Ein wahrhaft einzigartiges Werk: In nur einem Band kommentiert der wohl bekannteste Bibelwissenschaftler im deutschen Sp
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German Pages 1056 Year 2023
Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Das Evangelium nach Matthäus
Das Evangelium nach Markus
Das Evangelium nach Lukas
Das Evangelium nach Johannes
Die Apostelgeschichte
Der Brief an die Römer
Der erste Brief an die Korinther
Der zweite Brief an die Korinther
Der Brief des Apostels Paulus an die Galater
Der Brief an die Epheser
Der Brief an die Philipper
Der Brief an die Kolosser
Der erste Brief an die Thessalonicher
Der zweite Brief an die Thessalonicher
Der erste Brief an Timotheus
Der zweite Brief an Timotheus
Der Brief an Titus
Der Brief an Philemon
Der Brief an die Hebräer
Der Brief des Jakobus
Der erste Brief des Petrus
Der zweite Brief des Petrus
Der erste Brief des Johannes
Der zweite Brief des Johannes
Der dritte Brief des Johannes
Der Brief des Judas
Die Offenbarung des Johannes
Häufiger zitierte Literatur
Ergänzungen zur 3. Auflage (Hinweise auf Ergänzungen im Kommentartext)
Berger (08129) / p. 3 / 19.5.2020
Klaus Berger
Kommentar zum Neuen Testament
Berger (08129) / p. 2 / 19.5.2020
Berger (08129) / p. 1 / 19.5.2020
Berger (08129) / p. 4 / 19.5.2020
4. Auflage, 2020 Copyright © 2011 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber. Umschlagmotiv: grungy paper, © myszka – fotolia.com Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg ISBN 978-3-641-31172-8 www.gtvh.de
Berger (08129) / p. 5 / 19.5.2020
Für Josef Vollberg OCSO Abt des Klosters Mariawald
Berger (08129) / p. 6 / 19.5.2020
Berger (08129) / p. 7 / 19.5.2020
Inhalt
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9
Das Evangelium nach Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
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130
Das Evangelium nach Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
210
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319
Die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
Der Brief an die Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
495
Der erste Brief an die Korinther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
566
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
630
Der Brief des Apostels Paulus an die Galater . . . . . . . . . . . . . . . . . .
665
Der Brief an die Epheser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
688
Der Brief an die Philipper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
718
Der Brief an die Kolosser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
736
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
758
Der zweite Brief an die Thessalonicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
778
Der erste Brief an Timotheus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
790
Der zweite Brief an Timotheus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
809
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822
Der Brief an Philemon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
827
Der Brief an die Hebräer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
831
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889
Vorwort
Das Evangelium nach Markus
Das Evangelium nach Johannes
Der zweite Brief an die Korinther
Der erste Brief an die Thessalonicher
Der Brief an Titus
Der Brief des Jakobus
Berger (08129) / p. 8 / 19.5.2020
8
Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
907
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934
Der erste Brief des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
944
Der zweite Brief des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
970
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974
Der Brief des Judas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
977
Die Offenbarung des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
983
Der erste Brief des Petrus Der zweite Brief des Petrus
Der dritte Brief des Johannes
Häufiger zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1050
Ergänzungen zur 3. Auflage (Hinweise auf Ergänzungen im Kommentartext) . . . . . . . . . . . . . 1051
Berger (08129) / p. 9 / 19.5.2020
Vorwort
Im Folgenden ist die Grundlage der griechische Text des Neuen Testaments nach Nestle-Aland, 24. Auflage (E. Nestle, K. Aland, B. Aland: Novum Testamentum Graece). Als Übersetzung entstand parallel und wird daher hier überall als Anregung zur Auslegung vorausgesetzt: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, 6. Aufl., Frankfurt 2005. Dort auf S. 1363-1367 auch ein Verzeichnis der Abkürzungen. Dieses betrifft auch die zitierten alt-und neutestamentlichen Apokryphen. Die hier häufiger zitierte Literatur ist auf einer Liste zusammengestellt S. 1051. Um die Kommentierung nicht durch unnötige Extratouren zu belasten, habe ich auf Folgendes durchgehend und bewusst verzichtet: – auf neue Hypothesen, betreffend die synoptische Frage. Mit den Fachleuten in aller Welt warte ich auf eine neue These, die das 19. Jh. hinter sich lässt. Bis dahin ist »alles offen«. An den relevanten Stellen habe ich daher auf eine kausale Erklärung verzichtet und mich damit begnügt, die Unterschiede in den bestehenden Endfassungen aufzuweisen. – auf Teilungshypothesen und auf Rekonstruktion von »redaktionellen Schichten«. Derartige Versuche erschienen mir immer wieder als Ausweis mangelnder Durchdringung der dann notleidenden Texte. – auf weitläufige Forschungsgeschichte. Zum Ersatz habe ich den jeweiligen Kommentierungen vorangestellt eine chronologische Liste der Kommentare, soweit sie für mich (aus eigener Sammlung) zugänglich waren. Was die Methoden betrifft, so habe ich neben den bekannten historischen (dazu auch die eigene Arbeit zur Formgeschichte »Formen und Gattungen im Neuen Testament«, 2005) besonders die der Kompositionskritik verwendet: Welche theologische Konzeption verrät sich aus der Anordnung der Themen und Stoffe? Religionsgeschichtliche Fragestellungen sind für mich nach wie vor wichtig. Dabei ist das zeitgenössische Judentum als theologischer Hintergrund bzw. Mutterboden aller neutestamentlichen Theologien angenommen. An zweiter Stelle sind außerbiblische Texte der frühen Kirche und der alten christlichen Liturgien für mich von zentraler Bedeutung. Die »Parallelen« haben für mich in der Regel konstruktive Funktion. Denn die biblischen Texte werden dadurch nicht weniger, dass sich außerbiblische Parallelen finden. Schwachstellen der geläufigen Schulexegese wie mangelnde Berücksichtigung des Heiligen Geistes, aber auch der Dimensionen der Leiblichkeit, Leibhaftigkeit und Kirche habe ich mich bemüht zu vermeiden. Wenn ich die Hypothesen und Thesen der liberalen und noch mehr der hegelianisch beeinflussten Exegese in der Regel ablehne, dann ändert das nichts an der Achtung vor dem hohen Maß an Intelligenz und Fleiß, das man hier der Schrift hat angedeihen lassen. Oft nehme ich Anregungen aus dem Reichtum der 1700 Jahre vormoderner Auslegung auf. Der innere Zusammenhang zwischen Halbbildung und Unglaube steht mir dabei warnend vor Augen. Der Kommentar versucht u. a. eine durchgehende Neudatierung der frühchristlichen Schriften. Heidelberg, In assumptione BMV 2011 Klaus Berger
Berger (08129) / p. 10 / 19.5.2020
Berger (08129) / p. 11 / 19.5.2020
Das Evangelium nach Matthäus
Kommentare: Theodor v. Heraclea (350). – Apollinaris v. Laodicea (380). – Joh. Chrysostomus I-II (vor 400). – Theophilus v. Alexandrien (400). – Hieronymus (400). – Theodor v. Mopsuestia (425). – Cyrill v. Alexandrien (440). – Hrabanus Maurus (vor 856). – Paschasius Radbertus XII (vor 856). – Otfried v. Weißenburg (868) – Photius v. Konstantinopel (880). – Sedulius Scottus I-II (9. Jh.). – Komm. der griech. Kirche (ed. J. Reuss 1957 [TU 61]). – Gregorius Abulfarag (1200). – Thomas v. Aquin (1220). – Hugo v. St. Cher (vor 1264). – Nicolaus Lyranus (vor 1349). – Nikolaus v. Dinkelsbühl (vor 1433). – Alphonsus Abulensis (1455). – Dionysius Carthusianus (vor 1471) – Faber Stapulensis (1521). – Philipp Melanchthon (1523). – C. Hagendorf (1525). – W. Musculus Dusanus (1544). – D. Carthusianus (ed. 1545). – F. T. Hassellensis (1547). – A. Marloratus (vor 1562). – D. Chytraeus (1575). – Joh. Ferus
(1577). – L. de Aponte I-II (1641). – A. de Sanseverino (1659). – Joh. Gerhard (1663). – J. Huysinga (1679). – Emanuel de Incarnatione I-IV (1695). – J. de Sylveira (1697). – F. Lucas Brugensis (1712). – C. Wolfius (1741). – Alexander Natalis (1745). – J. J. Wettstein (1752). – C. T. Kuinoel (1823). – C. F. A. Fritzsche (1826). – H. A. W. Meyer (1876). – C. F. Keil (1877). – A.-J. Liagre I-II (1883). – R. Kübel (1889). – H. Holtzmann (1889). – J. Knabenbauer I-II (1892). – F. C. Ceulemans (1900). – Th. Zahn (1903; 4. Aufl. 1922). – J. A. van Steenkiste I-III, Brüssel (1903). – E. Klostermann (1909). – A. Schlatter (1936). – E. Käsemann Ms Vorlesung SS (1957). – J. Schmid (1959). – E. Lohmeyer (1962). – W. Grundmann (1972). – E. Schweizer (1973). – U. Luz I-IV (1985 ff). – H. Frankemölle I-II (1994). – H. Th. Wrege (1991). – U. Luck (1993). – M. Vahrenhorst (2002). – M. Konrad (2015).
EINFÜHRUNG Datierung und Adressatenkreis Der wichtigste Unterschied zum MkEv (und auch zum JohEv) ist, dass die Mission unter Heiden offen zugegeben, ja befohlen wird. Andererseits häufen sich die Signale für eine strikte Trennung von Juden- und Heidenmission. Der Evangelist bringt das Kunststück fertig: Nirgends sonst ist Jesus so streng und eindeutig Messias für Israel, und daher betritt er kein heidnisches Haus und hält das Gesetz vollständig. Gleichzeitig wird die Heidenmission durch ihn begründet – so klar wie sonst höchstens annähernd bei Lukas. Die bleibende Bedeutung dieses Ansatzes besteht darin, dass zwei unterschiedliche Typen von Christentum gleichermaßen durch Jesus selbst legitimiert sind. – Jesus ist also gewissermaßen das noch gelungen, woran Paulus historisch-biographisch gescheitert ist, der wegen seiner Tätigkeit als Völkerapostel dann als abgefallener Jude immer wieder heftig verfolgt und schließlich umgebracht wurde. In seiner theologischen Geografie nimmt das
MtEv die ganze Welt in den Blick. Gegenüber dem MkEv ist die Heidenmission selbstständiger geworden. Sie muss nicht versteckt werden. Denn Jesus ist zu hundert Prozent Jude und die Heidenmission zu hundert Prozent an die heidnischen Adressaten gerichtet. Die Schrift ist und blieb gemeinsame Instanz, aber mehr als Buch der Prophezeiungen. Beschneidung ist kein Thema. Darin sind sich merkwürdigerweise alle vier Evangelien einig. Dennoch empfiehlt Mt 23,3, das zu tun, was die Schriftgelehrten und Pharisäer lehren. Dieser Verzicht auf das Thema Beschneidung setzt auch einen Verzicht auf die Beschneidung von Heiden voraus, die Christen werden. Es muss daher ein grundlegend anderes Milieu vorliegen als in Galatien und in Rom, wo Paulus heftig mit diesem Thema zu kämpfen hat. Das heißt: Die Heidenchristen leben ein Judentum, das dem von Gottesfürchtigen und Sympathisanten ähnelte (vgl. dazu B. Wander: Gottesfürchtige). Ein sol-
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12 ches Judentum der Unbeschnittenen gab es wohl in Antiochien und in Alexandrien. In Röm 4,12b könnte Paulus auch solche Christen meinen (unbeschnitten sein, dennoch wie Abraham leben). Dass das Thema Beschneidung in den Evangelien nicht vorkommt, besagt gewiss nichts darüber, dass hier nicht von Anfang an die stillschweigend vorausgesetzte Trennwand gegenüber dem »echten« Judentum lag. Zeitpunkt der Entstehung des MtEv Nach den antiochenischen Wirren, also nach 48-50. Keine Überschneidung mit dem Judenchristentum. Die säuberliche Trennung im Evangelium setzt auch dieselbe in der kirchlichen Landschaft voraus. Auch der Paulus des Röm partizipiert daran (Röm 4,11-12). Verzicht auf Liberalisierung des Judentums bedeutet nicht dessen Ausschluss vom Glauben an Jesus. Das MtEv dürfte daher zwischen 50 und 60 n. Chr. entstanden sein. Warum nicht später? Noch ist die judenchristliche Kirche stark vertreten. Israel und die Völker der Welt – zur matthäischen Geschichtstheologie Der Evangelist Matthäus liebt die Kontraste. Wohl auch deshalb wurde er schnell zum Lieblings-Evangelisten der Kirche. Auf die Frage nach seinen Lieblingsfarben würde er wohl sagen: Weiß wegen der Seligen – Schwarz wegen der Verurteilten – Rot wegen der Märtyrer, die von den Propheten bis in die Gegenwart des Evangelisten reichen. Theologisch ist Matthäus hart und kompromisslos, ungefügig. Oft und lange war man der Meinung, das gelte auch für endgültige Aussagen über Israel, die er bietet. Zum Beispiel findet sich nur in der Passion der Ruf des ganzen Volkes der Juden: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.« Und selbst der alte Adolf Schlatter konnte 1910 sagen: »Matthäus erzählt die Geschichte Jesu als den Abschluss der Geschichte Israels … (Israels) Zeit ist vorbei, und wie Jesus, so haben auch seine Boten die Pflicht, ihm den nahenden Untergang anzukündigen. Das Reich erbt Jesu Gemeinde.« – Erst in den letzten 25 Jahren hat sich auch bei den Evangelischen die Einstellung gewandelt. Man entdeckte die Antijudaismen vor allem auch in der Bibelauslegung selbst und betrieb »Theologie des Judentums«.
Das Evangelium nach Matthäus
Seit Jesus gekommen ist, kann man mit Matthäus drei Phasen der Heilsgeschichte unterscheiden: 1. das Wirken des irdischen Jesus, in dem Jesus von seinem Volk durchgehend abgelehnt wurde, 2. das Reich des Menschensohnes zwischen Ostern und Wiederkunft Christi und 3. die Wiederkunft Jesu als Beginn des sichtbaren Reiches Gottes. – In der Zeit des Reiches des Menschensohnes gibt es nun die Mission der Heidenvölker einerseits und eine Fortsetzung der Mission Jesu in Israel nach Ostern andererseits (vor allem nach Mt 10; die Bitte um Erntearbeiter ist ein klares Indiz). Das heißt: Auch in der Gegenwart des Evangelisten ist Israel nicht einfach abgeschrieben und verloren, sondern Mission im Stil Jesu wird fortgesetzt, und zwar bis zu seiner Wiederkunft. In dieser Zeitspanne trifft auch das Strafgericht des Jahres 70 Jerusalem (Zerstörung des Tempels), aber so, dass damit alle Schuld an den Märtyrern der ganzen Heilsgeschichte abgebüßt ist. Das Wort »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« ist damit ein für alle Mal abgegolten. Sodann kann man lernen, dass Matthäus das »Gericht« am Ende in drei unterschiedlichen Szenarien denkt. Einmal kennt der Evangelist die Entrückung der Treuen und Auserwählten, also der Jünger und anderer Christen, zum Menschensohn hin (Mt 24,31), sodann weiß er um das Gericht, das die zwölf Apostel über Israel halten werden (Mt 19,28), und schließlich unterscheidet er wiederum davon das Gericht über die Heidenvölker (Mt 25,31-46). Von den Gerechten heißt es ja, dass sie ahnungslos darüber waren, dass ihnen im Bettler und Kranken der Herr begegnete. Die Jünger aber wissen durch Matthäus darum, also kann sich Mt 25,31-46 nur auf Nicht-Jünger beziehen. Eine Parallele dazu gibt es im jüdischen Testament des Abraham (Übers.: E. Janssen). Dort wird unterschieden ein Gericht durch Abel (vom Martyrium bis zur Wiederkunft), eines durch die zwölf Stämme Israels und eines durch den Gott persönlich. – Bemerkenswert ist die Entsprechung zwischen den zwölf Stämmen und den zwölf Aposteln. Und Abel ist Sohn Adams und damit »Sohn des Menschen«. Nur ist die Verteilung im Testament des Abraham größer, und die Gerichteten sind jeweils alle Menschen, nicht verschiedene Gruppen wie bei Matthäus. Der Satz in Mt 23,39 »… bis ihr mir zurufen
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Kommentar
werdet: Gesegnet, der da kommen soll im Namen des Herrn« ist auf den freudigen Empfang des wiederkommenden Jesus durch Israel zu deuten. Der Ausdruck »der da kommen soll« hat sich zur Zeit des Matthäus (vgl. 11,3) schon so weit verselbstständigt, dass damit unzweifelhaft der Messias gemeint ist (und nicht einer seiner Boten, wie man auch erwägen könnte). Das heißt: Die Geschichte Jesu mit Israel ist weder mit der Kreuzigung noch mit der Zerstörung Jerusalems beendet, sondern die Israelmission in der Gegenwart des Evangelisten mündet (dereinst) in den Willkommensgruß Jesu in Jerusalem. Gerade so erwartet es auch die Alte Kirche (bis hin zu den Moslems). Jesus ist der Hirte Israels also nicht
nur im Erdenwirken, sondern durch seine Boten jetzt und als Messias Israels dann. Fazit: Israel ist weder verdammt, noch hat es einen eigenen Heilsweg, der irgendwo an Jesus vorbeiführte oder ihn überflüssig machte. Gerade das Letztere wird heute von den Israel-Theologen durchgehend vertreten (»doppelter Ausgang der Schrift«). Matthäus haben sie nicht auf ihrer Seite. Doch andererseits ist, wie schon Axel von Dobbeler im Jahre 2000 feststellte, die Mission in Israel strikt von der Mission unter den übrigen Völkern zu trennen und verläuft nach eigenem Stil und – mit der Begrüßung in Jerusalem – auch nach den Bedingungen Israels. Paulus sieht das in Röm 11,26 dann wohl ganz genauso.
KOMMENTAR Zum Aufbau Mt 1-4 Sakrale Geografie Der Evangelist Lukas beginnt seine Berichte über den Täufer (Lk 3,1-2) und über Jesus (Lk 1,5; 2.1f) mit einer Einordnung in die Regierungsbzw. Herrschaftszeiten der staatlichen römischen Autoritäten, genannt Synchronismos. Der Evangelist Matthäus dagegen wählt ein anderes Mittel, das nicht chronologischer, sondern geografischer Art ist. Man könnte es Synoikismos nennen: Wo in der damaligen Welt liegen die Orte des Geschehens? – Und Matthäus antwortet: in der Mitte. Wie stark sein eigenes Interesse an einer solchen Platzierung ist, zeigt die Tatsache, dass er die meisten dieser Orte mit Hilfe von Reflexionszitaten legitimiert bzw. ausschmückt. Liest man die Darstellung in den ersten Kapiteln unter diesem Aspekt, so fällt einem zuerst der Satz Thomas Manns zu Beginn des ersten Teils seiner Josefsromane ein: Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Wie Thomas Mann (und wohl als sein Vorbild), so beginnt bereits Matthäus mit Abraham und Babylon. Schon im Stammbaum Jesu fällt, von den Kommentatoren kaum beobachtet, dreimal ganz auffällig das Stichwort Babylon (1,12.17 [2]). So ist auch die Sichtweise des damaligen Judentums: In Babylon liegt der Ursprung aller Kultur. Daher kommt auch Abraham aus dem Zweistromland. Und die Magier mit ihrer Astronomie in Mt 2,1
haben ihr Fach ganz gewiss bei den Babyloniern erlernt (So würde es ganz sicher Matthäus auf Befragen hin sagen). Wo aber Babylon genannt wird, darf auch der – wie es sich in den Augen der damaligen Geografen darstellt – Gegenpol Ägypten nicht fehlen (Mt 2,13-15.19-23). Das heilige Geschehen, über das der Evangelist berichtet, liegt demnach in der Mitte zwischen Babylon und Ägypten. Jeder Jude würde bestätigen: Diese Mitte ist Jerusalem, seit dem 2. Jh. v. Chr. der Nabel der Welt. Der Evangelist ist so kühn zu sagen: Die Mitte liegt bei Jerusalem, nämlich in Betlehem; denn nach 2,6 ist Betlehem unter den Fürstenstädten Judas »keineswegs die geringste«, also die bedeutendste. Betlehem ist also die Mitte zwischen Babylon und Ägypten. Babylon wurde durch den Stammbaum »legitimiert«, Betlehem durch das Reflexionszitat in Mt 2,6 (Micha 5,1), Ägypten durch das Reflexionszitat in 2,15 (aus Hos 11,1). Als Ort des Schreckens wird Betlehem typologisch als »neues Rama« gedeutet (2,18 aus Jer 31,15 LXX: 38,15). Und die weiteren Orte werden ebenfalls sorgfältig mit Schriftzitaten als Erfüllung von Gottes Wort im Alten Testament gedeutet: Nazaret in 2,23 (mit Ri 13,5), und da Kafarnaum im Gebiet der Stämme Sebulon und Naftali liegt, fand sich auch dafür eine Schriftstelle (4,13-15 aus Jes 9,1f), und so ist es auch mit dem Ort, an dem der Täufer
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14 predigt und tauft, der Wüste (Mt 3,3 aus Jes 40,3). Der Einzug Jesu nach Jerusalem wird mit dem Sion-Zitat aus Jes 62,11 begründet (Mt 21,8 f) und Jesu Wirken im Tempel nach Mt 21,13 durch Jes 56,7. Schließlich wird noch der für die 30 Silberlinge gekaufte Acker theologisch-geografisch legitimiert (Mt 27,9 f aus Sach 11,12f; Jer 18,2f; 19,1 ff; 22,6 ff). Fazit: Die »Orte« Babylon, Betlehem, Ägypten, Betlehem/Rama, Nazaret, Kafarnaum, die Wüste, der Töpferacker sind in ihrer Bedeutung für die Heilsgeschichte durch die Schrift bestens legitimiert. Fast alle diese Stellen stehen in den ersten Kapiteln (1-4) des MtEv. Zwischen diesen Orten werden nun Wege genommen. So wie Abraham (und dann das verbannte Volk) aus Babylon kam, so Jesus aus Ägypten. Palästina war und ist Wanderungsziel. Und eine weitere Wanderungsbewegung ist nicht zu verschweigen: die von Judäa nach Galiläa (2,22f). Gewiss ist es auch das Anliegen des Evangelisten zu zeigen, dass das Christentum noblen Ursprungs, dass also Betlehem nicht ein lächerliches orientalisches Nest im Winkel ist. Kindschaft/Genealogie Das zweite große Thema der matthäischen Anfangskapitel sind Variationen zum Thema Kindschaft. Das betrifft sowohl Jesus selbst als auch andere Kinder aus Betlehem und Umgebung und schließlich auch neue Kinder, die Gott Abraham schenken könnte. Für Jesus selbst wird gezeigt, dass er »Gottes und der Menschen Sohn« ist. Die menschliche Linie beginnt mit Abraham und endet bei Josef. – Der Stammbaum nach Mt umfasst 3 14 Generationen (in der 2. Reihe 15, in der 3. Reihe 13). Die Überschrift zum Stammbaum ist: »Buch des Ursprungs«. Die kunstvoll aufgebauten Listen des Stammbaums zielen auf Josef, den »Mann Marias, aus der geboren wurde Jesus, der Christus genannt wird«. Der Stammbaum beweist die Herkunft des heiligen Josef von David und Abraham. Der naheliegende Einwand, dass Jesus, weil er nicht physisch von Josef abstammt, also auch nicht von David abstammt, zieht nicht, weil die juristische Vaterschaft erweisbar ist und in jedem Fall gilt, die physische dagegen nie sicher ist. Schließlich gilt: Durch die Verbindung zweier Familien gelten auch die bei-
Das Evangelium nach Matthäus
derseitigen Vorfahren als gemeinsame. Die Adoption hatte die gleiche rechtliche Wirkung wie die biblische Abstammung. Weil es sich um den Stammbaum Josefs handelt, hat man schon früh gefragt: Wieso gilt das von Jesus, der doch von Josef gar nicht abstammt? Die syrische Überlieferung gleicht aus: »Josef zeugte …« Textkritisch ist diese Veränderung wertlos, da ein dogmatisches Interesse adoptianistischer Art bei den frühen Syrern erweisbar ist. Aus dem gleichen Grund (weil der Stammbaum auf Josef zuläuft) muss auch die folgende Darstellung in 1,18-25 von Josef handeln. Die Brücke zwischen der menschlichen Herkunft (jedenfalls von Maria) und der Gottessohnschaft liegt darin, dass Maria nach 1,20 vom Heiligen Geist empfangen hat. Diese Entstehung durch Gottes Geist wird in Mt 3,16f öffentlich. In der Szene bei der Taufe Jesu liegt daher das inhaltliche Gegengewicht zum Stammbaum in 1,1-17 (deshalb steht ebenfalls bei Lukas beides zusammen). Und auch das ist ein Weg: vom geheimen, aus der Sicht Josefs eher zu verheimlichenden Geschehen in Marias Schoß bis zur Öffentlichkeit der Proklamation bei der Taufe. Schließlich geht es um die Bedrohung des Kindes im Rahmen der »Gefährdung des Retterkindes« (s. u.) und auch anderer Kinder (Mt 2,16-18). Korrespondenz zwischen Anfang und Schluss des Evangeliums Wie kein anderes Evangelium weist das MtEv intensive, meist auch wörtliche Übereinstimmungen zwischen Anfang und Ende auf. Damit erreicht der Evangelist den Eindruck der Stimmigkeit im gesamten Text. Auch hieran wird sein eigentliches Thema erkennbar: die Begründung der Heidenmission durch den Messias Israels. Der Mord in Betlehem durch Herodes entspricht dem Mord in Jerusalem durch Herodes. Der gesuchte König der Juden (2,2) entspricht dem König der Juden auf dem Kreuzestitel (27,37). Dass Jesus von den Sünden retten wird (1,21), entspricht der Sündenvergebung durch sein Blut (26,28). Der Titel »Gott mit uns« (Immanuel; 1,23) entspricht dem »ich … mit euch« (28,20). Anerkennung durch Fremde: Dass die Magier vor
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Kapitel 1
Jesus niederfielen und ihm huldigten (2,11), entspricht dem Bekenntnis des Hauptmanns: »Dieser war Gottes Sohn« (27,54). Die Versuchung in der Wüste (4,3.6: »Wenn du der Sohn Gottes bist, …« [Imperativ]) entspricht der Versuchung unter dem Kreuz (27,40: »Wenn du der Sohn Gottes bist, …« [Imperativ]). Die Mitte der Welt in Betlehem (Kap. 1-2) entspricht der Sendung an alle Völker von Jerusalem aus (28,19). Der Berg der Versuchung (4,8) entspricht dem Berg der Auferstehungserscheinung (28,16). Die Rolle der fremdstämmigen Frauen im Stammbaum (Kap. 1) entspricht der Sendung an alle Völker (28,19).
Die Weltherrschaft als Versuchung durch Satan (4,8) und die von Gott verliehene Vollmacht Jesu im Himmel und auf Erden (28,18) stehen in dualistischer Entsprechung.
Instrumente theologischer Geschichtsschreibung Immer wieder erscheint ein Engel des Herrn im Traum und gibt Gottes Absichten kund (1,20; 2,12.13.19.22). Bei den zeitgenössischen Heiden sind Träume unangefochtene Offenbarungsmittel, bei Juden dagegen suspekt. Dadurch aber, dass der Evangelist in Träumen den Engel des Herrn auftreten lässt, stabilisiert er dieses Instrument der Offenbarung. Gott lenkt auch auf diese Weise die Geschichte.
Mt 1: Jesu Stammbaum – Josefs Bedenken Der Abschnitt Mt (1,1-11.18-25 ist eng mit den Kindheitsgeschichten bei Lukas vernetzt. Das zeigen folgende gemeinsamen Elemente: Jesu Stammbaum (zwischen Abraham und David weitgehend identisch); Zeit des Königs Herodes; Maria ist die Verlobte Josefs; der Heilige Geist ist »Urheber« Jesu im Leib Marias; dieses wird durch einen Engel bekannt gemacht (bei Mt: Josef nach der Empfängnis; bei Lk: Maria vor der Empfängnis); Maria hat zuvor keinen Verkehr mit Josef gehabt (Mt 1,18; Lk 1,34); der Engel sagt: »Du sollst seinen Namen Jesus nennen« (bei Lk zu Maria, bei Mt zu Josef); Jesus wird in Betlehem geboren; das Kind bekam den Namen Jesus; all dieses Material wird dem Bericht über Johannes den Täufer und die Taufe Jesu im Jordan vorangestellt; nur Lk holt den Stammbaum Jesu (in 3,23-38) nach. – Dabei ist theologisch wichtig: Der Herkunft Josefs von David entspricht die davidische Geburtsstadt Betlehem. Auffallend ist, dass die weiteste Übereinstimmung in dem Satz besteht, wonach das Kind Jesus heißen soll. Und: Der Heilige Geist wirkt Marias Schwangerschaft; dies wird als Engelsbotschaft abgesichert. Bei den im Stammbaum Jesu genannten vier Frauen handelt es sich jeweils um eine illegitime Schwangerschaft oder eine solche, bei der der Vater nicht der regulär dafür gehaltene Mann war. Tamar und Rahab sind Dirnen, die Frau des Uria kommt durch ein Verbrechen an Davids Seite, Rut stammt aus dem feindlichen Volk der Moabi-
ter. Bei Josef hat Gott selbst diese »merkwürdige« Linie aufgegriffen. Was zuvor im Stammbaum menschlich fragwürdiges oder im Dunkel der Geschichte versunkenes Geschehen war, hat Gott hier durch den Heiligen Geist mit eigener Handschrift fortgesetzt und umgewandelt. So gibt es hier die Typologie – dass der übliche biologische Vater fehlt in der Übereinstimmung des Defektes eines normalen Vaters – neben der Antitypologie, die darin besteht, dass bei Jesus diese Rolle kein zweifelhafter Mann ausfüllt, sondern Gottes Geist.
Mt 1,18-24: »Bekehrung Josefs« Man kann diesen Text durchaus die »Bekehrung des heiligen Josef« nennen. Damit aber ist der Text, wie jede biblische Bekehrungsgeschichte, auch an die Leser gerichtet. So ist – ungewöhnlich genug – das ganze Kapitel 1 eine Geburtsgeschichte, erzählt aus der Perspektive des Ziehvaters, der für Schwangerschaft und Geburt nichts kann. Man kann Matthäus nicht vorwerfen, dass er nicht sofort an die einzige Ausnahme gedacht hat, die der Prophet Jesaja (7,14) beschreibt. Offenbar sind Maria und er noch nicht lange verlobt, sodass jeder wissen und sehen kann, dass Josef nicht der Vater sein kann. So möchte er das Verlöbnis ohne großen Medienrummel dis-
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16 kret lösen, d. h. Maria nach Hause schicken, sodass sie allein die Schande der unehelichen Mutter zu tragen hat. Deshalb muss dann erstens Gott seinen Engel zu Josef schicken, ihm eine Offenbarung geben, und zweitens muss eine Schriftstelle herangezogen werden, um das Geschehen plausibel zu machen. Das heißt: Auch Gott hielt hier den Glauben nicht für selbstverständlich, sondern hat ihn durch sein eigenes Handeln und Erklären erst ermöglicht. Zur Menschwerdung Jesu durch den Heiligen Geist ist zu sagen: Die hierzu nächste jüdische Parallele gibt es gerade zur Matthäus-Version: Der Anhang zum slawischen Henochbuch (1. Jh. v. oder n. Chr.; jüdisch) berichtet über die gottgewirkte Entstehung des Kindes Melchisedek im Leib einer zuvor unfruchtbaren Frau, die bei der Geburt stirbt. Der Vater will – wie Josef bei Mt – das Kind nicht anerkennen und erwägt, seine Frau zu entlassen. Von Melchisedek gilt somit: »ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum« (Hebr 7,3). Im Unterschied zu Matthäus fehlen der Engel, der Heilige Geist, das davidische Element, die symbolische Bedeutung und Deutung des Namens (Jesus = Erlöser). Bei Matthäus und Lukas ist die Menschwerdung Jesu durch den Heiligen Geist die höchstmögliche Zuspitzung der Berufung und Heiligung vom Mutterleib an. Hier wird eine prophetische Tradition radikalisiert; nach Lk 1,15 war auch Johannes der Täufer schon vom Mutterleib an wenigstens mit Heiligem Geist erfüllt; Jesus ist gar durch den Heiligen Geist entstanden. Wie seine Auferstehung geistgewirkt war, so ist es auch seine Entstehung. Engel (in den Kindheitsgeschichten) sind nichts Selbstverständliches. Doch zunächst ist das stets etwas Ungeheuerliches, herrlich und schrecklich zugleich. Gottes Menschwerdung ist ein Geheimnis – genauso wie seine Auferstehung. Und niemand ist hier oder dort Zeuge. Aber das, was offenbart werden kann, sagt in beiden Fällen ein Engel. Die spätere Kirche wird sagen: Durch diese geheim gebliebenen Vorgänge konnte Satan hintergangen werden. Ohne dass er es merkte, wurde das entscheidende Heil gewirkt. In diesen Fällen ist daher die Offenbarung durch Engel zugleich eine Art der Geheimhaltung. Wie bei den Osterberichten sind auch bei den
Das Evangelium nach Matthäus
Engelerscheinungen in den Kindheitsgeschichten die Evangelien sozusagen Exklusivberichte des zuvor Geheimen. In jedem Fall also richtet sich die Engelsbotschaft an intime Zeugen des heiligsten Geheimnisses: dass Maria vom Heiligen Geist schwanger wurde und dass die Frauen das Grab leer sahen und eine Engelsbotschaft dort vernahmen. Übrigens geht es beide Male um etwas, das der Heilige Geist am Leib Jesu wirkt. Denn wo immer gefragt wird, wer Ostern eigentlich bewirkte, war es Gottes Heiliger Geist (Ez 37; Offb 11,11; Röm 1,3f; 1 Tim 3,16). Gott hat durch seinen Heiligen Geist die Zone der Leiblichkeit Jesu erreicht. Dieses Eingreifen geschieht an den beiden entscheidenden Eckpunkten des Lebens Jesu, bei seiner Menschwerdung und bei seiner Auferstehung. Aber kann man nicht, wie es viele tun, einfach die Jesaja-Verheißung in Mt 1,23 wiedergeben mit den Worten: »Eine junge Frau wird empfangen und einen Sohn gebären …«? Dann brauche man keine Jungfrau. Und dann ist die ganze Geschichte eine normale Schwangerschaft. – In der Erzählung bei Mt ist die Jesaja-Stelle doch erst das zweite Zeugnis und nicht der Grund, weshalb die ganze Geschichte erfunden wurde. An erster Stelle steht die Botschaft des Engels, und sie hat viele Gemeinsamkeiten mit dem, was wir aus den Kindheitsgeschichten nach Lukas kennen. Doch liest man Jes 7 aufmerksam, dann soll hier ein besonderes Zeichen gegeben werden. Dass aber eine »junge Frau« ein Kind bekommt, ist überhaupt kein besonderes Zeichen, sondern das in aller Welt Übliche. Daher kann das Zeichen, das Gott gibt, jedenfalls nur in etwas Außergewöhnlichem bestehen. Und das hebräische Wort »alma« kann durchaus »Jungfrau« bedeuten. So übersetzt es übrigens die griechische Bibel der Juden, die Septuaginta. In der Erwartung der Griechisch sprechenden Juden war der Immanuel aus Davids Haus daher von einer Jungfrau geboren. Und Jes 7,14 ist auch nicht der »Ursprung« der neutestamentlichen »Konstruktion der Jungfrauengeburt«, sondern wird von Matthäus beiläufig hinzugezogen, um die christliche Tradition, die er mit Lukas teilt, zu kommentieren. Aber man kann nicht sagen, von da aus sei diese Legende entstanden.
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Kapitel 2
Mt 2,1-12: Die Magier Von Mose, Abraham und Jesus erzählt man: Ein Knabe soll geboren werden, der künftig sein Volk retten wird, der also in irgendeinem Sinne »König« sein wird. Durch Fachleute (Astronomen, Astrologen, Weise) erfährt der noch regierende gegenwärtige Herrscher von der Gefahr, die ihm droht. Denn ein Stern verrät den neugeborenen König (wegen Num 24,17). Er ist regelmäßig ein grausamer, gottloser Herrscher. – Da er das neugeborene Kind nicht finden kann, weil es in einer Höhle oder an anderem unerwarteten Ort versteckt ist, lässt er flächendeckend alle Knaben dieses Alters umbringen. Nur der, den er eigentlich fangen will, entgeht ihm, wird in seinem Versteck wunderbar ernährt und danach dennoch König. – Diese Erzählungen könnte man die »Gefährdung des Retterkindes« nennen. (parallel zur »Gefährdung der Ahnfrau«). Die Magier, die dem Kind die Geschenke bringen, sind auch in den Parallelerzählungen über Mose und Abraham stets Nichtjuden. Früher hat man aus diesen bis ins Einzelne gehenden Ähnlichkeiten im Ablauf geschlossen, dass im Ganzen nichts davon wahr sei, da alles biografischer Topos gewesen sei. Dabei hat man übersehen, dass Ähnlichkeiten der Erzählungen nichts über die »Historizität« besagen. Denn Analogie zu einem anderen Fall kann durchaus die historische Wahrscheinlichkeit erhöhen. Es kann auch sein, dass Ähnlichkeiten bestehen, die dann vom Erzähler im Sinne des allgemeinen Ablaufs ergänzt werden. Anders gesagt: Auch wenn nur ein leiser Anlass besteht, dass auch dieses Retterkind verfolgt wurde, kann der Erzähler die anderen Punkte nachreichen. Schließlich gilt: Die Handschrift Gottes bleibt in der Geschichte immer erkennbar. Offenbarung muss keineswegs immer das Neueste kundtun; sowohl das Wort wie das Geschehen können dasselbe Altbewährte in neuer Wiederholung (mit Abweichungen) sein. Quellen für die Motive des Kindermordes und der Magier im Umkreis des Neuen Testaments: pers = Chronik von Zuqnin (Berger/Colpe, Religionsgesch. Textbuch, Nr. 180); mos = Bericht über Mose nach Ex 1,15 ff und paläst. Targum zu Ex 1,15; abr = Abraham-Midraschim nach A. Wünsche, Aus Israels Lehrhallen I, 14.16.18. 35.42; protev = Protevangelium des Jakobus 19;
ignat = Ignatius v. Antiochien, An die Epheser 19: mt = Mt 2. Stern (zeigt neuen Herrscher an; Num 24,17): pers, abr, protev, mt, ignat. Höhle (im Berg, als Geburtsort): pers, abr, protev Gottloser Herrscher: mos, abr, mt. Herrscher hat einen Traum: mos (Targum; Lamm und Waage). In den anderen Quellen steht an dieser Stelle oft eine Notiz über unaufgeklärte astronomische Phänomene. Anbetung des neuen wahren Herrschers: pers, mt Neuer Herrscher ist König der Magier: pers, ignat, mt.
Mt 2,2: Der neugeborene König der Juden Religionsgeschichtlich gesehen haben wir es hier zu tun mit einem Stück aus einer orientalischen, jüdischen und vorkanonischen Tradition. Man könnte diese nennen »Die Offenbarung des Menschengestaltigen im Himmelslicht«. D. h.: Man erwartet die Offenbarung eines himmlischen Erlösers bzw. Befreiers. Diese wird sich nach einigen Texten auf einem Berg ereignen (denn der Berg ist dem Himmel nahe, bzw. ihm ähnlich). Sie kommt aus dem Licht des Himmels (Stern). Dieser Befreier sieht aus wie ein Mensch oder ein himmlisches Kind. Repräsentanten der Menschheit erleben dessen Offenbarung. Belege für diese verbreitete Tradition: Vision in Ez 1,26: »etwas, das einem Throne gleichsah. Auf dem thronähnlichen Gebilde war oben darauf eine Gestalt, die einem Menschen glich.« Ferner: Vision des Menschenähnlichen in Dan 7,13: »Ich schaute in den Nachtgesichten, und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer, der aussah wie ein Mensch (Sohn eines Menschen). Er gelangte bis zu dem Hochbetagten. Ihm verlieh man Herrschaft …« In äth Hen wird der Menschensohn als Richter vorgestellt, der auf seinem Thron sitzend die Völker richten wird. Im Neuen Testament dient diese Tradition dazu, den himmlischen Ursprung Jesu und seine künftige Richterfunktion zu bekräftigen. Dass Jesus überhaupt Menschensohn genannt wird, hängt mit seinem Ursprung und mit seiner erwarteten Funktion zusammen.
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18 Parallel zu Ez und Dan wird diese Tradition unter persischem Einfluss in Kleinasien rezipiert und umgeformt: »Betreffs der Offenbarung des Lichtes jenes verborgenen Sterns … und jeder einzelne von uns sah wunderbare und verschiedene Visionen … Und wir kamen, jeder einzelne von uns, um zum Berg der Siege hinaufzusteigen und um uns zu taufen in der Quelle der Reinigung … Und wir sahen ein Licht in Gestalt einer Säule von unaussprechlichem Licht, das herunterstieg und über den Mysterien stehen blieb …, und über ihm den leuchtenden Stern, von dessen Licht zu sprechen wir nicht imstande waren … und wir stiegen hinauf und fanden die Säule des Lichtes vor der Höhle … und es näherte sich vor unseren Augen … etwas wie die Hand eines kleinen Menschen … und stärkte uns. Und wir nahmen unsere Kronen und legten sie unter seine Füße« (nach G. Widengren, Iranisch-semitische Kulturbegegnung in parthischer Zeit, 1960, 7186, ähnlich im Opus Imperfectum in Matthaeum PG 566,637f, vgl. die alte christliche Tradition von der Geburt Jesu in der Höhle im ProtEvJak und bei Justin; vgl. jetzt die Übersetzung der Chronik von Zuqnin, auf die sich G. Widengren bezieht, bei: B. Landau, Revelation of the Magi, 2010). Da die Offb im Ganzen nach Ez aufgebaut ist, besteht kein Problem, die Vision des Menschengestaltigen nach 1,13-16 und den Berg nach 21,10 im Sinne der dargestellten Tradition von der Erlösung durch den lichtvollen Messias zu verstehen, die sich in dem lichtvollen Geschehen auf dem Berg auswirkt. Da es sich in Ez 1,15 und in Offb 1,13 um einen »Sohn des Menschen« handelt, wird begreiflich, dass das »kleine Menschenkind« nach einigen Variationen des Mythos nichts weiter ist als der sehr wörtlich verstandene »Sohn/Kind eines Menschen«, und zwar ohne Namen. Bei der Verklärung nach Mk 9 kommen diese Elemente aus der Tradition zusammen: Berg, Licht, begrenzte Zahl der Zeugen (die auf den Berg hinaufgehen), die lichtverklärte Gestalt eines Menschen; eigentlich (wenigstens im Vergleich mit Ez 1; Offb 1) ist daher Mk 9 eine Menschensohn-Vision. (Aber vom Gottessohn auf dem Berg ist auch nach Lactantius die Rede.)
Das Evangelium nach Matthäus
Besonderheiten in Mt 2 Nirgends sonst besuchen die Weisen/Astrologen das Kind oder geleitet der Stern diese zum Fundort des Kindes. Nur hier werden dem Kind von den Weisen/Astrologen Gaben dargebracht, nirgends sonst fallen diese ihm anbetend zu Füßen, nirgends sonst wird auch gegen Ende der Erzählung sorgfältig darauf geachtet, dass der Herrscher die Weisen nicht doch noch trifft. Die Magier sind selbstständig handelnde Figuren geworden. In den Parallelberichten geht es zwar auch oft um Astrologie/Astronomie, aber die Astronomen sind für den Herrscher nur die Quelle seiner Kenntnis, sie gehen nicht selbstständig zu dem erwählten Kind, um es zu verehren. Dass sie das Kind anbeten, fehlt in den Parallelen von Abraham und Mose, Jesus wird dadurch als Gottessohn vor ihnen ausgezeichnet. Weil nur bei Matthäus die Astronomen das Kind besuchen, sind auch die Gaben, die sie mitbringen, samt ihrer symbolischen Bedeutung typisch für Matthäus. Während Frühjudentum und Neues Testament skeptisch bis ablehnend gegenüber dem Traum als Mittel der Offenbarung sind, ist er in Mt 2,12; 27,19 positiv bewertet – sicher im Kontext der Hochachtung gegenüber der Heidenmission. – Wie in der Passion Jesu heißt der Widersacher »König Herodes« (hier: Herodes d. Gr., dort: Herodes Antipas); Jesus wird mit dem Tod bedroht und wunderbar errettet. Er ist der »Typus« des leidenden und von der staatlichen Macht verfolgten Gerechten, und zwar am Anfang und am Ende seines Lebens. Das entscheidende Stichwort aber für Matthäus ist die »Anbetung«, die Jesus hier zuerst und dann noch öfter zuteil wird, und zwar nur bei Matthäus. Denn er fasst die Gottessohnschaft Jesu so auf, dass der eine und einzige Gott in Jesus präsent ist wie in einem Tempel und er demgemäß hier anzubeten ist. Das bedeutet auch »Gott mit uns« nach 1,23: Weil Jesus da ist, ist auch Gott bei den Menschen. Denn in ihm und durch ihn wendet sich Gott den Menschen zu, und zwar von Anfang an auch den Heiden. Denn die Magier, die dem Christuskind die Geschenke bringen, sind auch in den Parallelerzählungen über Mose und Abraham stets Nichtjuden. Schließlich: Nur bei Matthäus ist der Fundort des neugeborenen Kindes ein besonderes Thema. Denn um diesen Ort dreht sich die ganze Erzäh-
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Kapitel 2
lung, bevor es hier zur Anbetung kommt. Für den Leser hat Betlehem Jerusalem als Heilsort ersetzen können. Hier wird der Gottessohn gefunden. Damit wird das Thema der Davidsohnschaft aus Kap. 1 wieder aufgegriffen, denn Betlehem ist die Stadt Davids. In Jerusalem sitzt Herodes, und dort werden auch später die Feinde Jesu wohnen. Denn Jerusalem hat nach der Auffassung von Matthäus und Lukas alle Propheten ermordet, und so wird es auch mit Jesus geschehen (Mt 23,37; Lk 13,33). Jerusalem steht daher für das abtrünnig gewordene Volk. Betlehem dagegen bedeutet den Neubeginn des Heils gerade aus der Stadt, die man für die unbedeutendste hält (Mt 2,6). Aber so ist es ja mit Jesus auch: Er ist der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der aber zum Eckstein wurde (Mt 21,42). Wider Erwarten wird das scheinbar Geringste zum Größten. Das ist auch ein Stück pharisäischer Weltanschauung, die sich besonders bei Matthäus erhalten hat (Mt 5,19). Am Kleinsten entscheidet sich alles. Matthäus setzt auf das Kleinste, weil er ahnt, dass alles Große sowieso korrumpiert ist, sonst hätte es – zu den Bedingungen dieser Welt – nicht so groß werden können. So steht Betlehem für den Neubeginn aus der Unschuld des Hirtenidylls, genauso wie zeitgenössische Propheten – Johannes der Täufer und andere – einen radikalen Neubeginn aus der Wüste versuchen. Denn die Wüste ist noch reines Land, nicht befleckt von der Korruption der Geschichte. Auch David hat in Betlehem noch keines seiner Vergehen begangen. Von hier aus ist Neubeginn möglich. Das Judentum dieser Zeit sucht daher, so können wir feststellen, für das Programm von Umkehr und Neubeginn Orte, die für den Zauber des Anfangs stehen und von der Korruption der Geschichte frei sind. Deshalb ist Betlehem das, was für den Täufer die Wüste ist. Dass es drei Männer waren, hat man nur aus der Dreizahl der Gaben erschlossen; dass es Könige gewesen seien, erschloss man aus der persischen Kopfbedeckung, die man dem höheren Gegenüber vor die Füße legte (vgl. Offb 4,10). Die Gaben von Gold, Weihrauch und Myrrhe sind seit alters her symbolisch gedeutet worden: Gold steht für das Königtum (Reichtum, Glanz, Macht), Weihrauch für die Gottheit Jesu Christi (vgl. die entsprechende Anbetung des römischen Kaisers) und Myrrhe für das Leiden. Bis
19 heute wird Myrrhen-Tinktur als Mittel zur Reinigung von Wunden gebraucht; die Anwendung selbst ist schmerzhaft. Zur Platzierung der Myrrhe in der Passion Jesu vgl. Mk 15,23; Joh 19,39; das griech. Wort »smyrna« kommt von der Stadt Smyrna (Offb 1,11; 2,8). Zu Gold und Weihrauch vgl. schon Jes 60; dass die drei Männer Könige waren, konnte man auch aus Jes 60 lesen, denn es heißt dort in V. 3: »Völker wallen zu deinem Licht und Könige dort zu deinem strahlenden Lichtglanz.« Hier hat Gott also den Heiden das Zeichen vom Himmel (!) gegeben, das er seinem eigenen Volk verweigert hat (Mk 8,11f). Die drei Gaben sind damit symbolische Vorzeichen und gehören als solche in die Kindheitsgeschichten. Die Gattung der symbolischen Vorzeichen (Prodigien) gehört fest in den Ablauf von Herrscherbiografien. In Jesus ist daher einer erschienen, der Mensch, König und Gott zugleich ist. Wenn dieser vorwegnehmend hier als König der Heidenvölker und als Weiser aller ihrer Weisen (denn Magier galten als gelehrt und weise) dargestellt wird, dann nimmt er etwas in Anspruch, was außer ihm in damaliger Zeit nur einer tat: der Kaiser in Rom. In Mt 2,6 wird das Zitat aus Micha 5 in seiner Bedeutung umgedreht: Während es im hebräischen Text heißt: »Du, Betlehem, bist die geringste …«, macht Matthäus daraus: »Du, Betlehem, bist keineswegs die geringste …« Doch wird der Gesamtsinn dadurch nicht verfälscht. Der Sinn des hebr. Textes ist: Obwohl du die geringste bist … ; der Sinn des griech. Textes: Weil du keineswegs die Geringste bist, … – nämlich: Weil du durch die Herkunft Davids geadelt bist. Zitate dieser Art nennt man Reflexionszitate, weil der Evangelist mit ihnen den Bericht im Lichte der Schrift kommentiert und illustriert. Zitate dieser Art aus dem Alten Testament finden sich vorzüglich, aber nicht ausschließlich, im Evangelium nach Matthäus. Für die Historizität könnte sprechen: a) Über Herodes d. Gr. wird auch sonst nichts Gutes berichtet. – b) Die Beseitigung potenzieller Rivalen durch Kindermord gehört zu den politischen Üblichkeiten gerade des 1. Jh. n. Chr. Gerade für dieses Jahrhundert wird wiederholt davon berichtet (Livius, Sueton, Dio Cassius). – c) Im Unterschied zur älteren Forschung ist davon auszugehen, dass Sondergut einzelner Evangelisten
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20 – darum handelt es sich hier – nicht einfach der »Erfindung« des Redaktors zuzuschreiben sind, sondern in der Regel auf dessen eigener überkommener, spezifischer Tradition beruhen. – d) Auch bei nur einmaliger Bezeugung (also hier in Mt 2) ist bis zum Erweis des Gegenteils davon auszugehen, dass die Evangelisten ihre Leser nicht täuschen, sondern Historisches berichten wollen. Es gibt noch genügend »Platz« im Leben des Herodes, sodass er diese Tat sehr wohl vollbracht haben kann. – Die Historizität dieses Berichts auf Verdacht hin zu bestreiten überfordert jede denkbare Kompetenz von Historikern. Religionsgeschichtlich gesehen tritt neben die »Gefährdung des Retterkinds« noch ein zweiter Strang: Die Verehrung des persischen »Messias« durch die Anhänger der persischen Religion. Diese Tradition umfasst die Verehrung des als
Das Evangelium nach Matthäus
Mensch erschienenen Lichtes in einer Höhle durch Magier (hier haben die Darstellungen der Anbetung Jesu in einer Höhle und die Aussagen der Liturgie über das Licht zum 6.1. ihren Ursprung (vgl. dazu K. Berger/C. Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch zum NT, 1987, 114, Nr. 180). Im bunten religiösen Milieu Antiochiens bestand für den Evangelisten sicher die Möglichkeit, sich über diese Auffassungen zu orientieren. Innerhalb der vier Evangelien gibt es das Wort »König der Juden« nur und erst in den Passionsberichten, so etwa in Mk 15,2 etc. Ausnahme ist nur Mt 2,2. Denn hier geht es – wie bei den symbolischen Gaben – gleichfalls um Prodigien, um Vorzeichen für das kommende Geschick der Hauptperson.
Mt 2,16-23: Kindermord und Rückkehr Von »theologischer Geografie« spricht man, wenn das auf einer Landkarte Verzeichnete Punkt für Punkt und Ort für Ort eine sakrale Bedeutung hat. Der Evangelist Matthäus entfaltet dieses vor allem in den Kapiteln 2-4. Dadurch lesen sich diese Kapitel wie ein frühes Pilgerhandbuch. Jeder dieser heiligen Orte wird als solcher mit einem »Reflexionszitat« begründet. So nennt man Texte aus dem Alten Testament, die ein Evangelist im Lichte ihrer neutestamentlichen Erfüllung liest und die er in diesem Geschehen bestätigt sieht. Er »reflektiert« darin die Erfüllung des neutestamentlichen Geschehens mit Hilfe des Alten Testaments. So begründet und reflektiert der Evangelist Mt den Geburtsort Betlehem in 2,6 durch Micha 5,1. In Mt 2,15 reflektiert er Jesu zeitweiligen Aufenthalt in Ägypten durch Hos 11,1; Num 23,22. In Mt 2,23 reflektiert er die Bedeutung der Heimat Jesu in Nazaret mit einem rätselhaften Zitat, das wohl auf die Nasiräer-Texte in Ri 13,5 oder Num 6 zurückgeht. Und schließlich wird in Mt 4,15 Jesu Auftreten in Kafarnaum und im »Galiläa der Heiden« reflektiert mit Jes 8,23; 9,1. – Auch gegen Ende des Lebens Jesu wird der Evangelist die Topographie der Passionsgeschichte entsprechend mit Schriftzitaten verbinden, so Sion (21,5), den Tempel (21,13) und den Acker des Töpfers für das Judasgrab in
27,9 f. Besonders zu Anfang des Evangeliums werden die heiligen Stätten der Kindheit und des Wirkens Jesu genannt: Betlehem, Ägypten, Nazaret und Kafarnaum. Jede ist eine »Stadt Jesu«. Der Ort am Anfang des Evangeliums entspricht dem Schema der Biografie. Denn nächst Eltern (Abkunft) und Ausbildung müssen die »Wohnsitze« genannt werden, um eine Person zu skizzieren. Die Offenbarung Gottes ist bodenständig. Sie vollzieht sich nicht im luftleeren Raum und irgendwie »rein geistig«, sondern wie schon im Alten Bund (Sinai, Sion etc.) an heiligen Orten. Damit wird ein Stück Schrifterfüllung geleistet und Wallfahrtstheologie praktiziert. Die Nennung der Stämme Sebulon und Naftali in 4,12-14 erinnert daran, dass Matthäus besonderen Wert auf die Zwölfzahl der Stämme legt (19,28). Andererseits sind zwei der angegebenen heiligen Orte heidnisch: Ägypten und Galiläa. So wie der Evangelist auch sonst eine sorgfältige Balance sucht zwischen Jesu Zuwendung zu Juden und Heiden, so nennt er neben zwei typisch jüdischen Orten (Nazaret und Betlehem) zwei heidnische.
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Kapitel 3
Mt 2,19-23: Heimkehr nach Nazaret Der Ortsname Nazaret ist im Alten Testament nicht belegt. Das Zitat in Mt 2,23 kann sich nur auf die Gruppe der Nasiräer beziehen. Das philologische Problem entsteht daraus, dass Nasiräer nicht Nazoräer sind, schon gar nicht aber Nazarener. Nun wird in Mt 4,13 Nazaret mit dem Wort Nazara benannt. Das gibt der Diskussion über Nazaret eine neue Richtung: Nasaraioi ist eine bei frühen östlichen syrischen und griechischen Kirchenlehrern bezeugte Gruppe von Heilern und Exorzisten. Sie könnte vorchristlichen Ursprungs sein. Epiphanius (Haereses 29.7.3) sagt: »Die Nasaräer existierten vor Chris-
21 tus und kannten Christus nicht.« So nennt er sie (19.5) als jüdische Religionspartei neben Sadduzäern, Essenern und anderen (vgl. mehr zu Mk 1,24). Im Aramäischen und Syrischen werden die Christen mit scharfem s (Sade) nasraija geschrieben, die Nasiräer dagegen mit weichem z (Zain; nezira). Auch das spricht gegen die Herleitung von den Nasiräern. Oder sind die Christen von nasar (mit scharfem s) hergeleitet und damit die Bewahrenden, Beobachtenden, also die Observanten? Das JohEv würde das bestätigen (Bewahren der Gebote Jesu, griech.: terein). Auch das o wäre vom Partizip her zu erklären. Und das käme auch der Textgestalt in Mt 2,23 nahe.
Mt 3,1 – 4,12: Taufe und Versuchung Mt 3,13-17: Taufe Jesu Besonderheiten bei Mt: Die Himmelsstimme am Schluss ruft nicht: »Du bist mein Sohn«, sondern sie erklärt den Umstehenden: »Dieser ist mein Sohn, mein Geliebter und Auserwählter.« – Der Leser des Matthäus-Evangeliums weiß schon von der Kindheitsgeschichte her, dass Jesus Sohn Gottes ist. Deshalb kann es bei der Taufe weder um die Adoption (durch »Du bist …« wie bei Mk, wie manche meinen) noch um die Einsetzung (im Sinne des Amtsantritts oder der juristisch verstandenen offiziellen Bestellung) zum Sohn gehen. Vielmehr liegt die Gattung der Proklamation vor: Das, was Jesus schon seit der Empfängnis ist, wird nun öffentlich enthüllt und allen kundgetan. Diesen Akt der Vorstellung kennt man aus dem Herrscherritual (Vorstellung, Präsentation). 3,16 ist eine »Epiphanie« (plötzliches hilfreiches, rettendes Erscheinen eines Gottes oder eben eines Herrschers). Die Taufe Jesu ist eine mystische Erfahrung. – Daher wird auch im judenchristlichen Ebioniten-Evangelium die Taufe Jesu im Rahmen des Erstrahlens eines großen, starken Lichts dargestellt (Übers.: Berger/Nord, 983f). So wie Matthäus uns die Taufe schildert, wird darin ein politischer Anspruch erhoben. Proklamation und Epiphanie meinen einen Gottkaiser (und mehr), eben den, der am Schluss des Evangeliums von sich sagen wird: »Mir ist alle Gewalt
gegeben im Himmel und auf der Erde.« Nach 3,15 will Jesus durch seine Taufe Gottes Forderung nach Gerechtigkeit nachkommen. Im Klartext heißt das: Gottes Gebote erfüllen. So wird Jesus seine Bergpredigt verstehen, zu deren Beginn er davon spricht, dass es ihm um die Erfüllung des Gesetzes geht (5,17). Weil sie Gerechte sind, werden die Christen verfolgt (5,10); ihre Gerechtigkeit muss radikaler, durchdringender sein als die der Pharisäer (5,20). Und wenn Jesus in 21,32 seine gesamte Lehre als »Weg der Gerechtigkeit« zusammenfasst, dann schließt er auch hier Johannes den Täufer ausdrücklich mit ein. So spricht er ja auch in 3,15 davon, dass »wir alle Gerechtigkeit erfüllen« müssen. Im Hintergrund könnte Ez 36,24-27 stehen (Gott gibt Wasser und Geist, »dass ihr meine Forderungen nach Gerechtigkeit erfüllt«. Nach Röm 8,3f wird gerade an der Sendung Jesu auf Erden (und nicht erst bei der Auferstehung) deutlich, dass in ihm Gottes Geist wirkt zur Erfüllung des ganzen Gesetzes. Deshalb ist bei Matthäus auch sonst (28,19) und bei Paulus öfter (z. B. 1 Kor 12,13) der Heilige Geist mit der Taufe verbunden. In Mk 1,9f; Lk 3,21 fehlt der Dialog zwischen Johannes und Jesus aus Mt 3,14 f. Bei Mk und Lk wird stark die Vorbildfunktion Jesu für den Weg jedes Christen betont. Das ist im MtEv und noch stärker im JohEv anders. Bei Mt ist Jesus von Anfang an wahrer Gott und wahrer Mensch. Von diesem Standpunkt aus ist die Taufe durch Johannes
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22 tatsächlich eher problematisch. Nach Mk wird Jesus mit Wasser und Geist getauft, wie es zur Zeit des MkEv Standard war – nach Joh 1 wird Jesus gar nicht getauft; denn im JohEv steht Jesus mehr den Menschen gegenüber, als dass er ihnen auf dem Weg vorangeht. Bei Mt, der Joh hier nahesteht, muss die Taufe des Gottessohnes wirklich gerechtfertigt werden. Sie gehört (vgl. Mt 21,32) zum Weg der Gerechtigkeit dazu, weil jeder Christ aus Wasser und Geist getauft werden muss. Dass es sich aber bei Jesus nur um eine Proklamation handelt (»Dieser ist …«) und nicht um eine Installation (»Du bist …«), das macht gerade hier Sinn. Denn im Unterschied zu den Christen hat Jesus nach Mt den Geist von Mutterleib an. Dennoch ist Jesu Taufe ein Zeichen für alle Christen, auch wenn im Ausnahmefall Jesu der Heilige Geist in der Taufe nicht verliehen, sondern nur publik gemacht wird.
Mt 4,1-11: Versuchung in der Wüste Zur Versuchungsgeschichte im Ganzen: Im Rahmen der Gattungsgeschichte gehen die Versuchungsberichte in den drei ersten Evangelien zurück auf den biografischen Topos der »Anfechtung des Neubekehrten«, wie sie das Judentum aus den Nacherzählungen des Lebens Abrahams, Hiobs und anderer kennt und wie sie z. B. für die Thessalonicher auch Paulus voraussetzt (1 Thess 3). Nun ist Jesus kein Neubekehrter, sodass ein Gattungstransfer vorliegt. Doch seine Taufe wird offenbar als eine Art Berufung verstanden, und die Grenzen zwischen Bekehrung und Berufung sind tatsächlich unscharf. Im MtEv ist die Taufe eine öffentliche Berufung. Der Versuchungsbericht stellt die Echtheit der Berufung und damit auch ihre inhaltliche Struktur fest, indem er dieses Thema dialogisch entfaltet. Dabei ist die tiefgreifende theologische Erfahrung vorausgesetzt, dass Teuflisches und Göttliches sich rein äußerlich sehr ähneln (vgl. zur Theologie der Offb das Phänomen der Nachäffung). Denn der Teuflische ahmt stets Gott nach; deshalb kenne ich, was die Einleitung, den Rahmen, betrifft keinen Versuchungsbericht, der ohne die Gestalt des Teufels auskommt. Eben deshalb ist eine präzise Unterscheidung von Anfang an nötig. Auch im Corpus des Evan-
Das Evangelium nach Matthäus
geliums selbst wird ja der Verdacht geäußert, Jesus stehe in Wirklichkeit auf der Seite des Teufels (Mt 12,24-32). Dass die Versuchung als schriftgelehrter Disput geführt wird, ist einzigartig. Auffällig ist dabei, dass Jesu Antworten alle aus Dtn 6-8 stammen. Das Dtn ist übrigens – nicht zuletzt wegen des Hauptgebotes in 6,4f – das (neben Jes, Ps, Gen und Ex) auffällig häufig zitierte Buch im Neuen Testament. Inhaltlich geht es in der Versuchungsgeschichte um zwei Themen: um die Frage des Nutzens der Berufung für Jesus persönlich und um die Definition von Gottes Reich, letztlich um das Gottesbild. Zur ersten Frage: Wenn Jesus Steine in Brot verwandelt, hat er sich selbst aus der durch die Wüste gegebenen Situation des Hungers befreit. Auch unter dem Kreuz werden die Menschen sagen: Rette dich selbst, Arzt, hilf dir selbst. Und Steine in Brot zu verwandeln, ist göttlich. Man könnte die Speisungsberichte der Evangelien auch so deuten. Doch Jesus nutzt seine Vollmacht nicht zum eigenen Wohlergehen. Genau das würde ihn als teuflisch erweisen. So wäre auch der Sturz von der Tempelzinne ein Schauwunder zu eigenen Gunsten. (Jakobus, dem Herrenbruder, Jesu Verwandtem, wird man das später antun, ohne dass ihn Engel retten). Die Steigerung gegenüber dem Brotwunder läge darin, dass es beim Sturz um Leben und Tod ginge. Auch beim Gang zum Kreuz rettet sich Jesus nicht selbst aus dem Tod. Das muss ein anderer tun. Darauf werden die Leser hier vorbereitet. Die größte Steigerung schließlich ist die Weltherrschaft mit all ihrem Glanz. Interessant ist, dass der Teufel (!) sie zu vergeben hat (vgl. 2 Kor 4,3 f). Auch hier wäre die scheinbare Parallele zu Gottes Reich ganz offenkundig. Daher die Entsprechung von Mt 4,8 zu Mt 28,18. Fazit: Jesus lehnt nicht nur die Ratschläge des Teufels ab, er weist auch ein Dienst- und Anbetungsverhältnis zurück. Soweit die grundsätzliche Uneinigkeit zwischen Jesus und dem Satan. Der Preis für all die angebotene Selbstbedienung wäre ein Verrat an Gott. Aber was wird positiv aus diesem Dialog für Gottes Reich und den Gott Jesu Christi erkennbar? Ist Gott etwa nicht auf Macht erpicht? Sollen Verwandlungswunder (Steine in Brot) und Rettungswunder (Bewahrung vom Sturz in den Tod)
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etwa nicht seine Wege sein, die Herzen der Menschen zu bekehren, und zwar für sich zu bekehren? Ist die »Macht und die Herrlichkeit« nicht sein wahres Thema? (Alle diese Elemente spielen in der Kirchenkritik späterer Jahrhunderte stets eine Rolle). Hat Jesus Gott falsch verstanden? Die Brisanz und die Anstößigkeit der Versuchungsberichte liegen genau darin: Gott verzichtet auf das kurzfristig und sichtbar Hilfreiche. Das überlässt er im Zweifelsfalle dem Satan. Zumindest Brot und Rettung aus Abstürzen sind doch wirklich hilfreich! Und wenn einer wie Jesus (freilich unter Verzicht des Bekenntnisses zu Gott) Chef der Weltregierung würde, wäre das nicht gut? Könnte man dann nicht seine Ableugnung des Glaubens an Gott geradezu als Zeichen der Toleranz auch positiv werten? – Die Antworten, die Jesus in diesem Dialog gibt, reichen bis in die Theodizeefrage hinein. Denn alles Sichtbare ist nur ein kleiner Teil der Herrschaft Gottes, ist nur der nebensächliche Vordergrund. Und wie auf der Bühne kann der Vordergrund aus Gründen weitreichender Regierungsstrategie auch leer bleiben oder schnell umdisponiert werden. Daher sind sichtbare Veränderungen – und seien sie auch noch so hilfreich – nicht (zwingende) Beweise für diesen Gott. Die hat er nicht nötig. Mehr Nahrung und mehr wunderbare Rettungen bleiben im Zwielicht des Vordergrunds. Es wird nicht gesagt, das Unsichtbare oder Innerliche sei das Eigentliche. Gemeint ist etwas anderes: Gottes Regiment und Willen sind nicht festzulegen auf das, was »weltlichen« Nutzen bringt, schon gar nicht, wenn der Preis die Ableugnung Gottes ist. Jesus plädiert für drei Prioritäten: die des Hörens auf Gottes Wort, die des Wartens auf Gottes Eingreifen, wann und wie er es will, und die Priorität der Anbetung. Mit diesen drei Prioritäten kämpft Jesus für Gottes Reich. Es enthält die Verheißung, dass es so für den Menschen am besten sei. Alles andere ist Illusion, vergängliches teuflisches Trugbild. Die Gegenfrage: Was will der Teufel in diesem Bericht? Durchaus dasselbe wie in der Versuchung Mt 16,23, wo Jesus ihn erneut scharf zurückweist, als er aus Petrus spricht: Da sieht der Teufel den Sinn messianischer Existenz in einem leidfreien Wohlergehen. Das ist auch das Thema der Versuchungen in 4,3-7 (kein Hunger mehr, keine körperliche Katastrophe mehr). Der Ge-
23 rechte aber muss leiden – das ist die unschöne Schlussfolgerung, die sich aus Mt 4,1-11 und 16,23 nahelegt. Die dritte Versuchung ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund des römischen Kaisertums im 1. Jh. n. Chr. Denn die Weltherrschaft liegt bereits in den Händen eines Einzigen, des römischen Kaisers. Und Jesus bestätigt der einzigen und absoluten Großmacht seiner Zeit, ihr Selbstverständnis sei teuflisch. Denn so ist jede Macht, die ohne den Glauben an Gott auskommt. Gottes Macht inklusive Gottes Messias sind nicht einzuplanen in die Machtspiele der Welt. Ähnliche Spannungen bestehen auch zum Rest des Evangeliums, zu den Speisungsgeschichten und zu Jesu Errettung aus dem Tod. Denn Gott will auch ohne Wunder geglaubt werden. Er liefert Wunder nicht auf Anforderung oder auf Befehl, sondern wann und wie er will. Gewiss heißt es: »nicht vom Brot allein«. Jesus will beides geben, Gottes Wort und Brot, der Teufel nur eines. Wenn Jesus beides gibt, dann nur unter Respektierung der Souveränität Gottes, nicht unter dem Diktat des Nützlichen im Rahmen vergänglicher »Werte«. Theologiegeschichtlich ist das, was die Versuchungsgeschichten bieten, zweifach einzuordnen: einmal in die weisheitliche Tradition der Kritik gegen jede Verabsolutierung der »Werte« der Gesellschaft (Reichtum, Militär, »dumme« Gesundheit). Diese Werte sind nur Spielmaterial, nicht das Letzte. Zum anderen ist der Versuchungsbericht bestimmt von demselben pneumatologischen Dualismus, der auch in den Exorzismen zutage tritt. Gottes Reich steht gegen das Reich des Teufels, und Letzteres hat entgegen dem Augenschein jetzt ein Ende. So wird es deutlich aus Mt 12,28; Lk 11,20 und aus dem FreerLogion Mk 16,14: »Da verteidigten die Jünger ihr Verhalten und sagten: ›Unsere Welt ist ohne Gesetz und ohne Glauben. Sie steht unter der Herrschaft Satans. Der Satan verhindert durch böse Dämonen, dass wir Menschen den wahren und wirklichen Gott und seine Kraft erfassen.‹ Sie baten den Messias: ›Lass die Zeit offenbar werden, in der deine Gerechtigkeit herrscht.‹ Und der Messias erwiderte: ›Das Maß der Jahre, in denen Satan herrschen kann, ist schon voll. Doch anderes Schreckliches kommt auf euch zu. Es wird auch die heimsuchen, die gesündigt hatten und
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24 für die ich stellvertretend dem Tod übergeben wurde. Daher sollen sie zum wahren und wirklichen Gott umkehren und nicht mehr sündigen. So können sie die Herrlichkeit des Himmels erlangen, die vom Heiligen Geist gewirkt und unvergänglich ist und bedeutet, dass Menschen mit Menschen und Gott mit den Menschen zusammenleben können.‹« Das »entgegen dem Augenschein« kommt diejenigen, die zu Gott gehören, teuer zu stehen. Oft ist es der Preis des Lebens, der gezahlt wird. Das ist die Konsequenz aus kompromisslosem Monotheismus. Im Versuchungsbericht werden die »metaphysischen« Fronten unmissverständlich klar aufgezeigt. Fasten Fasten ist nie Selbstzweck, es dient nicht dem puren Abnehmen, sondern meint vielmehr ein Stück biblischer Leibhaftigkeit und Ganzheit, es ist die körperliche Seite einer umfassenden Vorbereitung, d. h. immer fastet man vor etwas Wichtigem, und daher ist es auch Teil dessen, was die Bibel »sich heiligen« nennt. Bevor Gott auf dem Sinai mit Mose spricht, befiehlt er dem Volk: »Sie sollen sich heute und morgen heilig halten und ihre Kleider waschen« (Ex 19,10). Und bevor die Gemeinde in Antiochien eine Offenbarung des Heiligen Geistes über die erste Aussendung zur Mission empfängt, betet und fastet sie (Apg 13,2-3). Auch später dient das Fasten immer der Vorbereitung auf die göttliche Epiphanie, die Begegnung mit Gott. So sitzt der jüdische Mystiker zur Vorbereitung auf die Berührung mit dem Himmel 40 Tage auf dem Boden, nimmt jeden Tag 24 Tauchbäder, isst nur Grünes, trinkt nur Wasser, schaut keine Farben und keine Frau an und wiederholt stündlich hebräische Gebetsworte (vgl. dazu: P. Schäfer, Übersetzung der Hekhalot-Literatur II, §§ 299 f, 314). Auch die ganze Lebensweise Johannes des Täufers, der auf Wein und Fleisch verzichtet, ist eine einzige Vorbereitung auf das, was kommt, auf den Tag des Herrn. Und wenn es in einem apokryphen Jesuswort (Agraphon) heißt: »Fastet gegenüber der Welt«, dann ist das Verhalten der Christen in der Welt angesichts der kommenden Welt gemeint. Fasten ist deshalb zur Vorbereitung auf die Begegnung mit Gott geeignet, weil es geradezu im
Das Evangelium nach Matthäus
buchstäblichen Sinn Platz schafft im Menschen für eine andere, neue Erfahrung. Jedes Stück alltäglicher Normalität – und dazu gehört das Essen –, auf das man verzichtet, gibt Raum für andere Wahrnehmungen, macht frei für sie. Das ist nicht eine Abwertung des Leibes, sondern ein Öffnen des Leibes für geistliche, mystische Wahrnehmung. Im Neuen Testament geht es nirgends (!) um einen kategorischen Gegensatz zwischen Leib und Geist, sondern immer um den Gegensatz zwischen irdisch und himmlisch, wertloser Vergänglichkeit und ewigem Leben, das sich dem Heiligen Geist verdankt. Als Jesus für 40 Tage in die Wüste geht, tut er es gewiss nicht aus Neugier auf satanische Erfahrungen. Die teuflische Ekligkeit besteht in der Aufdringlichkeit; denn das, was der Teufel von Jesus möchte, sieht so aus, als sei es eigentlich nur gut für ihn. Er verlangt nichts Absurdes von Jesus, sondern nur, dass er sich etwas Gutes tut; denn nach 40 Tagen Fasten darf man wohl Hunger haben. – Hebr zeigt in 1,4-14, wie eindeutig nach der Schrift der Sohn über die Engel erhaben ist, die nur dienstbare Geister sind. Und universale Vollmacht über die Reiche der Welt kommt Jesus sicher zu; in Mt 28,18 wird er es selbst sagen (»Mir ist gegeben …«). Warum soll er bis zur Auferstehung warten, wenn der Teufel ihn schon jetzt damit ehren will? Dass übrigens der Teufel es ist, der die Reiche der Welt, ihre Beherrschung und ihren Glanz zu vergeben hat, ist eine tiefe, bittere Einsicht, die Jesus aus der Wüste mitbringt. Dass Jesus mit dem Teufel einen schriftgelehrten Disput führt, weist ganz nebenbei dezent darauf hin, wie leicht manipulierbar das Wort der Schrift ist, wenn man die Zitate ohne ihre Mitte, ohne Gott, zu lesen und zu verwenden versucht. Im Kontext des MtEv wird dies so jedem christlichen Schriftgelehrten (13,52) ins Stammbuch geschrieben. – Man beachte: Jesus soll sich, so wäre es dem Teufel recht, einfach normal verhalten, ein ganz klein wenig gesund egoistisch (Brot), auf Prestige bedacht (Tempelzinne) oder opportunistisch (Reiche der Welt). In diesen Normalitäten liegt das Teuflische. Dann wird alles Egomanische immer nur so weitergehen. – Das ist ja übrigens das Aufregende an der Spiritualität der Mönche: dass hier Christen sind, die nicht zuallererst auf ihr eigenes Wohlergehen bedacht sind.
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Zum Teufel: Sein Aussehen ist unwichtig; vermutlich ist er unsichtbar; sein Wesen ist seine Macht, seine Intelligenz und eben die PseudoSchriftbeweise, die er eingibt und die so wunderbar verführerisch wirken. Der Teufel erscheint hier als intelligente, suggestive Macht und damit fast wie eine Person. Zum Verhältnis von 4,6 zu 4,11: Nach 4,6 sollen gemäß Ps 91,11f die Engel Jesus dienen. Doch Jesus lehnt dies ab. Nach 4,11 dienen die Engel Jesus dennoch. Wie verhält sich beides zueinander? Die Anwendung des Psalms würde dann nur abgelehnt, wenn Gott damit versucht werden soll. Es würde also gewissermaßen nachgetragen, inwiefern der Psalm doch gilt, damit der Teufel (und der Leser) nicht nachher sagen können, Jesus sei der in diesem Psalm gegebenen Verhei-
ßung einfach ausgewichen. Die Verheißung gilt ja, aber nicht, wenn man Gott versuchen will. – Zudem ist bedient werden durch Engel eine andere, entgegengesetzte Art von Kontakt mit den unsichtbaren Mächten als versucht werden durch den Teufel. Den erprobten Sklaven wird der Herr nach Lk 12,37 sogar im Himmel selbst bedienen! Vor dem Sündenfall dienten die Engel Adam und Eva. Nun aber, da in Jesus Christus ein Mensch nicht auf die Versuchung des Teufels hereingefallen ist, lebt die Dienstbarkeit der Engel gegenüber dem Menschen wieder auf. Was nach der Erhöhung allgemein gilt, wird hier vorweggenommen. Die Versuchungsgeschichte stellt genau diesen Weg im Kleinen dar. Deshalb bekommt Jesus wiederholt denselben Satz zu hören: »Wenn du der Sohn Gottes bist, (dann tue das und das …)« (Mt 4,3.6; 27,40).
Anfänge der Verkündigung Mt 4,12-25: Kafarnaum – Jüngerberufung – Galiläa Jesus ist nicht nur der Stern für die Heiden (Mt 2), das Licht für die Heiden (Jes 49), sondern eben auch das Licht in der Finsternis für alle, die im Todesschatten sitzen. Das Zitat aus Jes 9 in Mt 4 ist ein klassisches Reflexionszitat, »wie es im Buche steht«. Denn
Jesus berührt auf seinem Weg genau die Gegenden, die das Zitat nennt (Galiläa, Zebulon, Naftali), nur »Nazara«, wie hier Nazaret heißt, kommt im Zitat (und im ganzen Alten Testament) nicht vor. Zu den Berufungen in Mt 4,18-22: vgl. dazu die Berufung des Elisa durch den Propheten Elia nach 1 Kön 19,19-21.
1 Könige 19,19-21
Mt 4,18-22
und er ging weg von dort
Jesus ging am Ufer … entlang
und er findet den Elisa, Sohn des Safat,
und er sieht zwei Brüder, Simon … und Andreas, seinen Bruder
und er pflügte mit Rindern
und sah, wie sie ihre Fischernetze in den See warfen, denn sie waren Fischer
und er ging auf ihn zu und warf seinen Mantel auf ihn,
Da sagte er zu ihnen: Auf, kommt mit mir! Ich will euch zu Menschenfischern machen.
und … Elisa sagte: Ich will Abschied
Und kaum hatte er das gesagt, da ließen sie ihre Netze fallen
nehmen von meinem Vater
(von Jakobus und Johannes: Da ließen sie das Boot
und dir nachfolgen
und ihren Vater Zebedäus zurück = V. 22)
Und er stand auf und ging hinter Elia her und diente und folgten ihm nach. ihm.
Die kurze, dramatische Abfolge ist ganz gleichartig: Der Prophet fndet den künftigen Jünger
bei der Arbeit. Diese Arbeit weist symbolisch auf die künftige Tätigkeit hin (Fischer/Menschen-
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26 fischer; zum Pflügen bei Elisa vgl. Lk 9,62). Der angesprochene Mann folgt sofort nach; von dessen Vater ist die Rede (Mt 4,22, vgl. Mt 8,21f). – Jesus überbietet Elia: Er beruft gleichzeitig jeweils zwei Jünger, und diese dürfen nicht einmal vom Vater Abschied nehmen. In Mt 8,22 wird Jesus hier sogar zur Respektlosigkeit auffordern. Indem Jesus so streng und rigoros beruft, ist er »mehr als Elia« – Matthäus sieht Elia selbst im Täufer auftreten (17,13). Diese intensive Entsprechung zur Berufungsgeschichte Elia/Elisa verdeutlicht uns: Das Vorbild der Jünger Jesu sind die Prophetenjünger des Alten Bundes. Der religiöse und praktische Begriff der Nachfolge ist gleichfalls bei Elia/Elisa schon vorhanden: Elisa geht hinter Elia her. – Nach Sir 48,8 heißen die Jünger des Elia seine »Nachfolger« (diadochoi), eine direkte Bezugnahme auf die philosophischen Schulhäupter der Antike. Und noch einmal wird – indirekt – in unserem Text von Elia geredet. In dem ganzen Abschnitt 4,23-25 werden alle wichtigen Gegenden Palästinas (außer Samarien) als Orte der Wirksamkeit Jesu genannt (Galiläa, Syrien, Zehn Städte [Dekapolis], Jerusalem, Judäa, Ostjordanland). Auch hier finden wir wieder das starke geografische Interesse, wenn auch ohne Schriftbegründungen. Zunächst ist von den Juden und dem Volk die Rede (4,23), dann aber brachte man sichtlich auch Heiden zu Jesus (4,24); denn die in V. 24f genannten Gebiete sind typisch heidnisch. Im Sinne der Elia-Typologie ist, dass Jesus ganz Israel wiederherstellt, und das geschieht hier geistlich und physisch, durch das Evangelium und durch die Heilungen. Wenn Sir 48,10 von Elia sagt: »… wiederherzustellen die Stämme Jakobs«, dann versteht Matthäus das auch im Sinne von Heilungen. Jesus handelt wie Elia, und er überbietet ihn zugleich. Das wird später an den Wundern der Auferweckung der Tochter des Jairus und an denen der Speisungsberichte deutlich werden. »Mehr als Elia« ist nicht die einzige Kategorie, mit der man Jesus erfassen kann. Er ist auch mehr als Salomo, mehr als Jona, mehr als der Tempel. Er ist auch Menschensohn und Gottessohn und Sohn Davids. Die Kategorie »mehr als Elia« leistet etwas Besonderes: An keiner Stelle geht es so deutlich um die Erfüllung der jüdischen Erwartung einer Einzelfigur. Das betrifft
Das Evangelium nach Matthäus
nicht nur die Schrift, sondern auch das zeitgenössische Judentum. Messiasbilder gibt es viele, und im Ganzen ist die Messiaserwartung eher unscharf und lässt einen großen Spielraum. Die Erwartung einer Gestalt nach Art des Elia ist prägnanter. Es gibt auch Texte (vgl. z. B. Sir 48,9-11), nach denen Elia eine messianische Figur ist. – In der Komposition unseres Abschnittes ist bemerkenswert: Jesus ist das »große Licht« (V. 16) nicht für sich alleine. Deshalb beruft er unmittelbar darauf Jünger. Bald wird er zu ihnen sagen, was von ihm gilt: »Ihr seid das Licht der Welt« (Mt 5,14). Mt 4,15f: »… sah ein großes Licht« Reflexionszitate nennt man Bibelzitate, die nicht als Worte Jesu, sondern als Kommentar (Reflexion) des Evangelisten stehen und deren Einleitung stets ähnlich feierlich ist wie: »… damit erfüllt wird, was gesagt wurde durch den Propheten X …« Dieses »Denken in Erfüllungszitaten« setzt ein besonderes Verständnis des prophetischen Wortes voraus. Demnach verhält sich das Wort der Schrift zum neutestamentlichen Geschehen wie eine Ankündigung (Verheißung) zur Umsetzung in reale Geschichte. Anders als bei heutigen Alttestamentlern wird daher das prophetische Wort der Schrift (wozu auch die Psalmen zählen, da David als Prophet gilt) nicht seinerseits als Niederschlag einer konkreten Geschichte gesehen, sondern als pures Wort, als pure Schrift. Und über die Zeit Jesu fällt damit das Urteil, sie sei »Erfüllungszeit«, in der Gott immer wieder sein Wort wahrmacht. Und für das neutestamentliche Geschehen bedeutet das: Es ist nicht zufällig, nicht kontingent, nicht rein irdisch oder politisch, sondern heilige Geschichte. Nimmt man Ausgang und Ziel zusammen, so gilt: Weder ist das alttestamentliche Wort zufälliges Menschenwort noch ist das neutestamentliche Ereignis zufälliges Geschehen, sondern beides ruht fest in Gottes Hand. Die Apostelgeschichte lässt erkennen, dass die heilige Erfüllungszeit nicht auf das Leben Jesu beschränkt ist. Sie gilt seit Jesus. Dabei ist für die neutestamentlichen Autoren offen, wieweit auch die weitere Kirchengeschichte in diesem Sinne als Erfüllung gelten kann. Nach meinem Eindruck wäre es konsequent neutestamentlich gedacht, wenn auch spätere Ereig-
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nisse der Kirchengeschichte im Lichte des Schemas Verheißung/Erfüllung gedacht würden. Lediglich in apokalyptischen Strömungen, aber nicht darüber hinaus, hat man das versucht. Festzuhalten bleibt: Gottes Wirken in der Geschichte hat immer »zwei Beine«, ein altes Wort und ein neues Geschehen. Beides bestätigt sich gegenseitig – wie nach der Regel der mindestens zwei Zeugen (Dtn 19,15). Dabei ist ein Autor wie Matthäus offenbar unbesorgt darüber, dass nur ein Bruchteil der alttestamentlichen Prophetenworte im Neuen Testament umgesetzt wird. Zum Beispiel fällt bei unserem Text auf, dass Mt auf das naheliegende Stück Jes 9,5 nicht eingeht (»Ein Kind wird uns geboren, ein Sohn wird uns geschenkt, auf seinen Schultern ruht Weltherrschaft …«); diese Stelle wird im ganzen Neuen Testament nicht zitiert, wohl aber in der späteren Liturgie als Introitus von Weihnachten. – Offen-
27 bar genügt es, dass– wie in einem Teppichmuster – wiederholt alttestamentliche Stellen sich anbieten, besonders in den Kindheitsgeschichten und in der Passion (also an den klassischen biografischen Topoi Anfang und Ende des Lebens). Das sagt dann offenbar genügend über das Ganze. Während bei Lukas diese Art Schriftbeweis auf die Belehrung durch den Auferstandenen zurückgeführt wird, jedenfalls für Passion und Auferstehung, kann Matthäus diese Arbeit selbstständig durchführen – offenbar versteht er sich als den Schriftgelehrten, der Neues und Altes aus seinem Schatz hervorholt (13,52). Dadurch kann er sein Evangelium besonders empfehlen; denn so ist auf einzigartige Weise immer Altes und Neues Testament präsent, und die Kirche hat es ihm durch extensiven liturgischen Gebrauch gedankt.
Mt 5-7: Bergpredigt Inhaltliche Bedeutung der Komposition der Bergpredigt Mt 5,3-12: Die Seligpreisungen gratulieren dem Menschen, der sich an das hält, was hier verkündet wird. Er steht, so sagen die Seligpreisungen, in einer Geschichte des Heils, die gut endet. Im Blick auf diese Verheißungen wird das Interesse geweckt. Es ist ein segensreicher Zusammenhang, in den der Leser/Hörer hineingestellt ist. In 5,13-16 folgt die direkte, auszeichnende Anrede an die Jünger. Ähnlich wie in den Briefen an derselben Stelle zu Anfang der Heilsstand der angesprochenen Gemeinde lobend erwähnt wird, gilt hier von den Angeredeten, dass sie Salz der Erde und Licht der Welt sind und dass von ihrem Verhalten abhängt, ob die Menschen zu Gott finden. Jesus appelliert an Würde, Adel und Verantwortung der Angesprochenen (rhetorisch: captatio benevolentiae). In 5,17 – 6,34 folgt der zentrale Hauptteil der Rede. Das Thema ist an dem mehrfach genannten Stichwort Gerechtigkeit klar zu erkennen (Mt 5,[6.10.]20; 6,1.33). Zuerst sagt Jesus etwas zum Thema Gesetz und Gerechtigkeit (5,17-48). Denn nicht nur im Judentum, sondern in der gesamten hellenistischen Umwelt sind diese beiden Themen miteinander verwoben (vgl. dazu:
H. Sonntag, Nomos Soter, 2002). Die Basis besteht für Jesus darin, das Gesetz auf jeden Fall, und zwar ganz, zu erfüllen. Aber die pharisäische Auslegung reicht nicht aus im Sinne der von Jesus geforderten Gerechtigkeit, denn der Maßstab ist jetzt Gott selbst (5,48). Die so genannten Antithesen sind in diesem Sinne eine Anpassung des Gesetzesinhalts an den neuen Maßstab. Das zweite Thema unter dem Stichwort Gerechtigkeit ist die »vor den Menschen getane« Gerechtigkeit (6,1-18) mit den Abschnitten Almosen, Beten und Fasten. Hat ein Tun, das schon von Seiten der Menschen her viel Bewunderung einträgt, das einen beliebt und angesehen macht, irgendwelchen Wert vor Gott? Antwort: Nein. – Der Hauptteil der Rede wird abgeschlossen mit Bemerkungen zur spezifischen Gerechtigkeit des Reiches Gottes, d. h. jener Gerechtigkeit, die vom Reich Gottes und für dieses von Gott gefordert wird (6,19-34). In einem Anhang (7,1-12) erläutert Jesus, in welcher Hinsicht er wirklich Gerechtigkeit meint, nämlich als Zusammenkommen dessen, was zusammengehört oder als Prinzip der Entsprechung. Deshalb gehört auch die positive Fassung der Goldenen Regel dazu. In 7,13-27, im Schlussteil, spricht Jesus nicht
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28 mehr über einzelne Normen oder Forderungen, sondern er spricht Warnungen aus und belehrt über die Folgen des geforderten Tuns. Dieser Teil darf in einer biblischen Rede nicht fehlen. Das Bild von der engen Pforte (7,13f) warnt vor Gefahren. Andere Gefahren drohen von falschen Lehrern; um ihnen zu entgehen, gibt es ja die Bergpredigt (7,15-20). Eine spezifische Gefahr für Christen besteht im irrigen Vertrauen auf charismatische Erfolge (7,21-23). Das Gleichnis vom Hausbau lädt die Leser/Hörer zur Entscheidung für den einen oder anderen Weg ein, nicht ohne die Folgen zu nennen (formgeschichtlich: Doppelschluss in Mahnreden). Zentrum: Gesetz und Gerechtigkeit Man hat oft gefragt: Gegen wen richten sich die so genannten Antithesen der Bergpredigt (5,2148)? Gegen Mose? Aber der wird gar nicht genannt. Gegen das Gesetz, also die Torah? Aber 5,43b steht gar nicht in der Torah (Feind hassen). Gegen das Judentum? Aber das Wort Juden fällt gar nicht. Gegen Gesetzlichkeit? Aber in Mt 5,17-19 bekennt sich Jesus so vehement zur vollständigen Erfüllung des Gesetzes bis zum letzten Buchstaben, dass es für viele Theologen peinlich ist und man sich schnell und eifrig bemüht, Jesus diese Verse abzusprechen (nichts ist leichter als das). Eben gerade deshalb, weil die Verse Mt 5,17-19 voranstehen, kann man überhaupt nicht von einer Aufhebung der Torah sprechen. So gilt: Die Erfüllung des geschriebenen Gesetzes ist auf jeden Fall vorausgesetzt. Aber wie kann das sein? Wie kann Jesus unter der Überschrift Torah-Erfüllung dann doch so vieles sagen, was nicht in der Torah steht? Die Lösung liegt (aus meiner Sicht; vgl. »Die Gesetzesauslegung Jesu« I, 1972, 38-55) darin, dass Torah als Institution unveränderbar ist, dass aber ihr Inhalt, und zwar gerade unter der Überschrift »Gerechtigkeit«, je neu zu füllen ist. »Der Inhalt von ›Gesetz‹ ist weitgehend von dem abhängig, was man unter Gerechtigkeit versteht« (39). Daher kann auch »die Weisheit« mit der Erfüllung der Gebote gleichgesetzt werden. Und auch die Zusammenfassung des Gesetzes unter die beiden Hauptgebote der Gottes- und Nächstenliebe ist nur denkbar auf einer Basis, in der Normen sozialen Inhalts eine bestimmende Füllung der »Nächstenliebe« sein können.
Das Evangelium nach Matthäus
Durch diese Variationen im Bereich des Inhalts von »Gesetz« ist es möglich gewesen, den Menschen der jeweiligen Zeit durchaus aktuelle Forderungen unter der Überschrift »Gesetz« vorzulegen. Das Standbein ist die traditionell in der jüdischen Religion verankerte Größe Gesetz, ähnlich wie es für viele Christen »die christliche Lehre« oder »die christlichen Werte« sind (was auch immer das dann im Einzelnen sein mag), das Spielbein aber sind die jeweils im Sinne von Gerechtigkeit aktuellen und notwendigen Einzelforderungen. Nur deshalb kann auch Paulus in Röm 13 und in Gal 5 als Erfüllung des Gesetzes (hier unter der Überschrift Nächstenliebe, was teilweise synonym ist mit Gerechtigkeit) Paränesen anbringen, von denen kaum eine mit dem Wortlaut der Torah übereinstimmt. Das ist nicht Willkür oder paulinische Originalität, sondern das war schlicht üblich. Philo v. Alexandrien macht es ja bei der Auslegung der Dekaloggebote genauso (und in seinem Gefolge später z. B. auch M. Luther, besonders in der Dekalogauslegung des Großen Katechismus). Das beobachtete Phänomen ist ganz allgemein der Grund dafür, dass im apokalyptischen Judentum die Schrift nur selten zitiert wird. Erst bei Philo, selten bei Pseudo-Philo (LAB) und in einigen wenigen Qumrantexten (z. B. 1 QpHab) wird die Schrift zitiert und ausgelegt. Vorrangig ist eine ganz andere Weise, jüdisch zu denken im Rahmen einer lebendigen, durchaus auch gelehrten Tradition. Aber den Schriftgelehrten und die Schriftzitate kann man unmöglich als »das« Judentum erklären. Wer das tut, denkt viel zu exklusiv von der Weise des Schriftumgangs bei den späteren Rabbinen her (die Juristen sehr ähnlich waren und sich an der juristischen Responsen-Literatur orientierten), denkt vom Biblizismus von Mischna, Tosefta und Talmud und vom konservativ-protestantischen Biblizismus her. Das Judentum der Weisheitsliteratur (wo wird in den biblischen Weisheitsbüchern wirklich »die Schrift« zitiert?) und Apokalyptik ist eben nicht im Sinne des 18. und 19. Jh. »bibelfest«. Theologische Grundsätze der Bergpredigt Es ist nützlich, eine Reihe von Vorentscheidungen zu rekonstruieren, die den einzelnen Passagen der Bergpredigt zugrunde liegen dürften: 1. Der Lohn oder Schatz, den die Christen durch
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ihr Leiden und Tun erwerben, ist strikt überweltlich und im Wesentlichen zukünftig. Es gibt einen Ausgleich für Verzicht und Mühen, es gibt eine Gerechtigkeit für alles Leiden. Aber es wird »bis übermorgen« dauern. Denn Gottes Mühlen mahlen genau, aber langsam. Die Vorstellung von Lohn oder Schatz wirkt als Verheißung durchaus anstachelnd und normverschärfend. Aber es wird nur der Lohn zählen, der nicht schon auf Erden im Kreislauf von Nehmen und Geben abgegolten ist. Nur der überschießende Lohn bedeutet Zukunft, nur der nicht-abgegoltene Ruhm kann noch Grund für irgendeine Hoffnung sein. Aber alles dieses geschieht nicht automatisch, sondern es setzt einen gerechten Gott voraus, der nicht vergisst. 2. Alles Tun und Leiden soll Gott ähnlich machen, der vollkommen ist in seiner Geduld (5,45-48) und Barmherzigkeit (Lk 6). Wer so Gott ähnlich ist, kann »sein Kind« genannt werden. 3. Gott ähnlich werden kann man auch, wenn man sich heilig und rein erhält. Ähnlich wie bei den Pharisäern gelten für die Jünger und Jüngerinnen Jesu hier verschärfte Regeln, die von verletzter Reinheit nicht erst im Bereich physischer Berührung sprechen, sondern die die Grenze vorverlagern: schon in den Bereich der Worte oder des Sehens hinein, der früher »frei« war. Denn kein Bereich ist Gott entzogen oder von Gottes durchdringendem Willen auszunehmen. 4. Christliche Ethik grenzt die Christen von anderen Gruppen ab, wie etwa von Heiden oder Pharisäern. Deren Handeln beruht auf innerweltlichem Ausgleich und ist daher »ohne Hoffnung«. Diese Abgrenzung stärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb der Angeredeten. Aber die, von denen man sich abgrenzt, sind doch diejenigen, denen sich Jesus besonders zuwendet (Sünder; bei Justin [s. u.] kommen ganz konsequent noch Zöllner und Hurer hinzu). Es handelt sich dabei nicht um zweierlei Moral, sondern um die Unterscheidung zwischen Soteriologie und Ethik, von Außenperspektive und Binnenperspektive. Soteriologie und Außenperspektive hängen zusammen: Den Sündern (etc.) wendet sich Jesus zu, weil sie noch nicht dazugehören. Noch sind sie anders, noch folgen sie anderen Regeln. Aber es gilt, die Außenstehenden zu solchen zu machen, die dazugehören. Und damit sind wir
29 bei der Binnenperspektive. In diesem Sinne entwirft die Bergpredigt die ethische Identität der Christen. Gerade weil sie sich schon von denen draußen unterscheiden, lohnt eine missionarische Überwindung des Unterschieds. Es liegt daher eine charismatisch-offene Erwählungskonzeption vor. Dabei geschieht die Mission nicht durch Forderungen, sondern verläuft nach dem Motto »Kommt und seht!« (als Einladung zum Anschauen). Die rigorosen Forderungen und die Zuwendung zu den anderen sind aus demselben Holz geschnitzt.
5. Die Hoffnung der Christen ist nicht rein zukünftig. Sie hat auch Aspekte der Gegenwärtigkeit, wie insbesondere die Freude (5,12). Dieses charismatische Element der »Freude im Leiden« ist auch sonst typisch christlich (vgl. 2 Kor 6,10; Hebr 10,34; 1 Petr 1,8; 4,13). In den Briefen ist es ein Ausweis der Zugehörigkeit zur himmlischen Heimat. 6. Der Verzicht auf jegliche Vorsorge in der Welt wird (jetzt und dann) ausgeglichen durch eine umso größere, umfassende Vor- und Fürsorge Gottes. Auch hier liegt ein präsentisches Element, das Jesus durch Hinweis auf Gottes Vorsorge in der Natur (Spatzen und Lilien) glaubhaft machen kann. 7. Ungerechtigkeit besteht dort, wo Dinge nicht zusammenpassen (wie Perlen und Säue, wie Christen und Rache), Gerechtigkeit dagegen, wo Dinge genau zueinanderpassen (wie Suchen und Finden, Bitten und Erhörung). Mit diesem Ansatz liefert die Bergpredigt in 7,1-12 einen originellen Beitrag zur Frage nach Gerechtigkeit. 8. Christen haben die Freiheit, sich alles nehmen zu lassen, alles zu geben und nichts dafür als Ausgleich in dieser Welt zu erhoffen. Es ist die Freiheit zu leiden. Sie steht ihnen gut an, weil sie vom Tauschgeschäft (griech.: amoibe) in dieser Welt keinen Mehrwert erwarten. Es ist eine Art von Ungebundenheit und von völligem Desinteresse. 9. Die Versöhnung mit dem Bruder/der Schwester ist weit über die Bergpredigt hinaus ein zentrales Element matthäischer Mahnrede (5,23 f.25f; 6,12.14f; 18,21 f.23-35). Denn davon hängt überhaupt der Kontakt mit Gott ab. Gott kann kein Gebet erhören, wenn sich der Beter nicht mit den Mitmenschen versöhnt hat. Die »Einheit mit Gott« setzt »Einheit unter Menschen« voraus. Gott kann auf diesem Feld nur handeln, wenn er
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30 den Menschen nachahmen kann (zum Prinzip der Nachahmung vgl. oben unter 2.). 10. Innerhalb der beiden letzten Antithesen (5,38-48) und in 7,1 gibt es vier Modelle des christlichen Handelns; in allen soll der Christ vom Opfer (oder von der Vorstellung, er sei Opfer) zum Täter gewandelt werden: In allen demonstriert der Christ eine totale Freiheit gegenüber erwarteten Regelmäßigkeiten des Handelns, ja oft deren Umkehrung. – a) Muster »Segnet, die euch verfluchen«: Umkehrung des Empfangenen, das Opfer wird zum aktiven Heilsvermittler, konzentrisches Denkmodell wegen Orientierung an der priesterlichen Rolle Israels in der Welt (Gen 12,1-3). Segnen, Beten und Fasten sind kultische Aktivitäten. – b) Muster »rechte Wange – linke hinhalten«: Den Verlust freiwillig verdoppeln. Wie bei a) wird auch hier der erst passive Partner zum aktiven. Das Opfer demonstriert wie in a) so auch hier seine Freiheit, da es sich das Gesetz des Handelns nicht aufzwingen lässt, sondern es von innen her aufbricht und ins Gegenteil verkehrt. – c) Muster »Jedem, der fordert, gib«: Statt mit dem erwarteten Nein antwortet der Christ mit grenzenloser Freiheit. Was der Christ aufgibt, bleibt total unabgegolten. Dass er sich alles gefallen lässt, wird in diesem Höchstmaß zur Demonstration seiner Hoffnung. – d) Muster »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet«: Der Christ soll sich vorstellen, er selbst sei das Opfer seines geplanten Tuns. Und deshalb soll er davon ablassen. Bei Gott gilt die Talio, er darf sie vollziehen. Menschen nicht (5,38f im Kontrast zu 7,1). – e) Muster »Goldene Regel« (positiv; Mt 7,12): Dem anderen tun, was man selber empfangen möchte. Auch hier werden Empfänger und Täter vertauscht. Auch hier richtet sich der Christ nicht einfach nach den gewohnheitsmäßigen Typen der Handlung, sondern lässt sich leiten von der eigenen Sehnsucht oder Hoffnung. Insofern ist er hier wiederum frei. Justinus Martyr, I Apologie 14-16 ordnet das Material, das er mit Mt 5; Lk 6 gemeinsam hat, unter Überschriften nach Topoi der Tugendlehre (z. B. »Über die Klugheit«, »Dass man alle lieben soll«). Die Abweichungen im Material und in der Anordnung sowie die Verbindung mit anderen synoptischen Stoffen zeigen, dass er von Mt und Lk unabhängig ist und wohl eine gemeinsame katechetisch-paränetische Tradition verwendet hat;
Das Evangelium nach Matthäus
z. B. fragt Jesus öfter: »Was tut ihr da Neues?«, oder er sagt: »Auch die Hurer (bzw. Zöllner) tun das!« In 15,1 bietet er eine abweichende Version zu Mt 5,29. Gleiches wie für Justin gilt auch für Röm 12,4 (schon allein aus zeitlichen Gründen); Didache 1,4; 2 Clem 13,4 (»Gott sagt …«) und P Oxy 1224. In Röm 12; 2 Clem und Didache 1 erscheinen die Stoffe nicht als Jesus-Worte.
Jesus hält in Mt 5-7 die erste seiner fünf Reden (vgl. Mt 13; 18; 21f; 24-25). Zur Eigenart der Bergpredigt-Ethik im Allgemeinen: Diese Ethik empfiehlt das Gute nicht um seiner selbst oder um des Nächsten willen. Es ist eine Ethik der Lebensweisheit und Klugheit. Der Einzelne wie die Gemeinde werden aufgebaut, getröstet und unter die Lohnverheißung gestellt. Da an den Lohn im Himmel gedacht wird, geht es schon gar nicht um Pflichten. Vielmehr so: Der Zusammenhang von Tun und Ergehen, an den hier gedacht ist, ist Gottes Weg, ist sein Zusammenhang, beruhend auf seiner Treue. Der himmlische Lohn ist nicht Gegenstand des Berechnens, sondern Ausdruck der Gegenseitigkeit von Gott und Mensch. Der Mensch soll schmerzhaft viel geben und wird dafür alles im Überfluss (griech.: perisseia) empfangen. Wo er nur wenig gibt, empfängt er auch nur begrenzt. Wo er von Herzen und alles gibt, steht darauf himmlische Verheißung. Diese Korrespondenz von Herz und Himmel gilt in anderem Kontext auch in Hebr 9,14.23. Oder anders: Das Herz ist die wahre Wirklichkeit des Menschen, der Himmel die wahre Wirklichkeit der Welt. Diese beiden gehören zusammen. – Das Lohndenken steht nicht für »Berechnung«, sondern für Welt-Sinn und Weltordnung. Die »Zukunft« wird nicht objektivierend oder »an sich« dargestellt, sondern als Art des Vorkommens von Gegenwart und als etwas, das in der Gegenwart erstellt wird. Zu Mt 5,1: Der Berg ist der Ort der Offenbarung wie Mt 4,8; 17,1; 28,16; vgl. aus dem Leben des Mani (CMC) Koenen, Mani-Kodex, 1985, S. 55.
Mt 5,3-13: Seligpreisungen Die Anfangsposition von Seligpreisungen ist in der biblischen Literatur gut belegt (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 62); vgl.
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Kapitel 5
nur Ps 1,1; Lk 6,20-23. Seligpreisungen entwerfen nicht vorrangig ein Menschenbild, sondern einen bestimmte heilvolle Abfolge von Tun und Ergehen. Dabei ist ein präsentischer Aspekt unübersehbar. Die Seligpreisungen bei Mt sind inhaltlich kohärent: Der hier gelobte Mensch ist nicht gewalttätig, er nimmt seine Macht zurück, er ist aktiv friedfertig. Teilweise ist es das Ideal des weisen Herrschers, das hier geboten wird (barmherzig, friedenstiftend. Doch die Verfolgung passt nicht dazu. Der ideale Herrscher wird nicht als Leidender vorgestellt; der These von der Übernahme und »Demokratisierung« von Oberschichtmoral durch das frühe Christentum kann man daher kaum zustimmen.
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Zu Mt 5,3: Jesus meint physische und nervliche Not, er spricht von den durch Übergriffe Verängstigten. Die »Armen im Geist« müsste man wiedergeben als die »armen Menschen, die gequält werden« (Übersetzung: Berger/Nord); seit den Texten von Qumran wissen wir nämlich, dass »arm im Geist« der ist, den man nervlich »fertigmacht«. – Das Evangelium nach Matthäus ergibt bei weiterer Lektüre: Jesus selbst ist sanftmütig (vgl. Mt 5,5 mit 11,29), er selbst ist verfolgt und wehrt sich nicht (Mt 26,53). Und so wie er Sohn Gottes ist, wird dasselbe Wort auch für alle die verwendet werden, die ihm und damit Gott ähnlich sind (Mt 5,9 und 5,45).
oder die Gott einfach liebt. Denn »erwählen« heißt im Hebräischen nichts anderes als »lieben«. Gott steht auf ihrer Seite. Warum das so ist, sagen weder Jesus noch Paulus. Gott ist eben so, er hat einen »Charakter«, ist keine wesenlose Gottheit. Die Begründungen, die Jesus für die Seligpreisungen gibt, sind kühne Verheißungen, aber nicht Begründungen im logischen Sinn. Nach dem Evangelium liegen die Folgen hauptsächlich in der Zukunft. Nach 1 Kor bestehen sie in der Gegenwart. Was die Korinther davon haben? Für Paulus ist es das Höchste und Kostbarste, von Gott erwählt zu sein. Das, was Jesus im Evangelium verheißt, scheint nicht weniger zweifelhaft. Gegenüber Paulus fällt auf: Jesus betont körperlich-ganzheitliche Leiden und entsprechendes Handeln. Bei Paulus geht es um das soziale Ansehen. Paulus spricht aus der Erfahrung heraus, dass in hellenistischen Städten – Paulus ist ganz Stadtmensch – vor allem das soziale Ansehen zählt. Er meint speziell diejenigen, die nichts gelten, die Marginalisierten. Jesus dagegen meint andere Gruppen, solche, die wirklich physisch leiden und in jeder Hinsicht fertiggemacht werden, und andererseits diejenigen, die scheinbar sinnlos handeln, da sie, wie zum Beispiel Sanftmütige und Friedfertige, jeweils in ein Fass ohne Boden zahlen. Bei Paulus geht es um die bittere Erfahrung, dass andere so tun, als gäbe es einen nicht, eben als sei man Luft, ein Nichts.
Man vergleiche Mt 5,3-12 mit 1 Kor 1,26-29: Beide Texte stellen Menschen dar, die nach allgemeinem Urteil arm, minderwertig, nicht angesehen sind. Nach dem Brief sind es die weniger Klugen, die Benachteiligten, die ohne Titel, die Verachteten, die nichts gelten. Nach dem Evangelium sind es die Armen und Gequälten, die Traurigen, Menschen, die sich nicht wehren, die sich wirklich nach Gerechtigkeit sehnen, die unschuldig Verfolgten, Beschimpften und Verleumdeten, und zu ihnen gesellen sich so merkwürdige Menschen wie schlicht und einfach Barmherzige, Friedensstifter und solche »reinen Herzens«. Nach beiden Texten wird daher das auf den Kopf gestellt, was man bürgerliche Werteordnung nennt. Immer, wenn uns solche Menschen begegnen, sagen wir: Er wird es schon selbst verschuldet haben. In der Umwertung, die beide Texten vollziehen, sind solche Menschen dagegen entweder diejenigen, denen wahrhaft die Zukunft gehört (Evangelium)
Wir beobachten an dieser Stelle: Für Paulus wie für Matthäus läuft die Umkehrung der bürgerlichen Werte-Ordnung direkt auf Jesus zu, und zwar zunächst auf den, der durch Leiden und Kreuz erweist, dass er zu Gott gehört. So, wie diese Welt nun einmal ist, kann Zugehörigkeit zu Gott auch kaum anders demonstriert werden, als dass man ihre Werte auf den Kopf stellt – und ihre brutale Macht schlicht erleidet und eben nicht übertrifft. Wir fragen: Sind die Verheißungen der Seligpreisungen also lauter leere Versprechen? Sind die wie Jesus Armen und Verfolgten wirklich glücklich zu preisen? Auffallend ist nämlich: Es heißt nicht »glücklich werden sein …«, sondern »glücklich sind«, ganz zeitlos. Wie das zu verstehen ist, sagt 1 Petr 4,14, der ja in der Anbindung an die Autorität des Petrus dem MtEv besonders nahesteht: »Und wenn ihr jetzt beschimpft werdet, weil ihr Christen seid, dann gilt: Selig seid
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32 ihr, weil der Heilige Geist Gottes jetzt schon auf euch ruht, der Geist der Herrlichkeit.« Wenn also einer leidet und dennoch dabei selig ist, dann ist das nicht perverse Lust, sondern Gottes Geist, der ihn tröstet und trägt, der ihn durchsichtig macht für das, weswegen er leidet. Doch diese Welt der Ungerechtigkeit ist nicht das Letzte, sondern immer nur das Vorletzte. Ihre Tage sind gezählt, ihre Zukunft hat sie schon lange hinter sich. Zu Mt 5,8: Glücklich, die ein reines Herz haben. Denn sie werden Gott sehen (5,8). Die Stelle wird – wie auch die Schau Gottes überhaupt – in der Regel im Sinne vollkommener Erkenntnis (also nach 1 Kor 13,12) oder platonisierend als »visio beatifica« (selig machendes Schauen, im Sinne glücklicher Versenkung in das Betrachten) gedeutet. Das Ärgernis besteht seit Jahrhunderten darin, dass das selige Schauen als das höchste Ziel christlicher Existenz ausgegeben werden kann, ohne dass irgendjemand konkreter sagen kann, welche Attribute dieses höchste Ziel haben soll. Die Frage bleibt offen, ob die ewige Seligkeit wie ein Museumsbesuch ist, bei dem man vor dem einen oder anderen Gemälde betrachtend stehen bleibt. Das Verständnis wird auch dadurch erschwert, dass man den unangemessenen Gegensatz von »aktiv« und »kontemplativ« hier einträgt, wobei viele geneigt sind, unter dem kontemplativen Leben eine Art von Faulheit zu verstehen. Es gibt jedoch biblische Texte, nach denen das, was Jesus in Mt 5,8 meint, wesentlich brisanter ist als ein wohlgefälliges Betrachten. Die biblischen Texte sind daher auf ihre konkreten Voraussetzungen hin zu befragen. So könnte das christliche Ziel etwas attraktiver und interessanter erscheinen. Mt 18,10: »Verachtet kein einziges dieser Kleinen. Ich sage euch nämlich: Ihre Engel sehen in den Himmeln jederzeit das Antlitz meines Vaters in den Himmeln.« Durch den begründenden Satz beschreibt Jesus die wahre Größe und Bedeutung der »Kleinen«. Deren Bedeutung ist begründet in der besonderen Rolle ihrer Engel: Gerade ihre Engel sind im Himmel höchstrangig. Denn Gott direkt ins Angesicht sehen zu können ist ein Privileg einmaliger Vollmacht in höchster Machtposition. Es liegt in der Logik des Satzes Jesu: Die Kleinen hält man für schwach und unbedeutend. Doch dank ihrer Engel sind diese Kleinen
Das Evangelium nach Matthäus
alles andere als gering. Sie haben direkte und gute Beziehungen zu Gott selbst. Denn wer das Angesicht Gottes schauen darf, gehört zu den »Engeln des Angesichts« (s. u. zu Mt 18,10). Die Bedeutung der Kleinen beruht daher auf der Beziehung, die sie zu den Angesichts-Engeln haben. Es geht daher gar nicht um ein mehr oder weniger kontemplatives Dasein dieser höchsten Engel. Sondern dank dieser Beziehungen haben die Kleinsten enge Beziehungen zu Gott, die sie auch, z. B. durch Fürsprache, nutzen werden. Das genau beschreibt Hebr 9,24f: Jesus ist demnach ins himmlische Heiligtum als Hoherpriester erhöht, um »für uns zu erscheinen vor dem Angesicht Gottes«. Das tut er durch Fürsprache, als Anwalt der Menschen. Damit übt er offenbar dieselbe Funktion aus, die die Engel für die Kleinen nach Mt 18 bei Gott wahrnehmen. Auch hier kann von einer seligen Blickverschmelzung nicht die Rede sein. – Wenn mithin Menschen reinen Herzens »Gott schauen« werden, dann haben sie von Gott eine Machtposition erhalten, wie das in Mt 19,28f von den Jüngern gilt, die auf Thronen sitzen werden. Folgende weitere Implikationen sind bemerkenswert: 1) Wer das Antlitz Gottes schauen darf, der wird Lob und Lohn empfangen. Denn wer Gott im Leben dient, darf danach sein Antlitz schauen (4 Esr 7,98). Im eucharistischen Hymnus des Thomas v. Aquin heißt es: ut te revelata cernens facie visu sim beatus tuae gloriae – dass ich selig bin durch den Anblick deiner Herrlichkeit, wenn ich dich unverhüllt schauen darf. 2) In der Sterbestunde wird Gottes Antlitz unverhüllt sein. Denn dann müssen alle Menschen Gottes Antlitz schauen. Gottlose erblicken das Antlitz Gottes, um ihre Strafe zu empfangen (Midrasch Ps 22 § 32[99a]), die Gerechten empfangen ihren Lohn. Denn es wird das aufgedeckt, von dem her sie immer schon gelebt haben. 3) Sie dürfen sich dann aufhalten in der Gegenwart des Heiligen. Die Angst ist aufgehoben. Schon die Schaubrote heißen »Brote des Angesichts«, weil sie an dem Ort der Gegenwart Gottes liegen. An diesem Ort sein heißt: sehr gute Beziehungen zu Gott haben, die man zugunsten anderer als Fürsprecher nutzen darf. 4) Gott zu schauen ist ambivalent. »Das Schauen Gottes ist mit höchster Gefahr verbunden, weil
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der Mensch vor Gottes Heiligkeit vergehen muss … (noch im eucharistischen Hymnus ›Adoro te devote‹ heißt es: quia te contemplans totum deficit), weil Gottes verzehrende Heiligkeit den Menschen vernichtet … Mose darf nur von hinten nachschauen, wenn Gottes Herrlichkeit vorüberzieht.« Während griechische Götter im Prinzip auch für das menschliche Auge sichtbar werden können, offenbart sich der Gott des Alten Testaments nur durch das Wort. Gottes Antlitz sehen bedeutet aber (bildlich verstanden) »eine Kultstätte besuchen.« Die neutestamentlichen Wunderberichte beginnen oft damit, dass Jesus »sieht« (z. B. wie jemand krank ist), und der Ort der Opferung Isaaks heißt »Morija« (der Herr sieht, denn der Herr sieht zu, wen oder was er sich zum Opfer auswählt). Die Unverhülltheit, die auf das »normale Leben« folgt, wirkt sich aus – je nach der Qualität dessen, der Gott begegnet. – Das Alte Testament verdient gerade heute, da man den Leser vor jedem Schrecken bewahren will, aufmerksamen Respekt, auch deshalb, weil es unverblümt darstellt, wie gefährlich es eigentlich ist, Gott direkt zu begegnen. Dass man in der Gegenwart Gottes der Gnade gewiss sein kann, gilt nur nach manchen Texten. Die Gottesbegegnung in der beiderseitigen Unverhülltheit bedeutet auch für den Menschen, dass er durchschaut wird, weil nichts verborgen bleiben kann (wie nach dem Hymnus »Dies irae«: quidquid latet apparebit, nil inultum remanebit – alles Verborgene wird sichtbar, nichts bleibt ungerichtet). 5) Auf eine uralte, hier bestehende Verbindung zwischen Erotik und Theologie weist das Gedicht Catulls: Ille mi par esse deo videtur, ille, si fas est, superare divos, qui sedens adversus identidem te spectat et audit dulce ridentem (»Jener Mensch scheint mir wie Gott oder, wenn es zu sagen erlaubt ist, noch seliger als Götter, der dir gegenübersitzt als Ohren- und Augenzeuge deines süßen Lachens«). Denn natürlich ist Gott schön (Offb 10,9; Ez 2,8; 3,1-3). Fazit: Gott zu schauen ist alles andere als die Abwesenheit von Geschehnissen oder gar reine Stille. Es ist ein dramatisches und alles andere als harmloses Geschehen. Wenn man es so sehen will oder kann: Offenbarwerden ist die Substanz
dessen, was in jedem Ereignis geschieht. »Man wird sehen«, sagt man bis heute für »Abwarten«. Dass es sich um ein dramatisches Geschehen handelt, kann man daran erkennen, dass es um Leben und Tod geht. So aber fassen wir gewöhnliche innerweltliche Ereignisse in aller Regel nicht auf. Diese dualistische Alternative gibt es, weil es Gott gibt. Die Verheißung »denn sie werden Gott schauen« meint aber keine rein kontemplative Existenz in sich gekehrter Menschen, sondern reine Freude, die sich nicht wieder einkriegt (wie eine Feier oder eine durchtanzte Nacht, nach der man müde und irgendwie selig einschlafen kann). Christlich ist daran nicht der Mangel an Aktivität, sondern die Dankbarkeit für so viel Geschenktes. Vielleicht haben wir »Gott schauen« oft zu stark quietistisch (Ruhe, Nicht-Handeln [im Sinne einer falsch aufgefassten Rechtfertigungslehre, der es auf Verzicht des aktiven Handelns ankommt]) verstanden. Es muss nicht unbedingt der still vor sich hin Meditierende sein, sondern durchaus der Hurtige und Mutige. Auch die Engel der Kleinen, die nach Mt 18,10 Gottes Angesicht schauen, sind nicht in Dauer-Meditation versunken, sondern sie engagieren sich für ihre Schützlinge vor Gott. Leben in der Gegenwart Gottes bedeutet nicht Abwesenheit eigener Vital-Impulse, sondern Schutz vor allem Tod. Das bedeutet auch Angstfreiheit im Schutz des Mächtigeren. Das Dramatische besteht darin, dass das Wahrnehmen von Gott und Mensch wechselseitig und ambivalent ist. Der Charakter des Zieles besteht darin, dass aus der Wechselseitigkeit Gemeinschaft und aus der Ambivalenz Angstfreiheit wird.
Mt 5,13-16: Salz der Erde, Licht der Welt Auch wenn es chemisch nicht sein kann – doch in Gedanken wird es uns ausgemalt, wie das wäre, wenn das Unersetzliche seinen Wert verlöre. Beschrieben wird die Erfahrung von Verfall und Ende, wo Anfang sein sollte. Denn gegenüber der Welt ist das Salz das andere und Neue, das sie durchdringen und prägen sollte. Wer eine Gesellschaft prägen will, muss die Alternative selbst darstellen. Der Münzstempel, der weicher ist als das Metall, das er prägen soll, taugt nicht. Doch
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34 andererseits besteht das Salz nicht für sich, sondern nur auf die Welt hin und mit ihr zusammen. Salz an und für sich ist kein Nahrungsmittel, es hat nur Sinn und Bedeutung in Beziehung zu anderen. Als Salz der Welt sind die Jünger für die anderen da, sind auserwählt nur für die anderen. Das Wort vom Salz der Erde spricht daher keineswegs von missionarischem Aktivismus, sondern von der Bewahrung der christlichen Identität, der geschenkten Kraft. In dem Wort vom Licht geht es noch klarer um die missionarische Funktion. Im Judentum hatten nie Menschen die Aufgabe, Salz der Welt zu sein. Hier gibt es ein entsprechendes Wort nur von der Torah, die das Salz, und von der Auslegung der Torah, die der Pfeffer seien, ohne die die Welt nicht bestehen könne. Jesus aber überträgt diese Aufgabe auf Menschen. Jesus hält sich hier ganz an eine goldene Regel antiker Pädagogik: Nur das, was der Lehrer selbst lebt, kann er vermitteln. Besteht nicht ein Widerspruch zwischen Mt 5,16 (Werke sehen) und Mt 6,1.5 (nicht gesehen werden!)? Antwort: In Mt 6 geht es um den Einzelnen und sein Werk, in Mt 5,16 um die Gemeinde. Der Einzelne soll im Verborgenen (fromm) handeln, was die Gemeinde aber gemeinsam zustande bringt, soll und darf leuchten. Keineswegs darf der Einzelne mit seiner Religiosität Ruhm anstreben, sondern das gemeinsame Werk der Jünger sollen die Menschen sehen und aufgrund dieses Werkes zu Gott finden. Nicht der Einzelne soll Ehre erringen, sondern er soll dazu helfen, dass das gemeinsame Werk ansehnlich wird. Dann können die Menschen zu Gott finden. Nach Mt 5,13-16 sind die Jünger gemeinsam als Stadt auf dem Berg und als Licht der Welt angeredet. Nur gemeinsam können sie für Gottes Ehre etwas tun; jeder Einzelne ist auf seinem Weg zum Ruhm viel zu sehr gefährdet. Damit schließt sich auch in der Argumentation hier der Kreis: Alle Christen sind Schüler und Geschwister. Aus ihnen tritt keiner als der Anführer hervor. Vielmehr ist nur einer, eben Jesus, Lehrer und Herr (und eben nicht Bruder).
Mt 5,17-48: Jesus und das Gesetz Dass Jesus das jüdische Gesetz treu erfüllt und nicht zerstört hat, mochte man zu Zeiten nicht
Das Evangelium nach Matthäus
hören und stilisierte Jesus zum jüdischen Religionsrebellen. Doch aus meiner Sicht geht es hier um eine Verschärfung, weil eine bloße Erfüllung der Torah noch nicht ins Himmelreich führt. Es führt nur das ins Himmelreich, was auf Erden noch nicht belohnt wurde oder abgegolten ist. Aber so gilt auch: Wer Gebote verschärft, macht sich unbeliebt. Das ist wie mit der Erhöhung von Steuern. Jesus ist gehorsamer Jude und unterwirft sich dem Gesetz. Denn Veränderung beginnt nicht mit der Abschaffung von Normen oder Riten. Jede Veränderung, auch der frühchristliche Weg von den Juden zu den Heidenchristen, nimmt ihren Anfang in einem neuen Herzen des Menschen und bedeutet zunächst einmal Geduld, Gehorsam und Leiden. Jesus weist den Weg zum Himmel so, dass er sagt: Die Torah, das jüdische Gesetz, gilt auf jeden Fall. Nur über die Erfüllung des Willens Gottes, nicht über die Abschaffung von Statuten, geht der Weg in den Himmel. Auch das Sabbatgebot hat Jesus nicht abgeschafft. Und ein Satz wie Mt 5,17 (»das Gesetz erfüllen«) stammt nicht aus judenchristlichem Rückfall hinter Jesus, sondern Jesus tut den Willen Gottes. Er isst nicht mit Heiden und betritt kein heidnisches Haus. Und wenn er Tote berührt, dann um sie lebendig zu machen; denn von Jesus geht eine Reinheit aus, die alle Unreinheit überwindet. Insofern bleibt auch dort, wo Jesus mit Unreinen zu tun hat, das pharisäische Thema Reinheit erhalten, und zwar so, dass Jesus eine offensive, rein machende Reinheit besitzt und nicht eine defensive, die sich zurückziehen muss wie die Pharisäer es müssen. Aber warum will und muss Jesus die Gerechtheit der Pharisäer noch überbieten? Antwort: Weil es ihm um den Himmel geht, um das Himmelreich. Von Anti-Thesen spricht man deshalb, weil Jesus stets zunächst die alte Version zitiert (»Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist …«) und dann mit seiner neuen Auslegung anfängt (»Ich aber sage euch …«). Dabei ist durchaus umstritten, wie hoch der von Jesus mit dem »Ich aber sage euch« angemeldete Anspruch ist. Stellt er sich über Mose? Aber Mose erwähnt er gar nicht. Es wurde immer nur »den Alten gesagt«. Geht es dabei um passivum divinum – hat Gott den Alten gesagt? Ist Jesus der neue Gott? Auch das geht viel zu weit. Das »Ich aber sage euch«
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Kapitel 5
steht vielmehr häufig in der schriftgelehrten halb-akademischen Diskussion. Die »Alten« sind alle Früheren. Bisweilen geht es auch gar nicht um Schriftzitate. Zu Mt 5,22: Verbot zu zürnen – Schon wer zürnt und seinen Bruder oder seine Schwester Idiot nennt, ist ein Mörder. Jesus verlegt die Schwelle der Gesetzesübertretung vor. Ähnlich reagiert auch bereits die zeitgenössische griechische Philosophie, die in der Frage von Aggressivität und Friedfertigkeit höchst sensibel ist. Das ist heute anders, denn ungehemmtes Ausleben von Aggressivitäten ist der große blinde Fleck in unserer Gesellschaft, auch gerade unter Eheleuten und Verwandten. Fast gilt die Regel: »Wer aggressiv ist, gewinnt.« (Ergänzung siehe S. 1051) Zu Mt 5,27-30: Verbot, mit Blicken auszuziehen – Ein Mann, der eine Frau mit Blicken auszieht, hat die Ehe schon gebrochen. Er hat das eben nicht erst getan, wenn es wirklich zum Ehebruch kommt, sondern schon dann, wenn er eine Frau so tätlich mit Blicken beleidigt. Viele Frauen kennen diese persönlichen, fast physischen Attacken von Männern. Jesus zieht hier das 6. und das 10. Gebot zusammen, das in der griechischen Fassung auch bereits das Begehren verbietet. Auch hier besteht ein enger Bezug zur Verheißung. Denn Jesus hatte doch gerade verkündet: »Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen« (5,8). Auch hier spricht er über den Zusammenhang zwischen Herz und Auge. Das Auge, das Menschen erblickt und anschaut, ist dazu berufen, Gott zu schauen. Zu Mt 5,31f: Verbot der Ehescheidung – Dieses Wort ist fünfmal bezeugt, so oft wie kaum ein anderes Jesuswort. Aber Jesus meint auch sich selbst als den neuen Bräutigam des endzeitlichen Gottesvolkes. Und wenn die messianisch erneuerte Ehe Gottes mit seinem Volk das Ziel der Geschichte ist, diese fröhliche Hochzeit, dann liegt alles daran, die natürliche Anschauungsbasis für dieses hohe Ziel nicht preiszugeben oder für beliebig zu erklären. Die so genannte Unzuchtsklausel in Mt 5,32; 19,9 1. Ein Einschub des Evangelisten ist völlig unwahrscheinlich, schon wegen der sprachlich ab-
35 weichenden Parallele in Mt 19,9. Wir müssen also damit rechnen, dass Jesus so gesagt hat. 2. Porneia bezeichnet nicht nur Ehebruch oder Prostitution, sondern jede Art von illegitimer Geschlechtsbeziehung, und das schon seit dem 2. Jh. v. Chr. 3. Man kann das auch im NT selbst nachlesen: Im Aposteldekret (Apg 15,20 etc.) wird Porneia verboten im Blick auf Heidentum, gemeint ist in dieser streng judenchristlichen Formulierung die Mischehe mit Heiden. Im Aposteldekret wird sie direkt verboten. 4. Im Falle der Mischehe mit Heiden gestattet aber auch Paulus die Auflösung der Ehe: 1 Kor 7,15 f. Das ist das so genannte privilegium paulinum. An dieser Stelle kommt Paulus recht genau mit Jesus überein. Beide meinen: Eine solche Ehe ist auflösbar (theologischer Grund: Ehe bildet das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk ab!). 5. Nun dürfte Jesus in Mt 5,32 und 19,9 nicht nur an Mischehen mit Heiden denken, sondern auch an andere Fälle von nicht legitimer Ehe, also auch an solche Beziehungen, wie Augustinus eine hatte. Das ist bis heute ein kanonistischer Grundsatz: Es kommt darauf an, ob eine Ehe überhaupt (legal oder legitim) besteht. 6. Ein Ehebruch löst also nicht das Eheband! Zu Mt 5,33-37: Verbot des Eides mit Anrufen Gottes – Jesus hat etwas dagegen, dass seine Jüngerinnen und Jünger schwören, indem sie Gottes Namen anrufen. Er bietet eine Ersatzformel an: »Ja, ja«, und im JohEv leitet Jesus feierliche Sätze entsprechend mit »Amen, Amen« ein, denn »Ja« ist die Übersetzung von »Amen«. Beim »Amen« kann man gewiss sagen, dass Gott in dieser Formel nicht vorkommt. Aber warum verbietet Jesus den Gebrauch? Warum verbietet er, um es schärfer zu sagen, dass wir Gott hineinziehen in juristisch oder moralisch unklare Angelegenheiten? Und was hat das mit den anderen Verboten der Bergpredigt zu tun? Man kann die ersten vier Fälle, die Jesus in der Bergpredigt ab Mt 5,21 behandelt, unter dem gemeinsamen Thema der »Reinheit« betrachten, und dann gewinnen die vier Antithesen einen inneren Zusammenhang. Vor allem aber ergibt sich eine Beziehung zur Gerechtigkeit der Pharisäer, die die Christen ja nach Mt 5,20 überbieten sollen. Denn Rein-
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36 heit, umfassende Reinheit außen und innen, ist das Thema der Pharisäer. So lesen sich dann die Gebotsverschärfungen Jesu unter dem Aspekt der Reinheit: Dass man sich verunreinigt durch Besudelung mit Blut, ist nicht erst beim Mord gegeben. Die Befleckung durch Blutschuld fängt früher an. Jeder Mann, der mit einer verheirateten Frau umgeht, befleckt sich an ihr. Das ist schon beim lüsternen Anblicken gegeben. Und natürlich auch bei der Ehescheidung: Jede Frau, die einem Mann gehört, ist bis zu dessen Tod für jeden anderen Mann unrein. Daher befleckt man sich auch bei der Heirat einer Geschiedenen, und deshalb wird solches auch schon für Priester und Hohepriester nach dem AT verboten. – Und wer den heiligen Gottesnamen in eine unheilige, zumindest zweifelhafte Sache hineinzieht, der befleckt nicht nur diesen Namen, sondern nach dem Bumerang-Prinzip sich selbst. Die Unreinheit fällt auf ihn selbst zurück. – So kann man hier sehen, wie Jesus in allen fünf Fällen pharisäisch denkt und durch seine Formulierung gerade die pharisäischen Standards noch überbietet. Um in den Himmel zu gelangen, muss man auf Erden engelgleich leben. Denn wer mit den Engeln singen will, muss auch rein sein wie sie, umfassend rein. Deshalb steht ein Reinigungssakrament (Taufe) am Anfang. Deshalb geht es immer wieder darum, von Sünde rein zu werden (Beichte/Buße), und in der bei Lukas für das Vaterunser überlieferten Geistbitte heißt es: »Es komme dein Heiliger Geist, und er mache uns rein.« Und wir bitten den Heiligen Geist: »Wasche, was beflecket ist!« – Reinheit ist ein Zeichen für radikale Heiligkeit. Übersetzt heißt das: Gott ganz und gar gehören, aus ganzem Herzen und mit ganzer Kraft. Zu Mt 5,34: Gar nicht schwören – Die Pointe ist: unter keinem Umständen, auch nicht mittelbar (vgl. Mt 23,16-22), Gott oder seinen Namen in zwielichtige menschliche Angelegenheiten hineinzuziehen und dadurch zu entweihen. Das »Ja, ja« ist ein Schwur-Ersatz. Es ist nichts als eine Beteuerungsformel, kein Schöpfungswerk, das dann doch wieder auf Gott hinwiese. – Es fällt auf, dass dieses »Ja, ja« dem johanneischen »Amen, Amen« auch hinsichtlich der Doppelung entspricht. Und in der Tat bestehen hier Querverbindungen. Denn für das zeitgenössische Ju-
Das Evangelium nach Matthäus
dentum sind Gottes Worte Schwüre; so Philo v. Alexandrien in LegAlleg 3,204: Die Worte Gottes sind Eidschwüre und Gesetze. Wenn Gottes Worte Schwüre sind, dann leistet der Bote Gottes, der die Worte Gottes ausrichtet, mit jedem Ausspruch einen Schwur. Dazu gehört dann auch die Schwur-Einleitung. Was in Mt 5,34 begründet wird, befolgt dann der Evangelist des JohEv (s. o.); dass dabei das »Ja, ja« durch »Amen, Amen« ersetzt wird, entspricht der üblichen Übersetzung von »Amen« durch »Ja« (vgl. Offb 14,13). Zu Mt 5,38-48: Von der Feindesliebe – Bei dem Satz »Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen« steht die zweite Hälfte gar nicht in der Schrift. Man hat sich dafür, wenn auch ohne besonderes Recht, auf die erste Kolumne der so genannten Sektenregel aus Qumran berufen (»Zu lieben die Kinder des Lichts und zu hassen die Söhne der Finsternis«, 1 QS 1). Aber in Mt 5,42 liegt kein ausgebauter »metaphysischer« Dualismus vor. Der Satz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« macht ganz besonders klar, worum es der Schriftauslegung in allen Antithesen geht: Die Schriftstelle oder die bisher geltende Ansicht über Gottes Willen war bei dem Kampf um die Verdrängung des Bösen durch das Gute exakt auf halbem Weg stehen geblieben. Hier bei Auge um Auge: Die Rache für das Böse war auf eine genaue Vergeltung (1 : 1) beschränkt worden. Jesus dagegen verbietet die Rache überhaupt. – Oder: »Du sollst deinen Freund lieben und deinen Feind hassen.« Jesus dagegen gebietet das Lieben auch des Feindes. – Oder: Untersagt war nur, falsch zu schwören. Jesus verbietet das Schwören überhaupt. – Oder: Geboten war, um der Rechtssicherheit der geschiedenen Ehefrau willen ihr einen Scheidbrief zu geben. Jesus dagegen verbietet Ehescheidung überhaupt. Jesus kämpft ohne Kompromiss um den reinen und ganzen Gotteswillen. Die Teilung an dieser Stelle (V. 17-37/38-48) war sinnvoll. Denn mit den beiden letzten Antithesen wird der Bereich der Diskussion um Reinheit und Pharisäismus überschritten. Ihr Thema ist der Gewaltverzicht. Auch dieser führt in den Himmel, jedenfalls nach der »Logik« Jesu und der frühen Christen. Denn wer hier, jetzt auf Erden, auf Gewaltausübung verzichtet, bekommt
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Kapitel 5
das »Guthaben«, die nicht vollzogene Rache, im Himmel als positiven Schatz wie bei einer Kontoführung gutgeschrieben. Jede Antwort per Gewalt, die auf Erden ausblieb, jedes Schenken, für das nichts zurückempfangen wurde, wandelt sich in eine Verheißung um. – Nun ist das ewige Leben kein Rechenexempel, und Gottes himmlisches Regiment ist kein zentraler Bank-Computer. Gott ist keine Verrechnungsstelle. Das Muster für Sätze dieser Weltanschauung ist vielmehr Lk 14,7: Lade nur die ein, die dich nicht ihrerseits einladen können. Denn eure Vergeltung ist groß im Himmel. – In der Durchbrechung des irdischen Kreislaufs von Geben und Nehmen liegt die Chance zur Erneuerung der Welt. Wer auf Erstattung verzichtet, hat den Blick nicht nach hinten gerichtet, sondern radikal nach vorne. Doch alles Ausgleichsdenken wird nochmals überboten durch die Konzeption der Verähnlichung mit Gott. Zu Mt 5,43-48: Gottes Eselsgeduld – Dem Vater ähnlich ist das eigene Kind. So gibt die letzte Antithese zu bedenken, wie man Gottes Kind wird, und das geht auf dem Weg über größtmögliche Ähnlichkeit. Dann aber ist ein Jünger Jesu Gott ähnlich, wenn er sich nach dem Vorbild des geduldigen Gottes richten kann, der jeden Morgen seine Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt, der also Geduld mit den Bösen hat, die bis ans Ende der Welt reicht. Im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen wendet Jesus diese Botschaft über Gottes Geduld auf die Situation der Kirche an (Mt 13). Wer vor der Ernte (d. h. vor dem Gericht) ausreißt, der reißt das ganze Geflecht mit heraus und hält sich nicht an Gottes Vorbild, der eben bis zum Gericht selbst nicht richtet. In Mt 5,48 wird diese Geduld Gottes als seine Vollkommenheit gepriesen. Die Vollkommenheit Gottes besteht in der Zurückhaltung von Zorn und Gericht bis zum letzten Tag. Das MtEv kennt noch ein weiteres Jesuswort über die von den Jüngern gewünschte Vollkommenheit – nach 19,21 sagt Jesus dem reichen Jüngling: »Wenn du vollkommen sein willst, dann geh hin, verkauf deine Habe und gib den Erlös den Armen, und so wirst du einen Schatz im Himmel haben.« In beiden Fällen besteht die Vollkommenheit in einem Verzicht in dieser Welt (Verzicht auf allen Besitz,
Verzicht auf Rache und Vergeltung), und wer so vollkommen ist, der kann warten bis zum Ende der Welt. Gleichzeitig ist er beim Mangel an Reichtum und Vergeltung Inhaber eines Schatzes für das künftige ewige Leben. Denn er gehört zur himmlisch-zukünftigen Welt. Er hat dort »seine Aktien«, dort liegt der Grund seiner Hoffnung. Zum Ausgleichsdenken besteht also kein Gegensatz. Die Bergpredigt ist aus meiner Sicht dazu gedacht, alle Kompromisse je und je zu überprüfen, ob sie die Radikalität des Gotteswillens nicht verraten, an die Jesus gedacht hat. Zu Mt 5,47 (Grüßen) vgl. zur biblischen Theologie des Grußes bei 2 Joh 11. Zu Mt 5,48: Gott ist das Prinzip der Ethik – vgl. Seneca, De Beneficiis IV 26: »Wenn du die Götter nachahmst, dann gib auch den Undankbaren Gutes, denn die Sonne geht auch über den Verbrechern auf, und den Piraten stehen die Meere offen.« Es geht hier um eine Schöpfer-Gerechtigkeit, die eine strikte iustitia distributiva ist (suum cuique). Im Gericht dagegen wird es um die iustitia moralis gehen. – Nach Mt 5,48 ist Gott selbst in seinem Handeln Prinzip der Ethik (nicht irgendwelche sittlichen Prinzipien).
Mt 6,7f: Vom Beten Insbesondere aus V. 8 geht hervor, dass Jesus hier lediglich das Bitten um irdische Bedürfnisse meint. Gemeint sind nicht auch alle anderen Gattungen des Betens wie Lobpreis, Klage, [Litaneien, Stundengebet], Rufe um Erbarmen (anders beurteilt von H. E. G. Paulus) und das Vaterunser selbst. Wie sollte man sonst die Mahnungen des Apostels Paulus zu unablässigem Beten verstehen (vgl. 1 Thess 5,17; Röm 12,12; Eph 5,20) und auch Lk 18,1 (allezeit); 17,7 (Tag und Nacht); Kol 4,2? Die Gemeinde der Erwählten steht beständig vor Gott, und das Gebet ist Heilsteilgabe. Mt 6,7 ist eher eine Begründung dafür, dass die Bitte um das Brot für morgen im Vaterunser so kurz ist. Dieses meint wohl Jesus: Die Heiden bitten um Irdisches, indem sie viele Götter mit vielen Namen anrufen. »Leer« und »vergeblich« sind immer wieder Attribute heidnischen Redens und Tuns. Vielmehr gehören Fürsorge und Vorsorge (providen-
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38 tia) und Monotheismus zusammen. – Der Leidener Cocceius sagt dazu: Das Gebet der Christen ist nicht Grund für die Gabe Gottes, sondern ein Zeichen dafür, dass Gott Gaben bereitet.
