Brief das Dokument des frühen kirchenpolitischen Stils von Rom. c) Nicht viel später schreibt der Bischof Ignatius von Antiochia, während der Regierung Trajans, um 110 n.Chr. Erhalten ist eine Sammlung von sieben Briefen, in hochpathetischem Stil. Er schreibt sie als Gefangener und zum Tod Verurteilter während des Transports durch Kleinasien nach Rom, wo ihn der Tierkampf erwartet. Empfänger sind Gemeinden in Kleinasien: Ephesus, Magnesia, Tralles, Philadelphia, Smyrna; weiter der Bischof Polykarp von Smyrna; ein Brief wird nach Rom vorausgesandt. Die ersten drei und der Brief nach Rom sind in Smyrna verfaßt, die übrigen in Troas. Polykarp sammelte sie (vgl. seinen Brief nach Philippi 13,2; s.u.). Die Echtheit wurde früher bestritten; heute ist sie so gut wie allgemein anerkannt. Sprache und religionsgeschichtlicher Hintergrund zeigen Berührung mit den johanneischen Schriften. Doch hat Ignatius diese selbst wohl nicht gekannt (das ist aber ein Streitpunkt). Auch diese Briefe sind Dokumente der Entwicklung der Kirchenverfassung, vor allem der Hierarchie: An der Spitze steht der monarchische Bischof; unter sich hat er die Presbyter und Diakonen. Allerdings ist diese Verfassung zur Zeit des Ignatius noch weithin Programm, noch nicht die allgemeine kirchliche Wirklichkeit. Diese Ordnung wird von Ignatius theologisch begründet: Sie ist ein Abbild der himmlischen Hierarchie von Gott, Christus und Aposteln. Das Sakrament wird bereits stark mysterienhaft verstanden. Von Ignatius stammt die berühmte Definition des Abendmahls als eines „Mittels (zur Erlangung) der Unsterblichkeit“ (pharmakon athanasias). Seine Kraft empfängt es aus Tod und Auferstehung Christi. Daher betont Ignatius aufs stärkste die Wirklichkeit der Fleischwerdung Christi. Er kämpft gegen Häretiker, welche diese bestreiten. Dadurch sieht Ignatius das Ganze des Heils bedroht. Das Sakrament eint die Gläubigen mit Christus und eint die Kirche. Aus dem Gesamtverständnis des Heils entfaltet Ignatius die Idee des Martyriums (besonders in dem Brief nach Rom): Es ist das Nacherleben des Leidens Christi. Man kann bei ihm von einer Verbindung von Sakraments- und Leidensmystik sprechen. In theologischer Hinsicht ist er der wichtigste Autor unter den Apostolischen Vätern. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

16

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

d) Einer der Briefe des Ignatius ist, wie erwähnt, an den Bischof Polykarp von Smyrna gerichtet. Dieser war schon zu Lebzeiten hoch angesehen und galt als der Sprecher der kleinasiatischen Gemeinden. Später erwarb er sich höchsten Ruhm durch sein Martyrium (das Datum ist umstritten; es liegt im Zeitraum zwischen 155 und 177). Nach dem Tod ihres Bischofs verfaßte seine Gemeinde einen ergreifenden Bericht darüber, der seine Wirkung bis heute ausübt. Polykarp sammelte also die Briefe des Ignatius. Ein Exemplar sandte er nach Philippi und schrieb dazu einen Begleitbrief, den Polykarpbrief (vielleicht sind in der erhaltenen Fassung zwei Briefe zusammengearbeitet). Der Inhalt ist vor allem moralisch. Bemerkenswert ist, daß Polykarp als erster uns bekannter Autor bereits solche Schriften zitiert, die dann in das Neue Testament aufgenommen wurden (Briefe des Paulus, 1.Petrusbrief). e) Der sogenannte Barnabasbrief ist in Wirklichkeit ein Traktat. Der Verfasser ist unbekannt. Die Schrift besteht aus zwei Teilen. Kap. 1-17 entfalten an Beispielen die Anschauung, daß das Alte Testament nicht wörtlich, sondern allegorisch ausgelegt werden müsse. Die Juden haben es mißverstanden. Sie haben den Bund nie empfangen. Gott bot ihnen diesen an. Aber sie waren schon dem Götzendienst verfallen. In Wahrheit sind alle kultischen Vorschriften allegorisch verschlüsselte sittliche Weisungen oder Weissagungen auf Christus. Im zweiten Teil, Kap. 18-21, ist derselbe Zwei-Wege-Katechismus übernommen wie in der Didache. Da in dem Traktat alle zeitgeschichtlichen Anspielungen (außer einer auf die Zerstörung des jüdischen Tempels) fehlen, ist eine Datierung nicht möglich. Die Schätzungen reichen von ca. 70-140. Er bereichert die Kenntnis von den Versuchen, das Verhältnis zwischen Kirche und Synagoge theoretisch zu bestimmen. Die Konfrontation brachte eine ganze Literaturgattung hervor, in welche er einzureihen ist. f) Der „2. Clemensbrief“ ist ebenfalls kein Brief, sondern eine Predigt, die älteste christliche, die erhalten ist. Er enthält eine Reihe von Worten Jesu, die er wohl nicht aus den Evangelien schöpft, sondern aus einer Sammlung von Sprüchen Jesu. Verfasser und Zeit sind unbekannt. g) Das merkwürdigste Gebilde der ganzen Gruppe ist der „Hirt“ des Hermas. Der Verfasser Hermas nennt sich selbst im Buch. Er schreibt in Rom. Nach einer Notiz aus dem zweiten Jahrhundert (Canon Muratori) war er ein Bruder des römischen Bischofs Pius (bis 155). Das Buch umfaßt drei Teile: a) Fünf Visionen. Hermas ahmt die Literaturform der Apokalyptik nach: Himmlische Gestalten enthüllen dem Seher Geheimnisse. Das Ende ist nahe. Die Kirche ist nicht in der Verfassung, ihren Herrn zu empfangen. Die Gläubigen müssen Buße tun. Gott bietet eine letzte Gelegenheit dazu an. ß) Zwölf „Gebote“. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Zeitrechnung

17

y) Zehn Gleichnisse, ebenfalls über Weltende und Buße. Das Buch ist ganz von Symbolik durchzogen. Ein Engel in der Gestalt eines Hirten belehrt den Hermas. Die Kirche erscheint als himmlische Frau; und sie wird als Turm gebaut. 4. Weitere Nachrichten a) Der Bischof Papias von Hierapolis in Kleinasien sammelte vor 150 eifrig alles, was er an alten Traditionen zusammenbringen konnte. Von seinem fünfbändigen Werk sind nur ganz wenige, kümmerliche Fragmente geblieben; sie lassen den Verlust des Werkes als ertäglich erscheinen. Der Historiker Euseb bescheinigt ihm geistige Schwachheit. Bis heute werden seine Notizen über die Entstehung der Evangelien unendlich viel diskutiert. Sie sind samt und sonders geschichtlich wertlos. Der Kirchenhistoriker Euseb hat Material über die Geschichte der jerusalemischen Gemeinde vor und nach dem Jüdischen Krieg gesammelt. Seine wichtigste Quelle dafür ist Hegesipp (um 180; Beilage 3 b). b) Nichtchristliche Quellen gibt es kaum. Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus erwähnt die Hinrichtung des Jakobus, des Bruders Jesu (Beilage 3 a). Die Christenverfolgung unter Nero ist durch den römischen Historiker Tacitus bekannt (Beilage 5). Die Frage ist, ob auch archäologisches Material herangezogen werden darf. Auf Ossuarien (Kästen, in denen die Gebeine der Toten aufbewahrt werden) aus jener Zeit, die in Jerusalem entdeckt wurden, findet sich das Kreuzzeichen. Aber es ist nicht das christliche Symbol, sondern ein jüdisches Schutzzeichen. Viel Staub wirbelt von Zeit zu Zeit eine Inschrift auf, die angeblich aus Nazareth stammt; sie enthält ein kaiserliches Edikt gegen Grabschändung. Sie wird mit Phantasie mit dem leeren Grab Jesu in Beziehung gesetzt.

II.KAPITEL

Zeitrechnung Im großen liegt der zeitliche Rahmen fest: die frühe römische Kaiserzeit. Im Neuen Testament werden drei der vier ersten Kaiser genannt: Augustus, Tiberius, Claudius (Beilage 2). Die Geschichte des Paulus erstreckt sich in die Zeit Neros. Genannt werden ferner römische Statthalter: Pilatus, Felix, Festus; Herrscher in Palästina: Herodes der Große, seine Söhne Archelaus, Philippus, Herodes Antipas; von den späteren Herodianern: Agrippa I. (Apg.12,2: Herodes; Beilage 1), Agrippa II. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

18

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Fragt man aber nach genauen Daten für die Ereignisse der Kirchengeschichte, so ist das Material karg. Denn die neutestamentlichen Schriften kümmern sich praktisch nicht um das, was für den Historiker das unentbehrliche Gerüst ist, um genaue zeitliche Festlegung. Darin unterscheiden sich die frühchristlichen Schriften von den Werken sowohl der griechischen und römischen als auch der jüdischen Geschichtsschreibung. Dieses Fehlen ist natürlich ein Zeichen, daß man andere Interessen verfolgt als die der objektiven Historie. Das Gesagte gilt auch für denjenigen Schriftsteller, der als der Historiker unter den Autoren des Neuen Testaments gilt, „Lukas“. In seinem zweibändigen Werk gibt er nur ein einziges absolutes Datum (es ist das einzige im Neuen Testament überhaupt), Lk.3, 1: Johannes der Täufer trat im 15. Regierungsjahr des Tiberius auf, ca. 28. Leider ist nicht festzustellen, wie Lukas zu diesem Datum kommt: Hat er es aus einer Quelle oder hat er es selbst berechnet? Daß die Zeit des Täufers damit im ganzen richtig angegeben ist, ist nicht zu bezweifeln. Ein zweites „leider“ ist hinzuzufügen: Lukas schweigt darüber, wie lange der Täufer auftrat, wie lange es dauerte, bis Jesus zu ihm kam, wann und wie lange Jesus selbst öffentlich auftrat. Jedenfalls darf man die Datierung des Täufers nicht unbesehen auf Jesus übertragen. Unbekannt ist auch Jesu Geburtsjahr. Nach Mt.2 und Lk. 1 ist er noch während der Regierung Herodes' des Großen geboren. Dieser starb im Jahr 4 vor der christlichen Ära. Der Widerspruch zwischen seinem Todesjahr und der christlichen Zeitrechnung ist leicht aufzulösen. Denn letztere wurde erst im 6. Jahrhundert eingeführt. Dabei konnte leicht ein Versehen in der Berechnung des Geburtsjahres Jesu vorkommen. Es ist also an sich durchaus möglich, daß Jesus einige Jahre älter war, als die uns vertrauten Zahlen angeben. Sicher ist das freilich nicht. Denn die Verknüpfung der Geburt mit Herodes findet sich nur im Legendenzusammenhang. Aus dem gleichen Grund entfallen auch andere Kombinationen: Wenn Herodes nach der Geburt Jesu die Knaben in Bethlehem bis zu den zweijährigen ermorden ließ, könnte man heraustüfteln, daß Jesus möglicherweise schon um 6 v. Chr. geboren wurde. Aber diese Geschichte ist eine Legende. Der Erzähler hat von Herodes und seiner Zeit keine genaue Kenntnis. Zur Datierung wird auch die Legende von den Magiern (Mt.2, l ff.) benutzt, auch wenn man diese als Legende ansieht: Hinter ihr stehe die Erinnerung an eine auffallende Planetenkonstellation im Jahre 7 v. Chr. Diese ist natürlich geschichtlich; sie kann astronomisch berechnet werden. Aber sie ergibt kein Datum für Jesus. Die Legende erzählt nicht von einer Konstellation, sondern von einem wunderbaren wandernden Stern. Und selbst wenn sich die Legende auf Grund jener Konstellation gebildet hätte, handelte es sich um einen späten Datierungsversuch ohne geschichtlichen Wert. Vergeblich sind auch die Versuche, das Geburtsjahr mit Hilfe des Zensus („Schätzung“) zu bestimmen, den Lk.2,1 erwähnt. Lukas hat die Fakten gründlich durcheinandergebracht. In Wirklichkeit fand der erste römische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Zeitrechnung

19

Zensus im Jahre 6/7 n. (!) Chr.statt; und er erstreckte sich nicht auf ganz Palästina, wie Lukas annimmt, sondern nur auf das Teilgebiet Judäa und Samaria (und das südlich gelegene Idumäa), nicht auf Galiläa. Im Jahre 6 hatte Augustus den Herrscher dieses Gebiets, Archelaus, abgesetzt und es in unmittelbare römische Verwaltung genommen. Daher der Zensus. Der Herr von Galiläa, Herodes Antipas, blieb. Also gab es dort auch keine römische Steuerveranschlagung. Wie lange trat Jesus öffentlich auf? Die drei ersten Evangelien erwähnen ein Passa-Fest, das, bei dem Jesus hingerichtet wurde. Daraus kann man schließen, sein Auftreten habe höchstens ein Jahr gedauert. Aber dieser Schluß ist nicht sicher. Die Evangelisten raffen die Ereignisse zusammen. Bei Johannes sind zwei (vielleicht drei) Passa-Feste vor dem des Todes erwähnt. Aber auch hier erheben sich Bedenken: Dieser mehrjährige Rahmen stammt nicht aus alter Überlieferung und ist möglicherweise an einigen Stellen noch verwirrt worden. Kann das Todesjahr Jesu berechnet werden? Wieder ist der weitere Rahmen unproblematisch. Pilatus ist von 26-36 Statthalter von Judäa, Kaiphas ca. 18-37 Hoherpriester. Aber das genaue Jahr ist nicht zu bestimmen. Die Schätzungen reichen etwa von 27 bis 34. Die Berechnungsversuche gehen davon aus, daß nach allen Evangelien (auch Joh.) Jesus an einem Freitag (d.h. an dem Tag, an dem nach unserer Tageseinteilung abends um 6 Uhr der Sabbat beginnt) gekreuzigt wurde und daß dies am Beginn eines PassaFestes geschah. In einem Punkt weicht nun das vierte Evangelium von den drei ersten ab. Nach Markus, dem Matthäus und Lukas folgen, war dieser Freitag der erste Tag der Festwoche der ungesäuerten Brote, die nach dem jüdischen Kalender am 15. Tag des Frühlingsmonats Nisan beginnt (am 14. Nisan werden die Passa-Lämmer geschlachtet; abends feiert man das PassaMahl). Johannes dagegen legt das Abschiedsmahl Jesu einen Tag früher; der Todestag ist bei ihm schon der 14. Nisan. In welchem Jahr war also der 14. bzw. der 15. Nisan ein Freitag? Das ist nicht sicher zu sagen, da man den Beginn des Frühlingsmonats nicht astronomisch berechnete, sondern nach der Beobachtung des „Neulichts“, also des ersten erkennbaren Lichts nach dem Neumond, feststellte. Außerdem führten Schaltjahre zu Schwankungen. Nimmt man diese Unsicherheiten in Kauf, so ergibt sich aus den astronomischen Berechnungen wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß der 14. Nisan des Jahres 30 ein Freitag war (aber möglicherweise der 15.!); möglich ist auch, daß der 15. Nisan 31 ein Freitag war. Urgemeinde: Nach Apg.12,2 ließ Agrippa I. („Herodes“) den Zebedaiden Jakobus hinrichten, offenbar nicht lange vor seinem eigenen Tod. Er starb 44. Über ganz Palästina (einschließlich Judäa mit Jerusalem) regierte er 41-44. Paulus trifft in Korinth das Ehepaar Aquila und Prisk(ill)a. Dieses war durch ein Edikt des Claudius gegen die Juden aus Rom vertrieben worden. Dieses Edikt, das auch sonst bezeugt ist, wurde nach einem - freilich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

20

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

späten - Schriftsteller im Jahre 49 erlassen. Wichtiger ist ein weiterer Anhaltspunkt: Nach der Apostelgeschichte wird Paulus in Korinth dem Statthalter Gallio (einem Bruder des Philosophen Seneca) vorgeführt. Dessen Regierungszeit läßt sich nach einer Inschrift datieren, die in Delphi gefunden wurde und aufbewahrt wird. Sie dauerte von 51 bis 52 oder (weniger wahrscheinlich) von 52 bis 53, Genaueres ist nicht auszumachen, da Lukas nicht angibt, wieweit sich der Aufenthalt des Gallio und des Paulus überschneiden. Immerhin kann man mit einer erträglichen Unsicherheit von etwa zwei Jahren von hier aus weiterrechnen. Eine Handhabe dafür gibt der Galaterbrief in Kap. 1 und 2. Dort erwähnt Paulus seine Berufung; ihr Datum ist zunächst unbekannt, also als x in die Rechnung einzusetzen. „Nach drei Jahren“ (d.h. nach damaliger Zählweise: nach zwei vollen Jahren; Anfangsund Endjahr werden mitgezählt) reist Paulus nach Jerusalem, also im Jahre x + 2. Er reist ein zweites Mal „darauf nach 14 (= 13) Jahren“. Bedeutet das nun: im Jahre x + 2 + 13 oder x + 13? Das bleibt offen. Diese zweite Reise führt Paulus zum sogenannten Apostelkonzil. Dieses findet statt, bevor Paulus nach Griechenland kommt, ca. 48/49 (zu einer früheren Ansetzung, im Jahre 43/44, s. u. S.67 f.). Für die Berufung des Paulus kommt man dann etwa in die Mitte der dreißiger Jahre oder früher (wenn man 48-15 rechnet oder von 43/44 ausgeht). Nicht sicher ist auch die genaue Regierungszeit der beiden Statthalter Felix und Festus (Apg. 23-26). Felix tritt sein Amt 52 (oder 53?) an und bleibt bis ca. 55 oder 60 (!). Entsprechend schwankt der Amtsantritt seines Nachfolgers Festus. Dieser stirbt 62. In der Vakanz bis zum Eintreffen seines Nachfolgers läßt der Hohepriester Hannas IL den Bruder Jesu, Jakobus, hinrichten (Beilage 3 a). Der Hohepriester Hananias (Apg.23,2) amtiert seit ca. 48. Er wird unter Felix abgesetzt. Es bleibt etwa folgende Übersicht: Jesus: ca. 1-30; Bekehrung des Paulus: 32/35; Apostelkonzil: 48/49 (43/44); Paulus in Korinth: 50/52. Vermutungsweise läßt sich weiter ansetzen: Paulus in Ephesus: zwischen 52 und 56; Reise nach Jerusalem, Gefangennahme des Paulus: um 55/56; dann zwei Jahre Gefangenschaft in Cäsarea, Transport nach Rom, zwei Jahre Haft in Rom. Sein Tod dürfte also um das Jahr 60 anzusetzen sein. Nach der Legende wurde er freilich in der neronischen Verfolgung (64 n. Chr.) hingerichtet. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß er einige Jahre früher umkam.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Anfänge

21

III.KAPITEL

Die Anfänge 1. Das überlieferte Bild der Urgemeinde Über die ersten Jahre der Kirche gibt es nur eine Quelle, die Apostelgeschichte. Ihr Gemälde zeigt große Linien. Es wirkt geschlossen und daher überzeugend. Auch wenn man an Einzelheiten zweifelt, etwa an der Heilkraft des Schattens des Petrus (Apg.5,12ff.), bleibt ein starker Eindruck vom Leben der jungen Gemeinschaft. Der Historiker hat aber zu fragen, ob diese Geschlossenheit aus der geschichtlichen Wirklichkeit oder aus der Gestaltungskraft des Autors der Apostelgeschichte entspringt. Die Erforschung dieses Buches führt zu dem Ergebnis, daß die Geschichte der Urgemeinde fast unbekannt bleibt. Wohl sind einzelne Ereignisse und - in blassen Umrissen - einige Personen zu erkennen. Aber der Ablauf der Geschichte dieser Gemeinde, ihre Lebensform und Verfassung müssen mühsam und mit nur wenigen sicheren Resultaten rekonstruiert werden. Wenn man zunächst dem Autor der Apostelgeschichte - nach der Tradition Lukas, einem Begleiter des Paulus - folgt, erhält man dieses Bild: Der auferstandene Jesus erscheint „Jüngern“ in Jerusalem und Umgebung (Lk.24; Apg. 1). Er befiehlt ihnen ausdrücklich, in Jerusalem zu bleiben (Apg. 1,4). Hier wird die Kirche gestiftet, hier empfängt sie den Geist (Apg.2), von hier breitet sie sich aus (Lk.24,47; Apg. 1,8). Damit ist schon das erste Problem gestellt: Markus und Matthäus berichten nichts von Erscheinungen des Auferstandenen in Jerusalem, sondern (ausschließlich!) in Galiläa (Mk.16,7; Mt. 28, 16-20). Darauf stützt sich die Vermutung mancher Forscher, in Galiläa habe eine zweite „Urgemeinde“ bzw. Gruppe von Gemeinden bestanden. Sie hat alle Wahrscheinlichkeit für sich. Die Kirche war von Anfang an nicht auf die Stadt Jerusalem begrenzt. Nur wissen wir über diese Gemeinden in Galiläa praktisch nichts. Man kann ihr Dasein nur ahnen: In den Evangelien spielen einige galiläische Ortschaften eine herausgehobene Rolle als Orte des Auftretens Jesu, vor allem Kapernaum. Das läßt darauf schließen, daß in diesen Orten die Erinnerung an Jesus gepflegt wurde, also eine Gemeinde vorhanden war. Die Kirche war also weiter verzweigt, als Lukas erkennen läßt. Seine Darstellung ist einlinig und läßt die geschichtliche Entwicklung geradlinig von Jerusalem aus verlaufen. Schon vor der Ausgießung des Geistes (Apg. 2) wird das organisatorische Fundament gelegt. Die geistliche und die äußere Leitung liegt in der Hand der zwölf Apostel. Da aber durch den Verrat des Judas die Mitgliederzahl auf elf reduziert ist, muß ein Ersatzmann bestimmt werden, damit die Gemeinde in der Form ist, in der sie sich zum Empfang des Geistes und zur Konstituierung in der Öffentlichkeit befinden muß (Apg. 1,15-26). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

22

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Sprecher des Kreises ist Petrus, nicht als Vorgesetzter, wohl aber als der an Ansehen überragende Mann. Es folgt - zehn Tage nach der Himmelfahrt - die Ausgießung des Geistes am jüdischen Pfingstfest. Der Geist bewirkt sofort die wunderbare Kraft der Bekehrungspredigt: Dreitausend Seelen werden an diesem Tag „hinzugefügt“ (Apg.2,41); bald darauf sind es schon fünftausend (4,4). Der Geist schafft in der Gemeinde die ideale Liebesgemeinschaft, die sich im Gottesdienst, in der Einheit der Lehre und in der Gemeinschaft des Besitzes darstellt. Er wirkt Wunder (Apg. 3) und die Kraft, in der Bedrohung den Glauben zu bekennen (Apg. 4 f., dann im Martyrium des Stephanus Apg.6 f.). Er wacht über der Reinheit der Kirche: Unheiliges wird ausgemerzt. Als Ananias und Sapphira die Gemeinde - und d.h. den heiligen Geist selbst - belügen wollen, sterben sie (Apg.5). Der heutige Leser wird an dieser Erzählung Anstoß nehmen: Warum werden ihnen nicht die Augen geöffnet? Warum bekommen sie nicht Gelegenheit zu Reue und Buße? Warum wird ihnen die Vergebung verweigert? Es ist nicht zu bestreiten, daß in dieser Geschichte ein religiöser Macht- und Reinheitsgedanke erscheint, der magische Vorstellungselemente enthält: Die Kirche ist ein heiliger, sozusagen mit Macht geladener Bereich; sie ist tabu. Wer Heiliges anrührt, ohne selbst heilig zu sein, kommt um. Ein Vorbild im Alten Testament ist die Heiligkeit der Bundeslade (l.Sam.5 f.). Es kann nicht darum gehen, dieses Denken heute anzugreifen oder zu verteidigen. Es ist uns fremd geworden und kann nicht in unsere Zeit übertragen werden. Es will aber an seinem Ort und in seiner Funktion verstanden sein: In der Kirche ist kein Angriff auf die Grundlagen ihrer Existenz möglich. Wer sie angreift, greift sich selbst an. Die Kirche bleibt also rein, sie wächst und genießt beim Volk sowohl Gunst als auch Scheu (2,43; 2,47; 5,11). Aber im gleichen Maß, wie sie von Gott vermehrt wird, verdichten sich die Schatten. Das ist - im Sinn des Lukas - kein Zufall. Denn für die Gemeinde dessen, der leiden „mußte“, gilt die Regel, „daß wir durch viele Drangsale hindurch in das Reich Gottes eingehen müssen“ (14,22). Für den Glauben zu leiden, ist eine Auszeichnung (5,41). An einem Beispiel wird gezeigt, wie Gott gerade auch durch die Verfolgung das Geschick der Kirche lenkt: Die Zerstreuung der Verfolgten führt zur Ausweitung der Mission (Apg. 8). Die ersten Schritte zur Abwehr der christlichen Predigt tut die oberste jüdische Behörde. Sie verhört zuerst Petrus und Johannes, dann alle Apostel (Apg.4 f.). Die beiden Berichte gleichen sich einigermaßen. Es kann sich um zwei Versionen über ein und dieselbe Aktion handeln. Gegen die Gefährdung stärkt sich die Gemeinde durch Gebet. Sie erfährt ihre wunderbare Bewahrung. Einmal taucht ein Problem des inneren Lebens der Gemeinde auf; es ist nicht aus Bosheit und nicht aus Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Glaubens entstanden. Bei Lukas gibt es in der Urkirche keine Differenzen in der Lehre. Alle folgen der Lehre der Apostel (2,42). Erst auf Grund der Heidenmission entstehen später Debatten über das Recht, Heiden in die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Anfänge

23

Kirche aufzunehmen (Kap. 11), und über die Gültigkeit des Gesetzes für Heidenchristen (Kap. 15). Aber man einigt sich. Glaubensstörung und -Spaltung erhebt sich erst nach dem Tod des Paulus (20, 29 f.). Die erste Spannung also entsteht einfach durch ein Versehen der Organisation: Ein Teil der Witwen wird bei der Fürsorge übersehen (Kap. 6). Nachdem der Fehler entdeckt ist, wird er schnell behoben: Man schafft eine neue Instanz und entlastet die Zwölf von der Arbeit der Diakonie. Sie widmen sich nur noch dem Lehramt. Für die Fürsorge wird eine Behörde von sieben Leuten zuständig, zu denen Stephanus gehört. Dann kommt die erste große Verfolgung. Sie wird mit dem Schlag gegen Stephanus eröffnet, der als erster christlicher Märtyrer stirbt. Spätestens hier werden Unstimmigkeiten im lukanischen Bericht sichtbar. Warum werden nicht die Apostel, die Träger der Mission, verfolgt (gerade sie bleiben verschont, 8,1!), sondern ausgerechnet die Armenpfleger? An die Antwort auf diese Frage führt der Abschnitt 6,8 ff. heran. Hier erscheint Stephanus - gegen die Abmachung von 6,1-6 - als Wundertäter und geisterfüllter Redner. Es wird also zu fragen sein, was hinter der Erzählung von den Hellenisten und Diakonen steckt. Die Dramatik steigert sich. Der große Verfolger betritt den Schauplatz: Saulus. Zugleich wird der Blick des Lesers wieder auf den göttlichen Schutz hingelenkt: Beim Tod des Stephanus öffnet sich der Himmel. Die Existenz der Kirche ist gesichert: Die Apostel können in Jerusalem bleiben. Und diejenigen, die vertrieben wurden, breiten die Kirche nunmehr über das Land hin aus. Der Verfolger Saulus wird vom Herrn niedergeworfen und zum auserwählten Werkzeug gemacht (Kap. 9; welche Bedeutung Lukas dieser Szene beimißt, zeigt sich daran, daß er die Erzählung noch zweimal wiederholt, in Kap. 22 und 26). Schritt für Schritt wird das Programm erfüllt, das Apg. 1,8 skizziert war: Die Kirche greift über das orthodoxe Judentum hinaus und gelangt zu den Samaritanern (Kap. 8). Bald folgt - auf die Weisung des Geistes hin - die Taufe der ersten Heiden durch Petrus (Kap. 10). An dieser Stelle kann der Überblick zunächst abbrechen. Denn jetzt beginnt eine neue Epoche, die der Heidenmission, der Entstehung der aus Juden und Heiden gemischten Kirche. Der Knoten wird durch die Mission des Barnabas und Paulus geschürzt (Kap. 13 f.) und auf dem Apostelkonzil gelöst (Kap. 15). Dann verschwindet die Urgemeinde (bis auf eine kleine Episode in Kap. 21) aus dem Horizont der Apostelgeschichte. 2. Die Prüfung des Bildes Einzelne Unstimmigkeiten und Vermutungen wurden schon vermerkt. Die methodische Prüfung muß sich daher über die Einzelheiten hinaus auf das Ganze dieser Darstellung erstrecken. Sicher geschichtlich ist der Kreis der Zwölf (vgl. auch l.Kor. 15,3-5). Er hat die Gemeinde konstituiert (s.u.). Aber die Gleichsetzung der Zwölf mit den Aposteln, also die Vorstellung von den „zwölf Aposteln“, ist eine relativ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

24

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

spät entstandene Idee. Die Rolle, welche die Zwölf in Wirklichkeit nach der Gründung der Kirche spielten, ist kaum zu erkennen. Sie treten nicht als Gruppe handelnd in Erscheinung. Sicher ist die Kirche von Geisterlebnissen bewegt. Aber das Pfingstwunder ist so, wie es erzählt wird, gar nicht vorstellbar. Es mischen sich verschiedene Züge. Einmal befinden sich die Gläubigen in einem Haus, einmal in der Öffentlichkeit. Einerseits hat man den Eindruck einer Massenekstase, vor der die Zuschauer hilflos nach einer Erklärung tasten. Andererseits verstehen sie in wunderbarer Weise, jeder in seiner Sprache, was die Geisterfüllten reden. Was die Apostelgeschichte über die Besitzgemeinschaft (den „urchristlichen Kommunismus“) erzählt, ist in sich selbst nicht einheitlich. Sie wird als allgemeiner Verzicht auf Eigentum dargestellt (2,44 f.; 4,32). Dann wird aber von einem einzelnen, Barnabas, erzählt, daß er sein Vermögen der Kirche stiftete. Das wird als eine besondere Leistung, also als Ausnahme, hingestellt (4,36 f.). Es ist deutlich: Das Gemälde ist idealisiert. Jene völlige Besitzgemeinschaft gab es so nicht. Zwar weist man zur Verteidigung des lukanischen Bildes auf verwandte Erscheinungen in der antiken Welt hin. Die Pythagoräer zeichnen von ihrer Urgemeinde ein ähnliches Bild. Aber auch dies ist ja ein ideales, nicht ein realistisches Gemälde. Vor allem gibt es nun in der unmittelbaren Nachbarschaft der Urgemeinde die jüdische kommunistische Gemeinschaft der Essener. Wer in das Kloster in Qumran eintritt, übereignet sein Vermögen der Gemeinde. Aber auch dies beweist nicht, daß die christliche Gemeinde kommunistisch organisiert war. Bezeichnenderweise fehlt in der Apostelgeschichte ein notwendiges Merkmal jeder kommunistischen Gemeinschaft: Eine solche kann nur existieren, wenn nicht nur der Verbrauch kommunistisch geregelt ist, sondern vor allem die Produktion organisiert wird. In den jüdischen Gruppen ist das der Fall. Das Verhältnis zwischen Kirche und jüdischer Behörde bleibt in der Apostelgeschichte unklar. Den Aposteln wird öffentliches Auftreten verboten. Sie halten sich nicht daran und bleiben ungestört in Jerusalem, während die ganze übrige Gemeinde aus der Stadt weichen muß (8,1-4). Und nachher befindet sich auch die Gemeinde wieder da, als ob nichts geschehen wäre (9,26 ff. und weiterhin). Die Ähnlichkeit der Berichte in Apg. 4 und 5 wurde schon erwähnt. Vielfach wird versucht, den wirklichen Vorgang mit Hilfe des damaligen jüdischen Strafrechts, genauer: der Strafprozeßordnung, zu rekonstruieren. Das ist aber aus methodischen Gründen nicht möglich. Denn erstens sind deren genaue Bestimmungen erst für eine spätere Zeit (nach der Zerstörung Jerusalems und der Auflösung des „Hohen Rats“) bekannt. Zweitens: Selbst wenn sie auch für die urchristliche Zeit bekannt wären, käme man doch höchstens zu Vermutungen. Eine Rekonstruktion setzt voraus, daß wenigstens einige Punkte des Verhörs protokollarisch treu vermerkt wären. Das ist aber nicht der Fall. So bleibt der Anklagepunkt unbekannt, damit auch die rechtliche Prozedur. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Anfänge

25

Die Darstellung des Verhältnisses der Zwölf zu den „Sieben“ (Apg.6) stimmt nicht. Darauf wird ausführlich einzugehen sein. Der Bericht läßt Lücken erkennen. Saulus geht nach Damaskus, um dort Christen aufzuspüren. Daß er dort das Christentum bekämpfen wollte, ist geschichtlich. Das geht aus seinen eigenen Briefen hervor (vgl. Gal. 1,17 mit 2.Kor. 11,32). Zu fragen ist lediglich, ob er von Jerusalem aus dorthin zog (darüber sagt er selbst nichts). Die Lückenhaftigkeit der Apostelgeschichte wird darin sichtbar, daß man nicht erfährt, wie das Christentum nach Damaskus kam. Nach der Lektüre von Apg. 1-8 vermutet man dort keine Gemeinde. Manche Forscher nehmen an, daß Lukas für die Geschichte der Urgemeinde eine oder mehrere alte Quellen besessen habe, vielleicht sogar eine, die aus Jerusalem selbst stammte. Die neueren literarkritischen Analysen machten diese Annahme in steigendem Maß unwahrscheinlich. Lukas selbst ist es, der die einzelnen Nachrichten, die er sammeln konnte, zu dem großen Gemälde gestaltet. Wie und wo er sie fand, ist nicht zu erkennen. Spuren weisen auf die Hellenisten, die aus Jerusalem nach Antiochia kamen. Aber durch wie viele Hände gingen ihre Erzählungen, bis sie zu Lukas gelangten? Das Ergebnis der Prüfung sieht sich im wesentlichen negativ an, als eine Zusammenstellung dessen, was wir nicht wissen. Nun betrifft das vor allem die äußeren Ereignisse. Aber die Medaille hat eine Kehrseite, und da ist die Prägung deutlicher erhalten: In der Urgemeinde werden Maßstäbe des Glaubens erarbeitet, die auch außerhalb Jerusalems, z.B. von Paulus, als gültig anerkannt werden und die weitere Geschichte bestimmen: der Grundriß der Glaubenslehre über Gottes Heilstat durch Jesus; auf Grund dieses Glaubens die Orientierung des Menschen auf die verheißene Zukunft des Heils hin; sittliche Normen, Grundformen des Gottesdienstes mit Lehre und Gebet, Taufe und Abendmahl, Normen des Umgangs mit der „Welt“, der bestimmt ist durch das Bekenntnis des Glaubens samt den Folgen, die dieses für den Bekenner hat. Die ersten Christen sind ohne Ausnahme Juden. Das ist für sie nicht einfach eine Tatsache, sondern Bestandteil ihrer bewußten Überzeugung. Ihr Glaube ist für sie nicht eine neue Religion, die sie von der jüdischen wegführt, sondern die Bestätigung der Verheißung an Israel. Gerade als Christen sind sie die echten Juden. Darum gehört zum Kirchengedanken von Anfang an ein Verhältnis zur Geschichte Israels. Mag dieses zunächst noch gedanklich ungeklärt sein, so bestimmt doch Jerusalem auch in diesem Punkt die künftige Formung der Gedanken: Jesus ist der Messias; die Kirche ist sein Volk, das wahre Israel. Dieses geschichtliche Selbstbewußtsein bewirkt, daß sich die neuen Gemeinden, die außerhalb Jerusalems entstehen, ideell mit der Stiftung der Kirche und mit der Muttergemeinde verbunden wissen. Das hat für sie mehr als bloßen Gemütswert: Es ist eine Glaubenseinsicht, in der sich der geschichtliche Bezug des Glaubens ausdrückt. Die Kirche ist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

26

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

grundsätzlich eine Einheit, und diese wird durch die Urgemeinde sichtbar repräsentiert. Die Spuren dieses Grundrisses zeichnen sich in den Briefen des Paulus wie in den Evangelien ab. 3. Die Stiftung der Kirche Aufschluß über die Entstehung der Kirche gibt die Überlieferung von den Erscheinungen des auferstandenen Jesus, teils in der Form knapper Formeln (Lk. 24,34: „Der Herr ist wirklich auferstanden und dem Simon erschienen“; l.Kor. 15,3ff.), teils in der Form ausgeführter Erzählungen. Die letzteren sind späteren Ursprungs und historisch beurteilt Legenden. Es ist also von den Formeln auszugehen. Über das „Wesen“ der Erscheinungen ist hier nicht zu handeln. Daß diejenigen, die als Augenzeugen derselben auftraten, wirklich diese Erlebnisse hatten, ist nicht zu bezweifeln. Ihr Inhalt - der Übergang eines Toten in eine übernatürliche Seinsweise und eine himmlische Rolle als Weltherr - ist kein Vorgang innerhalb der objektiv konstatierbaren Wirklichkeit. Es macht das Wesen des Glaubens aus, daß er sich nicht auf ein Faktum stützt, das der allgemeinen Beobachtung und Beurteilung zugänglich ist. Und er weiß, daß dies nicht ein Mangel ist, sondern seine Gewißheit begründet. Für ein Urteil über die Erscheinungen ist zu beachten: Es gibt kein Zeugnis eines neutralen Beobachters, also eines solchen, der nicht überzeugt wurde. Einen solchen kann es auch nach dem Selbstverständnis der Osterzeugen gar nicht geben, Und: Es wurden auch Nicht-Gläubige, ja, Gegner (Paulus) überzeugt. Man versuchte, mit den Mitteln der Psychologie zu erklären, wie sich die seelische Verfassung der Anhänger Jesu nach seinem Tod zu solchen Erlebnissen verdichtete. Etwa: Ihre Verzweiflung über das Scheitern Jesu sei durch den nachwirkenden Eindruck seiner Persönlichkeit überwunden worden und in eine neue Gewißheit über seine Sendung umgeschlagen. Diese habe die Visionen erzeugt, in denen sie ihn als Lebenden und in den Himmel Erhöhten erblickten. Aber alle derartigen Erklärungsversuche bleiben Vermutungen. Tatsächlich wissen wir über die innere Verfassung der Anhänger Jesu nach seinem Tod nichts. Erst in einem relativ späten Stadium der Ostererzählung wird einmal etwas von einer Enttäuschung angedeutet (Lk. 24,21). Aber das ist nicht eine realistische Beschreibung aus der persönlichen Erinnerung eines Augenzeugen, sondern dient nur als Folie für die Gewißheit des Osterglaubens. Keine psychologische Hypothese kann die wesentliche Sachfrage beantworten: Warum lösten die Erscheinungen gerade diese Wirkung aus? Warum zogen sich die Jünger nicht in einsame Meditation zurück, sondern gingen in die Öffentlichkeit?

Also: Was teilten die Betroffenen über ihre Erlebnisse mit? Welche Folgerungen zogen sie daraus? Welche Wirkungen wurden ausgelöst? Und wie wirkten diese ihrerseits auf das Selbstverständnis der Gläubigen zurück? Zunächst ist bezeichnend, daß die ältesten Dokumente über das SeelischErlebnismäßige in den Betroffenen schweigen. Sie teilen lediglich den Inhalt mit: Der getötete Jesus zeigte sich ihnen in der Existenzform der „Auferstehung“, und das erfuhren sie als ihr Heil. Auf den sichersten Boden führt l.Kor. 15,3-5. Hier zitiert Paulus eine Bekenntnisformel, die er schon im kirchlichen Gebrauch vorfand, die also in die ersten Jahre der Kirche gehört: „Daß Christus gestorben ist für unsere Sünden nach den Schriften, und daß er begraben wurde, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Anfänge

11

und daß er auferweckt ist am dritten Tage nach den Schriften, und daß er dem Kephas erschien, dann den Zwölfen.“ Paulus führt dann die Reihe der Erscheinungen noch fort, bis zu sich selbst. Aber der ursprüngliche Umfang des Bekenntnisses ist das, was oben angeführt ist. Daß Jesus (als erstem) dem Simon Petrus/Kephas erschien, wird durch Lk.24,34 (s.o.) bestätigt. Auf dieser Erscheinung beruht die hervorragende Stellung des Petrus in den ersten Jahren der Kirche. Sie hebt sich vor dem Hintergrund ab, daß er vor dem Tod Jesu seinen Meister verleugnete. Die Stellung des Petrus an der Spitze des Kreises der Zwölf und damit der Gemeinde schlug sich in den Evangelien nieder: Immer wieder tritt er dort als der Sprecher der Jünger auf. Ihm wird seine künftige Stellung geweissagt (Mt. 16,17-19). Die folgenden Ausführungen sind Vermutungen. Sie werden als Versuch vorgelegt, die Überlieferung an einigen Stellen etwas aufzuhellen. Vielleicht erhielt Simon erst auf Grund dieser Erscheinung seinen Beinamen Kepha (aramäisch; leicht gräzisiert Kephas) = Petros (griechisch), „Fels“. In diese Richtung weist die Formulierung Lk. 24,34: „Er erschien dem Simon.“ Man kann noch weiter vermuten. Es fällt ja auf, daß Jesus „den Zwölfen“ erschien. Man stutzt: Nach der Erzählung der Evangelien und der Apostelgeschichte waren nach dem Verrat des Judas doch nur noch elf übrig. Außerdem: Wieso sind gerade zwölf Leute irgendwo versammelt, als Jesus erscheint? Das ist doch merkwürdig, zumal es Gründe für die Annahme gibt, dieser Kreis sei erst nach dem Tod Jesu gesammelt worden. Andrerseits ist er nicht erst im Laufe der Entwicklung der Gemeinde entstanden. Er ist vielmehr die Urzelle derselben. Vielleicht darf man sich den Vorgang so vorstellen: Auf Grund „seiner“ Erscheinung (die er ja nicht für sich behalten durfte; das ist durch die Erscheinung selbst gesetzt) sammelte Petrus diesen Kreis, natürlich aus seinen Mit-Jüngern. Dann wird sein Beiname „Fels“ (die Grundlage) verständlich. Und dann lassen sich von der Sammlung dieses Kreises aus weitere Einblicke gewinnen. Zwölf, das bedeutet: Petrus gewann durch die Erscheinung die Erkenntnis, daß der Erhöhte das Gottesvolk der Endzeit, das wahre Israel, zusammenruft. Denn die Zwölf repräsentieren natürlich das Zwölf-Stämme-Volk Israel. Die Erscheinung bestimmt also unmittelbar das Verständnis und die Gestalt der Kirche. Von Bedeutung ist weiter, daß diese Gruppe, die sich zum mindesten überwiegend aus Galiläern zusammensetzt, nicht wieder nach Galiläa, in die Heimat und das Wirkungsfeld Jesu, zurückwandert. Dadurch, daß sie sich in Jerusalem niederlassen, dokumentieren sie eben diesen Glauben, das wahre Israel darzustellen. Es ist Petrus, der aus der Tatsache, daß Jesus lebt, sofort als notwendige Konsequenz erfaßt: Das muß verkündigt werden. Die Gläubigen müssen - in Jerusalem, wo Jesus hingerichtet wurde - vor die Öffentlichkeit treten. Was hier als Vermutung vorgetragen wurde, ist übrigens schon alles, was über die Lehre des historischen Petrus gesagt werden kann. Zwar referiert © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

28

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

die Apostelgeschichte einige Reden von ihm. Aber diese gehen nicht auf ihn selbst zurück. Und die beiden Briefe, die unter seinem Namen überliefert sind, sind ebenfalls nicht von ihm verfaßt (vgl. im übrigen Anhang I S. 132 ff.). Im Anschluß an das oben zitierte Bekenntnis zählt Paulus weitere Erscheinungen auf (1.Kor. 15,6-8): Eine vor mehr als fünfhundert Brüdern, von denen die Mehrzahl noch lebt, als Paulus den l.Korintherbrief schreibt (um 55). Es wurde gelegentlich die Vermutung ausgesprochen, diese Erscheinung sei identisch mit dem Pfingsterlebnis. Das ist unwahrscheinlich: An Pfingsten erscheint nicht Jesus, und für die Erscheinungen ist es umgekehrt gerade bezeichnend, daß sie keinen erkennbaren ekstatischen Charakter zu haben scheinen. Ferner erscheint Jesus seinem leiblichen Bruder Jakobus, der bis dahin offenbar nicht sein Anhänger war (vgl. Mk. 3,21.31), aber jetzt bekehrt wird. Er verdankt beidem, seiner Verwandtschaft mit Jesus und dieser Erscheinung, mit seine spätere Stellung in der Kirche. Er steigt nach und nach an die Spitze der Gemeinde von Jerusalem auf. Schließlich erscheint Jesus „allen Aposteln“. Sind das nochmals die Zwölf? Das ist nach der Ausdrucksweise und dem Zusammenhang unwahrscheinlich. Diese frühe Zeit kennt noch nicht die „zwölf Apostel“, sondern einerseits „die Zwölf“, andererseits „Apostel“ oder „die Apostel“. Aus den Texten geht nicht eindeutig hervor, ob die Apostel ein offener Kreis von Missionaren waren oder ob sie eine geschlossene Gruppe bildeten. In der Frühzeit gab es wohl gar keine eindeutige Definition des Apostelbegriffs. Im l.Korintherbrief wird als übergreifendes Merkmal nur deutlich, daß für Paulus der Apostel seinen Auftrag unmittelbar von dem erhöhten Herrn hat. Von da aus versteht er seine eigene Stellung. Er selbst ist der letzte in der Reihe, die er aufzählt. Das Bild der Entstehung, das aus dem l.Korintherbrief hypothetisch zu erheben ist, ist ganz verschieden von dem, das die Apostelgeschichte darbietet. Aber es besteht eine fundamentale Übereinstimmung: Die Kirche weiß sich vom erhöhten Herrn gestiftet, und zwar nicht auf dem Weg innerer Impulse, sondern durch einen unmittelbaren Akt der Kundgabe. Und mit der Stiftung ist der Missionsauftrag gegeben. Da Gott der Schöpfer und Weltherr ist, betrifft die Auferweckung Jesu die Welt. Die Kirche kann sich nicht (wie es jüdische Sekten tun) zurückziehen, um ihrer inneren Erbauung zu leben. Dieser Zusammenhang von Auferstehung Jesu, Stiftung der Kirche und Mission wurde später in den Szenen mit dem „Missionsbefehl“ dargestellt (Mt.28,16-20; Lk.24,46-49; Apg.1,8). Einige Probleme der Ostererzählungen können hier nur angedeutet werden. Die Überlieferung weiß einerseits von Erscheinungen in Galiläa (Mk.16,7; Mt.28,16-20; Joh.21), andererseits in Jerusalem (Lk.24; Apg. l ; Joh.20). - Paulus äußert sich über den Ort nicht, außer in seinem eigenen Fall: bei Damaskus. - Beide Überlieferungen sind zunächst getrennt, ja, sie schließen sich aus. Bei Markus ist kein Raum für Erscheinungen in Jerusalem, bei Lukas keiner für solche in Galiläa. Verknüpft werden beide Stränge erst spät, andeutungsweise Mt. 28,9 f., deutlich im Johannes-Evan© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Anfänge

29

gelium, wo neben dem „jerusalemischen“ Kap. 20 das „galiläische“ Kap. 21 steht. Dieses gehört jedoch nicht zum ursprünglichen Bestand des Buches, das mit Kap. 20 abgeschlossen ist. Es ist ein Nachtrag der Herausgeber (vgl. 21,24). Im allgemeinen wird angenommen, die Lokalisierung in Galiläa sei die ältere. Später habe man die Erscheinungen begreiflicherweise nach Jerusalem als dem Ort der Auferstehung und Hauptort der Kirche verlegt. Doch gibt es auch Gegenargumente: Warum wurde Jerusalem und nicht Galiläa von den galiläischen Jüngern zum Sitz gewählt? Wenn sie den Auferstandenen zuerst in Galiläa sahen, müßten sie nach der Gefangennahme Jesu dahin geflohen und - trotz der Erscheinungen - nach Jerusalem zurückgekehrt sein. Diese Bewegung ist aus den Quellen nicht zu erheben. Sie ist auch psychologisch unwahrscheinlich. So einleuchtend es an sich ist, daß sie flohen, warum sollten sie zurückkehren? Durch die Erscheinungen wäre doch Galiläa zum Land der Heilserfahrung geworden. Allerdings, wenn man annimmt, daß Jerusalem der Ort wenigstens der ersten Erscheinungen war, muß man zu erklären suchen, wie später die galiläische Tradition aufkam. Da wir aber über die - sicher vorhandenen - Gemeinden dieser Landschaft nichts wissen, ist über Mutmaßungen nicht hinauszukommen. Wie sind die Geschichten vom leeren Grab zu beurteilen? Es gibt im wesentlichen drei Hypothesen: 1. Man entdeckte wirklich (am 3. Tag nach dem Tod Jesu), daß das Grab leer war, wie immer man dies erkläre. Aber dann sieht man keine Linie zur Entstehung des Glaubens (und, wenn man die Galiläa-Hypothese vertritt, keinen Grund zur Wanderung nach Galiläa). 2. Sie sind keine wirklichen, alten Legenden, sondern apologetische Bildungen, die den Osterglauben stützen sollen. Dies letztere ist richtig. Aber sie sind gegenüber den Erscheinungsgeschichten immerhin selbständige Überlieferungen. 3. Sie sind ursprünglich Entrückungsgeschichten, die voraussetzen, daß sich Jesus bereits im Himmel befindet. Zum Abschluß des Themas „Stiftung“ ist noch auf das berühmte Wort Jesu an Petrus einzugehen, Mt. 16,17-19: „Selig bist du, Simon, Jonas Sohn! Denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Und ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben, und alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.“ Der Kernsatz: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen“ steht in goldenen Buchstaben in der Kuppel von St. Peter in Rom. Es ist der „Fundamental“-Spruch der römischen Kirche. Wenn Jesus selbst dieses Wort sprach, sind alle oben geäußerten Mutmaßungen über Simon als dem „Felsen“ abwegig. Denn dann besaß er 3

Conzelmann, Geschichte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

30

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

seinen Beinamen bereits, als ihm der Auferstandene erschien, und er war bereits auf die Stiftung der Kirche und seine eigene Rolle in dieser vorbereitet. Aber es gibt Gründe für die Annahme, daß dieses Wort erst in der Gemeinde entstand und Jesus nachträglich in den Mund gelegt wurde. Denn in Wirklichkeit blickt es nicht auf die Kirche als eine zukünftige Größe voraus, sondern deutet deren Wesen als der schon bestehenden Gemeinschaft der Gläubigen. Übrigens gewinnt dieses Urteil auch bei katholischen Theologen an Boden - ein Beispiel dafür, daß die katholische Kirche durch solche historischen Urteile keineswegs „widerlegt“ wird.

IV.KAPITEL

Die Urgemeinde 1. Der Glaube Der gesamte Inhalt des Glaubens ist durch die Erscheinungen des Auferstandenen bestimmt. Wie aber? Natürlich nicht in dem simplen Sinn, daß die Christen nur den einen Satz einhämmerten: „Jesus ist auferstanden.“ Sonst wäre beispielshalber nicht die Lehre Jesu mündlich weitergegeben und bald auch schriftlich aufgezeichnet worden. Die Christen rufen, wie früher Jesus, zur Buße auf; sie verkündigen die Vergebung der Sünden, das Heil für die Armen. Sie konfrontieren ihre Hörer wie sich selbst mit dem nahen Reich Gottes. Wenn man ihre Lehre nur formal beurteilt, kann man sie als Lehre einer eschatologisch orientierten, auf radikalen Gehorsam gegen Gott dringenden jüdischen Sekte bezeichnen. Aber diese Inhalte: Enderwartung und Gehorsam, werden durch das Bekenntnis „Christus ist auferstanden“ neu geprägt. Dieses ist nicht nur ein bloßer Zusatz zu den überlieferten jüdischen Überzeugungen und Lebensformen, in denen die Christen in der Tat auch nach ihrer Bekehrung bleiben. Der neue Glaube führt ein neues Verständnis sowohl der Überlieferung an Lehre und Geboten als auch der eigenen Stellung im Heilsplan Gottes und innerhalb Israels mit sich. Will man das Verhältnis von „alt“ und „neu“ fassen, so ist nach diesem Selbstverständnis zu fragen. Es dokumentiert sich in den Sätzen, in denen die Christen ihren Glauben ausdrücklich definieren. Da die Erscheinungen des Auferstandenen das Bekenntnis zu ihm vor der Welt fordern, erzeugt der Glaube Formulierungen eines bestimmten Stils. Solche sind im ganzen urchristlichen Schrifttum verbreitet. Da ihr Inhalt auf die Person Jesu (als des Messias, Gottessohnes usw.) und das Heilswerk (Tod und Auferstehung) konzentriert ist, ist es einfach, die urchristliche Glaubenslehre zu überblicken. Aber damit ist der Kern der Sache noch nicht erfaßt, nämlich der Glaube selbst, der sich in diesen Sätzen ausspricht. Sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Urgemeinde

31

sind noch nicht ausgelegt, wenn ihr Wortlaut erläutert ist. Denn sie sind nicht nur Darlegung, sondern geschichtliche Stellungnahme. Die Christen verstehen ihren Glauben nicht als eine neue Religion bzw. Weltanschauung und ihre Gemeinde nicht als eine Religionsgemeinschaft, die aus Israel ausgetreten ist oder sich wenigstens, wie die Leute von Qumran, deutlich distanziert hat. Sie sind Juden und bleiben Juden, und zwar mit ihren übrigen Religions- und Volksgenossen zusammen. Sie propagieren nicht einen neuen Gottesgedanken. Sie glauben an den Gott Israels, den „einen“ (Röm.3,30; 1.Kor. 8,6; Mk. 12,29), den Schöpfer, der mit Israel seinen Bund schloß und ihm das Gesetz verordnete. Das Alte Testament ist ihre heilige Schrift. Jüdisch ist ihr Welt- und Geschichtsbild. Mit der Apokalyptik teilen sie die Erwartung des Weltendes und der Auferstehung der Toten, des Weltgerichts und des Reiches Gottes (vgl. Dan.7,13 f.; 12,2f.). Sie wissen - schon als Juden - , daß sie sündig sind und Gottes Barmherzigkeit brauchen. Sie haben ein Bild von der himmlischen Welt mit den Scharen der Engel, von der Unterwelt mit dem Satan und den bösen Geistern, von der Erde als dem Tummelplatz der „Mächte“. Sie übernehmen die jüdische Vorstellung von Hypostasen, Zwischengrößen zwischen Gott und Welt, die mehr oder weniger personifiziert werden: der „Weisheit“, dem „Wort“. Sie deuten das Wesen Jesu mit den jüdischen Bezeichnungen für den Retter, der Israel die Erlösung bringt: „Messias“, „Menschensohn“. Aber dieses ganze Gut an Überzeugungen wird nun gesichtet und neu gefaßt: Das Interesse an den apokalytischen Bildern des Weltendes tritt zurück. Wichtiger ist die Frage, wie sich der Richter verhalten wird. Durch die Konzentration des Glaubens auf die Person Jesu schwindet auch die Spekulation über Engel und Dämonen. Wenn man das Neue Testament mit jüdischen Schriften vergleicht, erkennt man die scharfe Reduzierung der weltanschaulichen Vorstellungen. Auch die jüdischen Hypostasen besitzen keinen Eigenwert mehr. Sie dienen dem Verstehen der Person Jesu. Das gleiche gilt von den messianischen Begriffen: Ihren Sinn gewinnen sie nicht mehr aus der nationalen (Messias) und apokalyptischen (Menschensohn) Geschichtsdeutung, sie werden ganz an der Person Jesu orientiert. Die heilige Schrift wird zur Urkunde der Weissagung auf Christus: Er ist „nach den Schriften“ gestorben und auferweckt (l.Kor. 15,3-5). Gott, der Herr Israels und der Welt, wird auf neue Weise erfahren: als der Vater Jesu, der durch das Opfer seines Sohnes die Vergebung der Sünden stiftete. Ein wesentliches Mittel der Bewältigung der Denkprobleme ist die Überlieferung der Lehre Jesu in der Gemeinde. Den Rahmen bildet das Bekenntnis zum erhöhten Herrn. Aber dieser Rahmen wird durch Erinnerungen an Jesus ausgefüllt. Dabei werden diese - seine Wunder (siehe das Markusevangelium), seine Worte (vor allem in einer Schrift, die nicht mehr erhalten ist, aber im wesentlichen aus Matthäus und Lukas rekonstruiert werden kann; wissenschaftliche Bezeichnung: „Logienquelle“; Abkürzung Q, d. i. „Quelle“. Näheres siehe Grundrisse Band 2) - nicht unverändert weitergegeben, sondern auf aktuelle Fragen des Glaubens und Gemeinde© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

32

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

lebens bezogen. Aber es bleibt ein sicherer, geschichtlicher Grundbestand an Erinnerung. Es zeichnen sich zwei Strömungen ab: Eine, die sich auf das Bekenntnis zu Tod und Auferweckung Jesu konzentriert (in dieser Form lernt Paulus das Christentum kennen), und eine, welche dasselbe Bekenntnis durch die Überlieferung von Jesus erläutert. Leider wissen wir nicht, wo und wie die beiden Strömungen geschichtlich anzusetzen sind. Es gelingt nicht, sie mit den bekannten Gruppen der Urgemeinde, den „Hebräern“ und den „Hellenisten“ (siehe S.42 ff.) zu identifizieren. Das Verhältnis von „alt“ und „neu“ kann nun an den Formen und Inhalten des Bekenntnisses abgelesen werden. Solange sich die christliche Mission an Juden wendet, muß das, was heute den Inhalt des „ersten Artikels“ bildet, gar nicht ausdrücklich verkündigt werden: daß ein Gott, der Schöpfer und Hirt Israels, ist. Das ist ja die gemeinsame, „alte“ Überzeugung. Was von den Christen zu bekennen ist, ist das Neue: was dieser „alte“ Gott jetzt getan hat, daß er Jesus von den Toten erweckte. Auch dieser Satz stammt dem Vorstellungsmaterial nach aus dem apokalyptischen Weltbild. Aber er wird seinen eigenen Sinn zur Geltung bringen. Dieser Glaube wird in kurzen, einprägsamen Sätzen zusammengefaßt. Zwei Typen von solchen heben sich heraus. Im ersten ist der Glaube personal, als Aussage über das Wesen Jesu, formuliert: „Jesus ist der Messias“ (Mk. 8,29 dem Petrus in den Mund gelegt). Im zweiten Typ ist die Formulierung sachlich, eine Aussage über das Heilswerk: „Gott hat Jesus aus den Toten erweckt“ (Röm. 10,9); erweitert: „Christus ist gestorben und auferstanden“ bzw. „auferweckt“ (dies ist die Grundform der oben zitierten, nochmals erweiterten Formel 1.Kor. 15,3-5). Beide Aussagen (über Person und Sache) werden verknüpft, so Röm. 1,3 f.: Jesus war vor seiner Auferstehung der Sohn Davids, d.h. der Messias, nach der Auferstehung der Sohn Gottes. Der äußere Umfang der Glaubenslehre ist also sehr gering. Für einen Juden ist dennoch alles Nötige deutlich gesagt, zumal die Verkündigung von den Energien begleitet wird, die der Geist auslöst. Aber sowohl in der Auseinandersetzung mit der Umwelt als auch in der eigenen Denkbewegung des Glaubens entstehen Fragen, die weiteres Nachdenken und neue Aussagen erfordern. Denn die Sätze des Bekenntnisses sind nicht abstrakt-zeitlose Definitionen; sie sind geschichtliche Anrede an die Welt und an die Gemeinde selbst, aus denen ständig Neues ans Licht zu heben ist. Ihre Geschlossenheit haben sie nicht durch einen unveränderlichen Wortlaut. Dieser ist nicht vorgeschrieben, und das ist nicht zufällig. Nicht der Buchstabe macht selig, sondern das im Bekenntnis verkündigte Heilsgeschehen. Daher weisen die Sätze über sich selbst hinaus. Sie erschließen die Hoffnung. Die Christen erwarten, wie ein Teil der Juden, das Weltgericht, bei dem Gott nach den geleisteten guten oder bösen Taten sein Urteil spricht. Aber durch den Glauben ist die Einstellung auf das Gericht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Urgemeinde

33

qualitativ verändert. Denn die Gläubigen kennen den Richter. Es ist der, der kam, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten. Über die eschatologischen Vorstellungen gibt es im Judentum keine dogmatischen Vorschriften. Man kann sie gänzlich ablehnen, wie die Sadduzäer. Man kann sich Jenseits und Zukunft so oder so vorstellen, kann einen Messias erwarten oder nicht. Auch im Christentum herrscht keine Einheitlichkeit. Es gibt Spuren der Überzeugung, daß der Mensch nach dem Tod sofort in das Paradies oder in die Hölle fährt (so die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus Lk. 16,19 ff.). Andere erwarten, daß nur die Erwählten auferstehen, die Verdammten im Tode verbleiben. Überwiegend herrscht die Erwartung einer allgemeinen Erweckung aller Toten mit Gericht und Urteilsspruch. Wichtiger sind die Meinungsverschiedenheiten über die praktischen Konsequenzen aus der Enderwartung. Ein Teil folgert aus ihr die Aufgabe der Weltmission, ein anderer dagegen, daß die Mission auf Israel beschränkt sei (Mt. 10,5 f.). Die Begründung dieser Ansicht ist die Erwartung, daß Gott selbst am Ende die Völker um den Zion und das wiederhergestellte Israel sammeln werde. Mit der Behauptung, Jesus sei der Messias, ist dem Juden in aller Deutlichkeit erklärt, welche Stunde geschlagen hat und was jetzt für das Heil nötig ist. Wenn diese Behauptung wahr ist, dann hängt das ewige Schicksal daran, wie der erhöhte Jesus über den einzelnen urteilt. Und das entscheidet sich daran, wie sich dieser jetzt, in der Welt, zu Jesus einstellt, ob er sich zu ihm bekennt oder - ein Drittes gibt es nicht - ihn verleugnet (Mk. 8,38; Lk.9,26;12, 8 f.;Mt.l0,32f.). An dieser Stelle zeichnet sich der kommende Konflikt ab. Die Folge dieser Überzeugung ist, daß ein Riß mitten durch Israel geht. Die Spaltung tritt nicht schon durch die Behauptung ein, ein bestimmter Mensch sei der Messias. Eine solche Überzeugung ist im Judentum durchaus tragbar. Rabbi Akiba soll den Simon Bar Kochba, den Führer des jüdischen Aufstandes 132-135 n. Chr., als Messias proklamiert haben. Im Fall der Christen liegen die Dinge nun freilich anders. Sie bekennen sich zu einem, der auf die Initiative der jüdischen Führung hingerichtet wurde. Der Glaube impliziert eine Stellungnahme zu diesem Tod und damit zu den Akteuren. Zwar wird nicht in allen urchristlichen Schriften ausdrücklich darauf eingegangen. Die aus Matthäus und Lukas zu rekonstruierende Schrift, die hauptsächlich Lehre Jesu sammelte, enthält keine Deutung des Todes Jesu. Aber dieser wird schon früh zum Gegenstand der Überlegung und wird erklärt: Dieser Tod war in Gottes Heilsplan beschlossen; er ist ein Opfer, das die Vergebung der Sünden bewirkt und den Neuen Bund stiftet. Dieses Bekenntnis zum getöteten Jesus als dem Stifter des Neuen Bundes, ja, gerade zu seinem Tod als dem Stiftungsakt muß zur Krise führen. Noch an einem anderen Punkt bricht der Konflikt auf, am Gesetz. Wenn das Bekenntnis zu Jesus über Heil und Unheil entscheidet, dann bekommt das Gesetz einen völlig anderen Stellenwert. Dann ist es nicht mehr die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

