Gesammelte Aufsätze 1998-2013 Band 2
 3110354306, 9783110354300

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
I. Zur Wissenschaftsgeschichte
Die Evangelische Kriegsgeneration
„Viele waren Neutestamentler“. Zur Lage neutestamentlicher Wissenschaft 1933–1945
Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule
Paul Anton de Lagarde und die Theologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
Anmerkungen zu Gablers Altdorfer Antrittsrede
Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele (Übersetzung von Gablers Altdorfer Antrittsrede)
Theodor Zahn. Aspekte zu Leben und Werk
Walter Felix Bauer (1877–1960)
Adolf Jülicher als Paulusforscher – anläßlich seines 150. Geburtstages
Forschungsgeschichte im Werk Adolf Jülichers
Albert Schweitzer – sein Denken und sein Weg
Albert Schweitzers Straßburger Vorlesungen
Neutestamentliche Wissenschaft in Briefen von und an Albert Schweitzer
Werner Georg Kümmel als Paulusforscher
Die synoptische Redenquelle im Werk von Werner Georg Kümmel
Werner Georg Kümmel (1905–1995). Ein Neutestamentler im 20. Jahrhundert
Momentaufnahmen aus dem „Archiv Theologische Fakultät“
II. Zur Exegese
Gemeinde – Fürbitte – Mission. Aspekte ihrer Zuordnung in den Deuteropaulinen
Lukas 11,20. Zur Debatte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts
Beobachtungen zu Wilhelm Heitmüllers Auslegung des Johannesevangeliums
Als Schwerhöriger die Bibel lesen
‚Katechein‘ als Begriff des Unterrichtens im Neuen Testament?
1 Thessalonicher 2,13. Eine exegetisch-theologische Besinnung
Arbeiten. Zu Begriff und Thematik von ἐργάζεσθαι in den beiden Thessalonicherbriefen
1 Thessalonicher 5,23.24. Eine exegetisch-theologische Besinnung
Erster Thessalonicher 5,1–11. Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres
Bibliographie Otto Merk 1998–2013
Namenregister
Stellenregister
Orte der Erstveröffentlichung

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Otto Merk Wissenschaftsgeschichte und Exegese Band 2

Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft

Herausgegeben von James D. G. Dunn, Carl R. Holladay, Matthias Konradt, Hermann Lichtenberger, Jens Schröter und Gregory E. Sterling

Band 206

Otto Merk

Wissenschaftsgeschichte und Exegese

Band 2 · Gesammelte Aufsätze 1998–2013

Herausgegeben von Roland Gebauer

DE GRUYTER

ISBN 978-3-11-035430-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035750-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038664-6 ISSN 0171-6441 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Otto Merk ist ein Exeget der alten Schule und trotzdem auf der Höhe der Zeit. Als „alter Marburger“ wusste er von Anfang an um die theologische Dimension historisch-kritischer Exegese und hat er deshalb das Ineinander von historischer Rekonstruktion und theologischer Interpretation zum unverzichtbaren Grundsatz seiner Bibelauslegung erhoben. Dabei hat die historische Rekonstruktion stets den Vorrang, denn ohne sie wird man der geschichtlichen Dimension der neutestamentlichen Texte nicht gerecht – und steht alle Interpretation in der Gefahr, die Texte vorschnell dem eigenen Interesse dienlich zu machen. Eine konsequent praktizierte methodische und theologische „Zucht“, die er vor allem seinem Lehrer Werner Georg Kümmel verdankt, zeichnet das exegetische Schaffen Otto Merks bis heute aus. Diese Schule ist nach verbreiteter Meinung der gegenwärtigen wissenschaftlichen Exegese alt im Sinne von veraltet, insofern sie prinzipiell defizitär sei. Sie habe sich zu sehr auf die Historie beschränkt und die Kontextualisierung der Texte in die Gegenwart vernachlässigt. Deshalb arbeitet die gegenwärtige (nicht nur) neutestamentliche Exegese daran, dieses in der Tat nicht zu leugnende Defizit auszugleichen. Doch muss sie sich hüten, nicht ihrerseits defizitär zu werden, indem sie der Gefahr erliegt, die biblischen Texte für die an sie herangetragenen hermeneutischen, primär sozial- und kulturwissenschaftlich geprägten Ansätze und Fragestellungen zu vereinnahmen und sie nicht mehr ihr eigenes Wort sagen zu lassen. Angesichts dieser Situation ist der exegetisch-wissenschaftliche Beitrag Otto Merks von höchster Bedeutsamkeit. Der Autor der vorliegenden Aufsatzsammlung reiht sich bewusst in eine lange Tradition der wissenschaftlichen Erforschung des Neuen Testaments ein, deren Herkunft und Werdegang er wie kaum ein zweiter kennt. Vor diesem Hintergrund und in Aufnahme und Weiterführung wesentlicher Erkenntnisse der Forschung erfolgt sein exegetisches Arbeiten im konsequent methodischen Vollzug von Rekonstruktion und Interpretation. So erklärt sich der Titel des Bandes: Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Die im ersten Teil publizierten Beiträge bieten Studien zur Geschichte der neutestamentlichen Forschung von der Aufklärung bis in das 20. Jahrhundert. Dabei gilt ein besonderes Augenmerk dem Wirken von Adolf Jülicher, Albert Schweitzer und Werner Georg Kümmel sowie der Lage der neutestamentlichen Wissenschaft im Umfeld des Zweiten Weltkriegs. Es sind Einblicke in eine bewegte und bewegende Geschichte des je persönlich zu verantwortenden Ringens um eine methodisch sowie theologisch sachgemäße Exegese. Der zweite Teil der Aufsätze greift den ersten Teil auf und führt ihn in eigenständiger Schriftauslegung weiter. Hier wird immer wieder deutlich, wie sehr sich

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Vorwort

Otto Merk im Vollzug der exegetischen Arbeit dem „Erbe der Väter“ verpflichtet weiß. Zugleich zeigt sich, dass der Vorwurf, die traditionelle historisch-kritische Exegese entbehre weitgehend der theologischen, gegenwartsrelevanten Interpretation, ihn jedenfalls nicht trifft. Seine Exegese ist bei aller historischen Rekonstruktion stets von dem Anliegen getragen, sie letztlich für Kirche und Christsein in theologischer Verantwortung fruchtbar werden zu lassen. Ein Zitat aus der Nachbemerkung zum letzten der in diesem Band enthaltenen Beiträge, einer Predigt (s. S. 389), vermag das Anliegen Otto Merks als Exeget und Theologe zuspitzend zu verdeutlichen: „In der voranstehenden Predigt gehe ich bewußt den Schritt ‚vom Text zur Predigt‘ und unterscheide mich darin von heute vielfach geübter homiletischer Praxis. Sich zunächst und als Voraussetzung vom vorgegebenen, ja aufgetragenen Predigtabschnitt im Vollzug historisch-kritischer Exegese selbst infragestellen zu lassen, steht mir am Anfang der Predigtvorbereitung, nicht mögliche ‚Predigteinfälle‘ oder gar lieb gewordene Gedanken, die dann … durch exegetische Kontrolle korrigiert werden. Dieser Primat der Exegese auch für die Predigt impliziert die wissenschaftsgeschichtliche Einsicht, daß historisch-kritische Forschung in ihrem Zueinander von Rekonstruktion und Interpretation die exegetisch-theologische Basis, das Fundamentum auch für die Predigt bietet. Methodisch haben dies die Begründer der ‚Biblischen Theologie‘ in der Spätphase der deutschen Aufklärung … erkannt und erarbeitet.“ So „ist ‚vom theologischen Recht historisch-kritischer Exegese‘ in ihrer grundlegenden Bedeutung“ nicht nur für die Predigt, sondern für alle theologische Arbeit nach wie vor auszugehen. Dieser zweite Band mit gesammelten Aufsätzen von Otto Merk (Band 1 = BZNW 95) bietet Früchte aus den letzten 15 Jahren seines theologischen Arbeitens, darunter zwei Erstveröffentlichungen. Viele der Beiträge sind ursprünglich an entlegenen Stellen publiziert und werden nun in bequemer Weise zugänglich gemacht. Alle Texte sind neu gesetzt und in ein einheitliches Format gebracht worden. Eine beigefügte Bibliographie dokumentiert nicht nur das gesamte Schaffen Otto Merks in den Jahren 1998 bis 2013, sondern lässt auch erkennen, dass es sich in diesem Band nur um eine Auswahl handelt. Ein herzlicher Dank sei an die Herren Dr. Albrecht Döhnert und Stefan Selbmann sowie an Frau Sabina Dabrowski vom Verlag Walter de Gruyter für ihre sachkundige und menschenfreundliche verlegerische Leitung und Begleitung gerichtet. Ebenso danke ich meiner Mitarbeiterin an der Theologischen Hochschule Reutlingen, Frau stud. theol. Natascha Klar, für alle tatkräftige Hilfe beim Erstellen der Register. Schließlich sei den Verlegern und Verlagen für die Erlaubnis zum Druck der ursprünglich bei ihnen veröffentlichten Beiträge gedankt. Reutlingen, im August 2014

Roland Gebauer

Inhaltsübersicht Vorwort

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I. Zur Wissenschaftsgeschichte Die Evangelische Kriegsgeneration

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„Viele waren Neutestamentler“. Zur Lage neutestamentlicher Wissenschaft 1933 – 1945 69 Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule

89

Paul Anton de Lagarde und die Theologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts 107 Anmerkungen zu Gablers Altdorfer Antrittsrede

138

Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele (Übersetzung von Gablers 149 Altdorfer Antrittsrede) Theodor Zahn. Aspekte zu Leben und Werk Walter Felix Bauer (1877 – 1960)

162

179

Adolf Jülicher als Paulusforscher – anläßlich seines 150. Geburtstages Forschungsgeschichte im Werk Adolf Jülichers

201

Albert Schweitzer – sein Denken und sein Weg Albert Schweitzers Straßburger Vorlesungen

219 228

Neutestamentliche Wissenschaft in Briefen von und an Albert Schweitzer 233 Werner Georg Kümmel als Paulusforscher

249

185

VIII

Inhaltsübersicht

Die synoptische Redenquelle im Werk von Werner Georg Kümmel

260

Werner Georg Kümmel (1905 – 1995). Ein Neutestamentler im 20. Jahrhundert 271 Momentaufnahmen aus dem „Archiv Theologische Fakultät“

287

II. Zur Exegese Gemeinde – Fürbitte – Mission. Aspekte ihrer Zuordnung in den Deuteropaulinen 305 Lukas 11,20. Zur Debatte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts

319

Beobachtungen zu Wilhelm Heitmüllers Auslegung des Johannesevangeliums 326 Als Schwerhöriger die Bibel lesen

335

‚Katēchein‘ als Begriff des Unterrichtens im Neuen Testament?

350

1 Thessalonicher 2,13. Eine exegetisch-theologische Besinnung

361

Arbeiten. Zu Begriff und Thematik von ἐργάζεσθαι in den beiden Thessalonicherbriefen 369 1 Thessalonicher 5,23.24. Eine exegetisch-theologische Besinnung

376

Erster Thessalonicher 5,1 – 11. Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres 384 Bibliographie Otto Merk 1998 – 2013 Namenregister

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Stellenregister

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Orte der Erstveröffentlichung

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391

I. Zur Wissenschaftsgeschichte

Die Evangelische Kriegsgeneration Martin Albertz, Rudolf Bultmann, Martin Dibelius, Erich Fascher, Gerhard Kittel, Johannes Leipoldt, Ernst Lohmeyer, Karl Ludwig Schmidt, Julius Schniewind Dem Freunde Erich Gräßer zum 80. Geburtstag in Verbundenheit

Die gestellte Aufgabe* läßt Friedrich Schlegels Beobachtung erneut bewußt werden: „Es ist nichts schwerer, als das Denken eines andern bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzen nachzukonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können.“¹ Der nachfolgend von den Herausgebern dieses Bandes erbetene Überblick über neun Gelehrte der neutestamentlichen Wissenschaft umschließt die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, reicht über den Zweiten Weltkrieg hinweg und bei einigen bis in die 60er Jahre und darüber hinaus. Ihnen gemeinsam ist die verschiedene Begegnung und Erfahrung mit dem „Dritten Reich“, aber zuvor schon das Erleben des Ersten Weltkrieges in früher Dozentenzeit. In einem solchen Überblick gehört auch das Gedenken der im Ersten wie Zweiten Weltkrieg Gefallenen, die – am Leben geblieben – möglicherweise nachmalig sich verstärkt der Erforschung des Neuen Testaments zugewandt hätten. Adolf Deißmann widmet die zweite Auflage seines „Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze“ (1925) „Dem ehrenden Gedächtnis von einhundertundvierundsechzig hoffnungsvollen im Weltkrieg gefallenen Kommilitonen des Neutestamentlichen Seminars und Proseminars der Universität Berlin aus dem Jahrzehnt 1908 – 1918“ (S. III). Gerhard Kittel verweist im Vorwort des IV. Bandes des „Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament“ (1942) auf die im Zweiten Weltkrieg bis dahin gefallenen Mitarbeiter. Das Gedenken gilt weiter denen, die aus politischen und rassistischen Gründen ihre Stellung als Neutestamentler in Theologischen Fakultäten deutscher Universitäten verloren, gleichwohl aber der „Kriegsgeneration“ zugehören. Zu letzteren, denen keine eigenen Abschnitte im vorliegenden Band zugeordnet sind,

* Für die Mühewaltung der Eingabe des Manuskripts in den Computer danke ich herzlich Frau Sekretärin Carola Eggeler und für weitere Mithilfe dabei Herrn wiss. Hilfskraft Jörg Herrmann vom Lehrstuhl Neues Testament I der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.  F. Schlegel, Vom Wesen der Kritik (1804), in: ders., Schriften zur Literatur, hg. v. W. Rasch, München 1972, 259; vgl. hinweisend dazu S. Geiser, Verantwortung und Schuld. Studien zu Martin Dibelius, Hamburger Theologische Studien 20, Münster 2001, V.

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Die Evangelische Kriegsgeneration

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gehören u. a. Otto Schmitz (1883 – 1957);² Otto A. Piper (1891– 1982);³ Otto Bauernfeind (1889 – 1972).⁴ Das notwendige Wissen um diese Sachverhalte gehört zum Verstehen des Folgenden. [3]

Martin Albertz (1883 – 1956) Leben Heinrich Franz Martin Albertz wurde am 7. Mai 1883 in Halle (Saale) geboren, wo sein Vater damals Domprediger war. Durch verschiedene berufliche Stellungen und wechselnde Wohnorte des Vaters legte er am Wilhelmsgymnasium in Posen 1901 sein Abitur ab. Anschließend studierte er in Halle (5 Semester), in Berlin (2 Semester) und in Erlangen (1 Semester) Theologie. Im Juli 1905 erfolgte das 1. theologische Examen in Halle. Am 21. Dezember 1907 bestand er das „Examen rigorosum“ und am 29. Februar 1908 wurde ihm nach einer Disputation die Lizentiatenwürde von der Theologischen Fakultät Halle zuerkannt. Die dafür eingereichte Untersuchung „Die Geschichte des Jung-Arianismus“ erschien 1908 als Teildruck unter dem Titel „Untersuchungen über die Schriften des Eunomius“. – 1910 übernahm er das Pfarramt in Stampen (bei Oels, nahe Breslau). Er selbst schreibt rückblickend: „Als ich mich von einem ländlichen Pfarramt in der Nähe von Breslau zur Habilitation zurüstete, wurde mir diese durch den Generalsuperintendenten D. Nottebohm mit der Begründung zerschlagen, daß die Aufgaben eines Pfarrers wie eines Dozenten je den ganzen Menschen forderten.“ Diese zunächst enttäuschende Preisgabe eines Planes aber hatte für Albertz eine weitreichende Konsequenz. „Denn der Weg des Pfarramts führte mich nicht vom

 Seit 1916 o. ö. Prof. in Münster, dort 1934 abgesetzt, dann in Bethel und Wuppertal als Dozent tätig; Bibliographie: ThLZ 83, 1958, 593 – 602.  War zunächst Nachfolger K. Barths in Münster 1930. Wegen der offenen Gegnerschaft zum „Dritten Reich“ und zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ 1933 dort abgesetzt. Nach Gastprofessuren in England und USA seit 1941 Prof. für Neues Testament in Princeton, N. J. (vgl. J. I. McCord, Otto Piper: An Appreciation, in: W. Klassen / G. F. Snyder [Hgg.], Current Issues in New Testament Interpretation. Essays in Honor of Otto A. Piper, New York u. a. 1962, XIff.; zuletzt F. W. Graf, Art. Piper, Otto Alfred, RGG4 6, 2003, 1356 f.).  Ging wegen klarer antinationalsozialistischer Einstellung und als einziges Mitglied der „Bekennenden Kirche“ in der Tübinger Evang. Theol. Fakultät 1939 als Klinikpfarrer in den Württembergischen Kirchendienst. Wurde 1945 Ordinarius in Tübingen für Neues Testament bis zu seiner Emeritierung. Zu Einzelheiten vgl. M. Hengel, Einleitung. Otto Bauernfeind 14.1.1889 – 26. 12.1972, in: O. Bauernfeind, Kommentar und Studien zur Apostelgeschichte, hg. v. V. Metelmann, WUNT 22, Tübingen 1980, V–VIII.

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Martin Albertz (1883 – 1956)

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Neuen Testament weg, sondern in dieses selbst hinein. Es galt nun, das Neue Testament durchzupredigen.“ Es ging ihm allein um die Botschaft, das Bezeugen derselben. „Wer das Wort Gottes zu verkündigen hat als eine fremde, über uns stehende Botschaft, die uns befohlen ist, der steht unter den gleichen Bedingungen wie die, die zum Neuen Testament geführt haben. Aus diesen Bedingungen heraus frage ich nun nicht mehr nach der Theologie des Paulus oder Johannes, sondern nach der Botschaft, die beide bezeugt haben. Nicht ihre Individuen, sondern ihr Auftrag und dessen Durchführung ist das Wesentliche.“⁵ Damit war für Albertz über seinen inneren Weg als Theologe entschieden und die Leitlinie für sein künftiges Wirken gegeben. – 1921 wurde er Studiendirektor des Predigerseminars der Kirche in Brandenburg im Johannesstift in Spandau und blieb es auch, als dieses 1923 nach Stettin-Kückemühle verlegt wurde. Bis 1928 wirkte er dort, anschließend als Superintendent in Soldin (Neumark).Von 1931 bis 1953 war er Pfarrer in Spandau an der Nicolaikirche und zugleich Superintendent des Kirchenkreises Spandau. 1933 bis 1945 in steter Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Regime und zudem führendes Glied der Bekennenden Kirche war er von 1935 bis 1941 zugleich Dozent an der neu gegründeten „Kirchlichen Hochschule der Bekennenden Kirche für reformatorische Theologie in Berlin“. Besonders sei[4]ne Tätigkeit als Leiter des illegal eingerichteten Prüfungsamtes der Bekennenden Kirche in Berlin-Brandenburg brachten ihm Verfolgung, mehrfach Gefängnisstrafen und längere Haftaufenthalte, dazu die Aberkennung der geistlichen Rechte als Pfarrer. Seine unermüdliche Unterstützung bedrängter Juden und Christen jüdischer Herkunft trug zur eigenen gefährdeten Existenz bei. 1936 berief man ihn in die „Vorläufige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche“. Nach Kriegsende war er Dozent/Professor an der Kirchlichen Hochschule in Berlin für Neues Testament und als „reformierter Theologe“ zugleich in die Humboldt-Universität involviert. – Kirchlich von Belang wurden seine Berufung in das Moderamen der Reformierten Kirche (1945) und seine Mitgliedschaft im Reformierten Weltbund, Tätigkeiten, die ihn auch offiziell in der entstehenden „DDR“ wirken ließen. – Am 29. Dezember 1956 starb er in Berlin, nachdem er wenige Wochen vorher sein Hauptwerk hatte abschließen können.⁶

 Die voranstehenden Zitate befinden sich bei M. Albertz, Die Botschaft des Neuen Testaments, Bd. II/1, Berlin 1954, 12.  Für die Skizze des Lebenslaufs vgl. wichtige Hinweise bei M. Albertz, Untersuchungen über die Schriften des Eunomius, Inaugural-Dissertation …, Halle 1908 (Teildruck; unpaginierte Schlußseite); (ohne Verf.) BBKL 1, 1975, 88; Weiteres konnte z.T. M. Albertz, Die Botschaft des Neuen Testaments, Bd. I/1.2; II/1.2, Berlin 1947– 57, entnommen werden.

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Die Evangelische Kriegsgeneration

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Werk und Wirkung Dieses an Aufgaben reiche und wechselvolle Leben legt es nahe, daß Albertz sich nicht ausschließlich als Neutestamentler verstehen konnte. Die seit seiner Lizentiatenarbeit kirchengeschichtlichen und durch den praktischen Dienst bestimmten Interessen lassen jedoch die wissenschaftliche Arbeit am Neuen Testament nicht aus dem Blick. Weitgefaßt ist sein Überblick „Weltweite Ziele des Protestantismus der Gegenwart“ (1914); lokalgeschichtlich ausgerichtet ist „Acht Jahrhunderte Soldiner Kirchengeschichte“ (1931); reformiertem Anliegen, nicht der Verherrlichung Preußens dient seine Schrift „Der Soldatenkönig und seine reformierte Kirche“ (1939); zentral und auch noch heute grundlegend orientierend ist seine mit Ernst Wolf herausgegebene Sammlung „Kirchenrechtliche Ordnungen für die Versammlungen der nach Gottes Wort reformierten Gemeinden deutscher Zunge“ (1941). Lebensgeschichtliche Einsichten, reformierte Theologie und Theologie der Bekennenden Kirche vereinigend, finden sich in seinem Hauptwerk „Die Botschaft des Neuen Testaments“ (1947– 1957), dessen Ertrag seine neutestamentliche Arbeit aus Jahrzehnten einschließt. Diesem Werk vorausgehend erschienen mehrere einschlägige Untersuchungen zum Neuen Testament. – In weiterem Vollzug einer These, die Heinrich Lisco zugeschrieben wird,⁷ aber Adolf Deißmann seit 1897 vortrug,⁸ verfaßte Albertz in ThStKr 83 (1910), 551– 594, den Aufsatz „Die Abfassung des Philipperbriefes durch Paulus in Ephesus“ mit dem Ergebnis, allein der Phil unter den paulinischen Gefangenschaftsbriefen gehöre nach Ephesus. Abgesehen von einigen Absonderlichkei[5]ten in dieser Abhandlung⁹ ist die These als solche durch die weitere Forschung virulent, aber auch umstritten geblieben – doch heute recht selten mit dem Namen Albertz verbunden. – Mit „Die synoptischen Streitgespräche. Ein Beitrag zur Formengeschichte des Urchristentums“ (1921) reiht sich Albertz völlig unabhängig von ihnen in den Kreis der fast gleichzeitig erschienenen Werke zur Formgeschichte von Martin Dibelius, Karl Ludwig Schmidt (1919) und Rudolf Bultmann (1921) ein. Er unterscheidet sich jedoch darin, daß er offenbar bewußt (auch im späteren Hauptwerk) von „Formengeschichte“ spricht, ohne dabei jener Prägung und Prägnanz nachzugehen, die der begriffliche Schöpfer Eduard Norden in „Agnostos Theos. Untersuchungen

 H. Lisco, Vincula Sanctorum, Berlin 1900.  A. Deißmann, Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen ²1925, 13 mit Anm. 2.  Vgl. J. Schmid, Zeit und Ort der paulinischen Gefangenschaftsbriefe. Mit einem Anhang über die Datierung der Pastoralbriefe, Freiburg 1931, 48 Anm. 1; 62 Anm. 3; 84 Anm. 1; 85 Anm. 2; 115 Anm. 3; 128 Anm. 4.

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Martin Albertz (1883 – 1956)

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zur Formengeschichte religiöser Rede“ (1913) ihr gegeben hatte. Bedeutsam blieb bei Albertz der im einzelnen durchgeführte Nachweis der Traditionsgeschichte, das Aufdecken des mündlichen Weges, der den Sammlungen von Streitgesprächen im Markus-Evangelium zugrundeliegt, methodisch allerdings belastet durch die These eines jeweiligen „Urgesprächs“ (des einzelnen später ausweisbaren Streitgesprächs) als Basis, für das der (historische) „Sitz im Leben“ rekonstruiert werden könne. Dagegen wandte Bultmann mit Recht kritisch ein: „Denn als formgeschichtlicher Terminus bedeutet der ›Sitz im Leben‹ nicht eine einzelne Begebenheit als Ursprung eines einzelnen Berichts, sondern den geschichtlichen Ort, der einer literarischen Gattung zukommt.“¹⁰ Gleichwohl ist diese Untersuchung „grundlegend“ für die weitere Erforschung der synoptischen Streitgespräche geblieben.¹¹ – Methodisch gleichgerichtet ist sein Aufsatz „Zur Formengeschichte der Auferstehungsberichte“,¹² in dem hervorgehoben wird: „eine feste Ordnung der Überlieferungen ist nicht nachweisbar“ (264), aber die verschiedenen Osterüberlieferungen zeitigen durchaus „geschichtliche Ergebnisse“ (268 f.). Sein aus Vorlesungen erwachsenes Hauptwerk „Die Botschaft des Neuen Testaments“ (1946 ff.) ist ebenfalls vom formgeschichtlichen Ansatz geleitet. Die Botschaft Jesu setzt sich fort in der Verkündigung seiner Zeugen und darum ist vom Glauben weckenden Zeugnis her die Entstehung des Neuen Testaments zu sehen (I/1, bes. 106.297 ff.), dahin ausgerichtet: „Die bleibende Folge“ aus der Kanonbildung „ist die Aufgabe der fortlaufenden mündlichen Verkündigung, die in Predigt und Lehre an das schriftliche Evangelium gebunden ist“ (I/1, 298; I/2, 15 ff.39 ff.469 ff.499). „Die Entfaltung der Botschaft“ (zugleich Untertitel Bd. II/1.2) hat daraus die Konsequenzen zu ziehen, indem sie unter triadischer Vorgabe (2Kor 13,13) die Einheit der Bot[6]schaft vermittelt und (bewußt) die Vielfalt neutestamentlicher Verkündigung hintanstellt (oder verschweigt) und unter der Leitung des Heiligen Geistes ein heilsgeschichtlich orientiertes gesamtbiblisches Zeugnis zum Maßstab setzt. Albertz, mit der Forschung selbstverständlich vertraut, führt in seinem Werk ebenso einen Generalangriff auf die historisch-kritische Einleitungswissenschaft (seit deren Aufkommen in der Zeit der Aufklärung) wie auf die seit Johann Philipp Gabler (1753 – 1826) bedachte Fachdisziplin „Neutestament-

 So R. Bultmann, Urchristliche Religion (1915 – 1925), ARW 24, 1926, 83 – 164, 120; vgl. auch E. Fascher, Die formgeschichtliche Methode. Eine Darstellung und Kritik. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des synoptischen Problems, BZNW 2, Gießen 1924, 44 f.144– 170; F. Hahn, Die Formgeschichte des Evangeliums. Voraussetzungen, Ausbau und Tragweite, in: ders. (Hg.), Zur Formgeschichte des Evangeliums, WdF 81, Darmstadt 1985, 427 ff. 449 ff. (Textauszüge ebd., 256 ff.).  Vgl. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 62007, 250 mit Anm. 221.  ZNW 21, 1922, 259 – 269.