Mt 6,9-13: Das Vaterunser Aufbau: Auf die Anrede folgen die drei Er-Bitten (V. 9f), dann folgen die drei Wir-Bitten (V. 1113). Diese Systematik zwingt dazu, die beiden letzten Bitten als doppelteilig aufzufassen (V. 12: Bitte und Selbstempfehlung; V. 13: nicht – sondern). Dem Reich als Zentralbegriff in den Er-Bitten entspricht als Gegensatz der Böse in V. 13b. Das Reich wird verwirklicht in der Befreiung von dem Bösen (vgl. dazu Mt 12,28; Lk 11,20; Apg 26,18; Mk 16,14 (Freer-Logion, s. Berger/Nord, 62010, 682 ff). Schon Didache 8,2f fügt dem eine Doxologie hinzu (»Denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit«); im Koine-Text wird diese Doxologie noch einmal erweitert, und jetzt verschwindet der Kontrast »dein Reich – der Böse«, sondern »dein Reich« wird aufgenommen in der Doxologie: »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.« Dadurch wird die Befreiung von dem Bösen überspielt. Die politische Brisanz wird so erhöht (Reich Gottes als Kontrast zum römischen Reich). In den drei Er-Bitten wird dreimal der imperativus maiestaticus verwendet (»Es komme …«). So ist er auch in Gen 1,3.6.14 belegt (»es werde«), so auch als Machtwort in der Wundererzählung Mt 15,28 (»Es geschehe dir …«) und vor allem unmittelbar in der Nähe in Mt 8,3.13. Wer so imperativisch reden kann, verfügt über eine geradezu schöpferische Potenz. Wohl nur Pneumatiker können so reden. Daher leitet die klassische Liturgie das Vaterunser ein mit den Worten audemus dicere (»Wir wagen zu sagen …«). Der Wortlaut des Vaterunsers aber erklärt selbst diese Macht: Wenn die Christen einander vergeben haben (6,12.14f), dann wird jedes ihrer Worte erfüllt. Zu Mt 6,9a: »Vaterunser« – Jüdische Gebete aus der Zeit des Neuen Testaments beginnen nicht selten mit den Worten »Unser Vater« (vgl. auch Sir 23,1.4 »Herr, Vater« und JosAs 12,8.14), und
Das Evangelium nach Matthäus
vom Lobpreis des Namens, vom Offenbarwerden des Reiches, von der Bitte um Sündenvergebung und Befreiung ist oft die Rede. Doch eines kennt kein jüdisches Gebet: Dass man sagt »Unser Vater« und »Dein Reich komme«. »Unser Vater« sagt man zwar, aber nicht in Verbindung mit dem Reich. Denn das ist das Besondere der Botschaft Jesu: Kinder eines Vaters zu sein, der König über ein Reich ist. Königskinder, so wie Jesus Sohn dieses Königs ist. Man hat oft gefragt, wie denn Jesu Botschaft vom Reich Gottes, die man für das Ursprünglichste ansah, zusammenhängen könnte mit dem Glauben an Jesus als Gottes Sohn. Das Vaterunser gibt die Antwort: Die Verbindung von Reich und Kindschaft, von »Unser Vater« und »Dein Reich komme« ist das eigentlich Christliche. Jesus als Gottes Sohn ist der ältere Bruder der Christen. Deshalb ist das Vaterunser ein typisch christliches Gebet. Und das bedeutet übermütige Freiheit. Gegenüber dem König der Welt sind sie nicht Untertanen, sondern Kinder. Untertanen müssten Angst haben, Kinder dürfen um alles bitten. Untertanen konnte man verkaufen, zum Beispiel als Soldaten. Kinder begleitet man mit Sorgen das ganze Leben. Schon Aristoteles hat gesagt, die Anhänglichkeit der Eltern gegenüber den Kindern sei in der Regel stärker als die der Kinder gegenüber den Eltern. Gott Vater nennen: Der Vergleichspunkt ist bei der biblischen Rede von Gott nicht männliche Sexualität, auch nicht ein patriarchalisches System, sondern die Menschen verdanken ihm das Leben und den Unterhalt. Aber gilt das für jede Mutter nicht noch mehr? Mütter gebären Kinder, und das tut Gott nicht. Väter sind unterhaltspflichtig, obwohl sie Kinder nicht gebären. Mütter gebären, Gott aber ist der Schöpfer. Bei den Müttern ist das Natur, bei Gott ganz anders als Natur. Weil er nicht gebiert und dennoch Unterhalt gewährt, ist er eher dem Mann vergleichbar, aber nur in diesem Punkt. Von Gott zu reden bedeutet für die Bibel nicht einfach Verlängerung der Familiengeschichten in den Himmel hinein. Nur der Gott Israels hat keine Göttin an seiner Seite. Denn Sex und Kinderkriegen ist nicht göttlich, sondern kreatürlich. Und zweitens muss für uns klar sein: Wir reden zu Gott und er mit uns, Gott ist wie eine Person. Auch »Person« ist ein Bild, und der Vergleichspunkt ist weder Sichtbarkeit noch Raum oder Zeit, sondern allein die Erreich-
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Kapitel 6
barkeit durch Sprache. Eine Person aber, die Mann und Frau zugleich ist, können wir uns nicht denken. Denn bei Sprache hören wir immer die Stimme mit. Deshalb rede ich aus Überzeugung weiter vom himmlischen Vater und meine es nicht sexistisch. Gleichzeitig weiß ich, dass in der Bibel wie in der Kirche eine Frau immer Repräsentantin der Menschheit war, bis hin zu Maria. Und wir haben gehört, dass ein Vater nur in ganz bestimmter Hinsicht mit Gott zu vergleichen ist. So wie wir früher Rätselfragen aufstellten: Was ist das für eine Person, sie gebiert nicht und ist doch unterhaltspflichtig? Antwort: Das ist ein Mann, und in dieser Hinsicht ist er mit Gott vergleichbar. Zu Mt 6,9b: »Geheiligt werde dein Name« – Lass uns und andere deinen Namen loben, ihn ehren, ihn heilig halten. Denn der Name steht für Gott selbst, und wenn Menschen seinen Namen nennen, ist er gegenwärtig. – Die Verbindung von (Heiligung des) Namen(s) und Königtum Gottes findet sich auch in jüdischen Gebeten (vgl. U. Luz, Mt I,343 A.70), besonders im QaddischGebet: »Groß gemacht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt …, Er lasse seine Königsherrschaft herrschen in eurem Leben … Gepriesen sei sein großer Name …« Durch die Bitte um das Kommen in 6,10 gehört das Vaterunser zu den kletischen, d. h. eine Gottheit herbeirufenden, Hymnen (vgl. das Maranatha in 1 Kor 16,22; Didache 10,6; Offb 22,20). »Kommen des Reiches« im Judentum vgl. Targum Micha 4,8 (»Und du Gesalbter Israels … das Königreich soll kommen zu dir, und die frühere Herrschaft soll wiederhergestellt werden«). Zu Mt 6,10a: »Dein Reich komme.« Damit beten Christen nicht um das Ende der Welt. Vielmehr ist das Kommen des Reiches Gottes zu unterscheiden von seinem Offenbarwerden am Ende der Welt. Gottes Königreich kommt jetzt verborgen, kaum sichtbar, doch es bringt schon Früchte hervor. Aber die Konsequenzen für die Täter sieht man noch nicht. Gottes Reich existiert zwischen Verborgenheit und Offenbarwerden. Wenn Gottes Reich jetzt kommt, dann besteht das darin, dass das Samenkorn Fuß fasst, dass Menschen, wie die Juden sagen, das Joch des Reiches Gottes auf sich nehmen, indem sie dreimal
39 täglich das Gebet sprechen »Höre Israel, Gott ist einer …« (Dtn 6,4f). Zu Mt 6,10b: »Dein Wille geschehe« – das meint nicht die Leiden und Entbehrungen, die Gott angeblich zumuten will. Gott nimmt nichts, er gibt alles. Wenn die Evangelien von Gottes Willen sprechen, dann meinen sie stets den Willen, den Menschen tun sollen. Auch in Getsemani, als Jesus bittet »Nicht mein, sondern dein Wille geschehe« (Mt 26,39), ist Gottes Wille nicht das Leiden, sondern dass Jesus ausharrt, dass er sich nicht wehrt und nicht davonläuft. »Wie im Himmel, so auf Erden« – das meint: Im Himmel wird Gottes Wille schon getan, aus dem Himmel hat Gott auch den Teufel, den Ankläger, schon hinausgeworfen, nur auf Erden müssen wir noch von ihm befreit werden. Zu Mt 6,11: »Unser tägliches Brot« – Nur kurz, in einem einzigen kurzen Satz geht es um materiellen Nöte: Brot für morgen gib uns heute. Deshalb Brot für morgen, weil das Korn nachts gemahlen, das Mehl dann geknetet, angesetzt und gebacken werden musste (das griech. epiousios kann sprachlich nur von epienai »herankommen« abgeleitet werden, nicht von epi-ousa oder epiousia »[existenz-]notwendig«), denn dann hätte das i wegfallen müssen; nur bei epienai gehört das i zum Stamm und nicht zur Vorsilbe, kann daher nicht wegfallen!). So will es auch Hieronymus im Nazaräer-Evangelium gelesen haben. He epiousa hemera ist der »morgige Tag«. Vgl. dazu auch zwei Jesus-Agrapha: »Seid nicht besorgt um die Dinge, die für den morgigen Tag zum Lebensunterhalt notwendig sind. Denn wenn der morgige Tag innerhalb der Grenzen eures Lebens besteht, dann kommen eure Nahrungsmittel gemeinsam mit den Grenzen eures Lebens ohne Zweifel.« »Bewahrt keine Speise für den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird kommen und mit ihm die Speise, die euch zum Leben notwendig ist.« – Gott wird im Vaterunser daher in der Rolle des antiken Kornverteilers (griech.: sitometres) gesehen (vgl. Spr 30,8). Alle übrigen Bitten des Vaterunsers meinen eher Gottes eigene Sorgen. Nur so kurz beten Christen um irdischen Nöte; denn Gott weiß ja, was sie benötigen (6,32), und die Brotbitte hat eher die Funktion eines Bekenntnisses wie Joh
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40 11,42. Zuerst ist im Vaterunser vom Positiven die Rede: Vom Vater, vom Himmel, vom Lob seines Namens, von seinem Reich und Willen, davon, dass er uns zu essen geben will und kann. Doch dann sind wir stark genug, um das zu nennen, was uns belastet: meine Schuld, die Schuld meines Nächsten, die Versuchung und unsere Schwäche, der Teufel. Sünde und Anfechtung, Gefährdung und Angst dürfen des Vaters Kinder vor Gott, dem himmlischen Vater, beim Namen nennen. Zu Mt 6,12: »Vergib uns unsere Schuld« – Zu Rechenschaftsberichten (»Selbstempfehlungen«) innerhalb des Gebets vgl. Joh 17,4f; Lk 18,12; Ps.-Philo LAB 19,8f (Mose vor seinem Tod: »Ich fürchtete mich und neigte mein Angesicht … Barmherzigkeit«). – Zur Vergebung vor dem Gebet vgl. Sir 27,30 – 28,5: »Vergib das Unrecht deinem Nächsten, dann werden, wenn du sündigst, deine Sünden auch vergeben. Der Mensch hält gegen einen andern fest am Zorn, und da will er Heilung suchen bei dem Herrn? Mit seinesgleichen kennt er kein Erbarmen, und wegen seiner Sünden bittet er? Er ist doch selbst nur Fleisch und hält am Zorne fest, wer wird da seine Sünden sühnen können?« Ferner: Mk 11,25; 1 Tim 2,8; 1 Petr 3,7; Syrische Didaskalie 11: »Verzeih dem Bruder, und wenn du es um des Bruders willen nicht tun magst, so tue es wenigstens um deiner selbst willen, damit du erhört wirst, wenn du betest und ein angenehmes Opfer dem Herrn darbringst.« Hier liegt übrigens die Ursache für die Verheißung paradiesischer, schöpferischer Macht für den, der eins ist mit dem Bruder. Dieses hat große Bedeutung für das Verständnis der Eucharistie (vgl. dazu auch das Gebet Ne respicias: Blicke nicht auf meine Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche, die du … einen wollest …) im Zusammenhang mit dem Friedensgruß. Zu Mt 6,13: »Lass uns nicht in Versuchung geraten, sondern erlöse uns von dem Bösen« – es geht um den Bösen, nicht um das Böse, vgl. Mt 13,19.38 sowie die meisten griech. Väter, Luther (Großer Katechismus), Reformierte. Auch in Mt 5,37.39 geht es wohl um den Bösen (vgl. 1 Joh 3,8 – im Unterschied zu »aus Gott«). – Nach Gen 22,1 versucht Gott Abraham, d. h. er prüft
Das Evangelium nach Matthäus
seinen Glaubensgehorsam. Das ist ein grausames Geschehen. Abraham ist dadurch überfordert, hält ihm aber mit Mühe stand. So ergeht es auch Jesus in Getsemani. Denn es ist nicht der Teufel, der ihn dort versucht, auch im Vaterunser ist es nicht Gott, der versucht, und ebenso nicht in Jak 1. Daher fragt Jesus in Getsemani nach Gottes Willen. Lukas berichtet, weil diese Angst eine Tortur bedeutet, von dem Engel vom Himmel her, der Jesus stärkt. Ganz im Sinne von Mt 6,13 betet Jesus in menschlicher Angst in der größten Versuchung. Der einzige Weg, darin zu bestehen, ist das Gebet. So ist es auch im Vaterunser. Wenn ein Mensch der Versuchung nicht standhält, entsteht das Böse. Es ist je und je Resultat der Versuchungen. Vom Bösen (Schuld) kann nur Gott befreien. Das Böse steht dem Reich Gottes entgegen.
Mt 6,19-34: Gerechtigkeit des Reiches Gottes Der Abschnitt über die Gerechtigkeit des Reiches Gottes gipfelt in V. 33 (»Sucht zuerst das Gottesreich und seine Gerechtigkeit«). Auf dem Weg dahin spielt die Absage an die Vergötzung des Reichtums die entscheidende Rolle. Dann folgt logisch der Abschnitt über die Freiheit von der Vorsorge (V. 25-34). – Dass Schatz und Lohn der Christen unsichtbar und zukünftig bei Gott sind, ist bereits Voraussetzung der gesamten Bergpredigt von den Seligpreisungen an. Zu Mt 6,19-21: Zur Beständigkeit des himmlischen Schatzes vgl. TestHiob (1. Jh. n. Chr.) 36,3-5: »›Mein Sinn steht nicht mehr nach irdischen Dingen, denn unbeständig ist die Erde und die auf ihr wohnen. Mein Sinn steht nach himmlischen Dingen, denn im Himmel gibt es kein Unruhe.‹ Baldad erwiderte: ›Fürwahr, wir wissen, dass die Erde unbeständig ist, denn sie verändert sich von Zeit zu Zeit. Bald wird sie gut geleitet, bald hat sie sogar Frieden, dann und wann ist sie auch im Krieg. Vom Himmel aber hören wir, dass er beständig ist‹ …« Zu Mt 6,22f: Das Gleichnis vom Auge ruft geradezu nach einer Interpretation, die sich an der Funktion im Kontext orientiert. Denn weder als biologische Belehrung noch als Rede über Gott
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Kapitel 6
ist das Wort sinnvoll und verständlich. Vielmehr handelt das Wort vom menschlichen Aufnahmevermögen, also vom Begreifenkönnen und ist ein meta-kommunikativer Kommentar zur vorangehenden Rede vom Schatz. Damit aber wird das Gleichnis trotz seiner beschreibenden Art ein Appell, über die Evidenz der Wahrheit nicht hinwegzusehen. Ähnlich wie in den Gleichnissen von Dornen und Disteln ist auch hier ein Indikativ als starker Imperativ verstanden: »Habt gute Augen!« – Eine rein moralische Interpretation (»Geradlinigkeit im Gehorsam«) kommt deshalb nicht infrage, weil die Wahl des Bildes (Auge/ Leib) so gar nicht verständlich wird. Zu Mt 6,24-34: Verzicht auf Vorsorge – Wir begegnen hier einem Jesus, der ganz und gar nicht apokalyptisch gestimmt ist. Dieser Jesus hat die Vögel des Himmels beobachtet und die Blumen des Feldes: Dieser Jesus staunt über die durch nichts Böses behelligte Fürsorge Gottes für die Schöpfung. An jeden einzelnen Vogel denkt Gott. Er hat einen Blick für die absolute Schönheit jeder Blume und jedes Grashalms. Noch einmal wird Jesus auf die Spatzen zu sprechen kommen: in Mt 10,29-31. Gerade auch diese »Parallele« in Mt 10 zeigt, dass Jesu Verweis auf die Schöpfung »System« hat: Denn in Mt 6 wie in Mt 10 stellt er einen Schöpfer und himmlischen Vater vor, der höchst aktiv und höchst sorgfältig, geradezu wie ein Tierpfleger oder Gärtner um die Welt außerhalb des Menschen bemüht ist. In dieser Liebe des Schöpfers sieht Jesus nicht nur »den« Menschen restlos geborgen, sondern ganz besonders seine Jünger, und zwar in ihrer Wanderexistenz (Mt 6) wie in ihrer Gefährdung durch das Martyrium (Mt 10). Jesus hat hier Zugang zum himmlischen Vater gefunden über die ganz alltäglichen Spuren des Wirkens Gottes in der Welt außerhalb des Menschen. Denn er sagt ja immer nur dieses: Ihr seid noch viel mehr wert, euch wird er noch viel weniger fallen lassen als jene – wenn er es je könnte oder wollte. Jesus muss hier offensichtlich Menschen trösten, die Angst haben, verzagt und heimatlos sind. Jesus begegnet ihnen mit einem geradezu paradiesischen Vertrauen auf den Vater im Himmel. Am stärksten wird das in 6,33: »Sucht zuerst Gottes Herrschaft und fragt nach dem, was Gott von euch fordert, dann gibt es
41 Kleidung und Nahrung geschenkt dazu!« Jesus erwartet von seinen Jüngern, dass sie alles auf eine Karte setzen, und er verheißt ihnen für dieses Experiment bedingungslosen Schutz. Er macht an solchen Stellen auch die Erfahrung der Hilfe durch Engel – so in der nahrungslosen Wüste. Aus Mt 10,26-33 wird erkennbar, dass das Geborgensein, von dem Jesus spricht, auch den (Märtyrer-)Tod des Jüngers und Zeugen umfasst. Denn Jesus setzt hier das Bewahrtwerden durch den Schöpfer dem leiblichen Töten entgegen. So gewinnt Jesus aus seiner Theologie der ganz besonderen Vorsehung Gottes für die Jünger auch die Überzeugung, im Tod in Gottes Hand geborgen zu sein. Die Verse Mt 10,32f dürften eine Auferstehung zum Gericht voraussetzen. Die Pointe des Abschnitts ist die Aufforderung in 6,33 vom Suchen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit. Wir haben das übersetzt: »Sucht zuerst Gottes Herrschaft und fragt nach dem, was Gott von euch fordert.« Denn die Gerechtigkeit des Reiches Gottes ist hier im Kontext des (Nicht-)Sorgens zweifellos auf das bezogen, was die Jünger nun tun sollen, statt sich zu kümmern um Nahrung und Kleidung. Wenn sie vom Sorgen entlastet sind, dann tritt das in den Vordergrund, was die Jünger tun sollen, anstatt zu sorgen. Es gibt auch Stellen, wo die Gerechtigkeit Gottes die Summe dessen ist, was Gott von den Menschen fordert, so Jak 1,20 (wenn ein Mensch zürnt, tut er nicht, was Gottes Gerechtigkeit von ihm fordert). Mit der Freiheit vom Sorgen fordert Jesus den Verzicht auf elementare Lebensregungen. Denn er meint damit nicht nur, dass man sich keine Gedanken machen soll, dass man nicht grübeln soll. Die Sorge, die er ablehnt, ist das konkrete und sehr buchstäbliche Sich-Kümmern. Jesus fordert dazu auf, sich frei zu machen von der Beschäftigung mit dem Erwerb von Nahrung und Kleidung, schließlich soll jede Sicherung des Lebens entfallen. Die Jüngerinnen und Jünger sollen auch vor dem Tod keine Angst haben. Alle Freiheit dient dem Reifen des Herzens, der Freiheit für die Gerechtigkeit, die Gott will. Die Bergpredigt selbst ist die Magna Charta der Gerechtigkeit, die Gott fordert (Mt 6,33), weil sie notwendig ist, um an Gottes Herrschaft und Reich Anteil zu haben. Der Sinn der Bergpredigt und gerade auch der
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42 Taufe nach Röm 6 (Mitgekreuzigtwerden) besteht darin, dieses Lassen zu lernen, bevor wir es vollziehen müssen. Denn das könnte ein Stück Seligkeit schon jetzt bedeuten. Wenn man so loslassen kann, wie Jesus es tut, dann kann man auch die Schöpfung so staunend wahrnehmen, wie er es kann. Dann besteht auch der Tod nur noch darin, dass nichts mehr von Gott trennt. – Die Seligkeit vor dem Tod wird sehr genau in den Seligpreisungen der Bergpredigt beschrieben. Den geforderten Verzicht auf Vorsorge kann man auch als Herausforderung Gottes deuten (was in Mt 4,7 abgelehnt wird). Gott erscheint aber hier als einer, der herausgefordert sein will. So ist das Gottesbild hier: Gott wird ernähren und kleiden, wo man für nichts sorgt; er wird auferwecken, wo man das Leben riskiert; er wird auf dem Meer gehen lassen, wenn man – im Glauben – sich um die Wellen nicht kümmert. Er will, dass man sich in seine Hand fallen lässt, aber es muss schon seine Hand sein. Deshalb ist die Frage, ob das alles so stimmt und wann und ob das wirklich wird, schon der Beginn des petrinischen Zweifelns (Mt 14). Sinn dieses Textes ist es vielmehr, das absolute Geborgensein in einer verspielten, verliebten und übermütigen Beziehung darzustellen. Deshalb ist das hier keine starre Lohnethik, sondern Provokation der Gerechtigkeit Gottes, wobei sich Jesus darauf verlässt, dass der himmlische Vater mitspielt und mitspielen will. Wie bei einer Rutsche, bei der man weiß, dass am Ende zwei hilfreiche Arme einen auffangen. Die »Freiheit von der Vorsorge« hat zunächst, für sich betrachtet, folgende Aspekte: a) Gott sorgt stattdessen (1 Petr 5,7; Mt 6,28) wie ein Vater für seine Kinder (Mt 6,32) – b) Sorge ist nutzlos (rationales Argument): Mt 6,27; Lk 12,25 – c) Sorge steht der Heiligkeit entgegen. Wer sich sorgt, ist geteilt (1 Kor 7,32-34). – Weder im MtEv noch bei Paulus wird die Sorge um Gott spiritualisiert. Sie ist vielmehr eine reale Konkurrenz zu irdischen vorsorgenden Tätigkeiten. – Ähnlich wie unter c) ist auch im MtEv die Freiheit von der Vorsorge kein Selbstzweck, sondern ihr korrespondiert die radikale Ausrichtung des Lebens auf das Reich Gottes. Dabei hat der Verzicht auf irdische Tätigkeit und die Zuwendung allein zum Gottesreich eine Analogie
Das Evangelium nach Matthäus
im frührabbinischen Sich-Mühen um die Torah, das den Schriftgelehrten auszeichnet. Die Speisungsgeschichten (Brotvermehrungen) sind erfahrbare und sichtbare Umsetzungen dieses Programms Jesu. Auch im Weinwunder in Joh 2,1-11 geht es um Aufhebung einer Sorge mit dem Mittel der messianischen Fülle. So ergibt sich im Ansatz folgende Systematik: Freiheit von der Vorsorge bedeutet Loslassen von Arbeit und Beruf, um frei zu sein für das eine, für Gottes Willen. Einerseits wird das beantwortet durch die Wundertradition (Speisungs- und Weinwunder), andererseits aber durch die Verheißung doppelten Gewinns auf Erden (Mk 10,29) oder überhaupt durch die Verheißung, dass derjenige das Leben und sich selbst gewinnt, der diese Größen aufgibt. So besteht eine Querverbindung zu Mk 8,35 und den entsprechenden Leidensaussagen. Schließlich ist die charismatische Dimension nicht zu vergessen: Philo v. Alexandrien erklärt im »Leben des Mose« (I,153 ff), dass Mose deshalb Wunder wirken konnte (Manna, Auszug), weil er auf allen Reichtum verzichtet hatte. Die Freiheit vom Besitz bedeutete für ihn die Herrschaft über die Elemente der Welt. Der Verzicht auf Besitz und entsprechende Vorsorge ist daher nicht primär eine moralische Frage, sondern schafft die Freiheit, nach Gottes Willen zu suchen, und den Raum, der durch Gottes Kraft gefüllt werden kann. Es kommt daher eine Freiheit zustande, die moralische und charismatische Dimensionen hat. Frei sind die Christen als Kinder des Königs. Oder anders: Wer alles lassen kann, der hat die Freiheit, alles zu tun, was durch das eine Erste Gebot gefordert ist, und Gott stellt ihm wunderhaft alles bereit, was er zum Leben braucht. Die scheinbaren Notwendigkeiten werden entmachtet, nämlich die Notwendigkeit, sich um das Lebensnotwendige zu kümmern, und die Notwendigkeiten der Eigengesetzlichkeiten in den Gewohnheiten und Zwängen.
Mt 7,1-12: Ordnung in der Welt – Goldene Regel Zu Mt 7,1: Vom Richten – Schabb 127a: »Wer seinen Nächsten nach der verdienstlichen Seite beurteilt, den beurteilt Gott nach der verdienstlichen Seite.«
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Kapitel 7
Mt 7,1-12 ist ein Traktat über die Ordnung in der Welt aus der Sicht Jesu. Es gibt hier eine ganze Liste von Dingen, bei denen eines zum anderen gehört. Die Pointe ist die Entsprechung von Geben und Nehmen, von Gabe und Bedarf, von Angebot und Schicklichkeit. So gehört Finden zum Suchen. Die Ordnung besteht darin, dass irgendwann jeweils das eine das andere findet, sozusagen jeder Topf seinen Deckel. Dann findet zusammen, was zusammengehört. Doch noch gibt es Dinge, die aufeinanderstoßen und nicht zusammengehören. Wie etwa gesegnetes Brot und unheilige Hunde, Perlen und Schweine, ein Mensch, der doch nur ein Mensch ist und der sich das Gericht anmaßt. Aber Gottes Ordnung wird darin bestehen, dass das jeweils Passende zusammenfindet. – Nach 7,12 wird in diesem Sinne auch die Goldene Regel so gedeutet: Genau das, was man selbst erwartet, soll man anderen tun. Denn für andere etwas tun und Taten empfangen sollten im Gleichmaß stehen, das wäre gerecht. Die Botschaften von 7,1-12 sind eine besondere Entfaltung des Programms Jesu von der Gerechtigkeit. Das Neue Testament kennt nur diese »positive« Fassung der Goldenen Regel: »Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen.« Die Goldene Regel ist in der positiven wie in der negativen Fassung (»Alles, was du von anderen nicht erleiden möchtest, das tue auch ihnen nicht an«) eine sehr weit verbreitete Maxime der hellenistischen Popularethik. An kaum einer anderen Stelle wird der internationale und interkulturelle Zusammenhang zwischen der Popularethik und der Ethik Jesu so handgreiflich wie hier. Wir vergleichen zunächst die beiden Fassungen der Goldenen Regel. Negativ: Was du nicht willst, dass man es dir antut, das tu auch keinem anderen an. Positive Fassung: Alles, was ihr wollt, dass man euch tun soll, das tut auch den anderen. – Vergleich: In beiden Formen geht es um Wollen oder Wünschen. In beiden Fällen wird ein Maßstab für Tun oder Lassen gesucht. Der Maßstab dafür wird im Ermessen des angesprochenen Subjekts gefunden, nicht in einer allgemeinen Regel. Im Handeln oder Leiden nach dem Maßstab wird die Zukunft entschieden: was man will oder eben nicht will. Dabei geht es nicht um Empathie (sich hineindenken in die anderen), sondern um Phantasie, die ichbezogen bleibt. Die
positive Fassung setzt voraus, dass der Angesprochene die Beziehung zu anderen affirmativ gestalten will. Daher ist es nicht zufällig, wenn die positive Fassung in Mahnreden an Herrscher vorkommt. In der negativen Fassung geht es um grundsätzlich Verschiedenes, nämlich um Vermeidung des Schmerzes. Sowohl in der positiven wie in der negativen Fassung wird daher ein Eudämonismus diskutiert. In der negativen Fassung geht es nur um das Lassen, nicht um das Tun. Nichts soll »passieren«. In der positiven Fassung geht es dagegen um die Anstrengung des Tuns, das in einer erneuerten Beziehung Gestalt gewinnen soll. Unterlassung ist weniger als positives Tun. Denn die positiven Wünsche sind potenziell unbegrenzt. Bei der negativen Fassung ist die Forderung geringer. Nur etwas zu meiden ist weniger, als eine Beziehung zu gestalten. – Trifft das zu, dann passt zum »Reich Gottes« nur die positive Fassung. Denn im Reich Gottes geht es nicht um Vermeidung, sondern um das, was wird. Das gilt für alle Reiche, nicht nur für das Reich Gottes. Daher herrscht die positive Fassung der Goldenen Regel dort, wo Herrscher angeredet sind. Denn die Weisheit der Könige soll traditionell eine positiv-gestaltende sein – daher die positive Fassung. Erwägungen zur positiven Fassung der Goldenen Regel Die Goldene Regel in positiver Form hat folgende Aspekte: Selbsterkenntnis: Welches sind die wahren eigenen Wünsche? Diese sind abhängig von der Selbsteinschätzung: Wer sich hoch einschätzt, pflegt hohe Wünsche zu haben. Zugleich fragt man: Ist diese Einschätzung realistisch? Phantasie: Wie denkt jemand über den praktischen Weg zur Umsetzung und Erfüllung seiner Wünsche? Was konkret muss getan werden? – Grundsätzlich ist die Goldene Regel – trotz ihrer nüchternen Form – ein Appell an die Phantasie, bezogen auf die Möglichkeiten des Handelns im Miteinander. Entscheidung über den Maßstab für Wünschbares: Oft gehen Wünsche ins Maßlose. Der Maßstab kann letztlich nur im möglichen Tun des anderen, in seinen Ressourcen usw., liegen. Realistisches Abschätzen der Möglichkeiten des Partners: Was könnte denn der andere einem Gutes tun wollen? In welchem Umfang wird mein Handeln jetzt auch begrenzt durch die Möglichkeiten des
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44 anderen? Vergleichendes Abwägen des Umfangs der eigenen Wünsche im Verhältnis zum wahrscheinlichen Willen und Können der anderen. Das heißt: Es geht um ein im Vollzug sich korrigierendes und moderierendes Ins-VerhältnisSetzen und Sich-Einspielen-Lassen der eigenen Wünsche und der Möglichkeiten des anderen. So erlebt derjenige, der nach der Goldenen Regel die »Vorleistung« übernimmt, das ordnende, stille Wirken der »unsichtbaren Hand«, von der die Volkswirte sprechen. Vorleistung: Da man in der Regel nicht das empfängt, was man sich wünscht, läuft die Goldene Regel darauf hinaus, eine Änderung des Verhaltens untereinander im Sinne einer Vorleistung herbeizuführen. Wagnis: Die das System der Interrelation verändernde Tat ist immer ein Wagnis. Denn sie setzt, ohne dass man den anderen fragt, seinen Wunsch im Sinne der genannten grundlegenden Veränderung voraus. Initiative: Zur Änderung des gegenseitigen Gebens und Nehmens (darum geht es!) muss der Angesprochene die Initiative ergreifen. Die Bereitschaft, enttäuscht zu werden und dieses zu tragen: Es kann ja sein, dass die Vorleistung, die man den anderen nach der Goldenen Regel erbringt, von diesem gar nicht wahrgenommen und noch viel weniger positiv beantwortet wird. Dann bleibt das Handeln nach der Goldenen Regel einseitig. Und zunächst ist es das immer. Für Vertrauen muss gegeben sein, dass die anderen das Spiel verstehen, dass sie das Wohl des Mitspielers ähnlich einschätzen wie der, der die Initiative zur Änderung ergreifen soll. Korrektur: Es kann bei dem, was ich dem anderen Gutes tue, nicht um exakt materiell dasselbe gehen, das strikt identisch ist mit dem, was ich will. Denn ganz gewiss sind die Wünsche nicht identisch, sondern individuell verschieden. Es handelt sich daher um ein bestimmtes Maß von Zuwendung (Aufmerksamkeit, aktiver Fürsorge, Liebe, Sorgfalt), das je verschiedene Inhalte haben kann. Dieses Maß ist eher formal verstanden. Positive Utopie: Dieser Fassung der Goldenen Regel liegt der Optimismus zugrunde, dass Menschen im Miteinander einen Ausgleich ihrer Interessen finden, wenn nur jeder nach dieser Regel handelt. Es geht daher um eine iustitia distributiva.
Das Evangelium nach Matthäus
Durch den Zusatz über Gesetz und Propheten (Mt 7,12b) gibt der Evangelist der Goldenen Regel eine außerordentliche Vorrangstellung, wie sie sonst nur den beiden Hauptgeboten zu eigen ist (Mt 22,40). Das sollte man theologisch nicht unterschätzen. Denn der Evangelist unterscheidet zwei Arten von Radikalität, und das kommt ganz gut überein mit seinem einerseits judenchristlich-palästinischen, andererseits heidenchristlichen Publikum. Die erste Art von Radikalität ist zumeist die einzige, die man kennt: Ausgerichtet ist sie an Armut, Wanderaposteln und an der Auffassung vom himmlischen Schatz (überschießender Lohn) nach der Bergpredigt. Die oft beobachtete Maßlosigkeit ist hier in jedem Fall endzeitlich motiviert. – Die andere Art von Radikalität aber richtet sich an sesshafte Gemeinden. Für sie gelten die Radikalität der Goldenen Regel und das Gebot der Nächstenliebe (lieben »wie dich selbst«). Hier geht es nicht um die totale Aufgabe aller Güter, sondern um den Ausgleich der Interessen im Miteinander. Eben diesen Ausgleich meint das »wie dich selbst« im Liebesgebot, und um diesen Ausgleich geht es auch bei der Aufnahme von Wanderaposteln durch bestehende Ortsgemeinden. Hier ist besonders auf die Aussendungsrede in Mt 10 zu verweisen. Die Wanderapostel werden deshalb ohne alles ausgesandt, weil die Ortsgemeinden sie dann entsprechend aufnehmen und ihnen das Nötige zum Leben geben. So hat der Ausgleich das »letzte Wort«.
Mt 7,13-15: Falsche Propheten Die Warnung vor falschen Propheten gehört in den Schlussteil einer Rede. Dass also diese Warnung in Mt 7 hier steht, ist ein Signal dafür, dass die Bergpredigt hier in den Schlussteil übergeht. Zur Warnung vor den falschen Propheten gehört das semantische Feld von Wolf, Schafen, Türe, sich hüten, wachen. Breit belegt in Mt 7,13-15; Joh 10,1-15; Apg 20,29-31; Mk 13,6.22 f.33-37; Didache 16,3-5 ist ein semantisches Feld mit folgenden Elementen:
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Kapitel 7
Tür, Eingang
Mt 7,13; Joh 10,1 f.7; Mk 13,34 Türhüter
Hineingehen
(griech.: eiserchomai) Mt 7,13; Joh 10,1.9; Apg 20,29
Wölfe schonen nicht, bzw. reißen und zerstreuen
Mt 7,15; Joh 10,12; Apg 20,29
andere Lehrer
Mt 7,15.22: Pseudo-Propheten; Joh 10,1.8: Diebe, Räuber, Mietlinge; Mk 13,6: Irrlehrer; 13,22: Pseudochristusse, Pseudopropheten führen in die Irre Apg 20,30: Irrlehrer: Didache 16,3: falsche Propheten; 16,4: Weltverführer
Schafe
(griech.: probata) Mt 7,15; Joh 10,1-4.7.11-16; Didache 16,3
Herde
(griech.: poimne, poimnion) Joh 10,16; Apg 20,28 f
Hirte
(griech.: poimen, Verb: poimainein) Joh 10,2.11 f; Apg 20,28
Rettung/Untergang
(griech.: apoleia, Gegenteil: Leben) Didache 16,5
wachsam sein
(griech.: prosechein, gregorein) Mt 7,15; Apg 20,31; Mk 13,22 (seht zu). 33.37 (seid wachsam); Didache 16,1 (»Seid wachsam für euer Leben«)
Gegenbild: Der gute Lehrer
Mt 7; Joh 10; Mk 13: Jesus; nach Apg 20 Paulus; nach Didache: die zwölf Apostel.
Diese Texte sind literarisch unabhängig voneinander. 1. In Apg 20 und Didache 16 handelt es sich eindeutig um Abschiedsreden, und zwar darin testamentarische Schlussmahnungen. Sie warnen vor dem Abfallen von der wahren Lehre in der Endzeit, das nach dem Abschied des geliebten Lehrers akut wird. 2. Auch Mk 13 ist eine Abschiedsrede (die letzte Rede Jesu). Dazu gehören auch hier die »anderen Lehrer« (Pseudopropheten, Pseudochristusse), das Bild der Tür (Türwärter) und die Appelle zur Wachsamkeit (griech.: agrypnein). 3. Nach Position und Inhalt ist auch Mt 7,13-15 bereits eine solche Abschlussrede. Es folgt nur noch das Doppelgleichnis vom Hausbau. 4. In Joh 10 nennt Jesus nicht Falschlehrer, die nach ihm kommen, sondern solche, die vor ihm da waren. Daher gehört Joh 10 auch nicht zu den Abschiedsreden. In Joh 21 wird Jesus aber wieder von Schafen und Herde sprechen, und zwar in einer »testamentarischen Verfügung« (Joh 21,15-17). Im JohEv ist das einschlägige Material daher aufgespalten zwischen Joh 10 und Joh 21. Gerade in diesem Sinne gehört Joh 21 zum Evangelium genuin dazu. Simon Petrus steht in Kap. 21 an der Stelle, die in Apg 20,28 die von Paulus eingesetzten Episkopen einnehmen.
Mt 7,21-27: Schlusswort der Bergpredigt Der zweigeteilte Abschnitt ist das Schlussstück der Bergpredigt. Im ersten Teil richtet sich Jesus gegen unechte Christen, die nur frommen Schein, aber keine guten Taten aufzuweisen haben. Im zweiten Teil ist das Doppelgleichnis vom Hausbau eine Selbstempfehlung der ganzen Bergpredigt. Sie ist nicht wie Sand, sondern wie Fels. Wer auf dieses Wort baut, der wird das Gericht überstehen. Im ersten Abschnitt (7,21-23) sind drei Dinge interessant. Erstens wird ein besonderes Verhältnis Jesu zu den Christen im Weltgericht vorausgesetzt. Er ist offenbar ihr Anwalt (Patron) oder Ankläger im Gericht, und je nachdem, wie er sich zu den Jüngern stellt, wird das Gericht entscheiden. Er ist hier nicht als Richter vorgestellt, sondern wie der Menschensohn in Mt 10,32f, der sich vor dem himmlischen Gerichtstribunal zu den Jüngern bekennt – oder eben nicht. Eine ähnliche Auffassung ist auch in der frühen Stelle 1 Thess 1,10 vorausgesetzt: Jesus rettet die Seinen vor dem kommenden Gerichtszorn. – Eine derartige Rolle als Protektor im Weltgericht ist sonst von niemandem berichtet, höchstens für den Erzengel Michael ergeben sich Analogien in seltenen jüdischen Texten für die Erzväter. Zum Zweiten ist interessant, dass die »frommen« und nutzlosen Zeichen typisch christliche
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46 Elemente sind oder sein sollen, und das wirft wiederum Licht auf das früheste Christentum. Zum einen ist es der doppelte »Kyrie«-Ruf, der offenbar christliche liturgische Praxis ist. Doppelung bei namentlicher Anrede war üblich, um im riskanten Bereich kultischer Anrufung unmissverständlich den »Richtigen« zu erreichen. »Kyrios« ist der auf Jesus bezogene Gottesname der griechischen Bibel. Der mehrfache Kyrie (-eleison)-Ruf ist später Merkmal aller klassischen christlichen Liturgien. Auch 1 Kor 12,3 setzt diesen Ruf, an Jesus adressiert, voraus. Zum anderen aber ist offenbar die exorzistische Praxis ein ganz wesentliches Merkmal der Christen. Schon durch Mk 3,15 und 6,7 wird das ebenso nahegelegt. Die »vielen« Wunder werden erst danach erwähnt und also von den Vollmachtstaten der Exorzismen unterschieden. »Prophezeien« bedeutet nichts weiter als predigen, und wer »im Namen Jesu« prophezeit, der predigt offenbar ähnlich wie alttestamentliche Propheten, die ihre Predigt begannen mit »So spricht der Herr«, und das genau konnte man wiedergeben als »im Namen des Herrn« predigen. Im Neuen Testament sind genau solche prophetischen Reden im Namen Jesu in den Gemeindebriefen der Offb erhalten. Sie beginnen alle mit »So spricht …«, und dann kommt ein Name Jesu. Der Seher Johannes nennt auch sich selbst Prophet. Die Offb ist daher ein guter zeitgenössischer Beleg für das, was Jesus hier von den Jüngern sagt. Schon Mt 7,20 nennt ausdrücklich falsche Propheten. – Wenn Jesus demgegenüber das Tun des Willens Gottes fordert (7,21), dann ist dieser Vers zugleich Schlüssel zum Verständnis des Willens Gottes in der Vaterunser-Bitte: Gebeten wird nicht um Gottes Schicksalswille, sondern darum, dass Menschen Gottes Willen tun möchten. Drittens ist interessant, dass die charismatischliturgische missionarische Tätigkeit den Ausführenden gar nicht hilft, wenn sie nicht gute Werke tun. Ähnlich wie in Mt 25,31-46 sind sie das einzige Kriterium. Jeder Einzelne wird zum Handeln gemahnt, und es geht nicht um Kriterien zur Beurteilung anderer (U. Luz). Aber irritierend und doch ernst zu nehmen ist, dass auch die charismatische Heilertätigkeit, die nach unserem Verständnis zugunsten anderer erfolgt, nichts zählt, wenn nicht die Werke entsprechend
Das Evangelium nach Matthäus
sind. Gerade mit Seelsorgern geht Jesus daher hier streng ins Gericht. Damit wird hier gegen christliche Propheten das mobilisiert, was im Alten Testament Propheten als die Priorität der Gerechtigkeit gegenüber dem Kultischen betonten. Im Übrigen muss man in die Härte dieses Abschnitts nicht künstlich eine Gnadenlehre einfügen, um die Rechtgläubigkeit Jesu zu retten. Gerade hier, wo es um falschen klerikalen Schein geht, also um das Verheerendste, das zu allen Zeiten der Kirche am meisten geschadet hat, würde jede Rede von Gnade nur zu Missverständnissen führen. Denn hier wie auch sonst lässt die gesamte Bibel keinen Zweifel daran, dass der Einzelne verantwortlich ist für das, was er tut, und dass er auf seinen freien Willen hin ansprechbar bleibt und die Folgen seiner Entscheidung trägt. Alles andere wäre im Sinne der Bibel mangelnde Achtung des Menschen. Das mit diesem Text gestellte Problem artikuliert Bernhard v. Clairvaux so: Abgelehnt werden hier Christen, die die Gnade der Wunder für die eigene Ehre ausnutzen. Wo keine »Wahrheit in der Absicht sei«, schade die Gnade, Wunder wirken zu können. Tröstlich ist an diesem Text, was unausgesprochen vorausgesetzt wird: Der Menschensohn steht in einer unsichtbaren, engen und geheimnisvollen Beziehung zu seinen Jüngern. Es ist, wie wenn er hier auf der Basis des Bundes argumentiert, den er in Mt 26,28 schließen wird. Denn der Menschensohn wird sich – außer wenn man aus diesem Bund ausbricht – ohne Wenn und Aber für die einsetzen, die zu ihm gehören. Diese geheime Solidarität ist darin begründet, dass nach der Menschensohn-Theologie das christliche Gottesvolk (Kirche) wie eine Ellipse zwei Brennpunkte besitzt: Jesus und die Jünger. Beide Brennpunkte stehen in der Beziehung enger Gegenseitigkeit. Was mit Jesus geschieht, das gilt auch für die Jünger. Und wer sich zu ihm bekennt, zu dem wird sich auch Jesus bekennen. Entgegen der Meinung der liberalen Theologie zwischen 1860 und 1970 ist daher Jesus nicht als Einzelfigur und großes Individuum auf der Welt gewesen, sondern hat sich Gegenwart und die Zukunft am Tage des Gerichtes nicht anders vorstellen können denn als verschworene Gemeinschaft mit den Jüngern. Insofern nimmt die apokalyptische Menschensohnchristologie viel von dem vor-
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Kapitel 8
weg, was Paulus und der Epheserbrief später je auf ihre Weise »Leib Christi« nennen sollten. Mit der apokalyptischen Vorstellung vom Menschensohn ist dieses insofern vorbereitet, als nach Daniel 7 der Menschensohn in der Bildhälfte der Vision genau die Rolle einnimmt, die in der Sach-
47 hälfte dann als das »Volk der Heiligen des Höchsten« entschlüsselt wird. Aus dieser visionären Deckungsgleichheit wird später ein Mit- und Füreinander von Menschensohn und dem neuen Gottesvolk des Neuen Testaments.
Mt 8-10: Wunder und Nachfolge Aufbau: Die Abfolge von Wort und Wunder ist aus Mk 4f geläufig (Gleichnisse und Bestätigung durch Zeichen). Dieses Schema wird in Mt 5-10 variiert. In 5-7 bietet das MtEv die Bergpredigt, von 8,1 – 10 Ende dagegen eine Mischung von Wunderberichten mit Notizen und Sprüchen zum Thema »Nachfolge«. Man beachte: In 5-7, also in der gesamten Bergpredigt, kommt das Wort Nachfolge(n) nicht vor, in 8-10 dagegen steht es, auf »Jesus nachfolgen« bezogen, achtmal (mehr als ein Drittel der matthäischen Vorkommen). Die Verknüpfung von 5-7 und 8-10 wird geleistet durch den Topos »Gespräche beim Abstieg vom Berg«. Dieser bisher nicht beobachtete Topos ist relativ wichtig. Der Abstieg vom Berg ist – nach dem zentralen Empfang der Offenbarung auf dem Berg – jeweils der klassische Ort der Jüngerbelehrung. Inhaltlich steht an dieser Stelle jeweils eine »mystagogische Katechese«, d. h. ein Dialog über bisher verborgene Geheimnisse oder eine entsprechende Tat mit Offenbarungsfunktion. In Mk 9,10-13 belehrt Jesus die Jünger beim Abstieg vom Berg der Verklärung über Elia und den Menschensohn, vor allem über deren gemeinsames Leiden (ebenso in Mt 17,10-13). Die Analogie in CH (Corpus Hermeticum) 13 zeigt, dass es sich um eine bisher verborgene Enthüllung eines Geheimnisses handelt. In Corpus Hermeticum 13,1 (2.–4. Jh. n. Chr., Ägypten) sagt Thot zu Hermes: »Da ich dich aber um Hilfe bat bei dem Abstieg vom Berge nach deiner Unterredung mit mir, fragte ich dich nach der Lehre von der Wiedergeburt, um sie zu erfahren. Denn bei allem anderen kenne ich diese nicht. Und du versprachst, mir diese Lehre mitzuteilen, wenn du dich zurückziehen würdest von der Welt. Ich wurde bereit und habe mein Denken stark gemacht von der Verführung der Welt weg.« – Bei Lukas steht an der Stelle von Mk 9,10-13 in Lk 9,37-43a
die Heilung des besessenen Knaben. In Mt 8,1-4 gibt Jesus beim Abstieg vom Berg den Jüngern eine grundlegende praktische Antwort auf das Problem der Reinheit. So geschieht es de facto ja auch in Lk 9,37-43a, denn Lukas stellt die Heilung als Sieg über den unreinen Geist dar. Während also das MkEv den Abstieg mit christologischen Themen besetzt, antworten Mt und Lk direkt mit der Heilung eines Besessenen (in Mk folgt sie erst ab 9,14). – Ex 32,7 ff (Abstieg des Mose, vom Berg Sinai) steht nicht im Hintergrund, auch nicht die Reden Henochs an Kinder und Enkel. Denn der Topos »Gespräch beim Abschied« funktioniert nur dort, wo mehrere ungleichen Ranges auf dem Berg waren.
Bereits in Mt 8,1 fällt das Stichwort »nachfolgen«. Damit ist das Thema der folgenden Berichte gegeben. Denn sehr häufig folgt »nachfolgen« auf einen Wunderbericht oder geht ihm voran. Auch die Alternative für sesshafte Frauen wird angegeben: sozialer Dienst (griech.: diakonein). In Mt 8-10 liegt eine Serie von Berichten vor, in denen das Thema »Wunder und Nachfolge« variiert wird. Dabei werden die Antworten der Beteiligten bzw. Umstehenden an die Adresse Jesu stets kräftiger. 8,1: »Es folgten ihm viele Scharen« – 8,2-4: Heilung des Aussätzigen. 8,5-9: Heilung des Sklaven des Hauptmanns von Kafarnaum – 8,10: »Er sagte zu den [ihm] Nachfolgenden: ›Amen …‹« 8,14f: Heilung vom Fieber – V. 15: »Und sie … bediente ihn.« 8,16-17: Heilungen am Abend – 8,19: »Ich werde dir folgen …«, 8,2: »Folge mir …« 8,23: »Seine Jünger folgten ihm« – 8,24-27 Seebeben von Jesus beruhigt. 9,1-8: Heilung eines Gelähmten – 9,9: »Folge mir. Und er stand auf, folgte ihm.«
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48 9,18-26: Heilung der Blutflüssigen, Auferweckung einer Toten – (9,36 – 10,42: Jüngerschaft). 9,27: »Es folgten Jesus zwei Blinde nach.« – 9,2831: Heilung der beiden Blinden. (Antwort auf die Heilungen in Kap. 9) 9,36 – 10,42: Mahnungen an die Jünger – 10,38: Nachfolge. Sonst in der synoptischen Tradition z. B. in Lk 5,210 (Fischwunder) – 11: (Nachfolge). Antworten an Jesus: 8,6f: »nicht würdig« – 8,27: »Was ist das für einer?« – 8,29: »Sohn Gottes« – 9,3: »Dieser lästert« – 9,8: »Vollmacht«
Nach dem Höhepunkt der Totenauferweckung in Kap. 9 gibt Kap. 10 dann die umfangreichste
Das Evangelium nach Matthäus
Ausweitung des Themas Jüngerschaft. Mit Mt 11,1 ist dann ein deutlicher Abschluss gesetzt. Aus 10,1 wird auch klar, was die Verbindung von Wunder und Nachfolge soll. Jesus will die Vollmacht, die er hat, weitergeben an die Jünger, die er beruft. In diesem Sinne stehen für das MtEv auch die Zwölf (vgl. 11,1) als ›Repräsentanten der Jünger‹. Es ist daher zu erwarten, dass auch in den Einzelheiten das Thema Jüngerschaft eine extrem große Rolle spielen wird. Mt 8f bringt jeweils paarige Heilungsberichte: Mt 8,28-34 (zwei gerasenische Besessene); 9,1826 (zwei Wunder an Frauen durch Berührung); 9,27-31 (zwei Blinde; beide rufen: »Sohn Davids!«); 9,32-34 (Taubstummer und dämonisch Besessener [in Personaleinheit]).
Mt 8: Heilungen, Nachfolge, Sturmstillung In Mt 8 ergibt sich bei den drei Heilungsberichten die Abfolge: Israel (Aussätziger), Heiden (Hauptmann), Jünger (Petri Schwiegermutter). Auf die Jünger bezieht sich auch die Bootsgeschichte (Sturmstillung; Leitwort »nachfolgen« in 8,18-27). Zum grundsätzlichen Gemeinde-Bezug aller Bootsgeschichten vgl. zu Mk 6, 35-41 (in diesem Buch S. 163 f).
Mt 8,1-4: Heilung eines Aussätzigen Ausweislich seiner Anfangsstellung – nach Mt 57 setzt der Evangelist mit 8,1 neu ein – hat dieser Abschnitt für den Evangelisten hervorragende Bedeutung. Auch in den Antithesen I-IV der Bergpredigt (Mt 5, 21-37) waren wir auf die besondere Bedeutung des Themas Reinheit gestoßen. Brisant ist das Thema wegen der programmatischen Überbietung der Gerechtigkeit der Pharisäer, wie Jesus sie anmahnt (Mt 5,20). Hier wird begründet, weshalb alle Regeln der kultischen Annäherung an Gott (»Reinheitsgesetze«) überflüssig sind. Denn Jesus hat die Kraft, im eigenen Namen Reinheit zu erwirken. Wenn die Priester diese bestätigen können, dann bestätigen sie damit abschließend teilweise, dass sie überflüssig geworden sind.
Mt 8,5-13: Heilung eines Sklaven des Hauptmanns von Kafarnaum Kontraste (Basis-Oppositionen): V. 5 furchtbar gequält – V. 13 gesund. Und: V. 11 zu Tisch liegen mit den Erzvätern – V. 12 äußerste Finsternis, Heulen und Zähneknirschen. – In beiden Fällen versetzt der Glaube auf die Seite des Wohlergehens (V. 10.13). Ferner: der gläubige Heide (V. 13) – die nicht gläubigen Juden (V. 10). Juden verspielen so ihre Qualität als Kinder des Reiches (V. 12), Heiden gewinnen sie. – Zweimal gilt ein Verhältnis von Hoheit und Unterworfensein: Der Soldat gegenüber dem Hauptmann, der Hauptmann gegenüber Jesus. Der Sklave wird vorher gequält, die Juden nachher; der Sklave kommt von der Qual zur Gesundheit, die Juden vom Unglauben zur Qual. Bewegung: Jesus fragt, ob er kommen soll (V. 7). Aber er muss gar nicht kommen, es genügt sein Machtwort. Jesus überbietet damit die KlischeeVorstellung vom Wundertäter, der wie ein Hausarzt hört und kommt. – Der Hauptmann bittet nicht, er schildert nur den Zustand seines Sklaven, seine eigene Unwürdigkeit, wie es beim Militär zugeht (Befehl/Gehorsam). Deshalb sagt Jesus in V. 13 nicht »wie du gebeten hast«, sondern »wie du geglaubt hast«. Die militärischen Strukturen ahmt Jesus nicht nach, er gibt eben
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Kapitel 8
keinen Befehl. Der Hauptmann muss nichts tun zur Herstellung der Gesundheit. Er soll nur hingehen und schauen. Der Hauptmann wahrt Abstand, wie er gegenüber strengen Juden angemessen ist. Nur das Wort durchbricht den Abstand. Der Kranke und Gott im Himmel (keine Schilderung des Ablaufs der Heilung selbst) sind ganz in den Hintergrund gerückt. Wichtig ist allein, dass der Hauptmann Jesus begegnet ist. Wie die vorangehende Erzählung (»Ich will …« plus Imperativ Passiv »werde rein«), so ist auch diese Heilung autoritativ gestaltet (»es geschehe dir«, V. 13) mit Hilfe des imperativus maiestaticus (vgl. im Vaterunser Mt 6,9). Der Bericht wird zu einer Darstellung dessen, was Glauben ist: kritische Selbsteinschätzung, Vertrauen auf die bloße Präsenz Jesu und auf sein Wort, eine Ahnung von der Autorität des Herrn. – Jesus fügt sich dem Glauben des Hauptmanns, weil der Hauptmann sich der Hoheit Jesu fügt. Das Wunder kommt nicht aus einem Befehl, sondern ist ein Zurückweichen vor der Macht des Glaubens, der Hand in Hand mit dem puren Wirken Gottes geht. Zur Rolle des Glaubens in Wunderberichten vgl. außer 8,13 auch 9,29. Die synoptische Tradition (incl. Apg) zeigt eine besondere Vorliebe für römische (heidnische) Zenturionen (Anführer einer militärischen Hundertschaft). Der Hauptmann unter dem Kreuz, der Jesus als Sohn Gottes bekennt, steht neben dem Hauptmann, dessen Sklave (Kind) geheilt wird, und der erste Heidenchrist war nach Apg 10 der Hauptmann Kornelius, zuvor »gottesfürchtiger« Sympathisant des Judentums. Die Hauptleute sind daher »Renommier-Heidenchristen«. Ihr Rang und ihr Ansehen haben weithin im ersten christlichen Jahrhundert stabilisierenden Charakter. Die Synoptiker setzen damit auf das römische Militär als den beinahe »Verbündeten vor Ort«. Und Mt 8,9 (par Lk 7,8) wagt es geradezu, christologische Strukturen mit militärischen zu vergleichen, auch wenn Jesus dem dann nicht entspricht. Es ist nicht die römische Zivilverwaltung, auf die die Christen setzen (jüdische Agitatoren versuchen immer wieder, sie dort anzuschwärzen), sondern das römische Militär. Auch in späteren Jahrhunderten kann christlicher Glaube immer wieder mit militärischer Metaphorik Ausdruck finden.
Israel wird nicht »total« verurteilt, vielmehr besteht das Heil in der Gemeinschaft mit den Erzvätern (hier nicht mit dem Menschensohn, anders: Mt 26,29).
Mt 8,16-17: Krankenheilungen V. 17 ist Reflexionszitat aus Jes 53,4. Jesus leidet ja nicht selbst an den Krankheiten, die er trifft; er übernimmt sie nicht selbst, sondern er heilt sie. Insofern nimmt er sie nicht »auf sich«, sondern trägt sie fort. Vom Leiden des Gottesknechtes ist bei Mt nicht die Rede.
Mt 8,20: Jesu Heimatlosigkeit Die Heimatlosigkeit Jesu auf Erden ist – wie seine Ehelosigkeit – ein Mangel, der in seiner Anstößigkeit und Unvereinbarkeit mit bürgerlicher Normalität zum Zeichen für Jesu Herkunft und Hoffnung wird. Jesu Wanderexistenz ist ein Zeichen dafür, dass er seine Heimat nur bei Gott hat (vgl. Hebr 11,13f). Ein wesentliches Element des konkreten Lebensstils wird zum eindrücklichen Teil der Botschaft. Wie nach Joh 3,6.13 kommt Jesus vom Himmel und geht zum Himmel. Deshalb wird hier auch der Ausdruck »Menschensohn« verwendet.
Mt 8,22: Jesu Provokation »Folge mir und lass die Toten sich gegenseitig begraben!« Das Wort ist in konzentrischen Kreisen, auf mehreren Ebenen zu diskutieren. Im innersten Kreis gilt es von der Beerdigungspietät. Diese gehört zu den Praecepta Delphica, also zu den »allgemeinen Tabus und Menschenrechten« (so würde man das heute nennen; vgl. schon Sophokles, Antigone) der Alten Welt. Jesu Wort ist deshalb höchst ärgerlich. Es ist inhuman, und keineswegs taugt es als Grundlage allgemeiner Gesetzgebung. Der nächst größere Kreis ist die familiäre Pietät überhaupt. Dass Jesus sie verletzen will, geht aus dem Verbot hervor, dass Jünger sich von den Eltern im Falle einer Berufung durch Jesus verabschieden. Jesu Verhältnis zur eigenen Familie
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50 ist hier durch negative Erfahrungen (Filz, Tradition, Zwänge) negativ gefärbt. – Der nächst größere Kreis ist dann, dass man als Jünger Jesu generell nicht zurückschauen darf (Lk 9,62). Nur das, was vor dem Jünger liegt, ist überhaupt interessant. – Ein vierter, noch weiterer Kreis besteht darin, die Welt der geistlich Toten hinter sich zu lassen, so wie es in Lk 15,24 vom verlorenen Sohn heißt: »Er war tot und ist wieder lebendig geworden« (vgl. Kol 2,13). – Die geistlich Toten bilden die massa perditionis, von der man sich grundsätzlich trennen soll (so wie in Offb 18,4 von Rom). Diese vier konzentrischen Kreise sind von abnehmender Anstößigkeit. Der anstößige Fall der verweigerten Beerdigung des Vaters wird für Jesus zum spektakulären Anlass, Grundsätzliches zu erklären. – Warum geht Religion hier erkennbar auf Kosten der Familie? Im Falle der Opferung Isaaks wird ein scharfes Ansinnen dieser Art gestellt, aber abgebogen. Aber hier lebt Ähnliches, wenn auch unblutig, wieder auf. Denn der Mensch ist rechtloser Sklave Gottes. Er hat sich Gottes Recht auf Eigentum bedingungslos zu unterwerfen. Selbst in den vorprophetischen Berufungsberichten werden Einwände dieser und ähnlicher Art immer überwunden. Gottes Recht geht grundsätzlich vor Familienrecht. Auch die Berufung mit dem Charisma der Jungfräulichkeit setzt ja z. B. das Gebot, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren (Gen 1,28), außer Kraft. D. h.: Der biblischen Religion eignet bisweilen ein scharf antifamiliärer Zug, der hin und wieder neu aufbricht.
Mt 8,29: »Vor der Zeit« »Vor der Zeit«, d. h. vor dem generellen Ende der Satansherrschaft (dazu vgl. Mk 16,14 Freer-Logion). Jesu Wunder sind freilich generell »vor der Zeit« als Zeichen, die ankündigen, was Gott im Ganzen vorhat.
Mt 9,9-13: Berufung und Jesu Tischgenossen Die beiden Abschnitte dieses Stücks – die Berufung des Matthäus und der Streit um Jesu Tischgenossen – hängen durch das Stichwort
Das Evangelium nach Matthäus
»Zöllner« zusammen. – Zöllner gelten in der Gesellschaft des damaligen Palästina als »unglückselige« Kreaturen. Sie waren Steuereintreiber. Einerseits arbeiteten sie als Kollaborateure mit an der Ausplünderung des Landes durch die römische Besatzungsmacht. Insofern waren sie so unbeliebt wie Kollaborateure aller Zeiten. Weil die Römer Heiden waren, standen sie neben den Gottlosen (»Sündern«). Man konnte nicht voraussetzen, dass sie auf jüdische Religion und Lebensweise Rücksicht nahmen, im Gegenteil. Andererseits waren sie selbst Auspresser wie Ausgepresste. Denn die Zollhoheit wurde wie eine Viehweide verpachtet und unterverpachtet, sodass den jeweils Letzten und Untersten in der Kette eine drückende Abgabenlast (in Richtung oben) plagte und der Unterzöllner sich in der Zwangslage sah, Steuern von denen zu fordern und zu liefern, die fast nichts hatten. Daher waren sie zusätzlich unbeliebt und zugleich selbst oft genug durch drückende Verträge geknebelt. – Jesus wendet sich diesen Leuten zu, wie wenn heute ein Pfarrer sich mit oft genug selbst zum Betrug gepressten Mitgliedern von Drückerkolonnen umgäbe. Schon Johannes der Täufer hatte sich besonders an diese Gruppe gewandt, was zumeist übersehen wird, wenn man versucht, das soziale Evangelium Jesu in seinem Umgang mit Zöllnern vom Judentum abzuheben (Lk 3,12f). Die Frage muss also lauten: Warum wenden sich Johannes und Jesus besonders dieser halbkriminellen Gruppe von verachteten »armen Schweinen« zu? Viele sehen darin das Vorbild für sozial-karitative Praxis der Selbstidentifikation der Kirche mit sozialen Randgruppen, Geächteten und verfemten Minderheiten. Aber diese sozialromantische Linie führt nicht weit. Denn die Zöllner (Steuerpächter) werden in einem Atemzug mit »Sündern« bzw. »Gottlosen« genannt. Das heißt: Johannes und Jesus wenden sich dieser Gruppe nicht zu, weil sie besonders übel angesehen war, besonders gequält wurde oder als arm galt. Nein, Mitleid ist nicht das tragende Motiv. Es geht vielmehr um die notorische Ungerechtigkeit, Rücksichtslosigkeit und praktische Gottlosigkeit dieser Gruppe. – Als Beleg für diese Auffassung kann man Barnabasbrief (nach Berger/Nord vielleicht um 60 n. Chr.) 5,9 zitieren: »Jesus offenbarte sich als Sohn Gottes, als er seine Apostel zu künftigen Verkündigern des Evange-
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liums erwählte und sich dafür ausgerechnet Menschen aussuchte, die über die Maßen sündig waren. So wollte er ihnen sagen: Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder:« D. h. der Schlusssatz unseres Textes wird zitiert, und zugleich wird die Berufungsgeschichte (wohl in einer mit Mt verwandten Fassung – Matthäus gilt als Apostel) so interpretiert: Jesus beruft gerade und mit Absicht die größten Sünder. So war es auch mit Paulus, dem Christenverfolger, später mit Augustinus und vielen anderen. Im Nachhinein kann man dann sagen: Gerade im Umgang mit der Sünde offenbart sich die berufende Gnade als siegreich. Denn den Gottlosesten zum Gerechten machen, das kann nur Gott. Die Berufung des Steuereintreibers Matthäus geschieht daher nicht aus Liebe zu Randgruppen, sondern zeigt die Macht des Rufers Jesus. Er beruft Matthäus ähnlich autoritär und mit vergleichbar unvermitteltem Erfolg wie nach Mk 1,12-16 Jesus Petrus und Andreas, Johannes und Jakobus berief. Nach Mk 1 geben die Jünger auf ein einziges Wort Jesu hin ihren Beruf und ihre Familie auf. Jesu Ruf ist stärker als diese Bindungen. Aber hier in Mt 9 ist Jesu Ruf zudem stärker als der Hang zu notorischer Ungerechtigkeit. Von dieser Art Ungerechtigkeit hatte es bei der Begegnung Jesu mit dem reichen Jüngling geheißen: Nur Gott kann sie verwandeln. Nur er hat diese Macht über das menschliche Herz (Mk 10,27). Nur bei ihm ist kein Ding unmöglich. Daher geht es bei dieser Berufung in Mt 9 um die Macht Gottes angesichts des Gefängnisses der Sünde, um die Befreiung aus tiefster Verstrickung in Geldgier, Quälerei, Menschenschinderei und ungerechter Bereicherung. Am Beruf des Steuerpächters wurde diese Verstrickung für alle sichtbar. Johannes und Jesus haben sich an »Zöllner« gewandt, um deutlich zu machen, was Sünde ist. (Übrigens wendet sich der Täufer unmittelbar
danach auch an die Söldner). Ähnlich sieht es auch ein mittelalterliches Segensgebet: »Du hast Matthäus berufen aus der schändlichen Pflicht der Zöllner zur Ehre des Lehrers des Evangeliums.« Denn der Weg von der Sünde zur Gnade ist auch ein Schritt aus der Ehrlosigkeit. Man hat bei der Auslegung oft Lk 15,6-9 genannt. Historisch gesehen könnten die Verse Mt 9,12f in der Tat voraussetzen, dass Jesus jedenfalls für seine Umkehrpredigt bei den Pharisäern keinen direkten Abnehmerkreis sah. Und auch wenn es heißt: »… mehr als über 99 Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen«, dann muss das nicht rhetorisch oder ironisch gemeint sein, sondern kann durchaus zum Ausdruck bringen, dass Jesus diese Gruppe jedenfalls nicht für notorische Exempel von Sünde und Menschenquälerei hielt. Der Defekt der Gruppe der Pharisäer lag – wohl auch historisch gesehen – dann freilich darin, dass sie Jesu Zuwendung zu den »Gottlosen« nicht begriffen und das Gerechtsein exklusiv und in Differenz zu anderen für sich beanspruchten. Bei ihnen prangert zum Beispiel Lk 18,9-14 den religiösen Dünkel an; aber mit Kriminalität waren sie nicht behaftet. Am Ende ist freilich Jesus ein schließlich doch noch zur Umkehr bereiter Sünder lieber als diese Art von Blindheit (Mt 21,31). – Jesus spricht übrigens über seinen Beruf im Bild des Arztes (Mt 9,12). Damit greift er auf die reiche biblische Tradition von »Gott als Arzt« zurück.
Mt 9,13 (vgl. 12,7): Erbarmen statt Opfer Im Alten Testament will Gott vom Menschen nicht kultische Opfer, sondern Barmherzigkeit. Bei den beiden Mt-Stellen ist es eher so, dass Gott Erbarmen schenkt (vgl. 9,36) und nicht Opfer vom Menschen fordert.
Mt 9,36 – 13,52: Apostel – Die Täuferfrage – Heilung am Sabbat … Aufbau: Der große Abschnitt umfasst etwas mehr als vier zentrale Kapitel des MtEv. Nach meiner These sind dieses vier Predigtvorlagen mit jeweils unterschiedlichem Thema. Denn diese vier Kapitel haben trotz verschiedener Themen ein gemeinsames Strukturelement, einen doppel-
teiligen Ausgang. D. h. der Leser wird darauf aufmerksam gemacht, dass er sich so oder so entscheiden kann (zur formgeschichtlichen Herkunft aus Predigten vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 235.238.277.318). In den ersten drei Predigtvorlagen spielt das Thema Israel eine gro-
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52 ße Rolle. D. h. Mt verdankt sehr viel Material dem Werben Jesu und der frühen Jünger um Israel. So ergibt sich folgende Einteilung: 1. 9,36 – 11,1: Als Hirte Israels sendet Jesus seine Jünger zu Israel. 10,34-42: Doppelteiliger Schluss: Entzweiung und Unwürdigkeit (V. 3440), andererseits in V. 41-42 paradiesisch leichter Heilsgewinn. – Israel ist Adressat: 10,5 f. 2. 11,2-30: Klärung der heilsgeschichtlichen Identität Jesu (11,2-6) und des Täufers (11,715); doch beide werden von Israel abgelehnt (biografische Synkrisis). Doppelter Ausgang: Der negative Ausgang ist 11,20-24 (Gericht), der positive Ausgang 11,25-30 (Jesus als Vorbild; Verheißung der »Ruhe«). Die besondere Schärfe von Mt 11,20-24 erklärt sich aus dieser Schlussposition. 3. 12,1-50: Die charismatische Legitimität Jesu, des Lehrers für Israel. Doppelteiliger Schluss: Multiplikation [des Wirkens] der Dämonen (12,43-45) gegen Multiplikation der Verwandtschaft Jesu (12,46-50). – Im Zentrum von Kap. 12 stehen die jüdischen Themen Tempel, Davidssohnschaft, Jona, Exorzismus (synkretistisches Thema). 4. 13,1-52: Gleichnisse über das Reich Gottes. Doppelteiliger Schluss: Gleichnis vom Fischnetz (13,47-50) mit der Scheidung von Guten und Schlechten (vgl. schon ähnlich die Auslegung des Gleichnisses vom Unkraut (13,36-43).
Mt 9,36 – 10,8: Aussendung der Zwölf In 9,36-38 konkurrieren die Bilder der Herde (Schafe, Hirten) und der Ernte (Ernte, Arbeiter, Herr der Ernte). Der Ausdruck »Schafe, die keinen Hirten haben« und der Wunsch, diesen Defekt in der Führung Israels zu beheben, – beides findet sich schon in Num 27,17. Hier ist es Mose, der Josua zu seinem Nachfolger in der Führung der Gemeinde des Herrn beauftragt. Da Josua in der griechischen Bibel »Jesus« heißt, kann man wohl davon ausgehen, dass an unserer Stelle eine beabsichtigte Typologie vorliegt. Dann läuft der Gedankengang so: Jesus ist der wahre Josua, der die Rolle des Mose in der Endzeit überbietend wahrnimmt. Aber auch für ihn stellt sich das Problem der Nachfolge. Da es sich auch in Num 27 um das gesamte Gottesvolk handelt, ist die
Das Evangelium nach Matthäus
Zahl der zwölf Jünger hier angemessen. Der neue Josua (= »Jesus«) sendet zwölf Jünger zum Zeichen des Anspruchs auf Israel aus. Das Motiv der Herde ohne Hirten in metaphorischer Bedeutung ist weit verbreitet: Num 27,17 (»Die Gemeinde des Herrn soll nicht sein wie eine Schafherde, die keinen Hirten hat«); 1 Kön 22,17 (»Israel ist auf den Bergen zerstreut wie Kleinvieh ohne Hirte«); 2 Chr 18,16 (»… dem Kleinvieh gleich, das keinen Hirten hat«); Jdt 11,19 (Judith zu Holofernes: »Du wirst sie treiben wie Schafe, die keinen Hirten haben«); Ez 34,5 (»Schafe weidet ihr nicht … Da zerstreuten sich meine Schafe, weil ihnen der Hirte fehlte«).
Das, was Mt in 9,36 – 10,8 berichtet, ist so etwas wie ein Grundsatzbericht über den Zwölferkreis und seine Funktion. Darauf weist insbesondere auch der Abschnitt 10,5b-6 (»Geht nicht zu den Heiden und betretet keine samaritanische Stadt. Geht nur zu den verirrten Schafen Israels.«). Denn daran wird erkennbar, dass die namentlich aufgezählten zwölf Jünger wirklich das erneuerte Israel realsymbolisch darstellen. Das Ganze ist bei Mt wesentlich deutlicher auf Israel bezogen als in der Parallele bei Mk (3,16-19). Die Einschränkungen in Mt 10,5b-6 (nur zu Israel) sind problematisch im Blick auf die Sendung zu allen Völkern nach Mt 28,19f und wahrscheinlich so zu erklären: Mt unterscheidet zwei Arten von Mission, und zwar eine an Israel und eine an den Heidenvölkern. Von der an Israel berichtet er hier in 9,36 – 10,8 und auch in der Bemerkung Mt 15,24.– In dieser Mission geht es um Umkehrpredigt im Sinne der klassischen Prophetie sowie um Exorzismen und Heilungen. Dieser Typus ist auch nach Ostern auf die Israelmission beschränkt. In der Mission gegenüber den Heiden, die laut Mt 28,19f erst nach Ostern beginnt, stehen dagegen Wunder und Exorzismen gar nicht im Vordergrund; hier ist vielmehr die Rede von der Lehre im Sinne der Worte Jesu und von der Jüngerschaft aller. – Diese Zweiteilung in Judenmission plus Wunder einerseits und Heidenmission plus Belehrung andererseits findet sich haargenau widergespiegelt auch in der Formulierung in 1 Kor 1,22, wonach die Juden Zeichen, die Griechen aber Weisheit fordern. Was Paulus hier sagt, reflektiert daher zwei unterschiedliche Typen frühchristlicher Mission. Da die Heiden von dem einen Gott noch nichts wussten, waren hier
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schon aus sachlichen Gründen die Lehre und Belehrung vorrangig. Den Juden dagegen kam es auf legitimierende Wunder an, und in den Exorzismen sah man gewiss auch einen Teil des messianischen Krieges, des Krieges nämlich, der zur Unterwerfung der die Menschen im Innern okkupierenden Besatzungsmächte dienen und so die Etablierung des Gottesreiches vorbereiten sollte. Dass beide Typen von Mission von Mt so genau unterschieden werden und auch ihrem Ursprung nach zu verschiedenen Zeitpunkten angesetzt werden, weist darauf hin, dass zu seiner Zeit eine sehr große Notwendigkeit bestand, Judenmission von Heidenmission zu trennen. Theologisch bedeutet dieses Stück: Jesus ist zunächst und zuerst der Messias Israels. Schon aus diesem Grund ist er nicht der »Besitz« der Heidenchristen. Alle Heidenchristen sind – wie die sekundär eingesetzten Zweige des Ölbaums in Röm 11 – erst nachträglich in das Gottesvolk aufgenommen. Heidenchristen haben zu respektieren, dass sich der physische Liebeserweis Gottes gegenüber seinem Volk durch Wunder in der Mission der Heiden nur relativ selten wiederholt. Die physische Herkunft Jesu aus dem Gottesvolk und die physische Erfahrung der Nähe des erlösenden Gottes in den Wundern entsprechen daher einander in gewisser Weise. Vor allem aber gilt, dass Gott seinem Volk die Treue gehalten hat und dass Jesus deswegen als Messias Israels gesandt worden ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt: In dem ganzen Text wird hier die Mission unter einem stark endzeitlichen Aspekt gesehen. Denn »Ernte« ist seit den Propheten nahezu exklusiv die für das Endgericht geläufige Metapher; das gilt verstärkt für die Gleichnisse Jesu. Auch die Erntearbeiter sind durch den Vorgang des Endgerichts eigentlich festgelegt (vgl. Mt 13,30). Eine Aussendung der Boten (vgl. Mk 13,27) zur Ernte, wie sie unser Text schildert, gilt sonst für die Endereignisse. Dasselbe kann man, vom Judentum her gesehen, auch von der Zwölfzahl sagen. Ein Blick auf die so genannte Tempelrolle aus Höhle 11 von Qumran zeigt: Die Zwölfzahl ist immer Symbol für die in der Endzeit wiederhergestellte Anzahl der Stämme (neuneinhalb Stämme sind »weggeführt«) – oder sie dokumentiert die Art, wie man unter kultischem Aspekt, sozusagen in ideal gedachter
53 Vollkommenheit, von Israel als dem Zwölfstämmevolk reden konnte. Im Kult gilt immer die ideale Zwölfzahl – ganz unabhängig vom faktischen Bestand. Auch 1 Kor 15,5 spricht noch nach dem Fall des Judas von den zwölf Zeugen der Auferstehung.
Und dass Mission und Bekehrung als ein Akt des Tages des Herrn gesehen werden, gilt für das Neue Testament durchweg (und in der christlichen Missionsgeschichte bis ins 17. Jh., da man die Mission Südamerikas mit dem Tausendjährigen Reich kombinierte). – Im Neuen Testament gehören zu diesem Charakter der Mission auch das Zeichen der Wassertaufe (bezogen auf die Feuertaufe im Gericht), die gerichtsmäßige Scheidung (Krisis) jetzt (vgl. Joh 13,13-16 und Joh 5,22.24), die Auferweckung Toter in der Mission (Joh 5,21), das Schon-vollzogen-Haben des Gerichts in der Glaubensentscheidung, das Auferstandensein in der Taufe, das Ergriffenwerden durch das Licht des Tages des Herrn in der Taufe, das Verherrlichtwerden in der Taufe. Entsprechung von Mission und Endgericht Nach U. Luz (Kommentar II, 82) lautet das theologische Hauptproblem des MtEv: »Wie ist der erbarmende Hirte und der Gerichtsherr/Menschensohn zusammenzudenken?« Diese Frage ist im Sinne matthäischer Systematik so zu beantworten: Für alle vier Evangelien, besonders aber für das MtEv, besteht eine grundlegende Entsprechung, aber auch eine deutliche Unterschiedenheit zwischen Mission und Endgericht. Die Entsprechung besteht in folgenden Punkten: a) Metaphorik der Ernte: Mission ist Ernte (Joh 4,35) – das Endgericht ist Ernte (Joel 3,13). b) Erntearbeiter: Die Jünger, die Jesus aussendet, sind Erntearbeiter in der Mission (Mt 9,38) – die Engel, die der Menschensohn aussendet, sind die Erntearbeiter am Ende (Mt 13,30.39). Die Unterscheidung von Engeln und Missionaren ist insofern wichtig, als die Jünger sich nicht als Gerichtsvollzieher aufführen sollten. c) »Herr der Ernte« ist in beiden Fällen Gott bzw. der Menschensohn. d) Ziel der Ernte ist die Scheidung und Unterscheidung – in der Mission zwischen Berufenen und Nicht-Berufenen, am Ende zwischen den Auserwählten und den Verdammten. e) In der Mission wie im Gericht spricht man
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54 von »krisis« (Joh 5,22.27.29). Die Basis der Scheidung in der Gegenwart ist die Entscheidung der angesprochenen Menschen. f) In beiden Fällen erfolgt die Scheidung quer durch Familien und Freundschaften, unbarmherzig und unmissverständlich. Für die Mission: Mt 10,35f – für das Endgericht: Mt 24,40; Lk 17,34 f. g) In jedem Fall gibt es eine Taufe: die Wassertaufe jetzt – die Feuertaufe dann (Mt 3,11). h) In der Mission gibt es Auferweckung Toter (Joh 5,21) – und am Ende gibt es Auferweckung Toter (Joh 5,28f). i) Das positive Ziel ist in beiden Fällen Sammlung: in der Mission Sammlung zur Gemeinde (Didache 9,4; 10,5) – im Gericht Sammlung der Auserwählten, damit sie mit dem Menschensohn zusammen sind (Mt 24,31). j) In der Mission wird zur Eucharistie gesammelt – im Endgericht zum himmlischen Mahl (Mt 13,30). Zur Verbindung beider Punkte: Mk 14,25; Mt 26,29. k) Es gibt Pseudopropheten jetzt in der Zeit der Mission – und es gibt Pseudochristusse am Ende (vgl. Mk 13,6 und 13,21f). So ist es auch mit der Verfolgung. l) Merkmal der Mission sind die einzelnen Exorzismen – Merkmal des Gerichts ist die Verurteilung und »Entsorgung« Satans. – Deshalb kennt das JohEv übrigens keine Einzel-Exorzismen und nur den definitiven Hinauswurf Satans (Joh 12,31), weil im Ganzen die Zeit der Verkündigung näher an die des Gerichtes herangerückt ist und beides krisis heißt. Daher sagt auch Joh 5,27, dass Jesus jetzt schon der Menschensohn sei. m) Die Zertrennung der Familien in der Gegenwart führt zu einer neuen Familie (Gemeinde, Kirche; vgl. Mk 10,29f). Und auf das Gericht folgt die Hochzeit des Messias mit dem neuen Israel. Die Kirche jetzt (mit den Zwölfen an der Spitze) bildet das neue Israel der Zukunft ab. n) Die Zwölf sollen jetzt mit Zeichen verkünden, nach dem Gericht aber die zwölf Stämme regieren (Mt 19,28; Lk 22,29f). o) Die Mission ist deshalb von Anfang an weltweit, weil auch das Gericht weltweit sein wird. In frühen Heidenpredigten kommt das zum Ausdruck: Apg 17,25.31.
Das Evangelium nach Matthäus
Auswertung: Die obige Übersicht ist deshalb erstellt worden, weil die urchristliche Mission viele Rätsel aufgibt, nicht zuletzt die Konzeption und den Ursprung betreffend. Denn Analogien dazu sind nicht bekannt. Eine Analogie, die wirklich weiterhilft, ist die Eschatologie Jesu, und zwar – das ist das Interessante – in ganz enger Verbindung mit Christologie und Ekklesiologie. Denn der Herr, der die Missionare aussendet (in Handlungseinheit mit dem himmlischen Vater), ist der Menschensohn, der demnächst die Engel aussendet. Der entscheidende Unterschied zwischen jetzt und dann besteht darin, dass der Menschensohn jetzt gekommen ist, zu retten und noch nicht zu richten. Die Mission bildet in allen wichtigen äußeren Punkten das kommende Gericht ab; nur der eine zentrale Unterschied besteht darin, dass vor das Gericht eine Phase der Barmherzigkeit gelegt ist. Und das heißt konkret: eine Phase der Langmut, der Zeit und der Chancen, die Gott den Menschen einräumt, denn Jesus »löscht den glimmenden Docht nicht aus« (Mt 12). Der typisch matthäische »sanfte« Jesus ist aus dieser neu gebauten Eschatologie zu erklären. Ansatzweise, aber nur in einem Element, nämlich in der Wassertaufe, ist das bei Johannes dem Täufer schon angelegt. Dieses eine Element wird bei Jesus entfaltet, neu interpretiert und entscheidend um seine eigene Rolle bereichert. Denn schon bei Johannes d. T. lautet das Konzept: Wassertaufe jetzt ist besser als (unvorbereitete) Feuertaufe dann. Die Phase der Mission ist gewissermaßen als Sicherheitskordon vor die Phase des Gerichts gelegt. Die Strukturanalogien zwischen beiden Phasen haben es in sich: Jesus, der Menschensohn, scheidet auch jetzt, und zwar haarscharf. Doch es geschieht nicht in einem öffentlichen Gericht, sondern gewissermaßen verborgen und im Rahmen der »Dialektik der Zustimmung«. Denn jetzt ist noch corpus permixtum, dann aber ist corpus purum. Die tatkräftige Realisierung der Phase der Rettung vor der Phase des Gerichts ist zweifellos der größte Unterschied zwischen Johannes dem Täufer und Jesus, von der Gemeinsamkeit der rettenden Umkehrtaufe abgesehen. Kirchlich ist daran nicht nur, dass z. B. Sammlung und Mahl auch jetzt schon bestehen; kirch-
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lich ist vor allem, dass die Boten Jesu an der Barmherzigkeit und Langmut ihres Lehrers teilhaben (sollten). Deshalb ist die Szene in Lk 9 so charakteristisch, weil sich hier zwei Arten von Eschatologie ins Gehege kommen. Dank dieses Doppelspiels von verhülltem und offenbarem Menschensohn kann Jesus – im Unterschied zum Täufer, der im Endgericht nichts zu sagen hat – eben auch der entscheidende Anwalt der Seinen im Gericht sein. – Die Kirche aber ist Abbild des künftigen neuen Israel. Die gesamte Gegenwart ist nicht von der Vergangenheit her zu erklären, sondern wesentlich der sanfte, verhüllte Teil der Zukunft. In ihr geschehen die Entscheidung für oder gegen Jesus – aber nicht das Gericht; die Trennung – aber nicht endgültige Spaltung; die Umkehr – aber nicht die Zerstörung. Fazit: Die christliche Mission ist als nach vorne verlagertes, heilvolles Gericht zu verstehen.
Mt 10,10: Ausrüstung der Jünger unterwegs Die Ausrüstung ist bei Mt noch karger als bei Mk. In Mk 6,6-13 waren wenigstens noch Stock, Sandalen und Untergewand erlaubt, in Mt 10,1-14 nur noch ein einziges Gewand (ein großes »Hemd«, direkt auf der Haut getragen). Stattdessen heißt es aber: »Der Arbeiter ist seiner Nahrung wert.« Das bezieht sich nun mit Sicherheit auf die Alimentation durch die Gemeinde (vgl. 1 Kor 9,312). – Der nach dem MtEv ausgesandte Jünger hat demnach nichts außer dem »Hemd« auf dem Leib. Damit macht ihn wohl dem Jesusbild ähnlich. Das ist die strenge Ausrichtung am Original. Gleichzeitig ist zu fragen, ob eine derartige, fast unweltliche Strenge nicht eher zur Abschaffung der Institution »mittellose Apostel« beiträgt. Denn so ist ein Apostel ohne Stock zum Beispiel jedem Kläffer ausgeliefert. Gehört der Evangelist Matthäus bereits zu den Christen, denen schier mittellose Wandermissionare unheimlich sind? Soll seine Negativliste der Ausrüstungsgegenstände eher abschrecken? In der Didache, die dem MtEv nahesteht, sind zwar noch Wandermissionare (»Apostel«) vorausgesetzt, aber sie unterliegen strengen Kontrollen. War das die nächste Stufe? Extrem misstrauisch ist auch schon Offb 2,2.
Mt 10,13: Der Friedensgruß Vgl. zu Lk 10,4 – der Friedensgruß ist hier als dingliche Größe vorgestellt und von dualistischer Qualität. Zur biblischen Theologie des Grußes vgl. zu 2 Joh 11.
Mt 10,22-25: Was die Jünger erwartet Die Jüngersprüche in Mt 10,22-25 haben besondere Ähnlichkeit mit Joh 15,18-26 und Joh 13,13.16. – In beiden Fällen macht Jesus die Jünger aufmerksam auf die Angriffe, denen sie ausgesetzt sein werden. Tenor: Euch wird es nicht besser ergehen als mir. Dabei fallen innerhalb desselben Sachzusammenhangs dieselben Stichworte: vgl. Mt 10,22 (gehasst wegen meines Namens) mit Joh 15,18.21 (hasst … wegen meines Namens); ferner Mt 10,24 (Sklave/Herr) mit Joh 15,20 (Sklave/Herr); ferner Mt 10,20 (Geist) mit Joh 15,26 (Paraklet zeugt); ferner Mt 10,24f (Jünger/Lehrer und Sklave/Herr) mit Joh 13,13 (Lehrer/Herr) und 13,16 (Sklave/Herr); ferner Verfolgung (Joh 15,20) und Verfolgung nebst Flucht (Mt 10,23). Der Befund lässt diesen Schluss zu: Im Kontext der Verfolgung der Jünger gibt es eine mündliche Tradition mit folgenden gemeinsamen Stichworten: gehasst wegen des Namens Jesu, Sklave/Herr, Jünger/Lehrer, Heiliger Geist/Paraklet und »verfolgen«. Das JohEv verwendet diese Tradition zweifach (vgl. Joh 13,16; 15,20). – Bei Mt steht die Geduld im Vordergrund (vgl. Mt 10,22; 24,13; Offb 2,2.3.19; 3,10; 13,10; 14,12), im JohEv die Welt, aus der die Jünger erwählt sind und die die Jünger hasst. Wie bei anderen gemeinsamen Traditionen, so gilt auch hier: Eine profilierte gemeinsame Situation erleichtert die Übernahme gemeinsamer theologischer Mittel zur theologischen Bewältigung. Die lockere Art der Verwandtschaft schließt eine literarische Abhängigkeit in der einen oder der anderen Richtung aus.
Mt 10,26-28: Vom Offenbarwerden Die Worte vom Offenbarwerden des Verborgenen haben unterschiedliche Funktionen, da das
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56 zentrale »Geheimnis« der Evangelien in mehreren Stufen enthüllt wird. Während sich Mk 4,22 und Lk 8,17 darauf beziehen, dass im Gericht alles offenbar wird, meint Mt 10,26-28, dass die Jünger alles sagen sollen, was Jesus ihnen insgeheim anvertraut hat. Das ist in den drei Phasen des Geheimnisses die zweite. Während die erste Phase für Jesus riskant war (er kann sich mangels Zeichen vom Himmel nicht eindeutig als Messias erweisen), ist die zweite für die Jünger riskant (Leiden für das Bekenntnis). Deshalb ist davon dann auch in 10,28 die Rede. Die dritte Phase der Enthüllung des Geheimnisses ist dann das Gericht selbst (vgl. Mk 4,22). Zu Mt 10,27: vgl. zum Thema Geheimnis bei Mk S. 140-142.174-176 Man könnte diesen Vers als Ursprung des Messiasgeheimnisses ansehen, und zwar im Sinne der Anfrage verstanden, ob das Messiasgeheimnis sich nicht ursprünglich erst auf die eschatologische Aufdeckung bezieht (so wie das des Sohnes Gottes nach Weisheit Salomos Kap. 5). Doch er ist nur ein Teil des Konzeptes.
Mt 10,26-33: Mahnung zur Furchtlosigkeit In erläuternder Form lautet dieser Abschnitt so: »Habt keine Angst vor denen, die euch verfolgen! Denn dass ihr im Recht seid und nicht die Verfolger, das wird auf jeden Fall offenbar werden, spätestens bei meiner Wiederkunft. Dann werden auch die niederen Motive der Verfolger sichtbar und zugleich die Wahrheit des Evangeliums. Die Mission, zu der ich euch sende, ist schon ein Teil dieser Offenlegung. Auch in dieser Hinsicht gehört sie in die Endereignisse hinein.« Dass Jesus den Jüngern manches nur vertraulich und leise, »im Finstern« gesagt hat, ist wohl begründet gewesen in der Vermeidung des tödlichen Konflikts mit den Juden. So dürfte auch sonst Jesu »Strategie« zu erklären sein, dass er zentrale Aussagen über sich selbst geheim gehalten wissen wollte. So zeigt das berühmte »Messiasgeheimnis« im MkEv, dass Jesus darauf aus war, den Konflikt mit den Juden möglichst lange hinauszuzögern, um noch wirken zu können. Für die Jünger aber kommt nach Jesu Tod die Zeit der offenen Verkündigung. Sie sollen sich mutig der
Das Evangelium nach Matthäus
Gefahr des Martyriums aussetzen. Daher spricht Jesus in V. 28 von der Angst vor dem Martyrium. Wie bei allen Märtyrern wäre der Triumph der Staatsgewalt nur äußerlich; der Märtyrer ist in Wahrheit der Sieger, nicht nur moralisch, sondern auch wirklich. In der Alten Kirche wird Lactantius (3. Jh.) ein Buch schreiben über den »Tod der Verfolger«, in dem er zeigt, dass schon innergeschichtlich alle Christenverfolger jämmerlich endeten, ganz abgesehen von ihrem ewigen Geschick. V. 28 stellt einen provozierenden Gegensatz auf: »Habt keine Angst vor euren Mördern, habt aber Angst vor Gott.« Das Griechische verwendet nämlich beide Male dasselbe Wort phobeisthai (sich ängstigen, sich fürchten). Daher ist es auch im Deutschen identisch wiederzugeben. Viele Ausleger möchten das vermeiden, indem sie Gott gegenüber von Furcht reden, aber nicht von Angst. »Habt aber Angst vor Gott. Denn er kann euch äußerlich wie innerlich in der Hölle umkommen lassen.« – Jesu Predigt wird hier allerdings eingeleitet und beendet mit der Aufforderung: »Habt keine Angst!« In V. 29-31 wird dies begründet mit einer Aussage über Gottes Zuwendung und umfassende Für- und Vorsorge. Wenn Gott schon für die Spatzen sorgt – die Jünger sind mehr wert als viele Spatzen. Es überwiegt daher der Hinweis auf das Geborgensein in Gott. Aber das hebt die Angst vor Gott nicht auf, sondern ist nur ihre notwendige Kehrseite. Jesus predigt vom Feuer der Gottesliebe und der Begeisterung, aber zugleich kann dieses Feuer den verschlingen, der sich ihm widersetzt. Handelten die Verse 28-31 von Gott, dem Schöpfer, so V. 32-33 von Jesus, dem Menschensohn. Wir beobachten auch hier die gleiche Struktur: Drohung und Verheißung. Beide Versgruppen hängen inhaltlich eng zusammen. Denn der Hörer wird fragen: Worin soll sich das denn äußern, keine Angst vor den potentiellen Mördern zu haben? Antwort: Es äußert sich im Bekenntnis zum Menschensohn oder in der Verleugnung des Menschensohnes. – Und weiter wird der Hörer fragen: Warum ist das so gefährlich, so lebensgefährlich, sich zu Jesus als dem Menschensohn zu bekennen? Zunächst: Es ist historisch erwiesen, dass dieses lebensgefährlich war: Stephanus wird nach seinem Bekenntnis zum Menschensohn gesteinigt (Apg 7,56-58). Jesus selbst wird wegen
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Lästerung dem Martyrium übergeben, und in den angeblich lästerlichen Worten kommt der Menschensohn vor (Mk 14,62 konnte man als Drohung verstehen), und entsprechend redet Jesus auch in seinen Leidensweissagungen immer vom Menschensohn (Mk 9,33 usw.). Entgegen verbreiteter Auslegung war es in Palästina aber offenbar nicht gefährlich, Jesu Predigt vom Reich Gottes zu verkünden. Denn Reich Gottes konnte im jüdischen Sinne als Anerkennung der Herrschaft Gottes in der Befolgung seiner Gebote verstanden werden. Das musste politisch nicht gleich die Römer auf den Plan rufen. Anders dagegen, wenn man im Menschensohn die lebende Führungsfigur des kommenden Reiches (des fünften nach der Zählung von Daniel 7) schon namentlich benennen und bekennen konnte. Erst in Verbindung mit der Person Jesus wird die Zukunftserwartung der Christen politisch gefährlich. Und das gerade deshalb, weil hier nichts »rein geistig« ist, d. h.: Wenn Jesus mit Blut und Leben Opfer der politischen Macht wurde, dann bedeutete gerade diese Leibhaftigkeit des Geschicks auch zwangsläufig leibhaftige Konturen der kommenden Restitution und Rehabilitation des Menschensohnes durch Gott, d. h. auf das leibliche Leiden folgt die leibliche Auferstehung, und zwar im Kontrast zu jeglicher Spiritualisierung. Gerade in seinem Leiden war Jesus auf dem klassischen Weg einer Herrscherkarriere: Der Spruch »per aspera ad astra« (»Durch Mühsale zu den Sternen«) galt in der Antike von Herakles, Romulus und den römischen Kaisern, und später wurde dieses der Wahlspruch der Hohenzollern. Ein solches Bekenntnis hatte keineswegs rein geistige Ambitionen, sondern bedeutete, wie die Schrift des Lactantius »Über die Todesarten der Verfolger« zeigt, zumindest eine Drohung gegenüber den Mördern. Von daher werden auch die Szenen in Apostelgeschichte 7,56-58 und in Mk 14,61-63 begreiflich, denn hier fällt der Titel Menschensohn jeweils in einer »mörderischen« Situation.
Jünger zu ihm steht, wird er zu dem Jünger stehen. Nur das Forum ist jeweils unterschiedlich: die Menschen auf Erden, der Vater im Himmel. Jesus vor den Menschen zu verleugnen bringt vielleicht kurzfristige Vorteile. Diese werden jedoch durch die Nachteile bei weitem aufgewogen, die ein Verleugnetwerden vor Gott im Himmel hat. So legt Jesus hier eine Klugheitsregel vor: die kurze Freude jetzt, die lange Pein dann. Wenn Jesus »vor« dem Vater verleugnet oder bekennt, ist er im Übrigen nicht der Richter, sondern der Patron. Er tut im Himmel das, was in der ältesten Kirche Empfehlungsbriefe leisten. Beides spiegelt Sozialbeziehungen wider, in denen alles »auf Empfehlungen« beruht.
Mt 10,34 (vgl. Lk 12,51): Frieden – Schwert In allen Worten von seinem Gekommensein fasst Jesus seine Botschaft zusammen. Zumeist steht zu Anfang eine Aussage darüber, wozu Jesus nicht gekommen ist. Jesus betont in diesen Worten stets die Differenz zwischen Gegenwart und Vollendung. Das ist auch in den beiden Worten in V. 10,34 der Fall. Die adversative Struktur bezieht sich auf Kontrast und Ärgernis. Denn die Teilung (Lk) oder das Schwert (Mt) sind vorläufige Aktionen. Eigentlich aber erwartet man vom Messias Frieden (generell zu den Worten vom Gekommensein vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 321.386). Gemeinsam sind bei Mt und Lk in diesem Fall: die adversative Struktur, Friede, Erde und drei Füllwörter (dass, nicht, sondern), ferner Synonyma (meinen/glauben, kommen/hingelangen, Schwert/Teilung). Zur Theologie: Das Kommen Jesu (und die Mission der Jünger) nehmen das Endgericht strukturell vorweg. Der Unfriede ist eine Folge der gespaltenen Aufnahme der Botschaft.
Mt 10,37: Familienkritik Mt 10,32f: Eine Klugheitsregel Im Unterschied zur Parallele Lk 12,8f liegt hier kein Wort über den Menschensohn vor. Sondern Jesus verfährt direkt nach der Talio: So wie der
Die Tradition über das Mehr- bzw. Weniger-Lieben oder das Aufgeben bzw. Verlassen von Familienmitgliedern ist weit verbreitet; in den ersten drei Fällen (s. u.) steht sie im Kontext der Annahme des Kreuzes:
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58 Lk 14,26: Vater und Mutter und Frau und Kinder und Brüder und Schwestern, eigenes Leben; Mt 10,37: Vater und Mutter, Sohn und Tochter; ThomasEv 55: Vater und Mutter, Bruder und Schwester; ThomasEv 101: Vater und Mutter; Mk 10,29: Brüder oder Schwestern, oder Vater oder Mutter (oder Frau) oder Kinder; Mt 19,29: Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter (oder Frau) oder Kinder; Lk 18,29: Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder.
In den ersten vier Fällen geht es um eine Liste, in den drei letzten um fakultatives Aufgeben. Eine Erstattung für das Aufgegeben kennt nur Mk 10,29: Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder (in dieser Welt). – In 1 Kor 9,5 wird wenigstens die Erlaubnis für den Apostel erwähnt, eine Frau mitzuführen, die Vulgata hat freilich: mulierem sororem. Nur in Lk 14,26 und ThomasEv 55.101 handelt es sich um eine strikte Bedingung für Jüngerschaft, man soll diese Personen »hassen«, und wer das nicht tut, kann nicht Jesu Jünger sein. In Mt 10,37 heißt es freilich kaum erleichtert: »Wer sie mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.« – Hat diese Familienfeindlichkeit irgendeinen Sinn? Eine kleine Beobachtung hilft weiter: In der Liste der Erstattungen in diesem Äon (Mk 10,30) fehlen neue Väter. Denn es geht da wohl um christliche Gemeindefamilien. Deren neuer Vater ist Gott im Himmel. Offenbar haben irdische Väter insoweit ausgedient. Sie sind so wenig kirchlich, dass ein Ersatz nicht lohnt. Gott als Vater ersetzt voll und ganz die »allmächtigen« Familienhäupter. – Es geht daher wirklich um eine Kritik an der für die Botschaft destruktiven Rolle von Familien inklusive deren Filz und Zwang zum Hergebrachten, um die Zwänge zur Rücksichtnahme, den Druck auf Heiratspläne und auf irgendetwas Neues in der Welt. Das Evangelium kann Jesus nicht als Absegnung verstehen, sondern nur als Revolution. Herkömmliche Familien aber sind die größte Gefahr für das Evangelium, sie sind die Luft, die alles erstickt. – Zum familienfeindlichen Zug des Urchristentums vgl. auch Mt 8,22.
Das Evangelium nach Matthäus
Mt 10,37-42: Sich selbst vergessen – Theonomie Der Text umfasst zwei Abschnitte, außer den Bedingungen der Jüngerschaft auch Verheißungen für jene, die den Jüngern Gutes tun. Von den Jüngern wird sehr viel verlangt, die Verheißungen dagegen gelten schon für geringes Tun. Die Jünger sollen auf Familie verzichten und den Weg des Kreuzes gehen; wenn man dagegen Jünger gastfreundlich aufnimmt oder ihnen auch nur ein Glas Wasser reicht, dann hat man Anteil an ihrem Lohn. Das lässt nur einen Schluss zu: Jünger zu sein ist hart; doch wer ihnen Gutes tut, hat es verhältnismäßig leicht, in den Himmel zu kommen. Das Mittelstück der Argumentation scheint zu fehlen: Was ist mit den Jüngern selbst? Gehen sie auf dem Weg des Verzichts und des Kreuzes nicht geradewegs in die Herrlichkeit ein? Kaum etwas davon verlautet außer: »seine Seele, d. h. sich selbst, finden«. Eine üppigere Verheißung für die Jünger gibt es nicht. Stattdessen richtet sich der Blick »rechts« und »links« neben sie. Links von ihnen steht Jesus Christus, rechts stehen die anderen Menschen. Nur auf sie selbst fällt der Blick nicht. Diese »Lücke« in der Mitte des Textes entspricht jedoch inhaltlich genau dem Vers Mt 10,39: »Wer sich selbst als Ziel betrachtet, der wird sich verfehlen. Wer sich aber aufgibt für mich, der kann sich selbst finden.« Dieser Satz fordert zu dem auf, was Jesus mit seinen Worten selbst praktiziert. Die Empfehlung, nicht auf sich selbst, sondern auf Christus oder die anderen zu blicken, kennt auch Paulus. Nach 2 Kor 5,13 gibt es nur Gott oder die Gemeinde als Orientierungspunkte der apostolischen Existenz, nicht den Apostel selbst. Daher sagt er dann in V. 14: »Was mich treibt, ist die Liebe, die ich von Jesus, dem Messias empfange …« In Mt 10,39 ist Jesu Lebensweisheit formuliert: Nur der kann sich selbst finden, der gründlich lernt, sich selbst zu vergessen. Und das geschieht eben im Gebet, in der Arbeit, wenn sie mit Geist und Begeisterung getan wird, und vor allem in jeder Liebe. Die Selbstfindung im Sinne Jesu ist keine Selbstverwirklichung, die stets darauf bedacht ist, dass genug Spaß für einen selbst übrig bleibt. Nein, sich selbst gewinnt man, indem man von sich selbst absieht und auf Gott (Jesus Chris-
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tus) oder den Nächsten blickt. Es ist ganz eindeutig die Frage nach Glück, die Jesus hier angeht. Glücklich wird man, indem man sich selbst vergessen kann. Wenn man ganz bei der Sache ist und nicht neben sich steht. Das geschieht in der Liebe, die ganz beim anderen ist. Es geschieht in der Arbeit, wenn wir die Zeit darüber vergessen. Und beim Gebet, wenn wir uns ganz der Gegenwart Gottes anvertrauen. Das alles bedeutet Befreiung vom kurzsichtigen Egoismus des Ich und den Zwängen, denen es sich selbst ständig aussetzt. Auch die Konzeption der neuzeitlichen Menschenrechte beruht oft auf der irrigen Vorstellung, der Einzelne habe Rechte, die er durchsetzen müsse. Nach Ansicht der Bibel hat Gott ein Recht am Menschen. Isoliert für sich betrachtet kann sich der Mensch daher auch weder erlösen noch befreien. Am meisten hindern ihn seine eigenen festgefügten Vorstellungen und Lebenspläne daran, er selbst zu werden. Er muss sich schon an die Hand nehmen lassen und die Mauern, die er selbst aufgerichtet hat, in der Kraft von oben her überspringen. Jetzt verstehen wir besser, was die Trennung von der Familie und das Schultern des Kreuzes nach 10,37f bedeuten: Sie befreien von kurzsichtigen Festlegungen unserer Lebensziele auf alles das, was man angeblich tun muss. So geht es hier weder um Autonomie (moderne Selbstverwirklichung), noch um Heteronomie (ein Leben lang den Gesetzen und Pflichten der Familie unterworfen zu sein), sondern um Theonomie. Und das heißt: wirklich aus sich herauskommen, weil Gott hilfreich im Rücken steht. Nach V. 40-42 haben alle, die Jesu Jünger aufnehmen oder ihnen zu trinken geben, Anteil am Lohn der Gerechten und am ewigen Leben. Die Jünger Jesu werden daher deutlich von denen unterschieden, die irgendetwas Gutes für sie tun. Hinter diesem Text wird zunächst die unersetzliche Bedeutung der Gastfreundschaft für das früheste Christentum erkennbar. Hier werden die ortsansässigen Sympathisanten und späteren Gemeindeglieder aufgerufen, den wandernden Aposteln Quartier und Kost zu reichen. In einer Zeit, in der es keine Hotels gab, war diese Art Gastfreundschaft elementar für die Ausbreitung des Christentums. – Erstaunlich aber ist die Lohnzusage: Es reicht für den Himmel, wenn man solche Gastfreundschaft übt. Selbst wenn
59 man in Rechnung stellt, dass Jesus sich oftmals sehr »grotesk« äußert, bleibt die Grundaussage bestehen: Wer den Boten Jesu Gutes tut, hat Anteil an deren himmlischem Lohn. Denn »Prophet« war eine Kategorie, unter die man auch Jesu Boten fassen konnte. Grundsätzlich ähnlich ist Mt 25,40.45: Was die Angeredeten einem Bedürftigen getan haben, das haben sie Jesus getan. Jesus ist persönlich von dem tangiert, was man seinen Repräsentanten antut – das antike jüdische Botenrecht gilt also von denen, die Jesus bevollmächtigt. Sein Kern lautet: »Der Bote ist wie der, der ihn gesandt hat.« – Überdies aber sind diese Boten Heilsmittler. Denn was man ihnen getan hat, dafür gilt die Verheißung himmlischen Lohnes. Hier, im Verhältnis zwischen den von Jesus Gesandten und Bevollmächtigten und den ortsansässigen Sympathisanten oder Christen, kann sich das Heil entscheiden. Es muss nicht Jesus persönlich sein, dem man Gutes tut (wie Mk 14,9). Es »genügt«, wenn man seine Boten respektiert. Diese Aussage ist im Zeitalter ökumenischer Diskussion über das Amt brisant. Hier wird die Funktion der von Jesus Bevollmächtigten und Gesandten so hoch angesetzt wie niemals später in der Kirchengeschichte. Denn es heißt ja nicht nur »eurem Bischof sollt ihr gehorchen wie dem Herrn«, sondern dieser Jesustext geht viel weiter: Im Verhältnis zu den Boten Christi könnt ihr das Heil erwerben. Damit ist übrigens nichts gesagt über solche, die den Boten Christi nicht begegnen. Aber sie sind »passive Heilsmittler«: Was man ihnen antut, was sie empfangen, das bewirkt das Heil für die Täter, und zwar weit über das Maß der Talio hinaus. Damit wird die Rolle Jesu Christi nicht überflüssig; denn nach V. 40 gilt: »Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf. Und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat«. So geht es letztlich um die Gegenwart Gottes. Gott selbst ist in Jesus und in den von ihm Ausgesandten präsent. Von moralischer Qualität ist das nicht abhängig, sondern von der Tatsache der Sendung. Denn nach dem JohEv wird das Heil nicht durch Jesu Tod begründet, sondern dadurch, dass er als Person das Leben und der Weg ist. Daher ist unser Text von höchster Bedeutung für die »Kirche«. In der Begegnung mit denen,
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60 die hier Jünger heißen und die gesandt sind, steht ein Heilsweg offen. Sie repräsentieren in ihrer Vollmacht so etwas wie die Gegenwart des Geistes Gottes (triadische Struktur!). Sie äußert sich hier als Unverhältnismäßigkeit: für einen Becher Wasser ein ganzes Himmelreich! Dieses Unverhältnis ist nichts anderes als ein Ausdruck für Gnade und dafür, dass in denen, die Jesus sendet, die Vollmacht überreich und staunenswert üppig ist. Zu Mt 10,37-42: »Wer einem dieser Jünger, die man die Kleinen nennt, auch nur ein Glas Wasser zu trinken gibt, weil er ein Jünger ist, Amen, ich sage euch, der wird bestimmt dafür belohnt werden.«. Gemeint ist ohne Zweifel himmlischer Lohn, und jede Art von Gastfreundschaft hat enorme, unausdenkliche Folgen. Denn wir hörten es im vorangehenden Satz: Wer einen Gerechten aufnimmt, weil er ein Gerechter ist, der wird belohnt werden wie ein Gerechter. Und ein Gerechter wird mit dem Himmelreich belohnt. Etwas anderes kommt nach der Verkündigung Jesu kaum infrage. Wir staunen an dieser Stelle über die phantastische Logik Jesu. Es muss daher kinderleicht sein, in den Himmel zu kommen. Da sehe ich auf der einen Seite Generationen von Asketen oft unter Schmerzen jahrzehntelang treu und mit vielen Opfern widerständig. Und dann kommt Jesus daher und verkündet freudestrahlend, ein Becher Wasser, an die richtige Adresse gegeben, tut es auch. Ein »Aufnehmen« Gerechter, das heißt: Gehör und Quartier ist so viel wert wie ein ganzes Leben Gerechtigkeit. Eine merkwürdige und bizarre Art von »Nicht-Rechnen-Können«? Es ist wohl klar: Jesus meint eine Mentalität, er rechnet nicht, wie wir das aber beim Zuhören tun, einzelne Werke zusammen wie früher auf einem Kassenzettel beim Kaufmann. Er meint nicht Berechnung, sondern gute Werke als Symptome einer Lebensauffassung. – Doch aus Jesu Sprüchen blickt auch eine besondere Art von Humor. Wir finden diesen Humor bei keinem anderen Religionsstifter und in keiner anderen Religion. Man muss nur bedenken, wie ernsthaft und verbissen über die Frage des himmlischen Lohnes in der Reformationszeit und Jahrhunderte danach gestritten wurde. Dann erscheint einem die Leichtigkeit, mit der Jesus darüber redet und die er offensichtlich
Das Evangelium nach Matthäus
auch praktiziert, als wirklich göttlich. Denn hier ist Jesus nicht der verhinderte Prinzipienpauker, sondern der lächelnde, wohl verschmitzt lächelnde Heiland. Er sagt uns, dass das alles ganz leicht sei, woraus Menschen oft einen großen Krampf machen. Er deutet an, dass das Christentum sich an den kleinen und kleinsten Einzelzügen des Alltags zeigt, an der Großzügigkeit. Und auch daran offenbar, dass man ein wenig Zeit hat. Denn ein Mensch, der nach einem Glas Wasser verlangt, braucht dazu ein paar Worte und ein kurzes Gespräch. Oft brauchen die Menschen dieses am nötigsten. Wahr ist aber auch, dass diese Großmut oft durch Betrüger enttäuscht wird. Die das Betteln und die Gespräche nur ausnutzen. Jesus ist dieses Thema gar nicht fremd, und in ganzen Passagen der Bergpredigt (bzw. Feldrede) geht es um das Ausnutzen. Denn wer freiwillig das Doppelte gibt oder doppelt so weit mitgeht, der lässt sich schamlos ausnutzen. Und das macht Sinn, sagt Jesus, sich ausnutzen zu lassen bis aufs Hemd. Denn der Himmel weiß das zu schätzen, Leute, die nicht nur einen Becher Wasser reichen, sondern dann gleich zum Abendessen einladen. Wo Menschen genauso freigiebig werden, wie Gott es ist, und immer wieder nachschenken. Wer sich so auf den Stil Gottes einlässt, und so handelt, dem wird es auch selbst so ergehen. Wer ohne Maß schenkt, dem wird auch ohne Maß wieder geschenkt. Das ist keine Mechanik, sondern ein bestimmtes Niveau. Was ist daran humorvoll? Humorvoll ist daran dieses spielerische Vertauschen der Größen- und Gewichtsunterschiede. Denn wenn einer das, was klein ist, so behandelt, als wäre es ganz groß, was schwer ist als wäre es ganz leicht, dann wird gespannte Erwartung erleichtert. Und es entspannt, wenn Jesus das Bitterernste leicht nehmen kann. Er kann das Bitterernste leicht nehmen, weil er andere Maßstäbe hat, die eine verkehrte Welt darstellen. Wo ein Becher Wasser für den Himmel reicht, ein paar Augenblicke der Gastfreundschaft so viel sind wie das Leben eines Gerechten, da ist etwas grundlegend anders geworden. Denn 2 2 ist nicht mehr gleich vier. Jesus stellt die Maßstäbe auf den Kopf. So wie es früher auf dem Schützenfest »Spiegelkabinette« (Spiegellabyrinthe) gab, in denen alles plötzlich anders aussah, verzerrt, vergrößert, auf dem Kopf ste-
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hend. Die Leute lachten, weil sie wussten, dass es doch anders war. Bei Jesus weiß man das nicht so genau. Es ist vielmehr der Reiz, die Größenverhältnisse einmal ganz anders zu sehen. Im Unterschied zu vielen anderen Propheten schildert Jesus keine Katastrophen, wenn er so redet. Die frohe Botschaft wirkt dadurch befreiend, dass sie falsche Anspannung und verkrampftes Hinstarren löst. Wenn man also lachen darf statt einsam zu streben, dann ist man wirklich entlastet. Das gilt wohl auch für Mt 11,25-28: Jesus befreit von den Lasten durch den Humor, den man von ihm lernen kann. – Noch ein weiterer Zug des Humors Jesu findet sich auch hier, die Unverhältnismäßigkeit. So wie wenn im Zirkus ein Clown mit zwei Meter hohen Sohlen zu gehen versucht und jongliert und es hinbekommt und sein Ziel erreicht. So wie ganz hohe Sohlen absolut zu viel sind, um die nächste Ecke zu erreichen, dürfte ein Glas Wasser absolut zu wenig sein, um das Reich Gottes zu erreichen. Das ist jedenfalls die
alltägliche Einschätzung. Diese alltägliche Meinung tendiert dahin, nur Helden und Tugendmonster könnten das Reich Gottes erlangen. Jesus widerspricht dem: Er sagt: Nein, die Kleinen, nicht die Vorzeigeheiligen, sind diejenigen, die typischerweise himmlischen Lohn erlangen, und was sie tun müssen, sind bescheidene Gesten, nicht vor laufenden Kameras vollzogen, sondern im Stillen. Sie sind unscheinbar, aber geschehen zur rechten Zeit. Wenn es trotzdem gelingt, per Übertreibung oder per Untertreibung, dann spricht das dafür, dass der Clown clever war. Gewiss besteht eine Spannung zu Jesu Wort vom schmalen Weg zum Himmelreich und vom breiten Weg in den Untergang. Aber dieses Wort bezieht sich auf die Menge, denen es gelingt oder misslingt. Jesu Worte von der Unverhältnismäßigkeit dagegen beziehen sich auf das Wie. Es ist demnach ganz einfach, in den Himmel zu gelangen, und Jesus sagt, wie das geht.
Mt 11: Klärung der Identität Jesu Zum Aufbau Mt 9-11: Das MkEv weist ähnliche Strukturen auf wie Mt: Kap. 4 Lehre – Kap. 5f: Wunder zur Beglaubigung – Kap. 7: Lehre – Kap. 8: Wunder zur Beglaubigung – Kap. 8-9: Klärung der Identität. – Dem entspricht im MtEv Kap. 5-7: Bergpredigt – Kap. 8: Wunder und Nachfolge – Kap. 10: spezielle Regeln für Nachfolge in der Mission – Kap. 11: Klärung der Identität Jesu. Mt 11 klärt zum Abschluss des großen Abschnitts Mt 5-11 die Identität Jesu, und zwar mit Hilfe eines durchgehenden Vergleichs. So ergibt sich nach Mt 11 dann folgender Kontrast zwischen Jesus und dem Täufer: Jesus: Wunder – Johannes: kein Opportunist; Jesus: Evangelium für die Armen – Johannes: kein »Salonlöwe«; Jesus: in jeder Hinsicht ärgerlich – Johannes: mehr als ein Prophet, der größte Mensch – Jesus: Hochzeit spielen – Johannes: Beerdigung spielen – Jesus: mittanzen – Johannes: mitheulen; Jesus: Essen und Trinken, »Fressen und Saufen«, Kumpel der Gottlosen – Johannes: Trauern, kein Brot und Wein (»Besessen«).
Mt 11,2-10: Johannes der Täufer – Jesus Im Abschnitt Mt 11,2-10 werden die beiden wichtigsten Fragen des beginnenden Christentums dramatisch zugespitzt und sehr unkonventionell beantwortet. Diese beiden Fragen lauten: Wer ist Jesus, ist er der Messias – und wer ist der Täufer? Ungewöhnlich ist die Art der Antwort. Denn vom Petrusbekenntnis in Mt 16,14-16 her sind wir es gewohnt, die »Wer ist … ?«-Fragen mit christologischen Titeln zu beantworten (er ist der »Sohn Gottes«, »der Herr« oder ähnlich). Hier dagegen ist nur von den Werken des Messias Christus die Rede, und es handelt sich um eine Anspielung auf Jes 35,5f (oder Jes 29,18f), auf Texte also, in denen von den endzeitlichen Taten Gottes die Rede ist. Jesus nimmt diese Taten vor Gottes Kommen gewissermaßen vorweg, oder anders gesagt: Wenn er so handelt, dann deshalb, weil Gott selbst durch ihn und in ihm handelt. So wird Jesus durch seine Taten als der legitimiert, der niemand anderen als Gott darstellt. Übrigens hatte man schon in der Aufnahme der Jesaja-Stelle in den Texten von Qumran die Liste der Taten Gottes um das entscheidende
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62 Glied ergänzt, das auch bei Mt 11,5 wieder begegnet, nämlich um die Aussage »er wird die Toten auferwecken«. Entscheidend ist dies deshalb, weil man sich im Judentum darüber einig war, dass alle möglichen anderen Taten theoretisch auch von fragwürdigen Gestalten vollbracht werden könnten, hinter denen der Teufel stünde. Tote erwecken kann nur Gott. Das Problem dieser Antwort besteht darin, dass der Messias traditionell gar kein Wundertäter ist, auch das JohEv bestätigt, dass man keineswegs Wunder von ihm erwartete (Joh 7,31). Mithin ist es recht kühn, wenn sie in Mt 11,2 »Werke des Messias« genannt werden. Entscheidend ist aber in jedem Fall, dass die Frage des Täufers durch das Zitat von Jes 35,5f beantwortet wird: In Jesus wirkt Gott, Jesus ist Gott. Interessant ist, dass die Spitze der Wundertaten etwas ist, was uns gar nicht als wunderbar erscheint: dass den Armen das Evangelium verkündet wird. Offenbar geht es dabei nicht um eine leere Formel. Gerade der Evangelist Lukas, der unseren Abschnitt ja auch bietet (Lk 7,18-27), macht sein ganzes Evangelium in diesem Sinne zur Frohbotschaft für die Armen. In Apg 2-5 zeigt er, wie die frühe Gemeinde dieses umsetzt und wie den Christen »grundsätzlich« alles gemeinsam gehört. Warum ist Jesu Botschaft nicht leer? Ist Jesus nur ein Schönredner? Er hat die Armen weder zum Aufstand aufgerufen, was sie sicher den Römern ans Messer geliefert hätte, noch hat er sie mit Hinweis auf rein Geistiges vertröstet. Er hat sie als Menschen »aufgebaut«, er hat ihnen gesagt, dass sie trotz Schmutz und Hunger, trotz Sorgen und Lumpen von Gott bevorzugt geliebt sind, und er will, dass die Gemeinde daraus die praktischen Konsequenzen zieht. Jesus selbst hat mit diesen Menschen gelacht und geweint, gefeiert und getrauert. Nur die Armen und andere, die alles nur von Gott erwarten können, sind rein. Und sind nicht die jeweils Ärmsten oft gastfreier als andere, weil sie nicht viel zu verlieren haben? Dann aber kommt der rätselhafte Satz: »Selig, wer sich an mir nicht ärgert.« Alle Seligpreisungen sind Abgrenzungen, alle meinen besonders Erwählte. Diese Seligpreisung setzt daher voraus, dass sich viele an Jesus ärgern werden. Wenn jemand bei uns so redete: »Wer an mir keinen Anstoß nimmt, hat Glück gehabt«, dem würden wir
Das Evangelium nach Matthäus
unterstellen, er mache sich ohne Grund maßlos interessant. – In Mt 11,6 ist dieser Satz für alle bestimmt, die weder als Zeitgenossen von Jesus geheilt wurden noch Arme sind. Dieser Satz sagt: Man muss nicht behindert, arm, tot oder unrein sein, um von Jesus das Heil erwarten zu können. Es genügt, kein Ärgernis an ihm zu nehmen. Tatsache ist aber, dass fast alle ihn »ärgerlich« finden, und auch, dass sie versuchen, sich dieses Ärgerliche irgendwie zurechtzulegen. Erstens die Reichen, weil sie Jesus in Verdacht haben, sie müssten abgeben und teilen. Zweitens die Mächtigen, auf jeden Fall alle Staatsdiener. Die ärgern sich über Jesus, weil er die Machtlosen selig preist und nicht sie. Drittens ärgern sich an Jesus alle, denen er nicht geholfen hat, alle, die weiterhin leiden und sterben, die krank sind und wie aussätzig. Viertens ärgern sich über Jesus alle, die mit seinem Wort vom Kreuztragen nicht einverstanden sind. Denn angeblich ist das Kreuz lebensfeindlich. Solche Leute wollen lieber »leben«, wie sie sagen. In Wirklichkeit muss man aber, um sich ganz ehrlich und wirklich nicht über Jesus zu ärgern, schon vorher ein anderer geworden sein. Wer nur Lebensgenuss kennt, die hedonistische Elite, muss das Christentum für lebensfeindlich halten. Anfangen, sich über Jesus nicht zu ärgern, ist etwas Subtiles, und ein wenig Ehrlichkeit ist nötig, um ihm immer wieder Recht zu geben. Nach Mt 18 und Paulus (1 Kor 8,10) ist Ärgernis geben fast das größte Vergehen, das ein Christ dem anderen antun kann, wenn er ihn aus der Gemeinde herausdrängt. Auch der Abschnitt, der hier Johannes dem Täufer gewidmet ist, riskiert Anstößiges: Johannes ist kein Vertreter der Aristokratie. Seine asketische und herrschaftskritische Lebensweise entspricht in besonderer Weise den harten Kanten Jesu. Beide sind auf ihre Weise unerträglich. Das Gleichnis von den spielenden Kindern (Mt 11,16-19) zeigt dies dann noch einmal aus der Sicht der Adressaten. Dazu gehört auch Gottes eigenes Wirken an den Menschen. Die Leiden der Blinden, Tauben, Lahmen und Stummen heilt er. Er beseitigt wilde Tiere dort, wo sie nicht hingehören. Die versklavten Israeliten kauft er frei. Es geht, wohlgemerkt, um Gottes eigene Taten, nicht um die des Messias. Gott wird die Toten auferwecken. Der Mes-
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sias wird demnach an Gottes Taten erkannt. Die Macht dazu, wie auch seine Würde kann er nur von Gott selbst haben. Schon in der Interpretation der Stelle Jes 35,5f in den Texten von Qumran fügt man hinzu: »Er wird die Toten auferwecken« (4 Q 521 F1, col. 2: »Himmel und Erde werden seinem Messias gehorchen … Er wird die Gefangenen freilassen, die Blinden sehend machen und die Niedergeworfenen aufrichten. Dann wird er die Kranken heilen und die Toten lebendig machen und den Armen die Frohbotschaft verkünden, Er wird leiten die Heiligen, er wird sie als Hirte führen …«). Damit aber ist die Brücke gegeben zu Mt 11,5, denn nach diesem Text beseitigt Jesus die Gebrechen der Blinden Lahmen, Aussätzigen, Tauben, Toten und Armen. Die besondere Zuspitzung der Reihe wird uns gleich noch beschäftigen. Hier geht es zunächst um die erstaunliche Tatsache, dass der Messias Gottes Taten vollbringt und dass diese laut 11,2 mit den »Werken des Christus« einfach gleichgesetzt werden. Demnach besteht eine ungebrochene Handlungseinheit und TatenGemeinschaft zwischen Gott und Messias. Wenn der Messias handelt, dann wirkt Gott. Der Messias ist daher so etwas wie der rechte Arm Gottes. Das ist genau der Punkt, den Benedikt XVI. in seinem Jesus-Buch herausgestellt hat. Die Handlungseinheit ist die Art, in der neutestamentliche Schriftsteller das zum Ausdruck bringen, was später in der griechischen Kirche die Wesenseinheit genannt werden wird. Der Sendende und der Gesandte sind durch ein gemeinsames Wirken verbunden. Das sagt auch der Evangelist des JohEv mit dem Wort »Ich und der Vater sind eins«. Das ist gewiss noch keine ontologische (Wesens-)Aussage, wohl aber eine über die Einheit des Willens und des Handelns. Und genau aus diesem Grund kann Jesus nach dem MtEv immer wieder die Anbetung in Form der Proskynese entgegennehmen, ohne sie abwehren zu müssen (Mt 2,2.8.11; 8,2; 9,18; 14,33; 15,25; 20,20; 28,9.17). Denn sie gilt dem Vater, der in ihm sichtbar wird, erscheint, handelt. Das, was er weitergeben kann, seine machtvolle Gegenwart, hat der Vater dem Sohn gegeben; in Mt 11,27 wird der Sohn dies ausdrücklich sagen (»Alles ist mir vom Vater übergeben …«). Die »Verkündigung des Evangeliums« an die Armen entspricht Jes 61,1. Dort steht der Satz
63 am Anfang einer Liste, die Jes 35 ähnelt (Heilung der Zerbrochenen, Befreiung der Gefangenen, Loskauf der Gefesselten). Der Kreis der Armen ist nach dem MtEv sicherlich umfassender als der der Blinden und an Organen Behinderten. Außerdem ist es gut, die Predigt des Evangeliums zu betonen; denn sie wird durch die Christen, die das MtEv besitzen, fortgeführt. Es ist eben das Evangelium im Ganzen, das sie verkündigen. Die Seligpreisung am Schluss meint: Das Hauptproblem besteht nicht darin, ob Jesus Wunder tut. Es besteht darin, in welcher Hinsicht man sie ihm zutraut. Steht tatsächlich Gott hinter ihm, oder ist er nur ein Beamter des Teufels, ist er nur einer der Pseudo-Christusse, die durch Wunder die Menschen verführen, um sie zu beherrschen? In Mt 24,23-25 ist diesen Figuren breiter Raum gewidmet. Ist Jesus nur einer von ihnen? Pseudo-Messiasse gibt es viele, durch die jüdischen Schriftsteller des 1. Jh. kennen wir eine ganze Reihe von ihnen. Warum sollte gerade Jesus der wahre Messias sein? Man bedenke: Nur ein einziger kann der wahre sein! Für Johannes den Täufer ist das eine historische Anfechtung genauso wie für die Christen in der späteren Gemeinde des MtEv. Die Lösung, die Jesus hier gibt, geht von seinen Wundern aus. Weil es Gottes Taten sind, ist die Legitimationsfrage geklärt. – Vom Messias erwartet man solche Wunder nicht, schon gar keine Totenerweckung. Aber weil er sie tut, weil er damit die verletzte Menschheit heilt, weil er auch die innerlich und sozial verletzte Menschheit durch sein Evangelium hoffnungsfroh und gesund macht, deshalb gehört er unbedingt auf die Seite Gottes. Dabei möchte ich das »Evangelium für die Armen« im weitesten Sinne als christliche Soziallehre verstanden wissen. Es gibt in den Evangelien keine andere Stelle, an der sie deutlicher und als für das Ganze charakteristisch angesprochen wird. Jede Spiritualisierung der »Armen« ist durch den Wortlaut verboten. Diese Frohbotschaft wird etwas ausführlicher im Magnificat aufgenommen. Das ist deshalb interessant, weil die dort angeführten Gegensatzpaare (die Übermütigen stürzen, die Hungrigen satt machen) in schöner Entsprechung zur Heilung der Gebrechen nach Mt 11 stehen: Der Gott, der den Armen die frohe Botschaft verkündigt, ist derselbe, der die Mächtigen vom Thron stürzt und die
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64 Niedrigen erhöht. Es handelt sich daher um dasselbe Gottesbild von dem Gott, der Gegensätze schafft bzw. ausgleicht. – Zum Schluss wendet sich Jesus in Mt 11 noch einmal dem Täufer zu, und das bestätigt eine sozialkritische Auslegung. Der Täufer gehört ja nicht zu den Fürsten und Luxusliebhabern. Er ist ein Prophet, auf der Seite der Armen im umfassenden Sinne. Zu Mt 11,3 (par Lk 7,20): Der Ausdruck »der Kommende« (»der da kommt«) ist in Mt 11,3 und Lk 7,20 bereits terminus technicus für den Messias, der »kommt«. Auch Joh 4,25 spricht davon, dass der Messias »kommt« (»wenn jener kommt«). Joh 6,14 nennt den Propheten »der in die Welt kommt«; 1 Joh 2,18 sagt, dass der Antichrist »kommt« (ebenso 4,3); 2 Joh 7 bezieht das Bekenntnis auf Jesus Christus: der »gekommen ist im Fleisch«. Analog ist als Wortbildung das samaritanische Ta’eb (der Wiederkehrende) nach Dtn 18,15 (»einen Propheten wie mich«). – Dass Dtn 18,15 im Hintergrund steht, könnte nicht nur der Prophetentitel in Joh 6,14 erweisen, sondern auch die Tatsache, dass neben Dtn 18,15 direkt der Abschnitt 18,19-22 steht, in welchem man leicht die Figur eines Antichristen als geweissagt erkennen kann. Andererseits wird in Mt 23,35; Lk 13,35 der Psalm 118,25f zitiert: »gesegnet, der kommt im Namen des Herrn«, und zwar für den kommenden Messias, der in den Tempel einzieht (vgl. Mk 11,10). Das heißt: Dieser erwartete Messias weist sich am Tempel aus, er definiert sich vom Tempel her. Das ist für Jesus zweifellos bereits nach dem MkEv der Fall, besonders aber nach Lk. Die Tempel-Passagen in den Evangelien erscheinen von daher in neuem Licht, insbesondere der Einzug in den Tempel, die Tempelreinigung und Worte wie Mk 14,58. Schließlich ist in Dan 7,11 die Rede von einem, der wie/als ein Mensch »kommt« – und das könnte der Schlüssel zu 2 Joh 7 sein. Denn dann ist der Menschensohn eben wahrer Mensch. Zu Mt 11,18f: Von der Weisheit (V. 19b) ist im Kontext Mt 8-11 nicht die Rede. Also könnte es sein, dass dieser Vers ein meta-kommunikativer Satz ist: Weisheit würde dann hier verstanden als die verborgene Lösung (daher Weisheit) eines rätselhaften Sachverhalts. Dieser wird in
Das Evangelium nach Matthäus
11,18-19a geschildert: Sowohl der Täufer als auch der Menschensohn werden abgelehnt, obwohl sie ganz gegensätzlich waren. Das kann logisch nicht angehen. Weisheit könnte sich darin erweisen, hier einen Ausweg zu finden. Wer das Paradoxon von 11,18-19a entschlüsselt, könnte zeigen, dass er eine wirksame Weisheit findet. Deutet man eher konventionell, so müsste man sagen: Auf die Werke kommt es an! Was in einem Menschen steckt (seine verborgene, unsichtbare Weisheit), zeigt sich immer an den Resultaten. Und da kann man den beiden so unterschiedlichen Menschen Jesus und Johannes gewiss gleichermaßen zustimmen. Deren Weisheit gilt besonders im Widerstand gegen die Mächtigen (vgl. Lk 21,15; Mk 13,11; Mt 24,20). Es gibt dann auch eine Beziehung der »Werke« der Weisheit zu den Werken in Mt 11,2. Jesu Taten sind Werke von Gottes Weisheit.
Mt 11,20-24: Wehruf über die Städte Vgl. Lk 10,13-15.12 – der Text ist eine Kombination von Schelt- und Drohworten. Die Scheltworte bestehen jeweils aus Weheruf und Begründung. An die Stelle der Fremdvölker-Orakel des Alten Testaments treten hier Städte-Orakel über palästinische Orte des Wirkens Jesu, vergleichbar den Weherufen gegen Jerusalem, Babylon und Tyrus etc. – Ziel der Worte: Selbst Tyros, Sidon und sogar Sodom werden im Endgericht (»Tag des Gerichts«) den Städten Chorazin, Betsaida und Kafarnaum vorgezogen werden. Tyros, Sidon und Sodom sind klassische Orte heidnischer Sünde. Der Grund zur Anklage besteht darin, dass die Menschen in diesen Ortschaften die Machttaten Jesu (seine Wunder) nicht als Anlass zur Umkehr genommen haben. Über Wunder in Kafarnaum hatte z. B. Mt 8,5-17 berichtet, ebenso spielen die Wunder von Mt 9,1-34 in »seiner« Stadt. Kafarnaum nimmt hier die Klimax ein, weil es »seine« (d. h. Jesu) Stadt ist. In Mt 10,14f galt eine vergleichbare Gerichtsankündigung für jede Stadt, die die Mission der Jünger abweist. Dass die »Stadt« ansprechbare Größe ist, nicht der einzelne Mensch in seinem Gewissen, weist hin auf den grundlegenden Charakter der »Städte« im ganzen Mittelmeerraum bis heute.
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Kapitel 11
Nach der späteren Auslegung wird sogar der Antichrist in Chorazin geboren und wächst in Betsaida auf (Ps.-Methodius; Ps.-JohEv [ar] 37,53). Das Ps.JohEv [ar], ed. Galbiati 37,25 (132,10) sagt über den Antichrist: »Hütet euch vor dem Gegner! Denn er wird kommen wie ein Dieb, und man wird ihn nicht bemerken. Wehe Chorazin, wehe Betsaida, wehe wiederum Kafarnaum. Denn auch wenn es zum höchsten Himmel aufsteigt, wird es dennoch zur Unterwelt fallen. Und wisst: Siehe, Babel und Persien werden zerstört werden …«
Das Aufsteigen zum Himmel und der Sturz in die Unterwelt sind hier eine Auslegung von Jes 14,13-15 (dort gegen Nebukadnezar). Theologisch wird hier erkennbar: Das Ziel der Wundertaten Jesu ist die Umkehr. Wird sie trotz allem nicht vollzogen, so gelten die Wunder als Argument gegen ihre Adressaten. Die Wunder sind daher ein zielgerichteter Teil der Verkündigung Jesu. 1 QH 7,26-33: »Ich preise dich, Herr! Denn du hast mich unterwiesen in deiner Wahrheit und in deinen wunderbaren Geheimnissen mir Wissen gegeben.«
Mt 11,25-30: Jesu Adressaten Die Botschaft Jesu richtet sich nicht an die Klugen und Gebildeten, sondern an die Einfachen. Jesu Worte in Mt 11 besagen: Die so genannten Laien sind seine Adressaten. Sie sind neugierig und wissbegierig. Sie sind nicht satt, voller scheinbarer Gewissheit über ihr scheinbares Wissen, sie meinen nicht zu sehen wie die blinden Pharisäer nach Joh 9. Sokrates und Nicolaus Cusanus haben das Notwendige über den Laien (»idiota«) gesagt, und Jesus ist der Dritte im Bunde. Christentum meint nach Mt 11 etwas ganz Einfaches: dass nämlich der Vater nur durch den Sohn zugänglich wird, und zwar durch ihn als Person. So berichtet das ganze Mt-Ev vom Weg Jesu, der »auf Gewalt verzichtet und ein demütiges Herz hat«, vom Weg bis ans Kreuz. Jesu Lehre ist sein Leben. Jesus hat vielleicht geahnt, dass Christen immer wieder Opfer ihrer eigenen Lehre werden würden, gerade was das Thema dieses Textes anbelangt: die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Der Text in Mt 11 sagt nun freilich, dass diese
65 Einfachheit nicht darin bestehen kann, Jesus für einen »bloßen Menschen« zu halten. Das Christentum wird nicht dadurch einfacher, dass man Jesu exklusive Würde herabsetzt. Vielmehr sollte man sie anerkennen und dann den Weg des Gewaltverzichts und der Demut anhand des Evangeliums nach Matthäus mitgehen. Insofern enthält unser Text das sehr Besondere Jesu und zugleich allgemein das, was man nachahmen kann. Der Ausdruck »Joch« oder »Bürde« wird sonst vom jüdischen Gesetz gebraucht, aber auch die übrigen Prädikate Jesu nach diesem Text galten sonst im Judentum von der Weisheit und vom Gesetz. Das kann besonders von der »Werbung« Jesu für sich selbst gesagt werden (»Kommt her zu mir …«), die formgerecht die eines orientalischen Wasserverkäufers ist. Das gilt auch für die Verheißung der Erleichterung und des Aufatmens am Schluss. Und das trifft sich genau mit den Offenbarungsansprüchen in diesem Text. So wie Gesetz und Weisheit die Offenbarung des Alten Bundes sind, so ist Jesus die des Neuen Bundes, und zwar in Person. Das Gesetz Christi, das jetzt gilt, ist sein Weg. Wilhelm von Saint-Thierry († 1149), der Freund Bernhards von Clairvaux, beklagt sich in seiner berühmten Meditation XIII über dieses Wort Jesu: »Du hast mich in die Irre geführt, Herr, und ich habe mich in die Irre führen lassen. Du warst stärker als ich und hast mir deinen Willen aufgezwungen. Als ich dich sagen hörte: ›Alle ihr, denen man Lasten und Bürden aufgeladen hat, kommt zu mir, ich will euch aufatmen lassen‹, bin ich zu dir gekommen und habe deinem Wort geglaubt. Aber hast du mich aufatmen lassen? Ich hatte keine Lasten zu tragen, doch nun drücken sie mich schwer, sodass ich unter ihnen fast zusammenbreche. Bürden hatte ich auch nicht auf dem Buckel, doch jetzt werde ich matt und müde unter dem, was ich zu tragen habe. Du hast auch gesagt: »Mein Dienst ist erträglich, und meine Last ist leicht.« Was heißt hier erträglich? Was heißt leicht? Dein Dienst ist so unerträglich, deine Last ist so schwer für mich, dass ich unter ihrem Gewicht zusammenbreche. Ich blickte mich um, doch niemand half mir, ich suchte Beistand, doch niemand kam mir zu Hilfe (Jesaja 63,5)« (Übersetzung: Berger/Nord, 2001).
Mt 11,25 ist Dank für empfangene Weisheit (vgl. Dan 2,20f: »Gepriesen sei Gottes Name …, den
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66 Weisen gibt er Weisheit, den Verständigen Verstand …«). Im Unterschied zu Dan 2,20f gibt Gott nicht den Weisen, sondern den Unweisen Verstand. Aber auch schon die alttestamentliche Weisheit richtet sich an die Toren und die der Weisheit Bedürftigen (Spr 9,4-6: »Wer ungelehrt ist, biege hier ein, und wem die Einsicht fehlt, dem will ich künden …«). Falsches Elitedenken ist hier ebenso wenig zu beanstanden, wie Sozialromantik hier zu unterstellen ist. Eine Verwandtschaft besteht zur paulinischen Weisheitskritik in 1 Kor 1: Die Weisheit der Welt nach Paulus entspricht hier der Weisheit der Weisen. Gottes Weisheit ist aber eine Weisheit der Toren. Sie ist ganz neu und vor den Weisen der Welt verborgen, vgl. Mt 11,25b mit 1 Kor 2,7f (verborgene Weisheit, die keiner der Mächtigen erkannte). Nur schildert Jesus in Mt 11 nicht die katastrophalen Folgen der bisherigen so genannten Weisheit der Weisen; nach Paulus ist das der Mord an Gerechten. Die semantischen Beziehungen sind: Paulus – Weise dieser Welt; Mt – Weise, Verständige; Paulus – Törichte; Mt – Unmündige; Paulus – Weisheit Gottes; Mt – offenbaren. In 11,29f wird Jesus sagen, dass der Inhalt dieser Weisheits-Offenbarung weder Sachwissen noch Weisheitsregeln sind, sondern er selbst als Person. Auch Sir 44-48 kennt das Phänomen, dass Kurzbiografien von Vorbildern Weisheitslehre sein können. In der Weisheit Salomos 7f gilt das besonders von König Salomo, dem Sohn Davids. Da Jesus nun sogar der Sohn Davids der Endzeit ist, steht hier »mehr als Salomo«, nämlich »der« endgültige Sohn Davids. »Offenbarung als Person« ist aber das besondere Thema des JohEv. Insofern gibt es hier eine wichtige Querverbindung (neben vielen anderen zwischen dem MtEv und JohEv). Neben der christologischen Konzentration steht schon in 11,27 (»wem es der Sohn offenbaren will«) die »ekklesiologische Engführung«. Mt 11,25-27 ist Selbstvorstellung Jesu in einem Stil, den manche »johanneisch« nennen, und zwar wegen des absoluten Gebrauchs von »der Vater«/»der Sohn« (Joh 5,20; 8,19.38; 12,49; 1 Kor 15,28). Bei Aussagen dieser Art geht es stets um die Anteilhabe des Sohnes an der Erkenntnis des Vaters (z. B. Mk 13,32), so auch hier. Der Ausdruck »alles … übergeben« (V. 27) ist
Das Evangelium nach Matthäus
daher nicht mit Mt 28,18 zu vergleichen; Jesus meint hier nicht die Verfügungsgewalt über die Welt, sondern das, was er verkündet. Der Gattung nach ist 11,28 ein weisheitlicher Werberuf. Daher kommen die fast wörtlichen Übereinstimmungen mit Weisheitstexten: Sir 24,19-23: »Kommt her zu mir, die ihr nach mir verlangt, und esst euch satt an meinen Früchten … Die mich genießen, hungern noch, und die mich trinken, dürsten noch. Wer auf mich hört, wird nicht zuschanden, und wer mir dient, fällt nicht in Sünde. Dies alles ist das Bundesbuch des Höchsten, das Gesetz, das Mose uns geboten hat …« Sir 51,23-27: »Kehrt bei mir ein, die ihr unwissend seid, und haltet euch in meiner Schule auf! Wie lange noch wollt ihr vielerlei entbehren und eure Seele argen Durst erleiden lassen? Ich öffne meinen Mund und spreche. Erwerbt euch Besitz, es kostet ja kein Geld. Beugt euren Nacken in ihr Joch und eure Seele trage ihre Last. Nahe ist sie denen, die sie suchen, und wer sich ganz ihr hingibt, findet sie. Seht selbst, wie ich nur kurz mich mühte und viel Ruhe für mich fand!«
In Sir wird die Weisheit mit der Torah identifiziert, in Mt 11 setzt sich Jesus selbst im Ich-Stil mit ihr gleich. Diese wechselnde Identifikation entspricht dem Stil der Weisheit, die naturgemäß (international und daher) bunt ist (Eph 3,10) und in vielen Gestalten begegnet. (Die spätere liturgische Gleichsetzung der alttestamentlichen Weisheit mit Maria fällt daher nicht grundsätzlich aus dem Rahmen.) Da die Weisheit viel mit Repräsentation Gottes in der Welt (Kinder der Weisheit: Spr 8,32f; Sir 4,11; Lk 7,35) zu tun hat, ist der biblischen Weisheitstradition auch die Kategorie der Sendung nicht fremd, und zwar in verschiedener Hinsicht: a) Die Weisheit geht von Gott aus (SapSal 7,25.27); b) Die Weisheit sendet (Lk 11,49); c) Jesus repräsentiert die Weisheit (Mt 11,28); d) Jesus ist die Weisheit Gottes (1 Kor 1,24). 11,27: »erkennen« ist nicht im Sinne theoretischen Wissens gemeint, sondern als praktischer Umgang mit jemandem. Es handelt sich daher hier nicht um eine religionsgeschichtliche Feststellung zum Monotheismus. Bei der Wortverbindung »der Sohn«/»der Vater« geht es nicht einfach um »Sohn Gottes«, sondern um ein exklusives Verhältnis. Das ist bei
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»Sohn Gottes« nicht gegeben, denn der Sohn Gottes Jesus Christus ist der Erstgeborene vieler Geschwister. »Der Sohn« dagegen ist ein Alleinstellungsmerkmal. Die Ich-Worte einer Selbstvorstellung (11,27) sind auch sonst Autorisierung bedingter Mahnrede (11,28-30), vgl. Mt 10,34-41.41-42; Offb 21,6-7.8; Mk 1,2 f.3. In V. 28-30 gibt es zwei Brennpunkte: Jesus ist Offenbarung als der Demütige und Sanfte (11,29), und er kann »Ruhe« verheißen, die er selbst gibt und ist. »Ruhe« für die »Mühseligen und Beladenen« ist zweifellos der Sabbat, und insofern nimmt Jesus hier die Rolle des Sabbats ein (J. Ratzinger). Aber die »Ruhe« ist auch weisheitliches Stichwort, und im Übrigen wird der Sabbat je länger desto mehr eben auch (parallel zu anderen, s. o.) als Repräsentation der Weisheit angesehen (z. B. in: Teezaza Sanbat [äth], ed. I. Halévy, tr. W. Leslau). Das Aufgebot an rhetorischen Elementen in diesem Stück ist beachtlich: 11,25 spielt mit dem Spott über die »Weisen«, V. 28 macht es den Le-
sern leicht, sich wiederzufinden: Mühselig und beladen sind alle, Erholung brauchen sie jederzeit. V. 28 ist Einladung und Verheißung, V. 29 Bedingung und Verheißung, V. 30 macht auch die Bedingung leicht. Die Offenheit in V. 28 (»Kommt alle …«) steht in Spannung zur Exklusivität in V. 27b. Beides ist auf je seine Weise reizvoll. Auch dass das Geheimnis eine Person ist, bedeutet in gewissem Sinne eine Überraschung. – Emotionale Wertung ist auch verbunden mit dem Spiel von Auserwähltheit und Abgrenzung (V. 25f), mit der Intimität von Sohn und Vater (V. 27) und der Verheißung (V. 30).