34

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Instanz, die zwischen Gott, Volk und einzelnem vermittelt und die allein ins Heil zu führen vermag. Dessen wird man sich zwar nicht von Anfang an bewußt. Die ersten Christen ziehen nicht die Konsequenz, sich vom Gesetz zu lösen. Aber wenigstens eine Gruppe wird sich bald klarmachen, daß sie auf Grund des Glaubens vom Gesetz frei sind. Dann ist der Zusammenstoß mit dem orthodoxen Judentum da. Wann, wo, wie die Krise offen ausbrechen wird, das wird davon abhängen, wie die Gemeinde ihren Glauben in praktische Gestaltung ihres Lebens umsetzt. Es sind an sich mehrere Möglichkeiten denkbar. Eine ist schon angedeutet: Die Gemeinde kann sich an den Rand des Kulturlandes zurückziehen, wie die Gruppe von Qumran, und dort in Erwartung des kommenden Menschensohnes zum Himmel starren. In diesem Fall überläßt sie die Welt den bösen Mächten. Sie reserviert lediglich für sich einen geschützten Raum. Sie geht nicht mit ihrer Botschaft in die Welt, sondern lädt ein, die Kirche zu besuchen. Wenn sie sich so verhält, wird Gott nicht wirklich als der Herr der Welt geglaubt bzw. wird die Gemeinde seinem Herr-Sein nicht gerecht. Und die Bedeutung Jesu ist im wesentlichen einer apokalyptischen Zukunft vorbehalten. Die Kirche mußte auf Grund ihres Glaubens einen andern Weg wählen. Sie bleibt in der Welt (ist also, von außen gesehen, konservativer als die Qumran-Gruppe). Damit stellt sie sichtbar dar, daß sie keine Sekte ist (Lukas drückt das später so aus: keine „Sekte“, sondern ein „Weg“, Apg. 24,14). Sie dokumentiert den Anspruch Jesu auf Israel. Aus dem gleichen Grund entwickelt sie keine asketische Regulierung des Lebens, weder Geschlechts- noch Nahrungs- noch Kleidungsaskese. Petrus, Apostel, die Brüder Jesu sind verheiratet. Asketisch klingende Anweisungen wie Mk. 6,8 sind zweckmäßige Bestimmungen für besondere Aufträge. Auch die jüdische Sitte des Fastens, die die Gemeinde weiter übt, ist keine asketische, sondern eine kultische Übung. Auch der Besitz wird nicht asketisch abgelehnt. Jesus hatte vor dem Reichtum gewarnt. Aber er hatte nicht einmal von seinen engsten Anhängern allgemeine Preisgabe des Eigentums verlangt. Das gilt auch in der Gemeinde (zur angeblichen „Gütergemeinschaft“ bzw. zum „urchristlichen Kommunismus“ vgl.S.24). Im Durchschnitt ist die Gemeinde arm. Das ist für sie ein Zeichen, daß sie von Gott erwählt ist. Mit dieser Überzeugung befindet sie sich in der Nähe eines Typs von jüdischer Frömmigkeit, die man als „Armenfrömmigkeit“ zu bezeichnen pflegt: Gott stürzt das Hohe und erhebt die Niedrigen und Demütigen. Es ist die Frömmigkeit, die sich in manchen Psalmen ausspricht und im Neuen Testament ihren höchsten Ausdruck in den Seligpreisungen (Mt. 5,3-10) und im Lied der Maria (dem „Magnificat“) Lk. 1,46-55 findet. Wenn von Besitz und Armut gesprochen wird, greifen die Gedanken welt über die materiellen Verhältnisse hinaus: Es geht um das Ganze der Einstellung zur Welt, darum, ob der Mensch Herr über seinen Besitz oder von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Urgemeinde

35

ihm besessen ist. Doch gilt gelegentlich auch der Besitz an sich als unheilund die Armut als heilbringend (in der Geschichte vom armen Lazarus); aber dieser Gedanke dient der Illustration; er wird nicht zum Programm. Über die Einstellung des Urchristentums zum Eigentum ist viel geschrieben worden, zum Teil mit aktuellem Bezug auf den modernen Kapitalismus, die modernen sozialen Probleme und sozialistischen Bewegungen. Dabei ist zu beachten, daß der urchristliche Kommunismus nie soziale Wirklichkeit war. Und Lukas, der in der Apostelgeschichte dieses Gemälde von der Gütergemeinschaft entwirft, macht daraus kein Programm für die Gestaltung der Kirche seiner eigenen Zeit. 2. Die Formen des Gemeindelebens a) Von festen Formen im Sinn einer Verfassung und Gottesdienstordnung kann für die Frühzeit kaum die Rede sein. Das Zusammenleben gestaltet sich aus dem Selbstverständnis der Gläubigen, dem Rückblick auf die Auferweckung Christi und die Stiftung ihrer Gemeinschaft, dem Vorblick auf seine baldige „Ankunft“ zum Gericht und der Erfahrung des Geistes. Wie sie ihre Gemeinschaft verstehen, läßt sich an den Selbstbezeichnungen ablesen, die sie sich beilegen. Es sind - nicht zufällig - solche, die schon von jüdischen, eschatologisch orientierten Gruppen gebraucht wurden: die „Heiligen“ (Röm. 15,25), „Erwählten“ (Mk. 13,22.27). Diese Wörter drücken den Gedanken aus, daß Israel zwar das erwählte Volk ist, daß der einzelne Jude aber nicht schon auf Grund seiner Zugehörigkeit zu diesem Volk selig wird. Vielmehr wählt Gott aus Israel die wenigen Frommen aus, die sich in echtem Gehorsam üben. Die Christen glauben, daß durch die Erweckung Christi die letzte Zeit angebrochen ist, in der Gott sein erwähltes Volk zusammenruft. Umstritten ist, ob sie sich auch „die Armen“ nannten (vgl. dazu Röm. 15,26; Gal.2,10). Auch das ist ein Stichwort eines jüdischen Typs von Frömmigkeit: Gott wendet sich den Gedrückten zu; er stürzt die Stolzen (s.o.S.34). Früh kommt weiter die Bezeichnung „ekklesia“ auf, die wir mit „Gemeinde“ und „Kirche“ übersetzen (häufig bei Paulus; in den Evangelien nur Mt. 16,18; 18,17); sie hat denselben Sinn: die Gemeinde der Erwählten Gottes in der Endzeit. In der theologischen Fachsprache ausgedrückt: Die christliche Gemeinde versteht sich als eschatologische Gemeinschaft. Das ist kein Widerspruch zu der Tatsache, daß sie in der „Welt“ bleibt im Gegenteil. Weil sie von Gott erwählt ist, kann sie ihrer Heiligkeit gewiß sein und dableiben, der Welt gegenübertreten. Von Jesus hat sie sichere Regeln für die Lebensführung. Da sich die Christen nach wie vor als Juden wissen, scheinen sie sich weiterhin am jüdischen Gottesdienst im Tempel und in der Synagoge beteiligt zu haben. Aber diese Teilnahme hat jetzt einen neuen Sinn bekommen. Sie dokumentiert, daß die Christen an ihrer Zugehörigkeit zum erwählten Volk festhalten und sich zum Gott Israels bekennen. Aber Jesus kritisierte gerade von diesem Gottesgedanken aus das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

36

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Judentum der Gegenwart und die Mißstände des Gottesdienstes. Und die wirkliche, die neue, erlebte Gemeinschaft erfahren die Gläubigen in ihren eigenen Versammlungen. b) In das christliche Selbstbewußtsein wird der Neubekehrte schon durch den Ritus der Aufnahme eingeführt, die Taufe, Durch diese erlangt er die Vergebung seiner bisherigen Sünden und die Teilnahme am Leben des Gottesvolkes im Neuen Bund. Die Kraft des neuen Lebens ist der heilige Geist, der durch die Taufe übermittelt wird. Den Ritus der Taufe übernahmen die Christen von Johannes dem Täufer. Jesus selbst hatte sich von ihm taufen lassen. Wie die Taufe dann nach seinem Tod in der Gemeinde aufkam, ist nicht bekannt. Jedenfalls ist sie, soweit wir überhaupt Einblick haben, fester Brauch. Die Christen grenzen ihre Taufe nun gegen die des Johannes ab: Jener taufte nur „mit Wasser“; erst die christliche Taufe hat die Kraft, den Geist zu verleihen (Mk. 1,8). In der Forschung wird allerdings auch die Ansicht vertreten, in der Urgemeinde sei die Taufe zuerst nur ein Reinigungsritus gewesen. Ihre Verknüpfung mit der Geistbegabung sei erst in der hellenistischen Kirche hergestellt worden. Nun ist kein Zweifel, daß die hellenistischen Gemeinden stark von den Wirkungen des Geistes durchpulst waren (Prophetie, Ekstasen, Krankenheilungen). Aber solche Wirkungen herrschten auch schon in der Urgemeinde. Das wichtigste Dokument dafür ist die Pfingstgeschichte Apg. 2. In ihrer jetzigen Fassung trägt sie freilich Züge des hellenistischen Judenchristentums. Daher kann man fragen, ob nicht erst eine spätere Generation das Erlebnis des Geistes in das idealisierte Bild der Urgemeinde einzeichnete. Aber auch wenn die Erzählung in hellenistischem Stil mit Legendenmotiven durchsetzt ist, so bleibt doch als wahrscheinlicher geschichtlicher Kern, daß das Walten des Geistes in der Urgemeinde erfahren wurde. Es gibt davon noch mehr Spuren: In Jerusalem treten Propheten auf: Agabus (Apg. 11,28; 21,10); der „Evangelist“ Philippus hat vier Töchter, die diese Gabe besitzen (Apg.21, 8 f.). Er gehört zwar zu den „Hellenisten“ (s.u.). Aber diese lebten ja zunächst in Jerusalem als eine Gruppe der Urgemeinde. Die Geisterscheinungen in den hellenistischen Gemeinden sind Ausstrahlungen von Jerusalem. Später, in den fünfziger Jahren, treten in Korinth Pneumatiker auf, die sich auf ihren Traditionszusammenhang mit Jerusalem berufen (2.Kor.l0ff.). Es ist also anzunehmen, daß die Taufe von Anfang an als Geisttaufe gespendet und erfahren wurde. Ihre Wirkungen (Vergebung der Sünden, Einfügung in das neue Bundesvolk, Verleihung des Geistes) setzen auf der Seite des Täuflings das „Bekenntnis“ voraus: das Eingeständnis seiner Sünden (Mk. 1,5) und das positive Bekenntnis des Glaubens an Jesus. Die Taufe wird vollzogen „im Namen“ oder „auf den Namen“ Jesu. Die Nennung dieses Namens ist fester Bestandteil des Ritus; dazu gehört die Auflegung der Hände. Dadurch wird der Täufling in das Eigentum und den Schutz Jesu eingefügt, und die heilsame Wirkung seines Todes wird auf ihn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Urgemeinde

37

übertragen. Darüber hinaus geben die ältesten Quellen für den Ritus keine Vorschriften. Doch ist sicher, daß die „Taufe“, wenn möglich, ein Tauchbad war. Man kann fragen, ob der Täufling vom Täufer eingetaucht wurde oder sich vor der versammelten Gemeinde selbst eintauchte. Das erstere ist das Wahrscheinliche. Denn man „wird“ getauft; es ist ein „Täufer“ vorhanden. Paulus sagt von sich, daß er getauft habe (l.Kor. 1,14.16). Später gibt die „Didache“ („Apostellehre“, s. o. S. 13 f.; Beilage11a)genauere Anweisungen: Man soll in „lebendigem“ Wasser taufen. Ist solches nicht vorhanden, kann man auch in anderem (also stehendem) taufen. Wenn kein kaltes Wasser da oder geeignet ist, darf es auch warmes sein. Fehlt beides, so genügt dreimaliges Übergießen des Kopfes „auf den Namen des Vaters und Sohnes und heiligen Geistes“. Hier ist, wie Mt. 28,19, bereits die spätere, dreigliedrige Taufformel in Gültigkeit. Ursprünglich herrscht aber die eingliedrige, „auf den Namen“ Jesu. Über die Taufe von Kindern oder gar Säuglingen sagen die Quellen nichts. c) Das ideale Bild der Gemeinde und ihrer Versammlung skizziert Apg. 2,42-47. Wieder muß man versuchen, die nüchterne alltägliche Wirklichkeit hinter der idealisierenden Zeichnung zu entdecken. Vielleicht wurde schon früh der erste Tag der Woche (unser „Sonntag“) zum bevorzugten Tag der Versammlung. Jedenfalls scheint ihn Paulus als solchen zu kennen (l.Kor. 16,2). Und in den Evangelien ist dieser Tag der Tag der Auferstehung Jesu: Jesus starb an einem Freitag und wurde „am dritten Tag“ bzw. „nach drei Tagen“ auferweckt. Beide Ausdrücke sind gleichbedeutend und umspannen den Zeitraum von Freitag zum Sonntag (der erste und letzte Tag werden mitgezählt). Feste Formen des Gottesdienstes sind noch nicht zu erkennen, nur einzelne Bräuche. Grundsätzlich gilt die freie Regel Mt. 18,20: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich unter ihnen.“ Damit ist das entscheidende Element genannt, das den Gottesdienst konstituiert. Es ist dasselbe wie bei der Taufe: der Name Jesu, der diesen selbst repräsentiert. Darüber hinaus scheint große Freiheit geherrscht zu haben. Es gibt ja auch Erscheinungen, die sich nicht ohne weiteres in Vorschriften fassen lassen, so die Prophetie. Wenn ein Prophet vom Geist getrieben wird, reißt er das Wort an sich. Allerdings darf man sich das Bild der versammelten Gemeinde nicht so vorstellen, als sei diese ganz von Ekstasen beherrscht gewesen. Auch die Prophetie selbst muß sich nicht in ekstatischen Formen äußern. Sie ist u. a. nüchterne Anweisung, gültige Setzung von bindenden Anordnungen aus der Autorität des Geistes. Auf eine gewisse Ordnung, auch wenn diese noch nicht verfestigt ist, weist das Vorhandensein von Ämtern, die mit dem Gottesdienst zusammenhängen. Paulus zählt l.Kor. 12,28 drei auf, die offensichtlich auf die älteste Zeit zurückgehen: Apostel, Propheten, Lehrer. Das ist ein Hinweis auf wesentliche Inhalte der Versammlung. Sie schließt natürlich Gebete, Schriftlesung, Lehre, sei es mehr in der Form der Predigt, sei es mehr in katechetischer Form, in sich. Darin wirkt das Vorbild des jüdischen Syn© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

38

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

agogengottesdienstes nach, der ja Lehrgottesdienst ist (vgl. die Skizze Lk.4,16ff.). Aus der Frühzeit der Kirche stammen natürlich alle liturgischen Formeln, die sich in der hebräischen bzw. aramäischen Ursprache auch im griechischen Sprachraum hielten: das Amen, Halleluja, die Anrede Gottes als „Vater“ („abba“; Röm. 8,15), der Anruf an den erhöhten Herrn „maranatha“ (l.Kor. 16,22). Leider ist der Sinn dieses Rufes nicht eindeutig. Er kann übersetzt werden: „Unser Herr, komm!“ oder: „Unser Herr ist gekommen.“ Sein „Sitz im Leben“ macht es wahrscheinlich, daß er nicht als Feststellung gemeint ist, sondern als Bitte: „Komm!“ Dafür spricht auch Offb. 22,20, wo er ins Griechische übersetzt ist: „Amen, komm, Herr Jesu!“ Durch diese Stelle wird noch eine weitere Streitfrage beantwortet: Was bedeutet diese Bitte, der Herr möge „kommen“? Wird er damit zum jetzigen Kommen in die Gemeindeversammlung und zur Teilnahme an der Mahlzeit eingeladen, oder wird er gebeten, bald endgültig zu erscheinen und das Reich Gottes heraufzuführen? Nun ist es deutlich, daß das „maranatha“ mit dem Abendmahl zusammengehört l.Kor. 16,20-22 spielt Paulus auf einige Elemente der Liturgie an: den „heiligen Kuß“, das „Anathema“ (den bedrohenden Fluch, durch den die Ungläubigen vor Beginn der Mahlzeit hinausgewiesen werden), das maranatha. Dieses gehört also offenbar zum Beginn des Abendmahls, als dessen Eröffnung. Daraus ist aber nicht zu schließen, der Sinn sei: „Komm jetzt in unsere Mitte!“ Vielmehr lenkt gerade das Abendmahl den Blick auf die Ankunft des Herrn; daher wird er gebeten: „Komm!“, d.h.: „Komm bald!“ d) Schwierig ist es, das Wesen der gemeinsamen Mahlzeiten zu bestimmen. Man muß offenbar unterscheiden: a) Die Gemeinde feiert wirkliche Mahlzeiten; dadurch stellt sie ihre Gemeinschaft dar. Die Stimmung ist von der Freude auf die baldige Ankunft des Herrn beherrscht. Die Apostelgeschichte bezeichnet diese Mahlzeiten als „Brotbrechen“ (Apg. 2,42.46). Dieser Ausdruck ist aus der jüdischen Tischsitte abgeleitet. Die jüdische Mahlzeit wird damit eingeleitet, daß der Familienvorstand das Tischgebet spricht und ein Brot bricht. ß) Sie feiert das Mahlsakrament zum Gedächtnis des Todes Jesu. Durch die Spendung von Brot und Wein, die durch die Rezitation der Einsetzungsworte als Leib und Blut Christi dargereicht werden, erhalten die Gläubigen Anteil am Heilsgeschehen. Die später so heftig umstrittenen Fragen, wie sich Christus bzw. sein Leib und die Elemente Brot und Wein zueinander verhalten, werden noch nicht aufgeworfen. Konstitutiv ist jedenfalls die Handlung, der Akt als Spendung, nicht der substantielle Charakter der Elemente. Wie verhalten sich nun beide Mahlzeiten zueinander, das der Sättigung dienende Mahl der Gemeinschaft und die sakramentale Begehung? Sicher ist nur, daß zur Sakramentsfeier ursprünglich auch die Sättigung gehörte. Mit äußerster Vorsicht kann man aus einigen Andeutungen des Paulus in l.Kor. 11 erschließen, daß das Gemeindemahl (das Mahl zur Sättigung) ur© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Urgcmeinde

39

sprünglich durch die sakramentale Spendung des gebrochenen Brotes als des Leibes Christi eröffnet wurde. Dann folgte also das Mahl. Geschlossen wurde es mit dem „Segensbecher“ (l.Kor. 10,16); dieser Ausdruck ist jüdisch, stammt also aus der judenchristlichen Kirche. Die beiden sakramentalen Spendungen rahmten also die Mahlzeit ein. Ob es auch Mahlzeiten der Gemeinde ohne Sakramentsfeier gab, ist nicht bekannt. Exkurs. Heftig umstritten ist, ob sich die christliche Idee der sakramentalen Mahlzeit und ihre Gestaltung an außerchristliche Vorbilder anlehnt. Das Judentum kennt keine Sakramente. Ihm ist der Gedanke fremd, daß Essen und Trinken bestimmter geweihter Substanzen nach einem bestimmten Ritus die Gemeinschaft mit Gott herstellen. Doch gibt es bei den Juden Mahlzeiten mit religiöser Weihe, so vor allem das jährliche Passa-Mahl, zum Gedächtnis der Befreiung des Volkes aus der ägyptischen Knechtschaft. Die Christen haben ihr Abendmahl früh als Passamahl gedeutet: Christus ist als das wahre Passa-Lamm gestorben. Doch ist dies nicht die älteste Deutung von Tod Christi und Sakrament. Eine andere Hypothese lautet, die Christen haben feierliche Mahlzeiten jüdischer „Genossenschaften“ zum Vorbild genommen. Diese Genossenschaften existierten, nicht aber ein dem Abendmahl vergleichbarer Typ von Mahlfeiern. Neuerdings wird auf die Sekte von Qumran hingewiesen, die täglich zweimal ihre Mahlzeit mit Brot und „Most“ hält. Auch das ist nur eine äußere Ähnlichkeit. Wie steht es mit außerjüdischen Vorbildern? Sakramentale Riten sind damals verbreitet. Es gibt Feiern, bei denen man am Tisch des Gottes (natürlich: in seinem Tempel) sitzt und vom Gott bewirtet wird. Man kennt auch die Idee vom Genießen der Gottheit durch Essen der Opferspeise. Zwischen diesen Ideen und dem christlichen Sakrament besteht ein allgemeiner gedanklicher Zusammenhang. Aber für das inhaltliche Verständnis des Abendmahls ist er nicht ergiebig. Denn dessen Sinn wird nicht von den genossenen Substanzen her bestimmt, sondern von der Auslegung der Heilstat Christi.

e) Wie sich Wortgottesdienst und Abendmahlsgottesdienst zueinander verhalten, darüber wird viel diskutiert. Natürlich wird auch während der Mahlzeiten gelehrt; aber in welchen Formen? Offenbar gab es keine Regeln darüber. Und man kann zweifeln, ob es geschichtlich zutreffend ist, abstrakt zwischen Wort- und Sakramentsgottesdienst zu scheiden. Offenbar gab es beide Typen. Die Lehrversammlung war auch den Nichtchristen offen. Sie diente ja nicht nur der Erbauung, sondern auch der Mission. Das Mahl konnten nur Gläubige feiern. Aber man kann schwerlich behaupten, daß jede Versammlung in die Abendmahlsfeier einmündete. Auf den Stoff der Lehre sind noch einige Rückschlüsse möglich. In gewisser Weise gehört dazu auch das Gebet. Denn sein Inhalt ist nicht mystischerlebnismäßig. Es setzt klare Vorstellungen über das Gottesverhältnis voraus. Das Muster ist das Vaterunser, das in einer kurzen und einer langen Fassung überliefert ist (Lk. 11,2-4; Mt.6,9-13). Sein Stil zeigt Ähnlichkeiten mit dem jüdischen Hauptgebet, dem Achtzehn-Bitten-Gebet. Weitere Hinweise auf die Lehre bieten die Evangelien. Sie enthalten Sammlungen von Worten Jesu, die in der Art katechetischer Lehrstücke zusammengestellt sind, so vor allem die „Feldrede“ Lk. 6,20 ff., die von Matthäus zur „Bergpredigt“ ausgebaut wurde. Früh wurden die Hauptstücke der Lehre nach einem bestimmten Schema angeordnet: Die Lehre von den letzten Dingen bildete den Abschluß. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

40

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Das höchste Zeugnis für den geistigen Rang der Urgemeinde ist die Denkund Überlieferungsarbeit, die später in den Evangelien ihren Niederschlag fand. Sie stellt das größte Rätsel in der urchristlichen literarischen Überlieferung überhaupt dar. Oben (S.30 ff.) war festzustellen, daß der Blick der Gläubigen auf den Erhöhten gerichtet war, dessen „Ankunft“ sie erwarteten, und daß die Hoffnung darauf sich auf das Vertrauen zum geschichtlichen Heilswerk, Tod und Auferstehung Jesu, gründete. So fassen ja die alten Formeln den Glauben zusammen. Welche Bedeutung hat aber die Erinnerung an die Person Jesu, seine Lebensweise, seine Wunder, seine Begegnungen mit Freunden, Gegnern, seine Lehre, seine kritischen Auseinandersetzungen etwa mit den Schriftgelehrten? Für Paulus und fast die gesamte Theologie, die ihm folgt, überhaupt keine! Die gesamte Bedeutung Jesu liegt hier in Tod und Auferstehung. Daneben stehen aber die Evangelien. Auch in ihnen bildet das Heilswerk das Kernstück des Glaubens. Das zeigt schon der äußere Umfang der Passions- und Ostergeschichte. Aber in das Heilswerk beziehen sie nun die Taten und Lehren Jesu ein. Wo ist diese Überlieferung gesammelt, gesichtet, gepflegt und geistig angeeignet worden? Man weiß es nicht. Man kann aber mit methodischer Behutsamkeit das abzuheben versuchen, was Spuren der denkenden Verarbeitung in der Gemeinde zeigt. Hinweise liegen etwa darin, daß Worte Jesu auf Probleme der Gemeinde bezogen werden, z.B. besteht Interesse an der Auseinandersetzung mit den Regeln des jüdischen Gesetzes (Sabbat) und der Frömmigkeit (Fasten). Jedenfalls, die Leistung dieser namenlos gebliebenen Tradenten liegt vor. Der Historiker Eduard Meyer urteilt: Nach dem äußeren Erfolg gemessen reiche Paulus' Wirksamkeit viel weiter; aber an geistiger Bedeutung komme er, trotz oder vielmehr wegen seiner theologischen Bildung, an die Urgemeinde nicht heran. Man wird dem liberalen Gelehrten dieses Urteil über Paulus nicht einfach nachsprechen; es ist durch die liberale Abneigung gegen die Theologie bestimmt. Aber für die Urgemeinde trifft es zu. Meyer weist mit Recht auf den Rang von Schöpfungen wie der Versuchungsgeschichte und der Passionsgeschichte hin. Stellt man die Elemente der Liturgie zusammen und vergleicht man sie mit dem Gottesdienst späterer Zeiten, so erscheinen die Formen als sehr einfach. Aber die Urgemeinde hatte nicht nur andere Sorgen als den Aufbau einer Liturgie. Sie barg in sich ungeheure Energien, die nicht in feste Formen zu fesseln waren (das Vorbild für solche wäre ja in der jüdischen Liturgie vorhanden gewesen). Ihre Vitalität dokumentiert sich äußerlich in der Ausbreitung der Kirche. Wenige Jahre nach Jesu Tod bestehen Gemeinden nicht nur in Jerusalem und Judäa, Galiläa, in Syrien (Damaskus), sondern auch in Samaria; d.h. die Gemeinde hat früh die Hürde überwunden, welche zwischen jüdischer Orthodoxie und samaritanischer Häresie bestand. Darüber hinaus entwickelt sie sich rasch an der Mittelmeerküste entlang bis Antiochia. Aber diese Entwicklung führt bereits in eine zweite Phase der Geschichte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Urgemeinde

41

f) Auf einem bestimmten Gebiet ist das herkömmliche Bild von der Urgemeinde besonders fest umrissen - und gerade hier ist alles offen: Wie war sie organisiert? Die traditionelle Vorstellung ist: An der Spitze stehen die zwölf Apostel (zwölf! Zwar war der Verräter Judas aus dem Kreis ausgeschieden; aber Apg. 1 erzählt, daß für ihn ein Ersatzmann durch das Los bestimmt wurde). Unter ihnen stehen die Ältesten (Apg. 11,30; 15,6; 16,4); dazu treten die Diakone (Apg. 6). Schließlich besteht - als demokratisches Element - die Gemeindeversammlung. Daß diese - auf das Votum eines Apostels (oder auch einer Mehrzahl) hin - entscheidet, ist das Bild in Apg. 1,15-26; 6,1-6. Die Dreiheit Apostel, Älteste, Gemeinde ist Apg. 15,22 angeführt. Dieses Bild ist geschlossen - aber es ist wieder einmal nur ein Bild. Schon innerhalb der Apostelgeschichte bestehen Unstimmigkeiten. Zwar ist es ziemlich sicher, daß es in Jerusalem Älteste gab - aber seit wann? Wie fügt sich in dieses Bild Jakobus, der Bruder Jesu, der nicht zum Kreis der Zwölf gehört? Wie verhalten sich zu den Zwölfen die drei „Säulen“, von denen zwei zugleich Mitglieder des Zwölferkreises sind, also: Petrus, Johannes und dazu Jakobus (Gal.2,9)? Merkwürdig ist auch, daß in den Evangelien eine Gruppe von drei engsten Vertrauten Jesu auftritt: Petrus und das Brüderpaar Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus. Im Bild der Apostelgeschichte tritt dieser Kreis in der Gemeinde nicht in Erscheinung. Und doch muß der Zebedaide Jakobus wenigstens ein Jahrzehnt lang eine Rolle gespielt haben. Denn er wird im Jahre 43 verhaftet und hingerichtet. Das Hauptproblem stellt aber die Gruppe der „zwölf Apostel“. Zunächst ist daran zu erinnern, daß zwischen den Zwölfen und den Aposteln zu unterscheiden ist. Ihre Identifizierung ist eine spätere Idee. Aber auch die geschichtliche Rolle der Zwölf ist nicht zu fassen. Nicht einmal die Namen stehen völlig fest (s.dazu Anhang I S. 130f.).Uber ihre Tätigkeit wird kaum etwas Greifbares erzählt. Nach Apg. 6,1 ff. war ihre Aufgabe die Verkündigung und Lehre. Aber das ist eine späte Konstruktion. Sie verschwinden mit Ausnahme des Petrus aus der Geschichte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nur Petrus (und Johannes? Apg.8, 14ff.) scheint Jerusalem verlassen zu haben, um zu missionieren (bzw. zu beaufsichtigen): l.Kor.9,5; Gal. 2,11 ff.; vor allem Gal. 2,7 f. Wenigstens weiß man von keinem anderen der Zwölf etwas. Und schließlich entschwindet auch Petrus aus dem Blickfeld. Besonders auffallend ist: In seinem einigermaßen ausführlichen Bericht über das Apostelkonzil (Gal. 2), wo Paulus mit den Vertretern der Urgemeinde doch über Grundsatzfragen verhandelt, erwähnt er die Zwölf überhaupt nicht, sondern nur die drei „Säulen“. Sie sind seine Verhandlungspartner und vertreten offenbar die Gemeinde. Daraus ist zu schließen, daß jener Kreis um das Jahr 48 (oder 44?; zur Chronologie s.o.S.20) nicht mehr bestand. Aber. Wohin hat er sich aufgelöst? Wie kam es dazu, daß an seine Stelle der kleinere Kreis der Drei trat? Übrigens ist es allzu fein, aus der Reihenfolge, in der Paulus die drei aufzählt, noch auf Abstufungen im Rang innerhalb des Kreises zu schließen. Paulus nennt Jakobus an erster Stelle, aber nicht, weil er der Vorsitzende gewesen wäre, sondern weil er als der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

42

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Vertreter der strengen judenchristlichen Richtung der wichtigste Verhandlungspartner war, wenn es um die Freiheit der Heidenchristen vom Gesetz ging. In Galatien versuchte man ja auch, Jakobus gegen Paulus auszuspielen. Daher betont dieser: Jakobus hat die Freiheit anerkannt. So besteht kein Zweifel mehr, daß jene Vereinbarung allgemein gilt. Zu einer noch späteren Zeit ist dann nur noch Jakobus da. Er ist zum anerkannten Leiter der Gemeinde geworden. Apg. 21,15 ff. vertritt er diese zusammen mit den Ältesten. Wieder liegen aber alle Einzelheiten im Dunkel. Darf man annehmen, daß er es war, der das Kollegium der Ältesten organisierte? An die Person und Laufbahn des Jakobus werden weitgehende Hypothesen geknüpft: Im Gegensatz zu den Zwölf vertrete er ein dynastisches Prinzip, die Spitzenstellung der Familie Jesu. Nun haben in der Tat nach dem Tod des Jakobus Angehörige dieser Familie die Leitung der Gemeinde in der Hand. Wie steht es aber zu Lebzeiten des Jakobus? Eine einzige Notiz im Neuen Testament deutet an, daß die Brüder Jesu wie die „Apostel“ und Kephas Mission treiben, also nicht in Jerusalem Familienpolitik treiben. Aus späterer Zeit überliefert der Kirchenhistoriker Euseb einige Nachrichten, die im Zusammenhang mit dem Tod des Jakobus und des weiteren Schicksals der Urgemeinde (in der Zeit des Jüdischen Kriegs) zu besprechen sein werden. Um schon für Jakobus einen dynastischen Gedanken zu behaupten, dafür fehlen die Quellen und dagegen spricht das wenige über ihn Bekannte. Kann man von der Organisation der Gemeinde von Qumran, die durch ihre Dokumente gut bekannt ist, auf die Urgemeinde schließen? Dort ist z.B. vorgeschrieben („Sektenregel“ Sp.8): „Im Rat der Gemeinde sollen zwölf Männer sitzen und drei Priester.“ Aber von da her fällt kein Licht auf die christliche Gemeinde. Hätte diese die Ordnung von Qumran vor Augen, dann hätte ein Kreis von zwölf Männern gerade bestehen bleiben müssen. Aber er verschwindet ja. Gremien von zwölf und drei Mitgliedern sind einfach typisch. In der Urgemeinde fehlt das, was für Qumran grundlegend ist: die strenge Einteilung der Mitglieder in Rangklassen, die Definition der Pflichten und Rechte innerhalb dieser, z.B. die peinlich genaue Regulierung der Sitzordnung bei den Versammlungen und Mahlzeiten. Es ist kein Zufall, daß die Quellen von der Organisation der Urgemeinde so wenig überliefern. Sie findet ihr Wesen nicht in der äußeren Verfassung dargestellt, sondern in der Erfüllung ihres Auftrags, in der Mission. So sind ja auch die Zwölf weniger ein Regierungsgremium als die symbolische Darstellung des Wesens der Kirche als des Gottesvolkes der Endzeit. 3. Gruppen und Strömungen Die Gemeinde wird durch den gemeinsamen Glauben zusammengehalten. Aber innerhalb dieses Rahmens besteht ein gewisser Spielraum. In der Apostelgeschichte zeichnet sich eine Sondergruppe ab, die „Hellenisten“ (Apg. 6). Später gibt es beim Apostelkonzil Meinungsverschiedenheiten: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Urgemeinde

43

Eine Gruppe verlangt, daß sich auch die ehemaligen Heiden beschneiden lassen müssen (Gal.2,4; Apg. 15,5). Auch nach dem Konzil ist die Stellung zu den Heidenchristen nicht einheitlich. Anhänger des Jakobus verfechten in Antiochia einen rigorosen Standpunkt, freilich nicht mehr für die Heidenchristen, sondern für die Judenchristen: Diese dürfen mit den Heidenchristen keine Tischgemeinschaft pflegen. Wer sind diese „Hellenisten“? Welche Rolle spielen sie? Auch diesmal muß man versuchen, den geschichtlichen Tatbestand unter einer Schicht von Übermalung freizulegen. Die Hellenisten sind Judenchristen griechischer Muttersprache. Sie stammen offenbar aus der Diaspora und sind nach Jerusalem gezogen (wenn nicht schon ihre Vorfahren). Das kam häufig vor und braucht bei der damaligen breiten Fluktuation der Bevölkerung nicht zu verwundern, zumal bei Juden religiöse Beweggründe mitspielten. In Jerusalem gab es Synagogen solcher Diasporajuden; das geht aus Apg. 6,9 und aus Nachrichten im Talmud hervor. In Jerusalem wurde eine griechische Inschrift gefunden, die von einer Synagoge stammt. Es kommt nun zu Auseinandersetzungen zwischen den Hellenisten und der übrigen Gemeinde. Nach der Apostelgeschichte sind sie allerdings ziemlich harmlos: Bei der Versorgung der Witwen durch die Gemeinde werden die hellenistischen Witwen übergangen (nebenbei: Dieses Bild von der Armenversorgung paßt nicht zu einer Gütergemeinschaft, sondern zeigt eine organisierte Caritas). Die Hellenisten protestieren, und die Sache wird rasch in Ordnung gebracht. Der Mißstand rührte einfach daher, daß die Zwölf mit ihrer Doppelaufgabe, Predigt und Diakonie, überlastet waren. Daher wird die Organisation erweitert. Die Zwölf konzentrieren sich auf den „Dienst des Wortes“. Der „Tischdienst“, d.h. die Fürsorge, wird einem Kreis von sieben Männern übertragen. Der Schaden ist behoben, die Eintracht wiederhergestellt, und das Vorbild des späteren Diakonenamts ist geschaffen. So die Apostelgeschichte. Das scheint auf den ersten Blick ein glatter Bericht zu sein; auf den zweiten entdeckt man, daß er schon in sich nicht konsequent ist: Selbst wenn die Zwölf überlastet waren, wieso werden nur die hellenistischen Witwen - und sie insgesamt- übersehen? Man muß dann schon annehmen, daß die Hellenisten einigermaßen abseits von der übrigen Gemeinde lebten. Ferner fällt auf, daß alle sieben Armenpfleger griechische Namen tragen (Apg. 6,5); einer ist ein Proselyt aus Antiochia. Sind sie also alle Hellenisten? Zwar sind auch in Palästina griechische Namen verbreitet (vgl. aus dem Kreis der Zwölf Andreas, Philippus); aber daß sich in einer ganzen Gruppe kein einziger nicht-griechischer findet, ist doch bemerkenswert. Dieser Tatbestand führt zur nächsten Frage: Warum wählte man für diesen Zweck nur Hellenisten und nicht, wie es der Sache entsprochen hätte, einen gemischten Kreis? Diese Frage kann nicht beantwortet werden, wenn man Apg. 6,1-6 einfach als getreuen Geschichtsbericht nimmt. Vor allem wird dann auch die Fortsetzung der Erzählung unbegreiflich. Denn jetzt wendet sie sich dem hervorragendsten Mitglied der Gruppe zu, Stephanus. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

44

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Von ihm wird nun keineswegs, wie das zu erwarten wäre, außerordentliche karitative Tätigkeit erzählt. Er ist als Wundertäter und vor allem als wortund geistgewaltiger Missionar und Diskussionsredner dargestellt. Er versieht also den „Dienst des Wortes“, der doch soeben den Zwölfen zugewiesen wurde. Hier erscheint offenbar die geschichtliche Wirklichkeit: Stephanus und seinen Kreis trifft ja die Verfolgung - natürlich nicht, weil sie für die Witwen sorgten, sondern weil sie durch ihre missionarische Aktivität und die besonderen Konturen ihrer Lehre der Öffentlichkeit ins Auge stachen. Das wird durch eine weitere Tatsache bestätigt: Nach der Verfolgung der Hellenisten ist ein weiteres Mitglied des Siebenerkreises einer der bedeutendsten Missionare, Philippus (Apg. 8). Er zeichnet sich so aus, daß man ihn als „den Evangelisten“ bezeichnet (Apg.21,8). Seine Töchter besitzen die Prophetengabe (Apg. 21,9). Es ist deutlich: Die Sieben sind nicht Armenpfleger, sondern das leitende Gremium einer besonderen Gruppe der Gemeinde; sie stehen nicht unter, sondern neben den Zwölfen. Wenn sie in der Öffentlichkeit Anstoß erregen, muß das mit Besonderheiten ihrer Lehre zusammenhängen. Von dieser sind leider wohl keine originalen Dokumente erhalten. Zwar hält Stephanus vor Gericht eine große Rede (Apg. 7). Aber diese kann nur mit großen Einschränkungen als Quelle für die Anschauungen der Hellenisten benutzt werden. Es ist zwar wahrscheinlich, daß sie von Lukas nicht frei entworfen wurde, sondern daß er eine ältere Quelle benutzte, die irgendwie aus der hellenistischen Tradition stammt. Aber auch dann hat man noch keine sichere Basis. Diese ältere Rede ist keine thematische Darstellung der christlichen Lehre, sondern ein Abriß aus Teilen der Geschichte Israels unter bestimmten, begrenzten Gesichtspunkten. Als zuverlässigen Kern der Überlieferung wird man ansehen dürfen, daß die Hellenisten in anderer Weise als die Zwölf Kritik am mosaischen Gesetz und am Tempelkult übten (Apg.6,13f.). Vielleicht beriefen sie sich dafür auf die Kritik Jesu an den jüdischen Satzungen und an der Verkehrung des Kultes zum Kult-Betrieb. Ihnen wurde also deutlicher und schneller als der übrigen Gemeinde bewußt, daß der Glaube Konsequenzen für das Gesetz nach sich zog. Diese Anfänge der Reflexion über das Gesetz werden durch ihr Verhalten nach ihrer Vertreibung aus Jerusalem bestätigt: Jetzt nehmen sie Heiden in die Kirche auf, ohne ihnen das Halten des jüdischen Gesetzes zur Pflicht zu machen. Wieder einmal muß die Darstellung der Apostelgeschichte berichtigt werden. Nach ihr war es Petrus, der als erster Heiden in die Kirche aufnahm (Apg. 10). Zwar sagt Lukas nicht ausdrücklich, daß sie vom Gesetz frei blieben. Aber er deutet es an: Bevor Petrus das heidnische Haus betritt, wird er durch eine Vision belehrt, daß die jüdischen Bestimmungen über Rein und Unrein nicht gelten, ja, dem Wesen Gottes als des Schöpfers aller Lebewesen widersprechen. Und Petrus tauft die Heiden - wieder auf einen Wink vom Himmel hin - , ohne sie zu beschneiden. Das ist die Voraussetzung der anschließenden Debatte in Jerusalem. Dieser Bericht entspricht dem Geschichtsbild der Apostelgeschichte, nach dem alle Initiative, also auch die zur © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Urgemeinde

45

gesetzesfreien Mission, von Jerusalem ausgehen und sanktioniert werden muß. Aber an anderen Stellen finden sich Spuren, daß in Wirklichkeit Angehörige des Hellenistenkreises die ersten Schritte zur Heidenmission taten: Vor Petrus missioniert Philippus an der Mittelmeerküste (Apg. 8,40). In dem Abschnitt Apg. 11,19-30 stecken wertvolle, alte Nachrichten, aus denen hervorgeht, daß in Antiochia die erste große aus Juden und Heiden gemischte Gemeinde entstand. Diese ist nicht mehr an das Gesetz gebunden. Und zwar sind augenscheinlich nicht nur die Heidenchristen davon frei; auch die Judenchristen lösen sich aus seinen Bindungen, nicht nur in Antiochia. Das kann aus der Biographie des Paulus erschlossen werden. Dieser erklärt im Galaterbrief (1,14), daß er die Christen (Judenchristen!) aus Eifer um die väterlichen Überlieferungen verfolgt habe. Die Christen, mit denen er es zu tun hatte, hatten sich also von diesen emanzipiert, natürlich nicht vom Gott Israels und nicht von den sittlichen Geboten, aber offenbar von den kultischen Vorschriften und kasuistischen Satzungen. Es wird sich zeigen, daß nur aus der Annahme, daß schon vor Paulus ein gesetzesfreies Judenchristentum bestand, der Inhalt seiner Bekehrung verständlich wird. Zurück zur Lage in Jerusalem! Auf das Denken der dortigen Gemeinde hatten die Hellenisten keinen nachwirkenden Einfluß. Sie wurden bald aus der Stadt vertrieben und blieben endgültig draußen. Aber ihrerseits wahren sie den Zusammenhang mit der Mutterkirche, und zwar sowohl den äußeren als auch einen ideellen. Den äußeren zeigen die engen Beziehungen zwischen Jerusalem und der wichtigsten Gründung der Hellenisten, Antiochia. Der ideelle dürfte im Kirchengedanken des Lukas nachwirken: Jerusalem als der Ort der Auferstehung Christi ist nicht nur der geschichtliche Ursprungsort, sondern der ideale Vorort der Kirche. Eine wichtige Rolle als Vermittler des Zusammenhalts der neuen mit der alten Gemeinde, der Anerkennung der Heidenmission und Gesetzesfreiheit scheint Barnabas gespielt zu haben. Er war ein hellenistischer Jude aus Cypern, wird aber nicht als Mitglied des Hellenistenkreises genannt. Seine Bedeutung muß weit größer gewesen sein, als die wenigen erhaltenen Notizen über ihn aussagen. 4. Die Stellung der Kirche in der Öffentlichkeit „Die Öffentlichkeit“ ist zunächst die jüdische in Jerusalem. Obwohl Südpalästina römische Provinz war und Jesus vom römischen Statthalter verurteilt wurde, scheinen sich die römischen Behörden nach der Hinrichtung Jesu um die christliche Bewegung nicht gekümmert zu haben. Das ist nicht verwunderlich. Pilatus sah in Jesus schwerlich eine politische Gefahr. Er verurteilte ihn aus Opportunität, nicht aus Überzeugung, und er wird damit die Sache als erledigt angesehen haben. An religiösen Auseinandersetzungen hatten die Römer kein Interesse, solange nicht die öffentliche Ruhe in einem Umfang gestört wurde, daß die lokalen Instanzen die Lage nicht mehr beherrschten. Wie verhalten sich die jüdischen Behörden? Der Eindruck ist: Offenbar können sich die Christen, abgesehen von dem Schlag gegen die Hellenisten, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

46

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

in der Stadt nicht nur halten, sondern auch ausbreiten, und zwar bis zum Jüdischen Krieg (66 n. Chr.). Einzelne Aktionen kommen vor, und die Gefahr lauert ständig. Sie spiegelt sich in Worten der Evangelien (Mk.13,9). Einige Jahre nach Stephanus erleidet der Zebedaide Jakobus das Martyrium. Petrus verschwindet aus der Stadt - weil er bedroht ist? Aber trotz dieser Schläge kann die Gemeinde bis zum Tod des Herrnbruders Jakobus und zu den Wirren des Jüdischen Kriegs bleiben. Eine Konsequenz im Verhalten der jüdischen Behörden ist kaum zu erkennen. Die Hinrichtung des Jakobus Zebedäi fällt in die kurze Herrschaftszeit Agrippas I., der sich betont als jüdischer Eiferer aufspielte. Nach Apg.9, lf. hätte der Hohe Rat auch über Palästina hinaus eingegriffen. Er schickt Saulus mit Vollmacht nach Damaskus. In Wirklichkeit besaß er in dieser Stadt keine offiziellen Befugnisse, und Saulus kam wohl gar nicht von Jerusalem aus dorthin. Aber natürlich ist es möglich, daß die höchste jüdische Behörde das Ansehen, das sie in der ganzen Judenschaft besaß, auch in der Diaspora einsetzte und in den Synagogen Disziplinarmaßnahmen veranlaßte wie etwa das Auspeitschen (die 39 Schläge). Paulus wurde mindestens fünfmal ausgepeitscht (2.Kor. 11,24). Von ersten Aktionen gegen die Christen handeln Apg.4-5. Sie richten sich begreiflicherweise gegen führende Männer. Die Einzelheiten sind nicht mehr festzustellen. In die Erzählung sind Legendenzüge (von einer wunderbaren Befreiung der verhafteten „Apostel“) eingeflossen. Die beiden Berichte in Apg.4 und 5 sind einander so ähnlich, daß man vermuten kann, sie handeln - in zwei Fassungen - vom selben Ereignis, einmal als einem Verhör des Petrus und Johannes, einmal aller „Apostel“. Wiederholt erscheinen die Pharisäer als den Christen freundlich gesonnen. Apg.5,34 werden sie durch den Schriftgelehrten Gamaliel (I.) vertreten; nach Apg. 22,3 wäre dieser der Lehrer des Saulus gewesen. Freilich würden dann das Verhalten des Lehrers und des Schülers schlecht zusammenpassen. Das Bild des Lukas ist davon beeinflußt, daß für ihn die Pharisäer und die Christen durch den gemeinsamen Glauben an die Auferstehung der Toten verbunden sind (Apg.23,6 ff.). Daß diese Übereinstimmung bestand, ist richtig. Eine andere Frage ist, ob sie die Einstellung der Pharisäer zu den Christen bestimmte. Maßgebend war für sie doch die Stellung zum Gesetz. Darum wird der Pharisäer Saulus zum Verfolger. Zwar löste sich die in Jerusalem gebliebene Gemeinde noch nicht von den jüdischen Satzungen. Aber die jüdische Öffentlichkeit muß doch bemerkt haben, daß sich auch an diesem Punkt neue Entwicklungen anbahnten. Es ist kein Zufall, daß Agrippa L, der eine Frömmigkeit pharisäischen Stils zur Schau stellte, besonders scharf vorging, Jakobus hinrichten und Petrus verhaften ließ (Apg. 12). Daß die Sadduzäer den Christen feind waren, liegt ebenfalls nahe. Sie lehnen den Glauben an eine Auferstehung ab und neigen zur rigorosen Handhabung des Strafrechts. Später läßt ein sadduzäischer Hoherpriester den Herrenbruder Jakobus hinrichten (s. u. S.138). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Urgemeinde

47

Der nächste Schlag, den die Apostelgeschichte nach den Verhören der Kap. 4-5 berichtet, trifft nach ihrer Darstellung die ganze Gemeinde, in Wirklichkeit aber nur die Gruppe der Hellenisten. Der Zeitpunkt läßt sich nicht errechnen. Terminus ante quem ist die Bekehrung des Paulus, ca. 32-35. Denn diese setzt bereits die hellenistische Mission außerhalb Jerusalems voraus. Die Apostelgeschichte konzentriert die Verfolgung auf die Person des Stephanus, des ersten Märtyrers, und nachher auf Saulus als den Haupt-Verfolger. Liest man das Martyrium des Stephanus, so hat man einerseits den Eindruck eines Volkstumults mit Lynchjustiz, andererseits den einer offiziellen Gerichtsverhandlung mit Todesurteil und Exekution: Bei der Steinigung des Stephanus sind Zeugen anwesend. Das entspricht den Bestimmungen des Strafrechts. Steinigung ist die normale jüdische Strafe für Gotteslästerung. Die Forschung versucht nun, den wahren Hergang an Hand der jüdischen Strafprozeßordnung zu ergründen, die in der Mischna im Traktat Sanhedrin niedergelegt ist. Doch gelingt eine Aufhellung nicht mehr. Denn das Schillern des lukanischen Berichts beruht auf Absicht: Die höchste Behörde benimmt sich wie eine Bande und spricht dem wahren Recht Hohn. Daß Saulus/Paulus bei der Hinrichtung anwesend war (so Apg.7,58), dürfte eine sekundäre Kombination sein. Wegen Gal. 1,22 kann man fragen, ob er sich vor seiner Bekehrung überhaupt in Jerusalem aufhielt. Nach der Vertreibung der Hellenisten scheint zunächst Ruhe eingekehrt zu sein. Die Zwölf (nachher die drei „Säulen“) und das Gros der Gemeinde leben nach wie vor in der Stadt. Das geht auch aus dem Galaterbrief hervor: Paulus besucht zwei Jahre nach seiner Bekehrung dort den Petrus und trifft dabei auch Jakobus (den Bruder Jesu). In den Jahren 41-44 war Judäa nicht römische Provinz. Der Kaiser Claudius hatte dieses Gebiet dem Herodianer Agrippa I. (Apostelgeschichte: „Herodes“) übergeben, der schon früher Teile von Palästina von Caligula bekommen hatte. Sein Vorgehen gegen Jakobus den Zebedaiden ist schon oben erwähnt. Apg. 12,3 begründet es damit, daß sich Agrippa bei den Juden beliebt machen wollte. Das paßt zum sonstigen Bild seiner Politik. Die Dynastie der Herodianer galt den Juden als nicht echt jüdisch. Herodes der Große stammte aus Idumäa, dem alten Edom. Außerdem hatte er einen üblen Ruf hinterlassen. Sein Sohn Archelaus, der Judäa erbte, war so verhaßt, daß die Juden seine Absetzung durch Augustus betrieben und auch erreichten. Agrippa I. versuchte nun, sein Ansehen zu verbessern, u.a. durch Förderung des jüdischen Kults. Im Ausland gab er sich als hellenistischer Weltmann. Bald nach der Hinrichtung des Jakobus starb Agrippa (44 n.Chr.), nach Apg. 12,23 wurde er wegen seiner Hybris von Gott geschlagen: Er habe sich als Gott feiern lassen. Ähnliches berichtet auch der jüdische Historiker Josephus (Beilage 1). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

48

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Wieder kehrte Ruhe ein. Einige Jahre später konnte das „Apostelkonzil“ stattfinden (Gal.2; Apg. 15). Allerdings nehmen manche Forscher an, dieses habe bereits zu Lebzeiten Agrippas (vor der Aktion gegen Jakobus und Petrus) stattgefunden. Diese Annahme wird gelegentlich noch durch eine weitere ergänzt: Mit Jakobus sei damals auch sein Bruder Johannes umgekommen. Das wäre ein weiterer Beweis dafür, daß das Konzil zu diesem früheren Zeitpunkt stattfand; denn beim Konzil war Johannes noch anwesend (Gal.2,9). Die These vom Märtyrertod des Johannes zu dieser Zeit stützt sich auf Mk. 10,39. Dort prophezeit Jesus beiden Zebedaiden den Tod. Das ist sicher eine zurückdatierte Weissagung (vaticinium ex eventu). Aber es steht nicht da, daß beide Brüder gleichzeitig umkommen. Und das Schweigen der Apostelgeschichte über den Tod des Johannes wäre kaum zu erklären. Das Datum des (Märtyrer)Todes des Johannes bleibt unbekannt. Das Martyrium des anderen Jakobus gehört bereits in die Vorspiele des Jüdischen Krieges. Daß trotz der Zeiten der Ruhe in der Kirche das Bewußtsein herrschte, das Schwert hänge über ihr, scheint in den Evangelien da und dort durch. Sie sieht in dieser Bedrohung und den Ausbrüchen der Gewalt die Wehen der Endzeit (Mk. 13).

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Ausbreitung bis zum Apostelkonzil

49

V.KAPITEL

Die Ausbreitung bis zum Apostelkonzil Über die Zahl der Christen in Jerusalem gibt die Apostelgeschichte einige Zahlen, die nicht realistisch sind: Die Gemeinde soll mit einem Schlag auf dreitausend Mitglieder gewachsen sein (am Pfingsttag, 2,41), dann auf fünftausend, und soll unaufhörlich weiter zugenommen haben (5,14; 6,7). Apg. 21,20, in den fünfziger Jahren, sind es dann bereits viele Zehn tausende. Diese Daten dürfen nicht statistisch ausgewertet werden. Sie sollen das Wunder eindrücklich machen, daß hier der Herr selbst am Werk ist. Jerusalem hatte damals etwa zwanzigtausend Einwohner! Für die äußere Geschichte der Kirche bleibt die Apostelgeschichte die Hauptquelle. Dazu kommen einige Stellen in den Briefen des Paulus und einige geographische Notizen in den Evangelien, in denen sich offenbar die Ausbreitung des Christentums spiegelt, z.B. Mk.3,7 f.: Die Leute kommen zu Jesus aus Galiläa, Judäa, Jerusalem, Idumäa, Peräa, Phönizien. Damit deutet der Evangelist an, daß es in diesen Landschaften zu seiner eigenen Zeit Christen gibt. Interessant ist, wie die anderen Evangelisten den geographischen Horizont verschieben. Matthäus (4,24 f.) übergeht Idumäa und Phönizien, also den äußersten Süden von Palästina und das Gebiet an der Mittelmeerküste. Dafür fügt er die Dekapolis ein, das Gebiet eines Bundes von hellenistischen Städten; es liegt zum größten Teil im Ostjordanland. So stellt er eine Brücke zwischen Galiläa und Peräa her. Zur Zeit Jesu (nicht zur Zeit des Matthäus) gehörten Galiläa und Peräa dem Herodes Antipas. Die Dekapolis trennte sie. Matthäus nennt außerdem noch Syrien. Er blickt also auf die Gemeinden im nordöstlichen Binnenland. Lukas dagegen verlegt das Blickfeld an die Küste (Lk.6, 17). Für die Zeit, in der die Evangelisten schreiben, darf man diese Daten einfach addieren und hat dann ein gewisses Bild von der Streuung christlicher Gemeinden in Palästina und der Umgebung. Aus den Evangelien läßt sich auch einiges über die Form der Mission ersehen. Die „Aussendungsreden“ Mt. 10 und Lk.9 und 10 enthalten Instruktionen für Missionare in der Form von Anweisungen Jesu. Dabei gibt Lukas zu verstehen, daß in der Kirche heute andere Bedingungen herrschen als während des Lebens Jesu. Merkwürdig ist ein Wort, das nur bei Matthäus steht (10, 5 f.): Hier werden die Missionare grundsätzlich auf das Gebiet Israels eingeschränkt. Hat hier Matthäus das Programm einer streng judenchristlichen Gruppe aufbewahrt, die den Heiden das Heil absprach? Eine andere Erklärung ist: Diese Gruppe schließt die Heiden nicht vom Heil aus. Aber sie erwartet, wie Jesus, daß Gott selbst am Weltende die Heiden sammeln werde. Vorher muß Israel - nur dieses - in den Gehorsam gerufen werden. Bei beiden Erklärungen fragt man sich freilich, wieso Matthäus 4

Conzelmann, Geschichte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

50

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

dieses Programm in sein Buch aufnahm. Denn er selbst teilt es weder so noch so. Er schließt sein Buch ja mit dem Missionsbefehl des Auferstandenen: „Geht, macht alle Völker zu Jüngern!“ So bleibt ein weiterer Erklärungsversuch: Diese Forderung, nur Israeliten aufzusuchen, stellt die Geschichtsanschauung des Matthäus dar: Israel ist in der Tat das erwählte Volk. An dieses wendet sich Jesus. Wenn es ihn ablehnt, dann wird nach seinem Tod der „Weinberg“ „einem anderen Volk“ übertragen (Mt.21, 41.43). Dann wäre dieses Wort nicht ein Dokument einer judenchristlichen Sondergruppe, sondern gerade des Universalismus des Matthäus. Es diente dazu, dem Leser den Weg des Evangeliums aus Israel in die Welt zu zeigen. Die Missionare haben das Recht auf Unterhalt durch die Gemeinden (l.Kor.9). Später, im 2. Jahrhundert, gibt die „Didache“ (Kap. 11) detaillierte Anweisungen gegen Leute, die dieses Recht mißbrauchen (Beilage 11a). Früh gibt es in Judäa Gemeinden auch außerhalb Jerusalems. Der l.Thessalonicherbrief (geschrieben um 50) erwähnt solche (2,14). Die Apostelgeschichte erwähnt sie summarisch (1,8; 8,1). Sie weiß vor allem von den Gemeinden im Küstenland: Lydda, Joppe, Asdod (8,40); die bedeutendste war offenbar die in Cäsarea, der Residenz des römischen Statthalters. Zwischen Jerusalem und den Neugründungen scheint ein ständiger Verkehr geherrscht zu haben. Eine übergreifende Organisation gab es natürlich noch nicht. Für eine solche fehlten die Voraussetzungen. Es gab Autoritäten. Aber die Rechte und Pflichten der Gemeinden in ihrem gegenseitigen Verhältnis werden noch nicht rechtlich definiert. Es gibt keine Ressorts für eine Leitung, die alle Gemeinden überspannt hätte. Träger der Mission außerhalb Jerusalems waren vor allem die vertriebenen Hellenisten. Die Mission in der Küstenebene und in Samaria ist mit dem Namen des Philippus verknüpft. Dann tritt nach der Apostelgeschichte auch Petrus dort auf. Daß er erst nach Philippus kam, trifft ohne Zweifel zu. Denn wenn er diese Gemeinden gegründet hätte, wäre sein Name nicht von dem des Philippus verdeckt worden. Daß man Samaritaner, also nach strengem jüdischem Urteil Ketzer, nicht nur einzeln und gelegentlich aufnahm, sondern daß in Samaria Gemeinden entstanden und anerkannt wurden, zeigt, daß in der praktischen Einstellung zum Gesetz eine gewisse Großzügigkeit herrschte. Gewiß war man sich über die Samaritanermission nicht überall und von vornherein einig. Es müssen sich verschiedene Stimmen erhoben haben. Sie sind zum Teil noch aus der Überlieferung herauszuhören. Schwer zu beurteilen ist in dieser Hinsicht Apg.8: Philippus tauft die Neubekehrten in Samaria; aber den Getauften bleibt der Geist vorenthalten. Sie empfangen ihn erst, als Petrus und Johannes kommen, als also das Werk des Philippus von Jerusalem sanktioniert wird. Das ist zunächst eine Konsequenz aus dem Kirchengedanken des Lukas, nach welchem Jerusalem der Vorort der Kirche ist. Es könnte aber eine Andeutung darin stecken, daß der Fortschritt der Mission von den Orthodoxen zu den Ketzern in Jerusalem Diskussionen auslöste, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Ausbreitung bis zum Apostelkonzil

51

bis man ihn dann anerkannte. Solche spiegeln sich auch in den Stellen des Lukas-Evangeliums, in denen (die) Samaritaner in Schutz genommen werden, im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk. 10,30 ff.) und in der Erzählung vom dankbaren Samariter (Lk. 17,16). Beide spielen merkwürdigerweise in der Nähe von Jerusalem, weisen also auf dortige Debatten. Auch Joh.4 rechtfertigt nachdrücklich die Mission in Samaria, und zwar damit, daß Jesus selbst Samaritaner bekehrte. Ob Jesus wirklich Anhänger in diesem Gebiet hatte, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls setzt Joh.4 die Existenz von samaritanischen Gemeinden voraus und fühlt sich genötigt, diese gegen innerchristliche Angriffe zu rechtfertigen. Ganz unvermittelt taucht Damaskus auf. Wenn sich Paulus zu Anfang oder in der Mitte der dreißiger Jahre, wenige Jahre nach dem Tod Jesu, diese Stadt als Ort seines Kampfes gegen das Christentum aussucht, muß es hier beachtlich hervorgetreten sein. Auch diese Gemeinde wird eine Gründung der Hellenisten sein. Denn Paulus sieht ja das Gesetz bedroht. Sonst erfährt man - außer den erwähnten Anspielungen in den Evangelien - nur noch einige Ortsnamen, ebenfalls in diesen: Einige Ortschaften werden als Orte des Wirkens Jesu herausgehoben: Kapernaum, Kana usw. Einzelne Erzählungen von Jesus haben sich als „Lokaltraditionen“ an sie geheftet, d.h. sie sind hier weitererzählt worden. Das setzt die Existenz einer Gemeinde voraus. Paulus ging nach seiner Bekehrung für etwa zwei Jahre nach „Arabien“, d. h. nach damaligem Sprachgebrauch in das Reich der Nabatäer, östlich von Palästina. Er verbrachte die Zeit dort schwerlich, wie manche meinen, mit einsamer Meditation über sein Erlebnis, sondern gemäß dem empfangenen Auftrag mit Missionsversuchen. Von einem Erfolg vernehmen wir nichts. Die Ausbreitung verläuft rasch an der Küste entlang nach Norden, durch Phönizien (Tyrus Apg. 21,3.7; Sidon Apg.27,3; beide zusammen Mk.3,8; Lk.6,17; Ptolemais Apg.21,7) nach Antiochia (Apg. 11,19 ff.); über das Meer wird Cypern erreicht. Antiochia wird zum wichtigsten Zentrum der Ausbreitung. Es wird durch Jahrhunderte eine hervorragende Stellung bewahren. Seine Bedeutung ist weit größer als es die Apostelgeschichte andeutet. Sie erstreckt sich nicht nur auf die Stellung des Christentums in der Öffentlichkeit, auf diese freilich auch: Hier kommt die Bezeichnung „Christen“ (christiani) auf (Apg. 11,26). Diese wird ihnen von außen beigelegt. Denn sie setzt voraus, daß man „Christus“ für einen Namen (nicht für einen Titel, „der Messias“) hält, also über die Person Jesu nicht richtig informiert ist. Die Christen sind jetzt also von der nicht-jüdischen Öffentlichkeit als eine eigenständige Gruppe erkannt. Daß sie sich nunmehr von den Juden so deutlich abheben, hängt natürlich damit zusammen, daß jetzt Heiden in größerer Zahl Christen werden. Nach Apg. 10 wurde schon vor der Gründung von Antiochia eine Gruppe von Heiden in die Kirche aufgenommen, der Centurio Cornelius in Cäsarea 4* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

51

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

mit Angehörigen und Freunden, durch Petrus. Die Apostelgeschichte gestaltet diese Bekehrung zu einem programmatischen Akt: Der Geist selbst gibt den entscheidenden Anstoß. Das Werkzeug, Petrus, muß ein Vertreter der Urgemeinde sein, da er ja auch Rechenschaft ablegen muß. In Wirklichkeit gab es einen solchen einmaligen, das Problem ein für allemal lösenden Akt nicht. Offenbar fanden die christlichen Missionare da und dort auch in der näheren Umgebung der jüdischen Gemeinden, in denen sie auftraten, Anklang. Was bewegte einen Heiden dazu, Christ zu werden? Die urchristlichen Quellen geben darüber wenig psychologische Auskunft. Für sie ist die Bekehrung ein Werk des Herrn selbst. Sie wird aus dem Inhalt der Heilsbotschaft verständlich gemacht, nicht aus der seelischen Verfassung des Bekehrten. Doch lassen sich noch Beweggründe erkennen. Einmal kann die christliche Mission auf Leute wirken, die sich bereits dem Judentum angeschlossen hatten. Es gab „Proselyten“, die ganz zum Judentum übergetreten waren; unter den „Hellenisten“ in Jerusalem befindet sich einer - aus Antiochia (Apg.6,5). Es gab darüber hinaus Sympathisierende, „Gottesfürchtige“. Diese anerkannten die Grundanschauungen der jüdischen Religion, den Ein-Gott-Glauben, die sittlichen Hauptgebote. Aber sie traten nicht offiziell über; sie ließen sich nicht beschneiden und nahmen nicht das Gesetz im vollen Umfang auf sich. Natürlich übt das Gemeindeleben als solches seine Wirkungen aus. Die Gemeinde in Antiochia scheint lebhaft von den Erscheinungen des Geistes bewegt gewesen zu sein. Propheten treten auf (Apg. 11,27 f.; 13,1). „Prophetie“ ist nach urchristlicher Auffassung zwar auch Weissagung, Ankündigung von Künftigem; vor allem aber ist sie überführende Rede, die das Innere des Menschen enthüllt (1.Kor. 14,24). Zu den Gaben des Geistes gehören auch Wunderkraft und Heilungsgabe (l.Kor. 12,9 f.; Röm. 15,19). Paulus empfing seine entscheidenden Anstöße in diesem Milieu. Als der große Mittelsmann zwischen den beiden großen Zentren erscheint Joseph Bamabas, ein Diasporajude, der in Jerusalem eine geachtete Stellung gewonnen hatte (Apg.4,36f.). Nach Apg. 11,22 kam er als offizieller Inspekteur nach Antiochia. Das ist wieder das lukanische Schema. Jedenfalls wurde er an dem neuen Ort der führende Mann; Apg. 13,1 wird er an erster Stelle genannt. Beim Apostelkonzil vertritt er zusammen mit Paulus die Gemeinde. In dieser Frühzeit mit ihrer hochgespannten Hoffnung bereitete das Zusammenleben von Juden und Heiden in der neuen Gemeinschaft offenbar keine Schwierigkeiten, die ins Gewicht fielen. Beide Gruppen traten nicht auseinander. Die hellenistischen Judenchristen hatten keine Skrupel, mit den Heidenchristen Tischgemeinschaft zu halten. Daß diese in Antiochia zunächst selbstverständlch geübt wurde, geht aus Gal.2,11 ff. hervor. Mit dieser - gegenüber Jerusalem neuen - Art von Christentum, in der auch die Judenchristen die Hemmungen des jüdischen Ritualgesetzes abge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das hellenistische Christentum vor Paulus