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Die Evangelische Kriegsgeneration

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liche Theologie“, wobei er schon deren Bezeichnung als irreführend ablehnt.¹³ Durch seine wesentlich antikritische und oft eigenwillige Darbietung des Stoffes, die zudem mit zahlreichen schon zu seiner Zeit bekannten und aufgedeckten Fehlurteilen früherer Forschung belastet ist,¹⁴ hat er leider auch diskussionswichtige Ansätze, die anderenfalls mit seinem Namen zu verbinden wären, zum Erliegen oder zur längeren Nichtberücksichtigung gebracht. Zu diesen gehören etwa die Erarbeitung einer „Theologischen Einleitung in das Neue Testament“¹⁵ und Überlegungen zu einer „Biblischen Theologie“.¹⁶ Daß er den Begriff „hebräische Bibel“ für das Alte Testament einbrachte (I/1, 99 u. ö.), ist auch in Fachkreisen nicht mehr bekannt. War Albertz auch die erhoffte Breitenwirkung seines Werkes versagt (Bd. II/1, 11 ff. [passim]), so sind kleinere Studien von Belang geblieben: „Die Kirche Jesu Christi und ihre Dienste nach dem Neuen Testament“ (1949) und „Die ökumenische Bedeutung des Gebets des Herrn“ (1949). Vor allem aber sind der unerschrockene Verkündiger der Biblischen Botschaft und sein Einsatz für Juden und Judenchristen unvergessen. [7] Bibliographie: G. Forck,Verzeichnis der Veröffentlichungen von M. Albertz, ThViat 5, 1953/54, 434– 437 – Würdigungen: M. Strege, Das Eschaton als gestaltende Kraft in der Theologie. Albert Schweitzer und Martin Albertz, Stuttgart 1955; K. Scharf, Martin Albertz zum 70. Geburtstag,ThViat

 Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, 596: Albertz „verkennt … in seiner Entgegensetzung von Theologie und Botschaft den Sinn, den theologische Gedanken als Interpretation der ›Botschaft‹ haben“; ähnlich H.-J. Kraus, Die Biblische Theologie. Ihre Geschichte und Problematik, Neukirchen-Vluyn 1970, 188 Anm. 87; ferner ebd., 324.  Vgl. W. G. Kümmel, Bespr. von Bd. I/2, ThZ 10, 1954, 55 – 60; W. Eltester, Notizen, ZNW 45, 1954, 267– 282, 276 f., und eingehend E. Fascher, Eine Neuordnung der neutestamentlichen Fachdisziplin? Bemerkungen zum Werk von M. Albertz: Die Botschaft des Neuen Testaments, ThLZ 83, 1958, 609 – 618.  Vgl. ohne Bezug auf Albertz wissenschaftlich-kritisch: E. Schweizer, Theologische Einleitung in das Neue Testament, GNT 7, Göttingen 1989; im übrigen hat als einer der ganz wenigen W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg ¹²1963 (211983) Albertz’ Werk (Bd. I/1.2) durchgängig mitberücksichtigt.  Vgl. auch die direkte und indirekte Einschätzung durch F. Hahn. In seiner Rezension „Die Botschaft des Neuen Testaments. Eine Darstellung der neutestamentlichen Einleitung und Theologie aus den Voraussetzungen des urchristlichen Gottesdienstes von Martin Albertz“ (JLH 8, 1963, 86 – 89) wird dessen Werk – bei durchaus eingebrachter Kritik – eine hohe und wissenschaftlich bahnbrechende Bedeutung zuerkannt; in ders., Formgeschichte (s. Anm. 10), 451 Anm. 78, ist die Beurteilung des „beachtenswert[en] … Gesamtprogramm[es]“ zurückhaltender. In ders., Theologie des Neuen Testaments, Bd. I. Die Vielfalt des Neuen Testaments, Tübingen 2002, begegnet Albertz’ Name im Bereich grundsätzlicher Aufgabenstellung nicht; in Bd. II. Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung, Tübingen 2002, 16 f., wird dessen Anliegen skizziert, doch ohne weitere direkte Bezugnahme in den nachfolgenden Ausführungen.

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Rudolf (Karl) Bultmann (1884 – 1976)

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5, 1953/54, 9 – 20; G. Harder, Gedenkrede auf D. Martin Albertz, ThViat 6, 1954– 58, 113 – 122; S. Hermle, Art. Albertz, Martin, RGG⁴ 1, 1998, 270.

Rudolf (Karl) Bultmann (1884 – 1976) Leben Rudolf Karl Bultmann wurde am 20. August 1884 als Sohn des Pfarrers Arthur Kennedy Bultmann (1854– 1919) und seiner Ehefrau Helene, geb. Stern (1858 – 1935), einer Pfarrerstochter aus Emmendingen bei Freiburg/Br., im Pfarrhaus in Wiefelstede (bei Oldenburg/Oldbg.) geboren.¹⁷ Seine anregende Schulzeit im (alten) Oldenburger Gymnasium diente auch seinen literarischen Interessen, die er vielfach im Austausch mit seinem ein gutes Jahr älteren Mitschüler, dem späteren Philosophen Karl Jaspers (1883 – 1969), teilte. Nach dem Abitur 1903 ließ er sich als „stud. theol. et phil.“ in Tübingen einschreiben, wechselte aber schon bald ganz zur Theologie (ohne je das literaturwissenschaftliche Interesse zu verlieren). Nach drei Semestern in Tübingen, dort besonders in die historisch-kritische Methode eingeführt und geprägt durch den Kirchenhistoriker Karl Müller (1852– 1940), folgten zwei Semester in Berlin, in denen Adolf (v.) Harnack (1851– 1930) als liberaler Theologe für ihn Vorbild wurde und Hermann Gunkel (1862– 1932) ihn wesentlich zu seinen eigenen späteren Forschungen anregte. Anschließend ging er – nicht gern gesehen von seinen Eltern – in das „liberale“ Marburg,wo Johannes Weiß (1864 – 1914) und vor allem Adolf Jülicher (1857– 1938) ihm die methodische Grundlegung zu historisch-kritischer Arbeit im Geiste liberaler Theologie vertieften. Der Systematiker Wilhelm Herrmann (1846 – 1922), bei dem er wegen Examensvorbereitung zunächst nur per Eintragung im Studienbuch und ganz am Rande studierte, wird ihm erst in den Jahren 1907 bis 1916 zum theologischen Lehrer und Begleiter. Zuvor legte Bultmann nach sechs Semestern Studium sein  Vgl. für das Folgende R. Bultmann, „Autobiographische Bemerkungen Rudolf Bultmanns“, in: Karl Barth – Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1911– 1966, hg. v. B. Jaspert, Karl Barth Gesamtausgabe V. Briefe, Zürich ²1994, Nr. 33 (S. 302– 311) u. Nr. 34 (S. 311– 313) (jeweils mit Quellenangabe); M. Evang, Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit, BHTh 74, Tübingen 1988; Rudolf Bultmann – Friedrich Gogarten, Briefwechsel 1921– 1967, hg. von H. G. Göckeritz, Tübingen 2002 (dort: R. Bultmann, „Bericht über unser Ergehen in Marburg seit 28. März 1945“ [S. 308 – 317], u. vom Herausgeber, „Biographische Skizzen und bibliographische Hinweise: Rudolf Bultmann“ [S. 319 – 328]); W. Zager, Unveröffentlichte Dokumente aus der Frühzeit Rudolf Bultmanns. Arthur und Rudolf Bultmann als liberale Theologen, in: ders., Liberale Exegese des Neuen Testaments. David Friedrich Strauß, William Wrede, Albert Schweitzer, Rudolf Bultmann, Neukirchen-Vluyn 2004, 135– 169; dazu Erzählungen Bultmanns und eigene Recherchen.

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(1.) kirchliches Examen vor dem Kirchenamt in Oldenburg (April 1906–Januar 1907) ab.¹⁸ Schon seit Herbst 1906 war er dort am Gymnasium [8] „vertretender Oberlehrer“, eine Tätigkeit, die er auch nach dem Examen mit Begeisterung für das Lehramt fortsetzte. Doch bereits 1907 wurde er auf Vorschlag des Ephorus der Hessischen Stipendiatenanstalt in Marburg, Wilhelm Herrmann (später Adolf Jülicher), dort von 1907 bis 1916 Repetent (wodurch auch ein schmales finanzielles Auskommen gewährleistet war: 900 Goldmark im Jahr). Da sein Doktorvater Johannes Weiß 1908 einen Ruf nach Heidelberg angenommen hatte, betreute dessen Nachfolger Wilhelm Heitmüller (1869 – 1926) die begonnene Doktorarbeit. Am 30. Juli 1910 wurde Bultmann aufgrund der Untersuchung „Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe“ (1910; ²1984 mit einem Geleitwort von H. Hübner) promoviert. 1912 erfolgte die Habilitation mit der Arbeit „Die Exegese des Theodor von Mopsuestia“, die Jülicher angeregt hatte und die Bultmann vor allem wegen Weiterführung dort angeschnittener hermeneutischer Fragen nicht veröffentlichte.¹⁹ Die Marburger Privatdozentenzeit endete mit Berufung als ao. Professor für Neues Testament nach Breslau 1916. In die Breslauer Jahre fiel 1917 seine Verheiratung mit Helene, geb. Feldmann (1892– 1973), seiner Schülerin aus Marburg. Aus der Ehe gingen drei Töchter hervor. Überhaupt war die Breslauer Zeit für ihn besonders über die eigene Fakultätsgrenze hinaus anregend. Als Mitbegründer der Volkshochschule war er – wovon er noch im Alter gern erzählte – heilsam gefordert, für dortige Vorträge und Kurse wissenschaftliche Arbeit zu elementarisieren, was seinem pädagogischen Interesse sehr entsprach.²⁰ Zum 1. Oktober 1920 wurde er ordentlicher Professor in Gießen (als Nachfolger Wilhelm Boussets [1865 – 1920]), dort sehr begrüßt und gern gesehen. Doch schon im Februar 1921 erreichte ihn der Ruf nach Marburg auf den Lehrstuhl seines Doktorvaters Wilhelm Heitmüller.²¹ Diesen nahm er – nach etwas Zögern, da er auch Gießen verpflichtet war – an und wirkte von 1921 bis zu seiner Emeritierung 1951 als Neutestamentler in Marburg. Einen späteren ehrenvollen Ruf auf solenner

 Vgl. Dokumentation bei Zager (s. Anm. 17), 157– 168.  Erst posthum erschien: R. Bultmann, Die Exegese des Theodor von Mopsuestia, hg. v. H. Feld u. K. H. Schelkle, Stuttgart u. a. 1984.  Der Großneffe Pestalozzis wußte das Erbe seiner mütterlichen Vorfahren in seiner eigenen geradezu Leidenschaft für Religionspädagogik zu wahren.  Die Berufungsliste enthielt pari passu die Namen Walter Bauer und Rudolf Bultmann. Der erstberufene Bauer lehnte jedoch zugunsten Göttingens ab.

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Liste (mit Albert Schweitzer) nach Leipzig 1930 lehnte er ab.²² In Marburg erlebte er den Höhepunkt seines akademischen Wirkens in den 20er Jahren bis 1933. Als einflußreicher Gegner des Nationalsozialismus und durch sein unbeirrtes Eintreten für rassisch Verfolgte²³ zwar stets gefährdet konnte er sich als international renommierter Gelehrter [9] auch in seiner kirchlichen Entschiedenheit gegenüber Repressalien durchsetzen. Da er politisch völlig unbelastet war, wurde ihm nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ manche Aufgabe in der Wiederaufbauphase der Marburger Universität seit 1945 übertragen. – Auch seinen Ruhestand verbrachte er – abgesehen von wenigen Reisen²⁴ – in Marburg und rundete hier sein Lebenswerk ab. Hier aber mußte er in den 50er und 60er Jahren erleben, daß er nicht nur gelegentlich jenseits des Anstandes wegen der durch ihn ausgelösten Entmythologisierungsdebatte angegriffen wurde. Er scheute die Auseinandersetzung nicht, aber es verletzte ihn tief, daß die Synode der EvangelischLutherischen Kirche in Deutschland ihm auf der Tagung in Flensburg 1952 – ohne ihn selbst zu befragen – das Recht, ein lutherischer Theologe zu sein, absprach und auch eine Kanzelabkündigung gegen ihn beschloß. Aber er hatte 1973 auch die große Freude der Rücknahme dieser Beschlüsse.²⁵ – Bultmann starb am 30. Juli 1976 in Marburg – am dem Tage, an dem er 66 Jahre zuvor seine Doktorprüfung abgelegt hatte. Insgesamt gilt, und auch Bultmann hat es dankbar so empfunden: Es war ein reiches in sich abgeschlossenes Gelehrtenleben.²⁶

 G. Wartenberg, Verpaßte Chance oder vergebliche Mühe? Dokumente zu dem Versuch, Rudolf Bultmann Anfang des Jahres 1930 nach Leipzig zu berufen, ThLZ 115, 1990, 385 – 398.  Zusammenfassende Dokumentation in: Die Marburger Theologen und der Arierparagraph in der Kirche. Eine Sammlung von Texten aus den Jahren 1933 und 1934. Aus Anlaß des 450jährigen Bestehens der Philipps-Universität Marburg im Auftrag des Fachbereichs Evangelische Theologie hg. u. mit einer Einführung versehen v. H. Liebing, Marburg 1977; dazu weiterführend (und auch korrigierend) E. Dinkler, Neues Testament und Rassenfrage. Zum Gutachten der Neutestamentler im Jahre 1933, ThR 44, 1979, 70 – 81.  Hierzu R. Bultmann, in: Barth – Bultmann, Briefwechsel (s. Anm. 17), Nr. 30 u. 31 (S. 286 – 290).  Vgl. E. Lohse, Die evangelische Kirche vor der Theologie Rudolf Bultmanns, ZThK 82, 1985, 173 – 191.  Unter den zahlreichen ihm zuteil gewordenen Ehrungen und ihm angetragenen Mitgliedschaften hat ihn bes. die Aufnahme in den Orden „Pour le Mérite“ (1969) erfreut.

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Werk und Wirkung Für das wissenschaftliche Werk, inzwischen in über 3000 Publikationen speziell oder mit erörtert, kann hier nur ansatzweise auf einige Leitlinien verwiesen werden. Bultmann registrierte schon in seinem Studium sehr genau anliegende Fragestellungen, nahm sie gegebenenfalls auf und integrierte sie interpretierend in seine eigenen wissenschaftlichen Überlegungen. Von seiner akademischen Frühzeit an weist Bultmanns Denken eine erstaunliche Kontinuität auf. Das betrifft nicht nur seine konsequente Einbeziehung von Forschungsergebnissen der „Religionsgeschichtlichen Schule“,²⁷ sie betrifft ebenso die Breite seines theologischen Ansatzes in seinen Rezensionen seit 1908.²⁸ Sie wird in Nachweisen rhetorischer Züge in paulinischen Briefen (Dissertation 1910) mit [10] gleichzeitiger Warnung ihrer Überbewertung (ebd., 2) für die neutestamentliche Exegese sichtbar wie auch in redaktionsgeschichtlichen Erwägungen und dem Nachspüren existentialer Interpretation in seiner Habilitationsschrift über „Theodor von Mopsuestia“ (1912).²⁹ – In diese kritisch reflektierende Kontinuität sind nicht nur die Jahre 1908 bis 1920 eingeschlossen,³⁰ diese greift über die 20er Jahre hinweg und bestätigt, daß Bultmann von seiner theologischen Grundlegung her nicht auf Dauer der „Dialektischen Theologie“ verbunden bleiben konnte. Schon seine an sich positive und verstehende Rezension von Karl Barth, Der Römerbrief (²1922)³¹

 Vgl. u. a. D. Lührmann, Rudolf Bultmann and the History of Religion School, in: T. W. Jennings (Hg.), Text and Logos. The Humanistic Interpretation of the New Testament, Atlanta 1990, 3 – 14; G. Sinn, Christologie und Existenz. Rudolf Bultmanns Interpretation des paulinischen Christuszeugnisses, TANZ 4, Tübingen 1991, bes. 5 ff.138 ff. Dem Erbe des 19. Jh.s in Bultmanns Werk (vgl. etwa seine Bezüge auf Schleiermacher, Kierkegaard, Dilthey) kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Doch vgl. auch W. Kirchhoff, Neukantianismus und Existentialanalyse in der Theologie Rudolf Bultmanns, Diss. Heidelberg 1959; H. Jonas, Der Kampf um die Möglichkeit des Glaubens, in: O. Kaiser (Hg.), Gedenken an Rudolf Bultmann mit Beiträgen von …, Tübingen 1977, 41 ff., bes. 45 ff.  R. Bultmann, Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, hg. v. M. Dreher u. K. W. Müller, Tübingen 2002; dazu M. Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker in seinen Rezensionen und Forschungsberichten. Kommentierende Auswertung, Beiträge zum Verstehen der Bibel 11, Münster 2005.  Hierzu nur eine ökumenische Stimme: B. Dieckmann, Entmythologisierung als Lebensaufgabe. Zur Veröffentlichung von Bultmanns Habilitationsschrift und frühen Predigten, ThGl 77, 1987, 88 – 107.  Vgl. zum Folgenden auch O. Merk, Art. Bultmann, Rudolf Karl (1884– 1976), EBR 4, 2012, 594– 596.  R. Bultmann, Karl Barths „Römerbrief“ in zweiter Auflage (1922), wiederabgedruckt in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I. K. Barth, H. Barth, E. Brunner, TB

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läßt jene innere Distanz erahnen, die um 1930 zur theologischen Entfremdung der beiden Gelehrten führte, weil nach Barth Bultmanns anthropologischer Ansatz die Rückkehr zur liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts beinhalte.³² Eine Phaseneinteilung in Bultmanns Denken ist seit den neueren Untersuchungen über das Werk seiner Frühzeit erschwert. Daß um das Jahr 1930 ein Höhepunkt der Ausarbeitung seines methodischen und theologischen Ansatzes gegeben ist, zeichnet sich anhand seines Werkes wie in der neueren BultmannForschung ab mit dem Ergebnis, daß Bultmann von diesem Höhepunkt aus, gipfelnd in seinem Artikel „Paulus“ (RGG² 4, 1930, 1019 – 1045), von den 30er Jahren an das bisher Dargelegte konsequent in seinem bedeutsamen Spätwerk entfaltet. Die explizit angewandte historisch-kritische Methode umschließt für ihn implizit deren sachkritisch-theologische Einbindung.³³ Rekonstruktion und Interpretation greifen bei ihm dergestalt ineinander, daß unter dem bestimmenden Vorrang der Exegese in ihrer interpretatorischen Gewichtung deren systematischhermeneutische Durchdringung ebenso das Gespräch mit der Philosophie befruchtet wie die enzyklopädische Einheit der Theologie gewahrt bleibt.³⁴ Hierzu gehört auch, daß Bultmann wie Martin Heidegger (1889 – 1976) unabhängig voneinander ähnlich gerichtete Grundfragen des Daseins beschäftigten, die dann in Heideggers Marburger Zeit (1923 – 1928) zu gegenseitig berei[11] cherndem wissenschaftlichen Austausch führten, die aber der Konstanz in Bultmanns Denken keine grundlegend ändernde Wendung gaben, doch dieses hermeneutisch in existentialer Bestimmtheit vertieften. Kontinuität zeigt sich bei Bultmann auch in der ganz konsequenten und existentiell bewährten Ablehnung jeder Gestalt von Antisemitismus. Dies gilt auch hinsichtlich seiner der „Religionsgeschichtlichen Schule“ verbundenen wissen-

17, München 51985, 119 – 142; dazu eingehend Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker (s. Anm. 28), 151– 186.  Vgl. Barth – Bultmann, Briefwechsel (s. Anm. 17): Nr. 9 v. 31.12.1922 (S. 14 ff.); Nr. 15 v. 8.1. 1924 (S. 27 f.), Nr. 66 v. 16. 2.1930 (S. 102 ff.); Nr. 71 v. 30.9.1930 (S. 109 f.); Nr. 73 v. 3.10.1930 (S. 112 f.); Nr. 74 v. 27.5.1931 (S. 114 ff.); Nr. 75 v. 14.6.1931 (S. 119 ff.).  Vgl. auch B. Jaspert, Sachkritik und Widerstand. Das Beispiel Rudolf Bultmanns, ThLZ 115, 1990, 161– 182; zur Weiterführung (aber auch problematisch bzgl. Bultmann) M. Pöttner, Die Einheit von Sachkritik und Selbstkritik. Semiotische Rekonstruktion der grundlegenden hermeneutischen These Rudolf Bultmanns, ZThK 91, 1994, 396 – 423.  R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hg. v. E. Jüngel u. K. W. Müller, Tübingen 1984; E. Jüngel, Glauben und Verstehen. Zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns, SHAW.PH 1, Heidelberg 1985.

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schaftlichen Sicht des Frühjudentums, die aus heutigem Forschungsstand ihm zur Last zu legen fehl greift.³⁵ Für den Neutestamentler Bultmann bleiben seine exegetischen Einzelstudien (in „Exegetica“, 1967)³⁶ die Basis, deren Verzahnung mit den in „Glauben und Verstehen“ gesammelten Arbeiten³⁷ sich darin erschließt, „daß es mir entscheidend daran gelegen hat, die Einheit von Exegese und Theologie zu erstreben, und zwar in der Weise, daß der Exegese der Primat zukommt“.³⁸ Seine Rezensionen flankieren seine größeren Publikationen.³⁹ Hingewiesen sei nur auf folgende Werke: Auf die „Geschichte der synoptischen Tradition“ (1921; ²1931; ¹01995 mit Nachtrag von G. Theißen) hat Bultmann seit seiner Marburger Dozentenzeit hingearbeitet. Diese Untersuchung bietet die form- und traditionsgeschichtliche Quintessenz von vorangegangenen erarbeiteten Exegesen. Diese umfassen annähernd 1000 Seiten.⁴⁰ In seinem eigenen Vergleich mit dem einschlägigen Werk von Martin Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums (1919), hält Bultmann fest:⁴¹ „Mein Hauptunterschied … ist der, daß ich die formgeschichtliche Betrachtung nicht in der Weise wie er isoliere, sondern sie nur Hand in Hand mit der Sachgeschichte teilen kann. Deshalb steht bei mir die Analyse der Tradition in engstem Zusammenhang mit der Analyse der Schichten der urchristlichen Religion, d. h. also, ich suche die Geschichte der synoptischen Tradition bis zur Abfassung der Evangelien zugleich unter der Frage nach dem Unterschied des palästinensischen und hellenistischen Urchristentums zu verstehen“. Das „Jesus“-Buch (1926) steht in engstem sachlichen Zusammenhang mit der „Geschichte der synoptischen Tradition“. Nicht die Rekonstruktion eines

 Vgl. K. De Valerio, Altes Testament und Judentum im Frühwerk Rudolf Bultmanns, BZNW 71, Berlin 1994 (Lit.); W. Dietrich, Drei Einsprüche. Drei Marburger Theologen zum christlich-jüdischen Verhältnis. Rudolf Bultmann, Friedrich Heiler, Paul Tillich, Marburg 1996; K. Hammann, Rudolf Bultmanns Begegnung mit dem Judentum, ZThK 102, 2005, 35– 72 (Lit).  R. Bultmann, Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, ausgewählt, eingeleitet und hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967.  R. Bultmann, Glauben und Verstehen, Bd. I – IV, Tübingen 1933.1952.1960.1965 (u. Nachdrucke).  Bultmann, Exegetica (s. Anm. 36), VII (Zitat), u. E. Dinkler, Einleitung, ebd., IX–XXIII.  Vgl. dazu oben Anm. 28.  Vgl. Nachweise bei O. Merk, Aus (unveröffentlichten) Aufzeichnungen Rudolf Bultmanns zur Synoptikerforschung, in: D.-A. Koch u. a. (Hgg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum. Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche. FS für W. Marxsen zum 70. Geburtstag, Gütersloh 1989, 195 – 207.  Bultmann, Urchristliche Religion (s. Anm. 10), 119.