Warum steht 11,25-30 an dieser Stelle des MtEv? Es ist eine abschließende Selbstvorstellung. Speziell ist es der Abschluss der mit 11,2 gestellten Frage nach der Identität Jesu. Während die heutigen Leser eine Selbstvorstellung zu Anfang erwarten (vgl. auch die Proömien der Briefe), steht sie in den Evangelien häufiger am Schluss. Das entspricht einer wesentlichen Eigenart biblischen Zeit-Denkens überhaupt (Enthüllung Gottes am Ende).
Mt 12: Zur Legitimität Jesu Thema in 12,1-50 ist die charismatische Legitimität Jesu, des Lehrers für Israel. Im Zentrum von Kap. 12 stehen die jüdischen Themen Tempel, Davidsohnschaft, Jona, Exorzismus. Sofort springt der umfangreiche prophetische Text aus Jes 42,1-4 in Mt 12,18-21 in die Augen, das längste Zitat im Neuen Testament. Zum Aufbau von Mt 12: Zu Beginn stehen zwei Sabbatberichte, offenbar als Auslegung der »Ruhe« Mt 11,29f (12,1-8.9-14). – Sodann geht es zweimal um »Krisis« (12,15-21: Jes 42,1-4 erfüllt; krisis in 12,18.20 und 12,36-42: Ergehen im Weltgericht, griech.: krisis in 12,36.41f). – Dämonen kommen zweimal (12,28-30.43-45). – Jesus steht höher als die beiden Repräsentanten des Alten Testaments, als der Prophet Jona und der König Salomo (12,38-42). – Die Geschichte läuft auf Scheidung zu (krisis in V. 41 und 42). Davon berichten dann die Gleichnisse in Kap. 13.
Mt 12,1-8.9-21: Zwei Sabbatthemen Die beiden Sabbatperikopen am Anfang von Mt 12 kann man als Auslegung des Stichwortes »Ruhe« in Mt 11,29 auffassen. Denn Ruhe (griech.: anapausis) bezeichnet das Gut des Sabbats. Dann sind diese Texte so aufzufassen: Wenn es schon im Tempel erlaubt war, den Sabbat zu brechen (12,5), um wie viel mehr erst bei Jesus. Daher ist 12,7 auf ihn zu beziehen: Er fordert nicht Opfer, sondern will Erbarmen erweisen (12,1-8). Und: Jesus demonstriert diese Barmherzigkeit am Sabbat. Denn in ihm geht das Schriftwort vom barmherzigen, nicht richtenden Sklaven Gottes in Erfüllung. Die Ruhe von 11,29 wird in den Versen V. 19.20a des Jesaja-Zitats wieder aufgegriffen (12,9-21). Zu Mt 12,1-8: Im Unterschied zu Mk 2,23 wird gesagt, dass die Jünger die Ähren am Sabbat abrissen, weil sie Hunger hatten und deshalb die Ähren aßen. Danach richtet sich auch die Argumentation, die freilich in den Konsequenzen
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68 weit über diesen Zwischenfall hinausgeht: 1. Exemplum: Hunger bricht ein sakrales Essverbot (1 Kön 21,1) – 2. Exemplum: Kultpersonal bricht das Sabbatgebot (Num 28,9). – Zwei Begründungen: (a) In V. 7: Hos 6,6 »Erbarmen (will ich zeigen) und nicht Opfer (verlangen).« Jedenfalls Hugo v. St. Viktor deutet bei Erbarmen auf die Barmherzigkeit Gottes. (b) In V. 8: Der Menschensohn meistert den Sabbat (d. h. er legt die Vorschriften über den Sabbat richtig aus). Warum? (S. u.). Wir sahen bereits: Der christliche Messias erweist sich am Tempel (vgl. zu Mt 11,3). Hier erweist er sich auch am Sabbat, und alle vier Evangelien kennen nicht gerade wenige Sabbatgeschichten. Warum aber ist außer dem Tempel auch der Sabbat der Prüfstein? Neben einem historischen Grund steht ein eschatologischer. Der historische Grund: Der Sabbat ist für Jesus wie für die Jünger die Gelegenheit zur Verkündigung, da zu dieser Zeit und an diesem Ort in der Synagoge die meisten Juden zusammenkommen. In der Umwelt ist der Sabbat der ganze Stolz der Juden, denn er ist Hauptexportartikel. Auch die römische Gesellschaft des 1. Jh. n. Chr. hat den Sabbat gerne angenommen (vgl. Horaz). Der zweite, theologische Grund blieb bisher unbeachtet: Es gibt einen Zusammenhang mit der Eschatologie Jesu. Jesus ist ja nicht Verkündiger des Reiches Gottes und nebenher auch noch Sabbat-Rebell. Das geht vielmehr zusammen. Der Sabbat ist Symbol der messianischen Zeit. Daher erbringt der Messias seine messianischen Zeichen am Sabbat. Die messianische Zeit ist z. B. nach Offb 20,4-6 und Analogien der siebte, d. h. letzte, Abschnitt der Welt-Zeit qua WeltWoche (in der Gott erfüllt, was an Verheißungen noch aussteht). Das siebte Jahrtausend ist der Sabbat der Welt und damit messianische Zeit; jeder Sabbat bildet diese Zeit ab. Was daher am Sabbat geschieht, weist auf den Messias (s. zu Offb 20,4-6). Mehr als der Tempel, nämlich der Herr des Tempels, ist der Menschensohn als Herr des Sabbats. Zwei zentrale Symbole Israels, ein lokales und ein zeitliches (Tempel und Sabbat) werden in Mt 12,1-8 direkt christologisch vereinnahmt. Und weil Jesus heiliger als der Tempel ist [Sedulius Scottus z. St.: Jesus selbst ist der Tempel], deshalb haben seine Jünger auch min-
Das Evangelium nach Matthäus
destens so viele Rechte im Tempel wie das Kultpersonal. Zu Mt 12,9-14: Die Argumentation in 12,11 entspricht der in Lk 14,5 (Sohn/Ochse); 13,15f (Ochse, Esel, Krippe) und in zeitgenössischen jüdischen Texten (CD 11,13f). Es geht dabei nicht um Tierliebe im modernen Sinn, sondern um eine Variante des Themas Besitz (dazu gehören die Nutztiere) und Nächstenliebe. Kritisch ist der Text, weil er eine Position angreift, die den Schutz des Besitzes über die Humanität stellte. Der Sabbat galt nur als Vorwand; Menschen wurde unter Berufung auf das Sabbatgebot Hilfe verweigert, die man den Tieren selbstverständlich zugestand (schon Ex 23,5: Hilfe zur Selbsthilfe des Tieres). – Bei der Heilung in 12,13 gibt Jesus den Befehl, handeln muss der Kranke selbst. Zu diesem Text vgl. Origenes, Komm. zu MtEv aus dem NazarenerEv: »Ich war Maurer, verdiente mit den Händen den Lebensunterhalt; ich bitte dich, Jesus, dass du mir die Gesundheit wiederherstellst, damit ich nicht schändlich um Speisen betteln muss!« Zu Mt 12,15-21: Mit diesem Zitat wird der Streit um die Legitimität Jesu in das Feld der exorzistischen Heilungen geführt (bis 12,45). Stichwort ist Mt 12,18: »Ich werde meinen Geist auf ihn legen.« Denn wenn Jesus den Heiligen Geist hat, kann er die unreinen Geister austreiben. Das Jesaja-Zitat in V. 18-21 weicht stark von der LXX ab und ist in sich so etwas wie die Begründung des Wunder-Geheimnisses, das in 12,16b ausdrücklich genannt wird. Der hier geschilderte Sklave Gottes wirkt im Verborgenen, denn seine Stimme hört man nicht auf der Straße. Er richtet auch nicht, und die Worte Jesu, er sei nicht gekommen zu richten, sondern zu retten, könnten hier ebenfalls ihre Grundlage haben. Die »krisis« von 12,18b ist nicht Gericht/Verurteilung, sondern Inbegriff von Normen, Maßstäben und Regeln. Die in 12,18.21 genannten Heidenvölker treffen sich gut mit der matthäischen Theologie (vgl. Mt 28,18-20). So ergibt sich: Eine Fülle charakteristisch »synoptischer«, ja matthäischer Themen ist aus dem Zitat Jes 42,14 zu begründen: Wunder-Geheimnis, Heiliger Geist auf dem Messias, retten statt richten, Sanftheit Jesu (vgl. Mt 11,29; 5,5). Nicht zuletzt
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ist Jes 42,1 auch die wahrscheinlichste Basis der Taufstimme in Mt 3,17 (»Dieser ist mein geliebter Sohn, an ihm habe ich mein Wohlgefallen«), denn das griech. pais der LXX (Sklave, Kind) kann auch als »Sohn« verstanden werden. Und schließlich: In seinem Volk ist dieser Gottessklave verborgen (V. 19), doch unter Heiden ist er offenbar (V. 18c.21). Ganz nebenbei ist V. 18, wenn man mit »Sohn« übersetzt, was sprachlich möglich ist, die älteste nachweisbare Verbindung von Heiligem Geist und Gottessohnschaft, die im Neuen Testament durchweg gegeben ist (Sohn Gottes wird man, ist Jesus durch den Heiligen Geist). Wie ist das historisch zu beurteilen? Das Zitat findet sich nur im MtEv. Es ist eine Art Zusammenfassung des Evangeliums (Nicolaus Cusanus würde sagen: die complicatio vor der explicatio). Am wahrscheinlichsten ist das Modell der gegenseitigen Inspiration: Die Botschaft Jesu und von Jesus sowie diese Jesaja-Stelle haben sich wohl (von Anfang an) in starkem Maße gegenseitig befruchtet. Dass Matthäus diese Stelle erst »spät« als Reflexionszitat entdeckt und »ganz zufällig« auf Ähnlichkeiten stößt, ist keine gute historische Erklärung. Zu V. 20 sagt Paschasius Radbertus (7. Jh.): »Die dem Tod nahe waren und verfinstert durch die Dunkelheiten der Sünde, sind gerettet worden durch seine Güte und entzündet von der Flamme der Liebe« (659).
Mt 12,22-24: Heilung eines Besessenen Aufgrund der Heilung des durch dämonischen Einfluss doppelt Geschädigten sagen die Leute: »Ist dieser nicht der Sohn Davids?« Die alternative Erklärung geben die Pharisäer: Jesus ist mit Beelzebul im Bunde. Nach SapSal 6 kannte Salomo, Davids Sohn, die »Kräfte der Geister«, und nach dem Testament des Salomo (ed. Peter Busch) hat Salomo Macht über mächtige Dämonen. Da nach den TestXII auch andere Funktionäre der Endzeit die Macht über böse Geister besitzen, gibt es demnach eine eigene Messiaserwartung, nach der der Messias seine Kraft und Macht im Überwinden eben dieser Mächte, auch der himmlischen Mächte und Gewalten, erweist. Jesu exorzistische Tätigkeit ist demnach ein eige-
nes Eingangstor zu seiner Messianität. Doch schon die doppelte Reaktion in 12,23.24 kündet an, dass aufgrund des sachspezifischen Dualismus (Gott oder Teufel) der Bereich der Exorzismen leider uneindeutig bleibt. Das wird bestätigt durch die schwierige Argumentation im Folgenden.
Mt 12,25-32: Disput mit Pharisäern 1. Argument – V. 25f: Ein zweigeteiltes Reich besteht nicht. Der Teufel wäre ganz schön dumm, wenn er sein Reich durch Besessenheit mit Hilfe von Dämonen ausbreitete, es aber gleichzeitig durch Jesus dezimierte. Das wäre absurd, und so dumm ist der Teufel nicht. 2. Argument – V. 27: Es gibt auch eine starke exorzistische Bewegung im Judentum, bei den »Kindern der Pharisäer«, wie Jesus sagt. Deren Problem ist, wie sie im Lichte der exorzistischen Erfolge Jesu das eigene Tun beurteilen sollen. Denn wenn sie sagen: Wir treiben mit dem Teufel aus, dann disqualifizieren sie sich selbst. Wenn sie aber sagen: Jesus treibt mit dem Teufel aus, wir aber mit Gott, warum nehmen sie dann nicht für den gleichen Erfolg die gleiche Ursache an, also Gott auch für Jesus? An die Pharisäer gewandt: Wenn ihr schon bei euren Kindern mit Gottes Kraft rechnet, warum nicht auch bei mir? Johannes Piscator (Herborn, 1606) bemerkt dazu: Jesus »straaft die Phariseer, dass sie von gleichen sachen ein ungleich urteil fellen.« Und: »Treiben sie nicht die teufel aus durch den geist Gottes? Mit ihrem exempel werden sie euch überzeugen, dass ihr mich gelestert habt.« Zu den Voraussetzungen dieser Argumentation gehört 1 Kor 2,15: Der Pneumatiker wird stets die Nicht-Pneumatiker richten, die ihn beurteilen möchten. In diesem Sinne werden die Pharisäer ihre Richter finden. 3. Argument – V. 28-30: Zwischen These (V. 28) und Faustregel (V. 30) argumentiert Jesus mit einem Gleichnis aus dem Bereich der Kriminalität (wie er es auch in Lk 16,2-9; ThomasEv 98 tut). Ein Räuber muss zunächst den Hausherrn fesseln, um dann das Haus oder den Hausrat in Besitz zu nehmen. Jesus sieht sich in der Rolle des Räubers. Das Fesseln des Hausherrn bedeutet: Jesus fesselt den Dämon. Dabei kommt dem
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70 Gleichniserzähler zu Hilfe, dass »binden« auch terminus technicus für das Bannen von Dämonen ist. – Der Skopos des Gleichnisses: Der Exorzismus ist nicht Selbstzweck, sondern dient dem besessenen Menschen, dass er von Gottes Herrschaft erfüllt werde. Dem muss aber eine Befreiung vorausgehen, und diese ist »Gewalt gegen Dämonen« und kein Zuckerschlecken. Zur These in Mt 12,28: Während Jesus sonst von der Nähe des Reiches spricht, ist es bei den Exorzismen schon endgültig angekommen. Denn zum Weltbild des Exorzisten gehört eine strenge Zweiteilung der bestehenden Wirklichkeit in das Reich Gottes einerseits und das Reich Satans andererseits. Einen dritten, neutralen Bereich gibt es nicht. Noch M. Luther hat das richtig gesehen, wenn er sagt, man werde entweder von Gott oder vom Teufel »geritten«. Dabei hat dieser Dualismus heute eher heuristische Funktion. Die Befreiung von der Macht Satans bedeutet Überstellung an die Macht Gottes (Apg 26,18). Vgl. dazu auch das so genannte Freer-Logion bei Mk 16,14: »… Unsere Welt ist ohne Gesetz und ohne Glauben. Sie steht unter der Herrschaft Satans. Der Satan verhindert durch böse Dämonen, dass wir Menschen den wahren und wirklichen Gott und seine Kraft erfassen.« Sie baten den Messias: »Lass die Zeit offenbar werden, in der deine Gerechtigkeit herrscht.« Und der Messias erwiderte: »Das Maß der Jahre, in denen Satan herrschen kann, ist schon voll.« – Dass Jesus durch den Heiligen Geist die Dämonen vertreibt, entspricht der Logik des pneumtologischen Dualismus. Denn Geistern kann nur ein stärkerer Geist etwas anhaben, und Gottes Geist ist immer stärker als jeder Teufel oder Dämon. Und ein Geist kann auch nur durch einen anderen Geist erkannt werden, auch wenn er von der Gegenseite ist. – Zur Faustregel 12,30 vgl. zu Mk 9,40.
Mt 12,31-35: Sünde gegen den Heiligen Geist Zur Sünde gegen den Heiligen Geist vgl. zu Mk 3,28-30 und 14,61-63. Wer behauptet, Jesus sei vom Geist Beelzebuls erfüllt, lästert den Heiligen Geist, der in Wahrheit in ihm wohnt. Diese Sünde fällt dann auf ihn, den Lästerer, wie ein Fluch zurück. Daher ist sie unvergebbar wie ein Fluch.
Das Evangelium nach Matthäus
Alle Sünden gegen den Heiligen Geist sind nicht nur unvergebbar, sondern haben auch jetzt schon gleich direkt schreckliche leibliche Folgen für den Lästerer (vgl. Apg 5,3.5; 1 Kor 3,16f und 11,30). Entsprechend dem dualistischen Grundansatz der hier diskutierten Pneumatologie nimmt Jesus auf eine ähnlich strukturierte Theorie des menschlichen Wortes Bezug. Zu Mt 12,33-35 (par Lk 6,43-45): Jede Tat eines Menschen ist von dessen vorgängiger Qualität abhängig. Es ist mit ihm wie mit einem guten oder schlechten Baum, mit Weinstock oder Distelstrauch. Jeder kann nur das hervorbringen, was schon zuvor in ihm steckt. Bemerkenswert ist: Hier wird weder appelliert noch auf den guten oder bösen Geist verwiesen, der in einem steckt. Das Verhältnis von Wille und Tun wird überspielt. Die Lösung des Problems, ob ein Mensch gerecht oder ungerecht ist, liegt nicht auf der Ebene von Wollen und Tun, sondern auf der von Sein und Hervorgehen. Denn gerade so, wie man ist, geht die Tat hervor. Wie Früchte der Pflanzen oder wie eben eine Quelle, die nicht für sich bleiben kann, sondern überfließen muss. Damit werden alle Schwierigkeiten der sonst üblichen Motivationen umgangen. Wenn überhaupt ein Appell besteht (und das ist wohl der Fall, da es sich ja nicht um Aussagen über absolute Prädestination handelt), dann ist er so grundsätzlicher Art, dass er durch eine einzelne Tat nicht eingeholt oder nachgeholt werden kann. Es kommt darauf an, zu den Guten oder zu den Bösen überhaupt zu gehören. Mehr nicht. Und das erweist sich dann an dieser Tat. Eine gewisse Affinität zu Joh 3,20f (»Wer Böses tut …, kommt nicht zum Licht …«) ist durchaus zu sehen. Nur ist in Joh 3 (vgl. 6,27-29) die neue Tat auf das Glauben beschränkt. – Der Weg von innen nach außen ist nach dieser Konzeption ein vollständig organischer. Er ist ganz problemlos. Das eigentliche Problem ist ins Grundsätzliche der Zugehörigkeit verlagert (»Gehöre zu den Weinstöcken«, »Gehöre zu den Feigenbäumen«). Dadurch wird der einzelne Akt sehr maßgeblich entlastet, und es kann in der Tat eine Fröhlichkeit und Angstfreiheit entstehen, die der pneumatisch (im Sinne des Paulus) verursachten in nichts nachsteht.
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Kapitel 12
Mt 12,38-42: »Hier ist mehr …« Innerhalb von Mt 12 gibt es einen eigenen theologischen Ansatz, der sich auf Sätze bezieht, die nach dem Schema »X (Altes Testament) …, hier ist mehr als X (nämlich Jesus)« aufgebaut sind. Dazu gehören 12,5f (Tempel … Hier ist Größeres als der Tempel), 12,41 (Jona … Hier ist mehr als Jona); 12,42 (Salomo … Hier ist mehr als Salomo). – Die Aussage: Einerseits ist Jesus »wie« die alttestamentliche Größe (Tempel, Jona, Salomo), andererseits ist er »mehr«, nämlich in jedem Fall die endzeitliche Vollendung. Die Tendenz ist ähnlich wie bei der Verklärung: Jesus ist eine prophetische Gestalt »wie« Mose und Elia, andererseits ist er »mehr als« sie, nämlich der Sohn Gottes. In allen Fällen handelt es sich um eine nur für Juden verständliche und daher innerhalb des Judenchristentums geführte Diskussion. Die Größe und Bedeutung Jesu wird anhand der Überbietung alttestamentlicher Institutionen oder Personen anschaulich erklärt. Jesus erweist sich als Messias am Tempel und im Vergleich zu bekannten Propheten. Auch daran, dass er gerade diese überbietet, wird die Ausrichtung seiner Messianität erkennbar: kultisch und prophetisch. Eine Entsprechung zu Mt 12,40 (drei Tage und drei Nächte) fehlt in Lk 11,30 f. Daher hat man Mt 12,40 stets als den Inbegriff einer redaktionellen Einfügung angesehen. Abgesehen davon, dass das kein Unglück wäre, ist dieser Annahme doch methodisch gebrechlich. Denn aus der LkFassung kann man nur mit Mühe rekonstruieren, inwiefern denn Jona ein Zeichen gewesen sein soll. Ich nehme an: als Umkehrprophet aus dem Heidenland. Denn laut 2 Kön 14,25 (vgl. Jona 1,1) kommt Jona aus Galiläa. In Joh 7,52b heißt es indes: Kein Prophet kommt aus Galiläa (nach Ansicht der Leute). Doch schon Jona war eine Ausnahme. So ist seine Herkunft aus Galiläa ein Vorzeichen für Jesus. Der Einwand von Joh 7,52b war offenbar verbreitet, vielleicht ein Haupteinwand gegen Jesus (ähnlich der Einwand in Joh 1,46: Aus Nazaret kann nichts Gutes kommen). D. h. Joh 7,52 lässt den Hintergrund des synoptischen Jona-Themas noch deutlich erkennen. Gott kann eben doch aus Galiläa einen Propheten berufen, und er hat es schon einmal getan! Das genau ist »Jona als Zeichen«.
71 In Mt 12,39f ist dann weiter entfaltet, warum Jona als Zeichen gelten kann, und dabei wird an die eindrückliche Geschichte des Propheten erinnert, die auch heute noch jedes gebildete Schulkind kennt. Lukas könnte den Vers Mt 12,39 ausgelassen haben, da die Zeitangabe »drei Tage und drei Nächte« mit den Passionsberichten nicht harmoniert. Zudem ist Jesus nach Lk noch am Tag der Kreuzigung mit dem gerechten Schächer im Paradies. Das spricht freilich alles für die Authentizität von Mt 12,39. Und die drei Tage und drei Nächte können im Sinne der 3 ½ Tage der Apokalyptik oder in Anspielung an Hos 6,6 die »begrenzte Unheilszeit« schlechthin sein. Und deswegen ist die Angabe in jedem Falle richtig. Die Logik der Argumentation in 12,41 verläuft so: Die Menschen in Ninive waren sündige Heiden. Aber auf Jona hin haben sie sich bekehrt. Die Leute, mit denen Jesus zu tun hat, hören seine Umkehrpredigt. Aber sie bekehren sich nicht. Und das ist umso schlimmer, als Jesus doch mehr ist als Jona. So stehen die Menschen von Ninive weitaus besser da als die Adressaten Jesu. Denn es zählt nicht die Vorgeschichte, sondern nur das Endstadium. Gerechte aber werden im Endgericht über Ungerechte gestellt (1 Kor 6,2: Die Heiligen werden die Welt richten; Mt 19,28; der Hymnus zu den Laudes im »Commune Apostolorum« feiert die Apostel als senatus altae gloriae), um diese zu richten und zu leiten. Deshalb werden, wie es bis jetzt scheint, die Leute von Ninive die Adressaten Jesu richten. Das Ganze ist ein Appell an Jesu Publikum: Lasst euch doch nicht von den alten Niniviten in den Schatten stellen. Das waren doch »lumpige Heiden«. Vor allem aber: Wenn die Leute von Ninive sich schon angesichts eines Propheten wie Jona bekehrten, um wie viel eher solltet ihr euch angesichts Jesu bekehren! Zu Mt 12,42: Die Königin des Südens (d. h. von Saba) war wie die Leute von Ninive Heidin. Sie kam von weit her (»Enden der Erde«, d. h. von Südarabien!), um die Weisheit Salomos zu hören. Da Jesus aber mehr als Salomo ist, sollten die Menschen, die direkt in seiner Nähe wohnen, sich umso viel mehr für die Weisheit Jesu interessieren (zur Ausgestaltung der Legende der Königin von Saba vgl. die apokryphe Schrift Kebra Nagast (äth) ed. C. Bezold [mit deutscher
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72 Übersetzung]). Die Königin von Saba übertrifft daher die Zeitgenossen an Aufwand und Interesse bei weitem. Zu Mt 12,43-45: Einen Text über den Rückfall kennt nur das MtEv. – Ganz ähnlich wie in dem folgenden Bericht ist das Thema die »Multiplikation«, und zwar hier die des Schreckens, in Mt 12,46-50 aber die der Verwandtschaft Jesu.
Mt 12,46-50: Die wahren Verwandten Jesu Hier legt Jesus ein besonderes Modell von Kirche vor. Züge davon bewahren wir auch heute noch, wenn wir von Brüdern und Schwestern Jesu reden. Hier geht es nicht um Lehrer/Schüler oder Heerführer/Soldaten oder König/Untertanen,
Das Evangelium nach Matthäus
sondern um eine Erweiterung der Familie. Das Judentum kennt diesen Weg, weil auch solche Menschen, die nicht von Abraham abstammen, als Proselyten nachträglich noch Abrahams Kinder werden können, und zwar durch Beschneidung, nach manchen auch durch Nachahmung der sittlich-moralischen Vorzüge. Im Sinne des Apostels Paulus führt dieser Weg dann nicht über die leibliche Verwandtschaft, sondern über den Heiligen Geist (vgl. Gal 4,28f; 5,15). – Paschasius Radbertus (7. Jh.) sagt zu dieser Stelle: »carni spiritum praeferamus«). Der Heilige Geist vertreibt die Dämonen (12,28) und eint die Menschen in neuer Familie (vgl. 12,50). Der Vergleich mit Paulus stimmt auch dann, wenn gilt, dass das Modell 12,46-50 (»Wer den Willen meines Vaters tut …«) auf moralischer Nachahmung und nicht auf dem Wirken des Heiligen Geistes beruht.
Mt 13: Gleichnisse und ihre Bedeutung Aufbau: Der Gleichnis-Stoff der vier Gleichnisse (13,1-52) ist im weitesten Sinne des Wortes pflanzlich orientiert (Saatgut, Unkraut, Senfkorn, Sauerteig). Die Basis der gemeinsamen Pointe ist das Bild des Wachstums. Dann folgt in 13,34f eine im wahrsten Sinne des Wortes reflektierende Zwischenbemerkung, da der Evangelist hier über Sinn und Ziel der Gleichnisrede nachdenkt (wie Mk 4,33f). Dann schließen sich vier weitere Abschnitte an (Deutung: Unkraut, Schatz, Perle, Fischnetz). In diesen vier Stücken steht nicht das Wachstum im Vordergrund, sondern Entscheidung, Loslassen und Scheidung im Gericht. Das heißt: Hier geht es nicht um Organisches wie in den ersten vier Gleichnissen, sondern um Trennung, also um genau das Gegenteil. Damit erscheinen die Bemerkungen in V. 34f als durchaus sinnvolle Zäsur zwischen zwei »Denkstilen«. Gegenüber Wachstum, Frucht, Wachsenlassen und dem Kontrast zwischen kleinem Anfang und großem Ende steht in der zweiten Vierer-Serie die in jeder Phase der Geschichte notwendige Zäsur. Didaktisch ist es sicherlich glücklich, dass die Metaphorik des Wachsens voransteht, die Metaphorik der Zäsur dann folgt. Am Ende hat das MtEv dann noch einmal ein Gleichnis als Kommentar über Gleichnisrede in 13,51f (Altes und Neues aus dem Schatz). Zählt
man 13,10-13 hinzu, dann hat Mt 13 insgesamt drei Abschnitte über den Sinn der Gleichnisreden Jesu: V. 10-13, V. 34f und V. 51f (die Verse 10-13 finden wir auch in Mk 4, mit Abweichungen). Die Funktionen der drei Abschnitte sind sehr unterschiedlich. V. 10-13 besprechen die Rolle der Gleichnisse für Menschen, die draußen stehen und stehen bleiben wollen. V. 34f sehen die Offenbarungsfunktion der Gleichnisse – es geht um tiefste Geheimnisse. V. 51f bedenken die Rolle des Gleichniserzählers: Er ist – erstaunlicherweise – der wahre Schriftgelehrte (vgl. Sir 39,1-11); demnach ist dieser Berufsstand nicht auf Exegese der Bibel beschränkt. Besonderheiten der Gleichnisse in Mt 13 Der Evangelist hat eine andere Parabeltheorie als Markus. Während Mk 4,11 lautet: »Euch ist das Geheimnis des Gottesreiches gegeben …«, heißt es in Mt 13,11: »Euch ist gegeben, die Geheimnisse des Himmelreiches zu erkennen …« D. h. nach Mk ist den Jüngern das verborgene Reich geheimnisvoll und unsichtbar anvertraut. Sie gehören schon dazu, aber das ist ebenso wenig offenkundig wie das Reich Gottes selbst. Die Jünger sind »Inhaber« des Reiches im Zeitalter der Verborgenheit. Bei Mt dagegen ist die Erkenntnis den Jüngern gegeben, und nach 13,35 haben sie
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Kapitel 13
damit Anteil an der Schöpfungsweisheit Gottes. Auf das Verstehen kommt es auch nach Mt 13,19.23 an. Und als christliche Schriftgelehrte entfalten sie Tradition, die man erkennen kann. Parabeln sind daher Einsichten, die jetzt den Auserwählten offenbart werden. Das Reich ist der faszinierende Höchstwert, für den alles andere darangegeben werden kann (nicht bei Mk!). Die Verse von Schatz und Perle in 13,44-46 sind daher eine Art peroratio (drastische Hervorhebung des Wichtigsten am Ende der Rede). Das Reich Gottes existiert nicht nur in der Spannung von Verborgenheit und Offenbarsein, sondern das, was jetzt noch zusammen ist, wird beim Offenbarwerden des Reiches auseinandergerissen werden. Daher befassen sich einige Gleichnisse mit der Trennung und Scheidung (V. 30.41-43.47-50). Der scheidende Charakter des Reiches ist auch in der Gegenwart schon wichtiger als die Spannung zwischen Verhülltsein und Offenbarsein des Reiches. Die Herrschaft, die Gott ergreift, scheidet die Menschen. Mt lässt gegenüber Markus (unabhängig davon, ob einer für den anderen Vorlage war) das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat aus, stattdessen variiert der den Stoff zum Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen. Die Wortparallelen sind zahlreich und bemerkenswert: Mk 4,26: streut die Saat – Mt 13,24: sät das Saatgut; Mk 4,27: und er schlief – Mt 13,25: Als er aber schlief; Mk 4,27: das Saatgut sprosst, Halm, die Frucht – Mt 13,46: es sprosste der Halm und brachte Frucht; Mk 4,27: (verborgenes Geschehen) – Mt 13,29: (verborgenes Geschehen); Mk 4,29: Ernte – Mt 13,30: Ich werde sagen: Die Ernte … Mk Pointe: Sei ein guter Boden für das Saatgut! – Mt 13 Pointe: Trotz unterschiedlicher Qualität dessen, was sprosst, verbietet sich jetzt ein Eingreifen.
Fazit: Trotz teilweise identischen Materials liegen zwei unterschiedliche Gleichnisse vor. Bei Mt findet sich ein ganz neuer Gesichtspunkt, der bei Mk fehlt: Dass es unter dem, was da wächst, dezidiert Böses gibt. Dieser Gedanke tritt zu dem anderen hier typisch matthäischen dazu, wonach einer für die Herrschaft Gottes alles auf-
geben kann. Mt hat daher im Guten wie im Bösen größere Amplituden. Das gilt auch emotional: Der Freude beim Aufgeben aller Dinge steht die Ungeduld wegen des Ertragens des Bösen gegenüber.
Mt 13,1-23: Gleichnis vom Sämann Wie auch die Parallele in Mk 4, 1-20 ist das Gleichnis von den verschiedenen Samenkörnern ein Gleichnis über das Hören und Wirken von Gleichnissen selbst. Solche Gleichnisse gibt es auch bei Rabbinen und in anderen Religionen öfter (vgl. K. Berger, Gleichnisse des Lebens aus den Religionen der Welt, 2002, 245-266). Denn Gleichnisse wirken nicht so einfach wie ein Imperativ oder ein Verbotsschild. Sie bedürfen eines Zusammenspiels von Gleichniserzähler und Empfänger. Weil es also bei Gleichnissen immer auf die Hörer ankommt, fächert Mt 13 nun die unterschiedlichen Qualitäten der verschiedensten Hörer auf und schildert sie analog zu den Eigenschaften des Ackerbodens und zu den verschiedenen Bedrohungen, die darüber hinaus für das Geschick der Samen bestehen. Die Mahnung, die am Ende für den Leser bleibt: Sei ein guter Ackerboden für die Botschaft, die ergeht! – Möglicher Einwand: Ob ich ein guter Ackerboden bin oder Fels oder trockener Weg, das hängt am allerwenigsten von mir ab. Nein, Mk kennt z. B. das Gleichnis von der »selbstwachsenden Saat« (Mk 4,26-29). Neben den Aktivitäten des Sämanns und des Erntenden gilt für die Zwischenzeit, also für das Jetzt, ausschließlich die des Ackerbodens. Denn während der ganzen Zeit kümmert sich der Sämann nicht um seinen Acker. Daher muss der Boden »von sich aus« den Halm und die Frucht hervorbringen. In der Zeit also, in der der Ackermann passiv ist, ist der Ackerboden zur Aktivität provoziert und umgekehrt. In beiden Gleichnissen geht es daher um die zwischenzeitlich wirksame Qualität oder Aktivität des Ackerbodens. Und ähnlich wie bei den Gleichnissen von Disteln, Weinstöcken, guten und schlechten Bäumen, kommt alles darauf an, auf welcher Seite man steht. Das ist nur scheinbar nicht machbar, in Wirklichkeit handelt es sich um eine allem vorausliegende fundamentale Entscheidung. Für diese Entscheidung wirbt Jesus
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74 hier. Ihre Folgen illustriert er an den mannigfachen Früchten. Dabei ist, wie schon in prophetischen Bildern, die Aussaat Zeichen der Verkündigung, die Ernte ist das Gericht. Zwischen Gleichnis und Auslegung steht 13,917: Aussagen, die insgesamt unfreundlich klingen. Die Jünger haben exklusive Erkenntnis, die anderen aber nicht. Und der Grundsatz »Wer hat, dem wird gegeben«, hier bezogen auf die Erkenntnis der Jünger, ist im Wortsinn kapitalistisch, in der Anwendung feindlich gegen NichtJünger. Das Zitat Jes 6,9f meint Verstockung, und zwar in dem Sinn, dass dank der Gleichnisse nun die Außenstehenden gar nichts mehr verstehen. Sie können sich dank der Gleichnisse nicht bekehren, und Gott wird sie nicht heilen. Eben diese Stumpfheit soll durch die Gleichnisse befördert, ja bewirkt werden. Der Schluss, die Seligpreisung der Jünger in 13,16, grenzt diese wiederum von Außenstehenden ab, hier sogar von Propheten und Gerechten des Alten Bundes. Ist also 13,9-17 sekundärer Einschub einer Gemeinde voller Ressentiments, die sich von Außenstehenden abgrenzt und die Jesu Weltoffenheit, die sich gerade in seinen Gleichnissen äußere, verraten hat? Das entspräche einem Jesus-Klischee des 19. Jh. Doch Jesus sieht die Gleichnisse nicht als einladende didaktische Einführung für jedermann an, sondern als Instrument der Scheidung, als Mittel der Absicherung gegen das Begreifenwollen Unbefugter. Unbefugt sind alle diejenigen, die nicht in der verbindlichen Jüngerschaft der Nachfolge mit Jesus verbunden sind. Jüngerschaft bedeutet, wie aus Mt 10,37-39 zu lernen war, Trennung von der Familie und Sich-Einlassen auf den Weg des Kreuzes, d. h. der extremen Erniedrigung und Ehrlosigkeit. Den Hilfsbedürftigen, auch wenn sie Nichtjuden waren, wendet sich Jesus liebevoll zu. Das macht die Menschenfreundlichkeit der Botschaft aus. Aber wegen der unauflösbaren Einheit von Lebensstil und Botschaft konnte Jesus Halbherzige nicht unter seinen Jüngern dulden. Ein »tragischer Fall« ist darunter der reiche Jüngling, den Jesus »mag«, den aber die Liebe zum Reichtum stärker fesselt als die Jüngerschaft. Das heißt: Keine Chance zum Verstehen der Gleichnisse – und damit der Botschaft Jesu überhaupt – haben alle, die nicht radikal mit Jesus
Das Evangelium nach Matthäus
leben. Im Gleichnisgeheimnis der Evangelien liegt damit zum ersten Male eine Theorie der existenziellen Erkenntnis vor: Man versteht nur unter der Bedingung eines Lebensstils.
Mt 13,24-30: Gleichnis vom Unkraut im Acker Keines der übrigen neutestamentlichen Pflanzengleichnisse kennt die Dimension des Bösen schon im Gleichnis selbst und nicht erst in der Auslegung. Sonst ist Fruchtbringen alles. – Bei Mt – und nur bei ihm – steht dem guten Sämann (Jesus, Wortverkündiger; 13,3-23.24) der böse Sämann gegenüber, der Feind, der nach 13,25 Böses sät: Unkraut unter den Weizen. Dieses Gleichnis handelt vom Bösen in der Gemeinde/Kirche. Die Sklaven des Hausherrn (V. 27) erinnern an Johannes und Jakobus, die nach Lk 9 einfach mit Blitz und Donner zuschlagen möchten. Sollte es nicht wenigstens Gott selbst tun? Aber Jesus verwehrt den Jüngern den Befreiungsschlag. Im Gleichnis vom Unkraut verbietet er – durchaus gegen die gärtnerische Logik –, das Unkraut auszureißen. Und in Lk 9,56 sagt er den Jüngern, die direkt durchgreifen wollen: Nein, tut das nicht, der Menschensohn ist nicht gekommen zu richten, sondern das Verlorene zu retten. Widerspricht dieser Sanftmut nicht Mt 16,18 und 18,18, wo Petrus oder die Gemeinde selbst ein Ausschluss- und Einlassrecht haben, und zwar für Gemeinde und Himmelreich? Doch zu unserem Gleichnis besteht keine Spannung. Mt 18,15-23 lässt das ganz deutlich werden. Denn es ist die Aufgabe der Christen, sieben mal siebzigmal zu vergeben, das heißt immer. Nur dann, wenn jemand der Gemeinde förmlich »auf der Nase herumtanzt« und sie damit blamiert und zerstört (Mt 18,15-18), dann ist sie vor ihm zu schützen. Denn gemeindezerstörende Sünden sind unvergebbar (auch bei Paulus: 1 Kor 3,17). Gemeinde/Kirche ist zerbrechlich, und daher ist hier ein Eingreifen notwendig, bevor ein Einzelner alles in einen Scherbenhaufen verwandelt. Ein Widerspruch zu Mt 13,24-30 besteht hier auch deshalb nicht, weil es in Mt 13 erkennbar um allgemeine moralische Bosheit geht, in Mt 18 dagegen um eine spezielle Form der Gemeindezerstörung. Dass auch Paulus sehr deutlich
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Kapitel 13
diesen Unterschied macht, bestätigt vielleicht unsere Deutung des Mt. Die Lösung des Problems von Unmoral in der Gemeinde sieht nun nicht selber wieder moralisch aus. Und ganz am Text vorbei geht die Auskunft, es solle nur die Gemeinde ermahnt werden, selber Weizen und nicht Unkraut zu sein. Das wäre nur moralisch. Aber darum geht es gar nicht. Thema ist hier nicht die zu überwindende eigene Bosheit, sondern das ärgerliche Zusammenleben mit Menschen, die man mit Grund für böse halten kann. Und hier heißt die Lösung auch nicht: Bekehrt sie, versucht, sie zu besseren Menschen zu machen. Jesus sagt vielmehr: Ertragt sie um Gottes Willen. Das Geheimnis der Bosheit, also verdeckt wirkende Bosheit in der Kirche, wird nicht durch Appelle zur Besserung überwunden – weder bei den angesprochenen Jüngern selbst noch bei anderen. Jesus ist hier kein Moralapostel. Moral löst nicht das Problem des Bösen in der Welt. In der Aufforderung Jesu an die Jünger, das Böse einfach zu ertragen und das Gericht dann den Engeln Gottes zu überlassen, predigt Jesus auch nicht billige Vertröstung oder Resignation, sondern er zielt auf ein christologisches Geheimnis. Denn nach dem MtEv ist Jesus der sanftmütig und geduldig Leidende. Er verzichtet darauf, seiner Passion durch Herbeirufen von zwölf Legionen Engeln ein schnelles triumphales Ende zu setzen. Durch Mt 13,24-30 werden die Jünger in dieses christologische Leidensgeheimnis einbezogen. Nach der Lösung des MtEv wird die Welt durch Leiden verändert.
Mt 13,31-33: Gleichnis von Senfkorn und Sauerteig Die Gleichnisse zu »Senfkorn« und »Sauerteig« teilen den Kontrast zwischen Anfang und Ende, näherhin zwischen kleinem, unbedeutendem Anfang und überwältigend großem Ende. Dieser Kontrast ist faszinierend und daher tröstend. Über die Zwischenzeit (Begießen, Düngen, Schutz vor Sonne oder umgekehrt die richtige Temperatur zum Wachsen) wird nichts gesagt, vor allem auch nichts über die Verteilung der Aktivitäten zwischen Gott und Mensch. Die Pointe ist daher in beiden Fällen das Wunder des Kon-
75 trastes. Weil Senfkorn und Sauerteig in Gottes Schöpfung vorkommen, ist es nicht verwegen, Ähnliches für Gottes Reich zu erwarten. Denn Schöpfung und Reich Gottes liegen in derselben Hand. Zu Mt 13,33: In der römischen Kaiserzeit wurde zwischen den Lebezeiten Senecas und Plinius d. Älteren Sauerteig in Rom üblich. Dennoch gibt es in antiken Listen über Brotsorten immer wieder auch Zeugnisse für weniger oder gar nicht gesäuerte Brote. Nach Plinius d. Ä. (Naturgeschichte 18,102) benötigt man für 2 ½ Maß Mehl, d. h. etwa für 22 Liter zwei bis drei Pfund Sauerteig. Zu dessen Herstellung: Entweder ließ man am Tag vor dem Backen etwas Teig zurück und ließ ihn sauer werden, oder man verknetete Hirse- oder feine Weizenkleie mit Most und machte daraus kleine Kuchen, die man vor Gebrauch zusammen mit Speltmehl erwärmte, oder man benutzte auf Kohlen gebackene und dann sauer gewordene Gerstenkuchen (Plinius, a. a. O., 102-104; Geopon II 33,3), oder man verwendete Bierhefe. Wenn man den Sauerteig nicht selbst herstellen konnte, bestand auch die Möglichkeit, sich etwas von der Nachbarin zu leihen, ein Anlass zu nachbarschaftlichem Gespräch. Über die Zeit des Durchsäuerns gibt es im Talmud eine Notiz: Die Frauen von Lydda kneteten ihren Teig, gingen hinauf nach Jerusalem (12 km) und waren schon zurück, ehe ihr Teig sauer wurde (vgl. dazu: K. Berger, Manna, Mehl und Sauerteig, 1993, 53-59). – Negatives Bild ist der Sauerteig in 1 Kor 5,6-8, ebenso in Mt 8,15; 16,5 f. Mt 13,33 und Lk 13,20f ist gemeinsam: Drei Sat Mehl sind etwa vierzig Liter. Das ergäbe (mit Wasser und Sauerteig nach dem Backen) fünfzig Kilo Brot – eine ganz außergewöhnliche Menge. Dieselbe Menge findet sich auch in Gen 18,6, wo Sara für die Gottesboten gleichfalls drei Sat Mehl zu Brot verarbeitet. Diese große Menge kann man getrost »extravagant« nennen. Das hat, wie jede Extravaganz, seinen Grund: Dem Gleichniserzählern liegt, da er ja von der ganzen Welt erzählen will, daran, eine riesige Menge vorzuführen. Beabsichtigt ist auch der ungewöhnliche Ausdruck »sie verbarg« (nämlich den Sauerteig im Mehl). Die Wahl des Wortes »verbergen« für Kneten und Vermengen bezieht sich darauf, dass das Gottesreich in der Gegenwart unsichtbar und verbor-
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76 gen ist. Die Pointe ist daher: Das Reich Gottes ist Ergebnis eines Prozesses, der unsichtbar und unerkannt sich bereits jetzt vollzieht. In ThomasEv 96 liegt die Pointe dagegen im Kontrast zwischen Klein und Groß. Zu Mt 13,34f: Auch der Apostel Paulus sagt in 1 Kor 2,7, dass er Gottes Weisheit verkündet, und zwar »im Geheimnis«, eine Weisheit, »die verborgen war und die Gott vor Äonen (also vor der Welt) bestimmt hat, auf dass wir verherrlicht würden«. An der Stelle der »Gleichnisse«, die »verborgen sind« in Mt 13,34f steht bei Paulus die Weisheit »im Geheimnis«. Nun sind Gleichnisse Geheimnisse, da sie die Wahrheit unter Bildern verhüllt halten, ausgelegt und angewandt werden müssen. Insofern meint Paulus tatsächlich dasselbe wie Mt. Und auch das ist richtig: Die Gleichnisse bei Mt sind »Weisheit« (Gottes). Der Unterschied besteht nur in dem paulinischen Zusatz »auf dass wir verherrlicht würden«. Und dies ist typisch paulinisch, weil die Gemeinde in den Blick kommt als die durch Erstempfang ausgezeichneten Adressaten. Fazit: Verkündigt wird etwas, das »verborgen seit Anbeginn« war, als solches verdeckte Rede/Gleichnis oder Geheimnis, inhaltlich Weisheit Gottes, jetzt erstmalig offen ausgerichtet. – Die Nähe zum so genannten Revelationsschema ist mit Händen zu greifen (vgl. zu Röm 16,25f). Was ist das Ziel der Rede von den Geheimnissen, die verborgen waren seit Anbeginn, jetzt aber erst ans Licht kommen? Warum hat bei Mt Gottes Reich, bei Paulus die »Christologie« diese Rolle? Sind das einfach »ewige Wahrheiten«, so wie zweimal zwei vier ist? Oder sind es grundlegende Wahrheiten über Gott und Mensch? Das wohl schon eher! Und der Rückgriff auf die Zeit bei oder vor der Schöpfung hat gewiss kein chronologisches Interesse, sondern soll besagen: Ohne diese Geheimnisse versteht ihr gar nichts. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis aller Dinge. Diese Geheimnisse sind für das Verständnis der Welt und ihrer Geschichte dasselbe wie die Präambel für das Grundgesetz. Da die Welt durch Gottes Weisheit entstand, nach Gottes Konzept und Entwurf, haben die Gleichnisse Anteil an Gottes Schöpfungsweisheit. Dem entspricht einerseits, dass sie Vorgänge aus der Schöpfung auf ihre hintergründige Wahrheit
Das Evangelium nach Matthäus
hin ansprechen, also deren unsichtbare Bedeutung enthüllen. Andererseits entspricht dem, dass Jesus, der Logos und Schöpfungsmittler, diese Zusammenhänge entdeckt, wobei es nicht wichtig ist, ob dem Evangelisten diese christologische Dimension schon klar war.
Mt 13,44-52: Gleichnis vom Schatz im Acker und vom Fischfang Das Gleichnis vom »Schatz im Acker« schildert uns einen Menschen, der in mehrfacher Hinsicht »schräg« zu nennen ist. Zunächst: Raffiniert und unsinnig ist dieser Mann. Raffiniert ist er und auf durchaus anrüchige Weise clever. Denn er findet einen Schatz, sagt aber dem rechtmäßigen und derzeitigen Eigentümer nichts davon. Vielmehr erwirbt er das Grundstück zu marktüblichen Preisen. Er verschweigt die entscheidende Tatsache, dass er mit dem Grundstück auch den Schatz erwirbt. Es ist dieselbe Raffinesse in Gelddingen, die Jesus oft beschreibt und ihn als Muster weltlicher Klugheit in gewisser Weise fasziniert haben muss. Ähnlich ist es, wenn Jesus vom lebenstüchtigen Verwalter (Lk 16) spricht oder von der Notwendigkeit, mit Vermögen phantasievoll zu arbeiten (Mt 25). Überall geht es um eine ganz gerade Linie: hemmungslos auf seinen Vorteil bedacht zu sein. Jesus bewertet das nicht, sondern sagt nur, dass man diese Art von Klugheit jetzt auf den eigentlich wichtigen Bereich, das Gewinnen des ewigen Lebens bei Gott, übertragen sollte. Intelligente (Wirtschafts-)Kriminalität ist etwas, das Jesus rein formal (!) bewundert, weil es von Phantasie und Engagement zeugt. Und die wünscht sich Jesus für die Frage, wie das Leben angesichts Gottes aussehen könnte. Aber auch ziemlich unsinnig ist der Mann, der uns im Gleichnis vom Schatz im Acker begegnet. Er verkauft buchstäblich alles, was er hat. So praktiziert er das, was wir Goldgräbermentalität nennen: alle Zelte abbrechen, um nur das eine zu gewinnen. Doch im Unterschied zu Goldgräbern weiß er wenigstens schon, wo der Schatz zu finden ist. Hier werden wir also nicht vertröstet auf eine ungewisse Zukunft, nein, dieser Mann hat den Schatz schon entdeckt. Ein entscheidender Zug ist: »voll Freude« ging der Mann hin. Wir können uns das gar nicht vor-
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Kapitel 13
stellen. Dass man vor Freude alles verkauft, gibt es sonst nur im Zusammenhang mit abgöttischer Liebe. Da finden wir das öfter, wie schon die Bibel in ihren ersten beiden Kapiteln weiß, dass ein Mann Vater und Mutter verlässt wegen einer Frau, um mit ihr zu leben. Zum frühesten Christentum gehört der freudige Befreiungsschlag, der Abschied von Besitz und Familie. Im dann folgenden Gleichnis von der Perle steht an der Stelle der »Freude« aus dem ersten Gleichnis nun das Attribut »schön«. Von der Schilderung des neuen Jerusalem in Offb 21,21 her wissen wir, dass Perlen der Inbegriff von Schönheit waren. Bemerkenswert ist, wie unbefangen Jesus hier die Begeisterung für Schönheit in die Nähe des Glaubens rückt. Wenn eine Perle ganz schön ist, kann man alles dafür geben.
Zu Mt 13,52: Die Rede vom Schatz ist ebenso weisheitlich wie die in Gleichnissen verborgene Rede nach Mt 13,25, und Paulus spricht ja in 1 Kor 2,7 von der Weisheit im Geheimnis. Ein Schatz liegt eben auch nicht offen auf der Straße, sondern sein Wesen ist verborgene Kostbarkeit. Einen christlichen »Lehrer« kann es nach dem MtEv nicht geben (wegen 23,8). Dennoch überrascht der Titel »Schriftgelehrter«, denn um Geschriebenes geht es wohl alle Mal, also um Tradition (das MtEv, Gesetz und Propheten, alle die Sondergut-Überlieferungen, die der Evangelist verarbeitet). Mt stellt sie sich im Prinzip als schriftlich vor. Also auch Q?
Mt 13,53 – 20,34: Der zweite Durchgang durch das Leben Jesu Zum Aufbau von Mt 13,53 – 20,34: Mit dem Gleichniskapitel (13,1-52) endete die erste Gesamtdarstellung des Ursprungs, der Verkündigung und des Wirkens Jesu. Mit dem doppelten Ausgang des Gleichnisses vom Fischnetz in 13,47-50 endet dieser Aufriss. Dass Matthäus mit Gleichnissen schließt, beweist seine Hochschätzung dieser Art der Verkündigung Jesu. Auch schon Mk 4 hatte ja als »die Lehre« Jesu eine besondere Position, wenn auch nicht in Schlussstellung. Mit 13,53 beginnt der Durchgang von vorne. Alle wesentlichen Elemente einer frühchristlichen Biografie finden sich hier noch einmal: Es beginnt mit den Erfahrungen in der Heimatstadt Nazaret (13,53-58). Die Menschen fragen: »Ist er nicht der Sohn Josefs?« und weisen Jesus ab. Als Nächstes ist, wie gewohnt, das Stichwort »Johannes der Täufer« an der Reihe, eingeleitet durch den aus Lukas bekannten Hinweis (Synchronismos), das alles sei geschehen, als Herodes Vierfürst war (14,1). 14,2 schlägt die Brücke zu Jesus: Er soll der auferweckte Täufer sein. Es folgt der Bericht über den Tod des Täufers (14,3-12). Die Tatsache, dass es sich um den zweiten Durchgang handelt, erklärt vor allem, weshalb Matthäus erst hier über den Täufer ausführlicher berichtet. Es folgen dann Berichte über Zeichen und die relativ große Lehr-Rede in Mt 15,1-20 über rein und
unrein. Auch schon im ersten Durchgang war die Frage von rein und unrein für den Evangelisten besonders wichtig (vgl. zu Mt 8,1-4). Auffällig ist die doppelte Überlieferung einer Speisung (14,13-21: Speisung der 5.000; 15,32-39: Speisung der 4.000). Nur in Kap. 14 folgt auf die Speisung die »obligatorische« Bootsgeschichte, die regelmäßig bei den Speisungsberichten steht (anders in Mk 8,13b-21). Dass der Evangelist innerhalb seines relativ kurzen Aufrisses gleich zweimal von Speisung berichtet, hat zweifellos seinen Grund darin, dass er dieses Zeichen für besonders wichtig hält und deshalb nach der alttestamentlichen Regel des mindestens doppelten Zeugnisses verfährt (Dtn 19,15). Man beachte: In allen Speisungsberichten der synoptischen Evangelien lässt Jesus die Jünger das Brot verteilen. Nur in Joh 6,11 ist das anders, da Jesus selbst die Brote verteilt. Das passt ja dann auch zur Brotrede in Joh 6, wonach Jesus die Gabe Gottes selbst ist. – Wo immer aber die Jünger die Brote verteilen, wirkt Jesus bzw. Gott das Wunder durch sie. Dass es sich dabei um ein Bild für Lehrüberlieferung handelt, wird nirgends so deutlich wie in Mt 14,19 (»… gebrochen gab er den Jüngern die Brote, die Jünger aber den Scharen«). Im Übrigen wird das dann in Mt 16,8-11 dargelegt, wo die Anzahl der übrig gebliebenen Körbe nach Jesu Aufforderung symbolisch ausgelegt werden
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78 muss. Und zur Verdeutlichung der symbolischen Auslegung warnt Jesus auch sogleich vor dem »Sauerteig« der Pharisäer, also vor ihrer falschen Lehre.
Zu jedem Bericht über die Anfänge gehört in einem Evangelium etwas über die Jünger. Die wichtigsten Notizen über Jünger haben wir in den beiden Speisungsberichten. Jesus gibt die Brote den Jüngern, und diese geben sie dem Volk (Mt 14,19; 15,36). Andererseits ist der Bericht über den Seewandel besonders ausgestaltet durch Petri Gehen auf dem Wasser und sein Versinken (14,28-31). Auch bei Lukas wird ja Petrus in einer Bootsgeschichte entsprechend hervorgehoben (Lk 5,1-11). Den Höhepunkt der Offenbarung Jesu bildet die Verbindung aus Petrus-Bekenntnis und Verklärung (16,13 – 17,13). Dass es sich um den Höhepunkt handelt, kann man auch an dem erkennen, was danach kommt: Von Mt 17,14 bis 20,34 liefert der Evangelist Worte und Taten Jesu zu speziellen Problemen der Jünger. Das ist ähnlich wie in Mk 9 f. Demnach gehört fest zum Aufriss der Evangelien eine derartige Jüngerbelehrung (d. h. eine Belehrung über die Probleme der Jünger), nämlich Texte, deren »Sitz im Leben« (Lehren und Taten Jesu) Probleme speziell der Jünger sind hinsichtlich ihrer Lebensführung und ihres Verständnisses als Gemeinschaft. Und die so genannten Abschiedsreden des JohEv sind, von hier aus betrachtet, genauso Jüngerbelehrungen wie Mk 9f und Mt 17,14 – 20,34. – Es wird auch erkennbar, dass die Worte zur Installation des Petrus (nebst Stichwort »Kirche«) in Mt 16,16-18 eine Art Überleitung zu den Jünger-Kapiteln sind. Mit Mt 21,1 beginnt dann etwas wirklich Neues, nämlich die Jerusalemer Zeit Jesu zwischen dem Einzug in Jerusalem und der Erscheinung Jesu vor den Frauen in Mt 28. Die abschließende Erscheinung auf dem Berg in Galiläa weist dann wieder weit über Jerusalem hinaus auf Galiläa und Heidenmission, was beides zusammengehört. Fazit: Mt 13-20 bieten einen zweiten Durchgang mit den Themen Heimatstadt, Johannes der Täufer, zentrale Lehre, Bestätigung durch Zeichen, Jünger-Bericht, Bekenntnis und Selbstoffenbarung sowie mit umfangreicher Jüngerbelehrung. Dieser zweite Durchgang ist weitgehend parallel zum ersten. Nur bietet dieser die Selbst-
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offenbarung Jesu in Kap. 11 und die zentrale Lehre in Kap. 5-7 und 13. Es spricht allerdings vieles dafür, dass Mt 13 ebenfalls als Jüngerbelehrung gesehen werden kann. Dann stünde es wie Mt 17-20 am Schluss des ersten Teils. Der theologische Gewinn ist, dass nun einzelne Abschnitte besonders instruktiv miteinander vergleichbar sind, da sie im parallelen Aufriss gleiche oder ähnliche Funktion haben. So kann Mt 11,25-30 neben Mt 16-17 (Bekenntnis und Verklärung) rücken. Und, um weiter auszuholen, die Stimme Gottes bei der Verklärung in Mt 17,5 steht neben der Stimme Gottes in Joh 12,28b, beides steht kurz vor dem Beginn der Jüngerbelehrungen.
Mt 14,13-21: Erste Speisungsgeschichte Die Speisungsgeschichten der Evangelien gehen alle auf einen Urtypus zurück, der in 2 Kön 4,42-44 vorliegt. Dem Elisa, Schüler des Elia, bringt jemand »20 Brote von Gerste und dazu noch Jungkorn«. Elisa befiehlt: »Gib es den Leuten zu essen!« Doch sein Diener erwidert: »Wie soll ich das hundert Leuten vorsetzen?« Er aber wiederholt: »Gib es den Leuten zu essen, denn so spricht der Herr: ›Essen wird man und noch übrig lassen‹.– Und dann heißt es: »Er setzte es ihnen vor. Sie aßen und ließen noch übrig, wie der Herr gesagt hatte.« Gemeinsamkeiten: Der Prophet ordnet Verteilung einer ganz geringen Menge von Brot an sehr viele Menschen an. Trotz Einwands gehorcht der Diener oder Schüler des Propheten. Am Schluss bleibt sogar noch etwas übrig. – Alle neutestamentlichen Berichte gehen von einer Steigerung im Verhältnis zwischen den Broten und der Anzahl der Menschen aus. In 2 Kön 4 ist das Verhältnis 20:100, bei Matthäus 5:5000. Aus dem Jungkorn der prophetischen Geschichte werden auf dem Weg über Feigenmarmelade (Septuaginta) und »Beikost« (kann auch Fisch bedeuten; Joh 6,5!) hier bei Mt zwei Fische. Entscheidend ist das Verhältnis von Ähnlichkeit und Überbietung. Oft handelt Jesus ähnlich wie Elia oder Elisa, so bei der Jüngerberufung, bei der Totenerweckung der Tochter des Jairus und bei der Speisung. Dass Jesus überhaupt Jün-
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Kapitel 14
ger hat, verbindet ihn vor allem mit Elia. Daher wird auch öfter diskutiert, ob Johannes der Täufer oder er der wiedergekommene Elia sei. Bei der Verklärung wird erkennbar, dass Jesus von der Art des Elia ist. Aber gerade dort wird Elia (wie auch Mose) überboten: Elia ist nicht der Sohn, sondern Prophet. Jedenfalls steht Jesus in diesen Berichten den Autoritäten des Alten Bundes sehr nahe. Nur von ihnen her ist er zu begreifen. Auch die Zeichen des »Sohnes Gottes« sind nur in der Grammatik prophetischer Sendung zu erfassen, wenn auch immer wieder als Superlativ. Wegen der Entsprechung zu 2 Kön 4 sind nun die Speisungsgeschichten Jesu nicht notwendigerweise unhistorisch. Offenbarung ist nicht immer das Brandneue, sondern wiederholt sich mit Steigerungen. Und Wunder dieser Art sind Konfrontation und Begegnung mit der Macht Gottes selbst. Gewiss enthalten Wundergeschichten in zweiter Linie immer auch symbolische Elemente. Speisung steht für Empfangen des Wortes Gottes, Blindenheilung bedeutet Öffnung der Augen des Herzens für die Wirklichkeit Jesu, Aufrichtung Kranker steht für den Beginn neuen, ewigen Lebens. Aber diese zweite Ebene setzt immer die erste Ebene, das reale Zeichen voraus. In gewisser Hinsicht ist jedes Tun Jesu Zeichenhandlung, Andeutung eines umfassenden, größeren Geschehens. Aber es sind keine leeren Zeichen, weil das biblisch-jüdische Denken keine leeren, leiblosen und rein didaktisch-abstrakten Zeichen kennt; denn es gibt keine Trennung von Leib und Seele, keine legitime Trennung von leibhaftiger Speisung und dem Annehmen des Wortes Gottes im intensiven Hören. Die Entleerung der Realität zugunsten der alleinigen Wirklichkeit des Geistigen ist erst neuzeitlich. Aber wer Wunder nur moralisch und sozialethisch einschätzt, wird auch Kirche nur nach denselben Maßstäben beurteilen können.
Mt 14,22-33: Gang auf dem Meer Petrus versucht, auf dem Meer zu gehen. Liberale Kommentare sehen hier die nachösterliche Gemeinde am Werk. Das bewegte Wasser bedeute den Bereich des Todes und Petrus sei ein Exempel dafür, dass Kleinglaube die Weise des Unglau-
79 bens bei Jüngern ist. Die Mehrheit der Kommentare votiert für eine nachösterliche symbolische Gemeindebildung. »Herr, errette mich!«, das sollte jeder Christ rufen. Aber das Problem der Textentstehung liegt tiefer. Keiner der Berichte, wonach Jesus über das Meer geht (Mk 6,47-50; Mt 14,25f; Joh 6,19-22), ist nach Ostern platziert. Mit einem normalen Leib kann man nicht übers Meer gehen. Es sei denn, einer habe einen besonders starken Glauben (der Kraft ist), oder einen Leib, der vom Heiligen Geist her stammt (wie Jesus). Und es gibt auch bei der Verklärung eine entsprechende Erfahrung mit Jesu Leib auf dem Berg. Kein normaler Leib wird verklärt und leuchtet heller, als ein Walker einen Stoff entfärben kann. Vielleicht ist also das, was wir vom Leib des Auferstandenen nach Ostern wissen, dass er durch Türen gehen und mit einem Mal verschwinden konnte, auch schon vor Ostern ähnlich gegeben. Hat Jesus die Wunder nicht mit seinem Leib gewirkt? Daher genügt es, wenn die Blutflüssige ihn von hinten an seinem Gewand berührt. Offensichtlich handelt es sich bei der Verklärung wie auch bei Jesu Gehen auf dem Meer um das, was man mystische Erfahrung nennen kann. Keine Geschichte berichtet übrigens, dass Jesus dergleichen allein und in der Einsamkeit zuteil geworden sei. Sondern es geht immer um Offenbarungen an die Jünger. Und dieses an Orten wie Meer und Berg, die typische »Offenbarungsorte« sind. Diese Gegenwart Gottes in Jesus, die beim Gehen auf dem Meer hervorbricht, ist der Schlüssel des Geschehens, aber keineswegs Selbstzweck. Unser Bericht erzählt keine Zirkusnummer. Es handelt sich um Epiphanien. Etwas, das Menschen hilfreich umfängt, ist nicht fern, sondern ganz nah, gegenwärtig und schon fast wieder vorübergegangen, physisch spürbar und doch nicht festzuhalten, vielmehr freie, momenthafte hilfreiche Zuwendung Gottes (oder seiner Boten). Die Gegenwart Gottes in Jesus macht ihn zum Adressaten unseres Schreiens: »Herr, rette mich!« Der Bericht gehört zu den so genannten Bootsgeschichten (Mk 4,35-41; 5,18; 6,45-52; 8,19.14-21; Mt 14,22-33; 8,23-27; Lk 5,1-11; 8,2225; Joh 6,16-21; Epistula Apostolorum 6). Wo Jünger im Boot sind, bedeutet das stets eine profilierte Aussage über die Adressaten (Nachfolge, Glaube, Christologie, Sündersein, Zugrunde-
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80 gehen der Gemeinde, Rufe um Rettung, Verkündigung des Evangeliums). Insbesondere der Seesturm ist Zeichen für die Bedrängnisse der Gemeinde. Die häufige Kombination mit Speisungsberichten bedeutet stets Aussagen über den Verkündigungsauftrag Jesu an die Jünger (Speisung) und zugleich über den inneren Zustand der Gemeinde (Jünger im Boot), d. h. es wird die Außenperspektive neben die Innenperspektive gestellt. In Joh 21 werden daher typische Aussagen über die Jüngergemeinde gemacht: Jüngerkatalog, Bootsgeschichte, Erkennen des Auferstandenen als des Kyrios, Mengenwunder mit symbolischer Zahl der Fische, Einsetzung des Petrus zum Hirten. – In Epistula Apostolorum 6 sind verbunden: Sturmwind, Angeln der Steuermünze und Speisung. Ähnlich ist es aber auch in Mt 14,27-31 (Petrus geht auf dem Meer): Es dem Herrn nachzutun in der Kombination mit Kleinglaube, ist ein typisches Jüngerproblem. Thema ist die Bewältigung der Angst, insbesondere der Angst vor dem Tod. Jesus selbst kann die Jünger auffordern, mutig zu sein. Denn er selbst ist die Ruhe, der Sturm geht nur vor ihm her (Ps 104). Da Dämonen keinen Leib haben, könnten sie auf dem Wasser erscheinen, ohne einzusinken. So muss sichergestellt werden, dass es Jesus ist und kein Dämon (V. 26). – Der Kleinglaube des Petrus bezieht sich hier – anders als in Mt 16,22f; 26,69-75 nicht auf das Leiden des Herrn, wohl aber auf ein ähnliches Gebiet, auf seine Leibhaftigkeit. Indem Jesus ihn rettet, zeigt er, dass er kein Dämon ist, sondern der lebendige Gott selbst. Die Errettung des Petrus zeigt die praktische Seite der christologischen Frage: Wie kommen Gott und Mensch in der Person Jesu zusammen?
Mt 15,21-28: Jesus und die Kanaanäerin Der Charme dieses Berichts besteht darin, dass Jesus sich von der heidnischen Frau austricksen lässt. Jesus bekräftigt zunächst, er sei nur zu Israel gesandt. Daher hat er auch nie ein heidnisches Haus betreten, und auch hier ist die Heilung der besessenen Tochter eine Fernheilung. Nur durch das kühne Bild von den Krümeln, die die Hunde aufschnappen, während man kein gesegnetes
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Brot an sie verfüttern darf, nur durch dieses Bild kann die Frau Jesus umstimmen. Die pfiffige Argumentation der Frau wertet Jesus als Zeichen ihres Glaubens. Gegen den erkennbaren Willen des Herrn am Herrn selbst festhalten, das ist biblische Frömmigkeit (vgl. Jakobs Kampf mit dem Engel; Röm 15,3b; Lk 18,1-8 [Gebet als Kampf/ Ringen mit Gott]). Zu Mt 15,22b-23a: Schon zur Zeit Jesu deutete man die Feindpsalmen auf Dämonen. So heißt es später in den Exorzismen der Kirche: »Du hast deinen eingeborenen Sohn in diese Welt gesandt, um den brüllenden Löwen zu vernichten. Wende dich eilends uns zu, errette diesen Menschen, den du nach deinem Ebenbild erschaffen hast, aus seinem Unglück, befreie ihn vom Dämon, der sich am Mittag anschleicht. Jage Schrecken ein dem Untier, das deinen Weinberg verwüstet. Gib denen, die an dich glauben, Zuversicht, damit sie mutig gegen den bösen Drachen kämpfen« (Rituale Romanum). Oder so: »Ich beschwöre dich bei dem, der auf dem Rücken des Meeres gehen konnte wie über festes Land, der den Sturm und die Winde bedrohte, dessen Blick die Meeresgründe trockengelegt hat und dessen Drohen die Berge schmelzen lässt: Fürchte dich, fahre aus … Sieh, Gott, der Herrscher kommt. Loderndes Feuer läuft vor ihm her und verzehrt seine Feinde ringsum.«
Mt 16,13-20: Das Petrusbekenntnis Viele Christen wissen nicht mehr, was das bedeutet: »Jesus ist Sohn des lebendigen Gottes«. »Sohn« oder »Kind« bedeutet in der Bibel die größtmögliche Nähe, Verwandtschaft, Ähnlichkeit und die engste Beziehung, die eine Person zur anderen haben kann. Je nach Kontext ist diese allerengste Bindung unterschiedlich gefüllt. So kann nach Lukas 3,38 auch Adam Kind Gottes heißen, und zwar im Unterschied zu den Tieren; nach Lukas 20,36 können es auch die Auferstandenen. Der Inhalt ist daher nicht festgelegt, sondern das Wort bezeichnet je nach Zusammenhang »weitestgehende Ähnlichkeit«. So ist es auch in Mt 16: Im Unterschied zu allen vorher genannten Propheten ist Jesus Gottes Sohn. Genauso ist es bei der Verklärung: In Differenz zu
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Mose und Elia ist Jesus »mein geliebter Sohn«. Bei Sohn Gottes geht es immer um Ähnlichkeit und Intimität der Beziehung, nicht um biologische Zeugung. Und wo immer gesagt wird, wie einer Sohn Gottes wird, ist es der Heilige Geist, der ihn dazu macht. So ist es auch bei Jesus. Und wenn dann auch die Christen »Kinder Gottes« heißen, wobei Jesus der erstgeborene Bruder ist, ist es auch hier Gottes schöpferischer Geist, der sie zu Kindern Gottes gemacht hat (zuerst wohl in Jes 42,1-4; vgl. auch oben zu Mt 12,18-21). Aber wer ist Gott, sodass man sagen könnte: Jesus ist ihm ähnlich, ist sein Sohn? Woher kann man wissen, dass dies wahr ist, wenn doch keiner Gott je gesehen hat? Wenn man sagt: Jesus ist X ähnlich, aber wir kennen X nicht wirklich; wer sagt einem, dass man Recht hat? – Im Wortlaut nach Matthäus weiß Jesus offenbar um diese Verlegenheit. Deshalb sagt er zu Petrus, er verdanke sein Bekenntnis nicht Menschen, sondern allein dem Vater im Himmel. Und das heißt: Dass Jesus wie Gott ist, das ist keine logische Schlussfolgerung. Auf das Petrusbekenntnis hin ist hier nun ganz überraschend von der Kirche die Rede und davon, dass die Pforten (d. h. die Macht) des Totenreichs sie nicht überwältigen werden. Was hat das beides miteinander zu tun – das Bekenntnis zum Gottessohn und eine unüberwindliche Kirche? Der Vater hat den Sohn nicht nur für sich selbst erwählt, sondern weil er menschlich mit Menschen zusammenleben will. So kommt es als Ahnung in der Bundesformel des Alten Testaments zum Ausdruck: »Ich will ihr Vater sein, und sie sollen meine Kinder sein; ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein; ich will unter ihnen wohnen«. Vielleicht hat schon das Judentum den Vers ergänzt (Bar 3,389) – jedenfalls finden wir es in apokryphen jüdischen Schriften: »wohnen in Gestalt eines Menschen«. Weil es nicht nur um Bekehrung geht, sondern um ein Wohnen auf Dauer, um ein Bleiben, deshalb gibt es Kirche. Gerade im MtEv, das ja die Rolle des Zwölferkreises stark betont, wird Kirche so ganz selbstverständlich als erneuertes Israel gedacht. Wenn Petrus die Schlüssel des Himmelreiches (nicht nur der Kirche!) erhält, mit denen er regeln kann, wer dazugehört und wer nicht, dann ist wahrscheinlich und hauptsächlich an die Sündenvergebung gedacht. Sie ist auch anderswo in
81 die Entscheidung der Jünger gestellt (Joh 20,23). – Und dass das Reich des Todes die Kirche nicht besiegen wird, setzt einen Kampf voraus, der wirklich ein Kampf zwischen Tod und Leben ist. Die Kirche ist daher darauf angelegt, dereinst im Reich Gottes aufzugehen (Didache 9). Sie ist der Raum des Lebens, über das der Tod nicht siegen kann, und zwar deshalb, weil sie der Ort des lebendigen Gottes ist, der in seinem Sohn mitten unter den Menschen ist. Zu Mt 16,12-19: Im Unterschied zum MkEv endet der Abschnitt über den Sauerteig nicht mit der vorwurfsvollen Frage: »Versteht ihr noch nicht?«, sondern mit V. 12: »Da verstanden sie …«, und schon vorher hatte Mt keine Verstockungsaussage wie Mk 8,18. Jünger, auf die Jesus seine Kirche bauen will, dürfen nicht unmittelbar vorher als verstockt dargestellt werden. Das Christus-Bekenntnis des Petrus enthält nicht nur die damals allein für Judenchristen verständliche Aussage »Du bist der Christus«, sondern auch das für Heidenchristen verstehbare »… der Sohn des lebendigen Gottes«. Die Diskussion der alternativen Deutungsmöglichkeiten gehören zu einer festen Gattung, die auch in ThomasEv 13 und in den Apokryphen Apostelakten belegt ist (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 292). Im Unterschied zu Mk kommt hier die Möglichkeit »Jeremia« hinzu (vgl. dazu: K. Berger, Die Auferstehung, 1976, 256f). Auf das »Du bist …« von V. 16 (persönliches Bekenntnis) folgt die Antwort als »Du bist«-Anrede Jesu an Petrus (Installation). Schon Chr. Kähler hat beobachtet, dass die jeweils einzige Du-bist-Anrede an einen Menschen in derartigen Schriften jeweils der Auszeichnung des Offenbarungsträgers dient. Petrus ist hier Offenbarungsträger wegen des Vaters im Himmel in 16,17. Gleichzeitig aber gründet sich die Funktion des Petrus auf sein Bekenntnis (V. 16), und so ist es auch in Joh 21 (Bekenntnis als Erkenntnis, V. 7). Das Bekenntnis von Mt 16,16 ist die Basis für die Rolle des Apostels in der Kirche und zugleich auch der Maßstab für die Zugehörigkeit dazu, also auch die Basis für das Binden (draußen lassen) und Lösen (hereinlassen). Eine ähnlich enge Verbindung von Bekenntnis und Kirche kennt 1 Joh.
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82 Dass Jesus von »(s)meiner Kirche« spricht, während es sonst im Neuen Testament immer heißt »Kirche Gottes«, hat seine Entsprechung darin, dass Mt 13,41 vom »Königreich des Menschensohnes« spricht, während es sonst immer »Königreich Gottes« heißt. Die Kirche Jesu Christi und das Königreich des Menschensohnes dürften daher deckungsgleich sein. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Kirche so, wie sie ist, nicht das Reich Gottes ist, sondern bestenfalls darauf zuwächst (vgl. Didache 9: »Sammle deine Kirche … lass sie gelangen in dein Reich«). Die Deckungsgleichheit von Kirche und Reich des Menschensohnes bedeutet auch, dass sie den übrigen Reichen konkurriert. Daher gibt es keine »Kirche im Sozialismus«, sondern eine ausdrückliche Konkurrenz zu jedem irdischen Reich. Das besagt schon der politische Ausdruck »ekklesia«, auf die Kirche angewandt. In hellenistischer Zeit gehören die Volksversammlungen zum Bestandteil der Monarchien. Die Verheißung nach 16,18 (Hadespforten) schmelzen die exorzistischen Aussagen der synoptischen Evangelien neu um. Der Ausdruck »Pforten« steht für das Ganze; ähnlich hieß noch in der Neuzeit der Palast des Sultans die »Hohe Pforte«. »Binden« ist auch eine Metapher der Exorzismen (Mt 12,29), dem Binden entspricht das griech. anathema in Gal 1. Wer bindet, macht handlungs- und bewegungsunfähig und setzt »matt«. Man bindet oder setzt frei: Menschen oder Mächte, deren (Nicht-)Zugehörigkeit zur Gemeinde problematisch ist oder geändert werden soll. Insofern entspricht das Binden dem Ausschluss aus der Gemeinde nach Mt 18,17b, das Lösen der Lossprechung nach der Sündenvergebung von Mt 26,28b. Der Bereich des Bundes (Gemeinde) reicht so weit wie die Vergebung, die die Gemeinde im Blick auf das letzte Mahl Jesu zuspricht. Dabei ist dieses letzte Mahl zumindest der Gründungsakt des Bundes. Dessen Schwelle ist die Vergebung. Ganz ähnlich formelartig gebildet ist Joh 20,23. Das bestätigt die enge Verwandtschaft zwischen dem JohEv und dem MtEv. Die gleichlautende Formel in Mt 18,18 gibt mehr Klarheit. Denn dort geht es im Kontext eindeutig um Ausschluss aus der Gemeinde. »Binden« heißt dann: nicht hineinlassen; lösen heißt dann: den Zugang öffnen. Die
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Gemeinde (Mt 18) bzw. Petrus allein (Mt 16) kann den Zugang zur Gemeinde daher selbstständig regeln. Die Doppelheit von Apostel (Petrus) und Gemeinde, die beide diese Vollmachten haben, findet sich auch in 1 Kor 5 für den Fall des Ausschlusses des Unzuchtssünders aus der Gemeinde. Die Gemeinde im Ganzen (1 Kor 5,4) oder Paulus auch allein (1 Kor 5,3) können dieses definitive Urteil fällen. Warum muss das Urteil definitiv sein? Wird hier nicht menschliches Urteilen unzulässig »überhöht«? Gilt nicht, dass Jesus nicht zum Urteilen, sondern zum Retten gekommen ist? Die merkwürdige Entsprechung zwischen Petrus und Paulus, zwischen der Kirche des Matthäus und Korinth rührt daher, dass die christliche Gemeinde heilig ist und kein Verein wie jeder andere. Bei Vereinen gibt es fließende Grenzen, bei der Gemeinde der Heiligen dagegen nur »heilig« oder »unheilig«. So wie es auch entweder Heiliger Geist oder ein Dämon ist, der einen Menschen erfüllt; ein neutrales Drittes gibt es nicht. Die Gemeinde der Heiligen ist je und je ein Ort der Begegnung mit Gott (vgl. 1 Kor 14,25 und Mt 18,10) und hat darin ein Grundmuster, das der Christologie ähnlich ist (Gott wohnt in oder inmitten von Menschen). Wir haben daher hier nicht über Unbarmherzigkeit zu klagen, sondern entweder ist die Gemeinde der heilige Ort Gottes – oder sie ist ein profaner Verein. Der Vergleich von Mt 16,19 mit Offb 3,7 zeigt, dass sich die Auslegung von Jes 22,22 schon im Hintergrund beider Stellen verselbstständigt hat. Der geheimnisvolle Ausdruck »der schließt und niemand öffnet« und der »öffnet und niemand schließt« gilt in Jes 22,22 schlicht einem Hausverwalter des Königspalastes. Die frühjüdischen Zwischenglieder fehlen. Im Neuen Testament wird dieser Text an beiden Stellen von der Vollmacht über das Himmelshaus verstanden sei es, dass Jesus, sei es dass Petrus sie ausübt. Zur Erklärung von Jes 22: Es handelt sich um eine Geschichte vom judäischen Königshof. Eljakim ben Hilkia wird zum Haus- und Hofmeister eingesetzt. Er tritt damit an die Stelle seines Vorgängers Schebna, von dem noch V. 19 handelt. Die Verse 20-22 sprechen im Zeremonialstil von der Investitur des neuen Haushofmeisters. Das Attribut »mein Sklave« ist häufig den Königen vorbehalten, sagt also Wichtiges über die hohe
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Kapitel 16
Stellung. V. 21 spricht von den neuen Dienstgewändern. Dabei fällt auf, dass die Schärpe (das hebr. Wort stammt aus dem Ägyptischen; die Schärpe wird schräg umgelegt) nie Bestandteil der Kleidung des gewöhnlichen Mannes ist, es handelt sich um ein exklusives Prunkstück. Der kultische Rezitator trägt schon in Ägypten »eine breite Binde schräg über die Brust«, und so ist dieses noch heute Dienstkleidung der Diakone, d. h. die besondere Form, in der die Stola bei Diakonen gelegt ist. Die Schärpe hat einen altorientalischen Ursprung. Nach V. 23 wird der neu Installierte zum sicheren Pflock eingesetzt, was nicht zufällig an das Wort für Petrus erinnert, er sei der Fels, auf den der Herr seine Kirche baut. Was der Pflock für das Zelt, das ist der Fels für das Haus. So wird in Jes 33,20 Jerusalem mit einem Zelt verglichen, »das nicht wandert, dessen Pflöcke in Ewigkeit nicht ausgezogen werden und dessen Stricke nicht reißen«. Die interessanteste Wirkungsgeschichte aber hat Jes 22,22 (»Und ich lege die Schlüssel des Davidshauses auf seine Schulter, und er wird auftun und keiner schließt, und er wird schließen und keiner tut auf«). Im Kontext von Jes 22 handelt diese Anrede von der Schlüsselvollmacht. Das heißt: Der neu Eingesetzte ist zuständig für die Sicherheit des ganzen Palastes wie heute noch ein Wach- und Schließdienst. Dabei geht die Schlüsselgewalt wohl über das wörtliche Verständnis hinaus. Sie »bedeutet Verfügungsgewalt über die Dynastie der Davididen, ihren Besitz und ihre Funktionen überhaupt«. Der Vers wird wörtlich auf Jesus bezogen in Offb 3,7: »Diese Worte sind von dem Heiligen, der wirklich ist wie Gott, der den Schlüssel Davids [zu Himmel und Hölle, zu Leben und Tod] in Händen hat. Wenn er damit aufschließt, so ist es endgültig; wenn er zuschließt, ist es für immer. Ich weiß, wie du gehandelt hast. Daher habe ich für dich eine Tür zum Himmel geöffnet, die niemand mehr schließen kann.« Hier ist freilich die Rolle des Schlüssels Davids schon auf Leben und Tod bezogen. – In den O-Antiphonen der Adventszeit schließlich heißt es in der Vesper am 20. 12.: »O Schlüssel Davids und Szepter des Hauses Israel. Du öffnest, und niemand schließt, du schließt, und niemand öffnet. Komm und führe aus dem Gefängnishaus den Gefesselten heraus, der sitzt in Finsternis und Todesschat-
83 ten.« Hier ist Jesus selbst metaphorisch der Schlüssel Davids. Seine Vollmacht bedeutet die Macht zur Befreiung [des alten Menschen] aus dem Gefängnis. Das Haus ist daher hier nicht der Palast in Jerusalem, sondern es geht um die wunderbare Befreiung aus dem Gefängnis des Todes; die Schlüssel dazu hat in der Tat nur Jesus, der »Erstgeborene aus den Toten« (Offb 1,5). Von wunderbarer Befreiung berichtet z. B. die Apg öfter (Kap. 5,22). – Die Stelle aus Jes 22 war wohl deshalb für christologische Deutung anziehend, weil es sich um die in einem Symbol konzentrierte Macht des ganzen Hauses Davids handelte und weil deren Ausübung definitiven Charakter besaß. So ist es auch bei der Schlüsselgewalt des heiligen Petrus: Seine Akte des Einlassens oder Ausschließens haben definitiven Charakter. Nichts anderes bezeichnet das »wie auf Erden – so im Himmel«. Auch in Mt 16 handelt es sich noch immer um eine Investitur, daher der feierliche Stil. Dass an der Stelle des Pflocks hier der Fels steht, wurde schon bemerkt. So könnte man es kurz fassen: Sage mir, ob du die Gemeinde als heiligen Tempel Gottes ansiehst, dann kann ich dir sagen, was die Schlüssel des Petrus wert sind. Eine aufschlussreiche Verwandtschaft besteht zwischen Mt 16,18; 1 Kor 3,22; Eph 2,20 und Offb 21. Sie lässt erkennen, dass die Anwendung und Eingrenzung einer breiteren, auf Apostel bezogenen Tradition auf Petrus hier singulär ist: 1 Kor 3,9-12: (Haus); Fundament Jesus Christus (gelegt durch den Apostel Paulus), Kirche (ekklesia; 1,2) bzw. Tempel (Gottes) V. 16. »auferbauen«. Eph 2,20f: Fundament Apostel und Propheten; Mitbürger und Hausgenossen, Kirche (ekklesia), Tempel (Haus Gottes), »auferbauen«; Eckstein Jesus Christus. Mt 16,18: Fundament Petrus, Kirche (ekklesia), Christus als Baumeister. Offb 21,14: Zwölf Apostel als Fundamente, himmlisches Jerusalem als zukünftige Stadt. Diese Stadt ist Tempel, daher gibt es in ihr keinen weiteren Tempel (21,22).
Auswertung: Die Kirche ruht auf einem Fundament; (auch das himmlische Jerusalem ist eine derartige Ekklesia). Das Haus, das hier geschildert wird, ist zugleich der Tempel. Das Fundament ist personal gedacht. Regelmäßig sind
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84 hier speziell Apostel genannt – 1 Kor 3,11 bestätigt als Ausnahme eher die Regel. Paulus will die menschlichen Autoritäten ausschalten, daher ist nur hier Jesus Christus allein das Fundament. Mt 16,18 nennt nicht die Zwölf Apostel, sondern singulär nur Petrus. Auch schon in 1 QS 8 wird das hier nachgewiesene Bild bezogen auf die Gemeinde, auch hier das Bild der Fundamente und des Tempels (Allerheiligstes). Im direkten Kontext ist sogar von den 12 Gerechten aus Israel die Rede. Das ganze Modell ist daher im Judentum vorbedacht worden. – Und an einer weiteren Stelle gibt es eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen dem MtEv und nichtsynoptischer Tradition: Mt 16,16f entspricht Gal 1,16: Paulus hat sein Selbstverständnis nach den Vorgaben formuliert, die in der Petrustradition fest verankert sind. Es geht um folgende Elemente: Apostel, Offenbarung Gottes, sie betrifft den Sohn Gottes, diese Offenbarung ist unabhängig von Fleisch und Blut, der Gattung nach liegt eine Berufung vor. Petrus wird direkt in Kontext erwähnt (Gal 1,18).
Mt 16,21-27: Erste Leidensankündigung Ganz normale menschliche Verhaltensweisen werden hier genannt: sich gegen Leiden wehren (besonders wenn es den Freund und Meister Jesus betrifft), sein Leben und damit sich selbst zu »retten« und zu verwirklichen suchen, sich immer mehr Ansehen schaffen, bis einem die Welt zu Füßen liegt. Auf der Gegenseite steht das Leiden, das Ertragen von Kreuz und Schande, das Sich-Aufgeben für Jesus. Das, so sagt Jesus, sind Gottes Gedanken. Und sie stehen in striktem Kontrast zu dem oben geschilderten normalen menschlichen Denken. Dergleichen Normalität ist, gerade weil sie so vernünftig ist, teuflisch. Warum soll das normale Streben nach Gesundheit – im Kontrast zu Leiden, nach Ansehen – im Kontrast zur schändlichen Kreuzesstrafe, nach Gewinnen der Herzen von Menschen – im Kontrast zum Fremdsein unter den Menschen – warum soll das alles teuflisch sein? Auch für Jesus ist dieser Weg sichtlich hart; denn nur deshalb wird Petrus so harsch kritisiert, weil er wie einst der Teufel (vgl. Mt 4,1-11) Jesus mit Dingen versucht, die ganz normal und vernünftig sind.
Das Evangelium nach Matthäus
Ist es wirklich teuflisch, den normalen Wertvorstellungen und »gesunden« Lebensinstinkten zu folgen? Fängt das Christentum nicht an dieser Stelle an, verdreht zu werden? Erst wenn wir diese Frage hier in aller Ernsthaftigkeit stellen, können wir überhaupt begreifen, warum das, was Petrus sagt, auch für Jesus eine Versuchung ist. Leiden, Kreuz und Schande sowie Verzicht auf Selbstverwirklichung und Anerkennung sind Anti-Werte. Sie orientieren sich grundsätzlich an einem tiefgreifenden Kontrast und Konflikt zwischen Gott und Welt. Und nur in diesem Rahmen, nicht an und für sich und unter dem Motto betrachtet »als gäbe es Gott nicht«, sind sie AntiWerte. Also sind Leiden, Schande und Kreuz nicht an sich etwas Großartiges, sondern nur dann, wenn es Gott gibt und weil es ihn gibt. Weil die »Welt« in ihrer Verstiegenheit und Gottferne eben die Gerechten leiden lässt und kreuzigt. Denn nicht das Leiden an sich ist heilig, sondern das Leiden derer, die zu Gott gehören. Nicht Verzicht auf Lebensinstinkte an sich ist gut, sondern das gottlose Ausleben der Vitalität, die keinen Himmel über sich kennt. Im Grunde geht es daher in diesen Versen um ganz grundlegende menschliche Verhaltensweisen wie Streben nach Gesundheit, Ansehen und Selbstverwirklichung – und ihr Verhältnis zum Gottesglauben. Jesus sagt: Alles Streben nach diesen vitalen Bedürfnissen ist grundverdächtig. Denn überall will der Mensch sich selbst, sein eigenes Wohlergehen und seine eigene Macht. Für den, der versucht, sich an Gott zu orientieren, sind seit Jesus alle diese Dinge tief problematisch geworden. Aber hier gilt es, ein verbreitetes Missverständnis abzuwehren: Christentum bedeutet nicht Lust am Leiden, Freude am Nein zum Leben. Mt 16,25 sagt es genau: »Wer sich aber aufgibt für mich, der wird sich finden.« Es ist also durchaus Gottes Wunsch und Ziel, dass Menschen sich finden, dass sie das Leben bewahren. Und Lebensfeindlichkeit wäre das Letzte, was dem Gott der Bibel anstünde. Gott will durchaus das Leben, und zwar in Lust und Fülle. Aber Vitalität ist nicht unschuldig, sondern seit Adam und Eva raffgierig, egozentrisch, kurzatmig. Sie hat keine Zeit, sondern will auf kürzestem Wege nur für sich selbst sorgen. Und sie verfehlt ihr Ziel, weil nur für sich selbst niemand glücklich ist. Nach biblischem Denken, und das
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Kapitel 17
ist der Weg Jesu auch, führt nur der Weg zum Ziel, auf dem man nicht kurzfristig zum vordergründigen Ziel gelangen will, sondern der Weg, auf dem man zunächst den Anti-Wert ansteuert: Was vor Gott gilt, kann nur das Gegenteil sein von dem, was hier Ansehen schafft. Und zweitens ist Weltlichkeit nicht nur ein Attribut der anderen, sondern eben auch des eigenen Egoismus. Es geht darum, den Vitalitätstrieb dem Gebot Gottes zu unterstellen. Gottes Gebot aber heißt nicht raffen, sondern schenken und warten. Gottes Weg besteht darin, dass er lange, eine ganze Weltzeit lang, seine Sonne aufgehen lässt auch über seinen Feinden. Der Weg Jesu hat mit Zeit zu tun. Alles, was kurzfristig erstrebt wird, bleibt auch nur kurzfristig bestehen. Alles nur Geraffte zerfällt rasch in den gierigen Armen. Die Sünde besteht immer darin, dass Menschen keine Zeit haben. – Man hat den Weg Jesu den indirekten genannt. Wer leben will, kommt zum Leben durch Kreuz und Tod hindurch. Wer sich finden will, kommt zu sich, indem er ganz und gar nicht
85 an sich denkt. Wer Ruhm erstrebt, wähle den Weg des Dienens. Dieser indirekte Weg hat deshalb etwas mit Gott zu tun, weil es für den »normalen« Menschen, der ohne Gott auskommen will, keineswegs ausgemacht ist, dass Weggeben und das Kreuz wählen wirklich der bessere Weg ist, zu sich selbst zu kommen. Es könnte ja sein, dass alle diese Aufforderungen zum Sich-Verschenken nur formaler Altruismus sind, ohne Verheißung, ohne Hoffnung, einfach nur masochistisch moralischer Triumph. Nur wenn das Ganze an Gott orientiert ist, nur wenn es einen Gott gibt, dem die Zukunft gehört, der am Ende auch die Gerechtigkeit selbst ist, nur dann ist selbstloses Handeln nebst Verzicht auf Macht und Ruhm nicht letztlich doch sinnlos. Deshalb ist Altruismus (Handeln um des anderen willen als prinzipiell gut) in sich selbst betrachtet sinnlos und gefährlich, weil er den Handelnden definitiv zum Verzicht auf sich selbst auffordert.
Mt 17-22: Auf dem Weg in die Passion Mt 17,1-9: Jesu Verklärung Jesus wird von Mose und Elia abgegrenzt. In der Komposition ist der Text die Mitte des Evangeliums. Er ist eine visionäre Bestätigung des PetrusBekenntnisses von Mt 16, und beim Abstieg vom Berg beginnt Jesus seinen Weg in die Passion. Die Verklärung ist daher Höhepunkt und Wende des bisher erzählten Lebens Jesu. Dazu kommt: Außer bei der Taufe spricht nur hier der himmlische Vater selbst mit der Himmelsstimme, nur hier erscheinen alttestamentliche Propheten»Kollegen« Jesu. Der Gattung nach handelt es sich um eine Verbindung von Vision und Audition. Im Laufe der Zeit hat sich ein besonderes Formschema entwickelt, welches folgende Struktur hat: Bild oder bildhafte Offenbarung – Phase, in der das Unverständnis des menschlichen Empfängers dargestellt wird – Erklärung des Bildes durch eine zusätzliche Wortoffenbarung. Die Vierfachgliederung der Szene entspricht der klassischen Abfolge von Vision (17,2f) und Audition (17,5b-6) sowie nachfolgender Belehrung (17,6-9). – Zwischen Vision und Audition steht –
ebenfalls klassisch und typisch – eine kurze Phase, in der deutlich wird, dass die Jünger das in der Vision Offenbarte nicht verstanden haben, und dass somit eine weitere Aufklärung notwendig ist, die dann in 17,5-9 erfolgt. Diese kurze Phase ist die des Missverstehens (17,4). In der Wort-Offenbarung wird dann tunlichst jeder einzelne Zug erklärt. Der theologische Sinn dieser Doppelung von Vision und Audition ist: Der Mensch, dem die Offenbarung zuteil wird, kann sie von sich aus nicht deuten (17,4). Er bedarf einer zweiten Offenbarung, die für ihn die »Auslegung« garantiert und legitimiert. Wenn solches also bei der Verklärung Jesu geschieht, dann bedarf die Worterklärung des Ganzen deutlich der Absicherung, und zwar hier durch die Tatsache, dass Gott selbst mit eigener Stimme spricht. So wird die theologisch-sachliche Einheit der alt- und der neutestamentlichen Offenbarung eindrucksvoll gezeigt. Es ist derselbe und eine Gott, der hier spricht. Der Gott der Propheten ist der Vater Jesu Christi. Das zeigt schon das Arrangement der beiden Texthälften. Ich gehe davon aus, dass die Verklärung eine
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86 mystische Erfahrung Jesu und seiner Jünger im Leben Jesu ist, die den Sohn als den neuen Offenbarer von den Propheten des Alten Bundes unterscheiden soll. Diese Unterscheidung zwischen den Propheten (Plural) und dem Sohn (Singular) gilt auch für Mk 12,2-5.6 (Gleichnis von den bösen Winzern) und für Gal 4,22-31 (Sklaven/ Kind). Ähnlich ist auch Hebr 3,1-5 gearbeitet (Sohn/Sklave). Man kann daher sagen, dass die Unterscheidung von Kindschaft und Sklavenstand bzw. Sohn versus Propheten zu den frühesten Instrumenten der Unterscheidung von alter und neuer Offenbarung gehört. Diese Unterscheidung ist nicht grundsätzlich feindselig, empfiehlt aber doch prinzipiell die neue Offenbarung. Dass diese Deutung angemessen ist, darauf weist besonders die Rede des Petrus von den drei Hütten. In der deutschen Predigtliteratur und dann auch in der Umgangssprache tut man oft so, als sei der Wunsch, Hütten zu bauen, ein Ausdruck des Wohlgefühls, und zwar im Unterschied zur dann beginnenden Passion. Doch die Antwort des Petrus ist unverständig, und zwar denkt er wohl an eine völlige Gleichberechtigung zwischen Jesus, Mose und Elia. »Zelt«, »Hütte« oder »Haus/Wohnung« ist hier nicht für das Privatleben der drei gedacht, sondern wie einst das Zelt des Mose beim Auszug aus Ägypten als Ort des Empfangs der Offenbarung, der dauerhaften und wiederholten Begegnung mit Gott. Von daher allein gewinnen die Aussagen hier Sinn. So ist also mit der Korrektur durch die Himmelsstimme gemeint: Nur der Sohn, nur Jesus Christus, ist ab jetzt als Mittler zwischen Gott und Mensch geeignet. Und wenn die Himmelsstimme sagt: »Ihn sollt ihr hören!«, dann heißt das: Der Prophet wie Mose, den Gott nach Dtn 18,15 schicken wollte und auf den Israel nach Dtn 18,15 hören soll, dieser ist jetzt gekommen (Josua, der wohl mit Dtn 18,15 gemeint war, heißt in der LXX »Jesus«). »Ihn sollt ihr hören« bedeutet auch: Jesus ist der, der alle Offenbarung der Schrift, des Alten Testaments, legitim auslegt. Die Vision wollte eben nicht drei gleichrangige Lehrer etablieren, sondern Jesus so aufwerten, dass er zwar wie ein Prophet ist, aber doch mehr als ein Prophet, nämlich der »geliebte Sohn«. Matthäus hat sich für diese Geschichte interessiert, weil die Gottessohnschaft Jesu, die darin
Das Evangelium nach Matthäus
zum zweiten Mal (nach 3,17) von Gott direkt erklärt wird (Gesetz der zwei Zeugen!) in deutlichem Kontrast steht zum kommenden Todesgeschick Jesu. Denn der Gottessohn ist derjenige, der auferweckt werden wird (Röm 1,3f). Die Verklärung deutet an, dass der Tod letztlich machtlos sein wird. Zum anderen steht der Text der Verklärung in besonderer Spannung zum Bericht über das letzte Mahl Jesu. Damit fällt unser Blick auf den typologischen, auf Schriftauslegung gewachsenen Aspekt der Verklärungsperikope. Denn die Verklärung enthält zahlreiche Elemente aus dem Alten Testament über Gottes Offenbarung und den Bundesschluss am Sinai. Das ist so zu denken: Der Gang Jesu auf den Berg der Verklärung ist der Offenbarung auf dem Sinai nachgebildet, und die Einsetzung des Bundes beim letzten Mahl Jesu steht zur Einsetzung des Bundes nach Ex 24,8 im Verhältnis der Entsprechung. Beides aber gehört zusammen, da es die entscheidenden Elemente der Sinai-Erzählung sind: der Empfang der Gebote bzw. die Auszeichnung der Lehrautorität des Mose und der Bundesschluss mit dem Volk. Dazu gehören weiter: die Ältesten bzw. Jünger als Zeugen, die Besteigung des Berges der Offenbarung, die wichtige Rolle des Mose, die Verklärung des Antlitzes (Jesus wie Mose; Mt 17,2: es strahlte sein Angesicht wie die Sonne), sodann die Stimme Gottes bzw. die Rede vom Offenbarungszelt (17,4!). Und für den Bund wird ein Zeichen aus Blut bzw. roter Flüssigkeit gesetzt und kommentiert mit: »Das ist mein Bundesblut …« (Ex 24 und 33f). Aus alledem folgt theologisch: Jesu Worte sind die »novellierte Gesetzgebung« des Mose, und Jesu Tod am Kreuz (Blut) ist der novellierte Bundesschluss. Der alte Bund und seine Autoritäten sind nicht vergessen, aber überboten. Das Blut von Böcken und Rindern ist ersetzt durch das Blut des Todes Jesu. Dabei wird das Irdische und Vorläufige nie grundsätzlich abgewertet. Es geht nicht um Dualismus, sondern um Steigerung und Vollendung. Die Gottessohnschaft Jesu bedingt schon vor Ostern eine besondere Qualität seines Leibes, die hier und anderswo in besonderen Ereignissen hervortritt. Bei einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten des Frühjudentums und des frühen Christentums (z. B. Stephanus) werden »Verklä-
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Kapitel 17
rungen« berichtet (Abraham, Daniel, Jeremia, dem jüdischen Hohenpriester Chananja Pinchas). Mose ist dabei zum Prototyp des besonders begnadeten Missionars geworden. Jesus ist in Mt 17 sehr extrem nach Art der Propheten gezeichnet, die »wie Mose verklärt wurden«. Die Himmelsstimme sorgt dann für die Überbietung. Und nur bei Jesus ist ausdrücklich der ganze Leib (Gewand) und nicht nur das Gesicht dem Mose ähnlich. – Das, was Gott mitteilen kann, ist nicht abstrakt formuliert (»Wesen«), sondern ist sein verwandelndes, übersinnliches Licht. Die Christologie der Verklärungsgeschichte ist eine Epiphanie-Theologie in Diensten frühester Deutung Jesu in Differenz zu den Propheten. Mk 9,2-9 ist deshalb ein implizit trinitarischer Text, weil alle Verwandlung von Menschen sich nach den Parallelen stets durch den Heiligen Geist ereignet. Kohärenz: So wie Petrus nach Mt 16,16 Jesus als Sohn Gottes bekannt hat, so wird Jesus jetzt durch die Himmelsstimme in einer dramatischen Szene als Sohn Gottes bestätigt. Damit wird Jesu Wort an Petrus als wahr erwiesen, dass der Vater im Himmel und nicht ein Mensch Petrus dieses offenbart hat (Mt 16,17). Denn bei der Verklärung wird Jesus vom Himmel her als Sohn (des Vaters) angeredet. Matthäus verstärkt dabei die dramatischen Elemente: Nur er berichtet in 17,6f, dass die Jünger voll Furcht und Schrecken auf ihr Angesicht fielen und nur durch Jesu Berührung und Machtwort aufstehen konnten. Diese kleine Szene ist typisch für Theophanieberichte. Denn wenn Gott erscheint, ist es die Stunde der Wahrheit – das gilt für die Wahrheit über Jesus und für die Wahrheit über die Jünger. So wird denn hier die menschliche Schwachheit demonstriert, andererseits aber auch, dass die Jünger nicht in tödlicher Angst verharren, sondern sich als Gottes Gesprächspartner aufrichten sollen (17,7b). Sie dürfen und können nach der Berührung vor Gott stehen. Gerade der Evangelist Matthäus wird in der Folge Ernst mit der Botschaft der Verklärung machen, dass Jesus der einzige Lehrer ist, so etwa Mt 23, 8, und seine Worte sollen die Jünger an die Heidenvölker weitergeben (Mt 28,20). Er ist die maßgebliche Autorität für die Auslegung der ge-
87 samten Schrift, und zwar in Person. Auf sein Wort sollen die Jünger hören, auch wenn es darum geht, was Mose und Propheten gemeint haben. So werden die beiden »Sklaven«/Propheten, Mose und Elia, zu Zeugen für Jesus. Der Sohn ist nicht gegen sie, schafft sie nicht ab, aber er ist die Norm der Auslegung. – Auch an der »Inszenierung« auf dem Berg werden Theophanie-Elemente erkennbar, die eine deutliche Parallele zur Offenbarung auf dem Sinai darstellen: Der hohe Berg (Mt 17,1) entspricht Ex 19,2. Der Aufstieg nach sechs Tagen (Mt 17,1) entspricht den drei Tagen Vorbereitung von Ex 19,3. Auch auf dem Sinai spricht Gott (Mt 17,7), und zwar zu Mose (Mt 17,3). Die Wolke ist Zeichen der Gegenwart Gottes (Ex 19,9 zu Mt 17,7). Die Anweisung zur Erfüllung von Gottes Willen Ex 19,5 entspricht Mt 17,5. Die Verklärung Jesu am ganzen Leib (Mt 17,2) überbietet bei weitem die Verklärung des Mose, bei dem nur das Angesicht (die Augen) verklärt waren (Ex 34,29), doch in beiden Berichten ist die Wolke das Zeichen der Gegenwart Gottes (Mt 17,5 und Ex 19,9). – Man kann nun fragen, ob nicht auch der Bundesschluss, der auf die Sinai-Theophanie folgt (Ex 19,5 und besonders Ex 24,8 »Dies ist das Blut des Bundes«) eine Entsprechung in den Evangelien hat. Denn auf die Proklamation der Bundessatzung muss der Bundesschluss folgen. Dieser Bundesschluss erfolgt beim letzten Mahl Jesu im Vorausblick auf das Kreuz, und hier werden die Worte von Ex 24,8 wiederholt und ergänzt, wenn jetzt in Mt 26,28 Jesus sagt: »Dies ist mein Bundesblut, vergossen für viele zum Nachlass der Sünden.« Der Sündennachlass lässt aus dem Bund den Neuen Bund werden (Jer 31,34: »Ich will ihnen ihre Missetat vergeben, und ihrer Sünden will ich nicht mehr gedenken«). So wird in den Evangelien ein großer Bogen geschlagen zwischen Verklärung und Abendmahl. Sie hängen zusammen wie Bundessatzung und Bundesschluss.
Im Unterschied zu Mose überreicht Jesus keine Tafeln, sondern jetzt gelten seine lebendigen Worte – aufgeschrieben im Evangelium. Aber das Evangelium ist ein Lebensbericht, eine Biografie. So ist der Neue Bund viel enger an die Person des Bundesmittlers gebunden, als es der Alte Bund an Mose war. Und deshalb reicht Jesus beim Mahl seinen Leib. – Was bedeutet diese zweifache Typologie? Gott handelt in und durch
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88 Jesus nach dem vertrauten Muster der SinaiTheophanie und des Bundesschlusses. Beide Ereignisse sind der absolute Höhepunkt der Geschichte des Gottesvolkes im Alten Bund. Der Anspruch der Evangelien ist daher keineswegs gering. Denn die Theophanie am Sinai wird noch überboten. Der Bund, der in Jesus geschlossen wird, ist aber dem Alten Bund gegenüber nicht fremd, er ist wie seine Novellierung. Daher vermeidet Matthäus das Wort »neuer« Bund; denn es geht um den einen Bund, der jetzt radikal vertieft wird. Zur Forschung: Man hat überhaupt keinen Sinn für eine mystische christologische Erfahrung vor Ostern, man versteht daher den Bericht nicht und deutet ihn als eine falsch platzierte Ostererzählung. Doch keine Ostererscheinung ist diesem Bericht entfernt ähnlich. Man folgt dabei nur dem Dogma der liberalen Exegese, vor Ostern dürfe es keine christologische Erkenntnis gegeben haben. Die Ostkirche hat dagegen mit der Verklärungsikone zum Ausdruck gebracht, dass hier die Mitte der Evangelien vorliegt.
Es wird der Beitrag künftiger Exegese sein, die mystischen Traditionen der Bibel wiederzuentdecken und sie nicht systematisch beiseite zu schieben. Denn hier geht es nicht um merkwürdige Jüngerphantasien, sondern um den Einbruch der Wirklichkeit Gottes in und an der Person Jesu. Und genau das ist die Mitte der Evangelien.
Mt 17,10-27: Fangfragen an Jesus Der Abschnitt geht über folgende Themen: 1) Johannes der Täufer wird in seinem Leiden zum Typos des Menschensohnes (17,10-13). Elia muss »erst« kommen, vor dem Menschensohn. Aber er muss auch zuerst leiden. Das ist geschehen, und dieser Elia war Johannes der Täufer. Das sagt Matthäus in 17,13 ausdrücklich. – Das Leiden des Elia ist apokalyptischer Topos, vgl. K. Berger, Auferstehung, 47-52. Dieses Martyrium ist hier nicht mit Auferstehung verbunden, wohl aber in Mk 6,14 und Offb 11,11 nach der gewöhnlichen Meinung, dass die beiden Propheten Elia und Henoch sind. 2) Heilung des Mondsüchtigen (17,14-20). Die
Das Evangelium nach Matthäus
Jünger werden darüber belehrt, warum sie diese Heilung nicht vollbringen konnten. 17,20 ist das Zentrum der Belehrung: Die Jünger waren zur Heilung nicht imstande wegen ihres Kleinglauben. Der Unglaube heißt bei Jüngern Kleinglaube (ein typisch matthäisches Wort, vgl. Mt 6,30; 8,26; 14,31; 16,8; 17,20, sonst im NT nur Lk 12,28). Selbst ein ganz geringer Glaube gäbe ihnen die Kraft zu Taten voller Schöpfungsmacht. Aber die Aussagen über die wunderbare Vollmacht ist nicht einfach grotesk, sondern prinzipiell auch kreativ. Und sie ist an interessante Bedingungen geknüpft. Diese Bedingungen sind immer ähnlich. Sie betreffen stets das Einig-Sein, das Einssein. Das betrifft einerseits das Einssein von Mensch und Mensch, andererseits das von Mensch und Gott. Daher sind die Bedingungen, unter denen Worte das bewirken, was sie sagen, folgende: Wenn Menschen sich versöhnen, d. h. Frieden schließen, wenn einer dem anderen vergibt, wenn einer nicht den Zwiespalt des Zweifels zwischen sein Bekenntnis und seine Überzeugung kommen lässt, wenn er also mit sich selbst eins ist, wenn einer an Gott glaubt, d. h. mit Gott eins ist, auch wenn dieser Glaube nur ganz klein ist, nicht größer als ein Senfkorn, wenn einer im Namen Jesu Gott bittet und ganz auf diesen Namen setzt, als unverbrüchlich vertraut auf diesen Namen. Denn alles dieses, Vergeben und Eines-Sinnes-Sein, bedeutet Frieden und Ende aller schrecklichen Spaltung. Mit Wunderkraft ist das deshalb gesegnet, weil jede Einheit, jeder Friede, jegliche Versöhnung Gott selbst abbildet. Wir stoßen damit bei diesen Worten, die zunächst grotesk oder lustig anmuten, auf das Zentrum des neutestamentlichen Gottesbildes. Denn Gott ist nicht nur ein einziger und der eine. Sondern noch mehr: Er will auch alle Kreatur, die lieben, glauben und vergeben kann, in sich einbeziehen. Dadurch wird sie ihm ähnlich. Dadurch erhält sie Anteil an Gottes Schöpfermacht. – Um irgendeine Durchbrechung von Naturgesetzen geht es daher hier nicht, sondern um die volle Souveränität über die Schöpfung. Gewiss, die natürliche Basis ist die Erfahrung, dass Einigkeit stark macht, dass Versöhnung unglaubliche Kräfte hervorbringt. Dass die Menschen alles ertragen können, auch Leid und Tod, wenn sie miteinander und mit Gott versöhnt sind. Aber es geht
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Kapitel 18
nicht nur um Überstehen. Wunder sind tatsächliche partielle Veränderung. – Mt 14 hat ausweislich des Stichwortes »Kleingläubiger« in 14,31 direkte Beziehung zu dieser Tradition: Jesus tadelt den Kleinglauben des Petrus. Hätte er Glauben und nicht Kleinglauben, dann könnte er über die Wogen des Wassers gehen. Vom Kleinglauben aber gilt das Wort vom Senfkorn: Wäre der Glaube nur so groß wie ein Senfkorn, dann wäre das Wunder möglich. Der Zweifel, der Petrus heimgesucht hat, war der Zwiespalt zwischen Glauben und bekennen in ihm selbst; er war nicht mit sich versöhnt, und mit Jesus bzw. Gott schon gar nicht. 3) 17,22f: Weissagung über das Geschick des Menschensohnes, ergänzend zu 1). 4) 17,24-27 Wunderbare Auffindung einer Steuermünze durch Petrus. Die in Frageform gekleidete Argumentation Jesu in 17,25 geht im Ansatz davon aus, dass Königskinder keine Steuern bezahlen müssen, zumindest keine Tempelsteuer. – Wir wissen aus Lk 23,2, dass das Gerücht herrschte, Jesu Jünger hätten keine Steuern zu zahlen (vgl. Röm 13,7). Das ist hier in Mt 17 eine zwar naheliegende, aber nicht wirklich gezogene Konsequenz. Die Auffindung der Steuermünze ist eine »salomonische Lösung«, die hier glücklicherweise der Himmel gibt. Die Jünger müssen zwar nicht zahlen, aber sie können zahlen. Dass die Christen Steuern zahlen sollten, wird hier so wenig bestritten wie in Mk 12,17.
Mt 18: Mahnrede Kompositionskritik: 18,1-14 wird bestimmt durch das Leitwort »die Kleinen«, näherhin durch Synonymität zwischen Kleine/Kinder und die Opposition klein/groß (1-6.10.14). Durch das Stichwort »Ärgernis« sind V. 7 und 8 verbunden.
In dem ganzen Kapitel geht es um Mahnrede an die Gemeinde. Dem verdankt sich auch die Stichwortverbindung in V. 7 und 8 sowie die textimmanente Synonymität Kleines/Schaf in V. 1012. Der Ausdruck »die Kleinen« ist zur programmatischen Gruppenbezeichnung geworden. Vorbereitet wird das durch Mk 9,42 (diese Kleinen); 10,42 (die Großen – unter euch aber soll es nicht
89 so sein). Fortgeschrieben wird es in der koptisch erhaltenen Petrus Apk von Nag Hammadi. Vgl. NHC VII 3 ApkPetr kopt 79f: »(8,5) Er (sc. Hermas) ist der Erstgeborene der Ungerechtigkeit. (6) Dadurch sollen die ›Kleinen‹ gehindert werden, an das wirkliche Licht zu glauben … (7) … außerhalb des Reiches der Kinder des Lichts. (9,3) Das sind Menschen, die ihre Geschwister unterdrücken … (4) Dabei wissen sie offenbar nicht, dass die, die bei der Unterdrückung der Kleinen ohne Widerspruch zugeschaut haben, dieselbe Strafe erleiden wie diejenigen, die es ihnen angetan haben. (5) Andere von denen außerhalb eurer Gruppe werden sich Bischof nennen lassen oder Diakone, als ob Gott ihnen Vollmacht gegeben hätte. (6) Sie erstreben die ersten Plätze … (8) Dagegen gibt es viele, die viele Lebendige verführen werden … (10) Nur eine begrenzte Zeit lang werden sie über die Kleinen herrschen … Und die Kleinen werden dann herrschen über die, die jetzt über sie herrschen.« – Die Kleinen sind daher nicht die Bischöfe und Diakone, auch nicht Leute wie Hermas, die die Möglichkeit einer zweiten Buße einführen wollen. Aus der anti-pharisäischen Kritik von Mt 23 ist hier die Kritik gegen die Hierarchie geworden. Insofern sind die Rollen aus dem MtEv beibehalten, nur die Träger haben sich geändert. Der Text bezeugt, dass man sich auch in der Mitte des 2. Jh. noch mit den Kleinen identifizieren konnte. In der späteren Kirchengeschichte tun das die fratres minores (Minoriten).
Die Selbstbezeichnung »die Kleinen« vereint daher mehrere Traditionen in sich: a) Keiner der Jünger, auch nicht die Führungsschicht, gehört zu den Großen und Mächtigen. b) Wie in der Menschensohn-Theologie gilt die Abfolge von freiwilliger Niedrigkeit und Hoheit (Wer sich erniedrigt, wird erhöht, vgl. Mt 23,12). c) Diese Abfolge ist eschatologisch zu verstehen (jetzt/ dann). d) Sie gilt aber auch verhüllt in der Gegenwart: Wer den Niedrigen (und im Sinne von Mt 25,31 ff ist zu ergänzen: den Kranken, den Hungernden, den Gefangenen etc.) aufnimmt, ihm etwas Gutes tut, der hat es dem Herrn selbst getan. In allen, die ungerechterweise jetzt leiden, begegnet der verhüllte Herr. e) Jesus hat ein einzigartiges Verhältnis zu Kindern. Weil sie sich abhängig wissen, weil sie staunen und selig vor Freude sein können, sind sie Inbegriff seines Menschenbildes. Das ist auch religionsgeschicht-
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90 lich einmalig. f) Jesus selbst sieht die Demut in Verbindung mit seiner Gewaltlosigkeit als wichtiges Merkmal seines messianischen Königtums an (vgl. Mt 5,5.9 mit 11,29). g) Aufgrund pharisäischer Denkvoraussetzungen gibt stets das Kleine und scheinbar Unwichtige den Ausschlag (z. B. das Senfkorn; die scheinbar kleine Gabe der Witwe; der Becher Wasser als kleinste, aber sehr erfolgreiche Gabe). Die eschatologische Umkehrung ist der besondere Beitrag der Botschaft Jesu zur Apokalyptik. Denn bis dahin ist »groß« ein Attribut dessen, was zu Gott gehört. In der Botschaft Jesu wird schon die Zeit vor der Wende in die Heilszeit eingegliedert. Wir beobachteten das schon anhand der Beziehung zwischen Mission und Weltgericht: Die Krisis, vor die Jesus stellt, ist die zur Rettung. So ist es auch mit dem Kleinsein: Nur wer jetzt klein ist, kann groß sein. Kleinsein ist kein Selbstzweck
Mt 18,6-7: Ärgernisse Wie für Paulus, so ist auch für Mt das Ärgernis das denkbar größte Vergehen: wenn einer durch sein Verhalten einen anderen so abschreckt, dass er nicht mehr dazugehören will. Für eine missionarisch wirkende Gemeinde ist dies genau die entgegengesetzte Zielrichtung. Dabei unterscheidet Jesus hier das Ärgernis, das man anderen gibt (18,6f) von dem, das man selbst für sich wird. Dass Ärgernisse kommen »müssen«, ist nicht der boshafte Wille Gottes, sondern eine Notwendigkeit der Geschichte (zu dieser Art von Notwendigkeit vgl. K. Berger, Wer bestimmt unser Leben?, 2001). In diesem Sinne müssen auch Spaltungen sein (1 Kor 11) und muss der Menschensohn in die Hände der Menschen ausgeliefert werden. Das sind keine Heilsnotwendigkeiten, sondern Krankheitssymptome einer zu Ende gehenden Welt.
Mt 18,10: Angesichts-Engel In den beiden älteren Paralleltexten gibt es Engel nur für die Gruppe, nicht für den Einzelnen: vgl. Hen (äth) 100,5 »Und er wird Wächter von den heiligen Engeln über alle Gerechten und Heiligen setzen. Diese werden sie wie einen Augapfel be-
Das Evangelium nach Matthäus
schützen.« – Das ist Auslegung von Ps 91,11: »Denn seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen, dich zu behüten auf all deinen Wegen.« Zur Auslegung von Ps 91 gehört auch das Lied Davids nach LAB 59,4: »(Mich werden meine Brüder nicht schlecht behandeln), weil mich Gott bewacht hat und weil er mich seinen Engeln übergeben wird und seinen Wächtern (Wächterengeln), dass sie mich bewachen.« Hier ist generell von Engeln die Rede, die (Plural!) Menschen behüten und begleiten. Doch das sagt Mt 18,10 gerade nicht! – In Tobit 5,4.22 wird Rafael für Tobit abgestellt. Hier bleibt nur offen, ob jeder Mensch (von Natur aus oder seit der Taufe?) einen Engel hat. Wieder anders hat Petrus nach Apg 12,15 einen Engel als Doppelgänger, denn er sieht aus wie er. – In Mt 18,10 handelt es sich freilich nicht um Begleit-Engel, sondern um Angesichts-Engel, die vor Gott stehen und ihn allein sehen. Eine Brücke zu Mt 18,10 bildet freilich Vita Adae et Evae 33: Als die Engel Adams und Evas zum Beten gegangen sind, nutzt der Teufel die Gelegenheit aus, sie zu verleiten (»Es gab uns Gott der Herr zwei Engel, uns zu bewachen. Es kam die Stunde, da die Engel hinaufstiegen vor das Angesicht Gottes, um anzubeten …«). Aber das zu erklären, ist nun gerade nicht der Sinn von Mt 18,10. Anders in Testamentum Adae 4: Von den Engeln sehen nur Throne, Cherubim und Seraphim Gott, nicht die Schutzengel, die in dieser Hierarchie die untersten sind. Auch das betrifft also nicht Mt 18,10. – Nach Hen (slav) 19,5 schreiben individuelle Engel die Taten vor dem Angesicht des Herrn auf und »verwalten ihr Leben«. Dass diese Engel die Kleinen schützen, steht in Mt 18,10 allerdings auch nicht. Vielleicht geht es nach Mt 18,10 wirklich nur um ein Protokollieren, wenn einer die Kleinen attackiert oder missachtet. Es hilft nicht, mit U. Luz (Kommentar zu 18,10) zu erklären, Mt 18,10 sei »in einem vergangenen Weltbild verwurzelt« und habe das Thema dann sozialethisch entmythisierend entsorgt, indem er erklärt, hier »zeige sich die sachliche Nähe Gottes zu Niedrigen und Verachteten«. Das erklärt nur die »Kleinen«, nicht aber die Engel.
Fazit: Schutzengel gibt es nur als Begleite-Engel. In Mt 18,10 aber sind Angesichts-Engel gemeint. Diese schützen nicht, sondern protokollieren als himmlische Schreiber. Sie zeichnen auch auf, wenn einer die Kleinen missachtet und beleidigt.
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Kapitel 18
Daher soll niemand denken, er bleibe unbemerkt, wenn er »nur« die Kleinen gering achtet. Die Schutzengel-Vorstellung ist daher nicht auf Mt 18,10 zu gründen, sondern auf Ps 91 und Tob 5; für die Individualisierung weist Apg 12,15 den Weg (»himmlischer Doppelgänger«). Zur Komposition: Mt 18 geht an den Stationen des Christwerdens entlang, und zwar anhand der Stichworte Umkehr (V. 3), Gastfreundschaft (V. 5), Ärgernis (V. 6-9). In V. 10-14 bespricht Jesus die Hirtensorge für Gemeindemitglieder, die in die Irre gegangen sind. In V. 15-20 verschärft sich die geschilderte Situation: Wie verfährt man mit einem renitenten Gemeindeglied? In 18,19f wird die geistliche Vollmacht der Gemeinde christologisch begründet. Ab 18,21 wird die Dimension der Vergebung als das entscheidende Merkmal der christlichen Gemeinde dargestellt.
Mt 18,15-20: Vom Zurechtweisen Zur Forschung: Jesus soll diese Worte nicht gesagt haben. Denn es sei von Gemeinde bzw. Kirche die Rede, und daran habe Jesus gar nicht gedacht. Ferner: Der Abschnitt widerspricht dem Gebot von der Vergebung (Mt 18,21f); eines, sagt man, kann nur von Jesus sein. – Ferner sei der Text frühkatholisch, weil hier von einem kasuistisch geregelten juristischen Instanzenzug (erst unter vier Augen, dann mit zwei oder dreien; dann mit der Gemeinde) die Rede sei. Juristische Gedanken dieser Art hätten Jesus völlig fern gelegen. Schließlich ende die Fassung »härter« als die bekannten jüdischen Analogien. Für diese ist nämlich die Vorführung vor die Gemeinde, aber nicht der Ausschluss, die höchste Steigerung der Maßnahmen. Kurzum: Hier werde auf unheilvolle Weise die spätere Praxis der Exkommunikation vorbereitet. Jesu Anliegen der grenzenlosen Liebe werde hier nachhaltig von einer bösartigen, juristisch denkenden Gemeinde verletzt.
Um dem Text gerecht zu werden, muss man zweierlei wissen: erstens dass er – wie schon die sehr nahen jüdischen Analogien aus der Zeit Jesu – der Auslegung des Liebesgebotes (Lev 19,17f) dient, und zweitens, dass hier eine Auslegung
91 der Regel von den zwei bis drei Zeugen (Dtn 19,15) vorliegt; für jeden »Fall« sollen zwei, wenn nicht gar drei Zeugen gehört werden. Zwei Auslegungen werden daher hier im Milieu von schrifttreuen Gruppen praktisch miteinander verknüpft. In Lev 19,17f (Liebesgebot) wird gemahnt, den Bruder nicht zu hassen, sondern »zurechtzuweisen«, und das alles heißt dann: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Beim Liebesgebot geht es also – vielen ist das entfallen! – nicht um universales »Umarmen der Menschheit«, sondern sehr konkret um den Umgang mit den Fehlern des Nächsten. Und das ist schon an der Grundstelle so. Vom »Zurechtweisen« ist nun auch in den Mt 18 sehr nahestehenden Texten aus den Höhlen von Qumran die Rede, und zwar so, dass dieses (zunächst unter vier Augen und dann) »vor Zeugen« geschehen soll (Sektenregel 5,25 – 6,1; Damaskusschrift 9,2-4); dann soll als Nächstes der Sünder nach beiden vor die »Vielen« oder generell wohl vor die Gemeinschaft gebracht werden. Das heißt: Die Regel von Dtn 19 über die zwei bis drei Zeugen wird so ausgelegt, dass das Zurechtweisen eben vor Zeugen stattfinden soll. In allen drei Texten (denen aus Qumran und Mt 18) geht es im Ganzen um zwei bis drei Instanzen: unter vier Augen – vor Zeugen – vor der Gemeinde. Damit wird die Forderung nach zwei bis drei Zeugen erfüllt. Resultat: Dass der Nächste erst zurechtgewiesen und nicht sogleich vor die Gemeinde geschleppt wird, das versteht man im zeitgenössischen Judentum als Liebe. Dadurch werden – das ist hier doch die Hoffnung – Hass und Nachtragen vermieden. So wird erkennbar: Matthäus liefert hier nicht den ersten Beleg für menschenfeindliches Kirchenrecht, sondern Jesus schließt sich einer sehr sozialverträglichen Torah-Auslegung des Judentums an. Auch die Zwölfapostellehre (Didache 15,3) liefert einen Beitrag zu dieser Diskussion: »Stellt einander gegenseitig zur Rede, nicht in Hass, sondern in Frieden.« Und wer nicht reagiert, mit dem soll man nicht sprechen und dem soll man nicht zuhören, bis er umkehrt. – Mit dem Schluss dieser Anweisung ist auch die Schluss-Sanktion bei Matthäus gedeutet: Wenn Jesus sagt, einen, der nicht hört, soll man wie einen Zöllner oder
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92 Heiden behandeln, dann meint er wohl: wie einen, der nicht dazu gehört, auf dessen Umkehr man aber gegebenenfalls wartet. Durch die Nennung von »Heiden« oder »Zöllnern« wird der Text in die Umkehrbotschaft Jesu gestellt. Zur Forschung: Was die Herkunft des Textes von Jesus angeht, so ist nicht allein das Stichwort »Gemeinde«, »Versammlung« oder »Kirche« (wie auch immer man das Stichwort ekklesia hier übersetzt) oft ein Grund, per Zirkelschluss (weil Jesus keine Kirche gewollt habe), ihn Jesus abzusprechen. Jesus war wohl nicht so weltfremd, dass ihm die Tatsache entgangen wäre, dass das Judentum seiner Zeit in viele Grüppchen, »Nachbarschaften«, fromme Verein und Kommunitäten gegliedert war, zu denen auch die Essener (wohl in unterschiedlichen Gestalten) und nicht zuletzt seine eigenen Jünger (!) gehörten.
In Mt 18 liegt daher nicht der Anfang unheilvoller Kasuistik vor, sondern Jesus zitiert eine damals aktuelle, sehr gewissenhafte Regel zur Schonung von »Sündern« in Gemeinschaften. Die Schonung wird durch den gestreckten Weg der Instanzen erreicht wie auch dadurch, dass die Sache nicht von vornherein vor der gesamten Gruppe verhandelt wird. Dass es aber einen Ausschluss überhaupt geben kann, weist darauf, dass nach Jesu Meinung nicht nur der Sünder zu schützen ist (vor allem vor dem verletzenden Stolz der Nicht-Sünder), sondern irgendwann auch die Gemeinschaft vor ihm. Viele Ausleger läsen es gerne anders und möchten Jesus lieber zum Anwalt grenzenloser Liebe auch denen gegenüber machen, die anderen auf der Nase herumtanzen oder die Gemeinschaft (durch Missachtung) zerstören. Das leitende Interesse hinter dieser Auslegung ist moderner Individualismus. Der Einzelne darf grenzenlos für sich fordern, und Jesus soll zum Anwalt dieses Egoismus gemacht werden. Nein, es zeugt von Jesu realistischer Einschätzung der Menschen, dass liebevolle Rücksichtnahme auf Einzelne nicht dazu führen darf, dass deren Unbelehrbartkeit und Starrsinn die Gemeinschaft quälen. Die Gemeinschaft ist verletzlicher als der Einzelne. Dem Einzelnen kann Jesus zumuten, dass der 7 70mal vergibt (18,21f), und das ist überhaupt kein Widerspruch; denn der
Das Evangelium nach Matthäus
Einzelne ist belastbarer als eine Gemeinschaft. Die Gemeinde darf sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen, weil sie sich dann lächerlich macht, weil sie dann nur der Sünde gehorcht. Erstaunlich zu hören: Jesus kennt demnach durchaus Grenzen der liebevollen Rücksichtnahme. Er ist alles andere als ein Prinzipienreiter – das gilt auch bei Gewaltanwendung: Die Vertreibung der Händler aus dem Tempelvorhof (Mt 21,12-13) zeigt, dass Jesus nicht prinzipiell gegen Gewalt ist. So auch hier: Jesus ist nicht gegen Ausschluss aus der Gemeinde. Es gibt eine Grenze, und die ist gegeben, wo die Gemeinde ihr Gesicht verlöre und verspottet würde. Dann könnte sie nicht mehr missionarisch wirken, sondern wäre nur noch mit sich selbst beschäftigt. Eine Kirche muss um des eigenen Bestandes willen auch Nein sagen können, und zwar zum konkreten Verhalten bestimmter Menschen. Wer segnet, muss auch verfluchen dürfen. Wenn wir hier Jesus und Paulus (Gal 1,8: Verflucht, wer ein anderes Evangelium lehrt …) nicht folgen mögen, dann einmal, weil der Ausschluss aus der Kirche oft aus unwichtigen Gründen erfolgte und daher abgenutzt ist. Zum anderen aber scheut man die Ausgrenzung. Nur eine starke, unverbrauchte Autorität könnte ausgrenzen. In klösterlichen Gemeinschaften ist es freilich recht oft nötig, Bewerber nach einer Probezeit abzuweisen. So fällt auf: In kleineren Gemeinschaften wie unter den Jüngern, an die Jesus hier wohl denkt, und in Kommunitäten ist Ausschluss öfter nötig und möglich. – In einer Volkskirche dagegen sollte man Folgendes bedenken: Auch in Mt 18 ist der Ausschluss nicht Selbstzweck (ebenso wenig wie die Entfernung des Sünders nach 1 Kor 5), sondern dem missionarischen Ziel untergeordnet. Sie dient nämlich dazu, dass die Gemeinde, die missionarisch wirken soll, nicht schon im Vorfeld nur mit eigenen Personalproblemen zu kämpfen hat. Wenn diese Klarheit und missionarische Wirkung durch Ausschluss Einzelner aber eher verhindert wird, dann müssen sie eben auf anderem Wege wiederhergestellt oder erreicht werden. Auch für andere Fälle gilt: Die Kirche wirkt nicht missionarisch durch Ausschluss Einzelner, sondern durch Klarheit und völlige Einhelligkeit des Standpunkts der Bischöfe.
Was in Mt 16,17 dem Apostel Petrus zugesprochen wurde, geht hier zumindest auf das Kollegium der Apostel (18,1: die Jünger) über, das frei-
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Kapitel 18
lich dank der Berufung durch Jesus die Kirche/ Gemeinde repräsentiert. Damit bahnt sich im Gegenüber von Mt 16 und Mt 18 klar neutestamentlich an, was man die ellipsoide Struktur der kirchlichen Verfassung nennen kann (dazu: K. Berger, Die Urchristen, 2008). Denn Petrus gehört auch zu den Jüngern von Mt 18,1. – Analog: Die Einzelentscheidung des Apostels Paulus nach 1 Kor 5,3 und die von ihm erwartete Entscheidung der Gemeinde nach 1 Kor 5,4 f. Zu Mt 18,19 f: Entscheidend ist der Name Jesu nach V. 20. Er ist im frühesten Christentum eine Art Grundsakrament (vgl. dazu K. Berger, Die Urchristen, 2008). Zu Mt 18,15-20: Das Wort vom Binden und Lösen, also die Zusicherung, dass Worte des Bindens oder des Lösens aus seinem Munde unverrückbar, in Himmel und Erde, gültig seien, hatte Petrus von Jesus auch nach Mt 16,19 erhalten. Ähnliches sagt der auferstandene Jesus auch zu den Jüngern in Joh 20,23 (Welchen ihr die Sünden vergebt, denen sollen sie vergeben sein. Welchen ihr sie nicht vergebt, denen sollen sie nicht vergeben sein). Vergleicht man mit Mt 18, so heißt »binden« dort: »nicht in die Gemeinde hineinlassen« und »lösen«: »die Türe zur Gemeinde öffnen«. Das ist wie »Still gestanden!« oder »Rührt euch!« Denn der, dem man zuruft »Rühr dich!«, der darf sich bewegen und kommen. Der, dem man zuruft »Still gestanden!«, der ist wie gebannt an seinem Ort und darf sich nicht bewegen. – Aber wie können schlichte Menschenworte dieser Art Bedeutung in Himmel und Erde, also nicht nur hier und jetzt, sondern auch vor Gott und in Ewigkeit erlangen? Schon oft, besonders in der Reformation, hat man bezweifelt, ob Menschenworte angesichts der Leichtigkeit des Irrens bei Menschen hier nicht doch zu hoch eingeschätzt werden. Und: nachprüfen könne das ja auch niemand. Und wie die Geschichte gezeigt hat, haben viele in der bereitwilligen Zusage Jesu die Möglichkeiten zum Missbrauch gewittert und genutzt. War es dann nicht, um es vorsichtig zu sagen, sehr kühn von Jesus, den Jüngern dieses zu verheißen? Konnte er sich die Möglichkeit zum Missbrauch nicht vorstellen? Und wird der Himmel sich wirklich an die Bann- und Lösungsworte von Päpsten und Konzilien halten?
93 Und was die Wirkmacht dieser Worte betrifft: Wo liegt letzten Endes der Unterschied zu Zauberworten? Interessant ist, dass Jesus hier die Bedingung angibt: »Wenn zwei von euch übereinstimmen auf der Erde über jede Sache, nach der immer sie verlangen wollen, wird es ihnen geschehen von meinem Vater, der im Himmel ist. Denn wo zwei oder drei versammelt sind auf meinen Namen hin, dort bin ich in ihr Mitte.« Die Bedingung der bedingungslosen Erfüllung/ Vollstreckung der Jüngerworte ist offenbar deren Einssein, deren Einigkeit. Das ist genauso wie in Mt 18: Wo die Jünger übereinstimmen und versammelt sind, wirken ihre Worte das, was sie bezeichnen. Das gilt vornehmlich vom Binden und Lösen, aber auch »von jeder Sache, die sie verlangen«. Meine These war und ist daher, dass die Realpräsenz in den konsekrierten Elementen darauf beruht, dass unter der Bedingungen der intensiven und extensiven Kircheneinheit das Wort der Jünger wie ein Schöpfungswort wirkt. In Mt 18,18-20 wird das exemplarisch angewandt. – Unter den geschilderten Bedingungen gewinnt auch Mt 18,21-22 neue Leuchtkraft: Denn in der Vergebungsbereitschaft zeigt sich das Gegenteil von Rache und genau die intensive Form von Liebe, die die Voraussetzung für die absolute Gebetserhörung ist. Im Übrigen gibt Mt 18 eine interessante Auslegung des Gebotes der Nächstenliebe. In Lev 19,18 ist damit nicht einfach humanitäre Liebe gemeint, sondern ein bestimmter Umgang mit den Fehlern des Nächsten: wie dich selbst. Das Frühjudentum nimmt diese Bedeutung der Ausgangsstelle auf: »Man soll zurechtweisen, ein jeder seinen Nächsten, in Wahrheit und Demut und huldvoller Liebe untereinander. Keiner soll zum anderen sprechen in Zorn oder Murren oder Halsstarrigkeit oder im Eifer gottlosen Geistes. Und er soll ihn nicht hassen in seinem unbeschnittenen Herzen; sondern am selben Tag soll er ihn zurecht weisen, aber nicht soll er seinetwegen Schuld auf sich laden. Ferner soll niemand gegen seinen Nächsten eine Sache vor die Vielen bringen, wenn es nicht vorher zu einer Zurechtweisung vor Zeugen gekommen ist.« Vgl. CD 13,9f (über den »Aufseher«): »Und er soll Erbarmen mit ihnen haben wie ein Vater mit seinen Söhnen und alle ihre Verstreuten zurückbringen wie ein Hirt seine Herde. Und er soll all ihre fesselnden Bande lösen, damit
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94 kein Bedrückter und Zerschlagener in seiner Gemeinde sei.« Dieselbe Tradition findet sich auch in der Didache (Zwölf-Apostel-Lehre): »Stellt euch aber einander zur Rede nicht im Zorn, sondern in Frieden, wie ihr es im Evangelium habt. Und jeder, der sich gegen den anderen vergeht, mit dem soll niemand reden, und er soll von euch nichts hören, bis er umkehrt.« Bei den Fällen von Missbrauch des Bindens und Lösens, die wir aus der Kirchengeschichte kennen, war daher genau die Bedingung der Liebe und Vergebung oft erkennbar nicht gegeben, die nach dem oben Ausgeführten Voraussetzung für die Kraft der Vollmacht ist. – Dennoch ist ein »existenzialistisches« Verständnis abzuwehren, als sei der Erfolg der Vergebungszusage von Fall zu Fall abhängig von der Tagestemperatur der Liebe in der Gemeinde. Mt 18,19-20 und auch das Gleichnis vom unbarmherzigen Sklaven versuchen bereits, hier gewisse Maßstäbe einzuführen. Überall dort, wo der Mangel an Vergebungsbereitschaft »schreiend« und auch für Außenstehende erkennbar (gewesen) ist, sind daher Zweifel an der Wirksamkeit des Bindens und Lösens angebracht. Die erstaunliche Wirkung der Vollmacht bezieht sich daher nicht auf die Steigerung menschlicher Potenzen, sondern allein auf die göttliche Wirkmacht des Wunders von Liebe und Einssein. Und es besteht kein Zweifel, dass der vornehmliche Ort dieser Macht die Kirche ist. Wenn Binden und Lösen auch »im Himmel« gelten, dann kann kein Zweifel bestehen, dass es bei Binden und Lösen um den Eingang ins Himmelreich geht. Durch dieses Motiv besteht in Mt 16,18 die Brücke zu den Schlüsseln, die der Herr Petrus anvertraut hat. Bestätigt wird diese Deutung durch Offb 3,7: »Diese Worte sind von dem Heiligen, … der den Schlüssel Davids zu Himmel und Hölle, zu Leben und Tod in Händen hält. Wenn er damit aufschließt, so ist es endgültig; wenn er zuschließt, ist es für immer …« Beschrieben wird hier die Vollmacht Jesu, die er in Mt 16 an Petrus, in Mt 18 an die Jünger gibt. – Dass sowohl Petrus wie die Jünger Träger dieser Vollmacht sind, das entspricht der Verfassungsstruktur der ältesten Kirche, wonach der Einzelne (Bischof, Apostel) und das Gremium (der Ältesten) stets parallel einander zugeordnet sind. – Nach allem, was wir von Paulus und aus der Apostelgeschichte wissen, folgte überdies auf
Das Evangelium nach Matthäus
die apostolische Struktur jeweils die presbyteriale Ordnung. Das würde bedeuten: In Mt16 ist die apostolische Struktur in Petrus verankert – mit allen Besonderheiten, die exklusiv für Petrus gelten. Aber Mt 18 berichtet dann von der Übertragung der gleichen Vollmacht auf das Gremium der Jünger, das müsste auch heißen: auf ein Presbyterium, das in der nachapostolischen Zeit die Gemeinde leitet. Dann würde das MtEv sehr genau den Übergang von der Zeit der Apostel in die nachapostolische Zeit schildern, und zwar dargestellt in der literarischen Form der Wiederholung (vgl. 16,18 und 18,18) mit Analogie.
Mt 18,21-35: Der unbarmherzige Knecht Zur Forschung: Es ist schon erstaunlich, mit welcher Chuzpe sich die meisten Ausleger von Mt 18 der Konsequenz des Gleichnisses entziehen: Sie erklären kurzerhand den Vers 34 (»Zornig übergab ihn der Herr den Strafvollziehern, die ihn so lange peinigen sollten, bis er ihm die ganze Schuld zurückgegeben hätte«) für sekundär. Manche lassen die Erzählung gar schon mit V. 31 oder 33 enden.