53

streift hatten, stieß der pharisäische Eiferer Saulus/Paulus zusammen. Und in diese Lebensform wuchs er nach seiner Bekehrung hinein. Hier formte er seine theologischen Gedanken über Glauben, Gesetz und Freiheit des Glaubens. Nicht er war es, der das Christentum vom Gesetz löste. Ein Teil der Christen war sich bereits tastend bewußt geworden, daß der Glaube den Heilsweg des Gesetzes außer Kraft setzte. Paulus erfaßt dies nun als Grundlagenproblem des Glaubensverständnisses. Mit dieser bereits praktizierten, aber noch nicht theoretisch geklärten Freiheit werden die Probleme reif, die dann auf dem Apostelkonzil verhandelt werden. Doch bildet das Gesetzesproblem nicht die einzige Linie der Entwicklung. Um den Gang der Dinge zu verstehen, ist der tiefgreifende Umwandlungsprozeß in den Blick zu nehmen, der den christlichen Denkund Lebensformen auf dem hellenistischen Boden widerfährt und viel weiter reicht als nur bis zu den Fragen des jüdischen Gesetzes. Nur vor dem Hintergrund dieses Prozesses wird die Theologie des Paulus geschichtlich verständlich. Bevor sich die Darstellung ihm zuwendet, ist das Bild der Ausbreitung abzurunden: Bis zu dem Zeitpunkt, von dem an die Mission mit Hilfe der Briefe des Paulus verfolgt werden kann, ist der Bericht der Apostelgeschichte wieder lückenhaft. Es entstehen Gemeinden in Syrien und Cilicien, zum Teil durch die Tätigkeit des Paulus in diesen Landschaften (Gal. 1,21). Die Apostelgeschichte komprimierte diese Arbeit in einer ersten „Missionsreise“ des Paulus und Barnabas (Apg. 13 f.): Im Süden des inneren Kleinasien werden Gemeinden gegründet. Was hier in der Apostelgeschichte wie ein kurzes, erfolgreiches Unternehmen aussieht, umfaßte in Wahrheit mehr als ein Jahrzehnt, dessen Einzelheiten - außer den in den beiden Kapiteln der Apostelgeschichte mitgeteilten - unbekannt bleiben. Zu erwähnen ist endlich, daß das Christentum früh nach Rom kommt. Aber das ist nur zu erschließen; es wird nirgends erzählt. Vielleicht ist bei dem Schriftsteller Sueton, dem Biographen der römischen Kaiser von Cäsar bis zum Ende des ersten Jahrhunderts, noch eine versprengte Erinnerung aufbewahrt: Der Kaiser Claudius habe die Juden aus Rom ausgewiesen, weil unter ihnen auf Anstiften eines gewissen Chrestus Unruhen ausgebrochen seien (Beilage 2 a). Es ist das Edikt, das schon oben in dem Kapitel über die Chronologie zu erwähnen war. Ist dieser Anstifter Chrestus in Wirklichkeit „Christus“? Dann würde Sueton irrtümlich annehmen, dieser sei persönlich in Rom aufgetreten. Immerhin könnte hier ein Nachhall von Auseinandersetzungen unter den römischen Juden vorliegen, die durch das Eindringen des Christentums ausgelöst wurden.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

54

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums VI.KAPITEL

Das hellenistische Christentum vor Paulus 1. Probleme „Vor Paulus“ bedeutet nicht, daß die hier darzustellende Frühform christlichen Lebens und Denkes mit Paulus aufhörte, sondern daß sie sich vor seinem Eintritt in die Kirche entwickelte, für ihn bestimmend wurde und sich auch neben und nach ihm weiter entwickelte. Paulus war ein Missionar und Denker neben anderen, wenn auch der bedeutendste. Sein Einfluß erstreckte sich zu seinen Lebzeiten im wesentlichen nur auf die Gemeinden, die er selbst (direkt oder durch Schüler) gründete. Und auch in ihnen mußte er manchmal in harten Kämpfen fremde Agitation abwehren (Galater-, Philipperbrief; 2.Kor. 10-13). Im zweiten Zentrum der Kirche, Antiochia, scheint er nach dem Zusammenstoß mit Petrus und Barnabas (Gal. 2) keinen Einfluß mehr besessen zu haben. Aus der Zeit vor Paulus sind keine selbständigen Dokumente mehr erhalten. Vielleicht kann man noch aus der Apostelgeschichte einige Fragmente rekonstruieren, welche die Gemeinde in Antiochia betreffen. Im übrigen muß man durch Analyse der Briefe des Paulus und späterer Schriften die Gedanken und Lebensformen der Frühzeit hypothetisch erschließen. Das ist in gewissem Umfang möglich, da sich diese Schriften bewußt in die Tradition einreihen; gelegentlich zitieren sie tradierte Sätze ausdrücklich; sie besprechen herkömmliche Formen des Lebens und Gottesdienstes. Zwischen der Jerusalemer Urgemeinde und der hellenistischen Kirche liegt kein Bruch. Die Verknüpfung ist zum Teil durch Personen hergestellt. Wie schon erwähnt, halten die Hellenisten nach wie vor an einer ideellen Verbindung mit der Urgemeinde fest. Barnabas wahrt die Beziehung zwischen beiden Orten. Die Kirche weiß sich als Einheit. Sie spricht den gemeinsamen Glauben in Formulierungen aus, die fester Bestand der Tradition sind und die Christen an allen Orten zur Einheit zusammenschließen. Die Bindung an die Mutterkirche ist nicht nur eine gefühlsmäßige. Sie ist vielmehr durch die Lehre selbst gesetzt: Der Glaube ist geschichtlich durch die Erscheinungen des Auferstandenen gestiftet. Er bleibt auf das Zeugnis der geschichtlichen Augenzeugen bezogen. Der Herr selbst ist der Grund und Garant der Einheit. An den Formen und Inhalten des in Sätzen formulierten Bekenntnisses läßt sich nun auch eine Entwicklung ablesen. Solange sich die Mission nur an Juden wendet, müssen die Christen nicht ausdrücklich ihren monotheistischen Glauben bekennen. Denn der ist gar nicht strittig und bildet die selbstverständliche Voraussetzung: Die Christen sind Juden und als solche von Haus aus Monotheisten. Sie bekennen vielmehr eine neue Tat dieses Gottes: daß er Jesus als den verheißenen Messias sandte. Heiden gegenüber aber muß man auch die Voraussetzung erklären: Daß ein Gott © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das hellenistische Christentum vor Paulus

55

ist; daher ist auch nur ein „Herr“ (1.Kor. 8,6). Das Bekenntnis hat jetzt formal zwei „Artikel“. Sachlich ist das nichts Neues. Es ist nur die ausdrückliche Entfaltung in der neuen Situation. Dabei hält man sich auch für den ersten „Artikel“ an die israelitische Überlieferung; die Formulierung „ein Gott“ ist das Grundbekenntnis Israels (5.Mose 6,4). Auch im christologischen Teil des Bekenntnisses wandelt sich die Ausdrucksweise. Der jüdische Titel „Messias“ ist für die Nichtjuden nichtssagend und unverständlich, selbst wenn man das hebräische bzw. aramäische Wort „Messias“, „der Gesalbte“, ins Griechische übersetzt (christos). Das „Salben“ ist für die Griechen nicht ein religiöser Weiheakt, sondern Bestandteil der Körperpflege. Im griechischen Sprachgebiet wird „Christus“ zum Bestandteil des Namens: „Jesus Christus“. Das geschieht schon vor Paulus, denn er verwendet diesen Doppelnamen mit Selbstverständlichkeit, obwohl er als Jude die Bedeutung von „Christus“ kennt. Übrigens griff man später, als man auch im heidenchristlichen Gebiet das Alte Testament in größerem Umfang in die theologische Arbeit einbezog, gelegentlich wieder auf den ursprünglichen, titularen Sinn zurück (Lukas: Apg..2,36; 4,26). Derjenige Titel, der jetzt beherrschend hervortritt, ist: „der Herr“ (kyrios). Die Art, wie ihn Paulus gebraucht, zeigt, daß er ihn bereits in fester Übung vorfand. Die Frage, wo und wann er aufkam und sich ausbreitete, ist kontrovers und kann mit dem vorhandenen Material nicht beantwortet werden. Der älteste Beleg ist der oben besprochene aramäische Anruf, den Paulus auch in die griechischen Gemeinden einführt: „maranatha!“, die Bitte um die Parusie des erhöhten Jesus. Hier ist der Sinn von „Herr“ durch die Naherwartung der Frühzeit bestimmt. Im hellenistischen Christentum nimmt das Wort dann neue Sinn-Elemente in sich auf und drückt das ganze Erlösungsverständnis der Gläubigen aus. Diese können sich kurzweg als diejenigen bezeichnen, „die den Namen des Herrn anrufen“ (1.Kor. 1,2). In der Anrufung, d.h. Verehrung des Herrn sieht man also das Wesen des neuen Glaubens. Diese Wendung stammt aus der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, ist also im griechischen Sprachgebiet aufgekommen (Joel 3,5; vgl. Apg. 2,21). Drei Momente der Bedeutung von „Herr“ zeichnen sich ab: Nach wie vor weist er auf die Parusie: „Der Herr ist nahe“ (Phil.4,5; vgl. Phil. 3,20). Der Herr sitzt zur Rechten Gottes und unterwirft diesem die Mächte. Er erweist der Kirche seine Stellung als „Herr“ im Walten des Geistes und in der Wirkung der Sakramente: Auf seinen Namen wird man getauft. Auf seinem Tod und seiner Auferstehung beruht die Kraft des Abendmahls: „Der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten ward...“ (l.Kor. 11,23 ff.). Ihm gebührt Verehrung, und die sachgemäße Form derselben ist die Akklamation im Gottesdienst: „Herr ist Jesus“ (l.Kor. 12,3; Phil.2,11). Dieser Anruf ist es, der der Versammlung der Gemeinde ihren Charakter verleiht. Er ist selbst Wirkung des Geistes (l.Kor. 12,3). Wenn sich die Verehrung des „Herrn“, also eines himmlischen Wesens, und das Erlebnis des Geistes, das Ekstasen auslöst, so intensiv verbinden, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

56

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

dann liegt es nahe, daß sich der Glaube in ein schwärmerisches Erlebnis des Aufstiegs der Seele in die obere Welt verwandelt. Das entspricht ja auch Tendenzen der hellenistischen Umwelt, in der die Christen leben, aus der sie kommen. Man kann natürlich fragen: Warum soll das Christentum nicht Pflege des Aufschwungs der Seele in höhere Welten sein? Können sich so nicht tiefe religiöse Einsichten auftun, wird so nicht die mystische Pflege des inneren Lebens, die geistige Verbindung von Seele zu Seele erschlossen? Gehört nicht die Mystik, Versenkung und Aufschwung, zu den schönsten Blüten im Garten der Religionen, auch in der christlichen Religion? Andererseits muß als Regulativ für alle möglichen Entwicklungen in der Kirche die Frage wach bleiben: Was ist Wahrheit, und zwar gemäß der geschichtlichen Stiftung der Kirche, gemäß der Norm „in Christus“? An dieser Stelle ist nun auf die religionsgeschichtliche und psychologische Problematik der hellenistischen Form des Christentums einzugehen. 2. Christentum und hellenistische Religionsgeschichte Die Gestalt, die das Christentum im hellenistischen Milieu annimmt, ist nicht nur durch die Lehre bestimmt, sondern auch davon, wie der Hörer diese aufnimmt. Dieser ist ja bereits von religiösen und darüber hinaus allgemeinen Ideen seiner Welt geprägt. Diese Ideen dringen nicht nur quasi von außen in das Christentum ein. Sie werden von den Neubekehrten mitgebracht und bilden einen Bestandteil ihrer Gedankenformung in der Kirche. Damit entsteht eine Grundsatzfrage: Der christliche Glaube ist exklusiv. Wer diesem Herrn dient, kann an keiner anderen Gottesverehrung mehr teilnehmen, weder äußerlich-kultisch noch innerlich. Wer am Tisch des Herrn sitzt, kann nicht auch am Tisch der „Dämonen“ (d. h. der heidnischen Götter) sitzen (1.Kor. 10,21 f.). Wie kann es dann zur Verschmelzung mit fremden religiösen Formen kommen? Stellt man die Frage so, dann geht sie sowohl an der Wirklichkeit der Welt als auch am Wesen des Glaubens vorbei. Man muß versuchen, die christliche Lehre mit den Ohren eines damaligen Hörers aufzunehmen und die christliche Lebensform mit seinen Augen zu sehen. Er hört von einem Gottwesen, das als Mensch auftrat, starb und wieder in die obere Welt aufstieg (Phil.2,6 ff.). Er sieht, daß man Riten begeht, durch welche himmlische Kräfte in die Geweihten einströmen sollen. Er wird das Christentum als einen der orientalischen - für den griechischen Gebildeten abstoßenden Kulte ansehen, die aus dem Orient nach Westen auszugreifen beginnen. Diese bilden Gemeinden neuen Stils. In ihnen versammelt sich nicht mehr das ganze Volk zur Verehrung einer sozusagen offiziellen Gottheit, deren Kult von der Stadt getragen wird. Vielmehr sammeln sich jetzt Gläubige, oft aus allen Schichten der Bevölkerung, in geschlossenen Räumen zur esoterischen Weihe. Eben dieses Bild bietet auch das Christentum. Vielleicht (die Deutung ist nicht sicher) gibt Apg. 17,18 eine Andeutung, wie Griechen die christliche Lehre mißverstehen konnten. Die griechischen Hörer des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das hellenistische Christentum vor Paulus

57

Paulus erfassen, daß das Thema der Lehre des Paulus ist: „Jesus und die Auferstehung“. Es ist möglich, daß Lukas das so verstanden wissen will: Diese Lehre war ihnen so völlig fremd, daß sie ihn dahin mißverstanden, er rede von einem Götterpaar, Jesus und seiner Begleiterin „Auferstehung“ (griech. anastasis). Ein solches Mißverständnis liegt damals nicht fern. Es gibt eine zeitlich und räumlich nahe Parallele: Eben in dieser Zeit reist Simon der Magier, der Apg. 8 vorkommt, mit seiner Heilslehre durch die Länder. Er stammt aus Samarien, greift aber nach Westen aus. Er verkündigt, daß er die irdische Erscheinung des höchsten Gottes sei, und führt eine Begleiterin mit sich, Helena, die Verkörperung der göttlichen, aus der irdischen Verstrickung erlösten Seele (s. u. S. 108 und Beilage 10). Andererseits bemerkt der beobachtende Zeitgenosse natürlich den Zusammenhang des Christentums mit dem Judentum: Der gestorbene und erhöhte Erlöser war als Mensch Jude. Beide Religionen kennen keine Götterbilder. Ob er nun das Christentum ablehnt oder sich bekehrt - er ist von solchen Eindrücken mitbestimmt. Die Frage ist dann, welches Eigengewicht diese in der Kirche behalten oder auch erst gewinnen. Was ist das gültige Kriterium für die Übernahme, Abstoßung oder Umformung religiöser Ideen? Muß sich die Kirche mit einem unvermeidlichen Prozeß der Verschmelzung abfinden - auf die Gefahr hin, ihr Wesen zu verlieren? Was ist das Gültige, das Bleibende? Ein Versuch, eine Antwort zu finden, muß sich des geschichtlichen Charakters des Glaubens bewußt sein: Dieser ist nicht eine zeitlose Synthese bestimmter metaphysischer Ideen. Er ist der Bezug auf die verkündigte Heilstat Gottes und kann sich so, im Existieren, jeweils neu begreifen. Er ist nicht zeitloses „Wesen“, sondern jeweils neues Verstehen. Exklusiv ist das Christentum nicht dadurch, daß es solche religiösen Ideen einführt, die es vorher nicht gab. Historisch neu sind die christlichen Grundgedanken nach urchristlicher Auffassung ja gerade nicht. Die Kirche weiß sich als das wahre Israel; ihr Religionsbuch ist die jüdische Heilige Schrift. Dort ist der Grundriß der Erlösungsidee vorgezeichnet, der Gedanke vom Bund und seiner Erneuerung, vom sühnenden und stellvertretenden Opfer usw. Neu ist die Heilstat Gottes selbst. Die Botschaft von ihr trifft den Juden als Juden und den Heiden als Heiden. Hier und dort werden vorhandene Ideen aufgenommen, um diese Heilstat auszulegen: Das Judenchristentum deutet sie nicht nur mit Hilfe des alttestamentlichen Bundes und Opfers, sondern auch durch die Einzeichnung in den weltanschaulichen Rahmen der Apokalyptik mit ihrem Ausblick auf die letzte Weltkrise, den Zusammenbruch, die Auferstehung der Toten, das Weltgericht und die neue Welt. Im heidnischen Gebiet dienen mythologische Vorstellungen der Deutung, so das Schema vom Abstieg eines Offenbarers aus dem Himmel, seiner Erscheinung als Mensch und seiner Rückkehr in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

58

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

die obere Welt (Phil. 2,6 ff.). Es ist also historisch richtig, wenn man das junge Christentum als „synkretistisches“ Gebilde kennzeichnet (unter „Synkretismus“ versteht man die gegenseitige Durchdringung von Religionen, im engeren Sinn den religiösen Mischungsprozeß in der Spätantike). Aber mit der Feststellung, daß das Christentum seinen Anteil an der religiösen Bewegung seiner Zeit hat, ist die Sachfrage ja noch gar nicht angeschnitten. Sie lautet: Ist das nun christlich möglich oder nicht? Jede Aussage über den Glauben ist geschichtlich und spricht sich in geschichtlichen, also zeitbedingten Formen aus, damals wie heute. Das Christentum ist nie ein sozusagen reines Destillat. Es trägt immer menschlich-geschichtliche Gestalt. Dasselbe gilt von den Gedanken und Sätzen, in denen es sich darstellt und seine Sache vorstellt. Für das Wesen des Christentums ist nicht bestimmend, ob es Züge der jeweiligen Zeit trägt, sondern was - in geschichtlicher Form - als das Heil verkündigt wird. Die Absolutheit liegt in der Bindung des Heils an die Person Jesu. Das Muster der sachgemäßen Fragestellung bietet 1.Kor. 8,6, wo Paulus gemäß den Ideen der damaligen Welt formuliert: In der Welt gibt es viele Götter und „Herren“. Aber für „uns“ gilt: Ein Gott und ein Herr. Beider Wesen wird bestimmt: Gott ist der Vater und Schöpfer; wir sind aus ihm und zu ihm. Der Herr ist der Mittler der Schöpfung, also unseres Verhältnisses zu Gott; wir sind durch ihn. Jetzt kann die oben gestellte Frage nochmals aufgenommen werden: Warum darf der Glaube nicht zu einer geistigen Aufstiegsbewegung in höhere Welten werden? Die Gegenfrage ist: Ist in diesem Fall der Herr wirklich noch der Herr? Oder identifiziert sich der Aufsteigende, Schauende, seine Ekstasen Pflegende selbst mit ihm, so daß „Herr“ im Grunde zu einer Chiffre für das erlebende Ich und seine Selbsterlösung wird? Dogmatisch formuliert: Wenn der Glaube die Bindung an seinen geschichtlichen Fixpunkt, den Tod des Menschen Jesus, verliert, dann wird sein Gegenstand, der Erhöhte, zu einer mythischen Figur. Der Erlöser trennt sich vom Schöpfer. Der Ort des Glaubens ist dann nicht mehr die Welt, sondern eine Phantasiewelt, die ein Produkt des subjektiven Geistes ist. Das Zusammenleben der Gläubigen wird zum gemeinsamen Gesang in höheren Chören oder es löst sich in ein Durcheinander der einzelnen Stimmen der Begeisterten auf. Das sind nicht nur theoretisch erdachte Entwicklungen. In Korinth sind sie massiv vorhanden. Darin zeichnen sich Neigungen der religiösen Seele aller Zeiten ab, und der l.Korintherbrief, der sie kritisch durchleuchtet und positiv durch „das Wort vom Kreuz“ überbietet, behält dadurch seinen Wert über die Zeiten hinweg. 3. Die Formen des Lebens a) Die hellenistischen Christen nennen sich, wie die Urgemeinde, die „Heiligen“, „Erwählten“, die „Kirche“ (ekklesia; vielleicht ist diese Selbstbezeichnung erst im hellenistischen Raum aufgekommen). Sie teilen also das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das hellenistische Christentum vor Paulus

59

ursprüngliche Selbstverständnis: Sie sind Gott geweiht, von der Welt geschieden, bereit für die Ankunft des Herrn. Aber was bedeutet es praktisch, als Lebensgestaltung, daß man aus der Welt ausgeschieden ist? In der damaligen Welt bieten sich vor allem zwei Formen der Entweltlichung an: Die Kirche kann sich äußerlich, als Gruppe, aus der Welt zurückziehen, wie es z.B. die Sekte von Qumran tat. Sie kann etwa am Rand des Kulturlandes in der Abgeschiedenheit ihre Heiligkeit pflegen. Kann diese Möglichkeit vor dem Maßstab der geschichtlichen Heilstat Gottes bestehen? Es wäre eine Schein-Möglichkeit, Rückzug in eine ungeschichtliche ScheinHeiligkeit, „Schein“ nicht im Sinne subjektiver Heuchelei - den Leuten von Qumran kann der bittere Ernst um die Gerechtigkeit nicht abgesprochen werden - , sondern „Schein“ im Sinne einer objektiven Illusion: Auch eine solche Gruppe, so rigoros sie ihrem religiösen Ideal lebt, ist noch Welt. Nicht nur, daß sie ihre materielle Existenz durch Organisation der Produktion und der Verteilung aufrechterhalten muß; nicht nur, daß sie die gegenseitigen Beziehungen ihrer Mitglieder durch Gesetze, also durch weltliche Macht regulieren muß. Die Problematik reicht noch tiefer: Durch die Versorgung ihrer Mitglieder nimmt die Gruppe ihnen die materiellen Sorgen ab. Dadurch erspart sie ihnen die jeweilige Entscheidung. Die vom „normalen“ Menschen in der Welt je und je geforderte Tat der Liebe, die einen Verzicht bedeutet, wird pauschal abgelöst durch einen allgemeinen Verzicht auf Privatbesitz. Die zweite Möglichkeit ist: Die Gemeinde bleibt äußerlich in ihrer Welt, löst sich aber von dieser, indem sie Askese treibt, also die Armut wählt, auf bestimmte Speisen verzichtet, geschlechtliche Enthaltsamkeit übt. Auch bei dieser Lebensform befände sie sich in der Illusion. Askese ist zunächst Rückzug des Individuums auf die Besorgung des eigenen Heils, nicht Überstieg zum „Bruder“; auch sie ist Gesetzlichkeit und also Weltlichkeit. Wenn aber die Kirche ihre Distanz von der Welt nicht in irgendeiner gesetzlichen Form darstellen soll, wie kann sie ihr Leben dann überhaupt gestalten, und zwar so, daß es dem Glauben entspricht? Das ist nur möglich, wenn die - unumgänglichen - Regulierungen des gemeinsamen Lebens grundsätzlich frei sind, also nicht als seligmachend gelten. Sie müssen weltlich-menschlich sein und dürfen keine religiöse Weihe gewinnen. b) Daher ist es nur eine neutral-historische Frage, aber keine entscheidende Sachfrage, ob Formen des Gottesdienstes aus der Synagoge oder aus den Mysterien übernommen werden. Worauf es sachlich ankommt, ist: ob das Kriterium des Glaubens wirksam wird und dafür sorgt, daß der Gottesdienst nicht zur Aktion des frommen Menschen wird, sondern Gottes Aktion zu Gehör bringt. Diese Regel gilt für Predigt, Gebet, Gesang und Sakrament. Auf Grund dieser Freiheit kümmert man sich wenig um eine einheitliche liturgische Regulierung. Der Geist weht, wo er will. Gewiß bedient man sich vorgefundener Formen: Gebete, Lobpreisungen, Segensformeln, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

60

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Lieder, Formeln der Eröffnung und des Abschlusses. Lieder erwähnen Kol. 3,16; Eph. 5,19. Christliche Psalmen finden sich Lk. 1,46 ff. („Magnifikat“) und 1,68 ff. („Benediktus“); dabei schimmert eine vorchristliche Urfassung noch durch. Jedenfalls zeigen sie die Stiltradition der Psalmendichtung. Für diese bieten die Loblieder von Qumran hervorragende zeitgenössische Beispiele. Der prägende jüdische Stil erscheint in den Hymnen der JohannesOffenbarung so intensiv, daß man schon annahm, hier seien einfach jüdische Gebetsdichtungen übernommen worden. Das ist an und für sich denkbar. Schließlich wissen sich die Christen in Übereinstimmung mit dem alttestamentlich-jüdischen Erbe. Aber im Fall der Offenbarung handelt es sich wohl um eigene Dichtungen des Verfassers. Auch als solche sind diese Hymnen Dokumente der jüdischen Stiltradition. In den Schriften der „Apostolischen Väter“ dürften jüdische Gebete - im christlichen Gebrauch - erhalten sein. Jüdischen Stil tragen „Doxologien“ wie Röm. 11,36; 16,27; Segensformeln, wie sie Paulus am Anfang und Schluß seiner Briefe gebraucht. Es bestehen aber auch außerjüdische Stilparallelen. Auch diese gehören durchweg nicht in die klassisch-griechische, sondern in die orientalische Stilgeschichte. Ein besonders schönes Beispiel ist das Schlußgebet des „Poimandres“, eines gnostischen Traktates. c) Frei sind die Formen der Mission. In der damaligen Welt ist die religiöse und popularphilosophische Propaganda lebhaft. Das Judentum wirbt um „Proselyten“ und Sympathisierende (Mt.23,15). Die Mysterien breiten sich aus und empfehlen sich (wie das Judentum) durch literarische Werbung. Die kynischen Wanderphilosophen nehmen die Züge religiöser Heilskünder an, z.B. in einem berühmten Gemälde des Philosophen Epiktet vom wahren Kyniker als dem Herold und Wächter Gottes. Äußerlich sehen die christlichen Missionare diesen Predigern ähnlich, und Paulus sieht sich veranlaßt, sich von diesen abzugrenzen (l.Thess.2,l ff.). Die christliche Mission wird allerdings - im Vergleich zu allen damaligen Konkurrenzbewegungen dadurch intensiviert, daß sie für die Kirche eine schlechthinnige Lebensnotwendigkeit ist. Das Judentum z.B. kann grundsätzlich auf Mission verzichten. Denn seine religiöse Gemeinschaft ist auch eine physische und politische Volksgemeinschaft. Sie kann gar nicht zur universalen Gemeinschaft werden. Die kynischen Wanderprediger erbauen in erster Linie sich selbst; eine Gemeinde gründen sie nicht. Sie sind geistige Aristokraten, die nur wenige über die rohe Menge erheben wollen. Ihre „Mission“ ist „Werbung“. Das gilt auch von den esoterischen Mysterienklubs. Die Kirche dagegen ist das Gottesvolk, indem sie die Herrschaft Gottes in Christus über die ganze Welt proklamiert. Würde sie darauf verzichten, würde sie sich selbst aufgeben. d) Freies und Traditionelles Für ihre Rekonstruktion scheint zu bieten. Sie enthält eine ganze an Juden (die „Pfingstpredigt“

mischen sich in den Formen der Predigt. die Apostelgeschichte das reichste Material Anzahl von „Reden“: Missionsansprachen des Petrus Apg.2), die Abrechnung des

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das hellenistische Christentum vor Paulus

61

Stephanus mit Israel (Apg.7); eine ausgeführte Rede an Heiden (die „Areopagrede“ des Paulus Apg. 17); eine Ansprache an Christen (die Abschiedsrede des Paulus Apg. 20). Aber auf die Form der wirklichen Gemeindepredigt darf man aus diesen „Reden“ nicht ohne weiteres schließen. Denn sie sind bewußt literarisch gestaltet. Immerhin geben sie gewisse Hinweise. Es ist anzunehmen, daß man (in der Art der Rede des Stephanus) Beispiele aus der Bibel zusammenstellte und erklärte, teils zur Warnung, teils zur positiven Erbauung; Hebr. 11 reiht Beispiele des Glaubens aneinander. Ferner setzte man die erfahrene Rettung der einstigen Verlorenheit entgegen. „Einst-Jetzt“ ist eine feste Darstellungsform. Das beste Beispiel ist Röm. 7,5 f.; denn Paulus schreibt hier zum „Einst“ die breite Erläuterung in Röm. 7,7ff., zum „Jetzt“ in Röm. 8. Zur Beschreibung der christlichen Existenz („Jetzt“) gehört die Unterweisung über den neuen „Wandel“ (Kol.3,5 ff.). Die alte und die neue Lebensführung können in Tafeln von Tugenden und Lastern konfrontiert werden. Diese Tafeln sind eine Form der ethischen Lehre, die ursprünglich aus der griechischen Philosophie stammt, dann vom hellenistischen Judentum aufgenommen und abgewandelt wurde (Weisheit Salomos, Philo) und von da in das hellenistische Christentum einging. Die Inhalte der Moral decken sich weithin mit der allgemeinen, bürgerlichen jüdischen und griechischen Sittenlehre. Das Neue liegt in der Begründung der ethischen Forderung durch das Heilsgeschehen in Christus: Die Welt vergeht; diese Überzeugung eröffnet die Freiheit zur Welt, die positiv in der Liebe verwirklicht wird. Denn Christus ist für die Welt gestorben. e) Die Sakramente erfahren in der hellenistischen Kirche einen Stilwandel. Der grundlegende Sinn bleibt erhalten. Das ist schon durch die Konstanz des Ritus und der Kultformeln gegeben. Die Taufe geschieht „auf den Namen“ Jesu Christi. Die Einsetzungsworte des Abendmahls werden überliefert und konstituieren die Wirksamkeit der Handlung. Aber das Verständnis wird im Sinn der Verehrung des „Herrn“ und der Erfahrung des Geistes erweitert. Die Taufe tilgt die Sünden, überträgt das Heilsgeschehen auf den Täufling und übereignet zugleich diesen dem Herrn zu Gehorsam gegen ihn und Schutz durch ihn; sie verleiht den Geist und damit die Kraft, das neue Leben zu führen. Die Übereignung an den Herrn ist zugleich die Einfügung in seine Gemeinde. Das christliche Sakrament unterscheidet sich vom nichtchristlichen Mysterium dadurch, daß es nicht als Ritus (ex opere operato) wirkt und keine individualistisch verstandene Übertragung von Heilskräften ist, bei der der einzelne auf die Sorge um sich selbst konzentriert würde. Das neue Leben ist Gemeinschaft der „Heiligen“, das seine Norm darin hat, daß Christus für den Bruder gestorben ist (l.Kor.8,11). Das Abendmahl schenkt Anteil am Leib (und Blut) Christi (l.Kor. 10,16 f.). In ihm wird „geistliche Speise“ und „geistlicher Trank“ dargeboten (l.Kor. 10,3 f.). Wie bei der Taufe, so ist auch hier die Aufzählung der Wir© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

62

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

kung komplex: Der Tod Christi ist sühnendes bzw. stellvertretendes Opfer; Sühne und Stellvertretung werden dabei nicht scharf unterschieden. Beides kann durch dieselbe Präposition „für“ ausgedrückt werden. Auch das Abendmahl führt in die Gemeinde des neuen Bundes ein und stellt die Gemeinschaft immer neu her. Am Abendmahlsritus läßt sich beobachten, daß die Formen einigermaßen flüssig sind. Offenbar wird auch im hellenistischen Gebiet das Abendmahl (die sakramentale Begehung, die Spendung von Leib und Blut Christi) im Rahmen einer wirklichen Mahlzeit gehalten. Der l.Korintherbrief enthält einige Andeutungen darüber, an welcher Stelle der Mahlzeit die Spendung des Sakraments eingeordnet war. Man kann aber nicht sicher sagen, ob die Sitte in der ganzen Kirche einheitlich war. l.Kor. 11,23 ff. ist die Stiftung des Ur-Abendmahls durch Jesus so geschildert: Dieser spendet vor dem Gemeinschaftsmahl das Brot, nach diesem den Becher. Offenbar rahmte man also das Mahl mit den beiden sakramentalen Akten. Doch scheint sich dieser Ritus zu der Zeit, als Paulus den l.Korintherbrief schreibt, schon geändert zu haben. Aus den liturgischen Andeutungen in l.Kor. 16,20-23 läßt sich erschließen, daß die beiden Spendungen zu einer einheitlichen Handlung zusammengefaßt wurden: Nach dem öffentlichen Gottesdienst werden durch das feierliche „Anathema“ die Ungläubigen entfernt; die Gemeinde eröffnet mit dem maranatha die esoterische Mahlfeier. Damit ist ein weiteres Problem angeschnitten: Wie verhält sich der „Wortgottesdienst“ mit Gebet, Gesang, Schriftlesung und Predigt zur Sakramentsfeier? Darüber wird man keine allgemeine Regel postulieren dürfen. Zum Abendmahl gehört die „Verkündigung des Todes des Herrn“ (l.Kor. 11,26), also das Wort. Man wird aber nicht umgekehrt behaupten können, daß zu jeder Wortverkündigung auch die Sakramentsfeier gehörte. f) Frei ist schließlich die Organisation. Oben wurde das wenige skizziert, was darüber von der Urgemeinde gesagt werden kann. Nun kann deren Verfassung - soweit man von einer solchen überhaupt reden kann - nicht ohne weiteres auf andere Orte übertragen werden. Denn die Institution der Zwölf, später der drei „Säulen“, läßt sich nicht verpflanzen. Nirgends wird eine Forderung sichtbar, die Gemeindeleitung müsse - auch außerhalb Jerusalems - als Kollegium von zwölf Männern organisiert werden. Bemerkenswert ist, daß Paulus in den unbezweifelt echten Briefen (anders liegen die Dinge in den umstrittenen) das Amt der Ältesten nicht kennt. Er hat es offenbar in Antiochia (und anderswo) nicht kennengelernt. In der Tat sind auch in der Apostelgeschichte für Antiochia Propheten und Lehrer an der Spitze der Gemeinde bezeugt (Apg. 13,1-3); von Ältesten ist nicht die Rede (obwohl die Apostelgeschichte dieses Amt bereits kennt und sogar für die paulinischen Gemeinden voraussetzt, Apg. 14,23 - historisch also zu Unrecht). Die charakteristische Form ist durch die Dreiheit der Hauptämter bestimmt, die Paulus l.Kor. 12,28 aufzählt: Apostel, Propheten, Lehrer. Diese sind noch nicht streng gegeneinander abgegrenzt. Jeder hat die Stellung, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus (bis zum Apostelkonzil)

63

die ihm der Geist durch seine Gabe zuweist; einer kann mehrere Gaben in sich vereinigen. Da der Geist frei wirkt, gibt es natürlich auch Prophetinnen, so die Töchter des „Evangelisten“ Philippus (Apg.21, 8 f.). Frauen treten im Gottesdienst auf (l.Kor.ll,2ff.). Die berühmte Stelle 1.Kor. 14,33-36, die ihnen im Widerspruch zu 1.Kor. 11 das Auftreten verbietet, dürfte nicht von Paulus stammen, sondern ein späterer Zusatz etwa aus der Zeit des l.Timotheusbriefes (vgl. 2,11 f.!) mit der fortgeschrittenen Regulierung der Pastoralbriefe sein. Fazit: Die Organisation besitzt noch nicht, wie in späterer Zeit, Heilsmächtigkeit, ebenso nicht das einzelne Amt. Es gibt noch keine heiligen Personen, keine Hierarchie. Alle haben den Geist empfangen und sind Heilige, sofern sie in der Kirche sind.

VII.KAPITEL

Paulus (bis zum Apostelkonzil) Zur Zeitrechnung s. II. Kapitel Quellen sind vor allem seine eigenen Briefe, dann auch einzelne Angaben aus denen seiner Schüler (Kolosserbrief; Pastoralbriefe). Dazu kommt die Darstellung der Apostelgeschichte. Streckenweise kann diese auf Grund der Briefe geprüft und korrigiert werden, z.B. über das Apostelkonzil (s.u.). Es zeigt sich, daß in der Apostelgeschichte die Ereignisse in einer bestimmten Verkürzung erscheinen. Sie will ja auch nicht eine Biographie des Paulus geben, sondern eine zielgerichtete Geschichte des Weges des Christentums; geographisch ist es der Weg von Jerusalem nach Rom. Welche Lücken unseres Wissens bestehen, läßt der autobiographische Abriß 2.Kor. 11,22 ff. wenigstens ahnen. Das Urteil über Paulus ist strittig sowohl zwischen Freunden und Feinden als auch unter den Freunden. Zwischen Freunden und Feinden: Den einen ist er der Denker, der das Christentum in den Stand setzte, zur Weltreligion zu werden; den anderen ist er der Verderber, der aus der schlichten, menschlichen Religion Jesu, aus dem Glauben an Gott als den Vater und aus der Ethik der Liebe ein kompliziertes theologisches System machte, der die Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses, wie es Jesus zeigt, durch seine rabbinisch-juristische Lehre von der Rechtfertigung verdeckte, die nicht erst heute dem religiösen Menschen sei es unverständlich, sei es zuwider ist. Unter Freunden: Die einen schätzen ihn als den Denker, der den Glauben in eine Denkform faßte und ihm so zum Verstehen seiner selbst verhalf. Die anderen sehen gerade in seiner Theologie die nur äußere Schale, die es zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

64

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

zerbrechen gilt, um zum glühenden Kern seines mystischen Empfindens durchzustoßen. Also: Hier der theologische Denker, hier das Urbild eines von religiöser Glut Durchpulsten. Wer ist also Paulus? Zunächst ist nach den geschichtlichen Bedingungen seiner Theologie zu fragen, dann nach der Verknüpfung dieser Voraussetzung mit seiner Biographie. Das bestimmende Milieu ist zunächst das des hellenistischen Judentums und seiner Theologie. Diese hat Paulus studiert. Hier erhält er Begriffe, Gedanken und Vorstellungen, die er später als Denkmittel zur verstehenden Erarbeitung des Glaubens benutzt. Sein Geburtsjahr ist nicht bekannt. Phlm.9 nennt er sich einen alten Mann. Aber das ist ein einigermaßen vager Ausdruck. Nach Apg.7,58 war er zur Zeit der Steinigung des Stephanus, also in der ersten Hälfte der Dreißigerjahre, ein „Jüngling“. Auch das läßt einen weiten Spielraum. Zudem ist die Notiz geschichtlich wertlos, weil sie nicht aus primärer Überlieferung stammt. Als Ort der Herkunft, des Bürgerrechts und eines späteren Aufenthalts nennt die Apostelgeschichte Tarsus in Cilicien, das zutreffend in einer damals gebräuchlichen Ausdrucksweise als „eine nicht unansehnliche Stadt“ charakterisiert wird (Apg.21,39). Es war damals eine berühmte Stätte der Bildung, an der besonders die stoische Philosophie gepflegt wurde, als solche gerühmt von Strabo und Dio Chrysostomus, dem berühmten Zeitgenossen und Landsmann (er stammt aus Prusa) des Paulus, der in Tarsus zwei seiner berühmten Reden hielt. Nun ist es durchweg deutlich, daß Paulus ausgesprochener Städter ist. Aber seine Bildung ist nicht die griechisch-philosophische; sie ist ausgesprochen und einseitig jüdisch. Wo Elemente der zeitgenössischen Popularphilosophie erscheinen (z.B. Röm. 1 und 2), da zeigen sie sich in jüdischer Brechung. Das hellenistische Judentum hatte Gedanken der griechischen Philosophie seiner Auseinandersetzung mit dem Heidentum dienstbar gemacht. Da und dort war es zur umfassenden Verarbeitung gekommen, so vor allem bei dem Philosophen Philo. Vergleicht man damit den Umfang griechischer Gedanken bei Paulus, so ist so gut wie nichts vorhanden. Die Apostelgeschichte weiß auch, daß Paulus außer dem römisch-griechischen Namen Paulus/Paulos noch den jüdischen Saul/Saulos trug. Paulus selbst erwähnt letzteren nicht. Daß man zwei Namen hatte, war damals unter den Juden nicht ungewöhnlich. Dabei zeigt sich ein gewisses Streben nach Gleichklang beider Namen, vgl. Jesus Justus Kol.4, 11. Überdies gab es semitische Namen, die nur leicht retuschiert zu werden brauchten, um mit echt griechischen Namen identisch zu werden: Das hebräische Simeon wurde leicht zum griechischen Simon. Die Familie des Paulus rechnet sich zum Stamm Benjamin, Phil. 3,5. Paulus selbst schließt sich der Partei der Pharisäer an; wann, wo, ob aus Familientradition, ist unbekannt. Sein Beruf ist (wieder nach der Apostelgeschichte) „Zeltmacher“. Das ist ein Gewerbe, das in und um Tarsus blühte. Doch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus (bis zum Apostelkonzil)

65

kann auch ein Leder- oder Textilarbeiter im weiteren Sinn gemeint sein. Die Tatsache, daß er ein Handwerk erlernte, besagt nichts über seinen sozialen Stand; für die jüdischen studiosi des Gesetzes war das üblich. In der Einschätzung der Handarbeit unterscheidet sich das Judentum von der gehobenen Schicht des Griechentums. Hieronymus weiß in seinem Kommentar zu Phlm. 23 noch mehr über die Familie: Die Eltern des Paulus hätten zunächst in Gischala (in Galiläa) gewohnt und seien durch Kriegswirren nach Tarsus verschlagen worden. Auf diese, spät auftauchende Behauptung wird man kaum bauen. Denn wenn sie stimmte, wäre schwer begreiflich, daß Paulus als Sohn eines römischen Bürgers geboren wurde. Nach der Apostelgeschichte besaß er außer dem tarsischen auch das römische Bürgerrecht, und zwar hatte er es bereits geerbt (Apg. 22,28). Freilich kann man gegen die Richtigkeit Bedenken anmelden: Paulus selbst beruft sich nie auf sein Bürgerrecht. Juristisch ist die Darstellung der Apostelgeschichte möglich: Viele Juden waren dadurch römische Bürger geworden, daß sie als Kriegsgefangene (z.B. unter Pompeius) in römische Sklaverei gerieten und später freigelassen wurden. Freigelassene bekamen das Bürgerrecht, wenn auch in der ersten Generation noch mit Einschränkungen. Auch Doppelbürgerrecht in Rom und in einer Stadt des Reiches war möglich. Nach Apg. 22,3; 26,4 empfing Paulus seine Ausbildung in Jerusalem, bei dem berühmten Gamaliel. Das ist unsicher. Aus Gal. 1,22 wird man eher herauslesen, daß sich Paulus vor seiner Bekehrung nicht oder wenigstens nicht längere Zeit in Jerusalem aufhielt. Unfruchtbar ist übrigens der Streit (auf Grund von 2.Kor.5,16), ob Paulus in Jerusalem Jesus gesehen habe. Auch wenn er in Jerusalem studiert haben sollte, so ist seine Bildung doch nicht die des palästinischen Rabbinats, sondern die hellenistisch-jüdisch bestimmte. Das zeigen Abschnitte wie 2.Kor.3. Ein Charakterbild ist aus seinen Briefen nur in begrenztem Maße zu gewinnen. Sein Temperament kann heftig ausbrechen (Phil.3,2 ff.). Aber er spricht nur da, wo es sachlich geboten ist, über die eigene Person. Er ist Ekstatiker (2.Kor. 12,1 ff.). Auch darüber äußert er sich nur gezwungenermaßen. So sieht man auch nicht, ob diese Fähigkeit erst bei seiner Bekehrungsvision geweckt wurde. Zuverlässig ist bekannt - er bestätigt es selbst - , daß er aktiv gegen die Christen vorging. Aber wo? Nach der Apostelgeschichte zunächst in Jerusalem; von da sei er mit Vollmachten nach Damaskus geschickt worden; aber bevor er die Stadt erreichte, trat ihm der Herr in den Weg. Doch dürfte ein solches Auftreten in Jerusalem durch Gal. 1,22 ausgeschlossen werden. Er wird vielmehr von (Cilicien-)Syrien aus durch das Land gereist sein. Den Grund gibt er selbst an: Eifer um die väterlichen Überlieferungen. Das ist gut pharisäisch und läßt zugleich erkennen, daß sich diejenigen Christen, die er bekämpfte, schon vom Gesetz entfernt hatten; es waren also die Hellenisten. Wenn ihm nun der Herr in diesem Eifer für Gesetz und Tradition Einhalt gebietet, so ist schon durch diese Vision als solche die Stellung zum 5 Conzelmann, Gesdiidite © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

66

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Gesetz festgelegt, wenn sie auch erst noch theologisch durchdacht werden muß. Historisch schwierig zu beurteilen ist seine mit Nachdruck vorgetragene Erklärung, er habe sich nach dieser Vision nicht mit „Fleisch und Blut“ beraten, also: keinen christlichen Religionsunterricht genommen; auch Lehrstücke wie das vom Abendmahl hat er vom Herrn selbst empfangen (l.Kor. 11,23). Die Schwierigkeit liegt nicht darin, daß er nach Apg.9 von einem Damaszener Christen in die Gemeinde eingeführt ist. Die Apostelgeschichte ist in diesem Punkt, wie immer, wenn sie sich mit Paulus stößt, zu korrigieren. Aber wie soll man sich diese Unabhängigkeit von christlichem Unterricht vorstellen? Nun, zunächst paßt dazu ein viel beachteter und sachlich umstrittener Tatbestand in seinen Briefen: daß er vom Leben Jesu so gut wie nichts zu wissen scheint - außer dessen Tod und wenigen seiner Worte. Erst lang nach seiner Bekehrung nahm er mit Jerusalem Fühlung auf (Gal. 1,15 ff.). Ist also seine Bekehrung im wesentlichen Verarbeitung seines visionären Erlebens? Wie verhält sich dazu aber wieder, daß er es ablehnt, seine Visionen zum Gegenstand seiner Lehre zu machen (2.Kor. 11 f.)? Man muß sich klarmachen: Wenn Paulus das Christentum bekämpft, dann ist ihm die Substanz der christlichen Lehre bekannt. Diese ist ja der Grund seiner Aktion. Und: der äußere Umfang dieser Lehre ist damals sehr klein. Die Lehre von Gott, der Schöpfung, die Grundbegriffe der Heilslehre wie Sünde, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit Gottes sind die jüdischen. Das Neue kann man in einem einzigen Satz zusammenfassen, dem Bekenntnis (s.o.): „Jesus ist der Messias“, oder hellenistisch: „Jesus ist der Herr“. Offensichtlich begriff Paulus, daß dieser Satz nicht nur zufällig, sondern notwendig das Gesetz als Heilsweg außer Kraft setzte. Und wenn sich ihm der gekreuzigte, d.h. dem Fluch des Gesetzes verfallene (Gal.3,13) Jesus als lebendiger zeigt, so ist damit erwiesen, daß das Heil nicht am Gesetz hängt, ja, daß Heil und jüdische Handhabung des Gesetzes im Widerspruch stehen. Diese Erkenntnis ist nun sowohl zu praktizieren durch die Mission unter den Heiden, als auch, Hand in Hand mit der Mission, zu durchdenken. Die ersten Schritte des Paulus auf diesem Wege, dem der Mission und des theologischen Verstehens, sind verschüttet. Briefe sind nur aus seinen letzten Jahren, aus der Zeit nach dem Apostelkonzil erhalten. Über die ersten Jahre nach seiner Bekehrung vermerkt er lediglich, daß er nach Arabien ging. Daß er damit andeutet, er habe dort zu missionieren versucht, zeigt der Zusammenhang von Gal. 1,17 und 16. „Arabien“ ist nicht die Wüste, sondern das Land der Nabatäer, die ihm dann bis nach Damaskus nachstellen (2.Kor. ll,32f.). Das tun sie sicher, weil er in ihrem Gebiet aktiv war. Die Apostelgeschichte schweigt von diesem Aufenthalt. Nach ihr fängt Paulus in Damaskus selbst an. Er muß vor einem Anschlag fliehen. Das deckt sich mit 2.Kor. 11; nur erscheint in der Apostelgeschichte die Zeit verkürzt. Sie läßt Paulus dann nach Jerusalem gehen, dort von Barnabas in die Gemeinde eingeführt werden und sofort wieder öffentlich auftreten. Er muß weichen und geht zunächst in seine Heimat Tarsus. Dieses Bild muß durch die eigenen Aussagen des Paulus ersetzt werden: Einige Jahre nach der Berufung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das Apostelkonzil

67

macht er bei Kephas einen kurzen Besuch. Den Inhalt der Gespräche übergeht er, weil er anscheinend für seine eigene Theologie nicht substantiell war. Dann begibt er sich für mindestens ein Jahrzehnt nach Syrien/Cilicien. Auch dort muß er als Missionar gearbeitet haben. Einiges aus dieser Zeit scheint die Apostelgeschichte in der ersten Missionsreise Apg. 13 f. zusammengefaßt zu haben. Manche Forscher nehmen allerdings an, die Ereignisse dieser beiden Kapitel spielen erst nach dem Apostelkonzil. Dann wäre dieser früheste Zeitraum ganz im Dunkeln. Doch muß Paulus in Verbindung mit Antiochia gestanden haben (Apg. 11,25 f.30; 13,1-3). Als die Frage der Gesetzesfreiheit der Heidenchristen brennend wird, vertritt er zusammen mit Barnabas die Gemeinde auf dem Apostelkonzil.

VIII. KAPITEL

Das Apostelkonzil 1. Die Voraussetzungen Das erste Problem betrifft den Termin (zur Chronologie s. IL Kapitel). Grundlage der Berechnung ist Gal. l f.: Es findet 13/14 oder 16/17 Jahre nach der Berufung statt, deren Datum wiederum von der Ansetzung des Konzils abhängt. Die Apostelgeschichte setzt es hinter der ersten Missionsreise an (Apg. 15); aber oben war festzustellen, daß für diese Reise ein lange dauernder Aufenthalt des Paulus in Syrien/Cilicien einzusetzen ist. Ein Datum ist auch aus der Apostelgeschichte nicht ohne weiteres zu gewinnen. Es gibt aber einige Grenzpunkte. Voraus liegt offenbar der Tod Agrippas I. im Jahre 44. Dem Konzil folgt die Mission in Griechenland mit dem Fixpunkt: um 50 in Korinth. Diese Daten führen in die Zeit um 48/49. Es wird allerdings eine Frühdatierung verfochten. Der Verfasser der Apostelgeschichte habe die Ereignisse durcheinandergebracht. Eine Spur scheint sich Apg. 11,27-30 abzuzeichnen: Paulus und Barnabas reisen von Antiochien nach Jerusalem, um angesichts einer drohenden Hungersnot eine Spende zu überbringen. Das geschieht - so hat es den Anschein - kurz vor dem Tod des Zebedaiden Jakobus, der Gefangennahme des Petrus und dem Tod des Agrippa (Apg. 12). Nach der Apostelgeschichte handelte es sich um eine weltweite Hungersnot. Die übrigen Quellen über diese Zeit wissen von einer solchen nichts, wohl aber von örtlichen Versorgungskrisen, z.B. in Palästina zur Zeit des Statthalters Tiberius Alexander, 46/48 n. Chr. Zur Bestätigung dieses Datums kann darauf hingewiesen werden, daß das Jahr 47/48 ein Sabbatjahr war, in dem der Anbau ruhte, was die Katastrophe verschärfen mußte. Es bleibt freilich der Widerspruch, daß dieses Datum nicht zur Apostelgeschichte stimmt. Nun sucht man den Ausgleich - vielfach 5* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

68

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

so: Lukas habe zwei Dinge verwechselt. Jene frühere Reise habe nicht der Überbringung einer Kollekte gedient, sondern sei die Reise zum Konzil gewesen. Dieses habe in Wirklichkeit im Jahre 43/44 stattgefunden. In der Tat ist ja im Aufriß von Gal. 1 kein Platz für eine gemeinsame Reise des Paulus und Barnabas vor dem Konzil. Nur: Apg. 11,27-30 ist kein alter Quellenbericht, sondern eine sekundäre Kombination des Verfassers aus verschiedenen Erinnerungen; er scheidet für die Datierung aus. Unabhängig von der Datierung stellt sich die Sachfrage: Es gibt jetzt eine große Zahl Heidenchristen, die nicht auf das jüdische Gesetz verpflichtet sind. Ihre Stellung muß grundsätzlich geklärt werden. War etwa der Verzicht auf ihre Unterwerfung unter das Gesetz bloße Anpassungstaktik, um ihnen den Eintritt in die Kirche zu erleichtern? Wurde dabei nicht sträflich ignoriert, daß die Kirche das wahre Israel ist, daß also der Weg in sie zugleich - über die Beschneidung - in das Gesetz führt? Andererseits würde die Forderung der Beschneidung auch für die Heiden bedeuten, daß das Heilsgeschehen nicht die einzige Bedingung des Heils wäre, daß für den Empfang der Gnade eine menschliche Vorleistung zu erbringen wäre. Und es würde von dieser Vorleistung abhängen, ob Gott mit seinem Angebot zum Zuge käme. Das Christentum wäre dann eine radikale jüdische Sekte. Es ist also die Alternative gestellt: Heil durch Gottes Tat oder durch Erfüllung bestimmter Satzungen. Dabei ist es nicht mehr wesentlich, ob man von den Heiden die Erfüllung des gesamten Gesetzes oder nur der wichtigsten Teile verlangt. Die Sache hat noch weitere Aspekte. Nicht erst die Heiden hatten sich vom Gesetz gelöst, sondern schon Judenchristen. Die Emanzipation der Juden hatte ja Paulus zur Gegenaktion veranlaßt. Daß die Heidenchristen nicht in das Gesetz eingeführt wurden, beruhte also nicht auf ihrer Weigerung; das hatte man von vornherein gar nicht von ihnen verlangt, obwohl die Missionare Juden waren. Juden und Heiden lebten unbefangen zusammen. So konnte Paulus auch ohne weiteres einen Heiden zu seinem Mitarbeiter machen, Titus (schon vor dem Konzil, Gal.2,3). Das praktische Problem der Mission und das theologische schürzten sich, und beide waren identisch. Über den konkreten Anlaß verrät Paulus nichts außer der Andeutung, daß er auf Grund einer „Offenbarung“ nach Jerusalem gereist sei. D.h. das Problem war aus irgendeinem Anlaß brennend geworden. Dann war eine grundsätzliche Lösung nicht mehr zu umgehen. Dem Paulus war klar, wie sie aussehen mußte. Etwas mehr weiß Apg. 15. Hier geht der Anstoß von Angehörigen der Jerusalemer Gemeinde aus, die in Antiochia agitieren und die Beschneidung der Heiden zur Bedingung des Heils erklären. Darauf gehen Barnabas und Paulus nach Jerusalem. Paulus vermeidet es, zu sagen: als Delegierte der Gemeinde. Wenigstens für sich selbst betont er, daß er den Auftrag vom Herrn selbst erhielt. Er ist daran interessiert, den Galatern gegenüber jeden Anschein zu vermeiden, als sei er von menschlichen Instanzen abhängig. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das Apostelkonzil

69

Er tritt den Jerusalemern gleich auf gleich gegenüber, während er in der Apostelgeschichte als Vertreter einer von Jerusalem abhängigen Gemeinde erscheint, der eine Weisung einholt. Obwohl Paulus im Galaterbrief pro domo spricht, trifft seine eigene Beleuchtung der Dinge eher zu. Das geht aus dem Ergebnis der Verhandlungen hervor. Einig sind sich beide Parteien darüber, daß eine Übereinkunft gefunden werden muß. Denn die Einheit der Kirche darf nicht verlorengehen. Man mag fragen, wer in taktischer Hinsicht das größere Interesse hatte. Das waren eindeutig die neuen Gemeinden und ihre Vertreter. Vor allem Paulus findet sich ja kirchengeschichtlich in einer neuen Lage. Für ihn steht nicht nur die äußere Anerkennung auf dem Spiel, sondern sein „Beruf“ überhaupt: Er ist durch eine Offenbarung zu den Heiden berufen. Müssen die Heiden unter das Gesetz treten, ist sein Auftrag vereitelt (Gal.2,2) und er wird sich vor dem Herrn verantworten müssen. 2. Der Verlauf Die sachliche Position des Paulus ist von vornherein klar. Denn sie ist theologisch begründet. Auf der anderen Seite ist es begreiflich, daß bei den Judenchristen die Meinungen auseinandergingen. Judenchristen von Ansehen wie Barnabas hatten lange mit Erfolg gearbeitet. Die neuen Gemeinden waren nicht zu übersehen. Daneben gab es Judenchristen, für die das Gesetz nach wie vor galt. Es wäre zu simpel, sie als borniert zu bezeichnen. Sie hatten für sich die Heilsgeschichte: Die Kirche ist Israel. Jesus, der Messias, hat durch sein Opfer den Neuen Bund gestiftet. Das Zeichen des Bundes und der Verheißung ist das Gesetz mit der Beschneidung. Ob die Beschneidung durch die Taufe ersetzt oder vielmehr gerade besiegelt werde, das war für einen Judenchristen keine einfache Frage. Über die Einzelheiten der Verhandlungen deutet Paulus an, daß es heftige Auseinandersetzungen gab, Gal.2,4: „Falsche Brüder“ treiben um, d.h. natürlich: Sie verlangen die allgemeine Beschneidung in der Kirche. „Falsche Brüder“ muß nicht heißen, daß sie subjektiv böswillig sind. Es ist ein objektives Urteil: Ihr Verhalten wirkt dem Wesen der Heilstat entgegen. Für Paulus ist schon ein Kompromiß in der Mitte unmöglich, weil die Freiheit die direkte Folge des Kreuzes ist, das den Fluch des Gesetzes brach. Nach Apg. 15 sind die Vertreter des Gesetzesstandpunktes Pharisäer, also ehemalige Parteigenossen des Paulus. Das ist ohnehin wahrscheinlich und kann auch ohne Quellennachrichten erschlossen werden. Über den weiteren Verlauf gibt die Apostelgeschichte mehr Details. Nach ihr wird die Verhandlung völlig von Petrus und Jakobus bestimmt. Beide geben ihre - sachlich auf dasselbe hinauslaufenden - Voten ab: Es wäre für die Heiden eine zu große Last, das Gesetz tragen zu müssen. Ihnen schließt sich die Versammlung an. Barnabas und Paulus sind nur die Empfänger des Beschlusses. Johannes, nach Gal.2 einer der führenden Verhandlungspartner, wird übergangen, ebenso die Anwesenheit des Heidenchristen Titus, der für Paulus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

70

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

als Exempel dient: Ihm wurde die Beschneidung nicht auferlegt. Überhaupt ist Apg. 15 wieder einseitig auf die Führungsrolle Jerusalems eingestellt. Aber in Wirklichkeit ist Paulus Partner, nicht Befehlsempfänger. Wo die Apostelgeschichte und der Galaterbrief voneinander abweichen, verdient der Galaterbrief durchweg den Vorzug. Lukas besaß über das Konzil offenbar keine zusammenhängende Quelle, sondern versuchte, sich aus zerstreuten Nachrichten ein Bild zu machen. Das Ergebnis: Es kommt zur Einigung zwischen Paulus und den Jerusalemer „Autoritäten“, unter denen die drei Säulen besonders hervorgehoben werden (Gal. 2,6-10; rätselhaft ist die beiläufige Bemerkung, was diese Autoritäten einst gewesen seien, sei ihm gleichgültig). Dem Paulus wird keine „Auflage“ gemacht, d.h. die Heidenchristen sind ohne Vorbehalt frei. Nicht sicher aufzuhellen ist auch die Erklärung, hinsichtlich der Beschneidung des Titus habe er auch nicht einen Augenblick nachgegeben. Warum betont er das? Gingen in Galatien Gerüchte um, daß er doch teilweise nachgegeben habe? Notwendig ist diese Annahme freilich nicht. Man kann die Bemerkung auch so erklären, daß Paulus einfach nachdrücklich diesen besonders klaren Beweis ins Feld führt. Die Übereinkunft betrifft auch die Judenchristen: Sie halten weiterhin das Gesetz, bleiben also was sie sind. Ist das nun ein Kompromiß zwischen zwei Standpunkten? Nein. Denn die Forderung des Paulus nach Freiheit ist nicht ein abstrakter Grundsatz, sondern die Darstellung des „allein durch Gnade“. Das wird für die Heiden so verwirklicht, daß sie keine menschliche Vorleistung - durch die Übernahme von Gesetzesbestimmungen - zu erbringen brauchen. Für die Judenchristen ergibt derselbe Gesichtspunkt, daß auch ihnen keine Vorleistung - in ihrem Fall: durch das Abschütteln des Gesetzes - auferlegt wird. „Allein durch Gnade“ bedeutet, daß jeder als der berufen ist, der er ist, der Jude als Jude, der Heide als Heide; Paulus formuliert es l.Kor.7: „jeder in seiner Berufung“. So wenig der Heide Jude werden muß, so wenig muß der Jude sein Judentum aufgeben. Natürlich hat das Halten der Gesetze für ihn nun einen neuen Sinn gewonnen: Es ist jetzt nicht mehr Mittel, um das Heil zu erwerben, sondern gerade Zeichen dafür, daß dieses bedingungslos geschenkt wird. Mit diesem Vertrag ist das Fundament für die gesamte künftige Mission gelegt. Das heißt nicht, daß die konkreten Probleme für alle Zeiten erledigt wären. Auch diese Lösung ist eine geschichtliche; das wird sich bald zeigen. In der Verpflichtung der Judenchristen auf das Gesetz ist ein Konflikt angelegt, zugleich allerdings auch die Möglichkeit der Überwindung. Ein offener Punkt ist: Wie gestaltet sich auf Grund dieser Bestimmung das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen in derselben Gemeinde? Tritt hier nicht ein Rückschritt ein? Bisher lebte man harmlos zusammen. Müssen sich aber nicht nunmehr die Judenchristen wegen ihrer rituellen Reinheitsvorschriften zurückziehen? Im Sinne des Paulus sicher nicht, da für ihn auch die Bindung an das Gesetz keine „gesetzliche“ ist; l.Kor.9,20 f.! Aber abseits von ihm können Konflikte ausbrechen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das Apostelkonzil

71

Der Fundierung der Mission dienen zwei zusätzliche Vereinbarungen, welche die erzielte Übereinkunft nicht einschränken, sondern konkretisieren: 1. Die Arbeitsgebiete werden abgegrenzt: Petrus und Paulus stehen sich als der exemplarische Judenapostel und Heidenapostel gegenüber. Beide sind für ihr Amt vom Herrn selbst legitimiert. Daraus wird jetzt die Folgerung gezogen, daß die Jerusalemer von jetzt an für die Juden zuständig sind, „wir“, d.h. Paulus und Barnabas, für die Heiden. Diese Abgrenzung wird von manchen Auslegern als eine geographische verstanden: Die einen konzentrieren sich auf das überwiegend von Juden bewohnte Palästina, den anderen fällt die übrige Welt zu. Aber eine solche Aufteilung kann man sich nicht wohl als ein praktikables Arbeitsprogramm vorstellen. Auch entspräche diese Auslegung nicht dem Sinn der gesamten Übereinkunft. Gemeint sind vielmehr die Juden und die Heiden überhaupt. Das geht schon daraus hervor, daß Petrus nach dem Konzil außerhalb Palästinas auftritt. Wieder ahnt man einen Keim künftiger Konflikte: Wenn Paulus in eine Stadt kommt, in der Juden wohnen - und das ist in jeder größeren Stadt der Fall - , muß er dann darauf verzichten, sich an die Juden zu wenden? Das tut er nicht: 1.Kor. 9,20! Er kann es auch gar nicht - wegen seiner Theologie: Röm. 9-11 ! Aber damit werden Kämpfe fast unvermeidlich und sie brechen aus. 2. Paulus und Barnabas verpflichten sich, in ihrem Missionsbereich eine Kollekte für die Armen, nämlich in Jerusalem (vgl. Röm. 15,25 f.), zu sammeln. Paulus versichert, er habe sich unverzüglich ans Werk gemacht. Diese Kollekte ist mehr als eine karitative Aktion. Sie zieht sich von jetzt an wie ein roter Faden durch das Leben des Paulus. Daher wird an späterer Stelle wiederholt auf sie zurückzukommen sein. Da sie aber zu vielen Diskussionen Anlaß gab und gibt, ist hier das Grundsätzliche zu besprechen. Auffällig ist übrigens, daß die Apostelgeschichte diese Vereinbarung so gut wie verschweigt. Sie erwähnt sie weder in Kap. 15 noch später in der Schilderung der Mission des Paulus noch da, wo eine Erwähnung unumgänglich scheint, bei der letzten Reise des Paulus nach Jerusalem, die ja keinen anderen Zweck hatte, als die Kollekte zu überbringen (Röm. 15,25 f.). Nur einmal wird sie beiläufig und nachholend gestreift (Apg. 24,17), und zwar so undeutlich, daß ein Leser, der die Briefe des Paulus nicht kennt, die Anspielung kaum verstehen kann. Diese Kollekte wurde nun schon so erklärt: In Wirklichkeit sei sie eine regelrechte Kirchensteuer gewesen, die dem Paulus auferlegt worden sei. Damit habe er anerkennen müssen, daß er mit seinen Gemeinden der Urgemeinde als dem rechtlichen Vorort der ganzen Kirche unterstellt sei. Jerusalem spiele hier bereits eine ähnliche Rolle wie später Rom. „Die Armen“ meine nicht Bedürftige im sozialen Sinn, sondern sei eine religiöse Bezeichnung für die Urgemeinde. Zur Stützung dieser Deutung wird noch auf das Judentum hingewiesen: Jeder erwachsene Jude in der ganzen Welt hat jährlich eine Abgabe an den Tempel in Jerusalem zu entrichten. Daraus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