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Le[12]bens Jesu, sondern der Ruf in die Entscheidung angesichts der Botschaft Jesu für den einzelnen wird herausgearbeitet.⁴² Seit 1920 stand Bultmann im Vertrag, das Johannesevangelium in Meyers kritisch-exegetischem Kommentar zu kommentieren. Zahlreiche religionsge-

 Umstritten ist die Entstehungszeit dieses Buches. Nach Bultmanns eigenen Erinnerungen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre des 20. Jh.s habe er das Jesus-Buch, da die „Gesch. der synopt. Trad.“ aus verlegerischen und drucktechnischen Gründen nach dem 1. Weltkrieg nicht gleich nach dem Abschluß des Manuskripts im Frühjahr 1920 gedruckt werden konnte, noch im selben Jahr binnen einer Woche verfaßt, dann aber – wie er es auch bei anderen geplanten Veröffentlichungen öfter tat – erst einmal liegen lassen. (Daß Bultmann Manuskripte sehr rasch verfassen konnte, ist auch sonst bekannt: In einer für Herausgeber und Verlag prekären Situation einspringend hat er, einschließlich Anfrage bei ihm, innerhalb von 14 Tagen den o. g. Artikel „Paulus“ für RGG² 4, 1930, geschrieben und abgeliefert). Als Heidegger nach Marburg kam – so weiter B.s Erinnerung –, habe er das Manuskript diesem neuen theologisch interessierten kath. Kollegen vorgelesen, der seinerseits angeregt habe, in der „Einleitung: Die Art der Betrachtung“ das Wort „Wirkungszusammenhang“ (dort in Anführungszeichen und in Klammern gesetzt) hinzuzufügen (S. 1). Nicht erst unter Leitgedanken von Heideggers „Sein und Zeit“ (1927) sei das Jesusbuch verfaßt. So hat es Bultmann mehrfach mündlich und auch schriftlich festgehalten (vgl. Brief an Prof. Dr. Hans Hübner vom 5. Juni 1971 u. G. Bornkamm, In memoriam Rudolf Bultmann * 20. 8.1884 † 30.7.1976, NTS 23, 1977, 235 – 242, 239). Demgegenüber hat u. a. W. Schmithals, 75 Jahre: Bultmanns Jesus-Buch, ZThK 98, 2001, 25 – 58, auf Sachverhalte aufmerksam gemacht, die auf die Entstehung der Niederschrift erst etwa Mitte der 20er Jahre verweisen. Was gilt? Im Jesus-Buch ist der „ganze Bultmann“ seiner frühen wissenschaftlichen Jahre vorhanden, auch das, was intentional in wichtigen Vorträgen von 1919/20 niedergelegt ist. Schon in Gießen, dann aber im Sommersemester 1922 in Marburg behandelt B. Probleme der Jesusforschung und deren Geschichte (vgl. für Marburg: B. Jaspert, Sachgemäße Exegese. Die Protokolle aus Rudolf Bultmanns neutestamentlichen Seminaren 1921– 1951, MThSt 43, Marburg 1996, 21 ff.). Ob B. das Jesus-Buch gleichzeitig in einer Vorlesung vorgetragen hat (B. Jaspert, ebd., 210, gibt als solche „Leben Jesu“ an), kann leider nur begrenzt aus den Tagebuchaufzeichnungen von H. v. Campenhausen entnommen werden (vgl. Die „Murren“ des Hans Freiherr von Campenhausen. „Erinnerungen, dicht wie ein Schneegestöber“. Autobiografie, hg. v. R. Slenczka, Norderstedt 2005, 78). – Alle Erinnerungen und Erwägungen zusammentragend kann Folgendes vermutet werden: B. hat tatsächlich 1920 das Jesus-Buch in seinem Haupttext – mit nur Kennzeichnung, aber ohne Ausführung der Bibelstellen und den Zwischenverbindungen zu denselben – geschrieben (woraus sich etwa die .Hälfte des gedruckten Textes ergibt). Dann ließ er das Manuskript außer Verwendung in Lehrveranstaltungen liegen (wofür auch die schwierige Situation für Veröffentlichungen in der Inflationszeit beigetragen haben mag), bis die Anfrage bzgl. eines Jesus-Buches ihn erreichte. Daraufhin hat er dann das MS etwa 1924/25 vervollständigt und auch die – in der 1. Aufl. gewünschten – Bildbeigaben ausgewählt. Im Nachwort der 1. Aufl. (S. 201) findet sich ein „beabsichtigter“ Druckfehler: „nach Abschluß des Manuskripts (April 1905)“, der indirekt anzeigen sollte, daß B. sein Jesus-Buch viel früher im wesentlichen konzipiert hatte. Der Titel der 1. Aufl.: „Jesus“, von D. Rud. Bultmann, Deutsche Bibliothek, Berlin 1926 in der Reihe „Die Unsterblichen. Die geistigen Heroen der Menschheit in ihrem Leben und Wirken“. Mit zahlreichen Illustrationen, Band 1.

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schichtliche Vorarbeiten in den 20er Jahren⁴³ gingen der Auslegung voraus, ehe dann von 1937 bis 1941 „Das Evangelium nach Johannes“ in 18 Einzellieferungen erschien. Unterliegen heute vor allem Bultmanns Quellenkonstruktion, seine Einschätzung kirchlicher Redaktion und die religionsgeschichtliche [13] Einordnung dieses Evangeliums⁴⁴ teilweise berechtigter Kritik, so ist doch der existentiell theologische, den Menschen vor dem Offenbarer zur Entscheidung herausfordernde Bezug und Impetus in der Auslegung maßgebend geblieben. Die hohe seelsorgerliche Bedeutung, die dieser Kommentar im Kirchenkampf des „Dritten Reiches“ gemeindestärkend erlangte, ist auch heute noch – und nicht nur im Rückblick – hervorzuheben. Daß die implizite Grundlegung der „Entmythologisierung“ schon in Bultmanns Vorarbeiten zu diesem Kommentar in den 20er Jahren und in diesem selbst zu finden ist und daß die legitime oder auch nicht legitime Rückfrage hinter das Kerygma zukunftsweisend erörtert wurde (vgl. z. B. 103 u. ö.), erwies sich als wirkungsmächtig.⁴⁵ Und nach Hans-Martin Schenke gewinnt sogar die religionsgeschichtliche Adäquatheit der Rekonstruktion und Konstruktion Bultmanns aufgrund der Nag Hammadi-Texte erneut Beachtung.⁴⁶ Im Jahr des Entstehens der Abschlußlieferung der Auslegung des Johannesevangeliums hielt Bultmann in Alpirsbach seinen berühmten Vortrag „Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung“ (1941)⁴⁷ im Verbund mit zwei weiteren von ihm gehaltenen Vorträgen.⁴⁸ Alle drei Vorträge gehören zusammen.⁴⁹ Erst die Isolierung

 Vgl. z. B. Bultmann, Exegetica (s. Anm. 36), 10 ff.55 ff.124 ff.; und ebd., 230 ff., die Rezension „Johanneische Schriften und Gnosis“ und viele Einzelstudien.  Bultmanns Anliegen ist vielfach mißverstanden worden: Der Verfasser des Evangeliums bedient sich gnostischer Redeweise, um theologisch in antignostischer Argumentation zu wirken.  Genau 50 Jahre nach Abschluß des Verlagsvertrags erschien R. Bultmann, Die JohannesBriefe, KEK 14, Göttingen ¹1967 (²1968), worin B. erneut die verschiedene Verfasserschaft von JohEv und 1Joh begründet (9), da sich 1Joh im Unterschied zum Evangelium gegen eine innergemeindliche Gegnerschaft wende. Auch in diesem Kommentar kann B. – allerdings mit Modifikationen – auf Vorarbeiten in den 20er Jahren zurückgreifen (49 Anm. 2). – B. stellte in seinen Kommentaren keine „Einleitungs“-Abschnitte voran, da sich der Sachverhalt aus der Einzelkommentierung der jeweiligen Schrift ergeben müsse (9). Doch hat er die entsprechenden Darlegungen geboten in: R. Bultmann, Art. Johannesbriefe, RGG3 3, 1959, 836 – 839; Art. Johannesevangelium, ebd., 840 – 850.  Vgl. H.-M. Schenke, Die Rolle der Gnosis in Bultmanns Kommentar zum Johannesevangelium in heutiger Sicht, in: Protokolle der Tagung der „Alten Marburger“ in Hofgeismar 2.– 5. Januar 1991, 49 – 83, 74.  Zur Vorgeschichte vgl. K. W. Müller, Zu Rudolf Bultmanns Alpirsbacher Vortrag über „Theologie als Wissenschaft“, ZThK 81, 1984, 470 f.  R. Bultmann, „Die Frage der natürlichen Offenbarung“ und „Theologie als Wissenschaft“.

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und spätere Einzelveröffentlichung des Vortrags über die „Entmythologisierung“⁵⁰ löste die Jahrzehnte dauernde Debatte aus.⁵¹ Im Vollzug der Entmythologisierung geschieht nicht Eliminierung, sondern Interpretation [14] des Mythos auf seinen Sachgehalt hin. Es geht in ihr um ein herausforderndes hermeneutisches Prinzip, das der Lutheraner Bultmann dahin weitet: „die radikale Entmythologisierung ist die Parallele zur paulinisch-lutherischen Lehre von der Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werk allein durch den Glauben. Oder vielmehr: sie ist ihre konsequente Durchführung für das Gebiet des Erkennens“; „jede falsche Sicherheit und jedes falsches Sicherheitsverlangen“ wird zerstört.⁵² „Die Frage nach der Wahrheit des Mythos“⁵³ ist eine existentielle, und diese „Wahrheit bejaht der Glaube, der nicht auf die Vorstellungswelt des Neuen Testaments verpflichtet werden darf“.⁵⁴ In „Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus“ (SHAW.PH 3, 1960) begründet Bultmann besonders im Gespräch mit seinen eigenen Schülern, daß er nicht das Recht, wissenschaftlich historisch nach dem Jesus der Geschichte zurückzufragen, sondern allein die theologische Relevanz solcher Rückfrage für den Glauben bestreite. Die zusammenfassende Forschung seines Lebens liegt in zwei Werken vor. Es sind die religionsgeschichtlich Judentum und Hellenismus materialreich darbietende und umfassende Darstellung „Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen“ (1949) und die „Theologie des Neuen Testaments“ (1948 – 1953 in Lieferungen, 91984). Der Aufbau (Erster Teil: I. Die Verkündigung Jesu [zur Vorgeschichte einer ntl. Theologie gerechnet]; II. Das Kerygma der Urgemeinde; III. Das Kerygma der hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus. – Zweiter Teil: Die Theologie des Paulus und Johannes. – Dritter Teil: Die Entwicklung zur alten

 „Die Frage der natürlichen Offenbarung“ und „Neues Testament und Mythologie …“ erschienen in R. Bultmann, Offenbarung und Heilsgeschehen, BEvTh 7, München 1941; „Theologie als Wissenschaft“, ZThK 81, 1984, 447– 469.  In: Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch, hg. v. H. W. Bartsch, ThF 1, Hamburg 1948, 15 – 53; „Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung“, Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung, hg. v. E. Jüngel, BEvTh 96, München 1985.  Vgl. die von H. W. Bartsch herausgegebenen Bände von „Kerygma und Mythos“. Ein theologisches Gespräch, Bd. 1– 7, Hamburg 1948 – 1979; dazu R. Bultmann, „Zu J. Schniewinds Thesen …“ (Bd. 1, 1948, 135 – 153); „Zum Problem der Entmythologisierung“ (Bd. 2, 1952, 179 – 208).  Bultmann, Kerygma und Mythos (s. Anm. 51), Bd. 2, 207.  Vgl. E. Gräßer, Notwendigkeit und Möglichkeiten heutiger Bultmannrezeption, ZThK 91, 1994, 272– 284, 276 (vgl. 273 f.).  Bultmann, Neues Testament und Mythologie (s. Anm. 49), 23.

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Kirche) hat wissenschaftsgeschichtlich bedeutende Vorläufer. Aber es gelingt Bultmann eine Konzeption, nach der „Glauben und Verstehen“ existentiell den Menschen trifft und nur dann sachgemäß von ihm und in anthropologischen Strukturen ihn kennzeichnend geredet werden kann, wenn zugleich von Gott gehandelt wird (191 f.). Überlegungen zur Geschichte im existentiellen Verstehen der Geschichtlichkeit des Daseins vertiefen kritisch herausfordernd die Gifford Lectures (1955), die in „Geschichte und Eschatologie“ (1958, ²1964 [ergänzt], englisch: „History and Eschatology“, 1957) vorliegen. Hier ist die Summe gegeben, die den Neutestamentler als universalen Geisteswissenschaftler zur Geltung bringt und auch den akademischen Lehrer charakterisiert, der sich mit den Ausführungen des Paulus im 2. Korintherbrief am stärksten identifizierte und diesen Brief am liebsten in Vorlesungen auslegte („Der zweite Brief an die Korinther“, erklärt von R. Bultmann, hg. v. E. Dinkler, KEK-Sonderband, 1976).⁵⁵ So gewiß die Forschung vielfach über Bultmann hinaus und auch in kritischer Auseinandersetzung mit ihm – was er selbst stets energisch gefordert hat – weitergegangen ist, unbestritten bleibt, daß der Marburger Gelehrte Maßstäbe [15] für die Neutestamentliche Wissenschaft gesetzt hat und daß sein Lebenswerk Anstöße gegeben hat, die noch immer der weiteren Aufarbeitung harren.⁵⁶

Schüler (Der Kreis reicht weit über eigene Doktoranden/Habilitanden hinaus): Günther Bornkamm (1905 – 1990); Erich Dinkler (1909 – 1981); Ernst Fuchs (1903 – 1983); Ernst Käsemann (1906 – 1998); Heinrich Schlier (1900 – 1978); Walter Schmithals (geb. 1923); Philipp Vielhauer (1914– 1977); dazu auch Philosophen wie Wilhelm Anz (1904 – 1994); Hans Jonas (1903 – 1993). Bibliographie: vollständiges Werksverzeichnis und nahezu vollständige Literatur über Bultmann auf der Internet-Seite der Rudolf Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutik e. V. http://www.univie. ac.at/Bultmann; W. Raupp, Art. Bultmann, Rudolf (Karl), BBKL 21, 2003, 174– 233, 187– 197; dazu: Neues Testament und christliche Existenz. Theologische Aufsätze, hg. v. A. Lindemann, UTB 2316, Tübingen 2002; Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, hg. v.

 Vgl. informierend und ergänzend: B.-G. Moon, Rudolf Bultmanns Ausführungen zum 1. Korintherbrief. Beiträge zur Rekonstruktion seiner Vorlesung, EHS.T 817, Frankfurt a. M. 2005.  Vgl. nur G. Klein, Rudolf Bultmann – ein unerledigtes theologisches Vermächtnis, ZThK 94, 1997, 177– 201; Gräßer, Notwendigkeit (s. Anm. 53); Bornkamm, In memoriam (s. Anm. 42), 236. – Unbearbeitet sind auch die wissenschaftlichen Briefe Bultmanns (etwa 20.000 Briefe, zumeist handschriftlich).

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M. Dreher u. K. W. Müller, Tübingen 2002. – Würdigungen: Internet-Seite der Rudolf BultmannGesellschaft (s.o.); W. Raupp (s.o.), 197– 233; H. Schmidt, Quellenlexikon der deutschen Literaturgeschichte. Personal- und Einzelbibliographie der internationalen Sekundärliteratur 1945 – 1990, Bd. 4, Duisburg 1995, 213 – 256; W. Baird, History of New Testament Research, Vol. 2: From Jonathan Edwards to Rudolf Bultmann, Minneapolis 2003, 280 – 286; M. Dreher, Rudolf Bultmann in seinen Rezensionen und Forschungsberichten. Kommentierende Auswertung, Beiträge zum Verstehen der Bibel 11, Münster 2005 (Lit.); J. Rohls, Rudolf Bultmanns frühe Marburger Theologie, in: Die Philipps-Universität Marburg zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, hg. v. Verein für hessische Geschichte u. Landeskunde e. V., Hess. Forschungen z. geschichtlichen Landes- u. Volkskunde 45, Kassel 2006, 63 – 83. – Nachlaß: Rudolf Bultmann (1884– 1976), Nachlaßverzeichnis bearb. v. H. Waßmann; J. M. Osterhof, A. E. Bruckhaus, Nachlaßverzeichnisse der Universitätsbibliothek Tübingen 2, Tübingen 2001. – Einen Film über R. Bultmann drehte das ZDF 1969.

Martin (Franz) Dibelius (1883 – 1947) Leben Martin Franz Dibelius wurde am 14. September 1883 in Dresden als Sohn des damaligen Pfarrers an der Annenkirche, dann Stadtsuperintendenten an der Kreuzkirche und späteren Oberhofprediger und Vizepräsidenten des Landeskirchenkonsistoriums Franz Dibelius und seiner Frau Martha, geb. Hoffmann, geboren.⁵⁷ Seine Mutter verstarb, als der Junge 3½ Jahre alt war. Unter einer [16] liebevollen Stiefmutter und einem ebenso konservativen wie weltoffenen Vater wuchs er als Einzelkind auf, von Jugend an durch seinen Vater mit der Vielfältigkeit des Lebens bis in politische Fragestellungen hinein vertraut gemacht.⁵⁸

 Vgl. die Autobiographie von M. Dibelius „Zeit und Arbeit“, in: E. Stange (Hg.), Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. V, Leipzig 1929, 1– 37; eine weitere Selbstdarstellung von Dibelius befindet sich im Heidelberger Nachlaß (Heid Hs 3814, I. C. 2). Dazu M. Wolfes, Schuld und Verantwortung. Die Auseinandersetzung des Heidelberger Theologen Martin Dibelius mit dem Dritten Reich. Mit einer aus dem Nachlaß herausgegebenen „Lebensbeschreibung“ aus dem Jahre 1946, ZKG 111, 2000, 185 – 209, 205 – 209; S. Geiser, Verantwortung und Schuld. Studien zu Martin Dibelius, Hamburger Theologische Studien 20, Münster 2001, 10 ff.40 ff. u. ö.; weiter auch zu biogr. Angaben: W. G. Kümmel, Martin Dibelius als Theologe, ThLZ 74, 1949, 129 – 140 (= ders., Heilsgeschehen und Geschichte. GA 1933 – 1964, MThSt 3, Marburg 1965, 192– 206 [zitiert nach ThLZ]; ders., Art. Dibelius, Martin (1883 – 1947),TRE 8, 1981, 726 – 729; M. Dibelius, Selbstbesinnung des Deutschen, hg. von F. W. Graf, Tübingen 1997, 51– 92.  Der Vater, Dr. phil. und Lic. theol., war vor seiner Dresdener Zeit PD für Kirchengeschichte in Berlin; vgl. im übrigen F. Blanckmeister, Franz Dibelius. Ein Leben im Dienst der Kirche, Dresden 1925; P. W. Gennrich, Art. Dibelius, Franz Wilhelm (1847– 1924), NDB 3, 1971, 631 f.

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Nach dem Abitur 1901 folgte ein Bildungs- und Sprachsemester in Neuchâtel, anschließend studierte er in Leipzig, Tübingen und Berlin Theologie (und Philosophie) und legte 1905 sein 1. theologisches Examen ab. Von Hermann Gunkel (1862 – 1932) religionsgeschichtlich, aber weitaus mehr von Adolf (v.) Harnack methodisch und (geistes‐)wissenschaftlich geprägt sind für ihn Grundlagen gelegt, die unmittelbar schon früh sein Werk kennzeichnen. Mit einer thematisch eigenständig gewählten, aber von Gunkels Forschungen angeregten und von diesem begleiteten Arbeit über „Die Lade Jahwes. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung“ (FRLANT 7, 1906) wurde er unter Betreuung des Semitisten Christian Seybold am 9. Februar 1906 in Tübingen zum Dr. phil. promoviert. Mit einem ebenfalls selbst gewählten Thema „Die Geisterwelt im Glauben des Paulus“ (1909), dem der Systematiker und Neutestamentler Otto Pfleiderer (1839 – 1908) freundlich zustimmte und diese Untersuchung als Lizentiatenarbeit annahm, wurde er am 6. März 1908 in Berlin zum „Lic. theol.“ promoviert. Mit einer dritten, selbst gewählten Untersuchung „Die urchristliche Überlieferung von Johannes dem Täufer“ (FRLANT 15, 1911), die er bereits Ende 1908 einreichte, wollte er sich in Berlin habilitieren. Das scheiterte zunächst am Widerstand von Bernhard Weiß (1827– 1918), doch Adolf Deißmann (1866 – 1937) – im Verbund mit Harnack – ermöglichte aufgrund der Lizentiatenarbeit die Habilitation, die am 10. Februar 1910 in Berlin vollzogen wurde. 1908 hatte er Dora Wittich aus Dresden geheiratet. Den Lebensunterhalt – auch für die junge Familie (mit nachmals 5 Kindern, von denen eines wenige Tage nach der Geburt starb) – erwarb er durch Tätigkeit an verschiedenen Berliner höheren Schulen, vor allem aber an einem privaten Lehrerinnenseminar, an dem er neben Religion auch deutsche Literatur zu unterrichten hatte. Das sah er als eine „zwar zeitraubende, aber doch höchst fruchtbringende Beschäftigung“ an. Aber diese führte ihn seit jener Zeit lebenslang zu einer nicht geringen Anzahl literaturwissenschaftlicher Veröffentlichungen.⁵⁹ [17] Zum 1. April 1915 wurde er als Nachfolger von Johannes Weiß (1864– 1914) nach Heidelberg berufen.⁶⁰ Hier blieb der Gelehrte bis zu seinem Tode, obwohl ein Ruf nach Bonn 1928 perspektivenreich (aber durch damalige Bonner Fakultätsverhältnisse auch belastend) für ihn war; ein Ruf nach Chicago 1940 wurde zeitbedingt annulliert; einen Ruf nach Berlin 1947 mußte der damals schon schwerst Erkrankte absagen. Am 11. November 1947 starb Dibelius an Tuberku-

 Dibelius, Zeit und Arbeit (s. Anm. 57), 21 [dort Zitat] und 21 Anm. 1; vgl. auch Geiser, Verantwortung (s. Anm. 57), 310 ff. (Bibliogr.).  Die Berufungsliste lautete: 1) W. Bousset; 2) W. Heitmüller; 3) M. Dibelius. Bousset wurde vom Ministerium übergangen; Heitmüller lehnte ab.

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lose, die er sich im letzten Kriegsjahr zugezogen und die ihn zunehmend geschwächt hatte. Der schon in Berliner Tagen dem Kreis um Friedrich Naumann (1860 – 1919) Verbundene trat noch 1918 in die gerade gegründete „Deutsche Demokratische Partei“ (DDP) ein (wie z. B. auch W. Bousset und E. Troeltsch).⁶¹ Dibelius wirkte durch persönliches Auftreten und literarisch vielfach in der Weimarer Republik für eine demokratische Neugestaltung und erwies sich politisch klaren Blicks umund weitsichtig als aufrechter Demokrat gegenüber dem Nationalsozialismus. Trotz Hausdurchsuchungen 1933/34 mit teilweiser Beschlagnahme der Korrespondenz, zeitweiligem Paßentzug 1937, Kürzungen der Bezüge um ein Drittel (seit 1933) konnten die damaligen Machthaber nicht immer verhindern, dem international renommierten Gelehrten und dem der ökumenischen Arbeit Verpflichteten doch mehrfach Auslandsreisen zu ökumenischen Tagungen und fachbezogenen Veranstaltungen/Vorlesungen zu genehmigen. Besonders Englandaufenthalte seit 1926 vermittelten Dibelius vorzügliche Einblicke, ebenso 1937 seine Vorlesungen in Yale und zwölf anderen Städten in den Vereinigten Staaten. Ein 1939 geplanter und für 1940 genehmigter mehrmonatiger Aufenthalt in Chicago kam letztlich nicht zustande.⁶² – Nach dem Krieg wurde Dibelius als völlig Unbelasteter sofort von den Amerikanern zu zahlreichen Aufgaben der Neuorientierung in Universität und Stadt herangezogen. Wirken im demokratischen Geiste aus politisch-ethischer, kirchlicher und wissenschaftlicher Verantwortung verbanden sich bei ihm mit rein fachbezogener Forschung. Im sich isolierenden Spezialistentum sah Dibelius eine Verengung des in Leben und Welt stehenden Hochschullehrers. Er selbst verstand sich als kritischer Liberaler wie als historisch-kritischer Wissenschaftler seines Fachgebietes. Sich ganz der Tagespolitik zu widmen, widersprach seiner Auffassung vom gewählten Beruf,⁶³ den er sehr ernst nahm und jedes Semester in der Regel 10 – 12stündig Lehrveranstaltungen hielt (auch in der Zeit starker zusätzlicher Beanspruchung durch das Rektorat 1927/28, das er monatelang als Prorektor weiterführen mußte, da sein Nachfolger im Amt verstarb).

Werk und Wirkung Ohne diese skizzierte Verbindung ist sein literarisches Werk nicht in den Griff zu bekommen. Seine zahlreichen Artikel in Tageszeitungen, seine Aufrufe und

 Er verließ sie aber 1930 wegen politischen Richtungswandels innerhalb der DDP.  Geiser, Verantwortung (s. Anm. 57), 97 ff.  Dibelius, Zeit und Arbeit (s. Anm. 57), 30.