Das Anstößige ist aber nun in der Tat, dass der Herr nach V. 27 von Erbarmen ergriffen wird, dass sich aber laut V. 34 dieses Erbarmen in Zorn wandelt. Denn der Sklave hatte, obwohl ihm selbst vergeben worden war, seinem Mitsklaven die Vergebung versagt. Er hatte also das, was er selbst empfangen hatte, nicht weitergegeben. Wer nun mit Vers 34 die Rede von Gottes Zorn auslässt, der stellt das unbarmherzige Tun des Sklaven als folgenlos dar. Er sollte zwar auch seinerseits vergeben, aber er muss nicht, es geschieht ihm nichts, wenn er es nicht tut. So hätte man es gerne. Die Gerichtsaussage von V. 34 ist tatsächlich erbarmungslos. Sollte Gott zunächst so barmherzig, dann aber so grausam sein können? – Durch die Motive von Zorn und Gericht wird hier jedenfalls das hervorgehoben, was Gott überhaupt nicht will und was seiner Absicht ganz entgegensteht. Um das verstehen zu können, muss man zwei Dinge beachten: die Rolle der Vergebung im MtEv und wie wichtig es für Jesus ist, dass sich das Handeln Gottes und seiner Kinder ganz ähnlich ist.
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Kapitel 19
Jesu Kelchwort hat bei der Feier des letzten Mahles nach Matthäus (26,28b) den Zusatz »zur Vergebung der Sünden«. Dafür fehlt dieser Zusatz im MtEv bei der Johannestaufe. Beim Vaterunser wird die Vergebungsbitte nach Abschluss des Gebetes (6,12.14f) besonders kommentiert, und das halbe Kapitel 18 ist ein Traktat über Vergebung. Da Christen Vergebung von Gott empfangen haben, müssen sie sie weitergeben, um Gott ähnlich zu sein. Diese Entsprechung zu Gottes Handeln wird schon in der Bergpredigt betont: Die Jünger sollen die Feinde lieben, wie Gott es tut. Dann sind sie seine Kinder (Mt 5,44 f.48). – Vergebung ist deshalb so wichtig, weil sie Menschen untereinander versöhnt, wie auch Gott dem Menschen Versöhnung anbietet. Und Versöhnung mit Gott und unter Menschen ist das, was Jesus überhaupt anzubieten hat. Wer deren Ausbreitung blockiert – und das kann nur in praktischer Weitergabe bestehen –, der verhindert die Verbreitung der Herrschaft Gottes an der entscheidenden Stelle. Christen sind nicht zu Blockierern der Herrschaft Gottes berufen. Mt 18 schildert, dass und wie Vergebung anfänglich geschenkt wurde, das Vaterunser nebst Kommentar (Mt 6,12.14f) zeigen, wie dann im weiteren Leben das menschliche Vergeben Bedingung für Gottes Vergeben ist. Weil Gott nachhaltig vergeben kann, ist die neue, messianische Zeit angebrochen. Schon von Elia hieß es (Sir 48,10), er komme am Ende wieder, um die Herzen der Kinder mit denen der Eltern zu versöhnen, und um Gottes Zorn zu besänftigen. Jesus gründet beim Kelchwort seine Gemeinde als die Trägerin der Vergebung (26,28). In Mt 18 wird deutlich, was das heißt: Die Gemeinde hat die Vollmacht, gültig über ihre Grenzen zu bestimmen. Die Gemeinde selbst ist in der Welt eine Exklave des Friedens. Weil das Mahl mit Jesus Stiftung des Bundes ist, haben die Jünger als Träger des Bundes die Vollmacht, Versöhnung zuzusprechen (Mt 18,18). Denn nur wer vergeben hat und wem vergeben wurde, der findet mit seinen Gebeten Gehör; deshalb steht Mt 6,12.14f im Vaterunser. Vergebung räumt die Altlasten »aus dem Weg«. Denn Jesus wollte als Messias den Frieden bringen zwischen Gott und Mensch und in der Folge zwischen Mensch und Mensch. Für die Szene des Anweges zum Altar wird das in der Bergpredigt anschaulich geschildert (Mt 5,23-24).
95 Praktisch bedeutet Vergebung übrigens den Verzicht auf Gegenwehr. Damit liegt hier auch der Schlüssel für die Konzeption der Gewaltlosigkeit im MtEv. Denn wer das Zugefügte vergibt, wird es nicht mit Gewalt rächen wollen. Zur Forschung: Wenn Ausleger die Passage über den Zorn Gottes tilgen wollen, dann spricht daraus nur neuzeitlicher Individualismus: Hauptsache Gott vergibt mir. Das ist dann eine Art Lebensversicherung, denn man meint ja zu wissen: Gott ist die Liebe, und der Zorn gehört zum Alten Testament. Das aber ist nichts weiter als eine ideologische Verkitschung des Gottesbildes. Denn nicht meine Versöhnung mit Gott ist die Hauptsache, sondern Gottes Herrschaft und Reich. Und diese werden realisiert, indem man Versöhnung weitergibt.
Beim letzten Mahl hat Jesus im Blick auf seinen Tod die Kirche als Bund (zwischen Gott und Mensch und der Christen untereinander) gestiftet. Dieser Bund schafft so etwas wie einen heilvollen Raum, einen Asylbereich. Wer, bildlich gesprochen, die Waffen am Eingang zu diesem Bereich abgibt, der gehört dazu.
Mt 19,1-12: Ehe – Ehescheidung – Ehelosigkeit Das Gespräch Jesu mit seinen Jüngern über die Ehescheidung verläuft sehr viel strenger als das in Mk 10,1-11. Das hat zwei Gründe: Mt lässt das Gespräch zulaufen auf die Feststellung der Jünger (!), es sei nicht gut zu heiraten, und Jesus bekräftigt diese Feststellung durch Hinweis auf das Charisma der Ehelosigkeit, was bei Mt freilich nicht so strahlend formuliert ist (Eunuchen um des Himmelsreiches willen). Zum anderen reiht Mt die Ehescheidung unter die Gefahren der Verunreinigung ein, die seinem Bild von der Überbietung der Pharisäer durch die Christen besonders entgegen sind. Schon in den Antithesen der Bergpredigt hatte Mt die Wiederheirat nach Scheidung unter die verschärften Reinheitsregeln aufgrund von Mord, Ehebruch und Beschmutzen des heiligen Namens Gottes durch Eid eingereiht. Denn jede Frau, die schon mit einem anderen Mann zu tun gehabt hat, ist unrein für jeden neuen Mann.
Berger (08129) / p. 96 / 19.5.2020
96 Zu Mt 19,9: Die übliche Deutung ist: Ein Ehebruch des Ehepartners löst die Ehe auf, so dass der/die Betrogene frei ist, jemand anderen zu heiraten. Sollte aber der Ehebruch wirklich das Eheband lösen? Wären dann im Falle einer Versöhnung die Ehepartner unverheiratet? Zudem: In keinem anderen Jesuswort kommt eine vergleichbare »Einschränkung« vor, wieso ausgerechnet bei dem radikalen und strengen Matthäus? Also ist »porneia« hier etwas anderes. 1) Ein Einschub des Evangelisten ist völlig unwahrscheinlich, schon wegen der sprachlich abweichenden Parallele in Mt 5,32. Wir müssen also damit rechnen, dass Jesus so gesagt hat. – 2) Porneia bezeichnet nicht nur Ehebruch oder Prostitution, sondern jede Art von illegitimer Geschlechtsbeziehung, und das schon seit dem 2. Jh. v. Chr. – 3) Man kann das auch im NT selbst nachlesen: Im Aposteldekret (Apg 15,20 etc.) wird porneia verboten im Blick auf Heidentum; gemeint ist in dieser streng judenchristlichen Formulierung die Mischehe mit Heiden, die hier direkt verboten wird. – 4) Im Falle der Mischehe mit Heiden gestattet aber auch Paulus die Auflösung der Ehe: 1 Kor 7,15 f. Das ist das so genannte privilegium paulinum. An dieser Stelle kommt Paulus recht genau mit Jesus überein. Beide meinen: Eine solche Ehe ist auflösbar (theologischer Grund: die Ehe bildet das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk ab!). – 5) Nun dürfte Jesus in Mt 5,32 und 19,9 nicht nur an Mischehen mit Heiden denken, sondern auch an andere Fälle von nicht legitimer Ehe, also auch solche Beziehungen, wie z. B. Augustinus eine hatte. Das ist bis heute kanonistischer Grundsatz: Es kommt darauf an, ob eine Ehe überhaupt (legal oder legitim) besteht. Ein Ehebruch löst nicht das Eheband! Mt 19,9 und 5,32 meint daher mit porneia nicht die Verletzung einer bestehenden gültigen Ehe, sondern die Tatsache einer nicht legalen Verbindung selbst (nicht einen konkreten Vorfall!).
Ehelosigkeit Jesus nennt die geistliche Ehelosigkeit ein Geheimnis, das sich alltäglichem Denken widersetzt. Paulus nennt sie in 1 Kor 7,1.7 ein Charisma, eine unverfügbare Gabe, die als Gabe die staunenden Menschen auf den Himmel hinweisen soll. Eunuch sein ist damals wie heute ein Zeichen der Schande, nicht zuletzt deshalb, weil der
Das Evangelium nach Matthäus
Ehelose allen möglichen Verdächtigungen ausgesetzt ist. Das bedeutet Nähe zur Kreuzestheologie. Denn auch das Kreuz auf sich nehmen ist Schande (Mk 8,34), und in 1 Kor 1 finden wir wieder die grundsätzliche Umwertung alles dessen, was Ehre unter Menschen bedeutet. 1 Kor 1 zeigt auch den Sinn dieser freiwilligen Schande: Es ist der einzige Weg zum Frieden. Alles andere bringt Neid und Streit. Daher ist geistliche Ehelosigkeit kein asketischer Selbstzweck und nicht leibfeindlich, sondern entschlossener Ausdruck des Willens zum Frieden. Schon im 1. Jh. n. Chr. gab es Christen, die um der glaubwürdigen Verkündigung willen das Zeichen der Ehelosigkeit Jesu nachahmten. Wie denn gehorsame Nachfolge immer auch im Nachahmen besteht. Die »Lehre der Zwölf Apostel« nennt solche Leute, die das Geheimnis der Kirche auf Erden darstellen, in 11,11: »Es kann sein, dass ein bewährter und echter Prophet mit einer Frau zusammenlebt, die er nicht berührt, und so das Geheimnis der Kirche auf Erden, Christus und seine Braut, das Gottesvolk, in einer Zeichenhandlung darstellt. … Solche Zeichenhandlungen kennt man auch von den alten Propheten.« Das Geheimnis der Kirche auf Erden besteht darin: Sie ist wie eine Braut, die auf die Wiederkunft des Bräutigams wartet. Da lebt also ein Prophet mit einer Frau zusammen, die er nicht berührt. Das bildet deshalb den Zustand der Kirche auf Erden ab, weil die Hochzeit (mit dem wiederkommenden Bräutigam) noch aussteht.
Mt 19,21: Zwei-Stufen-Moral? Die Frage nach der Zwei-Stufen-Moral, die sich mit diesem Vers verbunden hat, kann vielleicht durch den Blick auf Mt 7,12 und die dort beobachtete doppelte Radikalität leichter beurteilt werden. Denn sicher ist: Es geht um zwei verschiedene Lebensformen, die wandernden und die sesshaften Jünger. Die wandernden Jünger leben insbesondere auch nach Mt 5,38-48 und haben alles aufgegeben (Mt 19,21). Sowohl in 5,48 als auch in 19,21 heißen sie »vollkommene«. Denn in ihrer Lebensform sind sie anschauliche Abbilder Gottes. Aber auch nicht mehr. Denn über ihr Heil und ihre Seligkeit ist damit nichts gesagt. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als
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Kapitel 20
Musterjünger. Sie sind in sich stimmige Zeichen – wie die Priester im Alten Testament nach Auffassung des Pentateuch (Lev 19,2; Lk 6,36).
Mt 19,28: Der thronende Menschensohn Parallel zum Menschensohn sitzen die zwölf Apostel auf ihren Thronen. Die zu 18,15-18 bemerkte ellipsoide Struktur gilt also auch für die Entsprechung Menschensohn/Zwölfergremium. Doch hier mit dem Unterschied, dass das Feld nicht das gleiche ist: Der Menschensohn ist für die Weltreiche zuständig (wie in Offb 2-3 der thronende Menschensohn von Kap. 1), während die Zwölf nur für Israel Richter, also Könige, sein werden. Keineswegs ist das Richten auf ein Verurteilen einzuschränken. Vielmehr ist auch mit »richten« gemeint: zum Recht verhelfen, die Gerechtigkeit bringen bzw. widerfahren lassen, so wie das nach 4 Esr 13 der Menschensohn tut. In diesem Sinne werden Gerechte nach 1 Kor 6,2 »Engel« richten. In der Parallele in Lk 22,29f liegt der Ton eher auf der Weitergabe dessen, was Jesus vom Vater empfangen hat (wie Offb 3,21). Eine beachtenswerte Analogie liefert vielleicht Testamentum Abrahae A 13: Als richterliche Instanzen werden drei genannt: der Menschensohn, die zwölf Stämme und Gott. Der Text ist nicht als christlich beeinflusst anzusehen, im Gegenteil. Der Menschensohn ist hier noch wirklich der Sohn des Menschen, also Adams, nämlich Abel. Als Märtyrer hat er das postmortale Gericht inne. Die zwölf Stämme sind eben nicht die zwölf Apostel, sondern die Menschen werden bei der zweiten Parusie Gottes von den zwölf Stämmen gerichtet. Israel, das sind hier die Gerechten (wie 1 Kor 6,2). Die dritte Gerichtsinstanz ist Gott. – Mit den drei Instanzen ist die Regel der zwei bis drei Zeugen erfüllt (Dtn 19,15).
Mt 20,1-16: Arbeiter im Weinberg Zur Forschung: Die Mehrheit der Ausleger sieht in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg eine Illustration der Gnadenlehre im Sinne des Leistungsverzichtes. Gott orientiert sich nicht an der Leistung, an den Werken des Menschen, sondern rein aus Gnade schenkt er alles zum Leben.
97 Diese Auslegung ist schon deshalb falsch, weil sie unbesehen »paulinische« Lehre über die Rechtfertigung in das erste Evangelium einträgt. Außerdem haben alle Arbeiter, die entlohnt werden, auch gearbeitet. Der Besitzer des Weinbergs hat das Geld nicht ohne Gegenleistung unters Volk geworfen. Auch an diesem Gleichnis haben Ausleger herumgeschnipselt, und es fiel leicht, Vers 16 (»So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein«) zu kappen. Dieser Vers gibt in der Gestalt einer Sentenz eine Art Auswertung des Gleichnisses, mit der man aber große Schwierigkeiten hatte. Denn wenn Erste Letzte sind, ist ja doch eine Rangfolge wiederhergestellt, die der gleiche Lohn gerade beseitigen sollte. – Wir haben deshalb V. 15b-16 so wiedergegeben: »Oder bist du böse, weil ich gut bin? Sei auf der Hut! Denn auf diese Weise können leicht aus den Letzten Erste werden und umgekehrt. Ob einer meine Güte ertragen kann, danach richtet sich in Zukunft, wer Erster und wer Letzter ist. Denn der Lohn ist für alle gleich.« Das heißt: Die Pointe des Gleichnisses liegt in der Frage, worin jetzt – seitdem Jesus vom Reich Gottes predigt – Unterschiede bestehen und worin nicht mehr. Sie bestehen nicht in einer unterschiedlichen Belohnung. Alle werden in gleicher Weise Gott schauen und leuchten wie die Sonne (Mt 13,43). Das ist die Außenperspektive: Alle sind heilig und herrlich. – Aber die Herrschaft Gottes hat auch eine Binnenperspektive. Und die hängt nicht ab von dem, was Gott gibt, sondern von der Reaktion der Menschen. Und da erlebt man erstaunliche und unerfreuliche Dinge. Es gibt nämlich Jünger, die schon länger dabei sind und »altgedient«. Sie sind so etwas wie »Platzhirsche«. Sie wollen nicht, dass die später Hinzugekommenen gleiche Rechte und gleichen Rang haben sollen. Ihnen wird damit die Gleichheit innerhalb des Bereichs der Herrschaft Gottes zum Problem. Sie stolpern über etwas, das ihnen eigentlich gut ansteht, dass sie nämlich schon so lange dabei sind. Es ist offenbar sehr schwer, die Gleichstellung mit den erst kürzlich Aufgenommenen zu ertragen. Auch bei Lukas finden wir ein Gleichnis zu diesem Thema, nämlich das von den beiden ungleichen Söhnen; auch nach Lk 15,11-32 beruft sich der ältere Bruder darauf,
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98 dass er immer treu beim Vater gelebt und gearbeitet habe. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg benennt ein Problem, das sowohl innerhalb des Jüngerkreises als auch in der frühen Gemeinde als auch zur Zeit der Abfassung der Evangelien relevant war. Denn Christentum ist eine Bekehrungsreligion, und daher lebt es von neu Hinzugekommenen, die nicht schon immer dabei waren. Bei Jesus könnte es sich um den Protest der Pharisäer gegen Jesu Umgang mit eher zweifelhaften Frommen handeln; wobei vorausgesetzt ist, dass sich Pharisäer mit gewissem Recht als gute Juden betrachten konnten. In der frühen Gemeinde geht es um die Konflikte zwischen Judenchristen und Heidenchristen. Und später eben immer um das Verhältnis der altbewährten Treuen zu denen, die keine eindeutige Tradition und Vergangenheit legitimiert. In jeder Gemeinde haben es »die Neuen« schwer. Für Jesus ist dieses Problem gravierend. Daher redet er nicht nur von »Spannungen«, sondern davon, dass die »Bewährten« ein böses Auge haben, und dass sie damit im Gegensatz zur Güte Gottes stehen. Das Auge aber steht für den ganzen Menschen (Lk 11,34). Wie beim älteren Bruder des verlorenen Sohnes enthält das Gleichnis keine Sanktion, die vom Heil ausschlösse, doch in jedem Falle ernste Mahnungen, die nicht dualistisch auf Heil oder Unheil ausgehen, nach denen in beiden Fällen aber das getadelte Verhalten deutlich in die Nähe des Bösen gerät. Wenn man nur Gottes eigenes Handeln im Auge behält, das keine Unterschiede macht, dann wird man auch selbst aus Neid (oder aus welchem Beweggrund auch immer) ebenfalls zum Unterscheiden zwischen »älteren« und »neueren« Christen gar nicht in der Lage sein. Ähnlich ist es übrigens auch in dieser Hinsicht beim Gleichnis vom verlorenen Sohn: Wer staunen kann über die verzeihende Güte Gottes, über seine Art, die Sünder anzunehmen, der wird kaum zu Ressentiments fähig sein, wie sie der ältere Bruder zeigt. Wie beim Gleichnis vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18,23-35), so ist auch hier die Ähnlichkeit zwischen Gottes Handeln und dem von den Christen erwarteten der Maßstab. In allen drei Gleichnissen (verlorener Sohn, unbarmherziger Sklave, Arbeiter im Weinberg) geht es deutlich um die christliche Binnenperspektive und um
Das Evangelium nach Matthäus
Probleme unter den Jüngern. Diese Beobachtung erlaubt allerdings nicht den Rückschluss, diese Texte seien deswegen zwingend nachösterlich. Richtig ist vielmehr, dass hier eine unter dem Druck von Echtheitsfragen oft verdeckte Weise des Lehrens Jesu zutage tritt: die spezielle Belehrung an den Jüngerkreis im ganzen, also nicht an den einzelnen Jünger, sondern an bestimmte Jüngertypen. Jesus beobachtet sehr scharf die Spannungen im Jüngerkreis und versucht, diese nicht auf einfach moralische Weise zu lösen, sondern spezifisch theologisch, mit dem Blick auf Gottes eigenes Handeln. Hier ist auch auf die sozialethische Implikation dieser Erzählung einzugehen – von einer Pointe in dieser Hinsicht kann ich nicht sprechen. Aber wenn der Besitzer des Weinbergs jedem einen Denar gibt, so ist dieses nach zeitgenössischer Auffassung genau die Summe, die ein Mensch als Minimum zum Lebensunterhalt braucht. Die Wendung »einen Denar für das (tägliche) Brot« ist inschriftlich für einen derartigen Kontext überliefert. Der Herr des Weinbergs sorgt für alle so, dass sie auskommen können. Dieser Zug der Bildebene bedeutet auf der theologischen Sachebene: Gott wird allen gleichen Lohn geben. – Dadurch wird aus dem Gleichnis noch kein Lehrstück christlicher Soziallehre. Denn grundsätzlich ist zwischen Gleichnissen und Beispielerzählungen zu unterscheiden. Beim barmherzigen Samariter liegt Letzteres vor; daher heißt es dort: »Tu desgleichen.« Hier dagegen liegt das Geforderte auf einer anderen Ebene als das Erzählte. Nicht der Denar, sondern die Aufhebung der Unterschiede zwischen Ersten und Letzten bereitet die Pointe vor.
Mt 21,1-11: Einzug in Jerusalem Für das MtEv ist – ganz anders als jedenfalls für Mk – der Einzug Jesu in Jerusalem der Höhepunkt des Evangeliums. Denn von Anfang an betont Mt die königlichen Züge Jesu. Die persischen Magier suchen den neugeborenen König der Juden, dieser hat einen explizit auf David zurückgehenden Stammbaum, als Messias aus Davids Haus wird er in Betlehem geboren, die beiden Blinden nach Mt 12 rufen ihn an mit »Sohn Davids«, weil er als neuer Salomo die Macht der Geister kennt. In dem
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Kapitel 21
Zitat nach 21,5 wird Jesus ausdrücklich »dein König« genannt. In 21,9 wird er begrüßt mit »Hosanna dem Sohn Davids!«, wo Mk nur schreiben kann »Hosanna!«. Die Formulierung in Mk 11,10 »Gesegnet das kommende Reich unseres Vaters David!« klingt angesichts des Befundes bei Mt und Lk (»der kommende König«) doch etwas zu politisch korrekt. Im Zentrum von Mt 21,1-11 steht unübersehbar das Zitat aus Jes 62,11 und Sach 9,9: »Sprecht zur Tochter Sion: Siehe, dein König kommt zu dir. Sanftmütig und reitend auf einem Esel und einem Jungesel, einem Sohn des Lasttiers.« Im Kontext des MtEv ist dies direkte Erfüllung von Mt 5,5 und 11,29. Da Sanftmut erwiesenermaßen zu dieser Zeit eine königliche Tugend ist, sieht Mt 21 in Jesu Einzug in seine Stadt wirklich im Vollsinn des Wortes einen königlichen Rechtsvorgang. Nur bei Mt schließt sich an das Betreten der Stadt sogleich das Eintreten und »Reinigen« des Tempels an. Auch das ist bei Mt ganz konsequent messianisch gedacht. Denn nach PsSal 17 reinigt der Messias Israel. Auch diese Perikope bekommt durch 21,15f einen ganz anderen Schluss. Der Titel »Sohn Davids« fällt erneut. Und dem Kindermund kommt im Zusammenhang von Prodigien-Handlungen ein ganz besonderer Offenbarungscharakter zu (vgl. dazu die Kinderstimme bei der Wahl des heiligen Ambrosius: Ambrosium episcopum!).
Mt 21,28-32: Gleichnis von den ungleichen Söhnen Nach der Botschaft Jesu, wie sie uns Matthäus schildert, liegt alles an den guten Werken der Christen. Wenn sie ausbleiben, nützt das anfängliche Ja-Sagen gar nichts. Es ist also nicht nur der Jakobusbrief, der eindringlich zu Werken auffordert, genauso tut es das erste Evangelium. Für jede Auslegung, die einseitig den Glauben betont, ist dieses ganze Evangelium daher ein Problem, dem man sich in der Regel zu entziehen sucht, indem man es von Paulus her (wie man sich ihn denkt) verstehen möchte. Entsprechend redet Luther hier – obwohl das gar nicht im Text vorkommt – vom Gesetz, das er ablehnt, und von der »Bekehrung«, die er wünscht. Das Problem der Werke umgeht er. Als Pointe des Gleichnisses
99 sieht er an: »Es fahren mehr Christen vom Galgen gen Himmel als vom Kirchhof.« Das heißt: Die Frommen haben es schwerer als die Bösewichter, in den Himmel zu kommen. Das ist hübsch und irreführend, denn am Galgen kann man keine Werke mehr tun. Die Pointe des Gleichnisses von den ungleichen Söhnen ist vielmehr: Ein spätes Ja mit Werken ist tausendmal besser als ein frühes Ja ohne Werke. Die Angeredeten (Pharisäer) haben beides mitangesehen und doch nicht die Konsequenz daraus gezogen. So sind sie viel negativer zu beurteilen als die sonst von ihnen verachteten Zöllner. Ausgerechnet die Dirnen und Steuereinnehmer werden hier als Vorbilder dargestellt. Das ist höchst ärgerlich für jeden frommen Juden. Denn nach der damaligen Einschätzung sind beide, Huren wie Zöllner, auch im wörtlichen Sinne des Wortes »arme Schweine«. Die Steuereinnehmer sind erpressende Erpresste, die Dirnen sind Objekte von Gewalt, Ausbeutung und Willkür. Beides, sagt Jesus, tut man aber nicht ganz unfreiwillig oder zwangsläufig. Man kann diesem Dasein entfliehen. Interessant ist, dass Jesus dieses schon von Johannes dem Täufer und seiner Predigt sagt. Aus Lukas 3,12 wissen wir, dass schon der Täufer sich mit Zöllnern abgegeben hat. Und auch seine strenge Auffassung über Sexualmoral (vgl. Mk 6,18) ließ ihn sich wohl den Dirnen zuwenden. Jesus übernimmt beide Adressatenkreise vom Täufer (dass Jesus sich pauschal »den Dirnen« zugewandt habe, sagt freilich erst Justin). – Wie sehr Jesus den Täufer schätzt, das geht aus zwei Dingen hervor: Er nennt ihn einen, der den »gerechten Weg«, so wie es Gottes Wille ist, verkündete. Und er sieht, dass der ausbleibende Erfolg auch den eigenen Misserfolg deuten hilft. – Einen kämpferischen Jesus zeigt dieses Gleichnis. Denn wer seinen Adressaten sagt: »Zöllner und Dirnen sind gerechter als ihr«, der treibt die rhetorische Attacke bis zum Äußersten. Wie wenn man einem frommen Konvent sagt, dass ein paar Christen aus dem anrüchigsten Milieu, also der »Szene«, dem Hafenviertel, durchaus Gott näher stünden. Jedenfalls wird man die frommen Leute so in Bewegung bringen, wenn auch gewiss zunächst nicht mit freundlichem Resultat. Jesus nimmt daher großen Ärger in Kauf und riskiert den total negativen Ausgang. Er kann einzig darauf setzen, dass nach einer all-
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100 gemeinen Empörung einige später nachdenklich werden. Das ist wenig genug. Zur Kompositionskritik in Mt 21-22 Wir benennen die Abschnitte mit Großbuchstaben – A: Mt 21,23-27 (über Johannes und Jesus und die Vollmachtsfrage) – B: 21,28-32 (Gleichnis von den ungleichen Söhnen) – C: 21,33-46 (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg) – D: 22,1-14 (Gleichnis vom Hochzeitsmahl). – A bis D sagen etwas über die Ablehnung der Botschaft; A und B sprechen über Jesus und den Täufer, B und C über den Weinberg; B und C lassen die Hörer erkennen, dass sie selbst gemeint sind. In B und D folgt auf die anfängliche Verweigerung eine zweite Aufforderung an »minderwertige« Gruppen (Zöllner, Dirnen, Leute auf der Straße); C und D sprechen über tätliche Übergriffe gegen die Boten. Das Fehlen des hochzeitlichen Gewandes in D kann man mit dem Mangel an Werken in B vergleichen. In A bis D geht es damit ausnahmslos um das Scheitern der Botschaft. Die vier Abschnitte sind daher wie ein Geflecht durch zentrale Gemeinsamkeiten verbunden. Dadurch verstärken sich die Texte gegenseitig. In welcher Situation spricht Jesus so? Insgesamt sind diese Abschnitte Zeugnisse eines letzten, äußersten Appells. Die Menschen verweigern sich der Botschaft, und Jesus versucht, sie zu packen. Er sieht eine konsequente Opposition seit dem Auftreten des Täufers. Sein Mut und seine Attacken sind prophetisch zu nennen. Die Schilderung der unterschiedlichsten Katastrophen soll ein Stachel sein. Vom »lieben Jesus« oder vom galiläischen Frühling ist hier nichts geblieben, sie sind der Bitterkeit gewichen. So bieten diese Texte insgesamt Schreckliches, direkte Ablehnung des Täufers (den Jesus andernorts den »größten Menschen« nennt) und Jesu selbst. Jesus ist den Misserfolg gewöhnt. Nur ein paar Außenseiter aus der Hafenszene sind – außer den Zwölf und ein paar Frauen – sein Gefolge, jedenfalls nicht die religiöse Elite. Man kann fragen, worin die historischen Gründe für diese Verweigerung lagen. Vier Gründe sind zu nennen: Erstens gibt es ein Misstrauen des religiösen Establishments gegen jeden »Neuerer«, der sagt, alles bisherige Tun und Denken sei falsch gewesen und allein auf ihn müsse man hören. Geist-
Das Evangelium nach Matthäus
liche fragen in solchen Situationen: »Wollen Sie denn meine ganze Lebensarbeit in den Dreck ziehen?«. Zweitens kann Jesus sich nicht eindeutig legitimieren. Ein Zeichen vom Himmel, also eine Veränderung an Sonne, Mond oder Sternen, an Wolken oder Wetter, kann er nicht erbringen – stattdessen wirkt er nur zweifelhafte Wunder an Menschen. Zweifelhaft sind diese deshalb, weil nach Meinung der Leute auch ein Zauberer oder Wunderdoktor diese tun könnte. Drittens vertritt Jesus in Wort und Tat die Auffassung, die Reinheit, so wie er sie besitze, sei nicht defensiv zu verstehen (wie die Pharisäer es taten, deren Grundprinzip Absonderung war), sondern offensiv, denn Jesus heilte unreine Kranke, weckte Tote auf und vertrieb unreine Geister (Dämonen). Jesus hatte eine »offensive Reinheit«, die für die Gegner Jesu im Anspruch umso unglaublicher wurde, je mehr sichtbare Erfolge Jesus mit seinen Werken erzielen konnte. Daher dann der Vorwurf der Kooperation mit dem Fürsten der Unreinheit, mit Beelzebub, dem Teufel. – Gerade in unserem Gleichnis bringt Jesus diesen Aspekt der Reinheit – für jeden Juden – provozierend ins Spiel: Steuereinnehmer sind wegen des Umgangs mit heidnischem Geld, das viele unreine Hände berührt hat, typisch unrein, und Dirnen sind es in noch höherem Maße. Wenn Jesus den auf Reinheit geradezu versessenen Pharisäern vorhält, die typisch Unreinen seien Gott näher als sie selbst, dann stellt er das pharisäische Weltbild an der Wurzel infrage. Viertens war Jesu Anspruch – sei es als Messias, sei es als Menschensohn (was man als Jude durchaus im Sinne von Dan 7 als Ankündigung des kommenden Reiches Gottes verstehen konnte) – angesichts der misstrauischen Römer stets ein Politikum, auch wenn Jesus diesen Anspruch jedenfalls für die Gegenwart nicht politisch gemeint hat. Jede Art von Anspruch auf Königtum konnte falsch ausgelegt und damit dem ganzen Volk zum Verhängnis werden. Besonders brisant wurde das nach dem Einzug in Jerusalem, der sich bei Jesus königlich gestaltete. Und genau in dem Kapitel, das so begann, befinden wir uns hier bei Matthäus. Nun, das alles ist vergangene Geschichte. Noch heute ist aber dieses wichtig: Im Misserfolg weist
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Kapitel 21
Jesus auf den Täufer. Er steht nicht allein, sondern sieht sich einer kontinuierlichen Verweigerung gegenüber. Das sollten alle bedenken, die dabei sind, den Mut zu verlieren. Auch Jesus und dem Täufer ist es schon so ergangen. Und auch heute gilt, was übrigens Paulus auch in 1 Kor 1 feststellt: Die Menschen, die zu einer Gemeinde gehören, kann man sich nicht aussuchen. – Für Jesus ist das einzige Kriterium die Nähe zur Herrschaft Gottes, das heißt: das Maß, in dem Gottes Wirklichkeit ernst genommen wird.
Mt 21,33-46: Gleichnis von den Weinbergspächtern An einem Weinberg hängt immer vieles. Kein Stück Land, das Menschen bearbeiten, erfordert so intensive, geradezu zärtliche Zuwendung wie der Weinberg. Vom Vorfrühling bis zur Eisbeerenlese dauert bei uns jedes Jahr die Sorge um den Weinberg. In Jesaja 5, dem »Weinberglied«, sind einige der Aktivitäten geschildert: Das Entfernen der Steine, der Bau der Steinmauer zum Schutz der Hütte für die Wächter, das Graben der Kelter. Noch gar nicht genannt sind der Kampf gegen das Unkraut, das Entfernen von Laub, das Beschneiden (»Reinigen«) der Weinstöcke, die Bekämpfung der Schädlinge, die Abwehr der gierigen Füchse und Vögel, das mühevolle Einsammeln genau jeweils zum rechten Zeitpunkt, die komplizierten Vorgänge des Kelterns. Nichts auf dem Lande erfordert soviel Liebe wie der Weinberg. Daher ist er ein wirkliches Kulturprodukt – und alle Mühen um ihn setzen vor allem eines voraus: dass Frieden herrscht im Land. Im Judentum sind daher der Weinberg und besonders der Weinstock ein Symbol für Frieden. Nach Jes 5 ist der Weinberg Bild für Israel, weil Gott ihm soviel Zuwendung geschenkt hat. Und die Verwüstung des Weinbergs ist ein Bild für die Eroberung Israels durch Feinde. Wenn aber Gott in Konflikt mit seinem Volk gerät, dann wird das immer dargestellt als Krise, die den Weinberg betrifft, sei es Verwüstung oder Entzug der Pacht. Man merkt den Texten noch heute an, wie schwer es jeweils den Besitzer und Pfleger des Weinbergs ankam, das Objekt seiner hingebungsvollen Fürsorge zu bestrafen oder verwüsten zu lassen. Auch jeder Pächter-
101 wechsel ist eine Krise für den Weinberg. In Mt 21 ist der Weinberg noch immer Bild für Gottes Vorliebe, die Pächter sind die pharisäischen Lehrautoritäten. Aber offensichtlich ist der Weinberg hier nicht einfach die Summe aller Juden. Denn wie könnte dieser nach 21,43 »einem anderen Volk« gegeben werden? Der Weinberg ist vielmehr Gottes Herrschaft unter Menschen – dass Gott anerkannt wird, und zwar so, dass Lehrer und Schüler gemeinsam dieses verwirklichen, die einen lehrend, beide Frucht bringend. Gottes Weinberg ist dort, wo Gott in dieser Weise herrscht. Gottes Herrschaft als Lehre und Gehorsam ist der Weinberg, eine Art Friedensraum Gottes in dieser Welt. – Nun wird aber nach Mt 21,43 den Lehrern die Lehrautorität entzogen, Gott errichtet seine Herrschaft anderswo. Israel hat keine Frucht erbracht, war ungehorsam, und zwar kontinuierlich. Deshalb sucht Gott einen neuen Raum, in dem in seinem Sinne Lehre und Tun zusammen fruchtbar sind. Gott vollzieht daher eine translatio imperii, er lässt den Träger seiner Herrschaft wechseln, ein der Antike durchaus geläufiger Gedanke: Lehren und gesegnetes Tun werden anderswo gut verwirklicht, unter anderen Menschen, anderen Lehrern und anderen Schülern verwirklicht Gott nun seine Herrschaft, nämlich dort, wo die Botschaft Früchte trägt.– Angesprochen sind hier hauptsächlich die Lehrer und Lehrautoritäten. Denn ihr Verhalten ist immer für alle anderen das Muster. Das entspricht ganz der Rolle des christlichen Schriftgelehrten nach Mt 13,52 und dem negativen Vorbild der jüdischen Lehrer nach Mt 15,14 (blinde Blindenführer). Nochmals: Der Weinberg steht hier für Gottes Herrschaft, also für ein komplexes Verhältnis von Lehrvollmacht und Segensverheißung. Er steht nicht für das einfach vorfindliche Volk Israel, wie es in Jes 5 gedacht ist. Wenn man diesen Wechsel in der Metaphorik gegenüber Jes 5 nicht versteht, bleibt Mt 21,43 (»… wird einem anderen Volk gegeben«) unverständlich. Der Weinberg ist nicht Israel, sondern Gottes Herrschaft war einst Israel und seiner Führung gegeben, sie wird ihm aber nun genommen. – Der Wechsel der Metaphorik gegenüber Jes 5 wird verständlich, wenn man weiß, dass nach Jesus, wie Matthäus ihn darstellt, Gottes Herrschaft die Größe ist, der all seine Sorge gilt. So fordert ja das Vater-
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102 unser auf, Gottes Sorge zu teilen und um das Kommen des Reiches zu bitten. Das Reich Gottes ist daher bei Matthäus prinzipiell von Israel abgelöst – nicht erst aufgrund des Versagens Israels. Es ist eine Größe, die Israel gegeben und genommen werden konnte, die aber zu keinem Zeitpunkt mit ihm identisch war. Auch die Kirche ist niemals Reich Gottes, auch wenn es ihr im Idealfall verliehen wird, Reich Gottes zu sein. Vielleicht geht es um etwas, das ursprünglich zu Israel dazugehörte, jetzt aber von ihm getrennt ist? Nach erkennbarer matthäischer Theologie kann das nur die Auserwähltheit sein. Hier greift der matthäische Unterschied zwischen Berufensein und Auserwähltsein. Berufen sind die Kinder Abrahams allemale (vgl. Mt 20,16; 22,14). Aber viele sind berufen und nur wenige auserwählt. Die Berufenen sind die Juden insgesamt, aber nur die Auserwählten werden definitiv gerettet (ähnlich Lk 18,7). Man vergleiche auch 1 Kor 7,16: Die (endgültige) Rettung geht entschieden über das Geheiligtsein hinaus, das auch jetzt schon – nach Paulus – für beide Partner einer religionsverschiedenen christlichen Ehe gilt. Das Geheiligtsein von 1 Kor 7,14 entspricht nicht zufällig dem Status Israels vor der endgültigen Rettung, d. h. im Status des Berufenseins. Das heißt: Seit der Ermordung des Sohnes muss man offen sagen, dass die Schere zwischen Berufensein (Geheiligtsein; Israel nach Jes 5) und Erwähltsein definitiv auseinandergeht. Nur die Auserwählten werden auch gerettet. Das heißt: Das »neue« Volk, dem Gott die Auserwähltheit schenkt, wird eines sein, das berufen und gerettet ist. Diese beiden Kategorien sind auseinander zu halten. Nur den Juden, die auch die Früchte bringen, die Gott fordert, wird die Auserwältheit nicht genommen. Diese Früchte sind Umkehr und Gerechtigkeit im Sinne des Evangeliums nach Matthäus. – Die generelle Bedeutung dieses Ansatzes: Die Unterscheidung von Berufung und Auserwählung ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer differenzierten Lösung folgender Probleme: a) Die Eigenheit Israels behält ihren Stellenwert in der Heilsgeschichte. Juden gehören zu den Berufenen, also in den weiteren Kreis. b) Die Rettung wird gelöst von der national-ethnischen Zugehörigkeit zu Israel. Die letztere reicht vielmehr nicht (mehr) aus. c) Glaube, Taufe, gute Werke, Gerechtigkeit im
Das Evangelium nach Matthäus
matthäischen Sinne, alles dieses wird unter »Früchte« zusammengefaßt. Das ist ein einleuchtender Fortschritt. Es geht weder nur um Moral noch allein um ein ungreifbares »Glauben«, sondern um konkrete Forderungen Gottes (vgl. dazu auch Phil 4,6-9). d) Es besteht kein Zweifel daran, dass Gott seinen Garten/Weinberg weiterhin liebt. Nur hat diese Liebe nun eine Pointe erhalten. Wenn Mt 21,33 weiterhin vom Zaun redet, den Gott um seinen Weinberg herum angelegt hat, dann bezieht sich das auf die ausgrenzende Heiligkeit Israels, die auch jetzt besteht, wie auch auf den Schutz dieser Heiligkeit durch die Torah. e) Wenn Paulus sagen kann: »geliebt wegen der Väter« (Röm 11,28), dann ist das Drama dieser Liebe nun um einige wichtige Akte ergänzt (unter anderem dadurch, dass Jesus als Mensch zu Israel gesandt ist). Zwischen Paulus und Matthäus besteht in der Sache, auf die es ankommt, keine ernsthafte Differenz. Die vergangene Heilsgeschichte Israels wird in Christus nicht wertlos, sondern »erfüllt«. f) Beide Etappen, Berufensein wie Auserwähltsein, enthalten religiöse wie moralische Elemente. Die religiösen Elemente (Gottes Handeln) sind in beiden Fällen kräftiger ausgeprägt. Gerufen/Berufen sind alle, auch heidnische Menschen, auch durch den Kontakt mit den Aposteln (Mt 22,11). Ähnlich bei Paulus: Geheiligt ist der heidnische Partner durch sein Verheiratetsein mit einem Christen. D. h. durch die Trennung von Berufung und Rettung/Auserwählung wird auch der alltägliche, mehr oder weniger profane Kontakt zwischen Gliedern des Gottesvolkes und Heiden zu einem Vorzimmer des Heils. Nicht mehr und nicht weniger. Man hat freilich viel gerätselt, wer dieses »andere Volk« sei, ob die Kirche oder ein erst noch zu sammelndes endzeitliches Heilsvolk aus allen Völkern (inklusive einem Rest aus Israel). Neben dem Verständnis des Weinbergs ist dieses also die zweite Schwierigkeit in diesem Text. Sicher ist: Das neue Volk sind andere Menschen, nicht Israel. Und diese Gruppe wird, nicht anders als Israel auch, als Volk beschrieben. Das ist logisch, denn zu einem Königreich gehört immer ein Volk, über das der König herrscht. Nach dem gesamten Duktus dieses Evangeliums kann dieses andere Volk nur die Kirche sein. Nur wenn man leugnet, dass Jesus überhaupt an Kirche gedacht
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Kapitel 22
haben könnte (so Ulrich Luz stellvertretend für die gesamte liberale Exegese), wird man sein Leben lang auf der Suche nach diesem Volk bleiben. Vielmehr so: Nachdem Israel versagt hat, wird der Kirche aus Juden und Heiden das Reich gegeben. Natürlich nur dann und solange, wie diese die Früchte erbringt. Wie früher bei Israel werden jeweils die Vollmacht und Verheißung des Reiches einem Volk gegeben. Aber wie bei Israel, so gilt auch hier: Diese Gabe ist gebunden an vorbildhaftes Lehren und den Gehorsam der Christen. Im Gleichnis vom Hochzeitsmahl wird dieser doppelte Übergang erkennbar: Die Erstberufenen waren nicht würdig, also hat Gott neue Adressaten berufen. Aber wer keine Früchte erbringt, wer noch nicht einmal das angebotene Gewand anzieht, der fällt auch dann noch aus dem Reich Gottes heraus. Daher ist die Kirche ein »gemischtes Volk«, aus dem noch einmal Gute und Böse ausgesondert werden müssen. Das Gleichnis ist daher nicht einseitig antijüdisch auszulegen, sondern wie Röm 11 enthält es dieselbe Bedingung für das Darinbleiben in Gottes Reich, die auch schon für Israel gegolten hat. Nur wer Früchte bringt, gehört auf Dauer zu diesem Reich. Es kommt daher angesichts dieses Textes nicht auf begütigende Worte über die Nähe von Judentum und Christentum an. Sondern es geht um die grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer Menschengruppe (Volk Israel, Kirche etc.) und Reich Gottes. Unüberhörbar scharf ist die Bedingung der Zugehörigkeit zum Reich: Nur wer Gottes Herrschaft anerkennt und seinen Willen tut, kann dazu gehören. In diesem Gleichnis geht es daher auch nicht einfach um Gebot, Gehorsam und Lohn nach dem Schema »Wer Gottes Willen tut, kommt in den Himmel«. Das ist zwar sehr wahr, aber in diesem Gleichnis ist dieses verknüpft mit der Tatsache, dass es immer eine Gruppe von Menschen gibt, der Gottes Herrschaft angeboten wird. Das ist alles andere als modernes individualistisches Denken. Nein, zu einer Königsherrschaft gehört nie nur eine Summe von Individuen, sondern immer ein Volk, eine Gemeinschaft, die aussah wie Israel oder aussieht wie »Kirche«. Nie ist der Einzelne für sich Adressat von Gottes Willen und Reich. Wenn es irgendeinen Text gibt, der etwas über die strukturelle Kirchlichkeit im Denken Jesu sagt, dann ist es unter den Gleichnissen dieser
103 Text. Adressaten von Gottes Angebot konnten nur Israel, Kirche oder die Kirche der Vollendung sein. Ein Solipsismus ist für Jesus undenkbar, und zwar deshalb, weil es um Lehren und Lernen, um Vorbild und Weitergabe, um den Bund Gottes in dieser Zeit geht. In Joh 15 ist genau dieses alles christologisch vertieft.
Mt 22,1-14: Das Gleichnis vom Hochzeitsmahl Einen Schlüssel zum Verstehen des Gleichnisses vom Hochzeitsmahl bietet die Heilsweissagung über Sion in Jesaja 62,5: »Wie sich nämlich der junge Mann mit der jungen Frau vermählt, so vermählt sich mit dir dein Erbauer; wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich über dich dein Gott.« In der Anschauung des Alten Testaments, dass Gott, der Herr, der Bräutigam und Ehemann Israels sei, liegt der Ursprung der Bilder über Hochzeit und Bräutigam in der Verkündigung Jesu. Israels Gott ist nicht verheiratet, darin unterscheidet er sich von allen Göttern sonst. Damit wird er grundsätzlich nicht sexuell vorgestellt, und Sex ist nicht göttlich. Seine Partnerin ist keine Göttin, sondern sein Volk. Das ist zweifellos keine sexuelle Beziehung. Wenn Gott Ehemann oder Bräutigam heißt, das Volk aber Frau und Braut, dann ist das eine bildhafte Aussage über einen (Ehe-)Bund zwischen sehr verschiedenen Partnern. Jesus nimmt als Messias Gottes Stelle ein, als Bräutigam Israels. Die jetzt moderne Beachtung der »metaphorischen Christologie« müsste hier zu dem Ergebnis kommen, dass Jesus wirklich Gottes Rolle einnimmt; daher liegt hier eine unvergleichlich »hohe« Anschauung über Jesus vor. Ähnlich vollzieht Jesus auch in den Wundern Gottes eigene Taten, die für die Endzeit erhofft werden. In diesem Gleichnis greift Jesus zielsicher auf die biblische Metaphorik der Ehe zwischen Gott und Volk zurück. Diese Ehe wird er als Messias neu eingehen – so wie auch Jesaja 62,5 eine Verheißung ist. So wird deutlich, warum Jesus überhaupt das Bild des Hochzeitsmahles verwendet. Es hat wichtige theologische und christologische Implikationen. Wie auch die vorangehenden Gleichnisse von den bösen Winzern und den ungleichen Söhnen negativ enden, geht Jesus offenbar davon aus,
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104 dass die geschilderte Katastrophe die Menschen schockiert und deshalb interessiert. Denn schließlich wird ein Hochzeitsgast im wahrsten Sinne des Wortes gefeuert und in ein dunkles Loch – ein Bild für die äußerste Gottferne – geworfen. Jesus appelliert damit an den Katastropheninstinkt seiner Hörerinnen und Hörer. Auch im Blick auf die vorangehenden Gleichnisse könnte das Gleichnis folgende Stadien abbilden: die Zuwendung und Einladung an Israel, Ablehnung und Martyrium der Boten durch Israel, Bestrafung der Stadt Jerusalem, Einladung der Heiden (hier: die Menschen an den Wegkreuzungen), Bestrafung des Menschen, der es nicht für nötig hielt, sich hochzeitlich zu kleiden. (Die alte Forschungsmeinung, das Gewand sei von den Einladenden gestellt worden, trifft allerdings nicht zu.) Wie in Offb 19,8 sind die Werke das hochzeitliche Gewand. Allerdings nützt ein Gewand nichts, wenn keine Hochzeit stattfindet und wenn man nicht eingeladen ist oder nicht hingeht. Das Gleichnis zeigt gescheiterte Einladungen – bei Hochzeiten eigentlich nicht die Regel. Aber Israel ist bis jetzt mehrheitlich gescheitert, und auch den Heidenchristen wird es kaum besser ergehen, wenn sie die Einladung, die ihnen angeboten wird, nicht oder nicht vorbereitet ergreifen. Daher sollen sich die Heidenchristen auf ihre Ersatzrolle für die Erstberufenen nichts einbilden. Gott bleibt weiterhin anspruchsvoll. Aus Mt 22 wird erkennbar, dass die guten Werke von Gott gefordert sind. In der Offenbarung des Johannes liegen die Aspekte etwas weiter auseinander: Im Blut des Lammes werden die Kleider gewaschen – und zugleich sind sie die guten Werke der Christen. Bei Matthäus fällt der Blick stärker auf den Einzelnen in seinem Versagen, beim Seher Johannes steht viel stärker die Gemeinde im Ganzen im Blick. Dennoch gilt auch für Matthäus: Die Feier ist nur als gemeinsame Hochzeitsfeier der Kirche vorstellbar. Das Negative ist (ähnlich wie in Mt 18,15-18) Tat des Einzelnen. Für die Rolle der vorgängigen Werke der potenziellen Christen ist auf Joh 3,19-21 hinzuweisen. Doch stärker als die Katastrophe »am Rande« ist die große Verheißung. Das Reich Gottes wird als großes Fest offenbar, das die Versöhnung von Gott und Mensch endgültig besiegelt. Die Welt-
Das Evangelium nach Matthäus
geschichte endet nicht mit frommen Sprüchen, sondern mit dem Bild einer großen Hochzeitsfeier. Wenn gesagt wird, dass die Berechtigung zur Teilnahme nicht automatisch gilt, sondern sich eigentlich schon vorher bewährt haben muss, dann ist diese Bedingung angesichts des Zustands der Kirche nur allzu berechtigt. Im Mittelalter betete man, alle Berufenen mögen auch zu den Auserwählten gehören. Gott lässt sich in seiner Güte nicht zum Narren halten. Und Gnade und Sakramente sind kein Freibrief für die Fortsetzung eigener Bosheit. Ähnlich wie in Mt 18,21-35 kann man auch hier fragen, warum Gottes Erbarmen und sein strenges Gericht so nahe beieinanderliegen können. Ist es wirklich wahr, dass der hinausgeworfen wird, der keinen Festanzug hat? Ist es wirklich so schlimm? Ziel des Gleichnisses: Wenn die zuerst Angeredeten nicht wollen, wendet sich die Botschaft anderen zu. Aber auch diese müssen die Minimalanforderungen erfüllen. Das hochzeitliche Gewand ist der »Eigenanteil« jedes Berufenen. – Ein derartiges Gleichnis kann zu verschiedenen Phasen der Geschichte Jesu und des Urchristentums aktuell gewesen sein. Wenn Jesus sich zuerst den Pharisäern zuwandte, diese aber »nicht wollten«, dann bezieht sich das Gleichnis auf andere Menschen in Palästina. In der nachösterlichen Zeit: Wenn die angesprochenen Juden nicht wollen, wendet sich die Botschaft auch an Heiden. Und selbst in heidenchristlichem Milieu wird es Erstadressaten geben und andere, an die man zunächst nicht gedacht hat. – Was die Bedeutung des Gewandes betrifft, so halte ich es nicht für möglich, dieses sakramental zu interpretieren, denn Sakramente sind alles andere als eine »Eigenleistung«. Damit rücken zwei tadelnswerte menschliche Verhaltensweisen in den Mittelpunkt: die Botschaft überhaupt ablehnen – oder: mangelnde Voraussetzungen für die Antwort auf die Botschaft haben. Beides wird als riskant dargestellt. Das Erste bewirkt zumindest für den Augenblick Verlust der Prärogative; das Zweite ist schlimmer, da es rigorosen Ausschluss bedeutet. Beide Fälle haben in der Darstellung appellativen Charakter.
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Kapitel 22
Mt 22,15-21: Die Zinsmünze Der damalige Denar, über den hier gesprochen wird, zeigte auf der Vorderseite das Brustbild des Kaisers Tiberius, geschmückt mit einem Lorbeerkranz. Dazu die Inschrift: »Tiberius Caesar, Sohn des göttlichen Augustus, Augustus«. Die Rückseite des Denars zeigte den römischen Oberpriester (pontifex maximus) mit der Mutter des Kaisers. Diese hält in den Händen Zepter und Ölzweig. Durch Letzteren wird sie als Trägerin des himmlischen Friedens (pax) gekennzeichnet. Gegen den ersten Augenschein meint Jesus in 22,21 keine Aufteilung in je 50 % für »Staat« und für »Gott«. Der Satz scheint eine kasuistische Faustregel zu sein. Doch schon der Umstand sollte stutzig machen, dass Jesus hier von Gott spricht, obwohl er danach nicht gefragt wurde. Die Oberfläche des Satzes täuscht. Denn was in der äußeren Form nebeneinanderliegt, gehört inhaltlich auf zwei ganz verschiedene Ebenen. Die Frage nach den Steuern und Jesu Antwort darauf ist vielmehr nur ein Anlass, die Gegner an ihr Verhältnis zu Gott zu erinnern. Das Steuernzahlen wird zum Bild für das Verhältnis zu Gott. So wie man dem Kaiser Steuern zahlt, soll man Gott geben, was Gottes ist – und was ist nicht alles sein Eigentum? Allein die zweite Hälfte des Satzes stellt im Rahmen der Verkündigung Jesu wirklich den aktuellen Imperativ dar. Die Sorge der Gegner um die Steuern ist nur ein Bild oder verdeckt die Sorge, die sie eigentlich haben sollten, Gottes Gebot zu erfüllen. Wenn sie schon das eine tun, wie sehr müssten sie dann das andere ernst nehmen! Der erste Imperativ ist daher bedeutungsmäßig dem zweiten nicht gleichgeordnet. Statt »und gebt« müsste man korrekt übersetzen: »aber gebt vielmehr«. Die beiden Imperative sind daher nicht im Sinne einer Addition der Pflichtbereiche zu verstehen, der Appellcharakter liegt nur auf dem letzten Glied. So allein fügt sich dieses Wort auch in den Zusammenhang der Botschaft Jesu ein. Es handelt sich nicht um eine staatspolitische Belehrung im Sinne eines Kompromisses zwischen Theokratie und Römerreich. In Röm 13,7, wo dieselbe Tradition zitiert wird, nun aber in staatspolitischem Zusammenhang, fehlt bezeichnenderweise ein ausdrücklicher Hinweis auf das zweite Glied in Mt 22,2, auf Gott.
105 Dieselbe den Schluss betonende inhaltliche Struktur wie Mt 22,21 weist auch ThomasEv 100 auf: a) Die Leute zeigten Jesus eine Goldmünze und fragten ihn: »Die Bediensteten des Kaisers fordern von uns Steuern. [Was hältst du davon?]« b) Jesus antwortete: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. c) Gebt Gott, was Gottes ist. d) Und was mein ist, gebt mir [den Gehorsam gegen meine Gebote].« Das ThomasEv entstand im 1. Jh. und ist gegen den älteren Konsens keineswegs gnostisch zu deuten, sondern steht den Evangelien nahe. Das im ThomasEv hinzugefügte Glied bedeutet nicht, dass die Pflichten nun dreigeteilt wären. Vielmehr ist hier das Formgesetz von Mt 22,21 fortgeschrieben: So wie man sagt, dass man dem Kaiser gehorchen soll oder Gott, so gilt nun, dass man allein Jesus gehorchen soll. Auch hier liegt der Appellcharakter allein auf dem letzten Glied. Von einer Konkurrenz zwischen Gott und Jesus kann in ThomasEv 100 übrigens nicht die Rede sein. Vielmehr ist der traditionell jüdische Gehorsam gegen Gott ein Bild für den Gehorsam gegenüber Jesus, in dem er sich offenbart, in dem er anzutreffen ist, in dem sich seine Wirklichkeit im besten Sinne des Wortes zuspitzt.
Auch im Mittelalter hat man klar erkannt, dass es sich hier nicht um eine fifty-fifty-Regel handelt. »Christus, der wahre Lehrer … möge euch so in seinem Dienst verharren lassen, dass ihr unserem Herrn Jesus Christus selbst den Denar der gesetzlichen Gehorsams und des Befehls des Evangeliums abliefert. Und so möge der allmächtige Gott die Inschrift und den Aufdruck seines Abbildes behüten, nämlich euch, eure Herzen, dass jetzt und in Zukunft euch immer seine Majestät verteidige und seine Treue beschütze« (Bischöfl. Segen Nr. 1414). In diesem Text fällt die römische politische Begrifflichkeit auf; so ist von der maiestas und der pietas Gottes die Rede. Gott ist jetzt der wahre Kaiser. Was der römische Kaiser nicht leisten konnte, wird allein von Gott erwartet. In seinem Namen gilt auch der gesetzliche Gehorsam. – In einem anderen bischöflichen Segensgebet heißt es: »Wie ihr das Bild des Kaisers [in Gestalt der Steuermünzen] als Zeichen des Sklavendienstes dem Kaiser gebt, so möget ihr das Bild Gottes [eure Herzen] rein und ohne Flecken zurückgeben in der Freiheit von Gott angenommener Kinder.« An diesem Text fällt der Ge-
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106 gensatz zwischen Sklavendienst und Freiheit auf. Das Gebet macht Ernst damit, dass das irdische Steuerzahlen nur ein Bild ist (»Wie …, so …«). Beachtenswert ist die Beziehung zu Röm 13,7: »Gebt jedem, was ihr ihm schuldig seid und was ihm gebührt: Gebt dem Steuern, dem Steuern gebühren, gebt dem Zoll, dem Zoll gebührt, bringt gegenüber dem Angst auf, dem Angst gebührt, und Ehrfurcht, wem sie gebührt.« Die Struktur ist insofern eng mit Mt 22,21 verwandt, als »geben« (griech.: apodidomi) im Imperativ mit dem Dativ des Adressaten verbunden ist. Dazu noch die Begründung: »was des Kaisers ist«, in Röm 13: »weil es ihm gebührt«. Auch in Röm 13,7 könnte sich eine Zweiteilung andeuten: Steuer und Zoll gebühren der irdischen Obrigkeit. Und älter als Röm 13,7 ist vielleicht 1 Petr 2,17: »Gebt allen die schuldige Ehre, … fürchtet Gott, ehrt den Kaiser.« Nach 1 Petr 2 gilt das Ehren den Menschen, Angst/Furcht dagegen Gott, und das wird wohl auch in Röm 13,7 der Fall sein. – Daher gilt: Röm 13,7 zeigt mutmaßlich dieselbe Betonung des Schlusses wie Mt 22,21, obwohl von Gott nicht ausdrücklich die Rede ist. Man kann daher sagen: In Röm 13,7; 1 Petr 1,17 und Mt 22,21 par Mk 12,17 liegen Sätze vor, die die Pflichten der Christen in der Ordnung gegenüber Gott und menschlichen Instanzen regeln. Die Angeredeten haben rundum Pflichten. Und auch wenn diese gegenüber Gott erheblich von den Pflichten gegenüber Menschen unterschieden sind, so ist die Zuordnung dieser unterschiedlichen Bereiche auffallend, auch auffällig staatstreu. Auch wenn die Pflichten gegenüber Gott weitaus umfassender sind, so werden doch die irdischen Adressaten des pflichtschuldigen Handelns nicht abgewertet. Jesus ist kein Zelot, der Steuerzahlen ablehnt. Mit Paulus und 1 Petr, die die entsprechenden, nah verwandten Regelungen nicht Jesus zuschreiben, teilt Jesus die Auffächerung der Pflichten und eine grundsätzliche Bejahung des Steuerzahlens. Wenigstens für die Tempelsteuer geht das auch aus Mt 17,24-27 hervor. Wer die Pflichten gegenüber allen bürgerlichen Instanzen so wahrt, ist kein gewaltbereiter Revolutionär (gegen R. Eisenman und »Kollegen« in der Qumran-Debatte). Der positive Ertrag: Jesus verkündet die Herrschaft Gottes. Sie ist jetzt verborgen und wird demnächst offenbar. Ihr Kommen vollzieht sich
Das Evangelium nach Matthäus
unter diesen beiden Erscheinungsformen. Die Herrschaft Gottes relativiert zwar jede irdische Herrschaft. Aber da sie eine Herrschaft der Gerechtigkeit ist, bejaht Jesus die allgemeinen sozialen Pflichten. Weil man diesen Satz »Gebt jedem, was ihr ihm schuldig seid und was ihm gebührt« (Röm 13,7) als ein Stück Gottesherrschaft bezeichnen kann, umschließt die Gottesherrschaft auch ein Respektieren der bürgerlichen Pflichten. Sie hebt diese Pflichten nicht auf, sondern fordert sie geradezu, wenn sie denn Ausdruck von Gerechtigkeit im Sinne des Erhalts des Sozialwesens sind. Weil also die Herrschaft Gottes, von der Jesus spricht, diesen wichtigen und wesentlichen moralischen Aspekt besitzt, deshalb ist Steuerzahlen geboten. Wo es aber nicht um die moralische Regelung des Miteinanders geht, sondern um Religion, da muss der Ansatz Jesu jeden religiösen Anspruch der Staatsgewalt auf Anbetung oder auch nur Verehrung ablehnen. Die Herrschaft Gottes umschließt und begrenzt daher menschliche Ordnung. Die mittelalterlichen Gebete (s. o.) haben das noch konsequent begriffen.
Mt 22,34-40: Gottes- und Nächstenliebe Die beiden Liebesgebote, Gottesliebe und Nächstenliebe, sind eine Kombination zweier weit auseinanderliegender Texte des Alten Testaments, von Dtn 6,5 und von Lev 19,18. Verknüpft wurden beide Gebote dank des gemeinsamen Stichwortes »du sollst lieben«. Im hebräischen Text ist Dtn 6,5 erkennbar das Hauptgebot, die Präambel des ganzen Gesetzes. Lev 19,18 dagegen steht das Gebot der »Nächstenliebe« an einer wenig herausgehobenen Stelle. Im direkten Kontext von Lev 19,15-18 bedeutet dieses Gebot nicht die Aufforderung zu allgemeiner Menschenliebe. Vielmehr handelt der Kontext vom Verhalten im Gericht und vom Umgang mit den Verfehlungen des anderen. Daher die Aufforderungen, nicht zu zürnen, nicht nachzutragen, sondern zur Rede zu stellen. Auch das Judentum zur Zeit Jesu nimmt diese Stelle im Sinne dieses begrenzten Themas auf; in diese Tradition gehört auch Mt 18,15-17. – Aber da Jesus hier nun Lev 19,18 in einen anderen Zusammenhang stellt, ändert sich auch die Funktion der »Liebe« an dieser Stelle. Sie wird ge-
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Kapitel 22
nerelle Zusammenfassung aller Pflichten gegenüber den Mitmenschen. Zudem wird durch die griechische Übersetzung »der Nächste« jeder besondere Bezug auf den israelitischen Volksgenossen, der noch im hebräischen Text gegeben war, getilgt. – Zudem hat die Kombination der beiden Liebesgebote andere Vorstufen als die isolierte Auslegung von Lev 19,18. – Diese Vorstufen liegen in der griechischen Popularethik, die seit Jahrhunderten alle Pflichten klar und bündig unterschied in »Frömmigkeit« (oder Heiligkeit) gegenüber den Göttern und »Gerechtigkeit« (oder Menschenfreundlichkeit) gegenüber den Menschen. Dieser »Kanon der zwei Tugenden« (A. Dihle) beherrscht Klassik und hellenistische Literatur, er findet sich noch ohne Bezug zu den beiden Schriftstellen bei dem jüdischen Schriftsteller Flavius Josephus und in Tit 2,12. In manchen Texten des griechisch orientierten Judentums heißt es auch schon »Gott lieben« und »die Menschen lieben«. Die Besonderheit Jesu und des frühen Christentums ist es, diese geläufige Faustregel in Beziehung zur Schrift zu setzen. Nur hier finden wir eine »Unterfütterung« der »Frömmigkeit« durch Dtn 6,5 und der »Menschenfreundlichkeit« durch Lev 19,18. Man kann das etwas unterkühlt »eine schriftgelehrte Leistung« nennen. Doch die Unterfütterung der Popularethik durch die Schrift bedeutet mehr – nicht nur eine Versöhnung griechischer Ethik mit dem biblischen Denken, sondern auch eine kritische Begrenzung: An die Stelle der vielen Götter oder des Göttlichen ist der eine, persönliche Gott getreten – das ist die Kritik am griechischen Element. Und alle jüdischen Gebote der Torah sind zusammengefasst in der Liebe – das bedeutet angesichts dessen, was alles in der Torah steht, eine deutliche Kanalisierung. Besonders alle Sozialgebote werden nun mit einem Mal als das Gebot der Liebe zusammengefasst. Das ist nicht selbstverständlich, sondern bedeutet eine bestimmte Richtungsvorgabe. Man fragt vor allem, wo die auf Reinheit und Kult bezogenen Gebote geblieben sind. Sind sie auch mit im Gebot der Gottesliebe zusammengefasst? In der Fassung bei Markus wird der Kult stark abgewertet (Mk 12,32f). Das fehlt bei Matthäus. Doch das bedeutet nicht, dass Matthäus dem jüdischen Kult positiver gegenüberstehe. Zweimal findet sich in seinem Evangelium der
107 Satz »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer«. Ursprünglich und in Mt 9,12 bedeutet der Satz: Erbarmen will ich schenken und nicht Opfer annehmen. Doch in Mt 12,7 wird die Handhabung von Kultregeln kritisiert. Zur Frage nach der Bedeutung der Liebesgebote ist es wichtig, nach der Bedeutung von »lieben« zu fragen. Denn aufgrund des Deutschen fühlen sich viele zu der Frage veranlasst: Wie kann man Liebe per Gesetz befehlen? Dazu ist zu beachten: Einmal ist der Ausdruck »Gesetz« unangebracht. Es handelt sich durchaus um Gottes Willen, aber er wird nicht im Sinne eines Obrigkeitsstaates formuliert, sondern es geht eher um Weisungen, Wünsche und Segensverheißungen. Die Torah ist kein Gesetz wie die Straßenverkehrsordnung, aber doch verbindlich, ähnlich wie die – heute in Vergessenheit geratenen – fünf »Kirchengebote« oder wie päpstliche Enzykliken, über deren Einhaltung kein Nachtwächter wacht. Zum anderen aber bedeutet Liebe bei den beiden Hauptgeboten nicht »deutsche« Gefühls- und Herzensinnigkeit – diese ist übrigens nicht zu verachten und seit der deutschen Mystik ein wichtiger Teil unserer Kultur. Aber in der Bibel wird »lieben« weitaus nüchterner gedacht, nämlich in jedem Fall im Sinne praktischer Solidarität. Denn Dtn 6,5 ist ja Präambel aller konkreten Einzelweisungen, und Lev 19,18 bezieht sich auf die konkreten Reaktionen auf die Fehler des Mitbürgers. Und wenn es in Dtn 6,5 heißt »aus deinem ganzen Herzen und aus all deiner Kraft«, so konnte das rabbinische Judentum dieses wiedergeben als »mit deinem ganzen (finanziellen) Vermögen«. So geht es nicht um Sentimentalität und es liegt auch nicht das Unding vor, als wolle jemand Liebe befehlen. Eher geht es darum, jedem das zu geben, was man ihm schuldig ist. Damit rücken beide Bereiche, in denen Liebe zu üben ist, in den Bereich der Forderung nach Gerechtigkeit. So kann man zusammenfassen: Die biblischen Liebesgebote fordern nicht emotionales Engagement der Gefühle, sondern praktische Gerechtigkeit, für die ein Miteinanderleben wichtig ist. Bei Paulus findet sich nur die Zusammenfassung der Gebote im Liebesgebot von Lev 19,18 und damit sozusagen nur die zweite Hälfte der Kombination der beiden Hauptgebote nach Mt 22,37-39 und Mk 12,29-31. Paulus kennt nur die Zusammenfassung zum Gebot der Nächsten-
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108 liebe. Das Hauptgebot der Gottesliebe zitiert er gar nicht. Der Grund dafür liegt darin, dass Paulus das geforderte Verhalten gegenüber Gott als »Glauben« bezeichnet und dieses der Nächstenliebe sachlich vorordnet. Denn aus dem Glauben fließt Liebe als dessen Frucht. Aber man kann nicht sagen, dass es hier um zwei gleich wichtige Gebote gehe. Gewiss lassen sich bei Paulus Glaube und Liebe und damit auch Glaube und Werk nicht trennen. Aber der Glaube ist Wurzel oder Quelle der Liebe. Und im Übrigen ist Glaube bei Paulus durch den Glauben an Jesus inhaltlich stark gegenüber der jüdischen Bibel verändert. Das heißt: Paulus konnte nicht mehr unbesehen einfach den Kanon der zwei Tugenden mit der Schrift unterfüttern, wie es in den synoptischen Evangelien geschieht. – Anders im JohEv: Hier wird ohne Schriftunterfütterung das Liebesgebot als »neues« Gebot bezeichnet, denn es hat in der Liebe Gottes und Jesu Christi seinen Ursprung. Hier geht es darum, das Empfangene weiterzugeben. Liebe ist die Konsequenz aus der Zuwendung Gottes zur Welt. Im Übrigen ist innerhalb der Evangelien die Nächstenliebe zu trennen von der Feindesliebe.
Das Evangelium nach Matthäus
Die Feindesliebe (und auch radikaler Besitzverzicht) orientiert sich an Gott selbst, der die Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse und der keines Dinges bedarf, da sein Schatz unvergänglich ist. Diese Forderungen richten sich an radikale Jüngerkreise wie die »Väter und Mütter« der mätthäischen Tradition. Das Gebot der Nächstenliebe nach den drei ersten Evangelien hat dagegen eher politische Dimensionen. An zwei Texten wird das deutlich, die beide besonders das Gebot der Nächstenliebe zitieren. In Röm 13 ist die Nächstenliebe die Summe sozialer Verpflichtungen, zu denen Steuer und Zoll genauso gehören wie das Achten der Obrigkeit und das Einhalten der 2. Dekaloghälfte. – In Lk 10, im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, wird das Gebot der Nächstenliebe so ausgelegt, dass der Samariter Nächster eines anderen, des ausgeraubten Juden, werden kann. Die Nächstenliebe sprengt den Rahmen des jüdischen Volkes und wird zur Basis einer allgemeineren Ethik der Hilfe in der Not. Politisch ist daran die Aufhebung der nationalen Grenzen – ganz im Sinne des hellenistischen Kosmopolitismus.
Mt 23-28 Jesu Geschick im Lichte der Propheten Mt 23 Die Position von Mt 23 innerhalb des Evangeliums ist ebenso umstritten wie der scharfe antipharisäische Ton. Man hat immer wieder gefragt, weshalb Jesus die Pharisäer und Schriftkundigen so streng verurteilt, ein Urteil, das wohl den historischen Verhältnissen nur selten entspricht. Aber es geht hier nicht um einen Zeitungsbericht, sondern um etwas anderes. Dieses andere tritt schon in Mt 5,20 zutage: Wenn eure Gerechtheit nicht größer ist als die der Pharisäer, werdet ihr in das Himmelreich nicht gelangen. – Es legt sich nahe (eine Anregung von H. Frankemölle aufgreifend), die erste und die letzte Rede Jesu nach Mt, also die Bergpredigt in Mt 5-7 und Mt 23, miteinander zu vergleichen. Ein durchgeführter Vergleich liefert für beide Texte Erstaunliches. (Wir setzen hier beides Stück für Stück gegenüber: Bergpredigt [B] und Weherede [W]).
Wort und Tat, reden und nicht handeln, lehren und auch tun B – Mt 5,19: Wer tut und lehrt; 7,24: Wer meine Worte hört und sie tut … ; Mt 6,1.3: Gerechtigkeit/Almosen; 7,12: Goldene Regel: das sollt ihr den Menschen tun; 7,21: Wer sagt »Herr, Herr«, und nicht den Willen Gottes tut; 7,24.26: Worte hören und tun. W – Mt 23,2: Lehren befolgen, Werke nicht. Das Dilemma der Pharisäer besteht darin, dass sie alles bei Worten belassen und nicht nach den Worten handeln. Seligpreisungen und Weherufe B – Beginn mit 9 Seligpreisungen. W – Gliederung durch Weherufe. Zur Entsprechung von Seligpreisungen und Weherufen vgl. Lk 6,20-26.
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Kapitel 23
Werke B – Mt 5,16: Gute Werke der Gemeinde sehen und dann Gott preisen. W – Mt 23,3: »… nach ihren Werken handelt nicht«; 23,5: »alle ihre Werke tun sie …« Etwas tun, um von Menschen gesehen zu werden B – Mt 6,1: »Gerechtigkeit vor den Menschen tun, um von ihnen gesehen zu werden«; 6,16: »beim Fasten für die Menschen sichtbar sein«. W – Mt 23,5: »Alle ihre Werke aber tun sie, um gesehen zu werden, vor den Menschen«. Schlüssel zum Himmelreich B – Mt 5,20: »nicht eingehen in das Reich Gottes«. W – Mt 23,13: das Reich Gottes verschließen. Schwören B – Mt 5,33-37: Weil jeder, der Gott beim Schwören direkt oder mittelbar nennt, Gottes heiligen Namen in unheilige Dinge hineinzieht, verstößt übliches Schwören gegen die Reinheit und Heiligkeit des Gottesnamens und verunreinigt den Schwörenden. W – Mt 23,16-22: Alles Schwören »bei« etwas ist Schwören bei Gott. Daher kann man zwischen verbindlichem und unverbindlichem Schwören nicht differenzieren. Wer schwört, ist gebunden (gegen Tricks, sich von Eiden frei zu machen). Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit B – Mt 5,20: Eure Gerechtigkeit im Verhältnis zu der der Pharisäer … ; Mt 7,23: Weg mit euch, die ihr Gesetzloses getan habt. W – Mt 23,28: Von außen als Gerechte, innerlich voll Gesetzlosigkeit; 23: Gerechtigkeit (griech.: krisis), Erbarmen, Treue. Verfolgung und Ermordung der Propheten B – Mt 5,11f: Schmähung und Verfolgung, Vergleich mit der Verfolgung der Propheten. W – Mt 23,29-37: Propheten und Gerechte getötet und verfolgt. Bildworte über das, was wirklich wichtig ist B – Mt 7,3: Bild vom Splitter und Balken. W – Mt 23,23f: Mücken aussieben und Kamele verschlucken.
109 Reinheit (das pharisäische Hauptanliegen) B – Mt 5,21-37: Thema ist die Überbietung der pharisäischen Reinheitsvorstellungen bei Mord, Ehebruch, Anstiftung zum Ehebruch und Schwören; Mt 7,6: gesegnetes Brot nicht an unreine Hunde geben. W – Mt 23,26: unreine Gefäße/unreines Inneres; Mt 23,27: Totengebeine und Unreinheit. Gutes oder schlechtes Beispiel für die anderen B – Mt 5,13-17: Stadt auf dem Berg, Licht der Welt. W – Mt 23,24: blinde Blindenführer. Herausragende Position innerhalb der Reden Jesu nach Mt B – Mt 5-7: Erste Rede Jesu. Mt 23-25: Letzte Rede Jesu in der Öffentlichkeit. Fazit: Bergpredigt und Weherede sind so eng miteinander verwandt, dass man davon ausgehen muss: Ihnen liegen gemeinsame mündliche Traditionen zugrunde. Es hat den Anschein, als lägen dieselben Stoffe und Motive in Mt 23 in einer zweiten (oder ersten) Ausfertigung vor. Gegenüber der Bergpredigt fehlt in Mt 23 vor allem die Erläuterung zur Freiheit von der Sorge (Mt 6) und die Traktate über Fasten, Beten und Almosen (Mt 6). Aber die Freiheit von der Sorge in Mt 6 hat ohnehin fast nichts mit den Pharisäern zu tun. Demnach liegt das religiöse Hauptproblem der Pharisäer nicht in falschen Lehren (oder mangelnder christologischer Dogmatik), sondern im Auseinanderfallen von Wort (Rede, Lehre) und Praxis. Der positive Aspekt im Blick auf das MtEv: In der Bindung an Jesus, der nun wirklich Lehrer und Vorbild in einem ist; also in der Nachfolge Jesu wird es leicht, Gottes Willen zu tun (Mt 11,28). Der negative Aspekt im Blick auf die Pharisäer: Wer so handelt wie sie, legt damit den Anfang zum Erkalten der Liebe und Verlust der Ordnung in der Welt. Deshalb ist Mt 23 der Anfang der apokalyptischen Szenerie, die dann in Mt 24 entfaltet wird. So weitet sich die Alternative ins Kosmische aus. Zur Rolle von Mt 24 innerhalb der Endzeiterwartung des MtEv gibt es eine Analogie, und zwar in der Offb: Die Briefe (Kap. 2-3) mahnen zur Umkehr, und ab Kap. 6 wird das Ende für die
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110 geschildert, die nicht umkehren. Der Gipfel des Unglücks wird mit den drei Weherufen in Offb 18,10.16.19 formuliert. Im MtEv entspricht dem: Die Kap. 5-22 sind Umkehrmahnung, ab Kap. 23-25 wird der Fall geschildert, dass Menschen der Predigt Jesu nicht folgen. Den Kontrast zwischen selig und wehe kennt auch die Offb (1,3; 22,7: Selig, die die Worte dieser Offenbarung bewahren) in Kontrast zu den Weherufen besonders in Kap. 18. Die Offenbarung erläutert ihr Programm an der Opposition der beiden Städte (Jerusalem/Rom), das MtEv am Kontrast von versagenden Juden und Heidenvölkern. Die Pharisäerkritik Jesu In Matthäus 23 lesen wir: »Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Scheinheiligen! Bei Minze, Anis und Kümmel führt ihr den Zehnten an den Tempel ab, doch bei dem, was nach dem Gesetz viel wichtiger ist, bei Gerechtigkeit gegen Mitmenschen, Erbarmen und Treue, seid ihr nicht so penibel …) Ihr seid blinde Blindenführer! Wenn eine Fliege in die Flüssigkeit gefallen ist, die ihr trinken wollt, schüttet ihr alles durchs Sieb, um sie zu herauszunehmen, doch Kamele schluckt ihr herunter. Die Oberfläche von Becher und Schüssel reibt ihr blank, doch innerlich strotzen sie von Habgier und Geilheit.« – Über Jahrhunderte war dieser Text Quelle für ein finsteres Bild vom Judentum. In der Reformation wurden die negativsten Aussagen auch auf die Katholiken bezogen. Besonders im MtEv ist Jesu Polemik gegen die Pharisäer ausgeprägt. Schon das Programm der Bergpredigt zielt darauf, die Pharisäer an Gerechtigkeit zu überbieten. Dann geht es Schlag auf Schlag: blinde Blindenführer, übertünchte Gräber und scheinheilig, Schlangen, Natterngezücht und Gesetzlose werden sie pauschal genannt. Dabei waren – historisch gesehen – die Pharisäer durchaus die »Frommen«, die dem Christentum besonders nahestanden, etwa im Auferstehungsglauben. Dabei nimmt innerhalb des MtEv die Pharisäerkritik zu, bis hin zu Kap. 23,1 ff. Gerade angesichts dieses Kapitels herrscht seit Jahren unter den Auslegern extreme Ratlosigkeit. Da das Kap. 23 besonders peinlich ist, spricht man es Jesus ab und teilt es ressentimentgeladenen Kreisen möglichst später Datierung zu. Aber auch dann bleibt rätselhaft, wie
Das Evangelium nach Matthäus
derartige Polemik zur »Religion der Liebe« passen soll. Die gegen die Pharisäer gerichteten Texte sind weder historische Berichte (die historische Wahrheit sah ganz anders aus) noch Vorlagen oder Zeugnisse für Gerichtsverhandlungen. Meiner Ansicht nach geht es nicht um die Verurteilung einzelner Menschen oder gar einer ganzen Gruppe; kein Pharisäer wird in die Hölle versetzt. Und keine Pharisäerkritik der synoptischen Evangelien tadelt den mangelnden Glauben an Jesus. Jesus tadelt vor allem den Spagat zwischen Wort und Tat, zwischen Schein und Praxis. Und er bedient sich dabei des Instruments der Karikatur, wie wir sie auch von anderen Zeugnissen des Humors Jesu her kennen. Wer die Kritik Jesu an den Pharisäern verstehen will, die alle vier Evangelien durchzieht, darf weder schlechten Gewissens wie die Katze um den heißen Brei schleichen (und versuchen, die Texte so oder so von Jesus wegzurücken), noch darf er sie wie gehabt einfach als Munition für den Antijudaismus verwenden. Man muss vielmehr unter allen Umständen versuchen herauszufinden, wie Jesus selbst, der Verkündiger des Evangeliums, der sein Volk liebte und den Pharisäern nahestand (wie später Paulus), solche Sätze hat sagen können – im Kontext des Evangeliums. Alles andere wäre billige Ausflucht. Ich bin dabei eher beiläufig im Zusammenhang mit der biografischen Frage nach dem Humor Jesu auf die Kategorie der Groteske und die Praxis der Karikatur gestoßen. Könnte es sein, dass wir hier wirklich einen einzigartigen und höchst originellen Zugang zu Jesus selbst haben, neben allem Erwartbaren zu den Themen Liebe und Gericht? Denn der Humor Jesu hat nachhaltige Spuren selbst noch in der deutschen Sprache hinterlassen, zum Beispiel im Wort vom Splitter und vom Balken. Ansatz beim Humor Jesu Das verbindende Stichwort zwischen Mt 23 und den Zeugnissen über Jesu Humor ist das Wort »Kamel«. Nach Mt 23 wirft Jesus den Pharisäern vor, dass sie Mücken aussieben, Kamele aber verschlucken. Nach Mk 10 geht eher ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt. Das Bild ist in beiden Fällen grotesk. Kamele waren für Jesus unelegante
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Kapitel 23
Monster, vergleichbar Schwertransportern auf der Straße. Jesus beobachtet die Menschen sehr genau. Er spießt die Schwachstellen auf, vergrößert sie wie mit der Lupe, färbt sie ein wie ein Mediziner einen Bazillus unter dem Mikroskop und zeichnet die Linien des Umrisses nach. Karikaturen verfahren ähnlich. Denn die karikierten Menschen sind keine Monster und leben mitten im Alltag als gewöhnliche Leute. Wenn eine Politikerin als Henne oder ein Politiker als Ziegenbock dargestellt wird, dann ist das gänzlich übertrieben. Alles Positive, das es auch noch gibt, wird verschwiegen. Karikaturen sind ungerecht, und zwar als Gattung. Sie sind nicht einfach nur lustig, denn es geht um Wahrheit. Karikaturen verdeutlichen das für die Entscheidung Notwendige. Man denke etwa an das Bild, das Jesus in Mt 7 gebraucht: Kein Mensch wirft Perlen vor die Säue; diese wären in einem solchen Falle vielmehr eher erbost statt glücklich. Wozu erzählt Jesus derartigen »Unsinn« dann? Um auf die differenzierte Regel hinzuweisen, dass Handlungen sich auch an ihrer Wirkung auf den Adressaten messen lassen müssen, nicht nur am guten Willen des Absenders. – Oder wenn Jesus sagt »Lasst die Toten ihre Toten begraben!«, so ist das ein makabrer Witz, schöner Stoff für eine Karikatur. In diesem Falle. Denn Karikaturen wollen vor allem aufmerksam machen auf unhaltbare oder widersinnige Fälle von Praxis. Bei den Toten, die Tote begraben, sagt er: Lasst die Welt der Pietät und derer, die sie repräsentieren, hinter euch! Karikaturen sind nicht lieb Karikaturen sind eine Form öffentlicher Auseinandersetzung. Um private Wut oder Abneigung geht es überhaupt nicht, auch nicht um einen Ersatz für andernfalls zu führende Prozesse. Karikaturen sind weder lieb noch gerecht. Sie vergrößern die Schwachstellen durch ihre Darstellung; sie sind ein Spiel, bei dem der Adressat die Pointe genau begreifen muss, sonst wird er leicht ungehalten. Jesus riskiert dieses Spiel, er wagt es; denn nur wer wagt, gewinnt. Oft fehlt auch heutigen Zeitgenossen freilich das Verständnis für die Gattung Karikatur. Dann hört man: »Ihre Rezension ist eine Karikatur.« – Es gehört zweifellos zu den Kühnheiten Jesu, die Gattung Karikatur – nicht grafisch, sondern rein
111 sprachlich verstanden – im Raum der Religion zu verwenden; prophetische Vorbilder dafür gibt es genug (Hosea 4,16; 7,8; Amos 6,13; Jes 8,3). Der Karikatur geht es nicht um eine betuliche Art von Nächstenliebe, sondern allein um die schonungslose Wahrheit. Der Maßstab ist nicht die lückenlose Dokumentation, sondern die ohne Karikatur sonst verschwindende und gar nicht gut sichtbare Schwachstelle am Gegenüber, die freilich lebenswichtig werden kann. Ein Karikaturist muss nicht jeden Tag zur Beichte gehen und sich wegen Lieblosigkeit anklagen oder weil er bei dem Karikierten »persönliche Gefühle verletzt« hat. Wenn Karikaturen sein Beruf sind – oder ein wichtiger Teil davon, dann darf er kein Verständnis haben für Menschen, die alles mit der Soße der billigen Nächstenliebe übergießen. Das Judentum und auch das frühe Christentum sind wesentlich Religionen mit unveränderlich prophetischem Kennzeichen. Da geht es nicht um irgendeine Wahrheit, sondern um die Wahrheit dieser Gottesverehrung. Die Wahrheit hat Vorrang. Der Sitz im Leben der Pharisäerkritik Jesu Nach allem, was wir erahnen können, waren die Unterschiede zwischen Jesus und den Pharisäern vergleichsweise gering, jedenfalls im Verhältnis zu Sadduzäern, aufgeklärten hellenistischen Juden und Zeloten. Doch gerade der kleine, insbesondere im Alltag kaum wahrnehmbare Unterschied macht es nötig, unmissverständlich klarzustellen, was Jesus über die Pharisäer hinaus »will«. Denn Jesus ist eine Art Reform-Pharisäer mit stark prophetischem Einschlag. So machen insbesondere die Weherufe in Mt 23 deutlich, was dem fehlt, der den Reform-Weg Jesu nicht mitgehen will. Jesus ist ein besonders »scharfer« Pharisäer, das kündigt Mt 5,20 an, und entsprechend sieht er scharf, und es ist geradezu überlebens-notwendig, die Differenz zu den Pharisäern darzustellen. Insofern ist Mt 23 ein Nachtrag zur Bergpredigt (s. o.), und zwar speziell zu Mt 5,20 (»Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Pharisäer …«). Die Unterschiede werden um der Sendung Jesu willen »aufgeblasen« und drastisch dargestellt. Bei der Lektüre soll der Leser sagen: So scharf und klar hatte ich das bisher nicht gesehen. Aber es stimmt, diese Tendenz ist bei den Pharisäern
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112 vorhanden, Jesus hat diese Unterschiede aufgespießt. Dass es am Tun hapert gegenüber den Worten, ist fraglos bei jeder Frömmigkeit, die einen bekenntnishaften Charakter hat, auf die Dauer gesehen, ein großes Manko. Es ist leichter, auf das Wort Taten folgen zu lassen, wenn man in der Nachfolge Jesu steht – auch das lehrt das MtEv. Und deshalb steht Mt 23 auch direkt vor der Schilderung des Niedergangs der Ordnung der ganzen Welt in den Kapiteln über die apokalyptische Endzeit (Mt 24 ff): So wird es der Welt ergehen ohne Jesus, und das heillose Auseinanderklaffen von Wort und Tat bei den Pharisäern ist nur der Anfang. Nur die Nachfolge Jesu könnte es wenden. Wahrheit geht vor farbloser Liebe Die Polemik insbesondere von Mt 23 geschieht um der Wahrheit willen. Diese wird, gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit, drastisch ans Licht gehoben. Wo es darauf ankommt zu zeigen, dass der pharisäische Weg in die Irre führt, wäre liebevolles Gewährenlassen das falsche Signal. Wer den Weg der Pharisäer geht, ist persönlich in Gefahr – das genau sagt die Pharisäerpolemik im MtEv. Für Jesus sind die Menschen in Gefahr, deren Lehrer er ist. Da kann er unter keinen Umständen gleichzeitig die Lehre der Pharisäer stützen. Auch für das JohEv, für Paulus und den Hebräerbrief wird es darum gehen zu sagen, weshalb die Sendung Jesu notwendig war und weshalb das Judentum ohne Jesus nicht ausreicht, sondern in der Heillosigkeit verharrt. Wer diesen Aspekt vergisst, macht die Existenz des Gottessohnes überflüssig und fällt hinter ihn zurück ins Judentum. Das war nichts Schlechtes, aber nicht das (vollendete) Heil, nicht die Erfüllung der Propheten. Wenn Jesus in diesem Sinne der Messias der Juden war und ist, kann das Christentum nicht aus falsch verstandener Liebe zu den Juden diese unterscheidende Wahrheit aufgeben. Denn es ist die Wahrheit der ersten Christen, die Judenchristen waren: eine ganz und gar jüdische Wahrheit. Am überzeugendsten haben Märtyrer diese Wahrheit dargestellt. Und Martyrium für die Wahrheit ist eine jüdische Erfindung.
Das Evangelium nach Matthäus
Mt 23,1-12: Scheinheiligkeit An den Gegnern lassen sich immer die Fehler der eigenen Gruppe gut erkennen. Daher beginnt Jesus mit einer Kritik an der Scheinheiligkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten, um diese dann direkt auf den eigenen Jüngerkreis zu übertragen. So liegt in unserem Abschnitt eine Jüngeroder eine erste »Kleruskritik« vor. Es besteht kein Grund, dieses erst für nachösterlich zu halten. Vielmehr ist das Christentum von allem Anfang an reformbedürftig, und das gilt nicht zuletzt deshalb, weil Gott Maßstab und Gegenüber ist. Denn »Lehrer«, »Vater« oder »Lehrmeister« lässt sich jeder gerne nennen. Wenn einige dieser Titel in der Kirche dann doch verwendet wurden (Lehrer, Abbas/Abt, Heiliger Vater), dann war das immer riskant. Doch christlich wurden diese Titel im Sinne der Abbildung Jesu Christi oder Gottes verstanden (wie schon die kirchlichen Ämter bei Ignatius v. Antiochien), nicht als Konkurrenz wie in Mt 23. Gegenüber den selbsternannten Lehrern und Vätern leben die christlichen nur von der Bezogenheit auf Gott, den Vater, und auf Jesus Christus her. Verlieren sie diese Ausrichtung auf den einzigen Lehrer und Vater, dann verfallen sie dem Verdikt Jesu nach Mt 23. Christliche Lehrer und Väter sind und geben nur, was sie von dem einzigen Lehrer und Vater her haben. In einem ersten Stück (23,1-4) kritisiert Jesus die Abweichung der Taten von den Worten. Das nennt man übrigens Scheinheiligkeit und nicht Heuchelei. Denn wer heuchelt, gibt vor, etwas zu tun, was er gar nicht ausführt und will (wie Judas mit seinem Freundeskuss). Da ist die Oberfläche ein irreführendes Zeichen; denn eine Handlung wird nur simuliert, äußerlich nachgestellt. »Scheinheilig« dagegen ist eine moralische Bewertung: Etwas wird als heilig dargestellt, was in Wirklichkeit böse ist. Hier geht es nicht um die Identität, den Charakter oder die Sorte der Handlung wie beim Heucheln, sondern um deren Qualität vor Gott, um die moralische Tiefenstruktur. Daher sind die Pharisäer nicht Heuchler, denn sie wollen ja eindeutig das tun, was sie behaupten. Sondern sie sind scheinheilig, weil sie gut zu sein beanspruchen, aber böse sind. – Im Übrigen beansprucht Jesus mit diesem Urteil keine historisch exakte Klassifizierung des gesamten Pharisäertums – er selbst
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Kapitel 24
lässt sich z. B. von Pharisäern einladen und wirbt geradezu um sie, steht ihnen auch sonst in einigen Grundanliegen (Reinheit!) nahe, auch wenn er andere Lösungen findet. Nein, Jesus misst hier mit Gottes Maßstab. Man darf da an Paulus erinnern, der ohne Zögern von sich sagen kann, er sei als Pharisäer nach menschlichen Maßstäben perfekt gewesen, doch eben vor Gott ganz und gar nicht (Phil 3,6). – Aber wie soll der Abstand von Wort und Tat überwunden werden? Der Evangelist Matthäus schreibt eben deshalb sein Evangelium, um zu sagen: Blickt nur auf Jesus und seinen Weg, schließt euch ihm an. Es wäre freilich nicht recht, wenn man das ganze Kapitel Mt 23 nur unter Kleruskritik einordnet. Auch die Pharisäerkritik ist nicht zu beschönigen und hat zur Zeit des Mt einen ernsten kirchenpolitischen Hintergrund. In einem zweiten Abschnitt (23,5-7) offenbart Jesus eine große Scheu vor der Sichtbarkeit, ähnlich in der Bergpredigt (Mt 6,1-18). Frömmigkeit ist kein Mittel der Selbstinszenierung, sondern der Christ soll teilhaben an der Verborgenheit Gottes. Jesus meint den Zusammenhang von Verborgenheit und herrlicher Zukunft. Wer jetzt sein Ansehen genießt, verschenkt seine Zukunft. Doch gewiss wäre es auch derselbe Fehler, nur andersherum, wollte man sich jetzt künstlich unscheinbar machen (Mt 6,16). Zum nicht vorhandenen Gegensatz zu Mt 5,15 vgl. dort. Denn wo alle Geschwister sind und nur einer der Herr ist, liegt das Gewaltmonopol bei dem einen Herrn. Unter Geschwistern ist niemand dazu berechtigt, sich auf dem Weg der Anwendung von Gewalt zum Herrn über einen anderen zu machen. Daher ist der Gewaltverzicht jedenfalls im Grundsatz eine direkte Konsequenz aus dem ersten Gebot. Jede maßlose Gewaltanwendung zu egoistischen Zwecken ist ein direkter Verstoß gegen das erste Gebot. Wir beobachten bei Jesus hier und auch sonst eine merkliche Konzentration auf das erste Gebot. Diese Absicht wird vor allem in seiner Verkündigung der Herrschaft Gottes greifbar, aber eben auch die Haltung gegenüber so verschiedenen Größen wie »persönlicher Ehrgeiz« oder »Gewalt« wird aus diesem Grundansatz begreiflich.
Mt 24-25: Endzeitliches In der Komposition des MtEv nimmt Mt 24f den Ort der synoptischen Apokalypsen ein, denn es steht am Schluss des öffentlichen Wirkens Jesu. In sich selbst ist der Abschnitt Mt 24f wiederum entsprechend gegliedert. Denn eine große und zusammenfassende Schilderung des Weltgerichts steht am Ende (Mt 25,31-46). Zunächst bietet Mt 24 Material, das wir auch bei Mk 13 finden. Die Besonderheiten von Mt 24 halten sich zunächst in Grenzen. Immerhin ist in 24,3 die Rede von »deiner Parusie«, und »Parusie« ist ein Leitbegriff, der sich in 24,27.37.39 (»P. des Menschensohnes«) wiederholen wird. 24,10-12 gibt eine intensiv gemeindebezogene Deutung der kommenden Notzeiten. Denn nach der in 24,9 geschilderten Verfolgung werden »viele Anstoß nehmen«, d. h. sie werden abfallen (vgl. Mt 18,6f), bei den Falschpropheten ist offensichtlich von christlichen Irrlehrern die Rede; denn die »Liebe der vielen«, die erkaltet, gibt es ähnlich in Offb 2,4 (»dass du die Glut der ersten Liebe hast erkalten lassen«); 3,15f (lauwarm). Ab 24,22 beginnt explizit das Thema Zeit, das bis Kap. 25 inklusive tonangebend wird. Von 24,26 bis 25,46 werden folgende Aspekte die Komposition des Mt bestimmen: 1. Alle Texte sind auf ein Ende der Zeit ausgerichtet, auf einen Tag, eine Stunde, in der oder an dem – oft unerwartet oder verspätet – Parusie, Gericht oder Rechenschaft angesagt ist, weil der Herr bzw. der Menschensohn »kommt« bzw. wiederkommt. 2. In der Zwischenzeit bis dahin, also im »Jetzt« der Komposition des Evangeliums, kommt es darauf an, dass die Abhängigen sich bewähren, zum Beispiel dadurch, dass sie das Ende nicht aus dem Auge verlieren, viel Phantasie aufbringen, um den unerklärten Willen ihres Herrn zu tun oder ihre Mitsklaven nicht zu peinigen. 3. Es ist dann oft von dualistischer Scheidung die Rede (Gute gegen Böse; Schafe gegen Ziegen). 5. In der Zwischenzeit kommt es darauf an zu wachen, bereit zu sein, sich durch die Verzögerung nicht irritieren zu lassen. »wachen«: 24,41.43; 25,13; verzögern: 24,48; 25,5. 6. In den Bildern (Gleichnissen) findet sich oft die Gegenüberstellung (Haus-)Herr/Sklave oder Hausherr/Dieb.
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114 Sozialgeschichtlich spiegelt Mt 24f die Situation von radikal Abhängigen, also im Wesentlichen von Sklavinnen und Sklaven. In diesem Bild wird hier das Gottesverhältnis erfasst.
Mt 24,37-44: Wachsamkeit Die gemeinsame Schnittmenge zwischen Röm 13,11-14 und Mt 24,(29).37-44 sind folgende Stichworte: »Nacht« und »Tag«, die »Stunde«, aufstehen vom Schlaf oder wach bleiben. Der »Tag« ist der Tag des Herrn, also die Stunde der Wiederkunft Jesu Christi. Die Nacht steht für die gegenwärtige Welt und Zeit. Für die Bibel Alten und Neuen Testaments (und für die Liturgie der Kirche) beginnt der Tag mit dem Abend. Das ist ganz grundlegend auch für das Verständnis des Daseins und der ganzen Weltgeschichte. Denn die Zeit des Dunkels, des Leidens, der Ängste und Zweifel, der Kälte und des Sterbens geht je voraus. Erst aus diesem Dunkel wird das Licht geboren. Das Morgenrot bekommt einen ganz anderen Stellenwert in der Symbolik der Zeit – auch Texte, wonach Jesus Christus der Morgenstern ist, bis hin zu Gerhart Hauptmanns Stück »Vor Sonnenaufgang«. Jeder Tag wird so zum Abbild des Tages des Herrn. Und es kommt darauf an, an diesem Tag früh dabei zu sein, um das Licht ganz auszuschöpfen und um die eigenen Wege auf das Licht einzustellen. Diese Symbolik von Nacht, Licht und Tag ist für mich auch die entscheidende Antwort auf die Theodizeefrage. Im Zentrum der beiden Texte Mt 24 und Röm 13 steht das Wachen bzw. das Aufstehen vom Schlaf. Beides meint dasselbe: Beide Bilder haben ihren Ursprung im Tempelgottesdienst in Jerusalem, im Gotteslob am Morgen. Denn wer wacht, um den Anbruch des Tages zu erleben, der sehnt sich förmlich danach, mit dem Licht des neuen Tages Gott zu begrüßen und zu loben. Man lese etwa Sir 39,6: »Für den Herrn in der Morgendämmerung zu wachen …, und betet im Angesicht des Allerhöchsten.« Jesus lässt das Wachen zum Bild für die gesamte christliche Existenz werden. Wachen bedeutet bei ihm Sensibilität für Menschen und Dinge. Das Gegenteil ist Schläfrigkeit und Dahindösen, mangelndes Dabeisein und Abschieben der Verantwortung.
Das Evangelium nach Matthäus
Zum anderen deutet Jesus den Morgen des Tages und den Tag überhaupt konsequent auf das »Ende« (der Welt). Jeder Tag bildet im Vorhinein Gottes Kommen, den Tag des Herrn, ab. Für das Judentum gibt es die ausgeprägte Symbolik der vier heiligen Nächte, die alle eins sind: die Nacht, in der das Licht erschaffen wurde, die Nacht, in der Gott mit Abraham den Bund schloss, die Passahnacht und die Nacht der Ankunft des Messias. Immer folgt hier auf das menschliche Dunkel das göttliche Licht. Es fällt auf, dass in Mt 24 wie in Röm 13 fast jedes tröstliche Wort fehlt, auch jede Erinnerung an das geschehene Heil. Es gilt in der Tat: Endzeitpredigt ist »nervend«. Sie setzt einfach voraus, dass wir Hörer des Wortes schläfrig und nicht bereit sind und durch das plötzliche Ende aufgeschreckt werden. Denn auch das Wie des Kommens ist größtenteils unklar. Wenn die Gestirne ihren Dienst versagen, wird es vor allem dunkel (Mt 24,29). Das Zeichen des Menschensohnes, das am Himmel erscheinen wird, ist übrigens nicht das Kreuz (so aber im apokryphen PetrusEv), sondern die lichte Wolke, die als himmlisches Fahrzeug auch nach Apg 1 schon ankündigen wird, dass der Herr ebenso wiederkommt, wie er weggegangen ist, nämlich mit der Wolke. Am zumeist klaren Himmel Palästinas sind Wolken durchaus Besonderheiten. Nun ist Jesu Rede in Mt 24, wenn man sie genau liest, leicht verwirrend, da sie in der Frage der Datierung des Endes zwei gegenläufige Tendenzen enthält: Bis V. 34 inklusive wird gesagt, dass das Ende bald kommt, nach V. 34 noch in dieser Generation. Dann aber heißt es, dass das Kommen des Endes doch eigentlich unberechenbar ist. Nach 24,48 kann einer sogar sagen: »Mein Herr bleibt länger aus.« Diese Widersprüchlichkeit beleuchtet nur zwei Aspekte der Zukunftserwartung: Dass das Ende bald, sehr bald kommt, dient der Absicht, die Menschen überhaupt aus der Lethargie aufzuwecken, die Vorbereitung auf das Ende nicht immer wieder aufzuschieben. Dafür wagt der Sprecher eine relative zeitliche Genauigkeit in der Terminangabe. Dabei meint der Ausdruck »dieses Geschlecht« nicht, wie wir annehmen möchten, eine Dauer von dreißig Jahren oder die Zeit, bis der letzte der jetzigen Zeitgenossen gestorben ist. Vielmehr
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Kapitel 25
meint die Redewendung eher eine moralisch negative Bewertung und enthält damit auch den Bezug zum Gericht, also in dem Sinne: »dieses Pack, das reif ist für das Weltgericht«. Daher stöhnt Jesus auch wiederholt über »dieses Geschlecht«. – Die zweite Aussage aber, dass der Termin für das Gericht unvorhersehbar sei, warnt mit dieser Aussage vor einer berechnenden Hektik, die sich auf das Morgen konzentriert. Nein, zu jeder Zeit kann der Herr kommen. Man weiß überhaupt nicht, wann das sein wird. Fazit: Aufschieben der notwendigen Änderung hilft nicht, auch schafft das Berechnen keine Freiräume, welcher Art auch immer. Vielmehr kommt das Ende jederzeit und nicht irgendwann später. An die Christen ergeht der Ruf, unverzüglich und in steter Anspannung zu handeln. – Man kann fragen: Wie geht Jesus hier mit den Zukunftsängsten der Menschen um? Diese werden in die Gegenwart verschoben. Üblicherweise haben Menschen davor Angst, nicht zu wissen, was kommt. Darüber aber gibt alle Apokalyptik bereitwillig Auskunft. Und die Menschen wissen auch genau, was zu tun ist, um dem Gericht zu entkommen. Die Ungewissheiten über den Ablauf der Endereignisse zu klären, wäre für das Handeln der Menschen wenig hilfreich. Denn das haben sie schon oft gehört. Viel einschneidender dagegen ist die Ungewissheit des Wann. Denn das nötigt zu sofortigem Handeln.
Mt 25,1-13: Von den klugen und dummen Mädchen In unserer Bibelübersetzung (Berger/Nord, Das Neue Testament, 1999) sprechen wir hier nicht von den »törichten Jungfrauen«, sondern von den »klugen und dummen Mädchen«, um nicht ein bisweilen lächerliches Jungfern-Bild festzuschreiben. Übrigens ist sachlich auch nicht von Brautjungfern die Rede; denn es ist der Bräutigam, der dadurch gewinnen will, dass nette junge Damen sein Ehrengeleit bilden. Der Text gehört zu den Skandalgleichnissen. Denn der Bräutigam verfährt mit den jungen Damen unverhältnismäßig hart. Er, der zu spät kommt, hat es sichtlich nicht nötig, sich zu entschuldigen, und nimmt es doch anderen übel, dass ihre Lampen nicht für sein Ausbleiben
115 reichten. Er schickt die eine Hälfte der zur Hochzeit eingeladenen jungen Damen nachts einfach weg. Der Bräutigam behauptet gar, diese Frauen gar nicht zu kennen. Diese unverhältnismäßige Härte im Verhalten des Bräutigams zeigt, wie ernst die Mahnung ist, seine Bereitschaft zum Wachen dadurch zu erweisen, dass man von vornherein genug Öl mitbringt. Dann kann man auch ruhig schlafen, was ja auch die klugen Frauen tun. Warum ist der Bräutigam so unhöflich? Unter den Voraussetzungen der Alltagswelt, in der Jesus lebt, ist dieser Bräutigam ein Flegel. Wegen dieser Unhöflichkeit ist Mt 25,10-12 ein Skandalgleichnis. Ist das Christentum eine Religion der bösen Überraschungen? Jedenfalls für Menschen mit schläfrigem Gemüt. Die mitleidslose Strenge macht deutlich, dass das Gericht streng und radikal ist. Nichts wird geschenkt. Wer nur etwas Öl mitnimmt, hat soviel wie gar nichts. So hieß es schon in verwandten Gleichnissen: Wer hat, dem wird gegeben; wer wenig hat, dem wird auch das Wenige noch genommen. Wegen dieser strengen Seite gehört das Gleichnis zu den Gerichtsgleichnissen. Aber was soll nun das Öl bedeuten? Steht das Öl für die Liebe, weil kurz zuvor, in Mt 24,12, von erkaltender Liebe die Rede ist, also auch von etwas, das langsam zu Ende gehen kann wie Öl? Oder geht es um Geduld (vgl. Mt 24,13)? Oder ist mit dem Öl der Glaube gemeint, der sich ja auch in der Dauerhaftigkeit bewähren muss? Auch im folgenden Gleichnis von den Talenten gibt der Hausherr (Jesus) beim Weggehen keinen konkreten Auftrag. Das Öl der Lampen steht jedenfalls nicht für blinden Aktivismus; denn schlafen dürfen nach diesem Gleichnis beide Gruppen Frauen. Es geht um Reserven, die reichen müssen für das Leben. Ist das Öl, das wir jetzt bunkern sollen, ein Bild für die Gleichnisse Jesu? Das Gleichnis vom Öl wäre dann zuerst ein Gleichnis über Gleichnisse wie beim Schriftgelehrten nach Mt 13, der Altes und Neues hervorholt aus seinem Schatz, wie beim Sämann nach Mk 4. Immer wieder wird in den ostkirchlichen Totenliturgien (H. J. Becker/H. Ühlein, Liturgie im Angesicht des Todes I-II, St. Ottilien 1997) das Bild der 10 Mädchen gebraucht, besonders in Liturgien für Frauen; für Frauen und Männer gibt
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116 es in einzelnen Kirchen wie selbstverständlich getrennte Rituale. So bittet man Gott z. B. nach dem ostsyrisch-chaldäischen Ritus für eine verstorbene Christin: »Mit den klugen Jungfrauen rufe deine Tochter in dein Brautgemach. – Gelobt sei Christus, der Bräutigam in den Höhen und das Licht der Gerechten, bei dessen Ankunft die klugen Jungfrauen jubeln und frohlocken. Alle Frauen in Betanien riefen aus und sprachen: Gelobt sei Christus, der die Toten aus ihren Gräbern heraus zurück zum Leben führt. … Unser Herr erfreue dich im Brautgemach seines Königreiches.« Andererseits sagt man in den Liturgien der Ostkirchen: In dieser Stunde, wenn der Bräutigam kommt, kann nicht einmal ein Engel ihn umstimmen, wenn das Tor verschlossen und der Vorhang im Heiligtum zugezogen ist. In der westsyrisch-antiochenischen Liturgie heißt es: »Alle Verstorbenen werden sich mit brennenden Lampen erheben, um mit dem Bräutigam in das Brautgemach eintreten zu können.«
Mt 25,14-30: Gleichnis von den Talenten Der Herr in diesem Gleichnis belohnt und bestraft nach freier Willkür. Er fordert, was er gar nicht in Auftrag gegeben hat – jedenfalls nicht ausdrücklich. Er kann doch froh sein, dass der dritte Sklave das anvertraute Geld nicht verschleudert hat! Aber nein, er ist nicht froh. Er hätte Zins und Wucher erwartet. Er kann nur den belohnen, der gewinnbringend investiert. Er muss daher hart sein gegenüber dem, der nach seinen kapitalistischen Maßstäben versagt. Schon zu Anfang schätzt er seine Untergebenen richtig ein; dem potentiellen Versager hat er auch weniger anvertraut. Er weiß das Geschäftsrisiko zu begrenzen. Und dann wirft der Herr dem Sklaven auch noch vor, er habe ja gewusst, was für einen Herrn er hat: einen Herrn, dem es nicht auf braves Bewahren, sondern auf Kapitalwachstum um jeden Preis ankommt, auch um den leibhaftigen Preis von Mitarbeitern. – Nichts tröstet angesichts dieses gnadenlosen Gerichtes. Man kann das alles sagen und kann sich über dieses Gottesbild empören. Doch das ist erst die eine Seite. Denn angeredet mit diesem Gleichnis sind doch Menschen. Und der so von Gott spricht, will zugleich etwas über Gottes Gegenüber, die Men-
Das Evangelium nach Matthäus
schen, sagen. Nicht Höchstleistung an sich ist hier das Ziel, sondern es geht um das Zusammenspiel mit diesem Gegenüber. Jesus sagt etwas über Gott und Mensch zugleich: im Sinne eines Spiels mit sehr verteilten Rollen. Worin liegt der Sinn von Gottes radikaler Forderung? Der Herr sagt es selbst von sich: »Ich ernte, wo ich nicht gesät habe« (Mt 25,26b). Genau das Umgekehrte aber soll der Sklave tun. Er soll säen, damit der Herr ernten kann. Der Herr handelt gerade nicht kreativ und produktiv, er sahnt nur ab und fordert. Um solchermaßen er selbst sein zu können, braucht er ein Gegenüber, das ganz anders, das ganz gegenteilig ist. Er ist hier der gnadenlos Fordernde, der Sklave dagegen ist zu reicher Phantasie angehalten. Das findet sich auch anderswo in der Botschaft Jesu. Gott wird dereinst vergelten, dann wird die Rache auf seiner Seite sein – doch alles das, richten und Rache üben, soll der Mensch gerade nicht tun. Und so ist es hier: Phantasie und Produktivität zeigt dieser Herr nicht, nicht er muss überlegen, was er mit seinem Geld macht – das ist vielmehr Sache der Sklaven. Er selbst ist verreist. Gott ist der andere. Hier geht es einmal nicht um Entsprechung zu Gott oder um seine Nachahmung, sondern um die Entgegensetzung. Gott ist dem entgegengesetzt, was er vom Menschen fordert. Welchen Sinn hat es, so von Gott und Mensch zu reden? Nur als der andere reizt Gott uns zum Eigensten. Nicht als der Phantasievolle fordert er Phantasie. Sonst würden die Menschen erdrückt. Gott ist nicht immer nur Vorbild, er kann auch der ganz andere sein. Allerdings geht es nicht um eine Verschiedenheit von Partnern auf gleicher Ebene, sondern als der »Herr« reizt er die Menschen, fordert er sie heraus zur Wahrnehmung ihrer eigenen Aufgabe (bei Texten über die Ähnlichkeit von Gott und Mensch steht dagegen eher der »Vater« im Vordergrund). Die Abwesenheit des Herrn ist die Chance zur Mündigkeit der Menschen. Vielleicht hat alle Rede vom Kommen Gottes und dass er noch nicht da ist, auch diesen Sinn: Dass Menschen noch, in ihrer begrenzten Zeit, das Feld ihrer eigensten Verantwortung wahrnehmen können und müssen. Wobei ganz klar ist: Nur eine Radikalität, die sich auf Gott gründet, kann bleiben. Zwei Merkmale hat das Wirken der Menschen auf eigenem Feld nach diesem Gleichnis. Es ist
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von ekstatischer Radikalität, und es geschieht ohne (formellen) Auftrag. Denn Gott fordert gerade dort, wo er keinen Auftrag gibt, wo kein Gebot hinreicht. Ist er jetzt nicht da, dann müssen die Menschen selbst überlegen und handeln. Die Bergpredigt zeigt exemplarisch Satz für Satz diese weit über alles formell Gebotene hinausgehende Radikalität als Haltung, um Gottes Willen zu ergründen. Der Sklave sollte den Willen seines Herrn kennen und erahnen, was er will. Er soll ihm den Wunsch von den Augen ablesen können. Das ist weitaus mehr, als was in Geboten zu fordern wäre, und vorausgesetzt ist ein sehr viel innigeres Verhältnis zwischen Sklave und Herrn als bei ausdrücklichen Befehlen. Sind wir hier am Nerv des Gleichnisses, der direkt auf Jesus selbst weist? Der Sklave sollte ohne Weisung den Willen seines Herrn erfüllen. Mit dessen Zielen soll er konform sein, gerade wenn er ihm nicht ähnlich ist. Und welches sind Gottes Ziele? Dass sein Wille nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden getan werde. Und dass der Mensch sein Christentum nicht für sich selbst behält, sondern durch sein Tun andere überzeugt und so mit den anvertrauten Gaben wuchert. Ich nenne diese Radikalität ekstatisch, denn Dienst nach Vorschrift genügt hier nicht. Dann wären die Menschen nur solche, die alles ordentlich bewahren. Dass Menschen darüber und über sich selbst hinausgehen müssen, nenne ich ekstatisch. Denn nur wer aus sich herausgeht, wird er selbst. Jesus sagt in diesem Gleichnis: Wenn ihr selig werden wollt, dann lasst euch von dem fordern, der bisweilen dieses »immer noch mehr« von euch will. Denn so könnt ihr euer eigenstes Feld bestellen, eure und nicht seine Aufgabe wahrnehmen. So ist die gnadenlose Strenge des Bankers nichts anderes als die Strenge, mit der Menschen aufgefordert sind, angesichts des geheimnisvollen Gottes selig zu werden, sich selbst nicht zu verlieren. Es geht um Leben und Tod oder um das Himmelreich.
Mt 25,31-46: Das Weltgericht Ein abgebrühter Kerl, ein hartgesottener Sünder hat ein dickes Fell, und ihn kann nichts mehr rühren. Jesus redet zu solchen Leuten und versucht es hier mit der extremsten Form des Imperativs. Er
117 bettelt nicht, sagt nicht, die Jünger sollten doch bitte zu Fremden, Hungernden und Nackten freundlich sein, weil sie alle Menschen sind. Jesus packt die Hartgesottenen von einer überraschenden Seite her. Stellt euch vor, sagt er, ich käme selbst. Würdet ihr da nicht ganz schnell alle Armut beseitigen? Jesus greift ganz in diesem Sinne zu einem letzten, äußerst beunruhigenden Mittel, wenn er sagt: Ich erkläre mich hiermit bedingungslos solidarisch mit jeder gescheiterten Existenz. So ist keiner mehr sicher vor ihm, denn die Menschen haben an jeder Straßenecke Gelegenheit, dem Weltenrichter selbst zu begegnen: Alles, was immer irgendein Mensch einem anderen tut, der in Not ist, das hat er Jesus getan. Gebende wie Empfänger müssen keineswegs unbedingt Christen sein. Wo immer jemand ihm, dem Weltenrichter, Erbarmen schenkt, wird er Erbarmen empfangen. Denn anders als in 25,40 (»meine Brüder«) ist in 25,45 nur noch von den »Geringsten« überhaupt die Rede; das ist ganz anders als in Mt 10,42 (»Jünger«). Der einzige Vorteil, den Jesu Jünger in dieser Situation vor anderen haben, ist dieser: Sie wissen um die Kriterien des Weltgerichts. Nur für sie werden die Maßstäbe des Gerichts nicht überraschend sein. Den Jüngern hat der Richter selbst den Geheimcode des Weltgerichts verraten: Es können die Menschen aller Völker und gleich welchen Bekenntnisses durch den Spruch des Gerichts in den Himmel gelangen, wenn sie Barmherzigkeit üben. Doch zwei Einschränkungen gibt es: Erstens kommen sie nicht ohne Jesus »in den Himmel«, denn niemand anders als er ist der Menschensohn und Richter. Zweitens sagt Jesus nichts über eine Berechtigung fremder Religionen als Heilsweg. Nach biblischem Verständnis gibt es einen Weg zum Heil weder außerhalb von Gott noch (das gilt für die Perspektive der missionierenden Gemeinde) außerhalb von Jesus, vgl. Joh, 14,6. Gottes Absicht ist es, in der Welt durch Barmherzigkeit seine »Gerechtigkeit« durchzusetzen. Jeder, der daran mitarbeitet, ist Gott ähnlich und steht seinem Reich nicht fern. Jesus fordert im Namen der Gerechtigkeit Gottes lediglich dieses: schreiende Not zu beseitigen. Nur wer barmherzig ist wie Gott selbst, kann vor ihm bestehen. Die Sendung Jesu und das ganze Christentum dienen nur diesem einzigen Zweck und werden
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118 nur an ihm gemessen. Gottes Wille ist eine universale Gerechtigkeit im Sinne der Konvivenz, d. h., dass einer dem anderen die Möglichkeit gibt, mit ihm zusammenzuleben, d. h. das Zusammenleben mit ihm auszuhalten. Unmissverständlich spricht dieser prophetische Text auch vom negativen Ausgang. Dabei ist übrigens die Scheidung zwischen Gerechten und Ungerechten nicht eine zwischen Schafen und Böcken, wie immer wieder übersetzt wird: »Böcke« sind nicht der Gegensatz zu »Schafen«, vielmehr wird geschieden zwischen (weißen) Schafen und (in Palästina schwarzen) Ziegen. Die Höllenaussagen halten den Spiegel vors Gesicht. Sie sind Bilder, aber nicht nur das. Sie haben appellativen, dringlich auffordernden Charakter, aber wir dürfen sie nicht auf diese Funktion beschränken. Die Aussagen über die Hölle stellen »paradoxe Interventionen« dar, sie schildern etwas, damit es nicht kommt. Aber sie sind nicht leere Aussagen. Sie sind nicht bloße Drohungen, und die Botschaft Jesu wäre nicht fair, wenn sie nur zum Zweck der Annahme der Botschaft das Inferno an die Wand malte. – Was wäre, wenn es in der jüdisch-christlichen Religion wirklich eine legitime Angst vor Gott gibt, die darin ihren Grund hat, dass Gott vielleicht wirklich auch ängstigend ist? Spiegel wollen diese Aussagen sein: Stell dir vor: Das, was du jetzt mit anderen vorhast, würde dich selbst treffen. Stell dir vor, du wärest Opfer, nicht Täter – würdest du da nicht vom Tun absehen? Stell dir vor, deine Tat würde dich »ganz kalt« einholen. Mit Gott hat das nichts zu tun. Nichts liegt ihm ferner als die Hölle. Freilich: In gewissem Sinne ist er Garant für Gerechtigkeit, dass auf ein Tun eine entsprechende Antwort erfolgt. Aber er ist nur dann dieser Garant, wenn man der von ihm gebotenen Möglichkeit, die Folgen eines unbarmherzigen Tuns barmherzig aufzuheben, selber in seinem Leben mit anderen nicht folgen will und Gottes Angebot, Sünden zu vergeben, ihm »ungelesen« zurückgibt.
Mt 26-27: Der matthäische Abendmahlsbericht und Jesu Leidensweg Alle christlichen Liturgien setzen bei dieser MtFassung an, die als einzige die Vergebung der
Das Evangelium nach Matthäus
Sünden verheißt. – Die syrische Anaphora Timothei Alexandrini (ed. A. Raes, 25) z. B. interpretiert: »Ebenso ist das in diesem Kelch Gemischte das Blut des Neuen Bundes, lebendig machendes Blut, heilsames Blut, himmlisches Blut, Blut, das rettet unsere Seelen und unsere Leiber, Blut des Herrn und Gottes und unseres Erlösers Jesus Christus zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben Amen.« Einführung in die Passion nach Matthäus Die Matthäuspassion weist gegenüber den anderen Evangelien (inklusive PetrusEv bei Berger/ Nord, 2005, 675 ff) folgende wichtige Besonderheiten auf: Die positive Rolle von Frauen in der Passion wird gestärkt. Die Frau des Pilatus weist auf Jesu Unschuld, die Mutter der Zebedaiden Johannes und Jakobus steht beim Kreuz, und nach Mt 28,9f erscheint Jesus zwei Frauen. – Matthäus verstärkt Elemente aus der biblischen Tradition des leidenden Gerechten (in 27,43: Zitat aus Ps 22,9; in Mt 26,15 und 27,9: 30 Silberstücke aus Sach 11,12f). Die herausfordernden Worte unter dem Kreuz werden so formuliert wie die Versuchung durch den Teufel (vgl. Mt 4,3.6: »Wenn du der Sohn Gottes bist …« mit Mt 27,40 bei entsprechender Formulierung). Indem Jesus die Versuchung übersteht, erweist er seine Legitimität. – Jesus wird wie schon in den vorangehenden Kapiteln dieses Evangeliums dargestellt als sanft und gewaltlos: Nachdem dem Sklaven des Hohenpriesters ein Ohr abgeschlagen wurde, befiehlt er, das Schwert wieder einzustecken, »denn alle, die ein Schwerrt in die Hand nehmen, werden durch das Schwert umkommen« (Mt 26,52). Jesus verzichtet auf Hilfe durch zwölf Legionen Engel. – So wird er zum Beispiel der eigenen Botschaft, sich gegen das Böse zu wehren (vgl. Mt. 5,39-44). Das wird insbesondere dadurch erreicht, dass Jesus als Gerechter dargestellt ist – die Gerechtigkeit gilt ja nach Mt als das vor Gott allein gültige Kriterium. So laufen alle bisher beobachteten Besonderheiten in dieser einen zusammen. Besonders deutlich wird das an dem nur bei Matthäus belegten Satz aus dem Mund des Pilatus: »Unschuldig bin ich an diesem Blut« (27,24) und an dem Eingeständnis des Judas: »Ich habe gesündigt, da ich unschuldiges Blut auslieferte« (27,4). – Nur bei Matthäus findet sich der berühmte Satz: »Sein Blut komme über
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uns und unsere Kinder!« (27,25). – Dieser Satz bedeutet: »Wenn er unschuldig ist, soll uns und unsere Kinder dieselbe Strafe treffen wie ihn. Denn dann übernehmen wir mit unserem Leben die Verantwortung für diese Hinrichtung.« Dieser Satz bedeutet im Übrigen keinen Freibrief für jahrhundertelange Judenverfolgung, sondern ist nach Matthäus schon in der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 in Erfüllung gegangen. Denn Jesus sagt in Mt 23,35: »Strafe wird über euch kommen für alles unschuldige Blut, das auf der Erde vergossen worden ist … die Strafe wird über diese Generation kommen!« Die eigentliche Sühne jedenfalls für alle Mordtaten auf Erden ist nicht der Tod Jesu, sondern die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70. Matthäus bringt besondere Nachrichten über Judas und sein Geschick. Nur Matthäus kennt die 30 Silberlinge und begründet sie in der Schrift. Und als Judas sieht, wie Jesus den Händen des Pilatus übergeben worden ist, da bricht er zusammen, erkennt seine Schuld und erhängt sich (27,1-5). Offenbar hatte er Jesus nur den jüdischen Autoritäten ausliefern wollen, wohl nicht in den Tod, sondern damit sie sich ihn zur Brust nähmen. Als er aber Jesus in der Gewalt des Pilatus sieht, ist für ihn klar, dass dieses mit dem Tod Jesu enden wird. Nur Mt berichtet, dass Judas sich erhängt und dass von seinem Geld ein Begräbnisplatz für Fremde gekauft wird. Nur bei Matthäus und im apokryphen PetrusEvangelium gibt es die Nachricht, dass Jesu Grab durch Wächter gesichert wird. So werden dann zu Ostern seine Feinde wider Willen zu Zeugen seines Triumphes der Auferstehung. Eine absolute Besonderheit bei Matthäus ist die Notiz, dass beim Tod Jesu die Felsen sich spalteten und verstorbene Gerechte herauskamen, die nach der Auferstehung auch Leuten in der Stadt erschienen (27,52f). Hier handelt es sich offenbar um ein theophanes Prodigium, d. h. der Tod Jesu ist eine derartige kosmische Erschütterung, dass die Erde reagiert wie kurz vor dem Kommen Gottes: Sie gibt die ihr anvertrauten Toten zurück. Ähnliches wird ja auch am Ende der Zeiten bei der allgemeinen Auferstehung geschehen: Wenn Gott kommt und weil Gott kommt, gerät die Erde so in Erschütterung, dass sie nicht bei sich behalten kann, was ihr nicht gehört und was ihr nur anvertraut ist. Das ist so ähnlich wie Frühgebur-
119 ten bei Gewitter. Man kann das nicht mehr halten, was man auf Zeit anvertraut bekommen hat. Die Erde gibt verfrüht das wieder, was sie erst am Ende herausgeben sollte. Die Erschütterung beim Tod des gerechten Jesus hat deshalb theophanen Charakter, weil das größte Verbrechen sofort auch Elemente von Gottes Gericht auf den Plan ruft. Gott wird angesichts solchen Unrechts ganz sicher bald kommen, und ein Vorgeschmack ist diese Totenauferweckung. Das Gericht kündigt sich an. Auch bei uns würden wohl die Zeugen eines Verbrechens äußern: »Der Himmel meldet sich schon«, wenn sie alsbald nach dem Verbrechen einen Donnerschlag vernähmen. Die Auferweckung Toter ist nur Folge der Erschütterung der Erde, die zu den klassischen Symptomen einer Gotteserscheinung gehört. Wir erkennen daraus auch, dass eine allgemeine Auferstehung weniger vom Menschen her zu denken ist als vom Erscheinen Gottes her, nämlich als eine Erschütterung bis in die tiefsten Tiefen des Kosmos. Liest man, von unseren Beobachtungen ausgehend, noch einmal die ganze Passion nach Matthäus, liest man sie sowohl von dem her, was mit Mk gemeinsam ist, als auch von den Abweichungen (»Sondergut«) her, so ergibt sich als theologischer Leitfaden: Matthäus verstärkt durch viele aufgenommene Einzelepisoden am Rand den dramatischen Charakter im Ablauf dieses Justizskandals. Matthäus betont, dass hier die Spitze allen Unrechts auf Erden geschah. Der Mord an diesem Gerechten ist das ungeheuerlichste Verbrechen. Wie alle anderen Evangelisten, so ist auch Matthäus extrem zurückhaltend in einer weitergehenden theologischen Deutung, die über das Thema »Mord am Gerechten« hinausgeht. Diese Zurückhaltung ist auffällig. Sie wird nur wenig gemildert durch das Becherwort beim letzten Mahl Jesu: »Trinkt alle daraus. Denn das ist mein Bundesblut, ausgeschenkt für alle, damit Sünden vergeben werden können.« Man kann auch übersetzen »vergossen für viele« (Mt 26,28), und dann bezieht es sich auf das Kreuz als Stiftung des Bundes. Aber das ist im ganzen Bericht nur eine, wenn auch eine wichtige Stelle. Der Hauptstrom geht jedoch in eine andere Richtung, und das ist nun typisch matthäische Auffassung davon, wie Jesus der »Erlöser« der Welt ist. Jeder Leser des MtEv bemerkt, dass das durchgehende Thema dieses Evangeliums die
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120 Gerechtigkeit ist. Das gilt von der Bergpredigt (Mt 5,20) bis hin zur Schilderung des Weltgerichts in Mt 25,31-46. Wenn nun aber Jesus, der Gerechte schlechthin, in der Welt so schreiend ungerecht behandelt wird, dann ist hier der Kampf zwischen Gerechtigkeit und Unrecht aufs Äußerste zugespitzt. Gerechtsein ist das, was vor Gott Ansehen schafft – die Gerechten werden leuchten wie die Sonne (13,43). Jesus erleidet Unrecht und äußerste Schande. Er wird erniedrigt bis zum Kreuz. Doch dieses Schicksal des Gerechten ist nicht das Letzte und kann es nicht sein. Denn wer gedemütigt wird, der muss erhöht werden (Mt 23,12). Wer demütig, sanftmütig und geduldig leidend ist wie Jesus, der wird verherrlicht werden. Das geschieht nicht nur bei der Auferstehung, sondern vor allem, indem Jesus vollständige Vollmacht über Himmel und Erde erhält (28,18). Wenn der Auferstandene sagen wird: »Mir ist alle Macht gegeben …«, dann ist er eben dadurch der Erlöser der Welt. Denn die auf seinen Namen und auf Vater und Geist Getauften stehen unter seinem mächtigen Schutz. Wer in der Taufe so unter den Namen Gottes gestellt wird, der ist vor Hölle, Tod und Teufel und jeder widrigen Macht bewahrt. Die Taufe ist daher hier das Medikament, das allen Schaden und alles Böse abwehrt, denn alle Jünger sind unter den Schutz des Erhöhten gestellt. Jesus war der bis zum Äußersten Erniedrigte, ungerecht Verurteilte, Schwächste. Eben deshalb wird nach biblischer Logik sein Triumph in der Auferstehung mächtiger Schutz für seine Jünger. Wie kein anderer Evangelist gestaltet Mt seinen Bericht durch Einflechten zahlreicher »sprechender« Einzelepisoden. Diese haben die Rolle, sinnvolle Deutungen des Ganzen in Gestalt von Zeichen und Vorzeichen zu geben. Zu Mt 26,28: Nur bei Mt gibt es zu Blut des Bundes den Zusatz »das für viele ausgegossen wird zum Nachlass von Sünden«. Dem entspricht, dass Mt bei der Taufe des Johannes den Zusatz »zum Nachlass von Sünden« nicht hat. Das aber heißt: Für Mt ist die Taufformel in Mt 28,19 gültig, die von Sündenvergebung durch die Taufe genauso wenig spricht wie Mt 3. Die Vergebung der Sünden dagegen erlangt man durch die – wohl per Abendmahl erwirkte – Zugehörigkeit zum Bund. Die Taufe stellt unter dem Schutz
Das Evangelium nach Matthäus
des dreieinigen Gottes und macht zu seinem Eigentum. Das Abendmahl geht einen Schritt weiter. Allerdings fehlt in Mt 26 ein Wiederholungsbefehl beim Abendmahl. Daher kann es sein, dass – jedenfalls in den Anfangszeiten – nur der Bund in Jesu letztem Mahl begründet wird, noch nicht aber die Mahlfeier der Gemeinde. Die Zugehörigkeit zum Bund macht die Sündenvergebung aus, und sie wird durch Mt 18,18 (vgl. Mt 16,19) geregelt: Wer – auf Gemeindebeschluss – »zum Bund hinzutreten« darf (Ausdruck aus der Damaskusschrift), ist damit frei von Sünden. Offen bleibt, ob das vor oder nach oder mit der Taufe geschieht. Zu Mt 26,52-54: Das mit reichem apokalyptischem Material gefüllte Stück enthält drei Teilaussagen: 1) Jesus lehnt den Waffengebrauch seines Jüngers ab und gibt zur Begründung den weisheitlichen Satz: »Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.« Vgl. dazu Offb 13,10: »Wer andere in Gefangenschaft führt, geht selbst in Gefangenschaft. Wer andere mit dem Schwert hinrichtet, wird selbst dem Schwert zum Opfer fallen.« Das gilt in Offb 13 vom römischen Staat und seinen Repräsentanten, besonders dem Kaisertum. – Der weisheitliche Kernsatz behauptet die Geltung der Talio; sie wird öfter in Texten der Apokalyptik verkündet (vgl. Mt 7,1). Sie gilt sonst für Menschen, die sich gegen Gott versündigen, denn Gott darf nach der Talio verfahren. 2) Jesus könnte um 12 Legionen Engel bitten, lehnt das aber ab. Jesus selbst spricht von der (zukünftigen) Epiphanie des Menschensohnes zum Gericht »mit seinen Engeln« (Mt 13,41; 16,27; 24,31; 25,31). Aber er kann die Situationen unterscheiden; sein jetziges Kommen dient dem Retten, erst das künftige dem Gericht. Gleichwohl ist er schon derselbe Menschensohn, der auch kommen wird. Grundsätzlich steht ihm daher ein Trupp Engel zu. Doch das jetzt zu erbitten, wäre gegen Jesu Auftrag. Diesen bespricht die dritte Teileinheit: 3) Die »Schriften müssen erfüllt werden.« Und diese Schriften sagen immer nur dieses: Vor der Herrlichkeit steht das Leiden. Das erste Kommen des Menschensohnes steht im Zeichen von Demut, Dienen und Leiden. Die Abfolge von Leiden
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Kapitel 27
und Herrlichkeit ist dabei unumkehrbar. Die hier ausgesprochene Notwendigkeit ist eine gesetzmäßige, die aber nicht unmittelbar den Willen Gottes wiedergibt, sondern eine geschichtliche Gesetzmäßigkeit. Der pauschale Schriftverweis bezieht sich nicht auf Einzelstellen, sondern auf eine gefühlte Übereinstimmung aller Propheten in ihrer Geschichtstheologie.
Mt 27,1-10: Jesus wird an Pilatus überstellt, und Judas erhängt sich Nach allen vier Evangelien besteht die entscheidende Wende im Verfahren gegen Jesus darin, dass die jüdischen Autoritäten Jesus an Pilatus übergeben. Erst dadurch war sichergestellt, dass der Beschluss, das Todesurteil, auch würde ausgeführt werden können. Nach dem Sondergut des Mt in 27,3-10 ist diese Übergabe auch der Wendepunkt im Leben des Judas. Denn offenbar erst jetzt, nachdem er Jesus in den Händen des Pilatus sieht, werden ihm die blutigen Konsequenzen seiner Handlung klar. Denn jetzt kann er plötzlich zu der Einsicht gelangen: »Ich habe gesündigt, da ich unschuldiges Blut auslieferte.« Auch Judas versteht, dass Pilatus Jesus töten lassen kann. Wahrscheinlich bekommen wir durch diese Szene Einblick in die Motivation und die ursprünglichen Absichten des Judas: 1) Judas wollte nicht den Tod Jesu. Diesen Effekt seiner Handlung hatte er weder gewollt noch vorhergesehen. – 2) Judas wollte daher Jesus nur in die Hände der jüdischen Honoratioren geben. – 3) Das kann nur von der Absicht begleitet gewesen sein, dass die jüdischen Autoritäten Jesus ins Gewissen reden sollten (viel mehr konnten sie nicht tun). – 4) Judas wollte dadurch ein vernichtendes Eingreifen der Römer verhindern. Nach Jesu Einzug in Jerusalem, bzw. der Unruhe, die damit verknüpft war, bestand die akute Gefahr, dass die Römer gegen diesen Messiasprätendenten eingriffen. – 5) Judas hat daher aus Liebe zu seinem Volk (um ein Eingreifen der Römer zu verhindern) Jesus in die Hände der jüdischen Obrigkeit ausgeliefert. Die Tötung Jesu war damit keineswegs automatisch verbunden. Diese Konsequenz sieht Judas erst jetzt – mit Recht – auf Jesus zukommen. – 6) Damit verblassen alle anderen
121 Deutungen des Todes Jesu, die man erwogen hat (Labilität, Geldgier, enttäuschte Messiaserwartung). Judas stand demnach vor einer sehr ernst zu nehmenden Alternative: Liebe zu seinem Volk oder Treuepflicht gegenüber seinem Lehrer. Mt verbindet den Bericht über Judas mit Notizen über dessen Lebensende und über Geldgeschäfte im Zusammenhang mit der Gefangennahme Jesu. Den unterschiedlichen Berichten (Mt 27,5); Offb 1,15-20 und Papias (Berger/ Nord, Neues Testament, 2005, 1071) liegt auf jeden Fall dieses zugrunde: Judas stirbt zeitlich in größter Nähe zum Tod Jesu einen ungewöhnlichen bzw. unnatürlichen Tod, auch von einem Grundstück ist in allen drei Berichten die Rede. Dass Judas sich (so Mt) erhängt, steht in typologischer Entsprechung zum Kreuzestod Jesu, der dem Aufgehängtwerden gleicht. – Nach Apg 1 fällt Judas vornüber, und seine Eingeweide treten heraus; nach Papias schwillt Judas an und stirbt an einer Art Elephantiasis. Mt 27 und Apg 1 sind verbunden durch Berichte über ein Grundstück unter dem Stichwort »Blut«, die freilich unterschiedlich ausgestaltet werden, Apg 1 und Papias dadurch, dass der Tod mit körperlichen Leiden des Judas zu tun hat. Der Bericht in Mt 27 ist mit Sach 11,12f verwoben: Sacharja sagt zu den abtrünnigen Juden: »›Wenn es euch gefällt, so gebt mir meinen Lohn, wenn nicht, so lasst es bleiben.‹ Da wogen sie mir meinen Lohn vor, 30 Silberlinge. Der Herr aber sprach zu mir: ›Wirf ihn dem Silbergießer hin, diesen herrlichen Preis, den ich ihnen wert bin!‹ Da nahm ich die dreißig Silberlinge und warf sie im Haus des Herrn dem Silbergießer hin.« – In Sach 11 demonstriert das Volk auf sarkastische Weise, was der Prophet ihnen wert ist. In dem Gotteswort bezieht Gott diesen Preis auf sich selbst: Nicht was der Prophet dem Volk wert ist, sondern was er selbst für das Volk bedeutet, kann man an den 30 Silberlingen erkennen. – Auch bei Mt kann man von einer Sprech- und Handlungseinheit zwischen dem himmlischen Vater und Jesus ausgehen. Daher ist auch bei Mt der tiefere, hier aber verhüllte, theologische Sinn: So viel (d. h. so wenig, nämlich diese lächerliche Summe) ist Gott ihnen wert. Bei Mt ist es erst Judas, der die Summe in den Tempel wirft. Im Unterschied zu Sach 11 ist dieses nicht Auftrag Gottes. Vielmehr vollendet Ju-
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122 das durch diese Tat die Zeichenhandlung im Sinne von Sach 11. Die Übereinstimmung der Summe (30 Silberlinge), die für den Wert eines Propheten steht, bringt ihn dazu, nach seiner Einsicht das Geschehen im Sinne der prophetischen Zeichenhandlung zu Ende zu führen. Denn seine Einsicht (»unschuldiges Blut vergossen«) bedeutet für ihn wohl die Erkenntnis, dass es sich auch hier um den Wert Gottes in den Augen seines Volkes handelt. Denn bei diesem Gerechten geht es um Gott. Indem Judas den Vorfall zu einer Zeichenhandlung ausgestaltet, hat er etwas vom Geist Jesu bewahrt, dessen vornehmliche Handlungsart die Zeichenhandlungen sind (neben den Zeichen-Geschichten, den Gleichnissen). In Mt 27,6-8 fügt der Evangelist eine Namensätiologie für die Gemarkung »Blutacker« hinzu. Im Kontext des MtEv ist das ein Stück theologischer Geografie, die sich zuvor mit den Namen Betlehem, Nazaret, Galiläa (Mt 4,15) und Sion verbunden hatte. Mit dem Stichwort »Blut(acker)« wird noch einmal das Eingeständnis des Judas von 27,4 (Blut vergossen) aufgegriffen. Der Begräbnisplatz für Fremde bedeutet potenzierte Unreinheit. Die jüdische »Obrigkeit« wird daher als eine auf peinliche Reinheit bedachte Instanz dargestellt – und das eigentliche Vergehen, der Mord an einem Propheten, bleibt unbemerkt. Damit wird das Thema von Mt 23,27, insbesondere von 27,28-31, wieder aufgegriffen (Kontext: Unreinheit – Prophetenmord der Scheinheiligen). Theologie: Judas wird zum Zeugen der Unschuld Jesu. Er bekennt Jesus als Gerechten. Das entspricht der theologischen Gesamtlinie des Mt. Der Selbstmord des Judas wird zum Zeichen dafür, wie ernst er sein Bekenntnis meint und wie sehr er sich geirrt hat. Denn der Tod aus Verzweiflung wird zum Eingeständnis der eigenen Schuld und indirekt der Unschuld Jesu. – Der alttestamentliche Hintergrund beim Propheten Sacharja bestätigt dramatisch, wie sehr hier das Gottesverhältnis Israels berührt ist. Auch im Unheil erfüllt sich Gottes Wort.
Das Evangelium nach Matthäus
Den Titel »König der Juden« (27,11) kennen die Leser des MtEv seit 2,2. Von Kap. 2 her wissen sie auch, dass dieser Titel die Qualität von politischem Sprengstoff hat. In Mt 27,12.14 wird gegenüber den anderen Evangelisten betont, dass Jesus schweigt und sich nicht verteidigt. Der gebildete Leser wird darin ein Sokrates-Motiv finden. Der Traum der Frau des Pilatus (27,19f) bestätigt als weiteres Zeugnis die »Gerechtigkeit« und Unschuld Jesu. In der positiven Bewertung von Träumen steht Mt im Neuen Testament, aber auch in der Weisheit des Frühjudentums, einzig da. Der Traum der Magier nach Mt 2 gibt diesen den rechten Weg an. Nach Mt 1,20; 2,13.19.22 erhält Josef Handlungsanweisungen im Traum. Alle Stellen finden sich nur bei Mt; in Mt 27,19f und in Mt 2,12 sind Heiden die Adressaten. Auf jeden Fall sind daher die Traum-Offenbarungen nach Mt eine Brücke zur heidnischen Astrologie. Das gilt auch von der Magier-Perikope in Mt 2 im Ganzen. In jedem Fall enthalten die Träume nach Mt Befehle an die Menschen, oft über Ortsveränderungen (wie bei dem Makedonier in Apg 16,9). Zu Mt 27,16f: Barabbas heißt »Sohn des Vaters« und ist somit als Eigenname eine Entsprechung zum theologischen Würdetitel Jesu – zweifellos eine merkwürdige Fügung. Der Evangelist nutzt diese Übereinstimmung aus: Der eine ist ein Terrorist, der andere das Gegenteil. Der Terrorist wird freigelassen, Jesus zum Tode verurteilt. Der Kontrast wird durch den Traum der Frau des Pilatus noch verstärkt, ebenso durch das Händewaschen des Pilatus. Beides bezeugt, dass Jesus gerecht ist. Matthäus zielt daher hier auf die Häufung der »Beweise«. Jesus ist eindeutig der Gerechte, und er leidet ebenso eindeutig zu Unrecht. Zu Mt 27,19: In der antiken Literatur sind es verhältnismäßig oft Träume von Frauen, die im Traum Grausames oder Blutiges sehen, – der Grund, Männer von bestimmten Aktionen abzuraten.