71

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

wird gefolgert, die Kollekte sei nach diesem Vorbild als die Abgabe des „wahren Israel“ eingerichtet worden. In Wirklichkeit ist diese angebliche Parallele ein Beweis gegen diese Hypothese: a) Die Tempelsteuer müssen alle Juden bezahlen, auch die in Palästina wohnenden. Sinngemäß müßte das für die Christen eine Besteuerung aller ergeben, nicht nur der Heidenchristen. b) Die Tempelsteuer ist eine regelmäßige, jährliche Abgabe, die Kollekte eine einmalige. c) Sie ist, wie Röm. 15,25 f.; 2.Kor.8,9 erklären, eine karitative Aktion für wirklich Arme. Nur erschöpft sich allerdings der Sinn nicht in der Caritas als solcher. Diese Kollekte ist die sichtbare Darstellung, daß die Kirche eine Einheit ist, daß sich die Heidenkirche - bei anderen Lebensformen - nicht aus dem geschichtlichen Zusammenhang mit ihrer Stiftung löst, daß die Kirche gerade dann, wenn sie sich nunmehr aus zwei Gruppen nicht nur verschiedenen Lebensstils, sondern auch verschiedener heilsgeschichtlicher Stellung zusammensetzt, die eine Kirche aus Juden und Heiden ist. Die Kollekte stellt die Geschichtlichkeit der Kirche und die Universalität des Heils dar: Beides ist eine Einheit. Zusammenfassend: Es ist ein Fundament gelegt; es bleiben aber offene Stellen. Ein Teil der Judenchristen fügt sich dem Beschluß nicht (Galaterbrief!). Das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen ist problematischer als vorher. Die Trennung der Kompetenzen zwischen Jerusalem und Paulus ist unklar und wird zu Konflikten führen. 3. Das Problem des „Aposteldekrets“ An einer Stelle besteht zwischen dem Bericht des Paulus und dem der Apostelgeschichte ein offener Widerspruch. Zwar wird auch nach Apg. 15, 10.19 den Heiden das „Joch“ des Gesetzes nicht auferlegt. Aber sie kennt einen Zusatz: Statt dessen habe man die Heiden auf ein Minimum ritueller Vorschriften verpflichtet; diese Zusatzbestimmung pflegt man als das „Aposteldekret“ zu bezeichnen. Die Apostelgeschichte bringt es nicht weniger als dreimal (15,20.29; 21,25). Sein Inhalt: Die Heiden sollen sich enthalten erstens des Genusses von Götzenopferfleisch, zweitens der Unzucht, drittens des Genusses von „Ersticktem“ (d.h. Fleisch von Tieren, die nicht nach der jüdischen Ritualvorschrift geschlachtet sind) und viertens von Blut (Speisen, die mit Blut zubereitet sind, z.B. Blutwurst). Das sind die vier Vorschriften, die nach 3.Mose l 7 f. auch für die Nichtjuden gelten, die in Israel wohnen. Daß dieses Dekret auf dem Konzil erlassen wurde, wird durch die bestimmte Behauptung des Paulus ausgeschlossen, es seien keine zusätzlichen Auflagen gemacht worden (Gal.2,6, mit der schon besprochenen Ausnahme, die keine ist: „nur daß wir der Armen gedenken sollten“, V. 10). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das Apostelkonzil

73

Kann der Widerspruch zwischen der Apostelgeschichte und Paulus erklärt werden? Jeder Versuch bleibt natürlich Vermutung. Eine Hypothese ist: Paulus habe das Dekret doch gekannt. Das gehe aus einzelnen Spuren in seinen Briefen, vor allem in l.Kor. 8-10 hervor. Aus diesen Kapiteln ist zu ersehen, daß in Korinth zwei Themen des Dekrets akut geworden sind: Unzucht und Verhalten zum Götzenopferfleisch. Paulus geht ausführlich auf sie ein, erwähnt aber das Dekret nicht. Kannte er es nicht oder wollte er nichts von ihm wissen? Ist nicht das Letztere wahrscheinlich? Warum ist denn gerade diese Problematik aufgekommen? Muß man nicht annehmen, das Dekret sei in Korinth bekannt geworden und habe nun diese Streitigkeiten entfacht? Man kann noch weiter vermuten: Da im l.Korintherbrief Petrus genannt wird, könnte angedeutet sein, dieser sei persönlich in Korinth gewesen und habe für das Dekret geworben. Paulus dagegen habe es abgelehnt und darum in seinem Brief mit Stillschweigen übergangen. Doch werden mit dieser Hypothese zu zuversichtlich Folgerungen aus dem Schweigen gezogen. Zudem: Wenn schon das Dekret auf diese Weise nach Korinth gekommen wäre, so wäre gerade bewiesen, daß es nicht auf dem Konzil beschlossen wurde, sondern von einem anderen Gremium bei anderer Gelegenheit und auf jeden Fall nach dem Konzil. Für die gleiche Annahme - Paulus habe das Dekret gekannt - beruft man sich auch auf den Galaterbrief. Es sei doch auffällig, mit welcher Wucht Paulus betone: Es gab keine Zusatzforderung. Seine Darstellung sei polemisch, einseitig. In der Zeit zwischen dem Konzil und der Abfassung des Galaterbriefs sei das Dekret in Galatien verbreitet worden. Nun erkläre Paulus (so sei in dem Satz der Ton zu setzen): „Mir“ (nur mir persönlich) „wurde diese Auflage nicht gemacht.“ Gewiß treibt Paulus an dieser Stelle persönliche Apologetik; aber gerade darum hätte er nicht so argumentieren können, wenn das Dekret wirklich auf dem Konzil erlassen worden wäre. Sonst hätte er seinen Gegnern die Trümpfe in die Hand gespielt. Es bleibt also wahrscheinlich, daß er das Dekret überhaupt nicht kennt. Wenn er es doch kennen sollte, bestreitet er jedenfalls, daß es ein Bestandteil der Vereinbarung von Jerusalem sei, und er bestreitet seine Geltung (nicht hinsichtlich des Inhalts, Unzucht usw., sondern hinsichtlich seines gesetzlichen Charakters). Wie kommt aber die Apostelgeschichte zu ihrer Verknüpfung des Erlasses mit dem Konzil? Um wenigstens zu begründeten Vermutungen zu kommen, ist zu fragen: Wo sind diese Bestimmungen sinnvoll? Wo werden sie also geschaffen sein? Offensichtlich sollen sie ja das Zusammenleben von Judenund Heidenchristen ermöglichen: Die Heiden sollen soviel an jüdischen Reinheitsvorschriften einhalten, daß sich die Juden durch den Umgang mit ihnen nicht beflecken; d.h. das Dekret ist in einer gemischten Gemeinde entstanden. Das paßt dazu, daß die Frage nach der Gestaltung des Zusammenlebens beider Gruppen auf dem Konzil nicht beantwortet worden war, ja, daß das Konzil noch zu einer Erschwerung führen konnte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

74

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Wieder kann man die Vermutung - mehr ist es nicht - noch weiter ausschweifen lassen: In Antiochia kommt es - offenbar nicht lange nach dem Konzil - zu dem berühmten Zusammenstoß zwischen Paulus und Petrus (samt Barnabas), Gal.2,ll ff. Petrus kommt nach Antiochia und verkehrt im alten freien Stil mit den Heiden. Dann kommen aber einige Anhänger des Jakobus - und Petrus und Barnabas ziehen sich vom Umgang mit den Heidenchristen zurück. Hier zeichnet sich eine mögliche negative Wirkung des Konzils ab: daß die bestehenden gemischten Gemeinden aufgespalten werden, da die Judenchristen jetzt wieder unter das Gesetz zurückgeholt werden. Man folgt darin dem Buchstaben des Konzils - aber wie steht es mit seinem Geist? Paulus jedenfalls bestreitet eine solche Konsequenz. Er argumentiert: Durch die tatsächliche Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen hatte Petrus dokumentiert, daß der Sinn des Konzils nicht die Spaltung war. Die Vereinbarung des Konzils ist nicht ein Gesetz, das so formalisiert werden kann, daß es gegen seine eigenen Voraussetzungen und Intentionen - die Einheit der Kirche - verwendet werden kann. Petrus und seine Genossen hatten das ganz richtig verstanden und praktiziert. Wenn sie sich jetzt auf den Buchstaben zurückziehen, dann tun sie das nicht aus subjektiver Überzeugung oder objektiver Sachlichkeit, sondern aus subjektiver Angst vor einem Druck von außen, also aus Ursachlichkeit, der sie die Einheit der Kirche opfern. Sie heucheln, d.h. ihr Verhalten und die Wahrheit des Evangeliums klaffen auseinander. Im Galaterbrief leitet Paulus mit dem Bericht über diesen Zwischenfall sachgemäß die weitausholende, grundsätzliche Darlegung der Rechtfertigungslehre ein. Man wüßte gern, wie die Affäre ausging. In Antiochia scheint sich die Mehrheit auf die Seite des Petrus und Barnabas gestellt zu haben. Die Verbindung des Paulus mit dieser Gemeinde scheint von da an abgebrochen zu sein. Er arbeitet auch nicht mehr mit Barnabas zusammen. Apg. 15,36-39 ist die Trennung vermerkt, wenn auch zu einer rein persönlichen Differenz verharmlost. Von diesem Zeitpunkt an verschwindet Antiochia aus dem Blickfeld bis in die Zeit nach dem Jahr 100, die Zeit des Bischofs Ignatius. In dessen Briefen erscheint die Gemeinde als im wesentlichen heidenchristlich (Ign.Phld.5,2; Magn.8, 1; 9,1). Paulus ist für ihn eine Autorität. Vielleicht darf man daraus schließen, daß entweder jener Bruch kein völliger war (Paulus nennt später ja Kephas und Barnabas ohne Ressentiment, vgl. z.B. l.Kor.9!) oder daß später wieder Beziehungen angeknüpft wurden (vgl. Apg. 18,22). Das Verhältnis zwischen diesem Streit und dem Dekret kann man sich nun vermutungsweise so denken: Dieser Zusammenstoß machte die Lücke in den Beschlüssen des Konzils bewußt, nämlich das Fehlen einer Regelung für das Zusammenleben in den gemischten Gemeinden. Um sie zu schließen, entwarf und erließ man das Dekret, allerdings ohne Wissen und Einverständnis des Paulus, aber gedeckt durch die Autorität des Petrus. Nach einer anderen Hypothese wäre das Dekret schon vor dem Konzil in Jerusalem beschlossen und nach Antiochia gesandt worden. Das sei gerade der Anstoß © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus und seine Gemeinden

75

für das Konzil geworden: In Antiochia brach der Konflikt aus; er sollte nun behoben werden. Gegen diese Einordnung des Dekrets sprechen aber gewichtige Bedenken: Konnte dann Paulus darüber schweigen? Konnte er den Anstoß zum Streit in dieser Weise dem Petrus - und nicht dem Jakobus - zuschieben? Das Dekret hat eine Nachgeschichte. Es setzte sich weitgehend durch. In einer späteren Zeit, als die Kirche überwiegend aus Heidenchristen bestand und die Kämpfe um das Gesetz abgeklungen waren, verstand man es nicht mehr als kultische Regulierung, sondern als Sittengebot, nämlich als Verbot von Götzendienst, Blutschuld und Unzucht. Darin zeichnet sich die Unterscheidung von Todsünden und geringeren Sünden ab. Nach der positiven Seite wurden die Verbote durch die „goldene Regel“ ergänzt. In dieser neuen Fassung wurde das Dekret in einige Handschriften des Neuen Testaments aufgenommen.

IX. KAPITEL

Paulus und seine Gemeinden 1. Überblick Wir kommen in die einzige Epoche und in den einzigen Raum der urchristlichen Geschichte, die unmittelbar zu erkennen sind. Denn hier sind primäre Quellen vorhanden, die (echten) Briefe des Paulus; alle erhaltenen stammen aus der Zeit nach dem Konzil. Sie geben ein Bild von der Mission des Paulus nach dem Konzil, dem Fortschritt seiner Arbeit, der Gründung und Formung von Gemeinden und deren innerem Leben. Zu den Briefen kommt als sekundäre Quelle die Apostelgeschichte, die es möglich macht, den äußeren Ablauf einigermaßen zu verfolgen. Sie vereinfacht ihn zwar; aber sie gibt den Weg des Paulus durch die verschiedenen Gebiete, die Abfolge der Gemeindegründungen im ganzen zuverlässig wieder. Das gilt unbeschadet der Tatsache, daß durch den Vergleich der Apostelgeschichte mit den Briefen Lücken sichtbar werden; z. B. wird in der Apostelgeschichte die Mission in Galatien, wo doch eine Mehrzahl von Gemeinden existierte (Gal. 1,2), faktisch übergangen. Galatien wird nur im Vorbeigehen zweimal erwähnt: Nach Apg. 16,6 reist Paulus durch Phrygien und Galatien, aber ohne dort zu predigen; der heilige Geist hindert ihn daran. Er soll nämlich unverzüglich an die Küste reisen und von dort nach Mazedonien übersetzen. Dann erfährt man Apg. 18,23 überraschend von einer zweiten Reise durch dieselben Landschaften, wobei Paulus „alle Jünger stärkt“. Die Unstimmigkeit zwischen beiden Notizen ist so auffallend, daß zur Erklärung der ersten vorgeschlagen wird: „Sie zogen durch Phrygien und das galatische Land, da sie vom Geist gehindert worden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

76

Hans Conzclmann, Geschichte des Urchristentums

waren, in (der Provinz) Asia zu predigen.“ Es sei damit angedeutet, daß sie in Phrygien und Galatien - anders als in Asia - gerade gepredigt haben. Diese Deutung ist nach dem griechischen Wortlaut möglich; aber dann stimmt die Geographie nicht mehr. Denn dann führte der Weg des Paulus von der kleinasiatischen Westküste nach Osten bzw. Nordosten ins Landesinnere. Die Apostelgeschichte will aber gerade umgekehrt darauf hinweisen, daß Paulus vom Geist zielsicher aus dem inneren Kleinasien nach Mazedonien hinüber geleitet wird. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit ist: Die Gemeinden, an die der Galaterbrief gerichtet ist, liegen gar nicht im eigentlichen Galatien (Galatien: das Wohngebiet der kleinasiatischen Kelten, um das heutige Ankara, damals: Ankyra). Es handelt sich vielmehr um die Gemeinden südlich der Landschaft Galatien, deren Gründung Apg. 13 f. („erste Missionsreise“) erzählt ist. Die dortigen Städte waren zwar nicht von Galatern bewohnt, aber sie gehörten politisch zur selben Provinz. Nimmt man das an, braucht man die „Gemeinden von Galatien“ nicht mehr an unbekannten Orten zu suchen. Nur: Konnte Paulus andere so ohne weiteres mit „Galater“ anreden, einem damals nicht eben wohlangesehenen Namen? Ein anderer Mangel der Apostelgeschichte betrifft das innere Leben der Gemeinden: Innere Kämpfe, wie sie im Galater- und 1. und 2.Korintherbrief sichtbar werden, gibt es für sie nicht. Die Kirche erscheint als ein fester Block. In ihr wird die reine Lehre verkündigt und angenommen. Dieses Bild wirkt bis heute nach. In der Apostelgeschichte gibt es nur wenige, scheinbare Ausnahmen von der Regel der Geschlossenheit: In Ephesus erscheint eine merkwürdige Gruppe von Christen, die nichts vom heiligen Geist weiß (Apg. 19,1 ff.). Und Apollos predigt dort, vom Geist erfüllt, aber über die christliche Glaubenslehre zunächst nur unzulänglich informiert (Apg. 18,24 ff.). Aber diese Episoden dienen nur dem Gesamtbild: Solche Außenseiter werden rasch und reibungslos in die Kirche eingegliedert. Erst für die Zeit nach dem Tod des Paulus ist das Aufkommen von inneren Krisen vorgesehen. Die Voraussage solcher wird als Teil des Vermächtnisses des Paulus wenigstens angedeutet (Apg.20,29 f.). Die Apostelgeschichte schneidet die gesamte Ausbreitung der Kirche nach dem Konzil auf die Person des Paulus zu, und zwar in doppelter Weise: a) Die Arbeit der anderen Missionare wird nicht mehr berücksichtigt; wenn sie einmal erwähnt werden, bleibt es bei der bloßen Andeutung, etwa daß Barnabas und Johannes Markus auf Cypern arbeiten (15,39). Sie werden mit dieser Notiz sozusagen aus dem Blickfeld entlassen. Übergangen wird auch die Tätigkeit des Petrus, die Ausstrahlung der Urgemeinde (wieder bis auf eine einzige Andeutung, 21,20), die Mission der Verwandten Jesu (l.Kor. 9,5). b) Die Mitarbeiter des Paulus erscheinen als bloße Reisebegleiter. So wichtige Leute wie Titus sind nicht einmal genannt. In Wirklichkeit versahen die Mitarbeiter (Timotheus, Silas, Titus usw.) selbständige Auf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus und seine Gemeinden

77

gaben. Sie wurden in kritischen Lagen mit wichtigen Missionen betraut, so Timotheus nach 1.Kor. 4,17, Titus nach 2.Kor. 7,6. Die Organisation der Kollekte (s. o.) erforderte einen gewissen Aufwand an Organisation und selbständiger Mitarbeit (2.Kor.8 f.). Die Gemeinden sind, auch wenn Paulus an einen anderen Ort übergesiedelt ist, Zentren der Mission. Diese wird von Schülern des Paulus geleitet. Das ist aus dem Brief an die Kolosser zu erkennen. Dieser Brief ist vielleicht (besser: wahrscheinlich) nicht von Paulus selbst verfaßt. Er spiegelt Verhältnisse in Kleinasien, in der Umgebung von Ephesus: Im Tal des Lykos existieren christliche Gemeinden, die nicht von Paulus persönlich gegründet sind, in Kolossä, Hierapolis, Laodizea (vgl. dazu auch den unbezweifelt echten Brief an Philemon). Gründer der Gemeinde in Kolossä ist Epaphras (Kol. 1,7; 4,12; Phlm.23; in der Apostelgeschichte nicht genannt). Eine von der Apostelgeschichte völlig vernachlässigte Frage ist die nach der Finanzierung dieser Mission. Die herkömmliche Vorstellung, die sich freilich auf die Apostelgeschichte und einige Stellen in den Briefen des Paulus stützt, ist zu idyllisch: Paulus ist Handwerker (Apg. 18,3: „Zeltmacher“) und verdient als solcher seinen Unterhalt. Das wird in der Tat durch ihn selber bestätigt, l.Thess.2,9; l.Kor.4,12; 9,1 ff. Daran ist natürlich nicht zu zweifeln. Aber mit seinem Lohn konnte er wohl nicht einmal seinen eigenen Aufwand finanzieren (es sei denn, er wäre ein kleiner Unternehmer gewesen): Reisekosten, Bücher, Schreibmaterial, Bezahlung von Stenographen. Und es reichte schon gar nicht für die Bezahlung der Mitarbeiter (wieder: mit Reisekosten usw.). Eine Andeutung des Betriebs in seinem Organisationszentrum steht 2.Kor. 11,28. Paulus gibt einige Hinweise: In der ganzen Kirche gilt die Regel, daß die Missionare von den Gemeinden unterhalten werden, in denen sie sich aufhalten, l.Kor.9. Paulus und Barnabas verzichten nun freiwillig darauf, ohne aus dem Verzicht wieder ein Gesetz zu machen. Das begründet Paulus doppelt. Erstens mit seiner Sonderstellung: Er ist nicht freiwillig Missionar; er ist vom Herrn in Dienst genommen; er kann nicht anders; ein Zwang liegt auf ihm. Daraus zieht er die Konsequenz, kein Entgelt anzunehmen. Zweitens: Dadurch wahrt er seine Unabhängigkeit. Wenn diese nicht auf dem Spiel steht oder ins Zwielicht gerät, kann er Unterstützung annehmen, und er tut das auch, z.B. von der Gemeinde in Philippi: Phil.4,10 ff.; am deutlichsten ist 2.Kor. 11,7-10. Vielleicht deutet auch Apg. 18,5 etwas davon an: Zunächst arbeitet Paulus in Korinth als Handwerker; dann treffen Silas und Timotheus aus Mazedonien ein; von da an widmet sich Paulus ganz dem Wort. Das bedeutet doch wohl: Jene brachten das erforderliche Geld mit, so daß Paulus jetzt nicht mehr auf Verdienst angewiesen ist. Übrigens hält er diese Unterstützungen grundsätzlich von der Kollekte für Jerusalem getrennt. Er legt Wert darauf, daß diese von Vertretern der Gemeinden kontrolliert wird, 2.Kor.8,18 ff.; 9,3 ff. Theologie und Missionsmethode sind aufs engste verknüpft. Grundlage ist das Sendungsbewußtsein des Paulus als „Apostel“. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

78

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Der Begriff des Selbstbewußtseins ist in der neueren Theologie in Mißkredit geraten: Man könne das Leben und Werk des Paulus nicht vom Subjektiven und Psychologischen, also dem Selbstbewußtsein her verstehen, sondern vom Objektiven seines Auftrags und der theologischen Interpretation desselben aus, also von seinem Selbst„verständnis“ her. Nun ist für ihn seine Berufung gewiß nicht nur ein subjektives Erlebnis, sondern auch ein objektiv ergangener Ruf. Er hat - nach seinem eigenen Bewußtsein - seinen Auftrag nicht aus sich selbst geschöpft. Und in der theologischen Klärung seiner Arbeit kümmert er sich um die seelische Seite seines Erlebnisses nicht. Aber eben dieser Tatbestand kann als sein Selbstbewußtsein bezeichnet werden. Der Inhalt seines Sendungsbewußtseins ist: Er ist zu den Heiden gesandt. Das setzt die Freiheit voraus. Er kann den Juden Jude, den Heiden Heide sein, l.Kor.9,19 ff. Sein Arbeitsgebiet ist die ganze Welt (d.h. faktisch: das römische Reich), mit einer Grenze: sofern nicht schon andere irgendwo missionieren. Auf fremdes Gebiet greift er nicht über (Röm. 15,20). Daraus resultiert seine Methode: Der genannte Grundsatz besagt nicht, daß er Orte meidet, an denen sich schon Christen befinden, sondern solche, wo bereits eine wirkliche Gemeinde besteht. Als er nach Korinth kam, waren wohl schon einige Christen dort, so das Ehepaar Aquila und Prisk(ill)a; ebenso stand es nach der Apostelgeschichte in Ephesus. Paulus baut nun eine Gemeinde auf. Er geht in die Zentren, etwa die Provinzhauptstädte: Thessalonich, Korinth, Ephesus. Ist hier die Gemeinde fest begründet - nach zwei, drei Jahren etwa - , verlegt er den Ort seiner Tätigkeit. Die Gemeinde treibt die Mission weiter. Zur Zeit des 2. Korintherbriefs gibt es in Achaia bereits eine Mehrzahl von Gemeinden (1,1). Als Paulus mit dem Sammeln der Kollekte fertig ist und diese nach Jerusalem überbringen will, sieht er seine Aufgabe in der Osthälfte des römischen Reichs abgeschlossen (Röm. 15,19). Daher will er nach der Reise nach Jerusalem in den Westen gehen - nicht nach Rom, denn da besteht schon eine Gemeinde, sondern nach Spanien (Röm. 15,24.28). Zur Vorbereitung dieser Reise, die ihn über Rom führen wird, schreibt er den Römerbrief. Übrigens ist vor einem in der Literatur gelegentlich gezeichneten Klischee zu warnen: Manchmal wird dieses Missionsverfahren direkt aus der Eschatologie des Paulus hergeleitet: Er erwartet ja das Weltende in Bälde. Auf der anderen Seite sieht er seine Aufgabe als eine weltweite. Nun kann man kombinieren: Er habe sich unter einem ungeheuren Zeitdruck gefühlt. Er habe das Bewußtsein gehabt, vor der Ankunft des Herrn die Enden der Erde erreichen zu müssen. Daher eile er rastlos von Stadt zu Stadt. Daß er auf die baldige Erscheinung des Herrn hofft, ist ebenso richtig wie, daß er seine Sendung als „ökumenische“ versteht. Aber er zieht daraus nicht diese Konsequenz. Von rasender Hast ist nichts zu bemerken, im Gegenteil: Er läßt sich Zeit. Er ist kein Apokalyptiker und kein Bekeh© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus und seine Gemeinden

79

rungstechniker. Sein Hauptgesichtspunkt und seine Konsequenz aus Eschatologie und Kirchenbegriff heißt nicht: „überall“, sondern: Aufbau der Kirche. Er weiß, daß andere neben ihm arbeiten. Er rechnet mit Faktoren, die in der modernen Deutung übersehen sind, z.B. daß ihm der Satan Hindernisse in den Weg wirft (l.Thess.2, 18). Der gewöhnliche Weg zur Gründung einer Gemeinde ist nach der Apostelgeschichte der: Zunächst geht Paulus an einem neuen Ort in die Synagoge und sucht die Juden zu gewinnen. Diese versagen sich aber ganz oder zum größten Teil. Paulus muß aus der Synagoge weichen und wendet sich jetzt an die Heiden. Eine Anknüpfung kann er bei den „Gottesfürchtigen“ finden, also bei denen, die mit dem Judentum sympathisieren. Daß Paulus in den Synagogen eine Anknüpfung suchte, dürfte durch die Vereinbarung des Apostelkonzils nicht ausgeschlossen sein. Unter seinen Mitarbeitern sind Juden. Nach 2.Kor. 11,24 erlitt er fünfmal die Synagogenstrafe der 39 Schläge. Das setzt voraus, daß er dort auftrat und sich der Disziplinargewalt der jüdischen Gemeinden unterwarf. Dort konnte er auch am ehesten Verbindung zu Heiden gewinnen. Doch ist die Darstellung der Apostelgeschichte zu schematisch; sie hat eine gewisse Tendenz: Nach der Ordnung der Heilsgeschichte, wie sie Lukas sieht, muß Paulus zunächst die Juden zu gewinnen suchen (13,46). Erst wenn sie den Glauben verweigern, ist der Weg zu den Heiden gewiesen. Das entspricht in dieser Form nicht - zum mindesten nicht ganz - dem paulinischen Verständnis der Heilsgeschichte. Dieses skizziert er Röm. 9-11: Gewiß erschien das Heil in Israel. Aber Israel lehnte es ab. Eben darum ist er zu den Heiden gesandt. Dadurch, daß diese es annehmen, soll Israel eifersüchtig gemacht werden. Gottes Ziel ist auch Israels Heil. 2. Der äußere Verlauf der Mission Man pflegt diesen Abschnitt der Mission des Paulus in Anlehnung an die Apostelgeschichte in die zweite und dritte Missionsreise zu gliedern. In der Tat besteht in Apg. 18,18 ff. ein gewisser Einschnitt durch eine Reise des Paulus nach Palästina. Eine sachliche Bedeutung für die Gestaltung der Mission hat er aber nicht. Abgesehen von den oben erwähnten Lücken stellt die Apostelgeschichte den Verlauf zutreffend dar. Sie unterstreicht stark den Übergang von Kleinasien nach Europa (Mazedonien), 16,6-10. Von diesem Punkt an steht die Geschichte des Paulus im Licht; von hier an ist sie auch durch seine Briefe dokumentiert. Allerdings konzentrieren sich diese auf solche Vorgänge in den Gemeinden, die unmittelbar mit Glaubensfragen und Problemen der Lebensgestaltung zusammenhängen. Auf das persönliche Schicksal des Paulus gehen sie nur in Ausnahmefällen ein: Die Korintherbriefe erwähnen eine extreme Gefährdung in Ephesus (l.Kor. 15,32; 2.Kor. 1,8); der 2.Korintherbrief enthält einen Leidenskatalog, der ahnen läßt, was ihm sowohl auf den einzelnen Missionsstationen als auf den Reisen zwischen denselben zustieß © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

80

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

(11, 22 ff.). Übrigens gibt auch die Apostelgeschichte keine Reiseerlebnisse, wohl aber Widerfahrnisse in den Städten. Die erste Station in Europa ist Philippi (landeinwärts von Neapolis, dem heutigen Kawalla), von der Apostelgeschichte zutreffend als römische Kolonie vorgestellt. Freilich muß sie in mehreren anderen Punkten korrigiert werden; sie ist an dieser Stelle stark legendär gefärbt. Der Name der Erstbekehrten, Lydia, fehlt im Philipperbrief, und umgekehrt fehlen die dort Genannten in der Apostelgeschichte. Liest man diese, so hat man den Eindruck, der Aufenthalt des Paulus sei relativ kurz gewesen (trotz 16,18). Das paßt aber nicht zu dem Bild der Gemeinde, das der Brief bietet: Sie ist äußerlich und innerlich gefestigt und steht auf eigenen Füßen. Das setzt doch wohl einen längeren Aufbau voraus. Übereinstimmung zwischen Paulus und der Apostelgeschichte besteht darin, daß er Schweres zu erleiden hatte (l.Thess.2,2). Die scharfe Attacke gegen die Juden Phil. 3,2 läßt jüdische Beteiligung vermuten. In der Apostelgeschichte dagegen ist der Anlaß einigermaßen anekdotisch: Paulus treibt aus einer wahrsagenden Sklavin den Wahrsagegeist aus. Dadurch sind ihre Besitzer geschädigt, die bisher mit der Sklavin ihr Geschäft machten. Sie schleppen die Missionare vor die Behörde. Jedenfalls: Als Paulus die Stadt verließ, besser: verlassen mußte, ist die Gemeinde fest begründet. Zu keiner anderen ist und bleibt das Verhältnis des Paulus so herzlich-persönlich. Von Philippi bekommt er auch nach seinem Abschied Unterstützung, und von dieser Gemeinde nimmt er sie an (Phil.4, 10 ff.). Kein anderer Brief ist auf einen so warmen Ton gestimmt wie der an die Philipper. Allerdings taucht am Horizont auch dieser Gemeinde die Schwärmerei auf, die Paulus in Korinth so sehr zu schaffen machte (s.u.); aber die Gemeinde als solche erscheint als intakt. Die nächste Station ist Thessalonich (Apg. 17,1 ff., bestätigt durch l.Thess. 2, 2 f.; vgl. Phil. 4,16), das heutige Saloniki, damals Hauptstadt der Provinz Mazedonien. In der Apostelgeschichte erblicken wir das vertraute Bild: Paulus tritt in der Synagoge auf. Einige Juden und viele Sympathisierende werden gewonnen. Die Gegenaktion setzt ein. Paulus und Silas (übergangen ist an dieser Stelle Timotheus) müssen die Stadt verlassen; sie gehen in die Provinzstadt Beröa. Der ganze Aufenthalt in Thessalonich dauerte nach Apg. 17,2 nur etwa drei Wochen. Das ist unwahrscheinlich kurz. Denn auch hier besteht nachher eine solide Gemeinde, wie der bald darauf (in Korinth) geschriebene l.Thessalonicherbrief zeigt: Sie hat sich im Leiden bewährt (2,14); ihr sittlicher Stand wird gelobt (4,1; vgl. das allgemeine Lob 1,8, dann 3, 6 ff.). Paulus betont, daß er hier von der Gemeinde keine Unterstützung annahm; er arbeitete, außerdem bekam er Hilfe aus Philippi. Später nahm er von den Gemeinden in Mazedonien solche an (2.Kor. 11,9). Die Blüte des Christentums in dieser Landschaft wird durch 2.Kor. 8,1 ff. beleuchtet: Trotz ihrer Leiden und ihrer tiefen Armut spenden die dortigen Gemeinden freudig für die Urgemeinde. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus und seine Gemeinden

81

Über Beröa ist nur bekannt, was die Apostelgeschichte erzählt (17,10 ff.). Paulus selbst nennt diese Gemeinde in den erhaltenen Briefen nicht. Sie dürfte in der Sammelbezeichnung „Mazedonien“ (2.Kor. 8 f.; 11,9) eingeschlossen sein. Unter den Begleitern des Paulus auf seiner letzten Reise nach Jerusalem befindet sich ein Sopatros aus Beröa (Apg.20,4); diese Begleiter überbringen als Vertreter ihrer Gemeinden den Ertrag der Kollekte. Obwohl sich in Beröa die Dinge zunächst günstiger entwickelten als in Thessalonich, mußte Paulus schließlich auch hier wieder weichen. Die Apostelgeschichte vereinfacht die Ereignisse. Ihr zufolge geht Paulus selbst nach Athen. Silas und Timotheus läßt er zunächst zurück; sie sollen aber bald nachkommen. In Athen wartet er - vergeblich - auf sie. Während dieses Aufenthaltes hält er seine berühmte Rede auf dem Areopag, gewinnt aber nur wenige Leute für das Christentum (Apg. 17,34). Die beiden Mitarbeiter erreichen ihn dann erst auf der nächsten Station, in Korinth (Apg. 18,5). Aus dem l.Thessalonicherbrief ist aber zu ersehen, daß sich Timotheus in Athen bei Paulus befand; er wurde aber nach Thessalonich zurückgeschickt, um die Gemeinde in ihrem Leiden zu stärken (l.Thess.3, l ff.). Richtig ist, daß er dann wieder in Korinth zu Paulus stieß. Auf seinen Bericht hin schrieb Paulus den l.Thessalonicherbrief. Der Besuch des Paulus in Athen ist besonders berühmt - durch ein Kabinettstück des Lukas, eine Schilderung, in der behutsam und gelungen athenisches Lokalkolorit aufgetragen ist und die in die „Areopagrede“ einmündet, die ihren Zauber bis heute ausübt. Es ist freilich ein Meisterstück nicht des Paulus, sondern des Lukas. Offenbar gelang es nicht, in Athen eine Gemeinde zu gründen. Die Apostelgeschichte kennt zwei Namen von Bekehrten. Eine für uns all zu knappe Andeutung über seinen damaligen Zustand macht Paulus l.Kor.2,3. Ganz anders gelang es ihm, in Korinth Fuß zu fassen. Korinth ist damals die Hauptstadt der Provinz Achaia (Mittel- und Südgriechenland), zugleich auf Grund seiner hervorragenden Lage „zwischen zwei Meeren“ ein bedeutender Handelsplatz an einer der Hauptlinien des Ost-West-Verkehrs. Ihre angebliche Sittenlosigkeit war sprichwörtlich. Aber sie wird sich von anderen Groß- und Hafenstädten kaum unterschieden haben. Daß der Aufenthalt des Paulus in Korinth den Angelpunkt für die Datierung bildet, ist im II. Kapitel über die Chronologie ausgeführt. Hier trifft er das Ehepaar Aquila und Priska (so Paulus) bzw. Priskilla (so Apg. 18,2). Sie waren durch das (früher erwähnte) Edikt des Claudius aus Rom vertrieben worden. Es ist anzunehmen, daß sie bereits Christen waren, als Paulus sie kennenlernte. Im l.Korintherbrief zählt er nämlich die Leute auf, welche er in Korinth taufte, zwar nur wenige, aber doch die ersten (1,14 ff.; 16,15). Aquila und Priska sind nicht darunter. Er deutet auch sonst nicht an, daß er die beiden bekehrt habe, übrigens auch die Apostelgeschichte nicht. Waren sie aber schon Christen, dann sehen wir hier eine Spur des frühesten Auftauchens des Christentums in Rom - schon vor dem Jahr 50 - und in Korinth: Paulus war nicht der erste Christ in der 6

Conzelmann, Geschichte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

82

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Stadt. Dennoch behauptet er mit Recht, er habe die Gemeinde gegründet und den „Erstling“ von Achaia getauft. Denn von einer Gemeinde kann man vor seinem Auftreten nicht sprechen. Dieser Vorgang wird sich übrigens in Ephesus wiederholen. Nach Apg. 18,11 dauerte sein Aufenthalt etwa eineinhalb Jahre. Deutlicher als anderswo wird die Lösung der christlichen Gemeinde von der Synagoge und ihre organisatorische Verselbständigung unterstrichen (Apg. 18, 6 f.). Die Mehrheit in der Gemeinde bilden die Heidenchristen (l.Kor. 12,2). Aber auch Judenchristen sind vorhanden (Paulus deutet das l.Kor. 9,19 ff. an!). Die Apostelgeschichte weiß u.a. von der Bekehrung eines Synagogenvorstehers, Crispus. In der Grußliste Röm. 16,21 ff. sind drei ausdrücklich als Judenchristen herausgehoben, Lucius, Jason und Sosipatrus. Stellt man die Namen im l.Korintherbrief, in der Apostelgeschichte und in Röm. 16,21 ff. zusammen, so fällt die große Zahl der lateinischen Namen auf. Das ist nicht verwunderlich: Korinth war 146 v.Chr. von den Römern zerstört worden. Erst Cäsar gründete die Stadt 44 v.Chr. neu, und zwar als römische Kolonie (vgl. Philippi; s.o.), d.h. als Siedlung, die hauptsächlich der Versorgung von Veteranen diente. Seither trägt die Stadt starkes römisches Gepräge; die Ausgrabungen (lateinische Inschriften!) geben ein Bild davon. Diese Gemeinde blühte rasch auf. Ihre Bedeutung am Ende des ersten Jahrhunderts spiegelt sich in der Prophezeiung Apg. 18,9 f. und im 1. Clemensbrief, dem Schreiben der römischen an die korinthische Gemeinde (s.o.). Auch ist sie von allen paulinischen Gemeinden die geistig beweglichste, daher auch besonders anfällig. Paulus muß ihr mehrere lange Briefe schreiben (s.u.). Der Zeitraum zwischen dem Abschied in Korinth und dem Beginn in Ephesus liegt im Dunkeln. Der Bericht der Apostelgeschichte ist kaum zu verstehen. Hat Lukas einen ausführlichen Bericht aus irgendwelchen Gründen so zusammengezogen, daß er undurchsichtig wurde, oder hat er gerade umgekehrt zerstreute Nachrichten gesammelt und mühsam zu einem gewissen Ablauf zu ordnen versucht? Man lese Apg. 18,18-19,7! Paulus begibt sich nach Ephesus, bleibt aber nicht dort, sondern reist nach Palästina man sieht nicht, warum und wozu. Er kehrt über Syrien und das innere Kleinasien nach Ephesus zurück. Eine Episode, die an dieser Stelle erzählt wird (19,1-7), ist wegen ihrer Dunkelheit nicht auszuwerten. Wichtiger ist die Notiz über Apollos, der in Ephesus - unabhängig von Paulus - in die Arbeit eintritt. Er entwickelte sich rasch zu einem hochangesehenen Lehrer, der seine Tätigkeit auch nach Korinth ausdehnte, mit welchem Erfolg, zeigt der l.Korintherbrief (1,12; 3,4ff.; 16,12). Daß das Ehepaar Aquila und Priska von Korinth nach Ephesus übersiedelte - doch wohl, um die Arbeit des Paulus zu unterstützen - , bestätigen die Briefe des Paulus (l.Kor. 16,19 Grüße aus Ephesus nach Korinth; Röm. 16,3? wenn Röm. 16 das Fragment eines Briefes nach Ephesus - nicht nach Rom! - ist, wie viele annehmen). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus und seine Gemeinden

83

Das neue Zentrum, Ephesus, war damals der Sitz des Statthalters der Provinz Asia, eine der größten und berühmtesten Städte des Reiches, wirtschaftlicher Mittelpunkt und Sitz des weit angesehenen Kultes der „ephesinischen Artemis“, deren Tempel zu den sieben Weltwundern zählte. Nicht minder bekannt war freilich auch die auf der Hinterseite der Religion gedeihende „ephesische Literatur“, nämlich Zauberliteratur. Die Apostelgeschichte gibt reizvolle Episoden mit lebhaftem Lokalkolorit. Paulus tritt wie ein damaliger Wanderlehrer auf. Er mietet einen Hörsaal (19,9). Sein Erfolg dokumentiert sich in typisch ephesinischen Szenen: Magie wird - nicht ohne burlesken Einschlag - zunichte, Zauberliteratur geht in Flammen auf. Der Name der „großen Artemis“ muß herhalten, um Geschäftsinteressen gegen die christliche Gefahr zu verteidigen. Die Apostelgeschichte sucht den Anschein zu vermeiden, als sei Paulus gewaltsam vertrieben worden (Apg.20, 1). Doch dürfte dies der Fall gewesen sein. Seine Andeutungen 1.Kor. 15,32; 2.Kor. 1,8 kann man kaum anders verstehen. Gegenüber Paulus' eigenen Andeutungen wirkt die Episode vom Tumult des Silberschmieds Demetrius in Apg. 19 einigermaßen idyllisch. Doch ist der Hinweis, daß durch die Verbreitung des Christentums bestimmte Geschäftszweige geschädigt wurden, mindestens für die Zeit des Lukas aufschlußreich. Der berühmte Brief des jüngeren Plinius an Trajan über die Behandlung der Christen, der nicht viel später geschrieben wurde, weiß Entsprechendes (Beilage 7a). War Paulus zeitweilig in Ephesus gefangen? Die Apostelgeschichte schweigt zwar davon; aber das ist kein Gegenbeweis. Paulus war mehrfach in Gefangenschaft, 2.Kor. 11,23. Die Frage ist von einiger Bedeutung für die Abfassungszeit der „Gefangenschaftsbriefe“. Als solche bezeichnet man die Briefe an die Epheser, Kolosser, Philipper und an Philemon. Klammert man den Epheser- und Kolosserbrief aus, weil ihre Echtheit zweifelhaft ist, so bleiben die an die Philipper und an Philemon. Wann, wo sind sie geschrieben? Die herkömmliche Meinung ist: in Rom. Aber an manchen Stellen hat man den Eindruck, Paulus befinde sich nicht so weit von den Adressaten entfernt. Dann bleiben als möglicher Ort der Abfassung Cäsarea (Apg. 24,27) oder aber Ephesus. Demnach wären diese Briefe keine Dokumente aus der letzten Lebenszeit des Paulus, sondern mit dem Galaterbrief und den Korintherbriefen etwa gleichzeitig geschrieben. Diese Meinung ist heute weit verbreitet (zu den Einzelheiten s. den Band „Einleitung in des NT“). Trotz der Vertreibung des Paulus aus Ephesus bleibt die Gemeinde bestehen und missioniert aktiv. Von Ephesus aus werden die Gemeinden im Lykostal gegründet, deren Existenz durch den Kolosserbrief bekannt ist (4,13). Schon im l.Korintherbrief (16,19) schicken „die Gemeinden von Asia“ Grüße nach Korinth. Sie wird bald einer der Mittelpunkte der Kirche. Eines der sieben Sendschreiben der Offenbarung ist an sie gerichtet, ferner einer der Briefe des Ignatius von Antiochia. An dieser Stelle muß die Erzählung der Ereignisse zunächst anhalten. Denn Ephesus ist das letzte Missionszentrum des Paulus. Wie Röm. 15 zeigt, 6* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

84

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

schließt er jetzt seine Arbeit für den gesamten Osten des römischen Reiches bewußt ab und faßt den Ertrag seiner bisherigen Arbeit zusammen. Das sichtbare Zeichen ist die Einsammlung der Kollekte in Mazedonien und Achaia. Die Einzelheiten sind aus dem 2. Korintherbrief mit einiger Mühe zu rekonstruieren. Offenbar mußte Paulus also aus Ephesus weichen und konnte es nicht wagen, nochmals dahin zurückzukehren: Auf seiner Reise nach Jerusalem fährt er an der Stadt vorbei und bestellt die Vertreter der Gemeinde nach Milet (Apg.20,16 f.). Das ist umständlich und zeitraubend und läßt sich nur durch die Vertreibung aus Ephesus erklären. Zunächst aber geht er über Troas nach Griechenland zurück. In Troas zeichnet sich nochmals eine große Chance für die Mission ab (2.Kor.2,12). Aber Paulus hat anderes vor, nicht nur den weitgesteckten Plan der Uberbringung der Kollekte in Jerusalem und der Verlegung seines Arbeitsfeldes nach Spanien. Vorher ist noch eine schwere Krise zu beheben, die in Korinth ausgebrochen war. 3. Krisen In der Apostelgeschichte erscheinen die Verhältnisse im Innern der Gemeinden als harmonisch. Krisen werden nur von außen entfacht. Das Bild der Briefe ist ein anderes. Es ist noch keine Krise, wenn irgendwo Disputationen über Fragen der Lehre aufkommen, wie in Thessalonich (vgl. l.Thess.4,13 ff.): Erlangen auch diejenigen Gläubigen das ewige Heil, die vor der Parusie Christi sterben? Paulus erhebt keinen Vorwurf, daß darüber Zweifel bestehen, sondern geht ernsthaft auf die Sache ein. Die Gemeinde scheint seine Auskunft angenommen zu haben. Man hört jedenfalls nichts mehr von weiteren Debatten über diesen Punkt. Die Autorität des Paulus war nicht in Frage gestellt. Anders in den beiden Krisen, die Paulus selbst als solche behandelt: in Galatien und in Korinth. Will man den Stil der Auseinandersetzung verstehen, hat man sich seines Selbstbewußtseins zu erinnern: Er ist der geistliche Vater seiner Gemeinden. Wie er nicht in fremdes Gebiet übergreift, so wehrt er fremde Übergriffe ab. Das liegt jenseits persönlicher Eifersucht; von solcher weiß er sich frei: Phil. 1,14 ff. Wenn aber die Substanz seines Werkes in Gefahr ist, wenn die Sache untergraben wird, die ihm der Herr auftrug, dann muß er um dieser Sache willen auch seine Person ins Spiel bringen und seine Autorität als Apostel verteidigen, um der Freiheit der Gemeinden willen. Denn er hat seine Autorität gerade als die des Dienstes (l.Kor.3,4 ff.), während seine Konkurrenten ihre eigene, pneumatische Macht ausspielen und die Gemeinden menschlicher Herrschaft, der Hybris der Pneumatiker, unterwerfen. Außer in Galatien und Korinth scheinen auch anderswo Kämpfe geschwelt zu haben. Wenigstens stehen Phil. 3,2 ff. und Röm. 16,17-20 (aus einem Brief nach Ephesus? s. o. S.82) einige Andeutungen. Wenn der Philipperbrief in Ephesus geschrieben ist (s. o. S.83), liegen diese Bewegungen zeitlich alle unmittelbar beisammen, und man könnte vermuten, daß das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus und seine Gemeinden

85

kein Zufall ist. Andererseits sind die Positionen der Gegner im Galaterbrief und in den Korintherbriefen grundverschieden, und die Andeutungen im Philipper- und im Römerbrief genügen nicht, um Sicheres zu erkennen. Den Hintergrund der galatischen Krise bildet das Apostelkonzil, die Statuierung der Freiheit der Heidenchristen vom Gesetz. Die offiziellen Vertreter hatten sich geeinigt. Aber im Kirchenvolk wirbelten noch andere Strömungen, vor dem Konzil, während desselben (Gal.2,4) und danach. Entschlossene Judenchristen erklärten nach wie vor das Halten des Gesetzes zur Bedingung des Heils für alle, und sie scheinen auch bei Heiden Gehör gefunden zu haben. Darüber kann man sich wundern. Die einzelnen Argumente, die Agitationsweise und das Denken der empfänglichen Hörer sind nicht überliefert. Aber man mag sich vorstellen: Zunächst ist da das Vorbild der Urgemeinde. Weiter: Jesus war Jude. Wenn das Heil in Israel erschien, wenn der Vater Jesu mit dem Gott Israels und des Alten Testaments identisch ist, wenn das Alte Testament als heilige Schrift anerkannt ist - auch von Paulus! -, mit welchem Recht wird dann sein wichtigster Inhalt für ungültig erklärt? Und wie weit soll die Freiheit vom Gesetz gehen? Soll etwa auch das Sittengesetz abgeschafft sein und damit die Grundlage der Lebensführung, wie sie Gott gefällt? Ist die Konsequenz der Lehre des Paulus die bare Unsittlichkeit, „Libertinismus“? Es ist möglich, daß die Forderung der „Judaisten“ (d. h. derer, die das Gesetz für die ganze Kirche postulieren) noch durch kosmologische Weisheiten und kultische Begehungen vertieft wurde: Gal.4,3.9 f. scheint das anzudeuten; ein ähnliches Bild bietet später der Kolosserbrief. Wie sich diese judaistische Bewegung ausbreitete und wie sie gerade in das abgelegene Galatien eindrang, darüber schweigen die Quellen (Lukas erwähnt überhaupt nichts davon). Der Galaterbrief ist die einzige Quelle, durch die wir überhaupt etwas von der ganzen Sache wissen. Sie ist sicher nicht, wie man schon vermutete, aus Jerusalem, durch Jakobus oder auch Petrus, inspiriert. Paulus beruft sich bei seiner Abwehr auf das Apostelkonzil (Gal.2) und setzt dabei natürlich voraus, daß sich auch Jerusalem nach wie vor an die Abmachungen hält. Für ihn geht es aber um weit mehr als um die formale Erfüllung eines Vertrags. In seinem ungeheuer erregten Brief nach Galatien ist die Erinnerung an das Konzil nur die Einleitung, nicht das Hauptkapitel der Argumentation. Und wenn man ihm den Apostelrang abspricht, kämpft er um weit mehr als um persönliches Prestige. Wenn man in seinen Gemeinden das Gesetz einführt, vernichtet man sein Werk (2,2), das ihm der Herr selbst auftrug und für das er Gott einst Rechenschaft ablegen muß. Ob das Gesetz gelten soll oder nicht, steht nicht im Ermessen von Menschen. Das ist durch den Kreuzestod Christi entschieden. Die Forderung des Gesetzes erheben heißt, das Kreuz und die Gnade außer Kraft setzen (2,21; 5,4). Paulus greift weit über die Polemik hinaus: Er begegnet der feindlichen Propaganda durch die thetische Entfaltung der Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Diese © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

86

Hans Conzelmanr, Geschichte des Urchristentums

verschaffte dem Galaterbrief sein hohes Ansehen in der Reformation. Er ist der erste Entwurf zum Hauptwerk des Paulus, dem Römerbrief. Die Zeit in Ephesus ist der Kulminationspunkt im Leben des Paulus. Es ist der Zeitraum, in dem wir die inneren Bewegungen in den jungen Gemeinden verfolgen können, vor allem in dem hin- und hergerissenen Korinth. Die beiden Korintherbriefe, denen wir die wichtigsten Einblicke darüber verdanken, machen wieder einmal bewußt, und hier deutlicher als anderswo, wie stark die Apostelgeschichte verkürzt. Sie reiht die Missionsstationen aneinander und entläßt jeweils die frühere aus der Darstellung, bis etwa Paulus noch einmal dahin reist. In Wirklichkeit herrschte zwischen Ephesus und Korinth ein ständiges lebhaftes Hin und Her, durch Briefe, Deputationen und durch Paulus selbst. Daß im einzelnen Unklarheiten bestehen, ist zu verschmerzen. Denn die großen Markierungen des historischen Verlaufs sind zu erkennen. Unsicherheit entsteht vor allem durch die Frage, ob die beiden Korintherbriefe von Paulus so verfaßt sind, wie sie im Neuen Testament stehen. Für die Einzelheiten ist wieder auf den Band „Einleitung“ zu verweisen. Hier sind die Folgerungen für die Rekonstruktion der Ereignisse zu ziehen. Wir wissen von mindestens vier Briefen des Paulus nach Korinth: zunächst sind zwei Briefe erhalten. Und in jedem derselben wird ein weiterer erwähnt: 1.Kor. 5,9 verweist Paulus auf einen früheren Brief. Dann kommt ein Brief aus Korinth zu Paulus (1.Kor. 7,1). Daraufhin schreibt Paulus den Brief, den wir als den ersten Korintherbrief bezeichnen. Die Gelehrten fahndeten nach jenem früheren Brief. Manche meinen, er sei im 1. Korintherbrief noch zu entdecken. Dieser sei aus dem früheren und dem Antwortbrief nachträglich zusammengearbeitet. Ähnlich erfährt man 2.Kor. 2,4 von einem Brief, den Paulus unter vielen Tränen schrieb; er muß nach dem 1. Korintherbrief (sei dieser eine Einheit oder eine nachträgliche Komposition) verfaßt sein. Auch in diesem Falle wird gefragt, ob er nicht in den jetzigen 2. Korintherbrief eingearbeitet sei. Wir beschränken uns auf die großen Züge des Ablaufs: Die Nachrichten laufen zwischen Ephesus und Korinth hin und her. Paulus ist neuestens durch Leute der Chloe informiert (l.Kor. 1,11). Diese Chloe ist sonst nicht bekannt; es ist nicht einmal auszumachen, ob sie in Korinth wohnt und ihre Leute zu Paulus nach Ephesus schickte, oder ob sie in Ephesus zu Hause ist und ihre Leute aus irgendwelchen Gründen Korinth besuchen ließ. Bei der Abfassung von l.Kor. 16,17 befindet sich eine korinthische Abordnung bei Paulus. Die Lage wird durch das Stichwort „Spaltungen“ charakterisiert (l.Kor. 1,11). Namen von Missionaren werden als Parteiparolen benützt: Paulus, Kephas, Apollos. Eine vierte Gruppe scheint sie zu überbieten, indem sie den Namen Christi auf ihre Fahne heftet. Man darf zwar nicht dramatisieren: Die Gemeinde läuft noch nicht auseinander. Der Brief ist an die ganze Gemeinde gerichtet und setzt voraus, daß sie sich als ganze versammelt. Aber die Gruppenparolen sind Symptom eines tiefersitzenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus und seine Gemeinden

87

Schadens. Dabei kommt es weniger auf die Rolle an, die Petrus und Apollos spielten. Tauchte Petrus selbst gelegentlich in Korinth auf? Die Art und Weise, wie Paulus von ihm spricht, macht das unwahrscheinlich. Eher ist anzunehmen, daß sein Ruf in die Stadt drang und daß man ihn - als den Überlegenen, den Empfänger der ersten Erscheinung des auferstandenen Herrn (l.Kor. 15,3 ff.) - gegen Paulus ausspielte. Apollos machte durch sein Auftreten Eindruck. Offenbar verstand er es, auch gegenüber Paulus eine profilierte Position zu vertreten. Aber eine Spaltung veranlaßte er nicht. Paulus hebt die Zusammenarbeit mit ihm hervor (l.Kor.3) und drängt ihn, nach Korinth zu gehen (16,12). Wichtiger ist das Grundsätzliche: Zum ersten Mal sind andeutungsweise die ersten Schritte zu einer christlichen Häresie zu erkennen, auf seiten des Paulus das erste Bewußtwerden dieser Erscheinung und die erste Ausarbeitung von Kriterien zu ihrer Beurteilung und Bekämpfung. Paulus bescheinigte der Gemeinde Reichtum an Erkenntnis (1,5). Aber das Christentum ist auf dem Weg, sich in eine Mysterienreligion antiken Stils zu verwandeln. Der Glaube orientiert sich nicht am Tod Christi, sondern an seiner himmlischen Glorie. Der Gläubige erfährt im Walten des Geistes seinen Anteil an dieser und schwingt sich über die Welt hinaus. Das Sakrament verleiht die Kraft dazu. Die paulinische Lehre von der Freiheit des Glaubens wird zum Stimulans des Geistesmenschen, der sich in höhere Welten empormeditiert: Die „Erkenntnis“ befreit (vgl. 6,12; 10,23 mit 8,1 ff.). Der Geistesmensch ist über die Regeln erhaben, die mit dem Fleisch zu tun haben. Er besitzt die sexuelle Freiheit und die Freiheit gegenüber den Erscheinungen der heidnischen Religion. Er kann sich z.B. in einen heidnischen Tempel zur Mahlzeit einladen lassen. Er kann sich durch den heidnischen Kult ja nicht beflecken. Denn er weiß, daß die Götter nicht existieren. Gedanken des Paulus, Freiheitsparolen der griechischen Popularphilosophie (Kyniker, Stoiker, Epikuräer), Ideen von der Übermittlung von Heilskräften durch Riten und Sakramente sind hier vermengt. Paulus diskutiert nun nicht die einzelnen Überzeugungen als solche. Er führt sie insgesamt auf den Kern der Sache zurück. Das ist für ihn die Umkehrung der Denkrichtung: Die Korinther verstehen den Glauben als Aufstiegsbewegung des erleuchteten Menschen. Paulus setzt dagegen den Glauben als Ergreifen und Anerkennen der Gnade. Die Richtung verläuft von oben nach unten, nicht umgekehrt. Der Glaube ist an das geschichtliche Heilswerk, den Tod Christi gebunden. Dieses ist durch die Auferstehung nicht annulliert, sondern im Gegenteil festgehalten. So bleibt das Kreuz die ständige Bestimmung des Gläubigen. Damit ist die Kirche gesetzt. Die korinthischen Enthusiasten neigen dazu, jeder für sich sein Heil zu besorgen - mag der andere sehen, wie er es erwirbt. Paulus zeigt, daß man sein Heil in der Gemeinde hat, in der Erkenntnis, daß Christus für den Bruder gestorben ist. Auch das Sakrament flößt nicht dingliche, mysteriöse Heilskräfte ein, sondern gliedert in die Kirche als den Leib Christi ein. Der Glaube überfliegt nicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

88

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

schwärmerisch die Welt, sondern weiß sich in der Welt festgehalten, noch nicht ins Schauen versetzt. Der Geist ist die Verbürgung des kommenden Heils, noch nicht die Verwandlung in eine himmlische Seinsweise. Noch befinden wir uns diesseits der Auferstehung. Dies ist etwa der Stand der Auseinandersetzung im ersten Korintherbrief oder, wenn man will, in den beiden ersten Briefen des Paulus nach Korinth. Die Entwicklung erscheint Paulus so bedenklich, daß er, noch bevor der Brief fertig ist, den Timotheus schickt (l.Kor.4,17). Der Brief selbst wird von der korinthischen Abordnung, die sich z.Z. bei Paulus befindet (16,17), überbracht. Paulus erwartet die Rückkehr des Timotheus (16,10). Aus dem 2. Korintherbrief ergibt sich, daß dessen Mission scheiterte. Die Lage muß sich zugespitzt haben. Paulus eilte selbst nach Korinth. Dort kam es zu einem schweren Zusammenstoß (2.Kor.2,l; vgl. 12,14; 13,1). Er reiste wieder nach Ephesus zurück, gab aber die Gemeinde nicht verloren: Er schrieb jetzt einen Brief „unter vielen Tränen“ (er ist vielleicht in 2.Kor. 10-13 erhalten) und sandte Titus. Die Agitation gegen ihn scheint einen Höhepunkt erreicht zu haben: In Korinth drang von außen eine Gruppe ein, die die Autorität der Jerusalemer für sich in Anspruch nahm und dem Paulus das Recht auf den Aposteltitel absprach. Er sei nicht durch die Tradition legitimiert. Das Zeichen dafür sei, daß ihm der Geist fehle. Zu den Wirkungen des Geistes gehöre u.a. die Gabe der überwältigenden, freien Rede. Man sehe sich Paulus an! (2.Kor. 10,10) Der Tiefpunkt im Leben des Paulus scheint erreicht: Mit der Kulmination in Korinth fällt die tödliche Gefährdung in Ephesus zusammen (2.Kor. 1). Paulus verläßt Ephesus und begibt sich an die Küste nach Troas. Hier hofft er, Titus zu treffen; in der Zwischenzeit treibt er auch hier Mission (2.Kor. 2,12). Als Titus nicht eintrifft, reist er ihm entgegen nach Mazedonien. Hier erreicht ihn Titus: Er hatte Erfolg; alles ist wieder gut. Paulus kann den freudigen Brief schreiben, der wohl in den „2. Korintherbrief“ eingearbeitet wurde (1,1-2,13; 7,5-16). Daß der Erfolg dauerhaft war, zeigt sich an den weiteren Ereignissen. Paulus kommt jetzt wieder selbst nach Korinth. Er verbringt hier einen Winter. Während dieses Aufenthalts schreibt er einen Brief nach Rom, zur Vorbereitung seiner Übersiedlung nach Spanien. Dieser Brief wurde das gewichtigste Dokument, das Paulus hinterließ. In ihm ist der Ertrag seines Denkens - samt dem Durchdenken der Krisen - zusammengefaßt. In diesem Winter schließt er auch die Kollekte ab (vgl. zu dieser: Gal.2, 10; l.Kor. 16,1 ff.; 2.Kor.8 f.). Dann reist er mit den Vertretern der Gemeinden durch Mazedonien über Troas, Milet nach Jerusalem (Apg. 20,1 ff.). Dort übergibt er den Ertrag. Bald darauf wird er verhaftet. Seine in Röm. 15 ausgesprochenen Ahnungen erfüllten sich. Die Apostelgeschichte erzählt breit Verhaftung, Verhöre vor mehreren Instanzen (dem Hohen Rat, den Statthaltern Felix und Festus, einmal in Anwesenheit des Königs Agrippa IL), seine Überführung an das kaiserliche Gericht nach Rom mit der dramatischen Seefahrt und dem Schiffbruch vor Malta. Sie vermerkt, daß Paulus zwei Jahre in leichter Haft gehalten wurde - und bricht ab. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus und seine Gemeinden

89

Wenn der Philipper- und der Philemonbrief in Rom geschrieben sind (vgl. aber S.83), werfen sie noch ein wenig Licht auf diese letzten Jahre, vor allem Phil. 1,12 ff.: Der Gefangene arbeitet weiter, mit Erfolg, aber unter Anfeindungen durch christliche Konkurrenten. Das Lebensende des Paulus ist unbekannt. Sicher ist nur, daß er das Martyrium erlitten hat; das steht nach Dokumenten vom Ende des 1. Jahrhunderts fest: Das deutet Lukas in der Abschiedsrede an, die er dem nach Jerusalem Reisenden in den Mund legt (Apg.20); das setzen die deuteropäulinischen Pastoralbriefe voraus; das erwähnt der 1. Clemensbrief (Beilage 4) und der Römerbrief des Ignatius (4,3). Doch kann Paulus nicht erst in der neronischen Verfolgung umgekommen sein (im Jahre 64), sondern starb einige Jahre früher. 4. Die päulinischen Gemeinden a) Es ist kein Zufall, daß über die Organisation nur beiläufige Notizen vorhanden sind, nicht ausgeführte Gemeindeordnungen oder thematische Abhandlungen (eine Generation nach Paulus wird das anders sein). Die lockere, äußere Form der hellenistischen Gemeinden herrscht auch in den Gründungen des Paulus. Die wichtigste Quelle ist der l.Korintherbrief mit seinen gelegentlichen Anweisungen für eine Ordnung. Sie sind nicht systematisch, sondern sind durch Mißstände veranlaßt, die aus dem Überschwang des Geistes erwuchsen. Der Gesichtspunkt für die Gestaltung, sofern eine solche erforderlich erscheint, ergibt sich einfach aus dem Zweck, d.h. aus dem Kirchengedanken: Die Kirche ist über die ganze Welt hin eine. Aber das bedeutet nicht, daß eine übergreifende Organisation mit festen Instanzen besteht. Die Einheit ist „in Christus“ gegeben. Die Kirche ist nicht die Summe aller Gemeinden. Vielmehr stellt sich die ganze Kirche jeweils in der einzelnen Ortsgemeinde dar. Das sichtbare Band der Einheit ist das gemeinsame Bekenntnis zu dem einen Herrn Jesus Christus. Es gibt Autoritäten, die überall anerkannt sind, die Apostel. Aber ihre Rechte sind nicht definiert. Auch in der einzelnen Gemeinde besteht nur ein Minimum an Organisation. In den päulinischen Gemeinden gibt es nicht einmal Älteste; das gilt übrigens auch für Gebiete außerhalb seines Missionsfeldes und bis in spätere Zeit: die Ältesten fehlen im Hebräerbrief, in der Didache, einer Gemeindeordnung!, und im Barnabasbrief. Die Leitung der Gemeinde ist vom Walten des Geistes bestimmt. Sieht man dieses freilich vor allem in den Ekstasen realisiert, so kann überhaupt kein geordnetes Zusammenleben zustande kommen. Aber Paulus macht den vom Geist bewegten Korinthern klar, daß der Geist selbst Ordnung schafft (1.Kor. 14; vgl. V.40): Gott ist kein Gott der Unordnung, sondern des Friedens (V.33); entsprechend wirkt sein Geist. Paulus weitet das Verständnis der Gaben des Geistes aus, indem er sie durch den Kirchengedanken bestimmt: Geistesgabe ist jede Begabung, die zum Aufbau der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

90

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Gemeinde verwendet wird, jede „Dienstleistung“ (l.Kor. 12,4 ff.). Daher gibt es wohl besondere Stellungen und Aufträge, aber nicht Klerus und Laien. Man kann von einem allgemeinen Priestertum in den Gemeinden reden, wenn man das „Priesterliche“ nicht mit kultischen Ideen auffüllt, sondern es in diesem einfachen Sinn versteht: Dienst ist alles, „was aufbaut“. Jeder leistet seinen Beitrag. Der Geist hebt die Individualität nicht auf. „Die Heiligen“ sind „in Christus“ gleichgestellt und gerade dadurch dazu freigemacht, daß jeder mit seiner eigenen Gabe mitarbeitet. Als Personen besonderer Stellung nennt Paulus: Bischöfe und Diakonen (Phil. 1,1). Der „Bischof“ ist natürlich noch nicht der monarchische priesterliche Gemeindeleiter einer späteren Zeit; das zeigt schon die Mehrzahl der „Bischöfe“ in einer Gemeinde. Wir wissen nicht einmal, wie sie sich von den Diakonen unterschieden. Die letzteren versehen irgendwelche „Dienste“. Aber ihr Geschäftsbereich war schwerlich streng abgegrenzt. Er wird sich aus den vorhandenen Bedürfnissen ergeben haben. Dazu gehört etwa der Dienst beim Gemeindemahl und die Versorgung der Armen. Wie offen alles ist, zeigen zwei charakteristische Stellen, die das Wesen von Dienst und Autorität ausdrücken: l.Thess.5,12: Man soll die Leute anerkennen, die für die Gemeinde arbeiten, für sie sorgen, sie durch Zuspruch ermutigen. Das Wort, das hier im Sinn von „fürsorgen“ wiedergegeben wurde, kann auch bedeuten: „vorstehen“, „verwalten“. Aber gerade diese Unbestimmtheit zeigt, daß es noch keine Amtsautorität gibt, sondern nur die Autorität der Leistung. Ähnliches sagt Paulus l.Kor. 16, 16: Den Leuten, die sich durch Dienstleistungen hervorgetan haben, soll man sich unterordnen. Wie wenig über das im Augenblick Erforderliche hinausgegriffen und organisatorisch vorgesorgt wird, zeigt eine Einzelheit: In l.Kor. 16 gibt Paulus einige Anweisungen für die Kollekte. Jeder soll nach seinem Vermögen regelmäßig etwas beiseite legen, damit alles bereit ist, wenn Paulus kommt. Es gab also keinen Verwalter dieser Kollekte und keine Kasse. Die wichtigsten Mitarbeiter sind die Lehrer im weiteren Sinn: Apostel, Propheten, Lehrer (l.Kor. 12,28). Der beherrschende Gesichtspunkt ist der der Verkündigung. In diesem Sinn bestimmt Paulus seine eigene Stellung. Die Gabe des Propheten sieht er nicht darin, die Zukunft zu enthüllen, sondern das Innere des Menschen aufzudecken und diesen dadurch zu überführen (l.Kor. 14,24). Das Lehramt hat sein Vorbild in der Synagoge; aber es ist durch den Glauben an Christus und durch den Geist neu geprägt. Die durchschnittliche soziale Zusammensetzung der Gemeinde beleuchtet l.Kor. 1,26 ff.: „nicht viele Gebildete, nicht viele aus der sozialen Oberschicht“. 2.Kor.8,2 erwähnt er die „tiefe Armut“ der mazedonischen Gemeinden. Die Witwen (l.Kor.7,8) befinden sich damals in einer besonders gedrückten Stellung. Zahlreich dürften die Sklaven gewesen sein, vgl. l.Kor. 7,21 ff. In Röm. 16 steht eine lange Liste von Personen, an die Paulus Grüße bestellt. Die Namen sind fast alle anderwärts als Sklavennamen zu belegen; zum Teil sind es sogar charakteristische Sklavennamen. Andererseits gibt es auch Besitzer von Sklaven in der Kirche: l.Kor.7,21 ff. Wenn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Paulus und seine Gemeinden

91

sich ein „Haus“ bekehrt, werden auch Sklaven Christen geworden sein. Sind die Leute der Chloe (l.Kor. 1,11) solche? Einen interessanten Einblick gewährt der Brief an Philemon. Diesem Christen ist sein heidnischer Sklave Onesimus davongelaufen - zu Paulus. Durch diesen wurde er bekehrt und zu seinem Herrn zurückgeschickt. Der Brief zeigt auch, daß die sozialen Ordnungen bleiben: Wenn Herr und Sklave Christ werden, heißt das nicht eo ipso, daß der Sklave freigelassen wird. Man versammelt sich in Privathäusern (Phlm.2). Große Versammlungsräume standen wohl kaum zur Verfügung. b) Eine feste Ordnung des Gottesdienstes gibt es nicht. Es gibt einen Grundbestand an Formen für Gebet, Lied, Predigt usw., denselben wie in den hellenistischen Gemeinden überhaupt (s.o.). Vor allem aber weht der Geist, wo er will. Wie lebhaft dadurch die Versammlung werden kann, führen die Anordnungen l.Kor. 14 vor Augen: Ekstatiker reden durcheinander. Der Geist erzeugt also Wirrwarr. Soll er also gedämpft werden? Nein! (l.Thess.5, 19), sondern als Geist Ordnung schaffen. Es gibt ein Kriterium, dem auch die Ekstasen unterworfen sind, das Bekenntnis zum Herrn (l.Kor. 12,3). Dieses wird der Gemeinde als Richtschnur für ihre Probleme und Lebensformen vorgehalten, vor allem auch für die Fragen der Eschatologie. Paulus selbst führt ja die Gemeinden in eine hochgespannte Naherwartung der Parusie (l.Kor.7, 29.31; Phil.4,5). Was ist aus dieser zu folgern? Soll man angesichts des nahen Weltendes noch heiraten? Paulus rät ab (l.Kor.7); aber er macht aus seinem Rat kein Gesetz. Die Christen geben nicht die tägliche Arbeit auf, um sich schwärmerisch für den Empfang des Herrn bereitzuhalten. Bereit ist man dadurch, daß man glaubt und das Seine tut. Die sittlichen Anweisungen des Paulus sind gerade, weil sie eschatologisch begründet sind, inhaltlich bürgerlich. Das eindrücklichste Beispiel ist der berühmte Abschnitt über die „Obrigkeit“ Röm. 13,1 ff. Es wird kein asketisches Ideal entwickelt. Askese kann gelegentlich einmal als Mittel zum Zweck geübt werden (l.Kor.7,5); aber sie ist kein Mittel zum Heil. Es liegt in der Natur der Quellen, daß die bürgerliche Seite des Lebens der Christen weniger in Erscheinung tritt. Immerhin geben einige Hinweise, vor allem im l.Korintherbrief, das Material für eine Skizze. Welche Probleme für den entstanden, der in die Kirche eintrat, läßt sich schon aus dem Absolutheitsanspruch des Glaubens erschließen. Das gesamte öffentliche und private Leben ist damals von religiösen Sitten und kultischen Begehungen durchsetzt. Für die - nach außen dem Christentum ähnlichen Mysteriengemeinden gibt es keine Probleme: Die Einweihung z.B. in das Mysterium der Isis schließt Teilnahme an anderen Kulten nicht aus. Denn die Existenz der Mysteriengemeinde stellt sich nur im Gottesdienst dar. Mögen auch zwischen einzelnen Mitgliedern persönliche Bindungen der Sympathie bestehen, so ist doch die Mysteriengemeinde außerhalb des Kultes keine Lebensgemeinschaft. Auch für den Übertritt zum Judentum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

92

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

sind die Bedingungen unvergleichlich günstiger als für den zum Christentum. Denn das Judentum ist durch gewisse römische Privilegien geschützt. Tritt man aber zum Christentum über, wird man nicht nur aus allen bisherigen religiösen Bindungen herausgerissen. Der Christ ist vielmehr gezwungen, diese aktiv zu negieren. Darf er z.B. Mitglied der Vereine bleiben, denen er angehört? Die damaligen Vereine haben alle einen religiösen Einschlag. Darf er sich an Familienfeiern beteiligen, bei denen doch den Göttern Reverenz erwiesen wird? Darf er sich in ein Tempelrestaurant einladen lassen? Der Übertritt wird zu Erschütterungen in der Familie, im sozialen Milieu führen. l.Kor.7,10 ff. deutet auf Ehescheidungen als Folge des Übertritts eines Ehepartners zum Christentum. Der Ratschlag, den Paulus in diesem Fall gibt, ist bezeichnend. Grunsdätzlich gilt die Anordnung Jesu, daß Scheidung untersagt ist. Darin unterscheidet sich das Christentum von seiner gesamten Umwelt. Aber dieses Verbot ist kein „Gesetz“. Der Christ darf die Scheidung nicht betreiben. Wenn sich aber der nichtchristliche Partner scheiden läßt, dann ist der christliche nicht länger gebunden. Er darf wiederheiraten. Denn kein Nichtchrist kann die Freiheit des christlichen Lebens einschränken.