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[18] Vorträge zur Einschätzung der politischen und geistigen Lage spiegeln sein Denken. Hingewiesen sei nur auf seine „Erklärung“ und Aufrufe gegen den Antisemitismus (1919; 1930), seine Wahlreden für die DDP, sein Eintreten für Wilhelm Marx als Reichspräsidenten (1926).⁶⁴ Herausragend sind zwei größere Vorträge aus dem Nachlaß: „Die Krisis der europäischen Kultur“;⁶⁵ „Die Zersetzung des Bürgertums“⁶⁶ und – schon im Krankenlager verfaßt – die Studie „Selbstbesinnung des Deutschen“.⁶⁷ Reiches historisches Wissen verbindet sich in letzterer mit dem Nachweis, daß der Nationalsozialismus nicht ohne erkennbare Vorgeschichte über Deutschland hereinbrach. Für den Neutestamentler Dibelius sind „Religionsgeschichte, Literaturgeschichte und Geschichte der Ethik“ die tragenden Forschungsgebiete.⁶⁸ Schon die Untersuchung über die „Lade Jahwes“ zeigt das spezielle Interesse, das über das Aufspüren von „Parallelen“ hinausstrebt. Sein Leitgedanke „Sehen und Deuten ist des Historikers Aufgabe“⁶⁹ bestätigt sich in „Die Geisterwelt im Glauben des Paulus“ (1909), wobei die Bedeutung der jüdischen wie hellenistischen Dämonenwelt für das Denken des Paulus in kosmischer Weite erkannt und zugleich für das genuin theologische Anliegen des Apostels eingebracht wird, wie dann weitreichend der Kommentar zum Kol auch in der christologischen Zentrierung hervorhebt.⁷⁰ Religionsgeschichtliche Auswertung zur Profilierung des theologischen Ansatzes des Paulus zeigen seine weiteren Kommentare im „Handbuch zum Neuen Testament“.⁷¹ Weiterführende Untersuchungen zur vor-

 Auflistung mit Jahresangaben bei Geiser, Verantwortung (s. Anm. 57), 285 ff.  Geiser, Verantwortung (s. Anm. 57), 75 – 96 [Erstedition]; völlig unterschätzt werden die Ausführungen von J. H. Claussen, Zeitlose Zeitkritik. Martin Dibelius über „Krisis der europäischen Kultur“, FAZ vom 29. 8. 2001 (Nr. 200), Seite N 6, da der Kontext, in den Dib. seine Ausführungen stellt, ausgeblendet bleibt, der u. a. in seiner Rektoratsrede „Urchristentum und Kultur“ vom 22.11.1927 bereits skizziert ist.  In: F. W. Graf (Hg.), Martin Dibelius über die Zerstörung der Bürgerlichkeit. Ein Vortrag im Heidelberger Marianne-Weber-Kreis 1932, ZNThG/JHMTh 4, 1997, 114– 153, 137– 153.  Hg. v. F. W. Graf (s. Anm. 57), 1– 48 mit einem „Nachwort des Herausgebers“ (51– 92).  So Dibelius, Zeit und Arbeit (s. Anm. 57), 35 (dort im Sperrdruck).  So M. Dibelius in der Rezension von W. Bousset, Kyrios Christos …, 1913, ChW 28, 1914, 291 ff., 294.  M. Dibelius, Die Briefe des Apostels Paulus. An die Kolosser, Epheser. An Philemon, HNT 3, Teil II/2, Tübingen 1912; ²1927; ³1953 (bearb. v. H. Greeven).  M. Dibelius, Die Briefe des Apostels Paulus. An die Thessalonicher. An die Philipper, HNT 3, Teil II/1, Tübingen 1911; ²1925; ³1937 (wobei die theol. Neubearbeitung des Philipper-Hymnus [nach Erscheinen von E. Lohmeyers ‚Kyrios Iesus‘, 1928] herausragt); Die Briefe des Apostels Paulus. An Timotheus I/II. An Titus, HNT 3, Teil II/3, Tübingen 1913; ²1931; ³1955 (neu bearb. v. H. Conzelmann); dto. 41966.

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nehmlich hellenistischen Religionsgeschichte⁷² und zahlreiche einschlägige Rezensionen vertiefen seine diesbezüglichen Forschungen. Wirksame Anregungen von Hermann Gunkel und germanistische Zugänge zur Volksliteratur durch Axel Olrik, verbunden mit eigenen Überlegungen, [19] deren erste Erwägungen in seinem Werk über „Johannes den Täufer“ (1911) Eingang fanden, führten Dibelius zur Untersuchung vorliterarischer Formbildung und mündlicher Gestaltwerdung des Evangelienstoffes. Aus der „Form“ konstruktiv „das Wesen der Geschichte der Tradition zu erschließen“,⁷³ nötigte ihn, die exegetisch-theologischen Konsequenzen der Eruierung von Tradition und Komposition historisch – doch gleichwohl „geschichtskritisch“⁷⁴ – in den Perspektiven für die Evangelien und für das Urchristentum unter Einschluß soziologischer Fragestellungen zu bedenken. Sein Grundlagenwerk „Die Formgeschichte des Evangeliums“ (1919)⁷⁵ gab einer ganzen Forschungsrichtung den Namen⁷⁶ (vgl. zu M. Albertz; R. Bultmann; K. L. Schmidt). Dibelius wandte die formgeschichtliche Arbeit auch auf die übrigen Schriften des Neuen Testaments an, besonders bei den Paulusbriefen und in der Apostelgeschichte.⁷⁷ Auch für das Johannesevangelium sieht er in dem „Neben- und Ineinander von Tradition und Komposition eine Erklärung für viele Anstöße“, die den „literarkritischen Bearbeitungshypothesen“ vorzuziehen sind und auch der religionsgeschichtlichen Einheit dieses Evangeliums eher gerecht werden.⁷⁸ Seine ursprünglich in englischer Sprache gehaltenen und veröffentlichten Vorlesungen (1935) über „Evangelienkritik und Christologie“

 M. Dibelius, Botschaft und Geschichte, Bd. II. Zum Urchristentum und zur hellenistischen Religionsgeschichte, in Verbindung mit H. Kraft hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 1956; vgl. ders., Botschaft u. Gesch., Bd. I (s. Anm. 79), 1– 78.  Dibelius, Zeit und Arbeit (s. Anm. 57), 17 ff.; ders., Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 1919, 1– 4.94 ff.  Vgl. W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/ 3, Freiburg 1958, ²1970, 423.  Zweite, erweiterte Aufl. Tübingen 1933; ³1959 mit Nachträgen von G. Iber, hg. v. G. Bornkamm (seitdem Nachdrucke).  Inwieweit Dibelius auf direkte Anregungen für seinen gebündelten Begriff Bezug nehmen konnte, ist nicht geklärt. Seit den patristischen Forschungen von F. Overbeck und den klassischphilologischen von E. Norden lag die Bezeichnung „in der Luft“. Möglicherweise hat er von dem auch religionsgeschichtlich nicht unwichtigen Werk seines archäologischen Kollegen P. Jacobsthal, Der Blitz in der archäologischen und griechischen Kunst. Eine formgeschichtliche Untersuchung, Berlin 1906, Kenntnis gehabt.  M. Dibelius, Zur Formgeschichte des Neuen Testaments (außerhalb der Evangelien), ThR N. F. 3, 1931, 207– 242.  M. Dibelius, Art. Johannesevangelium, RGG² 3, 1929, 349 – 363, 354 f.

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zeigen die gesamttheologische Aufgabe dieser Forschungen.⁷⁹ In „Die Botschaft von Jesus Christus. Die alte Überlieferung der Gemeinde in Geschichten, Sprüchen und Reden“ (1935) erklärt er dem Laien verständlich die Methode, ihre historische Relevanz. Er bietet als Ergebnis eine vorzügliche Übertragung der ältesten Überlieferung ins Deutsche. – In seinem Büchlein „Jesus“ (1939)⁸⁰ fand die Evangelienforschung von Dibelius eine zu seiner Zeit viel beachtete abrundende Auswertung,⁸¹ nicht jedoch die durch die formgeschichtliche Fragestellung ausgelösten und ihm vor Augen stehenden weiteren Aufgaben. Die Forderung nach einer literaturgeschichtlichen Gesamterfassung des urchristlichen Schrifttums, die bewußt über die Grenzen des neutestamentlichen Kanons hinausgeht, hatte zwar Dibelius bereits in [20] „Geschichte der urchristlichen Literatur“: I.: „Evangelium und Apokalypsen“; II.: „Apostolisches und Nachapostolisches“ (1926)⁸² skizziert, aber eine allseits begründete, umfassende Darstellung zur Thematik zu verfassen, war ihm nicht mehr vergönnt.⁸³ – Dies gilt ebenso für seine aus der Konzeption der Formgeschichte eruierten Einzeluntersuchungen zur Apostelgeschichte, deren Analyse Dibelius zu weitreichenden Schlüssen hinsichtlich Tradition, Komposition und Redaktion Anlaß gaben, die er gerne zu einem Gesamtbild und zu einer neuen Sicht der Apg gerundet hätte.⁸⁴ – Gleichfalls unabgeschlossen blieb sein, aber von Werner Georg Kümmel in seinem Sinne zu Ende geführtes Büchlein „Paulus“.⁸⁵ Seine hier dargelegte Gesamtsicht entsprach der Forschung in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts in übersichtlicher und dem Laien verständlicher Weise. Auch die Erforschung der Ethik des Neuen Testaments (und ihrer Konsequenzen) gehört für Dibelius in die Entfaltung und Auswirkung seiner formgeschichtlichen Untersuchungen. Schon in seinen oben genannten Kommentaren zu den kleineren Paulusschriften liegt ein Schwerpunkt auf der Herleitung und Herausarbeitung paränetischer Bezüge (z. B. bei der „Haustafel“ im Kol). Auch wirkungsgeschichtlich maßgebend wurde sein Nachweis, daß sich der Jakobusbrief nur aus der Eruierung paränetischen Gutes hellenistischer wie jüdischer  In: Botschaft und Geschichte, Bd. I: Zur Evangelienüberlieferung, in Verbindung mit H. Kraft hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 1953, 293 – 358, bes. 357; vgl. 299 u. ö.  In: SG 1130, ²1949 (nach zuvorigem Nachdruck 1947), ³1960 mit Nachtrag v. W. G. Kümmel.  Vgl. A. Fridrichsens Bespr. in ThLZ 64, 1939, 446 ff.  In: SG 943.935, ²1975 (mit Berücksichtigung der Änderungen in der englischen Übersetzung von 1936, hg. v. F. Hahn), ³1990 (als Taschenbuch).  Doch vgl. in seinem Sinne das Werk seines Schülers P. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur …, Berlin 1975 (²1978).  M. Dibelius, Aufsätze zur Apostelgeschichte, hg. v. H. Greeven, FRLANT 42, Göttingen 1951 (und Nachdrucke).  In: SG 1160, Berlin 1951, 41970.

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Prägung, also aus Einzeltraditionen paränetischen Inhalts erklären lasse und dies auch für den insgesamt lockeren Aufbau dieses Schreibens bestimmend sei.⁸⁶ Methodisch war damit für Dibelius zugleich die Basis gelegt, in seinem Kommentar zum „Hirten des Hermas“ (1923)⁸⁷ über die religionsgeschichtlich diffizile Einordnung hinaus gerade die paränetischen Partien dieser Schrift in ihrer Wandlung vom Urchristentum in die frühkatholische Zeit zu orten und darzulegen, wie sehr die Paränese hier zum tragenden Gerüst der Ausführungen geworden ist. Wenn auch Dibelius’ Plan einer „Geschichte der Ethik des Urchristentums“ nicht mehr zur Ausführung gelangte, so hat er in „Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum“ (1925, ²1929 unter dem vielleicht eingängigeren Titel „Evangelium und Welt“) eine zusammenfassende Problemaufbereitung geboten, in der zudem am eindringlichsten seine sämtlichen Studien zur Ethik bestimmende Frage, nämlich „das Problem des Verhältnisses der urchristlichen Naherwartung des Endes zur Weltgestaltung“ in den [21] Blick tritt.⁸⁸ Sein weitgreifendes Anliegen umreißt er so: „Die Untersuchung der urchristlichen Paränese … führt … zu einer kulturgeschichtlichen Aufgabe: es gilt den Beziehungen der urchristlichen Ethik zur außerchristlichen nachzugehen und auch auf solche Weise das wesenhaft Christliche und das Unter- und Außerchristliche zu scheiden. Sie führt aber auch zu der grundsätzlichen Erkenntnis, daß jede christliche Generation eine neue Ethik zu schaffen hat, aus dem Motiv des christlichen Ethos heraus, aber auch im Durcharbeiten der zeitbedingten ›Verhältnisse‹“.⁸⁹ Dieses Werk, dessen inhaltliche Kernaussage aktuellen Gegenwartsbezug behalten hat, so gewiß berechtigte Anfragen an Durchführung und Begrifflichkeit seinerzeit zum Teil heftig geäußert wurden,⁹⁰ ist sachlich flankiert

 M. Dibelius, Der Brief des Jakobus, KEK 15, Göttingen 1921, ³1956 hg. mit Erg.-Heft v. H. Greeven (weitere Nachdrucke).  HNT, Erg.-Bd. 4, Tübingen 1923.  Vgl. W. G. Kümmel, Art. Dibelius, Martin (1883 – 1947), NDB 3, 1971, 632; H. K. Chang, Neuere Entwürfe zur Ethik des Neuen Testaments im deutschsprachigen Raum. Ihre Sichtung und kritische Würdigung, Diss. theol. Erlangen 1995 (Fotodruck), 23 ff.40 f.  M. Dibelius, Zeit und Arbeit (s. Anm. 57), 31; vgl. ebd., 25 f.: „Die formgeschichtliche Analyse, die den Verweltlichungsprozeß im urchristlichen Schrifttum deutlich macht, mündet in eine Besinnung auf den Eigenbesitz des Christentums.“  Zur kritischen Würdigung insgesamt: Kümmel, M. Dibelius als Theologe (s. Anm. 57), 137 f.; Chang, Neuere Entwürfe (s. Anm. 88), 33 ff.; bes. R. Bultmann, Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Urchristentum, in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen 1933, 4 1961, 65 – 85, doch gleichwohl mit der Feststellung, daß die Untersuchung „eine der bedeutsamsten Erscheinungen dieser Jahre“ darstelle (zu Bultmanns Ausführungen vgl. Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker [s. Anm. 28], 262– 273); mit richtigen Beobachtungen, aber zu verkürzt ist

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von Dibelius’ Rektoratsrede „Urchristentum und Kultur“ (vom 22. November 1927)⁹¹ und ins Leben übertragen in der Zuspitzung auf soziale Fragen, z. B. „Das soziale Motiv im Neuen Testament“ (1934)⁹² und „Altes und Neues Testament als Quelle sozialer und politischer Lehre“⁹³ und in einer kritischen Analyse der Bergpredigt in Bezug auf die heutige Welt.⁹⁴ In den Bereich der Paränese gehört auch die Akademieabhandlung „Rom und die Christen im ersten Jahrhundert“ (1942),⁹⁵ in der exegetisch und historisch die ethischen Konsequenzen im Verhalten zum Staat entfaltet werden. Die Hintergründigkeit der Studie zeigt ihr Erscheinungsjahr, noch deutlicher der kurze Artikel „Nero und die Christen“.⁹⁶ [22] Auch die Abhandlung „Der ‚psychologische Typus des Erlösers‘ bei Friedrich Nietzsche“ (1944) ist eindeutig hintergründig gegen das nationalsozialistische Denken und Handeln gerichtet.⁹⁷ Zwei Auftragswerke haben Dibelius während des Krieges herausgefordert: a) „Wozu Theologie? Von Arbeit und Aufgabe theologischer Wissenschaft“ (1941) ist als dringender Ruf und damals aktuelle Mahnung zu verstehen, im Gegensatz zu den Plänen nationalsozialistischer Umgestaltung (und Beseitigung) theologischer Fakultäten im Raum der Universitäten diese als geistig bestimmenden Faktor zu belassen. Daß der Verfasser sich dabei mehrfach der Sprache seiner Gegner als Argumentationshilfe gegen diese bediente, wie das schon nach seinen eigenen Nachweisen in seinen Kommentaren zu den kleineren Paulusbriefen der Apostel selbst gegenüber seinen Kritikern tat und dies auch sonst in den urchristlichen Schriften nicht unüblich war,⁹⁸ ist zu Unrecht als Anbiederung an das Gedankengut des „Dritten Reichs“ mißverstanden worden.⁹⁹ die Charakterisierung von V. Lubinetzki, Knechtsgestalt des Neuen Testaments. Beobachtungen zu seiner Verwendung und Auslegung in Deutschland vor dem sowie im Kontext des „Dritten Reichs“, Münster 2000, 154 ff.  = Heidelberger Univ.-Reden 2, 1928.  Dibelius, Botschaft und Geschichte, Bd. I (s. Anm. 79), 178 – 203.  M. Dibelius, Altes und Neues Testament als Quelle sozialer und politischer Lehre, vervielfältigt als Studienbrief des AstA Heidelberg, Referat Kriegsgefangenenbetreuung, in: Theologische Reihe Brief 1, Heidelberg 1947, 1– 16.  „Die Bergpredigt“ in: Dibelius, Botschaft und Geschichte, Bd. I (s. Anm. 79), 79 – 174; vgl. auch Chang, Neuere Entwürfe (s. Anm. 88), 33 ff.46 f.  In: Dibelius, Botschaft und Geschichte, Bd. II (s. Anm. 72), 177– 228, 181 f.  M. Dibelius, Nero und die Christen, FuF 18, 1942, 228 f.  M. Dibelius, Der „psychologische Typus des Erlösers“ bei Friedrich Nietzsche, DVfLG 22, 1944, 61– 91; vgl. auch Geiser, Verantwortung (s. Anm. 57), 189 – 224, bes. 215 ff.218 ff.  Vgl. M. Dibelius, Rom und die Christen, Heidelberg 1942, 219 Anm. 99.  So etwa Lubinetzki, Knechtsgestalt (s. Anm. 90), 315; vgl. zutreffend Kümmel, M. Dibelius als Theologe (s. Anm. 57), 140; im übrigen O. Merk, „Viele waren Neutestamentler“. Zur Lage

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b) Der anderen Auftragsarbeit „Britisches Christentum und britische Weltmacht“ (1940)¹⁰⁰ konnte Dibelius als damals bester Kenner der angelsächsischen Welt unter den Neutestamentlern dienen¹⁰¹ und möglicherweise durch seine Autorschaft sogar verhindern, daß ein „Parteimann“ diese Schrift verfaßte. Aber die damalige Kriegssituation mußte notwendig einen falschen Eindruck seiner Ausführungen und auch Begrifflichkeit erwecken, so gewiß der Verfasser auch hier vielfach hintergründig aus historischer, theologischer und literarischer Kenntnis Englands wissenschaftlich objektiv die Sachlage zu erfassen suchte und er sich jeglicher Form feindseliger Polemik enthielt,¹⁰² was in der Wirkungsgeschichte dieser Schrift nicht immer in gleicher Weise nachvollzogen wurde (oder werden konnte).¹⁰³ [23] Versöhnlich und auch die Tiefen seines Denkens mitschwingen lassend ist sein Beitrag „Individualismus und Gemeindeaufbau in Johann Sebastian Bachs Passionen“.¹⁰⁴ Im August 1947, wenige Wochen vor seinem Heimgang, schreibt er die Zeilen:¹⁰⁵ Was Du an Leiden, was Du an Plagen mir auferlegt hast, laß es mich nehmen, laß es mich tragen:

neutestamentlicher Wissenschaft 1933 – 1945, ThLZ 130, 2005, 106 ff., 117 f. (in diesem Band S. 69 – 88); Geiser, Verantwortung (s. Anm. 57), passim; zur Einordnung der Ausführungen von Dibelius vgl. die Besprechung vom L. Fendt, ThLZ 67, 1942, 193 ff. Dibelius wurde in Heidelberg gerade auch wegen der genannten Form kritischer Auseinandersetzung mit seinen politischen Gegnern als der „klügste Kopf“ für gezielte Widerlegung nationalsozialistischen Gedankenguts bezeichnet. Den damaligen Machthabern galt er als „gefährlich“.  In der Reihe: Das Britische Reich in der Weltpolitik 21. Schriften des deutschen Instituts für außenpolitische Forschung und des Hamburger Instituts für auswärtige Politik 36, Berlin 1940.  Vgl. schon Dibelius, Zeit und Arbeit (s. Anm. 57), 32 f. (dort bereits Hinweise, die in die spätere Schrift eingingen).  Vgl. zu vielen Einzelheiten Geiser, Verantwortung (s. Anm. 57), 141– 188, bes. 159 ff.168 ff.; weiterhin M. Dibelius, Protestantismus und Politik, Die Wandlung (Monatsschrift) 2, 1947, 30 – 45.  Ob Dibelius besser getan hätte, den Auftrag abzulehnen und diese Schrift nicht zu verfassen, ist aus heutiger Sicht leichter gefragt und gesagt als aus damaliger Zeit und Lage des Verfassers heraus beurteilt. – Diese Schrift nimmt eine Sonderstellung im Werk von Dibelius ein, an der die Siegermächte 1945 und auch weiterhin keinen Anstoß nahmen.  Dibelius, Botschaft und Geschichte, Bd. 1 (s. Anm. 79), 358 – 380.  Zu Nachweisen im Heidelberger Nachlaß und Abdruck vgl. Geiser, Verantwortung (s. Anm. 57), 282.

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Heilige Last.¹⁰⁶ Was Du geboten, lehr mich erfüllen! Was ich begehrte, lehr mich stillen! Lösest Du einst der Befangenheit Schranken, werd ich Dir danken.

Martin Dibelius hat ein Werk hinterlassen, dessen zukunftsweisende Anstöße für die neutestamentliche Wissenschaft bis in die Gegenwart hinein der weiteren Aufarbeitung bedürfen.¹⁰⁷

Schüler Hans-Werner Bartsch (1915 – 1983); Werner Georg Kümmel (1905 – 1995); Ernst Lohmeyer (1890 – 1946); Helga Rusche; Hans-Werner Surkau (1910 – 1993); Philipp Vielhauer (1914– 1977); Heinz-Dietrich Wendland (1900 – 1992). – H. Greeven ist kein unmittelbarer „Schüler“, aber Dibelius nahestehend. Bibliographie: bei S. Geiser, Verantwortung und Schuld. Studien zu Martin Dibelius, Hamburger Theologische Studien 20, Münster 2001, 310 – 345. – Würdigungen: Auflistung bei Geiser, Verantwortung (s.o.), 346 – 363; O. Merk, Art. M. Dibelius, Literaturlexikon, hg. v.W. Killy, Bd. 3, 1989, 35 f.; F. W. Graf (Hg.), M. Dibelius, Die Selbstbesinnung des Deutschen, Tübingen 1997, 51 Anm. 1. Weiter sind heranzuziehen: W. G. Kümmel, Martin Dibelius als Theologe, ThLZ 74, 1949, 129 – 140; ders., Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg ²1970, 323 ff.423 ff.488 ff.578; H.-D.Wendland,Wege und Umwege. 50 Jahre erlebter Theologie 1919 – 1970, Gütersloh 1977, 122 f.124 ff.; G. Theißen, Die „Formgeschichte des Evangeliums“ von Martin Dibelius und ihre gegenwärtige Bedeutung, in: Lesezeichen für Annelies Findeiß …, Dielheimer Blätter …, Beih. 3, 1984, 143 – 158; Graf (Hg.), M. Dibelius (s.o.), 51– 93; M. Wolfes, Schuld und Verantwortung. Die Auseinandersetzung des Heidelberger Theologen Martin Dibelius mit dem Dritten Reich. Mit einer aus dem Nachlaß herausgegebenen „Lebensbeschreibung“ aus dem Jahre 1946, ZKG 111, 2000, 185 – 209; Geiser, Verantwortung (s.o.); W. Baird, History of New Testament Research, Vol. 2: From Jonathan Edwards to Rudolf Bultmann, Minneapolis 2003, 273 – 279. [24]

 Vgl. auch seines Vaters F. W. Dibelius Gedichtsammlung: Meine Last ist abgelegt. Gedichte und Gedanken, Stuttgart 1917.  Dazu gehören auch die zumeist sehr aussagekräftigen ca. 270 Rezensionen und Sammelbesprechungen, die der Auswertung harren.