Mt 27,11-61: Jesu Passion bis zur Grablegung Die Unterschiede gegenüber dem Mk-Bericht konzentrieren sich auf wenige Einzelheiten.
Zu Mt 27,24: Zunächst ist hier an das Alte Testament zu denken, und zwar an Ps 24(25),6-12 (»Ich will in Unschuld meine Hände waschen«)
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bezogen auf die priesterliche Reinheit beim Opfer im Tempel, auch im Psalm schon moralisch verstanden, aber im Kult als rituelles Händewaschen formalisiert (wie später im christlichen Messopfer). – Anderswo verstanden als demonstrativer Akt der Distanzierung des Händewaschenden vom Täter, der Blut vergossen hat; vgl. dazu Mischna Sota 9,6: »Die Ältesten dieser Stadt waschen ihre Hände mit Wasser an dem Ort, wo dem Kalb das Genick gebrochen wurde. Sie bekannten dabei: Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen, und unsere Augen haben es nicht gesehen.« (Komm.) »So, wie unsere Hände rein sind, so sind wir rein von dem Mord an diesem Kalb.« Für den griech. Bereich bewirkt das Händewaschen offenbar die Reinigung des Täters (!) von Blutschuld: Scholien zu Sophokles, Ajax: »Es war Sitte bei den Alten, bei einem Mord an Menschen oder anderem Blutvergießen mit Wasser die Hände zu waschen, um von der Befleckung rein zu werden.« Für das Alte Testament vgl. 1 Kön 2,31f: König Salomo befiehlt in Bezug auf einen Mörder: »Stoß ihn nieder und begrabe ihn. Damit entfernst du von mir und meiner Familie das von Joab unschuldig vergossene Blut. Der Herr lasse sein Blut auf sein Haupt kommen! Er stieß ja zwei Männer nieder, die gerechter und besser waren als er, und tötete sie mit dem Schwert …« Das heißt: Wenn der Mörder ermordet wird, kommt das Blut des unschuldig Ermordeten auf das Haupt des Mörders. Damit wird es gerächt. – In Jer 26,16 sagt Jeremia zu seinen Gegnern: »Wenn ihr mich tötet, bringt ihr unschuldiges Blut über euch, über diese Stadt und ihre Bewohner. Denn der Herr hat mich wirklich zu euch gesandt …« Zu Mt 27,25: »Sein Blut [komme] über uns und unsere Kinder!« Die Logik dieses Satzes muss erst rekonstruiert werden: a) Blut steht für Leben; es ist ein Realsymbol (d. h. es ist real und zugleich Symbol für das Ganze). Im Blut ist der Lebensgeist. b) Alles Leben gehört dem lebendigen Gott und darf daher nicht illegal angeeignet werden. c) Daher darf Blut weder gegessen, noch illegal vergossen werden. Was illegal ist, bestimmt die Torah. Zum Beispiel ist Mord (5. Gebot) illegales Blutvergießen und ein massiver Eingriff in Got-
123 tes Recht. Krieg, Notwehr und rechtmäßige Hinrichtung von Verbrechern sind legale Tötungen. d) Illegal ist Tötung eines Unschuldigen. e) Für diesen Fall ist Mt 27,25 die Selbstverfluchung für den nicht ausgesprochenen und nicht gewünschten Fall, dass die Juden Jesus zu Unrecht verurteilen. f) Wenn vergossenes Blut »auf jemanden kommt«, von oben her »über jemanden kommt«, hat es keine Ruhe in der Erde gefunden, sondern klebt am Täter, vor allem an seinen Händen. – Dass »Blut über (auf) jemanden kommt«, ist in der Umwelt des Neuen Testaments in zwei Zusammenhängen geläufig: im Taurobolion und bei der so genannten Bluttaufe. Das Taurobolion ist ein ritueller Akt, in dem der in einer Grube hockende Mensch durch das Blut eines auf Latten über ihm geschlachteten Stieres besudelt und eingehüllt wird und so neues Leben erhält (Prudentius, Peristephanon § 10). Vergleichspunkt mit Mt 27,25: In dem Blutbad mit Fremdblut verbindet sich das eigene Leben mit dem fremden Blut, im heidnischen Ritus zum Leben, in der jüdischen Vorstellung zum Tod. – »Bluttaufe« nennt man den Märtyrertod von Christen, in dem sie mit dem eigenen Blut benetzt werden. Sie schenken ihr Leben und Blut dem Gott, von dem sie es erhalten haben. Vergleichspunkt mit Mt 27,25: Leben oder Tod des Menschen hängen daran, was er mit seinem Blut macht oder geschehen lässt. Die Märtyrer widerstehen bis aufs Blut und lassen keinen anderen Eigentümer ihres Blutes zu als Gott. Ihm allein gehört ihr Leben. Insofern sind sie das Gegenteil von Mördern, die Gott dieses Recht nehmen. g) Die Vorstellung ist dann: Das Blut des Ermordeten kommt auf sie, befleckt sie, haftet an ihnen. Und weil das Blut des illegal Ermordeten (des Gerechten) Gott gehört, wird er es von denen fordern, an denen es haftet. Das heißt: Gott wird den Mördern das Leben nehmen, denn mit deren Blut hat sich das von ihnen vergossene Blut vermischt. Gott fordert rigoros das zurück, was ihm gehört. Und das ist insbesondere das Blut von illegal umgebrachten Menschen, d. h. von Ermordeten. h) Der Ruf der Juden in Mt 27,25 ist daher so zu verstehen: Wenn wir diesen Verbrecher hier zu Unrecht verurteilen, dann mag Gott dessen unschuldiges Blut, das dann ja auf uns lastet,
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124 von uns zurückfordern. Das heißt: Dann mag Gott uns töten, so wie wir ohne Recht getötet haben. i) Es ist also auch vorausgesetzt, dass Gott nach der Talio verfahren kann und wird, wenn es um sein Eigentum geht. j) Nach Mt 23,35(-38) ist alles illegal vergossene Blut (d. h. das von ermordeten Propheten und Gerechten) bei der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 »auf diese Generation« des jüdischen Volkes »gekommen«, d. h. die Blutschuld der ganzen Geschichte – inklusive Verfolgung christlicher Propheten und Jesu – hat sie eingeholt. Damit ist aber die Selbstverfluchung von Mt 27,25 ausgeglichen und ein für alle Mal erfüllt. Wegen des Zueinanders von Mt 23,35 und 27,25 besteht und bestand nicht die geringste biblische Rechtfertigung dafür, dass Christen die Strafe der Ächtung der (biblisch zweifellos gegebenen) Blutschuld an Juden selbst in die Hand nahmen. Mit der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 ist jedes erdenkliche Gottesgericht abgegolten. Zu Mt 27,29: Bei der Verspottung Jesu hat Mt zwei Elemente mehr als alle anderen Evangelisten: Man gibt Jesus ein Rohr in die rechte Hand und verspottet ihn durch die Kniebeuge. Beide Züge ergänzen einander. Vgl. dazu die Verspottung des Carabas nach Philo, Gegen Flaccus, 36-40: »… anstatt eines Zepters gab ihm einer ein kurzes Stück einheimischen Papyrus, das er am Wegrand gesehen und abgerissen hatte … Dann traten andere vor ihn hin, teils als wollten sie ihm huldigen, teils wie um einen Prozess zu führen … ›Marin‹ riefen sie – so wird angeblich bei den Syrern der Herrscher genannt.« Mt vervollständigt daher gegenüber den anderen Evangelisten die Szene der Verspottung – ganz im Sinne des zeitgenössischen Zeremoniells und der verspottenden Nachahmungen. Mantel und Krone gab es auch bei Philo, Gegen Flaccus 37. Zu Mt 27,40: Nur Mt formuliert die »Versuchung« am Kreuz so: »Wenn du der Sohn Gottes bist, (steig herab vom Kreuz).« Die Übereinstimmung mit der Versuchung (Mt 4,3.6) ist nicht zufällig, sie hat vielmehr theologischen Sinn: In allen drei Fällen geht es um das persönliche physische Wohlergehen des Messias. Dazu
Das Evangelium nach Matthäus
aber ist der Messias nicht gekommen. Das unterscheidet ihn von anderen Herrschern. Zu Mt 27,43: Nur bei Mt findet sich: »Er hat auf Gott vertraut! Er errette ihn jetzt, wenn er ihn will.« Denn er sagte: »Gottes Sohn bin ich.« – Vgl. dazu Ps 22,9: »Er baute auf den Herrn; der soll ihn befreien, der soll ihn retten, wenn er ihn liebt!«; Ps 18,20: »… er entriss mich, da er mir wohlgesinnt war.« Das Zitat aus Ps 22,9 ist die Fortsetzung des Zitats aus Ps 22,8 in Mt 27,39: »Wer mich sieht, verzieht den Mund und schüttelt den Kopf.« Mt bietet daher eine intensivere Bezugnahme auf Ps 22 und eine stärkere Durchdringung durch ihn. Das Ende des Psalmzitates »… wenn er ihn will« wird kommentiert mit dem Ausspruch Jesu »Ich bin Gottes Sohn«. Für Mt ist dieses offenbar die zutreffende Deutung von Mt 26,64 (»ob du Christus bist, der Sohn Gottes« … »Du sagst es«). Denn Mt weist diese Deutung nicht zurück. Gleichzeitig deutet er die Gottessohnschaft aus dem Verhältnis des Vaters zum Sohn: »Er will ihn.« Zu Mt 27,51-54: In dem abschließenden Kommentar V. 54 werden »das Erdbeben« und »die Geschehnisse« nebeneinander als Indizien dafür gewertet, dass Jesus »Gottes Sohn« war. D. h.: Beides wird im Sinne theophaner Ereignisse gedeutet. Wenn Gott kommt, reagiert die Erde »aufgeregt«, unnormal und im Gegensatz zu jeder Erwartung. Hier weisen diese Ereignisse darauf hin, dass in Jesus als dem Gottessohn Gott selbst gegenwärtig ist. Der Tod am Kreuz wird kommentiert und in seiner Bedeutung enthüllt, indem die Erde darstellt, um wen es sich bei dem soeben Gestorbenen handelt. Die Theophaniezeichen sind hier nicht Begleitumstände des herrlich-schrecklichen Kommens Gottes, sondern dass Theophaniezeichen geschehen, weist auf die verborgene Wirksamkeit oder »Bezogenheit« Gottes in dem dargestellten Geschehen. Letzteres ist für das Erdbeben aus alttestamentlichen Theophanie-Schilderungen gut bekannt. Für die Auferweckung Toter ist es so zu deuten: Die Erde gibt das ihr Anvertraute vor der Zeit wieder; es ist wie eine Frühgeburt. Der Aspekt der Unordnung ist bei jeder Theophanie gegeben, besonders natürlich, wenn Tote auferweckt werden. So wird es übrigens auch beim endzeitli-
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Kapitel 27
chen und endgültigen Kommen Gottes sein. Erdbeben gehen voraus, und die Toten werden auferweckt werden. Für die Apokalyptik erkennen wir daraus: Mit Erdbeben und anderen Zeichen der Unordnung schildert sie nicht den Verfall der Weltordnung um seiner selbst willen, sondern Erdbeben und auferweckte Tote gehören zur Theophanie am Ende. Die Auferweckung der Toten am Ende kann von daher als Teil der Theophanie-Ereignisse gesehen werden. Aus dieser Perspektive wäre sie kein selbstständiges Geschehen. Vielleicht ist sie tatsächlich in der Auffassung der Menschen zunächst eine Irregularität, bevor sie dann in Richtung Gericht oder gar neue Schöpfung vertieft wird. Auch in frühchristlichen Apostelakten wird das theophane Erdbeben der Auferweckung Toter zugeordnet. Da schlägt einer »das Kind« (den Erlöser): »Und gleichzeitig erzitterten die ganze Stadt in ihren Grundmauern und die Abgründe der Erde. Und es erhob sich im Volk ein Geschrei, welches sagte: Groß ist der christliche Gott. Und gleichzeitig standen die Toten aus dem Grabe auf. Und Jesus sagte zu ihnen: Selig seid ihr, die ihr meinen Ruhm den Ungläubigen gezeigt habt, geht und ruht in euren Gräbern!« (slav Periodoi Petrou, ZNW 1902, 315 ff, Franko). Jedenfalls ist diese Schilderung eine adäquate Deutung von Geschehnissen, wie sie Mt 27 gibt. Denn in der Tat geht es auch in Mt 27 darum, Jesu Ruhm den Ungläubigen zu zeigen. Der Ruf »Groß ist der christliche Gott!« ist korrekte Missionssprache (vgl. »Groß ist die Artemis!« in Apg 19,28.34). Zur zeitgenössischen Deutung von Erdbeben etc. als Theophaniezeichen vgl. die Darstellung der Sinai-Theophanie im »Buch der biblischen Altertümer« (LAB 11,5, um 100 n. Chr.): »Und siehe, die Berge brannten … und die Erde erzitterte und die Hügel wurden verwirrt und die Berge herumgedreht und die Abgründe sprudelten hervor und jeder bewohnbare Ort wurde bewegt … Engel liefen hervor …« Zum Erdbeben vgl. PetrusEv 21: »Einige Juden zogen die Nägel aus den Händen des Herrn und legten ihn auf die Erde. Da bebte die ganze Erde und die Menschen fürchteten sich sehr.« Zu Mt 27,52f: Ein ähnliches Prodigium nennt Lk 19,40: Steine schreien (in den Parallelen oft: und
125 es regnet Blut). Das wird der Fall sein, wenn die Jünger Jesus nicht preisen dürfen – ein schreiendes Unrecht. Die Ordnung der Welt ist dann verkehrt, wie wenn der Gerechte ermordet wird (s. zu Lk 19,40). Es passiert dann das Umgekehrte auf derselben Sachebene (loben/schreien, ermorden/auferstehen). Zu Mt 27,55-56: Die Liste der Frauen, die Zeuginnen des leeren Grabes werden, differiert gegenüber Mk. Maria von Magdala ist gemeinsam. Aber dann folgen bei Mt Maria, die Mutter von Jakobus und Josef, und ferner die Mutter der Zebedaiden (Jakobus und Johannes). Die ersten beiden Frauen werden in Mt 27,61 am Grab wieder genannt und in Mt 28,1 (Gang zum Grab). Die Bewachung des Grabes Jesu und der Betrug des Hohen Rates In dem Sondergut-Bericht Mt 27,62-66 ist Mt dem PetrusEv eng verwandt. Gemeinsam mit Mt: Durch den Bericht über Zeugen, die nicht zur Gemeinde gehören, sondern »neutral« sind, verlässt Mt die gemeinde-interne Perspektive, er liefert vielmehr einen »apologetischen« Bericht, in dem auch die Perspektive Dritter beachtet wird. – Jüdische Honoratioren versammeln sich bei Pilatus und bitten ihn um Sicherung des Grabes. Die Befürchtung, das Gerücht der Auferstehung von Toten könne entstehen, wird erwähnt. Und: Die Jünger könnten Jesus stehlen. Pilatus schickt eine Wachmannschaft zum Grab. Mt berichtet nur von der »Sicherung« des Grabes; das PetrusEv berichtet über den großen Stein, der vor die Grabestür gerollt wurde. Das Grab wird versiegelt. Nach Mt 28,2 und PetrusEv 36f steigt am frühen Ostermorgen mindestens ein (PetrusEv: zwei) Engel vom Himmel, und der Stein vor dem Grab wird wegbewegt. Pilatus bzw. die Hohenpriester und Ältesten (Mt) werden von den Wächtern informiert, und deren Reaktion ist, den Wächtern Schweigen zu gebieten oder sie zur Falschmeldung zu bestechen, der Leichnam Jesu sei gestohlen worden. Nach Mt wird dieses durch finanzielle Bestechung geleistet. Nach dem PetrusEv genügt die Autorität des Pilatus. Mt und das PetrusEv verarbeiten demnach eine gemeinsame Tradition, die unabhängig von der Überlieferung durch Frauen das enthält, was den Wächtern widerfahren ist, auch wenn sie
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126 nach Mt 28,4 »wie Tote« waren und gemäß Mt 28,13 behaupteten, geschlafen zu haben. Nach dem PetrusEv dagegen sind sie wach dabei. – Sinn und Funktion dieser Überlieferung sind: neben das Zeugnis der Frauen ein Zeugnis unabhängiger, ja gegnerischer Zeugen zu stellen. Dabei widerlegt sich das Zeugnis nach Mt in sich selbst, da die Wächter selbst zugeben, geschlafen zu haben (H. Frankemölle: »Aber der Evangelist gibt sich ja informiert über das, was wirklich geschah.« – Im PetrusEv ist die Überlieferung verbunden mit einem sehr alten Zeugnis über den Vorgang der Auferstehung aus dem Grab selbst, wie er sich auch in der »Himmelfahrt des Jesaja« und in Mk 16,3k findet. – Liest man den Bericht Mt 28, so erwartet man in Mt 28,2.3 eine Angabe über die Auferstehung Jesu, wenn man den Text im Lichte des PetrusEv liest. So aber entsteht der Eindruck, Mt habe an eine vorgängige Auferstehung Jesu aus dem versiegelten Grab geglaubt. Die Alte Kirche teilt diese Meinung und vergleicht dies mit der Empfängnis Jesu durch den verschlossenen Mutterschoß Marias. Vgl. PetrusEv 28-33: »Als den Schriftkundigen, Pharisäern und Ältesten zu Ohren kam, dass das ganze Volk wehklagte und sich voll Reue an die Brust schlug, versammelten sie sich und sagten zueinander: »Wenn bei seinem Tod so große Dinge geschehen, dann soll uns das darauf aufmerksam machen, wie gerecht er war.« (29) Die Ältesten bekamen es mit der Angst zu tun, sie gingen zu Pilatus und baten ihn: (30) »Gib uns Soldaten, die sollen sein Grab drei Tage lang bewachen. Denn sonst kommen seine Jünger und stehlen ihn, und dann wird das Volk denken, dass er aus Toten auferstanden ist. Sie werden uns die Hölle heiß machen. (31) Daraufhin gab ihnen Pilatus den Hauptmann Petronius mit einigen Soldaten mit, die zusammen mit den Ältesten und Schriftkundigen zum Grab gingen. (32) Alle, die dort waren, fassten mit an und wälzten mit Hilfe des Hauptmanns und der Soldaten einen großen Stein herbei. Sie setzten ihn vor den Eingang des Grabes (33) und versiegelten ihn mit sieben Siegeln. Dann schlugen sie ein Zelt auf und hielten Wache.« – Funktion dieses Berichtes ist die Benennung gemeinde-externer wie -interner Zweifel und Alternativen zur Botschaft von der Auferstehung. Zugleich schildert der Text unversöhnbare Fronten. – Vgl. zu Mt 27,66: PetrusEv
Das Evangelium nach Matthäus
35: In der folgenden Nacht, als der Sonntag heraufdämmerte, hielten die Soldaten Wache am Grab, immer zwei im Wechsel. Da hörten sie plötzlich eine laute Stimme vom Himmel her. 36 Sie sahen, wie sich der Himmel einen Spaltbreit öffnete und zwei Männer … – Vgl. zu Mt 28,14f: PetrusEv 49: Da befahl Pilatus dem Hauptmann und den Soldaten, nichts weiterzusagen. Durch die Komposition in Mt 28,1.2.5-8 legt Mt den Schluss nahe, die Frauen hätten gesehen, was die Wächter nicht sehen konnten, weil sie wie tot umfielen. Das Zeugnis der Frauen ist wahr, die Wächter dagegen haben – bestochen – Lügen verbreitet. Das Zeugnis der Frauen am leeren Grab wird bestätigt durch ihre Begegnung mit dem Auferstandenen nach Mt 28,9-10. Hier verarbeitet Mt eine Tradition, die er mit Joh 20,14.17 teilt.
Mt 28,9-10: Begegnung mit dem Auferstandenen Die beiden Texte Mt 28,8-10 und Joh 20,17-18 berichten erkennbar dasselbe, doch mit unvereinbaren Widersprüchen. In beiden Texten geht es um den Auferstandenen, der erscheint und Herr (griech.: kyrios) genannt wird. Mt 28 berichtet von zwei Frauen (Maria Magdalena und eine weitere Frau), Joh 20 nur von Maria Magdalena. In beiden Texten spielt das Motiv Proskynese (kniefällige Verehrung) eine zentrale Rolle. Doch was sich Jesus nach Mt 28 gefallen lässt, lehnt er nach Joh 20 ab (vgl. zu Joh 20). In beiden Texten wird dem, der die Erscheinung erlebt, ein Auftrag an die Brüder Jesu (»meine Brüder«) gegeben. Doch in Mt 28,10 ist der Inhalt dieses Auftrags die Mitteilung, dass die Jünger Jesus in Galiläa sehen werden. Nach Joh 20,17 dagegen sollen sie wissen, dass Jesus zum Vater hinaufgeht. Es ist erkennbar dieselbe Tradition, die doch so unterschiedlich entfaltet wird, dass man versucht ist zu sagen: Nur eine kann Recht haben, beide zusammen können nicht wahr sein. Im Stil klassischer Exegese könnte man nun jeden einzelnen Zug analysieren und Argumente für oder gegen seine »Ursprünglichkeit« entwickeln. Doch dieses Unternehmen verbietet sich hier. Denn jede der
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Kapitel 28
beiden Ausgestaltungen ließe sich lückenlos aus der so genannten redaktionellen Absicht des jeweiligen Evangelisten erklären. Denn nach dem MtEv wird Jesus von Anfang an als Sohn Gottes angebetet, und daher kann das auch hier geschehen. Denn weil er Sohn Gottes ist, wohnt Gott in ihm, und den in ihm wohnenden Gott darf man genauso anbeten, wie man nach 1 Kor 14,25 auch vor der Gemeinde anbetend niederfallen darf, um den in ihr anwesenden Gott kniefällig zu verehren. Und das Evangelium nach Johannes andererseits stellt Jesus von Anfang an als den Gesandten dar. Daher ist Jesus auf diesem Weg, bis er wieder beim Vater angelangt ist. Ähnliches gilt auch für die Einbettung dieser Szene in die jeweilige Komposition. Denn bei Matthäus läuft das Evangelium zu auf die Vision vor den elf Jüngern auf dem Berg in Galiläa. Durch den Auftrag an die Jünger wird das in Mt 28,10 vorbereitet. In Joh 20 dagegen wird Maria zur Zeugin (neben vielen anderen Zeugen, die das JohEv systematisch aufzählt) dafür, dass Jesus jetzt seinen Auftrag vollendet. – Ebenso fügt sich die Szene jeweils in die erschließbar unterschiedliche Gemeindestruktur. Nach dem JohEv sind Frauen noch wichtige Zeuginnen des Glaubens, wie etwa die Samaritanerin in Joh 4 und besonders Marta in Joh 11,24-27. So eben auch Maria Magdalena hier. Gleichzeitig ist die Gemeinde ortsfest (Symbolik des »Bleibens«). Bei Matthäus dagegen sind die (männlichen) Jünger wichtiger und in Bewegung (nach Galiläa hin, von Galiläa aus in die ganze Welt), während nach dem JohEv sich alles in Jerusalem ereignet. Es ist daher ganz müßig zu fragen, wer von den beiden Evangelisten jeweils mit seiner Schilderung »im Recht« ist. Die Frage ist nicht zu beantworten. Man kann nur sagen: Jedenfalls verarbeiten beide Evangelisten älteres Material, das ihnen beiden vorgegeben ist; denn die Einzelheiten verbieten nicht nur für dieses Stück, sondern auch im Ganzen die Annahme der Abhängigkeit des einen Evangelisten vom anderen, in welcher Richtung auch immer diese anzunehmen wäre. Darüber, wie alt dieses gemeinsam vorgegebene Material genau ist, kann man nichts sagen. In jedem Fall aber gehören zu diesem älteren Gut mindestens die gemeinsamen Stücke, die aus der obigen Übersicht klar hervorgehen. Daher ist unser Ergebnis: Es ist nicht zu ent-
scheiden, welche Fassung (Mt oder Joh) »wahrer« ist. Und ferner: Trotz großer inhaltlicher Nähe schließen beide Fassungen sich gegenseitig aus (entweder/oder). Das damit gegebene Problem taucht nicht für die jeweiligen Erstempfänger des betreffenden Evangeliums auf. Denn es ist davon auszugehen, dass die Menschen, die das Mt- oder JohEv empfangen haben, dieses jeweils als einziges Evangelium gebrauchten. Mk 16,9 bringt nochmals eine neue Variante der Diskussion, besonders wenn man davon ausgeht, dass es sich hier nicht um eine Kompilation vorhandener Berichte aus den drei anderen Evangelien handelt, sondern um einen selbstständigen und alten Text. Maria Magdalena ist die einzige erste Augenzeugin des Auferstandenen. Der Mk-Text begründet, warum gerade Maria Magdalena die erste war, mit einer singulären Nachricht: Jesus hat sie besonders intensiv »geheilt«, durch Exorzismus. Da auch Auferstehung geistgewirkt ist, wird Maria M. so zur zweifachen (man denke an das Gebot der zwei bzw. drei Zeugnisse) Zeugin desselben christologischen Sachverhalts, nämlich der Geisterfülltheit Jesu.
Mt 28,16-20: Erscheinung und Auftrag Zwei Sätze dieses Textes wecken Fragen: V. 17 endet mit der Aussage »Manche aber zweifelten.« Davon aber, dass die Zweifel beseitigt werden, spricht der Text offensichtlich nicht. Oder ist V. 20 vielleicht die Antwort? V. 20 spricht davon, dass Jesus nicht weggeht, sondern »mit den Jüngern« sein wird bis zum Ende der Welt. Widerspricht das nicht den Texten über Jesu Himmelfahrt, nach denen Jesus sehr wohl weggeht und am Ende der Zeiten erst wiederkommen wird? Aus meiner Sicht lassen sich diese Fragen so beantworten: Der Zweifel, den einige Jünger hegen, hat Ähnlichkeiten mit dem Zweifel des Thomas nach Joh 20. Aufgrund der Parallelberichte können wir vermuten, dass sich die Zweifel auf Jesu Identität beziehen: Ist er es wirklich oder macht nur ein Totengeist ihn nach? In beiden Fällen, im JohEv und im MtEv, wird diese Frage später beantwortet. Nach Joh 20 beantwortet sich die Frage durch Jesu Erscheinen am Sonntag nach Ostern, bei dem es besonders um die Leiblichkeit
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128 Jesu geht, die den Unterschied zum Totengeist ausmacht. Im MtEv wird der Zweifel behoben, wenn man auf das Mit-Sein Jesu mit seinen Jüngern achtet. Denn wenn Gott oder sein Repräsentant und Sohn »mit« jemandem ist, so bedeutet das Schutz und Verleihung von Kraft und Vollmacht. Jesus fordert daher die Jünger auf, seine Legitimität am Wirken der Jünger zu erkennen (vgl. auch Joh 17,21-23). Und das Mit-Sein widerspricht auch nicht der Himmelfahrt. Denn Jesus geht unsichtbar inmitten seiner Jünger (ähnlich wie bei den beiden Emmaus-Jüngern, nur bei Mt ganz unsichtbar) mit ihnen. Aber an dem, was sie tun, wird erkannt, ob Jesus wirklich auferstanden ist und damit auf der Seite Gottes steht. Der Ursprung dieser Aussage liegt in dem biblischen Abschieds- und Segensgruß »Der Herr sei mit euch!«. Hier sagt der Herr selbst, dass er »mit« den Jüngern sein wird – ein Trost in aller Verlassenheit nach der Erhöhung Jesu. Der Ausdruck »taufen auf den Namen« bedeutet eine rituelle Zueignung. Die Wendung »auf den Namen« findet sich sonst im Girowesen und meint den Adressaten einer Überweisung, also den durch das Bankgeschäft Begünstigten. Taufen »auf den Namen« meint Zueignung, und zwar verstanden in diesem Sinn: Wer zu Gott gehört, den wird er in Zukunft beschützen. Einerseits muss sich der Zugeeignete nach den Lebensregeln dessen richten, dem er jetzt gehört (daher ist auch in V. 20 von den Geboten Jesu die Rede), andererseits wird Gott ihn als sein Eigentum verteidigen. Diese Relation von Bewahren der Hausordnung und familiärem Schutz findet sich sonst im Sklavenwesen, und nicht ohne Grund führt Röm 6 im Zusammenhang der Taufe auf den Namen Jesus das Bild vom Sklavenmarkt ein; die Christen sind Sklaven, die vom alten Herrn losgekaufte und dem neuen Herrn jetzt Zugeeignete sind. Aber was bedeutet die Nennung der drei Instanzen in der triadischen Taufformel? Nun gibt es eine frühchristliche Vorgeschichte, nämlich das »Taufen auf Jesus« oder »auf den Namen Jesu« hin, etwa in Röm 6. Die Erweiterung um den Vater erfolgt sicherlich in Mt 28,19f deshalb, weil es hier ausdrücklich um die Menschen aus »allen (Heiden-)Völkern« geht. Die Heiden aber gehören vor der Taufe noch nicht zu Gott. Es genügt daher nicht, wenn sie nur an Jesus übereignet
Das Evangelium nach Matthäus
werden. Ein Anliegen, das der Erstnennung des Vaters in Mt 28 entspricht, zeigt 1 Petr 1,1, wo ausdrücklich die Erwählung durch den Vater in die erste Zeile gerät. Andererseits kennt das frühe Christentum die Taufe auf den Heiligen Geist, und zwar zunächst unabhängig von der Wassertaufe, dann aber bald in Verbindung damit, da ein sichtbares Zeichen Sicherheit gab. Während die reine Wassertaufe ursprünglich von Johannes dem Täufer praktiziert wurde, war die Geisttaufe in der paulinischen Mission üblich. Apg 19,1-6 zeigt anschaulich, wie die Taufe nach der Art des Johannes auch von frühen Christen geübt, dann aber durch die Taufe auf den Namen Jesu ersetzt und schließlich um die Geisttaufe ergänzt wurde, die z. T. dann auch per Handauflegung gespendet wurde. Daher kann man sagen: Die Verbindung Vater – Sohn – Geist bei der Taufe meint eine sachlich in sich konsequente Stufung der Schritte zum Heil. Der Vater erwählt die Heiden, die Zueignung an den Sohn ist das ursprünglich unterscheidend christliche Merkmal bei der Wassertaufe (im Unterschied zur Johannestaufe), und die Taufe auf den Geist war ursprünglich der große Unterschied gegenüber der Taufe des Johannes. Die Taufformel nach Mt 28 fasst daher alle christlichen Besonderheiten zusammen: die Heidenmission, die Zueignung zu Jesus bei der Wassertaufe und die Taufe auf den Heiligen Geist. Ist in Mt 28 die triadische Abfolge der Personen liturgiegeschichtlich erklärbar? In verwandten Formulierungen steht öfter die Erwählungsaussage voran – könnte das ähnlich motiviert sein könnte wie in Mt 28? Das beträfe dann 2 Thess 2,13 (triadische Formel: der Herr liebt uns, Gott hat uns erwählt, der Heilige Geist geheiligt) und 1 Petr 1,2 (Gott Vater als der Erwählende ist zuerst genannt). Oder ist dieser Ausdruck doch einfach tiefer in der Christologie verankert? Zusätzlich erklärt auch das allgemeine Phänomen der triadischen Reihen in kürzeren Texten die sprachliche Gestalt der Taufformel von Mt 28. Man kann Mt 28,19 auch im Sinne von Sendung und abgestufter Repräsentanz verstehen. Dann liegt auf dem ersten und dem letzten Glied besondere Betonung. Der Vater ist der Ursprung.
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Kapitel 28
Er sendet zunächst den Sohn, der ihn repräsentiert. Dieser sendet den Heiligen Geist, der ihn und den Vater repräsentiert. Der Täufling begegnet auf der »untersten«, letzten Ebene dem Heiligen Geist und durch ihn auch dem Sohn und dem Vater. Die Repräsentanz durch den Heiligen Geist wäre dann eine Art Subdelegation. Dann wäre Mt 28,19 besonders in die Nähe von Texten zu rücken, die die Geisttaufe stark betonen (wie 1 Kor 12,13). Das schließt natürlich eine Wassertaufe nicht aus. In der späteren Auslegung werden Sohn und Geist auch als Zeugen des Taufversprechens angesehen. Das Taufversprechen hat seinen Ursprung im Eid, mit dem in Mysterienvereinen die Neuaufgenommenen sich verpflichten, die ethischen Pflichten einzuhalten. Im Pliniusbrief (Plinius d. J. Briefe X 96) wird dieses auch für die frühchristlichen Gemeinden berichtet: Sie schwören schauerliche Eide – nämlich Eide, die Sanktionen für den Fall der Übertretung enthalten. – Bei dem römischen Theosophen und »Christen« Elkesai finden wir die Nachricht, dass bei diesem Treueid der Christen bei der Taufe Zeugen anwesend waren. Elkesai nennt deren sieben. Nach dem Alten Testament (Dtn 15,19) sind aber nur zwei bis drei Zeugen notwendig. Diese zwei oder drei Zeugen, zumindest zwei, konnte
129 man in der Taufformel nach Mt 28,19 genannt finden. So entspricht die Taufe auf der Seite der künftigen Christen recht gut dem, was Jesus den Jüngern als sein Mit-Sein verheißt: Die Taufe ist nicht nur Abschiedsgeschenk Jesu, sondern auch die Brücke zu seiner künftigen Gegenwart im Volk der befreiten Jüngerinnen und Jünger. Auffallend ist, dass bei dem Missionsauftrag in Mt 28 der explizite Hinweis auf Wunder fehlt, etwa im Gegensatz zu Mk 16. Nun kann man allerdings die Verheißung des Mitseins auch als Verheißung der Begleitung durch Wunder auffassen, und zwar analog zu Joh 3,2 (Jesus wirkt Zeichen, also ist Gott mit ihm). – Aber bei Mt gibt es offenbar zwei unterschiedliche Arten von Mission, die eine für Juden, die sich an Zeichen orientiert (Mt 10), die andere für Heiden, über die Mt 28 berichtet. In dieser Mission steht die Belehrung im Vordergrund. So kennt es auch Paulus nach 1 Kor 1: Juden fordern Zeichen, Heiden Belehrung. Paulus und Mt bezeugen daher die gleiche Zweiteilung der Mission. Daher bedeutet das Wort »Völker« in Mt 28,20 die Heidenvölker und nicht Israel. Die Mission in Israel hat andersartigen Charakter, sie wird in den Städten Palästinas nicht zu Ende geführt sein, bis der Menschensohn kommt (Mt 10).
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Das Evangelium nach Markus
Kommentare: Beda Venerabilis (vor 735). – Theophylakt (1080). – Hugo v. St. Cher (vor 1264). – Petrus Iohannes Olivi (vor 1298). – Nikolaus Lyranus (vor 1349). – Dionysius Carthusianus (vor 1471). – Faber Stapulensis (1521). – C. Hegendorf (1525). – Erasmus v. Rotterdam (1535). – J. Calvin (1540). – J. de Sylveira (1697). – J. C. Wolfius (1741). – F. Peikhart (1753). – W. M. L. de Wette (1846). – H. A. W. Meyer (1867). – A.-J. Liagre (1883). – B. Weiss (1887). –
M.-J. Lagrange (1896). – H. J. Holtzmann (1901). – J. Wellhausen (1903). – A. Loisy (1912). – P. Alfaric (1929). – A. Schlatter (1935). – E. Klostermann (1950). – J. Schmid (1958). – J. Schniewind (1960). – E. Lohmeyer (1963). – E. Haenchen (1966). – E. Schweizer (1967). – W. Grundmann (1973). – R. Pesch I-II (1976/77). – J. Gnilka I-II (1978). – W. Schmithals I-II (1979). – J. Ernst (1981). – D. Lührmann (1987).
EINFÜHRUNG Entstehungszeit und Adressaten des MkEv Das MkEv vermeidet jede Äußerung, die schlafende römische Hunde wecken könnte. Der Davidsohn-Titel wird von Jesus selbst abgelehnt (nicht bejaht). Pilatus wird entlastet. Die Wirren und Unruhen der Zeit werden von der Zukunftserwartung der Christen abgetrennt. Jesus war auch kein Gerichts- oder Unheilsprophet, dessen Fluch etwa die künftige Zerstörung des Tempels hätte hervorrufen können. Jesus war deshalb auch nicht der Gräuel der Verwüstung, der zur Entweihung und damit für manche zwangsläufigen Zerstörung des Tempels geführt hätte. Mk 12 versucht eine Einordnung der Christen in verschiedene jüdische Gruppierungen. Das setzt voraus, dass die Adressaten noch unter Juden leben. Das könnte in Palästina, in Antiochien, in Alexandrien oder in Rom der Fall gewesen sein. Nur an diesen Orten gab es genug Juden, gegenüber denen Profilierung oder Auseinandersetzung angebracht waren. Die Zerstörung des Tempels ist vorhersehbar; die mit Jesus gekreuzigten Banditen sind vielleicht Terroristen, so auch Bar-Abbas. Eine »neue« Quelle für die Datierung bietet m. E. eine neue Auswertung des Berichtes des Flavius Josephus über den Unheilspropheten Jesus, eine grobe Verzerrung Jesu. Der Vorwurf von Mk 14,58 scheint daher nicht ganz wirkungslos geblieben zu sein. Die Gegner des MkEv waren Menschen, die der von Josephus wiedergegebenen Meinung anhingen. Mk hatte bereits oder
noch immer mit solchen Menschen zu tun. Offenbar aber scheint ein Ausgleich mit den Römern dem Evangelisten noch als möglich. Der Evangelist hofft, dies durch extreme Anpassung zu erreichen. Sie geht weit über das hinaus, was Mt, Lk oder gar die Offb bieten. Seine Friedenshoffnungen setzt der Evangelist ausgerechnet auf das römische Militär (Mk 15). Sowohl die Passionsgeschichte (Jesus als Vorbild) als auch die Passagen, in denen die Christen aufgefordert werden, das Martyrium nicht zu provozieren (Mk 10,35-45) und nicht von sich aus zu bekennen, allerdings auch nicht abzuleugnen (Mk 8,38) – alles das setzt starke Verfolgung von Christen voraus. Der Evangelist ist nicht in der Lage, besonders kühnen Mut zu fordern. Diese Zurücknahme des Bekennermuts setzt nicht friedliche, sondern höchst gefährliche Zeiten voraus. Eine solche Phase ist aber in den vierziger Jahren unter Herodes Agrippa I (König 41-44 n. Chr.) belegt (vgl. Apg 12). Von daher würde ich das Jahr 45 als spätesten Zeitpunkt der Entstehung ansehen. Diese Annahme ist allerdings durch keine direkten weiteren äußeren Zeugnisse zu verifizieren. Den Zeitpunkt kann man nur erschließen, indem man davon ausgeht, dass das von Mk Berichtete eine gezielte Auswahl aus den Zeugnissen bzw. Zeugenberichten ist, die ihm vorlagen. Alles Berichtete war demnach für die Adressaten von Interesse. Die Adressaten waren mäßig gebildete Juden- und Heidenchristen.
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Kapitel 1
KOMMENTAR Mk 1: Ankunft des Meassias und erstes Wirken Zum Aufbau: Mk 1,1-12 steht unter dem Thema »die Ankunft des Messias«. Wie ein Herrscher kommt, wie er in die Welt und in die Öffentlichkeit tritt, wie er als Herrscher erkannt wird, das ist stets die Frage, solange es Herrscher gibt. Daher ist das Thema des Weges wichtig, und das bleibt im ganzen Evangelium so, das mit dem Einzug Jesu in Jerusalem ebenfalls wieder eine Ankunft beschreibt. Von da aus betrachtet ist Jesu gesamte Wander-Existenz eine einzige gestreckte Macht-Ergreifung des Messias in seinem Land; der Höhepunkt muss naturgemäß in Jerusalem liegen. (In gewisser Analogie dazu mussten auch später deutsche Könige/Kaiser bisweilen durch Wanderung von einer Pfalz zur anderen ihr Territorium in Besitz nehmen.) In Mk 1 sind daher die Stichworte: Der Wegbereiter (1,2), derjenige, der nach dem Wegbereiter kommt und worin das Mehr besteht, das seine Ankunft bringt. So wird der Wegbereiter nach eigenen Worten als Sklave gesehen, der dem Sohn den Weg bereitet (1,7); der Status des Sklaven wird durch den Sohn überboten. Und der Sohn ist der Stärkere, weil er der Geistträger ist (1,7-8). Der Heilige Geist ist sein besonderes Erkennungszeichen. Entsprechungen zwischen dem Wegbereiter und dem Herrscher werden nicht verschwiegen: Für beide beginnt der Bericht mit »es wurde, es war, es geschah« (griech.: egeneto; einen vergleichbaren Evangelien-Anfang hatte das Ebioniten-Evangelium [Epiphanius, Haereses 30,13,45]: »Es geschah [griech.: egeneto] in den Tagen des Königs Herodes …«); von beiden wird im Zusammenhang der Taufe berichtet (1,4.5.8 und 1,8.9.10), die am Jordan stattfindet. In Mk 1,8 gibt der Täufer selbst einen pauschalen Vergleich (Synkrisis). Während die Gefolgschaft des Täufers für kurze Zeit ganz Judäa und Jerusalem umfasst (1,5), beruft Jesus nach 1,16-20 für die Dauer seine Jünger.
Auseinandersetzung zeigt. Denn Jesus sieht sich von Anfang an verschiedenen Gegnern gegenüber (Satan, Dämonen, Krankheiten, Pharisäer). In diesem fortgesetzten Kampf erweist sich Jesu Vollmacht. Ein wichtiges verbindendes Motiv ist die Reinheit. Denn gegenüber den Dämonen, die unreine Geister sind, hat Jesus den heiligen, reinen Geist empfangen, und er kann mit dem Heiligen Geist alle unheiligen Geister besiegen. Das Motiv der Reinheit ist zentral auch für die Heilung von Aussatz (Mk 1,40-45) und in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern, die ihren Namen ihrer Absonderung (farasch) zur defensiven Erhaltung der Reinheit verdanken. Die höchste Steigerung der Auseinandersetzung um die Legitimität Jesu ist in Kap. 3,28-35 erreicht. Denn hier wird Jesus unterstellt, er übe seine Vollmacht im Dienste Satans aus. Daher endet 3,6 auch mit der Tötungsabsicht. Mit dem Thema Reinheit greift Jesus ein messianisches Motiv aus der Erwartung des Judentums auf. Nach Psalmen Salomonis 17 wird der Messias Israel kultisch reinigen. Jesus vollzieht dieses durch Exorzismen und Heilungen, dann aber bei der Tempel-Reinigung in Jerusalem (Mk 11). Nachdem in den Kapiteln 1-3 die Vollmacht Jesu dargestellt wurde, ist die Grundfrage der Legitimität Jesu sozusagen geklärt. Daraufhin kann in Kapitel 4 die eigentliche Lehre Jesu geboten werden. Diese Lehre besteht in Gleichnissen. Mk 4,34 ist daher wirklich so zu verstehen, dass Jesus nur in Verbindung mit Gleichnissen lehrte. Allerdings gehört das Thema Glauben direkt dazu (4,35-41); denn es kommt ja darauf an, sich diese Lehre im Glauben zueigen zu machen. Die Lehre aber besteht u. a. in der Verkündigung des Reiches Gottes in der Gestalt von Gleichnissen.
Die Fortschreibung des Anfangs in Mk 1-4 In den Kapiteln Mk 1-3 wird Jesu Vollmacht beschrieben. Es wird gesagt, dass diese Vollmacht zwar von Gott ist, sich aber nur in Kampf und
»Dies ist das Evangelium, das Jesus Christus, Gottes Sohn, verkündet hat« (Berger/Nord, Das Neue Testament, 62005, 391 ff). Andere mögliche Übersetzung: »Anfang des Evangeliums über
Mk 1,1-8: Der Täufer Johannes
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132 Jesus Christus«. Unser Vorschlag geht davon aus, das Evangelium berichte vor allem über Jesu eigene Verkündigung. Andere orientieren sich an 1 Kor 15,2-4 und nehmen Tod und Auferstehung als zentrale Daten des so genannten »Kerygmas« (Kernbotschaft), das in den Evangelien nur illustriert und sekundär historisiert (in die Geschichte verlegt) worden sei. Die Konstellation der Handelnden in Mk 1,2f ist: Gott – Bote – Herr. Dabei ist unter »Bote« Johannes der Täufer zu verstehen, unter »Herr« Jesus. Diese Konstellation wird abgelöst in Mk 1,10f durch Vater – Geist – Sohn. Vergleichbar mit diesem Aufriss der handelnden Personen zu Beginn eines Evangeliums ist der Prolog des 4. Evangeliums. Denn dort ist die Konstellation: Vater – Logos – Täufer. Verwandt ist immerhin Hebr 1,1: Gott – Propheten – Sohn. Wie das JohEv beginnt Markus daher sein Evangelium jedenfalls mit einem »Vorspiel im Himmel«. Auch die Eröffnung durch ein Schriftzitat ist zu Beginn eines Evangelien-Aufrisses nicht selten. Lässt man Apg 10,34 ff als Aufriss eines Evangeliums gelten, dann beginnt dieser in 10,36 mit Jesaja 52,7. Ähnlich der Aufriss über die Tätigkeit der beiden Zeugen in Offb 11,4f: Das Schriftzitat in 11,5-6 erläutert die Vollmacht der beiden Zeugen. Die Übereinstimmungen von Mk 1 mit Apg 10,36-43 und Offb 11,4-13 sind weitgehend und erklären sich aus einer Tradition von Evangeliums-Aufrissen: Identifikation (du bist, dieser ist, diese sind), schriftgelehrte Einordnung (zwei Ölbäume und zwei Leuchter; Mk 1,2f), Salbung (Herabkunft des Geistes, Ölbäume), Darstellung der Vollmacht, Strafwunder, Martyrium und Auferweckung, nachfolgende Einsicht. Der gedankliche Übergang von 1,1 zu 1,2 ist stets als Problem empfunden worden. Unser Vorschlag beruht darauf, das Wort »Anfang« als Überschrift für die Verse 2-3 zu sehen: »[Angefangen hat es mit Johannes dem Täufer.] Denn nach dem Propheten Jesaja sagt Gott über ihn zu Jesus: ›Ich sende meinen Boten vor dir her, er wird dein Wegbereiter sein.‹« Das Evangelium beginnt mit einer Anrede Gottes an Jesus. Dieser ist jedenfalls literarisch präexistent gedacht, also vor seinem Kommen bei Gott existierend. Gott spricht zu Jesus über Johannes den Täufer. Zeuge des Gesprächs und sein Protokollant ist Jesaja.
Das Evangelium nach Markus
Ein mittelalterlicher Beter hat den Text zurecht so gelesen: »Herr, du hast vor der Ankunft deines Sohnes Johannes als Herold (Vorläufer) bestimmt …« Sodann: »Und Jesaja selbst sagt über Johannes: ›In der Wüste wird er auftreten und rufen: Baut für den Herrn eine Straße, ebnet ihm seinen Weg!‹« Jesaja selbst sagt das nicht über Johannes, sondern über Gott, der in der Wüste auftreten und dem sein Volk einen Weg bauen soll, oder über einen Engel. – Wo das griechische Alte Testament vom Herrn im Sinne von Gott sprach, kann Markus diesen Gottestitel »der Herr« mühelos auf Jesus übertragen. Es klingt fast nach Joh 1,1f: Jesus ist vor seinem Kommen bei Gott, und in ihm begegnen die Menschen Gott, »dem Herrn« selbst, er ist wesensgemäß Gott. Zugleich ist der Text eine Aussage über Johannes: Er ist »der« Engel bzw. Bote Gottes. Das Alte Testament kennt streckenweise nur einen Engel Gottes, und das hebr. Wort mal’ak bedeutet einfach »Bote«. Johannes der Täufer saugt diese Funktion in sich auf. Er ist »der« Bote Gottes schlechthin, und Jesus ist »der Herr«, Träger des Namens Gottes. Der Text aus Jes 40,3 wird auch in 1 QS 8,13f zitiert: »… ausgesondert aus der Mitte der Behausung der Männer des Frevels, um in die Wüste zu gehen, dort den Weg des Herrn zu bereiten, wie geschrieben steht: In der Wüste bereitet den Weg des Herrn, macht eben in der Steppe eine Bahn unserem Gott. – Das ist das Studium des Gesetzes …« Der Sinn ist erkennbar anders: Nicht Taufe und Sündenvergebung stehen im Mittelpunkt, sondern intensives Studium des Gesetzes, was freilich auch eine »Umkehr« voraussetzt. Mk 1 betont aber die Autoritäten des Täufers und Jesu stärker. Eine Verbindung des Täufers mit »Qumran« ergibt sich wegen desselben Zitates nicht. Vielmehr ist Jesaja in Qumrantexten genauso beliebt wie im Neuen Testament. Beim Täufer ist Askese zuallererst Zeichen der Buße und gleichzeitig eine Hinwendung zur Vergangenheit, in vor-zivilisatorische Zeiten, als man sich in Felle kleidete und noch nicht kompliziert und aufwendig alkoholische Getränke herstellen konnte. Beim Täufer zeigt diese Askese die Wiederherstellung der Heilszeit an, als Israel in der Wüste wanderte (und lebte). Der Lebensstil des
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Täufers ist Zeichen für eine neue Heilszeit. Auch das abschreckende Beispiel der »Städte« und ihrer korrupten Zivilisation motiviert zur Askese in der Wüste. Immer wieder erging über die verruchten Städte (Gomorra, Babylon, Rom) beispielhaft das Gericht. – Auch die strenge Sexualethik des Täufers (Mk 6) weist auf sein Programm der tiefgreifenden Umkehr im Kontrast zu hellenistischer Zivilisation. Zu Mk 1,6: Die im Kern jüdische Schrift des »Martyriums des Jesaja« schildert in 1,8-11, dass Jesaja und andere Propheten und viele der Glaubenden, die glaubten, in den Himmel hinaufsteigen zu können, sich auf einen Berg in der Nähe Betlehems setzten, »an einsamem Ort«. »Alle waren mit einem Sack umkleidet, und sie alle waren Propheten, und sie hatten nichts bei sich, sondern sie waren nackt, trauernd mit großer Trauer über die Verirrung Israels. Und sie aßen nichts, außer dass sie Kräuter ausrupften aus den Bergen.« »In den Himmel hinaufsteigen« meint die prophetisch-ekstatische Himmelsreise, wie sie von Henoch und dann von Rabbi Ismael geschildert wird. Jesus erlebt Vergleichbares bei der Verklärung. Die Grundausstattung aber entspricht der des Täufers. Zur Tracht des Täufers vgl. auch 2 Kön 1,8 (Elia: langes Haar und Ledergurt um die Hüften). Zu Mk 1,8 ist zu fragen, wo es denn im MkEv geschieht, dass Jesus mit dem Heiligen Geist tauft. Ausdrücklich geschieht das innerhalb der synoptischen Tradition nur in der Apg, und zwar etwa nach 2,33: Jesus ist zur Rechten Gottes erhöht und nimmt den verheißenen Heiligen Geist vom Vater, und er gießt ihn aus auf die Apostel und die Christen, die sich taufen lassen, zum Beispiel in Apg 10,44. Die Beziehungen zwischen MkEv und Apg sind oft beobachtet worden und sind relativ eng. Hat Markus Apg gekannt – oder umgekehrt? Oder vollzieht Jesus die Taufe mit dem Heiligen Geist, indem er in der Kraft des Heiligen Geistes, der in ihm ruht, unreine Geister austreibt und insofern diese Menschen dem Heiligen Geist unterstellt?
Mk 1,9-11: Die Taufe Jesu Zu Mk 1,11: Die Himmelsstimme orientiert sich wohl mehr an Jes 42,1 als an Ps 2,7. Vorzug dieser Lösung: Der »geliebte« und der »Geist« sind hier gegeben. Nachteil: Im Hebräischen steht »Sklave«, allerdings bietet LXX »pais«, was eben auch Kind oder Sohn bedeuten kann. Vom »heute habe ich dich gezeugt« des Ps 2,7 ist bei der Taufe nicht die Rede, und auch das »geliebt« ist nicht aus Ps 2,7 zu erklären. Die vollständige Fassung des LXX-Zitates Jes 42,1-4 bietet Mt 12,18-21. Mk 1,10.11 bietet die klassische Abfolge von Vision und Audition, ähnlich die Verklärung in Mk 9,3 f.7a.7b. Das Verhältnis von Taufe und Verklärung: Die Taufe erklärt Jesus und den Lesern des MkEv, wer Jesus ist; der Form nach ist der Taufbericht eine Installation (»Du bist …«, vgl. Mt 16,18; Ps 110,4). Die Verklärung richtet sich an die Jünger; denn sie bekommen gesagt, welche Autorität ab jetzt gilt: allein der Sohn. Gattung: Proklamation (»Dieser ist …«). Die Geistverleihung an Jesus nach Mk 1,10f schließt den Ursprung Jesu durch den Heiligen Geist nicht aus, wie oft argumentiert wird. Lukas kennt beides (1,35 und 3,22). Der Heilige Geist ist keine Konserve, die man ein für alle Mal hat oder nicht hat, sondern auch die Christen können ständig um dessen Mehrung beten. Auch hier gilt das messianische Prinzip der Fülle und nicht nur die Ausstattung mit dem Notwendigsten. Wenn es heißt, Gottes Geist sei auf Jesus herabgekommen wie eine Taube, dann bedeutet das: so wie eine Taube fliegt, zielgerichtet und dann auf einer Stelle sitzen bleibt, schnell geradeaus fliegt und dann ruht. Jesus schaut das in einer Vision und sieht damit, wie Gott zu ihm kommt – heute würden wir sagen: wie ein Duschregen, wie ein Feuerstrom in einem Hüttenwerk, wie eine Windhose, die wie eine Säule ist und nur eine Stelle trifft. Gott fällt herab und bleibt ruhen auf Jesus. Denn der Heilige Geist ist niemand anders als Gott selbst. Und indem Jesus das schaut, erblickt er Gottes Bewegung auf ihn selbst hin, in gewissem Sinne das, was er ist, die Weise, in der er Gottes Kind ist. Das Entscheidende ist, dass Gottes Geist auf ihm ruht, und so sagt es auch die Himmelsstimme im apokryphen Taufbericht des Hebräer-Evangeliums: »Du bist mein Ruhe-
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134 ort.« Wo kann Gott, der sprudelndes Leben ist, zur Ruhe kommen? Zeugnisse der frühen Christen aus dem 2. und 3. Jh. nennen Gott Bewegung und Ruhe zugleich. Er ist Bewegung, weil er lebendig ist und sprudelnde Quelle des Lebens. Er ist Ruhe, weil er nicht vergänglich ist, nicht auf dem Weg zum Tod, sondern ewig ist und bleibt, in seiner Treue und in seiner Unverwüstlichkeit. Wenn Gott also, der Ruhe und Bewegung ist, in Jesus zur Ruhe kommt, dann ist Jesus der Ort, an dem er Gestalt gewinnt. Deshalb ist Jesus das einzige Bild von Gott. Aber natürlich kein totes, sondern ein lebendiges Bild, ein lebender Mensch als Gottes Bild. Die »Ruhe« schildert etwa ProtEv des Jakobus 18: Als Jesus geboren wird, steht die ganze Schöpfung still. Wenn Gott in Jesus zur Ruhe kommt, dann kann man Jesus auch mit dem Sabbat vergleichen, so wie ihn das Judentum des 1. Jh. erlebt. Denn am Sabbat ruhte Gott, und wenn es Sabbat wird, blicken die zum Gebet versammelten Juden auf die offen gelassene Tür, denn der Sabbat zieht ein. Wie eine Königin, sagt man im frühen Judentum, voll Hoheit, den Menschen Ruhe von aller Mühsal gebietend. Das heißt: Als Gott durch Jesus Christus in die Welt eintritt, erfährt sie Gottes Gegenwart in seinem Sohn als die Mutter aller Sabbate. Und immer, wenn Jesus am Sabbat heilen wird, gilt der Spruch: »Hier ist mehr als Sabbat«, hier ist Gott selbst zur Ruhe gekommen. Und so, wie man sagen kann, alle Welt inklusive Mensch sei für den Sabbat da, auf ihn hin geschaffen, so kann man das auch von Jesus sagen als dem neuen Menschen und dem Ziel der Schöpfung. Wenn aber Gott in Jesus Christus wohnt, dann ist Jesus wie ein Heiligtum. Deshalb kann er sagen: »Hier ist mehr als der Tempel«, nämlich der lebendige Ort der dynamischen Gegenwart des lebendigen Gottes. Im Übrigen weist die Kombination von Taufe durch Wasser und Geist (vgl. Joh 3,5!) mit der Versuchung auf den Weg jedes Christen. Jesus erfährt im Prinzip dasselbe wie jeder Christ bei der Taufe; in Mt 3,5 heißt das »alle Gerechtigkeit erfüllen«. Nach späteren Kirchenordnungen wird bei der Taufe von Christen Mk 1,10f oft zitiert. Diese Bemerkung bezieht sich auch auf das, was Joh 1 berichtet, dass nämlich Jesus vom Täufer nicht getauft wurde (ähnlich auch Apg 10,37b).
Das Evangelium nach Markus
Die Berichte in Mk 1 über die Johannestaufe und die Taufe Jesu sind einzuordnen in die frühchristliche Geschichte der Taufe. Die Taufe des Johannes besteht aus Sündenbekenntnis, Untertauchen und mutmaßlich folgendem Gebet um Sündenvergebung (jüdisches Vorbild in Sib 4); laut Apg 18 findet sie sich auch noch bei späteren Christen, bei denen die Taufe noch nicht christologisiert wurde. Neben der Johannestaufe steht die reine Geisttaufe (1 Kor 12,12f), die sich wohl mit Verkündigung und Gläubigwerden vollzieht; der Heilige Geist wird hier verstanden als Gabe des neuen Lebens, daher kann man die Geisttaufe auch verstehen als Wiedergeburt (Tit 3) oder Geburt von oben (Joh 3). Wegen des Mangels der Formlosigkeit verbindet man diese Geisttaufe mit der Wassertaufe, gibt dieser aber dadurch einen neuen Inhalt; so geschieht es in Mk 1,9-11 und Joh 3,5. Primär an Jesus orientiert ist dagegen von Anfang an die Wassertaufe »auf den Namen Jesu« oder »auf Jesus«, die sich ihrerseits nun mit der Geisttaufe verbinden konnte (Mt 28,20: der Heilige Geist und der Vater in Ergänzung der Taufe auf den Namen Jesu; Apg 8.18). Eine Variante der Taufe auf den Namen Jesu ist auch die Sündenvergebung bei der Taufe durch Anrufung des Erhöhten (1 Petr 3,22). Die Endgestalt der christlichen Taufe ist daher Resultat eines längeren »ökumenischen« Prozesses. Das Verhältnis zwischen Johannes dem Täufer und Jesus ist im frühen Christentum unterschiedlich vorgestellt: 1. Kriterium der Differenz ist die Taufe: Wassertaufe oder Geisttaufe (Mk 1). – 2. Johannes ist Wegbereiter, Jesus der Kommende, der Herr (Mk 1; ähnlich Joh 1: Johannes zeugt vom Licht, Jesus ist das Licht). – 3. Johannes ist priesterliche Endzeitfigur, Jesus die königliche (Lk). – 4. Johannes ist der Freund des Bräutigams, Jesus ist der Bräutigam (Joh 3,29). – 5. Johannes ist der bedeutendste Mensch, aber jeder aus Gott Geborene ist größer als er (Mt 11,11; Lk 7,28). – 6. Beide sind Boten der Weisheit, Johannes zum Weinen, Jesus zum Mitfreuen (Lk 7; Mt 11). – 7. Johannes ist Stimme, Jesus ist der Logos (Joh 1). – 8. Johannes ist mehr als ein Prophet, Jesus der Messias (Lk 7; Mt 11). – 9. Johannes predigt das Feuergericht, Jesus bringt jetzt schon das Feuer Gottes auf die Erde
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(Lk 12,49). – 10. Anhand der Frage, wer von beiden Elia ist, gilt: Überwiegend in der jüdischen Elia-Erwartung ist die Abfolge Elia/Tag des Herrn. Nicht üblich (eher ungeläufig) ist dagegen die Abfolge Elia/Messias. Deshalb kann das Verhältnis Täufer/Jesus nur im Sinne von Elia/ Menschensohn gelöst werden. Denn der Menschensohn gehört eindeutig zum »Tag des Herrn«.
Mk 1,13: Die Versuchung Jesu in der Wüste Die »Versuchung« hat ihren formgeschichtlichen Ort im Anschluss an die Berufung oder Bekehrung oder die anfängliche zentrale Begegnung mit dem lebendigen Gott. Daher erlebt Jesus genauso eine Versuchung, wie die klassische Bekehrung zu Gott eine nachfolgende Versuchung vorsieht; das gilt etwa von Abraham (das Judentum zählt 22 Versuchungen, nachdem Abraham der erste zu Gott Bekehrte war), es gilt von Hiob nach TestHiob (griech. Schrift des 1. Jh. n. Chr.; Hiobs Leiden werden als versucherische Probe auf seine Bekehrung zum jüdischen Gott hin verstanden), und es gilt auch für die Christen in Thessaloniki (1 Thess 3). Das Auftreten des Teufels hat hier ebenfalls einen relativ festen Ort. Auch dem Jak ist die Motivkombination von Mk 1 geläufig (Glaube, Versuchung, Bewährung; vgl. Jak 1,2 f.12), ebenso 1 Petr 1 (Glaube, Versuchung, Erprobung, Herrlichkeit). Der Satz »und die Engel dienten ihm« wird im Rahmen der Überlieferung der Versuchung Jesu gut verständlich nur im Blick auf die Fassungen bei Mt und Lk. Denn dort zitiert der Teufel in Lk 4,10, nachdem er Jesus aufgefordert hat, sich von der Zinne des Tempels zu stürzen: »Seinen Engeln wird er gebieten für dich, dich zu bewachen« und »auf Händen werden sie dich tragen, damit du nicht anschlägst an einen Stein deinen Fuß« (Ps 91,11f). Jesus antwortet darauf: »Du sollst nicht versuchen den Herrn, deinen Gott.« – Der Leser wird dennoch fragen, welche Bedeutung Ps 91,11f haben könne, nachdem das darin Verheißene nicht geschehen konnte. Das aber, was Ps 91,1f formuliert, kann man als »dienen« gut zusammenfassen. Die Fassung von Mk 1,13 wehrt jedes Missverständnis aus der Fassung bei Mt oder Lk ab. Damit aber setzt Mk eine Überlie-
135 ferung wie die bei Mt oder Lk voraus. Denn Schutz und Fürsorge durch Engel, die bei Mt und Lk abgelehnt werden, werden bei Mk ausdrücklich bejaht. Das aber würde einmal mehr an der Zwei-Quellen-Theorie rütteln. Theologisch sagt Mk 1,13b dann: Gott lässt sich zwar nicht versuchen, aber er erfüllt die Verheißung von Ps 91,1f sicher, aber – abgesehen von der Situation der Versuchung – dann, wenn er es will. Eine andere Deutung zu Mk 1,13: Der Text ist in seiner Knappheit rätselhaft. Der Satz »und er war mit den Tieren« fehlt auch in den sonst ausführlicheren Versuchungsberichten nach Matthäus und Lukas. Dass die Engel Jesus dienten, bedeutet, dass sie ihn mit dem Notwendigen versorgten, mit Wasser und Brot und einem Zelt in der Nacht. Das Dienen der Engel ist nicht als Belohnung am Ende dargestellt, sondern dauert offenbar die vierzig Tage über. Demnach ist jedenfalls bei Markus nichts von einem Fasten Jesu berichtet! Der Text wird daher zu Unrecht immer im Licht der Berichte bei Matthäus und Lukas gelesen, bei denen der Hunger dann auch in der Versuchung ausdrücklich eine Rolle spielt. Denn wer durch Engel ernährt wird, muss nicht fasten und nicht hungern! Es wird auch nicht gesagt, dass die wilden Tiere Jesus dienen. Das lapidare »Er war mit den Tieren« setzt aber offensichtlich voraus, dass sie Jesus nichts angetan haben, denn sonst hätte er die 40 Tage nicht überlebt. – Es ist auch nicht von Engelspeise die Rede, denn Jesus ist in der Wüste nicht im Paradies. Überhaupt fehlen durchweg Anklänge an das Paradies, und die Wüsten in Palästina haben mit dem blühenden Garten, als den die Bibel das Paradies beschreibt, wirklich nichts gemeinsam (außer dass Wohnhäuser fehlen). Daher muss man auch nicht an b. Talmud, Traktat Sanhedrin 59b denken: »Der erste Mensch hat im Garten Eden zu Tische gelegen, und die Engel des Dienstes brieten ihm das Fleisch und seihten ihm den Wein durch.« Es geht daher weder um den zweiten Adam, noch um die Wiederherstellung der Ordnung des Paradieses. Relativ große Ähnlichkeit scheint noch mit diesem Text des 2. Jh. n. Chr. zu bestehen: »Der Teufel wird von euch fliehen, die Tiere werden euch fürchten, der Herr wird dich lieben, Engel werden sich eurer anneh-
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136 men« (Testament des Naphtali 8,4). Doch es fehlen die Versuchung, die Wüste, die 40 Tage, und der Teufel flieht Jesus nicht, sondern macht sich an ihn heran und versucht ihn. Das Motiv, dass Tiere einen Menschen fürchten (wie es sich nach Gen 1f gehört!), gilt von jedem Menschen, der »gerecht« und »heilig« ist (vgl. Franz von Assisi). Der Ertrag der üblichen Suche nach Parallelen im Frühjudentum bleibt daher mager. Eine wirklich enge Entsprechung mit theologischer Tiefe ergibt sich dagegen zu 1 Kön 19,8. Zunächst: Es ist die Rede von Elia, Gottes Propheten. Gerade nach dem Bericht des Evangelisten Markus besteht eine durchgehende Typologie zwischen Elia und Jesus: Jesus beruft die Jünger wie Elia, er erweckt die Tochter des Jairus nach dem »Rezept« des Elia, er wirkt das Speisungswunder mit den Broten wie Elisa, Schüler Elias, er spricht mit Elia bei der Verklärung; man diskutiert, ob er selbst oder ob Johannes der Täufer der wiedergekommene Elia ist. Von daher hat jede weitere Entdeckung von Elia-Typologie einen soliden Rahmen. Nun zu 1 Kön 19: Elia muss sich vor König Ahab fürchten, weil dieser alle Propheten töten lässt. Elia flieht und »begab sich eine Tagesreise weit in die Wüste hinein und setzte sich unter einen Ginsterstrauch. Er wünschte sich den Tod und sprach: Genug ist es jetzt, o Herr! Nimm mein Leben hin … Dann legte er sich nieder und schlief unter einem Ginsterstrauch ein. Da plötzlich berührte ihn ein Engel und sprach zu ihm: Steh auf und iss! – Er sah sich um und bemerkte zu seinem Kopfende einen gerösteten Brotfladen und ein Gefäß mit Wasser. Er aß und trank und legte sich von neuem nieder. Da kam der Engel des Herrn zum zweiten Mal, rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss, denn sonst ist der Weg zu weit für dich! So stand er auf, aß und trank und ging in der Kraft dieser Speise 40 Tage und 40 Nächte bis zum Gottesberg Horeb … Ich allein blieb übrig, doch auch mir trachteten sie nach dem Leben« (1 Kön 19,4-10). Die Entsprechungen: Es handelt sich um eine wirkliche Versuchung oder Anfechtung, nämlich durch die Angst vor dem Tod. Jesus hatte dazu Anlass durch das Martyrium Johannes des Täufers. Dass »alle Propheten« getötet werden (1 Kön 19,1), findet sich gerade auch in den syn-
Das Evangelium nach Markus
optischen Evangelien als generelle Aussage wieder. Die Anfechtung dauert 40 Tage und 40 Nächte lang. Der Ausdruck »dienen« bezieht sich im Neuen Testament speziell auf das Bereitstellen von Nahrung. An die Stelle des einen Engels bei Elia treten bei Jesus mehrere Engel. Die wunderbare Bereitstellung von Nahrung kehrt in der Elia/Elisa-Tradition genauso wie bei Jesus dann auch als Speisung einer Volkmenge wieder. Die Deutung der Versuchung auf Angst vor dem Tod ist deshalb plausibel, weil in allen anderen Versuchungen Jesu dasselbe Motiv auftaucht (bei Petri Versuch, ihn am Leiden zu hindern, in Getsemani, am Kreuz). Man darf daher davon ausgehen, dass Jesu erste Versuchung schon durch eben genau dieses Vorwissen Jesu geprägt war. Die Überwindung der Versuchung trägt bei beiden wesentlich dazu bei, dass sie ihren Prophetendienst überhaupt erfüllen können. Beide Propheten sind auf dem Weg zu einem Berg (Horeb – Berg der Verklärung, Golgota), auf dem sich ihnen Gott zeigen wird. In der Tat ist Jesu Predigt nach Markus ein einziger Weg zum Berg der Verklärung und dann nach Golgota. Das Schema des Weges wird noch einmal von Elia her verständlich. In der aramäischen Version der Targume wird die Ähnlichkeit verstärkt: Dort heißt es, Elia kam zu dem Berg, auf dem die Herrlichkeit des Herrn geoffenbart wurde. Genau das geschieht auf dem Berg der Verklärung. Ferner wird das »Element« Engel verstärkt: Von Engelheeren und von der Schechinah ist die Rede. Während in Mk 1,13 der Bericht schließt »und Engel dienten ihm«, endet der Bericht in 1 Kön 19 mit der Berufung des Elisa, und der letzte Satz des Kapitels (V. 21) heißt: Und er folgte Elia nach und diente ihm. Unterschiede: Bei Jesus heißt der Berg nicht Horeb. Der entsprechende Berg ist in der Verkündigung Jesu der Berg der Verklärung, auf dem Elia aber erscheint. Allerdings wird er noch nicht in Mk 1, sondern erst in Mk 9 erwähnt. Bei Jesus muss die Todesangst erst erschlossen werden. Jesus spricht auch nicht mit den Engeln. – Bei Elia gibt es keinen äußeren Versucher (Satan).
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Die folgende typologische Gegenüberstellung kann die Beobachtungen noch vertiefen: Zwei Propheten zu Beginn ihres Weges, der ihnen ein Weg in den Märtyrertod zu sein scheint und bei Jesus dann auch ist. Beide werden am Ende entrückt, nach Apg 1 mit demselben Wort: »Er wurde hinweggenommen.« Für beide Propheten führt der Weg auf den Berg der Herrlichkeit, für Jesus dann sogar wirklich auf den Berg Golgota. Jesus geht daher einen großen Zwischenschritt weiter als Elia: den in den wirklichen Märtyrertod. Beide Propheten werden von Engeln ernährt und gestärkt für ihren Weg. Denn beide Propheten sind in der Wüste Juda. Auch der Gottessohn darf, weil er ganz Mensch ist, Angst haben vor dem Tod, wie jeder Mensch und wie zuvor Elia. Beiden helfen Engel an der äußerlich schwächsten Stelle, bei Hunger und Durst. Das ist ganz elementar. Die Engel halten keine psychologische Ansprache, keinen Diskurs über das Sterben der Propheten. Sie liefern nicht Tiefsinn, sondern das Nächstliegende, so wie das sonst in ähnlicher Anfechtung auch Menschen tun, die einem nahe stehen. Sie sagen: Komm, iss und trink erst einmal. Die Kraft muss man in sich selbst finden. Und bei Gott. Die Sorge um das Elementarste ist hier die rührendste Weise der Fürsorge. Und eine mütterliche. Wie wenn die Mutter sagt: »Nun iss und trink erst einmal. Dann wird schon alles besser werden.« Die Zeit in der Wüste ist für beide die Zeit der Anfechtung. Denn die Wüste war für Israel immer der Ort der Wahrheit über den Menschen und über Gott. Die Wahrheit über den Menschen ist hier: Der Prophet ist überfordert durch seinen Auftrag. Die Wahrheit über Gott: Er hilft, aber nicht in der Hauptsache. Er hilft im Elementarsten: dass das Leben auf dem Weg weitergeht. In der Hauptsache, in der Besiegung der Angst vor dem Tod, kann Gott den Menschen nur gefasst machen, aber nicht – vorläufig nicht – den Tod beseitigen. Die Hauptsache wird erst in einem langen Weg und Prozess geklärt, den Gott und Mensch zusammen durchmachen, das Elementarste jetzt. Gott bleibt verhüllt – er sendet bis auf weiteres nur Engel. Gott bleibt nicht verhüllt: Dass Engel in der
Wüste helfen, ist schon ein Wunder. Dass der Weg auf den Berg der Herrlichkeit führt, zeigt, wohin alle Wege führen können, auf denen sich Gott mit den Menschen einlässt. Mir scheint wichtig, dass wir das Bild des weiten Weges begreifen. Beide Propheten haben auf diesem weiten Weg einen Auftrag. Und das gilt über diese »Propheten« hinaus: Auftrag, Anfechtung, Weiterleben, Berg der Herrlichkeit. Auch bei Jesus, den der Tod am Kreuz erwartet, ist der Berg der Verklärung ein Abbild des Berges der Herrlichkeit, zu dem Gott ihn führen wird. Was die Bibel mit der Zahl der 40 Tage zu sagen hat: 40 Tage ist das Maß des Menschen vor Gott. Genau 7 40 Tage dauert die Schwangerschaft, 40 Tage sind Jesus und Elia in der Wüste, 40 Tage ist Mose auf dem Berg Sinai vor Gott. 40 Jahre zieht das Volk durch die Wüste auf das gelobte Land hin. 40 Tage erscheint der Auferstandene den Jüngern nach Ostern bis zum Abschluss in der Himmelfahrt nach Apg 1. Und 40 Tage dauert jedes Jahr die Fastenzeit, nach 40 Tagen hält man in der katholischen Kirche ein »Seelenamt« für den Verstorbenen, denn 40 Tage ist auch die Zeit der Trauer.
Mk 1,14-20: Jüngerberufung Zu Mk 1,15: Der Gattung nach eine begründete Mahnrede; 1,15a ist eine Proklamation (vgl. Lk 21,8b). Zumeist übersieht man angesichts der frohen Botschaft in V. 15 das, was bereits im ersten Satz (V. 14) steht: »Nachdem Johannes der Täufer ins Gefängnis geworfen wurde …« Gefangennahme und Martyrium des Täufers sind für Jesus offensichtlich das sichtbare Signal, mit der Predigt von der Fülle der Zeit zu beginnen. Lk 16,16 ist daher eine gewisse Parallele zu Mk 1,14f: »Bevor Johannes der Täufer auftrat, gab es nur das Gesetz und die Propheten. Seitdem er aufgetreten ist, wird das Evangelium von Gottes Herrschaft verkündet, und unter diese Herrschaft soll jeder Mensch gebracht werden.« Johannes war für Jesus nicht nur Bote Gottes mit gleicher Botschaft – an erster Stelle fordert auch Jesus nach V. 15 zur Umkehr auf –, sondern auch der größte und wichtigste aller Menschen, den es je gegeben hat (Lk 7,28). Als Herodes Johannes regelrecht ermordet, stehen die Zeichen
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138 für die Welt auf Sturm. Denn dass die Herrschaft Gottes sich offenbaren wird, das wird keine freundliche Ergänzung bestehender Herrschaften sein, sondern dorthin führt ein Weg über die Leiden der Gerechten, Jesus inbegriffen. Diese Abfolge von Leiden und Herrlichkeit mutet Jesus auch den Jüngern zu, die er im Folgenden berufen wird. Die Verbindung von »Herrschaft Gottes« und Evangelium ist seit Jesaja und seiner Wirkungsgeschichte im Judentum nicht ganz neu (vgl. Jes 52,7). Das Neue Testament knüpft an die theologische Bedeutung von besora bei Jesaja an, und zwar im Sinne der Botschaft vom Anbruch der Heilszeit. In stärker traditioneller Sprache sagt Offb 14,6-7 dasselbe: Die Verkündigung des ewigen Evangeliums ist der Aufruf, Gott zu fürchten und zu ehren; vgl. 1 Thess 1,5 (Evangelium) und 1,9 (von den Götzen zu Gott bekehrt). Denn eben darin besteht Gottes Herrschaft, dass die Menschen Gott anerkennen. Und dieses geschieht nicht an einem bestimmten Punkt, sondern es umfasst eine ganze Geschichte, zu der wesentlich die Stationen Umkehr, Leiden und Herrlichkeit gehören. – Für die neutestamentliche Verwendung des Begriffs »Evangelium« (und des Verbs »das Evangelium verkünden«) hat Jes 61,1 besondere Bedeutung. Denn von hier ist die Verbindung von Evangelium und Ausstattung des Verkündigers mit Gottes Geist vorgegeben. Wesentlich von hier aus ist die Verbindung von »Evangelium« in Mk 1,1.14 mit der Verleihung des Heiligen Geistes an Jesus in Mk 1,10 zu begreifen. Und die Geistverleihung ist das Privileg des Sohnes Gottes Jesus gegenüber dem Täufer. Insofern ist Mk 1,1-14 ein Beitrag zu der durch Lk 16,16 aufgeworfenen Frage der Zeitentrennung. Und wenn Jesus sagt, die »Herrschaft Gottes« sei nahe gekommen, dann meint er: Gottes Sehnsucht danach, mit und bei seinem Volk gemeinsam zu wohnen, ist ganz stark. Und wer Jesus hört, seinen geliebten Sohn, der kann schon ihn, Gott selbst, hören. An dem, was Jesus tut, kann man schon erkennen, was Gott demnächst an seinem Volk tun wird: Er wird dessen Arzt sein. Und alle Zeichenhandlungen Jesu weisen in diese Richtung: Der Tempel wird wieder rein sein, die Heidenvölker werden dort anbeten. Ganz Israel
Das Evangelium nach Markus
wird sich bekehren, darauf weist die Jüngeraussendung vor Ostern. Gott ist mit Jesus seinem Volk physisch, persönlich und zeitlich ganz nahe gekommen. Die politischen Konsequenzen sind noch verhüllt und eher gegenteilig (Martyrium). Aber in dem, was Jesus tut, inklusive Stiftung des Neuen Bundes beim letzten Mahl, leuchtet überall das Neue auf. Die Berufung der Jünger in Mk 1,19-20 hat eine direkte Parallele in der Berufung Elisas durch Elia in 1 Kön 19,19-21: »Und Elia ging fort von dort und fand Elisa, den Sohn des Safar, der mit Rindern pflügte. Und er ging auf ihn zu und warf seinen Mantel auf ihn … Und Elisa sagte: Ich will Abschied nehmen von meinem Vater und dir nachfolgen. Und er stand auf und ging hinter Elia her und diente ihm.« Wie bei Markus verändert der berufende »Prophet« seinen Ort, er trifft auf den namentlich genannten künftigen Jünger. Dieser ist gerade mit Arbeit in seinem Beruf beschäftigt. Durch eine Zeichenhandlung oder einfach einen Ruf wird der künftige Jünger angesprochen. Der Jünger folgt dem Propheten nach, wörtlich: Er geht hinter ihm her – inklusive Hilfeleisten und Gehorsam. – Der hauptsächliche Unterschied: Bei Elia bittet der Jünger erst noch, Abschied von seinem Vater nehmen zu dürfen. Dieser Zug hat sich in der Jesus-Überlieferung zwar nicht bei Markus, wohl aber in Lukas 9,5961 erhalten: Ein künftiger Jünger bittet dort: »Erlaube mir erst, wegzugehen und meinen Vater zu begraben«, und in 9,61 bittet ein anderer: »Ich will dir folgen, Herr, erst aber erlaube mir, Abschied zu nehmen von denen in meinem Hause.« In beiden Fällen verweigert Jesus diese Erlaubnis. Lukas sagt daher ausdrücklich, was Markus stillschweigend voraussetzt: Jesus ist strenger als Elia. Er lässt keinen Einwand zu. Josephus gibt diese Berufung in Ant 8,354 wieder: »Als Elia seinen Prophetenmantel über ihn warf, begann Elisa sofort zu weissagen, verließ die Ochsen und folgte Elia nach (griech.: akoluthein) … Er folgte ihm und war Elias Schüler und Diener (griech.: diakonos), solange dieser lebte.« Im Unterschied zu 1 Kön 19 und Mk 1 erlaubt bei Josephus Elia die Verabschiedung von den Eltern. Die Wunderberichte mit Parallelen in der EliaTradition zeigen ganz entsprechend eine Tendenz zur Steigerung der Vollmacht Jesu. In Speisungen
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und Totenerweckungen vollbringt Jesus das Wunder viel leichter und umfassend mächtiger als der Prophet. Und hier, bei der Jünger-Berufung äußert sich die größere Vollmacht als größere Strenge.
Mk 1,21-28: Jesus in Kafarnaum Dass Jesus mit unreinen Geistern spricht und sie austreiben kann, erscheint vielen so genannten »progressiven« Christen nur noch als peinlich. Hat Jesus lediglich vom Glauben an die Dämonen befreien wollen, keineswegs aber von diesen selbst? Untrennbar mit Exorzismen ist eine Auffassung von Wirklichkeit verknüpft, wonach eben nicht der Mensch mit seiner Psyche der Mittelpunkt aller Dinge ist (ein moderner Mythos), sondern wonach er eingebettet in Beziehungen zu Personen und Mächten außerhalb seiner selbst ist. Der Mensch ist daher im Konflikt- oder Katastrophenfall nicht nur mit sich selbst zu versöhnen und in sich selbst zu integrieren. Vielmehr gibt es unsichtbare Wirkfaktoren innerhalb wie außerhalb seiner selbst. So kann er, wenn es um ihm feindliche Mächte geht, von ihnen befreit werden oder Nein zu ihnen sagen. Und eben darin besteht der Vorteil dieser Betrachtungsweise: Man kann von diesen Mächten getrennt werden. Das Fremde »sitzt« in den Betroffenen, aber kann, weil es das Fremde ist, endgültig hinausgeworfen werden – vergleichbar dem Krebs, der im Menschen und von ihm lebt, aber doch da nicht hingehört und beseitigt werden kann. Ferner liegt beim Dämonismus eine Art Dualismus (Zweigeteiltheit der Wirklichkeit) vor, und damit geht es um einen Kampf, um Ja oder Nein, um einen Herrschaftsbereich Gottes und einen solchen des Teufels. Im Aufbau des Evangeliums nach Markus ist Mk 1,21 ff ein eindrückliches Zeugnis für die Vollmacht, die Jesus als Gottes Sohn zukommt. Laut 1,11 hatte ihn der Vater durch eine »Himmelsstimme« ganz persönlich als geliebtes Kind angesprochen. Dieses worthafte Element der Proklamation kommentiert das visionäre Element, das zuvor berichtet worden war, die Herabkunft des Heiligen Geistes auf Jesus. Dem Heiligen Geist Gottes ist nun der
139 unreine Geist entgegengesetzt, dem Jesus nach 1,25 befiehlt, den Kranken zu verlassen. »Unrein« heißt dieser Geist deshalb, weil er eigentlich ein Totengeist ist, und alles Tote ist unrein. Dämonen sind eine besondere Sorte von Totengeistern, nämlich die Geister jener Riesenkinder, die aus der Verbindung von Menschentöchtern und Engeln nach Gen 6 hervorgingen. Der Gegensatz von heiligem und unreinem Geist ist ganz klar »dualistisch« zu nennen. Auffällig ist nun, dass an der Befehlsgewalt Jesu nicht der geringste Zweifel besteht. Als Träger des Heiligen Geistes ist er mühelos den anderen Geistern gewachsen. Und der einzelne Mensch wird als das zwischen unreinem und Heiligem Geist »strittige« Territorium angesehen. Ein mittelalterliches Segensgebet zu diesem Text bringt das gut zum Ausdruck: »Der Gott Emmanuel ist, um uns Menschen sichtbar zu werden, als Wort Fleisch geworden und wollte unter uns wohnen. Er mache euch zu einer würdigen Wohnung für den Heiligen Geist, damit er, der euch als Schöpfer gegenübersteht, auch im Inneren eures Herzens bleibe« (Bischöfl. Segensgebete 694a). Dieses Gebet stellt auch den gesamtbiblischen Zusammenhang her. Denn dass Gott bei den Menschen wohnen will und wird, ist seit alters der Inhalt der so genannten Bundesformel. Jeder Einzelne soll (und alle zusammen sollen) Haus und Tempel Gottes sein. Das erübrigt den Tempel in Jerusalem nicht, macht es aber notwendig, dass er selbst auch rein wird. Und weil der Heilige Geist in Jesus ist, nennt der Dämon ihn »der Heilige Gottes« (1,24). Das entspricht ganz dem Kontext und dem Wirken Jesu, es schlägt auch die Brücke zur Richterzeit, denn »Heiliger Gottes« ist auch der Titel des als Nasiräer lebenden Simson (Ri 13,7; 16,17 nach Handschriften der griech. Bibel). Daher geht der Ausdruck »Nazarener« hier womöglich auf »Nasiräer« zurück. Denn die Nasiräer gelten – zumal für die Zeit ihres Gelübdes – als heilig. Nasiräische Züge sind auch für den Täufer und den »Herrenbruder« Jakobus überliefert. Wenn man Jesus so nannte, weil Nasiräer zu dieser Zeit Inbegriff der Heiligkeit geworden war (Weinverzicht als nasiräisches Merkmal kommt bei Jesus ab Mk 14,25 in Frage, wann auch immer er dieses Wort gesagt hat; aber es gibt immerhin dieses Gelöbnis auf Weinverzicht). – Eine andere Möglichkeit der Herleitung
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140 wäre die von Nasaraioi. Sie stützt sich auf die in Mt 4,13 belegte Ortsbezeichnung Nazara. Die Nazaräer waren eine bei frühen östlichen syrischen und griechischen Kirchenlehrern bezeugte Gruppe von Heilern und Exorzisten. Sie könnte vorchristlichen Ursprungs sein. Denn Epiphanius (Haereses 29.7.3) sagt: »Die Nasaräer existierten vor Christus und kannten Christus nicht.« So nennt er sie (19.5) als jüdische Religionspartei neben Sadduzäern, Essenern und anderen. Das lange zweite a in Nasaraioi konnte offenbar zu o gedehnt werden. In anderen byzantinischen Quellen gibt es daher die Nasorener, exorzistische Magier (griech. palaia). Nach anderen (Theodoret) gibt es judenchristliche Nasoraioi, die Jesus nur für einen gerechten Menschen halten und das Petrusevangelium benutzen (Material in: NovTest 38, 327f). Dass es sich um eine kleine judenchristliche Gruppe handelte, die den älteren Namen und damit auch entsprechende Christologie bewahrten, ist sicher eine ernst zu nehmende Spur. Von besonderer Bedeutung aber ist für mich die Tatsache, dass wiederholt der Prophet Jeremia als Nasaräer bezeichnet wird (ebd.), denn das weist auf eine Buß- und Umkehrbewegung, wie sie oben schon für Mk 1,6 genannt wurde, es weist aber auch auf Mt 16,14 (»Jesus ist Jeremia«). Auch Hieronymus erwähnt ein Jeremia-Apokryphon der Nasaräer. Es kann sich daher um eine jüdische Richtung handeln, die eine hohe natürliche Nähe zum Christentum besessen und auch realisiert hat. Schließlich zum exorzistischen Dialog: Die Frage des Dämon ist im Sinne der Abwehr zu übersetzen: »Was führst du im Schilde gegen mich?« (1,24). Dass der Dämon offenbart, wer Jesus ist (ähnlich auch 3,11: »der Sohn Gottes«) und so zum Zeugen für Jesus wird, ist darin begründet, dass Heiliger Geist und unreine Geister innerhalb derselben Wirklichkeit existieren. Geist wird nur durch Geist erkannt (1 Kor 2,11-15), auch wenn es sich um konträre Geister handelt. Auch in 1 Joh 4,2f ist es jeweils der Geist (aus Gott oder vom Antichrist), der das rechte oder falsche Bekenntnis ablegt. Exorzistische Dialoge sind in der damaligen Umwelt sehr selten und daher ein besonderes Merkmal des Auftretens Jesu und seiner unbedingten Vollmacht.
Das Evangelium nach Markus
Mk 1,29-39: Im Haus des Petrus Zu Mk 1,34: Warum verbietet Jesus den Dämonen, die er austreibt, preiszugeben, wer er ist? Die Szene kennen wir aus 1,24: Der Dämon bekennt Jesus als den »Heiligen Gottes« – Jesus aber bedankt sich nicht für das zutreffende Bekenntnis, sondern befiehlt: »Sei still! Geh da raus!« Ähnlich aber ist auch Mk 3,11f: »Und die bösen Geister fielen, sobald sie seiner ansichtig wurden, vor ihm nieder und schrien: ›Du bist Gottes Sohn!‹ (V. 12). Aber immer wieder fuhr er sie an, sie sollten sein Geheimnis nicht preisgeben.« – Das weist uns auf eines der klassischen Themen markinischer Theologie. Messiasgeheimnis I Genauso wie Mk 1,24 und 3,11f ist also nun Mk 1,34 zu verstehen. Man hat mit diesen Schweigegeboten die abenteuerlichsten Unterstellungen verknüpft. Die bekannteste stammt von William Wrede um 1901: Jesus habe Jüngern, Geheilten und Dämonen Schweigen geboten, weil es das Bekenntnis zu Jesus vor Ostern noch gar nicht gegeben habe. Der Evangelist Markus habe als geschickter Fälscher die in Wahrheit erst nachösterlichen Bekenntnisse in die Jesusüberlieferung so hineingemogelt, dass er behauptete, es habe sie vor Ostern zwar gegeben, doch Jesus habe ihr Verschweigen geboten. So habe man aus der Sicht des Markus am besten vertuschen können, dass es in der historisch glaubwürdigen Jesusüberlieferung ganz lange keinerlei Bekenntnisse gab. Mit dem Satz »Man wusste zwar, aber Jesus hat es zu sagen verboten« habe Markus diesen Mangel ausgeglichen. Markus steht mithin als genialer Fälscher da. Und für ebenso genial hielt man den Entdecker W. Wrede, der offenbar seinen Beruf als Krimi-Autor verfehlt hatte. Wrede nannte das Ganze »Messiasgeheimnis«, und diese Theorie ist bis heute eine der tragenden Säulen der herrschenden Ansicht, alle Bekenntnisse über Jesus seien erst nachösterlich. Wie modern doch Markus war, dass er genau die Wünsche der liberalen Jesusforscher kannte! Denn diese Wünsche waren: Jesus hat nur von Gott und seinem Reich geredet. Alles andere, insbesondere das anstößige Bekenntnis zu Jesus selbst, ist nachösterliche Erfindung der Gemeinde. Der geniale Fälscher Markus habe durch die
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anachronistische Konstruktion in seinem Evangelium der Gemeinde ideologisch nachgeholfen. Denn natürlich, so meint man, kann es nicht so gewesen sein, wie es das Evangelium berichte. Aus dem tatsächlichen Nichts machte Markus eine geheime Botschaft. Dagegen ein neuer Vorschlag. Jesus wie auch andere frühe Christen, zum Beispiel der »Herrenbruder« Jakobus sind aus Erfahrung misstrauisch gegen bloße Bekenntnisse, und zwar gegen solche, denen keine Taten folgen. Jesus macht die Erfahrung mit Petrus, der mit Gottes Hilfe das richtige Bekenntnis formuliert, den er aber gleichwohl direkt danach »Satan« nennt (Mk 8,33), weil Petrus die Bewährung im Leiden nicht nur selbst scheut, sondern auch Jesus davon abrät. Ebenso in Mt 7,21f: Jesus warnt vor Leuten, die zwar »Herr, Herr« sagen und sogar Wunder vollbringen, aber Gottes Gebot nicht tun. Das Bekenntnis war nur ein für den Richter, aus dessen Perspektive Jesus in Mt 7 berichtet, leicht durchschaubares Ablenkungsmanöver. Dasselbe gilt auch für Dämonen nach Jak 2: Dafür, dass auf Glaube Werke folgen müssen, führt er als negatives Beispiel die Dämonen an: »Glaubst du einfach nur, dass der eine und einzige Gott existiert? Herzlichen Glückwunsch! Auch die Dämonen glauben das und zittern doch vor Angst« (2,19f). In der Tat: Das Zittern ist angemessen vor der Hoheit Gottes und eine zutreffende Einschätzung dessen, mit dem man es zu tun hat. Doch nur aus Angst zittern die Dämonen, weil sie bekanntlich nur Negatives und keine guten Werke tun. – In diesen Texten scheint mir der Schlüssel für eine Deutung der Schweigegebote bei Jesus nach Markus zu liegen. Beginnen wir mit den Dämonen. Ihr Bekenntnis ist zwar zutreffend, aber nur ein Ablenkungsmanöver. Sie wollen mit dem Bekenntnis schnell und für sie selbst gefahrlos Frieden schließen mit ihrem mächtigen Herrn. Sie haben ihm ja die Ehre zuteil werden lassen, die ihm gebührt, und im Übrigen »bleibt alles beim Alten«. Sie meinen daher offensichtlich, unter der Bedingung des Bekenntnisses vor dem Herrn rundum sicher zu sein. Jak 2,19 nennt das Zittern an der Stelle des Bekenntnisses. Konsequenzen fehlen in beiden Fällen. Jesus will daher das zutreffende Bekenntnis nicht weiter hören und mahnt vielmehr das allein wichtige Tun an: »Geh
141 raus hier!« Genau darum geht es auch nach Mt 7,21f: Ein Bekenntnis, nach dessen Aussprechen dann alles beim Alten bleibt, ist das letzte, das er wollen könnte. Auch die Schweigegebote an die Jünger haben nach der Episode von Mt 16,16.22f (Bekenntnis und Leidensscheu) wohl eine entsprechend ähnliche Funktion. Denn die Jünger haben sich noch nicht im Leiden bewährt. Am Beispiel des Petrus, das erst jetzt an Leuchtkraft gewinnt, kann der Leser im Lauf des Evangeliums verfolgen, wie nötig das Bekenntnis zum Leiden Jesu inklusive eigener Leidensbereitschaft ist. Wie eng beides zusammengehört, zeigt auch die Abfolge von Mk 8,29 (Christus-Bekenntnis) und 8,34 (Wer Jünger sein will, verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich). – Wenn Jesus daher den Jüngern nach Mk 9,9 gebietet, sie dürften erst nach der Auferstehung Jesu das Bekenntnis weitersagen, so hat dieses nach dem Gesagten Sinn: Erst dann wird das Bekenntnis jemand hören wollen, wenn die Jünger in Anfechtung und Leiden oder eben im Versagen demonstriert haben, was ihnen ihr Bekenntnis selbst wert ist. Dass Petrus nach seinem Versagen bereut, wird von hier aus für das Bekenntnis ganz wichtig. Von allen Jüngern wird berichtet, sie seien geflohen (Mk 14,26-31). Nur von Petrus wird gesagt, dass er sich durch Reue besinnt. Das Bekenntnis zum Leiden und noch mehr das Leiden selbst überfordern die Jünger. Wenigstens die spätere reuige Einsicht gibt ihnen die Chance, gleichwohl mit einem Rest an Glaubwürdigkeit das Bekenntnis zu Jesus zu vertreten. Dem Entweichen der Dämonen entspricht daher das Thema Leiden bei den Jüngern. Beides ist notwendige, durch Jesus selbst entweder erzwungene oder nahe gelegte Konsequenz aus dem Bekenntnis zu ihm. Das Bekenntnis »an und für sich« hat keinen eigenen Wert, so wahr es auch sein mag. Hieran wird erkennbar, wie zentral für die christliche Kirche von allem Anfang an die Glaubwürdigkeit ist. Es ist nicht nur die Glaubwürdigkeit im Allgemeinen (gegenüber den zehn Geboten), sondern sehr speziell die Bereitschaft, für Jesus zu leiden. Dass die Frauen nach Mk 16,8 von sich aus die Botschaft nicht weitergeben, hat mit den Schweigegeboten nichts zu tun. Ist es ein Zeichen demütiger Selbsteinschätzung? Oder ist überhaupt das
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142 Verhältnis der Frauen zum Martyrium im 1. Jh. anders? Die erste Märtyrin ist die heilige Thekla, Paulusschülerin. – Weiteres zum Messiasgeheimnis bei Mk 9,9. Zu Mk 1,29-31: Dass Jesus zusammen mit den vier Erstberufenen Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes auftritt, ist selten und markiert stets erstrangige Ereignisse. Das betrifft die Berufung, die Heilung der Schwiegermutter des Petrus und die Endzeitweissagung in Mk 13. Mit nur dreien dieser Jünger ist Jesus bei Verklärung und Auferweckung der Tochter des Jairus zusammen, zweifelsfrei gewaltigen Ereignissen. Man kann sagen: Es spannt sich ein Bogen zwischen der Heilung der Schwiegermutter Petri und Mk 13, also der ersten Wunderheilung und der letzten Rede. In beiden Abschnitten geht es in besonderer Weise um die Familien der Jünger, denn in Mk 13 redet Jesus von der Gefährdung der Familien durch Verrat und Verfolgung (Mk 13,12f). Die Heilung der Schwiegermutter Petri am Anfang aber ist ein wichtiges Zeichen für die christlichen Familien: ›Es kann sein, dass ihr die zu verlieren scheint, die sich Jesus anschließen, doch umgekehrt kommen gerade die Heilungsgaben zuallererst euch zugute.‹ Denn Jesus ist nicht familienfeindlich. Großzügig heilend wendet er sich Menschen in dem Bereich zu, den er sonst als den ansieht, auf dem die meisten durch Filz und Gewohnheit an Erneuerung gehindert werden.
Mk 1,40-45: Heilung eines Aussätzigen »Wenn du willst, Herr, kannst du uns rein machen und uns vergeben. Unser Gebet kann wegen unserer Ungerechtheit Vergebung nicht erwirken, doch durch die Fürsprache deiner Heiligen kannst du sie uns schenken.« Dieses mittelalterliche Gebet (Corpus Nr. 5477) nimmt den entscheidenden Satz unseres Textes auf (»Ich will, sei rein!«) und deutet ihn im Sinne der Vergebung der Sünden. Dazu möge Gott die Fürsprache der Heiligen bewegen – menschliches Gebet hilft nichts, denn wir Menschen sind Sünder. Wir fragen: Wie ist, biblisch gesehen, das Verhältnis von Unreinheit und Sünde? Antwort: Grob gesprochen ist »unrein« eine kultisch rituelle Kate-
Das Evangelium nach Markus
gorie. Unrein ist alles, was vom heiligen Bezirk fernzuhalten ist. Unreinheit ist durch Berührung ansteckend. »Sünde« ist dagegen eher das moralische Vergehen, wegen dessen das Gewissen anklagt. Es ist oft ein Vergehen gegen Gerechtigkeit oder Liebe im weitesten Sinne. In diesem Sinne ist jeder an jedem Ort verantwortlich. – Etwa seit dem 2. Jh. v. Chr. neigt man dazu, Unreinheit zur umfassenden Bezeichnung alles dessen zu machen, was Gott nicht will. Dafür spricht auch die räumliche Anschaulichkeit. Die gesamte Moral des Judentums wird priesterlich »unterwandert«. So werden auch Lüge und fehlende Solidarität im Volk ein Vergehen der Unreinheit. Auch die Pharisäer, denen Jesus nahe steht, halten den Unterschied rein/unrein für überaus wichtig. Jesus unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von den Pharisäern. Rein und unrein ist für ihn wie heilig und unheilig. Für Jesus liegt alles daran, sich an den Heiligen Geist zu halten und unreine Geister zu überwinden. Und unter allen Umständen kommt es darauf an, dass ein Mensch sich nicht durch das unrein macht, was aus seinem Inneren hervorkommt, nämlich böse Worte und Taten. Die können ihn wirklich verunreinigen. Und wohl deshalb weitet Jesus in der Bergpredigt die Verbote des Mordens und Ehebrechens aus und verbietet das Schwören ganz, weil der Mensch jeder Gefahr der Unreinheit aus dem Weg gehen muss. Zum Beispiel könnte durch das Schwören bei Gott dessen Heiligkeit in unsaubere Geschichten verstrickt werden, und die Folgen müsste der Mensch tragen, denn Verunreinigung von Heiligem rächt sich direkt, schlägt auf den Verunreiniger massiv zurück. – In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich Jesus freilich von den Pharisäern, nämlich in der Frage, wie Unreinheit ursächlich zustande kommt. Nur in dieser Frage stellt Jesus das pharisäische Denken auf den Kopf. Doch die grundlegende Bedeutung von rein und unrein bleibt streng gewahrt. Darin liegt nun der Unterschied: Jesu Reinheit ist nicht defensiv, sondern offensiv. Und die Unreinheit kommt nicht von außen her in den Menschen hinein, sondern sie kommt aus seinem Inneren hervor. Eine nur defensive Reinheit muss stets flüchten vor dem Kontakt mit Unreinem, der anstecken könnte. Sie ist nur durch Ab- und Ausgrenzung zu retten; daher deutet man das Wort »Pharisäer« von fa-
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rasch »abgrenzen«. Man muss sehen, dass man sich nicht z. B. an Totem verunreinigt und sollte deshalb vor Leichen fliehen. »Meiden« und »Distanz halten« sind daher die wichtigsten praktischen Regeln für Pharisäer. – Wer dagegen eine offensive Reinheit besitzt, muss nicht fürchten, durch Kontakt unrein zu werden, sondern er selbst macht durch seine Reinheit vorher Unreines nun rein. Seine Reinheit ist offensiv, sieghaft, sie setzt sich gegen Unreines durch. Deshalb kann Jesus Aussätzige rein machen, deshalb kann er den Blutfluss der kranken Frau zum Versiegen bringen (durch Berührung), kann er Tote bei der Hand nehmen und auferwecken, statt vor ihnen zu flüchten. Daher kann er mit dem Heiligen Geist, den er in der Taufe auch sichtbar empfing, die unreinen Geister (Dämonen) siegreich vertreiben. Und da viele Krankheiten nach dem Glauben seiner Zeit auf dämonisches Wirken zurückgehen, kann er sie heilen, denn Dämonen sind (unreine) Totengeister. Auch die Entscheidung gegen das Händewaschen, von der Mk 7 berichtet, haben seine Jünger auf dieser Grundlage gefällt. Denn vor keiner äußerlich begründeten Unreinheit müssen sie Angst haben – nur ganz allein vor der, die darin besteht, dass das Herz böse ist. Doch indem Jesus die Frage nach der Quelle der Reinheit ins Innere, ins Herz verlagert, hat er sie dennoch nicht einfach moralisiert. Jesus ist kein Aufklärer, der die Angst vor magischen Wirkungen durch den Appell ersetzt, einfach anständig zu sein. Denn der Umkehrschluss stimmt nicht: Ein gutes Herz kann noch nicht exorzistisch wirken, Aussatz oder Blutfluss beenden. Vielmehr gibt es das Gute nach den Evangelien nicht als Moral, sondern nur als Gabe des Heiligen Geistes. Und das Böse ist auch nicht einfach Unmoral, sondern ein böses Herz ist besetzt von der teuflischen Gegenmacht. Jesu Auffassung und Praxis von Reinheit ist darin begründet, dass in ihm und durch ihn der Heilige Geist wirkt. Dieses Wirken ist nicht tolerante Humanität, sondern kämpferisches Verbreiten des Herrschaftsgebietes Gottes gegen die Machtsphäre des Satans. Gewiss hat es positive ethische Auswirkungen, wo der Heilige Geist Einzug gehalten hat. Aber das ist nicht alles. Es kommt darauf an, dass die Substanz eine andere geworden ist: Wer ein gutes Herz hat, ist von der Seite Satans auf die Seite Gottes gewechselt.
143 Ich möchte damit warnen vor einem moralistisch verkürztem Jesusbild, bei dem dann folgerichtig für Jesu Macht- und Wundertaten kein Platz mehr ist. Nach unserem Ansatz ergeben sich diese konsequent daraus, dass offensive Reinheit Jesu keine »moralische Leistung« ist, sondern Folge der Anwesenheit Gottes in Jesus Christus. – Ganz ähnlich wird übrigens bei Paulus der traditionelle Konflikt im Menschen zwischen Leib und Geist grundsätzlich ersetzt durch den Konflikt zwischen dem alten Menschen und dem neuen, durch den Heiligen Geist gestifteten Menschen. Auch Paulus wirbt nicht um »das Gute im Menschen«, sondern um das Wirken des Heiligen Geistes Gottes in ihm. Zu Mk 1,44: Warum befiehlt Jesus dem Geheilten Schweigen und statt öffentlichen Verbreitens des Wunders den Gang zu den Priestern? Die Priester sind nach Lev 13,49 und 14,2f die zuständige Instanz zur Beurteilung von Aussatz. Jesus will das offizielle Zeugnis, um jedenfalls für jüdische Leser jeden Zweifel auszuschließen: Die Fachleute haben geurteilt. Mk 3,20 ff wird zeigen, wie nahe bei der Frage von rein und unrein ein grundsätzlicher Zweifel an der Legitimität Jesu liegen kann. Zum anderen ist ihr Urteil auch wichtig, um die sozialen Folgen des Aussatzes, nämlich dauerhafte soziale Diskriminierung, wirksam zu beseitigen. Steht das Verbot von 1,44 in Zusammenhang mit dem Wundergeheimnis? Mit den übrigen Belegen verbindet diesen die Grundeinstellung Jesu: Am leichten, oberflächlichen, schnellen Ruhm liegt Jesus nichts. Bei der Frage des Titels Jesu liegt das Leiden Jesu und der Jünger zwischen Tat und Ruhm. Bei der charismatischen Legitimität Jesu liegt die Bestätigung durch Fachleute dazwischen. Zugespitzt formuliert: In beiden Fällen ist Jesus alles daran gelegen, dass das Zeugnis auf seine Glaubwürdigkeit hin geprüft wird. Diese Glaubwürdigkeit wird weder durch diffizile Argumentationen noch »auf mysteriöse Weise« erlangt, sondern durch ganz handfestes Zeugnis von Menschen: durch Leiden oder Sachkunde. In 1,45 liegt übrigens keine Übertretung des Schweigegebotes durch den Geheilten vor. Das Subjekt des Satzes ist Jesus, so wie er der Sprecher von 1,44 war.
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Mk 2-4: Themen um Jesu Vollmacht Aufbau: In Mk 2,1 – 3,6 wird Jesu Vollmacht dargestellt, und zwar in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gegnern. 3,6 endet schon mit dem Tötungsbeschluss. Auch die Berufung der Zwölf in 3,3-19 wird nur deshalb geschildert, weil Jesus mit der Verkündigung auch die Vollmacht, Dämonen auszutreiben, an sie weitergibt. Den Höhepunkt der Auseinandersetzung bildet der Abschnitt 3,20-35. In der Mitte steht der Vorwurf der Kooperation Jesu mit dem Satan, was Jesus als Sünde gegen den Heiligen Geist bezeichnet. Gerahmt wird dieser Abschnitt durch das Thema Verwandtschaft Jesu. Nach 3,20f halten ihn seine Verwandten für verrückt, nach 3,31-35 antwortet Jesus darauf mit der Ausweitung und Neudefinition von Verwandtschaft. Nachdem so die grundsätzliche Diskussion um die Legitimität Jesu geführt worden ist, kann Jesus auf dieser Basis in Kap. 4 seine Lehre darstellen.
Mk 2,1-12: Heilung eines Gichtbrüchigen Natürlich ist das eine genauso schwer wie das andere, nämlich einen Gelähmten zu heilen und Sünden zu vergeben. Denn beides kann nur Gott. Der Unterschied ist indes, dass man den Erfolg der Heilung sehen kann, die Vergebung der Sünden dagegen im Glauben erfassen soll, weil sie unsichtbar bleibt. Das Wunder dient dazu, die Vergebung der Sünden plausibel zu machen. Und Sündenvergebung ist wie eine Heilung eines Gelähmten. Denn die Heilung macht etwas von dem sichtbar, was Sündenvergebung bedeutet: Wiederherstellung der Gesundheit, Aufhebung einer lebenshinderlichen Blockade, Befreiung von etwas, das wie ein Stück Tod am eigenen Leib haftet. – Für den Evangelisten ist vor allem wichtig: Beide Handlungen weisen auf Jesu Vollmacht. Der Ausdruck »Menschensohn«, der hier fällt, ist – neben »Herr« und »Gott« – die inhaltlich ranghöchste Bezeichnung, die Jesus im Neuen Testament zukommt. Denn der Menschensohn ist der Repräsentant Gottes gegenüber allen Völkern; deshalb wird der Menschensohn richterliche Vollmacht haben, und so wird ihm nach Mt 25,31-46 und Joh 5,21.25.27 das Weltgericht
übertragen werden. Davon aber ist bei der Sündenvergebung gerade noch nicht die Rede. Denn bei ihr geht es um Vergebung, die das Gegenteil von Richten ist. Man könnte sagen: Die Vollmacht, Sünden zu vergeben, ist gleichfalls eine richterliche Vollmacht. Denn nur der Richter kann Sünden aufheben oder bestrafen. Für die Zeit seiner irdischen Sendung ist Jesus nicht als verurteilender Richter, sondern als der gesandt, der die Sünden aufhebt und vergibt. Und gerade das entspricht der neutestamentlichen Menschensohn-Konzeption: Der Menschensohn ist jetzt gekommen, zu retten und nicht zu richten. Aber, so sagt Mk 2, die Kompetenz ist dieselbe. Man kann fragen: Warum kann Jesus Richter und Menschensohn sein? Als der makellos Gerechte schlechthin ist Jesus dazu in der Lage. Und daher ist das »Lamm Gottes« im JohannesEvangelium aus demselben Grund derjenige, der die Sünden der Welt aufhebt. Ob Jesus durch seinen stellvertretenden Tod Sünden aller sühnt oder ob er die Sünden durch sein vollmächtiges Wort aufhebt, beides hat seinen einzigen Grund darin, dass Jesus der Gerechte schlechthin ist. Der Mächtige, dem die Menschen in Jesus begegnen, ist nicht gegen sie, sondern für sie. Er ist der Befreier. Nach dem Gesagten sollte man es unbedingt aufgeben, diesen Text weiterhin als Musterbeispiel für sekundäre, literarkritisch nachweisbare Einschübe anzusehen, indem man den Absatz über die Sündenvergebung für ein Resultat der redaktionellen Bearbeitung hält. Man argumentiert: Der Halbsatz »sagte er dem Gelähmten« werde in Vers 5a gesagt und dann beim Wiedereinstieg in die Heilungsgeschichte wiederholt, und zwar, um daran anzuknüpfen. So würden eindeutig die Verse 5b bis 10a als Einschub gedeutet. Erst nach Ostern habe man Jesus zugetraut, Sünden vergeben zu können. In den Evangelien sei das zudem nur selten belegt. Ich verweise dazu nur auf das zum Thema Menschensohn Gesagte (vgl. zu Mk 8,38; 9,12). Zu Mk 2,9: Anders (Armen. Philo, Über Samson, 48): Das Umstürzen von Mauern ist auch für Menschen eine Kleinigkeit gegenüber dem, was allein Gott vermag: eine Seele vom Bösen zum Guten zu wenden.
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Kapitel 2
Zu Mk 2,14: Das MkEv ist von Anfang an ein Evangelium der Jünger. In 1,14-20 werden vier Jünger berufen, nach 2,14 zusätzlich Levi. Als die Schwiegermutter des Petrus geheilt wird, sind die Jünger Zeugen (1,29). Die Erfolgsnotizen steigern sich von 1,28 über 1,33 sowie 1,36f und 1,45 bis hin zu 3,7.9. – Als Arzt wirkt Jesus für die Menschen (2,17). – Die Abgrenzungen und Ausgrenzungen hebt Jesus mit Vorliebe auf (Unreine, Sünder, Sabbat, Fasten), denn Grenzen tun den Menschen immer weh. – Daran wird erkennbar: Jesus gebraucht seine Vollmacht nicht nur für Wunderheilungen, sondern ebenso zur Beseitigung der Sünde (2,5) und zur Integration Außenstehender (Steuereinnehmer [= Zöllner]). So kann Jesus alle Grenzen überwinden. Die Jüngerschaft ihm gegenüber schafft die einzige relevante Grenze (d. h., ob man Jünger ist, oder nicht; Mk 4,10-13).
Mk 2,18-22: Die Fastenfrage So wie das Fasten Ausdruck einer ernsten Zeit der Vorbereitung auf ein Fest oder eine Freudenzeit ist, so ist das Nicht-Fasten, also alles essen und trinken zu dürfen, Zeichen von Fest und Heilszeit. Nicht fasten oder fasten ist daher jeweils Symptom für den Charakter einer ganzen Epoche. Die Nahrungsaufnahme wird zum Indikator der geringeren oder höheren Lebensqualität einer Zeit. Mit dem Fasten und dem Nicht-Fasten charakterisiert Jesus drei unterschiedliche Zeiten, die er im Blick hat. Die Zeit, in der er auf Erden wirksam ist, und die Zeit, in der er wiedergekommen sein wird, sind Phasen der Freude. Die Zwischenzeit, in der er nicht unter den Jüngern sein wird, ist die ernste Zeit der Vorbereitung auf das Fest am Ende. Die ganze Zeit von der Auferstehung oder Himmelfahrt Jesu bis zu seiner endgültigen Wiederkunft ist insgesamt Zeit des Fastens und der Vorbereitung, oder umgekehrt: Wenn in dieser Zeit gefastet wird, dann steht dieses Fasten für die ganze Zeit. Aus diesen wenigen Versen erfahren wir daher etwas über Jesu Auffassung von Geschichte. Natürlich hat man auch hier vermutet, diese Verse seien typisch nachösterlich und sollten den nach Ostern im Zuge eines Rückfalls ins Judentum (zum Beispiel aus Angst) wie-
145 der eingeführten Brauch des Fastens in der Kirche rechtfertigen. Denn man hält es für unmöglich, dass Jesus über die Zeit seines Erdenwirkens hinausgeblickt haben könnte. Dagegen: a. Muss Jesus wirklich so »beschränkt« gewesen sein, dass er im Unterschied zu anderen nicht über den Tellerrand seiner eigenen Zeit hinausgeblickt haben kann? – b. Wäre das nicht geradezu infam, in Abweichung von Jesu eigener Praxis und offenbar gegen seinen Willen, eine gegenteilige Gemeindepraxis einzuführen und dafür auch noch ein Jesuswort zu erfinden? Doppelter Ungehorsam also schon so früh in der Kirche? Der Versuch, Jesu eigene Praxis so auszutricksen und den eigenen – noch dazu beschwerlichen (Fasten ist nicht lustig!) – Weg mit Lüge und Unterstellung zu rechtfertigen? – Im Gegenteil ist die Gliederung der Zeiten von Jesu eigenen Voraussetzungen her höchst sinnvoll, nämlich von einer etwas unmodernen Christologie (besser: Selbstauffassung) her, die Jesus hier formuliert. Er spricht von sich als dem Bräutigam und von den Jüngern als den Freunden des Bräutigams. So erfahren wir sehr viel über Jesus. Er versteht sich als Bräutigam des endzeitlich erneuerten Israel. Ähnlich hatten viele Propheten Gott als den Ehemann des Gottesvolks bezeichnet. Denn der Gott Israels ist nicht verheiratet, seine Partnerin ist das Gottesvolk. Viele Propheten (z. B. Hosea und Jeremia) deuten die Probleme zwischen Israel und Gott als die Schwierigkeiten einer langen Ehegeschichte. Und jetzt, da der Messias Jesus kommt, wird das Ehebündnis zwischen Gott und seinem Volk neu gestiftet, indem der Messias der Bräutigam ist und Gottes erneuertes Volk mit ihm bei Anbruch der messianischen Heilszeit Hochzeit feiern wird. Wir haben direkte Zeugnisse davon im Johannesevangelium (Kap. 3: Jesus der Bräutigam, der Täufer als dessen Freund), bei Paulus (2 Kor 11,2: Paulus als Brautführer, der kommende Christus als Bräutigam: Zum Volk Gottes gehören hier ganz selbstverständlich auch die Heidenchristen) und beim Seher Johannes (Offb 21f: Hochzeit des Lammes mit dem Volk der Zwölf Stämme aus Juden und Heiden). Großes Gewicht liegt hier auf Jesu Wiederkommen. Nach allen Zeugnissen ist erst dann die Hochzeit. Die Basis des Verhältnisses des Messias zu seinem Volk ist die gegen-
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146 seitige Liebe und Treue (einer der Gründe, weshalb Jesu Wort gegen die Ehescheidung das am häufigsten überlieferte Jesus-Wort ist). Der Gerichtsgedanke tritt hier bei der Wiederkunft Jesu ganz zurück. Alles liegt auf der Betonung des großen Freudensfestes, auf das die Geschichte zuläuft – eine heitere, fröhliche Anschauung von Jesus, die wichtige Züge aufgreift. Auch sein Erdenwirken ordnet Jesus in dieses Bild von der kommenden Hochzeit ein: Jesu Ehelosigkeit ist eine Zeichenhandlung, die die besondere Eigenart seiner Enderwartung begründet: Sie besteht in erster Linie in einer Hochzeit. Jesu ganzes Dasein auf Erden bis zur Auferstehung bzw. Himmelfahrt deutet Jesus als das, was man im Judentum »Vorhochzeit« nennt – eine Phase, die wir auch heute noch oft im Leben eines Bräutigams biografisch festmachen können: Wenn er seinen Freunden mitteilt, dass er heiraten will, muss er »eine Runde ausgeben«; dies ist dann gewissermaßen das feierliche Ende der Junggesellenzeit. Im Judentum wird diese Vorhochzeit – in der Tat zumeist in Abwesenheit der Braut – vom Bräutigam mit seinen Freunden gefeiert. Danach ist dann erst einmal wieder Alltag, bis der Tag der Hochzeit anbricht. Vor diesem Hintergrund haben wir den Text in Mk 2 zu verstehen. Jesus begründet hier, warum er so häufig mit Jüngern und anderen feiert, wobei auch der Weingenuss nicht ausbleibt. Nach Lukas 7,34 und Mt 11,19 hat man Jesus deshalb vorgeworfen, er sei »Fresser und Weinsäufer« – »Fresser« deshalb, weil der Wein damals wie heute einer guten Grundlage bedarf, um nicht nachteilig zu wirken. Das Bild von Wein und Schläuchen ist schon deshalb nicht zufällig, weil es bei dem Fasten, das hier verhandelt wird, wohl sicher zumindest wesentlich um die Enthaltsamkeit von Wein geht. Bestätigt wird das übrigens in Mk 14,25 und Mt 26,29, wo Jesus selbst dann kurz vor seinem Lebensende nach dem letzten Mahl dem Wein feierlich entsagt. Denn erst bei Anbruch des Reiches Gottes wird er, so Mt 26,29, den Wein wieder mit den Jüngern gemeinsam trinken – nämlich beim Hochzeitsmahl im offenbar gewordenen, himmlischen Reich. Mk 14,25 ist daher ähnlich wie Mk 2 auch als verhüllte Leidensansage aufzufassen; denn die Zwischenzeit ist jedenfalls keine Zeit der Freude. In Mk 14par
Das Evangelium nach Markus
liegt der Ton auf Jesu eigenem Trinken, hier auf dem der Jünger. Beides gehört zusammen. Die Botschaft dieser Worte ist: Jetzt ist noch nicht die Zeit der Hochzeit, sondern die Zeit der Vorbereitung. Das Feiern, das Jesus als Form seiner Verkündigung praktizierte, gab einen Vorgeschmack auf künftige Freuden. Die Worte vom Wein und den Schläuchen bedeuten dabei ihrer Logik nach ganz schlicht dies: In jeder Zeit geziemt sich das, was zu dieser Zeit gehört. Jetzt passt nicht das, was demnächst angemessen ist. Das wäre, wie wenn man Unpassendes zusammenfügte, nämlich neuen Wein in alte Schläuche oder alten Wein in neue Schläuche oder einen alten Flicken auf ein neues Gewand usw. In all diesen Bildern geht es um Dinge, die nicht zusammengehören. Welchen Anlass gab es für Jesus, die Jünger zu ermahnen, den Charakter der Zeiten in diesem Sinne zu unterscheiden? Offenbar fürchtet Jesus im Voraus, dass die Jünger weiter feiern wollen – also nicht etwa fasten wollen oder müssen (dies im Unterschied zur Annahme der liberalen Exegese). Sehr bald beginnt, so sagt Jesus, eine Zeit, in der ihr nicht feiern könnt und dürft; aber auch diese Zeit gehört dazu, wie eben Leiden der Freude und die Nacht dem Tag vorausgeht. Hier hilft uns Mk 14,25 weiter. Jesus trennt die Zeit des Feierns von der Zeit des Leidens und der schmerzvollen Trennung vom Messias. Auch für Mk 2 gilt: Wer nur feiern will, mag nicht leiden. Insofern sind Weintrinken und Fasten je symptomatisch für eine ganze Zeit: Der hochzeitlichen Freude ist die Zeit des Leidens vorgelagert. Beides ist nicht zu verwechseln; nur wer sich jetzt bewährt, wird auch die Hochzeit mitfeiern dürfen. Zu Mk 2,21f: Der Sinn: Altes alt sein lassen und Neues neu, jedes hat seine Zeit. So gibt es eine Zeit der Freude und eine Zeit des Fastens.
Mk 2,23 – 3,6: Sich hinter Vorschriften verschanzen Zwei Sabbatgeschichten, für deren Auslegung man wissen muss: Der Sabbat ist zur Zeit Jesu Exportartikel Numero eins in heidnische Länder, ein Markenzeichen Israels. Schon ab dem 3. Jh.
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Kapitel 2
v. Chr. hat man den Sabbat systematisch durch »Zusatzbestimmungen« zum 3. Gebot ergänzt und zu schützen versucht. Diese zusätzlichen Erläuterungen haben sich in der Substanz bis jetzt gehalten; nun versucht man, sie systematisch wieder abzubauen und sukzessive den Sonntag (der bei Christen an die Stelle des Sabbats trat) zum normalen Arbeitstag zu machen. – Man muss auch wissen, dass der Sabbat für die Christen der hauptsächliche Missions- und Verkündigungstag war. An diesem Tag gingen die ganz frühen Christen – gute Juden, wie sie waren – in die Synagoge, unterwanderten die Schriftauslegung und wurden von Wundern bestätigt. Deshalb war es wichtig zu wissen, was Jesus am Sabbat erlebt hatte. Lk 4 schildert seine Schriftauslegung, die Apg berichtet von entsprechendem Tun des Paulus und seiner Begleiter, und in Mk 2f wird von Jesus berichtet, wie er jüdische Beschwerden über sein Verhalten am Sabbat, das angeblich destruktiv war, elegant mit Weisheitssprüchen beantwortet. Jesus hat scheinbar den Sabbat verletzt, weil der Mundraub seiner Jünger als Erntearbeit und seine Heilung des Gelähmten als Handarbeit interpretiert wurde. Beide Vorwürfe waren sicherlich Vorwände; der Hintergrund war das emotional ungünstige Klima, das durch die christliche Werbung am Sabbat entstand und das den Synagogen je länger desto mehr ihre Sympathisanten wegschnappte: in der Regel zahlungskräftige Heiden, die bei den Christen gleich Vollmitglieder werden konnten, was im Judentum u. a. wegen der notwendigen Beschneidung nicht leicht geschehen konnte. Das Klima war also zunehmend mehr gereizt. Zur Zeit der Abfassung des MkEv kamen daher die Sabbatgeschichten über Jesus in Mk 2f gerade recht. Der erste Weisheitsspruch Jesu, mit dem er die Einwände wegen Sabbatschändung beantwortet, heißt: »Der Sabbat ist wegen des Menschen da und nicht der Mensch wegen des Sabbats.« Der Satz hat Analogien im Frühjudentum, in denen jeweils das Menschliche höher bewertet wird als die kultische Institution (z. B. Volk – Tempel), so etwa: »Aber nicht wegen des heiligen Ortes hat der Herr das Volk, sondern wegen des Volkes hat er den Ort erwählt« (2 Makk 5,19); Gott hat den Menschen zum Statthalter seiner Werke gemacht, »weil nicht der Mensch um der Welt wil-
147 len, sondern die Welt um seinetwillen gemacht worden ist« (Syrische BaruchApk 14,17f). Aber beim Sabbat konnte man durchaus streiten. Denn in der Schöpfungsgeschichte dient das zuerst Genannte jeweils dem später Genannten, da die Schöpfung hierarchisch aufgebaut ist. Deshalb ist der Mensch, so könnte man folgern, für den Sabbat da; denn der Sabbat wird am 7. Tag erschaffen, der Mensch aber schon am 6. – Aus der heutigen Perspektive des bedrohten Sabbats/Sonntags könnte das durchaus Sinn machen: Der Mensch ist für die Ruhe da, für die Kontemplation, und nicht für das Arbeiten. Doch zur Zeit Jesu war wohl eher die entgegengesetzte Auslegung nötig: Die kultischen Regeln sind kein Selbstzweck, dem der Mensch zu dienen hat, sondern sie helfen dem Menschen auf seinem Weg im Miteinander und zu Gott. Der Mensch ist das Ziel der Schöpfungswerke Gottes und nicht irgendwelche Kultregeln, die nur helfen, aber nicht herrschen sollen. – Im Übrigen ist auch diese Auslegung nicht die Abschaffung von Kult und Liturgie, sie ist nur eine Faustregel für den Konfliktfall. Auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter meint nicht die Institution, sondern typisch Gefährdete (Kultpersonal) und Menschen, die für Überraschungen gut sind. Der Nachsatz Mk 2,28 macht den Menschensohn nicht in dem Sinne zum Herrn über den Sabbat, als könne er ihn aufheben oder verändern. Das Wort »Herr über etwas sein« bedeutet im jüdischen Griechisch: etwas sachgemäß handhaben. Der Satz bedeutet daher: Der Menschensohn darf und kann das Sabbatgebot kundig und sachgemäß auslegen. Mk 3,28 sagt dieses resümierend: So hat der Menschensohn sich als kundigen Ausleger des Sabbats erwiesen. An eine Aufhebung des Sabbats ist weder hier noch sonstwo im Neuen Testament zu denken. Als Repräsentant Gottes wird der Menschensohn nicht dessen heiligste Gebote beseitigen. Allerdings bedeutet der Satz: Im Zweifelsfalle (!) hat menschliche Not Vorrang vor allen noch so frommen Vorschriften. Der zweite weisheitliche Satz lautet in 3,4: »Darf man am Sabbat Gutes tun – oder soll man am Sabbat Schlechtes tun? Darf man jemanden erretten – oder soll man ihn töten?« Also eine antithetisch parallel formulierte, doppelt rhetorische Scheinfrage. Denn natürlich darf und soll man am Sabbat Gutes tun und retten, was zu ret-
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148 ten ist. In der letzteren Frage ist man zur Zeit Jesu jedenfalls darin einig, dass Menschen auf jeden Fall zu retten sind. Auch Tiere in Not wird man schwerlich verenden lassen, darüber gibt es ebenso in den Texten aus Qumran Einzelauslegungen (vgl. Lk 13,15). – Doch ganz so einfach ist der Fall auch hier wieder nicht. Denn die Hand des Gelähmten war schon in den Tagen und Monaten vorher verdorrt, nicht erst am Sabbat. Insofern ist es eben kein akuter Notfall, anders als in den rabbinischen Analogien. Warum musste Jesus das, was er tat, ausgerechnet am Sabbat tun? Das Wunder ist als Zeichenhandlung zu begreifen. Jesus zeigt am Sabbat, dass dieser Tag ein Geschenk des menschenfreundlichen Gottes ist. Damit umfasst er auch Heilungen und Befreiung von Krankheit. Sabbat ist Gnadenzeit, nicht in erster Linie Sperrgitter, Verbotszone, sondern Tag der Barmherzigkeit Gottes. Es hängt daher von der Grundeinschätzung der Torah ab, wie man sie in diesem Einzelfall auslegt. Wird sie als gute Gabe verstanden, dann öffnet sie den Blick für das mannigfach Gute, das Gott schenkt. Wird sie restriktiv verstanden, dann geht es in erster Linie um Gehorsamskontrolle. Doch Jesus schafft hier nicht etwa den Synagogenbesuch am Sabbat ab. Nebenbei liefert dieser Text einen Beitrag zu der Frage, was eigentlich im Sinne der Bibel »gut« sei. Was gut ist, bemisst sich an der Frage, ob man Leben, eine »belebte Seele«, vor Krankheit und Tod rettet. Das Gute hat daher seinen Maßstab am Leben selbst. Deswegen ist Gott für das Judentum auch der lebendige Gott, im Unterschied zu den toten Götzen ringsum. Deshalb ist seine vornehmste Sorge das Leben und ewige Leben der Menschen. Der ganze Sinn der neutestamentlichen Offenbarung besteht darin, Gott ähnlich zu werden. Die kleinliche Anklage gegen Jesus wegen Sabbatverletzung mündet schon hier (3,6) in dem Entschluss, Jesus umzubringen. Man kann fragen, was aus der Sicht des Evangelisten Markus der Grund für diesen Hass ist. Zu 3,5: Verhärtung des Herzens ist mehr als bloße Herzlosigkeit; sie ist mangelnde Sensibilität gegenüber Gottes Willen und Gebot, Blindheit gegenüber dem, was Gott aktuell fordert, weil er ein lebendiger Gott ist.
Das Evangelium nach Markus
Mk 2,23-28: Ährenrupfen am Sabbat? Da der Menschensohn nicht gekommen ist, um zu richten und zu revolutionieren, wird er nicht gerade den Sabbat abschaffen wollen, sondern sich vielmehr ihm unterwerfen wollen (wie das »unter dem Gesetz« in Gal 4 sagt). Der den Sabbat meistert, ist daher einer, der im Sinne von »retten und nicht richten« den Sabbat tatsächlich barmherzig auslegt und ihm dadurch zu seinem eigentlichen Sinn verhilft. So hält er ihn sinnvoll ein, denn das wollte der Schöpfer mit diesem Tag erreichen. Der Sinn des Vergleichs mit David: Bei Jesus wie bei David werden kultische Verbote übertreten. Bei Jesus geht es nicht um den Hunger, sondern um die Bereitung des Weges als Arbeit am Sabbat durch Ausrupfen der Ähren. Das Arbeitsverbot am Sabbat wird übertreten. Motiv: Die Jünger bereiten dem Herrn den Weg. David (mit Gefolge) aß aus Hunger Brote, die nur Priestern erlaubt waren. Das Verzehrverbot für Nicht-Priester wird übertreten. Motiv: Hunger (Mundraub, da an fremdem Eigentum gestillt). Anders als bei David geht es bei Jesus nicht um einen Notfall. Jesus aber ist mehr als David (so auch in Mk 12,25-27), nämlich der Menschensohn; daher darf er umso eher ein Verbot, hier freilich den Sabbat betreffend, auslegen. Doch an Aufhebung ist auch hier nicht gedacht.
Mk 3,1-6: Heilung am Sabbat Zu den Stichworten »ist es erlaubt« in V. 24.26 vgl. die Rede von der Vollmacht in 3,15 (griech.: exestin und exusia). Zur Sache vgl. die Sabbatkonflikte nach Lk 14,3; 13,15.16. Die Geltung des Sabbats wird nicht bestritten; es geht Jesus um das, was geboten und nicht nur erlaubt ist. Schon die partielle Aufhebung der kultisch festgesetzten Zeit des Sabbats (2,18-22; 2,23 – 3,6) ist deshalb so gefährlich für Jesus, weil es sonst der Antichrist ist, der die kultisch festgesetzten Zeiten aufhebt (Dan 7,25f). Jesus wäre dann nicht der Messias, sondern der Anti-Messias. So wird nicht erst am Ende von Kapitel 3 (Beelze-
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Kapitel 3
bul-Vorwurf), sondern bereits an dessen Anfang ein dualistisches Entweder-Oder zumindest vorbereitet.
Mk 3,13-19: Berufung der Zwölf Die Zwölf werden nicht als Verwaltungsgremium berufen, sondern als Teilhaber an der Autorität Jesu, zu verkündigen und Dämonen auszutreiben. Sie sind sowohl die ideale Zahl der Zeugen nach antikem Recht (und teilweise bis heute; daher übrigens auch die vollständige Namensliste), als auch die neuen Ältesten Israels bzw. die neuen zwölf Patriarchen. Sie sind nicht in erster Linie »Nachfolger« Jesu, sondern gerade in der Zwölfzahl Repräsentanten des Menschensohnes in seiner grundlegenden engen Beziehung zu Israel (vgl. Dan 7). Sie stellen vervielfältigt und als geschlossene Gruppe Jesus dar. Umso schlimmer ist es, dass einer diese Geschlossenheit stört (Judas) – die Zwölf sind eben nur Menschen und nicht göttlich (wie der perfekte weiße Dom von Arezzo mit der einen absichtlich schief geformten Säule). – Wie der Menschensohn in Dan 7, so wird auch Jakob/Israel als (Erz-)Engel gedacht, und Israel als der »Mann, der Gott sieht«, entspricht Joh 1,18.
Mk 3,20-35: Hat Jesus Gottes oder des Teufels Geist? Der lange Abschnitt wird durch das Thema (und Stichwort) »Haus« zusammengehalten, zu dem auch die Familie gehört (V. 32-35). Denn die Familie nennt man das Haus. Der Text spiegelt darin eine frühe Zeit, dass sich Jesu Wirken noch ganz im Bereich des Hauses und der Familie vollzieht. Daher ist dieser Lebensbereich hier auch der Bildspender. Gerade in diesem überschaubaren Feld ist aber die Frage nach Pro und Contra besonders scharf und geradezu mitleidslos gestellt. Die Ursache dafür ist, dass Jesu Tätigkeit als Exorzist im Rahmen des dieser Sache eigenen Dualismus verläuft. Denn wenn man böse Geister austreibt, ist das ein Kampfgeschehen in einem Krieg zwischen zwei sich ausschließenden Fronten. Hier gilt immerzu das Entweder-Oder. Und alle Menschen zwischen den Fronten gehö-
149 ren entweder zur einen oder zur anderen Seite, Neutralität gibt es nicht. In unserem Text wird nun das Thema Bekenntnis dualistisch erörtert, und hierher gehört auch »Sünde gegen den Heiligen Geist«. Die Gegner Jesu argumentieren hier konsequent dualistisch. Denn entweder hat Jesus den Heiligen Geist, dann gehört er auf die Seite Gottes, oder er hat den Geist Beelzebuls, des Teufels, dann gehört er zu ihm. Ein Drittes gibt es nicht. – Aber wie können sie sagen, Jesus habe den Geist Beelzebuls? Jesus kann den Dämonen befehlen. Diese Befehlsgewalt könnte er theoretisch als höhergestellter Offizier in Satans Armee haben. Er könnte ein Agent Satans sein, der im Namen und Auftrag seines Herrn Fronten begradigt oder Ähnliches tut. Das würde gut erklären, warum Jesus Befehlsgewalt hat. Andererseits aber kann Jesus auch als Feldherr der Gegenseite, eben Gottes, die Dämonen vertreiben, weil er größere Vollmacht hat. Dann hat er nicht den Geist Beelzebuls, sondern den Geist Gottes in sich. Jesus sagt ganz klar: Wer bezweifelt, dass ich den Heiligen Geist besitze, und – weil es ein Drittes nicht gibt – behauptet, ich hätte den Geist des Teufels, der hat eine unvergebbare Sünde begangen. Warum urteilt Jesus so hart? Wo er doch sonst der Anwalt der Vergebung ist und selbst am Kreuz den Feinden vergibt? Unvergebbar heißt: Etwas ist endgültig zerstört, weil es nicht noch einmal gegeben werden kann. Vergebung ist dort ausgeschlossen, wo das gegenwärtige Heilige so missachtet wurde, dass der Täter mit einem Schiff vergleichbar ist, das mit einem Eisberg kollidiert, an der Flanke ein riesiges Loch hat und sinken muss. Wie gesagt, nicht das Heilige oder der Heilige Geist ist verletzt, aber der Täter hat sich verletzt. Die Sünde gegen den Heiligen Geist ist unvergebbar, weil der Heilige Geist die unüberbietbare Gegenwart Gottes bedeutet. Mehr kann Gott nicht geben, präsenter kann er nicht sein. Wer sich daran versündigt, nimmt unheilbaren Schaden. Weitere Bespiele für dieses Phänomen im frühen Christentum: Ananias und Saphira (Apg 5), die sterben müssen, weil sie den Heiligen Geist belogen haben; der Unzuchtssünder nach 1 Kor 5, der ein Verhältnis mit seiner »Mutter« hatte und deshalb einfach nur dem Teufel übergeben werden kann, damit der ihn physisch zugrunde richte; Menschen, die nach 1 Kor 11 sich gegen
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150 die Gegenwart Jesu Christi im heiligen Abendmahl vergangen haben, die deswegen krank sind oder sterben. Alle haben sich am Heiligen verletzt, keinem ist zu helfen; Menschen, die die Gemeinde spalten, die doch Tempel des Heiligen Geistes ist, nach 1 Kor 3 – Gott wird sie »zerstören«. – Und so ist es auch, wer über den Heiligen Geist Jesu sagt, dass er gar nicht heilig, sondern vom Teufel sei. Auch der verletzt sich und ist nicht zu heilen. Die frühen Christen haben demnach eine besondere Auffassung von der Realpräsenz des Heiligen. Sie ist gefährlich wie die Gegenwart Gottes in der Bundeslade nach den Aussagen des Alten Testaments. In diesem Zusammenhang ist hier von »Lästerung« die Rede, und gemeint ist der Tatbestand der Gotteslästerung durch Worte. Von einer solchen Lästerung wird im MkEv nochmals die Rede sein, und zwar wiederum im Zusammenhang der Gottessohnschaft Jesu. (Darum geht es auch in Kap. 3; denn der Heilige Geist, den Jesus hat, macht ihn zum Gottessohn; vgl. Mk 1,10f). In Mk 14,61 wird Jesus gefragt, ob er der Sohn Gottes sei. Als der das bejaht, handelt er sich nach 14,63 den Vorwurf der Gotteslästerung ein – und das ist der entscheidende Grund für das Todesurteil, das die Juden freilich nicht selbst vollstrecken können. – Im Vergleich zum Vorwurf der Lästerung in Mk 3 gilt daher: Nicht nur das Bestreiten tatsächlich gegebener Gottessohnschaft ist Lästerung (Mk 3), sondern auch das Behaupten, Gottessohn zu sein, wenn es nicht der Fall ist (und davon sind Jesu Gegner überzeugt), ist aus der Sicht der Gegner Jesu Gotteslästerung. Das eine ist unvergebbare Sünde, das andere bedeutet das Todesurteil – beides läuft auf ungefähr dasselbe hinaus. Jesus wird daher exakt der Vorwurf zurückgereicht, den er in Kap. 3 erhoben hatte. Zu Mk 3,23b-26: Die Argumentation über Satans Reich in 3,23b-26 zeigt Entsprechungen zum
Das Evangelium nach Markus
Schluss des Abschnitts über die Einheit der Familie. Meint ihr, fragt Jesus, Satan wäre so dumm und ließe zu, dass sein Reich gespalten ist? Das wäre ja der Fall, wenn ich als sein Offizier die eigenen Truppen vertriebe. Aber auch das Haus, das Jesus vor Augen hat, ist durch Willenseinheit mehr gekennzeichnet als durch bloße familiäre Bande. Das Tun des Willens Gottes schafft die Einheit des Hauses. Und das ist genau das Gegenbild zu Satans Reich. In Mk 3,27 greift Jesus ein Bild aus der Schwerstkriminalität auf. (Jesus macht sich öfter die Faszination des Kriminellen in Gleichnissen zunutze, z. B. auch in Lk 16,1-10). Wer ein Haus ausraubt, muss erst die Besitzer »matt« setzen (fesseln etc.), dann kann er mit der Plünderung beginnen. Für Jesus erläutert dieses Bild seine exorzistische Tätigkeit. Er muss erst die bösen Geister (Dämonen, Teufel) bannen, bevor er die Menschen für Gottes Reich neu in Besitz nimmt. So also ist Jesu Tun zu begreifen: nicht als Teil der Strategie Satans, sondern als Gegenstrategie. Zu Mk 3,31-35: Da die familiären Traditionen oft stark und hinderlich sind, kommt es darauf an, die Grenzen der Sippen zu relativieren. Das geschieht hier durch »Ethik« (den Willen Gottes tun). Doch dadurch entsteht eine neue Familie, das wahre Verwandtsein. Wie in Mk 10,29f, so fehlt auch hier in der neuen Familie der neue Vater. Dessen Rolle nimmt Gott selbst ein. Die neue Gemeinschaft, die Jesus gründet, ist daher eine Familie aus Geschwistern und Müttern, doch ohne neuen irdischen Vater. Diese Rolle bleibt allein für Gott selbst. Kirche, also die Anfänge dieser Institution, beschreibt Jesus hier aus der Perspektive der palästinischen Familienverbände. Je stärker das persönliche Konzept Jesu verblasst (dieses sehe ich an unserer Stelle und in Mk 10,29), umso kräftiger treten die traditionellen Bindungen wieder hervor (vgl. auch zu 6,1-6).
Mk 4: Gleichnisse Jesu Mk 4,1-9: Gleichnis vom Sämann Die Pointe des Gleichnisses kann man gewinnen, indem man ausgeht von der unterschiedlichen
Qualität des Bodens. Diese ermöglicht den »Feinden« der Saat ein je unterschiedliches Wirken. Saat und Sämann, Zeitspanne und Zeit der Ernte sind für alle Samenkörner gleich. Fazit: Auf den
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Kapitel 4
Boden kommt es an! Daraus herzuleiten ist die Aufforderung: Sei ein guter, empfangsbereiter Boden für das Samenkorn der Verkündigung! Inhaltlich steht dem am nächsten das Gleichnis von der »selbst wachsenden Saat«. Denn hier wie dort liegt alles an der Zwischenzeit zwischen Saat und Ernte. Weder kann ich einen durchgehenden »Gemeinschaftsbezug« entdecken noch den »absoluten Vorrang des Indikativs vor dem Imperativ«, oder die »Gleichzeitigkeit von Verlust und Gewinn« als Pointe finden. Von einer »guten Ordnung der Schöpfung« ist schon gar nicht die Rede, da es ja doch eine im Resultat frustrierende unterschiedliche Entwicklung gibt. – Richtig ist, dass dieses Gleichnis die Wortverkündigung selbst bedenkt. Zu Mk 4,10-13: Von bis heute extremer Anstößigkeit ist das Zwischenstück zwischen Gleichnis und Auslegung in 4,10-13. Formgeschichtlich gesehen ist es die Phase des offen eingestandenen Unverständnisses zwischen Bild und Auslegung (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 28), wie sie sich auch bei Visionen und Schriftauslegungen findet. Hier gilt stets gleichermaßen die Abfolge von Bild – Unverständnis – Auslegung. Nun scheint es in 4,10-13 zwei Gruppen von Nicht-Verstehenden zu geben, »die draußen« (V. 11) und die Jünger (V. 13). Sind die Jünger ein Sonderfall derer, die draußen stehen? Denn auch sie haben nicht begriffen, und das sollten und konnten sie auch gar nicht. Denn nach 4,12 haben Gleichnisse die Aufgabe, Außenstehende zu verstocken. Das heißt: Durch Gleichnisse werden diese in ihrem Unverständnis immer dümmer und immer weiter in die Irre geführt. Der Sinn dieser Aussage kann nur sein: Werdet also »Insider«! Das geschieht dadurch, dass man Jesus bei der Auslegung der Gleichnisse weiter zuhört. Die Bildersprache der Gleichnisse polarisiert daher: Entweder man nimmt Anstoß, versteht z. B. Mk 9,2-9 als Stück eines Handbuches zum Gartenbau und fragt, was das mit Jesus zu tun haben soll –, oder man lässt sich durch die Auslegung Jesu weiter in das Gleichnis verstricken. Die Gleichnisse Jesu hätten dann nach Mk 4 einen ekklesiologischen Widerhaken. Sie vertragen es nicht, nur gehört und als gehört quittiert zu werden.