X. KAPITEL

Die Urgemeinde vom Apostelkonzil bis zum Jüdischen Krieg Über der Geschichte der Urgemeinde liegt vom Apostelkonzil an ein fast lückenloses Dunkel. Primäre Quellen fehlen ganz. Zwar wird einer der „katholischen“ Briefe dem Herrnbruder Jakobus zugeschrieben. Aber abgesehen davon, daß dieser schwerlich der Autor ist, gibt der Brief keinerlei geschichtliche Daten. Die Apostelgeschichte wendet sich nach dem Konzil von Jerusalem ab und folgt der Mission des Paulus. Nur noch einmal (abgesehen von der Andeutung eines Besuches Apg. 18,22) führt der Weg nach Jerusalem: als Paulus mit seiner Kollekte (die aber die Apostelgeschichte an dieser Stelle nicht erwähnt!, sondern erst später und beiläufig, 24,17) nach Jerusalem kommt (Apg.21,15 ff.). Hier tritt Jakobus noch einmal kurz als die oberste Autorität der Gemeinde auf. Petrus wird nicht genannt. Das entspricht den Tatsachen: Er hielt sich um diese Zeit (in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre) nicht mehr in der Stadt auf. Gal.2,ll ff. zeigt ihn in Antiochia, l.Kor.9 als reisenden Missionar. Das stimmt auch zu der Vereinbarung auf dem Konzil. Zwang ihn eine äußere Gefährdung, die Stadt zu verlassen? Diese Frage wäre beantwortet, wenn das Konzil vor die Verfolgung von Apg. 12 fiele. Dafür läßt sich anführen, daß Jakobus Apg. 12,17 plötzlich als der Leiter der Gemeinde erscheint (vorher hat ihn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Urgemeinde vom Apostelkonzil bis zum Jüdischen Krieg

93

die Apostelgeschichte überhaupt nicht genannt!). Aber, wie schon oben gesagt, ist Sicheres nicht mehr auszumachen. Die Etappen des Aufstiegs des Jakobus sind nicht zu verfolgen. Fest steht aber, daß er jetzt bis zu seinem Tod (62 n. Chr.) an der Spitze der Gemeinde steht, umgeben von einem Kollegium von Ältesten. Später definierte die Überlieferung seine Stellung als die des ersten Bischofs von Jerusalem. Das ist natürlich ein Anachronismus. Will man erforschen, wie sich das Kollegium der drei Säulen auflöste und wie er in seine Stellung gelangte, so gerät man in die schwierige Analyse nachbiblischer Texte, die ein späteres Geschichtsbild haben und von Legenden überwuchert sind. Die wichtigsten Dokumente sind im Anhang besprochen. Die Ältesten treten in der Apostelgeschichte zum ersten Mal 11,30 als Repräsentanten der Gemeinde auf, hier noch als die alleinigen, dann beim Konzil neben den „Aposteln“. Datiert man das Konzil auf die Reise des Barnabas und Paulus Apg. 11,27-30, so würden Apg. 11 und 15 einen doppelten Hinweis geben, daß beim Konzil das Ältestengremium bereits eine maßgebende Rolle spielte. Allerdings wäre es dann merkwürdig, daß Paulus Gal.2 von ihm Schweigt. Am ehesten wird man aus den Bemerkungen der Apostelgeschichte schließen dürfen, daß sich der Kreis der Ältesten nach dem Weggang des Petrus (und Johannes?) formierte, etwa gleichzeitig mit dem Aufstieg des Jakobus. Nach außen behält die Gemeinde von Jerusalem in der Kirche ihr Ansehen. Jakobus überwacht die formal-korrekte Einhaltung der Konzilsbestimmungen (Gal.2,ll ff.). Befürchtete er ein Fraternisieren von Judenund Heidenchristen und dessen mögliche Rückwirkungen auf die Kirche in Judäa? Apg. 21,15 ff. werden solche Befürchtungen laut. Das stimmt zudem mit den Ahnungen des Paulus vor seiner letzten Reise überein, Röm. 15. Paulus erkennt die Stellung Jerusalems bis zuletzt an - durch seine Kollekte. In Galatien spielt man die Autorität Jerusalems gegen Paulus aus (s.o.), ebenso in Korinth. Die dortigen Agitatoren berufen sich darauf, daß die Tradition der Urgemeinde hinter ihnen stehe. Die Gelehrten streiten, mit welchem Recht: Wurden sie tatsächlich von Jakobus gestützt, oder beriefen sie sich mißbräuchlich auf ihn? Die Antwort hängt an der umstrittenen Auswertung von zwei Stellen: 2.Kor. 11,5; 12,11 kämpft Paulus mit Erbitterung und Ironie gegen „Überapostel“, die in die Gemeinde von Korinth hineinwirken. Meint er damit die Apostel in Jerusalem? Das ist unwahrscheinlich. Es ist daran zu erinnern, daß die Zwölf und die Apostel nicht identisch sind und daß die Zwölf um diese Zeit als Kreis nicht mehr bestehen. Zwar behauptet Paulus im 2. Korintherbrief energisch seine Stellung, aber ebenso den Zusammenhang seiner Gemeinden mit Jerusalem. Die „Überapostel“ sind die Agitatoren selbst, die von Paulus als falsche Apostel entlarvt werden. Aus der inneren Geschichte ist nur ein einziges Ereignis berichtet: das Zusammentreffen von Paulus und Jakobus bei der (von der Apostelgeschichte übergangenen) Übergabe der Kollekte (Apg. 21,15 ff.). Jakobus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

94

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

und die Ältesten befürchten einen Konflikt mit den Juden, da sich bei diesen die Stellung des Paulus zum Gesetz herumgesprochen hat. Daß dieser Konflikt, den ja Paulus voraussah, tatsächlich ausbrach, das bezeugt sein Schicksal, die Verhaftung. Darf man aus dem Schweigen der Quellen schließen, daß die gesetzestreue Gemeinde in Jerusalem bis zu dem Schlag gegen Jakobus im Jahre 61 im wesentlichen unbehelligt leben konnte? Diese Annahme wäre doch zu einfach. Im l.Thessalonicherbrief (2,14 f.) führt Paulus eine heftige Attacke gegen die Juden, weil sie die Gemeinden in Judäa verfolgen. Dieser Brief ist bekanntlich nach dem Konzil und nach dem Zusammenstoß des Paulus mit Petrus geschrieben. Eine zweite Andeutung steht in der oben erwähnten Stelle Röm. 15,31: Die Freiheit der Heidenchristen vom Gesetz macht den Juden das gesamte Christentum verdächtig. Andererseits scheint die Jerusalemer Gemeinde von der Verhaftung des Paulus nicht weiter betroffen worden zu sein. Sie wurde anscheinend immer wieder durch das hohe Ansehen gedeckt, das Jakobus wegen seiner Frömmigkeit auch bei den nichtchristlichen Juden genoß. Doch spitzte sich die Lage offenbar in den Jahren vor dem jüdischen Aufstand zu. Als durch den Tod des Statthalters Festus, der auch in der Apostelgeschichte vorkommt, eine Vakanz eintrat, benützte sie der sadduzäische Hohepriester Ananos (Hannas IL, ein Sohn des älteren, aus der Passionsgeschichte bekannten Hannas), um Jakobus und einige andere wegen Übertretung des Gesetzes hinzurichten. Der Historiker Josephus, der sonst über die christliche Bewegung sorgfältig schweigt, hielt das Ereignis in seinen „Jüdischen Altertümern“ fest (Beilage 3 a); das ist einer der seltenen Fälle, in denen sich die Geschichtsschreibung auf außerchristliche Quellen stützen kann. Die Geschichte der Urgemeinde endet mit dem Jüdischen Krieg {66 bis 70 n.Chr.). Das bedeutet nicht, daß etwa alle ihre Mitglieder im Krieg umgekommen wären. Es gibt nach dem Krieg in Jerusalem (trotz der weitgehenden Zerstörung der Stadt) wieder eine christliche Gemeinde. Diese ist mit der früheren dadurch verbunden, daß Verwandte Jesu und des Jakobus die Leitung innehaben. Aber diese neue Gemeinde hat keine Bedeutung für die Gesamtkirche mehr. Sie ist nicht mehr die „Urgemeinde“. Die letzte Nachricht über die Gemeinde vor dem Krieg (Euseb, Kirchengeschichte III 5,3) besagt, daß sie vor dem Ausbruch des Kriegs auf Grund einer Offenbarung die Stadt verließ und nach Pella, einer hellenistischen Stadt im Ostjordanland, übersiedelte. Es gibt Gründe, daran zu zweifeln, ob das geschah. Jedenfalls ist die Urgemeinde mit dem Krieg verschwunden. Der Nachhall ihres Untergangs ist in der „synoptischen Apokalypse“ (Mk. 13,14 ff.) zu vernehmen. Übrigens zog der Krieg zwischen Rom und den Juden in Palästina nicht etwa eine allgemeine Unterdrückung der Juden im Reich nach sich. Nur eine allgemeine Maßnahme wurde gegen sie verhängt, die sie allerdings als eine besondere Schande empfanden, der „fiscus Judaicus“: Vespasian erlegt ihnen auch nach der Zerstörung des Tempels © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Kirche bis zum Ende des ersten Jahrhunderts

95

die Bezahlung der Tempelsteuer auf, zu entrichten zugunsten des Juppiter Capitolinus. Auch für die Christen hatte der Krieg keine allgemeinen Konsequenzen. Aus der Apostelgeschichte gewinnt man den Eindruck, daß die christlichen Gemeinden im palästinischen Küstenland und in Phönizien zur Zeit des Lukas blühen.

XL KAPITEL

Die Kirche bis zum Ende des ersten Jahrhunderts Durch die Briefe des Paulus und seiner Schüler könnte der Eindruck erweckt werden, daß die paulinischen Gemeinden den Hauptbestand der Kirche bilden. Aber der größte Teil der Christen sitzt im Osten, in Syrien/ Palästina. Dennoch beginnt ein Überblick zweckmäßigerweise mit dem Missionsgebiet des Paulus. 1. Allgemeiner Überblick Die Briefe aus der Schule des Paulus zeigen die Kontinuität der paulinischen Gemeinden auch nach dem Tod des Apostels. Gewiß gibt es Krisen, an einer Stelle sogar vielleicht einen Bruch. Aber das paulinische Profil bleibt. Dokumente erweisen das Ansehen dieser Gemeinden. Ein fingierter Paulusbrief ist nach Thessalonich adressiert (der 2.Thessalonicherbrief). Der l.Thimotheusbrief suggeriert, daß sich Timotheus in Ephesus aufhalte. Nichts über die dortige Gemeinde verrät allerdings der Brief an die „Epheser“; der Name „Ephesus“ in der Adresse des Briefes ist erst nachträglich eingesetzt. Die Ausbreitung über die von Paulus selbst gegründeten Gemeinden hinaus zeichnet sich ab: Der Kolosserbrief richtet sich an Gemeinden im Lykostal: Kolossä, Hierapolis, Laodizea. Die Pastoralbriefe blicken nach Kreta und Dalmatien aus. Nach Philippi schreibt der hochangesehene Bischof Polykarp, freilich einige Zeit nach dem Jahr 100; aber die Stetigkeit der paulinischen Tradition wird dadurch auch für die Folgezeit bewiesen. Gegen 100 schreibt die Gemeinde von Rom nach Korinth (1.Clemensbrief); obwohl dort eine Krise ausgebrochen ist, steht Korinth in hohem Ansehen. Die Briefe des Ignatius von Antiochia sind - nicht lange nach 100 - an folgende Gemeinden gerichtet (alle im westlichen Kleinasien): Ephesus, Magnesia, Tralles (an dieser Stelle folgt nach der überlieferten Anordnung der Brief nach Rom, s.u.), Philadelphia, Smyrna. Cilicien ist Phld. 11,1 erwähnt. Die sieben Sendschreiben der Offenbarung (Kap. 2 f.) reden die Gemeinden in Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

96

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

und Laodizea an. Die Offenbarung hat keine Berührung mit der Theologie des Paulus. Darf man schließen, daß dessen Einfluß in Ephesus (und Laodizea) verdrängt wurde? Einen großen Teil von Kleinasien als Gebiet christlicher Gemeinden überblickt die Adresse des 1. Petrusbriefs: Pontus, Galatien, Kappadozien, Asien im engeren Sinne der römischen Provinz im Westen der Halbinsel, Bithynien. Für die an erster und letzter Stelle genannte Doppelprovinz BithynienPontus gibt es eine unschätzbare außerchristliche Quelle: Zur Zeit Trajans, nach 110, ist dort der als Schriftsteller (durch seine Briefe) bekannte jüngere Plinius Statthalter. Er führt über Probleme seiner Regierung einen ausführlichen Briefwechsel mit dem Kaiser. Darunter befindet sich ein Brief über Maßnahmen gegen die Christen und die Antwort des Kaisers (Beilage 7). Plinius teilt mit, daß in manchen Gegenden die Heiligtümer verödeten; durch das Eingreifen des Plinius sei der christliche Einfluß aber zurückgegangen. Es gebe übrigens Leute, die sich bereits vor zwanzig Jahren wieder vom Christentum getrennt hätten. Um das Jahr 130 kommt ein Christ aus Sinope am Schwarzen Meer nach Rom, der später als Ketzer so berühmte Marcion. Schon sein Vater war nach glaubhafter Überlieferung Christ. Zwischen Kleinasien und Palästina scheinen engere Beziehungen zu bestehen. Der Evangelist Philippus soll mit seinen Töchtern nach Hierapolis übergesiedelt sein. Geheimnisvoll ist das Buch „Offenbarung“ und seine Verknüpfung mit dem „Alten“ oder „Ältesten“ Johannes: In der Asia und speziell in Ephesus tritt neben die paulinische Tradition eine „johanneische“. Im Osten behält Antiochia seine führende Stellung; ja, diese ist jetzt noch stärker, da das Übergewicht von Jerusalem aufgehoben ist. Um 100 vertritt der Bischof Ignatius dort das Prinzip des monarchischen Bischofsamtes. Daß Barnabas nach der Trennung von Paulus selbständig weiterarbeitete, vermerkt Paulus selbst (l.Kor.9,6); nach Apg. 15,39 ging er in seine Heimat Zypern (zusammen mit Johannes Markus; dieser findet sich aber später wieder in der Umgebung des Paulus). Früh gelangte das Christentum nach Rom. Um die Mitte der fünfziger Jahre schreibt Paulus dorthin seinen theologisch gewichtigsten Brief. Die Gemeinde ist wohl nicht durch eine einzelne Missionsaktion entstanden, sondern einfach zusammengekommen: In Rom fließen damals alle Strömungen zusammen, vor allem die aus dem Osten einflutenden. Der Satiriker Juvenal schilt, der syrische Orontes ergieße sich in den Tiber. Die Einfallspforte für das Christentum war natürlich die starke Judenschaft der Stadt. Aus Rom kam gegen 50 das jüdische und vermutlich bereits christliche Ehepaar Aquila und Priska nach Korinth. Hängt das Edikt des Claudius, das „die Juden“ aus der Stadt auswies, mit dem Eindringen des Christentums zusammen? Es war ja durch Unruhen unter den Juden veranlaßt, und diese sollen durch einen Chrestus angestiftet worden sein (Beilage 2 a). Bei der damaligen Aussprache des Griechischen kann „Chrestus“ für Christus stehen. Diese Schreibung findet sich auch in Handschriften des Neuen Testa© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Kirche bis zum Ende des ersten Jahrhunderts

97

ments. Der Historiker Tacitus spielt an einer nachher zu besprechenden Stelle mit ihr. Sueton hat freilich nur ein trübes Bild. Er meint, daß Chrestus selbst in Rom aufgetreten sei. Klarheit ist nicht mehr zu gewinnen, auch nicht darüber, wie viele vom Edikt betroffen wurden. Wenige Jahre nachher, zur Zeit des Römerbriefs, ist die Gemeinde jedenfalls überwiegend heidenchristlich; doch gibt es auch Judenchristen in ihr. Sind darunter auch solche, die nach dem Tod des Claudius, der inzwischen ermordet war, zurückkehrten? Ein ausgezeichnetes Dokument über die Zusammensetzung der Gemeinde ist Röm. 16, wenn dieses Kapitel zum Römerbrief gehört und nicht vielmehr zu einem Brief nach Ephesus (s. o. S. 82). In keinem anderen Brief steht eine so lange Liste von Leuten, an die Paulus Grüße bestellt; unter diesen befinden sich auch Judenchristen. Die historische Kritik fragt nun, ob Paulus in Rom, wo er noch nie war, so viele Bekannte haben kann. Unter den Empfängern der Grüße befinden sich auch Aquila und Priska, die doch von Korinth nach Ephesus übersiedelten. Sie müßten also wieder nach Rom zurückgekehrt sein, von wo sie früher ausgewiesen worden waren. Auf diese Argumente stützt sich die These, Röm. 16 sei ein Fragment aus einem Brief nach Ephesus. V. 17 ff. polemisieren in einer Weise, wie man das wohl nicht in einem Brief an eine fremde Gemeinde tun kann. Andererseits: Warum sollte Paulus nicht eine Anzahl Bekannte in Rom haben, zumal die Fluktuation der Bevölkerung - und gerade nach Rom - so lebhaft war? Es kann sich zudem um Bekanntschaften durch Hörensagen handeln. Daß Aquila und Priska zurückkehrten, kann nach dem Tod des Claudius nicht einfach für unmöglich erklärt werden. Man könnte dies sogar für wahrscheinlich halten, da die beiden, kleine Industrielle, doch wohl einen Teil ihres Vermögens dort zurückgelassen hatten. Nur besteht auch in diesem Punkt eine Gegenrechnung. Der 2. Timotheusbrief (4,19), der nach dem Tod des Paulus geschrieben ist, setzt voraus, daß sie immer noch in Ephesus wohnen. Sollte dieser Brief echt sein, wäre das Argument noch stärker. Denn dann müßte er nach einer ersten römischen Gefangenschaft und jedenfalls einige Zeit nach dem Römerbrief verfaßt sein. Der berühmte Streit, ob Petrus nach Rom kam und dort starb, kann hier übergangen werden (s. darüber Anhang I S. 133 ff.). Er betrifft das persönliche Schicksal des Petrus und seine Nachwirkung in der späteren Kirche, nicht aber die frühe Geschichte der römischen Gemeinde. In dieser hat weder Petrus noch Paulus eine Spur hinterlassen - bis auf die Erinnerung an ihr Martyrium. Den entscheidenden Einschnitt bildet die Verfolgung unter Nero (s. u. S. 111), einen weiteren die unter Domitian. Letztere ist in zwei Schriften zu spüren, von denen die eine sicher, die andere wahrscheinlich gegen 100 in Rom verfaßt ist, dem 1. Clemens- und dem 1. Petrusbrief. Die Apostelgeschichte erwähnt weiter Christen in der Hafenstadt Puteoli (28,13 f.). Äygpten ist vorläufig unbekanntes Land. Das ist angesichts der Lage Alexandrias, der zweiten Stadt des Reiches, und vor allem seiner Bedeutung als des wichtigsten Zentrums der jüdisch-hellenistischen Theologie auf7

Conzelmann, Geschichte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

98

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

fallend. Später ernannte man Johannes Markus zum Gründer der ägyptischen Christenheit und ersten Bischof von Alexandria; aber das ist Legende. Apollos stammt von dort; aber leider wissen wir nicht, ob er schon dort Christ wurde. Man vermutet, daß der Hebräerbrief und der Barnabasbrief dort geschrieben sind. Sie berühren sich in der Tat mit der alexandrinisch-jüdischen Schriftgelehrsamkeit. Im 2. Jahrhundert entstanden hier zwei Evangelien, von denen nur noch kümmerliche Bruchstücke zeugen, das Ägypterevangelium und das Hebräerevangelium. Aus Ägypten stammen die beiden bedeutendsten gnostischen Systematiker, Basilides und Valentin. Ihre Leistung setzt doch wohl eine gewisse Entwicklung der christlichen Theologie in diesem Land voraus. Nur, wir wissen nichts. 2. Die Form der Kirche Ein allgemeines Kennzeichen dieses Zeitraums ist, daß sich jetzt die Ältestenverfassung durchsetzt, auch im Missionsgebiet des Paulus. Das zeigen die Schriften aus seiner Schule: der Epheserbrief, die Pastoralbriefe, die Apostelgeschichte; für Korinth der 1. Clemensbrief usw. Es bestehen noch einige Ausnahmen: der Hebräerbrief, die Didache und der Barnabasbrief schweigen von diesem Amt. Aber ihm gehört die Zukunft. Eine gewisse erste Systematisierung der Kirchenordnung unternehmen die sogenannten Pastoralbriefe (1. und 2. Timotheus-, Titusbrief). Sie stellen allerdings - im Blick auf die spätere Entwicklung - ein Problem, das nicht lösbar ist. Sie nennen nebeneinander die beiden Ämter des Bischofs und der Ältesten (Presbyter). Für beide geben sie Amtsanweisungen. Und zwar wird vom Bischof stets in der Einzahl, von den Presbytern immer in der Mehrzahl gesprochen (l.Tim.5,1 ist nur scheinbar eine Ausnahme). Heißt das, daß sich in den Pastoralbriefen bereits die monarchische Stellung des Bischofs ausgebildet hat? In der Vergangenheit hatte die Auseinandersetzung darüber einen konfessionellen Einschlag: Kann sich die katholische Kirche für ihre Organisation und ihr Amtsverständnis auf die Bibel berufen - vielleicht sogar auf Paulus selbst, falls die Pastoralbriefe „echt“ sein sollten? Heute ist klar, daß die Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen nicht durch Exegese zu entscheiden ist, zumal, wie gesagt, der Befund in den Briefen nicht eindeutig ist. Auch wenn sie schon einen einzelnen als Leiter einer Gemeinde kennen, so ist doch dessen kirchenrechtliche Stellung nicht mit der des späteren Bischofs identisch. Weder gibt es die Gliederung in Klerus und Laien, noch die Priesterweihe (nur eine Ordination vor der Gemeinde), noch den Gedanken, daß der Bischof seine Weihe- und Lehrgewalt durch die Übertragung der Stellung der Apostel auf ihn empfängt. Außerdem ist es nicht einmal sicher, ob der Bischof als einzelner die Gemeinde leitet. Zwar scheint der Sprachgebrauch darauf hinzuweisen, daß sich der Bischof (s.o.: Einzahl!) aus dem Kreis der Ältesten heraushebt, etwa als Vorsitzender. Aber ein sachlicher Unterschied zwischen den beiden Ämtern ist nicht zu erkennen. Vielleicht erklärt sich der Gebrauch der Einzahl für den Bischof © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Kirche bis zum Ende des ersten Jahrhunderts

99

ganz simpel und äußerlich daraus, daß der Verfasser der Briefe einen vorgefundenen „Bischofsspiegel“ einarbeitete, der die Einzahl hatte, ohne damit eine Mehrzahl von Bischöfen auszuschließen. An weiteren Gemeindeämtern nennen die Pastoralbriefe noch die der Diakonen (l.Tim.3,8 ff.) und der Witwen (l.Tim.5,3 ff.). Trotz der sichtbaren Weiterentwicklung ist das freie paulinische Erbe noch da. Eine Etappe weiter sind die Dinge bei Ignatius fortgeschritten. Hier ist die Abstufung der Hierarchie ausgebildet: Bischof (Gemeinde und Bischof: Eph.5,2f.; Magn.7; Trall.7,2; Phld.4; Smyrn.8; 9,1) - Älteste (Bischof und Älteste: Eph.2,2; 20,2; Magn.7,1; 13,1 usw.) - Diakonen (Trall.2,3). Und die hierarchische Ordnung wird nun aufs engste mit der Soteriologie, Geistlehre, Sakramentenlehre und dem Kirchengedanken verbunden und dadurch begründet. Der Bischof repräsentiert in der Gemeinde Gott (Ign.Pol.6,1; Eph.5,3; Magn.3,1). Die Entstehung des Bischofsamtes ist nicht mehr aufzuhellen. Seine erste Erwähnung, Phil. 1,1, gibt keinen sachlichen Hinweis. Manche nehmen an, es habe sich aus wirtschaftlichen Verwaltungsaufgaben entwickelt. Aber von da erklärt sich kaum seine spätere Bedeutung. Die wichtigste Sachfrage ist nun nicht, ob ein einzelner oder ein Gremium an der Spitze der Gemeinde steht. Das kann damals übrigens noch von Ort zu Ort verschieden sein (s. u. S.99 f.). Das Problem liegt im Verständnis des Amtes überhaupt und speziell des Bischofsamtes: Welche Funktion hat es in der Vermittlung zwischen Gott bzw. Christus und dem Menschen, in der Übereignung des Heilsgeschehens? Werden Kirche und Heil auf Grund sachlicher Notwendigkeit mit bestimmten Ämtern und einer festen Rangordnung derselben verknüpft? Ist die Unterscheidung von Klerus und Laien wie die Gestalt des Klerus nur eine Sache der Zweckmäßigkeit oder ein Prinzip der Heilsordnung? Wird die Wirkung der Heilsmittel und -kräfte an die Hierarchie gebunden? Kann nur ein geweihter Priester ein wirksames Sakrament spenden und nur ein Bischof einen Priester weihen? Schiebt sich also die Hierarchie als Zwischengröße zwischen Gott und den Menschen? Wird die Kirche zur „Heilsanstalt“? Diese Fragen drängen sich von der späteren Entwicklung her auf. Bei Ignatius ist die Systematik noch keineswegs ausgeformt, schon gar nicht in der ganzen Kirche. Die Entwicklung verläuft nicht gleichmäßig. Neben Ignatius finden sich andere Formen. In der Didache (Beilage 11a) bestehen neben den Bischöfen und Diakonen die alten pneumatischen Stellungen der Apostel, Propheten, Lehrer. Die Gemeinde wählt die erforderlichen Amtsträger (15,1 f.). Im Gottesdienst beten die Propheten frei (10,7); die Gewählten sprechen die vorgeschriebenen Gebete. In Philippi ist das Bischofsamt zur Zeit des Ignatius und Polykarp noch unbekannt. Das bereits monarchisch organisierte Smyrna schreibt dorthin: „Polykarp und die Presbyter bei ihm an die Kirche Gottes, die zu Philippi in der Fremde weilt“ und mahnt, „sich den Presbytern und Diakonen wie Gott und Christus unterzuordnen“ (Pol. Phil. 5,3). Das ist eine leise Andeutung einer „theologischen“ Begründung der Rangstufen, 7* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

100

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

wie sie bei Polykarps Freund Ignatius ausgebildet ist, mehr nicht. Kein Ton davon, daß auch in Philippi das Bischofsamt eingeführt werden müsse. In den Westen gelangt das Bischofsamt erst spät; in Rom entwickelt es sich erst gegen die Mitte des 2. Jahrhunderts. Der 1. Clemensbrief kennt es nicht. Er stellt aber eine Reihe her (42,1 ff.): Gott - Christus - Apostel - Bischöfe (Mehrzahl - die Bischöfe sind mit den Presbytern identisch) - Diakonen. Die Ämter haben also ihre Würde. Der 1. Clemensbrief ist auch die erste christliche Schrift, die den Gedanken der Amts-„Sukzession“ vertritt: Die genannten Ämter sind von den Aposteln eingesetzt. Die Würde vererbt sich von Generation zu Generation (44,2). Als in Korinth die Jungen gegen die Ältesten rebellieren, greift Rom im Sinn der Autorität des Amtes ein. Daher wird der 1. Clemensbrief als das älteste Dokument der sich entwickelnden katholischen Kirchenverfassung bezeichnet. Das ist nur eingeschränkt richtig. Noch ist die alte patriarchalische Autorität der Presbyter nicht von der „amtlichen“ verdrängt; aber das Amts-Denken zeichnet sich in der Tat mehr und mehr ab. Auch den Kampf des „Presbyters“, der den 2. und 3. Johannesbrief schrieb, gegen einen gewissen Diotrephes, der eine monarchisch-bischöfliche Stellung innezuhaben scheint, wollte man in diese Entwicklung einordnen. Doch ist die Auswertung der beiden kurzen Briefe unsicher. Eine Organisation über der einzelnen Gemeinde gibt es nach wie vor nicht. Man wollte schon Andeutungen einer solchen in den Pastoralbriefen finden: Die Schüler des Apostels, Timotheus und Titus, sollen den Bischöfen und Presbytern Weisungen erteilen. Sie seien also schon so etwas wie Erzbischöfe. Aber daran ist nicht gedacht. Die Briefe sind fingiert; die Namen der Apostelschüler dienen nur dazu, die apostolische Tradition einzuprägen. Wie man die Einheit denkt, stellt beispielhaft Lukas dar: Sie ist durch den Ursprung der Kirche in Jerusalem gesetzt. Auch wenn die Urgemeinde nicht mehr besteht, bleibt sie als Bild gegenwärtig. Nicht eine übergreifende Organisation ist nötig, sondern die Bewahrung des Erbes Jesu und der Apostel. In allen Schriften dieser Zeit ist die Einheit eine ideale. Die Christen der ganzen Welt bilden das eine Gottesvolk, den Leib Christi. Es gilt: „Ein Leib und ein Geist,... ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller“ (Eph. 4,4-6). Ein besonderer Aspekt dieser Einheit ist das Zusammenfinden von Juden und Heiden in der einen Kirche (Eph.2,11 ff.; Joh.l0,l ff.). Die Probleme und Kämpfe der paulinischen Zeit sind abgeklungen. Es besteht nicht mehr die unmittelbare Konfrontation von Judentum bzw. judaistischem Judenchristentum und paulinischer Gesetzesfreiheit. Die Alternative Judenchristen-Heidenchristen ist nicht mehr aktuell, auch nicht in Schriften, die aus der jüdischen Tradition kommen, wie dem Jakobus- und Hebräerbrief. Aktuell ist ein anderes Problem: Die Kirche hat das Alte Testament als heilige Schrift übernommen und muß es sich nun aneignen. Wie ist das möglich, wenn zugleich wesentliche Inhalte desselben abgestreift sind? Nun, es ist das Buch der Weissagung auf Christus (Matthäus-Evangelium); es © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Kirche bis zum Ende des ersten Jahrhunderts

101

enthält die Gebote Gottes, die nach wie vor gültig sind; es ist Vorabbildung des Heils in figürlicher Einkleidung (Hebräerbrief; in anderer Weise Barnabasbrief). Es enthält die Vorbilder des christlichen Lebens (1. Clemensbrief). Auch hier herrscht freie Fülle der Gedanken und Experimente. Die Elemente des Gottesdienstes sind die bisherigen: Schriftlesung, Predigt, Gebet; l.Tim.4,13 zählt auf: Lesung, Mahnung, Lehre. Dabei ist der starke Einfluß der (Diaspora-)Synagoge zu erkennen. Der 1. Clemensbrief ist auf weite Strecken Sammlung von Exzerpten aus dem Alten Testament. Der Hebräerbrief entwickelt eine typologische, der Barnabasbrief eine allegorische Methode der Auslegung. Der jüdische Stil prägt die Lieder und Gebete. Einen Eindruck davon geben die zahlreichen Hymnen der Offenbarung (auch wenn sie nicht wirkliche Gemeindelieder sind), die Gebete der Didache und das große Gebet l.Clem.59-61 (Beilage 11b). Der Sonntag als Tag der Versammlung zeichnete sich schon l.Kor. 16,2 ab. Jetzt mehren sich die Hinweise: Apg.20,7; Offb.1,10; Did.14,1; Barn. 15,9; Ign.Magn. 9,1; etwas später Justin Apologie I 67,3. Plinius weiß in seinem Brief über die Christen an Trajan (Beilage 7a), daß sich diese „an einem bestimmten Tag vor Tagesanbruch“ versammeln, dann wieder zur Mahlzeit. Der Morgengottesdienst dürfte der Lehrgottesdienst sein. Diese Erklärung ist wahrscheinlicher als die andere, es sei die Tauffeier gemeint. Denn Plinius spricht deutlich von einer regelmäßigen Sitte; die Taufe konnte aber nur begangen werden, wenn Täuflinge vorhanden waren. Die Tauf- und Abendmahlsordnung der Didache und die Gottesdienstordnung Justins sind im Textanhang abgedruckt (Beilagen 11 a und c). Die Handauflegung dient der Segnung bei Taufe und Ordination (Apg.9,17f.; Hebr.6,2; Apg. 13,1-3; 1.Tim. 4,14; 2.Tim. 1,6) sowie der Krankenheilung. Jak. 5,14 kennt den Ritus der Ölung. Das Fasten ist fester Brauch. Die Didache (8,1) bestimmt: „Eure Fasten sollen nicht gleichzeitig mit denen der Heuchler (s. Mt.6,16!) stattfinden; denn sie fasten am Montag und Donnerstag; ihr aber sollt am Mittwoch und Freitag fasten.“ 3. Die geistige Leistung So sehr uns die Quellen für die historischen Tatsachen fehlen, so reichlich fließen sie nun für die Erkenntnis des Geistes dieser Zeit. Zwar kann eine eigentliche Geschichte der urchristlichen Literatur nicht geschrieben werden, da die zeitliche Einordnung der Schriften nur selten möglich ist. Aber es lassen sich bestimmte Zusammenhänge und Gruppierungen erkennen. Zur urchristlichen Literatur gehören außer den echten Briefen des Paulus sämtliche übrigen Schriften des Neuen Testaments (einige stehen sogar schon an der äußersten Grenze des „Urchristentums“): Briefe, die unter dem Namen des Paulus verfaßt sind und sich seinem Erbe verpflichtet wissen, nämlich die „Briefe“ an die Kolosser und „Epheser“, ein zweiter Brief nach Thessalonich, die „Pastoralbriefe“. Zu der Abfassung der neuen Briefe kommt die Sammlung und Edition der alten. Die Größen der Vergangenheit sind © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

102

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

die festen Autoritäten für die Gegenwart. Jetzt entstehen die Evangelien, weitere „Briefe“ und Lehrschriften, die schließlich als das kleine Corpus der „katholischen Briefe“ in den Kanon aufgenommen wurden, eine Apokalypse. Die außerkanonischen Schriften der „Apostolischen Väter“ sind an anderer Stelle besprochen (S. 13 ff.). Daß vieles verloren ist, beweisen Bruchstücke von „apokryphen“ Evangelien; doch läßt sich deren Alter im Einzelfall nicht feststellen. Im ganzen gehören die „neutestamentlichen Apokryphen“ in die Zeit jenseits des Urchristentums. Das Charakteristikum, das den Geist der Zeit am deutlichsten anzeigt, ist der Traditionsgedanke. Jetzt wird die Idee der zwölf Apostel und des apostolischen Zeitalters entwickelt. Man weiß sich als die dritte Generation. Formal hält man zwar noch teilweise an der Naherwartung der Parusie fest. Aber es dominiert doch der Ausblick auf die Parusie als solche, von der man nach wie vor überzeugt ist; die Betonung, daß sie nahe sei, schwindet, wenn man nicht die Eschatologie ganz von der Kosmologie löst, wie es das Johannes-Evangelium tut (s. u. S. 103). Wenn übrigens gelegentlich behauptet wird, das Ausbleiben der Parusie habe eine Grundlagenkrise ausgelöst, so stimmt das nicht. Es gab da und dort örtliche Auseinandersetzungen und Zweifel, aber keine weltweite Erschütterung der Kirche. Zum Beispiel deutet Kol. 3,4 die Parusie-Erwartung an, sagt aber nicht, daß das Weltende nahe sei. Wichtiger ist dem Kolosserbrief, den Gläubigen die himmlischen Güter zu zeigen, zu denen sie aufblicken dürfen, die Heilskräfte, die sie in der Kirche als dem Leib Christi besitzen, sie der Teilhabe am Haupt, Christus, zu vergewissern, sie zur Freiheit gegen die Mächte des Kosmos, zum Kampf gegen die Irrlehrer und zur rechten Lebensführung anzuleiten. Der verwandte Epheserbrief baut diese Gedanken weiter aus. Die Kirche ruht auf dem Fundament der Apostel und Propheten. Nicht Ausblick auf künftige Ereignisse, sondern das Eindringen in das offenbarte Geheimnis des Heilsplans Gottes verwirklicht den Anteil der Gläubigen am Heil vorgreifend schon in der Gegenwart, in ihrem Kampf mit den bösen Mächten der Welt. Der 2. Thessalonicherbrief erklärt rundweg, Paulus habe keine unmittelbare Naherwartung gelehrt. Irgendwo scheint sich sporadisch die alte Naherwartung wieder aktiviert zu haben; sie konnte sich mit gutem Grund auf Paulus berufen. Der 2. Thessalonicherbrief muß das mühsam genug bestreiten. In der Sache hat er letztlich doch - gegen den paulinischen Buchstaben - recht. Denn für Paulus war die Naherwartung nicht eine selbständige, spekulativ-kosmologische Lehre. Sie diente durchaus der gedanklichen Erfassung des Heilsgeschehens in Christus. Dagegen dürfte sie bei seinen Nachfahren, gegen die der 2. Thessalonicherbrief polemisiert, schwärmerisch geworden sein. Die Pastoralbriefe konzentrieren sich auf die Bewahrung der reinen Lehre, deren Garant der Apostel Paulus ist, auf die Ordnung der Kirche und der Lebensführung, die Abwehr der Irrlehre, die ein Zeichen der letzten Zeit ist; daß diese nur kurz sei, steht nicht da. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Kirche bis zum Ende des ersten Jahrhunderts

103

Der Hebräerbrief wiederholt gegentlich den alten Satz, daß „der Tag“ nahe sei (10,25; vgl. V.37). Aber vor allem schildert er die Kirche als das wandernde Gottesvolk auf seinem langen, mühevollen Marsch zum fernen Ziel, der himmlischen Stadt. In zwei Schriften wird die Naherwartung wieder intensiviert, im 1. Petrusbrief und in der Offenbarung. Da und dort hängt das mit der Lage der Kirche, der Verfolgung, zusammen. Es ist aber bemerkenswert, daß im 1. Petrusbrief keineswegs apokalyptische Phantasie ausbricht. Die Erwartung des Herrn ist nicht Gegenstand der Spekulation. Sie ist ein Orientierungspunkt, der vom Verstehen des Heilswerks angepeilt wird. Was man zu erwarten hat und was man bereits an Gütern des Heils besitzt, das erfährt man aus dem Heilswerk Christi, seinem Leiden für unsere Sünden. Die Offenbarung schildert nun allerdings das Weltende und die himmlische Welt in ungeheuren Bildern, in der Tradition der jüdischen Apokalyptik, ihres Weltbildes und ihrer Sprache. Aber die Pointe ist nicht das Phantastische als solches. Die ganze Bildwelt wird auf das Schicksal der Gläubigen bezogen. Ein interessanter Sonderfall ist der 2. Petrusbrief. Hier wird einmal Enttäuschung über das Ausbleiben der Parusie sichtbar. Es gibt Leute, die über die Naherwartung spotten. Der 2. Petrusbrief verteidigt sie; aber er hat Mühe: Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag. Spuren ähnlicher Auseinandersetzungen finden sich noch l.Clem.23,3-5 und 2.Clem.ll f. Einzigartig ist das Johannes-Evangelium. In ihm stehen Sätze, die den Ausblick auf eine künftige Parusie des Herrn geradezu ausschließen: Der Herr wird nicht kommen; er ist gekommen. Er ist „in die Welt gekommen“, und das war das Kommen des Gerichts. Und er ist nach seinem Tod zu den Seinen zurückgekehrt. Joh.3,18 f.: Nicht ein künftiger Gerichtstag wird gehalten, sondern „das ist das Gericht, daß das Licht in die Welt kam, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht“. „Wer . .. glaubt, der wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet.“ Daneben stehen aber Sätze, die doch auf den kommenden Jüngsten Tag vordeuten (so in dem Abschnitt 5,27-29; 6,39 ff.). Wie verhält sich nun beides zueinander? Es gibt Gelehrte, die annehmen, die Sätze über den Jüngsten Tag seien spätere Zusätze. Das ist möglich. Denn aus Joh.21 ist zu ersehen, daß das Buch nicht vom Verfasser, sondern von seinen Schülern herausgegeben wurde. Andere nehmen an, er habe die durchschnittliche Eschatologie der Kirche beibehalten, sie aber vergeistigt. Dann wären beide Aussagengruppen ursprünglich. Nur ist ihr Nebeneinander dann doch nicht erklärt. Einig ist man sich, daß der Ton jedenfalls auf den „gegenwärtigen“ Sätzen liegt, wie 3,18 f.: 5,24. Im Umkreis des Neuen Testaments, bei den Apostolischen Vätern, bietet sich im ganzen dasselbe Bild dar wie hier. Mit dem Johannes-Evangelium lassen sich die Briefe des Ignatius vergleichen. Zwar wird gelegentlich das künftige Gericht erwähnt (Eph.11,1); wir leben in den letzten Zeiten. Aber das ist nur der Rand. Das Zentrum bildet die Belehrung über Christus, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

104

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Inkarnation und das Heilswerk, die Heilsgüter und Heilsmittlerschaft der Kirche, also das Verstehen der Gegenwart und ihrer Kräfte, die das Höchste ermöglichen, was der Gläubige erwarten kann, das Martyrium. Es gilt auch bei den Apostolischen Vätern allgemein, daß Weltende und Gericht, ewiges Leben oder ewiges Unheil erwartet werden, daß aber die Ntffeerwartung tatsächlich durch die allgemeine Form der Erwartung abgelöst ist. Der Denker, der die eschatologische Thematik bewußt anfaßt und die Lösung erarbeitet, der die Zukunft gehört, ist Lukas. 4. Das innere Problem der Kirche Je älter und größer die Kirche wird, desto dringlicher wird es, daß sie feste Lebensformen findet: für die äußere Organisation der Gemeinden, für Caritas, Gottesdienst, Lehre, Disziplin. Diese Formen können nur weltliche Formen sein. Es gibt Über- und Unterordnung, Steuern, Kirchenzucht, damit Zwang. Ist das aber nicht auch eine innere Verweltlichung, Abfall vom ursprünglichen Wesen der Kirche? Darf das freie Walten des Geistes durch Rechtsordnungen ersetzt werden? Müßte sich die Kirche nicht bemühen, gerade das zu verhindern und weiterhin die lebendige Erfahrung des Geistes zu pflegen? Müßte sie nicht darauf vertrauen, daß ihr der Geist von Fall zu Fall das Erforderliche offenbart? Diese Fragen werden die Kirche bewegen, solange sie existiert. Oder soll man sich auf den „realistischen“ Standpunkt stellen: Die Kirche konnte nicht anders, wenn sie in der Welt bestehen wollte? Aber das ist ja gerade die Frage: Als was wollte sie bestehen? Doch als die erwählte Gemeinde des Herrn in der Endzeit! Und wieder von der anderen Seite: Wenn der Geist nicht mehr frei weht, wenn die Kirche sein Walten sozusagen künstlich erzeugen muß - ist das noch der Geist? Ist das noch Gottes Geist und nicht vielmehr der Gläubigen eigener Geist? Die Kirche scheint zwischen Scylla und Charybdis zu stehen, in der Gefahr, entweder weltliche Institution oder aber Sekte zu werden. Welches sind die Maßstäbe, mit denen Recht oder Unrecht der sich ausbildenden kirchlichen Lebensformen zu messen ist? Einen ersten Hinweis gibt der Ursprung der Kirche, die Tatsache, daß sie - auf Grund der Erscheinungen des Auferstandenen - nicht aus der Welt auswanderte, um innere Erhebung zu pflegen, sondern in der Welt blieb, um ihr die Herrschaft Christi zu ihrem Heil zu verkündigen. Es ist weiter zu bedenken, daß der Verzicht auf weltliche Lebensformen ein Scheinverzicht wäre. Auch ein Kloster in der Wüste ist Welt. Nicht die Formen an sich sind böse. Böse ist in der Kirche die Anwendung von Macht. Aber ist das in der Welt überhaupt zu vermeiden? In der Kirche ja! Das schließt Kirchenzucht nicht aus - aber sie ist nach der Norm der Liebe zu üben. Es gibt Kriterien der Lehre, für die Scheidung von Wahrheit und Irrtum, jedoch keine Instanz, welche die Erkenntnis mit Machtmitteln durchzusetzen hätte. Wie verhalten sich nun Theorie und Wirklichkeit zueinander? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Kirche bis zum Ende des ersten Jahrhunderts

105

Der Schlüssel für das Verständnis dieser Zeit ist das veränderte Selbstbewußtsein der Kirche. Ihr Stifter ist in eine fernere Vergangenheit gerückt. Die Kirche, die sich ursprünglich dem Weltende konfrontiert wußte und sich selbst als das Zeichen der Endzeit verstand, hat jetzt eine historische Dimension gewonnen und kann auf ihre eigene Geschichte zurückblicken. Die großen Gestalten der Stiftungszeit werden zu Heroen des Glaubens und zu den autoritativen Übermittlern der Lehre. Angesichts dessen stellt sich aufs neue die oben aufgeworfene Frage: Wie verhält sich diese Wandlung zum ursprünglichen Glauben? Ein bis heute wirksames Geschichtsbild sieht die Entwicklung als Abfall: Nach der Zeit der reinen Lehre und Liebe geht es bergab in dogmatische und organisatorische Verhärtung. Aber sind diese Veränderungen nicht insofern als legitim zu beurteilen, als die Kirche nicht an eine bestimmte Form von Lehre und Organisation gebunden ist, weil eine solche Bindung doch wieder ein Gesetz wäre und lehr- und lebensgesetzliche Leistungen zur Bedingung des Heils erheben würde? Andererseits ist nach den Grenzen zu fragen. Denn nicht jede Form kann legitim sein. Wie kann der Glaube als Kriterium wirksam werden? In bestimmten Fällen ist es einfach, die Grenzen zu markieren, z.B. wenn es um die Darstellung des Unterschieds zum heidnischen Kult geht: Aber wie, wenn sich innerhalb der Kirche die Meinungsverschiedenheiten über den Glauben selbst verschärfen und zum Bruch führen? Wenn sich zwei Fronten bilden und einander die Rechtgläubigkeit absprechen? Wenn also Maßstäbe für die Ausscheidung der „Ketzerei“ gefunden werden müssen! Das Vorspiel zur Auseinandersetzung von Orthodoxie und Häresie ist die Kritik des Paulus am korinthischen Spiritualismus. Dabei werden die ersten Kriterien ausgearbeitet: das Bekenntnis (l.Kor. 12,3; 15,3 ff.) und der Kirchengedanke („Aufbau“). In der zweiten Jahrhunderthälfte zeichnet sich ein neuer Stil ab. Er ist dadurch bedingt, daß die Tradition in neuer Weise ins Spiel kommt; sie ermöglicht die Berufung auf die Garanten der rechten Lehre, die Apostel. Man muß sich klarmachen, wie schwierig die Dinge sind. Es ist ja nicht von vornherein ausgemacht, was rechtgläubig, was häretisch ist. Es gibt in der Kirche Glaubenssätze und Überzeugungen, aber noch keine normative Dogmatik und keine Instanz, die sie autoritativ anwendet. Die Gruppen, die nach und nach als häretisch ausgeschieden werden, befinden sich zunächst in der Kirche und wissen sich als Christen, oft sogar als besonders erleuchtete. Einige Züge aus dem bunten Bild: Der Kolosserbrief greift Leute an, die „Philosophie“ treiben. Unter diesem Namen verbirgt sich offenbar eine Art kosmischer Erlösungsreligion, die Christus als Inbegriff des Kosmos und seiner Elemente erklärt. Aus diesem Glauben werden Formen der Verehrung der kosmischen Mächte, Riten und Enthaltungsvorschriften abgeleitet. Gegen ähnliche Forderungen kämpfen die Pastoralbriefe. Ein Lehrsatz der Gegner lautet, die Auferstehung sei schon geschehen (2.Tim.2,18). Es scheint sich also um eine spiritualistische Gnosis mit jüdisch-rituellem Einschlag zu handeln. Askese, praktizierte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

106

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Weltenthaltung zur Rechten, Libertinismus, praktizierte Weltverachtung zur Linken. Diese zweite Form der Entweltlichung sieht die Offenbarung vor sich. Die Gegner, die der 1. Johannesbrief bekämpft, trennen den Sohn Gottes vom „Fleisch“, sind also Doketisten; sie bestreiten die Menschwerdung des Erlösers und sehen gerade in seiner reinen Göttlichkeit die Bedingung des Heils. Welche Denkmittel können zur Durchleuchtung aufgeboten werden? Können überhaupt klare Fronten abgesteckt werden? Es gibt ja nirgends „die“ zeitlos reine Lehre - es kann sie aus dem Wesen des Glaubens selbst heraus nicht geben. Dieser muß sich je und je geschichtlich, d.h. auch: zeitbedingt und „weltlich“ formulieren. Sätze wie der von den Pastoralbriefen bekämpfte über die Gegenwart der Auferstehungsexistenz stehen auch im Kolosserbrief (2,12), der doch so scharf gegen Häresie kämpft, im Epheserbrief (2,5 ff.), der Paulus für seine Lehre reklamiert, im Johannes-Evangelium (5,24), in dessen Gefolge wiederum der 1. Johannesbrief sich mit Gnostikern auseinandersetzt. Wird es zum Kampf aller gegen alle kommen, zur völligen Relativierung der christlichen Wahrheit? Denkmittel liefert zunächst die Tradition, nicht nur die schriftlich niedergelegte Lehre Jesu und Pauli, sondern zuvor die unmittelbare Weitergabe des Glaubens in den Gemeinden. Neue Ideen sind verdächtig. Das ist ein Handikap für die Gnostiker usw., aber noch keine Widerlegung. Für eine solche muß das Erbe aktiviert werden. Der Kolosserbrief analysiert die Position der Gegner mit Hilfe des paulinischen Verständnisses der Freiheit gegenüber der Welt und den Weltmächten. Er verweigert die Herabsetzung Christi zu einer kosmischen Potenz. Die Pastoralbriefe berufen sich mit Nachdruck auf das Lehr-Vermächtnis des Apostels. Sie widerlegen nicht die einzelnen Lehren. Das ist für die damalige Methode des Ketzerkampfes typisch: Man bestreitet nicht argumentierend, sondern polemisiert. Eines der gewichtigsten „Argumente“ ist der ständig wiederholte Vorwurf der Unsittlichkeit, der gelegentlich an den weltanschaulichen Libertinismus anknüpfen kann. Ein sachlich wichtiger Gesichtspunkt ist es, wenn die Pastoralbriefe gegen alle Praktiken der Entweltlichung den Schöpferglauben stellen. Die Welt wird nicht dualistisch entwertet. Der Gott der Welt und der Gott des Heils ist einer. Was schon Paulus den Korinthern vorhielt (l.Kor. 10,25 ff.) und den Römern gegenüber wiederholte, daß die Erde und ihre Fülle des Herrn ist, daß daher nichts an sich unrein ist (Röm. 14, 14.20), das nehmen die Pastoralbriefe auf: „Den Reinen ist alles rein“ (Tit. 1,15). Auch sie übertragen die Freiheit selbständig in die neue Situation. Besonders interessant ist der 1. Jobannesbrief. Der Verfasser sieht sich in der Lage, daß das Glaubensbekenntnis dem Wortlaut nach nicht strittig ist. Auch die Gegner bekennen: „Jesus ist der Sohn Gottes.“ Aber sie bestreiten, daß der Sohn Mensch wurde. Damit wird die Inkarnation des Erlösers zum scheidenden Zeichen. Jetzt kommt an den Tag, daß eine formale Anerkennung des Credo noch nicht die Rechtgläubigkeit erweist. Es muß auch richtig ausgelegt werden. Die Theologie bekommt eine erweiterte Aufgabe. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Kirche bis zum Ende des ersten Jahrhunderts

107

Aber wie weit ist dieser Streit um die Auslegung des christologischen Dogmas sachhaltig? Nun, auch in der gnostischen Christologie, der Bestreitung der Menschheit des Sohnes Gottes, drückt sich die Zerreißung von Gott und Welt, Heil und Welt aus. Walter Bauer warf in einem erregenden Buch (Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, 1934, 2. Aufl. 1964) die Frage auf, ob es mehr als Zufall sei, daß die „orthodoxe“ Richtung siegte (die ja erst durch diesen Sieg „orthodox“ wurde) und nicht die Gnosis, die zuzeiten gute Aussichten hatte, die normale Form des Christentums zu werden. Natürlich kann man keine geschichtliche Notwendigkeit postulieren. Aber das Urteil über die Gnosis, das sie zur Häresie deklariert, hat sein sachliches, theologisches Recht. Allen ihren Erscheinungsformen, Askese, Ritualismus, Libertinismus, theoretischem Doketismus, ist das eine gemeinsam, daß sie Offenbarung und Welt trennen. Heil wird doch wieder durch Leistungen des Menschen, Aufstieg in die obere Welt erlangt. Die Kirche verwandelt sich in eine spirituale Sekte. Diese Punkte sind in der polemischen Literatur damals erfaßt worden. Was aus jenen Kämpfen und ihrer Fortsetzung zu lernen ist: Das Auseinandertreten von Rechtgläubigkeit und Ketzerei erfolgt in jeder Gruppe, die sich als rechtgläubig etabliert hat, aufs neue - nicht weil die Leute streitsüchtig, neugierig oder borniert sind, sondern weil Rechtgläubigkeit kein vererbbarer Besitz ist. Überliefert werden können Lehrsätze, Erklärungen des Glaubensinhalts, nicht dieser selbst. Das heißt nicht, daß es nicht gültige Kriterien gibt; aber sie müssen immer wieder neu erarbeitet werden, und zwar in der theologischen Selbstprüfung. Die Rechtgläubigkeit kann man sich nicht selber bestätigen. Die Kriterien müssen sich im inneren Leben der Kirche wie in ihrem Verhältnis zur Welt bewähren, in der geistigen Einstellung wie in der Lebensgestaltung. Häresie ist nicht nur eine Sache der kirchlichen Innenpolitik. In ihr werden Stimmen aus der geistigen Welt laut, in der das Christentum lebt - und an der auch die „Orthodoxie“ ihren Anteil hat. Es ist von Anfang an genötigt, sich mit seinen geistigen Konkurenten zu befassen. 5. Konkurrenten Ein Konkurrent großen Stils ist natürlich das Judentum, das damals weithin verachtet wird und doch auch eine starke Anziehungskraft ausübt. Des näheren konkurrieren mit dem Christentum Bewegungen, die ebenfalls Heil durch Offenbarung anbieten und Gemeinden sammeln. Eine solche Gruppe waren die Anhänger Johannes' des Täufers (nach seinem Tod). Wir wissen von ihnen kaum etwas, können aber aus einigen polemischen Stellen, vor allem im Johannes-Evangelium, erschließen, daß es sie gab. Denn einigemal betont Johannes mit auffallendem Ton, daß der Täufer nicht das Licht, der Messias war (Joh. 1,6 ff.l9 ff.). Es gab offenbar Leute, die ihn dafür hielten. Einzelheiten sind nicht bekannt. Es dürfte aber feststehen, daß diese Bewegung der christlichen nicht voranging und nicht das Modell für den Glauben an Jesus lieferte, sondern umgekehrt, daß sie ihre Anschauungen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

108

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

über den Täufer nach christlichem Vorbild entwickelte. Die Rivalität mit ihr erscheint noch an weiteren Stellen (z.B. Apg. 18,24 ff.; 19,1 ff.)» Auch in späterer Zeit gibt es noch Hinweise auf Täufer-Anhänger. Vielleicht lebt ein Teil von ihnen noch in den heutigen Mandäern fort; wenn, dann freilich in einer so veränderten Gestalt, daß von einem geschichtlichen Zusammenhang nicht mehr die Rede sein kann. Das einzige nichtchristliche Sektenhaupt, das im Neuen Testament genannt ist (aber als - mindestens zeitweiliger - Christ), ist Simon der Magier, Apg.8,9 ff. Hier ist er zu einem verhältnismäßig harmlosen Gaukler verniedlicht, der in Samaria Christ wird, aber mit der Kraft des Geistes ein Geschäft machen will. Petrus spricht einen kräftigen Fluch und fordert ihn zur Buße auf. Dann verschwindet er aus dem Blickfeld. Simon stammte wirklich aus Samarien; das bestätigt sein Landsmann, der Philosoph, spätere Christ und Märtyrer Justin. Aber die Bekehrung Simons ist Legende. Er ist kein christlicher Ketzer, sondern echter Konkurrent. Seine Lehre kann nur mühsam und unsicher rekonstruiert werden. Denn einerseits ist seine Gestalt von christlichen Legenden völlig überwuchert; andererseits wurde seine Lehre von seinen Anhängern gnostisch weiterentwickelt. Er soll eine Begleiterin, Helena, mit sich geführt haben, die ein Element der Offenbarung darstellt, die in der Welt gefangene, von Simon befreite himmlische „Ennoia“, den Gedanken des Gottesgeistes. Sicher ist (das ist auch in die Apostelgeschichte eingegangen), daß er sich als „die große Kraft“ ausgab (Apg. 8,10), d.h. als den höchsten Gott selbst oder aber als die Offenbarung Gottes, also den Sohn; beides brauchte damals keine Alternative zu sein. Nach Justin (Beilage 10) hatte er in Samarien erheblichen Erfolg. In der christlichen Legende wird er zum Zauberer, der der überlegenen Macht des Petrus in Rom unterliegt. Auch gilt er den Kirchenvätern als der Vater der gnostischen Irrlehre.