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Erich Fascher (1897 – 1978) Leben Erich Fascher wurde am 14. Dezember 1897 in Göttingen geboren. Nach Abschluß des Theologiestudiums wurde er 1924 in Göttingen unter Betreuung von Walter Bauer mit der Arbeit „Die formgeschichtliche Methode. Eine Darstellung und Kritik. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des synoptischen Problems“ zum Lizentiaten der Theologie promoviert. Ebenfalls in Göttingen erfolgte 1926 die Habilitation aufgrund der Untersuchung „Prophetes. Eine sprach- und religionsgeschichtliche Untersuchung“ (1927 im Druck erschienen). Mit dieser Arbeit habilitierte er sich im gleichen Jahr um nach Marburg und wurde hier gleichzeitig Privatdozent. 1930 wurde er auf den Lehrstuhl für Neues Testament nach Jena berufen.¹⁰⁸ 1937 ging er nicht ganz freiwillig in gleicher Eigenschaft nach Halle, 1950 nach Greifswald und 1954 an die Humboldt-Universität Berlin. Dort wurde er 1964 emeritiert. Er starb am 23. Juli 1978 in Berlin. Wesentlich unangefochten durch die politischen Systeme und sich selbst diesen in begrenztem Maße öffnend war ihm ein relativ reibungsloses akademisches Wirken beschieden. In zahlreichen kirchlichen und staatlichen Gremien sowie wissenschaftlichen Organisationen war er tätig. Sein Einsatz in den verschiedenen Fakultäten, denen er angehörte, und für seine akademischen Schüler steht unbestritten im Raum, ebenso sein Geschick als „stellvertretender Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates der Theologischen Fakultäten beim Staatssekretariat für Hochschulwesen“ der DDR.¹⁰⁹ Seine Tätigkeit als 2. Vorsitzender „des deutschen Zweiges der internationalen Vereinigung für Religionsgeschichte“ kam zudem seinen eigenen wissenschaftlichen Interessen sehr ge-

 Einhellige Zustimmung fand diese Berufung in Jena nicht. So schreibt F. Gogarten am 19.12. 1929 an R. Bultmann: „Heute morgen erfuhr ich, daß Fascher den Ruf als Schmidts [sc. K. L. Schmidt, der nach Bonn ging] Nachfolger erhalten hat. Schmidt wird darüber sehr ärgerlich sein. Ich verspreche mir auch nichts von ihm. Aber, du liebe Zeit, wovon kann man sich heute in der Theologie noch was versprechen.“ Am 3. Mai 1930 schreibt er ebenfalls an R. Bultmann: „Heute hat Fascher eine außerordentlich dürftige Vorlesung gehalten, ich bin doch erschrocken über sein sehr kleines geistiges und menschliches Format. Wo kommt die Kirche hin mit solchen ‚Lehrern‘? Es ist zum Verzweifeln“ (so in: Bultmann – Gogarten, Briefwechsel [s. Anm. 17], Nr. 95 [S. 176] u. Nr. 99 [S. 181]). – Von Bultmann sind keine außerwissenschaftlichen Äußerungen über E. Fascher bekannt. Fascher selbst beteiligte sich Jahre später freundschaftlich an der Festschrift für R. Bultmann zum 70. Geburtstag; vgl. Neutestamentliche Studien für R. Bultmann zu seinem siebzigsten Geburtstag am 20. August 1954, hg. von W. Eltester, BZNW 21, Berlin 1954, dort E. F., „Theologische Beobachtungen zu ‚δεῖ‘“ (228 – 254).  Vgl. J. Schneider, Erich Fascher zum 60. Geburtstag, ThLZ 82, 1957, 949 f.

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legen, so wie sich auch sein Wirken im Beirat der Evangelischen Verlagsanstalt in Berlin nicht nur positiv für den von ihm neu belebten „Theologischen Handkommentar zum Neuen Testament“, dessen Herausgeber er von Mitte der 50er Jahre war, sondern auch für das Erscheinen theologischer wissenschaftlicher Literatur und für das allgemein kirchliche Schrifttum im Bereich der Deutschen Demokratischen Republik auswirkte. Wichtig war ihm [25] auch, dem Herausgeberkreis der ThLZ anzugehören, sowie der Redaktion der Zeitschrift „Aus der Welt der Religion. Forschungen und Berichte“ (seit 1960).

Werk und Wirkung Faschers zahlreiche und vielseitige Veröffentlichungen greifen über neutestamentliche Spezialforschung hinaus in die antike Welt, Patristik, allgemeine Kirchengeschichte, Praktische Theologie und insgesamt in die Geistesgeschichte.¹¹⁰ Sie zeigen vor allem den Neutestamentler, der die hellenistische Religionsgeschichte voll in seine Forschungen einbezieht, der Religionsphänomenologie¹¹¹ und Hermeneutik bedenkt, in der er auch als Spezialfall die Textgeschichte behandelt.¹¹² Die nachhaltigsten Beiträge waren die aus seiner Frühzeit: Seine Dissertation über „Die formgeschichtliche Methode …“ (1924) wirkte, gerade weil sie zur Kritik herausforderte. Daß dieses Werk so unmittelbar in eine damals heftig umstrittene Fragestellung eingriff,¹¹³ spiegelt auch seine Beurteilung. Rudolf Bultmann hat das Wesentliche der Ausführungen mit knappen Worten zusammengefaßt:¹¹⁴  Vgl. die Zusammenstellungen von K.-P. Köppen, ThLZ 82, 1957, 949 ff.; von J. Rohde, ThLZ 92, 1967, 955 ff.; ders., ThLZ 98, 1973, 78 ff.  Vgl. etwa E. Fascher, Sokrates und Christus. Eine Studie zur aktuellen Aufgabe der Religionsphänomenologie, in: ders., Sokrates und Christus. Beiträge zur Religionsgeschichte, Leipzig 1959, 36 – 94.425 – 432.  So E. Fascher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Ein Beitrag zur Grundlegung einer zeitgemäßen Hermeneutik, Gießen 1930; ders., Textgeschichte als hermeneutisches Problem, Halle 1953.  Vgl. E. v. Dobschütz, Ein neuer Weg zum Verständnis des Neuen Testaments, die formgeschichtliche Methode, in: ders., Vom Auslegen des Neuen Testaments, Göttingen 1927, 33 – 48, 34: „Die formgeschichtliche Methode hat in Erich Fascher auch schon ihren Historiker und zugleich ihren Kritiker gefunden.“  So Bultmann, Urchristliche Religion (s. Anm. 10), 121.120; ders., Besprechung, ThLZ 50, 1925, 313 – 318, mit umfassender Würdigung und kritischen Nachweisungen (Wiederabdruck in: Bultmann, Theologie als Kritik [s. Anm. 28], Nr. 39 [S. 140 – 146]; dazu instruktiv Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker [s. Anm. 28] 2005, 231 ff.); zur Diskussion mit Fascher vgl. auch Hahn, Formgeschichte (s. Anm. 10), 427 ff.454 ff.

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Das Buch „gibt freilich einen guten Überblick über die Vorläufer der formgeschichtlichen Forschung und orientiert vielfach mit berechtigter Kritik über die Arbeiten von Dibelius, Albertz, Bertram, K. L. Schmidt und mir. Aber der Verf.[asser] hat den Begriff der Formgeschichte bzw. der Gattung nicht im eigentlichen Sinn verstanden, wenn er den Zusammenhang der Gattung mit der allgemeinen Geschichte übersieht. Die literarische Form ist weder etwas Zufällig-willkürliches noch etwas bloß Ästhetisches, sondern sachgemäße Gestalt bestimmter historischer Lebensäußerungen, so daß also Formgeschichte nicht von Sachgeschichte zu lösen ist, worauf eben jener Terminus ›Sitz im Leben‹ hinweisen will“. So ist „leider“ das Mißverstehen „der eigentlichen formgeschichtlichen Aufgabe“ zu konstatieren.

Die Habilitationsschrift „Prophetes …“ (1927) zeigt mit Sorgfalt Sache und Umfeld dieser maßgebenden Kennzeichnung „Prophet“. Die reiche Stoffsammlung hat darin ihre Linie, daß sie vom Griechentum (zuerst behandelt) [26] über Altes Testament/Spätjudentum, Neues Testament bis zu den Kirchenvätern den Sprachgebrauch bedenkt mit dem Ergebnis: „Prophet“ ist ein mit Leben gefüllter Begriff gewesen.¹¹⁵ Wirklich bekannt wurde Fascher durch seine Mitarbeit an Adolf Jülichers Standardwerk „Einleitung in das Neue Testament“ (⁷1931), in dem er – nicht immer in Fortführung und Intention des ursprünglich vom seit 1925 erblindeten Verfasser Gemeinten – in die Kapitel die Pastoralbriefe, die Synoptiker, die katholischen Briefe und johanneischen Schriften mit Ergänzungen zugleich eigenständig seine Sicht einbrachte, während der forschungsgeschichtliche Einführungsabschnitt (1– 29) in stärkster Anlehnung an Jülicher auf den damals neuesten Stand gebracht wurde.¹¹⁶ Diese Neuauflage sollte ausdrücklich auf der „Grundlage des Textes der 6. Auflage“ (1906) geschehen, wobei Jülicher treffend festhält, „die sachlichen Differenzen zwischen 1906 und 1931 dürften größer sein als die zwischen 1894 [sc. Erstauflage] und 1906“ (Vorwort, S.VI). Der Gesamttitel des Bandes besteht zu Recht: „Einleitung in das Neue Testament von Adolf Jülicher. Siebente Auflage … Neubearbeitet in Verbindung mit D. Erich Fascher“ (GThW 3.1, 1931). Bei durchaus differenter Sicht der Sachlage zeigt das Werk eine erstaunliche Einheitlichkeit, nämlich in der durchgängig liberalen Position der Bearbeiter. Das ist

 Vgl. auch M. Dibelius’ Besprechung in: ThLZ 53, 1928, 509 f.  Zu Faschers Anteil vgl.: 162– 186 (Pastoralbriefe); 187– 449 (Synoptiker, kath. Briefe, joh. Schriften) und das zu den „Prolegomena“ (1– 29) Erwähnte. Zum Vorschlag, Fascher als Mitarbeiter heranzuziehen, nennt Jülicher den Verleger Dr. O. Siebeck (Tübingen): „Er nannte selber den damaligen Privatdozenten Herrn Lic. Erich Fascher, den ihm die zuständigen Fachgelehrten empfohlen hatten und dessen Eignung für solche Aufgaben – ganz abgesehen von seinen ersten Monographien – ich täglich bei der Arbeit erprobte, die er jahrelang mit mir an einem neutestamentlichen Spezialthema geleistet hat.“ (Vorwort, S. V, gemeint ist vermutlich die Arbeit an den altlateinischen Handschriften).

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insofern nicht verwunderlich, als Fascher Schüler von Walter Bauer und dieser wieder Schüler Adolf Jülichers ist. Dieser liberalen Linie ist Fascher treu geblieben. Dies zeigt sich nicht nur in seiner noch im höheren Alter bekundeten Nähe zur Persönlichkeit und zum wissenschaftlichen Werk Walter Bauers,¹¹⁷ sondern auch seine Position in der religionsphänomenologischen Arbeit, weitgefaßt in der religionsgeschichtlichen Vergleichung. Seine Marburger Jahre, die Begegnung mit Rudolf Otto, Friedrich Heiler, Heinrich Frick, bündelten sich wissenschaftlich in liberal-geistesgeschichtlichen Vergleichen erheblichen Ausmaßes.¹¹⁸ Sokrates und Platon wurden zu Leitfiguren für interessante und neue Schlaglichter – auch für neutestamentliche Sachverhalte. Der Aufsatzband „Sokrates und Christus. Beiträge zur Religionsgeschichte“ trifft inhaltlich und vom Titel her genau auf [27] Faschers Anliegen.¹¹⁹ Platonisierende Züge sind nicht nur in seiner Paulusforschung präsent. Heranzuziehen ist hier sein Paulus-Artikel im PRE.S 8 (1956), 431– 466,¹²⁰ in dem der schon damals etwas ältere Forschungsstand gut dargeboten wird und Leben und Missionstätigkeit des Apostels im Vordergrund stehen. – Noch auffallender von Platon her argumentierend sind seine Aufsätze „Zur Weltschöpfung bei Mose und Platon. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich als Studie zur Geschichte des Gottesglaubens“ und „Platon und das vierte Gebot. Eine Studie zum Verhältnis von Griechentum und Christentum (Rm 1,30 und 3,29)“.¹²¹ – In seiner letzten größeren Arbeit „Der erste Brief des Paulus an die Korinther“ (= Erster Teil, Kap. 1– 7 umfassend, 1975)¹²² kommt er in einer sehr sorgfältigen, langen Einführung (1– 67) auch zu Grundfragen der religionsgeschichtlichen Einordnung des Paulus und der Korintherbriefe (54 ff.) und läßt den platonischen Einfluß erahnen.¹²³

 Vgl. z. B. E. Fascher, Jesus der Lehrer. Ein Beitrag zur Frage nach dem „Quellort der Kirchenidee“, in: ders., Sokrates und Christus (s. Anm. 111), 134 ff., bes. 139.157.435 Anm. 1; ders., Walter Bauer als Kommentator, NTS 9, 1962/63, 23 – 38; weiter die Besprechung von W. Bauer, Aufsätze und kleine Schriften, hg. v. G. Strecker, ZKG 80, 1969, 101 ff.  Seine Erwägungen reichen bei ihm bis in seine Albert Schweitzer Studien unter dem Aspekt des Liberalen und Humanitären; vgl. E. Fascher, Albert Schweitzer. Theologe und Künstler, Berlin 1955; ders., Der Tierfreund, in: Albert Schweitzer. Beiträge zu Leben und Werk, Berlin 1966, 47– 51.  Vgl. auch E. Fascher, Frage und Antwort. Studien zur Theologie und Religionsgeschichte, Berlin 1968.  = Fascher, Sokrates und Christus (s. Anm. 111), 245 – 308, 259 ff.  In: Fascher, Sokrates und Christus (s. Anm. 111), 95 ff.109 ff.  = ThHK 7/1. Nicht ohne den Ansatz von Fascher bedenkend hat Chr. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, Zweiter Teil Kap. 8 – 16, ThHK 7/2, Leipzig 1982, eigenständig die Kommentierung zu Ende geführt.  Ebd., 59, vgl. auch seinen dort in Anm. 22 genannten Aufsatz.

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„Eine Überprüfung des Verhältnisses von griechischer Philosophie und christlichem Offenbarungsglauben“ kennzeichnet seine Forschung in nicht geringem Maße,¹²⁴ ohne daß bei manchen lehrreichen (und auch geistreichen) Überblicken über die Antike das begrifflich eindeutig Konkrete und Profilgebende des je Eigenen in Antike und frühem Christentum in solcher Verhältnisbestimmung zur Geltung kommt.¹²⁵ In Faschers Sicht sind Antike und Christentum¹²⁶ letztlich verbunden im Gedanken der Humanität, die Harmonie einschließt. Die Worte eines Marc Aurel, die er zitiert, gelten ihm selbst: „Scheide … in Güte, denn auch der, der dich abruft, ist voll Güte“,¹²⁷ und seine Erwartung für die Theologie lautete: „‘Mythologisch‘ geredet kann es im Himmel wohl beschlossen sein, daß die Theologie der Zukunft weder ‚dialektisch‘ noch ‚existentialistisch‘ bestimmt sein wird. Im Himmel beginnt man ‚ökumenisch‘ zu denken.“¹²⁸ [28]

Schüler Günter Baumbach (1929 – 2007); Joachim Rohde (geb. 1930); Christian Wolff (geb. 1943) passim. Bibliographie: K.-P. Köppen, ThLZ 82, 1957, 949 ff.; J. Rohde, ThLZ 92, 1967, 955 ff.; ders., ThLZ 98, 1973, 78 ff. – Würdigungen: J. Schneider, Erich Fascher zum 60. Geburtstag, ThLZ 82, 1957, 949 f.; Professor D. Erich Fascher †, ThLZ 103, 1978, 924.

 Vgl. E. Fascher, Vom Logos des Heraklit und dem Logos des Johannes, in: ders., Frage und Antwort (s. Anm. 119), 117 ff., 117.  In E. Faschers Beiträgen im RAC (etwa die Artikel „Erwählung“, Bd. 6, 1966, 409 – 436; „Freude“, Bd. 8, 1970, 306 – 347), liegen exakte Materialsammlungen mit wichtigen Beobachtungen vor.  Vgl. R. Bultmanns Besprechung von Faschers „Sokrates und Christus“, in: ders., Christentum und Antike, ThR 33, 1968, 1– 17 (bes. 11), und E. Fascher, Antike Geschichtsschreibung als Beitrag zum Verständnis der Geschichte, in: ders., Sokrates und Christus (s. Anm. 111), 7– 35.  E. Fascher, Die Frage nach dem Ursprung der Humanität, in: ders., Frage und Antwort (S. Anm. 119), 134 ff., 167.  So E. Fascher, Adolf von Harnacks und Karl Barths Thesenaustausch, in: ders., Frage und Antwort (s. Anm. 119), 231.

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Gerhard Kittel (1888 – 1948) Leben Väterlicherseits aus Schwaben stammend wurde Gerhard Kittel am 23. September 1888 in Breslau geboren, wohin sein Vater, der Alttestamentler Rudolf Kittel (1853 – 1929), kurz zuvor berufen worden war. Da dieser von 1898 an in der Universität Leipzig wirkte, besuchte der Sohn das Leipziger König-Albert-Gymnasium. Nach dem Abitur studierte er von 1907 bis 1912 in Leipzig, Tübingen, Berlin und Halle Theologie und Orientalistik. Er wurde 1913 unter Betreuung seiner Dissertation durch Johannes Leipoldt (1880 – 1965) in Kiel promoviert und im selben Jahr (18. 12.1913) dort für das Fach Neues Testament habilitiert. Mit Spezialuntersuchungen zu den „Oden Salomos“ in der Dissertation¹²⁹ zeigte sich bereits die Schwerpunktbildung seiner späteren wissenschaftlichen Interessen, vertieft durch die kleinere Untersuchung „Jesus und die Rabbinen“ (1914). Dagegen behandelt die Schrift „Jesus als Seelsorger“ (1917) auf fachlicher Basis ein Thema, das Kittel lebenslang auch in ausübender Seelsorge bewegend wichtig war. Schon während seiner Tätigkeit als Marinepfarrer im Ersten Weltkrieg habilitierte er sich 1917 von Kiel nach Leipzig um, wohl nicht ohne Betreiben des Vaters, der immer wieder einen wirksamen und lebensgestaltenden Druck auf den Sohn ausübte.¹³⁰ – Die Leipziger Privatdozentenzeit (1.4.1921 ao. Prof.) war von 1919 bis 1921 zugleich dem Direktorat des dortigen Religionslehrerseminars gewidmet. Der wissenschaftliche Ertrag dieser Jahre galt der differenzierten Erforschung rabbinischer Quellen, die er u. a. in „Rabbinica“ (1920)¹³¹ und, nachdem Kittel zum 1. Oktober 1921 nach Greifswald als Ordinarius berufen worden war, in [29] der Edition der ersten (und einzigen) Lieferung von „Sifre Deuteronomium. Übersetzt und erklärt“ (1922) veröffentlichte. – In die Greifswalder Zeit fällt sein aus Vorträgen hervorgegangenes Hauptwerk „Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Ur-

 G. Kittel, Eine zweite Handschrift der Oden Salomos, ZNW 14, 1913, 79 – 93; ders., Die Oden Salomos. Überarbeitet oder einheitlich? Mit zwei Beilagen, BWANT 16, Leipzig 1914.  Vgl. C. Dahm, Art. Kittel, Gerhard, BBKL 3, 1992, 1544; R. Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, WUNT 101, Tübingen 1997, 416 f. u. 416 Anm. 31, mit Verweis auf mündlichen Bericht von Friedrich Baumgärtel. Baumgärtel, Assistent bei R. Kittel und mit dem ihm gleichaltrigen Sohn Gerh. Kittel befreundet, schrieb Erinnerungen aus seinem Leben, die sicher auch aufschlußreich über Gerh. Kittel sind, aber von der Familie Baumgärtel verwaltet bisher nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. (Mir hat F. Baumgärtel 14 Tage hintereinander ausgiebig aus seinen handschriftlichen Aufzeichnungen erzählt, worauf voranstehende Vermutung fußt).  = Arbeiten zur Religionsgeschichte des Urchristentums 1.3, Leipzig 1920.

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christentum“ (1926).¹³² Eine Berufung nach Berlin wurde offenbar vor allem durch Hugo Greßmann (1877– 1927) verhindert, doch folgte er gerne dem Ruf nach Tübingen 1926 auf den Lehrstuhl seines akademischen Lehrers Adolf Schlatter (1852– 1938). Noch in die Greifswalder Zeit fiel sich anbahnend, dann in Tübingen 1927 direkt¹³³ der Auftrag, das verbreitete Werk von Hermann Cremer (u. Julius Kögel) „Biblisch-theologisches Wörterbuch der neutestamentlichen Gräzität“ (¹¹1923) dem Stand der Forschung anzupassen.Vorbereitung und Durchführung in der völligen Neugestaltung und in der Herausgabe von „Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament“ (Bd. I–IV, 1933 – 1942) beschäftigten Kittels Tübinger Jahre in hohem Maße. – Methodische Überlegungen auch in der Erweiterung seiner Rabbinica-Forschungen bot seine Tübinger Antrittsvorlesung vom 28. Oktober 1926: „Urchristentum, Spätjudentum, Hellenismus“. – In den Jahren 1933 bis 1945 stellte er seine bedeutende Position als Fachgelehrter für Spätjudentum erheblich dadurch in Frage, daß er in seiner Schrift (ursprünglich Vortrag) „Die Judenfrage“ (¹.²1933, ³1934) als auch durch seine Tätigkeit als Fachreferent für Judentumskunde (einschließlich Palästinakunde) im „Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschlands“ (seit 1936) mit zahlreichen Beiträgen über das Judentum gewollt oder ungewollt nationalsozialistischer Ideologie nützlich wurde. Zudem war er zum 1. August 1933 der NSDAP als Mitglied beigetreten. – 1939 bis 1943 vertrat er unter Beibehaltung seines Tübinger Lehrstuhls das Ordinariat für Neues Testament in der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien. Noch vor offiziellem Kriegsende wurde er am 3. Mai 1945 von der französischen Besatzungsmacht aus seiner Tübinger Wohnung heraus verhaftet und dienstlich fristlos entlassen bei vollem Verlust seiner Pensionsansprüche. Zunächst in Tübingen und dann von November 1945 bis Oktober 1946 in Balingen (Württemberg) inhaftiert, wo er sich mustergültig seelsorgerisch um Mitgefangene mühte, wurde er anschließend in das Kloster Beuron entlassen. Die kleine evangelische Gemeinde des Dorfes Beuron rnitversorgend bekam er durch den Rektor des Päpstlichen Bibelinstitutes, Prof. Augustin Bea, den Auftrag, ein von Johannes B. Frey großangelegtes Werk „Corpus Inscriptionum Judaicarum“ (1936 ff.) weiter zu bearbeiten. – Im Februar 1948 durfte er nach Tübingen zurückkehren (und auch erstmals wieder seine Familie sehen, die ebenfalls Tübingen verlassen mußte und in einem am Walchensee gelegenen Häuschen aus Familienbesitz lebte). Noch bevor ein Spruchkammerverfahren abgeschlossen war, das ihn später als „Entlasteten“ einstufen sollte, starb Kittel am 11. Juli 1948 in

 = BWANT, III. F., Bd. 1, Stuttgart 1926.  Zu Letzterem G. Friedrich, Zur Vorgeschichte des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament, ThWNT X (Lieferung 1. Juni 1974), 1– 52, 39.

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Tübingen. Kurz vor seinem Tode beorderte er telegraphisch Gerhard Friedrich (1908 – 1986) zu sich, ihn geradezu nötigend, das „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament“ fortzuführen, dessen [30] weitere Herausgeberschaft Kittel bereits im Februar 1947 behördlich genehmigt wurde.¹³⁴

Werk und Wirkung Das wissenschaftliche Werk ist bereits insofern skizziert, als Gerhard Kittel bis 1933 methodisch stringent für die Notwendigkeit der Erforschung rabbinischer Quellen zur religionsgeschichtlichen Einordnung Jesu in das älteste Urchristentum eintritt. Dem dient auch der Nachweis, daß unbestritten zeitlich jüngere rabbinische Texte traditionsgeschichtlich dem palästinischen Judentum Jesu zugehören können und somit ebenfalls für das älteste Urchristentum von Belang sind. Daß das palästinische Urchristentum nicht einfach aus jüdischer Apokalyptik und der Welt der Apokryphen – obwohl diese ebenfalls dem jüdischen Mutterboden entsprossen sind – erklärbar sei, fand eine (berechtigte) Zuspitzung durch Kittel in der Feststellung, daß Jesus materialiter nichts gesagt habe, was nicht auch im rabbinischen Judentum seiner Zeit präsent war.¹³⁵ Das Neue bei ihm sei die Konzentration aus der Fülle der Aussprüche und Überlieferungen der Rabbinen auf das Wesentliche, gebündelt in dem messianischen Anspruch seines Auftretens, Wirkens und Verkündigens.¹³⁶ Nicht nur sich anbahnende Überlegungen für das ThWNT verlangten, was wichtige Rezensionen zu seinem Hauptwerk bereits unter verschiedenen Aspekten als Defizite geltend machten, nämlich  Zu manchen Einzelheiten vgl. Dahm (s. Anm. 130); G. Friedrich / J. Friedrich, Art. Kittel, Gerhard (1888 – 1948), TRE 19, 1990, 221– 225, 221 f.; L. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte, TEH 208, München 1980, passim (z. B. 50); s. auch W. Eltester, Den Toten, Vorspann zu ZNW 42, 1949 (ohne Seitenzählung): „von tiefer Tragik umdüstert ist der Lebensabend Kittels gewesen“; ähnlich K. H. Rengstorf, ZNW 43, 1950/51, 54 f.  Vgl. näherhin W. G. Kümmel, Jesus und die Rabbinen, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte. GA 1933 – 1964, MThSt 3, Marburg 1965, 1 ff., in einem Vortrag vom 12.6.1933: „Mit dieser Theorie Kittels ist deutlich gezeigt, warum sich bis zur Gegenwart die Geister an der Stellung zur Person Jesu scheiden. Und doch bleibt der Zweifel. … Und es ist denn auch durchaus nicht so, daß allgemein anerkannt wäre, daß Jesu Lehre sich in Einzelheiten gar nicht vom Judentum unterschieden habe“ (3), auch wenn „heute allgemein anerkannt ist, daß man eine … Vergleichung Jesu mit dem Judentum nicht mit dem Alten Testament allein, aber auch nicht mit den Apokryphen allein durchführen kann, sondern daß nur die Heranziehung der ältesten rabbinischen Literatur einen zuverlässigen Hintergrund für die Arbeit bilden kann“ (2).  Vgl. Kittel, Probleme (s. Anm. 132), 5 – 21.31 ff.34 ff.45 ff.71 ff.88 ff.; Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 74), 439 ff.; Deines, Pharisäer (s. Anm. 130), 422 ff.431 ff., bes. 434– 442.