151 Sie verlangen nach Gemeinde als dem Raum fortgesetzter und dauerhafter Belehrung durch Jesus. Weder die Härte der Verstockung noch gar einen ekklesiologischen Widerhaken hat man in der liberalen Forschung Jesus zugetraut und im Handstreich alles Unpassende für sekundäre Gemeindebildung erklärt, also die Verse 10-13.1420.34b (so R. Bultmann und ähnlich H. W. Kuhn). Im Hintergrund steht dabei das liberale Jesusbild des 19. Jh., das einen sanften Jesus ohne Härte wollte, der allgemein verständlich in lieblichen Gleichnissen zu den breiten Massen geredet habe – also schon ein Gegenbild zur Kirche des 19. Jh. Der Aufbau der Gleichnisse in Mk 4 Anfänglich werden das Hören und Verstehen der Gleichnisse selbst zum Thema. Es folgen die vier Bilder von der Leuchte, vom Verborgenen, vom Maß und vom Haben. Den Schluss bilden die Gleichnisse von der selbst wachsenden Saat und vom Senfkorn. Nur die beiden letzten Gleichnisse handeln explizit vom Gottesreich. Dabei ist offenbar wichtig: Das Reich Gottes ist jeweils das Ganze. Man kann nun fragen: Beziehen sich die vier Bilder in der Mitte des Kapitels auf das kommende Offenbarwerden aller Dinge im Gericht? Dann würde die (unausgesprochene, aber sachlich vorauszusetzende) »Ernte« aus Mk 4,8.20 entfaltet. Oder geht es um wachsende Erkenntnis durch die erstrebte kontinuierliche Belehrung durch Jesus? Ist das, was offenbar werden soll, Jesu Gleichnisrede, und das, was vermehrt werden soll, die Erkenntnis der Jünger? Bei einer Deutung von 4,21-25 auf das Gericht wäre der Sinn dieser Bilder: Das Licht wird auf den Scheffel gestellt – so wird es sichtbar, kann nicht verborgen bleiben (V. 21). Alles Verborgene und Geheime kommt ans Licht (V. 22f). Das Gericht wird nach Talio vergelten, und zwar doppelt (V. 24). Das Gericht verfährt unverhältnismäßig radikal, ja geradezu ungerecht. Es zählt nicht die Halbheit, nur der ganze Einsatz des ganzen Menschen. – Zu V. 21: Worte vom Licht und vom Leuchter werden mit unterschiedlicher Zielsetzung gebraucht: In Lk 11,33-36 geht es um den Aufruf, auf Jesus zu hören, also das Aufnahmeorgan für dieses Licht zu besitzen; in Mt
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152 5,15 werden die Jünger mit diesem Bild ermahnt, Vorbilder für andere zu sein; in Lk 8,16 geht es, wie mutmaßlich in Mk 4,21, um eine Gerichtsmahnung. Mit den beiden Schlussgleichnissen (V. 26-32) zusammen enthält Mk 4 daher drei Wachstumsgleichnisse (V. 3-8 auf den Boden bezogen; ähnlich V. 26-29; V. 30-32 bespricht den Kontrast von klein und groß). In den Gleichnissen vom Sämann (Mk 4,1-9.14-20), von der selbst wachsenden Saat (Mk 4,26-29) und vom Senfkorn (Mk 4,30-32) geht es stets um die »Zwischenzeit« zwischen der Verkündigung Jesu und seiner Wiederkunft, ganz ähnlich in den Sklaven-Gleichnissen, die sich vor allem in »Q« finden. Man kann daher davon ausgehen, dass Jesus selbst um diese Zwischenzeit gewusst und ihr seine ganze Sorge geschenkt hat. Von daher plädiere ich dafür, die vier Bilder in der Mitte auf das Gericht, den Endpunkt des Wachstums, zu beziehen.
Mk 4,26-29: Gleichnis von der selbstwachsenden Saat Die folgende Stelle zeigt, dass das in 4,28 Geschilderte allgemeiner Standard biologischen Wissens gewesen ist. Man war also sehr wohl in der Lage, einen differenzierten Wachstumsprozess zu erfassen. Philo, Über die Weltschöpfung 41: »Denn jetzt wächst alles einzeln zu verschiedenen Zeiten, nicht alles insgesamt mit einem Male. Wer weiß nicht, dass das Erste das Säen und Pflanzen ist, das Zweite das Wachsen des Ausgesäten und Gepflanzten? Das eine treibt Wurzeln wie Fundamente nach unten, das andere drängt aufwärts, indem sie (die Pflanzen) in die Höhe streben und Stämme treiben. Dann zeigen sich die Triebe und Knospen der Blätter und ganz zuletzt die Frucht. Und die Frucht wiederum erscheint nicht gleich in ihrer Vollendung, sie unterliegt erst noch mannigfachen Wandlungen hinsichtlich der Quantität in ihrer Größe und hinsichtlich der Qualität in ihrer vielgestaltigen äußeren Erscheinung; denn die Frucht gleicht bei ihrem Entstehen unteilbaren und wegen ihrer Kleinheit kaum sichtbaren Stäubchen, … hierauf wächst sie ganz allmählich infolge der ihr zugeführten feuchten Nahrung …«
Das Evangelium nach Markus
Mk 4,26-34: Durststrecken aushalten Die beiden Gleichnisse »von der selbst wachsenden Saat« und »vom Senfkorn« bilden den Schluss des markinischen Gleichniskapitels. Sie stehen an dieser Stelle, weil sie unter verschiedenem Blickwinkel die Gegenwart der Hörer betrachten. Im ersten Gleichnis geht es um die Verantwortung für das, was in der Zwischenzeit geschieht, im zweiten Gleichnis um die Unanschaulichkeit des Anfangs im Kontrast zum herrlichen Ende. Das erste Gleichnis spornt an, das zweite tröstet die Verzagten und Angefochtenen, wenn sie vergebens nach dem »Erfolg« Ausschau halten. Das Gleichnis von der selbst wachsenden Saat ist in seiner Deutung umstritten, einer der seltenen Fälle, in denen bei Gleichnisauslegung erkennbar die Konfession eine Rolle spielt. Die reformatorische Auslegung läuft so: Durch den Glauben im Menschen beginnt das Himmelreich. Er ist von Gott in den Menschen hineingelegt. Ohne Werke, ohne dass der Mensch etwas dazu tun muss, wächst die Wirklichkeit des Reiches. Am Schluss wird im Gericht offen gelegt, was Gott gewirkt hat. Die Pointe des Gleichnisses ist demnach: Weder durch »Rennen« noch durch Schielen nach dem Erfolg kommt das Heil, sondern von Gottes eigener Saat im Menschen geht alles aus, was nötig ist. Das Wort Gottes bringt seine Frucht von selbst. Und das ist alles reine Gnade. Mein Vorschlag zur Auslegung läuft so: Die Erde wird hier als die aktive Größe angesehen (V. 28). Diese Rolle haben die unterschiedlichen Erdböden auch in Mk 4,4-8. Auch in diesem ersten Gleichnis in Mk 4 hat der Mensch in der Zwischenzeit zwischen Saat und Ernte die entscheidende Rolle: An ihm liegt es, zu welcher Fruchtbarkeit er sich entfaltet. An ihm liegt es, ob die Saat gut »ankommt«, und er ist letztlich für die Früchte verantwortlich. Während in der reformatorischen Auslegung Gott alles tut und der Mensch in der Zwischenzeit nichts, ist es in meiner Deutung umgekehrt: Gott ist in der Zeit des Wachstums und Fruchtbringens »wie abwesend«. Der Vorteil bei dieser Lösung ist: Der »Mensch«, der Sämann, steht an der Stelle Gottes; denn von ihm kommt das Evangelium, und in V. 29 schickt er die Gerichtsboten zum Gericht. Soweit ist die Rolle Gottes für Anfang und Ende des beschrie-
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Kapitel 4
benen Prozesses festgelegt. Gott bringt nicht die Frucht hervor, das ist vielmehr die Aufgabe der Erde. In dieser Zeit aber ist Gott abwesend, er kümmert sich nicht. Das ist ähnlich wie in den Sklaven-Gleichnissen, nach denen der Herr in der Zwischenzeit bis zu seiner Wiederkunft nicht da ist. In der Zwischenzeit ist es z. B. Aufgabe der Phantasie der Sklaven, wie sie die anvertrauten Werte (Talente) nutzen sollen. Wenn am Ende der Herr wiederkommt, verlangt er nur Rechenschaft. Das entspricht dem Bild von der Ernte in unserem Text. Der Prozess des Wachsens und Werdens wird in allen Einzelschritten geschildert, damit die Angesprochenen wissen, dass nichts überstürzt werden muss. Denn für das Wachstum ist den Menschen eine lange Zeit gegönnt. – Ich meine daher, dass wie in den anderen bekannten Gleichnissen von der Abwesenheit des Herrn hier daran appelliert wird, die Zwischenzeit verantwortlich zu nutzen. Dafür ist sie da, sie ist die Zeit der Jünger. Auch das zweite Gleichnis (Mk 4,30-32) war zwischen den Konfessionen umstritten. Man argwöhnte, die Katholiken könnten den herrlichen Baum von V. 32 mit der katholischen Kirche identifizieren und dann in dem ganzen Gleichnis ein triumphalistisches Bild sehen. Es schildere den Prozess der immer herrlicheren Ausbreitung von Mission und Kirche auf Erden. Am Schluss stünde dann die katholische Weltkirche da. Nun sprechen evangelische Christen tendenziell von der Kirche nicht in Herrlichkeits-Prädikaten, sondern heben eher die Schwächen und unattraktiven Schattenseiten hervor. Doch diese Auslegungen stammen aus einer Zeit, in der man Reich Gottes und Kirche noch nicht gehörig zu unterscheiden gelernt hatte. Zwischen beiden besteht kein Gegensatz, denn Kirche ist Reich Gottes im Werden. Aber hier geht es nun einmal um das Reich Gottes. Und das Senfkorn ist deshalb gewählt, weil es von allem Saatgut das Kleinste und Unscheinbarste ist. Im Gleichnis geht es auf jeden Fall um den Kontrast zwischen Klein und Groß. Welche Funktion hat dieser Kontrast? Soll er sagen: Seht, das kann es auch geben, das gibt es auch, da kann man nur staunen? Das Reich ist eine wunderbare Wirklichkeit, die unvorstellbar und phantastisch ist? Dann wäre der Blick auf das Reich gerichtet. – Oder geht es um die Verzagtheit der Menschen: Seid nicht traurig, lasst
153 euch nicht anfechten, die Zukunft wird großartig sein? Richtet den Blick nach vorne, dann geht es euch besser. – Oder geht es wieder um die Zwischenzeit, und es soll gesagt werden: Jetzt ist Zeit des Wachstums? Jetzt geschieht genau das, dass aus dem Kleinsten das Größte wird? Ihr könnt es zwar nicht sehen, aber jetzt ist die Zeit, auf die alles ankommt. Denn wenn etwas erst ganz klein und dann ganz groß ist, muss das Entscheidende in der Zwischenzeit geschehen. Nun wird hier die Zwischenzeit überhaupt nicht bedacht. Deshalb entfällt Lösung drei. Die Gefühle der Menschen bei alledem werden gar nicht angesprochen. Deshalb entfällt Lösung zwei. So bleibt m. E. nur Lösung eins: Das Reich Gottes ist ein Faszinosum. In ihm werden Dinge möglich, die niemand für möglich halten könnte. In ihm werden Erwartungen erfüllt, von denen man nicht hätte träumen können. Das Reich Gottes rückt dann in die Nähe des Schatzes aus anderen Gleichnissen. Und der Größenvergleich Klein–Groß wäre nicht auf die Zahl der Mitglieder zu beziehen, sondern auf die Wirklichkeit von Gottes Herrschaft im Ganzen. Ähnlich hatte schon Johannes Weiß das Reich Gottes der Apokalyptik dargestellt im Kontrast zu dem, was man im 18. und 19. Jh. daraus gemacht hatte. Darf man von einem solchen Wunderreich reden? J. Weiß und W. Bousset hatten da ihre Bedenken und meinten, Jesus durch eine Sozialdemokratisierung der Reichsvorstellung vom Judentum abzusetzen. Heute wird man da anders urteilen: Das Reich Gottes ist mit Gottes Selbstoffenbarung als dem Ende der Geschichte zu Ende. Gott wird so überwältigend und schlechthin unvergleichlich herrlich sein, dass alle Erwartungen, Hoffnungen und Aufrechnungen dagegen klein und spießig aussehen werden. Die Herrlichkeit Gottes wird alles überbieten, was je geträumt werden konnte. Doch Jesus redet nicht in der Sprache Ezechiels davon – als Entwurf kubischer Lichthöfe eines himmlischen Tempels –, sondern in der schlichten Sprache eins Palästinensers, der sich nichts Schöneres vorstellen kann als den kühlen Schatten eines großen Baumes, der verschiedenen Vögeln Raum, Schutz vor der Sonne und angenehme Luft bietet, damit sie ihre Nester bauen können. Etwas ganz Schlichtes, doch für das Überleben und Nicht-Vertrocknen ganz Wichtiges: Schatten und Schutz zugleich.
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154 Eine Besonderheit gegenüber jüdischen Aussagen zum »Reich Gottes«: Das Reich Gottes hat immer eine Geschichte, es ist nie reine Zukunftserwartung, sondern hat in der Gegenwart zumindest immer schon begonnen. Dadurch ist es stets die Vollendung von etwas schon Gegenwärtigem. Es ist in der Gegenwart schon mit einem Widerhaken verankert, und eben dadurch ist es nicht reine Spekulation, sondern zumindest mit dem befreienden Wort der Verkündigung schon in die Welt gesetzt. Das Übrige, was Jesus noch tut, sind Zeichenhandlungen als »Appetithäppchen« auf eine große Hoffnung. Grundsätzlich sind die Christen schon in den Bereich eingetreten, in dem es »nur« noch darum geht, dass das Unsichtbare sichtbar wird (vergleichbar der Schwangerschaft). Zu Mk 4,31f: Dies ist eine »relecture« von Ez 17,22-24. Gemeinsame Züge: die Gattung Wachstumsgleichnis (Pflanzenfabel), Gott als Sämann (Gärtner), eingepflanzt/gesät wird eine vergleichsweise kleine Pflanze (zartes Reis, Senfkorn), in knappen Zügen wird das Wachstum geschildert, das Ergebnis des Wachstums ist ein stattlicher Baum, dieser Baum spendet so viel Schatten, dass »alle« Vögel darin ihre Nester bauen (hier besteht wörtliche Übereinstimmung von Mk 4,32b mit Ez 17,23). Die Pointe ist bei beiden: Gott kann aus ganz Kleinem ganz Großes machen. Nach Ez 17,24 ist gerade das seine Handschrift, denn er vermag auch das Umgekehrte (»Magnificat-Theologie«). Die Differenzen: In Mk 4 ist die Pflanze anders (Senfkorn statt Zedernreis), es fehlt die Bergspitze, es fehlt auch das Motiv der Akklamation durch die anderen Bäume, ebenso ist die ausdrückliche Verankerung im Gottesbild nach Ez 17,24 bei Mk nicht zu finden, obgleich sie der Struktur des Gleichnisses entspricht. Denn das »Senfkorn« ist nach Mk 4,31 ausdrücklich das »kleinste«. In Mk 4 besteht daher der Kontrast, den Ez 17,24 ausdrücklich macht (Gott macht das Kleine groß usw.), in den Kontrast zwischen dem kleinen Senfkorn und dem großen Baum aufgenommen. Nach Ez 17,3.6.22-24 ist das ganze Gleichnis auf den davidischen Messias zu beziehen. Diese Auslegung wird besonders durch das Targum bestätigt, das in Ez 17,22-24 systematisch den
Das Evangelium nach Markus
»Spross aus dem Hause Davids« einführt. – Syrische BaruchApk 36; 39,7 bezeugt, dass die Notiz von der Anerkennung durch andere Bäume in Ez 17,24 im Rahmen einer Gattung zu beurteilen ist, die man nennen könnte: »Allegorien über den Wettstreit der Bäume«. Nach 4 Esra 11,3745 (parallel zu BaruchApk) ist das Ganze transponiert in einen Wettstreit der Tiere. – Für Ez 17 und BaruchApk ist zu beachten: Außer der Zeder und dem Zedernspross hat direkt parallelen Rang der Weinstock. Denn der Weinstock, der in Palästina am Boden kriecht, ist – wie das zarte Reis bzw. das Senfkorn – eine »schwache« Pflanze. Seit Gen 49,11 kann der Sohn Davids aus dem Stamme Juda auch durch den Weinstock dargestellt werden. – Hieronymus (in: Ezech V, z. St.) verweist als Erster zu Ez 17 auf Mk 4,31f und deutet zudem das Aufrichten und Zugrunderichten nach 17,24 auf Lk 2,34. Beachtet man, dass Ez 17 selbst schon in dieser davidischen Tradition steht, so fällt auf, dass Mk 4,30-32 keinen messianischen Zug aufweist. Nach Mk 4,30 ist die Sachebene das Reich Gottes und nicht die Person des Messias. Das könnte dadurch bestätigt werden, dass Jesus nach Mk 12,35-37 den Titel »Davids Sohn« für sich ablehnt (und stattdessen auf den Kyrios-Titel setzt). In der Tat geht es bei der Messianität Jesu nach allen vier Evangelien um etwas anderes als ein davidisches Reich auf Erden. Dennoch gewinnt die alte Frage, in welchem Verhältnis Jesu Messianität zur Botschaft vom Reich Gottes steht, hier als Kontrast zwischen Ez 17 und Mk 4, neue Brisanz. Die ältere liberale Forschung meinte, das Problem nur durch ein Nacheinander lösen zu können: Jesus habe vom Reich Gottes gesprochen, danach kam dann – nach Ostern und aus dem Mund der Kirche – christologische Dogmatik. Doch dieses Modell war dem Euhemerismus (Vergottung von Herrschern als religiöses Modell) und der systematischen Trennung von Jesus und Kirche (die man gern gegeneinander ausspielte) verpflichtet. Überlegungen zur Vorbereitung eines anderen Modells: – Königreich und Messiaskönig liegen im Hebräischen und Griechischen nicht so weit auseinander – und sachlich sowieso nicht. Nur das Deutsche suggeriert mit dem Unterschied »Messias« und »Gottesreich« sehr Verschiedenes.
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Kapitel 4
– Jesus versteht seine Messianität nicht politisch, und das ist einer der Gründe, warum z. B. bei Mk der Anspruch, Sohn Davids zu sein, zurückgedrängt wird. Das ist auch bei Mt und Lk nicht anders. Doch hier wird der Erfüllung der Verheißung breiterer Raum gewidmet. – Der Ausdruck Menschensohn umschreibt die Person Jesu sehr viel passender, und zwar in der Abfolge von Niederlage und Triumph (Leiden und Herrlichkeit), noch dazu, weil hier ein Bezug zum Reich Gottes besteht (über Dan 7). – Ich gehe also nicht davon aus, dass zwischen der Würde Jesu und dem Reich Gottes, das er verkündigt, ein Spalt klafft. Man müsste schon von einem solchen Spalt ausgehen und ihn finden wollen. Dass also in Mk 4 die Rede vom Reich Gottes die Vorlage von Ez 17 umgestaltet, hängt mit der nicht-politischen Auffassung Jesu von seiner Messianität zusammen. Aber welche Rolle spielt er denn dann für das »Reich Gottes«? Es ist an dieser Stelle nach Texten, am besten nach Gleichnissen, über das »Reich Gottes« zu suchen, aus denen eine Funktion Jesu für dieses Reich erkennbar wird. Dann ergibt sich: Jesus ist der Sämann, der Herr der Ernte, der Herr der Sklaven, denen er vor der Abreise Aufträge gibt, und der dann Rechenschaft fordern wird. Er ist der Bräutigam für das neue Gottesvolk. Anders als der Messias nach Ez 17 und verwandten Stücken ist Jesus sehr viel »ko-operativer«, in Zusammenwirken mit anderen eingespannt, nicht der absolute Messiaskönig. Die Probleme der liberalen Forschung ergaben sich daraus, dass sie ein viel zu konservatives, am 19. Jh. orientiertes Bild des wilhelminischen oder napoleonischen Herrschers mit Jesus verband, weil man es ungefragt voraussetzte. Gegenüber dem Bild des absolutistischen Herrschers preußischer oder französischer Art ist der neutestamentliche Messias eben ein ganz ungewöhnlicher Herrscher. In all den Bildern der Gleichnisse ist Jesus zumindest nie ohne Mitarbeiter, im Bild von der Hochzeit sogar nicht ohne die »bessere Hälfte« gezeichnet bzw. denkbar. Nicht zuletzt zeigt sich das daran, dass in der Zwischenzeit bis zur Wiederkunft des Messias seine Sklaven die volle Verantwortung tragen. Wenn man in diesem Sinne das Verhältnis von Ez 17 zu Mk 4 beurteilt, dann wird auch klar, dass und wie Gottes Reich und sein messia-
nischer Verkündiger wirklich ganz eng zusammengehören. In Wirkgemeinschaft mit seinen Jüngern, im Gegenüber zu seiner Braut ist Jesus der »erste Diener des Reiches«, »Vorarbeiter«, »Kompanieführer« (den Titel »Anführer« kennt das Neue Testament für Jesus) in Gottes Reich – was seinen Rang nicht mindert. Es werden Aufgaben verteilt oder delegiert. Das Interesse besteht nicht darin zu zeigen, dass ein absoluter Herrscher da ist. An manchen Zügen evangelischer Kirchengeschichte kann man gut sehen, wie sich Sympathien für absolutistische Herrscher mit mangelndem Sinn für kirchliche Ämter verbunden haben. – Fazit: Der Ausdruck »Reich Gottes« und die damit gemeinte Wirklichkeit lässt Raum für das Gegenüber und Miteinander des Messias Jesus und seiner Jünger bzw. Jüngerinnen. Wenn sich Paulus »Mitarbeiter« nennt (2 Kor 6,1), kommt er der Wirklichkeit ganz nahe. So ergibt sich: Das »Reich Gottes« nach der Verkündigung Jesu ist eine komplexe Wirklichkeit, das gilt in zeitlicher wie in personaler Hinsicht. In zeitlicher Hinsicht, weil Reich Gottes eine Geschichte hat, die jetzt beginnt und nicht mit dem Weltende identisch ist – in personaler Hinsicht, weil es ein Miteinander von Menschensohn/Messias und Jüngern umfasst.
Mk 4,35 – 5,43: Wunderberichte Es wird gleich darzustellen sein, warum dieser Abschnitt in den ersten Durchgang der Themen des Anfangs gehört und insofern zu dem Stoff ab Mk 1,2 (vgl. den folgenden Abschnitt Mk 5-9). Die frühmittelalterliche Kapiteleinteilung ist großenteils irreführend. Erst mit 6,1 ist eine Zäsur gesetzt, die auch heute noch überzeugt. Die drei Wunderberichte in Mk 4,35 – 5,43 dagegen haben die Funktion, die Lehre des Kapitels 4,1-34 zu bekräftigen und zu illustrieren. In allen drei Berichten ist vom Glauben die Rede (4,40; 5,34.36). Der Glaube, den die Wunder wecken, ist zugleich die für die Lehre in Kap. 4 eingeforderte Antwort. Dass sich die Wunder bis hin zur Totenerweckung inhaltlich steigern, ist erkennbar das Ziel der Darstellung. Wer bis dahin immer noch nicht glaubt, sollte es aufgrund der Totenerweckung tun, denn Tote erwecken kann nur
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156 Gott. (Deshalb scheitert auch der spätere Antichrist spätestens bei der Totenerweckung.) Die Wunder machen daher deutlich: Der das lehrt, ist Gott bzw. Gottes Sohn.
Mk 4,35-41: Sturm auf dem Meer In diesem Abschnitt finden wir die erste der insgesamt acht »Bootsgeschichten« aus den vier Evangelien. Diese Geschichten haben viele Gemeinsamkeiten und insgesamt eine verbindende symbolische Bedeutung. – Zunächst sind die Bootsgeschichten zu nennen: 1. Mk 4,1 (par Mt 13,1f): Jesu hält seine Gleichnisrede vom Boot aus, wegen des großen Andrangs der Leute. 2. Mk 4,35-41 (par Lk 8,22-25): Jesus fährt, wie so oft, auf die gegenüberliegende Seite des Sees Gennesaret. Er schläft im Heck des Schiffes. Als ein Sturm aufkommt, wecken ihn die Jünger (»Meister, lässt es dich ganz kalt, wenn wir ertrinken?«). Durch Anschreien besänftigt Jesus den Sturm. Er tadelt, dass den Jüngern der Glaube fehlt. 3. Mk 6,45-52: Jesus erscheint den Jüngern in der Mitte des Sees und bei Gegenwind, sie meinen, es sei ein Gespenst. Jesus sagt: »Habt keine Angst, ich bin es doch, fürchtet euch nicht!« Die Jünger sind außer sich, sie hatten das Zeichen der Brotspeisung noch nicht erkannt, »vielmehr war ihr Herz verhärtet.« 4. Mt 14,22-33: Die Geschichte von der Erscheinung Jesu im Sturm ist bis Mt 14,27 parallel zu Mk (s. o. unter 3.), berichtet aber dann in V. 2831 den Seewandel des Petrus. Als danach der Wind abflaut, huldigen sie Jesus: »Wahrhaftig, Gottes Sohn bist du!« (anders: Mk 6,52: Die Jünger verstehen nicht, denn ihr Herz ist verhärtet). Der Seewandel des Petrus enthält den Ruf »Herr, rette mich!« (V. 30) und den Vorwurf des Kleinglaubens gegenüber Petrus (V. 31; wie Mt 16,8 gegenüber den Jüngern). 5. Mt 8,18.23-27: Die Geschichte ist der unter 2) genannten (Mk 4,35-41) weitgehend parallel. Doch im Unterschied dazu wird betont, dass die Jünger Jesus (ins Boot) nachfolgen; sie rufen »Herr, rette!«; Jesus nennt die Jünger Kleingläubige (wie Petrus in Mt 14). 6. Mk 5,18 (nur Mk): Jesus steigt nach der Hei-
Das Evangelium nach Markus
lung des Geraseners ins Boot, und der bittet ihn, bei ihm sein zu dürfen. Jesus lehnt das ab. 7. Lk 5,1-11 (nur Lk): Jesus beruft nach dem Fischwunder Petrus, aber auch Johannes und Jakobus. Die Situation: Nach 5,3 lehrt Jesus vom Boot aus. Es gibt auch »Gefährten im anderen Boot«, die mithelfen, die Fülle der Fische einzubringen. Petrus bekennt sich angesichts der Fülle als Sünder, aber Jesus beauftragt ihn zum Menschenfischen (traditionelles Bild für Mission). Von der Nachfolge berichtet dann V. 11. 8. Joh 21,1-14 Trotz erfolglosen Fischens in der Nacht werfen die Jünger das Netz auf Jesu Anordnung aus und fangen 153 Fische, doch das Netz reißt nicht. Der Lieblingsjünger erkennt den Herrn, Petrus watet auf ihn zu. Der Herr verteilt Brot und Fisch unter die Jünger. Nach dem Essen bestellt er Petrus zum Hirten seiner Schafe. 9. Joh 6,17-21: Die Jünger sind im Boot auf dem Weg nach Kafarnaum. Ein Sturm kommt auf. Die Jünger sehen Jesus auf dem Meer gehen. Er kommt heran und sagt: Fürchtet euch nicht. Da ist das Boot auch schon an Land. Vorangeht die Brotvermehrung (6,5-14). 10. Mk 8,14-21 (par Mt 16,5b-12): Die Jünger im Boot haben vergessen, Brot mitzunehmen. Jesus warnt vor dem Sauerteig der Pharisäer. Die Jünger ihrerseits aber können die symbolische Zahl der bei den Speisungen übrig gebliebenen Körbe voller Brote nicht verstehen. Bei Mk nennt Jesus die Jünger verstockt, nach Mt 16,8 tadelt er ihren Kleinglauben. Die Gemeinsamkeiten dieser Geschichten 1. Alle Geschichten sind angesiedelt im Alltagsmilieu der Fischer vom See Gennesaret. Sie tragen Lokal- und Berufskolorit. Als der Bereich, in dem der Mensch seine totale Abhängigkeit spürt, in dem er buchstäblich hin- und hergeworfen oder eben vernichtet oder wundersam gerettet wird, ist das Meer der ideale Ort der Epiphanie: des wie auch immer helfenden Eingreifens Gottes mitten im Unheimlichen, wo alle menschlichen Möglichkeiten aufhören. Und daher gestaltet sich Gottes Epiphanie auf dem Meer als Beruhigung (Abwendung der bedrohlichen Mächte), als Fischfang (Segen) oder als Erscheinung einer (Licht-)Gestalt. 2. In jeder Geschichte bilden die Jünger eine ho-
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Kapitel 4
mogene Gruppe; das gilt auch, wenn Petrus oder Petrus und der Lieblingsjünger oder Petrus zusammen mit Johannes und Jakobus genannt sind und die Gesamtheit der Jünger gewissermaßen im Hintergrund verbleibt. 3. Jesus steht der Formation der Jünger in jedem Falle gegenüber. Er ist nicht einer der Fischer, sondern ihr Herr bzw. der Herr. 4. Die Situation der Jünger im Boot bzw. beim Fischfang vom Boot aus weist deutliche symbolische Züge auf. Diese sind erkennbar an doppeldeutiger Wortwahl: Jesus ins Boot nachzufolgen steht für Nachfolgen überhaupt; »Herr, rette uns« hat den gleichen Inhalt wie das hebräische Hosianna und ist dem »Herr, erbarme dich« aller alten christlichen Liturgien eng verwandt; das Boot (Schiff) ist in der römischen Staatsmetaphorik eine alte Metapher für die Körperschaft Staat. Der Vorwurf »Kümmert es dich nicht, wenn wir zugrunde gehen?« ist Ausdruck der üblichen Theodizeefrage. Ein selbstständiger Ansatz zu symbolischer Deutung wird ausdrücklich in Mk 8,14-21 geliefert: Zum Stichwort »Brot« assoziiert Jesus selbst den »Sauerteig der Pharisäer«, und die Zahl der übrig gebliebenen Körbe voller Brot will Jesus offenbar symbolisch verstanden wissen – also mutmaßlich die zwölf Körbe auf den Zwölferkreis und die sieben Körbe auf die in der Diakonie der Witwenversorgung tätigen Hellenisten beziehen. 5. Damit aber erhalten auch andere Züge aus den Bootsgeschichten symbolische Bedeutung: Das – zumal bei Dunkelheit und Sturm – bedrohliche Meer ist seit den Psalmen Bild für die Gefährdung menschlichen Lebens in der Welt. Indem Jesus in Lk 5 aus Fischern Menschenfischer macht, gibt er selbst die Wege symbolischer Deutung an. Die Speisung, die Jesus anordnet, hat offenbar eine enge Beziehung zu Wortverkündigung und/oder Eucharistie (vgl. unten 8.). Die geheimnisvolle Zahl 153 in Joh 21 hat zahlreiche Versuche symbolischer Deutung hervorgerufen. Zumindest beziehen sich alle Mengenwunder beim Fischfang auf die Missionserfolge. 6. Alle Texte bringen daher – weit über nur biografische Erinnerung hinausgehend – die Situation der Jünger in der Welt und speziell in den Nöten der Verfolgung und in der Endzeit zur Sprache.
157 7. Die Jüngerschar erlebt diese Nöte in geschlossener Einheit; das gilt auch, wenn über ihren Repräsentanten (Petrus) streckenweise allein berichtet wird. Dann steht eben Petrus für alle gemeinsam. Man geht daher nicht fehl, wenn man in diesen Geschichten frühe Zeugnisse eines Selbstverständnisses als »Kirche« erblickt, die bis in das Leben Jesu zurückreichen. Das gilt auch für die Frage des Bekenntnisses (typisch Mt 14,33) und des Glaubens, bzw. Kleinglaubens (Mt 14,31). 8. Typisch ist die Verknüpfung von Bootsgeschichte (Epiphanie oder Sturmstillung) mit Speisungsgeschichten Mk 6,35-44.45-52; Mt 14,13-21.22-33; Mk 8,1-10.14-21; Mt 15,32-39; 16,1-12. Diese Verknüpfung ist so stabil, dass selbst das JohEv sie gleichfalls bietet (Joh 6,5-13/ 16-21; die Kombination von Speisung und Bootsgeschichte kennt Joh 21,1-14). Auch hier gilt: Beide Geschichten legitimieren sich gegenseitig. Von daher haben diese Bootsgeschichten eine eindrückliche doppelte Funktion: Sie gehören insgesamt in die Jesus-Überlieferung und zeigen das vielfältige »Interesse« Jesu an der Gemeinschaft der Jünger (Kirche). Und sie lassen die frühe Kirche sich selbst in diesen teilweise dramatischen Ereignissen wiedererkennen. Alle Geschichten gehen gut aus; das Ende ist nie eine wirkliche Katastrophe (Schiffbruch). Das bleibt erst Paulus nach Apg 28 vorbehalten. In der Verbindung von Speisungs- und Bootsgeschichten spiegelt sich die zentrale Bedeutung der Eucharistie für frühe Gemeinden. Im Rahmen der Gattung der Bootsgeschichten liegt in Mk 4,35-41 der besondere Schwerpunkt auf dem Kontrast zwischen dem unbesorgten Schlafen Jesu und der Angst der Jünger. Das Problem wird dann durch Jesu Sturmstillung gelöst. Denn: Das Meer und der Wind, beide gehorchen Jesus (4,41). Das ist nicht unerheblich, denn diese unberechenbaren Mächte gehorchen nur Gott. Und genau deshalb ist Jesu Schlaf auf dem Kissen im Bug des Schiffs eine Zeichenhandlung, die die Rolle Gottes »im Auge des Sturms« angibt: In allem Aufruhr ist Gott die Ruhe selbst. Daher ist der Sabbat als Gottes eigener Tag der Ruhetag, daher verheißt Jesus in Mt 11,28 Ruhe, und daher ist Jesu Rolle im Tanzlied aus den apokryphen Johannesakten so definiert, dass er in der
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158 Mitte der tanzenden Jünger der ruhende Pol ist (vgl. das Tanzlied bei Berger/Nord, Das Neue Testament, 1999, 1350-1354). – Zudem bestehen Analogie und Kontrast zur Figur des Propheten
Das Evangelium nach Markus
Jona, der gleichfalls bei Sturm im Schiff schläft. Jona wird wegen Untätigkeit ins Meer geworfen, Jesus dagegen besänftigt den Sturm, denn er ist mehr als Jona, nämlich Gottes Sohn.
Mk 5-9: Klärung der Identität Jesu durch Worte und Zeichen Theologische Aspekte der Komposition von 5-9 Für die Komposition von Mk 1 – 9,13 gilt ein zweifach angewendetes Schema: Klärung der Identität und Legitimität Jesu – Darbietung der Lehre – Bekräftigung der Lehre durch Zeichen (Wunder), die Glauben wecken. Eine variable Platzierung gilt für das vierte Thema, das Bekenntnis. – Der erste Durchgang anhand dieses Schemas macht die Kapitel 1-5 aus, der zweite die Kapitel 6,1 – 9,13. Im ersten Durchgang folgt der Evangelist diesem Schema in 1-3 (Identität), 4 (Lehre) und 4,35 – 5,43 (Wunder); vom Glauben ist in diesem letzten Abschnitt die Rede (s. o.). Zu den wichtigen und bekannten Materialien dieser Darstellung gehören klassische Themen des Anfangs der Biografie, also das Thema Johannes der Täufer (Übereinstimmung und Abgrenzung Mk 1,2-13) und Heimatstadt (Mk 1,21 ff: Kafarnaum) sowie Berufung der Zwölf (3,1319). Am Schluss spitzt sich die Frage nach der Identität zu (3,28-32). Im Schlussteil ist die Rede vom gewaltsamen Tod Jesu (3,6). Das Thema Bekenntnis ist hier in 3,28-32 platziert. Ab 6,1 nun wiederholt der Evangelist dieses Schema, wiederum mit den typischen Themen des Anfangs. Dazu gehören Klärung der Identität und Legitimität (6,1-56), Lehre (7,1-23) und Bekräftigung der Lehre durch Zeichen (7,24 – 9,13). – Zu den Materialien gehört das Thema Johannes (6,14-29), die Heimatstadt (6,1-6), die zwölf Jünger (6,7-13) und am Schluss die Frage nach der Identität, dieses Mal erheblich ausgeweitet und mit dem Thema Bekenntnis verbunden (8,22 – 9,13). Auch hier gehört die Rede vom gewaltsamen Tod an das Ende (Mk 9,12). Beide Durchgänge sind sichtbar miteinander verknüpft durch die Bemerkung (»Nachdem der Täufer gefangen genommen war …«) in 1,14, welche genau dem in 6,14-29 Dargestellten entspricht. Der Vorteil dieser Hypothese über die zwei pa-
rallelen Durchgänge ist: Sie gewährt Einsicht in die Funktion von Mk 4 (Gleichnisse) und Mk 7 (Reinheit). Diese beiden Abschnitte sind demnach Darstellung der Lehre Jesu und insofern parallel. Zugleich wird auch der Abschnitt über die Rolle des Heiligen Geistes in Mk 3,28-32 aufgewertet, weil es hier sachlich um eine Parallele zum Petrusbekenntnis und zur Verklärung Jesu geht. Schließlich wird erklärbar, warum die Themen Heimatstadt, Zwölferkreis und Johannes der Täufer je zweimal vorkommen. Besonders beim Thema Martyrium des Täufers hat man schon immer gefragt, warum es ausgerechnet in Kap. 6 vorkommt. Die Antwort: Das Thema gehört immer in den Anfang hinein, also auch in die »zweite Auflage« der Darstellung des Anfangs. Theologisch bedeutet das Beobachtete: Die verwandten Passagen interpretieren sich gegenseitig. Das gilt z. B. auch für die Blindenheilung in Mk 8,22-26. Denn sie gehört zu der Klärung der Identität durch Bekenntnis und Verklärung. Eigentlich ist diese Heilung »fehlplatziert«, aber durch die Komposition, d. h. durch die Zuordnung vor Kap. 8 und 9 erlangt die Blindenheilung auch symbolische Bedeutung. – Die Wunderzeichen Jesu haben stets argumentative Funktion. Das heißt: Sie werden nicht um ihrer selbst willen berichtet. Sie stützen Lehre und Bekenntnis und betonen: Gott hat Menschenfreundliches mit den Menschen vor. Ab 9,14 beginnt dann das so genannte Jüngerevangelium, das Probleme der Jüngerschaft behandelt. Die Hauptmasse der Christologie und der Botschaft Jesu wird daher bis 9,13 dargestellt. Es ist schon immer aufgefallen, dass von da ab die Wunderberichte rapide abnehmen.
Mk 5,1-20: Heilung eines Besessenen Die Geschichte der Heilung des besessenen Geraseners gehört zu den vier Wundergeschichten im
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Kapitel 5
Anschluss an Mk 4, die nach der Lehre nun deutlich die Vollmacht Jesu in seinem messianischen Handeln demonstrieren (wie Mt 8 nach Mt 5-7). Die Besonderheit dieser Geschichte: Typisch für den »zweiten Durchgang« der Grundthemen ist hier – wie dann auch in Kapitel 7 – das Thema Heiden. Denn die Umgebung von Gerasa ist rein heidnisch. Vorerst wird das Thema Heiden eher restriktiv behandelt: Der geheilte Gerasener darf sich gegen seinen eigenen Wunsch Jesus nicht anschließen (5,18f). Trotzdem sieht es nach 5,19 so aus, als begründe er durch Weitersagen seiner Heilungsgeschichte eine erste christliche Zelle im heidnischen Land. Im Übrigen aber häufen sich in dieser Geschichte die Zeichen für eine massive Unreinheit, die Jesus hier zu bekämpfen hat: Gerasa ist eine heidnische Stadt, der Besessene lebt zwischen Gräbern, dem klassischen Ort der Unreinheit, die Dämonen sind als Totengeister selbst eben unreine Geister (V. 13), sie heißen auch noch dazu »Legion« (V. 9) und deuten das unheilvolle Wesen heidnischer Unreinheit im Lande an, schließlich fahren sie in eine Schweineherde: ein ebenfalls massiver Hinweis auf Unreinheit. (Ergänzung siehe S. 1051) Dennoch ist Jesus derjenige, der diese geballte Unreinheit besiegen kann, und zwar durch bloße Befehle, wie ein Feldherr also. Dass Jesus zu diesem Sieg fähig ist, muss vor allem judenchristliche Leser beeindrucken, während Heidenchristen einen Großteil dieser Phänomene gar nicht verstehen würden. Das Thema »Sieg über die Unreinheit« wird durch die beiden folgenden Wundergeschichten fortgesetzt: durch die Heilung zweier Frauen, die beide in nicht steigerungsfähigem Maße unrein sind, die blutflüssige Frau und die tote Tochter des Jairus. So ist die Besiegung der Unreinheit das offene gemeinsame Thema der drei Wundergeschichten in Mk 5: der Heilung des Geraseners, der blutflüssigen Frau und der Tochter des Jairus. Für die Judenchristen unter den Lesern ist das ein klares Signal: Wenn Jesus selbst mit diesen geballten Formen von Unreinheit fertig wird, dann erst recht mit jeder heidnischen Unreinheit sonst. Die Massivität der Besessenheit entspricht der Massivität des Blutflusses und des Todes. Dabei ist zu beachten: Was wir heute als »unrein« übersetzen, ist nach jüdischer Vorstellung nicht »schmutzig«, sondern eher »tabuisiert«, und zwar im Sinne des Lebensgefährlichen, der Nähe
159 des Todes. Weder Frauen noch Ausländer noch Andersgläubige sind »unrein«, sondern Unreinheit ist die Gegenposition zu Leben; alles, was das zerbrechliche menschliche Leben durch seine bloße (ansteckende) Anwesenheit bedroht, ist »unrein«. Die Bezeichnung als unrein ist daher ein Stück Kampf gegen den Tod, ein Stück Warnung. Und das jüdische Gesetz wird hier verstanden als eine Art Schutzwall gegenüber lebensbedrohlicher »Infektion«. Daher wird die – traditionell bei den Pharisäern wichtige – Unterscheidung von rein und unrein bei Jesus nicht aufgegeben. Aber sie wird mit neuer Kraft gefüllt, weil Jesus nicht nur defensiv durch Flucht vor dem Unreinen reagiert, sondern offensiv durch dessen Besiegung. In Bezug auf die Gleichnisse von Kap. 4 sagen die Wunderberichte in Kap. 5: Reich Gottes ist nicht (nur) eine vornehme Gesinnung oder Änderung des Bewusstseins, sondern Leben gegen Tod. Denn in allen Fällen schafft Jesus durch sein Wort oder seine leibhafte Präsenz mühelos den Sieg. Wichtig ist die Botschaft, die Jesus dem Geheilten für seine »Zelle« mitgibt: Der Herr hat sich deiner erbarmt (V. 19b). Denn so wird das Geschilderte nicht primär als militärisch-technischer Machterweis eingeordnet, sondern als liebevolle Zuwendung Gottes zu den Menschen. Der Ruf »Kyrie eleison« wird darauf aufbauen. Zur apopompe (Wegschicken, Austreiben) der Dämonen gesellt sich als Folge des Dialogs Jesu mit den Dämonen die epipompe (den ausgetriebenen Dämon auf ein konkretes anderes Ziel hinlenken). Vgl. dazu den griech. Dichter Kallimachos (um 300 v. Chr.): »Am Abend aber überfiel sie die schreckliche Bleichsucht, es kam die Krankheit, die wir fortschicken auf wilde Ziegen (sc. um sie zu heilen), die wir zu Unrecht die heilige nennen« (Berger/Colpe, Textbuch, Göttingen 1987, Nr. 42); oder ein griech. Gebet aus Süditalien (Anrede an einen Dämonen): »Sieh zu, fahre nicht in meinen Diener, sondern flieht und fahrt in die wilden Berge und geht hinauf in den Kopf eines Stieres, dort fresst Fleisch, dort sauft Blut, dort zerstört Augen, dort verfinstert das Haupt, verwirrt, verdreht …« (Berger/Colpe, Nr. 43).
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Mk 6,1-6: Jesus in Nazaret Das Thema »Fremdheit gegenüber dem vertrauten Lebensraum« gehört in den Anfang von Gesamtaufrissen. Denn das Große wird zunächst sichtbar als das Unvertraute im Rahmen des Gewohnten. Das Allergewöhnlichste aber ist die Großfamilie, zu der einer gehört, bzw. das Dorf, in dem er aufwächst. Der bedeutende Mensch weckt durch sein ungewöhnliches Verhalten viele Fragen. Vor dem Hintergrund des Alltags hat sein Tun besonders viele zum Staunen gebracht und es wirkt gleichzeitig anstößig. Beides, Staunen und Anstößigkeit, liegt nahe beieinander. Daher ist hier schon die Ambivalenz gegeben. Entweder kommt die »Macht«, die Jesus zeigt, von Gott – oder sie ist Zeichen seiner Verrücktheit. In beiden Fällen ist »etwas nicht in Ordnung« mit ihm, das irritiert und aufmerksam werden lässt. Und wenn Jesus Wunder wirkt, dann zeitigt das vergleichbare Anfragen, weil auch die Wunder zunächst einmal Durchbrechen des Erwartbaren sind. Das Minimum ist also die »Fremdheit«, und deshalb gehört Jesu fremdartiges, merkwürdiges Auftreten in der Heimatstadt genauso dazu wie Anderssein gegenüber den nächsten Verwandten. Daher begegnet das Motiv der Fremdheit zweimal: einmal in Mk 3,31-35 zum Thema »wahre Verwandtschaft« und in Mk 6,1-6 zum zweiten Mal zum Thema »Prophet und Vaterstadt«. Nach Mk 3,31-35 sprengt Jesus den Rahmen der Verwandtschaft durch die Umdefinition von Verwandtsein überhaupt, und hier geht es um Mutter, Brüder und Schwestern. Und ebenso werden die nächsten Verwandten in 6,3 genannt (Mutter, Brüder und Schwestern). In 3,31-35 wird das Verwandtsein neu bestimmt: Wer den Willen Gottes tut, der ist Bruder, Schwester und Mutter Jesu. Ebenso gehört freilich der Rahmen in 6,1f zum »Anfang«, nämlich der Auftritt in der Synagoge der »Heimatstadt«. Auch dieser Rahmen wird zweimal berichtet, nämlich in Mk 1,21f (»Und sie ziehen nach Kafarnaum hinein. Und gleich am Sabbat ging er in die Synagoge hinein, lehrte. Und sie gerieten außer sich über seine Lehre, denn er lehrte sie wie mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten«). Man vergleiche mit Mk 6,1f: »Und er kommt in seine Vaterstadt … Und da es Sabbat geworden war, fing er an zu lehren in der Synagoge. Und alle Hörenden gerie-
Das Evangelium nach Markus
ten außer sich und fragten: Woher hat er dies? …« Hier wird das beobachtete Phänomen des »zweiten Durchgangs« ganz handgreiflich sichtbar: Die Situation ist dieselbe, aber auch die Reaktion (außer sich geraten). In beiden Fällen gilt das Staunen zunächst der Qualität der Lehre. In Mk 1 wird das dann durch einen Exorzismus bestätigt, in Mk 6 zeichnet sich eine ungute Lösung ab: »Und er staunte wegen ihres Unglaubens« (6,6a). Denn nach V. 2 hatten noch die Menschen in der Synagoge gestaunt, nach V. 3b nehmen sie schon Anstoß, nach V. 5 stößt Jesus offenbar auf eine Mauer des Unglaubens, was in V. 6a mit seinem eigenen Staunen beendet wird. Das treibende Motiv, das die Situation kippen lässt, ist der Hinweis darauf, dass man doch die Verwandten Jesu kenne. Denn die Qualität der Verwandtschaft (bzw. deren unanstößige Normalität) lässt in den Augen der Skeptiker den Schluss zu, dass es mit der Größe Jesu auch nicht so weit her ist, wie es den Anschein hat. Auch auf Lk 4,16.22-24 ist ein kurzer Blick zu werfen. Denn hier gibt es u. a. eine Kombination der gerade besprochenen Motive. Jesus lehrt am Sabbat in der Synagoge der Heimatstadt (Nazaret), die Menschen staunen (4,22), der Spruch von Prophet und Vaterstadt fällt, und am Ende wird Jesus aus Nazaret vertrieben. Wie in Mk 6,3 weisen die Hörer darauf hin, dass sie wissen, Jesus sei Josefs Sohn (V. 22). Benennt man die Motivstücke mit Abkürzungen (V = Hinweis auf bekannte Familienmitglieder Jesu; P = Prophet in seiner Vaterstadt; S = Staunen; H = Auftritt in der Synagoge der Heimatstadt am Sabbat; Z = Hinweise auf betrüblichen Ausgang; N = Neudefinition der Verwandtschaft; W = Thema Wunder), so stellt sich eine synoptische Übersicht so dar: Mk 1,21f: HSW Mk 3,31-35parr: VN Mk 6,1-6; par Mt 13,53-58: H S V P Z Lk 4,16-30: HSVWPZ Die Übersicht zeigt, dass die einzelnen Elemente dieses Themenfeldes wie Bausteine sind, mit denen die Evangelisten nach Ermessen umgehen konnten. Es wird auch erkennbar, wie verflochten die einzelnen Perikopen untereinander sind. Die erkennbar ausführlichste Sammlung liegt in Lk 4 vor; zusätzlich gibt es hier noch das Element der
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Zuwendung zu den Heiden, das zu H in besonders deutlichem Kontrast steht. Hier wird auch der Bibeltext zitiert, den Jesus nach Lk in der Heimatsynagoge vorgelesen hat. Dies zeigt im Übrigen, dass mit der traditionellen Frage nach zusammenhängenden Quellen das synoptische Problem wohl nicht zu lösen ist. Das Prinzip Baukasten scheint angemessener.
Mk 6,6b-13: Aussendung der Zwölf Unvermittelt greift Mk nun im zweiten Durchgang das Thema der Zwölf wieder auf (zuerst: Mk 3,13-19: Liste der Zwölf). Das Thema wird nun zu einem Aussendungsbericht gestaltet. Dabei stimmt mit dem ersten Bericht überein das Wort »herbeirufen« (Mk 3,13; Mk 6,7) und das Thema böse Geister/Exorzismus (Mk 3,15; Mk 6,7.13) sowie das »Senden« (Mk 3,14; Mk 6,7) und das »Verkündigen« (Mk 3,14; Mk 6,12). Auch hier ist die Verflechtung daher sehr eng. – Die Angaben im Aussendungsbericht sind neu gegenüber Mk 3. Sie stehen in enger und oft spannungsreicher Korrespondenz zu Mt 10 und Lk 9,1-6 und 10,1-12. – Auch hier geht es um einen gemeinsamen Satz von Motiven: 0 = verboten; 1 = nur in einfacher Ausführung erlaubt; S = Paar Sandalen; St = Reisestab; B = Brot; G = Geld (Kupfer); H = hemdartiges Obergewand; R = Rucksack (Ranzen); E = Erwerb von Edelmetallen wie Silber und Gold; P = Geldbeutel; U = Untergewand. Mk 6,8-9: Mt 10,9: Lk 9,3: Lk 10,4: Lk 22,35:
1 St; 1 S; 1 H – 0-B; 0-R; 0-G 1 H – 0-E; 0-G; 0-R; 0-S; 0-St 1 H – 0-St; 0-R; 0-B; 0-E – 0-P; 0-R; 0-S – 0-P; 0-R; 0-S. – Ab jetzt: 1 P; 1 R, gegebenenfalls 0-H: Messer erlaubt!
Ein Vergleich mit damals zeitgenössischen Listen über die Ausstattung von Menschen auf religiöser oder philosophischer Wanderschaft ergibt: Musonius Rufus, Von der Kleidung (30-130 n. Chr.): 1 H; 1 U – 0-U; 0-S; Flavius Josephus, Bell II 124-127 über Essener: 1 H; 1 U; 1 S – 0-G – Waffe erlaubt! Plutarch (45-125 n. Chr.), Alexander, über Gymnosophisten: 0-R; 0-B; 0-S
Auswertung: Grundsätzlich stehen die Boten Jesu neben wandernden Kynikern und Essenern. Beide Gruppen verstehen sich wohl auch als religiös motivierte Wanderer (Pilger). Die Listen in den Evangelien sind die umfassendsten. Wo der Rucksack (Ranzen) verboten ist, kann auch Proviant mitgenommen werden. Das ist bei den Boten Jesu durchgehend der Fall. Damit aber richten sich diese Listen nicht nur an potenzielle (auch spätere!) Wandermissionare, sondern vor allem an die Gastfreundschaft von sesshaften Christen bzw. Gemeinden. Aufgrund der Listen wissen sie, womit sie bei der Aufnahme wandernder Christen zu rechnen haben. Interessant ist, dass diese Listen keinerlei Nachleben oder Wirkungsgeschichte haben, die über die Evangelien hinausgehen. Weder in den neutestamentlichen Apokryphen noch bei den Apostolischen Vätern, weder in der Gnosis noch bei den Kirchenvätern findet sich Vergleichbares. D. h.: Der Stand der Wanderasketen ist entweder ausgestorben oder hat keinen weiteren literarischen Niederschlag gefunden. Dieser fehlt auch im JohEv, wo es überhaupt keinen Aussendungsbericht gibt; das verwundert angesichts der zentripetalen Missionsstruktur des JohEv nicht. Gegenüber Mk sind Mt und Lk rigoroser. Immerhin dürfte in Lk 10,22 auch die Verwendung eines Obergewandes erlaubt gewesen sein. Nur der bei Mk erlaubte Stock (gegen wilde Hunde) ist bei Mt untersagt. In Lk 10,4 könnte auch der Transport von Sandalen zum Ersatz gemeint sein, denn (griech.) bastazein meint nicht das Tragen am Körper (M. Wolter). Lk 22 und Flavius Josephus erlauben den Gebrauch von Messern bzw. Waffen. Josephus sagt dazu: wegen der Räuber. Das ist eine plausible Erklärung auch für Lk 22,38 (s. d.). Zusatzregeln, das Grüßen und das Abschiednehmen betreffend: Der Friedensgruß kommt auf den Grüßenden zurück, wenn er keinen Würdigen gefunden hat, an dem er hängen bleiben konnte: Mt 10,13; Lk 10,6. Denn der Gruß ist qualifizierte Rede, und diese hat, wenn sie auf den Unwürdigen trifft, die Funktion des Bumerangs, d. h. sie kehrt zum Aussender zurück. Für die Weisheit der Antike ist das Wort wie eine Brieftaube. Auch diese kehrt bei Nicht-Finden des Ziels zurück (wie bei Noah). Ebenfalls um
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162 eine dinglich-mythische Auffassung handelt es sich beim Grußverbot unterwegs (vgl. ebenso 2 Kön 4,29!): Das ergeht nicht aus praktischen Gründen, weil Grüßen Zeit kostet, sondern eher deshalb, weil das Grüßen Weggeben, Ableiten von Segenskraft ist. Daher darf auch der sterbende Jakob nur einen der Söhne segnen; sonst ist die Segenskraft erschöpft. Wegen dieser dinglichen Auffassung, die zugleich dualistisch ist, kehrt der Segen bei Unwürdigkeit des Empfängers zum Ursprung zurück. Bei gescheiterter Mission sollen die Boten Jesu »den Staub unter den Füßen abschütteln, ihnen (sc. den ungläubig Gebliebenen) zum Zeugnis« (Mk 6,11). Was hier empfohlen wird, ist ein Verfluchungsgestus (wie noch – freilich säkularisiert – in dem deutschen Imperativ: Macht euren Dreck alleine! Vgl. Neh 5,13 [Manteltasche, aber mit Vernichtungswunsch an Gott]; Apg 13,51; 18,6 [Kleider, mit Verfluchungsformel]) und Ausdruck radikaler Trennung. Vergleichbar ist auch, wenn man sich angesichts von Lästerung oder anderer Schreckenstat »die Kleider vom Leib reißt«, weil sie ja durch das Dabeigewesensein infiziert sein könnten (wie früher die Kleider rochen, auch wenn man während einer Zugfahrt nur kurz in einem Raucherabteil gewesen war). Nach Mk 6,10 ist Quartierwechsel untersagt (vgl. Lk 9,4; Mt 10,11); denn das sieht nach Undankbarkeit aus und könnte einen fatalen Wettstreit der Gastgeber entfachen. Wieso dieser Gedanke erst nachösterlich (d. h. möglich nicht als historische Erfahrung, sondern nur als visionäre Begegnung mit dem Auferstandenen) sein soll, verstehe ich nicht. Historischer Ort: Die Jüngeraussendungen und dazugehörige Reden sind keineswegs notwendig Eintragungen aus nachösterlicher Zeit. Sie sind zeitlich begrenzte (daher wird auch ausführlich über ihre Rückkehr berichtet: V. 30f) Zeichenhandlungen Jesu. Denn sie bringen seine Umwandlung des Gerichtsgedankens zum Ausdruck. Stehen sie doch parallel zum Einsammeln der Gerechten durch die Engel des Menschensohnes. Die Aussendung zu zweit (6,7) entspricht dem Prinzip der je zwei Engel (vgl. z. B. Lk 24,4; Apg 1,10).
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Mk 6,14-16: Johannes der Täufer und Jesus Die nach 6,7 ausgesandten Jünger machen offenbar den Namen Jesu bekannt, sodass auch König Herodes von ihm hört. Da Herodes Jesus für den auferweckten Täufer hält, ist hier dem Evangelisten die Möglichkeit gegeben, ein zweites Stück über den Täufer unterzubringen. – Die Meinung des Herodes, die Wunder Jesu seien mit Hilfe der Annahme zu erklären, Jesus sei der vom Tod auferweckte Täufer, ist nicht einfach Blödsinn, sondern ein Stück populärer Religionsgeschichte. Denn gerade so, wie Herodes formuliert, (»Den ich enthaupten ließ, Johannes, dieser wurde auferweckt«), steht es über Jesus in den Judenpredigten der Apostelgeschichte (»Den ihr getötet habt, er wurde auferweckt«, bzw. Gott hat ihn auferweckt). Denn da geht es um Gottes wunderbares Handeln, das die Schuld der Menschen offenkundig werden lässt. Die Auferstehung des Märtyrers wird zur Entlarvung der Mörder. Und der Märtyrer vermag nach seiner Auferweckung mehr als zuvor, so wie Jesus nach Joh 21 und Mk 16,17f; denn die Kräfte des Himmels wirken nun eindeutiger in ihm als zuvor. Im Falle Jesu vollbringen die Jünger Wunder »im Namen Jesu«. Und so ist auch der Komparativ (größere Zeichen als ich) in Joh 14,12 (»denn ich gehe zum Vater«) zu erklären. Vor allem aber erklärt Mk 6,16, dass es die Vorstellung einer innerzeitlichen (nicht eschatologischen) Auferweckung von Märtyrern gab (wie Offb 11,8).
Mk 6,17-29: Die Ermordung Johannes des Täufers Jesus wird später sagen, Johannes sei der bedeutendste Mensch bisher gewesen (Lk 7; Mt 11,11). Das könnte sich darauf stützen, dass Johannes nach Mk 6,18 den König Herodes im Sinne von Gottes Gebot anklagt und damit sein eigenes Leben riskiert. Der Täufer kommt durch das um, wogegen er predigt (zum Weingelage vgl. Mt 11,18: isst nicht und trinkt nicht). Alles, was dem Täufer zutiefst fremd ist, wird bei dem Weingelage offenkundig (Palast; üppige Mahlzeit; luxuriöse Kleidung, Wein; wohl auch der Eid). So wird der Tod des Täufers in Jesu Botschaft einbezogen. Signale für den Leser: Die Ba-
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sisopposition besteht zwischen V. 19 (»und sie [Herodias] konnte nicht«) und dem gelungenen Anschlag gegen Johannes nach V. 28a. – Wörtliche Rede V. 18.22b-25, darin Wiederholung (»Was du auch verlangst, ich werde es dir geben«, V. 22-23b); Schilderung von Affekten: »gefiel« (V. 22), »war tief betrübt« (V. 26), »fürchtete« (V. 20), »war in Verlegenheit« (V. 20), deren Subjekt stets der König ist. Daher ist der Skopos des Berichts nicht das Erwecken von Trauer über den Tod des Täufers, sondern die Selbsterniedrigung eines Königs im Rahmen eines labilen und genusssüchtigen Lebens. Daher stehen nicht der Kerker und der Mord an Johannes im Vordergrund, sondern das verschwenderische Mahl. Die Bestattung des Johannes durch seine Jünger erinnert an die Rolle des Josef von Arimatäa (Mk 15,42.46), obwohl er eben gerade nicht der klassische Jünger ist. Das Martyrium des Täufers ist auch deshalb besonders blutrünstig und grausam erzählt, weil Herodes als gottloser Herrscher schlechthin gezeichnet wird (Ehebrecher, Mörder, labil). Denn – wie Jesus selbst in Mk 9,12f sagen wird – der wiedergekommene Elia (sc. = der Täufer) muss nach apokalyptischer Tradition durch die Hand des gottlosen Herrschers der Endzeit sterben (vgl. zu dieser Tradition Offb 11,4 ff und die EliaApk [kopt]).
Mk 6,32-44: Speisung der Vielen Schafe ohne Hirten haben keinen, der sie zum Futter führt. Sie werden dann matt und wirken orientierungslos. – Die alttestamentliche Vorlage ist 2 Kön 4,42-44, und zwar mit folgenden Motiven, die sich in den Speisungsberichten der Evangelien wiederholen: Der Prophet und sein »Jünger« sehen sich einer großen Masse hungriger Menschen gegenüber. In 2 Kön sind es 100, in Mk 6 5000 Männer (Mk 8: 7000; Joh 6: 5000). Es wird festgestellt, wie viel zum Essen da ist. Nach 2 Kön 4 sind es 20 Gerstenbrotfladen und dazu Jungkorn; in Mk 6 sind es 5 Brote und 2 Fische. Bei Mk ist demnach die Ausgangsbasis drastisch reduziert. Der Prophet befiehlt seinem Jünger, den Leuten zu essen zu geben; nach Mk 6,41 hält sich auch Jesus daran. Er gibt die beiden gesegneten Fische und die Brotfladen den Jün-
163 gern, »dass sie ihnen das vorsetzten«. In 2 Kön formuliert der Prophetenjünger einen Einwand gegen den Befehl des Propheten zum Verteilen: »Wie soll ich das 100 Leuten vorsetzen?« Der Einwand steht nicht in Mk 6, wohl aber in der Parallele in Joh 6,9: »Doch was ist das für so viele?« Auch nach Lk 9,13 sind die Jünger realistisch: »Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, wir ziehen hin und kaufen für dieses ganze Volk Speisen.« Auch hier hatte Jesus schon, wie in Joh 6, den Auftrag zum Verteilen gegeben. – Joh 6,9 hält sich damit am engsten an die Vorlage in 2 Kön 4. – In 2 Kön 4,43 kündigt schließlich der Prophet an: Essen wird man und noch übrig lassen. Entsprechend wird in jedem neutestamentlichen Bericht von den körbeweise übrig gebliebenen Brotstücken gesprochen, und hier spätestens hat der Evangelist eine symbolische Seite erkennen können (s. u.). Erstaunlich an dem Bericht in Mk 6 sind drei Punkte: Die Fische kommen nicht aus der Vorlage in 2 Kön 4. Falls sie schriftgelehrten Ursprungs sind, können sie über die Johannes-Fassung erschlossen sein. Denn das Jungkorn (eine Masse von getrockneten Früchten) des Mt wurde in der LXX zur Feigenmarmelade, in Joh 6,5 zur Beikost. Beikost aber kann pflanzlich oder auch tierisch sein (Joh 21,9: Fische). Das griech. Wort in Joh 6 (opsarion) gibt beides her. Wegen der Nähe zum See Gennesaret spricht nichts dagegen, dass die Beikost aus Fischen bestand. Oder anders (wenn man primär literarisch urteilt): Die markinischen Berichte könnten einen Bericht wie den bei Joh erhaltenen voraussetzen. Ferner: Jesus feiert die Speisung wie ein jüdischer Hausherr als eine normale Mahlzeit (nahm …, blickte auf zum Himmel, sprach den Segen und zerteilte die Brotfladen …). Die spätere lateinische Liturgie entnimmt das »et elevatis oculis in caelum ad te deum patrem suum omnipotentem …« (in den Abendmahlsworten) nicht den biblischen Abendmahlsberichten, sondern diesem Speisungsbericht in Mk 6,41; Mt 14,19. – Wenn es aber hier einen symbolischen Gehalt gibt, dann liegt er darin, dass das Wunder unter den Händen der Jünger geschieht. Weist das auf die Lehre der Jünger, die sie in Jesu Auftrag an die Menschen vermitteln? In Mk 8,19-21 weist Jesus die Jünger ausdrücklich auf den symbolischen Gehalt: »Wisst ihr nicht mehr, dass ich
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164 neulich fünf Brote an fünftausend Leute verteilt habe? Na, und wie viele Körbe Brotreste habt ihr davongetragen?« Sie sagten: »Zwölf.« Er fragte weiter: »Und als ich die sieben Brote an die viertausend Leute verteilt habe, wie viele Körbe Brotreste waren es da?« Die Jünger antworteten: »Sieben.« Darauf Jesus: »Habt ihr noch nichts begriffen?« Haben die Zwölf und die Sieben hier einen Bezug zum Gremium der Zwölf und der Sieben? Das Gremium der Sieben hat bekanntlich eindeutig (auch) diakonische Aufgaben. Da andererseits die Zahlen zwölf und sieben jeweils Symbole für »Fülle« sind, wird man zum Sinn dieser Symbole an dieser Stelle nur so viel sagen können: Da die Jünger die Nahrung austeilen, wird jedenfalls ihr Tun bedacht. Die vollständige Vollmacht Jesu geht vollständig auf sie über. Dabei muss offen bleiben, ob es sich eher um Lehre, Diakonie oder Wundervollmacht handelt. Zwölf und sieben bezeichnen jeweils die Gänze. Ohne Minderung, Riss oder Reibungsverlust wird Jesu Auftrag durch die Jünger fortgesetzt und vollzogen. Das in Mk 6,45-52 berichtete Gehen Jesu auf dem Wasser legitimiert die vorangehende Speisung als gottgewirkt. Denn nur Gott kann auf dem Wasser gehen. Da allerdings vorzugsweise Gespenster keinen Leib haben, muss diese Möglichkeit ausgeschlossen werden (6,49). Jesus widerlegt diese mögliche Deutung durch die Rekognitionsformel »Ich bin es« (6,50). Nun hält die Mehrzahl der Forscher das »Ich bin es« an dieser Stelle für eine Theophanieformel, und zwar im Sinne von Ex 3,14 (»Ich bin, der ich bin«). Man übersieht dabei oft, dass an keiner Stelle des Neuen Testaments diese »Formel« so zitiert wird. Diese Möglichkeit, dass es sich um die »allerheiligste Theophanieformel« handelt, scheidet daher entgegen der Meinung der Mehrzahl der Forscher völlig aus. Mit Recht verweisen einige dagegen für die Selbstvorstellung Gottes vor allem auf die JesajaTexte 43,10.13; 41,4; 46,4; 48,12, wo das bloße »Ich bin es.« die Gottheit Gottes bezeuge. Freilich steht – und das ist der Unterschied zu Ex 3,14 – an jeder dieser Stellen das »Ich bin es« in einem zeitlichen Bezug zum Vorher und (oder) Nachher, sodass man übersetzen muss: »Ich bin der gleiche …« oder: »Auch hinfort bin ich es noch«. Im Unterschied zu Ex 3,14 möchte ich
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hier von Selbstvorstellungen zweiten Grades sprechen. Das heißt: Wenn Jesus auf dem Meer den Jüngern sagt »Ich bin es (doch)« (Joh 6,20), so hilft nicht nur die Alltags-Analogie, dass man jemanden an der Stimme erkennt, diese wird im JohEv selbst betont (Joh 10,4; 20,16). Es würde ja auch in Joh 6,20 gar nichts helfen, wenn jemand bloß mit Worten eine Selbstvorstellung Gottes einbrächte. Denn das könnte auch ein Dämon oder Gespenst tun, weil diese von Natur aus Nachahmer-Geister sind. Das, was hier wirklich helfen kann, ist, dass die Jünger Jesu die vertraute Stimme des Meisters wiedererkennen; das nennt man Rekognition.
Mk 6,56: Heilungen Dass die Berührung der Quaste des Gewandes Jesu gesund machen kann, entspricht Mk 5,27f (»Wenn ich auch nur seine Kleider berühre, werde ich gerettet sein«). Die Basis dieser Auffassung ist ein Verständnis von Kleidern, das sich grundlegend von unserem unterscheidet. Das Kleid ist nicht modischer (und damit schnell auswechselbarer) Gebrauchsgegenstand, sondern, wie die Hand, ein nach außen, auf den Kontakt mit den Mitmenschen gerichteter Teil des Selbst. Wie die Haut nimmt das Kleid auf und strahlt aus. Die Metaphysik des Kleides ist die antike Variante der Psychologie der Haut. Schon in der altägyptischen Liebeslyrik heißt es: »Ich möchte sein ein altes Kleid der Geliebten.« Wenn daher nach Mk 9,3 Jesu Kleider glänzend weiß werden, ist dies ein Ausdruck der Offenlegung seiner wahren Identität. Das Geheimnis der Person offenbart sich in den Kleidern. Gerade das Äußerlichste wird zum Zeichen für das Innerste, das »Wesen«. Dabei ist das Kleid eindeutiger als eine Fülle von Worten.
Mk 7,1-23: Thema Reinheit In Mk 7 liegt ein Höhepunkt des MkEv vor, weil es hier – wie in Kap. 4 – um die Darstellung der inhaltlichen Lehre Jesu geht. Dass das Thema Reinheit hier so im Mittelpunkt steht, hat zu tun mit dem Zweck des MkEv im Ganzen: Mit dem
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Kapitel 7
Thema Reinheit wird die »lange Geschichte« von Jesus und den Pharisäern bis hin zur Heidenmission erzählt. Für die Bestimmung des historischen und religions-soziologischen Sitzes des MkEv ist diese Linie zentral bedeutsam. Dass hier die Brücke zur beschneidungsfreien Heidenmission gesucht wird, geht aus den Wundergeschichten hervor, die in Mk 7,24-8,9 erzählt werden. Im Übrigen bleibt Jesus dem Grundsatz von Mk 4,33f treu: Nach 7,17 verkündet er den zentralen Grundsatz seiner Reinheitslehre als »Parabel«. Und wie in Mk 4,12f zu erkennen ist, muss auch diese Parabel den Jüngern »im Hause« erläutert werden. Der Grundsatz der Abfolge von Rätselrede und Erläuterung durch Jesus ist auch in Mk 7 bestimmend geblieben. Den engeren Zusammenhang unter den Perikopen stiftet das Motiv Brot/Essen: 6,38.41; 7,4.28 (Bröckchen); 8,5.18.26. In Mk 7,2-23 und in 10,2-12 liegt dieselbe literarische Form vor, nämlich eine erweiterte Chrie (vgl. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 35). In beiden Fällen legt Jesus das Gesetz aus und belehrt anschließend die Jünger im Haus. Dadurch wird das so genannte Lehrgeheimnis dargestellt. Die Abfolge der Elemente ist gleich: 1. Anlass und Frage (Mk 7,2.5; 10,2) 2. Schriftauslegung mit antijüdischer Kritik (Mk 7,6-10; 10,4-8) 3. Sentenz mit der neuen Lehre Jesu (Mk 7,15; 10,9) 4. Belehrung im Haus, verbunden mit Elementen aus dem Dekalog (Mk 7,17-23; 10,10-12). Formelemente der Chrie: Anlass und Frage; Sentenz. – In Mk 7 ist außerdem erkennbar eine Überschneidung mit (oder Herkunft aus?) der bekannten Form Bildrede (Parabel; so Mk 7,17; vgl. Hss in V. 16) – Tadel des Nicht-Verstehens (7,18: unverständig) – Auslegung (für die Jünger). Das Zelt/Haus ist der Ort der Lehr-Offenbarung (Mk 9,5; Hen [äth] 81,5: »[Engel] setzen mich vor der Haustür nieder: ›Verkündige alles deinem Sohn Methusalem‹«). Im Hintergrund steht die Belehrung der versammelten Familie durch den Vater im Haus, besonders in testamentarischer Rede, in der es um das Vermächtnis geht. – Die liberale Forschung war so naiv, die Belehrungen im Haus als Anzeichen für die Herkunft dieser Stoffe aus Gemeindebildungen anzusehen. Die einzige Frage »Was ist echt?« ließ
165 den Blick auf die Form völlig verkümmern. Heute kann man sagen: Der Rahmen des Hauses gibt an, dass Jesus hier jeweils einen Intensivkursus gibt (vgl. auch Mk 2,15; Lk 5,29). Bei Jesus gibt es stets eine Phase des Lehrens »im Haus«. Reinheit Man kann die Phänomenologie der Reinheit in konzentrischen Kreisen denken (angeregt von C. Losekam): Den innersten Kreis bilden, wenn man an Personen denkt, die Priester, dann die Pharisäer, dann das Gottesvolk, und das ist umringt von Heiden. Oder lokal kann man denken an: Deckel der Bundeslade, Allerheiligstes, Tempel, heilige Stadt, heiliges Land, umgeben von unreinen Ländern. – Man kann aber auch dualistisch denken: Heiliges und Reines auf der einen Seite, Unheiliges und Unreines auf der anderen. Das gilt zumal in der Lehre von den Geistern: Diese sind heilig oder unrein, ein Drittes gibt es nicht. Besonders mit dem Pharisäismus teilt das Christentum das Thema Reinheit. Das reicht von der Seligpreisung derer, die »reinen Herzens« sind, bis hin zu dem Gebet des Priesters oder Diakons vor der Verkündigung des Evangeliums nach der lateinischen Liturgie: »Reinige mein Herz und meine Lippen, allmächtiger Gott. Der du die Lippen des Propheten Jesaja mit glühendem Stein gereinigt hast, mache auch mich rein durch dein großzügiges Erbarmen, damit ich würdig und fähig dein heiliges Evangelium verkünde.« In dem Ritus des Lavabo derselben Liturgie wird die mit Judentum und Islam gemeinsame Sitte gepflegt, vor dem wichtigen und zentralen Gebet die Hände zu waschen. Denn mit reinen Händen soll man vor Gott treten. Und selbstverständlich ist das in keiner der drei Religionen nur ein äußeres Zeichen, sondern ritualisierte Metaphorik. Das heißt: Der alltägliche Vorgang des Waschens bildet die Basis, Reinigung vor Gott ist die daraus gewonnene Metapher, im kultischen Geschehen wird diese zum Ritus. Beda Venerabilis († 856) schlägt daher bei seiner Auslegung von Mk 7 die Brücke zur Taufe. Das Wort »taufen« (griech.: baptiz-) findet sich im griechischen Text von Mk 7,4, doch im Sinne von »Abwaschen«. Beda klagt, dass die Juden sich weigern, abgewaschen zu werden in der Quelle des Erlösers und nur – im Blick auf das
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166 Heil vergeblich – den äußeren Schmutz beseitigen. Und so wie Juden vor dem Brotessen die Hände waschen, sei es in Wahrheit notwendig, sich vor dem Essen des eucharistischen Brotes durch Tränen der Umkehr und Almosen zu reinigen. Auch hier ist noch deutlich der Sinn für kultische Reinheit erhalten geblieben. Mit der Dimension der Reinheit stehen wir mitten in der allgemeinen Religionsgeschichte. Nicht Gott ist rein, er ist heilig. Aber rein müssten, sollten die Menschen sein, die sich der Gegenwart Gottes aussetzen, die heiliges Tun verrichten wollen. Es hat wohl keinen Sinn, das Christentum aus der Religionsgeschichte auszugrenzen. Denn gerade so ergibt sich die Möglichkeit, die Besonderheit des Christlichen für jeden Punkt neu zu bestimmen. Reinheit bedeutet in allen Religionen die Kultfähigkeit des Menschen. Er ist, das ist die gemeinsame Überzeugung vieler Religionen, nicht von sich aus geeignet, die Begegnung mit Gott aushalten zu können. Die Reinheit, um die er sich zuvor bemühen muss, auch wenn sie ihm letztlich immer geschenkt wird, ist auch ein Schutz vor der sengenden Heiligkeit Gottes; denn Gott ist verzehrendes Feuer (Hebr 12,29). Der Mensch, der Gott begegnen will, muss zumindest bereit sein, sich reinigen zu lassen, oder darum bitten. Nach Mk 7 verlegt Jesus den Ursprung von rein und unrein ins Herz. Er sieht den Ursprung der Unreinheit nicht außerhalb des Menschen, etwa in anderen Menschen oder in Dingen, durch deren Berührung Unreinheit ansteckend wirkte. Die Furcht, sich von außen her zu verunreinigen, war für die Pharisäer sehr bestimmend. Das bedeutet freilich nicht, dass man sie nun historisch insgesamt als »scheinheilig« verurteilen müsste. Jesus steht vielmehr in Mk 7 – und zwar gleich mehrfach – in der Linie, die vom Alten Testament her als prophetische Kultkritik zu beurteilen ist. Sie hat folgende Merkmale: 1. Die Propheten, die sich so äußern, verstehen sich als notwendiges Widerlager zum rituellen Kult. Sie achten darauf, dass die Menschen sich nicht mit der kultischen Verehrung Gottes zufriedengeben, sondern sich auch um die Mitmenschen kümmern. 2. Die prophetische Kultkritik plädiert nicht für eine Aufhebung des Tempelbetriebs überhaupt. Sie richtet sich nicht gegen den Tempel, sondern
Das Evangelium nach Markus
setzt sich – parteilich und engagiert – für eine ganzheitliche Gottesverehrung ein, die Kultus und Ethos umfasst. Jesus wird im Übrigen auch sonst häufig nach dem Bild von Propheten gedeutet. Das betrifft auch Wunder (Speisungsberichte, Totenerweckung) und die Verklärung (neben Mose und Elia), doch gerade bei der Verklärung wird er als Sohn auch deutlich von den Propheten unterschieden. 3. Was die kultische Gottesverehrung immer wieder in Zeichen andeutet, soll kein Selbstzweck werden, sondern die ritualisierten Metaphern (z. B. Besprengung mit Wasser) sollen zurückübersetzt werden in das alltägliche Leben (z. B. Gott gefallen, also rein sein, durch Wahrhaftigkeit). Der Kult hilft nicht Gott, sondern dient den Menschen zu grundsätzlicher Orientierung. 4. Die veränderte Position Jesu gegenüber den Pharisäern – unter Beibehaltung des zentralen Themas Reinheit (wie gezeigt) – bedeutet nicht einfach eine Option für Ethik oder gar Rationalismus. Vielmehr kennt Jesus und mit ihm auch Paulus etwas, das man das Prinzip der offensiven Reinheit nennen könnte. Das ist nichts anderes als absolute Vorleistung Gottes bei der Befreiung des Menschen von allen Formen und Folgen der Unreinheit und physischen Gottesferne. Die Reinheit der Pharisäer war demnach nur »defensiv«, das heißt: Pharisäer mussten immer fürchten, durch Kontakt von außen her verunreinigt zu werden. Pharisäer sahen priesterliche Reinheitsvorschriften auch für Laien als verbindlich. Insofern nehmen sie das Wort vom königlichen Priestertum ganz ernst und beziehen es (möglichst) auf das ganze Volk Gottes. Aber in nicht-priesterlicher Umgebung war ihre Reinheit stets gefährdet, was zur Folge hatte, dass Pharisäer sich absonderten (und wahrscheinlich kommt ihr Name von farasch = absondern). 5. Bei Jesus dagegen wird Reinheit nicht durch Freiheit von äußerer Unreinheit definiert, sondern positiv bewirkt, indem er selbst Träger des Heiligen Geistes ist. Als Sohn Gottes trägt er Gottes Geist in sich (deutlich nach Mk 1,10 f), und als »voll des Heiligen Geistes« kann er »unreine Geister« vertreiben. Damit hat bei Jesus der Gegensatz von Rein und Unrein eine exorzistische Seite bekommen. Die unreinen Geister oder Dämonen kann der austreiben, der den
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Heiligen Geist in sich hat. Und durch seine Beauftragung der Jünger zum Exorzismus teilt Jesus ihnen auch den Heiligen Geist mit. Damit sind Jesu Geistbesitz und ebenso seine Reinheit »offensiv« geworden: Er muss nicht fürchten, durch Kontakt mit Unreinem unrein zu werden. Daher wirkt nicht die Unreinheit, die von außen kommt, ansteckend, sondern im Gegenteil: die aus dem Herzen kommende, durch den Heiligen Geist verursachte Reinheit wirkt so – ansteckend heilend. Deshalb kann die Blutflüssige, die als unrein gilt, durch Berührung ansteckend geheilt werden. Jesus muss daher auch keine Angst haben, Tote zu berühren, denn sie werden durch ihn lebendig. Drum werden selbst noch bei Paulus (1 Kor 7,14) nicht getaufte Kinder oder Ehepartner per Ansteckung geheiligt, wenn der eine Ehepartner getauft ist. Auch bei Paulus geschieht das sozusagen automatisch, einfach per Kontakt und Zusammenleben. Diese offensive Reinheit gilt auch dort, wo es im weitesten Sinn um moralisches Verhalten geht, das aus dem Herzen des Menschen hervorgeht. Jesus spricht daher in Mk 7,15 ausdrücklich von Unreinheit. Denn es war im Frühjudentum üblich geworden, den gesamten Bereich der Gebote Gottes im Rahmen des königlichen Priestertums des ganzen Volkes zu beurteilen. Oder anders gesagt: Für den Bereich Gut/Böse gilt derselbe schroffe Dualismus (Zweiteilung) wie für Rein/ Unrein. Und in beiden Fällen kommt es darauf an, kompromisslos radikal auf Gottes Seite zu stehen. – Der Sinn von Rein und Unrein bleibt die dualistische Trennung von Leben und Tod. Ähnlich wie die Gleichnisrede Jesu in Mk 4 durch Wunder bekräftigt wird, so geschieht es auch mit der Lehre Jesu in Mk 7. Ging es bei den Wundern in Mk 4f um die Macht des Gottesreiches, so hier um das Reinmachen des Unreinen. Das betrifft die dämonisch besessene Tochter der Syrophönikerin (7,24-30), den Taubstummen im heidnischen (!) Gebiet der Dekapolis (7,31-27). Dabei steht das Gebrechen der Verbindung von Gehörlosigkeit und Aphasie durchaus in Beziehung zum Heidentum schlechthin. Denn das Gebrechen spiegelt nur, wie die heidnischen Götter sind: Sie haben Ohren und hören nicht, sie haben Mundöffnungen und sprechen nicht. Das Ganze entspricht genau der Schmährede auf heidnische
Götter in Ps 135 (134),16-18: »Sie haben einen Mund und können nicht reden, haben Augen und können nicht sehen. Sie haben Ohren und können nicht hören, auch ist kein Hauch in ihrem Mund. Ihnen gleich sollen werden, die sie verfertigten, jeder, der auf sie vertraut.«
Mk 8,1-9: Die zweite Brotvermehrung Warum aber bietet Mk zwei Speisungsberichte? Wie schon festgestellt, hat der Speisungsbericht in Kap. 6,35-46 auch symbolische Funktion: Er illustriert ein für alle Mal, dass Jesus seine Vollmacht ungemindert an seine Jünger weitergegeben hat. Denselben Sinn hat auch (außer der Demonstration messianischer Fülle) die zweite Erzählung von einer Speisung in Mk 8. Sie bekräftigt damit die Weitergabe der Reinheitslehre von Kap. 7 durch die Jünger (inklusive der Vollmacht zum Exorzismus und zur Heilung von Stummheit und Gehörlosigkeit). Auf diesem Weg wird die Doppelung der Speisungsberichte inklusive angehängter Bootsgeschichte plausibel: Gerade die massive Kombination von Speisung und Boot ist die Verbindung zweier ekklesiologischer Metaphern (Weitergabe der Speisung und Jünger im Boot; zu den Bootsgeschichten vgl. Berger, Der Wundertäter, 2010, 200-205). Die Wiederholung verleiht diesem Textblock den Charakter eines Refrains. 6,32-44 plus 6,45-52 ist wie 8,1-9 plus 8,10-21. Der Abschnitt Mk 6,32-52 steht gegen Ende der vollmächtigen Bestätigungen der Lehre von Kap. 4, der Abschnitt Mk 8,1-21 ist der Abschluss der Lehre von Kap. 7. Erst mit 8,22 beginnt grundlegend Neues. In jedem Fall bedeutet daher die Sequenz »Speisung plus Bootsgeschichte« einen Hinweis auf die Bedeutung der vorangehenden Lehre und ihre unverletzliche Geltung in der Jüngergemeinde. Die Menge der übrig gebliebenen Körbe voller Brot könnte etwas über den Trägerkreis sagen: Sind es im ersten Fall die Zwölf, im zweiten Fall die Hellenisten, also die Gruppe an der Grenze zu den griechisch sprechenden Heiden. Dem entspricht nämlich das behandelte LehrThema: bei den Zwölfen das Reich Gottes, bei den Sieben die Fragen von rein und unrein. Die Anzahl der Körbe gibt auch die Gewichtung der entsprechenden Lehre an. Zur Verbindung von
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168 Zwölferkreis, Predigt (vgl. Gleichnisse vom Wachsen) und Reich Gottes vgl. auch Mt 19,28. In jedem Fall ist die »Speisung plus Bootsgeschichte« in bestimmter Hinsicht ein Ausrufungszeichen hinter der dadurch kommentierten Lehre.
Mk 8,10-21: Zeichenforderung Obwohl Jesus für seine Lehre so kräftige Zeichen bis hin zur Totenerweckung geliefert hat, sind die Pharisäer damit noch nicht zufrieden. Und das – zumindest aus ihrer Sicht – mit gutem Grund: Bei allen Zeichen, die nur auf Erden gewirkt sind, bleibt der Verdacht bestehen, sie seien durch Zauberei gewirkt. Der Beelzebul-Verdacht von Mk 3,26 ist damit nicht wirklich beseitigt. Wenn jemand sich wirklich auf Gott und seine Inspiration beruft, dann müsste er ein Zeichen am Himmel wirken können, denn der Himmel ist Gottes Feld. Bei allem nur Irdischen könnte immer noch Satan seine Hand im Spiel haben. Ein Zeichen vom Himmel wäre demnach Sonnenfinsternis auf Befehl oder Veränderungen an Mond und Sternen. Denn erst das sind Dinge, die kein Mensch kann, weil keines Menschen Macht soweit reicht. Deshalb ist nach neutestamentlicher Anschauung der Teufel vom Himmel gefallen (Lk 10,16; Offb 12), sodass er dort keine Macht mehr hat. Der Leser des Evangeliums wird erfahren, dass bei Jesu Tod ein solches Zeichen am Himmel geschieht – also genau zu spät. In Mk 8 bekommen die Pharisäer nun in einer weiteren Bootsgeschichte die Antwort: Ihre eigene Lehre kann nicht nur kein einziges Zeichen aufweisen, ihre Lehre ist vielmehr ungenießbar wie Sauerteig (hier ist, anders als in Mt 13, Sauerteig in negativer Hinsicht gemeint), und das gilt auch von Herodes und seinem Treiben. Dass hier Herodes genannt wird, zeigt, dass der Sauerteig nicht nur die Lehre sein kann (die hat Herodes nicht), sondern das gesamte öffentliche Wirken (so auch beim Brot). Die Jünger dagegen begreifen nicht die Qualität des ihnen Anvertrauten. Hier wird nochmals deutlich, dass die Rede von Brot seit Kap. 6 auch stets eine metaphorische Bedeutung hat. Die Metaphorik von 8,18 stammt aus Jes 6,9; Verstockung bildet hier die Brücke zwischen
Das Evangelium nach Markus
dem Gehörlosen (Mk 7,32) und dem Blinden (Mk 8,22f). Jünger, die Jesus nicht verstehen, haben daher ein doppeltes Gebrechen (blind und gehörlos) und erfüllen noch dazu die Weissagung des Propheten Jesaja. Dabei ist festzuhalten: Verstockung ist nie der erste Schritt (Gottes) in der Beziehung Gott/Mensch, sondern stets geht menschlicher Ungehorsam voraus. – Nach dem oben zu Ps 134 Beobachteten kann es wohl sein, dass auch in Jes 6,9, zumindest im Verständnis Jesu oder des Evangelisten, der Vergleich mit Götzen im Hintergrund steht.
Mk 8,22 – 9,1: Heilung – Petrusbekenntnis – Leidensankündigung Der Aufbau dieses Abschnitts ist didaktisch klar konzipiert, und zwar so, dass die Leser in einen dramatischen Lernprozess einbezogen werden. In diesem Prozess geht es darum zu begreifen, wer Jesus ist, und dass zu dem Bekenntnis zu ihm in der Erkenntnis und in der Praxis das Leiden dazugehört. Das einleitende Wunder der Blindenheilung bei Betsaida (V. 22-26) hat wiederum für die Komposition (auch!) eine unübersehbar symbolische Funktion. Denn es steht zwischen der Feststellung Jesu von 8,18 (»Augen habt ihr und seht nicht …«) und dem Messiasbekenntnis des Petrus in 8,29 (»Du bist der Christus«). Der Leser musste daher fragen: Wie wird aus den verstockten Jüngern ein Petrus, der das wahre Bekenntnis formulieren kann? Wer hat den Jüngern zwischendurch die Augen geöffnet? Die Antwort gibt die Wundererzählung in 8,22-26. Sie steht allein bei Markus. Aber genau ihre Funktion nimmt bei Mt die Erklärung Jesu ein: »Du bist glücklich zu preisen …, denn dein Bekenntnis verdankst du nicht Menschen aus Fleisch und Blut, sondern meinem Vater im Himmel, der es dir geoffenbart hat« (Mt 16,17). Mt 16,17 formuliert daher als Makarismus (Seligpreisung) in der 2. Person, was bei Mk der symbolische Gehalt des Wunders leistet. Im Übrigen fehlt bei Mt in der Parallele zu Mk 8,14-21 auch die Verstockungsaussage. Hat Mt daher bei seiner Mk-Rezeption das Wunder durch die Seligpreisung ersetzt? Und ist die Seligpreisung auch »positiver«, als es die Abfolge von Kritik an
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Kapitel 8
der Verstockung und ihrer symbolische Heilung je hätte sein können? Die Nennung von Alternativen bei der Identitätsbestimmung ist eine biblische Gattung (vgl. auch ThomasEv 13 und die apokryphen Apostelakten): Zuletzt wird stets der genannt, der das »richtige« Bekenntnis aus der Sicht des jeweiligen Evangelisten liefert, also bei den Synoptikern Petrus, im ThomasEv eben Thomas (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 292). Zu Mk 8,30: Das Verbot des Weitersagens (so auch Lk 9,21) rührt daher, dass Jesus das Bekenntnis zu seiner messianischen Würde ohne die Dimension des Leidens nicht nur für falsch, sondern für geradezu satanisch hält. Das wird sogleich in den nächsten Versen (8,31-38) deutlich werden. Das Bekenntnis des Petrus zur Messianität Jesu wird sich insofern als nicht besser erweisen als das Bekenntnis der Dämonen in Mk 1,24, das Jesus aus dem gleichen Grund unterbindet. Denn ein Dämon hat nur die Erkenntnis, kann aber nicht leiden (oder gute Werke tun; s. Jak 2,19f). Mit der bloßen Theorie aber ist niemandem geholfen. Wegen dieser Ähnlichkeit mit den Dämonen wird Petrus Satan genannt werden (8,33b). Und weitersagen dürfen die Jünger erst, wenn sie die Notwendigkeit des Leidens Jesu erkannt haben oder wie Petrus vom Leugnen, einen leidenden Jesus überhaupt zu kennen, unter Tränen umgekehrt sind. Deshalb dürfen die Jünger erst nach Ostern von Jesus als dem Sohn Gottes berichten (Mk 9,9); denn dann, so ist sich Jesus gewiss, werden sie den Weg des Leidens als zum Menschensohn dazugehörig erkannt haben. In den Aussagen über den Menschensohn kann diese Erkenntnis, wie Mk 8,31 formuliert, untergebracht werden, im bloßen Messiasbekenntnis nicht. Denn beim Menschensohn geht es um einen Weg. Zum Drei-Phasen-Modell vgl. oben zu Mk 1.
Mk 8,31-38: Erste Leidensankündigung In dem Abschnitt aus Mk 8,31-38 geht es zunächst um das Verhältnis von Bekenntnis und Leiden. Die Frage ist, ob der, wer sich zu Jesu Würde bekennt, auch dessen Geschick ins Auge fassen und »bewältigen« kann. Petrus kann das
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170 Jünger – Auflösung des Bildes (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 28). Das Menschensohnwort in 8,31 ist für die Jünger das rätselhafte Bildwort, in 8,32f schildert Mk drastisch das Unverständnis des Petrus, und in 8,34-38 geht es um die Erläuterung für die Jünger. Unser Blick auf 9,30-37 wird zeigen, dass auch dort dasselbe Schema vorliegt. Durch die Entdeckung dieser Struktur an dieser Stelle kann Folgendes gewonnen werden: Der Ausdruck Menschensohn inklusive seines Geschicks wird als Rätselrede begriffen. Das ist schon in den Bilderreden des Henochbuches der Fall. Der Menschensohn ist eine bildhafte Rätselgestalt. Sodann wird der scharfe Tadel an Petrus formgeschichtlich verständlich, es gibt eine Möglichkeit, diese Rede Jesu einzuordnen. Man vergleiche nur in ähnlicher Funktion Mk 4,11-13. Schließlich wird die Jüngerparänese in Mk 8,3438 als Auslegung und Applikation des Menschensohnwortes von 8,31 verständlich. Das Gleiche findet sich in 9,30-37. So wird Mk 4,44f bestätigt: Jesus redet und lehrt in Parabeln, und die Menschensohnworte gehören dazu! Schließlich wird auch Mk 9,1-13 verständlich. Der Abschnitt meint die ausnahmsweise Enthüllung des in Mk 8,31 ff erörteten verborgenen Geheimnisses. Auch hier wird der Evangelist mit demselben Strukturschema arbeiten. Man kann auch, da Jesus hier direkt mit dem Satan zu tun hat, den Bericht Mk 8,32f als einen neuerlichen Versuchungsbericht begreifen. Dann könnte man an Mk 1 erinnern: Der Sohn Gottes wird nach der Taufe versucht; aber auch an Getsemani und an die Aufforderungen, die an den gekreuzigten Jesus gerichtet werden (bei Mt ja wie in Mt 4 mit der Formel eingeleitet »Wenn du der Sohn Gottes bist …«; vgl. Mt 4,3 mit Mt 27,40b). – Dabei sind der Erwählte und der Teufel sozusagen ein »mythisches Paar«. Auch in TestHiob begegnet Satan dem neubekehrten Hiob als Versucher, so auch den Thessalonichern nach 1 Thess 3,5. Jesus ist zwar nicht neubekehrt, aber an der Echtheit seiner Erwählung haben die Christen größtes Interesse. Zu Mk 8,34-38: Aus diesen Versen wird erkennbar, dass ein Bekenntnis, das das Leiden des Menschensohnes umfasst (8,31), direkte Konsequenzen für den Leidensweg der Jünger Jesu
Das Evangelium nach Markus
haben muss. Das Wort vom Auf-sich-Nehmen des Kreuzes dürfte keineswegs zwingend erst nach Ostern formuliert sein. Denn was ein Kreuz ist, war den Menschen, zumal denen in Palästina, bekannt. 8,34 fordert schlicht dazu auf, den Weg der Schande zu gehen, denn Kreuz meint die Negation bürgerlicher Ehren und Ehrungen, also: Abkehr vom Sammeln von Reichtum, Macht, Glanz, von Dingen, auf die man stolz sein könnte, von Beziehungen, Auszeichnungen und Würdetiteln. Kreuz heißt: alles das für abwegig halten. Es ist Leiden, aber zugleich Freiheit. Der Weg der Schande ist der Weg des Friedens. Denn alles, weswegen man neidisch sein könnte, ist entfallen. Nachfolgen bedeutet auf jeden Fall: dem vorausgehenden Jesus ähnlich werden. Dies aber heißt: den Weg zum Heil, zur Erlösung und Versöhnung gehen. Diese Nachfolge wird nie einfach im Tod enden. Sie ist, wie z. B. aus Mk 10,17-19 erkennbar wird, der Weg zum ewigen Leben. Wer sich selbst verleugnet (d. h. nicht zuerst immer an sich selbst denkt), kann nicht den Herrn verleugnen, wie Petrus das tun wird. Jesus wird, wenn der Leugner nicht umkehrt, diesen im Gericht verleugnen. Denn verleugnen und sich schämen sind Synonyma. Das verbindende Leitwort in 8,35.36.37 ist »Leben« (griech.: psyche), das Thema der Spruchreihe: Nachfolge Jesu und Bekenntnis zu Jesus sind riskante Parteinahme gegen den Strom. Vergleichbar ist auch von der Sprache her Lk 21,19 (wörtlich: In eurer Geduld werdet ihr euer Leben gewinnen; vgl. 4 Makk 17,11f). Zu Mk 8,35 kann man fragen: Warum ist es wahr, dass der, der aufgibt, findet? Antwort: Es kommt darauf an, warum man aufgibt. Wenn es »wegen Jesus und wegen des Evangeliums« geschieht, dann gilt: Alles wirklich Wichtige im Leben wird vom Himmel geschenkt. Die Unterbrechung unseres Habenwollens ist die Chance, Gottes Freigiebigkeit zu begegnen. An die Stelle des zielstrebigen menschlichen Willens zur Selbstverwirklichung setzt Jesus den Rhythmus von Loslassen und Empfangen. Die Unterbrechung der Vitalinstinkte ist der Weg, das Leben neu und in ganz anderer Hinsicht, als es bisher gelebt wurde, noch einmal geschenkt zu bekom-
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men. Insofern ist die Geschichte von Abraham und Isaak nicht einfach »wegen Grausamkeit« auszurangieren. Die Unterbrechung ist die Chance, dem Heiligen, dem Ursprung alles Lebens zu begegnen. Ursprünglich geht es um einen Topos der Feldherren-Rede: Der Haudegen gewinnt, den Feigling erwischt es (»Die es wagen, beieinander zu bleiben, und im Handgemenge als Vorkämpfer gehen, sterben seltener und retten das Volk hinten«; Tyrtaios, Lyr. Fragm. 8). Schon eine allgemeinere Regel zieht daraus der jüdische Pseudo-Menander 55: »Lass deinen Mut niemals sinken und weiche im Kriege nicht zurück; denn jeder, der im Krieg nicht zurückweicht und sich dem Tod aussetzt, bleibt am Leben, gelangt zu gutem Namen und wird gerühmt.« Bei der Flucht, die Lk 17,33 kommentiert, geht es noch immer buchstäblich um das nackte Leben. An allen anderen neutestamentlichen Stellen steht der Mut zum Loslassen im Vordergrund, auch wenn vom »das Leben hassen« oder »das Leben lieben« gesprochen wird (Mk 8,35; Lk 9,24; Mt 16,25; Lk 14,26; Joh 12,25). In Joh 12 deutet Jesus selbst sein eigenes anstößiges Geschick mit dieser Tradition. In Mk 8,36 geht es um die Frage nach dem Kostbarsten, denn das ist das, wofür man nichts eintauschen würde. Daher handelt dieser Vers von Scheingewinn und echtem Verlust. »Die Welt gewinnen« ist auch missionarischer Terminus. Und jedenfalls ist »die Welt gewinnen« in jeder Hinsicht das Gegenteil von »Kreuz«. Die ganze Welt zu gewinnen ist auch nach Mt 3 und Lk 4 eine der Versuchungen Jesu. Zu Mk 8,38: Jesus ist der verborgene Menschensohn (zur Relation Jesus/Menschensohn vgl. zu Mk 8,38; 9,12). Das Besondere: Die Gottheit Jesu wird hier daran erkennbar, dass die Talio gilt. Für Menschen ist diese Art der Vergeltung verboten. Sie gilt nur für das, was man Gott selbst antut, so z. B. nach 1 Kor 3,17. Im Menschen-
sohn begegnet daher Gott selbst. – »Diese Generation« ist keine Zeitangabe, sondern ein Werturteil. Wer den bösen Menschen nachgibt, der schämt sich Jesu und seiner Worte. Das geschieht zum Beispiel, indem man ihn nicht zitiert. Auffallend: Das Bekennen erwartet Mk 8,38 gar nicht (anders: Mt 10,33; Lk 12,9), sondern nur, dass man sich seiner nicht schämt. Im Unterschied zu Mt; Lk soll der Christ geradezu das Martyrium vermeiden. Er muss nicht aktiv bekennen, nur ableugnen sollte er nicht. – Wenn der Menschensohn sich eines Christen schämt, dann heißt das: Er wird nicht ihr Patron (Anwalt) vor Gericht sein, er lässt die Anklagen kritischer Engel unwidersprochen. Zur Szene vgl. Mt 7,22 f. – Die Engel sind hier das Gerichtsforum, denn die Engel sind notorisch kritisch gegenüber den Menschen. Wenn Jesus Christus sich zu einem Menschen bekennt, so heißt das: Er tut im Himmel das, was Empfehlungsbriefe auf Erden leisten. – Beachte: Mt 10,32f ist kein Menschensohn-Wort. – 8,38 ist mit 9,1 durch das Stichwort des eschatologischen Kommens verbunden. Doch ob das Kommen des Menschensohnes (8,38) zeitgleich mit dem Kommen des Gottesreiches in Macht anzusetzen ist, wird zu diskutieren sein. Ergebnis zu Mk 8: Die Worte Jesu in Mk 8,34-38 sind eine überraschend deutliche »Anwendung« des Geschicks des Menschensohnes von 8,31 auf die Jünger. Auch hier besitzt daher der Ausdruck Menschensohn kirchliche Aspekte. Doch vom Verhältnis der Jünger zueinander ist nicht die Rede. Jesus spricht lediglich von dem, was die Jünger gewinnen, wenn sie das Bekenntnis zu Jesus an die erste Stelle setzen und die Nachfolge Jesu als das Kostbarste ansehen. Im Bekenntnis die Identität gewinnen und die Dinge der Welt loslassen – das ist der Weg zum Leben. Das hat Züge einer Märtyrerethik und eines gemäßigten Dualismus.
Mk 9-12: Verklärung – Heilung – Unterweisung – Jerusalem Mk 9,1-37 ist abschließende Enthüllung über Jesu Identität, bevor in 9,38 das »Jüngerevangelium« beginnt.
Zu Mk 9,1: Der Vers gehört (trotz Stichwortverknüpfung mit Mk 8 durch »kommen«) durchaus zu Kapitel 9, denn die Paränese an die Jünger
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172 von 8,34-38 hat hier aufgehört. 9,1 ist nicht Paränese, sondern Verheißung. Weil man Mk 9,1 für den Termin des Kommens des Reiches mit Macht auf die dann folgende Verklärung bezog, bestand in den ersten 1800 Jahren der Kirchengeschichte nicht die Notwendigkeit, aus der Zeitangabe Jesu hier auf einen grundlegenden Irrtum Jesu im Termin zurückzuschließen. Dass man Mk 9,1 auf die Verklärung bezog, halte ich aus folgenden Gründen für richtig: Obwohl der Ausdruck »Reich Gottes« in der Verklärung nicht vorkommt, kann gelten: Gerade die Verknüpfung von Reich Gottes und Sohn Gottes (9,1 und 9,7) ist typisch und exklusiv christlich. Das gilt für das Vaterunser (»Vater« als Anrede der Kinder »dein Reich komme«); es gilt auch für die Beurteilung des Täufers in Lk 7,28 (»unter denen von einer Frau Geborenen … [sc. im Unterschied zu den aus Gott Geborenen] der Kleinste im Reich Gottes«), sowie für die Erzeugung der Gotteskinder nach Joh 1-3 (Joh 1,13: »die aus Gott geboren sind«; Joh 3,5: »Wer nicht geboren wird aus Wasser und Geist [d. h. aus Gott, von oben her], der kann nicht eingehen in das Reich«). Das heißt: Die Kinder des Reiches sind die Kinder Gottes. Denn der König des himmlischen Königreiches hat nicht Untertanen, sondern Kinder. Wenn daher durch die Stimme Gottes Jesus als Kind Gottes angeredet wird, dann ist das ein Zeichen für die Gegenwart des Gottesreiches. Und weil die verwandelnde Kraft dieses Reiches Jesu Leib verklärt, ist das Reich hier nicht als Wort oder Theorie gegenwärtig, sondern als Macht, die Jesu Leib durchdringt und strahlen macht. Für die verwandelnde Macht des Gottesreiches ist auch 1 Kor 15,50f zu nennen (nicht Fleisch und Blut, sondern Unvergänglichkeit und Verwandlung). Resultat: Genau das, was die Verklärung nach Mk 9 wirklich bedeutet, nämlich das ewige, unvergängliche Leben des Sohnes Gottes, gilt in den Parallelen eben vom Reich Gottes. Zum Geschehen der Verklärung selbst kann man eine Reihe von Analogien nennen, doch keine trifft genau. Es kann geschehen, dass der Säugling in hellem Licht erscheint (Elia; Noah); das ist dann ein Prodigium (Vorzeichen) für die künftige Größe dieses Mannes. Es kann auch sein, dass missionarische Gestalten wie Abraham
Das Evangelium nach Markus
oder Stephanus »verklärt« werden, aber dann bezieht sich das hauptsächlich auf das Strahlen des Gesichtes bzw. der Augen (vgl. ferner der Pinhas, Daniel, Jeremia, der Apostel Philippus, der Hohepriester Hananja), und hier ist dann Mose das sicher bekannteste Vorbild. Aber das betrifft dann vor allem Gesicht und Augen. Philo entmythologisiert das Auftreten Abrahams als Missionar. Am nächsten bei Mk 9 steht Jeremia nach dem koptischen Jeremia-Apokryphon: »Dann sah Abimelech den Propheten Jeremia … leuchten wie die Sonne.« Bei der Verklärung von Säuglingen dagegen bezog sich die Verklärung gerade auch auf die Windeln (vgl. dazu Berger/Colpe, Religionsgesch. Textbuch, Nr. 68-70). Für das Gespräch Jesu mit Mose und Elia ist auf eine weitgehend unbekannte Analogie in einer anonymen Apokalypse aus Achmim (ebd., Nr. 69) zu weisen, in der es vom Visionär heißt: »Er lief nun zu allen Gerechten, welches Abraham ist und Isaak und Jakob und Henoch und Elia und David. Er unterhielt sich mit ihnen wie ein Freund mit einem Freunde, indem sie sich miteinander unterhielten.« Das Motiv der körperlichen Verwandlung fehlt hier nicht, denn es ist von der »Herrlichkeit« die Rede. Aus alledem geht für den Sinn und die Bedeutung der Verklärung Jesu hervor: Der aus Gott Geborene (Sohn Gottes) weist in seiner Jugend oder später zu bestimmten Zeiten verklärte Körperteile auf, besonders das Gesicht und die Kleider. Der Vergleich mit Engeln wird öfter gezogen; die Ähnlichkeit mit »Feuer«, mit der »Sonne« oder besondere Schönheit sind weitere Attribute. Der von Gott erwählte Mensch ist daher ästhetisch ausgezeichnet und weist insofern auf den Himmelsgott. Die Lichtphänomene sind Begleitung der Predigt des Missionars; am deutlichsten ist die Verwandtschaft freilich in der Mose-Tradition, denn die Stimme Gottes auf dem Sinai entspricht in Mk 9,7 wiederum der Stimme Gottes. So wird man aus mehreren Gründen die »Vorlage« für Mk 9 besonders in der Verklärung des Antlitzes des Mose im Zusammenhang der SinaiOffenbarung suchen dürfen. Die frühen Christen haben um beides gewusst, wie 2 Kor 3 zeigt. In der Ausgestaltung von Mk 9 weisen folgende Punkte auf eine große Affinität zu den Sinai-Texten – Mk 9,2: »nach sechs Tagen« wie Ex 24,16 (sechs Tage/am siebten Tag [Vorbereitung des
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Kapitel 9
Aufstiegs]); Mk 9,2: »hoher Berg« wie Ex 24,16 »Berg [Sinai]«; Mk 9,7: »Wolke« wie Ex 24,16 »Wolke« [Zeichen der Gegenwart Gottes]; Mk 9,7: Partner sind Gott-Vater und Jesus, Ex 24,16 Partner sind Gott und Mose, d. h. in beiden Fällen spricht Gott; Mk 9,5 griech. treis skenai, »drei Zelte« entspricht dem Offenbarungszelt in Ex 26.33.39 (s. u.); Mk 9,7: »Hört auf ihn« wie Dtn 18,15 »auf ihn sollt ihr hören« [Jesus ist der Prophet wie Mose]; Mk 9,3: Verklärung Jesu wie Ex 34,29b Antlitz des Mose verklärt; Mk 9: Moses und Elia sind gegenwärtig. Von Mose kann das deshalb gesagt werden, weil »niemand das Grab des Mose kannte, und man daher annahm, dass er entrückt wurde« (Josephus, Ant 4,326). Auf die Sinai-Erzählung folgt der Bericht vom Bundesschluss. Bei Mk steht dieser in 14,23 f. Denn die Deuteworte zum Becher sind Ex 24,8 entlehnt: »Dies ist das Blut meines Bundes, ausgeschüttet für viele« bei Mk entspricht den Worten des Mose: »Das ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch aufgrund dieser Satzungen geschlossen hat« (vgl. zu Mk 14,23f). Im MkEv sind daher die Szene der Offenbarung (Kap. 9) und der Bundesschluss (Kap. 14) auf zwei Kapitel verteilt. Doch das ändert nichts an ihrer Zusammengehörigkeit. Diese zweifach entfaltete Typologie hat theologisch zentrale Bedeutung für das MkEv: Jesus ist der Prophet, von dem Mose nach Dtn 18,15 sagt: »Einen Propheten gleich mir wird der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte heraus, aus deinen Stammesbrüdern erstehen lassen; auf ihn sollt ihr hören.« Dass Jesus dieser Prophet ist, darauf weist sein Name Jesus; denn das ist auch die griechische Form des Namens Josua, auf den Dtn 18,15 nach historischem Verstand zuerst zu beziehen ist. Doch Jesus ist mehr als ein Prophet: Das Gespräch Jesu mit den beiden – einer Erscheinung gewürdigten – Propheten Mose und Elia zeigt, dass der »neue Josua« dem Rang nach mindestens ihnen gleich steht. Die Himmelsstimme sagt, dass seine Würde noch größer ist: Er ist der Sohn, nicht nur Sklave wie die beiden Propheten. Deshalb sollen die Jünger auf ihn hören. Denn er steht der Würde nach Gott näher als sie. Um diese Frage geht es auch in der Anfrage des Petrus nach 9,5, die Missverstehen offenbart. Denn drei Zelte zu errichten würde eine Pluralität und Gleichrangigkeit der drei Gestalten vorausset-
173 zen. Petrus denkt, dass man jetzt drei Offenbarungszelte braucht. Das anzunehmen ist jedoch Zeichen des Missverstehens der visionären Szene. Im Aufbau entspricht daher Mk 9,2-8 dem bekannten Schema von Bild-Offenbarung: Offenbarung durch Vision (9,3-4) – Phase von Unwissen und Tadel (9,5-6) – Erklärung durch Audition (9,7). Die Unterscheidung zwischen den Propheten als Sklaven und Jesus als dem Sohn ist eine der grundlegenden Auskünfte des ältesten Christentums über das Verhältnis von alter und neuer Offenbarung, so auch in Mk 12,1-10; Hebr 3 und Gal 4 (hier nicht nur auf die Propheten bezogen, sondern generell auf Juden ohne Christus und auf Christen). Das Alte wird so nicht entwertet, denn das Selbstverständnis als Sklaven entspricht ja dem des Gottesvolkes. Aber Dtn 18,15 wird erfüllt, und die Kindschaft gegenüber Gott löst ja in der Heilszeit durchaus auch nach der Erwartung Israel die vorige Zeit ab (»Ich will ihr Vater sein, und sie sollen meine Kinder sein«). Das Neue ist daher Erfüllung, nicht Beseitigung oder Auflösung des Alten. Jesus ist als Sohn mehr als Mose. Und weil er der »geliebte Sohn« ist, liegt hier (im Unterschied zu dem, was Hebr 12,1821 schildert), eine Theophanie ohne Schrecken vor. Die Botschaft des Neuen Bundes aber ist die Lehre Jesu nach dem MkEv. Auf den Sohn hört man, wenn man das MkEv liest. Was er sagt, ist der Schlüssel für jeglichen Willen Gottes. Dieser Tatbestand ist keineswegs ein Bruch mit Torah oder gar Judentum. Es wird daraus dieselbe Einstellung gegenüber beiden Größen erkennbar, die wir von der Bergpredigt her kennen, die aber auch Paulus in den Mahnreden seiner Briefe zeigt: Die Kategorie Torah bleibt völlig unangetastet. Auch dem Mose lässt man, was des Mose war. Nur der Inhalt der Torah wird unter dem Titel »Gerechtigkeit« je neu gefasst. So ist man gesetzestreu, aber nicht legalistisch oder biblizistisch hinsichtlich des Buchstabens. – Die Forschung hat sich viel zu stark an einer biblizistischen Auslegung von Mischna und Talmud festgemacht. Die Apokalyptik zeigt ein ganz anderes Bild, denn dort wird die Torah in ihren ethischen Bestimmungen fast nirgends zitiert (vgl. die Paränesen des Henochbuches und die Testamente der Patriarchen). Dennoch ist das Gesetz stets Israels Auszeichnung. Unter der Überschrift »Gerechtigkeit«
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174 bildet sich vielmehr im Frühjudentum eine Richtung heraus, die das Gesetz je neu inhaltlich festlegt (vgl. dazu K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu, 1972, 32-55). Der antijüdische Vorwurf der Starrheit ist daher völlig unangebracht. Beim Vorgang der Verklärung gebraucht Mk ein theologisches Modewort seiner Zeit: Verwandlung (griech.: metamorphosis). Der Maßstab der Verwandlung ist die Herrlichkeit (Lichtglanz) Gottes, von der der Mensch körperlich ergriffen wird. Während im außerjüdischen Hellenismus die Verwandlung von Menschen in Richtung Natur erfolgt (Daphne, Philemon und Baucis), ist in der jüdischen Literatur der Himmelsreisen die Anpassung der menschlichen Leiblichkeit je und je erforderlich, wenn der Mensch in eine neue Sphäre in der Himmelshöhe gelangt ist, bzw. wenn er herabsteigt. Der Leib wird hier als ein Kleid aufgefasst, das je nach Entfernung zu Gott mehr oder weniger herrlich leuchtend ausfällt (vgl. etwa das erweiterte Martyrium des Jesaja). Jesus wird auf dem hohen Berg verwandelt, weil dieser Berg den Himmelsberg abbildet und weil er so mit den Himmelsbewohnern Mose und Elia kommunizieren kann. Das Herabsteigen vom Berg der Offenbarung ist ein Topos der Himmelsreisen; vgl. dazu z. B. Corpus Hermeticum 13,1: »Da ich dich aber um Hilfe bat bei dem Abstieg vom Berge nach meiner Unterredung mit dir, fragte ich dich nach der Lehre von der Wiedergeburt, um sie zu erfahren …«
Zu Mk 9,9-13: Jüngerbelehrung Die Jünger verstehen noch nicht den Unterschied zwischen der in 9,9 angekündigten Auferstehung Jesu und der allgemeinen Totenauferstehung. Vor der allgemeinen Auferstehung muss Elia kommen, weil er überhaupt vor dem Kommen Gottes kommt, um alle Dinge »wiederherzustellen«, d. h. für die Ankunft Gottes vorzubereiten (V. 12), nach Sir 48,10: Israel zu bekehren. Soweit die allgemeine Eschatologie. Aber nun wird der Menschensohn vorher auferstehen, und zwar nach seinem notwendigen Leiden. Aber auch in diesem Sonderfall gibt es eine Elia-Vorläuferschaft. Und wie der Menschensohn leiden muss, so auch Elia; das ist bereits geschehen; die apokalyptische
Das Evangelium nach Markus
Tradition kennt den Tod des Messias durch den Antichrist; nach Mk ist das wohl Herodes. Man kann daher sagen: In der Gegenwart gibt es schon die Kombination Elia plus endgültiger Heilsträger (Menschensohn), und zwar mit drei Besonderheiten: Es ist das Geschick nur zweier Personen (des Täufers und Jesu), nicht allgemeines Weltgeschehen; es ist mit Leiden verbunden (der Täufer und der Menschensohn mussten bzw. müssen leiden), im Falle des Menschensohnes folgt aber dessen individuelle Auferstehung. – Damit gibt es auch hier jene Vor-Eschatologie, die ein besonderes Merkmal der neutestamentlichen Auffassung vom Menschensohn ist. Sie bildet die künftige ab, aber jetzt noch modifiziert durch Leiden, Individualität und die Auferstehung des Menschensohns. Im Sinne des MkEv könnte es gut sein, dass durch diese Vor-Eschatologie die Bedingungen zur Teilnahme an der späteren allgemeinen Auferstehung angegeben sind, nämlich Aushalten von Leiden, Nachfolge, Bekenntnis zum Menschensohn und Zugehörigkeit zu ihm. Dabei wird mit einem erneuten Kommen des Elia wohl nicht gerechnet; er ist ja schon wiedergekommen und durch den gottlosen Herrscher schlechthin ermordet worden. – Durch diesen Ablauf der Ereignisse steht jedenfalls fest: Jesus ist der Menschensohn, dem Elia vorausgeht (der Menschensohn ist wohl der Stärkere, den der Täufer nach Mk 1,7 verkündet). Mit der Auferstehung des Menschensohnes hat nach diesem Abschnitt die Endzeit begonnen. Denn als der Auferstandene kommt er wieder (also vom Himmel her, s. Mk 13,22), als der Auferstandene wird er nach Ostern seine Boten senden. Messiasgeheimnis II (Zu Messiasgeheimnis I s. o. zu Mk 1, S. 140-142) – Mit gutem Grund war Mk 9,9 einst der Ausgangspunkt für die Diskussionen um das Messiasgeheimnis. Wie schon dargestellt, war für W. Wrede Mk 9,9 der Hinweis auf ein – auch für antike Vorstellungen – kriminelles Verhalten des Fälschers Markus. Denn natürlich (!) gab es die Messianität nach Wrede erst als nachösterliche Erfindung der Gemeinde, wer auch immer den Mut zu solcher unnützen Vergottung gehabt haben mochte. Wer dagegen die Treue und die Fähigkeit zum Zuhören und Weitergeben beim
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Evangelisten höher schätzt als seine Raffinesse, wird zu einem anderen Ergebnis gelangen. Ein Gedankenstrang wurde bereits sichtbar: Auf ein Bekenntnis des bloßen Titels Jesu ohne Berücksichtigung seines Leidens und des möglichen eigenen Leidens der Jünger für dieses Bekenntnis legt Markus nicht nur keinen Wert, sondern für ihn wäre so etwas geradezu dämonisch. Am Beispiel des Petrus wird das überdeutlich. Weder »theoretisch« (in seinem Bekenntnis) noch praktisch (als Ableugnung und mangelnder Mut zum Bekennen) kann er sich mit einem leidenden Jesus anfreunden. Das petrinische Drama reicht von Mk 8 bis zum bitterlichen Weinen bei der späten Einsicht und Umkehr. Das Gebot Jesu an die Dämonen, den Mund zu halten, ist daher nicht weniger merkwürdig als die Titulierung Petri als »Satan« in Mk 8. Aber damit ist Mk 9,9 noch nicht erklärt: Warum dürfen die Jünger erst nach der Auferstehung Jesu berichten? Und warum wird Jesus hier Menschensohn genannt (wie auch dann in V. 12), wie es sonst bei den Schweigegeboten nicht der Fall ist? Nun gibt es eine aufschlussreiche Parallele zu Mk 9,9 in dem Jesuswort Mt 10,27f: »Was ich euch im Finstern leise sage, das sagt laut bei Licht. Was ihr drinnen ins Ohr geflüstert bekommt, das verkündet laut von den Dächern aus. Habt keine Angst vor denen, die euch zwar leiblich umbringen, doch euer Innerstes nicht töten können. Habt aber Angst vor Gott.« Der Zeitpunkt, von dem ab die Jünger auf den Dächern verkündigen sollen, ist wohl sicher die Zeit, in der Jesus nicht mehr da ist, und es ist auch die Zeit vor dem Weltende, die Zeit der Mission. Aber noch einmal die Frage: Warum gibt es hier eine Abfolge von vertraulicher und öffentlicher Rede? Die Antwort müsste auch das Thema Bekenntnis und Leiden sowie die Funktion der Verklärung Jesu bei alledem berücksichtigen. – Dann aber sieht es so aus: 1. Nach dem Neuen Testament gilt für die Zeit bis zum Gericht, dass der Menschensohn verhüllt und verborgen ist (vgl. zu Mk 8,38; 9,12) 2. Zur Verhüllung gehört auch immer das Thema der Aufhebung der Verhüllung. Das Judentum hat bis zur Zeit des NT in aller Regel nicht mit dem Problem der verborgenen Identität des Heilsbringers zu kämpfen, weder beim Menschensohn noch beim Messias (Ausn. Justin mit
175 Oracula Leonis). Das ist erst typisch christlich, weil die entscheidende Offenlegung seiner Identität »erst noch kommt«. 3. Die Enthüllung des Verborgenen geschieht sukzessive; dazu gehören Verklärung, nachösterliche Verkündigung und die Evangelien selbst bis hin zur Vision des Stephanus (der Menschensohn zur Rechten Gottes) und zur Enthüllung des Menschensohnes im Gericht. 4. Es bedarf daher einer wichtigen Korrektur der urchristlichen Auffassung von Geschichte: Phase I ist die Zeit Jesu auf Erden. Die Identität Jesu wird nur Wenigen erkennbar, auch in der Verklärung. Phase II ist die Zeit der Verkündigung in der Mission und »von den Dächern«, auch in den Evangelien (daher wird liturgisch die Verlesung des Evangeliums als Epiphanie gefeiert). Phase III ist die Offenbarung des Menschensohnes als die des Sohnes Gottes. Diese Enthüllung bedeutet zugleich auch die Offenlegung der Qualität der Menschen und insofern »das Gericht«. Die Nennung der Auferstehung bei der Verklärung in Phase I ist daher ein gezielter Vorgriff auf Phase II. 5. Die Leidensbereitschaft der Verkündiger (inklusive ihr Bekenntnis zum Leidenden Messias) gehört dazu, weil in ihrem Verkanntwerden und Leidenmüssen die Jünger Anteil haben müssen am Geschick ihres Meisters. Nur so sind sie glaubwürdig. In allen Aussendungsreden wird daher den Jüngern angekündigt, dass sie werden leiden müssen. Diese Ankündigung geschieht nicht nur der Vollständigkeit halber. Das Problem, das Petrus hatte (vgl. zu Mk 8,32f), bezog sich daher schon immer auf das Leiden des Messias wie auf das mögliche Leiden des bekennenden Jüngers. Beides gehört zusammen. Das Problem wiederholt sich in der späteren Gnosis; denn das angepasste Bekenntnis des Gnostikers (Jesus habe nicht selbst gelitten, sondern ein anderer an seiner Stelle) ist ein Weg zur Vermeidung von Martyrium: Wenn Gottes Sohn nicht leidet, braucht auch der gnostische Christ nicht zu leiden. Nach dem Neuen Testament muss der Jünger Jesu die Zeit der notwendigen Verborgenheit achten und »die ganze Epoche aushalten«. 6. Die Äußerung Jesu im JohEv wird verständlich: Die Jünger werden »Größeres« tun (Joh 14,12) als er selbst; denn sie können offener handeln als Jesus, weil sie in ihrer Zeit nicht
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176 halb verborgen operieren müssen. Und weil die Zeit des Menschensohnes auf Erden die Zeit seiner Verborgenheit ist, muss in Mk 9,9 der Menschensohn genannt werden. Die Evangelien sind partielle Enthüllung. Das entscheidende Stichwort in diesem Konzept ist die »sukzessive Enthüllung«. Anders als in der nicht-christlichen jüdischen Apokalyptik geschieht die Enthüllung nicht nur in den geheimen apokalyptischen Büchern, sondern offen als Mission. Bücher müssen nicht leiden, wohl aber Menschen, die vom Menschensohn zeugen, wie es Stephanus tut, der daraufhin gesteinigt wird. Die Grenze der apokalyptischen Offenlegung vor dem Gericht ist dagegen erreicht, wo es im äth Henochbuch heißt, es sei gut, dieses Buch in verschiedenste Sprachen zu übersetzen. Fazit: Das Messiasgeheimnis betrifft nicht isoliert die Identität Jesu, sondern ist verbunden mit einem ganzen Geschichtsbild und auch mit der Leidensbereitschaft der Jünger. Als Konzeption entsteht es bereits aus der schlichten »Verlegenheit« Jesu selbst, seine Identität und seine Rolle nicht klar einsichtig machen zu können, sondern – wie eben alle Eschatologie – sie im Wesentlichen in der Zukunft zu verankern. In der Gegenwart bleiben nur Zeichen; dazu gehören auch die Wunder. Sie sind Zeichen für das, was Gott im Ganzen mit den Menschen vorhat. Zur theologischen Bedeutung dieses Ansatzes im MkEv. Derselbe Ansatz findet sich bei den großen Themen der Markusdeutung: Wunder- und Messiasgeheimnis: Wo immer es erzähltechnisch möglich ist, verbietet Jesus das Weitersagen (zumindest bis zur Auferstehung). Nach außen hin betrachtet steckt die Strategie dahinter, vorzeitige Konflikte mit Außenstehenden (seien es Juden oder Römer) zu vermeiden; dem entspricht nach innen gewandt die Konzeption, dass die Jünger am Weg Jesu erst lernen müssen, dass seine Identität als Menschensohn/ Sohn Gottes für ihn selbst genauso Leiden bedeutet wie für seine Bekenner (z. B. Petrus, vgl. zu Mk 8,33) Gleichnisgeheimnis: Die Gleichnisse sind für Außenstehende eher kontraproduktiv. Das Gleichnisgeheimnis verbindet mit dem Messiasgeheimns: Nur wer die Botschaft tut, wer da-
Das Evangelium nach Markus
für ganz einstehen kann, der begreift (»existenzielles Verstehen«). Drei Lieblingsjünger: Petrus, Johannes und Jakobus (oft auch als vierter: Andreas) sind die Zeugen Jesu engerer Wahl. Die zwölf Männer dagegen sind die Idealzahl von Zeugen. Beide Male wird aus- und abgegrenzt. Wir meinen, das von Jesus gar nicht zu kennen. In keinem der drei Fälle ist die »allgemeine Menschheit« die Adressatin Jesu, und schon gar nicht ist die Botschaft »allgemeinverständlich«. Die Adressaten Jesu sind also eine Elite (im JohEv: die Menschen, die der Vater Jesus gegeben hat). Ein wahlloses Akzeptieren der Botschaft durch alle Hörerinnen und Hörer (also der lediglich Interessierten) wäre dann auch ohne wirklich religiöse Bedeutung (denn Religion ist Überforderung). Mit den »Geheimnissen« und der Auswahl eines engeren Jüngerkreises schafft Jesus genau den Unterschied, der bei uns zwischen Alpenverein älterer Prägung (Dia-Vorträge und Geselligkeit) und Gebirgsjägern im Einsatz besteht.
Mk 9,30-37: Zweite Leidensankündigung – Rangstreit der Jünger – Erläuterung Bereits die Komposition dieses Abschnitts weist auf den Inhalt. Denn sie folgt der Form »Rätselwort – Unverständnis – Erläuterung«. Das Menschensohn-Wort über Leiden und Auferstehung Jesu (9,31) hat die Rolle des unverstandenen Rätselwortes: Nach 9,32-34 haben die Jünger nicht begriffen, was Jesus meint, sie reagieren nur mit Angst, fragen deswegen nicht nach, und überdies leisten sie sich groteskes Fehlverhalten. Sie streiten sich um die Rangfolge. Soweit das Jünger-Unverständnis. Dann aber folgt in 9,35-37 die »Erläuterung«: Das Rätselwort vom Menschensohn weist die Jünger auf das Dienen, und dieses wird ganz praktisch als Gastfreundschaft (»Aufnehmen«) von Mitchristen verstanden. Dasselbe Schema in analoger Abfolge der Elemente kennen wir auch aus der Verklärung und von Gleichnissen, Visionen und deutungsbedürftigen Stellen der Schrift her. Jesus spricht demnach hier eine Parabel aus, und er bestätigt die Feststellung von Mk 4,33f, er rede nur in Parabeln. Das Leiden und die Auferstehung des Men-
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schensohnes Jesus werden in diesem Text direkt für die Jünger umgesetzt und angewendet. Denn dem Leiden entspricht das Dienen und der Verzicht auf Posten, konkret: das Aufnehmen von Kindern und gewöhnlichen Christen. Und dem Glanz der Auferstehung entspricht es, Erster zu sein und Gott in seinem Haus zu Gast zu haben (V. 37). Niedrigkeit, Leiden und selbstloser Dienst stehen daher im Licht der Verheißung. Das ist nicht automatisch der Fall in der Welt. Aber das ist so, weil es Gott gibt, weil er derjenige ist, der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht. Und genau das ist das Geheimnis des Menschensohnes, das die Jünger nicht verstehen. Überall beim Ausdruck »Menschensohn« geht es um die Spannung zwischen Niedrigkeit und Hoheit. Einerseits bedeutet »Menschensohn«: ein (gewöhnlicher) Mensch, andererseits ist der Ausdruck seit der apokalyptischen Auslegung von Dan 7,9-13 (besonders in der Henoch-Literatur) die Bezeichnung für Gottes höchsten Repräsentanten in der Welt. Diesen »Wesir« Gottes wird man, so sagen es die Evangelien, verkennen, denn er kommt wie ein gewöhnlicher Mensch daher. Deshalb kann man sich leicht in seiner Identität täuschen, und daher ist übrigens auch die »Sünde gegen den Menschensohn«, das heißt: zu verkennen, dass Jesus der Menschensohn ist, vergebbar. Denn darin kann man sich irren, weil Jesu Identität als Menschensohn in der Rolle der Endereignisse noch nicht sichtbar ist. Zu der verborgenen Identität gehört auch das Leiden. Eine größere Niedrigkeit ist nicht denkbar, als dass der Menschensohn, Gottes Wesir in der Welt, ans Kreuz genagelt wird. Auch Paulus berichtet über diese Fehleinschätzung: Wenn die Mächtigen der Welt Jesus erkannt hätten, dann hätten sie den »Herrn der Herrlichkeit« nicht gekreuzigt (1 Kor 2,8). Für Paulus ist diese falsche Ansicht über Jesus ein Symptom für die Gegensätzlichkeit von Gott und Welt, zwischen dem himmlischen König und den irdischen Potentaten. Dieser Kontrast zwischen Gott und Welt ist auch für das Verstehen der synoptischen Menschensohnworte, besonders auch für unseren Text, von großer Bedeutung. Dabei geht es nicht nur um Irrtum, Selbsttäuschung, verbrecherischen Umgang mit der Macht und Fehleinschätzung Jesu. Vielmehr ist der Weg des Menschensohnes von Niedrigkeit zu Hoheit für
ihn selbst wie für die Jünger der Weg zur Auferstehung und zum Heil. Es ist das Gottesbild des Magnificat, das hier maßgeblich ist. Gott erhöht die Niedrigen. Denn alles, was sich hoch und erhaben dünkt, ist in Gefahr, Konkurrenzansprüche gegenüber der Größe Gottes anzumelden. Auch hier geht es Jesus um das Erste Gebot. Hat Gott es nötig, so eifersüchtig zu sein, so seine »Lakaien« zu honorieren? Der Blick auf die Geschichte von der Kreuzigung Jesu bis Auschwitz, von modernen Diktaturen bis zur Euthanasie zeigt, wie überzeugend dieser Anspruch Gottes darauf ist, allein Gott zu sein. Denn wo immer der Mensch selbst sich zum Herrn des Lebens erklärt und sich selbst vergottet, entsteht namenlose Barbarei. Nicht alle Jünger müssen den Weg über die Kreuzigung gehen. Aber für alle gilt der Weg des Dienens. Aus Mk 10,45 wird dann deutlich werden, dass auch der Menschensohn selbst seinen Weg als Dienen begreift. So macht Mk 10,45 für Mk 9,30-37 deutlich, dass tatsächlich das Leiden des Menschensohnes und das Dienen der Jünger zusammengehören. Zu Mk 9,36f: Kinder sind in ihrer Lage ganz und gar abhängig und müssen alles von den »Großen« erwarten. Nicht das, was Kinder »an sich« sind, ist also wichtig, sondern ihre einseitige Beziehung zu den Erwachsenen. Ihre Abhängigkeit lässt Kinder zum schwächsten Glied in einer durchsetzungsfreudigen Gesellschaft werden. Wer aber Kinder »aufnimmt«, der dient ihnen. Wer glaubt, beugt seinen Rücken nur noch vor Gott und nur noch für die Schwächeren. Diese Worte Jesu bedeuten eine soziale Revolution. Sie macht nicht den Egoismus oder das Prinzip Umverteilung zum Maßstab wie spätere Versuche zu sozialer Neuordnung.
Mk 9,38-50: Jüngergemeinde In einem ersten Abschnitt wird die Außenperspektive der Jüngergemeinde besprochen (9,3841), in einem zweiten die Binnenperspektive (9,42-50). Es sind nicht notwendig erst nachösterliche Gemeindeprobleme, zu denen die Antwort Jesus in den Mund gelegt wird. Gerade wenn man sich vorstellt, dass Jesus so gesprochen
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178 haben kann, wird daran viel über ihn selbst erkennbar. Dabei repräsentieren die beiden Ansätze durchaus unterschiedliche Einschätzungen. Wenn Jesus die Gemeinde von außen betrachtet, ist sie die »streitende« Kirche der unvergleichlich Heiligen. Im Streit bekämpft die Kirche Teufel und Dämonen. Hier gilt: »Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns!« (9,40). Denn man kann getrennt kämpfen, muss aber vereint schlagen. Gegen den Satan zählt jede Stimme, auch die von »Christen«, die zu den Aposteln nicht gehören. Mk 9,38f erörtert den ersten Fall von christlicher Praxis außerhalb der apostolischen Kirche. Wenn Jesus sagt: »Hindert sie nicht!«, dann meint er die gemeinsame Außenfront gegen die satanischen Mächte, und eben nicht mehr. Er meint zum Beispiel nicht eine innige Gemeinschaft oder gar Mahlgemeinschaft im Inneren; die Trennung ist vorausgesetzt, und Jesus hebt sie nicht auf. – Anders ist es bei der scheinbar gegenläufigen Stelle, die sich in dem bei Lukas und Matthäus gemeinsamen Gut findet: Nach Mt 12,30 und Lk 11,23 sagt Jesus: »Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht sammelt mit mir, zerstreut!« Hier ist der Kontext die ganz andere Frage, was man von der Vollmacht Jesu hält. Die Antwort heißt hier: Wer die Vollmacht Jesu nicht auf Gott zurückführt, sondern annimmt, dass er mit dem Satan im Bunde steht, der hat eine unvergebbare Sünde begangen. Hier, bei der Frage, ob Jesus von Gott her kommt oder nicht, gibt es nur das Entweder-Oder. Zu Mk 9,38: Der Name Jesu ist quasi-sakramental gebraucht. Er verbindet diverse christliche Gruppen. Einerseits gibt es da die Jünger (»wir«), die schon eine quasi-kirchliche Gemeinschaft mit Grenzen sind. Dagegen gibt es andere, die nicht zur Gemeinschaft der Jünger gehören. Für Jesus ist das Entscheidende die Überwindung der Dämonen. Es gibt demnach (schon vor Ostern) Menschen, die den Namen Jesu für exorzistische, »magische« Zwecke gebrauchen. Das früheste Christentum hatte offensichtlich an diesem Punkt größte Breitenwirkung. Im Bereich der Adressaten des MkEv war es eine primär exorzistische Bewegung. Im Vergleich mit dem gegenläufigen Text in Lk 11,23 und Mt 12,30 gilt: Beide Texte, Mk 9,38 und der Q-Text, geben an, wie auf dem Feld der Exorzismen mit
Das Evangelium nach Markus
Verschiedenheiten in den praktizierenden Gruppen zu verfahren ist, ob es doch noch einen Maßstab der Einheit gibt – oder eben nicht. Wie weit darf also in exorzistischem Milieu (das bekanntermaßen ein synkretistisches ist; vgl. Test Sal, ed. Peter Busch) die Verschiedenheit gehen? Mk 9,38 gibt an, wo trotz Verschiedenheiten ein gemeinsamer Nenner liegen kann. Lk 11,23 und Mt 12,30 zeigen an, wo die Verschiedenheit nicht mehr überbrückbar ist. Nach Mk 9,41 ist die direkte Konsequenz aus der Realpräsenz Gottes in der Gemeinde, dass derjenige, der auch nur auf bescheidenste Art einen Christen bewirtet, ewigen himmlischen Lohn erhält. Denn er hat nicht nicht nur einen Menschen bewirtet, sondern in ihm Gott. Immer wieder hören wir dieses in den Evangelien: »Wer euch hört, der hört Gott; wer euch aufnimmt, der nimmt Gott auf.« Das ist ein Aspekt von »Kirche« bei Jesus. Alle, die Jesu Christi Namen tragen, sind eben dadurch der Ort, an dem in dieser Welt Gott zu finden ist. Paulus wird ganz in diesem Sinne von der Gemeinde als dem Tempel des Heiligen Geistes sprechen. Gott bindet seine Gegenwart an seine heiligen (auserwählten) Jünger, weil sie als Träger des Namens Jesu sein Eigentum sind. Für die Binnenperspektive bedeutet dieser Ansatz: Jedes einzelne Gemeindeglied ist so kostbar, so heilig, dass man das ganze Heil riskiert, wenn man es aufgrund von Wort oder Tat hinausdrängt. Denn das ist der Sinn von »Ärgernis geben«. Auch hier sind Jesus und Paulus (1 Kor 8.10) ganz einig. Das Schlimmste ist, wenn ein Christ dem anderen der Grund zum Austreten aus der Gemeinde wird. Die Verantwortung der Christen für den Glauben des anderen Christen wird daher von Jesus enorm hoch eingeschätzt. Salz ist unersetzbar (vgl. Mt 5,13f). Der Ursprung der Verbindung von »Kleinen« und Ärgernis liegt wohl in der Form, die Sach 13,7 in Mk 14,27 bietet. Parallel zu den Schafen stehen in Sach 13,7 die »Kleinen«. Nach Mk 14,27 werden sie alle straucheln/Ärgernis nehmen. Warum gelten dem Ärgernis die schärfsten Sanktionen? Offenbar gilt: Wer andere hinausdrängt, greift Gott physisch an, und die Heiligen als Ort der Gegenwart Gottes sind um Gottes willen vor Abspaltung zu bewahren. Denn jede Ge-
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meinde bildet ganz real die Einheit Gottes ab. Der Ausdruck »die Kleinen« meint wohl die nicht gerade besonders Angesehenen, also die eher graue Menge. Zu Mk 9,48b-50: »… wo die Würmer unaufhörlich an einem fressen und das Feuer nicht gelöscht wird.« Dieses Feuer ist unvergänglich wie Salz. Jeder kommt damit in Berührung. Wenn er nicht zerfressen wird, wird er bewahrt. Salz macht haltbar. Wenn die haltbarmachende Kraft des Salzes verloren gehen könnte, hätte man kein Salz mehr, um es selbst haltbar zu machen. Frieden ist wie Salz. Habt Salz bei euch, das heißt: Haltet Frieden untereinander« (Berger/Nord). Folgende Entscheidungen lagen diesem Lösungsvorschlag zugrunde: Es gibt eine inhaltliche Kohärenz zu V. 48 (Feuer frisst/Salz frisst). Doch je nach Qualität wird nicht alles vom Salz gefressen, anderes wird auch haltbar gemacht. Darin ist Salz dem göttlichen Feuer und letztlich Gott vergleichbar (ambivalente Wirkung). Sodann war die Frage: Welche Beziehung gibt es zwischen Frieden und Salz (Kohärenz: V. 49f)? Beide sind auf ihre Weise mit Gott vergleichbar. Frieden ist göttlich und bewahrt vor Zerstörung wie Gott.
Mk 10,2-16: Thema Ehe – Jesus und die Kinder Kürzlich beklagte sich jemand darüber, dass der Papst praktizierte Homosexualität als »widernatürlich« bezeichnet habe. Doch Jesus hat bereits die Ehescheidung (mit Neuverheiratung) widernatürlich genannt. Denn Jesus nennt zur Begründung seines Verbots die Grundstruktur der Schöpfung, dass Gott alles Lebendige, und zwar als je einen Mann und je eine Frau (der generische Singular wird persönlich interpretiert) geschaffen hat. Jesus wertet das Gebot über den Scheidungsbrief in Dtn 24 als einen Kompromiss (vgl. Ex 32,19; 34,1: Das 2. Gesetz, d. h. die neu formulierten Texte nach der Zerstörung der Tafeln – daher der Ausdruck »Deuteronomium« [»zweites Gesetz«], war nicht so gut; vgl. Syrische Didaskalie 2,26: Wiederholung des Gesetzes und Herzenshärte). Er selbst geht auf die Ordnung der Schöpfung zurück. – In der »Damaskusschrift« (4,20f) begründet man so zusätzlich
179 das Verbot der Heirat eines zweiten Partners nach Verwitwung. Dass man sich auf Schöpfungsordnung und Naturrecht (z. B. Jub 3 für die Unreinheitsriten nach der Geburt), bezieht, schafft Brücken zur stoischen Philosophie. Die Radikalisierung des Gesetzes auf Gottes Schöpfungswillen bei Jesus trifft sich daher mit dem stoischen Gedanken der vernünftigen Ordnung in der Natur. Beides stärkt sich wechselseitig. Scheidung mit Wiederheirat ist gegen die Natur, weil die Welt paarig männlich/weiblich geordnet ist. Gott selbst ist der Brautführer für Adam und Eva gewesen, so sagt es das Judentum, und das bedeutet: Er ist es immer neu auch für jedes Paar. Deshalb gilt: Was Gott verbunden hat, darf der Mensch nicht trennen. Und deshalb ist Jesu Wort über das Verbot der Ehescheidung (mit Wiederheirat) das am häufigsten (fünfmal) zitierte Jesuswort im Neuen Testament: Jesus sieht in der ehelichen Treue und Liebe ein reales Abbild des Verhältnisses zwischen Messias und Volk. Wenn die Ehe zwischen Menschen zerstört ist, dann kann Ehe kein Realsymbol mehr für das kommende Reich Gottes sein. Ähnlich wie in Mk 9,36f eine Szene mit einem Kind der anschauliche Kommentar zu Jesu Leidensweissagung und Jesu Wort vom Dienen (Mk 9,30-35) ist, so hat auch in Mk 10,13-16 die Szene mit den Kindern einen Kommentar-Charakter zum Abschnitt über die Ehescheidung. Die Kinderszenen sind damit ein bewusst eingesetzter Refrain in der Jüngerbelehrung. Kinder sind stets die radikal Abhängigen, die alles vom anderen erwarten. Es geht hier um diese Grundsituation des totalen Angewiesenseins, ja des Sich-Auslieferns auf Gedeih und Verderb, zugleich auch des reinen Empfangens vom anderen her. So gilt es auch in der Familie und im Verhältnis zu Gott. Der zweimalige Ausdruck »Reich Gottes« (V. 14.15) bestätigt die These, wonach Jesus die eheliche Treue als Vorbild für die Treue Gottes in seiner Zusage des Gottesreiches ansieht. Und wenn Jesus die Kinder berührt und segnet (V. 16), dann tut er das Gleiche wie Gott mit Adam und Eva, denen er den Ehesegen spendet. Im Paradies hieß der Ehesegen Gottes: »Seid fruchtbar und vermehrt euch.« Das Verhältnis zu Gott (Religion) existiert nicht unabhängig von den Größen Volk, Sexuali-
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180 tät, Familie und Ehe: Gerade diese Bereiche sind nun nicht mehr autonom, diese Felder haben »ihre Unschuld verloren«. Gott will hier verbindlich herrschen und bestimmen. Zu behaupten, diese Bereiche seien weiterhin autonom, wie gehabt, wäre pures Heidentum.