XII. KAPITEL

Die Kirche und die Welt Das römische Reich ist nicht ein durchorganisierter Territorialstaat modernen Stils. In den Provinzen regieren die Statthalter einigermaßen souverän. Nicht einmal eine Provinz ist eine Einheit. Sie besteht aus Gebieten von Verbündeten, freien Städten, Herrschaften von Klientelfürsten, deren Status wieder sehr verschieden ist, unmittelbaren Herrschaftsgebieten. Es gibt z.B. keine Reichspolizei. So ist auch nicht zu erwarten, daß das Christentum, wenn es einmal öffentliche Aufmerksamkeit erregt, überall gleich behandelt wird. Wenn Konflikte entstehen, sind zunächst die lokalen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Kirche und die Welt

109

Behörden zuständig. Die Erzählungen der Apostelgeschichte aus Philippi, Thessalonich, Korinth geben davon ein farbiges Bild. Wenn man in Korinth vor den Statthalter geht, dann einfach, weil man in der Provinzhauptstadt latürlich die höchste Instanz anruft. Diese politischen Verhältnisse sind zu Deachten, wenn im folgenden vom „Staat“ gesprochen wird. Welches sind die Berührungs- und möglicherweise Reibungsflächen zwi;chen christlichen Gemeinden und politischen Behörden? Wodurch fühlen »ich diese zu einer Stellungnahme veranlaßt, und wie reagieren die Christen? Das öffentliche Urteil über das Christentum ist natürlich durch die Tatsache mitbestimmt, daß dieses aus dem Judentum entsprungen ist. Das Judentum ist allgemein bekannt. Juden sind über das ganze Reichsgebiet [und darüber hinaus) verbreitet. Die Schätzungen ihres Anteils an der Eleichsbe völkerung gehen bis zu zehn Prozent. Man erkennt sie an ihren Riten, z.B. am Halten des Sabbats, an ihrer Exklusivität, die übrigens durch staatliche Privilegien gesichert ist; man weiß, daß sie Götterbilder ablehnen. Wie ein Römer die Juden beurteilt, ist bei Tacitus nachzulesen: „Die jüdische Lebensweise ist absurd und widerlich“ (Hist.5,5). Der jüdische Ursprung haftet den Christen auch an, nachdem sie als eigene Gruppe erkannt sind. Belastend ist weiter die Tatsache, daß der Urheber der Bewegung von einem Vertreter Roms zum Tode verurteilt wurde. Man sieht das an den Anstrengungen des Lukas: Er betont nach Kräften, daß Pilatus Jesus für unschuldig erklärte (Lk. 23,4.14.22) und nur dem Druck der Juden wich, als er Jesus - nicht etwa hinrichten ließ, sondern - den Juden übergab, die ihn hinrichteten. Jedenfalls hatte Pilatus nach dem Tod Jesu an der Entwicklung des Christentums kein Interesse. Dasselbe gilt für seine Nachfolger. Einzelne Schläge in Palästina werden nicht von Rom geführt, sondern von jüdischen Instanzen, s.Apg. 4.5.12. Aus den hellenistischen Städten wie Cäsarea sind keine Nachrichten über Verfolgungen vorhanden. Wichtig ist dann der Einschnitt, auf den die Notiz Apg. 11,26 hinweist: Schon in Antiochia werden die „Christen“ als selbständige Bewegung erkannt und bekommen ihren eigenen Namen, „Christianer“. Er wird ihnen von außen zugelegt; das ergibt sich aus der sprachlichen Form des Namens; sie ist latdnisch. An diese Tatsache werden gelegentlich kühne Kombinationen geknüpft: Die Bezeichnung sei ihnen offiziell durch die römischen Behörden der Provinzhauptstadt Antiochia verliehen worden. Sie seien nämlich amtlich registriert und in das Vereinsregister eingetragen worden, damit natürlich auch amtlich überwacht worden. Das ist eine unhaltbare Auswertung jener Notiz. Wichtig ist aber, daß das Christentum in der Öffentlichkeit vom Judentum unterschieden wird. Wie sich die Behörden stellen, hängt von Zufällen ab. Sie müssen auf das Christentum erst einmal aufmerksam werden, und dazu braucht es im allgemeinen einen Anlaß, etwa Unruhen. Wieder bieten die Skizzen der Apostelgeschichte Illustrationsmaterial. Nach ihr sind es fast immer die Juden, die die Behörden zum Einschreiten veranlassen (13,50; 14,5.19 usw.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

110

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Deren Gesichtspunkt ist die öffentliche Ruhe. Tumultuarisches und amtliches Vorgehen sind kaum präzis zu unterscheiden (Apg. 14,5.19). Ein Beispiel bietet Apg. 16; selbst wenn Lukas die Ereignisse in Philippi nicht protokollgetreu referiert, gestaltet er doch ein Bild davon, wie es in einer Provinzstadt zugehen konnte. Auch politische Motive werden angedeutet: In Philippi - einer römischen Kolonie! - verbreiten die Christen unrömisches Wesen (Apg. 16,21); in Thessalonich untergräbt der Glaube der Christen die Stellung des Kaisers (Apg. 17,7). Es ist zu fragen, wieweit die Apostelgeschichte in dieser Hinsicht Probleme ihrer eigenen Zeit in die Frühzeit zurückverlegt. Daß sie das tut, kann aus der zum Paradigma gestalteten Szene vor dem Tribunal des Gallio in Korinth abgelesen werden (Apg. 18): Die Juden schleppen Paulus vor Gericht; aber der Statthalter erklärt sich für desinteressiert, da es sich nicht um einen juristischen und politischen, sondern um einen rein religiösen Fall handelt. Das ist für den Verfasser der Apostelgeschichte die vorbildliche Haltung des römischen Beamten, die er durch diese Schilderung empfiehlt. Er kann sich darauf stützen, daß Rom grundsätzlich religiös tolerant ist. Allerdings wird nach den Grenzen der Toleranz zu fragen sein. Die Apostelgeschichte deutet noch ein weiteres Motiv an: Schädigung des Geschäftes (Apg. 19: der Tumult der Devotionalienhersteller und -händler in Ephesus). Dies wird durch den Brief des Plinius bestätigt (Beilage 7 a). Daß die christliche Mission von Anfang an Gefahren ausgesetzt war, zeigt die Biographie des Paulus (vgl. 2.Kor. 11,23 ff.). Er weiß sich ständig bedroht. Wiederholt war er gefangengesetzt. Fünfmal wurde er in der Synagoge ausgepeitscht; er sagt nicht, wann und wo; aber die Zahl zeigt, daß ihn die innerjüdischen Strafen auf seiner Mission begleiten. Dazu kommt dreimal die Auspeitschung als amtliche Strafe durch Behörden. Einmal wurde er gesteinigt; das weist auf einen Tumult. In Ephesus schwebte er in unmittelbarer Todesgefahr (2.Kor. 1,8). Die Leiden des Paulus erfüllten sich schließlich in Gefangennahme, Überführung nach Rom und Tod. Warum er verurteilt wurde, ist nicht überliefert. Jedenfalls liegt der Grund in seiner Tätigkeit als Missionar. Die Mission steht also von vornherein unter Druck von außen; jeder, der Christ wird, geht das Risiko des Leidens ein (l.Thess. 1,6; 2,2 usw.). Die Kirche weiß, daß die Verfolgung kein Zufall ist, sondern dem Wesen des Glaubens und der Kirche entspringt. Welche Konsequenzen zieht sie daraus? Man kann sich theoretisch mehrere Möglichkeiten vorstellen. Es ist denkbar, daß die Christen schwärmerisch das Martyrium suchen, um umittelbar in die himmlische Herrlichkeit einzugehen. Oder sie erklären den Staat für teuflisch. Oder sie versuchen ihn zu überzeugen, indem sie falsche Verdächtigungen, vor allem politischer Natur, widerlegen: Das von ihnen erhoffte Reich ist nicht von dieser Welt. Auf diese Frage wird später zurückzukommen sein. Was veranlaßt Rom zum Vorgehen? Welches ist die rechtliche Grundlage? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Kirche und die Welt

111

Roms Gesichtspunkt ist einfach der der öffentlichen Sicherheit. Darauf weisen schon gewisse Parallelen wie das Vorgehen des Claudius gegen die Juden, das ausdrücklich mit Unruhen begründet wird. Es geht nicht gegen die jüdische Religion als solche. Diese wurde nicht angetastet. Claudius war mit dem jüdischen Prinzen Agrippa befreundet, der sich zwar in der Fremde als Hellenist gebärdete, aber doch die Juden protegierte und zu Hause demonstrativ fromm war. Deutlich erscheinen die Regierungsgrundsätze des Claudius in einem auf Papyrus erhaltenen Brief. Anläßlich eines Tumults zwischen Juden und der übrigen Bevölkerung in Alexandria droht Claudius an: „Wenn sie (die Juden) meinen Anordnungen nicht folgen, werde ich sie mit allen Mitteln verfolgen als Leute, die eine Seuche einschleppen, die sich über die ganze Welt verbreitet.“ Schon vor Claudius besteht eine alte römische Tradition, gegen das Eindringen fremder Kulte und des „Aberglaubens“ in Rom vorzugehen. Auch dabei geht es um die Sicherheit des Staates; zu dieser gehört auch, daß die römische Sitte nicht zersetzt werden darf. Auf dieser Linie ist auch das Verhalten Roms dem Christentum gegenüber zu sehen. Wo von der Behörde kein Staatsinteresse angenommen wird, da tritt sie nicht in Aktion. Entgegen einer verbreiteten Ansicht spielt der Herrscherkult keine Rolle als Motiv des Einschreitens. Dieser betrifft im ersten Jahrhundert nur kleine Kreise. Die Verfolgung unter Nero ist nicht durch ihn ausgelöst. Plinius fordert die Christen auf, angesichts eines Kaiserbildes zu opfern. Aber das ist nicht ein Akt der politischen Loyalität, sondern ein Zeichen, daß sie nicht Christen sind oder das Christentum aufgegeben haben. Daß die Christen aufgefordert wurden, ihrem Bekenntnis „Herr ist Jesus“ durch ein feierliches „Herr ist der Kaiser“ abzuschwören, ist eine Legende; in den Quellen steht davon nichts. Im Neuen Testament tritt der Kaiserkult erst in der Offenbarung, zur Zeit Domitians, in das Blickfeld. Die erste offizielle Groß-Aktion gegen die Christen ist die neronische Verfolgung. In sie verlegt die Legende den Tod des Petrus und Paulus. Sie blieb auf die Stadt Rom beschränkt. Hauptquelle ist Tacitus (Beilage 5). Sueton (Nero 16) bemerkt lediglich: „Mit Todesstrafen wurde gegen die Christen vorgegangen, eine Sekte, die sich einem neuen, gemeingefährlichen Aberglauben ergeben hatte.“ Tacitus ist ausführlicher, aber dunkel. Er verknüpft die Verfolgung mit dem berühmten Brand Roms, aber in einer Art und Weise, daß der Leser nicht durchschaut: Nero läßt einige Christen verhaften, „die bekannten“ - was? wann? Bekannten sie ihr Christentum offen und wurden deswegen gefangen? Bekannten sie nach der Verhaftung? Dann wurde „auf ihre Anzeige hin eine riesige Menge“ gefangen. Die Untersuchung überführt sie zwar nicht der Brandstiftung, aber des „Hasses gegen das Menschengeschlecht“. So werden sie verurteilt. Nero macht die Hinrichtung zum Schauspiel in seinem Park (um den heutigen Vatikan). An sich hat Tacitus nichts gegen das Vorgehen gegen die Christen einzuwenden. Sie sind für ihn eine verbrecherische Sekte - schon der Stifter ist hingerichtet worden. Er legt aber Wert auf die Feststellung, daß nicht sie es waren, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

112

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Rom anzündeten - der Leser denke sich das Seine. Nebenbei mokiert sich Tacitus noch über das dumme Volk. Dieses spricht nicht von den „Christianern“, sondern den „Chrestianern“; das klingt an das griechische chrestos an, das „tüchtig“, „gütig“ bedeutet. Eine grundsätzliche, rechtliche Basis wird auch in der nächsten Verfolgung unter Domitian nicht sichtbar. Die Nachrichten sind spärlich (Euseb nach dem Schriftsteller Melito von Sardes, um 150; Tertullian). Vielleicht darf man aber indirekte Indizien beiziehen: Verfolgung kennen der 1. Petrusbrief, die Offenbarung, der 1. Clemensbrief. Diese Schriften dürften in dieser Zeit entstanden sein. Viel umrätselt ist das Vorgehen Domitians gegen zwei Verwandte, seinen Vetter, den Konsul Flavius Clemens und dessen Frau Flavia Domitilla. Sie wurden nach dem Historiker Dio Cassius (Beilage 6 a) wegen Gottlosigkeit angeklagt; wegen solcher seien auch andere, die auf den Abweg jüdischer Sitten geraten waren, in großer Zahl verurteilt worden. Flavius Clemens wurde hingerichtet, seine Frau auf eine Insel verbannt. Die spätere Legende machte sie zu Christen, und viele nehmen an, daß dies einen richtigen Kern enthält, daß die „jüdischen“ Sitten auf Christentum deuten. Warum wurden die Christen verfolgt? Welches ist die Rechtslage, welches das Verfahren gegen sie? Tacitus redet nur im allgemeinen von Verbrechen und Menschenhaß. Darauf ließ sich immerhin ein Einschreiten gründen: Vereinigungen, durch die sich der Staat gefährdet fühlte, wurden unterdrückt. Genaue juristische Definitionen brauchte man dafür nicht. Der Statthalter Plinius formuliert (bald nach 100) das Problem schärfer (Beilage 7 a): Ist „der Name selbst“ strafbar oder sind es erst „Verbrechen, die mit dem Namen zusammenhängen“? Im ersten Fall genügt das Bekenntnis eines Christen zur Verurteilung, im zweiten müssen bestimmte Delikte gegen die Gesetze nachgewiesen sein. Aber eine klare Rechtslage wird auch durch diese Alternative nicht geschaffen. Gerade Plinius entzieht sich ihr: Er läßt Christen verurteilen, wenn sie ihrem Glauben nicht absagen. Kaiser Trajan (Beilage 7 b) billigt das, ordnet andererseits aber an, daß die Christen nicht aufzusuchen seien und daß auf anonyme Anzeigen nicht einzugehen sei - mit der berühmt gewordenen Begründung: „nec nostri saeculi est“ („das ist nicht der Stil unserer Epoche“). Ob Christen verfolgt werden, hängt damit weitgehend vom Zufall ab, z.B. davon, ob sie eine erregte Menge aus irgendwelchen Gründen vor den Statthalter schleppt (ein eindrucksvolles Beispiel aus dem 2. Jahrhundert ist das Martyrium des Polykarp von Smyrna), in welchem Maß wiederum der Statthalter dem Druck nachgibt. Mit der obigen Alternative (Ist das Christentum an sich strafbar oder müssen Delikte nachgewiesen werden?) hängt die andere zusammen, die ebenfalls viel diskutiert wurde: Wie wurde verfahren: durch Kriminalprozeß (wegen Verbrechen) oder durch die sogenannte polizeiliche Koerzition, die der römische Statthalter kraft seiner magistratlichen Hoheit übte (im Fall der Strafbarkeit des „Namens selbst“, zur Unterdrückung von staatsgefährdenden Vereinigungen)? Auch diese Alternative ist aber so nicht zu stellen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Kirche und die Welt

113

In den Provinzen beruht die Jurisdiktion auf dem Imperium des Statthalters. Er fällt seinen Spruch auf Grund seiner Erhebung des Tatbestandes, in freier Würdigung desselben. Und der Kaiser ist in seinen Erhebungen „nicht an die Gesetze gebunden . . . Er kann neue Delikte schaffen oder alte abändern“ (J.Bleicken). Dem entspricht das Verfahren des Plinius und die Billigung durch Trajan. Das bleibt die Lage auch unter dessen Nachfolgern. Für die Christen bedeutet das, daß die Verfolgung ständig über ihnen hängt; die Ausbrüche derselben sind räumlich und zeitlich begrenzt. Von höchster Bedeutung für die innere Entwicklung der Kirche wurde es nun, wie die Verfolgung auf die Kirche zurückwirkte und wie die Christen auf sie reagierten. M.Dibelius formulierte das Problem so: Warum wurden die Christen nicht zu Feinden des Staates? Die Reaktion der Christen war vorbereitet: Der Stifter starb am Kreuz. Verfolgungen hatten die Kirche von Anfang an begleitet, zunächst durch die Juden. Deren Aktivität erfahren die Christen auch außerhalb Palästinas (Apostelgeschichte). Aber sie werden dadurch nicht dazu gedrängt, den heilsgeschichtlichen Zusammenhang der Kirche mit Israel aufzulösen. Eines der frühesten und wichtigsten Dokumente dafür ist der Römerbrief des Paulus. Die Kirche ist durch ihren Glauben selbst auf das Leiden eingestellt. Die Welt ist nicht die Heimat, sondern die Fremde (Phil.3,20 usw.). In ihr hausen der Satan und seine Dämonen, gegen die es zu bestehen gilt (Eph. 6,10 ff.). Der Weg in das Reich Gottes führt durch Leiden (Apg. 14,22). Das Johannes-Evangelium zeigt, daß der Haß der Welt gegen die Kirche nicht zufällig ist, sondern zum Wesen der Kirche gehört. Durch ihn kommt an den Tag, daß der Glaube nicht aus der Welt stammt, sondern daß er ihr überlegen ist: Die Welt kann ihm nur in der ohnmächtigen Weise des Hasses begegnen; sie kann sich seiner Wirkung nicht entziehen. So hat die ganze Kirche das Martyrium vor Augen. In Aufnahme und Fortbildung jüdischer Gedanken über das Martyrium ist sie überzeugt, daß dieses sühnende Kraft hat (l.Petr.4,1). Daher sollen sich die Gläubigen nicht nur trotz des Leidens freuen, sondern über dasselbe (l.Petr.4,12 f.). Aber diese Freude wird nicht schwärmerisch. Das Leiden wird nicht aufgesucht, etwa durch Provokation der Öffentlichkeit oder der Behörden. Es gilt: Wenn das Bekenntnis gefordert ist, dann hat der Gläubige auch mit seinem Leben für seinen Herrn einzustehen. Wenn aber die Missionare in einer Stadt verfolgt werden, sollen sie in eine andere fliehen (Mt. 10,23). Der Glaube selbst macht es den Christen unmöglich, den Weg des „geistigen Widerstands gegen Rom“ (H.Fuchs) zu beschreiten, so nahe dieser damals lag. Ihn ging die jüdische Apokalyptik und eine politische Gruppe der Juden. Ihn beschritt ein Teil der griechisch-römischen Philosophie, in der sich damals die Kritik an der Monarchie („Tyrannis“) aktivierte. Die äußerste christliche Möglichkeit ist durch die Johannes-Offenbarung markiert (s.u.). Es gilt die Regel: „Segnet die, die euch verfolgen!“ (Röm. 12,14; vgl. Mt.5,44). 8

Conzelmann, Gesdiidite © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

114

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Das wichtigste Dokument aus der Frühzeit über das Verhältnis zur politischen Wirklichkeit ist (neben „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, Mk. 12,17) der Abschnitt Röm. 13,1-7 (vgl. die verwandte Stelle l.Petr.2,13 f.). Er wäre mißverstanden, wenn man dieses „Seid Untertan der Obrigkeit“ als den Abriß einer christlichen Staatslehre auswerten wollte. Daran denkt Paulus gar nicht, vor allem nicht daran, die Lehre vom Staat als einer göttlichen heilswirksamen Größe zu entwickeln. Keine Spur von einem Gottesgnadentum des Staates! Gewiß, die politische Ordnungsmacht ist von Gott eingesetzt. Das gehört zur Ordnung der Welt. Aber sie gehört der alten Welt an. In dieser ist sie als Faktor eines geordneten Zusammenlebens notwendig, daher zu respektieren. Der ganze Abschnitt ist aus Gedanken und Wendungen zusammengesetzt, die damals gang und gäbe sind. Er enthält keine spezifisch christlichen Gedanken, sondern ist ausgesprochen bürgerlich. Diesen Zug teilt er mit weiten Strecken der sittlichen Unterweisung: Weil die Welt eschatologisch bemessen wird, wandern die Christen nicht aus ihr aus, auch nicht in einer politischen Theorie. Sie denken auf der anderen Seite nicht an Revolution im Namen Gottes. Man kann an dieser Stelle nicht einwenden, zu einer solchen habe ihnen ja die Macht gefehlt. Sie hätten sie immerhin geistig pflegen, zum Programm erheben können. Schließlich fängt jede revolutionäre Bewegung einmal an. In Palästina standen revolutionäre jüdische Tendenzen und Gruppen unmittelbar vor Augen. Es war der Glaube, der diesen Weg abschnitt. Den Fall, daß der Staat ein religiöses Bekenntnis zu sich fordert oder wenigstens die Abschwörung des christlichen Glaubens verlangt, berührt Paulus in Röm. 13 nicht. l.Petr.2,13 aber spricht das „Seid Untertan . . . ! “ angesichts der Verfolgung. Der nächste Schritt ist in den Pastoralbriefen (l.Tim.2,f.) und im 1.Clemensbrief (Kap.61 - angesichts der Verfolgung!; Beilage 11b) zu erkennen: Die Fürbitte der Christen für die (nichtchristliche) Obrigkeit. Darin folgen die Christen ebenfalls jüdischer Tradition. Sie beten übrigens nicht um die Bekehrung des Herrschers, sondern um sein Wohlergehen. Vorausgesetzt ist dabei der antike Wohlfahrtsstaatsgedanke: Das Wohlergehen des Herrschers schließt sein Wohlverhalten ein; dadurch ist das Wohl des Volkes gewährleistet. Die Kirche bittet zugleich um ein gedeihliches Leben für sich. Das ist kein Widerspruch zur Bereitschaft zum Martyrium. Es wurde schon gesagt, daß sie dieses nicht provozieren darf. Sie wehrt sich vielmehr gegen falsche Vorwürfe und gibt Auskunft über den Glauben (l.Petr.3,15). Die Kirche kann politisch loyal sein, weil das Reich, das sie erwartet, nicht von dieser Welt ist. Jesus ist der Messias, aber seine Messianität ist keine politische. Das wird in der Passionsgeschichte besonders von Lukas und Johannes herausgestellt. So kann Lukas in der Apostelgeschichte in wiederholten Szenen zeigen, daß es von den Christen aus keine Illoyalität gegen den Staat gibt. Dieser kann mit ihnen - seien es Bürger, seien es Untertanen - wohl zufrieden sein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das Judenchristentum nach dem Jüdischen Krieg

115

Den Grenzfall im Urteil über den Staat bildet die Johannes-Offenbarung. Hier brennt der volle Krieg: Das Tier - unverkennbar das römische Imperium - ist aus dem Abgrund aufgestiegen und verlangt Anbetung. Ihm folgt ein zweites Tier. Zur Macht tritt die geistige Gewalt, die Kraft, zu überzeugen. Den Christen bleibt nur das Martyrium (Kap. 13). Sie wissen, daß das Tier seine Zahl hat - eines Menschen Zahl. Im zweiten Bild erscheint Rom als das große Babylon, die Hure auf dem Tier, berauscht vom Blut der Heiligen; aber das Lamm wird siegen (Kap. 17). Das Gericht wird glühend gemalt (Kap. 18). Gott rächt das Blut seiner Knechte (19,2). Damit erfüllt er den Gebets-Schrei der Märtyrer (6,10). Es ist zu beachten: Es ist der Schrei der Getöteten. Es handelt sich um eine Szene im Himmel, nicht um eine Anweisung an den Märtyrer, was er seinem Verfolger anwünschen soll. XIII. KAPITEL

Das Judenchristentum nach dem Jüdischen Krieg 2. Zum Begriff „Judenchristentum“ Die Darstellung muß auch hier wieder mit einer Bemerkung über das herrschende durchschnittliche Geschichtsbild beginnen. In diesem ist das Judenchristentum eine Sekte am äußersten Rand der Kirche - sachlich und räumlich: Diese Sektierer hausen an der Grenze der römischen Welt und des Kulturlandes im Ostjordanland. Dieses Bild ist wieder nicht zufällig; es ist durch den Quellenbefund mitbestimmt. Die Apostelgeschichte verfolgt nur die Mission des Paulus, den Weg nach dem Westen. Aus dem Osten sind keine Quellen über die Mission erhalten, übrigens auch keine heidenchristlichen. Man muß mühsam nach verschütteten Quellen graben. In späterer Zeit existiert in Syrien ein blühendes Judenchristentum. Das macht es wahrscheinlich, daß es von Anfang an in weit größerem Stil und mit größerem Erfolg Mission trieb, als es die zerstreuten Nachrichten erkennen lassen. Diese zu erforschen ist außerordentlich schwierig, zumal keineswegs feststeht, was alles als Quelle dienen kann. Darf man z.B. für die theologischen Strömungen des Judenchristentums Schriften wie den Hebräerbrief oder die Offenbarung heranziehen? Diese sind sicher von Judenchristen geschrieben. Aber sind sie für Gruppen des Judenchristentums repräsentativ? Zumal dieses keine Einheit ist! Schon der Ausdruck „Judenchristentum“ ist vorbelastet und kann irreführen. Das hängt mit der Position der Kirchenväter zusammen. Sie ist einseitig-polemisch. Seit Irenäus ist dieser Teil der Christenheit als häretisch abgestempelt. Der Schriftsteller Hegesipp unterscheidet zwischen orthodoxen und häretischen Judenchristen; die Häresie leitet er von den jüdischen Sekten her. Das Urteil der Kirchenväter wirkt sich bis in die heutige Geschichtsschreibung aus. Unter 8* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

116

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

dem Eindruck der Theologie des Paulus und der Freiheit des Heidenchristentums vom Gesetz sieht man in den Judenchristen die Vertreter des überwundenen engen und falschen Standpunkts der Gesetzlichkeit. Typisch dafür ist das Urteil eines modernen Historikers (H. Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche I, 1932, 192) über einen christlichen Schriftsteller (Ariston von Pella) vermutlich jüdischer Herkunft, bei dem keine enge Gesetzlichkeit sichtbar ist: Er vertrete kein Judenchristentum. Hier ist der Begriff im Sinn jenes alten Vorurteils verengt. Lietzmann erklärt weiter, nach dem Jahr 70 sei das Judenchristentum in den Einflußbereich der jüdischen Sekten des Ostjordanlandes geraten. Hier wirkt die Darstellung Hegesipps nach, der die christlichen Sekten aus den jüdischen entstanden sein läßt - ein durchaus tendenziöses Bild. Zudem setzt Hegesipp voraus, daß die Masse der Judenchristen nicht häretisch sei, was der moderne Historiker ignoriert. Es gilt also, dogmatisch bestimmte Verzeichnungen zu vermeiden. Das betrifft vor allem die Stellung zum Gesetz. Daß die Judenchristen dieses halten, ist ihre ursprüngliche Lebensform, die auf dem Apostelkonzil ausdrücklich bestätigt worden war. Von den Anfängen der Kirche her gesehen ist die Emanzipation vom Gesetz die Neuerung. Gewiß kann das Festhalten am Gesetz häretisch werden - wenn dadurch der Universalismus des Heils beschränkt und die Gesetzesbindung auch auf die Heiden ausgedehnt wird. Solche Gruppen gab es; doch darf der Begriff „Judenchristentum“ nicht auf sie eingeengt werden. Ein judenchristliches Dokument ist z.B. auch das Matthäus-Evangelium. Selbst wer das bestreitet, gibt zu, daß es zum mindesten judenchristliche Traditionen verarbeitet. Es drängt aber nicht die Heiden unter das Gesetz. Zudem scheint sich die Gemeinde, in der es entstand, selbst vom jüdischen Ritualgesetz gelöst zu haben. Daß Irenäus und seine Nachfolger einseitig darstellen, sieht man noch beim frühesten Kirchenvater, der über die Judenchristen referiert, bei Justin dem Märtyrer (um 150, der selbst aus Palästina stammt). Er unterscheidet solche, die das Gesetz zwar für sich halten, es aber den Heiden nicht auferlegen wollen, und solchen, die es für allgemein bindend erklären. Nur die ersteren können nach der Meinung Justins selig werden. Faßt man den Begriff also gemäß dem geschichtlichen Tatbestand weit, dann gehören auch das Matthäus-Evangelium, die Offenbarung usw. zu den Quellen. An die letztere heftet sich noch ein besonderes Problem. Dieses Buch ist nicht im Osten, sondern in Westkleinasien verfaßt. In Kleinasien ließ sich der Evangelist Philippus nieder. Der Bischof Papias von Hierapolis (um 150) zeigt, wie Fäden von Palästina dahin laufen. Man sprach schon von einer „Invasion“ von Angehörigen der Urgemeinde in Kleinasien und fand die Ursache dafür im Jüdischen Krieg. Nur wenn man dies alles beachtet, gewinnt man ein sachgerechtes Urteil über die Sondererscheinungen. Diese sind aus wenigen Bruchstücken (Exzerpten aus judenchristlichen Schriften) wenigstens zu ahnen. Eine Sonderstellung unter den Nachrichten der Kirchenväter nehmen die Fragmente aus Hegesipp über die Kirche von Jerusalem ein, die Euseb seiner Kirchen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das Judenchristentum nach dem Jüdischen Krieg

117

geschickte einfügte. Ferner erwähnen Kirchenväter judenchristliche Evangelien und zitieren einige Sätze aus diesen. Wir hören von einem Evangelium der „Hebräer“, von Evangelien, welche die „Nazaräer“, „Ebionäer“ gebrauchen. Unklar ist, ob es sich um zwei oder um drei verschiedene Schriften handelt. Der Befund in den Kirchenvätern ist zum Teil konfus. Manche Forscher nehmen an, das Hebräer- und das Nazaräer-Evangelium seien identisch. Doch decken sich die Lehranschauungen in den Fragmenten nicht. So nimmt man besser an, daß sie verschiedenen Gruppen zugehören. Mit Vorsicht kann man zusammenfassen: (1) Das Nazaräer-Evangelium, in aramäischer (bzw. syrischer) Sprache benutzt, ist eine Variante des Matthäus-Evangeliums (also aus dem Griechischen übersetzt); es ist nicht häretisch. (2) Das Ebionäer-Evangelium, griechisch geschrieben, ist ebenfalls mit dem Matthäus-Evangelium verwandt. Es beginnt aber erst mit dem Auftreten Johannes' des Täufers. Wenn Mt. 1 und 2 weggelassen sind, kann der Grund nur sein, daß der Inhalt, nämlich die Lehre von der Jungfrauengeburt, bestritten wird. Der Gottessohn entsteht dadurch, daß sich der Geist mit dem Menschen Jesus bei dessen Taufe vereinigt. (3) Das Hebräer-Evangelium ist ebenfalls griechisch geschrieben. Es ist stärker synkretistisch als die beiden anderen: Bei der Taufe steigt „die ganze Quelle des heiligen Geistes“ auf Jesus herab. Dieser wird durch seine Mutter, nämlich eben den Geist, entrückt. Wenn der Geist als die Mutter Jesu aufgefaßt wird, zeigt sich ein semitischer Hintergrund: Im Semitischen ist das Wort für „Geist“ weiblich. Dieses Buch war vielleicht das Evangelium der ägyptischen Judenchristen. 2. Die Kirche in Jerusalem Unsere Kenntnisse stammen im wesentlichen aus Hegesipp (um 180), den Euseb exzerpierte. Dabei ist bei der Auswertung zwischen wörtlichen Zitaten und freier Wiedergabe durch Euseb zu unterscheiden. Auch nach dem Jüdischen Krieg läßt Rom den Juden eine gewisse innere Selbstbestimmung. Der Tempel wird zwar nicht wieder aufgebaut. Damit ist das Hohepriestertum und der Opferkult zu Ende. Aber durch die Initiative des pharisäischen Schriftgelehrten Jochanan ben Zakkai konstituiert sich ein neuer Hoher Rat, allerdings nicht mehr in Jerusalem, sondern in dem Städtchen Jamnia (bei Jaffa). Das Judentum wird im Sinn des pharisäischen Schriftgelehrtentums reformiert. Der Einfluß der Sadduzäer ist gebrochen. Die Autorität nicht nur des Gesetzes, sondern auch der Tradition wird gesichert. Der Kanon wird abgegrenzt. Die Apokryphen, die in den griechischen Kanon aufgenommen waren, bleiben ausgeschlossen. Das letzte Buch, das aufgenommen wird, ist das Buch Daniel. Man vernichtet nicht-orthodoxe Bibelhandschriften. Mit diesen Maßnahmen wird nicht nur positiv bestimmt, was fortan als jüdisch zu gelten hat, sondern auch bewußt ein Damm gegen die Häresie aufgerichtet. In das jüdische Haupt© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

118

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

gebet wird die Verwünschung der („Nozrim“ und) Ketzer aufgenommen (Beilage 9). Natürlich können die Juden unter der Herrschaft Roms nicht nach Belieben gegen die Christen Gewalt anwenden. Aber sie können sie aus ihrem nach wie vor bestehenden religiös-sozialen Verband ausstoßen (Joh.9,22; 12,42; 16,2). Diese Lage spiegelt sich im Matthäus-Evangelium. Dieses beansprucht für die Christen, daß sie das wahre Israel sind. Es steht in einem erbitterten Kampf mit dem herrschenden Pharisäismus, Trotz der Zerstörung war Jerusalem nach dem Krieg wieder teilweise bewohnt. Schematisierend schreibt Euseb, die Hälfte der Stadt sei unter Titus zugrunde gegangen, die andere Hälfte unter Hadrian (durch den Aufstand des Bar Kochba). Es existiert auch wieder eine christliche Gemeinde. Wer die Flucht nach Pella für geschichtlich hält, muß annehmen, daß die Geflohenen zurückkehrten. Das ist ohnehin wahrscheinlich. Hegesipp stellt die Geschichte der Gemeinde entsprechend seinem Geschichtsbild dar. Ihm gilt Jakobus als der erste Bischof von Jerusalem. Nach seinem Tod im Jahre 62 wird einstimmig Simon, Sohn des Klopas, ein Verwandter Jesu, zu seinem Nachfolger gewählt. Er habe die Gemeinde nach Pella und wieder zurückgeführt. Im Jahre 107 sei er auf die Anzeige jüdischer Häretiker hin gekreuzigt worden. Was wirklich geschah, ist nicht mehr zu erkennen, da die Nachrichten wirr sind. Wir erfahren, Vespasian habe alle Davididen aufspüren lassen. Hegesipp weiß, Domitian habe Großneffen Jesu, Enkel seines Bruders Judas, in Rom vorführen lassen, sie aber als politisch harmlos wieder entlassen (Beilage 6 b). Vielleicht brachte Hegesipp die Dinge durcheinander: Ist Simon schon unter Domitian gefallen und sind jene Großneffen unter Trajan vorgeführt worden? Die Überlieferung ist überhaupt unklar. Schließlich konstruierte man eine lückenlose Folge von fünfzehn Bischöfen von Jakobus bis in die Zeit Hadrians. Geschichtlich ist, daß die Gemeinde bis zum zweiten Jüdischen Krieg besteht, offenbar auch, daß Verwandte Jesu eine Rolle spielen. Der Krieg bringt das Ende sowohl der jüdischen Besiedlung Jerusalems als auch seiner judenchristlichen Gemeinde. Den Juden wird der Aufenthalt in der als Aelia Capitolina neugegründeten Stadt überhaupt verboten. Schon während des Krieges waren die Christen vom Führer des Aufstands, Bar Kochba, verfolgt worden. Daraus ist zu schließen, daß sie sich nicht am Aufstand beteiligten. 3. Das Judenchristentum außerhalb Jerusalems Die Ausbreitung ist nicht auf Palästina begrenzt. Aus dem MatthäusEvangelium kann man auf Syrien schließen, ohne daß man einzelnes erfährt. Wo erwartet die Gemeinde, die ihre Tradition auf Petrus gründet, den Ansturm der Höllenmacht (Mt. 16,17-19)? Wohin deutet die merkwürdige Konkurrenz einer „petrinischen“ und einer „johanneischen“ Gemeinde in Joh. 20.21? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Das Judenchristentum nach dem Jüdischen Krieg

119

Die Kirchenväter nennen einige Zentren. Die Bedeutung von Pella zeigt sich in der früher besprochenen Angabe, die Urgemeinde sei dorthin geflohen. Ist sie historisch, dann muß es den Jerusalemern gelungen sein, dort Einheimische zu gewinnen. Ist sie legendär, so ist sie offenbar entstanden, weil Pella der Sitz einer bedeutenden Gemeinde war. Der Name eines Schriftstellers (Ariston) ist überliefert, der aus Pella stammte. Als weitere Zentren werden Kochaba (im Hauran) und Beröa bei Antiochia (Aleppo) genannt. Die dortigen Gemeinden will Hieronymus besucht haben; hier habe er das Evangelium der Nazaräer kennengelernt. Doch besteht Grund, an seinen Behauptungen zu zweifeln. Zwei Gruppenbezeichnungen sind überliefert: „Nazaräer (auch „Nazoräer“) und „Ebionäer“ (von dem hebräischen Wort für „arm“). Die Nazaräer werden von Epiphanius und Hieronymus in Beröa lokalisiert. Sie benutzten das vollständige Matthäus-Evangelium in „hebräischer“ Sprache (s.o.S. 117: das sogenannte Nazaräer-Evangelium). Die Ebionäer sollen ein Matthäus-Evangelium ohne Kap. 1 und 2 gebraucht haben (s.o.: das sogenannte Ebionäer-Evangelium). So die Kirchenväter. Doch ist fraglich, wie genau man die einzelnen Gruppen definieren darf. Im Grunde sagen die Berichterstatter über die Nazaräer nichts Konkretes; genaue Kenntnisse haben sie nicht. An manchen Stellen identifizieren sie die Gruppen. So ist Pella bei Epiphanius einmal als Sitz der Nazaräer, einmal der Ebionäer bezeichnet. Aber andererseits scheinen doch gewisse Unterschiede zu bestehen, vor allem in der Einstellung zum Gesetz - ist es auch für die Heiden verbindlich? - und in der Christologie - die Jungfrauengeburt ist strittig. Manche halten Jesus für einen Menschen, der wegen seiner Lebensführung für gerecht erklärt wurde. Der Titel „Menschensohn“, der in der Urgemeinde bedeutsam war, aber im hellenistischen Christentum verschwand, weil er für Nicht-Juden unverständlich war, scheint wieder eine Rolle zu spielen. Für eine Gruppe sind an die Stelle des Gesetzes offenbar die Taufe und Mahlzeiten getreten, ferner Waschungen, Enthaltsamkeitsregeln (Vegetarianismus). Das urchristliche Armutsideal wird weiter gepflegt. Die Einheit von Frömmigkeit und Ethik spricht sich in der Rolle des Begriffs „Gerechtigkeit“ aus. Idealgestalt ist Jakobus „der Gerechte“. Zwei Zitate mögen das sittliche Ideal beleuchten: „Wenn ihr an meiner Brust seid und den Willen meines Vaters nicht tut, werde ich euch von meiner Brust stoßen“ (Nazaräer-Evangelium). Nach dem Hebräer-Evangelium gehört zu den schlimmsten Sündern, „wer seines Bruders Geist betrübt hat“. Es gibt Judenchristen, die die Stadt Jerusalem verehren, d.h. offenbar: die mit Richtung auf Jerusalem beten. Anscheinend halten sie daran fest, daß der Tempel die wahre Stätte des Gebets ist, auch nach seiner Zerstörung. Das hat sich in der Jakobus-Legende niedergeschlagen: Jakobus soll sich dort unablässig zum Gebet aufgehalten haben. Das Schicksal der Stadt wird als Strafe für seine Ermordung gedeutet. Eine synkretistische Sondergruppe sind die Elkesaiten. Auch sie halten das Gesetz fest, lehnen aber den Opferkult ab. Thre Lehre zeigt demente kosmologischer Spekulation. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

120

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums AUSBLICK

Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons 1. In der Darstellung der frühen Kirchengeschichte war immer wieder zu fragen: Welche Normen bestehen für die Lehre und die Regulierung des Lebens, sowohl der Kirche als auch des einzelnen Christen? Die Lehre besteht ja nicht einfach aus einer Sammlung von Lehrsätzen, die unverändert eingeprägt und tradiert würden. Lehre gibt es nur in ständig neuer Auslegung und Anwendung, im ständigen Bezug auf das Leben der Gläubigen und auf die Aufgabe der Kirche in der Welt: Sie aktualisiert sich in Bekenntnis und Mission, im Verstehen des Glaubens, in der Durchleuchtung der Lebensformen, in Trost und Verheißung, in der Auseinandersetzung mit Judentum und Heidentum, mehr und mehr auch innerhalb der Kirche bei der Unterscheidung von Rechtgläubigkeit und Ketzerei, Kirchlichkeit und Sektierertum. Wie verhalten sich nun das Bewahren des Vermächtnisses Christi und die ständige Neuheit der Botschaft zueinander? Woran mißt man, was das „Christliche“ ist? Wie bestimmt man es, ohne daß es erstarrt? In der Anfangszeit fallen Inhalt der Lehre und ihre Norm zusammen: im Glaubensbekenntnis, das in kurzen Formeln zusammengefaßt wird (s.o. S.32). Seine Autorität ist nicht die einer „heiligen Formel“; der Wortlaut ist flüssig. Es kommt auf die Sache an, das Heilsgeschehen, Christus. Die Autorität ist die des gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus selbst. Festigkeit der Glaubenslehre und ihre jeweilige Aktualisierung gehören zusammen. Ja, Predigt und Lehre sind nichts anderes als die Auslegung der Autorität des Herrn, zum Heil der Welt. Auch die Schriften der christlichen Lehrer haben ihr Ansehen von ihrem Inhalt. Sie sind noch längst nicht „heilige Schrift“ im Sinn einer dogmatisch definierten, formalen Autorität. Es fehlt auch noch die Vorstellung, daß sie durch eine spezielle Inspiration entstanden seien. Die heilige Schrift des Urchristentums ist die jüdische Bibel, unser „Altes Testament“. Oben wurde gezeigt, daß die Urgemeinde nicht aus der jüdischen Religionsgemeinschaft „austritt“. Der Gott, an den sie glaubt, ist der, der in der Schrift spricht. Das drückt sich im Sprachgebrauch aus: Als „Schrift“ bzw. „Schriften“ bezeichnet man nur alttestamentliche Schriften bzw. Stellen daraus. Erst der 2. Clemensbrief führt einmal ein Wort Jesu unter dieser Firmierung ein. Vollends die uns geläufigen Ausdrücke „Kanon“ und „Altes“, „Neues Testament“ stammen aus viel späterer Zeit. Zwar spricht schon Paulus vom alten und neuen „Bund“; das betreffende griechische Wort wurde im Lateinischen mit dem Wort „Testament“ wiedergegeben. Aber es dauerte lange, bis man von den „Büchern des alten“ und bald darauf auch des „neuen Bundes“ sprach, und noch länger, bis „Testament“ direkt die Büchersammlung bezeichnete. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons

121

Der damalige Umfang des alttestamentlichen Kanons entspricht, abgesehen von einzelnen Disputationen im Judentum über die Gültigkeit einiger Bücher, dem heute gebrauchten. 2. Für Paulus ist das Alte Testament unbedingt gültig. Er kann es als Beispiel für einen Lehrsatz anführen: Die Erwählung Isaaks und Jakobs erweist die Wahrheit der freien Gnadenwahl Gottes (Röm.9,7 ff.). Es bietet warnende Beispiele (l.Kor.l0,l ff.). Der Hebräer- und der 1. Clemensbrief stellen Vorbildreihen aus ihm zusammen (Hebr. 11). Die Geschichte Israels beleuchtet die Gegenwart (Apg.7). Das Alte Testament ist das Buch der Weissagung, deren Erfüllung die Gläubigen erkennen und mit der sie umgekehrt die Heilstat auslegen (l.Kor. 15,3-5). Diese Form des „Schriftbeweises“ wird vielfach ausgebaut und variiert. Besonders die Passionsgeschichte wird so beleuchtet. Aus der Schrift zeigt man, daß der Tod Jesu nicht seine Niederlage ist, sondern gottgewollte Heilstat. Ja, man konnte dort sogar Einzelheiten des Ablaufs nachlesen. So erfuhr man aus Ps.22, welches Wort Jesus als letztes gesprochen hatte (Mk. 15,34). Besonders Matthäus verwendet den Schriftbeweis über sein ganzes Buch hin: „Dies geschah, auf daß erfüllt würde . . . “ Die Schrift wird also nicht nur - als formaler Beleg - zitiert, sondern auch ausgelegt. Wie man sich die richtige Auslegung denkt, zeigen beispielhaft Stellen wie Lk. 4,16 ff.; 24,25 ff.; 24,44 ff.: Der Schlüssel für das Verstehen ist der Herr selbst. Die formalen Methoden der Auslegung sind die damaligen jüdischen, z.B. die „Allegorie“ (Beispiel: Gal.4,24); die „Typologie“ (Beispiel: der Hebräerbrief). Das „Christliche“ in der Verwendung der Methoden liegt nicht in diesen selbst, sondern im Selbstverständnis der Kirche als des wahren Gottesvolks (s.o.S.25). Übrigens gibt es keine vorgeschriebene Norm der Auslegung. Es genügt, daß „Christus“ der Kanon der Auslegung ist. Von der Mannigfaltigkeit der Auslegungsmöglichkeiten gewinnt man einen Eindruck, wenn man noch über das Neue Testament hinausblickt und den Barnabasbrief mit dem 1. Clemensbrief vergleicht: Dort herrscht geradezu uferlose Allegorie, hier dient das Alte Testament vor allem als moralisches Lehrbuch. Da die Autorität des Alten Testaments anerkannt ist und da sie praktiziert wird, kümmert man sich kaum um ihre formale Begründung. Erst in späten Schriften des Neuen Testamentes sichert man sie durch den (hellenistisch-)jüdischen Gedanken der Inspiration der Schrift (2.Tim.3,16 f.; 2.Petr.l,21). Übrigens ist diese nicht in dem Sinne „notwendig“, daß man die ChristusBotschaft nur in ausdrücklicher Anlehnung an sie verkündigen könnte. In weiten Partien der Briefe des Paulus erscheint sie kaum. Daraus ist nicht, wie das A. v. Harnack tat, zu schließen, im Grunde sei sie für ihn unwesentlich und diene nur als Kampfinstrument in der Auseinandersetzung mit dem Judentum. Der Tatbestand zeigt vielmehr, daß die Schrift nicht mechanisch „funktioniert“ und daß das erste allerdings der Glaube ist, durch den die Schrift jetzt neues Licht empfängt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

122

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

3. Ein bestimmtes Problem, das eine spätere Zeit zum Nachdenken nötigte, ist der Frühzeit noch nicht bewußt. Und doch würde man es nicht erst bei Paulus, sondern schon im vorpaulinischen, hellenistischen Judenchristentum erwarten: Wenn man das Heil nicht mehr von der Erfüllung des Gesetzes erwartet und sich von den jüdischen Vorschriften löst, wie kann man dann gleichzeitig das jüdische Religionsdokument als heilige Schrift beibehalten? Für das Urchristentum liegt die Lösung des Problems, so überraschend das klingt, im Alten Testament selbst. Da, wo man die Überlieferung der Lehre Jesu pflegte, hatte man einen Anhalt in Jesu Umgang mit der Schrift. Darüber hinaus ist im Christusglauben als solchem die Bindung an sie gesetzt, sofern der „Messias“ eine Gestalt der israelitischen Heilsgeschichte ist. Wird nun behauptet, daß er bereits aufgetreten sei, ist damit sowohl eine positive Annahme der Schrift als auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Schriftdeutung des Judentums gegeben. Paulus argumentiert bezeichnenderweise gerade da mit dem Alten Testament, wo er seine Lehre von der Freiheit vom Gesetz begründet (z.B. Röm. 10; Gal.3), ist also der Meinung, daß gerade in ihr der wahre Sinn des Alten Testaments zum Zuge komme (vgl. Röm.3,31). Der Hebräerbrief weist aus dem Alten Testament nach, daß mit der Heilstat Christi der alttestamentliche Kult zu Ende sei. Bis Christus war er geboten; aber für den Glauben ist er nur schattenhafte Vorabbildung des Amtes und Opfers Christi als des wahren Hohenpriesters. Sein Sinn war also, über sich hinauszuweisen. So wird das Alte Testament zum Mittel der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Judentum. Eine gewisse Systematisierung stellt um die Mitte des zweiten Jahrhunderts der Schriftsteller Justin der Märtyrer her: Er unterscheidet im Alten Testament: erstens das nach wie vor gültige Sittengesetz; zweitens die Weissagung auf Christus; drittens das Kultgesetz, das einst für die Juden gültig war, aber jetzt erledigt ist. Diese Systematisierung setzt eine Veränderung der Fragestellung gegenüber der Frühzeit voraus (H.v. Campenhausen). Ursprünglich war die Autorität der Schrift unbezweifelt. Aber mit der Zeit verschiebt sich das Problem zur Frage hin: Wie kann das Gesetz jemals Offenbarung Gottes gewesen sein? Fragt man so, dann muß das Recht der Schrift ausdrücklich begründet werden. Die Zeit ist reif für die Lösung Justins einerseits, aber auch für die Marcions auf der anderen Seite (s.u.). 4. Wie kommt es nun zur Ausbildung eines neutestamentlichen Kanons? Überlegt man einmal abstrakt, unter Absehung von der tatsächlichen, bereits durch Tradition gefestigten Stellung des Alten Testaments in der Kirche, so lassen sich im wesentlichen zwei Möglichkeiten denken: Eine christliche Sammlung von Schriften ergänzt das Alte Testament, oder aber sie ersetzt es. Die erste Möglichkeit liegt auf der Linie der Entwicklung. Die zweite ist merkwürdiger- und beachtlicherweise zuerst verwirklicht worden, von Marcion. Oben war festzustellen: Die Autorität schlechthin ist für die Kirche der Herr. Das bedeutet zunächst die Bindung des Glaubens an Jesus als den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Entstehung des neutestamentlidien Kanons

123

Erfüller des Heilswerks, an den Christus des Glaubensbekenntnisses, den Gestorbenen und Auferstandenen und Erhöhten, der in der Gegenwart seine Kirche nicht nur durch die Tradition leitet, sondern durch den lebendigen Geist erleuchtet. Unbedingte Gültigkeit haben die überlieferten Worte Jesu. Das ist besonders beachtlich bei Paulus, in dessen Theologie die irdische Geschichte Jesu mit Ausnahme seines Kreuzestodes keine Rolle spielt. Er bringt in seinen Briefen auch nur ganz wenige Worte Jesu, diese aber als absolut verbindlich, z.B. die Abendmahlsüberlieferung (l.Kor. 11,23 ff.), direkte Gebote (l.Kor.7,10). Anderswo sammelt man die Lehre Jesu so vollständig, als man sie erreichen kann, in der Quelle der Worte Jesu („Logienquelle“) und in den Evangelien (vgl. dazu das Programm des Lukas, Lk. 1,1-4). Ein eindrückliches Dokument dafür, was der Herr für die Gestaltung des Lebens und zugleich für das Verständnis des alttestamentlichen Gesetzes bedeutet, sind die „Antithesen“ der Bergpredigt mit ihrem „Ich aber sage euch“ (Mt.5, 21 ff.), besonders, wenn diese Formel eine Schöpfung der Gemeinde sein sollte, wofür es Argumente gibt. Die einzelnen Etappen des Weges von der ursprünglichen freien Form der Autorität des Herrn bis zur Kanonisierung der Bücher, die sein Werk überliefern, können nicht nachgezeichnet werden. Das liegt einmal an den Quellen. Es gibt über diesen Prozeß bis in die Mitte des zweiten Jahrhunderts keine Dokumente. Das ist nun kein Zufall, sondern entspricht der Sachlage. Es gibt bis dahin eben noch gar nicht den Gedanken an einen Kanon von christlichen Schriften. Man kann lediglich aus einzelnen Andeutungen erheben, wie sich - immer unter der Voraussetzung der absoluten Stellung des Herrn - christliche Autoritäten bilden. Aber dies bedeutet noch nicht die Autorität eines Buches als solchen. Mit der Zeit sind Kristallisationspunkte zu erkennen, der eine früher: „der Apostel“ Paulus und seine Briefe; der andere später: die Evangelien. Die Entwicklung der Sammlung verläuft hier und dort zunächst unabhängig voneinander, bis beide Gruppen verbunden werden; damit ist der erste christliche Kanon da. Die gemeinsame Voraussetzung ist hier und dort die eingetretene Distanz zur Frühzeit, die nun aus der neuen Perspektive als die „apostolische“ qualifiziert wird (s.o. die Einleitung). Wenn auch für die literarische Sammlung Paulus durchaus maßgebend ist, so ist doch die allgemeine Voraussetzung die Vorstellung von der Einheit aller Apostel, auf deren Fundament die Kirche erbaut ist (Eph.2,20). Wie sich die Autorität des Herrn zur Rolle der Apostel verhält, zeigen Stellen wie 2.Petr.3,2: Die Apostel überliefern das Gebot des Herrn; l.Clem.42: Die Apostel empfingen von Jesus das Evangelium; sie predigten es ihrerseits und setzten Bischöfe und Diakonen ein. Damit ist die Linie in die Gegenwart angelegt. 5. Die Person des Paulus war, wie zu Lebzeiten, so auch nach seinem Tod angefochten. Doch versteht man die Entwicklung des Kanons zunächst © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

124

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

nicht von der Ablehnung seiner Briefe her (dazu s.u.), sondern von dem Ansehen, das er genießt. Dieses zeigt sich in manchen Vorgängen: Unter seinem Namen werden neue Briefe verfaßt (die von uns so genannten „Deuteropaulinen“, s.o.). Dann werden seine Briefe gesammelt und herausgegeben. Die einzelnen Etappen der Entstehung dieser Sammlung können wieder nicht verfolgt werden. Doch setzt schon der 2. Thessalonicherbrief voraus, daß Briefe des Paulus - und auch schon gefälschte? - bekannt sind. Der Epheserbrief scheint mehrere davon zu kennen. Ein wichtiges Zeugnis ist 2Petr.3,16: Er spricht bereits von einer Briefsammlung und klagt, daß sie von Ketzern benutzt wird. In der Tat wurden sie von Gnostikern gelesen und ausgelegt. Damit mag es nun zusammenhängen, daß einige „orthodoxe“ Schriftsteller von Paulus in auffallender Weise schweigen: Papias, Justin (W.Bauer). Um das Jahr 100 werden Briefe des Paulus von Autoren (außerhalb des deuteropaulinischen Schrifttums) angeführt: Clemens, Ignatius und vor allem Polykarp von Smyrna. Es ist möglich, daß zunächst eine oder mehrere kleinere Sammlungen erschienen (der 1. Clemensbrief erwähnt nur den l.Korintherbrief und kennt den Römerbrief). Doch sind die Einzelheiten unbekannt. Jedenfalls dürfte bald nach 100 die Sammlung der zehn Briefe erschienen sein, die heute im Kanon stehen (die Paulusbriefe ohne die drei Briefe an Timotheus und Titus; diese tauchen erst später auf). Schade, daß der Herausgeber nicht in einem Vorwort Auskunft gibt, wie er zu diesen Briefen kam. Über das Zustandekommen gibt es viele Vermutungen. Zwei Beispiele: Eine knüpft sich an die Reihenfolge der Briefe. Diese scheinen im wesentlichen nach der Länge angeordnet zu sein, mit dem Römerbrief an der Spitze. Nun gibt es aber alte Dokumente, in denen die Korintherbriefe an der ersten Stelle genannt sind: Tertullian, der „Kanon Muratori“ (s. Beilage 12). Daraus schließen manche, die Sammlung sei in Korinth zusammengestellt worden. Doch ist es unsicher, ob die Korintherbriefe wirklich in Handschriften an der Spitze standen. Die Reihenfolge im Kanon Muratori scheint nicht die der Handschriften zu sein, sondern die vom Verfasser angenommene Zeitfolge der Entstehung der einzelnen Briefe. Eine andere Hypothese ist: Der Epheserbrief lehnt sich an andere Paulusbriefe an, und er ist der einzige Paulusbrief, der (möglicherweise) an keine bestimmte Adresse gerichtet ist. Er sei vom Herausgeber der Sammlung geschaffen worden, um diese einzuleiten und als „ökumenisch“ vorzustellen.

Die Wirkung der Paulusbriefe zeigt sich endlich darin, daß (mit geringen Ausnahmen) die ganze urchristliche Briefliteratur nach ihrem Vorbild gestaltet ist oder ihren Einfluß verrät. Auf sicheren Boden gelangt man bei Marcion (um 140), der die zehn Briefe in seinen Kanon aufnahm. 6. Die Überlieferung von Jesus wird zunächst mündlich weitergegeben, bald auch schriftlich niedergelegt. Die frühesten Sammlungen werden vollständig verdrängt von den Evangelien. Das älteste ist das, das von der Überlieferung dem Markus zugeschrieben wird. Es wird zum Vorbild aller späteren. Aber es ist natürlich nicht „kanonisch“. Es regt gerade zu weiterer © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons

125

Sammlung und Überarbeitung an. Die Verfasser des Matthäus- und Lukasevangeliums ergänzen nicht nur Markus, sondern gestalten auch kräftig. Lukas gibt (1,1-4) ausdrücklich Auskunft über die Grundsätze seiner Arbeit und deutet dabei auch Kritik an seinen Vorgängern an. Besonders frei schaltet der Verfasser des Johannesevangeliums mit der Überlieferung. Man sieht: Die Form und Fassung der Überlieferung ist nicht heilig. Durch die Abfassung der Evangelienbücher ist die mündliche Überlieferung von Worten Jesu nicht abgeschlossen. Sie läßt sich bis weit in das zweite Jahrhundert hinein verfolgen, bei den Apostolischen Vätern, vielleicht bei Justin, der doch Evangelienschriften kennt und benutzt. Um dieselbe Zeit erklärt der Bischof Papias von Hierapolis in Kleinasien, der das Matthäus- und Markusevangelium kennt, daß er die mündliche Überlieferung höher schätze als die Bücher. Es ist umstritten, wie es zur Zusammenstellung der vier kanonisch gewordenen Evangelien kam. Zweifellos ist der Ausgangspunkt die einfache Tatsache, daß sie vorhanden waren und Ansehen genossen, wenn auch in verschiedenen Landschaften verschieden. Aber die Mehrzahl von Darstellungen Jesu brachte auch Schwierigkeiten: Sie stimmten ja in manchen Daten nicht überein. Hätte es nicht nahegelegen, eines auszuwählen? Die Spuren sind auch hier spärlich. In der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts kennt der 2. Clemensbrief entweder Matthäus und Lukas oder eine Sammlung von Worten Jesu, die auf diesen beiden beruht. Polykarp dürfte dieselben beiden Evangelien kennen. Papias befaßt sich mit Matthäus und Markus, Justin arbeitet mit Matthäus und Lukas - nicht mit Johannes. Auch Papias schweigt von diesem. Weitere Spuren finden sich in „apokryphen“ Schriften, also solchen, die sich als apostolisch geben, aber (mit Recht) nicht anerkannt wurden. Beispiele sind das „Petrusevangelium“, Fragmente eines sonst unbekannten Evangeliums, der „Brief der Apostel“ (Texte bei Hennecke-Schneemelcher Bd. 1, mit Angabe der benutzten Evangelienstellen). Insgesamt hat man den Eindruck: Die Spuren werden im Laufe der ersten Jahrhunderthälfte immer deutlicher. Aber die Idee eines Kanons von vier Evangelien ist noch nicht da (zumal die Stellung des Johannesevangeliums noch unsicher ist). Zur Idee des Kanons fehlt noch als entscheidendes Moment die Formalisierung der Autorität und die damit gegebene Ausschließung der nicht anerkannten Schriften als „apokryph“. 7. Wie immer man die Spuren einschätze und in ihnen Voraussetzungen der Kanonsbildung finde: die Idee des christlichen Kanons ist in einem einzelnen, bewußten Akt geschaffen worden von Marcion, um seine Lehre zu begründen: Der Gott Jesu ist ein anderer als der Gott des Alten Testaments. Dieser ist der Weltschöpfer, der Gott der Gerechtigkeit. Der gute Gott wohnt jenseits der Welt. Aus Erbarmen mit den Menschen, die vom Gesetz geknechtet © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

126

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

sind, offenbart er sich in Jesus. Erlösung ist Erlösung aus der Welt und aus dem Gesetz. Diese ursprüngliche Lehre Jesu, die auch Paulus vertritt, ist dann im jüdischen Sinn verfälscht worden, einmal durch andere Lehrschriften, dann aber auch, indem man die Urkunden der reinen Lehre fälschte. Marcion stellt nun den Kanon für die reine Lehre auf: das Lukasevangelium und die zehn Briefe des Paulus. Was nicht zu seiner Lehre paßt, wird als Fälschung ausgeschieden; z.B. streicht er Lk. 1 und 2, die Geburtsgeschichte Jesu. Denn der Erlöser wurde nicht als Mensch geboren. Er erschien (im 15. Jahr des Kaisers Tiberius, Lk.3,1) vom Himmel. Der erste christliche Kanon schließt also das Alte Testament aus. Der Kampf ging jetzt um die Substanz des Glaubens: den Gottesgedanken, nämlich das Verhältnis von Gott und Welt, Schöpfung und Erlösung, Gott und Christus; das Wesen Christi; die Geltung der Tradition, die der Kirche die Wahrheit verbürgte. Man kann es absehen, daß dem Kanon Marcions bald der „orthodoxe“ gegenüberstehen wird. Dieser wird allerdings nicht in einer einzigen, organisierten Aktion geschaffen. Für eine solche fehlen damals die Voraussetzungen. Es gibt noch keine überregionale kirchliche Organisation. Dennoch ist gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts in der ganzen Kirche die Idee des Kanons da, in dem das Alte Testament mit einer normativen Sammlung christlicher Schriften verbunden ist. Es besteht weitgehende Übereinstimmung über den Kernbestand derselben. Die Meinungsverschiedenheiten, die noch lange fortbestehen, betreffen den Rand. Will man genau sein, kann man feststellen, es sei nie zur völligen Übereinstimmung gekommen. Das ist an sich richtig, fällt aber angesichts des Umfangs der Übereinstimmung sachlich nicht ins Gewicht. Dem einen Evangelium Marcions steht der Kanon der vier Evangelien gegenüber. Der „Kanon Muratori“ (s. Beilage 12) setzt ihn voraus. Der Kirchenvater Irenäus begründet die Notwendigkeit der Vierzahl: Wie es vier Winde, vier Weltgegenden gibt, so vier Evangelien; die Zahl stimmt zur Zahl der himmlischen Wesen in Offb.4 (Ez.l): Mensch/Engel (Matthäus), Löwe (Markus), Stier (Lukas), Adler (Johannes). Dabei gilt immer noch: Nicht das Buch als solches ist heilig. Der Syrer Tatian, ein Schüler Justins, will das ganze Erbe wahren und zugleich die Unstimmigkeiten beseitigen, indem er die vier Evangelien zu einem Buch (Evangelienharmonie) zusammenarbeitet. Sein Werk wurde für lange Zeit der Evangelienkanon der syrischen Kirche. Wenn sich vereinzelt noch Widerspruch gegen das Johannesevangelium erhebt, so hat er keine große Bedeutung. Interessant ist aber, daß die Vertreter des Widerspruchs durchaus nicht verketzert wurden. Im Apostelteil des neuen Kanons sind die zehn Paulusbriefe unbestritten; zu ihnen treten die drei Pastoralbriefe (die beiden Timotheusbriefe und der Titusbrief). Der apostolische Kanon wird über Paulus hinaus erweitert um „katholische“ Briefe. Das geschieht an verschiedenen Orten in verschiedenem Umfang. Allgemein anerkannt sind der 1. Petrus- und der 1. Johannes© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons

127

brief. Die übrigen setzen sich nach und nach durch, bis zur endgültigen Siebenzahl. Ebenfalls schwankt das Urteil über den Hebräerbrief. Im Osten gilt er um 200 als Brief des Paulus. Im Westen setzt er sich erst langsam unter dem Einfluß des Ostens als Paulusbrief durch. Zwei weitere Schriften runden das Ganze ab: Die Verknüpfung des Evangelien- und des Apostelteils wird durch die Apostelgeschichte gewonnen, die durch den Verfasser mit dem dritten Evangelium und durch den Inhalt mit den Aposteln verbunden ist. Im Westen ist endlich die Johannes-Offenbarung anerkannt. Im Osten dauert es bis ins vierte Jahrhundert, wo sich Athanasius für sie einsetzt. Aber Stimmen des Widerspruchs werden noch jahrhundertelang laut. Wie offen der Rand des Kanons bleibt, zeigt der „Kanon Muratori“. Er anerkennt außer der Johannes- auch die Petrusapokalypse. Anderswo läßt man auch andere Schriften gelten, z. B. den Barnabasbrief. Die Sammlung des Kanonischen bedeutet zugleich die Ausscheidung des „Aprokryphen“. Dabei ist zu unterscheiden: Manche Schriften gelten durchaus als rechtgläubig und nützlich zu lesen; nur gehören sie nicht zu den offiziellen gottesdienstlichen Leseschriften. Andere dagegen werden als ketzerisch verworfen. Für beides bietet der „Kanon Muratori“ ein Beispiel. 8. Welches waren die Maßstäbe für Anerkennung bzw. Ausscheidung? Bedeutet die Bildung des Kanons in erster Linie eine möglichst umfassende Sammlung der erhaltenen Schriften der Frühzeit oder vor allem eine kritische Sichtung zur Entfernung des wuchernden „apokryphen“ Schrifttums? Endlich: Hat die Kirche mit der Kanonisierung endgültig auf weitere schöpferische Leistung verzichtet und sich selbst als Epigonen eingestuft? Die erste Frage wird man nicht in dieser absoluten Alternative formulieren dürfen. Das erste ist die Sammlung des Erbes. Sie beginnt bereits, als die Produktion weiterer Evangelien noch nicht als bedrohlich empfunden wurde. Man will gute, alte Überlieferung über Jesus haben. Nach der starken Eingrenzung durch Marcion ist es um so wichtiger, über Jesus eine breite Nachrichtenbasis zu haben. Wenn der Verfasser eines solchen Buches ein Apostel ist (d.h. dafür gilt), um so besser. Aber die Autorität seines Buches ist nicht durch eine Idee vom Apostekrat gegeben, sondern dadurch, daß er Augenzeuge ist und Bescheid weiß. Die Bücher der beiden Nicht-Apostel Markus und Lukas werden unter dem Gesichtspunkt der Zuverlässigkeit ja ebenfalls aufgenommen. Auch der Inspirationsgedanke spielt keine Rolle. Er wird erst im nächsten Zeitraum, durch Origenes, vom Alten auch auf das Neue Testament übertragen. Damit findet man auch eine Antwort, ob die Kirche das Walten des Geistes durch die Herrschaft eines Buches verdrängt habe. Die Frage ist modern, nicht altkirchlich formuliert. Sie setzt einen langen Prozeß der Formalisierung von Schrift und Geist voraus. In der Zeit, in der sich der Kanon formiert, gibt es den Gedanken eines möglichen Widerspruchs zwischen Geist und Buch nicht. Denn man liest das Buch als aktuelle Mitteilung, im Zusammenhang mit dem Leben der Kirche. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Personen (Geschichte und Legende)