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Gerhard Kittel (1888 – 1948)

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die Weitung des religionsgeschichtlichen Vergleichs,¹³⁷ die dann Kittel in seiner o. g. Tübinger Antrittsvorlesung auch vornahm. Es waren die Positionen Adolf Schlatters und seines unmittelbaren Tübinger Vorgängers Wilhelm Heitmüller (1869 – 1926) [31] einzubringen: jüdische und hellenistische Religionsgeschichte, um der nicht statischen Größe des Urchristentums gerecht zu werden, zumal der Hellenismus schon zur Zeit des palästinischen Urchristentums auch in Palästina mannigfach eingeflossen war und mit zunehmender Missionstätigkeit der frühesten Christenheit grundsätzlich virulent wurde. Doch davon rückt Kittel auch methodisch nicht ab: Das „Spätjudentum“ in der prägenden Weise des Rabbinismus ist die Basis des Urchristentums. „Das Judentum ist nicht synkretistische Religion geworden, sondern ist etwas im Grundsatz andres geblieben,“¹³⁸ und demgegenüber ist das Besondere für „Das Urchristentum im Lichte der Religionsgeschichte“ herauszuarbeiten.¹³⁹ Nicht zuletzt – auch im Verbund sächsischen Luthertums und eines schwäbischen Pietismus – geht es Kittel bei seiner religionsgeschichtlichen Forschung um die Eruierung des historischen Jesus in seiner Welt und Umwelt („Der historische Jesus“, 1931).¹⁴⁰ Der profilierte Forscher und anerkannte Spezialist für das antike Judentum schockierte allerdings 1933 durch seine aus einem Vortrag hervorgegangene Schrift „Die Judenfrage“, die aus jüdischer Sicht und ebenso aus Parteikreisen wie von fachtheologischer Seite heftig kontrovers beurteilt wurde.¹⁴¹ Die von ihm

 Vgl. R. Bultmann, Gn. 4, 1928, 297– 305 (mit deutlicher Bezugnahme auf W. Bousset und die einschlägigen Forschungen der „Relig. Schule“), jetzt in: ders., Theologie als Kritik (s. Anm. 28), 222– 228 (dazu Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker [s. Anm. 28], 361 ff.); M. Dibelius, ThLZ 52, 1927, 270 – 272; H. Greßmann, DLZ 47, 1926, 1437– 1440 (mit polemischen Verzeichnungen).  So G. Kittel, Die Religionsgeschichte und das Urchristentum, Gütersloh 1932, 66. In ZNW 43, 1950/51 (s. u. Anm. 150) schreibt Kittel gleichsam ergänzend: „Ich kann nur hoffen, daß das Bild des gesetzlichen Judentums und seines Werdens und Wesens doch einmal das Schema sprengen möchte, in das – von sehr verschiedenen Seiten her – es eingezwängt worden ist“ (57).  Kittel, Religionsgeschichte (s. Anm. 138), 107– 132.  Vgl. dazu im Kontext damaliger Jesusforschung O. A. Piper, Das Problem des Lebens Jesu seit Schweitzer, in: Verbum Dei manet in Aeternum. FS O. Schmitz, hg. v. W. Foerster, Witten 1953, 73 – 102, 82 f. Die Grundlage für Kittels Schrift ist sein Beitrag „The Jesus of History“, in: G. K. A. Bell / A. Deißmann (Hgg.), Mysterium Christi. Christologische Studien britischer und deutscher Theologen, Berlin 1931, 31– 53.  M. Buber und andere jüdische Gelehrte verwahrten sich schärfstens gegen Kittels Ausführungen, während z. B. H. J. Schoeps ihnen im grundsätzlichen zustimmte; aus der NSDAP erging die Forderung, Kittel abzusetzen und ihm die Professur zu entziehen; Fachkollegen wie E. Lohmeyer und K. L. Schmidt gaben ihrer Erschütterung Ausdruck: Wichtige Dokumentation in ThBl 12, 1933; in Kittels Schrift, Stuttgart ²1933, 87– 113; ders., Ein theologischer Briefwechsel, Stuttgart 1934 (mit K. Barth; dazu K. L. Schmidt, Zum theologischen Briefwechsel zwischen K. Barth und G. Kittel, ThBl 13, 1934, 328 – 334).

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propagierte Ausgrenzung des Judentums unter Gewährung eines verklausulierten Gaststandes, der Christen jüdischer Herkunft einschloß, und die gleichzeitige Wahrung des Rechtsschutzes für fromme und religiös verwurzelte Juden war sicher nicht die radikalste Sicht im ersten Jahr des nationalsozialistischen Regimes, zumal Kittel der Beseitigung des Judentums aus dem Lande deutlich widersprach und dies auch für undenkbar hielt. Aber seine Ausführungen gehören dennoch – für ihn ungewollt – in die Kette, die Menschen jüdischen Glaubens in die Vertreibung und schließlich in die Vernichtungslager führten. Aus heutiger Sicht und Kenntnis des Grauenvollen, was gesche[32]hen ist, Kittel zu beurteilen und zu verurteilen,¹⁴² beachtet zu wenig, daß er – zum Leidwesen sei es geklagt – in seiner Schrift die Mentalität vieler Menschen in der damaligen „Aufbruchsstimmung“ 1933 getroffen, aber sich diese – sehr bewußt national denkend – auch zu eigen gemacht hat, ohne einem schon lange in Deutschland gärenden, weit verbreiteten und dumpfen Antisemitismus das Wort zu reden. Das tat er auch nach 1933 nicht. Vornehmlich unverständlich und ihn belastend aber ist, daß er aufgrund seiner reichen wissenschaftlichen Kenntnisse des Judentums diese nicht in die Waagschale geworfen und daß er sich den Anfängen eines seit 1933 amtlich verordneten Antisemitismus nicht entgegengestellt hat, auch wenn sein Votum vielleicht eine (vergebliche) Einzelstimme geblieben wäre. Kittels weitere Arbeiten besonders zum Judentum von 1933 an unterliegen zeitgeschichtlich differenzierend notwendiger Sachkritik.¹⁴³ „Es handelt sich … weitgehend um einseitige und verzerrte Darstellungen, in denen er seine eigene frühere Methodik verraten“ hat.¹⁴⁴ Daß er sich für verfolgte Juden/Judenchristen wirklich einsetzte, ist ebenso bezeugt wie sein Entrüstetsein über die „Kristallnacht“, ohne daß er weitreichende Konsequenzen für sein Denken zog oder zu ziehen vermochte. Inwieweit er von der Vernichtung des Judentums seit 1942 wußte, läßt sich nicht aussagekräftig rekonstruieren.¹⁴⁵ – Wie sehr er auch nach 1933 als renommierter Theologe galt, verdeutlicht seine Aufnahme als zunächst einzigen Vertreter Deutschlands 1938 in die kurz zuvor gegründete internationale „Studiorum Novi Testamenti Societas“.

 Vgl. Nachweise mit Lit. bei Friedrich/Friedrich, Art. Kittel (s. Anm. 134), 224; Deines, Pharisäer (s. Anm. 130), 414 ff. (Lit.); vgl. auch Lubinetzki, Knechtsgestalt (s. Anm. 90), 250 – 258 u. ö.  O. Merk, Art. Kittel, Gerhard, LThK³ 6, 1997, 107.  Deines, Pharisäer (s. Anm. 130), 415.  Zum persönlich freundschaftlichen Umgang Kittels mit erklärten Gegnern des „Dritten Reichs“ vgl.: Die „Murren“ des Hans Freiherr von Campenhausen (s. Anm. 42), 194; zur Charakterisierung der Persönlichkeit Kittels s. H.-D. Wendland, Wege und Umwege. 50 Jahre erlebter Theologie 1919 – 1970, Gütersloh 1977, 143.

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Am 15. September 1945 schreibt Martin Dibelius an Theodor Heuß über Kittel: „Er ist verhaftet seit Mai, suspendiert vom Amt; ich nehme nicht an, daß er seinen Lehrstuhl wieder bekommt. Ich habe ein Gutachten über die Sachlichkeit seiner Arbeiten zum Judentum verfaßt und mich bei dem damaligen Kultusminister … [sc. Carlo Schmid] dafür eingesetzt, daß er dem großen Werk als Redakteur erhalten bleibt, an dessen Beendigung die gesamte wissenschaftl. Theologie aufs höchste interessiert ist: dem Theol. Wörterbuch zum Neuen Testament“.¹⁴⁶ Im ThWNT berücksichtigte Kittel in den von ihm herausgegebenen Bänden nicht nur die Vielfalt der Richtungen und Schulen neutestamentlicher Forschung, sondern auch führende Gegner des „Dritten Reichs“ aus dem Kreis der einschlägigen Fachkollegen (z. B. R. Bultmann; H. v. Soden, G. v. Rad und viele andere), belastete aber durch den Ausschluß von [33] Karl Ludwig Schmidt vom IV. Band seine Herausgeberschaft.¹⁴⁷ Seine eigenen Artikel sind fachbezogen und nicht von seiner politischen Ideologie bestimmt. – Das gilt wesentlich auch von den in der Fachdiskussion nicht unbestrittenen, aber sachbezogenen Argumenten in seiner thematisch in der damaligen Zeit verfänglichen Schrift „Christus und Imperator. Das Urteil der Ersten Christen über den Staat“ (1939).¹⁴⁸ Ebenso steht es mit den beiden Aufsätzen „Der geschichtliche Ort des Jakobusbriefes“¹⁴⁹ und (im Gefängnis 1945 vollendet) „Der Jakobusbrief und die Apostolischen Väter“, in denen er auf seine Spezialforschungen vor 1933 mehrfach direkt zurückgreift.¹⁵⁰ Das Lebenswerk von Gerhard Kittel ist in dreifacher Weise unabgeschlossen: Weder konnte er das ThWNT zu Ende führen, noch eine Geschichte des (antiken) Judentums verfassen, noch einen geplanten Kommentar zum Jakobusbrief vorlegen. – Seine Herausgeberschaft der Tannaitischen Midraschim und der Tosefta seit 1933 kam zeitbedingt wenige Jahre später zum Erliegen.

 Zitiert aus dem Nachlaß von Th. Heuß im Bundesarchiv Koblenz bei Dibelius, Selbstbesinnung des Deutschen (s. Anm. 57), Tübingen 1997, 77 f. Zum ThWNT vgl. auch für das Folgende die Besprechungen von M. Dibelius in: DLZ 55, 1934, 2451– 2458; DLZ 58, 1937, 259 – 263; DLZ 65, 1944, 65 – 69; und W. G. Kümmel in: NZZ vom 18. 8.1938 (Nr. 1363), Bl. 1; NZZ vom 14.10.1943 (Nr. 1133), Bl. 1.  Zu Einzelheiten A. Mühling, Karl Ludwig Schmidt. „Und Wissenschaft ist Leben“, AKG 66, Berlin 1997, 221 ff.  Vgl. M. Dibelius, Rom und die Christen im ersten Jahrhundert, in: ders., Botschaft und Geschichte. Bd. II: Zum Urchristentum und zur hellenistischen Religionsgeschichte, hg. in Verbindung mit H. Kraft v. G. Bornkamm, Tübingen 1956, 177 ff., bes. 177 Anm. 1, 178 Anm. 3, 179 Anm. 4, 181 Anm. 8.  In: ZNW 41, 1942 („abgeschlossen 30.11.1942“, 105).  In: ZNW 43, 1950/51, 54– 112.

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Schüler Walter Grundmann (1906 – 1976); Gerhard Friedrich (1908 – 1986); Hermann Fritsch (1913 – 1941); Walter Gutbrod (1911– 1941), Albrecht Stumpff (1908 – 1940). Bibliographie: G. Friedrich / G. Reyher, Bibliographie Gerhard Kittel, ThLZ 74, 1949, 171– 175; G. Kittel, Meine Verteidigung (1945). Neue erweiterte Niederschrift, 1946. (Univ.-Archiv Tübingen). – Würdigungen: G. Friedrich / J. Friedrich, Art. Kittel, Gerhard (1888 – 1948), TRE 19, 1990, 221– 225 (Lit.); C. Dahm, Art. Kittel, Gerhard, BBKL 3, 1992, 1544 ff. (Lit.); R. Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, WUNT 101, Tübingen 1997, 413 – 448 (Lit).

Johannes Leipoldt (1880 – 1965) Leben Johannes Leipoldt wurde am 20. Dezember 1880 als Sohn des Gymnasialprofessors Dr. phil. Gustav Leipoldt und seiner Ehefrau Martha, geb. Große, in Dresden geboren.¹⁵¹ 1899 begann er nach dem Abitur in Dresden das Theologie- wie Orientalistikstudium in Berlin, wechselte aber noch im ersten Studienjahr nach Leipzig, wo er im Jahre 1903 zum „Dr. phil.“ promoviert wurde [34] aufgrund der Untersuchung „Shenuto, der Begründer der national-ägyptischen Kirche“.¹⁵² – Im Jahr 1905 habilitierte er sich ebenfalls in Leipzig im Fach Kirchengeschichte mit der Arbeit „Didymus der Blinde von Alexandrien“ (TU N.F. 3, 1905). Mit dieser Habilitationsschrift wurde ihm zugleich die Würde eines „Lizentiaten der Theologie“ und damit die theologische Promotion zuerkannt. Als Privatdozent kurz in Leipzig wechselte er 1906 in gleicher Stellung nach Halle. Wohl nicht ohne die Grundlage eines weiteren, der neutestamentlichen Wissenschaft zugeschriebenen Werkes „Geschichte des neutestamentlichen Kanons“ (Erster Teil: Die Entstehung, 1907; Zweiter Teil: Mittelalter und Neuzeit, 1908) wurde der Spezialist für frühe ägyptische Kirchengeschichte 1909 als Ordinarius für Neues Testament nach Kiel berufen. In gleicher Eigenschaft ging er 1914 an die neu gegründete Evangelischtheologische Fakultät in Münster/Westfalen und folgte 1916 seinem akademischen Lehrer C. F. Georg Heinrici (1844– 1915) auf den Lehrstuhl für Neues Testament in Leipzig, den er bis zu seiner „offenen“ Emeritierung innehatte (offiziell 1959 mit 78  Zu Daten des Werdegangs vgl. bes. Chr. Haufe, Art. Leipoldt, Johannes, NDB 14, 1985, 151 f.; K.-G. Wesseling, Art. Leipoldt, Johannes, BBKL 4, 1992, 1391 ff.  Erschienen unter dem Titel „Shenuto von Atripe und die Entstehung des national-ägyptischen Christentums“, TU N. F. 10,1, Leipzig 1903.

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Jahren emeritiert). 1959 zog er sich von Leipzig zurück in sein Haus in Ahrenshoop (Darß/Ostsee). Von dort aus hielt er noch – inzwischen hochbetagt – gelegentlich Lehrveranstaltungen in Rostock (Lehrauftrag). Am 22. Februar 1965 starb er in Ahrenshoop, wo er auch beerdigt ist. – Leipoldt war seit 1909 mit Käte Werner, einer Pfarrerstochter, verheiratet († 1941). Eine Tochter ging aus der Ehe hervor. – Leipoldt verstand sich stets als sächsisch-lutherischer Theologe und Wissenschaftler. Er vertrug sich mit allen politischen Systemen im Verlauf seines Gelehrtenlebens und ließ dies auch in seinen Veröffentlichungen durchblicken. Er war in seinem akademischen Wirken politisch unangefochten und genoß durch seine breite Kenntnis der Religionsgeschichte und ihrer Quellen hohes Ansehen. Er war seit 1959 Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, zudem Domherr von Wurzen und Meißen und für die CDU-Ost von 1953 bis 1963 Mitglied der Volkskammer der DDR. Man verlieh ihm den „Vaterländischen Verdienstorden in Gold.“

Werk und Wirkung Der sprachgewandte und nahezu ausschließlich aus Primärquellen arbeitende Forscher, von dem es mit Recht heißt, daß er „in den antiken Quellen wie in Texten seiner Muttersprache las“,¹⁵³ hat ein ungemein vielseitiges, vor allem religionshistorischer Aufarbeitung dienendes Werk vorgelegt. Exegese von Einzelabschnitten und überhaupt exegetische Einzelforschung treten nahezu völlig zurück zugunsten der Herausarbeitung der Quellen des urchristlichen und patristischen Umfeldes, die der Exegese im weiteren Sinne zugute kommt. Leipoldts Studien dienen der Ägyptologie, dem Koptischen, der Patristik und vor allem dem breiten Feld der hellenistischen Religionsgeschichte. Ihm kam es auf darlegende Entfaltung der aufgespürten „Parallelen“ an, deren Interpretation selbst und deren interpretierender Vergleich mit den ur- und [35] frühchristlichen Aussagen eher zu kurz kam oder sich einem hintergründigen Absolutheitsanspruch neutestamentlicher wie patristischer Quellen fügen mußte.¹⁵⁴ „Nach seiner Exegese gelten volle Abhängigkeiten im Text des Neuen Testaments als Beweise für spätere, also sekundäre Einflüsse.“¹⁵⁵ Texte im Neuen Testament, die nahezu oder überhaupt

 So Haufe (s. Anm. 151), 152.  So oft bei Leipoldt; vgl. auch ders., Der Sieg des Christentums über die Religionen der alten Welt, in: R. Jelke (Hg.), Das Erbe Martin Luthers und die gegenwärtige theologische Forschung. Theologische Abhandlungen D. Ludwig Ihmels dargebracht, Leipzig 1928, 49 – 83.  So Haufe (s. Anm. 151), 152.

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keine „Parallelen“ aus der Umwelt aufweisen, rechnete Leipoldt als der ureigensten neutestamentlichen Botschaft zugehörig, woraus er aber auch bedenkliche, ja falsche Folgerungen zog.¹⁵⁶ Für den Gesamtansatz Leipoldts wirkt sich – auch im Hinblick auf das Folgende – aus, daß die „Überlegenheit“ des biblischen Zeugnisses nicht genau genug gefaßt wird, daß beispielsweise das Proprium der Verkündigung Jesu, die Botschaft von der Gottesherrschaft, kaum näher bestimmt wird und daß zudem für die frühchristliche Zeit der Übergang vom Neuen Testament in die nachapostolische/frühkatholische Zeit vage bleibt.¹⁵⁷ In seinem Werk über die Geschichte des neutestamentlichen Kanons ist der Sachverhalt eindeutiger (etwa Bd. I, 113 ff.186 ff.232 ff.265 ff.). Im Rückblick gesehen dürfte der Ertrag von Leipoldts religionsgeschichtlicher Arbeit für die neutestamentliche Wissenschaft am wirksamsten in der Erforschung der nach 1945 gefundenen Texte von Nag Hammadi und zu seiner Zeit in seinen Untersuchungen zu den Mysterienreligionen liegen.¹⁵⁸ Seine Übersetzung und Kommentierung des Thomas-Evangeliums hat die weitere diesbezügliche Forschung bestimmt.¹⁵⁹ Albert Schweitzers „Geschichte der Leben Jesu-Forschung“ (²1913) hätte er gerne weitergeführt. Er sah in seinen Beiträgen „Vom Jesusbilde der Gegenwart. Sechs Aufsätze“ (1913) eine Fortsetzung in seiner eigenen Zeit, die in stark umgearbeiteter Auflage (²1925) weitgreifend das Jesusbild (auch überdeutend) zu erfassen suchte: Über „Schönheit und Stimmung“, „Soziales und Sozialistisches“, „Aus der Welt der Ärzte“, über den Monismus, „Aus der ka[36]tholischen Kirche“ und schließlich von „Das völkische Jesusbild“ zu „Dostojewskij und der russische Christus“ wird kaum eine Sichtweise des Jesusbildes ausgespart. Aber für eine

 Vgl. J. Leipoldt, Die frühe Kirche im Lichte der Religionsgeschichte, in: ders., Von den Mysterien zur Kirche. Gesammelte Aufsätze, Leipzig 1961, 51– 103.349 – 360; zu Leipoldt treffend G. Haufe, Art. Leipoldt, Johannes, RGG4 5, 2002, 249 f., 250: „Strittig ist, ob das Gewicht des Hellenismus gelegentlich über-, das der theol. Relevanz der Texte unterbetont wird.“  Zutreffende Beobachtung auch bei Wesseling (s. Anm. 151), 1392.  Heute begegnet sein Name in dem Forschungsbereich der Mysterienreligionen kaum noch; doch vgl. J. Leipoldt, Die Mysterien, HRW(L) I/4. Das Christentum, Berlin 1948, 7– 35 (Wiederabdruck in J. L., Von den Mysterien zur Kirche [s. Anm. 156], 5 – 50.337– 347); ders., Art. Mysterien, RGG³ 4, 1960, 1232– 1236; ders. / S. Morenz, Heilige Schriften. Betrachtungen zur Religionsgeschichte der Mittelmeerwelt, Leipzig 1953.  Vgl. J. Leipoldt, Das Evangelium nach Thomas, koptisch und deutsch, TU 101, Berlin 1967; ders., Ein neues Evangelium? Das koptische Thomasevangelium übersetzt und besprochen, ThLZ 83, 1958, 481– 497; ders., Bemerkungen zur Übersetzung des Thomasevangeliums, ThLZ 85, 1960, 795 – 798; ders. / H.-M. Schenke, Koptisch-gnostische Schriften aus den Papyrus-Codices von Nag Hamadi. Übersetzt und erklärt, ThF 20, Hamburg 1960.

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Fortführung der Leben-Jesu-Forschung im Sinne Albert Schweitzers waren diese Momentaufnahmen noch nicht tragfähig. Unbestritten aber ist im Werk Leipoldts, den Jesus der Geschichte zu erfassen. Dies war ein wesentliches Anliegen seiner religionsgeschichtlichen Bemühungen. Konnte er zunächst in „War Jesus Jude?“ (Neues Testament und Religionsgeschichte 2, 1923) durchaus gegenüber anderslautenden Thesen festhalten und dafür volle Zustimmung seines Rezensenten Rudolf Bultmann in den Worten desselben empfangen, „daß die Frage nach der rassemäßigen Abstammung Jesu eine gleichgültige ist gegenüber der Tatsache, daß Form und Inhalt der Gedanken Jesu durchaus jüdische Eigenart zeigen und daß das, was ihn über das Judentum hinausführt, nicht auf hellenistischen Einflüssen, sondern auf seiner Individualität beruht“,¹⁶⁰ so sollte sich diese Sicht doch wesentlich verschieben. Sie ist gegeben mit seiner Auffassung, daß schon bereits bei Jesus selbst sich die Trennung von Judentum und Christentum anbahnt,¹⁶¹ ja daß „Hellenistisches bei Jesus“ in Leipoldts Untersuchungen starkes Gewicht erhält.¹⁶² Diese von Jesus inaugurierte Trennung führt das Christentum zur „Weltreligion“ weiter, woraus sich für Leipoldt ein Doppeltes erklärt: a) Es sei nicht mehr abhängig von religionsgeschichtlichen Bezügen, sondern das eigenständig erstarkte Christentum nehme Brauchbares aus seiner Umwelt auf, amalgamiere es in die eigene religiöse Welt; b) In der gewonnenen Eigenständigkeit erhebe die frühe Christenheit den Anspruch auf die Wahrheit und das Recht, diese auch intolerant durchzusetzen. Diese gewagten und sicher aus der Zeitgebundenheit seiner Forschungen im „Dritten Reich“ mitbedingten Thesen führen zu weiteren Aspekten: In „Jesus und Paulus – Jesus oder Paulus?“ (1936) wird das Verhältnis Jesus und Paulus als das von „Führer und Gefolgsmann“ kontrastiert, was umso besser gelingt, als Jesus (bei mancher Gegensätzlichkeit zum Apostel) wie Paulus hellenistischen Geistes sind (16 ff.32.68.70 ff.), wobei für Leipoldt auch die Frage offen bleibt, ob Paulus „reinrassiger Jude“ war (55 mit Anm. 2).¹⁶³

 So Bultmann, Urchristliche Religion (s. Anm. 10), 83 – 164, 127.  Dazu gehört u. a. Jesu Ablehnung bestimmter jüdischer Gebote (z. B. Kultgesetze u. -riten), seine Stellung gegen die Pharisäer; vgl. zusammenfassend J. Leipoldt, Jesus und die Religionsgeschichte, in: H. Ristow / K. Matthiae (Hgg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Beiträge zum Christusverständnis in Forschung und Verkündigung, Berlin 1960, 136 ff.  Vgl. J. Leipoldt, Gegenwartsfragen in der neutestamentlichen Wissenschaft. 1. Jesus als Kämpfer. 2. War Jesus Jude? 3. Artgemäßes Christentum, Leipzig 1935, 54 ff. u. ö.; ders., Jesus und Paulus – Jesus oder Paulus? Ein Wort an Paulus’ Gegner, Leipzig 1936; ders., Jesu Verhältnis zu Griechen und Juden, in: W. Grundmann (Hg.), Germanentum, Christentum und Judentum, Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben, Leipzig 1941.  Auch „entjuden“ wird zur gängigen Erörterung (75).