Mk 10,17-30: Der reiche Jüngling Drei misslungene Taten Jesu gibt es: das »Unvermögen« Jesu, Wunder zu wirken, weil die Menschen in seiner Heimat ungläubig sagen: »Den kennen wir doch!« (Mk 6,4-6), die Berufung des reichen jungen Mannes nach Mk 10 und die Katastrophe der Berufung des Judas Iskariot. Wenn Jesus scheitert, dann an Vorurteilen, an Geldgier (nach manchen auch im Falle des Judas) oder an schierer Verzweiflung über die politischen Konsequenzen seines Weges (Judas). Zum reichen Jüngling gibt es als Kontrastfigur die arme Witwe in Mk 12, die ihren gesamten Lebensunterhalt in den Opferkasten wirft. Ähnlich gibt es zu Petrus in der Frage der Treue Maria Magdalena als Gegenfigur, was die alte Kirche auch stets bemerkt hat. Der reiche Jüngling ist namenlos geblieben. Trotz offensichtlich gegenseitiger Sympathie ist der junge Mann emotional durch seinen Reichtum stärker gebunden, so stark, dass der Evangelist berichtet, der junge Mann sei traurig gewesen. Das weist auf einen Widerstreit in seinem Herzen, denn er kann nicht beides haben. Aus dem Wort »Niemand kann zwei Herren dienen, niemand kann Gott dienen und dem Mammon« wird erkennbar, dass Jesus das Verhältnis des Menschen zum Reichtum als Sklavendienst betrachtet. Tatsächlich nötigt der Reichtum den Reichen strenge Gesetze auf: Der Reichtum will erhalten und gepflegt werden, Minderung ist gegen sein eigenes Gesetz, das in der Mehrung besteht. Er verlangt Sorge und Fürsorge Tag und Nacht und nötigt einen auch zu Geiz und im Extremfall dazu, über Leichen zu gehen. Der Reichtum ist ein gestrenger Herr. Hier besteht die deutlichste Parallele zum Gottesverhältnis. So exklusiv wie Gott als einziger angebetet werden will und Gehorsam verlangt, ja auch auf Mehrung aus ist, wie im Gleichnis von den anvertrauten Talenten, so exklusiv verfügt sonst nur noch die Liebe oder eben das Geld über Men-
Das Evangelium nach Markus
schen. Die alte Rivalität zwischen dem Gott Israels und dem kanaanäischen Baal bricht hier wieder auf, denn Baal steht für Fruchtbarkeit und Reichtum. Der Gott Israels aber fordert nicht Horten und Sammeln von Gütern, sondern Verteilen und Gerechtigkeit im Miteinander der Menschen. In seinen Gleichnissen verrät Jesus detailgenaue Kenntnis von Finanzen und Finanzgebaren der Menschen, etwa im Gleichnis vom »lebenstüchtigen Verwalter« (Lk 16,1-9) oder im Gleichnis von den anvertrauten Talenten, dass man denken könnte, Jesus habe Insider-Kenntnisse. Jedenfalls weiß er wie kein anderer um die Faszination des Geldes. Jesus sieht auch das Himmelreich im Bild eines Geldschatzes, den der sammelt, der von seinen Gütern abgeben kann. Dahinter steht diese Vorstellung: Wer dem irdischen Kreislauf von Nehmen und Geben folgt, der hat kein Guthaben im Himmel. Denn Jesus sieht die Chance zur Veränderung der Welt zweifellos darin, dass der Kreislauf von Arbeit und Lohn durchbrochen wird. Wer sich für alles bezahlen lässt, der denkt rein diesseitig und kann kein Jünger Jesu sein. Denn Jesus weiß um die Seligkeit des Schenkens und Verschenkens. Und er sagt auch, dass diesem Weg jegliche Zukunft gehört. Die Nachricht über die Reichen im Vergleich zu Kamel und Nadelöhr stimmt eher entmutigend. Gemeint sind nicht die Ausnahme oder das Wunder, dass Reiche trotz Reichtums in den Himmel kommen, sondern dass allein Gott in seiner Macht das Herz der Reichen wandeln, bewegen und verändern kann, damit sie von ihrem erotischen Verhältnis zu Besitz und Zeit-Ausnutzen für eigene Zwecke wegkommen können. – Es geht in diesem Abschnitt um die Liebe zu Gott. Denn es wird eine wichtige Überbietung des jüdischen Gesetzes erkennbar (Dtn 6,4f: »Du sollst Gott lieben aus deinem ganzen Herzen und aus all deiner Kraft …«). Die Erfüllung dieses Liebesgebotes besteht laut Kontext in der Erfüllung aller dann folgenden Einzelgebote. Das Gebot der Gottesliebe gibt so den Rahmen für die gesamte Torah. – Hier bei Jesus dagegen hat der junge Mann alle Gebote schon gehalten, und zwar von klein auf. Was ihm fehlt, ist die Liebe; denn auf die Umarmung Jesu kann er nicht reagieren. Ähnlich Lukas. Er sagt, die Pharisäer, die den Christen nahestanden, seien doch Menschen gewesen, die das »Geld liebten« (Lk 16,14). Der ra-
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Kapitel 10
dikale Besitzverzicht signalisiert nach Lukas und Markus, die hier Jesus wiedergeben, die neue Qualität des Verhältnisses zu Gott, nämlich die größere Liebe (vgl. 4 Esra 13,54: Du hast deine Habe verlassen und warst frei für mich und hast das Gesetz gesucht). Sie ist mehr als Erfüllen der Gebote, sie besteht darin, frei zu werden von allem, was Gott unähnlich sein lässt. Gott ist besitzlos, und er schenkt alles her, so jeden Morgen Tau und die Sonne. Das will sagen: Der Gradmesser der Liebe zu Gott ist nicht mehr nur die Erfüllung der Gebote, sondern wer Gott liebt, kann dem armen Nächsten alles schenken, was er hat. Auch in der Bergpredigt verschärft Jesus das Gesetz: Schon im Herzen wird es übertreten, und wer freiwillig leidet, durchbricht den Kreislauf von Geben und Nehmen. Hier bei Markus wird ähnlich wie bei der Feindesliebe das Sozial-Konstruktive betont. Zu Mk 10,27: Philo v. A. schildert in Spec Leg I 282, dass eine Seele, die von Unzucht befleckt ist, nicht die Welt wieder schön machen kann, sondern allein Gott, bei dem möglich ist, was bei uns unmöglich ist. Zu Mk 10,29f: Die beiden Verse sind recht aufschlussreich für die Stellung der Urchristen zur Familie: Die alte Familie wird aufgegeben, aber eine neue Familienstruktur wird dafür noch in diesem Äon als Ersatz angeboten. Das ist nicht nur eine neue Verwandtschaft (ohne Väter – Vater ist nur der im Himmel), sondern das sind auch neue Häuser und Äcker. Aus meiner Sicht setzt das eine Art neuer gemeinschaftlicher Sesshaftigkeit voraus. Die Christen finden sich zusammen in Gemeinschaften, die entfernt an Kibbuzim oder Kolchosen erinnern. Sie bilden hier familienähnliche Strukturen. Analog zu 10,29 ist TestHiob 4,5-9: Hiob wird alles weggenommen, und da kommt es aufs Aushalten an; es wird ihm dann auf Erden doppelt zurückgegeben, und bei der Auferstehung wird er auferweckt werden. Die drei Phasen sind hier wie dort gegeben. (Die mittlere Phase fehlt in den ansonsten verwandten Texten 4 Esra 13,54-56; Acta Thomae 61; 1. Buch Jeu 2.) – Die Analogie zu TestHiob besteht sicher nicht zufällig, denn diese Schrift kennt eine »kapitalistisch« organisierte Armenpflege. Auf die wichtige Auslegung desselben Themas (Bekeh-
rung und Besitzverzicht) in den Acta Petri et Andreae 5 habe ich in: Die Gesetzesauslegung Jesu, 1974, 439-444, hingewiesen.
Mk 10,32-45: Dritte Leidensankündigung – Die Zebedäussöhne Ist das Martyrium der beste, sicherste, gewissermaßen der todsichere Weg zu himmlischer Herrlichkeit? Wir wissen von Paulus, wie sehr er sich danach sehnt, aus dem Exil des Erdendaseins befreit beim Herrn zu sein. Er ist hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach dem Himmel und der Liebe zu seiner Gemeinde in Philippi (Phil 1,21f). Glücklicherweise entscheidet er sich für die Gemeinde. Ähnlich groß ist die Sehnsucht bei Ignatius von Antiochien († um 110). Er bittet sogar die Römer, sich nicht für ihn einzusetzen, damit er nicht am Weg des Martyriums gehindert wird. Und Petrus erklärte sich spontan bereit, mit Jesus zu sterben – etwas vorlaut, wie sich zeigen sollte. Ähnlich ergeht es hier den beiden Söhnen des Zebedäus. Sie bitten Jesus auch sonst bisweilen um Unmögliches – was Anlass wird für Korrekturen an ihrem bisherigen Weltbild. Nach Lukas 9,51-56 wollen sie abweisende samaritanische Dörfer gleich mit Blitz und Donner bestrafen. Jesus weist sie zurück. Vielleicht besteht da auch ein Zusammenhang mit unserem Mk-Abschnitt: Hier wie dort haben es die Jünger sehr eilig. Auch das Sitzen zur Rechten und zur Linken bedeutet in jedem Fall, Anteil am Weltgericht zu haben. Denn auch die Zwölf im Ganzen dürfen dieses ja erwarten (Mt 19,28). Nimmt man diese Stellen zusammen in den Blick, so waren die Zebedaiden unter den Zwölfen die Anwälte des »kurzen Prozesses«, der schnellen, alsbald eintretenden Reaktion des Himmels. So wie sie das Gericht gleich vollziehen wollen, möchten sie auch die Plätze rechts und links direkt per Martyrium erlangen. Sie sind ungeduldig. Vor allem aber erstreben sie etwas für die wichtige eigene Funktion und wollen dafür direkt Sicherheit. Jesus respektiert ihre Bereitschaft zum Märtyrertod. Aber auch Jesus selbst strebt hier nicht direkt auf das Martyrium zu. Seine klaren Schweigegebote, die wir nach geschehenen Wundern finden, sollen den riskanten Kontakt zur jüdischen Obrigkeit nach Kräften
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182 hinauszögern. Jesus zeigt hier einen sinnvolleren Weg als das »Martyrium allein«: demütig dienen. Die Geschichte der westlichen Frömmigkeit und Theologie hatte immer wieder die Neigung, Jesu Tod von seinem Leben zu isolieren. Man blickt auf Karfreitag und übersieht oft, dass Jesu ganzes Leben Dienst des Menschensohnes ist. Der Satz Mk 10,45 sagt deshalb im Sinne des gesamten Abschnitts nicht nur etwas über Jesu Tod, sondern über sein ganzes Leben. Der Dienst Jesu ist ganz umfassend zu nehmen. Viele weisen darauf hin, eine Hingabe des Lebens gebe es nur hinsichtlich des Todes. Doch der griechische Sprachgebrauch ist da anders. In Apg 15 heißt es von Paulus und Barnabas, die zu diesem Zeitpunkt noch leben (!), sie hätten ihr Leben eingesetzt für den Glauben (wörtlich: das Leben gegeben). Und wie man sein Leben einsetzen kann als Lösegeld (eben stellvertretend) für andere, zeigt der Qumrantext aus der so genannten Sektenregel, Kolumne 8, wo es von den zwölf Gerechten heißt: Ihre Gerechtheit macht alle Schuld Israels wett. So ist es bei Jesus nun in der Tat: Er ist der einzige makellos Gerechte. So kann sein Leben – man denke an eine Waage – alle Schuld aufwiegen. Und auch wenn man Mk 10,45 nur auf Jesu Tod bezöge, so könnte er doch nur aus diesem selben Grund Sühne sein, weil Jesus der ganz und gar Gerechte ist. Bezieht man Mk 10,45 nicht nur auf Jesu Tod, sondern auf sein Leben inklusive Sterben, dann wird der Satz im Rahmen des damaligen Judentums verständlicher. Dann praktiziert Jesus eben das, was er den beiden Jüngern hier auch rät: einen lebenslangen Dienst. Der Abschnitt Mk 9,30-37 (s. o.) ist zum Text Mk 10,32-45 grundsätzlich im Aufbau parallel. Gemeinsam ist: ausführliche Leidensankündigung über den Menschensohn, das Thema »groß sein« bzw. »der Erste sein« in Opposition zu »der Letzte« unter den Jüngern, das Stichwort »Diener« bzw. »Dienen«. Dienen ist in beiden Fällen die Weise, in der Jesu Leiden unter den Jüngern eine Entsprechung findet. Der Kontrast sind Rangstreitigkeiten und überhaupt Rangsucht unter den Jüngern. Aber diese Weise der »Anwendung« auf das Jüngerverhalten greift auch über auf die Deutung des Todes Jesu selbst. So hat also Jesus selbst oder spätestens die frühe Gemeinde die Biografie Jesu angewendet, ausgelegt, auf sich bezogen. Niedrigkeit und Hoheit, Schmach
Das Evangelium nach Markus
und Herrlichkeit stehen in dieser Deutung der Passion Jesu im Vordergrund. In doppelter Hinsicht ist daher Dienen nicht selbstquälerische Erniedrigung für die Jünger, sondern sinnvoll: Wer dient, tut der Allgemeinheit etwas Gutes. Und wer dient, ist nach der revolutionären Umkehrung der Rangordnung durch Jesus ab sofort der Erste; denn jedes Dienen ist Übernahme öffentlicher Aufgaben im Dienst der Allgemeinheit. Und die totale Umkehr der Rangordnung ist eine Entsprechung zu paulinischer Kreuzestheologie: Schande tragen verähnlicht mit Jesus. Denn so, wie die Welt ist, kann die Herrlichkeit Gottes nur im radikalen Kontrast zu dem bestehen, was in der Welt als Ehre und Rang gilt. Nicht wer haben will, ist der Mächtigste, sondern wer schenken kann, ist der Reichste. Das kann aber nur dann sinnvoll sein, wenn zuvor feststeht, dass der Menschensohn sicher, so sicher wie auf die Nacht der Tag folgt, der Träger der Hoheit in der Zukunft ist.
Mk 10,46 – 12,44: Der Messias in seiner Stadt und im Tempel Das einleitende Wunder der Blindenheilung hat hier eine ganz ähnliche Funktion wie die Heilung des Blinden in Mk 8,22-26. In Mk 8 bereitete diese Heilung das Petrusbekenntnis vor: Gott selbst hat den Jüngern die Augen geöffnet. – Ganz ähnlich bereitet die Blindenheilung in Mk 10 das Bekenntnis der Menschen vor, die Jesus in Jerusalem empfangen. Dem Verständnis dient vor allem die Entsprechung von »David« (10,48) und David (11,10). Das Bekenntnis in Kap. 11 inklusive Hosanna-Akklamation rückt demnach neben das Bekenntnis in Kap. 8. Beide Bekenntnisse sind vergleichbare Höhepunkte. Zur Gliederung: Einzug in die Stadt (11,1-11) – Einzug in den Tempel (11,12-25) – Streitgespräche in der Stadt (11,27 – 12,34) – Jesus lehrt im Tempel (12,35-44). Das abschließende Kapitel 13 ist durch 13,1-2 (Worte über die Zerstörung des Tempels) mit dem Thema Tempel aus Kap. 11f verbunden. Durch die Komposition wird eine lokale Eingrenzung vorgenommen, die dem Muster konzentrischer Kreise folgt: Stadt – Tempel.
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Kapitel 10
Mk 10,46b-52: Blinder in Jericho In Mk 10,45 (»Der Menschensohn ist dazu da, … zu dienen und sein Leben einzusetzen stellvertretend für alle«) hat Jesus auf seinen lebenslangen Sklavendienst hingewiesen. Dass Jesus sich wirklich als Slaven betrachtet, bestätigt 10,51; denn er fragt den blinden Bettler, als wäre dieser sein Herr: »Was möchtest du, was soll ich für dich tun?« Ähnlich haben zuvor in 10,35 die beiden Zebedäussöhne Jesus unter Druck setzen wollen: »Wir wollen, dass du tust, was wir uns von dir wünschen.« Ihren Wunsch hat Jesus nicht erfüllen können. Denn Plätze im Himmel hat er nicht zu vergeben, aber Blinde sehend zu machen, das ist seine Aufgabe; siehe Jesaja 35,5 (»Dann werden die Augen der Blinden aufgetan«) und Mt 11,5. Denn Jesus bereitet die Menschen vor für den Tag des Kommens Gottes. – Zum folgenden Einzug Jesu in Jerusalem zeigt unser Bericht Verbindungen durch Stichworte, und zwar durch den doppelten Ruf: »Sohn Davids, erbarme dich meiner.« Denn beim Einzug in Jerusalem werden die Menschen rufen: »Gesegnet das Reich unseres Vaters David, das jetzt kommt!« – Wie einst Salomo, Davids Sohn, der Krankheiten heilen und Dämonen beherrschen konnte, wird Jesus Sohn Davids genannt, und er ist so die endzeitliche Entsprechung zu König David. Denn Jesus besiegt alles, was den Menschen bedroht und ihm Angst macht. Mit seinem jüdischen Kolorit ist unser Bericht schon ganz auf den Tempel hingeordnet. Dieser ist noch immer der (wiederaufgebaute) Tempel Salomos, des Sohnes Davids. Der heilende Sohn Davids realisiert sein Anrecht auf die Befugnisse des Hausherrn im Tempel. So ist unser Text in mancher Hinsicht unter den bisherigen Wunderberichten des Markus der Höhepunkt. Nur hier hat der Geheilte einen Namen. Nur hier ist das Wunder mit einer Berufung verquickt; denn der Geheilte folgt Jesus nach (V. 52), und zwar in Kontrast zum geheilten Gerasener in Mk 5,18f, der Jesus nicht nachfolgen darf. Dafür ist Bartimäus durch Name und Ausrufe (»Sohn Davids«, »Rabbuni«) eindeutig als Jude ausgewiesen. Dass er sein Gewand abwirft, um schneller auf Jesus zueilen zu können, erinnert an Petrus nach Joh 21,7b. Die Dramatik wird dadurch gesteigert, dass die Volksmenge ihm zunächst Schweigen gebietet – ähnlich wollten die Jünger
183 nach Mk 10,13 die Kinder von Jesus fernhalten; beides ist vergeblich. Denn wie die Kinder, so ist auch Bartimäus besonders »erwählt«. Zusammen mit Mk 8,22-26 (Heilung des Blinden von Betsaida) bildet diese Blindenheilung die Klammer um die Jüngerbelehrungen in Mk 8-10 vor dem Einzug in Jerusalem. Die Blindenheilungen sind hier wie auch sonst zusätzlich Symbole für das den Jüngern geschenkte Verstehen. Und dass die Blinden Jesus nicht sehen, sondern nur hören, weist über die Geheilten hinaus auf die späteren Christen, die ebenfalls von Jesus nur noch hören. Insofern sind die Evangelien die Bilderbücher des Glaubens. Innerhalb des Berichts besteht eine Spannung zwischen der Aufforderung »Los, auf, er ruft dich!« und dem Erbarmen Jesu. Jesus heilt den künftigen Jünger mit dem Satz: »Zieh hin, dein Glaube hat dir geholfen.« Dieser Satz, der häufiger in Wundergeschichten vorkommt, lohnt ein Nachdenken. Denn nicht Jesus hat den Blinden direkt von außen her – etwa durch Berührung – geheilt, sondern dessen eigener Glaube. Dem entspricht, dass gerade in diesem Bericht auch sonst die Aktivität des Blinden betont wird. Der Satz »Dein Glaube hat dir geholfen« ist aber andererseits so etwas wie ein konstatierendes Machtwort. Denn Jesus sagt dieses Wort, weil er sich erbarmt (V. 48a.49a). Erst die Feststellung setzt das Wunder frei. Jesus stellt etwas fest, das damit (und erst jetzt) zugleich Realität wird. Der Satz »Dein Glaube hat dir geholfen« besagt: Der Blinde glaubt an Gott, der ihm in Jesus nahekommt. Jesus ist der Anlass für diesen Glauben. Er hat ihn geweckt. Es ist nicht der Glaube an einen Menschen, sondern in diesem Menschen Jesus ist der gegenwärtig, der ihn gesandt hat. In dem Blinden wird durch Jesus – durch den Glauben an Gott in der Person Jesu – eine Kraft geweckt, die ihn wieder ganz macht. Jesus nimmt die Blockade weg, die Blindheit bedeutete. Er setzt in dem Blinden die Kräfte zur Selbstheilung frei. Denn offenbar bedeutet die Begegnung mit Gott, dass der Blinde seine körperliche Ordnung wiederfindet. Nach biblischer Anschauung bestehen alle Krankheiten darin, dass der Mensch für eine Zeit (und im Tod endgültig) die Kontrolle über sich selbst, die Selbstbestimmung verliert und wie herrenlos Beute schädlicher Krankheiten und Dämonen wird. So löst sich seine innere
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184 Ordnung, seine Gesundheit auf, er wird führerlos. Wenn er aber Jesus (und in ihm Gott) begegnet, dann findet er ein Führungszentrum wieder. Glaube ist Anteilhabe an der Stabilität Gottes. Im Falle von Krankheit und Gesundung ist dieses eine ordnende Stabilität, aufgrund derer der Mensch »sich wieder einrenkt« in seine innerliche Ordnung, weil er nicht nur nur auf sich fixiert ist und »gelassen« wird. So gilt: Erstens ist Krankheit Unordnung und taumelnde Führungslosigkeit. Zweitens wirkt Glaube in jedem Falle heilend, weil er kein nur subjektives Vertrauen ist, sondern objektive Teilhabe an der lebendig ordnenden Festigkeit Gottes. Die Anrede »Rabbuni« (aram.: »Mein Lehrer/ Herr«) findet sich nur zweimal im Neuen Testament: in Mk 10,51 und in Joh 20.16. Sie ist sachlich deckungsgleich mit der Anrede »Herr!« (griech.: kyrie), wie Mt 8,25 im Vergleich mit Mk 4,38 (»Lehrer!«) zeigt. Im Berliner Papyrus 11710 sagt Natanael: »Rambiu (= Rabbi) Kyrie«. Vergleichbar ist daher auch, wenn Thomas in Joh 20,28 Jesus anredet »Mein Herr«. In jedem Fall handelt es sich um direkte Anrede Jesu durch namentlich bekannte Jünger. Um den Wert dieser aramäischen Anrede »Rabbuni« richtig einzuschätzen, ist zu bedenken, dass Aramäisch für damalige Auffassung die heilige Sprache (auch der Engel) ist. Wer Jesus so anredet, will damit den möglichen schädlichen Einfluss störender böser Mächte fernhalten bzw. ausschließen. Das ist bei einer Auferstehungserscheinung (M. Magdalena, Thomas) ohnehin bitter nötig, damit teuflischer Trug ausgeschlossen ist. Das gilt aber auch für den Blinden, der durch Verwendung der heiligen Sprache den störenden Einfluss von Dämonen auf Blindheit (vgl. Mt 12,22) und besonders auf deren Heilung (Legitimität Jesu!) ausschließen will. Auch die Anrede Jesu im Seesturm (Mk 4,38; Lk 8,24; Mt 8,25) ist nicht einfach eine Ehrung Jesu als des Lehrers, sondern auf dem hier gezeigten Hintergrund am besten zu verstehen, auch wenn die Jünger hier Griechisch reden.
Mk 11,1-6: Das unberittene Fohlen Das unberittene Fohlen (V. 2) entspricht dem »niemand soll für immer von dir essen« (V. 14), denn in beiden Fällen erhebt der Herr exklusiven
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Besitz- und Nutzungsanspruch auf seine eigenen Geschöpfe. – Bei Juden, Griechen und Römern widmet man Gott oder Göttern gern das von menschlichen Zwecken bisher freie, unberührte Gut: Num 19,2; Dtn 21,3 (Kuh, von der die rote Asche kommt, hat kein Joch getragen); 1 Sam 6,7 (so auch die Kühe, die die Lade tragen); Ilias 6,94 (Rinder); Euripides, Phoeniss 644 (Opfertier: wildes Rind); Horaz, Epode 9,22 (unberührte Opferrinder); Ovid, Met 3,11 (Rind); Seneca, Oed 721 (Rinder); Vergil, Georg 4,540. Auffallend: In interkultureller Übereinstimmung gilt das Unberührtsein stets von Rindern. – Hoherpriester im Alten Testament: nur Jungfrau als Ehefrau.
Mk 11,7-11: Einzug in Jerusalem Der Herrscher betritt seine Stadt (analog zu Mk 1: Der Herrscher kommt an, tritt in Erscheinung). Der feierliche Einzug folgt vorgegebenem Schema. Dazu gehören: Man geht dem Herrscher entgegen, es gibt zustimmende Akklamationen (Zurufe; besonders: »Heilbringer«; Entgegengehen plus Zurufe: Plutarch, Leben des Numa 5.7), besonders von Kindern, man steht zu beiden Seiten des Weges Spalier, zur Verlängerung der Arme zum Gruß nimmt man Zweige (vgl. dazu noch aus antiker Anschauung in den Apostolicae Historiae über Andreas: »Exiit ei obviam universa civitas cum ramis olivarum proclamantes laudes atque dicentes: Salus nostra in manu tua est, homo dei.« – Die ganze Stadt ging ihm entgegen mit Ölzweigen. Die Leute riefen Lobsprüche mit den Worten: »Unser Heil ist in deiner Hand, du Mann Gottes.« Der Text, mit dem man den, der kommt, akklamatorisch begrüßt, heißt »epibaterios logos«, z. B. Hen (slav) 14,2, wo die aufgehende Sonne begrüßt wird: »Es kommt der Lichtspender und gibt Licht seiner Kreatur«. Mk 11,9: »Gesegnet …« nennt man eine Eulogie. »Der da kommt« (vgl. Ps 118,25) ist hier schon messianischer Titel, vgl. Mt 11,3; doch auch ein Pseudomessias »kommt« (vgl. Mk 13,6). Rätselhaft ist »das Königreich Davids« (zum Ausdruck vgl. j Ber 3,1: »Die Herrschaft des Hauses David kommt«); Jesus wird hier nicht »Sohn Davids« genannt, weil Jesus nach Mk diesen Titel vermeidet
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Kapitel 11
(12,35-37). Zur Zeit der Abfassung des MkEv ist der Titel politisch zu anstößig. Auch das Richteramt über Israel wird den Zwölfen in Mk 10,3545 nicht zugesprochen (anders: Mt 19,28). Das Ausbreiten der Kleider (V. 8) soll den Weg weich und sanft machen; ähnlich tat man es auch in Kinderzimmern (ThomasEv 22). Zu »Hosanna« (Heil) vgl. Ps 118,25f und in griech. Texten soteria (Heil): Offb 7,10; 12,10.
Mk 11,12-26: Unfruchtbarer Feigenbaum – Tempelreinigung Das Gewebe dieses Textes wird hergestellt durch Worte des Sagens (V. 14: Fluch Jesu; V. 15-18: Haus des Gebets; V. 21: verfluchen; V. 23: Wer zu diesem Berg sagt: … ; Was er sagt, wird ihm gewährt; V. 24: Betet und bittet; V. 25: Wenn ihr betet … – Diese Beobachtung ist bei der Frage nach dem Skopos des Textes nutzbar zu machen. Anhand der Wiederherstellung des Vorhofs des Tempels als Gebetsstätte (»Vorhof der Heiden« ist eine erst christliche Bezeichnung, vgl. die Sache in Joh 2,13-22; Eph 2,14-15) belehrt Jesus allgemein über Vollmachtsworte wie Verfluchen (Mk 11,14) und Beten. Am Ende ist das der Anlass, die Gebetserhörung zu binden an Glauben (auch ein Vollmachtswort wie Mk 11,14 wirkt nur, wenn man daran festhält, also glaubt, dass es so geschieht) und Vergebung. Der Glaube betrifft die Einheit mit sich selbst (dass man auch meint, was man sagt) und mit Gott (Glaube), die Vergebung die Einheit mit dem Mitmenschen. Jesu Verfluchung des Feigenbaums ist Beispiel für Erfüllung eines Vollmachtswortes aus der Kompetenz des Schöpfers. Leider ist es in Kommentaren noch immer durchweg üblich, die Verfluchung des Feigenbaums als symbolische Verfluchung Israels anzusehen, und zwar wegen des Vorwurfs in V. 17 (Räuberhöhle). Doch beim Feigenbaum wird ausdrücklich gesagt: »Denn es war nicht die Zeit für Feigen.« Also hat der Feigenbaum »keine Schuld«, hat nicht versagt. Aber warum wurde er dann verflucht? Er war seinem Schöpfer (dem alles gehört, wie die Bäume und Tiere, auch der Esel, der alle Sünden vergibt und der richtet) begegnet, und der Schöpfer ist keinem gegenüber Rechenschaft schuldig darüber, was er mit seinem Eigentum anstellt. Ebenso
beim Esel nach 11,2 ging es um die merkwürdigen Exklusivrechte des Schöpfers an jeder einzelnen, zufällig ausgesuchten Kreatur. So ist auch beim Feigenbaum nicht moralische Schuld zu suchen, sondern er ist seinem Schöpfer begegnet, dem er gerade »zufällig« nicht als Hoflieferant dienen konnte (daher heißt es auch nicht, dass er keine Frucht mehr tragen soll, sondern dass niemand eine Frucht des Baumes essen soll). Wer aber glaubt und Vergebung übt, hat an dieser Macht des Schöpfers Anteil. Auch nach 1 Makk 13,46-48a werden dem Herrscher beim Einzug in die Stadt Lieder gesungen, und er reinigt Stadt und Tempel vom Götzendienst. Diese Reinigung ist eine alte prophetische Hoffnung bei Sach 14,21: »Und es wird im Hause des Herrn der Heerscharen keine Kaufleute mehr geben an jenem Tag« (von der Heilszeit). Zu Mk 11,15-17: Es ist gut möglich, dass Jesu Aktion im Tempel ein Stück gezielter Reichtumskritik ist. Denn der Tempel ist ein Zeichen dafür, dass Gott alles gehört (so wie der Sabbat unter den Tagen der Woche). Wenn Menschen ausgerechnet hier nehmen und verdienen wollen, wo es darauf ankommt zu schenken, ist das gegen den Sinn, denn der Tempel ist kein Handelshaus.
Mk 11,27-33: Die Vollmachtsfrage Die Frage nach Jesu Vollmacht entsteht bei den Exorzismen, bei der Sündenvergebung und bei der Tempelreinigung. Jesus verweigerte die Antwort bereits in Mk 8,12. Johannes der Täufer kommt bei dieser Frage deshalb ins Spiel, weil er die Macht des Herodes durch Kritik herausgefordert hat; denn je strenger das Wertesystem, umso mehr wird Macht infrage gestellt. Die Johannes d. Täufer und Jesus in gleichem Maße zuteilwerdende Ablehnung ist auch das Thema in Mt 21,28-32 – (Gleichnis von den ungleichen Söhnen: Ihr wolltet nicht [bei Johannes d. T.]; bei Jesus wollen Hurer und Steuereinnehmer, wenn auch erst spät) – und in Mt 11,16-19 (par Lk 7,31-35) (Gleichnis von den spielenden Kindern). Die Gleichnisse laufen auf die Pointe zu: Weder den einen noch den anderen wollt ihr. In Übereinstimmung und Verschiedenheit (Synkrisis) werden Jesus und Johannes d. Täufer auch
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186 besprochen in den biografischen Passagen Lk 1-2 und Lk 7. – Hier (in Mk 11,27 ff) spricht Jesus mit den Honoratioren über Johannes d. Täufer, jedenfalls lenkt er die Anfrage an die eigene Vollmacht auf dieses Thema. Er formuliert eine Alternative: Entweder ist die Vollmacht des Täufers vom Himmel – oder sie ist rein menschlich zu erfassen. Wenn aber nun die Honoratioren antworteten: »Sie ist vom Himmel«, dann müssten sie auf den Täufer hören. Wenn sie aber antworten: »Sie ist rein menschlich zu begreifen«, dann machen sie sich beim Volk unbeliebt, das den Täufer für einen Propheten, also vom Himmel gesandt, hält (V. 32b). Also entscheiden sie sich fürs Schweigen. Daraufhin kann auch Jesus schweigen. Denn sein Dilemma ist, wie zu 8,12 erläutert, dass er zwar von Gott gesandt ist, diese Sendung aber nicht mit einem Zeichen am Himmel beweisen kann. Die Frage nach der Vollmacht Jesu entsteht aufs Neue wegen seines vollmächtigen Auftretens im Tempel (Jesus tritt auf wie der Herr des Tempels). – Die entscheidende Frage nach seiner Würde bzw. Vollmacht beantwortet Jesus auch sonst stets mit Schweigen, bzw. er verweist sie an den Fragenden zurück (Mk 14,61; 15,4). Damit erreicht Jesus Nachdenklichkeit (Wahrheit nicht durch Vorsagen, sondern durch Schweigen). Doch bewirkt Jesu Schweigen im Kontext der Erzählung stets auch eine Art Verstockung bei den Gegnern – und seine eigene Verurteilung. Also ist der Gedanke der Verstockung Jesus doch nicht so fremd (s. zu Mk 4,11-13). Denn mit der Vollmachtsfrage kommt der Widersacher (11,27) in die Lage, sich selbst entlarven zu müssen (11,29-33; 12,12).
Mk 12,1-12: Die Weinbergspächter Die Höhepunkte des Gleichnisses sind, wie stets, wenn dergleichen vorliegt, die Selbstgespräche – des Besitzers (12,6) und der Pächter (12,7). Pointe: Das Unscheinbare, Verachtete wird zur Wende. Rang und Grausamkeit hatten sich gesteigert. Wie auch sonst bei Gleichnissen üblich, sind methodisch zur Ermittlung der Pointe (oder: Botschaft) zwei Schritte angebracht: Zunächst ist nach der obersten Abstraktionsebene zu fragen, auf der die einzelnen Abschnitte (Blöcke) der Gliederung in einem sinnvollen Verhältnis
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zueinander stehen. Sodann ist zu fragen, wieweit die semantische Verzahnung mit dem Kontext des Evangeliums und dem kulturellen Kontext des Judentums dazu nötigt (d. h. die Metaphern im Gleichnis finden sich auch als gebräuchliche Metaphern im Kontext; so ist das Gleichnis durch die Metaphern gleicher Bedeutung mit dem Kontext verzahnt, steht nicht isoliert da), auf eine konkretere Ebene zu gehen. In der Praxis heißt das hier: Die abstrakteste Ebene des Sinns lautet: Irgendwann ist das Maß voll, innerhalb dessen man sich Unrecht leisten kann. Es gibt ein »zu spät«. Unvorhergesehen kommt dann doch das Gericht. – Diese Aussage ergibt sich aus der Komposition von Einleitung (kostbarer Weinberg: 12,1) – Oft wiederholte Sendung von Sklaven (12,2-5) – Sendung des Sohnes, Tötung und Gericht (12,6-9) – Kommentierung durch Schriftzitat (12,10-11) – Reaktion im Rahmen (12,12). Die Geschichte erzählt zumindest den Fall einer lange strapazierten Geduld mit dem schließlichen Höhepunkt: der Sendung und Tötung des Sohnes. »Sohn« wäre nicht notwendig christologischer Hoheitstitel. Die Extravaganz der Erzählung besteht sicher in der unvernünftig langen Zeit der Geduld des Besitzers. Aber einmal hat die Zeit ein Ende, in der man der Meinung sein kann, Unrecht bliebe straffrei. Die Tötung des Sohnes ist hier der Punkt, an dem sich das Schicksal der Winzer entscheidet. Die Metapher »Sohn« ist in den sonstigen Texten des MkEv und des frühen Christentums regelmäßig durch die Rolle Jesu Christi besetzt. Man kann daher ohne Gefahr in Mk 12,1-12 eine Widerspiegelung der Tötung Jesu nach lange voraufgehender Verachtung der Ermahnungen Gottes erkennen. Die Tötung des Sohnes bedeutet dann für die Winzer eine Wende, da jetzt ihr Verhältnis zu Gott endgültig anders geworden ist. Man kann aber noch weiter gehen und das deuteronomistische Geschichtsbild hier wiedererkennen. Dann sind die Sklaven unseres Gleichnisses, die vor dem Sohn geschickt und misshandelt worden sind, die Propheten, denen gegenüber Israel mit Ungehorsam reagiert, und dann steht der Sohn den Sklaven gegenüber wie in anderen alten Texten des frühen Christentums: Hebr 3 und Gal 4. Dann bedeutet die Wegnahme des Weinbergs den Verlust der exklusiven Erwählung. Die Geschichte wird damit dann weitgehend allegorisch
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gedeutet, was heutzutage in der Forschung keine Schande mehr ist. Die angepeilte »semantische Verzahnung« besteht dann hier durch die Metaphern Weinberg, Besitzer des Weinbergs, Sklaven, Sohn, Früchte. – Methodisch gilt: Je geringer die semantische Verzahnung ist, umso abstrakter ist die Pointe zu fassen. Und: Innerhalb des Gleichnisses muss eine metaphorische Kohärenz bestehen, d. h. es muss mit der Deutung ein sinnvoller Handlungsablauf gelesen werden können. Das Schriftzitat in Mk 12,10f wird oft auf die Auferstehung bezogen (der verworfene Stein wird zum Eckstein). Das ist aber nicht notwendig; denn dass der achtlos weggeworfene Stein zum wichtigsten wird, trifft auch zu, wenn der sozusagen routinemäßig misshandelte Sohn unerwartet zum Angelpunkt der ganzen Geschichte zwischen Besitzer und Winzern wird. Auch hier geht es wieder um die Frage der Abstraktion und der semantischen Verzahnung. Doch im Rahmen der Evangelien wird Ps 118,22 nicht auf die Auferstehung Jesu bezogen. Wichtiger ist, dass sie zur Fortsetzung der Handlung nicht taugt; sie ist ja für sich genommen kein Gerichtshandeln, das Menschen etwas nimmt. Entscheidend ist, dass das Schriftwort ein Kommentar auf neuer, anderer Ebene ist (wie etwa das Weisheitswort in Mt 20,16). Es geht doch vielmehr darum, dass das Verhalten zum Eckstein die Wende bringt: Der verworfen wurde, ist zum Prüfstein geworden. Das ist erstaunlich, aber von Auferstehung kann ich nichts sehen. Was heißt es: »Er wird den Weinberg anderen geben«? Aufgrund der Anspielungen auf Jes 5,1f liegt es nahe, den Weinberg mit Israel gleichzusetzen. Aber wie sollte Gott Israel anderen geben? Die Honoratioren besitzen doch nicht das Land! An welche Strafe und für wen in Israel wäre denn im 1. Jh. n. Chr. überhaupt zu denken? Wenn die Winzer für das ganze Volk stehen und handeln, geht es um die Exklusivität der Erwählung; Früchte mussten ja alle bringen. Doch was hätten sich die Winzer eigentlich bei der Tötung des Sohnes noch aneignen sollen (V. 7b)? Resultat: a) Der Weinberg kann nicht Israel sein, denn das ist nicht zu vergeben; b) der Weinberg kann auch nicht das Land (Palästina) sein; c) es geht wohl, wie angedeutet, um die Exklusivität der Erwählung. Sie besteht darin, Gottes Ver-
handlungs- und Geschäftspartner zu sein; d) die Tötung des Sohnes sollte daher in dieser Hinsicht ein Vakuum schaffen.
Mk 12,13-37: Steuerfrage – Auferstehung – Erstes Gebot – Messiasfrage Nicht um christliche Dogmatik geht es in Mk 12, sondern um praktische Abgrenzung von jüdischen Gruppen. Im Konzert der Gruppen wird systematisch die christliche Eigenart dargestellt. Die einzelnen Beiträge aus Mk 12 zusammengenommen ergeben ein christliches Profil. Deshalb gehört auch Mk 12,1-12 dazu, und die ältere Vermutung, hier gehe es um Wegnahme und Übertragung der schriftgelehrten Lehrautorität auf christliche Lehrer, gewinnt von daher noch einmal Wahrscheinlichkeit. Jesus erörtert hier die Frage nach Steuern, nach Auferstehung, nach dem wichtigsten Gebot, nach der Davidssohnschaft, und er warnt vor Eitelkeit und Gier. Mk zeigt ausgerechnet hier eine Tendenz zum Unpolitischen. Schon das Gleichnis Mk 12,1-12 hatte er nicht auf eine mögliche Zerstörung Jerusalems bezogen; die Steuerfrage entscheidet er in Wahrheit zugunsten der unbegrenzten Pflichten gegenüber Gott; die Davidssohnschaft nimmt er aus der Schusslinie. Nur der blinde (!) Bettler darf Jesus »Sohn Davids« nennen (10,49). Daher bleibt auch unklar, wer der Gräuel der Verwüstung in Mk 13,14 ist. – Die Sadduzäerfrage ist religionspolitisch wichtig. Die Christen stehen an der Seite der Pharisäer. Was besagt das alles für die Datierung des MkEv? Christen möchten dem Verdacht antirömischer Hetze entgehen. Sie möchten Martyrien vermeiden und fordern daher auch nicht das offene Bekenntnis (Mk 8,38; 10,35-45), sie ahnden nur Ableugnung. Sie rechnen mit erheblichen Leiden. Im Übrigen bestimmt Mk 12 die Nähe und Distanz des frühen Christentums zu unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen (Sadduzäer, Schriftgelehrte, Pharisäer).
Mk 12,13-17: Die Steuerfrage Jesus nennt in seiner Antwort Gott, obwohl er danach nicht gefragt wurde. Durch seine Ant-
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188 wort wird Steuerzahlen und Steuerpflicht zum kleinen Abbild der umfassenden Verpflichtung gegenüber Gott. Die Pointe heißt: »Aber gebt vielmehr …« Denn was ist 50 % von unendlich? Bestätigt wird diese Deutung durch ThomasEv 100 (Zusatz: »und was mein ist, gebt es mir!«). – Die Aufteilung der »bürgerlichen« Pflichten auf unterschiedliche Instanzen findet sich ebenso in Röm 13,7 und 1 Petr 2,17. In allen Beispielen werden die religiösen Pflichten gegenüber Gott grundsätzlich anderen öffentlichen Verpflichtungen des Menschen vergleichbar gemacht. Religion ist daher nicht »Privatsache«, sondern die unvergleichlich intensivste Weise der Verbeugung des Menschen vor Instanzen außerhalb seiner selbst. »Gebt Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist.« Auch hier spiegelt sich der so genannte Kanon der zwei Tugenden (vgl. zu Mk 12,28-34). Gott zu geben, was Gottes ist – das nennt die Bibel in Dtn 6,4f »Gott zu lieben aus ganzem Herzen«. Und dem Kaiser Steuern zu zahlen, das gilt im zeitgenössischen stoischen Pflichtenspiegel als oberste der sozialen Pflichten; die Liebe zum Vaterland zeigt sich darin. Auch Paulus bezieht in Röm 13 ausdrücklich das Gebot des Steuerzahlens auf die Nächstenliebe. So ist der Abschnitt Röm 13,7-10 zu verstehen: »Gebt jedem, was ihr ihm schuldig seid und was ihm gebührt: Steuern und Zoll dem einen, Angst und Ehrfurcht dem anderen. Gegenüber jedem erfüllt eure Pflicht und Schuldigkeit! Nur in der Liebe ist es anders: Hier gibt es keine begrenzte Pflicht, sie ist grenzenlos. Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Alle Gebote, wie die gegen Ehebruch, Mord, Diebstahl, Gier und so weiter kann man in dem einen Satz zusammenfassen: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Lev 19,18). Wer den Nächsten liebt, tut ihm nichts Böses. So ist die Liebe die vollkommene Erfüllung des Gesetzes.« Resultat: Röm 13 ist eine Art Brücke zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen den beiden Szenen im Leben Jesu nach Mk 12 und Mt 22, nämlich Steuerfrage und Frage nach dem größten Gebot. Das Hauptgebot der Gottesliebe steht fest, es wird in Mt 22 entweder nach Dtn 6,4f zitiert (Gott lieben aus ganzem Herzen) oder als »Gebt Gott, was Gottes ist«. Das Gebot
Das Evangelium nach Markus
der Nächstenliebe wird entweder nach Lev 19,18 zitiert (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst) oder als Aufforderung, Steuern zu zahlen, was nach Röm 13 ein repräsentativer Teil der Nächstenliebe ist; Paulus zitiert in Röm 13 Lev 19,18 ausdrücklich und verallgemeinert: »Keinem etwas schuldig bleiben« und daher: Steuern zahlen, wem Steuern gebühren.
Mk 12,18-27: Auferstehung Jesus grenzt sich und den Auferstehungsglauben der Jünger von den Sadduzäern ab, die traditionell die Auferstehung leugnen, da sie nicht bei Mose und den Propheten belegt sei (dazu Josephus, Ant 18,16f: »Die Lehre der Sadduzäer lässt die Seele mit dem Körper zugrunde gehen und erkennt keine anderen Vorschriften an als das Gesetz«). Jesus steht in diesem Punkt den Pharisäern nahe und muss, um die Auferstehung gegenüber den Sadduzäern behaupten zu können, diese aus dem Pentateuch erweisen. Das gelingt ihm mit Hilfe von Ex 3,2.6. Gott sagt: »Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.« Daraus folgt, dass Tote auferstehen. Warum? Als sich Gott nach Ex 3 Mose vorstellt, sind die drei Erzväter längst tot. Wenn Gott sich trotzdem als ihr Gott vorstellt, dann kann es sich nicht um Tote handeln. Denn die Toten »loben Gott nicht« (Ps 115,17). Nun ist aber vom Tod der drei Erzväter in der Bibel berichtet. Wenn Gott sich aber in Ex 3 als der Gott Lebender vorstellt, dann müssen inzwischen aus Toten Lebendige geworden sein. Diesen Vorgang aber nennt man Auferstehung. Also gibt es – zumindest für die drei Erzväter – eine schon geschehene Auferstehung. Aus dem judenchristlichen Milieu des 2. Jh. n. Chr. haben wir zumindest einen Text, der dieses ohne irgendeine Bezugnahme auf Mk 12 auch behauptet: TestBenj 10,5 (»dann werdet ihr Abraham, Isaak und Jakob als Auferstandene zur Rechten Gottes sehen«). Nach Ps.-Philo, Buch d. bibl. Altertümer, wird Abraham »seine Wohnung über den Höhen aufschlagen« (4,11), »als ich Abraham über das Firmament erhob« (18,5). Auch 4 Makk 7,19 und 16,25 setzen voraus, dass die drei Erzväter »bei Gott leben« und nicht gestorben sind.
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In der (teilweise) apokalyptischen Sammelschrift Kebra Nagast (äth) § 112 heißt es: »Mose redete mit Gott, indem er erkannte und gelehrt wurde den Glauben an die Auferstehung seiner Väter Abraham, Isaak und Jakob.« Nach anderen werden diese Väter zumindest zuerst auferstehen. Im Übrigen zählt der trickreiche juristische Einwand mit der Leviratsehe nicht, da es im »Himmel« keine Ehe geben wird. Das ist deshalb so, weil dort, wo kein Tod ist, auch kein Gebären und daher keine Sexualität sein können. Der Zusammenhang zwischen Sexualität, Gebären und Tod ist für Jesus äußerst eng. Offene Frage: Wenn alle als sie selbst auferstehen, aber wie die Engel sein werden, was wird dann aus den Geschlechtsmerkmalen? Jedenfalls sind sie zum Schmuck da (wie auch das Jiddische diese Organe nennt).
Mk 12,28-34: Das erste Gebot Die Verbindung der beiden Schriftstellen Dtn 6,4f und Lev 19,18 geschieht – nach rabbinischen Methoden geurteilt – anhand des gemeinsamen Stichwortes »lieben«. Gleichzeitig gibt es einen massiven hellenistischen und auch jüdisch-hellenistischen Hintergrund in der traditionellen Verknüpfung von Gerechtigkeit (Menschenliebe, Pflichten gegen die Mitmenschen) und Heiligkeit (Frömmigkeit, Pflichten gegen Gott). Diese Verbindung ist weit verbreitet; man nennt sie den »Kanon der zwei Tugenden« (A. Dihle). Gerade bei Philo v. Alexandrien wird diese Kombination auch als die »Summe« des jüdischen Gesetzes bezeichnet. Sie ersetzt das Gesetz nicht, sondern gibt nur einen Kompass zu seiner Auslegung an. Sie spiegelt sich nach Philo auch in den beiden Dekaloghälften. Liebe heißt: »Nur du!« Das ist die gegenseitige, heilsame Intoleranz der Liebe. Und das gilt für die Ehe wie für »die Religion«, den biblischen Glauben an den einen Gott. Die Einschätzung des Schriftgelehrten (12,32f) orientiert sich an einer relativ breiten biblischen Tradition: 1 Sam 15,22: wertvoller als Opfer ist Gehorsam; – Jes 1,11: hören auf Gottes Wort; – Ps 50,21: Opfer der Gerechtigkeit; – Dan 3,38: zerknirschtes Herz, demütiger Geist; – ferner: Josephus, Ant 6,147: Gottes Wille und Gebote tun; – speziell weisheitliche Tradition: Spr 16,7 LXX:
Gerechtes tun ist Gott genehmer als Opfer; – frühjüdische Tradition: Sibyllinen 2,82: nicht Opfer, sondern Erbarmen; – und auch in Qumrantexten: 1 QS 9,4: mehr als Opfer ist das Opfer der Lippen und vollkommener Wandel. Zu Hos 6,6 und anderen Belegen vgl. K. Berger, Gesetzesauslegung, 1972, 194-201. – So ist die Pointe auch in Mk 12,28-34: Die Lehre Jesu zerstört das Judentum nicht, sondern vollendet seine Erkenntnis.
Mk 12,35-37: Die Messiasfrage Wenn Jesus der Herr ist, kann er nicht Davids Sohn sein. Denn in Ps 110 besingt ihn David ja als seinen Herrn. – Jedenfalls legt gesunder Menschenverstand das nahe. Daher vermeidet der Evangelist Markus in jeder »offiziellen« Rede den Titel »Sohn Davids«. Nur der blinde (!) Bartimäus darf Jesus so anreden. Der Evangelist Mk fürchtet offenbar politische Verwicklungen beim offiziellen Gebrauch dieses Titels. Der Evangelist Mt wird Jesus eine andere Antwort geben lassen.
Mk 12,38-44: Die opferbereite Witwe »Zeugin dafür, wieviel Gutes eine Geldspende vermag, ist jene Frau, die mit den zwei gespendeten kleinen Münzen so reiche Frucht erbrachte, dass sie alle Silbertalente der Könige in den Schatten stellte. Wie reich war doch die Armut der Witwe! Wie herrlich war ihr Glaube, der solches hervorbrachte! Denn siehe, so wenig Geld, in einem Winkel verborgen, hat die Erde erfüllt und ist zum Himmel hinaufgestiegen«, so betet die Kirche des Mittelalters in einer Präfation (Nr. 1414) zu diesem Text. Und Bernhard von Clairvaux sagt im 87. Brief von sich: »Nach dem Beispiel jener Frau des Evangeliums habe ich in meiner Armut alles gegeben, was ich hatte.« So wird die Frau aus Mk 12 zum einem Beispiel für hingebungsvolles Herschenken des Letzten. Sie steht damit in Kontrast zum reichen Jüngling in Mk 10, und diese beiden namenlosen Figuren flankieren antitypisch die Belehrungen in Mk 10-12. Auch der Kontrast zwischen den Schriftgelehrten (12,38-40) und der armen Frau (12,41-44)
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190 ist beabsichtigt. Mit diesen beiden abschreckenden und mahnenden Beispielen endet die öffentliche Wirksamkeit Jesu. Das verbindende Stichwort zwischen den beiden kontrastierenden Beispielen ist »Witwe«. Denn die Schriftgelehrten fressen die Häuser der Witwen auf, die arme Witwe aber spendet ihren gesamten Lebensunterhalt. Gegensätzliche Motive bestimmen daher den Text: Einmal ist es der Gegensatz zwischen Reichen und Armen. Die Reichen haben kostbare Gewänder und nehmen Geld. Die Armen dagegen schenken Geld. Der zweite Kontrast ist der zwischen Schein und Sein. Die reichen Schriftgelehrten verhüllen ihre wirkliche Ungerechtigkeit mit Scheinheiligkeit. Die arme Frau schenkt, wie schon der mittelalterliche Beter der Präfation beobachtete, »im Winkel« ganz Großartiges. Ein weiterer Gegensatz beherrscht den zweiten Teil des Textes: Die Reichen geben nur von dem, was sie übrig hatten, die Witwe dagegen alles, was sie in ihrer Armut noch besitzt. Der Abschnitt über die Schriftgelehrten zeigt zunächst, dass sie wirtschaftlich (Reichtum), religiös (Gebet) und moralisch (lange Gewänder) die Angesehensten sind (erste Plätze). Doch wenn ihr Reichtum auf Ausbeutung beruht und ihre Frömmigkeit auf Schein, dann fallen ihre Vorzüge in sich zusammen. Dass die Witwe im Tempel ihr Scherflein gibt, wirft Licht auf die Bedeutung dieses Ortes für die ersten Anfänge des Christentums: In seiner »Reinigung« des Tempels vertreibt Jesus von dort Händler, wo man nicht raffen, sondern geben soll, so wie es eben die Witwe hier tut. Und nach Apg 6 ist der Tempel der Ort, an dem Witwen (ihren Lebensunterhalt) empfangen. Gerade dort also, wo Witwen betteln und wo man ihnen gibt, schenkt die Witwe von Mk 12 alles hin. Und nach 1 Petr 4,8; Sprüche 10,12 und Jak 5,20 dient das Almosen zur Tilgung der Sünden. Neben den Versöhnungstag und das Sündopfer tritt daher das Almosen als fast institutionelle Sündenvergebung am Tempel. – Die ungewöhnliche Wendung »ihr ganzes Leben« orientiert sich an der Formulierung des Hauptgebots, Gott sei zu lieben »aus ganzem Herzen«. Nach der gesamten Bibel sind die Witwen ge-
Das Evangelium nach Markus
rade deshalb bei Gott angesehen und finden mit ihrem Gebet direkt Gehör, weil sie nichts haben. Gerade aus diesem Grund werden sie von den Gemeinden regelrecht angestellt, um für die anderen zu beten (1 Tim 5,5). Denn Gott nimmt ihnen gegenüber die Rolle des Patrons wahr, für den es Pflicht und Ehre ist, für sie zu sorgen. So gilt das auch gegenüber Waisen und Tagelöhnern. Sie alle haben als Klientel des Königs einen »direkten Draht« zu ihm. Die Witwe in Mk12 macht sich den Bettlern gleich. Es handelt sich dabei um ein kaum beachtetes Element der Lebenspraxis und zugleich der Verkündigung Jesu. Denn auch Jesus kümmert sich nicht um seinen Lebensunterhalt und macht sich so von den Spenden frommer Frauen (Lk 8,1-3) und anderer Leute, die zum Beispiel als Gastgeber walten, abhängig. Man kann fragen: Warum macht sich auch Jesus den Bettlern gleich? Der Bettler stellt in seiner Lebenspraxis dar, was er vor Gott immer und im Ganzen ist. Denn der Bettler ist gänzlich abhängig von dem, was ihm täglich geschenkt werden muss. Dabei ist es nicht so wichtig, wer schenkt. Die Lebenspraxis der leeren Hände stellt genau das konkret dar, was der Mensch vor Gott ist. Die spätere monastische Lebensweise erscheint von hier aus noch einmal in ganz neuem Licht. Denn wer bettelarm lebt, sagt damit, dass er leere Hände hat und jeden Tag alles von Gott erwartet. Wer die Familie aufgibt, sagt, dass er dringend einen neuen, den himmlischen Vater braucht und eine neue Familie in der Gemeinschaft der Heiligen. Wer auf die Ehe verzichtet, gibt zu verstehen, dass der Messias mit seinem Volk eine neue Ehe eingehen wird. Und auch deshalb, weil Gott und Leben so nahe zusammengehen, ist das konkrete, sichtbare Leben der Christen die wichtigste Gestalt der Verkündigung. Daher wird auch Gott so intensiv als Person erfahren wie nie zuvor. Denn er bleibt ja nicht in der weiten Ferne eines deistischen (unpersönlichen, vernunfthaften) Gottes, sondern wird der nahe Gott. Seine unerhörte Nähe hat völlig neuartige Konsequenzen für das Alltäglichste im Leben. Gott ist nicht eine Theorie, sondern im wahrsten Sinne des Wortes einschneidende Wirklichkeit.
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Mk 13: Endzeit Aufbau und Zielsetzung: Man kann die These vertreten, das MkEv sei wie die Septuaginta aufgebaut: Mk 1-11 die Erzählung (narratio), Mk 12 die Weisheit, Mk 13 die Prophetie. Mit dem Schluss von Mk 12 ist Mk 13 verbunden durch die Szenerie (vgl. die Stichwortverbindungen) des Tempels (12,41; Mk 13,1-4). Und der Ort »Tempel« ist für den apokalyptischen Inhalt von Mk 13 wichtig. Denn das Gericht Gottes hebt traditionell am Tempel an (vgl. 1 Petr 4). Schon in Mk 11,17 ist das, was am Tempel geschieht, apokalyptisches Realsymbol (vgl. Jes 56,7). Auch der Gräuel der Verwüstung in Mk 13,14 ist ein apokalyptisches Symbolzeichen (vgl. Dan 12,11; 9,37). – In Mk 13,5-23 geht es um die nähere Zukunft, in 13,24-27 um das wirkliche Ende. Merkmale der Apokalyptik bei Mk: Dualistisches Denken (Notzeit vor der Wiederkunft Christi); kosmische Orientierung (13,24: Zusammenbruch der Himmelslichter); Reste politischer Orientierung (13,8f: Kriege, Verfolgung); gläubige Antizipation durch Wissen; nicht Berechnung (13,32), wohl aber Ordnung (»noch nicht …«, »Anfang …«); Leiden und Martyrien als Anweg auf das Kommen des Menschensohnes; Ausweitung und Uminterpretation der Theophaniezeichen. Für die Situation der angesprochenen Gemeinde sind die Hinweise auf das Übergeben (Verraten, Ausliefern) in Mk 13,9.11.12 wichtig, auch wegen der Übereinstimmung mit dem Tun des Judas. Hier tritt gewissermaßen die Kehrseite der in Kap. 12 positiv dargestellten Beziehungen zu anderen Gruppen zutage. Beides weist in die vierziger Jahre des 1. Jh. n. Chr. Die erste Zielsetzung von Mk 13 betrifft zum einen die Naherwartung, zum anderen die Warnung vor falschen Lehrern. Zunächst berichtet Mk in der Form der apokalyptischen Ereignisordnung (griech.: tagma) hinsichtlich der einzelnen Geschehnisse vor dem Ende, und zwar der Reihenfolge nach. Die Tendenz der Darstellung ist dabei: Das alles ist noch nicht das Ende. Das umfasst die Verse 13,3-27. Deren Skopos war es, das Ende immer weiter hinauszuschieben: Öfter hieß es, dass es »noch nicht« (V. 7) das Ende, sondern erst der »Anfang« sei (V. 8) oder was
»erst« (V. 10) noch kommen müsse. Skopos der Reihe war es, die Naherwartung zu dämpfen. Das bedeutete auch: Für politische Unruhen, inklusive Zerstörung der Stadt, sind die Christen und Jesus nicht verantwortlich zu machen. Christliche Zukunftserwartung ist himmlisch (Menschensohn), nicht irdisch-destruktiv (Zerstörung der Stadt). – Das Gleichnis vom Feigenbaum in V. 28f verfolgt eine andere, entgegengesetzte Tendenz als die vorangehende Ordnung der Ereignisse. Jetzt am Ende wird gar in V. 30 erklärt, diese Generation oder »dieses Geschlecht« werde nicht vergehen, bis »das alles geschieht«. Jesus spricht in V. 28f von der Nähe der Ernte, und dass sie vor der Tür steht. Diesen Schluss der Rede nennt man in der Rhetorik peroratio, den Abschnitt, in dem die schlichte Konsequenz und Anwendung aus einer Rede gezogen werden. Statt dass die Naherwartung gedämpft wird, spricht Jesus hier von der mehr oder weniger unmittelbaren Nähe des Endes, und er wird die Endzeitrede mit einem Appell zur Wachsamkeit beschließen. Die zweite Zielsetzung von Mk 13 ist die Aufforderung, wachsam zu sein, sich zu hüten vor falschen Lehrern. Daher stehen auch die Ausblicke auf das Ende jeweils am Schluss der Lehrtätigkeit Jesu, vor dem Beginn der Passionsgeschichten. Das gilt besonders für die drei ersten Evangelien, für die Lehre der Zwölf Apostel (Didache) und auch für 1 Kor 15. Wenn man so will, kann man auch für die Offb sagen, dass die Kapitel 4-22 ein ausgebauter Schlussteil sind, während es vorher um Gemeindeparänese ging. Daher verwendet der Seher Johannes ja auch das Briefformular. Diese Ausblicke stehen nicht nur deshalb am Ende, weil die Gegenwart der Jünger sich zeitlich gleich daran anschließt, sondern vor allem, weil hier, in der peroratio, der wichtigste Punkt der Verkündigung Jesu liegt. Dieser Punkt heißt: Hört auf dieses Evangelium und nicht auf die falschen Lehrer, die anderes verkünden werden. Die drei ersten Evangelien (inklusive Didache) haben im Ganzen diesen Charakter: Den Jüngern wird etwas Schriftliches »in die Hand gegeben«, damit sie sich so vor falschen Lehrern schützen können. In diesen Zusammenhang gehören die
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192 Metaphern von Hirt und Schafen, Tür und Wölfen, wachen und sich hüten (s. zu Joh 10). Das Zeitverständnis von Mk 13 Apokalyptik ist von der Überzeugung geprägt, dass die große Wende bevorsteht. Daher ist wichtig, was »bis dahin« und was »von da ab« geschieht. Dabei gibt es die Träger der Zukunft nach der Wende jetzt schon, wenn auch stets als die Benachteiligten und Leidenden, die unter dem gegenwärtigen System leiden, denen es aber dann im künftigen System umso besser ergehen wird. Dauerhafte und haltbare Apokalyptik hat stets darauf verzichtet, einen genauen Zeitpunkt für die Wende anzugeben. Fast alle mir bekannten Apokalypsen verzichten drauf; nur die christliche Epistula Apostolorum (äth/kopt) im 2. Jh. n. Chr. bestimmt das Weltende auf 180 n. Chr. Doch generell wird das Thema des Wann anders behandelt. In Mk 13 wird das Ende, wie so oft (vgl. 2 Thess 2) aus seelsorgerlichen Gründen hinausgeschoben. Denn müssten die Leute für morgen schon mit dem Weltende rechnen, es gäbe bald heillose Zustände. Geschildert wird ein solcher Fall bei dem Kirchenschriftsteller Hippolyt v. Rom († 235 n. Chr.), der in seinem Daniel-Kommentar 4,19,3 ff von einem Visionär in Pontos berichtet, der sagte: »In einem Jahr wird das Gericht geschehen.« Daraufhin ließen die Christen ihre Ländereien und Äcker öde liegen, verkauften ihren Besitz, die Jungfrauen heirateten nicht, die Männer gingen nicht zur Landarbeit und die ihr Vermögen verkauft hatten, mussten um Brot betteln. Wie stark Mk 13 von der Frage der Zeit bestimmt ist, das lässt sich an den Zeitadverbien und Vergleichbarem gut ablesen, von denen der Text intensiv bestimmt ist und die ihn der Gattung »apokalyptische Ereignisordnung« zuweisen: »Wann?« (V. 4); »noch nicht das Ende« (V. 7); »Anfang der Wehen« (V. 8); »zuerst muss noch …« (V. 10); »wenn …, dann …« (V. 14); »jene Tage« (V. 19); Zeitverkürzung (V. 20); »dann« (V. 21); »in jenen Tagen … nach der Bedrängnis« (V. 24); »dann« (V. 26.27); »schon« (Jahreszeiten) (V. 28); »nahe« (V. 28.29); »bis … diese Generation« (V. 30); »jenen Tag, jene Stunde« (V. 32) »wann« (V. 33.35); »abends oder mitternachts oder beim Hahnenschrei oder frühmorgens« (V. 35); »plötzlich« (V. 36).
Das Evangelium nach Markus
Auswertung: Mk 13 ist nicht die Reaktion auf eine sich verzögernde Parusie; sie ist nicht das Problem. Intention ist vielmehr ein argumentatives Hinausschieben der Parusie, und zwar ohne Verzicht auf den Appellcharakter apokalyptischer Rede. Dass immer wieder das »Noch nicht« betont wird und ebenso die Fülle der Vor-Ereignisse, bedeutet einen Verzicht auf klare Vorzeichen des Endes. Gerade das aber bedingt die Wachsamkeit (V. 33.35.37). Die Plötzlichkeit des Endes wird auch wegen der Distanzierung von jeder politischen Ambition betont. Vorzeichen auf der Erde gibt es nicht. Das Einzige, was bleibt, sind in V. 24f unmittelbar vor dem Kommen des Menschensohnes platzierte Ereignisse am Himmel; der Himmel hat eigene Zeichen. – Die christologischen Hinweise in 13,6.22 lassen erkennen, dass sich das MkEv gerade in seiner Christologie (Menschensohn!) als Beitrag zur Eschatologie versteht. Die in 13,6.22 auftretenden Irrlehrer könnten auch Christen mit einem besonderen Verständnis von Apostolat bzw. Repräsentation des Herrn durch sie selbst sein. Daher gibt es nicht »den« endzeitlichen Widersacher. Seine Rolle spielen möglicherweise christliche Gruppen (vgl. zu V. 21). – Mk 13 bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Abwehr der Naherwartung aus politischen Gründen und Betonung der Nähe aus appellativen Gründen. Für das Verhältnis von Mk 13 zu anderen frühchristlichen Apokalypsen sind besonders Offb 13 und 2 Thess 2 wichtig. Mit Offb 13 vgl. die Verehrung des Götzen-Kultbildes (Offb 13,15 mit Mk 13,14), die Wunderzeichen als Propaganda (Offb 13,14 mit Mk 13,22); die Irreführung (Offb 13,14 mit Mk 13,22b). – Umso interessanter ist, dass in Offb das Motiv der Zerstörung des Tempels (noch) nicht auftaucht. Zu 2 Thess 2: Das Kultbild im Tempel nach Mk 13,14 entspricht 2 Thess 2,4 (der sich erhebt über jeden so genannten Gott, sich in den Tempel Gottes setzt und sagt, dass er selbst Gott sei). – Widersacher und Wunder (2 Thess 2,9; Mk 13,22); in die Irre führen (2 Thess 2,10f; Mk 13,22); himmlische Christologie als Antwort (1 Thess 2,8; Mk 13,26); Tempelgräuel (Mk 13,24; 2 Thess 2,2.6); Aufschub des Endes als Grundtendenz: zuerst, dann, nach (2 Thess 2,3.6
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Kapitel 13
– Mk 13,8.14b.21; Mk 13,20; 13,24); Aufhalter (die Mission) Mk 13,10; 2 Thess 2,7. Das Sitzen im Tempel (2 Thess 2,2) wird nach Mk 12,35 von Jesus selbst berichtet, denn der Lehrer pflegt zu »sitzen«. Zur Verankerung von Mk 13 im MkEv: Diese Verankerung geschieht durch wiederkehrende Stichworte. Ihr Netz gibt das Gerüst des Textes ab. »Evangelium« (Mk 13,10 mit 1,1 etc.); Gräuel der Verwüstung ist eben nicht Jesus (13,14; 14,58), sondern etwas oder jemand anderes; die Pseudo-Christusse werden Jesus nachahmen; zur Unterscheidung ist das MkEv geschrieben. »Wachsamkeit« 13,33.35 (vgl. 14,38). Aussenden von Boten: 13,27 und 3,13.15; Feigenbaum als Symbol (13,28 mit 11,13.22); Wiederkunft des Menschensohnes (13,22 mit 14,62); Hoher Rat (13,9 mit 14,55; 15,1); vor Autoritäten stehen (13,9 mit 15,2 ff).
Mk 13,1-2: Ist Jesus gemeint? Die Notiz bei Flavius Josephus (Bell 6,300-309) über den Wahnsinnigen namens Jesus könnte eine stark entstellte Nachricht über Jesus von Nazaret sein. Darauf weist Folgendes hin: 1. Der Mensch heißt Jesus. – 2. Er kommt vom Lande, hält sich in der Stadt und am Tempel auf, und seine Botschaft betrifft den Tempel, und zwar dessen Untergang. Er ist das, was man einen Unheilspropheten nennt. Das ist deshalb bedeutsam, weil die Weissagung über die Zerstörung des Tempels (und der Stadt) der Hauptanklagepunkt gegen Jesus sein wird (Mk 14,58f). Eine andere Figur dieser Art ist aus dem 1. Jh. n. Chr. nicht belegt. – 3. Josephus schildert diesen Jesus als Wahnsinnigen (303: daimonioteron; 305: mania). So wird Jesus aber auch in den Evangelien eingeschätzt, und zwar auch von der eigenen Verwandtschaft (Mk 3,21), besonders aber von Juden (Beelzebul-Vorwurf; Joh 8,48). – 4. Er wird festgenommen und misshandelt (vgl. Lk 22,63f). – 5. Er sagt nichts zu seiner eigenen Verteidigung. – 6. Die jüdischen Oberen führen ihm zum römischen Landpfleger. Dort wird er gegeißelt. – 7. Bei der Geißelung fleht oder weint er nicht; er flucht auch keinem von denen, die ihn schlagen (vgl. Ethik der Gewaltlosigkeit
193 in der Bergpredigt). – 8. Er ruft nur: »Weh dir Jerusalem!« Die Weherufe sind bei Jesus eine ausgeprägte Gattung; er richtet sie gegen Städte und gegen die Gruppen seiner Gegner. Er klagt über Jerusalem: Lk 13,34 f; 23,27-31. Besonders aber Mk 13,1-2. Die Klage über Jerusalem ist die Wiederaufnahme von Jer 7,34; 13,27; 16,9. – 9. Als Termin des Auftretens wird ausdrücklich das Laubhüttenfest angegeben (vgl. Joh 7,3). – 10. Der Jesus nach Josephus ist ungebildet (vgl. Joh 7,15), kein Unterricht. – 11. Die Stimme, von der der Verrückte redet, soll seine Rede als Wort Gottes kennzeichnen (vgl. Joh 12,28). – 12. Auch auf die Frage nach seiner Identität antwortet er dem Landpfleger nichts (vgl. Mk 15,4). – 13. Die Frage nach dem Woher des Kommens (305) hat geradezu johanneischen Stil (Joh 2,9; 7,27 usw.). – Unterschiedlich ist hauptsächlich die Datierung: Josephus lässt den Unheilspropheten bis zur Zerstörung Jerusalems sein Wehgeschrei (Fachausdruck, griech.: threnos) äußern. Diese Unschärfen sind leicht vom Stoff her zu erklären: Wer über die Zerstörung Jerusalems prophezeit, kommt selbst dabei um. Wer konnte Interesse an dieser einseitigen Jesusdarstellung haben? Wohl am ehesten jene Kreise, gegen die schon Mk 13 gerichtet ist. Mk will zeigen: Mit dem Untergang Jerusalems haben Jesus und die Christen nichts zu tun. Jesus ist kein Magier und kein Unheilsprophet, dessen magisches Wort das unmittelbar drohende Unheil provoziert hat. Daher trifft Mk 14,58 auf ihn nicht zu. – Im Unterschied zu Mk 14,58 ist Mk 13,1f nicht in der 1. Person gehalten. Josephus dagegen stellt den genannten Jesus durchaus in diesem Sinne dar. Denn der Spruch des Unheilspropheten nach Josephus »Eine Stimme …« ist nach Regeln prophetischer Formen aufgebaut. Josephus schreibt selbst: »Da glaubten die Obersten, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übermenschliche Macht treibe …« (303). – In der Nachfolge Jesu kommt es vielmehr darauf an zu leiden und zu dienen sowie den Retter vom Himmel, und niemand anderen, zu erwarten. Zu Mk 13,2 (vgl. 14,58): Beide Stellen bedeuten mehr oder weniger explizit eine Ankündigung der Tempelzerstörung. Man nannte das »Prophezeien gegen den Tempel« (gegen die Stadt, gegen das Volk); und seit Jer 26,20.23 gilt eine solche –
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194 von einem Falschpropheten ausgesagt – als Hinrichtungsgrund. So wird nach der zeitgenössischen Fassung der Prophet Jesaja zersägt, weil er in dieser Hinsicht Falsches und Ungünstiges über die Stadt geweissagt habe (Asc Jes 3,6: »Jesaja und die, die mit ihm sind, weissagen gegen Jerusalem und gegen die Städte Judas, dass sie verwüstet werden sollen … und er hat Jerusalem Sodom genannt … Und der König schickte und ließ Jesaja ergreifen.«). Offenbar ist also auch eine falsche Prophezeiung, ausgesprochen im Namen eines falschen Gottes, nicht ohne Wirkung, sonst müßte man den nicht beseitigen, der sie ausspricht. Die Wirkung ist wohl die eines Fluchs. Zutreffend ist wohl, dass man Stephanus dasselbe vorwirft wie Jesus (Apg 6,14). Nicht zutreffend ist m. E., den angeblichen Ausspruch Jesu nach Mk 14,58 mit seiner Tempelreinigung in Verbindung zu bringen. Denn wer den Tempel reinigt (z. B. von Händlern und Geschäftemachern), der will gerade nicht seinen Untergang, Zu Mk 13,20: Das apokalyptische Motiv der »Verkürzung der Tage« ist weit verbreitet. Denn Gott kann die letzten dreieinhalb Jahrwochen (Dan 9) auf dreieinhalb Jahre, Monate oder Tage verkürzen. Die wichtigsten Stellen sind Hen (äth) 80,2 (Verkürzung bedeutet für die Menschen Verzögerung; denn es dauert ja so scheinbar länger, bis die Saat reift etc.); Ps.-Philo, Buch d. bibl. Altertümer 19,13 (Zeiten von Gott verkürzt, Gestirne beschleunigt; denn Gott eilt, die Toten aufzuwecken). Das Motiv wird daher unterschiedlich eingesetzt. Vorausgesetzt ist wohl die Erfahrung, dass im Alter die Jahre schneller zu vergehen scheinen. Das wird nun auf das Alter der Welt übertragen. Gleichzeitig ist Verkürzung der Zeit Zeichen des Verfalls. Das Ziel der Verkürzung der Zeit zugunsten der Auserwählten könnte hier sein: deren schnelle Erlösung (wie in syr Bar 20; Ps.-Philo, Bibl. Altertümer 19,13: Gott eilt, die Toten aufzuerwecken, damit sie leben können) oder deren Bewahrung vor weiteren Versuchungen. Zu Mk 13,21f: Offenbar besteht auch noch im Adressatenkreis des MkEv (sonst würde Mk dieses nicht berichten) große Unklarheit darüber, ob Jesus verhüllt oder unverhüllt (visionär zu-
Das Evangelium nach Markus
gänglich) wiederkommen wird. Wird es wie beim ersten Mal sein, dass Jesus erst enthüllt, entdeckt werden muss (Joh 1,29-37)? Insbesondere wenn Jesus nur entrückt wurde, kann er als gewöhnlicher Mensch kommen; da er aber erhöht worden ist, kommt er in einer Theophanie vom Himmel. – Die Phänomene von 13,21f lassen erkennen, dass die Gegenseite noch einmal alles aufbietet. Diese Verunklarung macht eine Offenbarung vom Himmel her geradezu notwendig. Der wiederkommende Menschensohn wird selbst das Zeichen vom Himmel sein (Mk 8,11f). – Auch für das Ende steht noch einmal zur Diskussion: Kommt vorher dann noch Elia, ein anderer Prophet oder ein Prophet wie Mose? Die Antwort von Mk 13: Eine »Wiederkehr des Propheten in anderer Gestalt« nach klassischem Schema wird abgelehnt. Nichts kommt vorher, nur der Menschensohn selbst kommt direkt vom Himmel. Man kann das gut mit der johanneischen Christologie vergleichen: Nicht erst am Ende, sondern von Anfang an kommt Jesus »vom Himmel« bzw. »von oben«.
Mk 13,24-32: Zeichen des Endes Dass Sonne, Mond und Sterne kein Licht mehr geben und die Mächte ins Wanken geraten, die das Firmament tragen, bedeutet das Ende alles Vorstellbaren. Denn wenn es ganz dunkel wird und das Firmament nicht mehr droben ist, dann ist jede Möglichkeit der Orientierung vergangen. Der Zusammenbruch der Ordnung ist das Ende von Raum und Zeit und damit das Ende des Vorstellbaren. Mit wenigen Strichen gelingt die Darstellung des vollständigen Ordnungsverlustes. Wo aber das Vorstellbare zu Ende ist, tritt das Unvorstellbare ein: Der Menschensohn, den die Leser des Evangeliums als den gekreuzigten und auferstandenen Messias kennen, kommt auf den Wolken des Himmels. Jetzt ist die Macht (und Herrlichkeit) auf seiner Seite, während die des Kosmos erschüttert wurde. Die dingliche Welt ist vergangen; jetzt geht es nur noch um Personen, um den Menschensohn, seine Engel und die Auserwählten. Die Szene, die Jesus hier schildert, zeichnet er mit den Zügen der großen Menschensohnvision von Dan 7,13. Denn die Realität der Endereignisse ist nicht von dieser Welt, son-
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Kapitel 13
dern wie eine Mega-Vision nach dem Ende alles Vorstellbaren. Obwohl viele Ausleger diese Verse als Szene des Gerichts deuten, ist doch hier vom Gericht keine Rede. Der Menschensohn wird hier überhaupt nicht als der Weltenrichter geschildert (das ist er nach Mt 25,31 ff). Hier lässt er nur seine Auserwählten sammeln. Nur sie sind im Blick (vgl. auch Lk 17,34-37). Ähnlich ist es auch nach der wohl ältesten Parusieschilderung aus der Hand des Apostels Paulus in 1 Thess 4: Die Christen werden alle »mit dem Herrn zusammen« sein. So auch Mk 13: Durch das Einsammeln, das die Engel vornehmen, wird die Gemeinschaft der Glaubenden (»Auserwählten«) mit Jesus wieder hergestellt werden. Mk 13,31 (»… aber meine Worte werden nicht vergehen«) ist eine Bekräftigung der Wahrheit des Gesagten, und zwar gerade des positiven Gehaltes: Entscheidend ist nicht, dass Himmel und Erde vergehen werden (das hatten V. 24f gesagt), sondern dass Jesu Verheißung weit darüber hinaus reicht, nämlich bis hin zur Vollendung der Gemeinschaft mit ihm, dem Menschensohn. Insofern mahnt V. 31, das Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren. In V. 32 (nur der Vater kennt die Stunde, auch nicht der Sohn) betont die strikte Verborgenheit des Termins trotz aller Bemerkungen in Mk 13. Weder die Verzögerung noch die Nähe ist zeitlich sicher anzunehmen. Alle Angaben, die aufgrund des vorangehenden Kapitels zu größerer Sicherheit über den Termin verhelfen könnten, entfallen daher als nutzlos. Zum Thema Apokalyptik wird regelmäßig übersehen, dass in allen apokalyptischen Texten des Neuen Testaments am Ende eine Aussage über die erneuerte und sehr innige Gemeinschaft mit Jesus steht, so etwa das Bild der Hochzeit in der Offenbarung des Johannes. Denn dass die Welt nicht ewig währt, dass sie auch im Ganzen vergänglich, weil zeitlich ist, das war zumindest bei einem Teil der Menschen der Zeit Jesu Allgemeingut, bis hin zum Weltbrand. Unklar war aber das Danach. Denn wer konnte schon darüber Genaueres sagen, was nach dem Ende der Welt geschehen werde? Der »Ausgang der Geschichte« ist für Christen gerade nicht »offen«, sondern es wird sein – so hoffen sie – wie damals, als Jesus mit seinen Jüngern zusammen war.
Denn was nützt alles andere, wenn man keine Hoffnung hat? Dass das ewige Leben in Gemeinschaft mit dem bestehen wird, den man aus dem Evangelium so gut kennt, und der so genau die Kriterien der Zugehörigkeit beschrieben hat, das tröstet in allen Ängsten. Zu Mk 13,30: Der Ausdruck »dieses Geschlecht« bzw. »diese Generation« ist mehrdeutig. Sind es die »Zeitgenossen« (im Sinne von: alle, die jetzt leben), oder ist es »dieses Geschlecht« im Sinne von »dieses böse Geschlecht«, »diese Sorte Menschen«? Und für die Naherwartung gilt: Aus der Ferne, von München aus, sind die Alpen bei Föhnwetter zum Greifen nahe. Auch wenn noch ganze Landschaften dazwischenliegen.
Mk 13,33-37: Das Gleichnis vom Türwächter Die Rolle des Türhüters ist der besondere Fall, der aus den Funktionen herausgegriffen wird, die der Hausherr bei seinem Weggang verteilt. An ihm macht Jesus deutlich, was für die Apostel und dann auch für alle Christen gilt, nämlich dass sie wachen sollen, weil der Herr jederzeit kommen kann. Jedenfalls soll es in dem Bild, das hier gebraucht wird, die Nacht sein, in der er kommt. Nun ist das sicherlich genauso bildlich zu nehmen wie das Wachen. Beides passt und gehört zusammen. In der Nacht schläft man üblicherweise. Und die Nacht steht für die ganze Zeit bis hin zum Kommen des Herrn. – Das verwundert nicht, denn die Nacht steht dem »Tag des Herrn« gegenüber. Wenn der Herr kommt, bricht das Licht seines Tages herein. Bis dahin herrscht das Dunkel der gegenwärtigen Weltzeit. In dieser Zeit schlafen die meisten Menschen, und das legt sich nahe; denn trotz Nacht etwas zu erkennen, ist sehr mühsam, zumal damals, zur Zeit Jesu. Die Menschen sind geradezu blind im Dunkeln. Sie wissen nicht, was Wirklichkeit ist und begnügen sich mit dem Kreatürlichen (Schlaf), das umfassender Ausdruck ihrer Schwäche ist. Daher ist der Schlaf auch in der philosophisch geprägten Umwelt Jesu das Bild für das normale Dahindösen der Menschen und ihre Genügsamkeit in Bezug auf Wahrheit. Wer es trotz Nacht auf sich nimmt wach zu bleiben, tut etwas, das den meisten Menschen
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196 als widernatürlich erscheinen muss. Er »simuliert« lange vor Tagesanbruch, mitten in der Nacht, die Situation des Tages. Er nimmt den Tag in gewissem Sinne vorweg. Denn er denkt nur an den Tag. Er will es nicht verpassen, wenn der Herr kommt. Freilich schildert Jesus nicht ausführlich das Kommen des Herrn, sondern der Ton liegt auf der Funktion des Türhüters jetzt. So gibt es wenigstens einen, der auf den Herrn wartet. Wie der Wächter aufs Morgenrot (Ps 130,6) hofft, erwartet er den Herrn. Er kann und will nicht schlafen, bis er endlich da ist. Jesus ist so unfein, so unhöflich, an diese Grundgemeinheit zu erinnern: Menschen müssen wachen, um ihr und anderer Leben willen. Gemein ist das deshalb, weil das Recht auf Schlaf zu den ganz elementaren Grundrechten des Menschen gehört. Auch hier ist das Neue Testament äußerst skeptisch gegenüber den lebensnotwendigen elementaren Vorgängen. – Das Wachen bezieht sich, wie auch sonst die Grundmotive der Sklaven-Gleichnisse, auf die Zwischenzeit bis zum Kommen des Herrn. Mk 13,34-37 ist das einzige wirkliche SklavenGleichnis bei Mk; 12,1-10 ist nur entfernt verwandt. In den typischen Sklaven-Gleichnissen sind folgende Züge konstitutiv: Im Gegenüber von Herr und Sklave(n) ist der Sklave eigenverantwortlich bis zum Kommen des Herrn am Ende. Denn der Herr ist jetzt nicht anwesend, er kommt erst zu einer bestimmten Zeit. Das eigentliche Thema ist stets die Bewährung des Sklaven in der Zwischenzeit; entweder ist ihm etwas anvertraut oder das unerwartete, plötzliche Wiederkommen des Herrn ist entscheidend für den Knecht. In diesen Fällen liegt alles daran, dass die Sklaven »wachen«. Haben sie sich bewährt in dem, was ihnen anvertraut worden ist, oder sind sie nicht in den Schlaf gefallen, wenn der Herr wiederkommt, werden sie belohnt (vgl. auch Himmelfahrt des Jesaja in Jes 4,16: »Und der Herr wird denen dienen, die in der Welt wachsam gewesen sind«). Es geht mehr oder weniger vollständig um vier Phasen: 1. Abreise des Herrn in die Abwesenheit;
Das Evangelium nach Markus
– 2. Übergabe von Aufträgen, Vermögen oder Vollmacht an die Sklaven; – 3. Verhalten der Sklaven in der Zeit der Abwesenheit des Herrn; – 4. Ankunft des Herrn plötzlich oder nach Verzögerung mit Belohnung oder Bestrafung der Sklaven. – Dieses Grundmuster hat folgende theologische Bedeutung: Die Sklaven bilden die Christen ab. Diese stehen wie jene in verbindlichem Dienst. Gegenüber ihrem Herrn sind sie persönlich verpflichtet (anders beim Gesetz als einer eher unpersönlichen Größe). Die Zwischenzeit erfordert Bereitschaft und Wachsein, Geduld im Ertragen der sich dehnenden Zeit, faires Verhalten gegenüber den Mitsklaven. Vollmacht und Aufgaben für die Jünger erfordern ebenso gehorsames wie phantasievolles Verhalten. Gefüllt wird dieses Grundschema u. a. auch mit dem Personal der jungen Frauen, die auf den Bräutigam warten, oder die Unbestimmtheit der Stunde wird mit dem Kommen des »Diebes« verschärft. Die Besonderheit von Mk 13,34-37 liegt in Folgendem: Nach 13,34b hat der Türhüter besonders hervorgehobene Vollmacht. 13,34a schildert den üblichen Vorgang, 13,34b die spezielle Pointe. Das bedeutet: Der Türhüter wird nicht von den anderen abgesondert oder über sie gestellt; die anderen Funktionen der übrigen Sklaven stehen nicht im Blick. Vielmehr schildert V. 34a die übliche Szene, V. 34b die besondere Konkretion, auf die es hier allein ankommt. Daher handelt es sich um das Gleichnis vom Türhüter. Denn der Türhüter ist für alle die zuständig, die zu später oder früher Stunde überhaupt am Haus ankommen. An ihm kann man das erkennen, von ihm kann man das lernen, worauf es hier ankommt: bereit zu sein für die Ankunft des Herrn, gerüstet zu sein für die Begegnung mit ihm. Die Pointe des Gleichnisses heißt daher: Seid wachsam wie Türwächter! Der Türwächter des Gleichnisses steht für alle Christen. Damit wird auch gewarnt vor einer Überraschung, die als unvorhergesehen nicht gut ausgehen kann.
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Kapitel 14
Mk 14: Der Anfang vom Ende Aufbau: Mk 14,1-31 ist im Aufbau Mk 11 sehr ähnlich. In beiden Fällen sendet Jesus je zwei Jünger voraus, die ganz selbstverständlich das finden, was dem Lehrer zusteht: den Esel nebst Füllen zum Einzug in Jerusalem und das Gemach für das letzte Mahl. In beiden Fällen beschreibt Jesus ganz genau, was die Jünger finden werden (zwei Esel, einen Mann mit Wasserkrug) und trägt ihnen ihre Frage genau auf. – Durch diese parallele Gestaltung gewinnt der Leser den Eindruck, dass es sich um konzentrische Kreise handelt, die mit vergleichbar wichtigen Ereignissen verbunden sind, nämlich mit der Inbesitznahme des Tempels bzw. dem Bundesmahl im Saal.
Mk 14,3-9: Salbung Jesu Eine vorweggenommene Totensalbung kennt das Judentum nicht. Wohl aber gibt es in antiken Biografien vor dem Tod der bedeutenden Person stets merkwürdige Ereignisse, die auf sein bevorstehendes, ansonsten unerwartetes Ende hinweisen. Man nennt diese Ereignisse biografische Prodigien, d. h. Vorzeichen. Je bedeutender die beschriebene Person ist und je unerwarteter das Ende, umso wichtiger sind derartige Prodigien. Das Weltbild im Hintergrund setzt voraus, dass nichts zufällig geschieht, dass die einzelnen Bereiche des Weltablaufs aufeinander verweisen und dass man, könnte man die Zeichen richtig deuten, sehr wohl künftige Ereignisse zuvor ahnen könnte. Grundsätzlich verwandt sind die apokalyptischen Vorzeichen, deren Sinn und Unsinn in Mk 13 diskutiert werden. – Die Extravaganz der großen Summe und die Antwort Jesu (Arme allezeit/mich aber nicht) weist darauf, dass die Frau Jesus als Gott ehrt. Daher auch das Amen-Wort in 14,9. Denn entweder ist Jesus ein Zyniker (das Geld hätte man doch gut für Arme ausgeben können) – oder er hat Recht. Im letzteren Falle ist keine Ehrung zu viel, denn sie gilt ja Gott. – Im Übrigen werden alle leiblichen Kontakte mit Jesus in den Evangelien Frauen zugeschrieben. – Dass es sich hier (wie auch in Lk 7,37-50) um Maria Magdalena handeln soll, hat man aus Joh 12,3-8 erschlossen.
Mk 14,12-16.22-26: Das letzte Abendmahl Warum wollte Jesus seinen Leib den Jüngern zu essen geben, warum wollte er, dass sie nicht nur an den Neuen Bund glaubten, sondern diesen durch Trinken aus dem Becher leibhaftig in sich aufnehmen? Wer so fragt, muss aus der Kenntnis der damaligen Zeit (1. Jh. n. Chr.) versuchen zu ergänzen, was die Texte so nicht sagen. Die Verklärung als die Szene auf dem Berg, in der offenbar wird, dass Jesus ab jetzt den Willen Gottes maßgeblich auslegt, entspricht dem anschließenden Bundesschluss in Mk 14,24. Dabei ist die historische Nachfrage wahrscheinlich töricht, ob Jesus sein letztes Mahl als Passahmahl gefeiert habe. Die Ähnlichkeiten sind zu gering. Es fehlt das Lamm, es fehlen die Bitterkräuter, die Nachfragen der Kinder, warum heute das Mahl anders gehalten wird als sonst. Es fehlt auch jede Anspielung auf Mose, den Würgengel, Ägypten und den Auszug. Die Unterschiede sind daher so massiv, dass man wohl von einer wirklichen Ersetzung (in ähnlichem Rahmen!) sprechen muss. Wenn man sich dazu entschließt, Jesu letztes Mahl dennoch als Passahmahl anzusehen, dann könnte es sein, dass Jesus mit der Institution Passahmal genauso verfährt wie mit der Institution Thora. Beide werden als Institutionen ohne Wenn und Aber bejaht. Doch ihr Inhalt wird kreativ, in Entsprechung zur neuen heilsgeschichtlichen Situation und nach Bedarf völlig neu gestaltet. Das Thema Bund ist nicht aus dem Passahmahl, sondern aus Ex 24,8 (Bundesschluss) eingedrungen. Dem »Wein« entspricht in Ex 24,8 die rote Flüssigkeit, auf alle Bundesteilnehmer verteilt. Dabei steht Brot für das Brot des Lebens, der Becher für den Bund, den Jesus seinen Jüngern als Erbe und Vermächtnis hinterlässt. Über das Brot sagt Jesus: »Das bin ich«, und damit fasst er sein ganzes Leben, seine Worte und Taten wie Lichtstrahlen mit einem Brennglas zusammen. Warum ist es sinnvoll, den Leib Christi zu essen? Es ist sicher hilfreich, für die Beantwortung dieser Frage auf Joh 6 zu blicken. Das ist nur für die ein Anachronismus, die mit einer strikten Abfolge der Evangelien der Art rechnen, dass das vierte Evangelium die drei anderen notwen-
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198 dig voraussetzt und gekannt hat. Wenn das nicht der Fall ist, darf man Joh 6 durchaus als Einführung in das Verständnis von Eucharistie begreifen, auch wenn die johanneische Gemeinschaft vielleicht gar keine Eucharistie gefeiert hat. Aber aus Joh 6 wird klar, warum man Jesus überhaupt als Brot feiern darf und warum das Essen dieses Brotes nicht nur Erkenntnis und Aufnehmen seiner Lehre bedeutet, sondern seiner selbst. Das Essen der Weisheit ist auch schon eine biblische Metapher, die in der Eucharistie nur ritualisiert würde. Aber wenn Jesus von seinem Leib redet, meint er gerade die Nicht-Ablösbarkeit seiner Lehre von seiner Person. Es geht um den leiblichen, lebendigen Kontakt mit ihm selbst, der Weisheit und Schöpfungslogos ist, aber in Person. Das ist und bleibt anstößig. Jesus ist nicht der Lehrer der Weisheit, sondern der menschgewordene Gott. Das ist eine andere Dimension, und deshalb sagt er »mein Leib«. – Und indem seine Jünger aus dem Becher trinken, den er gereicht hat, schließt er sie zum Bund zusammen. Dieser Bund wird am Kreuz geschlossen und im Abendmahlsaal vorweg ratifiziert; er wird umgesetzt, indem das Gottesvolk des Neuen Bundes Gottes Willen tut, wie es diesen aus dem Munde Jesu gedeutet erhält. Wenn Jesus den Jüngern hier definitiv seine Rolle als Heiland offenbart, als Brot des Lebens und als Mittler des Bundes, dann geschieht das sicher nicht, ohne dass die Jünger in dieser Schlüsselstunde an diesen Gütern teilhaben. Es wird auch gleich dazu gesagt, was geschieht, wenn man nicht Anteil haben will (Rolle des Judas). Denn Brot und Wein sind für sie gewiss nicht leere Symbole, die nur belehren wollen. Einen solchen Symbolbegriff (»nur symbolisch«) gibt es erst seit dem 16. Jh. – Die Fragestellung umzukehren hilft weiter: Welche Rolle spielt es denn, den Leib einer Person zu essen? Wir kennen das von der Weisheit: Sie zu essen (»die Weisheit mit Löffeln gefressen«) bedeutet größtmögliche Aneignung. Nur wird das, was in der Weisheitsliteratur metaphorisch gemeint ist, im Neuen Testament zum Ritus (»Ritualisierung von Metaphern«).
Das Evangelium nach Markus
Mk 14,26-31: Jesus und Petrus Die hier beschriebene Szene nach dem letzten Mahl und vor Getsemani ist in einer besonderen Gruppe von passionsdidaktischen Texten weiter entfaltet; dazu gehören das Tanzlied aus den Acta Johannis (Berger/Nord, Das Neue Testament, 62005, 1349 ff) und das »Unbekannte Berliner Evangelium« (ebd., 926 ff) sowie das »koptische Fragment Straßburg« (ebd., 673 ff). In allen diesen Texten erklärt Jesus den Jüngern den Sinn seines Leidens. Die Jünger antworten regelmäßig mit »Amen«. Das auch in Mk 14,26 angedeutete Singen des Hymnus spielt eine große Rolle. Vergleichbar ist ebenso die Funktion des häufig unterschätzten Abschnitts 14,26-31. Zum Aufbau: Im Rahmen werden alle angesprochen (14,27), und alle reagieren (14,31b). Zweimal widerspricht Petrus seinem Herrn (V. 27b und 29; 30 und 31). In Joh 13,37f steht das Jesus-Wort am Schluss. – Der Text gehört der Gattung nach zu den Testamenten, wie sie besonders in den Testamenten der Zwölf Patriarchen (TestXII) vorliegen. Dazu gehört die Vorhersage gemeinschaftlichen Versagens (Abfallen), ebenso die Vorhersage der Zerstreuung (sonst: in die Diaspora) und schließlich die Vorhersage der Wiederaufnahme der Beziehung (V. 28). Alle drei Phasen finden sich in den Ausblicken in die Zukunft in den TestXII Nach TestJud 22,1 wird Gott selbst aktiv handeln wie in Mk 14,27. – Der Sprachgebrauch dieser Tradition (z. B. TestLevi 16,5: Zerstreuung, bis er selbst sich wieder um euch kümmert) ist hier in das Zitat von Sach 13,7 eingedrungen. Die Gestalt des Zitats ist nicht durch LXX zu erklären, sondern durch die Gattung der Abfalls- und Wiederannahme-Vorhersagen. – Die Vorhersage in der Abfolge von Abfallen, Zerstreutwerden und Wiederzuwendung ist daher aus der Literatur der Testamente übernommen. Insofern ist die Szene Fortsetzung des Abendmahls, das ja gleichfalls testamentarischen Charakter hat. Für den Inhalt bedeutet das: Die Zwölf stehen hier wirklich für Israel, denn auf dieses bezieht sich das genannte testamentarische Schema stets. Dadurch wird auch die These bestätigt, dass Aussagen über die notwendige Schrifterfüllung stets auf Israels Geschick im Ganzen bezogen sind. – Die Wiederzuwendung
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Kapitel 14
Gottes zu Israel ist auch die Sammlung. – Zu den Texten über Abfallen und Wiederzuwendung: TestXII; TestRub 6; TestSim 5,4; TestLevi 16,1-5; TestJuda 18,1; 22,1; 23,1; TestIss 6,1-4; TestSeb 9,6-9. Im Licht dieses Abschnitts stellt sich die Passion Jesu wie folgt dar: Da Sach 13,7 mit Gott als Subjekt vom Schlagen des Hirten spricht, erscheint die Passion Jesu hier (und nur hier) als Bestrafung Israels durch Gott. Die Flucht der Jünger liegt auf der gleichen Linie. Das heißt: Weil Israel Jesus nicht folgte, wird es durch Entzug des Messias und Zerstreuung seiner Jünger bestraft. (Anders Barn 5,11f: »Wenn sie [d. h. die Juden, die schon die Propheten verfolgt haben,] ihren Hirten schlagen, gehen die Schafe der Herde zugrunde.« D. h.: Die Juden haben die Wunden an Jesu Körper verursacht, deswegen hat Jesus die Leiden ertragen). In Sach 13,7 MT ist vom Strafgericht gegen den Hirten und die Kleinen die Rede (das Targum: Gegen den König und den Prinzen, seinen Gefährten, der ist wie er). Da hier die Rede vom Ärgernis ist, das die Jünger (bei Sach: die Kleinen) nehmen werden, dürfte in Sach 13,7 der Ursprung der Rede vom Ärgernis sein, das man den Kleinen nicht geben darf. Es handelt sich daher um eine Schriftauslegung. – Die Auferstehung Jesu und die Begegnung mit den Jüngern danach erfüllen den klassischen Topos der Wiederzuwendung Gottes zu seinem Volk! Zu Mk 14,31: In der Briefliteratur ist das Mitsterben (mit Jesus) ein wichtiger systematischer Topos (2 Tim 2,11f; Röm 6,3f; 2 Kor 7,3).
Mk 14,32-42: Im Garten Getsemani Aufbau: Die Basisopposition des Abschnitts besteht nach der Einleitung (V. 31-34) zwischen V. 35 (»Er fiel auf den Boden«) und V. 42 (»Richtet euch auf! Gehen wir!«). Zwischen der Demonstration der Schwäche und der Stärke liegt V. 38 mit dem Wendepunkt. Dem Kontrast zwischen Schwäche und Stärke in der Erzählung entspricht der Kontrast zwischen Fleisch und Geist in Mk 14,38. Bestimmend für die Pointe des Textes ist der Kontrast zwischen dem betenden Jesus und den
199 schlafenden Jüngern. Auch die Formulierung des wichtigen Verses 38 weist darauf hin, dass Jesus hier als Vorbild der Jünger in ähnlichen Situationen gezeichnet wird. Die drei schläfrigen Jünger sind ähnliche Kontrastfiguren wie im weiteren Verlauf der Passion Judas und Petrus. Das Negativ-Beispiel der Jünger steht vor der allgemeinen Jüngerbelehrung auch in Mk 8,32 f.34-38 (Petrus und Leiden Jesu); Mk 9,18bf.28-29 (Unfähigkeit zu Exorzismen); 10,13-14a.14b-15 (Jesus und Kinder); 10,17-22.23-31 (reicher Jüngling); 10,35-40.41-45 (Jakobus und Johannes, Dienen); Lk 22,24.25 (Jüngerstreit). Die Szene in Getsemani bildet mit anderen Berichten und Notizen über Jesu Versuchung einen eigenen biografischen Strang in den synoptischen Evangelien. Dem JohEv ist das Thema völlig fremd. Denn die synoptischen Evangelien schildern Jesus als Typus des idealen Christen (inklusive Taufe und Versuchung); im JohEv ist gerade das nicht der Fall, denn Jesus wird weder getauft (nicht in Joh 1,29-34) noch versucht. Im JohEv ist Jesus nicht Vorbild der Jünger, sondern die Gabe Gottes in Person. Zu Mk vgl. besonders 1,13 und 8,33. An beiden Stellen »Satan«, das Verb »versuchen« in Mk 1,13; 14,38. Versuchungen sind typisch für den Neu-Initiierten, besonders also nach der Taufe. Das zugehörige Wortfeld umfasst die Stichworte »Bewährung« (griech.: dokim-), Versuchung, Drangsal, Geduld (griech.: hypomen-), Satan. Für Christen besteht die Versuchung in der Gefahr des Rückfalls in das »alte Leben«. – Das Bestehen jeder Versuchung wird »belohnt« (Offb 2,10; Jak 1,12: Krone des Lebens; Lk 22,29f: Sitzen auf Thronen; 1 Petr 1,6f: Lob und Herrlichkeit; Mk 1,13: Dienst durch Engel, Immunität gegen Bestien). Nach Lk 22,29f kennzeichnen Versuchungen das gesamte Leben Jesu. Die Jünger haben mit Jesus darin ausgeharrt. Lukas geht daher davon aus, dass die Versuchung (Lk 4,1-13) nicht die einzige war. Nach dem Kontext in Lk 22 bestanden die Versuchungen regelmäßig im Missbrauch der eigenen Vollmacht zugunsten eigener Macht-Interessen. – Die Versuchung Jesu nach Mk 14 besteht in der eigenen Leidensscheu. Da Jesus Vorbild der Jünger ist, zeigt er ihnen in Mk 14, dass Versuchungen dieser Art durch Gebet überwunden werden können. Die christologische Pointe besteht darin: Jesus
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200 ist nicht der leidensfreie Held, der über sich selbst verfügt; doch durch den Kontakt mit Gott im Gebet versteht er es, das Leiden zu ertragen. Zur theologischen Bedeutung: Das MkEv zeichnet selbst diesen Bericht dadurch aus, dass die drei besonderen Offenbarungszeugen Petrus, Johannes und Jakobus mit Jesus mitgehen (vgl. Verklärung und Auferweckung der Jairus-Tochter). Doch das entscheidende Geheimnis bekommen die Jünger gar nicht mit, da sie schlafen. Das Ereignis von Getsemani ist damit wie die Auferstehung Jesu selbst den Jüngern unzugänglich. Denn es handelt sich um das Geheimnis der »Bewältigung des Leidens«. Was in Mk 8,32f als Versuchung im Denken der Jünger erscheint, der sie erliegen (»Satan!«), hat Jesus schon in Mk 8 durch eben die Titulierung des Petrus als Satan selbst als Versuchung begriffen. In Mk 8 ist es noch eine Denk-Versuchung, in Mk 14 eine physisch durch Zittern und Todesangst erfahrene. Aus der Versuchung der Jünger ist vollends eine massive Versuchung Jesu geworden. Damit aber wird das Thema von Mk 8,32f wieder aufgenommen. Und auch jetzt versagt Petrus, indem er mit den beiden anderen Jüngern einschläft und damit erneut dem Thema Leiden nicht gewachsen ist, ja dessen Lösung durch den Gebetskampf nicht mitbekommt, was sein Ableugnen in der Passion direkt erklärt. Das dreifache Einschlafen (14,37.40.41) entspricht dem dreifachen Versagen des Petrus in der Passion. Immerhin gibt Jesus in der Aufforderung »Wachet und betet« in 14,38 ja das Resultat seines Kampfes an die Jünger weiter. Eine Beziehung ergibt sich auch zu Mk 13: Denn dort wird angesichts der drohenden Ankunft von Pseudo-Christussen wie hier zum Wachen und Auf-sich-Achten aufgefordert. Sind die Pseudo-Christusse ebenfalls solche, die nicht leiden wollen? Zu Mk 14,36: Die Anrede »Abba, Vater« findet sich nur hier im Munde Jesu (nicht bei Mt und Lk). Es ist unverständlich, weshalb man dann, von dieser Stelle ausgehend, diese Anrede zum exklusiven Merkmal von Jesusworten machte. Die paulinischen Belege (Röm 8,15; Gal 6,4) zeigen, dass diese Gebetsanrede auch und gerade bei Heidenchristen üblich war. Die an allen drei
Das Evangelium nach Markus
Stellen gebotene Form »Abba, Vater« könnte erklären, warum das so ist: Sie entspricht der Anrede in griech. Gebeten »Zeus, Vater« und ist eine Analogiebildung dazu. Der Grund: Die Heidenchristen werden gefragt haben, wie denn der Gott der Christen heiße. Auch die hebr. Bibel kannte einen Namen für Gott. Die Septuaginta wie die Christen heute haben dergleichen nicht nötig; denn wenn die Einzigkeit feststeht, genügt die Anrede mit »Herr, Gott«. So wie die Alternativen andere Götter sind, muss dieser Gott aber einen Namen haben. Die Gebetsanrede »Abbinu« (»Unser Vater …«) ist aus den zahlreichen aramäischen Gebeten in den Targumen bekannt. Dieses ist der Boden, auf dem man Abba als Anrede und Gottesnamen verstehen konnte. Analog zu »Zeus, Vater« hat der Name für kurze Zeit unter Heidenchristen »Karriere gemacht«. Umstritten ist das, was Gott »will«. Wo immer es in den Evangelien um den Willen Gottes geht, handelt es sich um das, was Menschen tun sollen, nicht um das, was sie (von anderen!) erleiden sollen. Wendet man diese Einsicht auf diese Stelle an, so ergibt sich: Nach dem Willen Gottes soll er – soweit wir das aus dem erschließen können, was Jesus nachher tut – nicht weglaufen, sich nicht wehren, vielmehr geduldig ertragen, seiner Sendung treu bleiben. Der Wille Gottes ist demnach aber nicht, dass Dritte Jesus quälen, foltern und kreuzigen. Das alles lässt Gott, ohne einzugreifen, zu. Aber es ist nicht sein Wille, den Jesus erleiden muss. Es geht weniger um »Fügung« in Gottes Willen, als vielmehr um ein Minimum von Aktivität bzw. Nicht-Tun. Formgeschichtlich ist der Passus »Aber nicht, was ich will …« die für Gebete typische Selbst-Erniedrigung des Beters (griech.: tapeinosis). – Größte Nähe: Paralip Jeremiae 1,6 (Bitte Baruchs: »doch ist es dein Wille, so …«). – Andere Möglichkeit: Leiden als Gottes Wille nach 1 Petr 3,17; 4,19. Zum Heiligen Geist (vgl. hier die anschließend folgenden Hinweise zu V. 38) besteht ein Zusammenhang: Past Herm, Mand 11,8 (Wer das göttliche Pneuma hat, ist demütigen Sinnes). Zu Mk 14,38: Die Verbindung »Wachen und Beten« weist in die Nähe der Sklaven-Gleichnisse (Wachen als die Art der Vorbereitung auf das Kommen des Herrn in der Zwischenzeit). Wörtlich vgl. Eph 6,18; Kol 4,2; Lk 21,36; 5 Esra 2,13
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Kapitel 14
(erbittet für euch, dass es nur noch wenige Tage sind [vgl. Mk 13,20b], für euch ist das Reich [Gottes] schon bereitet, seid wachsam!). Die Verbindung von Wachen und Beten stammt aus der jüdischen Praxis, frühmorgens zum Gebet in den Tempel zu gehen; das entsprechende Wort für früh aufstehen/wachen ist griech. orthrizein. – Vgl. Buch des Thomas (kopt): »Wachet und betet, dass ihr nicht im Bereich des Fleisches bleibt, sondern dass ihr der bitteren Fessel des Lebens entkommt, und wenn ihr betet, werdet ihr Ruhe finden.« Mahnungen zu wachen finden sich bei Mk nur in Mk 13,33-37 und hier (14,38), beide Male also in abschließender (testamentarischer) Position. Das ist auch sonst typisch für urchristliche Texte: Apg 20,28.31 (Testament des Paulus an die Epheser); 1 Kor 16,13 (Abschluss des Briefes); 1 Petr 5,8 (Schluss des Briefes); Eph 6,18; Kol 4,2; 1 Thess 5,6.10; Didache 16,1. Auch im MtEv gibt es das Wort »wachen« nur zwischen 24,42 und 26,41 (in 24,42f; 25,13; 26,38.40f). Das heißt theologisch: Wachen, auf sich achten (Apg 20,28; 2 Petr 3,15.17) oder sich hüten stehen in abschließenden Mahnungen und bedenken die Zeitspanne ohne den Lehrer, der spricht. Wenn dieser nicht mehr sorgen kann, müssen die Jünger selbst auf sich achten. Der jeweilige Text begreift sich als ein Stück der Endzeit. Gleichzeitig belegt der Vers für Mk singulär die Anteilhabe an der für die Evangelien seltenen (vgl. aber Joh 3,6; 6,63), für Paulus dagegen typischen (vorpaulinisch wohl sicher in Röm 1,3) theologisch gewichtigen Verbindung von »Fleisch« und »Geist« (griech.: sarx – pneuma). An keiner der Stellen ist die Verbindung anthropologisch zu verstehen. Überall geht es um den Bereich der kreatürlichen Schwäche, Anfälligkeit und Sterblichkeit einerseits und den Bereich der göttlichen Kraft, Vitalität und des ewigen Lebens andererseits. Das Gebet ist hier und anderswo die entscheidende Möglichkeit, gegenüber der kreatürlichen Hinfälligkeit an Gottes Vitalität Anteil zu erhalten (vgl. die Texte über die Verbindung von Gebet und Geist, z. B. Eph 6,18; Judasbrief 20; Lk 3,21f;11,2 [Hss.].13; Röm 8,26-28). Alle genannten Verbindungen (wachen und beten, Fleisch und Geist, Beten und Geist) sind typisch (wenn auch nicht exklusiv) christlich
201 und können gerade wegen der Kombination in Mk 14,28 Wesentliches zur Frage der »Spiritualität Jesu« beitragen. Das Gebet bedeutet persönlichen Kontakt mit der himmlischen Welt. Beten ist immer beides: Bitte um den Geist und geistgewirkt. Wer das weiß, kann leichter beten. Angst und Leiden lassen sich leichter überwinden, wenn Gottes Geist im Spiel ist. – Zu Gebet und Versuchung vgl. auch das Vaterunser mit Mt 6,13; weitere Querverbindungen: Relativ eng sind die Beziehungen von Mk 14 zu 1 Petr 5,6-10: Selbst-Erniedrigung (Mk 14,36b [Gattung]; 1 Petr 5,6); wachen (1 Petr 5,8; Mk 14,38); Teufel/Versuchung/Glaube [= Wortfeld Versuchung] (1 Petr 5,8f; Mk 14,38); Leiden/übergeben werden zur Passion (1 Petr 5,9; Mk 14); stärken (1 Petr 5,10; Mk Verlauf [Lk 22,43 stärken]); Sorge auf den Herrn werfen (sc. im Gebet/Beten; 1 Petr 5,7; Mk 14,38). Schon länger diskutiert wird die Beziehung von Mk 14,32-39 zu Hebr 5,7: Fleisch/Tage des Fleisches (Mk 14,38; Hebr 5,7); Beten/Bittgebete und Flehrufe (Mk 14,32.35.38f; Hebr 5,7); Gott vermag, vermag alles (Mk 14,35f; Hebr 5,7: Gott vermochte ihn zu retten); aus dem Tod (sc. retten) (Mk 14,36; Hebr 5,7); Versuchung (Mk 14,38; Hebr 4,15 im direkten Kontext). Beziehung zwischen Mk 14,38 zu Eph 6,13-16: Geist (Mk 14,38; Eph 6,17f); wacht und betet (Eph 6,18; Mk 14, 38); Stehen/Widerstehen/ Glaube/der Böse (Mk 14,42; Eph 6,13f). Zu Joh 12,23-26 siehe dort. Auswertung: Die engen Beziehungen zu 1 Petr, Eph und Hebr beziehen sich auf das Thema Wachen und Beten im Kontext von Versuchung und Bewährung des Glaubens. Jesu »Versuchung« wird im Kontext dieser allgemeineren typischen Situation gesehen (und umgekehrt). Die Situation ist jeweils ähnlich, die sprachlichen Instrumente, sie zu beschreiben stehen bereit. (Ergänzung siehe S. 1051) Zu Mk 14,58: Angenommen, Mk 14,58 wäre ein echten Jesuswort, dann gälte: Der Ich-Stil rührt aus prophetischer Gerichtsvollmacht in persona dei her. Die erste, negative Hälfte hätte ihre Entsprechung in den in seiner Echtheit unbezweifelten Wort ThomasEv 71. Die zweite, positive Hälfte bezöge sich auf den mit Geisterhand erbauten neuen Tempel. Über solche mächtigen Geister ge-
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202 bot schon Köng Salomo bei der Erbauung seines Tempels. Diese Geister sind jetzt am Boden des Roten Meeres gefesselt und warten auf die Ankunft des Messias, der ihnen gebieten und mit ihrer Hilfe den neuen Tempel errichten kann. Nimmt man beide Hälften metaphorisch, so kann es sein, dass der Prophet eine Unheilszeit und eine nachfolgende Heilszeit verkündigen will. – Der Evangelist Mk musste das Wort auf jeden Fall für beide Hälften als unecht bezeichnen, konnte Mk 13,1f aber als Jesuswort annehmen, weil er jede aktive Einbindung Jesu in irgendein Unheil verhindern wollte. In Mk 13,1f steht dies schon beschrieben. Das darf sein. – Wer fälschlich oder zum Unheil gegen Jerusalem prophezeit, hat den Tod verdient: Jer 26,20-24.
Mk 14,62-65: Der Christus-Titel Der Abschnitt gibt eine deutlich pneumatologisch-prophetische Deutung und Füllung des Christus-Titels. Eine militärische Deutung scheidet völlig aus. Der Christus-Titel ist zu neutestamentlicher Zeit vieldeutig und bezeichnet lediglich eine wichtige Gestalt der Endzeit. In Qumrantexten (z. B. 11QMelch kennt den Gesalbten des Geistes) und auch sonst handelt es sich um eine prophetische Figur. In der Frage Mk 14,62 ist deshalb »Christus« durch »Sohn des Hochgelobten« präzisiert. Sohn Gottes aber ist Jesus im Neuen Testament stets durch den Besitz des Heiligen Geistes. Wegen Jes 61,1f nenne ich das eine prophetische Interpretation des Christus-Titels. Darauf, dass diese auch in Mk 14 vorliegt, weisen zwei Fakten: In 14,65 wird Jesus zum Spott aufgefordert: »Prophezeie« (Berger/Nord: »Du bist doch ein Prophet, sag, wer hat dich geschlagen?«). Prophezeien aber ist Merkmal eines Propheten. Außerdem wird Jesus beschuldigt, Gott gelästert zu haben. Deswegen reißt sich der Hohepriester die Kleider vom Leib (das Zerreißen von Leinengewändern wäre wohl über seine Kräfte gegangen); denn wer einer Lästerung beigewohnt hat, dem »hängt sie in den Kleidern« (wie vormals Zigarettenrauch nach einem Bar-
Das Evangelium nach Markus
besuch). Die Lästerung aber liegt deshalb vor, weil mit dem markinischen Anspruch auf Gottessohnschaft eben der Geistbesitz beansprucht wird. Damit aber geht es um das Phänomen der Sünde wider den Heiligen Geist. Wer den Heiligen Geist jemandem zuspricht, der ihn nicht hat, lästert genauso Gott wie einer, der ihn jemandem abspricht, der ihn hat. Deshalb ist Mk 14,62-65 nur die Retourkutsche zu Mk 3,23-30. Denn wenn es um Inspiration geht, gibt es nichts Drittes, Neutrales, sondern entweder ist jemand vom Heiligen Geist inspiriert oder vom Satan. Eine Falschzuschreibung aber ist tödlich, eben unvergebbare Sünde. Denn dann prallt das falsche Wort, die falsche Zuordnung von dem fälschlich identifizierten Träger ab und trifft nach dem Bumerang-Prinzip den ursprünglichen Sprecher. Lästern aber ist hier, den Heiligen Geist als Teufel zu bezeichnen und umgekehrt. Auf Gotteslästerung aber steht die Todesstrafe. – Wenn also Jesus beansprucht, Gottes Sohn zu sein, aber nach Ansicht seiner Gegner den Geist Gottes gar nicht hat, dann lästert er Gott. Denn der Heilige Geist ist die ultimative Präsenz Gottes (vgl. Apg 5,3). Die Gegner Jesu teilen daher die pneumatologischen Voraussetzungen des Urchristentums. In diesem Sinne ist auch noch ThomasEv 13 zu verstehen (»Wenn ich euch eines der Worte sage, die er mir gesagt hat, werdet ihr Steine nehmen und auf mich werfen, und Feuer wird kommen aus den Steinen und euch verbrennen.« Thomas wird demnach zunächst als Lästerer betrachtet werden und gesteinigt werden. Die wahren Lästerer sind aber die, die ihn steinigen wollen. Daher werden sich ihre Steine gegen sie selbst wenden.); PetrusApk (kopt) NHC f. 3: »Hier wirst du nur gelästert, gepriesen aber, wo man dich kennt.« D. h.: Hier hält man Petrus für einen Nicht-Pneumatiker, im Himmel wird er aber gegenteilig eingestuft. Die sorgfältigen Umschreibungen »Sohn des Hochgelobten« und »zur Rechten der Macht« sollen sicherstellen, worin die Lästerung jedenfalls nicht liegt. Sie liegt auch nicht im üblichen Gebrauch des »Sohnes Gottes« etwa in SapSal 5.
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Kapitel 14
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Die Passionsberichte Gemeinsamkeiten der Passionsberichte in den vier Evangelien Verhaftung (Judas); Ohr des Sklaven des Hohenpriesters; Verhör (Stichwort: Hoherpriester); dreifache Petrus-Verleugnung; Übergabe an Pilatus (Joh: Prätorium). Gemeinsam: »Bist du der König der Juden?«; Verhör durch Pilatus; Pilatus findet keine Schuld; Barabbas-Szene; Geißelung, Dornenkrone, Verspottung als König der Juden (keine Entsprechung zu Mk 15,16-20a; parr bei Lk); Übergabe zur Kreuzigung (griech.: paredoken); Gang zur Kreuzigung (Joh: Jesus trägt den Kreuzesbalken selbst; Synoptiker: Simon v. Kyrene); Kreuzigung; Teilen der Kleider; zwei Banditen; Verspottung des Judenkönigs am Kreuz; Essig zu trinken; Kreuzesinschrift (»Der König der Juden«); letzte Worte Jesu am Kreuz (unterschiedlicher Inhalt: Mk und Mt: »Wozu hast du mich verlassen?«; Lk »Vater, in deine Hände …«; Joh: »Es ist vollbracht«; PetrusEv: »Meine Kraft, o Kraft, du hast mich verlassen«); Tod Jesu; Maria von Magdala als Zeugin; Bitte um Überlassen des Leichnams an Pilatus und Begräbnis durch Josef v. Arimatäa. – Größere Besonderheiten der Markus-Passion gegenüber Mt und Lk gibt es nicht. Das theologische Konzept der Markus-Passion Durch die Voranstellung von Mk 13 (»übergeben« und »vor Königen stehen zum Zeugnis« in V. 9) gehört die Mk-Passion zwar nicht zu den Endereignissen im engeren Sinn, wohl aber zu den apokalyptischen Wirren in deren Vorfeld. Das dominierende Thema des Passionsberichts ist Jesus als der leidende Gerechte. Als solcher wird er versucht, bekennt er sich als Menschensohn und lässt an sich Ps 22 und Ps 69 in Erfüllung gehen. Sowohl durch die Art, in der Jesus die Versuchung in Getsemani und am Kreuz besteht, als auch durch sein Zeugnis vor dem Hohenpriester wird Jesus zum Vorbild der Christen auf ihrem Weg. Das Versagen von Judas, Petrus und allen Jüngern steht im Kontrast dazu. – In beiden Verfahren seines »Prozesses« schweigt Jesus und setzt damit die Thematik der Verhülltheit aus dem Evangelium fort. Der Name »König der Juden« taucht bei Mk erst in der Passion auf, und zwar erst dann, als
Jesus bereits Pilatus ausgeliefert worden ist. Damit wird nach Mk erst ab hier der Fall Jesu auch politisch. – Verspottet wurde Jesus noch als »Prophet« (Mk 14,65). Die beiden großen Verhörszenen führen indes zu demselben Ergebnis. Juden und römische Heiden plädieren für die Todesstrafe. Beide Adressatenkreise des MkEv sind durch ihre Obrigkeit repräsentiert. Weil Jesus der leidende gerechte Messias ist, also ein bedeutsamer Mensch, gibt es auch Prodigien bei seinem Tod (Finsternis, Vorhang des Tempels). Der heidnische Hauptmann unter dem Kreuz formuliert den Epitaphios: »Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn.« Das bedeutet: Mit dem Tod Jesu kündigt sich der Übergang des Evangeliums zu den Heiden an (vgl. auch Mk 12,1-10). Eine mögliche Deutung des Todes Jesu als Sühnetod (für die Sünden Israels oder der Gläubigen) gibt es in der Passion nach Mk nicht. Der einzige Text, der infrage kommen könnte, ist Mk 10,45 (vgl. dazu aber oben zu dieser Stelle). – In Mk 14,27f wird die Passion gedeutet als Bestrafung Israels an seinem Hirten (s. ebd.). Gemeinsamkeiten der Verhörszenen in Mk 14 und 15 Verhör Jesu vor der Obrigkeit (priesterlich: Hoherpriester; staatlich: Pilatus); Frage an Jesus (»er/sie fragte[n] ihn« – »Bist du + Titel [Christus, Sohn Gottes/der König der Juden]?«); bejahende oder nicht verneinende Antwort Jesu (14,62a: »ich bin es«; 15,2c: »du sagst es«); wiederholte, ergebnislose Frage an Jesus (14,61b; 15,4a); Reaktion auf Jesu Antwort (Abstreifen der Kleider, Vorwurf der Lästerung; Anklage durch den Hohenpriester); Misshandlung Jesu (Mk 14,65: Anspucken, Schlagen, Ohrfeigen; Mk 15,15: Übergabe zur Geißelung); Verspottung Jesu je nach Titel (Mk 14,65: »prophezeie«; 15,1620: Königstitel). – Beide Berichte kennen an unterschiedlichen Stellen die Notiz, dass Jesus auf Anklagen hin schweigt, und eine Frage an Jesus, warum er gegenüber den jüdischen Anklagen schweige (14,60: auf das Falschzeugnis wegen Tempelzerstörung hin; 15,4: auf die Anklage des jüdischen Hohenpriesters hin). Fazit: Die beiden Verhörszenen sind erkennbar
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204 parallel gestaltet. Tendenz: Im Unterschied zum jüdischen Hohenpriester wird Pilatus geschont. Das entspricht der allgemeinen Tendenz des MkEv.
Mk 16,1-8: Die Auferstehung Der Gattung nach geht es um eine Verbindung von Ossilegium (Suche nach dem Leichnam im Grab) und Angelophanie (Engelerscheinung). Die Suche nach dem Leichnam bleibt erfolglos. Der Engel verkündet aber den Frauen, dass Jesus nicht dort ist, wo sie ihn suchen, sondern dass er auferstanden und daher »im Himmel« ist. Insofern ist der Kontrast zwischen Himmel und Erde im Gegensatz von Grab und dem Wo des Auferstandenen ausgeprägt. – Eine verwandte Darstelung von Ossilegium und Vision kennt auch das »Testament des Hiob«: Hiob sucht das Grab seiner verstorbenen Kinder auf und wird darüber aufgeklärt, dass seine Kinder als leuchtende Sterne am Himmel stehen. Diese visionär umgesetzte Metapher bedeutet zumindest, dass Hiobs Kinder nun ewig bei Gott leben. Von Auferstehung mag der Text nicht reden. Dass die Seelen (vor allem gerechter Menschen) zu Sternen werden, ist dem hellenistischen und auch dem jüdischen Denken nicht fremd. Der Unterschied zur Auferstehung ist beträchtlich und nicht zuzudecken. Bedeutend an TestHiob sind indes auf jeden Fall die Entdeckung des leeren Grabes und die Erklärung des Verschwundenseins durch Entrückung. In Mk 16 dagegen wird nicht der himmlisch verwandelte Jesus geschaut. Vielmehr ist zwar eine Entrückung Jesu vielleicht vorauszusetzen. Aber betont wird, dass der Tote (Gekreuzigte) lebt. Und statt Entrückung nennt der Engel lediglich, dass der Auferstandene und Lebendige auf dem Weg nach Galiläa sei. Das aber wird als Erfüllung von Jesu eigener Ankündigung verstanden, wie sie in Mk 14,28 nachzulesen ist. Insofern ist die Botschaft »Er ist auferweckt worden« (16,8b) nur ein erster Schwerpunkt der Neuigkeiten. Die Frauen sollen nur den Jüngern bestätigen, dass Jesus (als Auferweckter) das tut, was er ihnen verheißen hat. Letztlich dient die Botschaft des Engels dazu, den Frauen (und späteren Christen) deutlich zu machen, dass derjenige, der in Galiläa erscheinen
Das Evangelium nach Markus
wird, wirklich Jesus selbst ist. Ausweislich der übrigen Evangelien war diese Frage ja das Hauptproblem, bis hin zu den Wundmalen, die Thomas nach Joh 20 zu sehen bekommt. Wenn Jesus es aber selbst gesagt hat, und zwar vorher, dass er in Galiläa erscheinen wird, dann ist ein unumstößliches Argument für die Identität des Erscheinenden mit Jesus gegeben. Das Problem des Textes ist zum einen, dass im fortlaufenden Markustext von einer solchen Erscheinung dann nichts berichtet wird (wohl aber im sekundären Markusschluss (Mk 16, 9-20 und in Mt 28). Zum anderen ist wirklich gravierend, dass die Frauen den Befehl des Engels zum Weitersagen nicht befolgen. Daher erfahren wir von der ganzen Geschichte nur durch den Evangelisten Markus. Und so ist es wohl auch den ersten Lesern und Leserinnen des MkEv ergangen. Um den peinlichen Ungehorsam der Frauen aus Mk 16,1-8 auszugleichen, ist u. a. der so genannte sekundäre Mk-Schluss gebildet und an das Evangelium angehängt worden. Immerhin berichtet dann wenigstens Maria Magdalena ihren Freunden von ihrer Christus-Erscheinung (V. 9). Aber zunächst ist vor allem Mk 16,8 als sicher anzunehmender Schluss des ursprünglichen MkEv anzunehmen. Möglichkeiten der Deutung a) Die Furcht der Frauen rührt aus der Erscheinung des Engels und seiner göttlichen Botschaft, die alle ihre Erwartungen sprengt. Anders als in den üblichen Engelerscheinungen sagt der Engel nämlich nicht »Fürchtet euch nicht!«, sondern lässt sie schlotternd und zitternd stehen. Die Botschaft »erschlägt« die Frauen und macht sie im umfassenden Sinne des Wortes sprachlos. Ihre Angst wäre dann als Begleitphänomen der Offenbarung zu deuten. b) Das Schweigen der Frauen adelt die Leser des Evangeliums. Denn ihnen wird damit die entscheidende Geschichte anvertraut. Jetzt kann diese publik werden. Ähnlich wie beim Revelationsschema sind die ultimativen Träger des Geheimnisses auserwählt. c) Ähnlich wie beim Messias-Geheimnis könnte die Einsicht der Frauen in eine zentrale Wahrheit des Christentums auch hier (wie bei Petrus nach Mk 8,33) Ängste hervorrufen, die aus der Erwartung rühren, dass die Menschen, insbeson-
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Kapitel 16
dere die nicht-christlichen Juden, ihre Botschaft nicht gerade freudig und gerne aufnehmen werden, sondern deren Trägerinnen verspotten und verfolgen. Denn sich zu dieser Tatsache zu bekennen, wäre ein Bekenntnis zur Hoheit und Würde Jesu. Stephanus wird nach Apg 7f deswegen gelyncht werden, weil er Jesus als den Auferstandenen sieht. Und wie Lk 24,11 berichtet, bestand der Botenlohn für die Frauen, die von der Angelophanie am Grab berichteten, selbst bei Aposteln aus Hohn und Spott. Die Frauen nach Mk 16,8b werden wohl Ähnliches erwartet haben, und zwar vielleicht sogar von anderen Christen, nämlich den männlichen Jüngern Jesu selbst. d) Das Schweigen der Frauen ist für den Evangelisten des MkEv eine Art Begründung dafür, weshalb er hier »mit neuen Geschichten kommt«, die zuvor total unbekannt waren. Er schafft aber, wie schon angedeutet, durch diesen Bericht und diese Notiz das fehlende Bindeglied zwischen der Tradition vom leeren Grab und den nachösterlichen Erscheinungen Jesu vor den Jüngern. In Mk 16,9-20 werden diese dann auch prompt geliefert. e) Ich möchte die These vertreten, dass womöglich alle diese vier Pfade zur Deutung von Mk 16,8 nebeneinander bestehen können. f) Zugleich bin ich nach wie vor der schon 1976 vertretenen Meinung, dass die Berichte in Mk 16,9-20 gar nicht so obskur und »sekundär« sind, wie oft behauptet wird. Ich halte es aus traditionsgeschichtlichen Gründen für ausgeschlossen, dass der Verfasser dieser Zusatzberichte sich diese wahrheitswidrig ausgedacht haben könnte und damit dem MkEv und seiner Glaubwürdigkeit einen Bärendienst erwiesen hätte. Denn es geht insgesamt um altes Material aus dem 1. Jh. Zur Theologie von Mk 16,1-8 Menschliche Trauer braucht einen Ort, an dem der Tote oder die Tote irgendwie leibhaftig gegenwärtig ist. Deshalb werden seit der ältesten Steinzeit Menschen begraben. Das Grab ist nicht nur ein Zeichen der Erinnerung, sondern mehr. Hier ist der tote Mensch nicht »verschwunden«. Hier lernen wir dann langsam zu begreifen, was dieser Tod und was der Tod überhaupt ist. Hier ist der Ort, an dem die Liebe immer wieder Brü-
205 cken baut. Deshalb ist es für die Frauen am Grab in Mk 16 die bitterste Enttäuschung, dass der tote Jesus dort gerade nicht (mehr) ist, wo er sein könnte und sein müsste. Die ersten Worte des Engels bedeuten daher eine furchtbare Nachricht: dass Jesus gerade nicht mehr da ist, noch nicht einmal als Leichnam. V. 6 ist daher von einer ungeheuren Spannung erfüllt: der Spannung zwischen dem Gekreuzigtsein Jesu und seinem Auferwecktsein. Denn auferweckt werden nach jüdischer Auffassung makellos Gerechte. Gekreuzigt aber werden, besonders wenn man Dtn 21,23 hinzunimmt, Straffällige, Verbrecher und Verfluchte, nach der Auslegung in den Qumrantexten Verräter. Dass also ein Gekreuzigter auferweckt worden sein soll, ist daher völlig unglaublich. Denn von den Toten auferwecken, das kann nur Gott, und zwar dann, wenn er selbst völlig unvorhersehbar in die Geschichte eingreift. Eine eigene und ganz spezielle, ganz persönliche Aktion Gottes zugunsten eines verfluchten Verbrechers stellt also alles Begreifen auf den Kopf. Ist doch Auferweckung Toter das herrlichste Tun Gottes. Mk 16,1-8 ist aber auch im Ganzen ein Text der enttäuschten Erwartungen, der grundlosen Überraschungen und des nicht Vorausahnbaren. Das gilt für jede einzelne Stufe der Ereignisse: Die Frauen wollen Jesus salben – aber es kommt nicht dazu. Sie überlegen miteinander, wer den Stein, der das Grab verschließt, hinwegrollen soll. Aber der Stein ist längst weggerollt. Das ist umso verwunderlicher, als der Stein eine ganz beträchtliche Größe aufweist. Die Frauen erwarten, in die friedhöfliche Einsamkeit zu kommen, aber sowie sie in das Grab hineingehen, müssen sie bemerken, dass sie nicht allein sind. Sie hatten erwartet, außer ihnen gäbe es nur den toten Jesus. Stattdessen erleben sie einen lebendigen Engel und erfahren zudem, dass auch Jesus nun Anteil hat an dieser Art ewiger Lebendigkeit, die sie dem Engel ansehen können. Die Frauen könnten denken, der Engel habe nun eine besondere persönliche Offenbarung für sie – vielleicht so wie einst bei der Erscheinung Gabriels, durch die Maria zur Muttergottes wurde. Doch nichts Persönliches kommt für sie bei dieser Begegnung heraus. Sie werden nur zu Briefträgerinnen gegenüber den Aposteln. Sie hätten des Weiteren denken können, dass sie den Jüngern die Osterbotschaft
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206 im Wortlaut ausrichten sollten. Aber nichts davon. Sie sollen vielmehr nur ausrichten: »Er geht euch nach Galiläa voraus, und dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.« Nach Mk 14,28 hatte Jesus den Jüngern tatsächlich Derartiges gesagt. Aber schon in 14,28 ist die Auferstehung nicht die hauptsächliche Neuigkeit, durch sie ist lediglich der Zeitpunkt bestimmt (der terminus a quo), denn der Satz beginnt: »Nach meiner Auferweckung …«. Die Auferweckung ist daher nicht die Hauptbotschaft, sondern nur das Ereignis, nach dem Jesus nach Galiläa vorausgehen wird. Dieses ist der Brennpunkt der künftigen Ereignisse. Und dieses ist auch der sehr erhebliche Grund dafür, weshalb der Evangelist Markus oder ein späterer Evangelist den so genannten sekundären Markusschluss hinzufügte. Aber bevor wir weiter über das angekündigte Sehen Jesu in Galiläa nachdenken, müssen wir unsere Beobachtungen zu Mk 16,1-8 vertiefen. – Dominant ist zweifellos das Thema »Sehen«, und zwar implizit nach V. 2: die Sonne ist schon aufgegangen – das sieht man, V. 4: die Frauen sehen, dass der Stein schon weg ist, V. 5: sie sehen einen jungen Mann in leuchtendem Gewand, V. 7: die Jünger werden Jesus sehen. Sodann hat eine überragende Bedeutung das Thema Ort und Ortsveränderung: V. 1.2 berichten vom Gang zum Grab, nach V. 5 gehen die Frauen in das Grab hinein, nach V. 6 wird den Frauen gesagt: Jesus ist nicht hier, seht den Ort, wohin man ihn gelegt hat. Laut V. 7 geht Jesus nach Galiläa voraus, nach V. 8 entfernen sich die Frauen fluchtartig vom Grab. – Durch diese Orts- und Zielangaben ist der Text von Mk 16 daher voller dramatischer Bewegtheit. In der alten Ostersequenz »Victimae paschali Laudes« des Hermann von Reichenau (10. Jh.) ist noch eine deutliche Spur davon erhalten (Dic nobis Maria, quid vidisti in via?, auch hier das Ende: resurrexit Christus spes mea, praecedet von in Galilaeam). – Entscheidend aber ist, dass Jesus an dem Ort, wohin man ihn gelegt hat, nicht mehr ist. So allein wird die Botschaft »er ist auferweckt worden« konkret. Denn durch den Hinweis: »Seht die Stelle, wohin man ihn gelegt hat« wird die Offenbarung des Engels wie eben durch ein Zeichen legitimiert. Das Verschwundensein des Leichnams ist das Zeichen, das allein die Glaubwürdigkeit der Botschaft be-
Das Evangelium nach Markus
stätigen kann. – Die theologische Pointe der Offenbarung liegt darin, dass nicht gesagt wird, an welchem Ort sich Jesus denn nun jetzt befindet. Dass er von Gott auferweckt wurde, weil allein Gott so etwas kann, hat auch die Konsequenz, dass der Auferstandene nun zu Gott entrückt wurde und dass sein Ort nun in Gott bzw. bei Gott ist. – Damit aber wird der Ausleger auf ein lange völlig unbeachtetes Thema gestoßen: Wo ist Gott, welches ist der Ort Gottes und was bedeutet es, leibhaftig (wie der Auferstandene) bei Gott zu sein? Denn eines ist klar: Weil das Grab leer ist und weil diese Leere als Beweisgrund für sein Auferwecktsein genannt wird, kann Auferstehung hier nur als die Auferweckung des Leibes verstanden worden sein. – Für viele moderne Exegeten liegt hier der Punkt des Anstoßens, ähnlich erging es aber nach Apg 17 schon den Hörern des Apostels Paulus in Athen. Eine »nur geistige« Auferstehung meint man, sich vorstellen zu können, als ob Geist hier einfacher wäre als Leib. In Wirklichkeit kann es für jüdisches Denken Auferstehung oder Entrückung nur leiblich geben – oder eben gar nicht. Aus neutestamentlicher Zeit bestätigt das nicht nur Offb 11,8.11f, sondern auch das leere Grab der Kinder Hiobs nach dem »Testament des Hiob«. Fragt man noch genauer nach, so erhält man die Antwort: Auferweckung meint nicht ein ideelles Überleben, sondern ein sehr leibhaftiges. Die Brücke zur sterblichen Leiblichkeit ist die Verwandlung. Wie aber Verklärte/Verwandelte bei oder in Gott sind, entzieht sich unserer Kenntnis. Daher bricht der Satz des Engels in Mk 16 mit V. 6, also an der spannendsten Stelle, ab. Schließlich geht es in Mk 16,1-8 auch um eine tiefgreifende menschliche Erfahrung. Nach 16,1f kommen die Frauen trauernd zum Grab (implizit). Nach 16,5 geraten sie außer sich vor Staunen beim Anblick des Engels. Nach 16,6 muss ihnen der Engel sagen: Geratet nicht in Staunen. Nach 16,8 sind sie ergriffen von Zittern und Schrecken (Außersichsein). Sie sind in solch panischer Furcht, dass sie nicht nur fliehen, sondern auch vor Angst und Schrecken schweigen. – Von irgendeiner Art Osterfreude ist nicht die Rede. Liest man den Text als Religionsgeschichtler, so ist evident, dass es sich um tiefgreifende Schreckensreaktionen auf eine Theophanie handelt. Klar ist auch, dass diese nicht durch das Aus-
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Kapitel 16
sehen des Engels hervorgerufen wird, sondern vor allem durch das, was nicht mehr da ist: durch den Horror des Verschwindens des Toten. Folgende weiteren Aspekte aus diesem Abschnitt sind vielleicht erhellend: Liste der Frauen Mk 16,1 bietet eine Liste mit drei Namen urchristlicher Frauen, von denen Maria Magdalena und Salome auch sonst weithin bekannt sind. Diese Liste nimmt Mk 15,47 auf (zwei Frauen) und bezieht sich auch auf die Liste Mk 15,40 (drei Frauen als Zeuginnen der Kreuzigung, darunter Maria Magdalena und Salome); lediglich Lk 8,2f bietet aus dem Leben Jesu Vergleichbares. Mithin geben Listen mit Frauennamen Auskunft über die Zeuginnen der zentral wichtigen Ereignisse im Leben Jesu (Tod, Begräbnis, leeres Grab). Vergleicht man diese Listen mit 1 Kor 15,5-8, so wird folgende These möglich: 1. Bei diesen Frauen-Katalogen handelt es sich um Listen mit den Namen frühchristlicher Prophetinnen. Denn Augenzeugenschaft und späteres Auskunftgeben (Bezeugen) sind zentrale Funktionen von Prophetinnen. Wie die Listen in 1 Kor 15 stehen sie für die verlässliche Verankerung der Botschaft der Gemeinden. Tod am Kreuz, Begräbnis und Auferstehung betreffen in den Prophetinnen-Listen in Mk 15f die ganz zentralen Fakten des Lebens Jesu, ähnlich wie die Auferstehungsvisionen nach 1 Kor 15 die Fortsetzung des »Evangeliums« nach 15,3 sind. Wichtig ist dabei die der Entsprechung zwischen den Listen in 1 Kor 15 (Männer) und in den synoptischen Evangelien (Frauen). 2. Diese Prophetinnen unterscheiden sich von den in 1 Kor 15 genannten Männern dadurch, dass sie keine »amtlich«-autoritative Funktion hatten. Sie waren eben nicht »Apostolinnen«. Aber durch ihr Zeuginnen-Amt im MkEv leisten sie den frühen Christen unersetzliche Dienste. 3. Während »Galiläa« (vgl. auch Mt 28,16) der Wirkungsort der in den Berichten wie z. B. in den Listen von 1 Kor 15 genannten Männer ist, könnten diese Frauen weiterhin zentrale Figuren zum Beispiel der Urgemeinde in Jerusalem gewesen sein. Ihr Verständnis von Autorität unterschied sich sicher von dem der Männer, und zwar hinsichtlich der Aufgaben Dienst, Gebet, Prophezeien.