129

ANHANG I

Personen (Geschichte und Legende) Leben und Werk des Paulus nach seiner Bekehrung mußten zusammenhängend dargestellt werden. Alle übrigen Personen wurden nur gelegentlich erwähnt. Das entspricht dem Befund in den Quellen. Aber es lohnt sich, die zerstreuten Nachrichten zusammenzustellen. Das Fehlen einer geschlossenen Überlieferung ermöglichte das Wuchern der Legende. Es muß daher versucht werden, Dichtung und Wahrheit zu scheiden. 1. Die „zwölf Apostel“ Es ist daran zu erinnern, daß die Zwölf und die Apostel verschiedene Gruppen waren. Erst im Lauf der Zeit wurden sie identifiziert. In diesem Abschnitt geht es um die Angehörigen des Kreises der Zwölf, die bis heute im allgemeinen Bewußtsein „die Apostel“ sind. Wer waren sie? Wie hießen sie? Was taten sie? In den Evangelien erscheinen sie mit wenigen Ausnahmen als inaktiv. Sie sind eben die Begleiter Jesu, die oft aus der Erzählung verschwinden, wenn Jesus in Aktion tritt (z.B. Mk. 1,21-28). Diese Merkwürdigkeit erklärt sich durch literarkritische Analyse. Es läßt sich zeigen, daß viele alte Überlieferungsstücke diesen Kreis überhaupt nicht berücksichtigen und daß die „Jünger“ erst bei der späteren Zusammenstellung der einzelnen Erzählungen zu einem Erzählungskranz erwähnt werden. Daneben gibt es auch alte Erzählungen, in denen sie auftreten. Gelegentlich wird ihr Verhalten berichtet: Sie fasten nicht. Einmal raufen sie am Sabbat gesetzwidrig Ähren aus. Solche Erzählungen haben aber nicht den Zweck, ein Bild der Jünger für die Nachwelt festzuhalten; sie dienen vielmehr dazu, eine Lebensregel Jesu für die Gemeinde einzuprägen und zu begründen. Nur in wenigen Szenen spiegelt sich ihre spätere Rolle: die des Petrus vor allem in der Szene von seinem Bekenntnis zu Jesus als dem Messias (Mk. 8,27 ff.), die der Zebedaiden in ihrem Ansinnen an Jesus, ihnen im Reich Gottes die Ehrenplätze zuzuweisen (Mk. 10,35 ff.). Immer wieder hebt Markus das Unverständnis der Jünger gegenüber den Taten und Lehren Jesu hervor, obwohl sie immer wieder von ihm belehrt werden. Das darf nun nicht dahin ausgelegt werden, offenbar habe Jesus einen Kreis von stumpfen Geistern um sich versammelt. Das Unverständnis der Jünger hängt mit dem theologischen Zentralgedanken des Markus zusammen, mit dem „Messias-Geheimnis“. Markus stellt sie so dar, um den Übergang vom irdischen Wirken Jesu in die Zeit nach seinem Tod und seiner Auferstehung zu markieren und den paradoxen Charakter der Offenbarung zu zeigen: Erst die Auferstehung erschließt sein wahres Wesen. Daher konnten ihn auch seine nächsten Anhänger nicht begreifen. Weil Markus 9

Conzelmann, Gesdiidite © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

130

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

in erster Linie theologische, nicht psychologische oder biographische Interessen verfolgt, werden kaum persönliche Züge sichtbar. Die Jünger treten meist als Kollektiv auf. Wenn sich der eine oder andere heraushebt, dann sind es meist diejenigen, die nach Ostern in der Kirche das größte Ansehen genossen, ohne daß doch eine Charakterskizze gegeben wird: Petrus und die beiden Zebedaidefi. Man kann noch verfolgen, wie bestimmte Namen in die Erzählung hineinkamen. Nach Mk. 14,13 schickt Jesus „zwei seiner Jünger“ nach Jerusalem, um das Passa-Mahl vorzubereiten, nach Lukas den Petrus und Johannes (Lk.22,8). Lukas hat nicht etwa eine genauere Überlieferung. Vielmehr kam mit der Zeit die Vorstellung auf, es müssen diese beiden - als die bekanntesten - gewesen sein. Der Kreis umfaßt folgende Namen: An der Spitze stehen zwei Brüderpaare: Simon und Andreas; Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus. Als Vater der beiden ersteren ist Jona (Mt. 16,17) bzw. Johannes (Joh. 1,42) überliefert. Diese vier sind in den Listen der Zwölf regelmäßig als erste genannt, wenn auch mit Schwankungen in der Reihenfolge (vgl. Mk.3,16 f. mit Mt.10,2; Lk.6,14; Apg.1,13 und zur Begründung Mk. 1,16-20). Einheitlich sind weiter folgende Namen überliefert: Philippus, Bartholomäus, Matthäus, Thomas, Jakobus, Sohn des Alphäus, Simon „der Kananäer“ (d.h. „der Zelot“, Angehörige der Gruppe der nationalistischen Aktivisten), Judas lskariot (oder: „der Iskariote“). Ein Name schwankt in der Überlieferung: Bei Markus heißt einer Thaddäus (er steht hinter dem zweiten Jakobus), bei Lukas dagegen Judas, Sohn des Jakobus (hier ist er hinter Simon dem Zeloten, vor Judas lskariot eingereiht; die beiden Judas bilden also den Schluß der Liste, vgl. auch Apg, 1,13). Bei Matthäus ist die Überlieferung in den Handschriften nicht einheitlich. Die besten haben, in Übereinstimmung mit Markus, Thaddäus, aber einige Handschriften, dazu Kirchenväter: Lebbäus; und die meisten Handschriften gleichen das aus: Lebbäus mit Beinamen Thaddäus. Offenbar ist das Ursprüngliche „Lebbäus“. Später suchte man den Widerspruch mit der sonstigen Überlieferung zu beseitigen. Viel Kopfzerbrechen bereitet das Matthäus-Evangelium dadurch, daß es an die Stelle des Zöllners Levi (Mk. 2,14) den Matthäus setzt (Mt.9,9; vgl. 10,3). Das Johannes-Evangelium, das keine Liste der Zwölf zusammenstellt, nennt Simon Petrus, Andreas (nicht die beiden Zebedaiden), Philippus, Thomas, die beiden Judas und (über die Synoptiker hinaus) Nathanael (Joh. 1,35 ff.). Später versuchte man, die Widersprüche zu beheben und vor allem die Zwölfzahl zu retten. Geschichtlichen Wert haben diese Spekulationen nicht, obwohl sie bis heute den Heiligenkalender der katholischen Kirche bestimmen. In Syrien setzte man Thomas mit dem einen Judas gleich. Am einfachsten war es aber, diesen Judas mit Thaddäus zu identifizieren. Nathanael gilt seit dem Mittelalter als zweiter Name des Bartholomäus. Eine ganz andere Linie zeigt sich seit Origenes und Tertullian: Judas wird mit dem gleichnamigen Bruder Jesu identifiziert; die nähere Bestimmung „des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Personen (Geschichte und Legende)

131

Jakobus“ wird als „Bruder des Jakobus“ (nämlich des Herrnbruders) gedeutet. Ebenso wird dann auch Simon der Zelot zum Bruder Jesu. Einige sollen von Beruf Fischer gewesen sein (Mk. 1,16-20 usw.). Lukas bemerkt gelegentlich (Apg. 4,13), daß sie keine schriftgelehrte Ausbildung besaßen. Von keinem von ihnen ist etwas Schriftliches auf die Nachwelt gekommen, wenn man die Echtheit der beiden Petrusbriefe und der fünf johanneischen Schriften bestreitet. Überhaupt ist über die meisten von ihnen außer dem Namen schlechthin nichts bekannt. Von einem, dem „Kananäer“ bzw. „Zeloten“, bewahrt der Beiname noch eine Anspielung auf seine politische Vergangenheit; aber man erfährt nicht, wie er zu Jesus kam und nichts über seine spätere Tätigkeit als Angehöriger des Zwölferkreises. Da man bald über sie nichts mehr wußte, hatte die Legende freien Spielraum. Sie fängt schon im Neuen Testament an, mit den Episoden vom sinkenden Petrus (Mt. 14,28 ff.) und vom ungläubigen Thomas (Joh.20, 24 ff.). Nur einer bleibt von der Legendenbildung wenigstens weithin ausgeschlossen, der Zebedaide Jakobus, der um 43 hingerichtet wurde (Apg. 12,2). Immerhin wurde über sein Martyrium der auch für andere Martyrien typische Zug erfunden, daß sich der Soldat, der ihn dem Gericht vorführte, bekehrte und ebenfalls enthauptet wurde. Und die spanische Kirche brachte es trotz des Neuen Testaments fertig, ihn in ihr Land zu ziehen und ihm ein Grab zu bereiten, das bis heute verehrt wird (Santiago de Compostela). Quellen der Legendenbildung werden Stellen aus dem Neuen Testament: Aus dem Missionsbefehl Jesu entstehen Legenden über die Mission der „Apostel“ „in aller Welt“. Es bildet sich die Vorstellung, daß sie die Missionsgebiete unter sich aufteilten. Aus den Worten Jesu, die den Jüngern die Nachfolge ins Leiden weissagen, erwachsen die Legenden von den Martyrien der Apostel. Besonders reichhaltig ist die legendäre Überlieferung (abgesehen von Petrus und Johannes, denen ein besonderer Abschnitt zu widmen ist, s.u.) über Andreas, Thomas, Philippus. Andreas bekommt als Missionsgebiet das Land um das Schwarze Meer, die unteren Donauländer, Griechenland. Er soll am 30. September 60 in Patras am schrägen Kreuz („Andreaskreuz“) hingerichtet worden sein. Thomas gilt als der Apostel Parthiens und Indiens. Der Name „Thomas“ bedeutet „Zwilling“. Er wird mit Judas identifiziert, dieser wiederum mit dem gleichnamigen Bruder Jesu. Der Gipfel ist dann, daß Thomas/Judas sogar zum Zwillingsbruder Jesu wird. Eine reiche Literatur wird an seinen Namen angehängt: das vor kurzem entdeckte „Thomas-Evangelium“, eine Sammlung von Worten Jesu; ein ganz legendäres Buch über die Kindheit Jesu. Sein Wirken erzählen die märchenbunten, gnostischen Thomas-Akten. Ein interessanter Sonderfall ist Philippus. Ein Philippus ist einer der Zwölf. Außerdem kennt die Apostelgeschichte einen Philippus, der zum Kreis der Sieben (Hellenisten) gehört (Apg. 6,5). Die Bedeutung des letzteren geht schon aus seinem Ehrennamen hervor: Er heißt „der Evangelist“ (Apg. 21,8). Er ist vielleicht der wichtigste Pionier der urchristlichen Mission (Apg. 8). Er arbeitet in Samaria und im Küstenland. Ihn umgibt eine „pneumatische“

r

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

132

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Atmosphäre. Seine Töchter sind Prophetinnen. Später soll er nach Hierapolis in Kleinasien gezogen und dort als Märtyrer gestorben sein. - Es ist nicht verwunderlich, daß die Legende nun die beiden Philippus verwechselt. Umgekehrt hat übrigens die moderne Forschung gelegentlich gefragt, ob sie nicht in Wirklichkeit identisch waren. Reichen Stoff bietet natürlich auch der Verräter Judas Iskariot. Schon das Neue Testament kennt zwei verschiedene Legenden über sein schreckliches Ende (Mt.27,3 ff.; Apg.l,15 ff.). Wie sie weiterwuchern, zeigt ein Fragment des Papias von Hierapolis, voll widerlicher Phantasie. Das Motiv seiner Tat soll Habgier sein (vgl. Mk. 14,10 mit Mt.26,15; vgl. Joh.12,6). Auch das ist als legendär zu beurteilen. Der wirkliche Grund ist unbekannt. Auch der Beiname gibt keinen Aufschluß, denn er ist nicht sicher zu deuten. Vorschläge sind: a) „der Mann aus (der Stadt) Kariot“; b) „der Betrüger“ (dieser Name müßte ihm dann nachträglich beigelegt sein); c) „der Sikarier“ (vom lateinischen sica, „Dolch“); die Sikarier waren eine Gruppe aktiver Aufständischer. Der Beiname würde in diesem Fall seine Vergangenheit in ähnlicher Weise charakterisieren wie die des Zeloten Simon. Mit der Zeit bekam Judas übrigens rote Haare. 2. Simon „Petrus“ Nach Mk. 1,16-18 wurden Simon und sein Bruder Andreas als erste von Jesus zu „Jüngern“ berufen, die sein Wanderleben mit ihm teilten. Das heißt nicht, daß sie ständig unterwegs waren. Jesus scheint vielmehr einen festen Wohnsitz in Kapernaum gehabt zu haben. Ebenda waren die beiden zu Hause (Mk. 1,29), nach Joh.1,44 allerdings in Bethsaida. Petrus war verheiratet, l.Kor.9,5; seine Schwiegermutter wird einmal erwähnt (Mk. 1,30 f.). Sein Name, hebräisch Simeon (in griechischer Umschrift Symeon, Apg. 15,14; 2.Petr. 1,1), ist an den griechischen Namen Simon angeglichen. Der Vater heißt Jona (Mt. 16,17) oder Johannes (Joh. 1,42). Daß er an die Spitze der zu Jüngern Berufenen rückte, kann aus seiner späteren Stellung in der Kirche erschlossen sein. Joh. 1,40 kennt eine andere Reihenfolge der ersten Berufungen: Zwei Jünger des Täufers, darunter Andreas, schließen sich als erste Jesus an; Andreas führt dann auch seinen Bruder Simon zu ihm. Doch ist auch dies kein historisch zuverlässiger Bericht. Jedenfalls sind die Listen der Zwölf, in denen Petrus regelmäßig an der Spitze steht, nach Ostern geformt und entsprechen der Stellung des Petrus in diesem Kreis. Auch die Berufungsgeschichte Mk. 1,16 ff. erhielt ihre Form nach Ostern. Das erkennt man an dem Wort von den Menschenfischern; durch dieses wird die Berufung zu einer Sendung; das ist eine nachösterliche Deutung. Das rasche Wachsen der Legende kann man an der lukanischen Fassung der Berufung, der Geschichte vom wunderbaren Fischzug, ablesen (Lk.5,l ff.). Entscheidend für seine Laufbahn wurde es, daß ihm als erstem der auferstandene Jesus erschien. Man kann es merkwürdig finden, daß dieses für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Personen (Geschichte und Legende)

133

die Kirche grundlegende Ereignis nur beiläufig erwähnt, aber nicht geschildert wird. Zwar ist in anderen Erscheinungsgeschichten auch Petrus, zusammen mit anderen, anwesend. Aber diese erste Erscheinung ist nicht in eine Erzählung umgesetzt worden. Das ist nicht verwunderlich, sondern typisch: Die erzählerische Ausgestaltung gehört einer späteren Zeit an. Vermutungen darüber, warum gerade Petrus als erster eine solche Erscheinung erlebte, schweben in der Luft. Die einzige, der man nachgehen mag, entsteht aus der Frage: Wie hängt diese Erscheinung damit zusammen, daß Petrus Jesus nach dessen Verhaftung „verleugnete“? Ist die Verleugnung geschichtlich, dann ist Petrus durch den Herrn selbst rehabilitiert. Ist sie es? Für die Geschichtlichkeit kann angeführt werden: Wie sollte diese Geschichte erfunden worden sein, die den ersten Mann der Kirche als charakterschwach erscheinen läßt, ja, ihm die schwerste Sünde zuschreibt? Man muß sie ja im Licht der Worte Jesu über das Bekennen und Verleugnen seiner Person vor den Menschen lesen (Mk.8,38 par.). Manche erwidern auf die Frage: Es handelt sich um eine Erfindung von Gegnern des Petrus. Daß er solche hatte, sieht man auch an anderen Stellen. Aber diese Auskunft ist unwahrscheinlich. Denn dann hätte man diese Geschichte nicht in der Kirche aufbewahrt und in die Evangelien aufgenommen. Und wer sollen diese Gegner sein? Man könnte natürlich weiterphantasieren: Petrus verschwindet auf geheimnisvolle Weise aus der Geschichte. An seine Stelle tritt in Jerusalem ein Bruder Jesu. Wurden die Jünger durch die Verwandten Jesu verdrängt, die dann ja lange Zeit an der Spitze der Gemeinde gestanden haben sollen (s.o.)? Ist die Geschichte von der Verleugnung aus diesen Rivalitäten entstanden? Schwerlich; denn in ihr herrscht keine Tendenz für die Verwandten Jesu und keine gegen die übrigen Jünger. Sie wird vielmehr gerade als Folie für die spätere Spitzenstellung des Petrus erzählt. Und eben das läßt aufmerken: Spricht sie wirklich gegen Petrus? Legt sie seinen Charakter bloß? Wenn wir nicht von unseren Eindrücken ausgehen, sondern von der Mentalität der frühen Kirche, ändert sich das Bild. Die Frühzeit glorifiziert keine Glaubenshelden. Das ist erst eine spätere Tendenz. Ursprünglich ist das Bild der Jünger nicht von Gefühlen der Bewunderung gestaltet, sondern dient dem Verständnis der Person Jesu. Sie verstehen ihn nicht - nicht weil sie dumm wären; vielmehr wird auf diese Weise das Geheimnis der Offenbarung verdeutlicht, der Weg zum Kreuz, der erst durch die Auferstehung als der Weg des Heils enthüllt wird. Aus dieser Sicht ist auch die Szene vom Bekenntnis des Petrus (Mk. 8,27 ff.) gestaltet: Er bekennt Jesus als den Messias - als erster. Aber er will ihn in seiner Herrlichkeit, und muß hören: „Fort von mir, Satan!“ Ist etwa die Geschichte von der Verleugnung im Zusammenspiel mit der vom Bekenntnis entstanden? Diese ist schwerlich historisch; denn Petrus spricht das Bekenntnis der nachösterlichen Gemeinde. Wer annimmt, die Verleugnung sei doch geschichtlich, kann die Linie so ziehen: Trotz dieses Bruches sei der Eindruck auf Jesu in ihm am nachhaltigsten gewesen, ja, er sei durch das Bewußtsein seines Versagens gerade © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

134

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

aktiviert worden. Diese Reflexion ist freilich wenig befriedigend; im Grunde erklärt sie ein x durch ein y. Stichhaltiger ist eine andere Erwägung: Petrus ist nach Ostern der erste Bekenner. Das wird nun durch jene Szene in das Leben Jesu zurückverlegt. Wenn sich nun ein Zusammenhang mit der Verleugnung zeigen ließe, wäre für diese entsprechendes zu folgern. Sollte sie gerade das Bekenntnis herausheben? Ein weiteres Argument für die Geschichtlichkeit der Verleugnung ist: Der Verfasser des Markus-Evangeliums, Johannes Markus, habe dem Petrus persönlich nahegestanden (l.Petr.5,13). Er soll sogar sein Dolmetscher gewesen sein und seine Erinnerungen aufgeschrieben haben (Papias). Aber was Papias schreibt, ist Gewäsch. Erstens ist nicht bekannt, wer das MarkusEvangelium verfaßte. Und wenn es wirklich Johannes Markus war, so stammt dieser zwar aus Jerusalem, aber von einer engeren Verbindung mit Petrus ist außer l.Petr.5,13 nichts bekannt. Der 1.Petrusbrief stammt nicht von Petrus. Markus arbeitete zuzeiten mit seinem Verwandten Barnabas zusammen. So kommt er in Verbindung mit Paulus; trotz zeitweiliger Trennung scheint er zu ihm zurückgekehrt und bei ihm geblieben zu sein. Geht man nicht von der Person des Markus aus, sondern von der Erzählung, wie sie dasteht, so zeigt sie keinen Hinweis darauf, daß sie auf eine Erzählung des Petrus selbst zurückgeht. Und das müßte sie doch, weil kein anderer Augenzeuge aus dem Jüngerkreis dabeigewesen sein soll. Erst das Johannes-Evangelium führt einen solchen ein, einen „anderen Jünger“; aber dieser bleibt ungreifbar. Über die Konsequenzen, die Petrus aus der Erscheinung zog, ist oben gehandelt. Es ist jetzt noch auf das Bild einzugehen, das die Apostelgeschichte von seinem Wirken zeichnet. Er nimmt nach der Himmelfahrt die Leitung der Gemeinde in die Hand und läßt den Kreis der Zwölf wieder auffüllen (Apg. 1,15-26). Er ist bei der Ausgießung des Geistes der Sprecher, mit dem durchschlagenden Erfolg, den der Geist gewährt. Er tut Wunder (3,1 ff.; vgl. 5,12-16) und ist das Werkzeug des göttlichen Eingreifens gegen Ananias und Sapphira (5,1-11). Er spricht im Verhör vor dem Hohen Rat (5,26 ff.). Er öffnet auf den Wink des Geistes hin die Tür in die Kirche für die Heiden (Kap. 10). Von diesem Bild muß einiges abgezogen werden. Die ersten Schritte zur Heidenmission taten, wie die Apostelgeschichte selbst noch erkennen läßt, die Hellenisten (11,19 f.). Es bleibt aber die Tatsache, daß Petrus lange Zeit der erste Mann in der Kirche war, offenbar nicht nur mit dem Recht des „Erstgeborenen“, sondern auch mit dem Ansehen dessen, der den Sinn der Erscheinungen begriffen hatte und den Kirchengedanken prägte. Als Paulus nach seiner Bekehrung zum ersten Mal nach Jerusalem reiste, tat er es, um ihn zu treffen (Gal.1,18). Nur beiläufig erwähnt er noch Jakobus (den Bruder Jesu) und erklärt, daß er keinen anderen der „Apostel“ sah. Später ist, wie oben dargestellt, Petrus eine der drei „Säulen“, mit Jakobus und Johannes. Diese drei sind beim Apostelkonzil die Vertreter der Gemeinde. Eine Vereinbarung überträgt Petrus das Ressort „Äußeres“ für die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Personen (Geschichte und Legende)

135

Judenchristen, doch wohl auf Grund seiner Leistungen als Missionar. Er ist der einzige der Zwölf, von dem es zuverlässige Nachrichten über eine Tätigkeit auch außerhalb Palästinas gibt. Wann und warum er Jerusalem verließ, ist aber unbekannt. Viel diskutiert ist ein Satz der Apostelgeschichte: Nach Apg. 12 wurde er einmal (von Agrippa I.) gefangengesetzt und sollte hingerichtet werden. Aber er wurde durch einen Engel befreit und „ging an einen anderen Ort“ (12,17). Man kann darin eine Andeutung auf seinen endgültigen Abschied von der Stadt finden. Aber das ist nicht gemeint. Nachher, beim Konzil, ist er ja wieder da. Oder sollte der Satz wenigstens in einer Quelle des Lukas jenen Sinn gehabt haben? Schwerlich. Er sagt nichts anderes, als daß sich Petrus zunächst in Sicherheit brachte. Nach dem baldigen Tod Agrippas, als Judäa wieder in direkte römische Verwaltung kam, wird er zurückgekehrt sein. Eine andere Erklärung ergibt sich, wenn man das Konzil schon auf 43/44 datiert. Dann hätte dieses schon vor jener Gefangenschaft stattgefunden, und in Apg. 12,17 wäre (in der Quelle!) der endgültige Abschied angedeutet. Aber gegen die Frühdatierung bestehen die oben besprochenen Bedenken. Später, offenbar nicht lange nach dem Konzil, tritt er in Antiochia auf; das wird mit der Abmachung auf dem Konzil zusammenhängen. Dabei bekommt man einen interessanten Einblick in sein Verhalten (Gal.2,ll ff.). Das Konzil hatte einerseits die Einheit der Kirche gewahrt, andererseits die relative Scheidung zwischen Juden- und Heidenchristen aufrechterhalten. Das entsprach sowohl dem Standpunkt der Jerusalemer als auch des Paulus. Die einen behalten das Gesetz, die anderen übernehmen es nicht. Daraus entsteht aber das Problem, ob Judenchristen mit Heidenchristen zusammen Mahlzeit halten dürfen. Darüber waren die Meinungen geteilt. Petrus und Barnabas bejahten die Frage, die Gruppe um Jakobus verneinte sie. Also hielten jene beiden zunächst Tischgemeinschaft; aber dann ließen sie sich von Anhängern des Jakobus zurückschrecken. So kam es zu dem (oben besprochenen) Zusammenstoß; offenbar blieb Petrus der taktische Sieger. Über seine weitere Arbeit als Missionar gibt es nur noch die kurze Notiz l.Kor.9,5, daß er auf seinen Reisen von seiner Frau begleitet war. Darf man aus dieser Stelle schließen, daß er einmal nach Korinth kam? Er besitzt ja dort Anhänger (l.Kor. 1,12). Aber die Spuren sind zu schwach. Das am heftigsten umstrittene Problem seiner Biographie bzw. der Grenze zwischen Biographie und Legende ist das seines Aufenthaltes in Rom. Der Streit wurde neu entfacht durch die neueren Ausgrabungen unter St. Peter, die sein Grab entdecken sollten - vergeblich. Nach katholischer Überlieferung war er 25 Jahre Bischof von Rom. Da er in der Verfolgung unter Nero im Jahre 64 hingerichtet worden sein soll, müßte er schon im Jahre 49, gleich nach dem Konzil, dorthin gekommen sein. Das ist ausgeschlossen. Zu der Zeit, da Paulus seinen Brief nach Rom schreibt, um die Mitte der fünfziger Jahre, kann Petrus noch nicht dort gewesen sein. Sonst könnte ihn Paulus nicht völlig ignorieren. Immer noch besteht in der Forschung keine volle Einigkeit darüber, ob Petrus überhaupt jemals nach Rom kam. Der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

136

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Streit darüber verlief lange Zeit weithin zwischen den Konfessionen. Heute sind die Fronten aufgelockert. Man ist sich auf beiden Seiten klar: Auch wenn man nachweisen könnte, daß Petrus den Boden von Rom nie betrat, so wäre dadurch die katholische Kirche nicht aus den Angeln gehoben. Heute ist die Mehrheit auch der evangelischen Gelehrten der Ansicht, daß sich Petrus in der Tat eine Zeitlang in Rom aufhielt und daß er dort den Tod erlitt. Den Umschwung zu der heutigen Meinung brachte ein Buch des evangelischen Kirchenhistorikers Hans Lietzmann im Jahre 1915 (Petrus und Paulus in Rom). Dieser erschloß aus einigen altkirchlichen Nachrichten, daß man bereits um 200 die Gräber der beiden Apostelfürsten zeigte, das des Petrus in den vatikanischen Gärten, neben dem Zirkus des Nero; das des Paulus an der Straße nach Ostia. Lietzmann (Gesch. der Alten Kirche I, S.201) argumentiert: Beide Grabstätten „liegen so abseits von allen Kultstätten des christlichen Rom, daß an ihrer Echtheit kaum gezweifelt werden kann“. Diese Logik ist nicht unbedingt schlüssig. Man kann auch folgern: Wenn man den Ort des Martyriums kannte, suchte man später in dessen Nähe auch das Grab. Immerhin wäre dann das Martyrium in Rom historisch. Welches sind die Quellen} 1. Der 1. Petrusbrief, nach begründeter Meinung zur Zeit Domitians verfaßt, will in „Babylon“ geschrieben sein (5,13). Das ist sicher Deckname für Rom. Der anonyme Verfasser nimmt also einen Aufenthalt des Petrus dort an. 2. In dieselbe Zeit wird der 1. Clemensbrief datiert. Dieser blickt auf eine Verfolgung zurück. Am Anfang zählt er zur Stärkung der Gläubigen Beispiele von heroischem Bestehen des Martyriums auf, als die hervorragendsten die des Petrus und Paulus (Beilage 4). Er sagt zwar nicht ausdrücklich, daß die beiden in Rom starben. Aber die Annahme liegt nahe, daß er das meint. 3. Ignatius von Antiochien erinnert in seinem Brief nach Rom um 110 im Blick auf sein bevorstehendes Martyrium ebenfalls an die beiden. Auch er sagt nicht, daß sie in Rom litten. Aber es fällt doch auf, daß er sie gerade im Römerbrief erwähnt. Gegen die Schlüssigkeit des 1. Clemensbriefs und des Ignatius kann man freilich Einwände erheben. Von Paulus sagt ersterer ausdrücklich, daß er nach dem Westen gekommen sei, nicht aber von Petrus. Und Ignatius befindet sich auf dem Weg zum Martyrium in Rom. Er kann die beiden Märtyrer also einfach deswegen gerade in diesem Brief genannt haben, weil Rom für ihn „Martyrium“ bedeutet. Immerhin bleibt der 1. Petrusbrief als Zeuge, daß man gegen das Jahr 100 die Verbindung Petrus-Rom kennt. Und: Es gibt keine konkurrierende Tradition, daß er anderswo gestorben sei (doch s.u.). Alle übrigen Zeugnisse sind nicht stichhaltig. Die Deutung von Offb. 11 auf Petrus und Paulus und ihren Tod in Rom ist zum mindesten zweifelhaft. Alles übrige sind Legenden (in den apokryphen Apostelakten). Vielleicht gibt es doch eine Gegeninstanz: das Wort Jesu an Petrus Mt. 16,17-19. Seine Sprachgrundlage ist semitisch. Es muß in einer Gemeinde © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Personen (Geschichte und Legende)

137

im Osten entstanden sein, die sich mit Petrus in besonderer Weise verbunden wußte und die bereits auf seinen Tod zurückblickte. Setzt es voraus, daß er in der Nähe „seiner“ Kirche, im Osten, starb? Sicher ist, daß Petrus in Rom nicht Bischof war. Das monarchische Bischofsamt gab es damals noch nicht. Und gerade in Rom entwickelte es sich besonders spät, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts. Fest steht auf der positiven Seite lediglich, daß er als Märtyrer starb. Das wird noch durch Joh.21 bestätigt. Die Legende über seinen Tod knüpft an die Verleugnung an: Petrus gibt dem Drängen der besorgten Freunde nach und verläßt Rom, um sich in Sicherheit zu bringen. Am Stadttor begegnet ihm Jesus. Auf die Frage des Petrus: „Wohin gehst du, Herr“ (quo vadis?), erwidert er, er gehe nach Rom, um sich kreuzigen zu lassen. Beschämt kehrt Petrus um. Er wird, mit dem Kopf nach unten, gekreuzigt. 3. Jakobus „der Gerechte“ Jakobus ist (außer Jesus selbst) die einzige Person des Urchristentums, den eine alte außerchristliche Quelle erwähnt, nämlich der jüdische Geschichtsschreiber Josephus in seinen „Jüdischen Altertümern“ (Beilage 3 a). Dieses Buch erschien im Jahre 93/94. Josephus stammt aus Jerusalem, ist priesterlicher Herkunft und hatte im Jüdischen Krieg das Kommando in Galiläa. Daß er Jakobus erwähnt, zeigt, welches Ansehen dieser auch bei den nichtchristlichen Juden genoß. Seine Stellung in der Kirche hat einen doppelten Grund: Er ist ein leiblicher Bruder Jesu (Mk.6,3; Gal. 1,19; Josephus), und auch ihm erschien der auferstandene Jesus (l.Kor. 15,7). Offenbar bewirkte erst diese Erscheinung die Hinwendung zur Sache Jesu. Vermutlich war er es, der die anderen Verwandten, die Christen wurden, in die Kirche führte. Irgendwann, offenbar früh, kam er nach Jerusalem. Seine Laufbahn kreuzte sich mit der des Petrus. Als Paulus zum ersten Mal Jerusalem besuchte, war Jakobus bereits eine bekannte Persönlichkeit, stand aber noch hinter Petrus zurück. Zur Zeit des Apostelkonzils war er neben Petrus und Johannes eine der drei „Säulen“, manche nehmen an: bereits die erste, weil Paulus seinen Namen an erster Stelle nennt. Doch ist dieser Schluß nicht zwingend (s.o.S.41). Jedenfalls bestimmt er mit Petrus zusammen auf der judenchristlichen Seite den Gang der Verhandlungen. Sein Erfolg ist natürlich nicht nur in seiner Herkunft begründet, sondern auch in seiner eigenen Leistung und Haltung. Er vertritt den konsequenten Standpunkt: Die Judenchristen haben das Gesetz weiterhin zu halten. Aber er will die Kirche nicht auf die Juden einschränken und den Heidenchristen das Gesetz nicht auferlegen. Er ist kein „Judaist“. In Galatien treten Judaisten auf und berufen sich auf Jakobus - zu Unrecht, wie Paulus nachweist (Gal. 2). Anders als Petrus bleibt er in Jerusalem und tritt an die Spitze der Gemeinde. Sein Einfluß reicht aber weit über die Stadt hinaus. In Antiochia © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

138

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

weicht Petrus vor seinen Leuten zurück (Gal.2,12). Nach seinem Tod bleibt seine Persönlichkeit nachhaltig im Gedächtnis. Seine Haltung trägt ihm den Beinamen „der Gerechte“ ein. Seine Frömmigkeit (die Legende wußte sie auszumalen) muß auch von den Juden anerkannt worden sein. Denn er konnte bis zum Jahr 62 in Jerusalem auftreten und die Gemeinde leiten. Josephus läßt erkennen, daß sein Ansehen auch außerhalb der Gemeinde seinen Tod überdauerte. Den Hintergrund seines gewaltsamen Todes bildet die Verschärfung der politischen Krise in Palästina, die dem Krieg der Jahre 66-70 vorausging. Die politische Einstellung der Christen („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!“) mußte die radikalen Nationalisten empören. Im Jahr 62 starb der Statthalter Festus im Amt. Die Vakanz bis zur Ankunft seines Nachfolgers benützte der (sadduzäische) Hohepriester Hannas II. zum Schlag: Jakobus wurde mit anderen gesteinigt (Josephus; Hegesipp überliefert sein Martyrium bereits in legendärer Fassung; Beilage 3 b). Nach seinem Tod wurde er zum Patron einer Gruppe innerhalb des Judenchristentums. Im ThomasEvangelium (Logion 12) erscheint er in dieser Rolle. Dort wird sie mit einem Wort Jesu begründet: „Die Jünger sagten zu Jesus: Wir wissen, daß du von uns gehen wirst. Wer ist es, der über uns groß sein soll? Jesus sagte zu ihnen: Wohin ihr gekommen seid, ihr werdet zu Jakobus, dem Gerechten, gehen, dessentwegen der Himmel und die Erde entstanden sind.“ Auch Schriften wurden ihm zugeschrieben: der „Jakobusbrief“, der in den Kanon aufgenommen wurde; er wird zum Patron gnostischer Schriften. Und eine gnostische Sekte, die „Naassener“, führt sich ausgerechnet auf ihn zurück. Man sieht, was damals möglich war. 4. Johannes, Sohn des Zebedäus Nach Mk. 1,16-20 wurde Johannes zusammen mit seinem Bruder Jakobus, nach Simon und Andreas, von Jesus in die „Nachfolge“ gerufen. Beide Brüderpaare werden als Fischer am See von Tiberias („galiläischen Meer“) bezeichnet. Eine andere Überlieferung gibt Joh. 1,35 ff.: Zwei Jünger Johannes' des Täufers schließen sich Jesus an; einer ist Andreas, der andere bleibt ungenannt. Vielfach vermutet man, daß auf Johannes hingedeutet sei. Sein Name werde nicht genannt, weil er mit dem Verfasser des Johannes-Evangeliums identisch sei; dieser halte sich bewußt im Hintergrund. Im ganzen Evangelium wird ja der Name des Johannes (und seines Bruders Jakobus) übergangen. Ebenso verberge sich Johannes hinter dem Jünger, „den Jesus lieb hatte“. Diese Erwägungen sind möglich, bleiben aber Vermutung. Die beiden Brüder müssen in der Gemeinde eine bedeutende Stellung gehabt haben. In den Apostellisten stehen sie an zweiter Stelle. Man legte ihnen einen Beinamen bei (nach Mk.3,17 tat es Jesus selbst): Boanerges; das wird bei Markus mit „Donnersöhne“ übersetzt; der wirkliche Sinn des Wortes ist bisher nicht sicher erklärt. Sie gelten mit Petrus zusammen als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Personen (Geschichte und Legende)

139

die drei engsten Vertrauten Jesu. Eine Szene wirft Licht auf sie, Mk. 10, 35-45: Sie wollen im Gottesreich die Ehrenplätze neben Jesus einnehmen. Diese Geschichte ist eine Legende, die erst nach der Auferstehung Jesu entstand. Was ist aus ihr zu erschließen? Rivalitäten um die Führung in der Gemeinde, ein Versuch der beiden, sich an die Spitze zu stellen, der aber nicht glückte? Immerhin müssen sie eine hervorragende Position bewahrt haben. Jakobus wird im Jahre 43 hingerichtet, erschien also der Öffentlichkeit als einer der Repräsentanten der Gemeinde. Und Johannes gehört zu den drei Säulen. Leider kennen wir nicht seine Rolle beim Apostelkonzil - bis auf die Tatsache, daß er die Vereinbarung guthieß. Das ist schon das ganze Wissen über ihn. An diesem Punkt beginnen die Rätsel, so viele wie bei keinem anderen der Zwölf (einschließlich Petrus). Sein Leben und Tod sind völlig von der Legende umwoben. Nach Mk. 10,39 prophezeite Jesus ihm und seinem Bruder das Martyrium. Es ist also anzunehmen, daß er dieses wirklich erlitt; aber es ist schon Joh.21 in rätselhafter Weise verhüllt. Anlaß, Zeit und Ort seines Todes sind unbekannt. Manche nehmen (gestützt auf eine obskure Notiz) an, er sei gleichzeitig mit seinem Bruder, im Jahre 43, umgekommen. Das ist unwahrscheinlich. Abgesehen davon, daß man dann das Apostelkonzil vorher ansetzen muß, bleibt unerklärt, warum die Apostelgeschichte seinen Tod verschweigt. Die Legende entwickelt sich in umgekehrter Richtung: In ihr ist Johannes der Apostel, der ein hohes Alter erreicht und die Zeit der Apostel mit den späteren Generationen verbindet, bis er in Ephesus eines natürlichen Todes stirbt. Er gilt als Kämpfer gegen die Gnosis. Unter Domitian soll er auf die Insel Patmos verbannt gewesen sein. Dies ist aus Offb. 1,9 erschlossen. Nach der Überlieferung ist Johannes der Verfasser des Evangeliums, der drei Briefe und der „Offenbarung“. Aber auch von diesen seinen angeblichen Schriften her bleibt „Johannes“ ein Rätsel. Die dunkle „Offenbarung“ will von einem Johannes auf der Insel Patmos geschrieben sein - aber wer ist das? Das vierte Evangelium, das ihm zugeschrieben wird, sträubt sich gegen jeden Versuch einer kirchengeschichtlichen Einordnung. Es ist ein Dokument einer Gemeinde, die nirgends zu fassen ist. Kann man als geschichtlichen Kern feststellen, daß diese Gemeinde Johannes zu ihrem Patron erhoben hatte (ohne doch konkretes Wissen über ihn zu überliefern)? Sie weiß sich jedenfalls in Konkurrenz zu einer Gruppe, deren Parole „Petrus“ heißt (Joh.21), ohne daß sie jene verketzert. Zur Verwirrung der Überlieferung trug Papias, Bischof von Hierapolis, ein tüchtiges Maß bei. Der Historiker Euseb bescheinigt ihm denn auch geistige Schwäche. Papias nennt zwei Johannes, den Jünger und den „Alten“. Was er über sie mitzuteilen hat, ist unklar und ohne historischen Wert. Später bekommt Johannes den Beinamen „der Theologe“. Er wird durch die Kirchengeschichte hindurch zum Patron einer spiritualistischen Religiosität: Der Kirchenvater Clemens von Alexandrien verehrt ihn als solchen. Die Gnostiker deuten das Johannes-Evangelium in ihrem Sinn. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

140

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Zu erwähnen ist noch der Zusammenhang mit der Marienlegende. Nach Joh. 19,26 f. hatte der sterbende Jesus seine Mutter seinem Lieblingsjünger anvertraut. Wenn man diesen mit Johannes identifizierte, zog die Johanneslegende die Marienlegende mit sich. Zog Johannes nach Ephesus, mußte auch Maria dorthin übersiedeln. 5. Joseph Barnabas Der Beiname „Bar-naba(s)“ soll nach Apg.4,36 „Sohn des Trostes' bedeuten. Die paar bruchstückhaften Notizen über ihn entsprechen nicht seiner wirklichen Bedeutung. In Wahrheit war er eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Urkirche. Er stammt aus der jüdischen Diaspora, aus Cypern. Offenbar war er, wie viele Diasporajuden, nach Jerusalem übergesiedelt. Er muß früh Christ geworden sein und sich eine geachtete Stellung geschaffen haben. Die Apostelgeschichte weiß (4,36 f.), daß er sein Vermögen der Gemeinde stiftete. Das paßt zu einer Bemerkung des Paulus, (l.Kor.9,6); Barnabas hält sich als Missionar an die gleichen Grundsätze wie Paulus - und da Barnabas der Ältere ist, ist er der Lehrmeister des Paulus: Barnabas und Paulus verzichten auf das Recht der Missionare, sich von den Gemeinden unterhalten zu lassen. Obwohl Diasporajude, scheint er nicht dem Kreis der „Hellenisten“ angehört zu haben. Er ist jedenfalls kein Mitglied des leitenden Gremiums dieser Gruppe. Er blieb auch in Jerusalem, als dieser Kreis gesprengt wurde. In Apg. 14,4.14 wird ihm der Aposteltitel beigelegt. Da Lukas diesen sonst nur für die Zwölf gebraucht, könnte hier eine alte Quelle durchschimmern. Seine Aktivität wird sichtbar, nachdem er nach Antiochia übergesiedelt ist. Die Apostelgeschichte läßt ihn im offiziellen Auftrag der Urgemeinde dorthin kommen. Jedenfalls wahrt er die Verbindung mit Jerusalem und überträgt diese Haltung auch auf Paulus. Aber seine Rolle in Antiochia beruht nicht in erster Linie auf einer offiziellen Sendung, sondern auf seiner eigenen religiösen Leistung. Apg. 13,1 erscheint er an der Spitze der leitenden Männer, der „Propheten und Lehrer“. Er wird mit Saulus ausgewählt, die Mission auszudehnen. Später vertreten die beiden die antiochenische Gemeinde bei der Uberbringung einer Kollekte (Apg. 11,27 ff.) und dann beim Apostelkonzil. Offenbar ist Barnabas in Antiochia mit der Entwicklung der Dinge gewachsen. Er bejaht die Heidenmission und - das ist mit Sicherheit aus den Tatsachen, aus dem Verlauf des Apostelkonzils und aus Äußerungen des Paulus zu erschließen - die Freiheit der Heidenchristen vom Gesetz. So zeigen sich bereits bei Barnabas die Grundzüge des Kirchen- und Missionsgedankens, den Paulus dann gedanklich ausbaute: gesetzesfreie Heidenkirche und Wahrung der Einheit der Kirche durch Bindung an Jerusalem, damit zugleich Wahrung des heilsgeschichtlichen Zusammenhangs. Sein Einfluß reicht noch weiter. Das Zusammenleben von Juden- und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Personen (Geschichte und Legende)

141

Heidenchristen in der neuen Gemeinschaft stellt Probleme, gerade auch nach dem Konzil. Sie werden zunächst übergangen, da die Juden offenbar ohne Skrupel ihr Gesetz zurückstellen und mit den Heiden Tischgemeinschaft halten. Darin waren wohl schon die Hellenisten vorangegangen. Nach dem Konzil beugt sich Barnabas dem Buchstaben der Vereinbarung und bindet sich als Judenchrist wieder an das Ritualgesetz. Das macht ihm Paulus zum schweren Vorwurf. Aber offensichtlich setzte sich Barnabas mit Petrus in Antiochia durch. Er bleibt weiterhin Heidenmissionar, und Paulus spricht von ihm (wenn man von dem Zusammenstoß in Antiochia absieht) ohne Kritik, ja, er kann die Übereinstimmung hervorheben. In die Kirchengeschichte ist vor allem die Zusammenarbeit des Barnabas mit Saulus/Paulus eingegangen. Nach Apg. 9,27 führte der Ältere den Jüngeren in Jerusalem ein. Später holte er ihn aus Tarsus nach Antiochia (Apg. 11,25 f.). In der gemeinsamen Mission war er zunächst der führende Mann. Er arbeitet die Grundsätze aus, an die sich Paulus dann zeitlebens hält (l.Kor.9). Doch erscheint Paulus bereits beim Apostelkonzil als der Überlegene. Er bestimmt den Begleiter, den Heidenchristen Titus. Er scheint die Verhandlung mit den „Säulen“ geführt zu haben; er wird ja auch offiziell als der Heidenmissionar und insofern als gleichrangig mit Petrus anerkannt. Später trennen sich beide, infolge des Zusammenstoßes, den Paulus Gal. 2 erzählt. Die Apostelgeschichte (15,36 ff.) verharmlost den Grundsatzstreit zu einer persönlichen Meinungsverschiedenheit. Der Respekt des Paulus vor Barnabas bleibt aber - oder er stellt sich wieder ein. Das gibt Paulus l.Kor. 9 deutlich zu verstehen. Der Galater- und der l.Korintherbrief zeigen ebenfalls, daß Barnabas auch in den Gemeinden des Paulus eine allgemein bekannte und geachtete Persönlichkeit ist. Nach der Trennung begab sich Barnabas mit Johannes Markus in seine Heimat Cypern. Dort bemächtigt sich seiner die Legende. Man schrieb ihm den Hebräerbrief (Tertullian) und den „Barnabasbrief“ (s.o.S.16) zu. 6. Apollos Der Name ist eine Kurzfassung von Apollonius o. ä. Er wird später Christ als Paulus, behauptet sich aber in dessen Missionsgebiet selbständig neben ihm. Paulus behandelt ihn im l.Korintherbrief als Partner, nicht als Schüler, wenn er auch seinen Vorrang klar wahrt (l.Kor. 3,6). Er stammt aus Alexandria, dem berühmten Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit (dort lehrt bis in die vierziger Jahre der Philosoph Philo). Wenn wir nur wüßten, ob Apollos das Christentum schon in Alexandria kennenlernte! Was die Apostelgeschichte (18,24 ff.) über ihn erzählt, ist einigermaßen unklar: Zunächst sei er nur unvollkommen mit der christlichen Lehre vertraut gewesen. Er habe nur die Taufe des Johannes (also nicht die Geist-Taufe) gekannt. Von den beiden Mitarbeitern des Paulus, dem Ehepaar Aquila und Priskilla, sei er dann in Ephesus unterwiesen worden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

142

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Nachdem Paulus von Korinth nach Ephesus übergesiedelt war, ging Apollos nach Korinth. Das kann nur im Einverständnis mit Paulus geschehen sein. Dieser beschreibt ja l.Kor.3 die Arbeit des Apollos als die Fortführung seiner eigenen. Apollos muß großen Eindruck gemacht haben. Seine Anhänger gruppieren sich und rivalisieren mit Paulus- und Petrusverehrern. Paulus schlägt diese Gruppenbildungen nieder und hält an der Zusammenarbeit mit Apollos fest. Zur Zeit, da Paulus den l.Korintherbrief schreibt, befindet sich dieser wieder in Kleinasien, in der Nähe des Paulus (l.Kor. 16,12). Mehr ist nicht überliefert. Trotz seiner gepriesenen Gelehrsamkeit ist kein literarisches Werk vorhanden bzw. erhalten. Luther glaubte, in ihm den Verfasser des Hebräerbriefes sehen zu dürfen. 7. Mitarbeiter des Paulus a) Silas/Silvanus. Der Name Silas ist die aramäische Form des hebräischen Saul; er ist also ein Namensvetter des Paulus. Er stammt aus Jerusalem. Nach Apg. 15,32 war er Prophet. Paulus nennt ihn l.Thess. 1,1 neben Timotheus als Mitabsender. Die beiden waren bei Paulus sowohl in Mazedonien als auch in Korinth, wo der Brief geschrieben ist. Persönliche Züge treten nicht hervor. Das liegt an der Apostelgeschichte, die ja die Bedeutung der Mitarbeiter des Paulus zurückdrängt. Nach l.Petr.5,12 wäre er später Sekretär des Petrus geworden. Wie das aufkam und was hinter diesem Austausch von Petrus- und Paulustradition steht, ist nicht aufzuhellen (s. auch u. über Johannes Markus). b) Titus wird von der Apostelgeschichte ganz übergangen. Er war Heidenchrist; Paulus vermerkt das in seinem Bericht über das Apostelkonzil zur Demonstration, daß die Gesetzesfreiheit dort wirklich anerkannt wurde (Gal.2,3). Titus muß ein besonderes Geschick im Umgang mit Menschen gehabt haben. Er war es, der in der korinthischen Krise den endgültigen Umschwung zugunsten des Paulus erzielte, nachdem Paulus kurz vorher nichts ausgerichtet hatte. Als er mit dieser Nachricht bei Paulus (in Mazedonien) eintraf, schickte ihn dieser sogleich nach Korinth zurück, um den Besuch des Paulus vorzubereiten und die Kollekte zu organisieren. Auch damit war er erfolgreich. Paulus konnte den Winter in Korinth verbringen und im Frühjahr mit der Kollekte nach Jerusalem reisen. Aber warum fehlt er in der Grußliste des Römerbriefs? Ist das ein weiteres Argument dafür, daß diese nicht nach Rom, sondern nach Ephesus gerichtet ist? Der 2.Timotheusbrief (4,10) läßt Titus in Dalmatien, der Titusbrief (1,5) auf Kreta arbeiten. c) Am nächsten steht Paulus offenbar Timotheus. Er hatte ihn selbst bekehrt (l.Kor.4,17). Mehrfach nennt er ihn als Mitabsender eines Briefes. Ihm vertraut er eine wichtige Mission nach Korinth an, die freilich keinen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Personen (Geschichte und Legende)

143

Erfolg hatte. Titus scheint der bessere Diplomat gewesen zu sein. Die Erinnerung an Timotheus wird durch zwei fingierte Briefe des Paulus an ihn festgehalten. In ihnen erscheint bereits eine Spur von Legende: Die Frömmigkeit seiner Mutter und seiner Großmutter wird gelobt. Wenn die Apostelgeschichte recht hat, ist dies fraglich (16,1-3): Seine jüdische Mutter war mit einem Heiden verheiratet, und Timotheus war unbeschnitten geblieben. Angeblich hat Paulus die Beschneidung nachgeholt. Ob das stimmt, darüber streiten die Gelehrten. Pro: Nach jüdischem Recht ist der Sohn einer Jüdin Jude. Wenn für Judenchristen das Gesetz gültig bleibe, habe Paulus nichts anderes getan, als Timotheus zu dem gemacht, was er rechtlich war. Und nur so, als Beschnittenen, habe er ihn bei Juden als Mitarbeiter verwenden können. - Contra: Es ist zweierlei, ob man als Jude beim Gesetz bleibt oder als Christ dem Gesetz unterworfen wird. d) Prisk(ill)a und Aquila. Die Apostelgeschichte gebraucht die längere Namensform der Frau, Paulus die kürzere. Die Reihenfolge, in der Mann und Frau genannt werden, wechselt. Was wir über sie wissen, ist oben zusammengestellt (S. 81 f. 97). 8. Die Evangelisten (Verfasser der Evangelien) Der Italienreisende kennt wenigstens eines der Symbole, die den vier Evangelisten zugeschrieben werden, den Markus-Löwen, das Hoheitszeichen der Republik Venedig. Die übrigen Symbole sind: Matthäus/Engel bzw. Mensch, Lukas/Stier, Johannes/Adler. Man kann sich die Zuordnung so merken: Die vier Symbole stammen aus Offb.4. Um den himmlischen Thron stehen vier Wesen; sie gleichen einem Löwen, einem Stier, einem Menschen und einem Adler. Diese wurden nun den einzelnen Evangelisten nach dem Anfang ihrer Bücher zugeteilt. Matthäus beginnt mit dem Stammbaum Jesu, also der Menschwerdung. Markus setzt mit dem Auftreten Johannes' des Täufers in der Wüste ein; die Wüste zieht den Löwen an sich. Lk. 1 zeigt den Priester Zacharias beim Opfer im Tempel; daher bekommt Lukas das Opfertier, den Stier. So bleibt für Johannes mit dem erhabenen Prolog das Tier des Höhenflugs. a) Über Johannes ist oben (S. 138 ff.) gehandelt, mit dem Ergebnis, daß die „johanneischen Schriften“ schwerlich von dem Zebedaiden verfaßt sind. Der „Alte“ Johannes, von dem Papias weiß, ist eine völlig ungreifbare Gestalt. b) Matthäus. Das Matthäus-Evangelium soll von dem „Apostel“ Matthäus (Mk.3,18; Mt.9,9; 10,3) verfaßt sein. Nach dem Buch selbst ist Matthäus ein ehemaliger Zöllner. Daß er wirklich der Verfasser des Buches ist, ist unwahrscheinlich. Denn dieses ist nicht von einem Augenzeugen der Geschichte Jesu geschrieben. Es beruht auf schriftlichen (griechischen!) Quellen (darunter dem Markus-Evangelium). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

144

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Außer dem Namen in der Liste der Zwölf ist über Matthäus nichts bekannt. c) (Johannes) Markus wird in Briefen des Paulus und in der Apostelgeschichte erwähnt. Er stammt aus Jerusalem, ist ein Verwandter des Barnabas (Kol.4,10). Apg. 12,12 hat sich eine Lokaltradition über das Haus seiner Mutter Maria erhalten. Lukas erzählt, daß er Barnabas und Paulus auf der ersten Missionsreise ein Stück weit begleitete, dann aber umgekehrt sei. Darum wollte ihn Paulus das nächste Mal nicht mehr mitnehmen. Deswegen sei es zur Trennung zwischen ihm und Barnabas gekommen. Den wirklichen Grund erfährt man aus Gal.2. Wie lange Markus bei Barnabas blieb und warum er ihn wieder verließ, ist wieder nicht überliefert. Er muß aber zu Paulus zurückgekehrt sein. Denn dieser nennt ihn als seinen Mitarbeiter (Phlm.24; vgl. auch Kol.4,10; 2.Tim.4,ll). Auf dieselbe unerklärte Weise wie Silvanus wird auch Markus von der Überlieferung zum Begleiter des Petrus gemacht (l.Petr.5,13). Bei Papias ist er zu seinem Dolmetscher avanciert; er habe seine Erinnerungen aufgezeichnet. Schließlich wird er zum ersten Bischof von Alexandria, das damit wenigstens eine halb-apostolische Tradition erhält. Darf man über die Art und Weise, wie es zur Kombination Petrus-Markus kam, noch folgende Vermutung anstellen? Der Name des Markus steht in Gefangenschaftsbriefen. Nach allgemeiner altkirchlicher Auffassung sind diese in Rom geschrieben (s.o.S.83). Dann kann sich die Assoziation „Petrus und Paulus in Rom“ einstellen. Daß das Markus-Evangelium wirklich von ihm geschrieben ist, wird in der Forschung bis heute vertreten. Es bestehen aber Gegenargumente: Der Verfasser des Evangeliums ist mit der Geographie von Palästina nicht vertraut. Vor allem: Er kennt die jüdischen Sitten nur ungenau. Sachlich hat das Buch nichts mit spezifisch petrinischer Tradition zu tun. d) Lukas der Arzt. Nach der Legende ist er Antiochener. Den Beruf verrät Kol.4,14. Das sogenannte muratorische Kanonsverzeichnis vom Ende des zweiten Jahrhunderts kennt ihn als Juristen; in der Legende dominiert das Bild vom Maler. Lukas befindet sich, wie Markus, in der Umgebung des gefangenen Paulus. Er wird an den gleichen Stellen genannt wie jener (Phlm.24; vgl.Kol.4,14; 2.Tim.4,ll). Ihm wird das dritte Evangelium und die Apostelgeschichte zugeschrieben. Beide Bücher stammen zweifellos vom selben Verfasser, aber schwerlich von einem Begleiter des Paulus. Manche wollen wenigstens die Abschnitte der Apostelgeschichte auf ihn zurückführen, die in der ersten Person der Mehrzahl geschrieben sind. Aber auch diese scheinen den Dingen doch schon etwas ferner zu stehen. Nach der Legende lebte er zuletzt in Böotien.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Beilagen (Quellen)

145

A N H A N G II

Beilagen (Quellen) 1. Der Tod des Agrippa 1. (Josephus, Jüdische Altertümer 19, 343-350) 1 Das dritte Jahr seiner Herrschaft über ganz Judäa war abgelaufen2. Er begab sich in die Stadt Cäsarea, die früher Strantonsturm hieß. Dort veranstaltete er Schauspiele zu Ehren des Kaisers, da er wußte, daß dieses Fest für sein Heil begangen wurde 3 . Dazu strömten in großer Zahl die zusammen, die in der Provinz in Amt und Würden standen. 344. Am zweiten Tag der Schauspiele begab sich Agrippa bei Tagesanbruch ins Theater. Er trug ein Gewand, das ganz aus Silber gefertigt war, ein wunderbares Gewebe. Als die ersten Strahlen der Sonne darauf fielen, leuchtete das Silber auf und strahlte wunderbar, so daß es durch sein erschreckendes Funkeln allen, die es sahen, Schauer erregte. 345. Sogleich erhoben die Schmeichler von allen Seiten ihr Geschrei - es sollte ihm nichts Gutes einbringen - und riefen ihn als Gott an 4 und sprachen: „Sei gnädig! Wenn wir dich bisher als Menschen fürchteten von jetzt an bekennen wir dich als überirdisches Wesen.“ 346. Der König gebot ihnen nicht Einhalt und wies ihre gotteslästerliche Schmeichelei nicht zurück. Doch als er gleich darauf nach oben blickte, sah er die Eule5 über seinem Kopf auf einem Seil sitzen. Er begriff sofort, daß sein einstiger Glücksbote zum Unglücksboten geworden war, und Gram erfüllte sein Herz. Starke Leibschmerzen stellten sich ein, die sofort heftig wurden. 347. Da sprang er auf und sagte zu seinen Freunden: „Ich euer Gott, muß jetzt das Leben lassen. Augenblicklich überführt das Schicksal eure Lügen von vorhin. Unsterblich nanntet ihr mich - schon werde ich zum Tod geführt...“ 350. Noch fünf Tage wurde er von den Leibschmerzen zerrissen; dann starb er. 2. Claudius und die Juden in Rom • a) Sueton, Claudius 25,4 Die Juden vertrieb er aus Rom, weil sie, von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhen stifteten. Vgl. Apg. 12,20-23 (wo Agrippa „Herodes“ heißt). Er hatte sein Gebiet von Caligula und Claudius nach und nach bekommen. Anspielung auf die Spiele, die sein Großvater Herodes der Große für das Heil des Kaisers gestiftet hatte? Sie wurden alle fünf Jahre begangen. 4 Apg. 12,22. 5 Sie war ihm schon einmal erschienen (18.195). 6 Apg. 18,2. 1

2 3

10 Conzelmann, Geschichte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

146

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

b) Dio Cassius, Römische Geschichte 60,6,6 (zum Jahr 41 n. Chr.) Die Juden hatten sich wieder so vermehrt, daß es wegen ihrer großen Zahl schwierig gewesen wäre, sie ohne Tumult von Rom auszuschließen. So trieb er sie zwar nicht aus, ließ ihnen auch ihre überkommene Lebensweise, verbot ihnen aber Versammlungen. Und die Clubs, die Gaius7 wieder zugelassen hatte, löste er auf8. 3. Der Tod des Jakobus, des Bruders Jesu a) Josephus, Jüdische Altertümer 20,200 Josephus schildert die Lage zwischen dem Tod des Statthalters Festus (62 n. Chr.) und der Ankunft seines Nachfolgers Albinus. Er charakterisiert den Hohenpriester Ananos (Hannas II.) als verwegen und als Sadduzäer, also Mitglied der politisch-juristisch härtesten Gruppe. Ein ganz anderes Charakterbild gibt er im Jüdischen Krieg 4,319 ff.

Das war der Charakter des Ananos. So hielt er die Gelegenheit für günstig, da Festus gestorben, Albinus noch unterwegs war. Er berief eine Gerichtssitzung (des Hohen Rates) ein und ließ ihr den Bruder Jesu, des sogenannten Gesalbten (Christus), Jakobus, und einige andere vorführen. Die Anklage lautete auf Gesetzesübertretung. Er ließ sie zur Steinigung abführen. b) Hegesipp (bei Euseb, Kirchengeschichte II 23,4-18) 9 Die (Repräsentation der) Kirche erhält mit den Aposteln Jakobus, der Bruder des Herrn, der von den Zeiten des Herrn bis heute allgemein „der Gerechte“ genannt wird, weil ja viele Jakobus hießen. Dieser war von Mutterleib an heilig. Wein und berauschendes Getränk genoß er nicht und aß kein Fleisch. Kein Schermesser berührte seinen Kopf; er salbte sich nicht mit Öl und nahm kein Bad. Ihm allein war es erlaubt, das Heiligtum zu betreten. Denn er trug nichts aus Wolle, sondern nur Leinen. Er pflegte allein in den Tempel zu gehen. Dort lag er auf den Knien und flehte für das Volk um Vergebung, so daß seine Knie so hart wie die eines Kamels wurden, weil er ständig auf den Knien lag, um zu Gott zu beten, und um Vergebung für das Volk bat. Wegen seiner hervorragenden Gerechtigkeit hieß er „der Gerechte“ und „Oblias“ (das bedeutet auf Deutsch10 „Mauer des Volkes“) 11 und „Gerechtigkeit“, wie die Propheten über ihn offenbaren. Einige aus den sieben Sekten im V o l k . . . fragten ihn nun: „Was ist die Tür Jesu?“ 12 Er antwortete: „Er ist der Erlöser.“ Und einige kamen zum Glauben, daß Jesus der Messias i s t . . . Sein Vorgänger Gaius genannt Caligula. Dazu vgl. den Brief des Plinius Beilage 7. 9 Euseb zitiert aus dem zweiten Buch der „Erinnerungen“ des Hegesipp. Der Text zeigt viele Dunkelheiten. Er ist ein Gemisch aus verschiedenen Überlieferungen. 10 Im Original natürlich: Griechisch. 11 „Oblias“ ist unverständlich. Wahrscheinlich hieß es ursprünglich „Abdias“; das ist die griechische Wiedergabe von Obadja, „Knecht Gottes“. 12 Anspielung auf Joh.10,9? Oder: „Tür zum Heil“ (hebr. jeschua)? Oder „Gesetz (hebr. thora) Jesu“? 7

8

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Beilagen (Quellen)

147

Da nun auch von den führenden Leuten viele glaubten, kam es zum Tumult unter den Juden, den Schriftgelehrten und Pharisäern; sie sagten: „Das ganze Volk läuft Gefahr, Jesus als den Messias zu erwarten.“ Daher gingen sie zu Jakobus und sagten: „Wir bitten dich, gebiete dem Volk Einhalt! Denn es ist zu Jesus abgeirrt und hält ihn für den Messias. Wir bitten dich, kläre alle, die zum Passafest gekommen sind, über Jesus auf! Denn zu dir haben wir alle Vertrauen. Denn wir und das ganze Volk bezeugen dir, daß du gerecht bist und kein Ansehen der Person kennst. Kläre du also das Volk über Jesus auf, damit sie sich nicht irreführen lassen. Denn das ganze Volk und wir alle haben Vertrauen zu dir. Stelle dich also auf die Zinne des Tempels, damit man dich dort oben sehen kann und damit das ganze Volk deine Worte verstehen kann. Denn wegen des Passafestes sind alle Stämme und auch Heiden zusammengekommen.“ Die erwähnten Schriftgelehrten und Pharisäer stellten also Jakobus auf die Zinne des Tempels und riefen ihm zu: „Gerechter, dem wir alle folgen müssen! Da das Volk hinter Jesus, dem Gekreuzigten, herirrt, so tue uns kund, was die Tür Jesu ist!“ Und er antwortete mit lauter Stimme: „Was fragt ihr mich über den Sohn des Menschen? Er thront im Himmel zur Rechten der großen Kraft und wird auf den Wolken des Himmels kommen.“ Auf das Zeugnis des Jakobus hin wurden viele überzeugt und priesen und riefen: „Hosanna dem Sohn Davids!“ Da sprachen wiederum dieselben Schriftgelehrten und Pharisäer zueinander: „Das war übel, daß wir Jesus zu einem solchen Zeugnis verholfen haben. Wir wollen hinaufsteigen und ihn hinabstürzen, damit sie Angst bekommen und ihm nicht glauben.“ Und sie schrieen: „Oh, oh, auch der Gerechte ließ sich irreführen.“ So erfüllten sie, was bei Jesaja geschrieben steht13: „Laß uns den Gerechten aus dem Weg räumen, denn er ist uns lästig! Sie werden nun die Früchte ihrer Werke genießen.“ Sie stiegen also hinauf und stürzten den Gerechten hinab. Und sie sagten zueinander14: „Laßt uns Jakobus den Gerechten steinigen!“ Und sie begannen, ihn zu steinigen, da er durch den Sturz nicht tot war. Vielmehr richtete er sich auf und betete knieend: „Ich bitte dich, Herr Gott und Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Als sie ihn so steinigten, schrie ein Priester aus der Familie [Rechabs, des Nachkommen] der Rechabiter, die von dem Propheten Jeremia erwähnt werden15: „Halt! Was tut ihr! Der Gerechte betet für euch.“ Da nahm einer von ihnen, ein Walker, das Holz, mit dem man die Kleider preßt, und schlug es dem Gerechten auf den Kopf. So starb er den Zeugentod. Man begrub ihn dort in der Nähe des Tempels, und sein Grabmal steht noch in der Nähe des Tempels. Er war Juden und Heiden ein wahrhaftiger Zeuge dafür, daß Jesus der Messias ist. Bald darauf folgte die Belagerung durch Vespasian. 13 14 15

Jes.3,10. Deutlich eine Nahtstelle, an der verschiedene Versionen ineinandergeschoben sind. Jer.35,l ff.

10* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

148

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

4. Das Martyrium des Petrus und Paulus (l.Clem.5 f.) Zusammenhang: Warnung vor „Eifersucht“. Eine Reihe von Beispielen aus dem Alten Testament illustriert ihre verheerende Wirkung.

5,1. Doch hören wir mit den Vorbildern der Vorzeit auf! Kommen wir zu den Kämpfern (Athleten) der jüngsten Vergangenheit! Nehmen wir die tapferen Vorbilder aus unserem Geschlecht! 2. Auf Grund von Eifersucht und Neid wurden die größten und gerechtesten Säulen16 verfolgt und kämpften bis zum Tod. 3. Stellen wir uns die tapferen Apostel vor Augen: 4. Petrus, der auf Grund von ungerechter Eifersucht nicht eine oder zwei, sondern viele Mühsalen ertrug, Zeugnis ablegte und so zu dem Ort der Herrlichkeit gelangte, der ihm gebührte. 5. Auf Grund von Eifersucht und Streit zeigte Paulus den (Weg zum) Kampfpreis für das Ausharren. 6. Siebenmal in Fesseln, verjagt, gesteinigt, Herold im Osten und im Westen17, empfing er den wahren Ruhm für seinen Glauben. 7. Er lehrte die ganze Welt Gerechtigkeit, kam bis in den äußersten Westen18 und legte vor den Machthabern Zeugnis ab. So schied er aus der Welt und gelangte an den heiligen Ort, das größte Vorbild des Ausharrens. 6,1. Diesen Männern mit ihrem heiligen Lebenswandel wurde eine große Menge von Auserwählten zugesellt19, die auf Grund von Eifersucht viele Martern und Foltern erlitten und so in unserer Mitte ein herrliches Vorbild wurden. 2. Auf Grund von Eifersucht wurden Frauen verfolgt und erlitten als Danaiden und Dirken furchtbare und ruchlose Mißhandlungen20. So gelangten sie zum sicheren Ziel im Wettlauf des Glaubens21 und empfingen den herrlichen Ehrenpreis, trotz ihres schwachen Körpers. 5. Die Christenverfolgung unter Nero im Jahre 64 n. Chr. (Tacitus, Annalen 15,44)

22

Zusammenhang: Der Brand von Rom; Wiederaufbau; Zeremonien, um die Götter zu versöhnen.