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In wiederum andere Richtung führt Leipoldts Erörterung sozialer Fragestellungen des Urchristentums. Es geht ihm anhand antiker wie biblischer Zeug[37] nisse „um eine grundsätzliche Neuordnung der irdischen Verhältnisse“,¹⁶⁴ eine neue Ordnung der Gesellschaft, die das menschenwürdige Ergehen der Frauen¹⁶⁵ und einen weit gefaßten Dienst für den Frieden einschließt.¹⁶⁶ Aufgespürter Quellenreichtum und nicht immer ideologiefreie Gedanken verbinden sich hier mit des Gelehrten Dasein nach 1945 (teilweise in Repristination seiner Überlegungen schon im und nach dem Ersten Weltkrieg).¹⁶⁷ Das letzte Werk, das manche seiner Forschungsergebnisse birgt und dem er beratend beistand, ist das von ihm und Walter Grundmann herausgegebene Werk „Umwelt des Urchristentums“ (Bde. I–III, 1965 – 1967). Für dieses Gemeinschaftswerk steuerte er selbst den Bildband (Bd. III) mit gut orientierender Einführung und mit lebenslang gesammelten Zeugnissen dargestellter Religionsgeschichte bei.¹⁶⁸ Der große Verbreitung findende Band erneuert Leipoldts Sammlung im „Bilderatlas zur Religionsgeschichte“.¹⁶⁹ Von zahlreichen Reisen, die er zur Sammlung des Bildmaterials unternahm, liegen Berichte vor. Es darf behauptet werden: In diesen Bildzeugnissen sah Leipoldt die Spiegelung seines Lebenswerkes.

Schüler Gerhard Kittel (1888 – 1948); Joachim Jeremias (1900 – 1976); Hans-Martin Schenke (1929 – 2002); Christoph Haufe; Günter Haufe (geb. 1931). Der Ägyptologe Siegfried Morenz rechnete sich auch zu den Schülern Leipoldts.

 J. Leipoldt, Der soziale Gedanke in der altchristlichen Kirche, Leipzig 1952, bes. 43 ff.147 (Zitat); ders., Jesus ist armer Leute Kind, in: ders., Von den Mysterien zur Kirche (s. Anm. 156), 261– 281.  Erste Überlegungen dazu bei J. Leipoldt, Jesus und die Frauen. Bilder aus der Sittengeschichte der alten Welt, Leipzig 1921; dann: ders., Die Frau in der antiken Welt und im Urchristentum, Leipzig 1954 (²1955, ³1965).  J. Leipoldt, Bibel und Friedensgedanke, Berlin 1954 (wieder in: ders., Von den Mysterien zur Kirche [s. Anm. 156], 303 – 336).  Vgl. J. Leipoldt, Jesus und die Armen, NKZ 28, 1917, 784– 810 (u. den ersten s. o. Anm. 165 genannten Titel).  J. Leipoldt, Umwelt des Urchristentums. III. Bilder zum neutestamentlichen Zeitalter. Ausgewählt und erläutert, Berlin 1967 (61987).  = Lieferung 9 – 11, in: H. Haas (Hg.), Die Religionen in der Umwelt des Urchristentums, Leipzig 1926.

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Bibliographie: fortlaufendes Verzeichnis ThLZ 75, 1950, 755 – 758; G. Haufe, Bibliographie Johannes Leipoldt 1951– 1960, ThLZ 86, 1961, 75 – 76; ders., Bibliographie Johannes Leipoldt †, 1960 – 1965, ThLZ 9, 1966, 635 – 638; dazu die im Text genannten Werke nach 1965. – Unter den Herausgeberschaften Leipoldts ragt heraus: Angelos. Archiv für neutestamentliche Zeitgeschichte und Kulturkunde 1– 4 (1925 – 1932) (u. Beihefte 1– 4, Leipzig 1926 – 1932). – Würdigungen: N. N., Zum 70. Geburtstag von Johannes Leipoldt am 20. Dezember 1950, ThLZ 75, 1950, 753 – 755; Chr. Haufe, Johannes Leipoldt, Helikon 8, 1968, 505 – 521; S. Morenz, Johannes Leipoldt, BSAC 19, 1967/68, 1– 6; W.Wiefel, Johannes Leipoldt in Halle, Standpunkt 12, 1980, 339 f.; H. M. Schenke, Erinnerungen an Johannes Leipoldt, Standpunkt 12, 1980, 341– 343; Chr. Haufe, Art. Leipoldt, Johannes, NDB 14, 1985, 151 f.; K.-G.Wesseling, Art. Leipoldt, Johannes, BBKL 4, 1992, 1391– 1395 (mit weiterer Lit.); G. Haufe, Art. Leipoldt, Johannes, RGG⁴ 5, 2002, 249 f. [38]

Ernst (Johannes) Lohmeyer (1890 – 1946) Leben Der Lebensweg von Ernst Johannes Lohmeyer spiegelt im Rückblick die Geradlinigkeit eines in den Wirren der Zeit aufrechten und unerschrockenen Mannes. Er wurde am 8. Juli 1890 als viertes von neun Kindern des Pfarrer-Ehepaares Carl Heinrich Ludwig Lohmeyer und seiner Ehefrau Maria in Dorsten (Westfalen) geboren,wuchs nach Versetzung des Vaters seit 1895 in Vlotho (Westfalen) auf und besuchte von Ostern 1904 bis zum Abitur 1908 das Gymnasium in Herford. Sehr bewußt schon als Schüler humanistischer Bildung bei auch deutlich mathematischen Interessen und musikalischer Begabung zugewandt studierte er in Tübingen Theologie, Philosophie und orientalische Sprachen (1908/09), kurz in Leipzig (Sommersemester 1909) und dann in Berlin vom Wintersemester 1909 an. Nach sieben Semestern Studium übernahm er für ein Jahr eine Hauslehrerstelle im Regierungsbezirk Breslau, die ihm Vorbereitungszeit für den Abschluß des Studiums bot. Im Dezember 1912 legte er sein 1. theologisches Examen vor der kirchlichen Prüfungsbehörde in Münster ab. Zuvor wurde er am 24. Juli 1912 unter Adolf Deißmanns Betreuung der Dissertation zum „Lic. theol.“ in Berlin promoviert. Die aus einer Preisarbeit erwachsene Arbeit erschien 1913 unter dem Titel „Diatheke. Ein Beitrag zur Erklärung des neutestamentlichen Begriffs“ (UNT 2). Daß er in Berlin in Adolf Deißmann (1866 – 1937) und in dem damals jungen Privatdozenten Martin Dibelius (1883 – 1947) für ihn maßgebende Lehrer und Begleiter fand, war für seinen weiteren Weg in der neutestamentlichen Wissenschaft bedeutsam. Vom 1. Dezember 1913 an sein Freiwilligenjahr im VII. Westfälischen Jägerbataillon ableistend schloß diese Zeit notgedrungen durch Einberufung den gesamten Ersten Weltkrieg bis zum 30. November 1918 ein. Nimmt man hinzu, daß

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Lohmeyer von 1939 bis 1943 noch einmal eingezogen war, ergeben sich etwa 10 Jahre, die dem gesamten Gelehrtenleben an kontinuierlicher Arbeit entzogen waren. Doch mit eiserner Energie und Konzentration gelang es ihm, zunächst 1914 seine philosophische Dissertation über „Die Lehre vom Willen bei Anselm von Canterbury“ vorzulegen und am 27. Januar 1914 mit dem Rigorosum den „Dr. phil.“ in der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen als Externer zu erwerben. Der Philosoph Richard Falkenhagen (1852– 1920) betreute die Arbeit und schrieb ein kurzes prägnantes Gutachten. Ähnlich erging es Lohmeyer mit seiner weithin im Schützengraben konzipierten Habilitationsschrift „Vom göttlichen Wohlgeruch“, die er 1918 in Heidelberg (unter Betreuung durch M. Dibelius) einreichte. Diese kulturgeschichtlich weit gefaßte und auf engem Raum (die Arbeit umfaßt 52 Seiten) auch religionsgeschichtlich weit ausholende Schrift und eine in knappen Urlaubstagen vor Kriegsende verfaßte Antrittsvorlesung zum Thema „Christuskult und Kaiserkult“ (erschienen 1919) schlossen am 16. Oktober 1918 das Habilitationsverfahren ab. – Zum 1. Dezember 1918 wurde Lohmeyer zum Privatdozenten für Neues Testament in Heidelberg ernannt. [39] Kaum waren erste Vorlesungen und Seminare gehalten, erfolgte zum 1. Oktober 1920 die Berufung zum ao. Professor in Breslau als Nachfolger Rudolf Bultmanns, dem sich die Ernennung zum o.ö. Professor zum 1. Februar 1921 anschloß. Die Breslauer Jahre (bis 30.9.1935) waren trotz ihrer politischen Belastungen von 1932 an die für Lohmeyer glücklichste und wissenschaftlich reichste Zeit der Entfaltung. Das gilt auch für seine Familie: Am 16. Juli 1916 hatte Lohmeyer seine langjährige Freundin, die Altistin Amalie (Melie) Seybert (1886 – 1971), geheiratet. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor.¹⁷⁰ Die ergreifenden Erinnerungen der Tochter Gudrun geben lebendiges Zeugnis.¹⁷¹ In den 20er Jahren konturieren sich die für Lohmeyer bestimmende Methode des Arbeitens und das in ihr zur Geltung kommende hermeneutische Profil, das seine Veröffentlichungen charakterisiert (s. u.). Obwohl sich Lohmeyer gerne auch in Bereiche schlesischer Kultur und Geistesgeschichte eingearbeitet hatte (z. B. Vortrag über Jakob Böhme, 1924), bemühte er sich doch um ein Fortkommen von Breslau, schlug aber 1925 letztlich den an ihn ergangenen Ruf nach Gießen aus aufgrund der Gewährung höherer Dotierung und Erweiterung seines Lehrfaches auch für allgemeine Religionsge-

 Zu Einzelheiten vgl. zuletzt A. Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer. Studien zu Biographie und Theologie, WUNT 2/180, Tübingen 2004, 7 ff.; zuvor mit wichtigem Überblick U. Hutter, Theologie als Wissenschaft. Zu Leben und Werk Ernst Lohmeyers (1890 – 1946). Mit einem Quellenanhang, Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 69, 1990, 123 – 169.  G. Otto, Erinnerungen an den Vater, in: W. Otto (Hg.), Freiheit in der Gebundenheit. Zur Erinnerung an den Theologen Ernst Lohmeyer, Göttingen 1990, 35 – 52.

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schichte. So las er neben den Pflichtvorlesungen des eigenen Fachgebietes von 1925 bis 1933 im weitesten Sinne (bis in den ostasiatischen Raum reichend) Religionsgeschichte. – Für das Amtsjahr 1930/31 wählte der Kollegenkreis den knapp 40jährigen zum Rektor – auch als Zeichen des Vertrauensbeweises, den der junge Gelehrte genoß. – Nicht nur mit verschiedenen jüdischen Kollegen nah befreundet schritt er amtlich und als Kollege gegen schon vor 1933 deutlich werdende Angriffe auf diese Gelehrten ein und machte aus seiner antinationalsozialistischen Haltung kein Hehl. Höhepunkt war hier Lohmeyers Brief an Martin Buber (gegen Verhalten und Äußerungen Gerhard Kittels).¹⁷² Zutreffend bezeichnet Andreas Köhn mit „Neutestamentliche Exegese im Schatten des Kirchenkampfes (1934/35)“¹⁷³ die Lohmeyer betreffende Situation, nicht zuletzt seine Nähe zur „Bekennenden Kirche“.¹⁷⁴ Auf Betreiben der Fachschaft Evangelische Theologie und weiterer Studenten sowie der Universitätsverwaltung mußte er 1934 sein Amt als Direktor des Theologischen Seminars seiner Fakultät abtreten. Zum 1. Ok[40]tober 1935 wurde er an die Theologische Fakultät der Universität Greifswald strafversetzt. Nach wenigen Jahren, die nicht frei von politischen Pressionen waren, aber doch relativ ungestörtes Wirken ermöglichten, wozu auch der Kontakt zum Ausland durch den schwedischen Neutestamentler Anton Fridrichsen (1880 – 1953) beitrug, wurde Lohmeyer bereits im August 1939 erneut eingezogen und erst im November 1943 als für in Greifswald unentbehrlich freigestellt. Als völlig Unbelasteter wurde er sofort nach dem Kriege am 15. Mai 1945 von der Militär- und Nachkriegsverwaltung zum Rektor der Universität eingesetzt. Unter größten Schwierigkeiten mit der sich bildenden Regierung von Mecklenburg-Vorpommern, unter ständigen neuen Forderungen und vor vollendete Tatsachen Gestelltwerden und von heimtückischer Denunziation verfolgt wurde Lohmeyer in der Nacht vor der feierlichen Wiedereröffnung der Universität am 15. Februar 1946 in seiner Wohnung unter Mitnahme seiner gesamten wissenschaftlichen Post seit 1930 verhaftet. Erst Jahre später wurde es zur Gewißheit, daß er in Greifswald (und vielleicht auch anderswo?) im Gefängnis saß, daß er im August 1946 durch Lynchjustiz unter Einbezug seiner ganzen Habe zum Tode verurteilt wurde und nach Ablehnung eines Gnadengesuches am 19. September 1946 durch Genick-

 Mehrfach abgedruckt; vgl. M. Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten II: 1918 – 1938, Heidelberg 1973, 499 f.  Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 78 ff.  Vgl. auch I. Meseberg-Haubold, Katharina Staritz 1903 – 1953, in: H. Erhart / I. MesebergHaubold / D. Meyer, Katharina Staritz 1903 – 1953. Dokumentation Bd. 1: 1903 – 1942. Mit einem Exkurs Elisabeth Schmitz, Neukirchen-Vluyn 1999, bes. 81 ff., ebd., auch 107– 110.114.133.

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schuß – wohl in Greifswald – erschossen wurde.Wo er bestattet ist, ist unbekannt – vermutlich in der Nähe Greifswalds. Erst 50 Jahr später, am 15. Oktober 1996, wurde Lohmeyer voll rehabilitiert. Der für ausländische Rehabilitation zuständige Oberst der Justiz, Leonid P. Kopalin, schreibt in seinem abschließenden Gutachten, „daß Ernst Lohmeyer ohne ausreichende Gründe und nur aus politischen Motiven heraus verhaftet und verurteilt wurde“.¹⁷⁵

Werk und Wirkung Zwar von der historisch-kritischen Forschung der liberalen Theologie herkommend gibt schon Lohmeyers Lizentiatenarbeit in ihrem deutlichen Bezug auf platonische Grundsätze und in ihrer begriffsgeschichtlichen nicht ganz präzisen Offenheit¹⁷⁶ Einsichten preis, die auch in seiner philosophischen Doktorarbeit nicht ganz verborgen bleiben und in der Habilitationsschrift wie im HabilitationsAntrittsvortrag den weiteren methodischen Weg andeuten: Den Schritt von dem historisch-kritischen zu einem kritisch-historischen Vorgehen in der exegetischtheologischen Arbeit. Eine gewisse Ausnahme macht dabei seine erste größere Arbeit in Breslau. Sie gilt den „Soziale(n) Fragen im Urchristentum“ (Wissenschaft und Bildung 172, 1921), einer nach dem Ersten Weltkrieg auch von anderen als besonders akut angesehenen, in der neutestamentlichen Wissenschaft schon damals nicht neuen sozialgeschichtlichen Fragestellung, die jedoch unter Lohmeyers Bearbeitung – gegenwärtig überdeutet – Leitfunktion erhielt. [41] Gleichwohl wird es in den Breslauer Jahren Lohmeyers dann ganz offenkundig: Die Öffnung der historisch-kritischen Forschung unter Hereinnahme ästhetischer und philosophischer Fragestellungen mündet bei ihm in eine geschichtsphilosophische Betrachtungsweise, die Glaube und Geschichte umgreift¹⁷⁷ und vielfach die Zeit in ihrem Gefüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum „zeitlosen“ Jetzt des Glaubens vereint. Das war sein Anliegen. Hier bestätigt sich, wie es Friedrich Gogarten (1887– 1967) seinem Marburger Kollegen Rudolf Bultmann (1884 – 1976) gegenüber zum Ausdruck brachte:

 Zitiert mit Quellenangabe bei Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 150.  Vgl. dazu R. Bultmann in seiner Besprechung, in: Bultmann, Theologie als Kritik (s. Anm. 28), 73 – 75.  Vgl. auch E. Esking, Glaube und Geschichte in der theologischen Exegese Ernst Lohmeyers. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der neutestamentlichen Interpretation, ASNU 18, Kopenhagen 1951, 137 ff.153 ff.

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„Lohmeyer habe ich sehr gerne. Schon, daß er über seine Philologie hinaus wissenschaftliche Interessen hat, zeichnet ihn vor den anderen aus“.¹⁷⁸ Der hochgebildete und vielseitig interessierte Gelehrte bedachte die geistigen Strömungen der Zeit, vertiefte eigene lose Berührungen zum Stefan-George-Kreis in seinen Veröffentlichungen auch in ihrer ästhetischen Gestalt, griff Gedanken des jungen Paul Tillich (1886 – 1965) auf und gewann in seinem Breslauer Kollegen, dem dem Neukantianismus und zudem philosophisch-psychologischen Forschungen nahestehenden Philosophen Richard Hönigswald (1875 – 1947), den geistigen Mitstreiter, der sein theologisches Denken seit etwa 1924 maßgebend beeinflußte.¹⁷⁹ Aber auch dies nahm ihm nicht den Rang eines eigenständigen Denkers, wie seine als Programmschrift zu wertende Untersuchung „Vom Begriff der religiösen Gemeinschaft. Eine problemgeschichtliche Untersuchung über die Grundlagen des Urchristentums“ (1925) zeigt. Diese erschien nicht zufällig in der von Hönigswald (sowie von B. Bauch u. E. Cassirer) herausgegebenen Reihe „Wissenschaftliche Grundfragen. Philosophische Abhandlungen“ (Bd. III). Mit ihr konnte beispielsweise Rudolf Bultmann mit dem (teilweise) die genannte Untersuchung zusammenfassenden Aufsatz Lohmeyers „Von urchristlicher Gemeinschaft“ (ThBl 4, 1925, 135 – 141) „nichts anfangen“,¹⁸⁰ doch seine Rezension der Schrift selbst trifft ins Zentrum: „Der Verf. treibt keine Theologie, sondern vielleicht Philosophie.“ Daß hier Lohmeyer „die Theologie … zur ancilla philosophiae“ macht, dieser Gefahr scheint nach Bultmann „der Verf. erlegen zu sein“. Gerade indem Bultmann klar den methodischen „Dissensus“ bei gleichgerichtetem Grundanliegen herausarbeitet, bezeichnet er die Untersuchung „als eine ungewöhnlich kluge und inhaltsrei[42]che Schrift.“¹⁸¹ Nicht zu Unrecht ortet sie Andreas Köhn im Gefüge von Lohmeyers Verständnis neutestamentlicher Wissenschaft zwei Generationen später so: „Es ging ihm [sc. Lohmeyer] bei der Erforschung von Ein-

 Vgl. Bultmann – Gogarten, Briefwechsel (s. Anm. 17), hier: Brief Gogartens vom 27. Mai 1931, Nr. 100 [S. 200].  Vgl. dazu insgesamt U. Hutter-Wolandt, Ernst Lohmeyer und Richard Hönigswald. Um die Wissenschaftlichkeit neutestamentlicher Exegese, in: W. Orth / G. Alexsandrowicz (Hgg.), Studien zur Philosophie Richard Hönigswalds, Würzburg 1996, 205 – 230; Esking, Glaube und Geschichte (s. Anm. 177), 122 ff.137 ff.153 ff.160 ff. u. ö.; Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 173 ff.224 ff.  So R. Bultmanns Brief an F. Gogarten vom 29.7.1925, Nr. 38, in: Bultmann – Gogarten, Briefwechsel (s. Anm. 17), 84– 87, 87.  R. Bultmann, Vom Begriff der religiösen Gemeinschaft. Zu Ernst Lohmeyers gleichnamigem Buch, ThBl 6, 1927, 66 – 73 (jetzt in: ders., Theologie als Kritik [s. Anm. 28], 189 – 200, 199 f.)

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zelbegriffen aus der Geschichte des Urchristentums darum, zu den besonderen philosophischen Grundlagen der urchristlichen Religion durchzustoßen.“¹⁸² Zahlreiche Motive und Anknüpfungen greifen für Lohmeyer ineinander, nicht zuletzt auch wissenschaftsgeschichtliche. Ist sein Rückgriff auf Johann Philipp Gabler (1753 – 1826) methodisch verkürzt, so ist ihm Ferdinand Christian Baur (1792– 1860) für seine Erforschung des Urchristentums der eigentlich Maßgebende,¹⁸³ da sich hier – bei durchaus „Einseitigkeiten“ Baurs – Hegel und Baur träfen. Zur wichtigsten Quelle wird Lohmeyer das Werk von Baur „Das Christentum und die christliche Kirche in den ersten drei Jahrhunderten“, 1853 (doch ohne Baurs Veränderungen in der 2. Aufl. 1860 zu berücksichtigen). Baurs Dreiteilung in These-Antithese-Synthese, wobei letztere von Lohmeyer als „Frühkatholizismus“ bezeichnet wird,¹⁸⁴ wird von ihm in der hermeneutischen Ausdeutung – was hier nur in Stichworten genannt werden kann – mit Grundgedanken von Richard Hönigswald parallelisiert¹⁸⁵ und dahin ausgeweitet, daß Überlegungen von August Neander, Leopold (v.) Ranke und William Wrede in Lohmeyers Gesamtsicht des Urchristentums einfließen.¹⁸⁶ Noch wichtiger aber ist, daß Lohmeyers „Begriff von der ‚eschatologischen Bestimmtheit‘ des Glaubens“¹⁸⁷ mit einer metaphysischen Bestimmtheit philosophischer Provenienz in Anlehnung an Überlegungen von Hönigswald einhergeht, die prinzipiell eine Konzeption und Nachzeichnung der Geschichte des Urchristentums infragestellen. Denn die hier eingebrachte Begrifflichkeit – Lohmeyers Kritiker sehen dies mit Recht – gebe ihm den Freiraum, „in unzulässiger Weise die historische Erfassung neutestamentlicher Schriften mit theologischmetaphysischer Spekulation“ „verbinden“ zu wollen und so exegetisch-theologische Arbeit fehlgeleitet zu haben.¹⁸⁸ Letztlich geht es um die Tragfähigkeit theologischer Exegese im Kontext historisch und historisch-kritisch zu eruierender Sachverhalte. Die von Lohmeyer mit Baurs Werk erhoffte Erfassung und Darstellung des Urchristentums mußte scheitern, da die [43] Konzeptionen beider

 Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 27.  Vgl. E. Lohmeyers Teil-Vorlesungsmanuskript „Geschichte der urchristlichen Religion“, Sommersemester 1921 in Breslau gehalten; aufbewahrt: GStA PE, HA NI Lohmeyer, Nr. 3 g, 3 ff.8 ff.12; Weiteres bei Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 161 f.  So in „Geschichte der urchristlichen Religion“ (s. Anm. 183), 8.  Vgl. Esking, Glaube und Geschichte (s. Anm. 177), 127 ff., bes. 128 Anm. 3.  Vgl. Esking Glaube und Geschichte (s. Anm. 177), 127– 133 u. ö.; W. G. Kümmel, Ernst Lohmeyer †, NZZ vom 14. 3.1951, 1 f.; Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 158 ff.228.253.  Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 251 ff.  Zur Diskussion mit Nachweisen Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 252 ff.; treffend bereits Esking, Glaube und Geschichte (s. Anm. 177), 153 f.208 f.

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methodisch unvereinbar waren.¹⁸⁹ So war es nicht nur durch die Zeitläufe bedingt, daß Lohmeyers Plan einer siebenbändigen Geschichte des Urchristentums nach dem ersten Band „Das Urchristentum, I. Buch: Johannes der Täufer“ (1932) abgebrochen wurde. Daß hier und sonst bei Lohmeyer „das Judentum als metaphysisch defizient“ in seinem „System zurückbleibt“, läßt sich jedoch keineswegs erheben.¹⁹⁰ Die skizzierte methodische Leitlinie gilt für Lohmeyers weiteres Werk und auch für den Widerspruch seiner Kritiker. Dies bestätigt bereits sein Kommentar zur „Offenbarung des Johannes“ (HNT 16, 1926), wie z. B. Rudolf Bultmann minutiös nachzeichnet.¹⁹¹ Der Kommentar, ästhetisch gesehen ein Kunstwerk bis in die Stefan George nachempfundene Übersetzung hinein, sachlich die damals akute Mandäer-Forschung einbeziehend und formgeschichtliche Überlegungen beachtend, aber überdehnt in der Auswertung der Zahlensymbolik und durch die Ablehnung jeglicher zeitgeschichtlichen Auslegung wie durch die Gleichsetzung des Verfassers mit dem des Johannesevangeliums kritisch beurteilt, greift bereits den für Lohmeyer so bestimmenden Begriff und die Sache des Martyriums erstmals auf. In seinem international beachteten Vortrag in Paris 1927 rückt er in den Mittelpunkt seiner Ausführungen: „Die Idee des Martyriums im Judentum und Urchristentum“.¹⁹² Hatte sich hier nicht nur eine Wandlung im Verständnis Lohmeyers von einem mehr hellenistischen Paulus in seiner Dissertation (der Deißmann-Schule verbunden) – in seiner Studie „Syn Christo“ (Deißmann-Festschrift, 1927) weiter vorbereitet – hin zu einem den jüdischen Wurzeln seines Denkens verpflichteten Apostel vollzogen,¹⁹³ so sollte diese Sicht in seinem vom Märtyrer-Gedanken geleiteten Kommentar „Der Brief an die Philipper“ (KEK 9/1, 1928) und in seinen

 Vgl. zum methodischen Vorgehen Baurs u. a. O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Das methodische Problem bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, MThSt 9, Marburg 1972, 226 – 236 und die dort Genannten.  So aber Lubinetzki, Knechtsgestalt (s. Anm. 90), 105 – 114, 114.  R. Bultmann, ThLZ 52, 1927, 505 – 512 (jetzt in: ders., Theologie als Kritik [s. Anm. 28], 178 – 186, bes. 182 f.); vgl. auch Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker (s. Anm. 28), 347 ff.; Esking, Glaube und Geschichte (s. Anm. 177), 201 ff.  In: ZSTh 5 (1927), 232– 249; dazu eingehend E. Reinmuth, Vom Zeugnis des Neuen Testaments zum Zeugnis für das Neue Testament: Ernst Lohmeyer, in: I. Garbe / T. Begrich / T. Willi (Hgg.), Greifswalder theologische Profile. Bausteine zur Geschichte der Theologie an der Universität Greifswald, Greifswalder theologische Forschungen 12, Frankfurt am Main 2006, 259 – 273; zuvor Esking, Glaube und Geschichte (s. Anm. 177), 223 – 229.  Vgl. auch Bultmanns Besprechung der Deißmann-Festschrift in: ThBl 7, 1928, 125 – 129 (passim); dazu Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker (s. Anm. 28), 355 – 357.