207 4. Es könnte auch sein, dass der Evangelist Markus selbst mit 16,8 abbricht, um jede Gefährdung der allein gültigen Lehre Jesu durch andere männliche Autoritäten auszuschließen. In diesen Zusammenhang gehört dann Mt 23,8 (einer ist euer Lehrer). Auch der Dienst der Frauen bezieht und beschränkt sich schon nach Mk auf die immerhin zentralen Fakten von Tod, Begräbnis und Auferstehung Jesu. Über dieses Bezeugen hinaus haben sie keine weitere erkennbare Funktion, doch ihre Rolle am Anfang wird ihnen sicher lange und weithin große Achtung eingebracht haben. Das Lehren dagegen hat der Evangelist schon für Jesus bzw. für seinen Bericht über Jesus (Evangelium) »reserviert«. 5. Es könnte aber auch sein, dass Galiläa ein Codewort ist für den Gesamtzusammenhang »Heidenmission Richtung Europa«, ähnlich wie Babylon für Rom. Denn der Ausdruck »Galiläa der Heiden« ist längst geläufig (Mt 4,15). 6. Der »sekundäre Markusschluss« dient daher kirchenpolitisch dem Ausgleich mit der Geltung männlicher Kirchenführer in »apostolischer« Tradition. Auferweckung als Geheimnis Glücklicherweise gibt es zu Mk 16,1-8 im Petrusevangelium IX-XIII (Berger/Nord, 675ff) eine Art Gegendarstellung, die die Eigenheiten von Mk 16 deutlich hervortreten lässt. Denn im PetrusEv ist der gesamte Bericht über die Auferstehung Jesu in allen Elementen auf Öffentlichkeit bezogen. »Eine Menge Leute« aus Jerusalem kamen am Sonntagmorgen aus Jerusalem. Sie und vor allem die Wachsoldaten am Grab werden Zeugen des Vorgangs der Auferweckung selbst. Sie sehen Jesus mit zwei Engeln aus dem Grab kommen und zum Himmel hinaufgehen. Die zahlreichen Zeugen gehen noch in der Nacht zu Pilatus, um ihm zu berichten. Sie bitten ihn, er möge dem Hauptmann und den Soldaten befehlen, nichts von dem weiterzusagen, was sie gesehen haben. Im MkEv überwiegt stattdessen der fortgesetzte (d. h. das Messias-, Wunder-, Leidens- und Gleichnisgeheimnis fortschreibende) Ansatz, die Auferweckung Jesu konsequent als Geheimnis zu behandeln. Die einzigen Menschen, die aktiv vorkommen, sind die drei Frauen in der friedhöflichen Einsamkeit des Sonntagmorgens. – Der Vor-
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208 gang der Auferstehung wird nicht geschildert. Der Vorgang der Auferweckung ist damit ins Unsichtbare und Vergangene gerückt. Die Frauen ihrerseits folgen dem Befehl zum Weitersagen ausdrücklich nicht. Durch ihr Schweigen bleibt der Vorgang der Auferweckung bis zur Niederschrift des MkEv geheim. Das heißt: Die Auferweckung Jesus wird keineswegs als weltbewegendes Geschehen inszeniert. Es findet sich noch keine Spur von ihrer späteren Bedeutung als Mitte des Kirchenjahres, ja als Mitte der Zeiten. Ignatius v. Antiochien behält Recht mit seiner Meinung, die großen Ereignisse des Lebens Jesu seien der Gegenseite verborgen geblieben (An die Epheser 19,1). Damit aber entsteht eine Brücke zu den Worten aus der Menschensohntheologie bei Mk, in denen Leiden und Auferweckung des Menschensohnes angekündigt werden. Man beachte: Der »Menschensohn« ist ein apokalyptisches Rätselwesen. Geheim bleibt, auch wenn er spricht, wer er ist, mit wem er identisch ist. Auch Jesus redet deshalb nur in der dritten Person von ihm. Insofern gehört insbesondere der öffentlichkeitsferne Charakter von Mk 16 mitten in die geheimnisvolle Welt von Menschensohn und Äonenwende. Mk bleibt damit seinem Ansatz treu, die Geheimnisse Jesu darzustellen. Der wenig prunkvolle Charakter von Ostern bestätigt das Selbstverständnis der markinischen Christen: Sie sind eine verschworene Gemeinschaft von Geheimnisträgern. Und es gilt: So lange, wie das Christentum es verstand, die eigenen Anfänge als Teile des tiefsten Geheimnisses aller Zeiten darzustellen, so lange konnte es auch noch keine Klagen über nicht eingelöste Versprechen (im Rahmen der Theodizee-Frage) geben. Doch Mk 16 zeigt: Zumindest die Leidensweissagungen Jesu sind genau eingetroffen. Das ist eine enorme Stütze für den Glauben insgesamt. Denn auf dem Weg von der Niederlage zur Bestätigung ist jeder Schritt riskant.
Mk 16,9-20: Erscheinungen des Auferstandenen Der Aufbau der Erscheinungsberichte (eine Frau, zwei Jünger, die elf Jünger) entspricht überraschend dem Aufbau in Mt 28; Lk 24; Joh 20 sowie weiteren altchristlichen Texten (Epistola
Das Evangelium nach Markus
Apostolorum, Syrische Didaskalie, Acta Thaddaei) und im Prinzip auch 1 Kor 15 (1-12-500: Erscheinungen vor Petrus, dann den Zwölfen, dann vor mehr als 500), nur dass dort die Frauen fehlen. Wichtig ist das Prinzip der zahlenmäßigen Ausweitung. Wenn Frauen vorkommen, werden sie zuerst genannt. Ihr Zeugnis wird dann durch die später genannten Zeugen bekräftigt. – Wo den Jüngern die Botschaft nur mitgeteilt wird (auch Mk 16,10.13), kommt eine Manipulation ihrerseits nicht in Betracht. Nach Lk 8,1-3 gilt das Prinzip der doppelten (männlichen wie weiblichen) Zeugenschaft schon für Jesu Erdendasein. Ähnliche Funktion hat auch das Prinzip der Lieblingsjünger (Petrus, Johannes, Jakobus nach den Synoptikern oder der »Lieblingsjünger« nach Joh). Auch Kollektivvisionen haben ihre biblische Vorgeschichte (vgl. K. Berger, Auferstehung, 1976, 164). Die Zwölfzahl von Zeugen findet sich auch in hellenistischen Vertragstexten und lange danach in der Justiz. – Die jeweils letzte Erscheinung ist – jedenfalls für die jeweiligen Adressaten – die entscheidende (das gilt ebenfalls für Thomas nach Joh 20). Das Prinzip der drei Erscheinungen gilt auch für PetrusEv 3545. Oft wird der – ebenso für die Leser wichtig gewordene – Auftrag bis zum Ende aufgehoben und erst dann berichtet. Weitere Möglichkeiten der Deutung a) In Mk1 6,14-20 ist der dreistufige Aufbau in sich durch »erscheinen« und »glauben« gebunden. b) Mk16,9b (sieben Dämonen) bringt Informationen, die wir nur aus dieser Stelle wissen. Dass auch Jesus anfänglich intensive Begegnung mit der Gegenseite hat (Versuchungen), war sicher ein verbindendes Element zwischen Jesus und Maria Magdalena. c) Mk 16,12 »in anderer Gestalt« ist nur hier berichtet und weist in die hellenistische Epiphanietradition. Nach Lk 24 dagegen liegt es nicht an Jesu Gestalt, dass die Jünger ihn nicht erkennen, sondern daran, dass »ihre Augen gehalten waren«, d. h. es lag an ihnen. Eine andere Gestalt annehmen zu können ist Merkmal von Göttern und Himmelswesen. d) Mk 16,14: Jesus erscheint den Jüngern beim Mahl. Das entspricht (wie auch sonst viel Material in diesem Abschnitt) besonders Apg.
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Kapitel 16
e) Mk 16,16 entspricht weitgehend Mt 28,1820, doch wird hier weniger als bei Mt nur an die Menschen gedacht (»in die ganze Welt« – »jeglicher Kreatur«). Der doppelteilige Schluss in Mk 16,16 heißt in der Formgeschichte »Doppelschluss«. Derartige Sätze bilden oft das Ende einer Rede (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005). f) Mk 16,17f nennt einen ganzen Katalog von Wunderzeichen der Jünger. Davon gibt es die »neuen Sprachen« nur hier, ebenso die Unschädlichkeit von Schlangen- und anderen Giften (vgl. die spätere Legende über Johannes den Evangelisten [Giftspinne im Kelch; vgl. zu Apg. 2,811]). Nach Apg 2,8.11 handelt es sich bei den »neuen Sprachen« vielleicht um als fremdartig empfundene Sprachen neu zu gewinnender Christen. g) Mk 16,19 liefert einen eigenständigen Himmelfahrtsbericht. Im Unterschied zu Apg 1 (nur 1,2.11.22) und Lk 24 wird hier das Verb
209 (griech.) analambano (hinaufnehmen) und vor allem die Zielangabe berichtet (zur Rechten Gottes, d. h. auf seinem Thron als der besonders Geehrte). Im Übrigen ist durch den Abschluss mit diesem Himmelfahrtsbericht das ganze Stück als testamentarische (Abschluss-)Rede Jesu gerahmt. Ähnlichkeit besteht zur Einfügung in 16,14 im westlichen Text. Denn die Mission ist Kundgebung und Verwirklichung der durch Jesus und sein Wirken mehrfach belegten Tatsache, dass die Herrschaft Satans nun zu Ende ist. h) Zu 16,20: Die Versicherung von Mitsein und Beistand entspricht Mt 28,20. Fazit: Der so genannte sekundäre Markusschluss enthält viele vertraute Motive aus den Anfängen der christlichen Missionsgeschichte und ist zugleich eine Brücke in die Welt der apokryphen Apostelgeschichten (Acta Apostolorum Apocrypha).
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Das Evangelium nach Lukas
Kommentare: Ambrosius v. Mailand (4. Jh.).– Beda Venerabilis (vor 735). – Albertus Magnus (1200). – Hugo v. St. Cher (vor 1264). – P. J. Olivi (vor 1295, ed. 2010). – Nicolaus Lyranus (vor 1349). – Dionysius Carthusianus (vor 1471). – Faber Stapulensis (1521). – Erasmus v. Rotterdam (1523). – J. Agricola (1525). – Broickwy (1539). – I. Soarez (1578). – A. Marloratus (vor 1550). – D. Stella I-II (1592). – Iohannes Piscator III (1638). – A. de Sanseverino
(1663). – Paulus Tossanus (1665). – J. de Sylveira (1697). – L. Brugensis (1712). – Reynardus toe Laer, I-III (1749). – J. J. Wettstein (1752). – Cornelius Jansen (1791). – A.-J. Liagre (1889). – J. Weiss (1892). – J. Wellhausen (1904). – M.-J. Lagrange (7. Aufl. 1948). – G. Schneider I-II (1984). – F. Bovon I-III (1989-2001). – H. Schürmann I-II (1990/1994). – J. Ernst (1993). – D. L. Bock (I-II) (1994-96). – M. Wolter (2008).
EINFÜHRUNG Datierung Es ist davon auszugehen, dass Evangelium und Apostelgeschichte von demselben Autor, den wir Lukas nennen, verfasst sind. Es ist ferner davon auszugehen, dass das Evangelium zuerst, die Apg danach verfasst wurde. Die Apg endet mit dem Bericht über die Ankunft und Lehrtätigkeit des Apostels Paulus in Rom. Von seinem Martyrium in Rom ist noch nicht die Rede. Da man als Datum seiner Hinrichtung das Jahr 68 n. Chr. als Terminus ad quem betrachtet, muss Lukas beide Werke vor 68 n. Chr. abgeschlossen haben. Da Lukas aber überhaupt von Paulus in Rom berichtet, legt sich das Jahr 66 n. Chr. als terminus ad quem der Entstehung beider Schriften nahe. Dagegen erhebt sich scharfer Widerspruch, besonders von Seiten aller, die bislang für eine Spätdatierung des Lukas votierten. Entscheidend für die Spätdatierung ist das Jahr 70 n. Chr. (Zerstörung des Tempels in Jerusalem). Denn Lukas verarbeite diese Zerstörung Jerusalems bei der Redaktion des Evangeliums z. B. in Kap. 21 (und anderswo). Außerdem sei Lukas extrem staatsfreundlich und habe daher über ein Martyrium des Apostels Paulus einfach nichts berichten wollen. Nun hat man festgestellt, dass die angeblich sekundären Eintragungen aus der Zerstörung Jerusalems nur sehr allgemeine belagerungstechnische Kenntnisse verraten, nicht aber Spezialkenntnisse aus dem Jahre 70. Das generelle Problem, das damit berührt ist, betrifft die so genannten vaticinia ex eventu in
ihrer Bedeutung für die Evangelienforschung. Ein derartiges Vaticinium wäre die fälschende Eintragung späterer Ereignisse in (Berichte über) frühere Aussprüche nach dem Motto »Jesus hat das alles gewusst«, obwohl er es gar nicht habe wissen können. Die Hypothesen über derartige Vaticinia sind seit Beginn des 19. Jh. generelles Arbeitsmaterial der Exegeten. Dazu gehörten z. B. angeblich alle Voraussagen Jesu über seinen bevorstehenden Tod. Doch der schwere Vorwurf der Geschichtsfälschung wäre nur zu rechtfertigen, wenn man wirklich nachweisen könnte, dass Jesus von seinem Tod nichts geahnt hat. Aus vielen realen Lebensverläufen ist auch heute noch das Gegenteil bekannt, und antike Biografien berichten häufig von Vorahnungen oder Prodigien. Angesichts der verbreiteten Tradition vom gewaltsamen Geschick aller Propheten in Jerusalem (vgl. dazu: O. H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, Neukirchen-Vluyn 1967) war es kein Kunststück, sich ein Martyrium Jesu vorzustellen. Gleiches gilt für die Zerstörung Jerusalems. Joh 11,48 berichtet ausdrücklich von verbreiteter Furcht, und die genannte Tradition über die Propheten sieht auch die Zerstörung Jerusalems vor. In Wirklichkeit ist in keinem einzigen Fall die Verfälschung zu einem vaticinium ex eventu erweisbar oder auch nur wahrscheinlich. Dass schließlich Lukas wegen Anbiederung an die Römer das Martyrium des Paulus wahrheitswidrig unterdrückt habe, ist bei einem Autor
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Kapitel 1
nicht recht wahrscheinlich, der in Lk 1,1-4 einen so hohen Anspruch auf Gründlichkeit, Informiertheit und Überlieferungstreue behauptet. Bei seinem solchen Verfahren hätte Lukas sich doch vorstellen müssen, dass Leser in Kenntnis des Martyriums dann sein Buch höhnisch zur Seite legten und für erledigt erklärten. Auch sonst verschweigt Lukas die Leiden der Gerechten keineswegs (vgl. Stephanus) und betont diejenigen Züge am Martyrium Jesu, die realistisch das Leiden betonen. Kurzum: Es gab keinen Grund, Leiden oder Martyrium des Apostels Paulus zu verschweigen. Und generelle Leidensfreiheit hätte Lukas nach allem, was er in Apg berichtet hat, kaum als besonderen Sieg des Christentums ausgeben wollen. – Auf jeden Fall hätten aber die Leser doch unbedingt wissen wollen, was aus dem Apostel Paulus geworden sei. Denn das Lebensende ist für jede Art biografisierender Darstellung unumgänglich wichtig. Auch wenn Lukas mit der Apg die Gründungsgeschichte der
römischen Gemeinde(n) schreiben wollte, wäre doch ein Martyrium nichts Ehrenrühriges. – Dabei bleibt richtig, dass Lukas die Christen vom Vorwurf, sie schürten Aufstände und Unruhe, gerne ausnehmen möchte (Lk 23,2; Apg 24,5). – Die Fülle der Thesen über den angeblichen Frühkatholizismus des Lukas, der eben erst um die Wende zum 2. Jh. denkbar sei, halte ich für ideologisch bedingt und – obwohl immer alles möglich bleibt – für widerlegbar. Fazit: Ich halte es für wahrscheinlich, dass Evangelium und Apostelgeschichte des Lukas vor 68 n. Chr. entstanden sind. Entstehungsort Ich halte Ephesus wie Rom für möglich. – Dass die Bevorzugung von Petrus und Paulus für die spätere Kanonizität der Apg wichtig war, habe ich versucht darzustellen (K. Berger: Die Urchristen, 2008, 390 ff).
KOMMENTAR Lk 1-2: Von Anfang an … Lk 1,1-4: Proömium Lukas versteht sich als antiker Historiker. Er bezieht sich bescheiden auf Vorgänger, auf Augenzeugen, die von Anfang an dabei waren. Er will die Ereignisse der Reihe nach beschreiben, damit der Leser einsieht, alles sei wohlbegründet. – Lukas setzt Akzente: Die Vorgänger haben »versucht« darzustellen; die Ereignisse haben sich »erfüllt«, d. h. sie waren historisch vorbereitet; »überliefert« wurden die Ereignisse oder die Darstellungen; »Augenzeugen« waren bisher ab Jesu Taufe erschlossen worden – Lukas wird weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Augenzeugen im umfassenden Sinne von zwölf Zeugen gibt es freilich erst ab 6,12 f. »Der Reihe nach« (V. 3b) bezieht sich auf die zeitliche Anordnung des Stoffes, sodass sich ein logisches Ganzes ergibt – und eine Qualitätsfolge: Augenzeugen – viele Darsteller – Lukas. Lukas nennt die strengsten Kriterien, die in seiner Zeit je für Historiker galten: Quellen sind Augenzeugen seit Anbeginn, freilich nur solche,
die sich durch Dienst an der Botschaft als glaubwürdig erwiesen haben. Ferner will Lukas von Anfang an und der Reihe nach alles darstellen. Der Anspruch des Lukas ist also sehr hoch; die zahlreichen antiken Parallelen zu Sätzen wie Lk 1,1-4 hat man stets als Ausweis der Seriosität gewertet; nur bei Lukas wollte man das für eine lange Zeit nicht tun. Galt er doch als der frühkatholische Verräter am Evangelium. Inzwischen hat sich die Einschätzung leicht gebessert.
Lk 1,5 – 2,52: Kindheitsgeschichte Die Frage, wer jemand ist, wird für die Antike beantwortet durch die Art, in der sich Anfang und Ende seines Lebens gestalten (zum Unterschied: bei uns durch Beruf und Lebenspartner); dem Anfang sind die Vorzeichen zugeordnet, dem Ende die Apotheose (Verherrlichung, Sitz im Himmel). Zu den besonderen biografischen Mitteln, mit denen Lukas gerade die Kindheitsgeschichten ge-
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212 staltet, gehören die Vorzeichen im weitesten Sinne, Vorandeutungen über die künftige Bedeutung Johannes des Täufers und Jesu. Bei Johannes sind zu nennen die übereinstimmende Namensgebung (1,60-63) und das Lösen der Zunge des Zacharias (1,64); Vorzeichen für Jesus sind die Hirten auf dem Felde (für den Davidssohn; 2,4.7-20), Simeon und Hanna im Tempel (2,2240) und nicht zuletzt das Lehren des Zwölfjährigen unter Lehrern im Tempel (2,41-52). In der älteren Forschung hielt man diesen Text für pure Legende und empfand die unübersehbar jüdischen Züge als kitschiges Imitat. Der Täufer und Jesus nach Lk 1-2 In Lk 1-2 (und in wichtigen Stücken bis Lk 7) besteht eine durchgehende Entsprechung zwischen Johannes d. Täufer und Jesus. Bei dieser Entsprechung ist Jesus als der Sohn (Gottes) stets derjenige, der den Täufer überbietet, der nur der größte der Propheten ist. Anderswo im Neuen Testament gibt es ebenfalls eine überbietende Entsprechung von Propheten und Sohn (Mk 9,2-6; 12,1-10; Hebr 3), nur nicht mit Johannes d. Täufer. Die Darstellung des Lukas nennt man »synkrisis«, biografischen Vergleich; sie erinnert an die Technik der Parallelbiografien, die wir wenig später bei Plutarch finden. Die lukanische Darstellung könnte dadurch angeregt sein, dass die zeitgenössische jüdische Messiaserwartung bisweilen von einem königlichen neben einem priesterlichen Messias sprach. In solchen Fällen ist der priesterliche Messias stets ranghöher. Nur bei Lukas ist das umgekehrt. Die vergleichende Gegenüberstellung Johannes/Jesus endet in Lk 7,18-50 (beide sind abgelehnte Propheten). Bereits der täuferische Kindheitsbericht enthält das Motiv der »Gefährdung der Ahnfrau«. Wie in den klassischen biblischen Berichten über große Männer (Isaak; Simson) ist auch bei Johannes d. Täufer (und dann bei Jesus) die Schwangerschaft ungewöhnlich und wunderbar. Zu dem Motiv »Gefährdung der Ahnfrau« gehört: Es erscheint aussichtslos, auf normalem Wege einen Sohn zu bekommen. Gott oder sein Repräsentant erscheinen, und zwar zumeist der Frau. Der Erscheinende kündigt die Geburt an; es kann geschehen, dass er den Namen des Kindes verordnet und eine Prophezeiung über den künftigen Sohn gibt. Die erste Reaktion auf die Bot-
Das Lukasevangelium
schaft ist ein Einwand. Doch daraufhin wird die Ankündigung bestätigt oder ein Zeichen der Vergewisserung angegeben. Von der Geburt des Sohnes wird am Ende berichtet. Das Große, das Gott wirkt, und die künftige Bedeutung des Kindes werden bei beiden Kindern hymnisch gefeiert: für den Täufer im Benedictus (Lk 1,68-79), für Jesus im Magnificat (Lk 1,46-55) und im Nunc Dimittis (Lk 2,28-32). Diese Hymnen hatten und haben eine große Wirkungsgeschichte (z. B. im Stundengebet). Sie haben alttestamentlichen Charakter und stellen Jesus und den Täufer als Erfüllung der Verheißungen an die Väter oder durch die Propheten dar. Der Täufer könnte von Lk als priesterlicher Messias, Jesus dagegen als königlicher Messias vorgestellt sein. Diese Vorstellung bietet jedenfalls 1 QS 9,10f: »… bis dass der Prophet und die Gesalbten Aarons und Israels kommen.« Synchronismus: Johannes 1,5; 3,1f – Jesus 2,1f; Besonderheiten der Eltern: Johannes’ Eltern zu alt – Jesus: Maria ohne Mann; Ankündigung der Geburt per Engel und Zeichen: Johannes 1,5-25 – Jesus 1,26-38; Auftrag zur Namensgebung: Johannes 1,13 – Jesus 1,31; Zeichen: Johannes: Zacharias verstummt 1,18-20 – Jesus: Elisabet ist schwanger 1,36; Heiliger Geist: Johannes ist erfüllt von ihm vom Mutterleibe an 1,15 – Jesus ist entstanden durch ihn im Mutterleib 1,35; Zeichen nach der Geburt: Johannes’ Namensgebung; Zunge des Zacharias 1,62-64 – Jesus: Hirten und Engel 2,8-14; Geburt: Johannes 1,57 – Jesus 2,7; Beschneidung: Johannes 1,57 – Jesus 2,21; Vorzeichen im Tempel: Johannes 1,5-23 – Jesus: 2,25-39.41-52; Hymnus: Johannes: Zacharias’ Benedictus 1,6879 – Jesus: Marias Magnificat 1,46-55; Heiliger Geist: Johannes: erfüllt vom Mutterleib an 1,15 – Jesus: Vom Heiligen Geist geworden 1,35 Johannes: Geist des Elia 1,17 – Jesus: Geist Gottes 1,35; 4,18; Notiz über Heranwachsen: Johannes 1,80 – Jesus 2,40; Verhältnis zu Elia: Johannes Lk 1,17; 9,8 – Jesus 9,19; 9,30;
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Kapitel 1
Askese: Johannes: Nahrung 1,15 – Jesus: Fresser und Weinsäufer 7,34; Schriftzitate zur Kennzeichnung: Johannes Jes 40,3-5 (Lk 3,4-6); Ex 23,20 (Lk 7,27) – Jesus Jes 61 (4,18f); Jünger, Fasten, Beten: Johannes 5,33 – Jesus 5,34 f.11,1ff; (Umkehr-)Predigt am Anfang: Johannes: 3,7-14 – Jesus Lk 4,6; Zöllner: Johannes 3,12; 7,29 – Jesus 7,34; 18,914; 19,1-10; Abgeben Gewänder: Johannes 3,11 – Jesus 6,29b; 9,3; Größe: Johannes, größter Mensch 1,15; 7,28 – Jesus 1,32 (wird groß sein); Ablehnung: Johannes 7,31-35 (Beerdigung) – Jesus 7,31-35 (Hochzeit); Martyrium: Johannes 3,19-20 – Jesus Lk 23; Auferstehung: Johannes 9,7 – Jesus Lk 24; Dualismus (strenges Entweder-Oder): Johannes 3,6-9 – Jesus 16,8-13; Sendung beider durch die »Weisheit«: Lk 7,35; vgl. Lk 11,49; Propheten durch beide überboten: Johannes 7,26 – Jesus 7,16; 9,28-36; 10,24; 11,32; Differenzen: Jesus verkündet das Reich Gottes, Johannes nicht (vgl. Lk 16,16). Jesus wirkt Wunder, Johannes nicht. Jesus verleiht Heiligen Geist (und ist Exorzist), Johannes nicht; das ist auch der Unterschied der Taufen (ohne Heiligen Geist – offen für Salbung mit Heiligem Geist). Jesus ist Messias, Johannes nicht (Lk 7,19f). Der Täufer wird vor Jesus geschickt (Lk 7,27), das ist nicht austauschbar. Jesus ist Sohn Gottes, der Täufer nur mehr als ein Prophet. Der Täufer ist Asket (Lk 7,18), Jesus gilt als »Fresser und Weinsäufer« (Lk 7,19); Begründung: Jesus feiert mit den Jüngern »Vorhochzeit« für seine messianische »Hochzeit« mit Israel. Empfangen vom Heiligen Geist In der protestantischen (und neu-katholischen) Forschung begriff man die Botschaft von der Entstehung Jesu durch den Heiligen Geist als literarisches Imitat hellenistischer Geschichten, wonach verkleidete Götter mit menschlichen Frauen Ehebruch trieben. Ist Jesu Entstehung durch den Heiligen Geist eine Legende und noch dazu heidnisch inspi-
213 riert? Fast alle Exegeten verweisen dabei auf Mythen, nach denen Götter jeweils mit menschlichen Frauen deren Ehemänner betrogen haben, teilweise unter anderer Gestalt. So wurde zum Beispiel Alexander der Große dadurch gezeugt, dass sich Zeus in Gestalt einer Schlange dessen zukünftiger Mutter näherte. Philipp, der rechtmäßige Ehemann, blinzelte durchs Schlüsselloch und wurde zur Strafe auf einem Auge mit Blindheit geschlagen. Doch man darf schon von vornherein fragen: Wie sollten angesichts des stark judenchristlichen Charakters der Kindheitsberichte deren »Erfinder« zunächst und unvermittelt auf Göttergeschichten zurückgegriffen haben? Der Einwand wird verstärkt, wenn man auf den pikanten Charakter hinweist. In allen paganen Geschichten geht es um regelrechte Zeugungen. Doch von einem Ehebruch Gottes mit Maria gegen Josef ist im Neuen Testament nicht die Rede Inzwischen entdeckt man stärker die Differenzen zu diesen Geschichten und versucht eine theologische Einordnung in der Tradition der Prophetenberufungen »vom Mutterleib an«. Wenn Propheten (inklusive Paulus) vom Mutterleib an ausgesondert, geheiligt oder vom Heiligen Geist erfüllt (Johannes der Täufer) waren, dann ist Jesus in diesem Rahmen die höchste Steigerung und mehr als ein Prophet, nämlich der Sohn Gottes. – Die Steigerungslinie lässt sich wie folgt darstellen: Jes 49,1: Der Prophet ist vom Mutterleib an berufen, Gott hat seinen Namen genannt. Jer 1,5: Der Prophet Jeremia ist vom Mutterleib an ausersehen und geheiligt. Gal 1,5: Paulus ist vom Mutterleib an ausgesondert, berufen durch Gnade. Lk 1,15: Johannes der Täufer ist vom Mutterleib an erfüllt vom Heiligen Geist. Lk 1,30: Jesus ist (vom Mutterleib an) durch den Heiligen Geist geworden. Bei Jeremia kommt das Stichwort »heiligen« neu auf. Bei Johannes dem Täufer ist daraus schon geworden »erfüllt vom Heiligen Geist«. Und Jesus ist nicht nur erfüllt vom Heiligen Geist, sondern ganz und gar dadurch entstanden. Damit wird zugleich das Hoheitsprädikat geändert: Jesus überbietet den Status des Propheten, denn er ist Gottes Sohn.
Durch den Aufweis dieser kontinuierlich sich »verschärfenden« Tradition ist es zum ersten Mal
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214 gelungen, die Empfängnis Jesu innerhalb der biblischen Tradition darzustellen und nicht durch pagane »Einflüsse« erklären zu müssen. Mit dem Aufweis dieser Möglichkeit aber ist das Milieu der Berichte in Lk 1-2 eben nicht »spät« und »hellenistisch«, sondern altertümlich und judenchristlich, noch dazu, weil die wichtigsten Elemente mit Mt 1-2 gemeinsam sind, also Ähnliches wie in Q vorliegt. Für Mutter und Sohn bedeutet das: Die Erwählung durch Gott ist radikalisiert und zugespitzt. Erwählung bedeutet hier absolute Heiligkeit, weil es um Gottes Anspruch auf einen Menschen und also dessen Heiligung geht. Dort, wo die Erwählung so aufs Äußerste zugespitzt wird, rückt ein Mensch in unüberbietbare Nähe zu Gott – daher der Titel Sohn Gottes. Er hat als Sohn Anteil an der Lebensfülle Gottes. Das ist inhaltlich die Brücke zur Entstehung durch den Heiligen Geist. Denn wer der Lebensfülle Gottes so nahe ist, wird selber ursprungslose Quelle. Das Geschehen ist daher hier (!) nicht über das Denkmodell »Gott wird Mensch« erreichbar, sondern über die größtmögliche Berührung eines Menschen mit dem Geheimnis Gottes. – Alle Weihnachtsfreude ist in dieser überwältigenden, schier unfasslichen Erfahrung Marias begründet. Oder im Anklang an das Te Deum formuliert: Gott hat es nicht verschmäht, in diesem palästinischen Mädchen als seinem neuen Tempel zu wohnen. Theologisch bedeutet die Enstehung Jesu durch den Heiligen Geist: Der große, unfassbare Gott kommt dem Menschen, diesem Mädchen aus Palästina, so nahe, dass diese Nähe die physische Entstehung eines lebendigen Menschen bedeutet. Auch das, was bei der Auferstehung Jesu geschieht, ist grundsätzlich vergleichbar. Gott kommt dem im Grab liegenden toten Jesus so nahe, dass daraus wunderbares, verwandeltes neues Leben wird. An beiden Stationen, die für den antiken Menschen in buchstäblichem Sinne das A und das O sind, zu Anfang und am Ende des Lebens, tritt Gott als der Spender gerade dieses Lebens mit physischer Wirksamkeit in Erscheinung. Daher kann man sagen, dass die Entstehung Jesu und seine Auferstehung »aus demselben Holz geschnitzt« sind. Weniger salopp ausgedrückt: An diesen beiden Stellen der gesamten Geschichte des Heils ist die Nähe zwischen Gott und Mensch
Das Lukasevangelium
am allergrößten. Dabei wird die Dimension der leibhaftigen Nähe ein Merkmal des Auftretens Jesu und der Geschichte der Kirche bleiben. Bei Jesus zeigt sich das in der Bergpredigt, in der Gottes Gebot uns bis in die letzte Faser der Leiblichkeit hinein bestmmen soll (z. B. nach Mt 5,28, wo es darum geht, eine Frau nicht mit Blicken auszuziehen). In den Wundern neigt sich Gottes Schöpferkraft den Kranken mit leiblicher Konsequenz zu. Wenn Jesus den Zöllner besucht, kann er sagen: Heute ist diesem Haus Heil widerfahren – einfach deshalb, weil Jesus physisch anwesend ist. Und wenn Jesus mit Zöllnern und Gottlosen feiert, dann ist mit seiner physischen Präsenz das Reich Gottes gekommen. Jesus kann leibliche Auferstehung und leibhaftiges ewiges Leben verheißen – etwas anderes ist im Judentum gar nicht denkbar. Immer geht es um die unüberbietbare physische Nähe Gottes zu den Menschen – das gilt dann auch für alle Sakramente. Diese absolute Nähe ist die eigentliche Versöhnung. Sie ist die Erfüllung der Bundesverheißung an Israel: Ich will ihr Gott sein und bei ihnen wohnen. Jesu Entstehung entspricht seiner Auferstehung. Das eine geschieht zu Beginn seines irdischen Lebens, das andere an dessen Ende bzw. zu Beginn seines Erhöhtseins. Beides geschieht durch den Heiligen Geist. Jesus entsteht in Maria, indem Gottes Heiliger Geist in ihr das Wunder des Schwangerseins wirkt. Die Auferstehung geschieht durch den Heiligen Geist; denn wo immer über die Kraft nachgedacht wird, aus der die Auferstehung geschieht, bei Paulus oder anderswo, schon in der Vision in Ez 37 ist es der Geist Gottes, der die toten Gebeine auferweckt. – In beiden Fällen, bei der Entstehung und bei der Auferstehung, hat der Heilige Geist direkt etwas mit dem menschlichen Leib zu tun. Dabei ist der Leib nicht tote Materie, sondern die Summe der Kontaktmöglichkeiten jedes Menschen nach außen hin, also der »Landeplatz« des Heiligen Geistes. Geist und Leib sind damit nicht so weit voneinander entfernt wie bei Plato, der sagen konnte: »Der Leib ist das Grab der Seele.« Hier ist es eher umgekehrt: Der Heilige Geist (der nicht mit menschlichem Geist zu verwechseln ist) ist für die Kinder Gottes und im neuen Äon das Lebensprinzip des menschlichen Leibes. Jesus hat schon als Mensch einen Leib von der Qualität des neuen Äon erhalten; darauf weisen
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Kapitel 1
hin seine Verklärung, sein Gehen auf dem Wasser und Wunder, die er mit der bloßen Hand tut. Hin und wieder bricht die göttliche Qualität der Gotteskindschaft durch seinen Leib durch, wird erkennbar, dass dieser Leib direkt vom Heiligen Geist gewirkt ist. Das geschieht, wie gesagt, nicht immer, sondern je für einen Augenblick. Und im neuen, kommenden Äon der mit der Auferstehung aller Glaubenden beginnen wird, wird der Leib aller Christen durch den Heiligen Geist in die Gottähnlichkeit umgewandelt (1 Kor 15). Insofern ist Jesus Christus wirklich der neue, durch den Heiligen Geist bestimmte und verwandelte Adam.
Lk 1,5-25: Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers Laut Lk 1,5 und Mt 2,1 ist Jesus unter Herodes d. Gr. geboren, der von 37-4 v. Chr. regierte. Der Statthalter Quirinius (Mt 2,2) war in wichtigen Funktionen zwischen 12 v. und 16 n. Chr. Jesus dürfte dann spätestens um 4 v. Chr. geboren sein. Die jetzige Zählung geht zurück auf den Mönch Dionysius Exiguus (um 525 n. Chr.). Die »Schätzung« war wohl eine Grundsteuererhebung, für die man persönlich erscheinen musste. Ein Familienbesitz in Betlehem könnte auch mit der Herkunft Josefs und Marias gut in Einklang stehen. Nach 1,15 wird Johannes d. T. als Nasiräer dargestellt, vom Mutterleib an »erfüllt vom Heiligen Geist«. Der Titel Jesu – »Nazoräer« – könnte eine Variante zu Nasiräer sein (verlesen des Jod als Waw). War Jesus in seiner ersten Lebensphase auch Nasiräer? Zum Ende hin war er es jedenfalls: Mk 14,25 enthält ja wiederum ein Entsagungsgelübde. Nach Lk 1,17 wird Johannes »in Geist und Kraft des Elia« auftreten. Das scheint eine gute Interpretation der Annahmen zu sein, Johannes sei Elia gewesen (am deutlichsten Mt 17,13). Die Art, in der dieses Identisch-Sein vorzustellen ist, macht Lk 1,17 verständlich.
Lk 1,26-38: Verkündigung der Geburt Jesu Die Verkündigung an Maria steht mit allen wichtigen Elementen in der Tradition der jüdischen Visionsdarstellungen (dazu K. Berger, Die Auf-
215 erstehung …, 1976, 2. Teil). Diese Texte lassen auf einen »Baumarkt« (besser: Basar) schließen, auf dem man diese Bausteine erwerben konnte, und in jedem neuen Kontext, ja in jeder Religion (Judentum, hellenistischer Synkretismus, magische Papyri, frühes Christentum) wurden diese dann verschieden verwendet (Traditionen, Themen, semantische Felder, Gattungen). Aber vorgebildet ist nicht nur jeweils die Sprache inklusive Redensarten und gebräuchlicher Bilder, sondern auch komplexere Denkformen. Die Formen dienen der Artikulation des Erlebten, und dieses ist von ihnen überhaupt nicht zu trennen. Der Gattung nach handelt es sich in Lk 1,26-38 um einen Visionsbericht (Angelophanie). Typische Elemente sind: »Fürchte dich nicht!« plus Name, und zwar als Anrede dessen, der erscheint. V. 31 wird als Beauftragung begriffen; denn in V. 34 kommt der gattungstypische Einwand, der die Botschaft mit dem Auftrag gefährdet. Dreifach wird der Einwand widerlegt: nach V. 35 durch die Verheißung der Geburt des Sohnes Gottes, nach V. 36 durch den Hinweis auf Elisabet und Johannes und nach V. 37 durch den Hinweis auf die Macht Gottes, die sowieso alles vermag. Mit der schließlichen Einwilligung Marias in V. 38 endet die Vision. Die Tatsache, dass Elemente einer Vision typisch sind, spricht nicht gegen die Historizität des Berichteten, sondern dafür, dass Maria dieses Geschehen als legitime Vision erlebt hat, in der geschehen ist, was eben zu einer Vision dazugehört. – Dass Maria sich als Sklavin Gottes Willen unterordnet (V. 38), wird sie später als Niedrigkeit oder Demut ansehen (1,49). Im Rahmen der Vision ist V. 34 formgeschichtlich als »Einwand« zu bezeichnen (vgl. dazu die vorprophetischen Berufungsberichte z. B. Ex. 3,11; 4,1). – 1,32f sind Verheißung, aber noch nicht eingelöst. Was ist, so kann man fragen, das historische Ereignis? Zunächst einmal gibt es die übereinstimmenden Elemente zwischen Matthäus und Lukas. Diese mindestens (!) sind in diesem Abschnitt (Lk 1) altes Gut. Also: Zur Zeit des Königs Herodes ist Maria die Verlobte Josefs; der Heilige Geist ist Ursprung Jesu im Leib Marias; dieses wird von einem Engel bekannt gemacht. Maria hat zuvor keinen Verkehr mit Josef gehabt. In beiden Evangelien sagt der Engel: »Und du sollst seinen Namen Jesus nennen.«
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216 Was die Szene in Lk 1 betrifft, so kann man sagen: Wenn der Bericht auf Maria selbst zurückgeht, so kann man damit rechnen, dass ihr Zeugnis in dem bekannten lukanisch-johanneischen Traditionssegment (vgl. Joh 19, 26) bekannt war. Das zugrunde liegende historische Ereignis muss man wohl ein mystisch-ekstatisches Widerfahrnis nennen. Das heißt zumindest: Maria hat eine Vision des Engels Gottes, deren Macht so groß ist, dass sie daraufhin schwanger wird. Bei der Wahrnehmung dieses Geschehens spielte wohl Ri 13 eine besondere Rolle, und zwar die Szene mit der Ankündigung der Geburt Simsons; vgl. Ri 13,2-5 (parallel: Ps.-Philo, Bibl. Altertümer 42,1-7: »Und siehe, du wirst empfangen und einen Sohn gebären und seinen Namen Simson nennen. Dieser wird nämlich geheiligt sein«; armen. Philo, Über Samson § 24 [Ankündigung der Geburt Samsons]). Wie auch beim Titel »Erlöser« (in den Richterbüchern) ist Simson eine charismatische Rettergestalt, bei der besonders dann nach frühjüdischer Auffassung der Heilige Geist die entscheidende Rolle spielt. Soll Jesus dadurch weniger als politischer, sondern vielmehr als charismatischer Führer Israels dargestellt werden? Das Verhältnis von Schrift (Altes Testament) und »reinem« historischen Geschehen ist bei Lukas generell nicht zu entwirren, jedenfalls bestimmt nicht auf dem Weg der Subtraktion.
Lk 1,39-45: Maria bei Elisabet Die Begegnung der beiden schwangeren Frauen, Marans und Elisabets, Thema eines Ikonen-Typs, hat die typologische Exegese immer gereizt. Denn diese Begegnung ist voll von »heiligen« Gegensätzen, hat doch Jesus den Täufer später als den größten und bedeutendsten Menschen bezeichnet (Lk 7,28). Die beiden Frauen hier reihen sich ein in die lange Liste typologisch gegenübergestellter Frauen wie Hagar und Sara, Maria und Marta, die Hure Babylon und die Braut des Lammes, Ekklesia und Synagoge. In der zeitgenössischen kynisch-stoischen Philosophie wurden Königtum und Tyrannei als zwei Frauen konfrontiert. Sie sind jeweils anschauliche Prototypen und verkörpern jeweils gegensätzliche Richtungen oder Zeiten. Bei Lukas stellen die beiden
Das Lukasevangelium
Frauen Johannes den Täufer und Jesus in ihrer Ähnlichkeit und Gegensätzlichkeit dar. Denn es begegnen sich die durch Gottes Wundertat Gebärfähige und die vom Heiligen Geist Schwangere, und man wird in Elisabet die letzte Verkörperung des alten, in Maria die erste Verkörperung des neuen Bundes sehen. »Die Jüngere besucht die Ältere, die Jungfrau begrüßt die Ehefrau. Denn je keuscher, desto demütiger … Die Demut der Großen ist die Erhebung der Geringen« (Beda). »Die höherstehende Person (Maria) kommt zur Niedrigeren, um ihr zu helfen; so kam denn auch später der Herr zur Taufe, um die Taufe des Johannes zu heiligen« (Ambrosius). Denn nicht das ehrwürdige Alter zählt, sondern das jüngere Kind ist der »Herr« des älteren, ja noch mehr: Das jüngere Kind ist der »Herr« der älteren Frau. So sind alle Rangverhältnisse auf den Kopf gestellt. Das ist schon Theologie des Magnificat. Nur die Begrüßung berichtet unser Text. Sie wirkt wie ein feierlicher Ritus voll Zärtlichkeit und Ehrerbietung, wie ein ekstatisch-prophetisches Geschehen, und schließlich ist sie ein Vorzeichen, das die künftige Größe des jüngeren Kindes ahnen lässt. Zum Treffen der beiden Frauen bemerkt Luther im Anschluss an Ambrosius, Beda und andere: »Da findet eine Demut die andre. Maria demütigt sich und Elisabet hält sich für unwert, dass sie zu ihr kommen soll. Dabei ist sie fröhlich und hat’s von Herzen gerne so. Da ist gewisslich der Heilige Geist.« Anschaulich schildert Luther Marias Demut: Sie ist »geistlich Gottes Tochter«. Dennoch will sie ihre Muhme besuchen, um ihr zu dienen. Sie »nimmt einer Kindsmagd Wesen an«. »Jetzt, da sie vertraute Braut und Mutter Gottes ist, geht sie übers Gebirg und dient der Muhme. Das soll jedes Weib schamrot machen … Die Kindsmägde sollten sich rühmen, dass Maria auch eine gewesen ist.« Schon Bernhard von Clairvaux nahm (mit Ambrosius u. a.) an, dass Maria drei Monate lang Elisabet »gedient hat« und sieht dieses als Vorabbildung davon, dass auch Jesus sich unter den Täufer demütigt; denn nach Mt 3,15 sagt er bei der Taufe: »Lass es nur zu, denn so sollen wir die Gerechtigkeit erfüllen.« Charismatisch-prophetisch ist diese Begrüßung, denn das Kind hüpft »vor Freude und Jubel«, und letzteres Wort gebraucht die Bibel nur
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von einer Freude, die sich nicht mehr einkriegt. So kommt auch »der Heilige Geist über« Elisabet, als sie Maria begrüßt. Denn der, der dem Herrn begegnet, wird mit Heiligem Geist erfüllt. Maria ist hier Christus-Trägerin wie später die Apostel. Denn auch wenn sie predigen und den Herrn auf diese Weise zu den Menschen bringen, werden diese mit Heiligem Geist erfüllt. So berichtet es die Apostelgeschichte etwa auf die Predigt des Petrus hin (10,44). Denn wer immer dem Herrn begegnet, sei es direkt, sei es in der Verhülltheit in Marias Leib oder im Wort der Apostel, hat Anteil an ihm in der Weise des Empfangens des Heiligen Geistes. Maria ist daher hier die Christus-Trägerin schlechthin. – Zum prophetischen Charakter der Begegnung sagt Luther: »Und an diesen zwei Weibsbildern, Maria und Elisabet, magst du sehen, wie ein trefflich Ding es ist um einen rechten Glauben; denn er verändert den Menschen nicht nur nach seiner Seele, sondern auch nach dem Leibe. Elisabet ist eine andre Frau worden, geht in solcher Freude dahin, dass sie’s nicht ausdrücken kann, und Leib und Zunge werden so fröhlich, dass sie Prophetin wird.« Luther bemerkt auch, dass Elisabet die Erste ist, die Marias Schwangerschaft feststellt: »Maria war noch jung und man konnt’s am Leibe nicht sehen, dass sie schwanger war. Das ist höchste Erkenntnis, dass sie sie als Mutter preist und als eine, die eine Frucht trägt über alle Früchte. Und sie stellt sie über alle Frauen in Ewigkeit. Denn, spricht sie, du trägst einen Sohn, der unser aller Herr ist … Das ist die erste Predigt auf Erden, dass Maria die Mutter des Herrn ist, und kommt von der alten ehrlichen Matrone … ›Herr‹ ist der Name des rechten Gottes.« »Maria ist ihr nun auch nicht mehr das vorige Nichtlein, sondern sie trägt Gottes Sohn, der in einem Augenblick wahrer Mensch und wahrer Gott geworden ist. Wenn der Heilige Geist leuchtet, so wird’s hell in einem Augenblick, gleich wie die Sonne in einem Augenblick die ganze Welt erhellt.« Schließlich ist die Begegnung ein Vorzeichen, denn Johannes hüpft im Leib der Elisabet, nicht Jesus im Leib Marias. Johannes bewegt sich, Jesus nimmt diese Bewegung und Ehrerbietung gewissermaßen an. Solche Art Begegnung zwischen Ungeborenen liest man in der Antike, auch im damaligen Judentum, als Vorzeichen (Prodigium) für die künftige Beziehung zwischen den
beiden Kindern. – Die Präfation Nr. 992 sieht es anders: »Er jubelt im Bauch seiner Mutter, um in ihrem Leib die Herzen der Juden durch die Verkündigung des kommenden Königs zu erschüttern.«
Lk 1,46-55: Magnificat Das Magnificat benennt zentrale Elemente lukanischer Theologie. Jesus ist die Erfüllung der Verheißung an Abraham. Die Erhöhung der Demütigen und Elenden im Unterschied zur Begünstigung der Mächtigen (V. 52) geschieht durch Marias Schwangerschaft. Die Kritik des Reichtums V. 53b ist Merkmal des ganzen Evangeliums. Gebet und Lobpreis sind die Weise, in der Menschen an der Heilsgeschichte teilhaben. »Selig meine Mutter unter denen, die geboren haben, und verherrlicht werden soll unter den Frauen sie, die mich geboren hat«, so jubelt der Prophet Baruch in der nach ihm benannten jüdischen Apokalypse aus dem 1. Jh. n. Chr. (Übers.: Berger, Synopse, 1992, zu 54,10). Wir erkennen daraus: Die »Seligpreisung der Prophetenmutter« ist eine jüdische Redegattung, ähnlich auch Lk 11,27 (Selig der Leib, der dich getragen …). Denn mit dem Propheten lobt man auch dessen Mutter, ähnlich wie man im Deutschen sagen kann: Was musst du für eine wunderbare Mutter haben … – So hat denn auch das Magnificat Marias gleich drei Vorstufen bzw. Entsprechungen in der Geschichte des Gottesvolkes: den Lobgesang der Hanna in 1 Sam 2,1-10 sowie in anderer Fassung im »Buch der biblischen Altertümer« (LAB) Kap. 51,3-6 und das Lied der Anna, der Mutter Marias, nach dem Protevangelium des Jakobus 6,3 (Übers.: Berger/Nord, Das Neue Testament, 62010, 1283). Zusammen mit dem Magnificat sind diese drei Texte von großartiger Schönheit. Sie münden alle ein in die Theologie des Magnificat, deren Grundzüge hier zunächst genannt sein sollen: 1. Die Geburt Jesu bedeutet die Annahme Israels, die Erfüllung der Verheißungen an die Väter. 2. Das Lied entfaltet eine eigene Geschichtstheologie unter dem Thema »Gott und die Mächtigen«. Gott ist der Herr, die Kirche schaut zu, wie er für den Abstieg der Hochmütigen und Überheblichen sorgt und ebenso für den Aufstieg der
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218 Demütigen. Denn das Drama von Abstieg und Aufstieg in der Geschichte hängt ab von inneren, nicht von äußeren Faktoren. Jede gottlose Macht steht auf tönernen Füßen, denn der Hochmut kommt vor dem Fall. Doch genauso gilt auch andererseits: Die Opfer werden nicht auf ewig Opfer sein. 3. Jede Macht schöpft ihre Kraft aus der Demut. Eine Macht erhält sich lebendig, bewahrt sich vor der Erstarrung, wenn sie sich beugt. Das ist auch ein Stück Apokalyptik: Die Verhältnisse kehren sich um, und so werden auch die vorher Machtlosen mächtig. Denn Gott steht für die Würde der Schwachen ein. Von daher ist auch das Thema »Auferstehung der Toten« im oben genannten Lied der Hanna nach LAB zu verstehen. 4. Die Erhöhung der Niedrigen wird zum »Gesetz«, nach dem auch das Geschick Marias und Jesu zu verstehen ist, auch in der Abfolge von Leiden und Herrlichkeit. 5. Das Magnificat ist eine biblische Antwort auf die Theodizee-Frage, auf die Frage also, wie Gott Unrecht und Böses zulassen kann. Die Antwort lautet: Er lässt es nicht für immer zu, sondern er wird die Umkehrung besorgen. Denn wenn er die demütige junge Frau und ihren Sohn erwählt, dann ist das ein Vorzeichen für den Neuen Äon, in dem Gott den Armen das Evangelium verkündet, die Kranken heilt und die Toten auferweckt. Das Ziel ist die Überwindung des Todes.
Lk 1,68-79: Lobgesang des Zacharias Der Lobgesang des Zacharias (Benedictus) ist noch stärker alttestamentlich. Ab V. 76 ist in einer »Geburtsweissagung« das Kind Johannes direkt angesprochen. In den VV. 68-75 geht es wohl um Jesus (Haus Davids!). Nahe verwandt mit V. 69 ist die 15. Benediktion des 18-BittenGebets: »Den Sproß Davids lass eilends aufsprossen, und sein Horn erhebe sich durch deine Hilfe.« Dass Gott seines Bundes gedenken soll (V. 72), findet sich oft in Gebeten des Judentums und schon in Ex 2,24 (im Magnificat vgl. 1,54b-55). Die Kombination von Propheten und Vätern (hier V. 70 und V. 73) ist ein Stück lukanischer Theologie (vgl. Lk 13,28 und Apg 3,25). – Nach 1,77 ist das Heil wesentlich mit Erkenntnis verbunden. Der »Aufgang aus der Höhe«
Das Lukasevangelium
V. 78 ist die Sonne. – Die Botschaft lässt sich an den Wortwiederholungen ablesen: »Heil«, »Erbarmen«, »heimsuchen«, »sein Volk« als Gegenüber Gottes. Die Rettung von den Feinden (V. 74) wird als Sündenvergebung gedeutet (V. 77). Besonderheit: Das Heil wird lokal erfasst und beschrieben (»vor ihm«, »aus der Höhe«, »Weg des Friedens«). V. 75.79b interpretieren die Väterverheißung ethisch; denn wenn sie erfüllt werden, ist das eben nicht das Paradies, sondern ein Dienst ist jetzt möglich.
Lk 2,1-20: Die Geburt Jesu Die Weihnachtsgeschichte beginnt wie 3,1f mit einem Synchronismos, einer Aufzählung der gleichzeitig in der Welt wichtigen Ereignisse. Die Geburt Jesu selbst wird ganz schlicht geschildert. Das ist wie das unspektakuläre Wegrollen des Steins vom Grabeseingang zu Ostern. In beiden Fällen wird das primäre und eigentlich allein wichtige Jesus-Geschehen in seiner Bedeutung mittels einer »parallelen« Szenerie Dritten durch Engel geoffenbart: Zu Ostern wird der weggerollte Stein Frauen durch Engel gedeutet; zu Weihnachten wird die Krippe durch Engel den Hirten gedeutet. Die entscheidende Botschaft wird »sekundär Betroffenen« in einer zweiten Szenerie durch Engel ausgerichtet. Krippe und Stein sind jeweils nur Zeichen, an denen sich die Botschaft festmacht. Die Botschaft selbst ist nur als himmlische begreiflich. So bleibt das nötige Geheimnis für das Primärereignis gewahrt. Frauen und Hirten als Empfänger der Deutung der Engel sind nicht »die Welt«. Das primäre Ereignis bleibt unter diesen Umständen geheim, auf die Intimsphäre beschränkt – jedenfalls den politischen und satanischen Mächten verborgen. Von den politischen redet Paulus in 1 Kor 2,6-8, vom Satan Ignatius, Eph 19. Theologisches Fazit: Kirche und Geheimnis hängen zusammen. Das Geheimnis ist für die Umstehenden, nicht für die Öffentlichkeit, lebt in der Intimsphäre, nicht auf dem Marktplatz. Insofern steht »Christus der Herr« von Lk 2,11 neben dem »Herrn der Herrlichkeit« von 1 Kor 2,8. – Die Meinung, dass der »Heiland« (soter) von 2,11 gar nicht »altes christliches Traditionsgut«
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sein könne, sondern erst »spät« und unter dem Einfluss hellenistischer Epiphanievorstellungen gebildet worden sei, übersieht, wie weit verbreitet der Titel soter im Sinne von »Helfer, Förderer des Gemeinwohls« war und dass schon in der griechischen Bibel (Septuaginta) charismatische Figuren Israels (Richter) so hießen. Da die Evangelien-Überlieferung wohl von Anfang an griechisch war, kann man auch nicht ergrübeln, was die Engel »eigentlich« gesungen hätten. Mindestens ebenso erstaunlich wie das Wunder der Empfängnis Marias, der Menschwerdung Gottes, ist die Schlichtheit, die Normalität, in der sie sich vollzieht. Dazu gehört einmal, dass Maria Jesus geboren und in Windeln gewickelt hat. Und eine Krippe ist eine seichte Grube (zumeist im Lehmboden), in die das Futter der Haustiere geschüttet wurde. Außerdem schreien kleine Kinder. Platz in einem Gästehaus gab es nicht. Zu Lk 2,14: Der Gattung nach ist Lk 2,14 eine Akklamation (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005). »Herrlichkeit« und »Frieden« sind Heilsgüter, die Gott und den Menschen zugesprochen werden, weil sie ihnen rechtmäßig zukommen und von Gott her auch zu erwarten sind. Akklamation bedeutet feierliche Anerkennung und Vergewisserung. Die Besonderheit der Akklamation in Lk 2,14: Sie vereint Himmel und Erde, spricht den Bewohnern dieser Sphären Dinge zu, die komplementär sind, kurzum, von denen zu hören eine Freude ist. Lukas schildert die Geburt des neuen Herrschers in der Welt der Hirten, und zwar als Hirtenidylle. Entsprechend der zeitgenössischen Bukolik ist die Hirtenidylle das Bild der friedenbringenden künftigen Herrscher; denn Frieden und Geborgenheit sind nicht abstrakt zu vermitteln – dazu ist »Idyllik« als Ausdruck menschlicher Sehnsucht notwendig. Dem kommt entgegen, dass auch David vor seiner Königsherrschaft Hirte war (1 Sam 17,12.15). In Ez 34 klagt der Prophet im Wort des Herrn, die so genannten Hirten Israels hätten für die Schafe nicht gesorgt, und ihnen fehle der rechte Hirte: »Siehe, ich selbst will für meine Schafe sorgen und mich ihrer annehmen. Gleichwie ein Hirt sich seiner Herde annimmt am Tag, da manche seiner Schafe versprengt sind, so werde ich mich meiner Schafe annehmen … Ich führe sie
219 heraus aus den Völkern und schare sie aus den Ländern zusammen. Ich bringe sie in ihre Heimat und weide sie auf den Bergen Israels … Ich selbst werde meine Schafe weiden, das Verirrte werde ich suchen, das Versprengte heimführen, das Verletzte verbinden, das Kranke stärken, das Fette und Kräftige behüten …« Bei den Einzelaussagen in der zweiten Hälfte des Zitats denkt man an Jesu Wirken nach Lukas, an die drei Gleichnisse vom Verlorenen in Lk 15 (darunter das Gleichnis vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Sohn) und an seine Krankenheilungen. Es ist kein Zufall, dass nach Lukas genau das, was nach Ez 34 Gott selbst zu tun verspricht, nun Jesus verwirklicht. Denn er ist der auf Erden tatsächlich gegenwärtige Gott. Ein Vergleich mit Mt 2 führt uns weiter. Bei Lukas sind es Hirten, die Jesus als Erste durch ihren Besuch und ihr Staunen ehren. In Mt 2 sind es Magier, die nach Betlehem kommen, um den neugeborenen König anzubeten. In beiden Fällen sind diese nicht nur die ersten Fremden, die kommen, sie bilden auch durch ihren Beruf die wahre und künftige Rolle Jesu auf eigenartige Weise ab. Ihr Beruf ist jeweils ein Bild für das, was Jesus ist und tun wird, aber eben nur ein Bild, wenn auch ein sehr reales. Denn gewiss wird Jesus nicht Schafe oder Rinder hüten, und genauso wenig wird er als Vertreter der persischen Religion Astrologe, Zeichendeuter, Anhänger Zarathustras oder Experte in magischen Techniken sein. Der Beruf seiner ersten Besucher ist trotzdem ein Zeichen. Denn Jesus wird zwar kein Hirte, aber Hirte Israels sein, und er wird kein Magier sein, aber alles, was bisher an Religionen in der Welt war, an Weisheit und Kenntnis überbieten. Deshalb fallen die Magier vor ihm nieder (Mt 2), um ihn als ihren Allerobersten zu verehren. Der Proklamation von Lk 2,11 (»Heute ist …«) entspricht die Akklamation von 2,14 (»Ehre sei …«). Dieser »Lobgesang« der Engel gehört zur weiteren Gattung der Doxologien. Erwählt sind die Menschen, die zu dem neuen Gottesvolk aus Juden und Heiden gehören. Sie sind der Kern des kommenden Friedensreiches. Was hat diese Szene mit dem Messiaskind zu tun? Zunächst: Ein Stück des alten jüdischen Traumes, welcher heißt »Im Himmel wie auf Erden« (bekannt aus dem Vaterunser) wird jetzt wahr. Denn wenn Gott und erwählte Menschen
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220 in einem Atemzug begrüßt werden können, dann ist endlich Friede zwischen beiden. Dann sind Gott und Menschen versöhnt, und keine Altlast steht zwischen ihnen. Der Versöhner und Friedensstifter ist das Kind. Denn mit ihm beginnt die neue Zeit, von Vergil in seiner 4. Ekloge erahnt. Der Mittler der Versöhnung ist da. – Sodann: Die Menschen, die ihn erleben dürfen, sind schon deshalb auserwählt. Simeon wird bald sagen, dass er glücklich sei, denn seine Augen haben Gottes Heil geschaut. Er gehört zu der erwählten Generation, die den Messias erleben darf. Alle anderen zuvor waren das nicht. Im Kontrast zu ihnen sind die glücklich, die in dieser Zeit leben dürfen. Um etwas viel Größeres geht es bei Lukas: Um die Wieder-Einheit von Gott und Mensch, um den neuen Adam (vgl. Lk 3,38: Adam, der von Gott »abstammt«), das neue Paradies. – Und schließlich: Überraschend ist hier die bedingungslose Heilszusage: »den Menschen auf Erden, die Gott erwählt hat«. Denn erwählt sind jetzt nicht mehr nur die Erzväter (Lk 1,55), sondern alle, zu denen die Botschaft gelangt. Im Sinne des Evangelisten wird man die Erwählung einerseits nicht auf Israel beschränken, andererseits nicht automatisch, d. h. ohne Rücksicht auf den eigenen Glauben und die eigene Entscheidung, für alle gelten lassen, die geboren werden, sondern weil das Heil unter allen Umständen geschichtlich vermittelt wird, ist Erwählung ein Heilsangebot für alle, die das Wort des Evangeliums hören. Die Botschaft, das Evangelium, ist die universale Zugänglichkeit Gottes selbst.
Lk 2,22-28(32): Vorstellung Jesu im Tempel Dass Jesus als Erstgeborener in den Tempel gebracht und Gott präsentiert wird, wie es Ex 13,2-15 vorschreibt, zeichnet Maria und Josef als
Das Lukasevangelium
gesetzestreue Juden. Denn die Erstgeburt »gehört Gott«, und so mussten Jungen nach 40, Mädchen nach 80 Tagen dem Herrn »vorgestellt« werden. – Die Besonderheit ist das Lied des Simeon (Lk 2,29-32). Kein Text des Neuen Testaments macht schönere Aussagen über Israel. In der Sprache von Jes 40-49 wird Jesus gelobt als Licht für die Heiden und Herrlichkeit für das Volk Israel. Das Nunc dimittis ist das Dankgebet des Todgeweihten. Der Tod ist aufgefasst als das Ende des Sklavendienstes, ist eigentlich der Zeitpunkt der Freilassung. Dass er den Messias noch erlebt hat, lässt ihn ruhig sterben. Denn er gehört schon zur messianischen Generation, und diese Menschen hat man immer glückselig gepriesen. – In dem »Paar« Simeon und Hanna stellt Lukas den Lesern zwei fromme Juden vor, die die Ankunft des Messias erwarteten. Diese beiden prophetischen Gestalten stehen für die messianische Sehnsucht Israels. Maria wird ihr Leiden vorausgesagt (V. 35), dadurch werden die bösen Gedanken vieler Menschen geoffenbart.
Lk 2,41-52: Der Zwölfjährige im Tempel Es gehört zu den Topoi antiker biografischer Literatur, dass man an den Zwölfjährigen verlässliche Anzeichen ihrer zukünftigen Begabung entdecken kann. In einer Kultur, die Zukunft um jeden Preis entschlüsseln möchte (Astrologie, Prodigien, Orakel), ist das, was der Zwölfjährige tut, enorm wichtig (vgl. H. J. de Jonge, Sonship, Wisdom, Infancy: Luke II 41-51a, in: NTS 24 [1978] 317-354; N. Krückemeier, Der zwölfjährige Jesus im Tempel [Lk 2,40-52] und die biografische Literatur der hellenistischen Antike, in: NTS 50 [2004] 307-319).
Lk 3,1-5,11: Zweimal Anfang der Verkündigung Lk 3,1-20 stellt die Verkündigung des Täufers vor: Nach der synchronistischen Zeitangabe (s. zu 2,1-3) folgt die schriftgelehrte Identifikation (der Täufer ist die Gestalt von Jes 40,3-5); dann folgen Zitate aus seiner Verkündigung an die verschiedenen Gruppen, großen Raum nimmt die
Bestimmung des Verhältnisses zu Jesus ein (ist Johannes der Messias? 3,15-17), und 3,18-20 endet mit einer knappen Angabe über das Leben des Täufers bis zum Beginn seiner Inhaftierung. 3,1-20 ist also der Abriss eines Täufer-Evangeliums. Nach 3,11.13.14 ist es bereits wesentlich
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Kapitel 3
auf Besitz bezogen. Aus V. 12 geht hervor, dass sich auch der Täufer bereits den Steuereinnehmern (Zöllnern) zuwendet (vgl. Mt 21,32; Lk 7,29). Mit der Zuwendung schon des Täufers zu Zöllnern und Soldaten will der Evangelist vielleicht zeigen, dass Christen keine Aufrührer sind. Typisch für die Täuferpredigt ist die Abfolge von Gerichtspredigt und Einzelmahnungen. Die Letzteren werden eingeleitet durch die Frage: »Was sollen wir [also] tun?« (V. 10b.12.14), und es folgen Standesparänesen. In Lk 3,16 spricht der Täufer davon, dass nach ihm einer kommt, der »mit Heiligem Geist und Feuer« taufen wird. Lukas selbst konnte das in der Pfingstgeschichte erfüllt sehen (Heiliger Geist wie Feuerzungen, Apg 2,3). Es könnte sein, dass sich in der Vorgeschichte dieses Wortes – in einer nicht unbedingt christologischen reinen Gerichtsaussage – Heiliger Geist auf die Verwandlung der Gerechten und Feuer auf das Verbrennen der Gottlosen bezog. Als verbindendes Zwischenstück folgen dann der Bericht über Jesu Taufe, sein Stammbaum und seine Versuchung in der Wüste. Der Stammbaum endet pointiert damit, dass Adam von Gott abstammt, also irgendwie auch »Sohn Gottes« ist. Jesus, der gerade (Lk 3,22) in der Taufe als Sohn Gottes öffentlich installiert wurde, ist daher ein Gegenbild zu Adam, ein »neuer Adam«. Nur ist Jesus neuer Adam durch Gottes Heiligen Geist. Übrigens betet Jesus hier vor dem Empfang des Geistes, wie sich das auch für die Jünger geziemt (Lk 11,13). Die Versuchung schließt wie bei Mk an die Taufe an und hat das Thema Gottessohnschaft zum Inhalt: Ist Jesus wirklich »ganz echter« Sohn Gottes? Dabei geht es um den Charakter seiner Messianität. Nutzt er sie zum eigenen Vorteil, ist er »durchgefallen«? Jesus antwortet dreimal mit einem Zitat aus dem Deuteronomium. Die zweite Versuchung setzt voraus, dass der Teufel die Reiche der Welt zu vergeben habe und vergeben könne, er sei der wahre Herrscher. Wenn Jesus den Widersacher anbetet, erhält er die Weltherrschaft (vgl. 2 Kor 4,4; 2 Thess 2,4; Offb 13,4.12). Auch als Jesus am Kreuz hängt, wird er versucht, sich selbst zu helfen (Mt 27,40b). – Für das Judentum und das frühe Christentum folgt auf jede Initiation die Versuchung, so etwa dort, wo Abraham und Hiob als Proselyten dargestellt
221 werden. Die Versuchung stellt jeweils den gerade verlassenen Status als den doch wünschenswerteren dar. Dass es der Teufel ist, der versucht, ist seit Hiob bekannt. Sein Argumentieren mit Schriftstellen lässt ihn als personhafte Größe erscheinen, es bescheinigt ihm jedenfalls Logik und Rationalität. Es gehört zur Abgründigkeit des Bösen, dass es Vernunft simuliert. Der nachahmerische Trug gehört zu seinem Wesen. Die eigentliche Parallele zu Lk 3,1-20 ist Lk 4,16-30. Denn wie in 3,1-20 gibt es hier das einleitende, identifizierende Schriftzitat aus Jesaja (61,1f in Lk 4,18f) und dann einen Abriss der Botschaft mit Betonung des Konflikts Israel/Heiden und einer Vorabbildung des Geschicks Jesu in 4,29 f. Man kann es auch so formulieren: Was Israel betrifft, wird Jes 61 erfüllt, und im Übrigen geht das Evangelium zu den Heiden über. – Der Schriftbeweis aus Jes 61 bestätigt die Gottessohnschaft durch eben denselben Heiligen Geist nach 3,22. Dieses Geschehen wird später – wie de facto schon in Jes 61,1 – als »Salbung« durch den Heiligen Geist verstanden: Apg 4,27; 10,38. Jes 61,1f hat deshalb eine Schlüsselrolle für Christologie und Apostelbegriff, weil alle zentralen Begriffe beider »Themen« hier genannt sind: Geist, Salbung (von chrio kommt christos), Verkündigung des Evangeliums, Sendung, Arme, Heilungswunder, zum Beispiel an Blinden; selbst das Freilassen findet eine Entsprechug in Lk 6,37 und in Befreiungsgeschichten wie Apg 5,18-20. Auch 11 Q Melch 18 nennt einen »Gesalbten des Geistes« als endzeitliche Figur und Verkünder des Evangeliums. Durch die Schriftauslegung in Lk 4 ist Jesus der Initiator christlicher Missionspraxis, die dann stets mit christologischer Schriftauslegung beginnen wird (Apg 13,14 f.26 f.44-46; 17,2f; 18,4; 15,21), und zwar speziell jeweils am Sabbat. Beim Täufer wie bei Jesus wird daher zu Anfang das Ganze kurz im Wesentlichen dargestellt. Es fällt auf, dass in Lk 4 die Predigt über das Reich Gottes fehlt (anders: Mk 1,15); an diese Stelle tritt der Geistbesitz Jesu (vgl. auch Lk 4,18). In beiden Aufrissen ist die Frage »Wer ist es?« entscheidend, so in 3,15; 3,22f; 4,22b, vgl. 4,3.9 (Wenn du der Sohn Gottes bist …). In der Täuferpredigt wurde die Kindschaft relativiert – in der Jesusbotschaft wird sie bestätigt. Nach den ersten Taten Jesu folgt in 5,1-11 ein
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222 letztes, gewichtiges Stück aus den Anfängen Jesu: Die Berufung insbesondere des Petrus. Die Zebedaiden werden allerdings auch kurz genannt, aber im Unterschied zur Jüngerberufung in Mk 1,16-20 liegt doch der Ton ganz auf der Person des Petrus; Andreas kommt nicht vor. Das Sündenbekenntnis des Petrus nimmt Jesus gar nicht ernst. Vielmehr wird die Bootsgeschichte – wie auch sonst in den Evangelien üblich – sogleich auch zum Bild für die Gemeinde und ihre Mission: Jesus beauftragt Petrus damit, Menschenfischer zu sein.
Lk 3,1-6: Stimme eines Rufers in der Wüste »Baut für den Herrn eine Straße, ebnet seinen Weg, füllt alle Täler auf, tragt Berge und Hügel ab. Begradigt alle Windungen der Wege und glättet jede holprige Stelle«, so liest sich eine Anweisung zum Bau von Autobahnen. Wer einmal an einer solchen Baustelle vorbeigefahren ist, weiß, wie viel hier geschehen muss, wie lange das Ganze dauern kann und wie sehr oft eine Gegend ihren Charakter dabei verändert. Ganz zu schweigen von den Kosten. Billiger ist das Kommen Gottes offenbar nicht zu haben. Aus dem ehemaligen Ostblock ist bekannt, dass Gebäude an Straßen oft nur äußerlich, der Fassade nach »frisch gestrichen« wurden, wenn Potentaten durchfahren wollten. Doch das Unternehmen Umbau der Welt für das Kommen Gottes ist wohl etwas aufwändiger, denn Gottes Blick ist unbestechlich. Und weil der Menschensohn der Richter ist, kommt natürlich alles darauf an, zu diesem Richter schon vor dem Gericht eine gute Beziehung zu haben.
Lk 3,10-18: Buß- und Mahnrede des Täufers Der Täufer stellt harte Forderungen. Nicht den Zehnten zu geben, sondern 50 % fordert er. Aber er fordert nicht nur, sondern er weist auf den, der kommt, der stärker ist als er. Das gilt auch, wenn der Kommende der Menschensohn ist, der dann jedenfalls in Gottes Macht und als sein Repräsentant kommt.
Das Lukasevangelium
Lk 3,15-16.21-22: Taufe mit Wasser – Taufe in Heiligem Geist und Feuer Johannes der Täufer wird gefragt, ob er der Messias sei. Er verneint und weist auf einen anderen Täufer. Auch der Messias ist also einer, der tauft. Aber mit Heiligem Geist und mit Feuer. Wie kann das sein, dass Juden sich den Messias als Geist- und Feuertäufer denken konnten? – Einer der wenigen Texte mit expliziten Messiaserwartungen zur Zeit Jesu ist der (apokryphe) Psalm Salomos 17,22.30. Hier heißt es in der Tat, der Messias werde Israel reinigen, und zwar von allem Götzendienst, also von allem Heidnischen. Ähnlich ist übrigens auch die Tempelreinigung durch Jesus zu verstehen. Aus dem Bereich des Heiligen entfernt Jesus alles, was nach heidnischem Geld riecht. Aber der Messias nach Lk 3 wird »mit Heiligem Geist und mit Feuer« taufen. Was soll das heißen? Die meisten Ausleger sagen: So war es zu Pfingsten. Wie Feuerflammen kam der Heilige Geist herab. Aber kann man das ein Taufen mit Geist und Feuer nennen? Pfingsten war nur ein Taufen mit Heiligem Geist, der wie Feuerzungen aussah. Bei der Ankündigung von Geist und Feuer handelt es sich wohl um zwei Vorgänge, die Taufe genannt werden. Die eine Taufe ist die mit Heiligem Geist, wenn Jesus mit Gottes Finger die Dämonen austreibt (Lk 11,20; Mt 12,28). Dazu ist Jesus als der Träger des Heiligen Geistes geeignet. Denn weil Jesus mit Heiligem Geist getauft ist, kann er selbst mit Heiligem Geist taufen. Und das geschieht, indem er die unreinen Geister vertreibt. Bis heute enthält die Taufe exorzistische Elemente. Im Sinne dieser Reinigung ist die vielleicht älteste Fassung der Reichsbitte im Vaterunser nach Lukas (11,2; s. u.) zu verstehen: »Dein Heiliger Geist komme über uns und reinige uns.« Die Taufe mit Feuer dagegen ist die von Lk 12,49-51: »Ich bin dazu da, ein Feuer auf Erden zu entzünden. Ach, wäre es doch schon entfacht! (50) Eine Taufe mit dem Wasser des Todes steht mir bevor. Ach, hätte ich sie doch schon hinter mir! (51) Ihr sollt nicht denken, ich sei ein Friedensapostel …« Nun sind Lk 12,49 und 50 parallel gebaut. Die Taufe mit dem Wasser des Todes – das ist Jesu Martyrium am Kreuz. Der Tod am Kreuz lässt sich mit einer Taufe vergleichen, weil er (sehr schmerzliches) Abstreifen alles Sterb-
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Kapitel 3
lichen bedeutet (hier wird das JudasEv ansetzen), ein Scheidevorgang also. So ist auch Lk 12,49 und der dann folgende V. 51 zu verstehen: Die Verkündigung des Evangeliums bedeutet in jeder Hinsicht heilsame Scheidung, Trennung von Spreu und Weizen und deshalb Ähnliches wie Jesu Predigt als Gerichtsvollzug nach Joh 5,21-27. Zurück zu Lk 3,16: Die angekündigte Taufe mit Heiligem Geist ist die Befreiung von bösen Mächten, die angekündigte Taufe mit Feuer ist jede Verkündigung, die Gerichtscharakter hat und die Menschen siebt (vgl. Lk 22,31). Man kann es auch so sagen: Das Feuer, das Jesus auf die Erde werfen will, ist die Gegenwart Gottes. Und diese hat zur Folge, dass Gold von Schlacke geschieden wird. Jesus ist also der vom Täufer verkündigte Messias: Er reinigt Israel, und zwar von unreinen Geistern genauso wie von allem Unreinen am Einzelnen. So bereitet er Gottes Volk vor auf das Kommen Gottes. Die Taufe Jesu nach Lk 3,21f befähigt Jesus, den Teufel bei sich und anderen abzuwehren. Man kann fragen, warum und ob es Jesus nötig hatte, vom Heiligen Geist getauft zu werden, wo er doch nach Lk 1,35f schon durch den Heiligen Geist entstanden war. Nun ist der Heilige Geist nicht etwas, das man ein für alle Male hat oder nicht. Vielmehr kann keiner davon genug bekommen. Und deshalb heißt es im frühen Christentum immer wieder: Betet ohne Unterlass – Löscht den Geist nicht aus! (1 Thess 5,17-19). Immer wieder beten die frühen Christen um den Heiligen Geist. Und deshalb wohl heißt es – übrigens nur bei Lukas –, dass der Himmel sich auftat, »als Jesus betete«. Folgende Fragen kann man hier stellen: Warum lässt Jesus sich überhaupt taufen? Zeitgenössische Exegeten erklären frech, Jesus habe sich taufen lassen, weil er gesündigt habe, weil doch Johannes nach Lk 3,3 zur Vergebung der Sünden taufte. Jesus sei also ein großer und bedeutender Sünder gewesen. Dabei lassen sich diese »Gelehrten« von einer schlicht am Nützlichkeitsprinzip orientierten Frömmigkeit leiten, nach dem Prinzip: Was du nicht zwingend brauchst, kannst du weglassen. Konsequenz: Bete nie das Vaterunser, wenn dir nichts vergeben werden muss. – Die Logik biblischer Frömmigkeit ist dagegen anders. Sie lautet: Niemand kann Gottes Heiligkeit genug loben, deshalb scheue
223 keine Wiederholung der Bezeugung der Demut. Gerade als Gottes Sohn ist Jesus fromm – wie wäre das Gegenteil denkbar? Denn er hat alles, schlechthin alles vom Vater empfangen; gerade so und genau deshalb ist er der Sohn. Deshalb betet er nach Lk 3,21 vor der Taufe. Er hätte es nicht »nötig«; aber dass er mit seinem Vater spricht, ist Zeichen dafür, dass er ihn liebt und mit ihm verbunden ist. Jesus hat es »nicht nötig«, getauft zu werden; aber er hat keinen Grund, irgendeine Begegnung mit seinem himmlischen Vater zu scheuen. Anders als wir denkt er nicht von der Notwendigkeit her, als sei Gottes Handeln an uns letztlich von unserem Mangel bestimmt und verursacht. Biblisch gesehen ist das Umgekehrte wahr: Die Taufe des Johannes ist in ihrem Ursprung eine Begegnung mit dem lebendigen Gott, daher das lebendige Wasser als Bild für Gottes Vitalität und Reinheit (vgl. auch Joh 7,38f und das Bild der Quelle in ThomasEv 13). Eine Einschränkung auf Sündenvergebung ist gar nicht zwingend notwendig – das zeigt gerade Mt 3,1, wo diese Formel fehlt; wer aber Sünden hat, dem werden sie vergeben. Und weiter: Nach der Bibel bekommt jedes Geschehen seinen Sinn vom Ausgang und vom Ende her. So hat Jesu Taufe den Sinn der Erfüllung Jesu mit Heiligem Geist und der öffentlichen Einsetzung als Sohn. Die Verborgenheit der Empfängnis durch den Heiligen Geist wird durch die Einsetzung mit der dazu gehörigen Formel »Du bist …« aufgehoben. Solche »Du bist«-Formeln kennen wir von Ps 110,4 her: »Du bist Priester nach der Ordnung des Melchisedek.« Ähnlich die Adoption der Könige Israels nach Ps 2,7: »Du bist mein Sohn. Heute habe ich dich gezeugt.« Schließlich hat Lukas bei seinem Bericht über Jesu Taufe sicher auch an den typischen Ablauf der christlichen Taufe gedacht. Denn längst ist diese eine Verbindung von Wasser- und Geisttaufe. Das geht aus Apg 8, 15f und 19,2-6 hervor, aber auch schon Joh 3,5 spricht vom Neugeborenwerden aus Wasser und Geist. Wenn es sich um eine Gleichgestaltung mit Jesus handelt, dann hat seine eigene Taufe in der Verbindung von Wassertaufe und Geisttaufe einen guten, für jede christliche Taufe aktuellen Sinn. Im Mittelalter sieht man in der Taufe Jesu, die er zur Beseitigung eigener Schuld nicht brauchte,
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224 eine Analogie zur Erlösung am Kreuz: Weil Jesus, der makellos Gerechte, sich taufen ließ, hat er mit seiner Taufe schon hier die Sünden aller anderen stellvertretend auf sich genommen. Das kultische Gesetz der Kumulation scheut man auch hier nicht: Es macht gar nichts, wenn die Vergebung der Schuld an zwei Ereignissen festgemacht werden kann. Die theologische Bedeutung der Taufe Jesu nach Lukas liegt heute in zwei Punkten: in Jesu Gebet um den Heiligen Geist und in der Bedeutung der öffentlichen Taufe. – Immer wieder betont der Evangelist Lukas die Bedeutung des Betens um den Heiligen Geist, besonders in Kap. 11 des Evangeliums, aber auch dann, wenn Jesus oder die Gemeinde Menschen zur Mission beauftragt (Lk 6; Apg 13). Viel stärker, als es heute im Bewusstsein ist, gilt der Heilige Geist im frühen Christentum als die Kraft, aus der die christliche Gemeinde und jeder Einzelne leben kann. Das Gebet geschieht aus der Kraft des Heiligen Geistes genauso, wie es Bitte um den Heiligen Geist ist. Denn er ist ganz speziell die Art, in der der große Gott inmitten der christlichen Gemeinde wirkt. Sollte nicht die Spendung der Taufe viel stärker ein öffentliches Geschehnis und Bekenntnis sein?
Lk 4,1-13: Versuchungen Jesu in der Wüste Im Unterschied zu Matthäus bietet Lukas eine andere Abfolge der Versuchungen: Brotwunder – Anbetung – Tempelzinne. Die Folge bei Mt war: Brotwunder – Tempelzinne – Anbetung. Bei Mt erreicht die Versuchung ihren Höhepunkt in der Gottesfrage. Sie ist auch sonst Zielpunkt des MtEv, so auch im Taufbefehl (»Im Namen des Vates …«) – besonders für Heidenchristen ist das die wichtigste Frage: Wer ist nun Gott? Antwort: Der Sohn ist Gott, weil und indem er alles dem Vater verdankt. – Bei Lukas steht die Versuchung mit der Tempelzinne am Schluss und wird demnach am stärksten betont. Damit ist die Zielsetzung christologisch: Wird Jesus vor dem Leiden bewahrt werden, weil er Gottessohn ist? Antwort: Nein. Der Vater wird ihm helfen, wann er es will. Der Sohn soll und kann ohne Netz und doppelten Boden alles riskieren. So lesen sich die Versuchungen bei Lukas: Der Sohn verzichtet
Das Lukasevangelium
auf das Brotwunder, das seinen Hunger stillen könnte. Er verzichtet auf Ruhm und Ehre und Anbetung und überlässt sie dem Vater. Er verzichtet schließlich darauf, sich sein Leben retten zu lassen. Denn er geht auf die Passion zu. Man hat immer schon gesehen, dass im 3. Evangelium Jesus als der leidende Märtyrer herausgestellt wird. Das ist schon in der Anordnung der Versuchungen so, und wenige Verse später, in 4,29, werden aufgebrachte Juden den ersten Versuch zum Mord an Jesus unternehmen. Indem Lukas dieses berichtet, ist er übrigens nicht antisemtisch, sondern er berichtet getreulich über die das Leben Jesu bestimmende entscheidende Frage: Ist Jesus mit seinem Anspruch, den Geist Gottes zu haben (Lk 4,18) und Sohn Gottes zu sein, der Gotteslästerer und Falschprophet schlechthin? Oder hat er Recht? Ein Drittes gibt es nun einmal nicht. Nach Lukas sind die Versuchungen Jesu damit nicht beendet. In Lk 22,28 wird er den Jüngern sagen: Ihr habt mit mir durchgehalten in meinen Versuchungen. Da die Jünger zumindest in Lk 3 noch nicht dabei sind, sind Versuchungen hier wohl eine Zusammenfassung dessen, was Jesus schon vor seinem Leiden als Anfechtungen erlebt hat. Das ganze Leben des Messias in Niedrigkeit und Verkanntwerden sind offenbar »die Versuchungen«. Dieses Jesuswort (22,28) findet sich nur bei Lukas und ist aufschlussreich für die Sicht Jesu auf sein eigenes Leben und Wirken. Immer wieder wird er versucht, immer wieder wählt er den Weg der Leiden, das ganze Leben lang. Denn als Gottessohn könnte er es ganz anders haben. Hebr 12,1 formuliert es so: »Als Auserwählter hätte sich Jesus sicher für Freude und Freiheit vom Leid entscheiden können, doch stattdessen ertrug er geduldig das Kreuz« (Berger/Nord). So dann auch Hebr 4,15: »Jeder Versuchung hat er sich ausgesetzt.« Auch Schreien, Weinen und Beten Jesu bezieht der Brief (Hebr 5,7) offensichtlich auf das ganze Leben Jesu, eine Eingrenzung auf Getsemani ist nicht erkennbar. An der Art, in der Jesus den Teufel hier abweist, erkennen wir: Jesus befreit sich so im Vertrauen auf Gottes Wort von allem, was ihm Angst machen könnte. Er verzichtet auf jede Existenzsicherung, die er in Anspruch nehmen könnte. Die Angst um das eigene Leben könnte ihn dazu verführen, eine falsche Geborgenheit bei Gott zu su-
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Kapitel 4
chen. Stattdessen gewinnt er Mut, sich dem Leiden offen zu stellen. Es wird ihm nichts erspart bleiben. Bevor dieser Weg anfängt, versucht Jesus nicht, sich wegzuducken oder dem Weg auszuweichen. Er nimmt in Kauf, was ihm begegnen wird. So genießt er nicht »heute und morgen« privilegierten Schutz, wohl aber erfährt er dann »übermorgen« die Auferstehung. Dieses Gottvertrauen kostet ihn das irdische Leben. Aber es gibt etwas, das mehr und wichtiger ist als dieses.
Lk 4,14-21: Jesus kommt nach Nazaret In Lk 4 soll der Anfang bzw. der Anfang der öffentlichen Verkündigung Jesu dargestellt werden. Dennoch halten viele den Bericht über die »Antrittspredigt Jesu in Nazaret« für eine reine Konstruktion – geleitet von einer Hermeneutik des Misstrauens, für die ich allerdings keinen Grund sehe. Schon der Ausdruck Antrittspredigt ist irreführend, da er das protestantische Modell der Anstellung des künftigen Predigers beim Landesfürsten aufgrund der Antritts-(= Examens-)predigt zugrundelegt. Nein, Jesus musste keine Probepredigt halten, aufgrund derer er dann (vom Rabbinat) angestellt wurde oder nicht, durchfiel oder seine Karriere begann. Die Szene: Nach der Lesung aus der Torah erfolgte die Prophetenlesung. Gegen alle auch nur vorstellbare Möglichkeit der Auslegung bezieht Jesus den Text Jes 61,1 auf sich selbst. Damit ist er für die Leser und Leserinnen des Evangeliums der königlich-prophetische Heilsmittler, ähnlich wie der Qumrantext 11 Q Melch(isedek) 18 von dem spricht, der »der Freudenbote, das ist der mit Geist Gesalbte« ist. Der Gottesdienst der Synagoge am Sabbat war der Ort der öffentlichen Schriftauslegung, und die Apostelgeschichte bezeugt es immer wieder, dass die Apostel sich diesem Brauch angeschlossen haben. Überall begannen sie ihre Mission in der Synagoge am Sabbat und bewiesen auf der Basis der Schrift, dass Jesus der Messias sei. Die Kapitel ab Jes 40 waren und sind für den frühchristlichen Schriftbeweis die wichtigsten des Alten Testaments. Denn der geistbegabte Prophet selbst wie auch die rätselhafte Figur des Gottesknechts, der Heilsuniversalismus und die sehr offene Bildsprache dieser Kapitel boten wichtige Anhaltspunkte dafür. Das gilt übrigens auch
225 schon für die Texte von Qumran; denn hier ist die Liste der wunderbaren Taten Gottes, die auch Jes 61 kennt, (wie dann in Lk 7,22) erweitert um das Glied: »und die Toten wird er auferwecken«. Aus Jes 61,1 wurde die Verbindung von »senden« (Gott als Urheber), »Geist Gottes«, »salben« und »verkündigen des Evangeliums« maßgeblich für die Gestalt der christlichen Missionssprache. Das heißt: Das Wortfeld aus Jes 61,1 hat in ganz intensiver Weise Geschichte gemacht, nicht zuletzt deshalb, weil Jesus als der vom Heiligen Geist Gesalbte als der – in erster Linie prophetisch gedachte – verheißene Messias der Juden aufgefasst werden konnte. Nach Lk 24 mussten die Jünger erst vom Auferstandenen belehrt werden, bis sie selbst die Schrift verstanden – für die Jünger ist das Begreifen der Schrift erst die österliche Gabe (des Geistes). Jesus dagegen versteht die Schrift und legt sie richtig messianisch und auf sich selbst hin aus; denn im Unterschied zu den Jüngern ist er selbst von Anfang an mit dem Heiligen Geist erfüllt. Erst durch die Gabe des Erhöhten können die Jünger dann gleichziehen. Gerade die Apostelgeschichte und dann der Apologet Justin (Dialog mit dem Juden Tryphon) und Clemens von Alexandrien (»Teppiche«) zeigen, wie wichtig der Schriftbeweis für die frühe Gemeinde war. – Wenn irgendwo und in irgendeiner Figur Jes 61 erfüllt wird, d. h. zum Ziel kommt, dann in der Gestalt Jesu. Dass nicht an fundamentalistisches Erbsenzählen, sondern an Geschichtstheologie zu denken ist, offenbaren auch zwei weitere Elemente des Zitates in Lk 4: Aus Jes 61 fehlt der Satz »um zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind«, und hinzugefügt ist stattdessen aus Jes 58,6: »um die Zerbrochenen freizulassen«; wörtlich im AT: »Löse jede Fessel der Ungerechtigkeit, löse die Fessel erzwungener Verträge.« Das bezieht sich auf die Freilassung der Schuldsklaven – angesprochen sind damit, wie im 3. Evangelium überhaupt sehr oft, die Reichen. Erfüllt wird das besonders in Lukas 6,37: »Lasst (den Schuldner) frei, und ihr werdet freigelassen werden.« Der lukanische Jesus hat damit die Feindesliebe auf Leihen und Schuldenerlass zugespitzt. Wie in der griechischen Version des Alten Testaments (Septuaginta) liest Jesus in Jes 61,2b »den Blinden Heilung« statt »den Gefangenen Öffnung« des hebräischen Textes. Wichtig ist: Jesus lässt aus Jes
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226 61,1 ff alles weg, was den Text auf Israel und den Berg Sion allein bezogen hätte. Die Trauernden weinen nicht mehr nur um Sion. Lukas befreit den Text damit aus jeder nur partikularen Heilshoffnung. Die »Armen« sind hier alle Menschen in realer Notlage. Aber was heißt »Evangelium für die Armen«? Hier werden Jesus und die frühe Gemeinde sehr konkret anknüpfen: Im Wehe gegen die Reichen, in der Aufforderung, alle Habe zu verkaufen, im Almosengeben (Lazarus-Erzählung!) und in der Praxis der frühen Gemeinde nach Apg 2-5, durch barmherzigen Umgang mit Besitz keinen in der Gemeinde verarmen zu lassen. Die lukanischen Heilungswunder haben stets eine soziale Komponente: auch die Befreiung aus dämonischer Macht ist eine Befreiung von Armen. – Für Lukas verkündet die real existierende Gemeinde durch ihre soziale Praxis direkt das Evangelium Jesu.
Lk 4,21-30: Jesus in seiner Heimatstadt »Der Prophet in seiner Vaterstadt« ist ein ewiges Thema aller prophetischen Gestalten in der Heilsgeschichte und darüber hinaus. Wenn man Lk 4 liest, erstaunt es umso mehr, dass ein Großteil der neueren Exegeten dem platten, verständnislosen Urteil der Bewohner von Nazaret zustimmen kann und inbrünstig erklärt: Ja, er war biologisch Josefs Sohn. Dann hätte Lukas umsonst geschrieben und Jesus auch hier schon umsonst gelitten. Der Text in Lukas 4 macht nur deutlich, dass die Gottessohnschaft Jesu wirklich das erste entscheidende Thema des Lebens und Sterbens Jesu ist. Und nach dem vorangehenden Zitat aus Jes 61,1f bedeutet das konkret: Hat er wirklich den Geist Gottes – oder ist er nur ein falscher Prophet? Aber noch eine zweite Zumutung spricht Jesus hier offen aus: Dass das Heil nicht nur für Israel gemeint ist, sondern dass sich der Gott Israels ebenso den Heiden zuwenden kann. Auch dafür gibt es erstaunlicherweise Vorbilder bei den Propheten des Alten Bundes, und zwar bei Elia und Elisa. Diese beiden Propheten sind auch sonst regelmäßig »Typoi« (heilsgeschichtliche Vorbilder) für Jesus, z. B. bei Jüngerberufung, Totenerweckung und Speisung der Menge. Daher kommen auch immer wieder die Anfragen: Bist du Elia?
Das Lukasevangelium
Jesus muss sie verneinen; denn bei der Verklärung wird erkennbar, dass Elia nur Sklave im Haus Gottes, Jesus aber der Sohn ist. Nach Lk 4 hat die Elia-Typologie auch für Juden unangenehme Seiten: Die Propheten Elia und Elisa haben sich bereits damals den Heiden zugewendet. Das werden die Jünger später auch tun. Es wird Paulus und viele andere das Leben kosten. An den Propheten des Alten Bundes ist daher immer wieder abzulesen, dass sich Gott nicht an menschliche Maßstäbe und Erwartungen binden lässt. So zeigt Lukas 4 mit seiner Propheten-Deutung insgesamt, wie wichtig der Schriftbeweis aus den Propheten für das älteste Christentum war. Denn in ihnen hatte man Musterfälle inspirierter Gottesmänner. Der geheimnisvolle Satz über die wunderbare Rettung Jesu »Doch Jesus schritt mitten durch sie hindurch« hat das Mittelalter angeregt, und so findet er sich auf mancher Glockeninschrift. Denn wie Jesus, von wunderbaren Mächten behütet, mitten durch das Lager seiner Feinde hindurchschreitet, so erwartet man es als Gabe Gottes für jeden Christen. Der Ton der geweihten Glocke, der die Räume der Gewitter und der bösen Geister durchdringt, galt als eine gute, verdeutlichende Auslegung von Luk 4,30. So sind in Luk 4 nicht nur in dem Jesaja-Zitat (Heiliger Geist, Salbung, Sendung, Evangelium, Arme, Wunder, Vergebung), sondern auch in dem nachfolgenden kurzen Bericht alle wichtigen Elemente des Evangeliums beieinander (Gottessohnschaft, Zuwendung zu den Heiden, Mordversuch an Jesus, Errettung aus Lebensgefahr bzw Tod). Dieses Kapitel bietet daher das Evangelium im Kleinen. Ähnlich ist es mit dem Prolog im JohEv (»doch die Welt wies ihn ab«, »und seine eigenen Menschen nahmen ihn nicht an«). Lukas 4 weckt daher im Ganzen die Frage: Warum ergeht es dem Gottessohn nicht besser – und mit ihm den meisten Christen? Die Antwort hier ist: Dass Propheten inklusive Gottessohn leiden müssen, hat immer ähnliche Ursachen: Unkenntnis, also mangelnde Sensibilität und Aufgeschlossenheit dafür, wo Gott wirkt, und Heilsegoismus, also mangelndes Verständnis dafür, dass Gott auch bei anderen wirken darf, wenn er es will, also eine auf das Wir zentrierte Festlegung Gottes. Und dabei kommt das Zweite, wie das Evangelium und die Apostelgeschichte
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Kapitel 5
immer wieder zeigen werden, vom Ersten. Denn überall beginnt Jesus und beginnen die Apostel in Israel und in jüdischen Synagogen. Immer wieder von Neuem wenden sie sich erst danach den Heiden zu, wenn sie bei Juden abgewiesen sind. Gerade diese Zuwendung zu den Heiden aber bringt beispielsweise Paulus den Tod ein. Und sofern man die Tempelreinigung Jesu als die Vorbereitung des Tempels für die betenden Heiden als den Anlass für den Todesbeschluss ansieht, trifft das mittelbar auch für Jesus zu. Die Heilsgeschichte verläuft nach Lukas nach zwei Grundsätzen. Erstens: Weil Israel nicht »will« und die Zuwendung Gottes in Jesus ignoriert, wendet sich das Evangelium den anderen zu. Und zweitens: Israel bestraft dann die Boten Gottes wegen Verrat am eigenen Volk, wegen Abfallens vom Judentum usw. – Den ersten Grundsatz formuliert schon der Täufer: Wenn ihr nicht wollt, kommen andere dran (Lk 3,8). Man kann diesen Grundasatz auch paulinisch fortschreiben; denn Paulus sagt in Röm 9-11 auch nichts anderes als dies, nur positiv gewendet: Der Ungehorsam der meisten Juden jetzt war die positive Voraussetzung für die Zuwendung zu den Heiden. Wie eng verwandt ist doch Paulus auch hier den Grundlagen der Evangelien-Tradition! Nun hatte diese Frage der Zuwendung zu den Heiden für das frühe Christentum elementare Bedeutung. Denn grob gesehen brachte das Christentum vor allem diese beiden Neuerungen: Jesus ist der Sohn Gottes, weil sein Geist der Heilige Geist Gottes ist (Dreifaltigkeit), und die Öffnung des Gottesvolkes für die Heiden. Genau diese bei-
den Punkte sind in Lukas 4 zur Sprache gebracht. Und wir sehen, wie beides miteinander verschränkt ist: Weil Israel das Erste nicht erkennt, macht Gott den zweiten Schritt und wendet sich den Heiden zu. Lk 4 ist daher für das Verhältnis von Judentum und Christentum elementar.
Lk 5,1-11: Überwältigender Fischfang bei Tag Petrus ist überzeugt davon, dass er in Jesus Gott begegnet. Denn bei Tag kann kein Fischer einen reichen Fang machen. Dieser Fischzug aber endet überwältigend. So etwas kann nur der Schöpfer. Dort, wo keines Menschen Hand etwas manipulieren kann, in der Tiefe des Meeres und in der Höhe des Himmels, dort kann nur Gott, der Schöpfer, etwas bewirken. Und wo er wirkt, da ist Überfülle, nicht Mittelmaß. Daher fällt Petrus vor Jesus auf die Knie, was ein Jude nur vor dem Schöpfergott tut. Daher redet er Jesus mit Herr an, welches der Gottesname in der griechischen Bibel ist. Und deshalb wird ihm vor allem in dieser Begegnung klar, wer er selbst ist: ein Mensch in der Gottesferne, in Ungerechtigkeit, in Sünde. In der Begegnung mit der Macht Gottes erkennt Petrus die Wahrheit über sich selbst. Durch die Begegnung mit der Macht Gottes fällt Petrus auf sich selbst zurück in heilsamer Selbsterkenntnis. Er erfährt, dass er nicht groß ist, sondern klein. Dass in diesem geheimnisvollen Gegenüber, in Jesus, ihm der begegnet, der wahrhaft groß ist.
Die Feldrede Jesu Lk 6,20.23-26: Selig die Armen … In der Tat fällt auf: Armut, Hunger und Weinen werden nicht im Geringsten spiritualisiert oder moralisiert. Jesus fragt nicht, warum diese Menschen arm, hungrig und traurig sind. Wichtig ist allein dieses: dass Gott ihr Geschick wendet. Gott wird das tun, wie es in der Offenbarung des Johannes von seiner neuen Schöpfung heißt: »Alle Tränen wird er von ihren Augen abwischen … Denn alles, was früher war, ist vorbei« (21,4). Die durchweg feststellbare Neigung der Bibel, nicht
nach dem Woher von Leid und Elend zu fragen, schlägt hier durch. Die Bibel fragt vielmehr immer danach, was Gott daraus machen wird, wenn es einmal so weit gekommen ist. Auch bei Lazarus und im Magnificat ist es so: »Die Mächtigen hat er vom Thron gestürzt und die Elenden aufgerichtet. Die Hungrigen hat er satt gemacht und die Reichen leer ausgehen lassen.« Und auch bei Lazarus heißt es nicht, dass er besonders fromm oder gerecht war. Die Begründung für diese Logik lässt Lk 6,24 erkennen: »Aber wehe euch, ihr Reichen, ihr habt euren Anteil schon kassiert.« Ähnlich ist
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228 es auch mit den nach außen hin Frommen in der Bergpredigt: »Amen, ich sage euch, sie haben damit ihre Belohnung schon«, nämlich damit, dass die Leute hingucken und sie hier irdischen Ruhm genießen. Damit aber ist deutlich, dass es sich bei den Seligpreisungen und Weherufen nicht um moralische Rede handelt. Denn man kann das nicht machen: hungrig sein oder weinen oder verfolgt werden. Anders als in den Seligpreisungen in Mt 5,1-12 geht es bei Lukas hier nicht um den Lohn für gerechtes Verhalten der Menschen wie Friedenstiften usw. Sondern bei Lukas ist Gottes Gerechtigkeit das Thema. Wie bei Lazarus wird er für Ausgleich sorgen: Der Reiche hatte üppig und in Freuden gelebt, und es entstand die Frage nach der ausgleichenden Gerechtigkeit. Gott wird den Vorwurf, er behandle Menschen ungleich, durch Umkehrung der Verhältnisse ausräumen. Und den scheinbaren Nachteil, dass die Armen zuerst arm sind und erst dann reich, wird er durch die Dauer der Äonen ausgleichen. Auch die Sätze über die Verfolgten in 6,22f, die leiden müssen wie die Propheten, meinen nicht den Lohn für Gerechtsein und Wohlverhalten der Verfolgten, sondern Gott wird ihr Geschick wenden. Man kann in diesen Aussagen über Gottes Gerechtsein und den Ausgleich, den er schaffen wird, eine ausgeweitete und konsequent zu Ende gedachte Märtyrertheologie sehen: Die irdische Lebenszeit des Märtyrers wird drastisch verkürzt, und Gottes Gerechtsein erfordert es geradezu, dass der Märtyrer eine Kompensation erhält. Und so wird es allen ergehen, die in diesem irdischen Leben nichts als Elend sahen. Denn Gott ist gerecht. Daraus entwickelte sich auch die Auffassung vom noch in dieser Weltzeit ausstehenden Tausendjährigen Reich; denn dieses ist die Zeit, in der alles das ganz gerecht abgegolten und ausgeglichen wird, was noch aussteht. Das ist nach Offb 20 die Zeit, in der die Märtyrer eine erste Auferstehung erleben werden. Wenn Gott gerecht ist, wird er diesen Ausgleich schaffen. Wir hätten freilich – das zeigt auch die Auslegungsgeschichte – immer gerne das Moralische hier mit untergebracht. Das betrifft besonders die Reichen, von denen Jesus sagt »Wehe euch, ihr habt euren Anteil schon kassiert.« Wir möchten gern reich und gut sein und meinen, mit Jesu Wort seien nur die bösen Reichen gemeint. Aber
Das Lukasevangelium
davon steht hier nichts. Die Übersetzung Berger/ Nord bringt hier zum Ausdruck, dass es sich um eine Skizze der Wohlstandskirche handeln könnte: »Wehe euch, die ihr jetzt volle Bäuche habt, ihr werdet hungern. Wehe euch, die ihr jetzt schäbig lacht, denn ihr werdet jammern und heulen. Wehe euch, wenn euch die anderen Schmeichelhaftes sagen. Denn genauso haben ihre Voreltern die falschen Propheten behandelt.« Diese Christen sind nicht abgrundtief böse, ihnen geht es nur sehr gut auf der Welt. Dafür werden sie nicht bestraft, Gott schafft nur Ausgleich und lässt auch die anderen einmal drankommen. Wir stehen damit hier vor einer besonderen Auffassung von Theodizee. Man darf wohl davon ausgehen, dass auch für Jesu Meinung in einem »normalen« Leben Freude und Leid sich abwechseln und ein gewisses Gleichmaß herrscht. Hier, in den Seligpreisungen und Weherufen dagegen werden die Extreme in den Blick genommen: die, denen es wirklich so gut geht, dass man sie reich nennen kann, und diejenigen, die einfach arm sind und heulen. Jesus spricht von den Extremen, um für beide – so, wie es schon das Magnificat tut – zu sagen: Ihr beiden Gruppen werdet in besonderer Weise die Führung Gottes zu spüren bekommen. Dabei sind – nur von daher wird dieser Abschnitt im Evangelium eigentlich verständlich – die verfolgten Jünger Jesu der eigentliche Anlass für Jesu Rede. Hier liegt der alleinige Schwerpunkt: »Selig seid ihr, wenn die anderen euch hassen, euch ausstoßen, euch beschimpfen und euren Namen mit Abscheu nennen, weil ihr zu Jesus gehört, dem Menschensohn. Freut euch und jubelt, wenn man euch das antut. Denn im Himmel werdet ihr reich entschädigt. Den Propheten ist es mit den Voreltern dieser Leute genauso ergangen … Wehe euch, wenn euch die anderen Schmeichelhaftes sagen. Denn genauso haben ihre Voreltern die falschen Propheten behandelt« (V. 22-26). Die Propheten sind neben den Erzvätern die edelsten Menschen, die ein Jude nennen kann. Und vom himmlischen Lohn der Propheten, den man sich schön ausgemalt hat, sprechen Mt 10,41 (»der wird belohnt werden wie ein Prophet«) und Offb 11,18 (»doch nun ist dein Gericht gekommen …, zu belohnen deine gehorsamen Propheten«). Sie allein dürfen nach Lk
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Kapitel 6
13,28 mit den Erzvätern an der himmlischen Tafel im vollendeten Reich Gottes sitzen, und zwar alle. – Und andererseits gelten nach dem bekannten Geschichtsbild des Deuteronomisten alle Propheten als verfolgt, denn nach den frühjüdischen Prophetenleben und dem Neuen Testament (z. B. Apg 7,52) haben sie alle den Märtyrertod erlitten. Jesus tröstet seine Jünger, die verfolgt und geschmäht sind. Er weist sie darauf hin, dass sie in keiner schlechten Gesellschaft sind, sie sind wie die Propheten. Er tröstet sie mit dem Gedanken der Umkehr ihres Geschicks und des gerechten Ausgleichs. In diesem Augenblick ist das fast wie eine Defintion des Glaubens an Gott: Ich glaube an den, der das kann und tun wird. Ich glaube an den Gott, der im Magnificat Marias gelobt wird. Er ist der Herr der Geschichte. Er wird die extremen Verhältnisse von Macht und Ohnmacht verkehren. Ja, ich glaube also daran, dass es eine Gerechtigkeit in der Welt gibt, und dass sie ein persönliches Antlitz hat, das Antlitz dieses Gottes. Denn nicht Zufall oder Schicksal bestimmen das Auf und Ab der Geschichte, die tiefen Täler und die großen Höhen. Das wäre letztlich blinder Zufall. Nein, ich glaube an den Gott, der Gerechtigkeit will und der diese Gerechtigkeit durch seinen Sohn Jesus Christus uns kundgetan hat. Und weil er es gesagt hat, ist es nicht irgendeine vage Hoffnung, sondern Auskunft über Gottes Willen, die Hoffnung macht, und die die Erniedrigten auf tiefster Talsohle erreicht.
Lk 6,27-38: Liebt eure Feinde Jesus spricht zu Jüngern, die Verfolgung leiden. So hatten die vorangehenden Seligpreisungen und auch die Weherufe geendet. Daher wird in dem Abschnitt 6,27-36 das Verhalten der Christen nach außen hin, zu ihren Gegnern und Verfolgern hin, zum Thema. Die beiden Hauptabschnitte in diesem Stück beginnen mit dem Stichwort »Liebe«. In V. 27 ist »Liebt eure Feinde« wie eine Überschrift über das Folgende, und in 6,32 beginnt die Argumentation mit dem Satz »Wenn ihr nur die liebt, die euch auch lieben …« Beide Abschnitte (6,27-31 und 6,32-36) enden auch mit einer allgemeineren Sentenz: In 6,31 finden wir die Goldene Regel (Geht so mit den
229 Menschen um, wie ihr selbst behandelt werden möchtet), und in 6,36 wird Gott einfach zum Vorbild erklärt: »Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist.« – Im ganzen ersten Abschnitt (6,27-31) überwiegen die Imperative, im zweiten (6,32-36) wird argumentiert. Vier Argumente sind entscheidend. Das erste lautet: Wer die Feinde nicht liebt, unterscheidet sich nicht von den »Gottlosen« (zumeist mit »Sünder« übersetzt). Stattdessen kommt alles darauf an, Gottes Kind zu sein. Da Jesus verfolgte Jünger anspricht, lag die Frage nahe, ob sich Verfolger und Verfolgte nicht doch irgendwie ähnlich sind. Nein, die Verfolgung setzt einen qualitativen Unterschied voraus. Jünger handeln abweichend, sie sind fremd für ihre Umwelt. Sie unterscheiden sich auf rätselhafte Weise. Gerade die Verfolgung bringt es mit sich, dass eine Nivellierung ausgeschlossen ist. Die Jünger sind die auffälligen Abweichler. Sie sind zunächst einmal anders, und zwar gewaltlos, »hart im Nehmen«, wie man sagt. Die Abgrenzung von anderen ist nicht gegen diese anderen gerichtet. Sie ergibt sich aus der Frage: Wer ist Täter, wer ist Opfer? Die zweite Argumentation fragt immer: Was könnt ihr da noch von Gott erwarten – nämlich dann, wenn ihr auf Erden für alles schon Lohn und Ansehen zurückbekommt? Nur wenn man hier auf Erden nichts zurückerwartet, kann Gott einen reich entschädigen. Jesus sagt: »Macht es anders: Liebt eure Feinde, tut Gutes, ohne eine Gegenleistung zu erhoffen, leiht aus, ohne etwas zurückzuerwarten.« Vorausgesetzt ist bei dieser Logik: Es gibt eine ausgleichende Gerechtigkeit in der Welt. Mein Tun und mein Ergehen sind aufeinander bezogen. Gott garantiert gewissermaßen, dass das eine dem anderen entspricht, und das tut es entweder in dieser sichtbaren Welt oder in der noch unsichtbaren kommenden Welt Gottes. Der Verzicht auf erfolgreichen Machtgebrauch hier auf Erden ist Vorbedingung für den eschatologischen Lohn, den Ausgleich im Himmel. Das dritte Argument: So macht es Gott selbst, werdet ihm ähnlich, dann werdet ihr seine Kinder. Wenn man Gottes Kind ist, darf man bei ihm sein. Schon in Lev 19,2 hieß es: Seid heilig, denn ich, Gott, bin heilig. Das ist eigentlich ein priesterliches Argument. Die Priester sind Gott
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230 ähnlich, denn sie haben mit ihm Umgang. Für die Pharisäer, die priesterliche Ideale auch für Laien durchsetzen wollen, bedeutet diese Ähnlichkeit mit Gott auch die Verheißung künftiger Auferstehung. Bei ihnen hängt priesterliche Reinheit mit Auferstehung und ewigem Leben bei Gott eng zusammen. Schon das Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr) entfaltet den Gesichtspunkt des »königlichen Priestertums und heiligen Volkes Gottes«. Alle Israeliten sind zur Heiligkeit berufen. Im Übrigen setzt diese Abgrenzung nach außen keineswegs voraus, dass eine Binnenhierarchie fehlt oder fehlen könnte. Das ist erst ein reformatorisches Missverständnis, als setze »allgemeines Priestertum« voraus, dass es kein besonderes mehr gibt. In Lk 6,36-38 kommt noch ein neuer, vierter Gesichtspunkt hinzu, der der Talio, d. h. der entsprechenden Vergeltung. So, wie man selbst handelt, wird Gott an einem handeln. Jedes richtende Handeln wird zum Angriff auf den Alleinanspruch Gottes, Richter und Rächer zu sein. Vorausgesetzt ist hier Gottes Monopol im Machtgebrauch. Betrachten wir diese vier »Logiken« im Zusammenhang, so gilt: Jesus argumentiert nicht christologisch, also etwa mit seinem eigenen Auftrag oder Vorbild oder Geschick. Er spricht auch nicht von Gnade, Sündenvergebung oder Berufung, von Wunder oder Herrlichkeit. Jesus spricht davon, was es bedeutet, wenn das Handeln einer verfolgten und drangsalierten Minderheit sich direkt an Gott orientiert. Die Ethik Jesu hier ist zutiefst theologisch. Trotz ihres »weisheitlichen« Aussehens, das ja eher an die Vernunft allgemein zu appellieren scheint, ist es eine Ethik der verfolgten Minderheit. Keine Rede von Immanuel Kants Grundsatz, die Grundlagen des Handelns müssten jeweils zu einer allgemeinen Gesetzgebung auszuarbeiten sein. Nein, hier wird nicht allgemeine Humanität proklamiert, sondern die wichtigste Realität ist Gott, und zu ihm gehört eine Truppe von Menschen, die – nicht um die Welt zu verändern, sondern weil sie um jeden Preis zu Gott gehören will – das Los einer Märtyrer-Elite auf sich nimmt. Sich unterscheiden jetzt und Hoffnung haben für dann, das sind die beiden nicht allgemeinen, sondern sehr besonderen Elemente des Verhaltens der Christen im Hier und Jetzt. Die Unterscheidung
Das Lukasevangelium
in der Gegenwart bedeutet einen auffälligen und totalen Verzicht auf Macht, Druck und Erpressung. Die Christen sind hier in der Welt die »sanften Versager«, die das Spiel der Macht nicht begriffen haben. Die Situation der Minderheit, die so gar nicht zu einer allgemeinen Humanität (etwa im Sinne von »Weltethos«) passt, wird gleich zu Anfang deutlich: »Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet, die euch verfluchen. Betet für die, die euch misshandeln.« Folgende Situation wird hier vorausgesetzt: Die auserwählte Gemeinde steht in der Mitte. Sie empfängt massiv Feindschaft, Hass, Verfluchung und Misshandlung. Aber sie bricht darunter nicht zusammen. Aus der geheimen Mitte ihrer Existenz, von Gott her, empfängt sie die Kraft, all das Negative und Scheußliche, das sie empfängt, umzuwandeln in das Gegenteil. Sie verwandelt die empfangene Feindschaft in Liebe, die Verfluchung in Segen. Sie hat eine unglaubliche und wunderbare verwandelnde Kraft. Eine Analogie zu Gottes »Verhalten« angesichts der Kreuzigung Jesu drängt sich unmittelbar auf: Gott beantwortet den Hass der Menschen mit Liebe, er reagiert auf Gemeinheit und Mord an seinem Sohn mit umso größerer Feindesliebe, indem er sagt: Jetzt liebe ich euch erst recht. Paulus wird in Röm 5 die Kreuzigung Jesu als den Anlass für Gottes Feindesliebe darstellen. Die Kraft, die empfangenen Hass in verschenkende Liebe verwandelt, ist daher immer Gott selbst. Nur er, betrachtet als die geheime Mitte der Gemeinde der Jünger, kann das, was ihm angetan wird, so vergelten. Vergebung ist göttlich. Für die Theologiegeschichte des frühen Christentums wird an dieser Stelle Wichtiges erkennbar: Schon in der Feldrede bzw. Bergpredigt Jesu wird genau das Denkmodell vorbereitet (und zwar ganz ohne christologischen Zusammenhang), das dann später bei der Kreuzigung auf Jesu und Gottes Tun angewandt wird. Gott wird auf den Mord an seinem Sohn ganz genauso reagieren, wie es hier von den Jüngern gefordert wird. Und hinter beiden Traditionen dasselbe Bild: Gelitten wird nicht um des Leidens willen, sondern das Leiden des Gerechten bzw. der Verfolgten wird zu aktiver Liebe umgewandelt. Gott ist das Segenszentrum der Welt. So verwandelt seine Kraft auch unsere Sterblichkeit in seine Unsterblichkeit. Mit so etwas konnte und wollte
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Kapitel 6
Kant »innerhalb der Grenzen der Vernunft« nicht rechnen. Wenn in 6,29 der Christ aufgefordert wird, zu dem, was man ihm nimmt, noch das Doppelte hinzuzugeben, so ist auch hier nach der Logik zu fragen. Soll die Kette der Gewalt beendet werden, indem der Christ zum Erstaunen des Gewalttäters noch das Doppelte hinzulegt? Nimmt dadurch der Jünger das Gesetz des Handelns an sich? Erstickt er so die in der Welt seit jeher übliche Abfolge von Gewalt und Gegengewalt bereits im Keim? Will er so den Gewalttäter zum Nachdenken bringen? Trifft die Verheißung, die die Didache (Zwölfapostellehre, 1. Jh.) für dieses Verhalten gibt – »… so wirst du keinen Feind haben« – wirklich zu? Oder sind das Ziel Askese und Schmerzunempfindlichkeit seitens des Christen? Oder ist der Wiener Domprediger Franziskus Peikhart SJ im Recht, der 1753 sagt: »… diese Liebe könne aus unserm Feind, und aus der Hand deren, die uns hassen, unser Heyl auswürcken. Und dahero auch nicht uneben Hilarius die Liebe deren Feinden eine Pforten des Himmels genennet …«?
Lk 6,39-45: Gleichnis vom blinden Blindenfüher Zwei Bildbereiche bestimmen unseren Text: Die Themen Sehen und Blindsein sowie das Hervorbringen von innen nach außen. Letzteres gilt für Früchte wie auch besonders für Worte. Beim Thema Sehen geht es um das unverfälschte Wahrnehmen der Wirklichkeit, beim Hervorbringen um deren Veränderung durch jeden einzelnen Menschen. Das unverfälschte Wahrnehmen ist die Voraussetzung für alle Offenbarung. So finden sich auch hier, zumindest angedeutet, Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis; das Mittelalter sagt: Noverim me – noverim te. Wenn ich mich selbst erkenne, kann ich auch dich, Gott erkennen. Die blinden Blindenführer sind nach Mt 15 die Pharisäer. Ihre Blindheit betrifft auch das, was wichtig ist an Gottes Gebot: Gott selbst. Hier in der Lukas-Fassung gilt das aber von jedem Lehrer, nicht nur von den Pharisäern; Lukas hat im Übrigen eine Neigung, die Pharisäer für den besten Teil des Judentums zu halten; vielleicht schont er sie deshalb. In jedem Fall aber gehört der blinde Blindenführer seit Jesus
231 zu den »geflügelten Worten« der Menschheit. Welch riesige Verantwortung liegt auf jedem Lehrer – das wird besonders im Schadensfall erkennbar. Beide Abschnitte eint eine durchaus unbarmherzige Sicht der Welt und des Menschen. Man nennt sie Dualismus (lat. duo, zwei). Die Wirklichkeit ist demnach strikt zweigeteilt. Entweder man ist blind oder man sieht. Entweder der Baum, d. h. der Mensch, ist gesund, oder er ist krank, die Früchte sind faul oder gut, Disteln oder Dornen; der Mensch hängt sich an wertlosen Tand oder an einen kostbaren Schatz. Durch seine groteske Redeweise verstärkt Jesus noch holzschnittartig diese Gegensätze: Das gilt vom Bild der beiden in eine Grube fallenden Blinden genau so wie vom Bild mit Splitter und Balken. Denn wer hat schon einen Balken im Auge? Dieser Dualismus ist eine harte und riskante Redeweise, und zwar bis heute. Niemand lässt sich in Wahrheit gerne so ansprechen – außer von Predigern, die ihm die Hölle heiß machen; aber die müssen dann entsprechend selbst von ihrer harten Botschaft überzeugt sein. Nein, die Rede von Schwarz und Weiß ist nicht populär, da sie polarisiert und nach Fanatismus riecht. Nun wird diese Einschätzung allerdings dieser Redeform keineswegs gerecht, denn sie ist ihrem Ursprung nach überhaupt keine Ausgrenzung von Menschen, auch keine Beurteilung von Menschen. Sie kommt aus der Tradition der Weisheit und hat didaktische, pädagogische Bedeutung. Sie schildert entgegengesetzte Wege, Lebensentwürfe, Handlungstypen. Ähnlich geschieht das auch bei Seligpreisungen und Weherufen. So hat diese Weise zu reden informierenden, nicht aber ausgrenzenden und verurteilenden Charakter. Letztlich geht es um den Kontrast von Torheit und Klugheit, von Tod und Leben, gerade so wie in der Weisheitsliteratur des Alten Testaments. Daher haben diese strengen Aussagen einen provozierenden Charakter, keineswegs sollen sie im Sinne endgültiger Vorherbestimmung gelesen werden; man nennt das dann »Prädestination«. Man könnte sie so lesen und sagen: Ich bin eben ein schlechter Baum, ich bin die Dornen und Disteln. Daher kann aus mir nichts Gutes kommen. Aber eine derartige Vorherbestimmung kann Jesus hier nicht meinen, denn es handelt sich
Berger (08129) / p. 232 / 19.5.2020
232 dem Zusammenhang nach um eine Mahnrede. Daher meint Jesus nicht Aussichtslosigkeit und Endgültigkeit. Vielmehr weist er auf den Zusammenhang von außen und innen, von Sein und Handeln. Aber das geschieht nicht, um die Menschen mutlos zu machen, indem sie sich und andere verurteilen, sondern Jesus redet so, um die Menschen zu einer eindeutigen, radikalen, reinen Position zu bewegen. Jesus hält nichts von der Lauheit, vom unklaren Zwischenzustand. Er fordert zum Entweder/Oder auf, und das kann nur sehr radikal vollzogen werden. Er will auffordern: Sei du ganz Feigenbaum oder Weinstock. Denn deine Früchte können nur Leben fördern oder Leben verhindern. Es hilft nur das eine, alle Zwischentöne sind am Ende wertlos. Einen ähnlich aufreizenden Charakter hat auch ein anderes Jesuswort: »Wer hat, dem wird gegeben, wer aber wenig hat, dem wird auch das Wenige noch genommen werden.« Denn nur das Radikale zählt. Insofern sind die Indikative, in denen Jesus hier redet (»trägt keine faulen Früchte«, »liefern keine Feigen«) sehr starke Imperative. Jesus tritt hier kompromisslos auf, offenbar weil er weiß, dass wir Menschen für die Kompromisse dann schon selbst sorgen werden. Seine Worte haben daher die Funktion von Leuchttürmen. Jede Abweichung bei der Anzeige der Leuchttürme kostet schnell Menschenleben. Daher muss, wer Leuchtturm sein will, klar und rein reden. Davon, von dieser Verkündigung der klaren Normen, ist ausdrücklich die Seelsorge zu unterscheiden. Denn hier geht es dann um Menschen und ihre Be-Urteilung. »Die Sünde hassen, aber den Sünder lieben«, so wird es dann Augustinus klassisch formulieren. Jesus umgeht mit seiner Formulierung offenbar sehr bewusst drei typische Probleme, die sich bei uns alsbald zu melden pflegen. Das eine Problem: Wie wird man denn fruchtbarer Feigenbaum oder Weinstock? Oder anders: Wie komme ich dahin, radikal und eindeutig handeln zu können? Die Antwort Jesu würde sein: Folge mir nach, bedingungslos! Werde frei für diese Radikalität, die selig macht. Tritt ein in die Verbindung mit mir. Sie erklärt alles und löst alles. – Das zweite Problem ist: Wie kann man erkennen, ob die Früchte gut sind und die Worte echt? – Antwort Jesu: Grundsätzlich gilt: Werke sind Zeichen. Sage mir, was du tust und sagst, und ich
Das Lukasevangelium
sage dir, ob du zu mir gehörtst, ob du auf der Seite des Lebens stehst oder auf der des Todes. Aber ist das nicht sehr schwer, Werke eindeutig zu beurteilen? Jesu Antwort: Die Beurteilung der Werke überlasst Gott. Ihr müsst weder die Werke anderer beurteilen, noch auf die eigenen stolz sein. Darum geht es wirklich überhaupt nicht. Interessant ist nur der Wille eures Herzens, eben »wo ihr steht«. – Die dritte Frage: Wie kann man sich denn zum Tun aufraffen? Oft ist ja der Wille vorhanden, nur sind wir Menschen schlaff und müde, mutlos und geben schnell auf. Jesu Antwort: Eben diese Schwelle zwischen Einsicht und Tat, zwischen Wollen und Vollbringen möchte ich suggestiv überspielen. Du wirst so handeln, wie du bist. Du kannst dem folgen, was du bist. Höre auf dein Herz, folge deiner Intuition, die dir dank Gottes Gnade gegeben ist. – So ist, wenn man genauer hinsieht, Jesu harte und unangenehm spaltende Rede in Wirklichkeit in verschiedenen Ebenen ein Appell an das Herz des Menschen, an seine Fähigkeit, Gottes Gnade als Freiraum zum engagierten Handeln zu betrachten, wie es in der Schrift heißt: »Du stellst meine Füße auf einen weiten Raum.« Jesus zeigt im zweiten Abschnitt eine besondere Sensibilität für Worte. Sie stehen direkt neben den Taten als Zeichen für das Innere. Am schärfsten sagt Jesus das in Mt 12,36f: »Am Tag des Gerichtes werdet ihr Rechenschaft ablegen müssen über jedes böse Wort, das ihr sagt. Denn aufgrund seiner Worte wird jemand freigesprochen oder verurteilt.« Hier liegt eine kulturelle Differenz: In unserer Gesellschaft mit dem Hang zur Anonymisierung zählt vor allem das Scheckbuch oder der Geldwert. Die Gesellschaft zur Zeit Jesu ist da grundsätzlich anders; ihr kommt es sehr stark auf das soziale, kommunikative Miteinander an. In Strukturen, die durch enges Zusammenleben, in Familie, Sippe und Dorf bestimmt sind, können Worte sehr viel stärker, als das heute der Fall ist, Kitt oder Sprengsatz sein. Jeder, der in engerer Gemeinschaft mit anderen lebt oder arbeitet, weiß, welche Bedeutung Gerüchte oder böse Rede über andere Leute haben (»Hast du schon gehört, was der und der gesagt hat?«). In der heutigen Gesellschaft ist diese Verantwortung, die früher jeder Einzelne wahrzunehmen hatte, an die Medien übergegangen; Verantwortung spielt sich woanders ab.
Berger (08129) / p. 233 / 19.5.2020
Kapitel 7
Für die paulinische Theologie ist »sich rühmen« wichtig, und aus der Bergpredigt wissen wir, wie Jesus es beurteilt, wenn wir den Nächsten »Du Idiot!« nennen: Es ist wie Mord. Die Gesellschaft zur Zeit Jesu ist nicht anonym, sondern jeder hat einen Namen zu verlieren. Sozial ausgeschlossen zu sein, das widerfährt einem besonders aufgrund böser Gerüchte. Da wir das Gespür für diese Dimension des Handelns weithin verloren haben, kann unser Text uns mahnen, es wiederzugewinnen. Es kann sein, dass wir also erschrecken, wie viel doch unsere Worte anrichten. Und dass die Vernichtung eines Menschen tatsächlich hier beginnt, lange bevor daraus eine Kampagne wird. So stößt uns die andere Wahrnehmungskultur Jesu auf erhebliche Versäumnisse in unserer alltäglichen Wahrnehmung und Sensibilität. Positiv formuliert: Dass Jesus Worte wie Taten einschätzt, sagt etwas über die Empfindlichkeit seines Menschenbildes. Kompositionskritik Lk 7-9 (Fortsetzung der Kompositionskritik [oben] zu Lk 5-6) – Wie schon in Kap. 5-6 erweisen sich auch hier einige Elemente als stabile technische Gestaltungs-Faktoren in der lukanischen Komposition: die inhaltliche Steigerung bei Wunderberichten (gradatio); die Voranstellung apostolischer Autoritäten; die Endposition von Bekenntnissen; die argumentative Funktion von Wunderberichten (Bestätigung); so genannte Schaltertexte, d. h. Textsegmente, die mit Aufnahme eines Stichwortes mit dem Vorangehenden verbinden, aber gleichzeitig ein neues Thema einleiten, so z. B. Lk 6,1-5: Thema essen nach rückwärts und Sabbat nach vorwärts. So wird in Lk 7,36-50 einerseits das Thema Bekenntnis fortgesetzt: V. 49 fragt: »Wer ist dieser, dass er Sünden vergibt?« (vgl. 7,19). Die Sündenvergebung ist hier die höchste Steigerung. Gleichzeitig leitet der Abschnitt über zum Thema »Frauen«, das Kap. 8 bestimmen wird. Denn obwohl Frauen keinen titularen Rang haben, erhalten sie durch die lukanische Komposition eine den berufenen Jüngern vergleichbare Autorität. So wird Kapitel 8 gerahmt durch die Frauen-Berichte in 7,36-50 und 8,1-3 sowie den Spruch über Mutter und Brüder in 8,19-21; das Kapitel wird schießlich durch das Doppelwunder an Frauen in 8,40-56 beendet. In 7,36-8,3 haben
233 die Frauen eine ähnliche Rolle wie Petrus, die Zebedaiden, Levi und die Zwölf in Kap. 5-7. Das Gleichnis-Kapitel 8,4-18 steht innerhalb von Kap. 7-9 für die »Lehre«. Die Lehre wird legitimiert durch Abschnitte, die die Vollmacht Jesu ausweisen, das Wunder als Bootsgeschichte (mit Wiederaufnahme der Wer-ist-Frage in V. 25 (»Wer ist dieser, dass Meer und Wund ihm gehorchen?«; vgl. 7,19.49) und mit den drei Wunderberichten am Schluss (Gerasener, Blutflüssige, Tochter des »Jairus«). Thema Frauen 7,36-50 (Wer-Frage in V. 49); Thema Frauen 8,1-3: Bei diesen Autoritätsträgerinnen wird die Lehre aufgehängt: Gleichnisse 8,4-18; Thema Frauen 8,19-21: Wunder als 2. Standbein, darin: Wer-Frage in 8,25 und Thema Frauen 8,40-56.
Die Kombination von Lehre und Wunder in der Folge ist wie in Mt 5-7.8. Unter den Frauen hat diejenige Namenlose die größte Autorität, die am meisten liebt. Frauen und Gleichnisse Es ist erkennbare kompositionelle Eigenart des Lukas, Lehrstoffe an bestimmte Autoritäten zu binden. So geschieht es mit der Feldrede und den Zwölfen, mit den Gleichnissen und den Frauen, mit der Gebetsparänese bei den Jüngern, die »selige Augenzeugen« sind (10,23f und 10,25 ff). Man darf fragen, wie es dazu gekommen ist. Aus meiner Sicht lässt dieses Rückschlüsse auf die frühchristliche Religionspädagogik zu. Alle Gleichnisse sind im alltäglichen Leben verwurzelt; dieses ist stets der metaphernspendende Bereich. Frauen obliegt auch im hellenistischen Judentum, dem unmittelbaren kulturellen Hintergrund des frühen Christentums bis ca. 250 n. Chr., die religiöse und literarische Bildung der Kinder im Haus. Hier werden die biblischen Geschichten erzählt, und die Gleichnisse sind eine Art biblischer Erzählkunst. Das betrifft besonders die etwas umfänglicheren Gleichnisse. Ich gehe davon aus, dass die Belehrung mit Gleichnissen in verschiedensten Altersstufen eine allgemeine pädagogische Praxis des frühesten Christentums war. Man kann zur Bekräftigung der These auf eine verwandte Gattung hinweisen, von der sich das sicher beweisen lässt: Die Bei-
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234 spielgeschichten (exempla) und entsprechende Sammlungen bilden z. B. bei Plutarch ein wichtiges Gerüst seiner Traktate (und in den folgenden Jahrhunderten, z. T. bis vor 50 Jahren, auch der Predigten).
Lk 7,1-10: Der Hauptmann von Kafarnaum Von Fernheilungen hört man immer wieder. Sie gehören zum Beruf des Heilers dazu. Insofern sind sie nichts Besonderes; denn das homöopathische Prinzip der Unverhältnismäßigkeit, das sich immer wieder sonst bei Wundern zeigt, gilt auch hier. Wer durch ein Wort Tote erweckt, durch eine Berührung langes Siechtum ändert, der kann auch über große Entfernungen hin wirken. Immer wieder ist es das Allerwenigste: Wo man fast keine Energie mehr spürt, wirkt das am meisten, was ein Wunder vollbringt. Thema von Lk 7,1-28 ist immer wieder der Tod (V. 2.12.22). Gemeinsam mit der Parallele bei Mt (8,5-13) ist in Lk 7,1-10 das Leitmotiv Jesus/Heiden/Israel, besonders in Mt 8,11f und Lk 7,9 (siehe auch Lk 13,28f). Schier entmutigend ist die Distanz zwischen Jesus und dem Hauptmann. Der Hauptmann begegnet Jesus gar nicht. Nur über Mittelsmänner hat er Kontakt zu ihm. In dieser räumlichen Distanz spiegelt sich bereits die räumliche und zeitliche Entfernung der künftigen Leser. Dass andere für ihn eintreten bei Jesus, lässt den Hauptmann – ähnlich wie uns – auf Fürbitte füreinander angewiesen sein. Denn der Hauptmann, offenkundig Heide, wagt gar nicht, direkten Kontakt mit Jesus aufzunehmen: Er schickt andere vor (V. 3: jüdische Älteste, V. 6: Freunde). So bekennt er selbst zweifach, »nicht würdig zu sein« (ganz ähnlich wie der Zöllner in Lk 18), während die jüdischen Ältesten Jesus sagen: »Er ist würdig!« Sie begründen das mit finanziellen Zuwendungen, die er Juden gemacht habe (V. 5). Zunächst berichtet ein Erzählstück über den Hauptmann (V. 3-6a: Fremdzeugnis), dann redet er im Ich-Stil (V. 6b-8: Selbstzeugnis), wenn auch nur im Referat. – Der Gattung nach handelt es sich bei Lk deutlicher als bei Mt um eine Petition. Der Kranke wie die Heilung selbst spielen nur am Rande eine Rolle. Zum Schluss dieses judenfreundlichen Stückes stellt Jesus über den Haupt-
Das Lukasevangelium
mann fest: »Nicht einmal in Israel habe ich so großen Glauben gefunden.« So wirkt Jesus eine Fernheilung, ohne das heidnische Haus betreten zu haben. – Der Schluss in allen drei Versionen ist die Feststellung der eingetretenen Heilung (Mt 8,13; Lk 7,10; Joh 4,53). Der heidnische Hauptmann, der fürs Christsein geeignet ist, hat Israel Gutes getan; ähnlich wird auch von dem heidnischen Hauptmann Kornelius in Apg 10,1f berichtet werden. Die Bedingungen, unter denen Heiden christlich werden, sind also nicht antijüdisch. Vielmehr gilt: Wer durch Gebet und Almosen der Synagoge gegenüber freundlich war, ist eigentlich ein geborener Christ. Sein Glaube kann selbst den der Judenchristen übertreffen. – Dieser Glaube äußert sich auf »rührend« militaristische Weise: Der Hauptmann glaubt, dass wie beim Militär auch bei Jesus ein knapper Befehl genügt, auf dass alles Gewünschte eintritt. Allerdings wird Jesus dann noch nicht einmal einen Befehl geben. Vielmehr ist Jesu Aktivität in der ganzen Erzählung fast bei Null. Nach V. 9 staunt er lediglich. Doch nur in dieser Erzählung bewundert Jesus einen Menschen. Es staunen also nicht die Leute über Jesus, sondern Jesus staunt über den Glauben des Hauptmanns. Denn solcher Glaube wirkt eigentlich das Wunder. Gemeinsam mit Joh 4: Die Gleichzeitigkeit ist wichtiger als die räumliche Nähe (»Fernheilung«), Schwerpunkt ist jeweils der Dialog, nicht der Effekt der Heilung (Lk 7,4-8; Mt 8, 6-13a; Joh 4,47-50). Gemeinsam ist allen drei Berichten das Thema »Glauben« angesichts einer möglichen Fernheilung. Zu den Adressaten des Textes: Nichtchristliche Juden dürften kaum entzückt gewesen sein; denn der Text schildert doch, wie Christen die jüdische Sympathisanten-Szene rund um die Synagoge »abernten«. Die Matthäus-Fassung appelliert dringlich (im Sinne der paradoxen Intervention) an Israel; der Bericht deutet an, dass die Juden am mangelnden Glauben zu scheitern drohen. Die Lukas-Fassung plädiert für die Zulassung von Heidenchristen aufgrund von Glauben und bricht so die Perspektive von Judenchristen auf. Mit guter Beobachtungsgabe für Menschen stellt Lukas die rührenden Ambitionen der Leute dar. Die Juden sagen: Er ist würdig, denn er liebt unsere Nation. Und er hat uns die Synagoge ge-
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Kapitel 7
baut. Das Erstaunliche: Jesus akzeptiert dies. Als ob jemand sich durch Geldaufwendungen würdig machen könnte für eine Heilung durch Jesus. Dreimal also, bei den Juden, beim heidnischen Hauptmann mit seinem Militarismus und beim Vertrauen auf die Fernheilung überhaupt, akzeptiert Jesus abergläubische oder allzu naive Vorstellungen, die wir nicht Glauben zu nennen wagten. Glaube ist nach dem Evangelium keine Leistung und auch kein besonders klares Denken, sondern Glaube ist eine Richtung, die wir unsere Not und unsere Verzweiflung nehmen lassen. Eine Richtung unseres Bittens und Hoffens. Ähnlich wie in der anderen Geschichte (Lk 7,36 ff) mit der Edelhure, die sich an Jesus heranmacht und beginnt, ihm ihren Service angedeihen zu lassen – und Jesus akzeptiert das als Liebe und wagt zu sagen: Weil sie viel geliebt hat, wird ihr viel vergeben. Dein Glaube hat dir geholfen. Wir sind oft wie altkluge Kinder und geben uns schon selbst die Antwort. Wir angeln dann nach Glaubensvorstellungen, statt die Antwort ihm zu überlassen. Lassen wir ihn doch die Mauer sein, vor der wir klagen. Wir müssen uns nichts Kluges dazu einfallen lassen – die Klagemauer als Bild für Gott. Noch immer ist unser Glaube dem Glauben ähnlich, der hier in der Geschichte geschildert wird. Wir wissen von Jesus nur von ferne. Nur unsere Nöte sind elementar. Auch uns sagt der Herr: Nur die Richtung muss stimmen, aber die ganz. Wenn wir nur die Ahnung haben, dass durch ihn alles gut wird. Wenn wir, wie indirekt auch immer, nur in Berührung kommen mit ihm. Dann wird er alle unseren naiven, falschen und abergläubischen Hoffnungen annehmen, wie sie sind. So ermuntert er uns zu dem, was wir heimlich ersehnen und ebenso oft buchstäblich nicht zu sagen und zu hoffen wagen. Jeder von uns hat falsche Voraussetzungen. Aber Gott akzeptiert alles, auch die Reste meines Kinderglaubens, die ich nicht in wohlgesetzte Worten fassen kann. Wenn nur die Richtung stimmt. Aber oft ist Christentum zum bloßen Diskussionsthema herabgesunken, weil wir vergessen haben, dass Christentum eine Religion ist, die sich ums Elementare kümmert. Und dazu gehört, ein Auge zu haben für die Zeichen der Hoffnung, für die Strohhalme des Vertrauens, dafür, dass Gott nicht weit weg ist, sondern ganz nah. Unsere
Frömmigkeit wird keine Chance haben, wenn sie nicht leiblich ist. Die Wunder Jesu sind nicht einfach die praktische Seite der Wirksamkeit Jesu im Sinne eines Heilers oder Volksarztes. Diese Wunder sind Zeichenhandlungen Jesu, die über die einzelne Tat hinaus auf das Ganze von Jesu Botschaft und Werk hinweisen. Alle Zeichenhandlungen der Propheten waren Elemente und Fragmente ihres Handelns, sie sind eher medientechnisch (im Sinne des Ausrichtens der Botschaft) als medizinisch zu verstehen. Wie einst die Propheten will auch Jesus mit seinen Zeichenhandlungen etwas über Gottes Absicht, über Heil und Unheil sagen. Es ist Gottes Absicht, das erfahren wir aus Jesu Zeichen, den Menschen im Ganzen zu heilen. Gott ist der Arzt, er wird alle gesund machen, und zwar auf Dauer. Auch die Heiden werden dazugehören, denn von Gott kommt das Heil in Überfülle. Das wird auch die Antwort auf Fragen sein, die sich jetzt stellen. Es betrifft Themen wie die anstößige Erwählung Israels und die Theodizee – wie Gott jetzt noch Leid und Krankheit zulassen kann? Beides sind Themen unseres Textes. Die Antwort heißt: Seit Jesu Auftreten ist die Weltordnung der Zukunft ganz nah gerückt, so wie an einem Morgen mit dickem Nebel die Menschen ahnen, dass es kurz vor Sonnendurchbruch sein muss. Das Neue wird aus den Fragmenten schon gut erahnbar. An der Stelle des Angelds, der Anzahlung des Heiligen Geistes bei Paulus, stehen in den vier Evangelien die Wunder. Sie besagen: Gott will das Ganze und will alle. Werdet nicht ungeduldig, der Anfang ist massiv gesetzt. Euer Glaube aber ist wesentlich Geduld, die Fähigkeit, aus Teilmosaiken das Ganze schon zu denken und zu erahnen.
Lk 7,11-17: Der junge Mann von Nain Tote auferwecken zu können ist das absolute Privileg Gottes, denn das kann nur er. Wo immer ein Rivale Gottes oder Jesu auftritt wie zum Beispiel der Antichrist, an der Totenauferweckung scheitert er. Daher heißt es im Achtzehn-BittenGebet aus dem Judentum zur Zeit Jesu: »Der du lebendig machst die Toten.« Allein Gott oder der von ihm direkt Bevollmächtigte kann so handeln; denn Gott ist der Schöpfer, der aus totem Lehm
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236 den Menschen gemacht hat und der, weil er allein Schöpfer bleibt, das exklusive Recht auf Wiederholung hat. – Die Hochschätzung der Totenauferweckung kann man stets auch an der Komposition der Evangelisten erkennen. Denn im literarischen Arrangement ihrer Berichte, insbesondere der Wunderberichte, nehmen die Berichte über die Auferweckung Toter stets die glanzvolle und extrem bedeutsame Schlussposition als Höhepunkt der Erzählung ein. In Joh 11 steht die Auferweckung des Lazarus am Ende der öffentlichen Wirksamkeit Jesu und als Höhepunkt aller seiner Wunder. In Lk 7 folgt die Auferweckung des Jünglings von Nain der Heilung des Sklaven des Hauptmann von Kafarnaum (7,1-10) und steht insbesondere direkt vor der entscheidenden Zusammenfassung in Lk 7,1823, in der Jesus Johannes dem Täufer ausrichten lässt: »Blinde können sehen, Lahme können gehen, Aussätzige sind rein, Taube können hören, Tote werden auferweckt« (7,22). Mit der Aussage über die Totenauferweckung endet auch die Liste der Wunder in Lk 7,22. Auch in Mk 5 bildet die Auferweckung der Tochter des Jairus, unterbrochen noch durch das »retardierende Element« der Heilung der Blutflüssigen, den Höhepunkt der Wundertaten von Mk 4f (Sturmstillung – Heilung des Besessenen – Heilung der Blutflüssigen – Totenerweckung). Alle Wunder Jesu sind Zeichenhandlungen und bilden daher je einen Hinweis auf das, was Gott mit den Menschen im Ganzen vorhat. Daher sind alle Berichte über die Auferweckung Toter in den Evangelien Hinweise auf Gottes endzeitliche Auferweckung der Toten, und zwar der toten Gerechten. Aber da die von