Aber keine menschliche Anstrengung, keine Spenden des Herrschers, keine Sühnezeremonien für die Götter verscheuchten den Verdacht, es habe auf Befehl gebrannt. Um das Gerücht aus der Welt zu schaffen, schob er die Gal.2,9. 2. Kor. 11,23-30: Apg.9,23f.29; 13,50; 14,5 f. 19; 16,20 ff. usw. 18 Spanien (Rom. 15,24)? 19 Vgl. Tacitus (Beilage 5). 20 Im Zirkus wurden Szenen aus der Mythologie aufgeführt; Dirke wurde von einem Stier zu Tode geschleift. 21 Der Abschnitt ist von der Sprache des Wettkampfs durchzogen; sie ist in der Philosophie beliebt. Paulus gebraucht sie (1. Kor. 9,24 ff.; Phil. 3,14). 22 Auch von Sueton, Nero 16, erwähnt: „Mit Todesstrafen wurde gegen die Christen vorgegangen, eine Sekte, die sich einem neuen gemeingefährlichen Aberglauben ergeben hatte.“ 16

17

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Beilagen (Quellen)

149

Schuld auf andere und verhängte die ausgesuchtesten Strafen über die wegen ihrer Verbrechen Verhaßten, die das Volk „Chrestianer“ nannte. Der Name leitet sich von Christus ab; dieser war unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden. Für den Augenblick wurde der verderbliche Aberglaube unterdrückt. Aber er brach wieder aus, nicht nur in Judäa, dem Ursprungsort dieses Unheils, sondern auch in Rom, wo alles Scheußliche und Schandbare von überallher zusammenströmt und Anhang findet. Man verhaftete also zuerst Leute, die bekannten23, dann auf ihre Anzeige hin eine riesige Menge. Sie wurden nicht gerade der Brandstiftung, wohl aber des allgemeinen Menschenhasses überführt. Die Todgeweihten benützte man zum Schauspiel. Man steckte sie in Tierfelle und ließ sie von Hunden zerfleischen, [man schlug sie ans Kreuz oder zündete sie an,] man ließ sie nach Einbruch der Dunkelheit als Fackeln brennen. Nero hatte für diese Schauspiele seinen Park24 zur Verfügung gestellt und veranstaltete ein Zirkusspiel. Im Aufzug eines Wagenlenkers mischte er sich unter das Volk oder stand auf seinem Wagen. So regte sich das Mitleid, obwohl sie schuldig waren und die härtesten Strafen verdienten, weil sie nicht dem Allgemeinwohl, sondern der Grausamkeit eines einzigen zum Opfer fielen. 6. Domitian a) Dio Cassius, Römische Geschichte 67, 14,1 In demselben Jahr (95 n.Chr.) ließ Domitian außer vielen andern den Konsul Flavius Clemens hinrichten, obwohl er sein Vetter war und Flavia Domitilla zur Frau hatte, die ebenfalls mit ihm verwandt war. Gegen beide wurde Anklage auf Gottlosigkeit erhoben. Aus diesem Grund wurden auch viele andere, die in die jüdische Religion verirrt waren, verurteilt. Die einen wurden hingerichtet, die anderen verloren mindestens ihr Vermögen. Domitilla wurde lediglich nach Pandateria verbannt. Der späteren Überlieferung galten beide als Christen. Diese Meinung wird noch heute von vielen Forschern geteilt. Für sie läßt sich anführen, daß Dio Cassius eine Erwähnung des Christentums grundsätzlich vermeidet.

b) Euseb, Kirchengeschichte III 18,4-20,7 Zu der erwähnten Zeit (Domitians) strahlte unsere Glaubenslehre bereits so weit aus, daß sogar Schriftsteller, die unserer Sache fernstanden, ohne Bedenken in ihren Geschichtswerken über die Verfolgung und die Martyrien darin berichteten. Sie geben auch das genaue Datum an; sie berichten nämlich, daß im fünfzehnten Regierungsjahr Domitians (95 n. Chr.) neben vielen 23 Was? Daß sie Christen waren? Wieso geben sie dann die anderen an? Daß sie den Brand gelegt hatten? Warum erwischt man dann zuerst solche, die gestehen, und nachher lauter Unschuldige? Tacitus versteht jedenfalls, Spannung zu erzielen und dem Leser einiges zu suggerieren. 24 Im Gebiet des heutigen Vatikan.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

150

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

anderen auch Flavia Domitilla, eine Tochter der Schwester des Flavius Clemens, der damals einer der römischen Konsuln war, wegen ihres Bekenntnisses zu Christus auf die Insel Pontia verbannt wurde. 19. Derselbe Domitian befahl, die Nachkommen Davids hinzurichten. Nach einem alten Bericht zeigten darauf einige Häretiker die Nachkommen des Judas, eines leiblichen Bruders des Erlösers, als Nachkommen Davids und Verwandte Christi selbst an. Hegesipp berichtet darüber wörtlich so: 20,1. „Noch lebten von der Verwandtschaft des Herrn die Enkel des Judas, angeblich eines leiblichen Bruders des Herrn. Diese wurden als Nachkommen Davids angezeigt. Ein Soldat führte sie dem Kaiser Domitian vor. Denn wie Herodes fürchtete er sich vor der Ankunft Christi. 2. Er fragt sie, ob sie von David abstammen. Sie bejahten. Darauf fragte er sie nach der Größe ihres immobilen und mobilen Vermögens. Sie erklärten, sie besäßen zusammen nur 9000 Denar, jeder die Hälfte, und zwar, erklärten sie, nicht in Geld, sondern als Wert eines Landgutes von nur 39 Morgen; dieses bewirtschafteten sie mit eigener Hand, um die Steuern zu bezahlen und den Lebensbedarf zu erwerben.“25 3. Darauf haben sie ihre Hände gezeigt und als Beweis für ihre Handarbeit auf die Härte ihres Körpers und die Schwielen hingewiesen, die sich durch ihre ständige Arbeit an den Händen gebildet hatten. 4. Als man sie über Christus und Art, Ort und Zeit der Erscheinung seines Reiches fragte, hätten sie erklärt, es sei nicht weltlich und irdisch, sondern himmlisch und für Engel. Es werde am Weltende kommen, wenn Christus in Herrlichkeit erscheine, die Lebenden und Toten zu richten und jedem nach seiner Lebensführung zu vergelten. 5. Darauf habe sie Domitian nicht verurteilt, sondern als kleine Leute verachtet. Er habe sie freigelassen und die Verfolgung der Kirche durch Edikt eingestellt. 6. Nach ihrer Entlassung hätten sie die Kirche geleitet, da sie zugleich Bekenner und Verwandte des Herrn waren. Nachdem Ruhe eingetreten war, hätten sie noch bis auf Trajan gelebt. 7. Soviel Hegesipp. 7. Das Verfahren gegen die Christen (Plinius d.J., Briefe X 96) a) C. Plinus an Kaiser Trajan. Es ist mein Grundsatz, Herr, alle zweifelhaften Fälle dir vorzutragen. An Verfahren gegen die Christen habe ich noch nie teilgenommen. Daher kenne ich weder Gegenstand noch Maß von Strafe und Untersuchung. 2. Und ich bin in erheblicher Verlegenheit: Soll man einen Unterschied nach dem Alter machen oder ganz Junge nicht anders behandeln als Ältere? Bewirkt Reue Straffreiheit oder hilft es dem, der einmal Christ war, nichts, wenn er es nicht mehr ist? Ist der (Christen-)Name an sich strafbar, auch wenn kein Verbrechen vorliegt, oder sind es nur die Verbrechen, die mit dem Namen zusammenhängen ? 25

Ende des Zitats. Die Fortsetzung ist Referat des Euseb über Hegesipp. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Beilagen (Quellen)

151

Vorläufig bin ich mit denen, die mir als Christen angezeigt wurden, so verfahren: 3. Ich fragte sie, ob sie Christen seien. Gestanden sie, fragte ich sie ein zweites und drittes Mal unter Androhung der Todesstrafe. Blieben sie hartnäckig, ließ ich sie (zum Tod) abführen. Denn ich hatte keinen Zweifel: Was immer sie zu gestehen hatten, ihr Starrsinn und ihre unbeugsame Widerspenstigkeit verdient Strafe. 4. Einige, die demselben Wahn verfallen waren, waren römische Bürger. Diese ließ ich zur Überführung nach Rom notieren. Wie es zu gehen pflegt: Durch das gerichtliche Einschreiten nahmen bald die Anschuldigungen zu, und es kamen mehr Fälle zur Anzeige. 5. Es lief eine anonyme Anklageschrift mit vielen Namen ein. Denen, die bestritten, Christen zu sein oder gewesen zu sein, sprach ich die Formel vor und ließ sie die Götter anrufen und zu deinem Standbild, das ich zu diesem Zweck zusammen mit den Götterbildern holen ließ, mit Weihrauch- und Weinspenden beten und außerdem Christus lästern. Daraufhin konnten sie meines Erachtens freigelassen werden. Denn zu all dem sollen sich wahre Christen nicht zwingen lassen. 6. Andere von dem Angeber Angezeigte bekannten sich als Christen, widerriefen aber gleich wieder: Sie seien es gewesen, hätten es aber aufgegeben, manche vor drei Jahren, manche vor noch mehr, einige sogar vor zwanzig Jahren. Auch diese erwiesen alle deinem Bild und den Götterstatuen Verehrung und lästerten Christus. 7. Sie versicherten, ihre ganze Schuld oder ihr Irrtum habe darin bestanden, daß sie sich regelmäßig an einem bestimmten Tag vor Tagesanbruch versammelten. Sie brachten im Wechselgesang Christus als (ihrem) Gott ein Lied dar und verpflichteten sich durch Eid, nicht etwa zu einem Verbrechen, sondern zur Unterlassung von Diebstahl, Raub, Ehebruch, Treulosigkeit, Unterschlagung von anvertrautem Gut26. Darauf seien sie regelmäßig auseinandergegangen; sie seien wieder zusammengekommen, um eine Mahlzeit einzunehmen, jedoch eine gewöhnliche und unschuldige27. Auch das haben sie auf meine Verordnung hin unterlassen, in der ich auf Grund deiner Befehle die Clubs (Hetärien) verboten hatte. 8. Um so mehr hielt ich es für notwendig, von zwei Mägden, die „Dienerinnen“28 genannt wurden, die Wahrheit auch noch durch die Folter zu erforschen. Ich fand nichts als verschrobenen, maßlosen Aberglauben. 9. Darum vertagte ich den Termin, um deinen Bescheid einzuholen. Mir schien eine Anfrage angebracht, besonders wegen der großen Zahl der Angeklagten. Denn viele jeden Alters, jeden Standes, auch beiderlei Geschlechts kommen vor Gericht und werden kommen. Denn nicht nur über die Städte, sondern auch über die Dörfer und das flache Land hat sich die Seuche dieses Aberglaubens verbreitet. Doch scheint es möglich, sie einzudämmen und auszutilgen. 10. Es steht jedenfalls fest, daß man die schon fast verödeten Tempel wieder zu besuchen beginnt. Die lange unterlassenen 26 Anklang an die zehn Gebote und an neutestamentliche „Lasterkataloge“, z.B. 1. Kor. 5,11; 1. Tim. 1,9 f. 27 Den Christen wurde u.a. vorgeworfen, daß sie bei ihren Versammlungen Kinderfleisch essen und Blutschande treiben. 28 Diakonissen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

152

Opfer werden wieder dargebracht. Das Fleisch der Opfertiere, für das sich bisher kaum noch ein Käufer fand29, findet wieder überall Absatz. Daraus darf man zuversichtlich schließen, wie viele gebessert werden könnten, wenn man ihrer Reue stattgäbe. b) Trajan an Plinius. Das Verfahren, mein Secundus30, das du gegen die Leute einschlugst, die bei dir als Christen angezeigt wurden, ist in Ordnung. Eine allgemeine Regel, die sozusagen eine feste Norm sein könnte, läßt sich nicht aufstellen. Aufspüren soll man sie nicht. Werden sie angezeigt und überführt, sind sie zu bestrafen. Doch gilt: Wer bestreitet, Christ zu sein, und dies durch die Tat bezeugt, nämlich durch Gebet zu unseren Göttern, soll auf Grund seiner Reue auch dann begnadigt werden, wenn seine Vergangenheit verdächtig ist. Anonym eingereichte Klageschriften dürfen für ein Verfahren nicht berücksichtigt werden. Das gäbe ein sehr schlechtes Beispiel und entspricht nicht dem Geist unserer Zeit. 8. Inschrift im Vorhof des Tempels zu Jerusalem*1 Kein Nichtjude darf den Raum innerhalb der Schranke und Einfriedung rings um den Tempel betreten. Wer dabei betroffen wird, hat sich den Tod selbst zuzuschreiben. 9. Die 12. Bitte des Achtzehn-Bitten-Gebets Den Abtrünnigen sei keine Hoffnung und das Reich der Gewalt mögest du eilends ausrotten in unseren Tagen. Und32 die Nazarener33 und Ketzer mögen umkommen in einem Augenblick. Sie mögen ausgelöscht werden aus dem Buch des Lebens und nicht mit den Gerechten eingeschrieben werden. Gepriesen seist du, Jahwe, der Gewalttätige beugt. 10. Simon Magus (Justin, Apologie I 26,1-3) 1. Auch nach der Auffahrt Christi in den Himmel stifteten die Dämonen34 manche Menschen an, sich als Götter auszugeben. Diese wurden nicht nur nicht von euch verfolgt35, sondern empfingen sogar Ehren, 2. so ein gewisser Apg. 15,29. Plinius heißt C. Plinius Caecilius Secundus. 31 Zu Apg. 21,27 ff. Den äußeren Teil des Vorhofs durften Heiden betreten. 32 Dieser und der nächste Satz wurden gegen Ende des 1. Jahrhunderts eingefügt. 33 „Nazarener und“ nodi späterer Zusatz? 34 Die sdion von alters her die heidnischen Entartungen suggerierten; davon war vorher die Rede. 35 Justin beklagt sidi, daß man den Christen verbietet, was man anderen erlaubt: einen Menschen als Gott zu verehren. 29

30

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Beilagen (Quellen)

153

Samaritaner Simon, aus dem Dorf Gittae. Unter Kaiser Claudius übte er durch die Wirkung und Kunst der Dämonen Zauberkünste. Daher wurde er in eurer Kaiserstadt Rom für einen Gott gehalten und von euch wie ein Gott durch eine Statue geehrt. Diese Säule ist im Tiber36 zwischen den beiden Brücken aufgestellt und trägt diese lateinische Inschrift: „Simoni deo sancto“ („Dem heiligen Gott Simon“) 37 . 3. Und fast alle Samaritaner, aber auch einige Angehörige anderer Völker bekennen und verehren ihn als den höchsten Gott. Und eine gewisse Helena, die zu jener Zeit mit ihm herumzog - vorher hatte sie im Bordell gesessen - , nennen sie den ersten, unter ihm stehenden, Gedanken38. 11. Dokumente des Urchristentums außerhalb des Neuen Testaments a) Gottesdienst- und Gemeindeordnung (Lehre der zwölf Apostel 7 ff.) 7,1. Zur Taufe. Tauft so: Nachdem ihr dies alles 39 mitgeteilt habt, tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes40 in lebendem41 Wasser. 2. Wenn du aber kein lebendes Wasser hast, so taufe in anderem Wasser; kannst du nicht in kaltem, dann in warmem. 3. Wenn du aber beides nicht hast, so gieße dreimal Wasser auf das Haupt, auf den Namen des Vaters und Sohnes und heiligen Geistes. 4. Vor der Taufe aber soll der Täufer und der Täufling fasten, und womöglich noch einige andere. Und zwar laß den Täufling einen oder zwei Tage vorher fasten. 8,1. Eure Fasten42 sollen nicht gleichzeitig mit denen der Heuchler stattfinden. Denn sie fasten am Montag und Donnerstag43; ihr aber sollt am Mittwoch und Freitag fasten. 2. Und betet nicht wie die Heuchler44! Sondern wie der Herr in seinem Evangelium gebot, so sollt ihr beten: (es folgt das Vaterunser)45. Denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit46. 3. Dreimal täglich sollt ihr so beten. 9,1. Zur Eucharistie. Sprecht das Dankgebet (griech. Eucharistie) so: 2. Zuerst für den Kelch: Wir danken dir, unser Vater, für den heiligen Weinstock Davids, deines Knechtes, den47 du uns durch Jesus, deinen Knecht, Auf der Tiberinsel. Das ist eine (naive oder bewußte?) groteske Umdeutung. Diese Statue (sie wurde wiedergefunden!) trägt die Inschrift: „Semoni Sanco Deo Fidio sacrum . . . “ Semo Sancus ist ein alter, italischer Gott. 38 Das griechische Wort (Ennoia) ist weiblich. 39 Die vorausgehende, sittliche Grundlehre. 40 Vgl. Mt. 28,19. 41 D.h. fließendem. 43 Das sind die jüdischen Fastentage. 42 Vgl. Mt. 6,16. 44 Vgl. Mt. 6,5. 45 Mit geringfügigen Abweichungen gegenüber Mt. 6,9-13. 46 Die „Schlußdoxologie“ gehört nicht ursprünglich zum Vaterunser. In den besten Handschriften des Matthäus-Evangeliums fehlt sie. Sie ist im gottesdienstlichen Gebrauch zugewachsen. Das älteste Zeugnis für sie ist eben die Zwölfapostellehre; freilich ist sie hier noch zweigliedrig. 47 Den Weinstock! 36

37

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

154

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

kundgemacht hast. Dir sei die Herrlichkeit in Ewigkeit. 3. Für das gebrochene Brot: Wir danken dir, unser Vater, für das Leben und die Erkenntnis, die du uns durch Jesus, deinen Knecht, kundgemacht hast. Dir sei die Herrlichkeit in Ewigkeit. 4. Wie dieses Brot auf den Bergen zerstreut war und gesammelt und eines wurde, so werde deine Kirche gesammelt von den Enden der Erde in dein Reich. Denn dein ist die Herrlichkeit und die Kraft, durch Jesus Christus in Ewigkeit. 5. Niemand aber esse und trinke von eurer Eucharistie als die, die auf den Namen des Herrn getauft sind. Denn darüber hat der Herr gesagt: „Gebt nicht das Heilige den Hunden!“48 10,1. Wenn ihr euch gesättigt habt, dankt so: 2. Wir danken dir, heiliger Vater, für deinen heiligen Namen, dem du in unseren Herzen eine Wohnung bereitet hast, und für die Erkenntnis und den Glauben und die Unsterblichkeit, die du uns durch Jesus, deinen Knecht, kundgemacht hast. Dir sei die Herrlichkeit in Ewigkeit. 3. Du, Herr, Allherrscher, hast das All geschaffen um deines Namens willen. Speise und Trank hast du den Menschen zum Genuß gegeben, damit sie dir danken. Uns aber hast du geistliche Speise und Trank 49 geschenkt durch deinen Knecht. 4. Für alles danken wir dir, weil du mächtig bist. Dir sei die Herrlichkeit in Ewigkeit. 5. Gedenke, Herr, deiner Kirche, sie von allem Bösen zu erretten und sie in deiner Liebe zu vollenden, und sammle sie, die Geheiligte, von den vier Winden in dein Reich, das du ihr bereitet hast. Denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. 6. Es komme die Gnade, und es vergehe diese Welt! Hosanna dem Gott Davids50. Ist jemand heilig, trete er herzu! Ist er es nicht, tue er Buße. Maranatha. Amen61. Die Propheten aber laßt Dank sagen, so viel sie wollen 52 . 11,1. Wenn nun einer kommt und euch all das bisher Gesagte lehrt, nehmt ihn auf! 2. Wenn sich aber der Lehrer selbst abwendet und eine andere Lehre lehrt, (die) zur Auflösung (führt), so hört nicht auf ihn! (Wenn er aber lehrt) zur Mehrung der Gerechtigkeit und der Erkenntnis des Herrn, nehmt ihn auf wie den Herrn! 3. Zu den Aposteln und Propheten. Handelt gemäß der Satzung des Evangeliums so: 4. Jeder Apostel, der zu euch kommt, soll aufgenommen werden wie der Herr. 5. Er soll aber nur einen Tag bleiben, nötigenfalls auch noch den zweiten. Wenn er aber drei (Tage) bleibt, ist er ein falscher Prophet. 6. Zieht der Apostel weiter, soll er nichts mitnehmen als Brot bis zum (nächsten) Übernachten. Wenn er um Geld bittet, ist er ein falscher Prophet. 7. Und jeden Propheten, der im Geist redet53, sollt ihr nicht auf die Probe stellen und kritisieren. Denn jede Sünde wird vergeben werden, aber diese Sünde wird nicht vergeben werden54. 8. Aber nicht jeder, der im Geist redet, ist ein Prophet55; (er ist es) nur, wenn er die Lebensweise des 48 50 52 53 54 55

49 Vgl. 1. Kor. 10,3 f. Mt.7,6. 51 Vgl. 1. Kor. 16,22. Vgl. Mt. 21,9. Sie sind nicht an Wortlaut und Umfang der mitgeteilten Gebete gebunden. Vgl. zum Folgenden 1. Kor. 14. Vgl. Mt. 12,31. Es gibt auch dämonische Ekstasen; vgl. 1. Kor. 12,1-3.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Beilagen (Quellen)

155

Herrn übt. An der Lebensweise wird also der falsche Prophet und der Prophet erkannt. 9. Und jeder Prophet, der im Geist einen (gedeckten) Tisch bestellt, ißt selbst nicht davon; sonst ist er ein falscher Prophet. 10. Jeder Prophet, der die Wahrheit lehrt, aber nicht tut, was er lehrt, ist ein falscher Prophet... 14,1. Am Herrentag sollt ihr zusammenkommen, Brot brechen und danken, nachdem ihr zuvor eure Sünden bekannt habt, damit euer Opfer rein sei. 2. Jeder aber, der mit seinen Genossen Streit hat, soll nicht mit euch zusammenkommen, bis sie sich versöhnt haben, damit euer Opfer nicht entweiht w e r d e . . . 15,1. Wählt euch also Bischöfe und Diakonen . . . 2 . . . . Denn sie sind eure Gelehrten samt den Propheten und Lehrern. 3. Weist einander zurecht, nicht im Zorn, sondern im Frieden, wie ihr es im Evangelium habt. Und mit jedem, der sich gegen den anderen vergeht, soll niemand sprechen, noch soll er (ein Wort von) euch hören, bis er Buße tut. b) Ein Gebet (l.Clem. 59-61) 56 59,2 Wir werden . . . mit ständigem Bitten und Flehen beten, der Schöpfer des Alls möge die gezählte Schar seiner Erwählten in der ganzen Welt unversehrt erhalten durch seinen geliebten Knecht Jesus Christus, unseren Herrn, durch den er uns berufen hat aus der Finsternis ins Licht57, aus der Unkenntnis in die Erkenntnis der Herrlichkeit seines Namens, 3. (Anrufung)58 daß wir auf deinen Namen hoffen, den Urgrund aller Schöpfung, der du die Augen unseres Herzens geöffnet hast, daß wir dich erkennen, den einzigen Höchsten unter Höchsten, den Heiligen, der unter Heiligen ruht59 der den Stolz der Hoffärtigen demütigt60 der die Pläne der Heiden vereitelt61, der die Demütigen erhebt und die Erhabenen demütigt62, der reich macht und arm macht, der tötet und lebendig macht63, den einzigen Wohltäter der Geister und den Gott alles Fleisches64, der in die Unterwelt hineinspäht65, der die Werke der Menschen überwacht, den Helfer der Gefährdeten, den Retter der Verzweifelten, 56 Das Gebet ist durch zahllose Anspielungen auf das Alte Testament geprägt. Im ersten Teil sind dafür Beispiele gegeben. 57 Vgl. Apg. 26,18; l.Petr.2,9. 58 Beginn des Gebets (Übergang in die 2. Person). 59 Jes. 57,15. 60 Tes. 13,11. 61 Ps. 32,10. 62 l.Sam.2,7; Hi.5,11; Lk.1,52. 63 5. Mose 32,39. 64 4. Mose 16,22; 27,16. 65 Dan. 3,55.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

156

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

den Schöpfer und Aufseher jedes Geistes, der du die Völker auf der Erde zahlreich machst und aus allen die erwählt hast, die dich lieben, durch Jesus Christus, deinen geliebten Knecht, durch den du uns erzogen, geheiligt, geehrt hast. 4. (Bitte) Wir bitten dich, Herrscher, unser Helfer und Beschützer zu sein. Unsere Bedrängten rette, die Gefallenen richte auf, den Betenden zeige dich, die Kranken heile, die Irrenden deines Volkes führe zurück. Sättige die Hungernden, löse unsere Gefangenen, mache die Kranken gesund, tröste die Kleinmütigen. Alle Völker sollen erkennen, daß du allein Gott bist und Jesus Christus, dein Knecht, und wir dein Volk und die Schafe deiner Weide (sind). 60,1. (Neue Anrufung) Du hast die ewige Weltordnung durch die wirkenden Kräfte offenbart. Du, Herr, hast die Erde geschaffen, der du treu bist in allen Geschlechtern, gerecht in den Gerichten, wunderbar in Stärke und Majestät, weise, zu schaffen, und klug, das Geschaffene zu erhalten, gut in dem, was sichtbar ist, und mild für die, die auf dich vertrauen. (Bitte) Barmherziger und Mitleidvoller! Vergib uns unsere Vergehen, Ungerechtigkeiten, Übertretungen und Verfehlungen. 2. Rechne deinen Knechten und Mägden keine Sünde an, sondern reinige uns mit der Reinigung deiner Wahrheit, und mache unsere Schritte gerade, daß wir in Reinheit des Herzens wandeln und tun, was gut und wohlgefällig vor dir und unseren Gebietern ist. 3. Ja, Herrscher, laß dein Antlitz über uns leuchten zum Wohl in Frieden, daß wir durch deine starke Hand beschirmt und durch deinen erhabenen Arm vor jeder Sünde bewahrt werden, und bewahre uns vor denen, die uns ungerecht hassen. 4. Gib Eintracht und Frieden uns und allen Bewohnern der Erde, wie du sie unseren Vätern gegeben hast, als sie dich fromm in Glauben und Wahrheit anriefen. Laß uns deinem allmächtigen und vortrefflichen Namen und unseren Gebietern und Vorgesetzten auf Erden gehorsam sein. 61,1. Du, Herrscher, hast ihnen kraft deiner erhabenen und unaussprechlichen Macht die Herrschergewalt gegeben, daß wir die Herrlichkeit und Ehre erkennen, die du ihnen gegeben hast, und uns ihnen unterordnen, in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Beilagen (Quellen)

157

nichts deinem Willen zuwider. Gib ihnen, Herr, Gesundheit, Frieden, Eintracht, Festigkeit, daß sie die Herrschaft ohne Fehl ausüben, die du ihnen gegeben hast. 2. Denn du, himmlischer Herrscher, König der Äonen, gibst den Menschenkindern Herrlichkeit und Ehre und Macht über das, was auf Erden ist. Du, Herr, lenke ihren Willen auf das, was vor dir gut und wohlgefällig ist, daß sie in Frieden und Milde die Macht fromm ausüben, die du ihnen gegeben hast, und deine Huld gewinnen. 3. Der du allein imstande bist, dies und noch viel mehr Gutes an uns zu tun, dich preisen wir durch den Hohenpriester und Beschützer unserer Seelen, Jesus Christus, durch den dir die Herrlichkeit und Majestät sei jetzt und in alle Geschlechter und in Ewigkeit. Amen. c) Der Gottesdienst (Justin, Apologie I 65-67) Zusammenhang: Die Taufe. Der Getaufte wird in die Versammlung der Brüder geführt, die für ihn und für alle beten.

65,2. Ist das Gebet beendet, grüßen wir uns mit dem Kuß66. 3. Darauf wird dem Vorsteher der Brüder Brot und ein Becher mit Wasser und Wein gebracht. Er nimmt es und sendet dem Allvater durch den Namen des Sohnes und des heiligen Geistes Lob und Preis empor und spricht eine lange Danksagung dafür, daß wir von ihm dieser Gaben gewürdigt wurden. Hat er die Gebete und die Danksagung beendet, stimmt das ganze, anwesende Volk zu mit dem Wort „Amen“ . . . 5. Nach der Danksagung des Vorstehers und der Zustimmung des ganzen Volkes teilen die, die bei uns „Diakonen“ genannt werden, jedem Anwesenden von dem Brot, Wein und Wasser mit, wofür Dank gesagt wurde, und bringen davon auch den Abwesenden. 66,1. Diese Speise heißt bei uns „Eucharistie“. Niemand darf daran teilhaben, als wer unsere Lehren für wahr hält und das Bad für die Vergebung der Sünden und die Wiedergeburt empfangen hat und nach den Weisungen Christi lebt.. . 67,3. Am sogenannten Sonntag findet eine Versammlung aller, in Stadt und Land, statt. Dabei werden die Denkwürdigkeiten der Apostel oder die Schriften der Apostel - ein angemessener Abschnitt - vorgelesen. 4. Wenn dann der Vorleser aufgehört hat, hält der Vorsteher eine Ansprache zur Erbauung und Ermahnung, diesem Guten nachzueifern. 5. Darauf erheben wir uns alle gemeinsam und senden Gebete empor. Und, wie schon erwähnt, nach dem Gebet wird Brot, Wein und Wasser herbeigebracht.. . (s.o.). d) Christlich-gnostische Dichtung (Oden Salomos, Ode 6; Übersetzung von Walter Bauer) Wie die Hand durch die Zither wandert und die Saiten tönen, so tönt in meinen Gliedern der Geist des Herrn, und ich ertöne in seiner Liebe. 66

Vgl. 1. Kor. 16,20. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

158

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Denn er vernichtet, was fremd; und alles ist des Herrn. Denn so war es von Anfang an und bis ans Ende, daß nichts entgegen sein soll, und nichts sich erhebe gegen ihn. Es mehrte seine Erkenntnis der Herr, und er bemühte sich, daß erkannt würde, was durch seine Güte uns geschenkt ward. Und seinen Lobpreis gab er uns für seinen Namen; unsere Geister preisen seinen heiligen Geist. Denn entsprungen ist ein Bach und wurde ein großer und breiter Strom; denn er hat alles überschwemmt und fortgetragen den Tempel. Und nicht vermochten ihn zu hemmen die Hemmnisse der Menschen, und auch nicht die Künste derer, die das Wasser hemmen. Denn er gelangte über die Oberfläche der ganzen Erde, und er erfüllte alles. Und es tranken alle Durstigen auf Erden, und der Durst wurde gestillt und erlosch. Denn vom Höchsten wurde der Trank gegeben. Heil drum den Dienern jenes Trankes, ihnen, denen das Wasser anvertraut ist! Sie haben erquickt die trockenen Lippen, und den versagenden Willen haben sie aufgerichtet. Und die Seelen, die dem Abscheiden nahe waren, haben sie dem Tode abgejagt. Und die Glieder, die gefallen waren, haben sie geradegerichtet und aufgestellt. Sie haben Kraft verliehen, daß sie kommen können, und Licht für ihre Augen. Denn jedermann hat sie erkannt im Herrn, und sie leben durch das Wasser ein Leben für die Ewigkeit. Hallelujah! 12. Das älteste Verzeichnis der kanonischen Schriften („Kanon Muratori“) Dieses Fragment einer Handschrift des 8. Jahrhunderts wurde 1740 von dem italienischen Gelehrten Muratori herausgegeben. Es ist aus dem Griechischen in greuliches Latein übersetzt und barbarisch abgeschrieben; es kann teilweise nicht sicher übersetzt werden. Entstanden ist der Kanon, wie aus ihm selber zu ersehen ist, um das Jahr 200. Lateinischer Text: H.Lietzmann, Das muratorische Fragment, Kleine Texte 1, 1921; E.Preuschen, Analecta II, Zur Kanonsgeschichte, Sammlung ausgew. Kirchenund dogmengeschichtlicher Quellenschriften, 1. Reihe H. 8,1910, 27 ff. Übersetzt: Lietzmann (s.Lit. zu Ausblick) 52 ff.; Hennecke-Schneemelcher (s. ebd.) Bd. 1 S. 19 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Beilagen (Quellen)

159

Der Anfang ist verloren. Doch kann erschlossen werden, daß er sich mit dem Matthäus- und Markusevangelium befaßte, da er das Lukasevangelium als das dritte einführt.

. . . bei denen er (Markus!) doch anwesend war und es so aufstellte. Das dritte Evangelienbuch nach Lukas. Dieser Arzt Lukas verfaßte es nach der Himmelfahrt Christi, als ihn Paulus als einen Rechtskundigen zu sich genommen hatte, unter seinem Namen nach der Ansicht (des Paulus). Doch hat auch er den Herrn nicht im Fleisch gesehen, und daher beginnt er so zu erzählen, wie es ihm erreichbar war, nämlich von der Geburt des Johannes an. Das vierte der Evangelien ist von Johannes, einem der Jünger. Als ihn seine Mitjünger und Bischöfe aufforderten, sagte er: Fastet mit mir von heute an drei Tage, und was jedem offenbart wird, wollen wir einander erzählen. In derselben Nacht wurde Andreas, einem der Jünger, offenbart, Johannes solle alles in seinem Namen niederschreiben, und alle sollten es überprüfen. Und deshalb, obwohl in den einzelnen Evangelienschriften verschiedene Anfänge dargelegt werden, macht das doch für den Glauben der Gläubigen keinen Unterschied, da alles in allen durch den einen, maßgeblichen Geist erklärt ist: Geburt, Leiden, Auferstehung, Verkehr mit seinen Jüngern und seine zweifache Ankunft, zuerst verachtet in Niedrigkeit, was schon geschehen ist, zum zweiten Mal in königlicher Macht herrlich, was noch bevorsteht. Was ist es also verwunderlich, daß Johannes die Einzelheiten so übereinstimmend auch in seinen Briefen vorträgt, da er von sich selbst sagt: „Was wir mit unseren Augen sahen und mit unseren Ohren hörten und was unsere Hände betasteten, das schrieben wir euch“ (l.Joh. 1,1 ff.). Denn so bekennt er sich nicht nur als Augen- und Ohrenzeuge, sondern auch als Schriftsteller aller Wunder des Herrn, der Reihe nach. Die Taten aller Apostel aber sind in einem Buch beschrieben. Lukas faßt für den „besten Theophilus“ (vgl. Lk. 1,1; Apg. 1,3) zusammen, was in seiner Anwesenheit im einzelnen geschah, wie er es deutlich dartut, indem er nicht nur das Leiden des Petrus wegläßt, sondern auch die Reise des Paulus von Rom nach Spanien. Die Briefe des Paulus aber erklären dem Wißbegierigen selbst, von welchem Ort und aus welchem Anlaß sie verfaßt sind. Zuallererst schrieb er an die Korinther, denen er die häretische Spaltung untersagte, dann an die Galater, denen er die Beschneidung (untersagte); den Römern prägt er ausführlicher die Regel der Schrift ein und daß Christus ihr Prinzip sei. Über diese müssen wir im einzelnen sprechen, da der selige Apostel Paulus selbst - darin folgte er der Regel seines Vorgängers Johannes (die sieben Briefe Offb.2 f., s.u.) - mit Nennung des Namens nur an sieben Gemeinden schreibt, in folgender Reihenfolge: an die Korinther der erste, an die Epheser der zweite, an die Philipper der dritte, an die Kolosser der vierte, an die Galater der fünfte, an die Thessalonicher der sechste, an die Römer der siebente. Aber wenn auch an die Korinther und Thessalonicher zur Zurechtweisung nochmals geschrieben wird, so erkennt man doch, daß eine Gemeinde über den ganzen Erdkreis verstreut ist. Denn auch Johannes schreibt in der Offenbarung an sieben Gemeinden, redet aber zu allen. Aber © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

160

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

einen an Philemon und einen an Titus und zwei an Timotheus, aus Zuneigung und Liebe. Doch sind sie zur Ehre der katholischen Kirche zur Ordnung der kirchlichen Disziplin heilig gehalten. Es geht auch einer an die Laodizener, ein anderer an die Alexandriner um; sie sind unter dem Namen des Paulus für die Sekte des Marcion gefälscht; und vieles andere, was nicht in die katholische Kirche aufgenommen werden kann. Denn es geht nicht, daß Galle und Honig gemischt werden. Doch werden ein Brief des Judas und zwei mit der Überschrift (?) „Johannes“ in der katholischen Kirche festgehalten und die Weisheit, die von Freunden Salomos zu seiner Ehre geschrieben ist. An Offenbarungen anerkennen wir nur die des Johannes und Petrus; die letztere wollen einige von uns nicht in der Kirche lesen lassen. Aber den „Hirten“ verfaßte vor kurzem, zu unseren Zeiten, in der Stadt Rom Hermas, als auf dem Bischofsstuhl der Stadt Rom der Bischof Pius, sein Bruder, saß. Und darum soll man ihn zwar lesen; aber öffentlich in der Kirche dem Volk vorlesen kann man ihn nicht, weder unter den Propheten, denn deren Zahl ist abgeschlossen, noch unter den Aposteln am Ende der Zeiten. (Es folgt eine undurchsichtige und z.T. irrige Bemerkung über Ketzer, deren Schriften nicht anerkannt werden.)

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Literaturverzeichnis A. Gesamtdarstellungen Allgemeinverständlich E. v. Dobschütz, Probleme des apostolischen Zeitalters, (1904) 2. Aufl. 1917 A.Schlatter, Die Geschichte der ersten Christenheit, 1926 H.Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche, Band 1, (1932) 3. Aufl. 1953 R.Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, (1949), jetzt in: Rowohlts Deutscher Enzyklopädie Band 157/8 Wissenschaftlich C.Weizsäcker, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche, (1886) 3. Aufl. 1901 R.Knopf, Das nachapostolische Zeitalter, 1905 J.Weiß, Das Urchristentum, 1917 E. Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums, 3 Bände, 1921/23 A.v.Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 2 Bände, 4. Aufl. 1924 M. Goguel, La naissance du christianisme, 1946 Ders., L'église primitive, 1947 L. Goppelt, Die apostolische und nachapostolische Zeit, 2. Aufl. 1966 F. V. Filson, Geschichte des Christentums in neutestamentlicher Zeit, 1968 Für das Neue Testament sei auf die Einleitung zu den einzelnen Schriften im NTD verwiesen, für Personen und Sachen auf die einschlägigen Artikel in den Sach Wörterbüchern: Evangelisches Kirchenlexikon, 3 Bände und Registerband, 1956-61 Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 6 Bände und Registerband, 3. Aufl. 1957-65 Biblisch-Historisches Handwörterbuch, 3 Bände, 1962-66 Kommentare zur Apostelgeschichte Allgemeinverständlich G. Stählin, Die Apostelgeschichte, NTD 5, 2. Aufl. 1967 Wissenschaftlich F. J.Foakes Jackson and K.Lake, The Beginnings of Christianity, 5 Bände, 1920-33 E.Haenchen, Die Apostelgeschichte, 5. Aufl. 1965 H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, 1963 B. Zu einzelnen Themen I.KAPITEL: DIE QUELLEN

Die Apostolischen Väter sind übersetzt in: E. Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen, 2. Aufl. 1924 Sie sind übersetzt und erklärt (nicht allgemeinverständlich) in: Handbuch zum Neuen Testament, Ergänzungsband I: Lehre der zwölf Apostel und die beiden Clemensbriefe 11 Conzelmann, Geschichte

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

162

von R.Knopf, 1920; II: Briefe des Ignatius, Polykarpbrief von W.Bauer, 1920; III: Barnabasbrief von H. Windisch, 1920; IV: Hirt des Hermas von M.Dibelius, 1923 Erster Clemensbrief, Briefe des Ignatius und Polykarpbrief in: Die Apostolischen Väter, eingel., hrsg., übertr. und erl. von J . A. Fischer, 1958 II. KAPITEL: ZEITRECHNUNG

Wissenschaftlich J . Finegan, Handbook of Biblical Chronology, 1964 III. KAPITEL: DIE ANFÄNGE

Allgemeinverständlich W. Marxsen, Die Auferstehung Jesu von Nazareth, 1968, S. 83 ff.

Wissenschaftlich O. Cullmann, Petrus, 2. Aufl. 1960 G. Klein, Die zwölf Apostel, 1961 J . Roloff, Apostolat - Verkündigung - Kirche, 1965 IV. KAPITEL : DIE URGEMEINDE

Wissenschaftlich H. v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, 1953 E. Schweizer, Gemeinde und Gemeindeordnung im Neuen Testament, 2. Aufl. 1962 V. KAPITEL: DIE AUSBREITUNG BIS ZUM APOSTELKONZIL

A. v. Harnack (s. o.) VI. KAPITEL: DAS HELLENISTISCHE CHRISTENTUM VOR PAULUS

Bultmann (s.o.)

Wissenschaftlich W.Bousset, Kyrios Christos, 2. Aufl. 1921 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 6. Aufl. 1968, S. 66 ff. VII. KAPITEL: PAULUS

Allgemeinverständlich M.Dibelius-W.G.Kümmel, Paulus, Sammlung Göschen Band 1160, 3.Aufl. 1964 VIII. KAPITEL: DAS APOSTELKONZIL

Die Kommentare zur Apostelgeschichte und zum Galaterbrief. Gal.: P. Althaus, NTD 8, 2. Aufl. 1965 IX. KAPITEL: PAULUS UND SEINE GEMEINDEN

s. zum IV. Kapitel © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Literaturverzeichnis

163

XL KAPITEL: DIE KIRCHE BIS ZUM ENDE DES ERSTEN JAHRHUNDERTS und XII. KAPITEL: DIE KIRCHE UND DIE WELT

Wissenschaftlich W. Marxsen, Der „Frühkatholizismus“ im Neuen Testament. 1958 W.Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, 2. Aufl. mit einem Nachtrag von G. Strecker 1964 L. Goppelt, Christentum und Tudentum im ersten und zweiten Tahrhundert, 1954 J . Moreau, Die Christenverfolgung im römischen Reich, 1961 XIII. KAPITEL: DAS JUDENCHRISTENTUM NACH DEM JÜDISCHEN KRIEG

Wissenschaftlich H.-J. Schoeps, Theologie und Geschichte des Judenchristentums, 1949 AUSBLICK: DIE ENTSTEHUNG DES NEUTESTAMENTLICHEN KANONS

Allgemeinverständlich H. Lietzmann, Wie wurden die Bücher des Neuen Testaments heilige Schrift?, 1907 Wissenschaftlich Th.Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons, 2 Bände, 1888-92 J . Leipoldt, Geschichte des neutestamentlichen Kanons, 2 Bände, 1907/08 H. v. Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, 1968 Die apokryphen Schriften sind übersetzt in: E. Hennecke-W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, 2 Bände, 3. Aufl. 1959/64

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Personen- und Sachregister (Auswahl) Das Register enthält nur Angaben, die nicht aus dem Inhaltsverzeichnis zu ersehen sind. Abendmahl (vgl. Mahlzeiten) 61 f. Ägypten (Alexandria) 97 f. Älteste 62, 93, 98 ff. Altes Testament 120 ff. Amt 62 f., 90, 98 ff. Antiochia 51, 74, 96 Apostel 28, 41 f. Apostelgeschichte 4, 12 f., 21 ff., 75 ff., 79 ff. Apostelkonzil 20, 47 f. Apostolisches Zeitalter 5 ff. Apostolische Väter 13 ff. Athen 81 Barnabas 45, 52, 74, 96 Barnabasbrief 16 Bekenntnis(se) 30 ff., 54 f. Beröa 81 Bischofsamt 98 ff. Clemensbrief, Erster 14 f. sog. Zweiter 16 Didache (Lehre der zwölf Apostel) 13 f., 99 Domitian 112, 118 Ebionäer 119 Ebionäerevangelium 117 Epheserbrief 102 Ephesus 82 f. Frühkatholizismus 8 f. Galatien 76, 85 Gottesdienst 37 ff., 59 f., 91, 101 Häresie 105 ff. Hebräerbrief 103 Hebräerevangelium 117 Hellenisten 42 ff., 47 Herodes d. Gr. 18 (Herodes) Agrippa I. 19, 47 f. „Herr“ 55 Hirt des Hermas 16 f. Ignatius von Antiochia 15 f., 95 f., 99, 103 f.

Jakobus (Bruder Jesu) 28, 41 f., 92 ff. Johannesbriefe 100, 103, 106 Johannesevangelium 103, 139 Kirchenordnung 98, 100 f. Kollekte 71 f. Kolosserbrief 102 Korinth 81 f., 86 ff. Mahlzeiten (vgl. Abendmahl) 38 f. Nazaräer 119 Nazaräerevangelium 117 Nero 111 Ostergeschichten 28 f. Papias von Hierapolis 17 Pastoralbriefe 102, 106 Petrus 27 f., 29 f., 74,92, 97 Petrusbriefe 103 Pharisäer 46 Philippi 80 Philippus (Evangelist) 43 f., 96 Plinius d.J. 96, 112 f. Polykarp von Smyrna 16, 95 Predigt (Formen) 60 f. Rom 96 f. Sadduzäer 46 Sakramente s. Abendmahl, Taufe Samaria 50 f. Silas/Silvanus 142 Simon der Magier 57, 108 Stephanus 23, 43 f. Taufe 35 f., 61 Thessalonich 80 Thessalonicherbrief, Zweiter 102 Timotheus 142 Titus 142 Tradition 102, 105 Verfolgung 45 ff., 109 ff.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Register der neutestamentlichen Stellen Matthäus 2,1 ff. 4,24 f. 5,3-10 5,21-48 5,44 6,5 6,9-13 6,16 7,6 9,9 10 10,2 10,3 10,5 f. 10,23 10,32f. 14,28-33 16,17-19 16,17 16,18 18,17 18,20 21,9 21,41. 43 22,7 23,15 26,15 27,3-10 28,9f. 28,16-20

18 49 34 123 113 153 A44 39, 153 A 45 f. 101, 153 A 42 154 A 48 130, 143 49 130 130, 143 32, 49 113 33 131 27, 29, 118, 136f. 130, 132 35 35 37 154 A 50 50 13 60 132 132 28 28, 36, 153 A 40

Markus 1,5 1,8 1,16-20 1,21-28 1,29-31 2,14 3,7f. 3,16f. 3,18 3,21.31 6,3 6,8 8,27-33 8,27-29 8,29 8,38

36 35 130, 131, 132, 138 129 132 130 49, 51 130, 138 143 28 137 34 133 129 32 33, 133

10,35-45 10,39 12,17 12,29 13 13,9 13,14ff. 13,14 13,22.27 14,10 14,13 15,34 16,7

129, 139 47, 139 114 31 47 45 94 13 35 132 130 121 28

Lukas 1,1-4 1,1 1,5 1,46-55 1,68-79 2,1 3,1 4,16ff. 5,1-11 6,14 6,17 6,20-49 9-10 9,26 9,26 10,30-37 11,2-4 12.8 f. 16,19-31 17,16 12.20 22,8 23,4.14.22 24 24,21 24,25-27 24,34 24,44-47 24,46-49 24,47

123, 125 159 18 34, 35, 61, 155 A 62 61 18 18, 126 37, 121 132 130 49,51 39 49 49 33 51 39 33 32,34 51 13 130 109 21, 28 26 121 26,27 121 28 21

Johannes 1,6-8. 19-23 1,35-51

107 130, 138

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

166 1,40 1,42 1,44 3,18 f. 4,1-42 5,24 5,27-29 6,39 ff. 10,1-16 10,9 12,6 19,26f. 20 20,1-10 20,24-29 21 21,1-14 21,18f. 21,20-23 21,24

Register der neutestamentlichen Stellen 132 130, 132 132 103 51 103, 106 103 103 100 146 A 12 132 140 28,29 118 131 118, 139 28,29 13, 137 139 29,103

Apostelgeschichte 1,3 1,4-11 1,8 1,13 1,15-26 2 2,14-36 2,21 2,36 2,41 2,42-47 2,42 2,43 2,44f. 2,46 2,47 3,1 ff. 4,1-22 4,4 4,13 4,26 4,32 4,36 f. 5,1-11 5,11 5,12-16 5,14 5,17-42 5,26ff. 5,34 5,41 6,1-6

159 21,28 23, 28, 50 130 21, 40, 132, 134 21, 24, 36 60 SS SS 22,49 36 22,38 22 24 38 3,22 22, 134 22, 24, 46, 109 22 131 SS 24 24, 52, 140 22, 134 22 21, 134 49 22, 24, 46, 109 134 46 22 23, 25, 40-43

6,1 6,5 6,7 6,8-7,59 6,9 6,13 f. 7 7,58 8 8,1-4 8,1 8,9 ff. 18 ff. 8,10 8,14ff. 8,40 9,1-19 9,1 f. 9,2 9,10-19 9,17f. 9,23 f. 9,26 ff. 9,29 10 11,1-18 11,19-30 ll,19f. 11,22 11,25 f. 11,26 11,27-30 11,27 f. 11,30 12,1-3 12,3-17 12,12 12,17 12,20-23 12,23 13-14 13,1-3 13,1 13,46 13,50 14,4 14,5 14,14 14,19 14,22 14,23 15,1-29 15,5 15,6 15,10

8,42 52, 131 49 22,23 42 44 43f., 61, 121 47,64 22, 23, 43, 50, 131 24 23, 50 57, 108 108 41 44, 50 23 45 10 66 101 148 A17 24, 141 148 A 17 23, 44, 51, 134 23 44, 51 134 52 6 1 ,141 51, 109 67, 68, 93, 140 36, 52 40, 67, 93 17, 19, 46, 47, 67, 92, 109,131 135 144 92 67, 145 A 1.4 47 23, 52, 67, 76 62, 67, 101 52, 140 79 109, 148 A 17 140 109f., 148 A 17 140 109f., 148 A 17 22, 113 62 12, 23, 47, 67-71, 93 42 40 72

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

167

Register der neutestamentlichen Stellen 15,14 15,19.20 15,22 15,29 15,32 15,36-39 15,39 16,1-3 16,4 16,6-10 16,6 16,16-24 16,18 17,1 ff. 17,7 17,10 ff. 17,18 17,22-31 17,34 18,2 18,3 18,5 18,6f. 9f. 11 18,12-17 18,18-19,7 18,18-22 18,22 18,23 18,24-28 19,1-7 19,9 19,23-40 20,1 ff. 20,1 20,4 20,7 20,16f. 20,17-35 20,29f. 21,3.7 21,8-10 21,15 ff. 21,20 21,25 21,27 ff. 21,39 22,1-21 22,3 22,28 23-26 23,2 23,6 ff. 24,14 24,17 24,27

132 72 40 72, 152 A 29 142 74, 141 76,96 143 40 79 75 110,148 A 17 80 80 110 81 56f. 61, 81 81 81, 145 A 6 77 81 82 110 82 79 74,92 75 76, 108, 141 76, 82, 108 83 83, 110 88 83 81 101 84 61,89 23,76 51 36, 43, 63, 131 f. 23, 41, 92, 93 49,76 72 152 A 31 64 23 47,65 65 20 20 47 34 71,92 83

26,1-20 26,4 26,18 26,26 27,3 28,13 f.

23 65 155 A 57 3 51 97

Römerbrief 1-2 1,3 f. 3,30 3,31 7,5 f. 7,7-25 8 8,15 9-11 9,7-13 10,5-13 10,9 11,36 12,14 13,1-7 14,14.20 15,19 15,20 15,23 15,24 15,25 f. 15,28 15,30f. 16 16,3 16,17-20 16,21-23 16,27

64 32 31 122 61 61 61 37 71,79 121 122 32 60 113 91, 114 106 52, 78, 83 f. 78 83 f. 78, 148 A 18 35, 71, 72 78 88, 93, 94 82,97 82 84,97 82 60

1. Korintherbrief 1,2 1,5 1,11 1,12 1,14-16 1,26-29 2,3 3,4 ff. 4,12 4,17 77, 5,9 5,11 6,12 7 7,1 7,5 7,8

55 87 86,91 82, 135 36, 81 90 81 82,84,87, 141, 142 77 88, 142 86 151 A 26 87 91 86 91 90

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

168 7,10-17 7,10 7,20 7,21-24 7,29.31 8-10 8,1 ff. 8,6 8,11 9,1-18 9,5 9,6 9,19-23 9,20f. 9,24-27 10,1-13 10,3 f. 10,16f. 10,21 f. 10,23 10,25-31 11,2-16 ll,20 ff. 11,23 ff. 11,26 12-14 12,2 12,3 12,4 ff. 12,9 f. 12,28 14 14,24 14,33 a 14,33 b-36 14,40 15,3-5 15,6-8 15,7 15,32 16,1-4 16,2 16,10 16,12 16,15 16,16 16,17 16,19 16,20-23 16,20 16,22

Register der neutestamentlichen Stellen 91 123 70 90 91 73 87 31, 55, 58 61 50, 77, 92 41, 74, 16, 132, 135 74,96, 140,141 78,82 70,71 148 A 21 121 61, 154 A 49 38,61 56 87 106 63 38 55,62,66,123 62 7 82, 154 A 55 55, 91, 105 90 52 37, 62, 90 89,91, 153 A 53 52, 90 89 63 89 23,26,31,32,87,105,121 28 137 79, 83 88,90 37, 101 88 82, 87, 142 81 90 86, 88 82, 83 37, 62 157, A 66 37, 154 A 51

2. Korintherbrief 1,1-2,13.7,5-16 88 1,1 78

1,3-11 1,8 2,1 2,4 2,12 3 5,316 7,6 8-9 8,1 ff. 8,9 8,18ff. 9,3 ff. 10-13 10,10 11-12 11,5 11,7-10 11,9 ll,22ff. 11,24 11,28 ll,32f. 12,1-4 12,11 12,14 13,1 Galaterbrief 1-2 1,2 1,14 ff 1,15 1,17 1,18 1,19 1,21 1,22 2,1-10 2,2 2,3 2,4 2,6-10 2,7f. 2,9 2,10 2,11 ff. 2,12 2,21 3-4 3,6-14 3,13 4,3

88 79, 83, 110 88 86 84, 88 65 65 77 77, 81, 88 80,90 72 77 77 36, 54, 88 88 66 93 77 80, 81 63, 79f., 83, 110, 148 A 17 45,79 11 25,66 65 93 88 88 20,67 75 44 66, 68 25, 66 134 137 53 47, 65 10, 11, 41, 47, 85, 93 69, 85 68, 142 42,69, 85 70,72,137 41 40, 47, 69, 148 A 16 35, 88 41,52,54,74,92,93 135, 141, 144 137f. 85 11 123 66 85

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

169

Register der neutestamentlichen Stellen 4,4 4,9 f. 4,24 5,4

3 85 121 85

ff.

84 90 91

1. Timotheusbrief

Epheserbrief 2,5 ff. 2,11-22 2,20 4,4-6 5,19 6,10

4,13-18 5,12 5,19

106 100 123 100 60 113

l,9f. 2,1 f. 2,11 f. 3,8-13 4,13.14 5,1 5,3-16

151 A 26 114 63 99 101 98 99

Philipperbrief 1,1 l,12ff. 1,14-18 2,6-11 2,11 3,2 ff. 3,2 3,5 3,14 3,20 4,5 4,10ff. 4,16

90, 99 89 84 56, 58 55 65,84 80 64 148 A 21 55, 113 55, 91 77, 80 80

Kolosserbrief 1,7 2,12 3,5-4,1 3,16 4,10 4,11 4,12 4,13 4,14

1,6 2,18 3,16f. 4,10 4,11 4,19

101 105 121 142 144 97

Titusbrief 1,5 1,15

142 106

Philemonbrief 77 106 61 60 144 64 77 83 144

1. Thessalonicherbrief 1,1 1,6 1,8 2,1 ff. 2,2 f. 2,2 2,9 2,14f. 2,14 2,18 3,1 ff. 3,6 ff. 4,1

2. Timotheusbrief

142 110 80 60 80 80, 110 77 94 50, 80 79 81 80 80

2 9 23 24

91 64 77 144

Hebräerbrief 6,2 10,25.37 11

101 103 61, 121

Jakobusbrief 5,14

101

1. Petrusbrief 1,1 2,9 2,13f. 3,15 4,1.12 f. 5,12 5,13

11,14 155 A 57 114 114 113 142 134, 136, 144

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

170

Register der neutestamentlichen Stellen

2. Petrusbrief 1,1 1,21 3,1 3,2 3,15f.

132 121 13 123 13, 124

1. Johannesbrief 1,1 ff.

159

Offenbarung 1,9 1,10 2-3 4,6 ff. 6,10 11,3-13 13,17-18 19,2 22,20

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

139 101 11, 95, 159 126, 143 115 136 115 115 37

Inhalt Vorbemerkung

1

Einleitung: Geschichte und Geschichtsbild

2

I. Kapitel: Die Quellen 1. 2. 3. 4.

10

Die Laee Das Neue Testament Quellen außerhalb des Neuen Testaments Weitere Nachrichten

.

10 11 13 17

II. Kapitel: Zeitrechnung

17

III. Kapitel: Die Anfänge

21

1. Das überlieferte Bild der Urgemeinde 2. Die Prüfung des Bildes 3. Die Stiftung der Kirche IV. Kapitel: Die Urgemeinde 1. Der Glaube 2. Die Formen des Gemeindelebens 3. Gruppen und Strömungen 4. Die Stellung der Kirche in der

21 23 26

Öffendichkeit

30 30 35 42 45

V. Kapitel: Die Ausbreitung bis zum Apostelkonzil

49

VI. Kapitel: Das hellenistische Christentum vor Paulus 1. Probleme 2. Christentum und hellenistische Religionsgeschichte 3. Die Formen des Lebens

54 54 56 58

VII. Kapitel: Paulus (bis zum Apostelkonzil)

63

VIII. Kapitel: 1. 2. 3.

67 67 69 72

Das Apostelkonzil Die Voraussetzungen Der Verlauf Das Problem des „Aposteldekrets“

IX. Kapitel: Paulus und seine Gemeinden 1. Überblick 2. Der äußere Verlauf der Mission 3. Krisen 4. Die paulinischen Gemeinden

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

75 75 79 84 89

172

Inhalt

X. Kapitel: Die Urgemeinde vom Apostelkonzil bis zum Jüdischen Krieg

92

XL Kapitel: Die Kirche bis zum Ende des ersten Jahrhunderts 1. Allgemeiner Überblick 2. Die Form der Kirche 3. Die geistige Leistung 4. Das innere Problem der Kirche 5. Konkurrenten

95 95 98 101 104 107

XIL Kapitel: Die Kirche und die Welt

108

XIII. Kapitel: Das Judenchristentum nach dem Jüdischen Krieg 1. Zum Begriff „ Tudenchristentum“ 2. Die Kirche in lerusalem 3. Das Judenchristentum außerhalb Jerusalems Ausblick: Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons

115 115 117 118 120

Anhang I: Personen (Geschichte und Legende)

129

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Die „zwölf Apostel“ Simon „Petrus“ Jakobus „der Gerechte“ Johannes, Sohn des Zebedäus Joseph Barnabas Apollos Mitarbeiter des Paulus Die Evangelisten (Verfasser der Evangelien)

Anhang II: Beilagen (Quellen)

129 132 137 138 140 141 142 143 .

1. Der Tod des Agrippa I. (Josephus, Jüdische Altertümer 19, 343—350) 2. Claudius und die Juden in Rom a) Sueton, Claudius 25,4 b) Dio Cassius, Römische Geschichte 60,6,6 3. Der Tod des Jakobus, des Bruders Jesu a) Josephus, Jüdische Altertümer 20,200 b) Hegesipp (bei Euseb, Kirchengeschichte II 23,4—18) . . . 4. Das Martyrium des Petrus und Paulus (l.Clem. 5f.) 5. Die Christenverfolgung unter Nero im Jahre 64 n. Chr. (Tacitus, Annalen 15,44) 6. Domitian a) Dio Cassius, Römische Geschichte 67,14,1 b) Euseb, Kirchengeschichte III 18,4—20,7 7. Das Verfahren gegen die Christen (Plinius d.J., Briefe X 96) 8. Inschrift im Vorhof des Tempels zu Jerusalem 9. Die 12. Bitte des Achtzehn-Bitten-Gebets 10. Simon Magus (Justin, Apologie I 26, l - 3 ) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

145 145 145 145 146 146 146 146 148 148 149 149 149 150 152 152 152

Inhalt 11. Dokumente des Urchristentums außerhalb des Neuen Testaments a) Gottesdienst- und Gemeindeordnung (Lehre der zwölf Apostel 7 ff.) b) Ein Gebet (l.Clem. 59—61) c) Der Gottesdienst (Justin, Apologie I 65—67) d) Christlich-gnostische Dichtung (Oden Salomos, Ode 6) . 12. Das älteste Verzeichnis der kanonischen Schriften („Kanon Muratori“)

173 153 153 155 157 157 158

Literaturverzeichnis

161

Personen- und Sachregister (Auswahl)

164

Stellenregister

165

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Hans Conzelmann Der erste Brief an die Korinther Übersetzt und erklärt. 11. Auflage (1. Auflage dieser Neuauslegung) 1969. 362 Seiten, Leinen Mevers Kritisch-Exegetischer Kommentar über das Neue Testament „Das Werk von Hans Conzelmann ist mit großer Präzision auf knappem Raum konzipiert und wird die Diskussion um den berühmten Paulusbrief für lange Zeit bestimmen. Die Korintherbriefexegese wird aus den Höhen unbegründeter Vermutungen auf den Boden der historischen Realität zurückversetzt.“ P. Stuhlmacher in: Wissenschaft und Praxis

Rudolf Bultmann Der zweite Brief an die Korinther Herausgegeben von Erich Dinkler 1976. 270 Seiten, Leinen Meyers Kritisch-Exeget. Kommentar über das Neue Testament Dem Kommentar liegt das Vorlesungsmanuskript zugrunde, wie es Bultmann in den letzten Jahren seiner Lehrtätigkeit in Marburg vorgetragen hat, ergänzt durch neuere Literatur. Mit Ausnahme der Kapitel 8 und 9, die summarischer behandelt werden, ist die Auslegung ausführlich und eindringlich. Im Mittelpunkt stehen die theologischen Fragen, die auch für Bultmanns Theologie prägend geworden sind: Fundament und Sinn der apostolischen Verkündigung, Christus und Verkündigung, Verborgenheit und Präsenz des Heils. Der Benutzer des Kommentars tut einen tiefen Blick in die exegetische Werkstatt des Theologen Bultmann.

Hans Conzelmann Der Epheserbrief. Der Kolosserbrief enthalten in: Das Neue Testament Deutsch, Band 8. 14., neubearb. und erg. Auflage 1976. Ca. 300 Seiten, kartoniert Der Band enthält außerdem von Jürgen Becker: Der Galaterbrief / Gerhard Friedrich: Der Philipperbrief, Die Briefe an die Thessalonicher, Der Brief an Philemon.

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546

Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament Unter Mitarbeit von Hellmut Brunner, Hartmut Schmökel, Cord Kühne, Karl-Heinz Bernhardt und Edward Lipinski hrsg. von Walter Beyerlin. (Grundrisse zum Alten Testament, Band 1) 310 Seiten, 18 Zeichnungen, 4 Tafeln sowie Register, kartoniert Dieser Band bietet eine übersichtliche Sammlung von Texten, Fotos und Abbildungen aus der Umwelt Israels. In einer Zeit, die verstärkt nach den nichtbiblischen Religionen fragt, dürfte diese Sammlung von durchgängig neu übersetzten Texten besonders wichtig sein. Die von Fachleuten eingeleitete, übersetzte und erläuterte, recht umfangreiche Auswahl umfaßt Mythen und Epen, Hymnen und Gebete, Rituale und andere Kulttexte, prophetisches und weisheitliches Gut, Ausschnitte aus Lebenslehren und Totenbüchern, aus Sündenkatalogen und Verträgen. Kommentierende Anmerkungen sowie Sach- und Bibelstellenregister erschließen den Band als Begleitbuch zum Alten Testament. „Dieses Buch war seit langem notwendig. Daß es jetzt in dieser rundherum geglückten Form vorliegt, ist zu begrüßen. Das Alte Testament wird hier in einer Weise in seine Umwelt hineingestellt, die sowohl den Theologen wie den Nichttheologen es neu und besser sehen und lesen lehrt. Auch für Unterrichtszwecke ist das Werk ausgezeichnet geeignet. Hier kann man auf Entdeckungsreise gehen, die Neuland erschließen bzw. Bekanntes noch deutlicher machen wird.“ Horst Dietrich Preuß in: Deutsches Pfarrerblatt

Eduard Lohse Umwelt des Neuen Testaments (Grundrisse zum Neuen Testament, Band 1) 2., durchges. und erg. Aufl. 1974. 224 Seiten und 4 Abb., kartoniert „Der Band fügt sich in wissenschaftlicher Zuverlässigkeit, Klarheit der Darstellung und didaktischer Konzentration auf das Wesentliche sehr gut in Charakter und Niveau der Reihe der bisher erschienenen Bände ein. Hervorzuheben ist die übersichtliche, differenzierte und doch große Linie aufzeigende Darstellung.“ Erich Dinkler in: Literatur-Umschau/Bibl. Theologie „Bemerkenswert ist die meisterliche Darstellungskraft des Verfassers sowie seine stets historisch gut fundierten und theologisch begründeten Urteile.“ Werner Schmithals in: Ref. Kirchenzeitung

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546