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„Grundlagen paulinischer Theologie“ (BHTh 1, 1929; vgl. etwa 17.49 ff. u. ö.) weiter zum Tragen kommen. Sein Märtyrer-Verständnis, sicher im Philipperbrief exegetisch überdeutet, wird man im Rückblick auf Lohmeyers weiteres Leben bewegend mitbedenken. Es ist in seiner Existenz erschütternde Wirklichkeit geworden. Obwohl Lohmeyer der formgeschichtlichen Forschung in den 20er Jahren nicht ohne Vorbehalte begegnete (sein späterer Mk-Kommentar bestätigt dies), so unbestritten bedeutsam und weithin anerkannt erwies sich auch unter [44] formgeschichtlichen Aspekten seine Analyse des Philipper-Hymnus („Kyrios Iesus. Eine Untersuchung zu Phil 2,5 – 11“, SHAW.PH 4, 1928), während seine auch in dieser Untersuchung reiche Übertragung von Gedanken Richard Hönigswalds in neutestamentliche Überlegungen ebenso kritisch beurteilt wurde wie sein schwer lesbares und überfrachtetes Paulus-Buch („Grundlagen paulinischer Theologie“, 1929), dessen „vollständige Umdeutung der paulinischen Theologie in Transzendentalphilosophie“ nicht nur Rudolf Bultmann zu deutlicher Kritik veranlaßte.¹⁹⁴ Mit der Kommentierung „Die Briefe an die Kolosser und an Philemon“ (KEK 9/ 2), 1930, wurde die Bearbeitung der „Gefangenschaftsbriefe“ zunächst um der vorrangigen Auslegung der Synoptiker willen abgeschlossen („Eph“ sollte erst später erscheinen). Gerade „Kol“ gewann für Lohmeyer besonderes Gewicht, „paulinischer Theologie und Frömmigkeit“ gerecht zu werden.¹⁹⁵ Unverkennbar aber war die in der zweiten Hälfte der 20er Jahre immer deutlicher werdende Hinwendung Lohmeyers zur Systematischen Theologie, mit der die Methodenfrage exegetischen Vorgehens ständig einherging. Der 1931/32 mit Hans Lietzmann entstandene Streit anläßlich der Ablehnung eines für die ZNW eingereichten Aufsatzes über verschiedene Ansätze exegetischer Methodik war geradezu vorprogrammiert und ist bis heute als Anfrage an die historisch-kritische Forschung

 Vgl. die Besprechungen R. Bultmanns zum Phil.-Komm., zu „Kyrios Iesus“ und zu „Grundlagen pln. Theol.“, jetzt in: ders., Theologie als Kritik (s. Anm. 28), 244 ff.252 ff.; dazu Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker (s. Anm. 28), 417 ff.420 ff.; K. Aland (Hg.), Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892– 1942) mit einer einführenden Darstellung von K. Aland, Berlin 1979, dort Briefwechsel Lietzmann – Lohmeyer (Nr. 636 f., S. 583 – 585); B. Mengel, Studien zum Philipperbrief, WUNT 2/8, Tübingen 1982, 178 ff.; D. Lührmann, Ernst Lohmeyers exegetisches Erbe, in: Otto, Freiheit (s. Anm. 171), 53 – 87, 60 ff.; Die „Murren“ des Hans Freiherr von Campenhausen (s. Anm. 42), 175: „Seine Grundlegung der paulinischen Theologie hat auch kaum ein Mensch gelesen, obgleich Lohmeyer selbst überzeugt war, daß es die Jahrhunderte überdauern werde.“ H. v. C. verweist im übrigen auf den dänischen Kirchenhistoriker Hal Koch, der das Werk als bedeutsam einschätzte.  Aus einem Brief Lohmeyers zitiert bei Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 43.

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und in der Diskussion über die Vielzahl methodischer (möglicher oder nicht begründbarer) Zugänge zur Bibel akut geblieben.¹⁹⁶ Letztlich ist auch aus Lohmeyers methodischem Ansatz seine kritische Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm er[45] wachsen: „Die rechte Interpretation des Mythologischen“, ein Vortrag, bei einem seiner letzten Aufenthalte in Breslau am 9. Januar 1944 gehalten.¹⁹⁷ In seinen methodischen Erwägungen und ihrer Entfaltung wußte sich Lohmeyer oft nicht verstanden und auch im Kreis der Fachkollegen einsam.¹⁹⁸ Doch in einem Begleitbrief vom 27. November 1929 zur Übersendung seines „Kol/Phlm“Kommentars an Hans Lietzmann schreibt er, was sich überwiegend bewahrheiten sollte: „Es geschah [sc. die Sendung] ein wenig auch in der Hoffnung, daß Sie an ihm [sc. dem Kommentar] sehen können, wie ich nicht immer auf unverständlichen Wegen wandele.“¹⁹⁹ Ohne von seiner methodischen Grundposition abzugeben, bestätigen dies seine Kommentare „Das Evangelium des Markus“ (KEK 1/2, 1937) und (posthum erschienen) „Das Evangelium des Matthäus. Nachgelassene Ausarbeitungen und Entwürfe zur Übersetzung und Erklärung“ (hg. v. W. Schmauch, KEK-Sonderband, 1956). Wichtige Zuarbeit für die Synoptiker-Kommentare waren ihm drei Untersuchungen. In „Galiläa und Jerusalem“ (1936) zeigte er einerseits eine gewisse Redaktionstätigkeit des Evangelisten auf – beachtenswert für die weitere redaktionsgeschichtliche Forschung –, andererseits spitzte er zu, indem er eine galiläische und eine Jerusalemer Urgemeinde (re‐)konstruierte, deren theologische Relevanz sich in der Herausbildung verschiedener christologischer Ansätze spiegele. Dieser gerade in seiner Problematik weiterführende Beitrag²⁰⁰ fand in

 Vgl. Aland, Glanz und Niedergang (s. Anm. 194), 115 f. und die Briefe Nr. 771.773 sowie Nr. 636.637; vgl. ebd. auch den Brief von W. Macholz über Lohmeyers Methode (Nr. 655); Lührmann, Erbe (s. Anm. 194), 61 ff.; F. Gogarten in einem Brief an R. Bultmann vom 26.12.1931 (Bultmann – Gogarten, Briefwechsel [s. Anm. 17], Nr. 108) sieht in H. Lietzmann einen „liberalen Orthodoxen“ und meint: „Ich verstehe nur nicht, wie Lietzmann so dumm sein kann, einen solchen Brief zu schreiben“ (S. 203). Gogarten steht bewußt auf der Seite Lohmeyers. Im übrigen vgl. Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 224 ff., mit wichtiger, jedoch keineswegs vollständiger Dokumentation der damaligen Auseinandersetzung.  Veröffentlicht in: Kerygma und Mythos, Bd. 1 (s. Anm. 50), 154– 165, u. Nachdrucke, z. B. in: Otto, Freiheit (s. Anm. 171), 18 – 35; dazu die Postkarte E. Lohmeyers an R. Bultmann vom 6.11. 1944 (bei Hutter, Theologie als Wissenschaft [s. Anm. 170], 159): „Die Hauptdifferenz scheint mir nach wie vor in den methodischen Fragen zu liegen.“  Vgl. auch Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 44 f. u. ö.  Aland, Glanz und Niedergang (s. Anm. 194), Nr. 654 (S. 594).  Vgl. Bultmann, Theologie (s. Anm. 13), 55 f.; W. Marxsen, Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, FRLANT N.F. 49, Göttingen 1956 (²1959), 71 ff. u. ö.; W. G.

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Lohmeyers Mk-Auslegung vielfachen Eingang. – Die zweite Untersuchung „Kultus und Evangelium“ (1942), in bewußtem „Anschluß“ an „Galiläa und Jerusalem“, an „Aufsätze(n) über das urchristliche Abendmahl und die johanneische Fußwaschung“ konzipiert (Vorwort, 4), ist thematisch insgesamt den Synoptikern zugewandt.²⁰¹ Vorbereitungen der Auslegung des Matthäus-Evangeliums (61 ff.) werden ebenso sichtbar wie auch eine Skizze der Verkündigung und des Wirkens Jesu. In vieler Hinsicht sind die Ausführungen eine Zusammenfassung seiner Arbeit an den Evangelien. – Die dritte Untersuchung „Gottesknecht und Davidssohn“ (1945), „in der winterlichen Zeit 1942/43 im Kaukasus niedergeschrieben“ (Vorwort), diente vornehmlich der (Vor‐)Klärung christologischer Fragen im Matthäus-Evangelium. Lohmeyers letztes Werk „Das Vater-unser“ (1946) ordnet das Werden dieses Hauptgebetes Jesu und der Christenheit in die theologischen Sachfragen des [46] Evangeliums ein. Es ist für Lohmeyer „das klare und große Zeugnis dessen, was Jesus geschichtlich gewirkt und verkündet hat“ (213).²⁰² Lohmeyers wissenschaftliches Nachwirken war im 20. Jahrhundert durch Nachdrucke (ergänzte Neuauflagen) und Veröffentlichungen aus dem Nachlaß für lange Zeit gegeben, ließ dann etwas in ihrer Intensität nach, steigerte sich aber seit 1990 auch in biographischen Untersuchungen und in gedenkenden Ehrungen.²⁰³ Einzelfragen zu seiner Exegese sind selbstverständlich, und die Einschätzung seines methodischen Vorgehens in der Öffnung historisch-kritischer Forschung²⁰⁴ ist heute als Methodenpluralismus virulent, freilich ohne den theologischen Impetus von Ernst Lohmeyer zu bedenken. Im Werk von Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. „Jesus von Nazareth“ (2007) – ist Lohmeyers Grundanliegen – ohne Bezug auf ihn – vielfach gegenwärtig. „Dort Fragen gestellt zu haben und zu stellen, wo man gewöhnt ist, keine Fragen mehr zu sehen“, ist sein schon mit 38 Jahren ausgesprochenes Vermächtnis an die neutestamentliche Wissenschaft.²⁰⁵

Kümmel, Das Neue Testament im 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, SBS 50, Stuttgart 1970, 40.  Es handelt sich in dieser Abhandlung um ausgearbeitete Vorträge, die der Verfasser 1939/40 in Uppsala (und Lund) gehalten hat. Sie sind seinem Freunde Anton Fridrichsen gewidmet.  Vgl. im übrigen grundlegend P. Vielhauer, Vaterunser-Probleme, VF 3, 1949/50, 219 – 224.  Vgl. u. a. Lührmann, Erbe (s. Anm. 194), 53 ff.85 ff.; Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s. Anm. 170), 290 ff.  Wobei seine einseitige Bindung an ein philosophisches System belastend blieb.  So E. Lohmeyer, Der Brief an die Philipper, KEK 9, Göttingen 1928, 8.

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Schüler Gottfried Fitzer (1903 – 1997); Werner Schmauch (1905 – 1964); Gerhard Saß – Bernhard Aebert (1911– 1944); Katharina Staritz (1903 – 1953) in weiterem Sinne. Bibliographie: bei A. Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer. Studien zu Biographie und Theologie, WUNT 2/180, Tübingen 2004, 342– 351; zu Lohmeyers Heranziehung in der SekundärLiteratur von 1945 – 1990: H. Schmidt, Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte 16 (1999), 296 f. – Würdigungen: E. Esking, Glaube und Geschichte in der theologischen Exegese Ernst Lohmeyers. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der neutestamentlichen Interpretation, ASNU 18, Kopenhagen 1951; W. Otto (Hg.), Freiheit in der Gebundenheit. Zur Erinnerung an den Theologen Ernst Lohmeyer, Göttingen 1990 (Lit.); U. Hutter, Theologie als Wissenschaft. Zu Leben und Werk Ernst Lohmeyers (1890 – 1946). Mit einem Quellenanhang, Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 69, 1990, 123 – 169; G. Haufe, Gedenkvortrag zum 100. Geburtstag Ernst Lohmeyers, Greifswalder Univ.– Reden N.F. 59, 1991, 6 – 16; ders., Art. Lohmeyer, Ernst, TRE 21, 1991, 444– 447 (Lit.); W. Otto (Hg.), „Aus der Einsamkeit“ – Briefe einer Freundschaft. Richard Hönigswald an Ernst Lohmeyer, Würzburg 1999; W. Baird, History of New Testament Research, Vol. 2: From Jonathan Edwards to Rudolf Bultmann, Minneapolis 2003, 462– 469; A. Köhn, Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (s.o.) (Lit). [47]

Karl Ludwig Schmidt (1891 – 1956) Leben Karl Ludwig Schmidt²⁰⁶ wurde am 5. Februar 1891 als Sohn eines Handwerksgesellen, des Schuhmachers Anton Friedrich Schmidt, und seiner Ehefrau, einer aus der Rhön stammenden Tochter einer Bauernfamilie, Johannette Dorothea, geb. Stranz, in Frankfurt/M. geboren. In gesellschaftlich und vor allem auch finanziell sehr beengten Verhältnissen wuchs er auf. Nur unter größten Opfern der Familie war ihm der Besuch des angesehenen Lessing-Gymnasiums in Frankfurt (1901– 1909) möglich, das er als herausragend guter Schüler durchlief. Zunächst auf Anraten seiner Frankfurter Lehrer von 1909 an in Marburg dem Studium der Klassischen Philologie zugewandt (mit Lehrveranstaltungen in der Theologie) widmete er sich nach dem ersten Studienjahr ganz der Theologie (wohl nicht ohne den Eindruck, den er von Wilhelm Herrmann und Martin Rade gewann). Vom

 Vgl. zum Folgenden: P. Vielhauer, Karl Ludwig Schmidt, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Evangelische Theologie, Bonn 1968, 190 – 224; A. Mühling, Karl Ludwig Schmidt. „Und Wissenschaft ist Leben“, AKG 66, Berlin 1997 (dazu O. Merk, Bespr., ZBKG 67, 1998, 264– 267 [mit weiteren Quellen]); ders., Art. Schmidt, Karl Ludwig (1891– 1956), TRE 30, 1999, 231– 233.

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Wintersemester 1910/11 an studierte er Theologie in Berlin, wobei seine spezielle Hinwendung zur Fachrichtung Neues Testament durch Adolf Deißmann erfolgte. Aufgrund einer erfolgreichen Preisarbeit 1912 wurde er 1913 mit leichter Erweiterung dieser Arbeit in der Berliner Theologischen Fakultät promoviert: „Das Problem der Einheitlichkeit des Johannes-Evangeliums mit Berücksichtigung der neueren Interpolationshypothesen“ (nicht im Druck erschienen). Seit der Promotion zum Lizentiaten der Theologie wurde er – noch ohne theologisches Fachexamen – Assistent bei seinem Doktorvater Adolf Deißmann (bis 1921), jedoch mit Unterbrechung im Ersten Weltkrieg. Hier erlitt der Offiziersanwärter 1915 einen so schweren Kopfschuß, daß er 1916 aus dem Heeresdienst (mit nachfolgender Zuerkennung einer Kriegsversehrtenrente) entlassen wurde. Nach leidlicher Genesung konnte er das 1. theologische Examen und ein (Kurz‐)Vikariat in Berlin gesundheitlich bewältigen und sich – literarkritisch und philologisch schon durch seine Dissertation bestens ausgewiesen – Anfang 1918 unter Deißmanns Förderung habilitieren mit der Arbeit: „Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung“ (1919 im Druck erschienen). – 1918 heiratete er Ursula von Wegnern, die Tochter eines Staatsministers. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. 1921 wurde er ordentlicher Professor in Gießen,²⁰⁷ 1925 in gleicher Eigenschaft in Jena, 1929 entsprechend in Bonn. Doch die Bonner Jahre sollten sich schon vor dem 30. Januar 1933 politisch und kirchenpolitisch für ihn als schwierig gestalten. Da Schmidt im März 1933 in die Bonner Stadtratsfraktion der SPD gewählt wurde (dieser Partei gehörte er seit 1924 an), aus der er am 21. [48] April mehr oder weniger gezwungen austrat, war das Ende seiner Bonner Zeit eingeläutet. Für das Sommersemester 1933 gewährte man ihm Beurlaubung zur wissenschaftlichen Arbeit, am 15. September des Jahres wurde er aus dem Staatsdienst entlassen. Seine Pensions- und Kriegsrentenzahlungen wurden gesperrt (entgegen anderslautenden Gesetzen). Die Gelegenheit eines schon länger zugesagten Vortrags für die Pfarrerschaft des Kantons Bern im November 1933²⁰⁸ nutzte er, nicht nach Deutschland zurückzukehren, so ungewiß zunächst seine und seiner verstreut zurückgebliebenen Familie Zukunft auch war. – Selbst seine im Sinne seines Lehrers Deißmann seit Jahren aktiv geförderte ökumenische Arbeit zeigte ihre Grenzen bei der Suche eines neuen Betätigungsfeldes. Kurze Pfarrverwesungen in Zürich-Seebach und in Lichtensteig/Toggenburg (Kanton St. Gallen) (1934) waren menschlich aufrich A. v. Harnack war hier einflußreicher und freundlich Schmidt zugewandter Vermittler; vgl. Mühling, K. L. Schmidt (s. Anm. 206), 38 f.  Vgl. K. L. Schmidt, Das Christuszeugnis der synoptischen Evangelien, in: Jesus Christus im Zeugnis der Heiligen Schrift und der Kirche, BEvTh 2, München 1936, 7– 33.

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tend, vermochten aber nicht oder nur in geringem Maße finanzielle Entlastung für die hart betroffene Familie zu bieten. Erst mit dem Ruf nach Basel zum Wintersemester 1935/36 konnte sich sein und seiner Familie Leben wieder normalisieren, aber durch Krankheit in der Familie mit Klinik- und Kuraufenthalten blieb vorerst die Lage finanziell äußerst angespannt.²⁰⁹ Bis Anfang des Zweiten Weltkriegs kehrte bei Schmidt eine gewisse innere, wissenschaftlicher Arbeit dienliche Ordnung wieder ein, aber gleichzeitig blieben die Jahre aufgewühlt durch den staatlich verordneten Entzug der Redaktionstätigkeit der „Theologischen Blätter“ (1937), durch die erzwungene Einstellung der Mitarbeit am ThWNT (1939) und durch die Ausbürgerung als deutscher Staatsangehöriger. Er war in seiner Fakultät (in der auch seine früheren Bonner Kollegen K. Barth und F. Lieb wirkten) sehr angesehen, 1939/40 und 1945/46 ihr Dekan und Redakteur (1945 – 1952) der von der Theologischen Fakultät Basel herausgegebenen „Theologischen Zeitschrift“. Dazwischen aber lagen erneut schwere Zeiten: Seit 1941 machte sich seine alte Kriegsverletzung durch unerträgliche Kopfschmerzen bemerkbar, so daß Schmidt mit ungewöhnlich starken Mitteln der Schmerzlinderung nur etwas – fast wie im Rauschzustand – arbeiten konnte, sich durch Morphica nahezu vergiftete und 1943 über Monate hinweg eine diesbezügliche Entziehungskur durchmachen mußte. Erst im Jahr 1944 konnte er wieder wirklich arbeiten, aber es fehlten die Kraft und der Schwung früherer Jahre. – Im Januar 1952 erlitt er während der Vorlesung einen schweren Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. 1953 wurde er krankheitshalber emeritiert. Für seinen außerordentlich elenden Zustand spricht auch, daß er zu dieser Zeit seine gesamte Korrespondenz vernichtete und damit ein geisteswissenschaftliches Erbe hohen Ranges auslöschte. – Als Pflegefall erlöste ihn der Tod am 10. Januar 1956. Hinter diesem bewegenden Leben birgt sich eine schwer faßbare Persönlichkeit.Vielfach fühlte sich Schmidt als durch seine Herkunft benachteiligt, nicht genügend berücksichtigt. Doch ungemein agil wirkte er, wo es nur ging, überall mit, hielt sich – auch in den Augen anderer – für unentbehrlich und wollte [49] mit seinem Urteil gehört werden. Er führte eine gewaltige Korrespondenz²¹⁰ und stand laufend mit einschlägigen Stellen in Ministerien und Kirchenleitungen in Verbindung. Er setzte sich für andere ungemein ein, konnte aber auch Freunde wieder fallen lassen. Er war kämpferisch, und mutig ergriff er dort das Wort, wo andere tunlichst – auch aus Opportunitätsgründen – schwiegen. Vor allem übersteigerte

 Doch brauchte er jetzt nicht mehr Teile seiner großen Bibliothek zu verkaufen, wie er es seit 1934 wegen des Unterhalts seiner Familie getan hatte.  Z. B. für das Jahr 1935, so berichtet Schmidt an F. Lieb, hatte er 3.000 Posteingänge und etwa 1.600 Postabgänge (Nachweis mit Beleg bei Mühling, K. L. Schmidt [s. Anm. 206], 176 Anm. 613).

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er sich darin, daß er ihm nicht Gelingendes sofort als gegen ihn persönlich gerichtet ansah. Bei angedachten, aber durch die Zeitumstände nicht zu verwirklichenden Berufungen an die Universitäten Bonn und Frankfurt/M. nach Kriegsende witterte er sofort persönlich ihn treffen sollende Intrigen. Zu Recht war er tief verletzt über all das ihm Widerfahrene, aber auch er konnte verletzen und ungerecht urteilen, z. B. wegen exegetischer Unfähigkeit Mitglieder der Bekennenden Kirche ins Unglück stürzen.²¹¹ Vieles in diesem Verhalten erklärt sich aus der schweren Kriegsverletzung, die den Gelehrten physisch und psychisch an die Grenzen der Existenz führte. Nicht daraus erklärbar aber ist die ihm vom Elternhaus eingewöhnte antisemitische Haltung,²¹² die den Emigrierten nicht davor zurückschrecken ließ, Menschen jüdischer Herkunft, die glücklicherweise dem nationalsozialistischen Deutschland entkommen waren, im Ausland herabzusetzen.²¹³ Doch seine Stellung zum Judentum war ambivalent. Zu bleibenden, über ihn selbst hinausweisenden Eindrücken gehört sein Gespräch mit Martin Buber am 14. Januar 1933 im Stuttgarter jüdischen Lehrhaus als ein fast letztes Zeugnis europäischer Kultur²¹⁴ – zwei Wochen vor der Machtübernahme Hitlers. – In seiner Schrift „Die Juden in Römer 9 – 11“ (1943) zeigt er u. a. mit wichtigen lexikographischen Nachweisen, was es mit den Bezeichnungen „Jude“, „Israelit“, „Hebräer“ auf sich habe, hier offensichtlich auch das Schicksal jüdischer Menschen im Europa des 20. Jahrhunderts im Blick, aber auch mit mißverständlich zeitgebundenen Feststellungen.²¹⁵

Werk und Wirkung Hinsichtlich seines Werkes ist zunächst übergreifend seine Herausgebertätigkeit anzuführen. Er schuf aus einer Zeitung des Eisenacher Kartells,²¹⁶ die er im Auftrag seiner Verbindung betreute, die theologisch und kirchlich aktuell informierende Zeitschrift „Theologische Blätter“. Von 1922 bis 1937 war er [50] ihr Herausgeber und Redakteur. Es war seine Zeitschrift, die er mit Leidenschaft, theologischem  Vgl. Mühling, K. L. Schmidt (s. Anm. 206), 179 f.  Vgl. Mühling, K. L. Schmidt [s. Anm. 206], 8 f.  Vgl. Merk (s. Anm. 206), 267; F. W. Graf, Ein Theologe mit Schmiß, FAZ vom 1.10.1997 (Nr. 228), S. 14.  K. L. Schmidt / M. Buber, Kirche, Staat, Volk, Judentum, ThBl 12, 1933, 257– 274.  Vgl. K. L. Schmidt, Die Juden in Römer 9 – 11, ThSt 13, Zollikon 1943, z. B. 23 f.61 Anm. 33. – Auch sein Büchlein „Ein Gang durch den Galaterbrief. Leben, Lehre, Leitung in der Heiligen Schrift“, ThSt 11/12, Zollikon 1942 bietet u. a. detaillierte Hinweise auf das Judentum.  = „Kartell-Zeitung. Organ des Eisenacher Kartells Akademisch-Theologischer Vereine“. K. L. Schmidt war vom ersten Semester an Verbindungsstudent (Burschenschaftler).

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Impetus und mit ungewöhnlichen publizistischen Fähigkeiten zu hohem Rang führte. Als er sie, wie oben angeführt, als Emigrierter abgeben mußte, sein seit seiner Emigration Mitredakteur Hermann Strathmann diese aber in theologischer Verantwortung für Wissenschaft und Kirche bis 1942 (Verbot wegen angeblichen Papiermangels) weiterführte, vermochte Schmidt darauf nur mit schroffer Ablehnung zu reagieren ohne Rücksicht auf jüdische und antinationalsozialistische Autoren, die in den ThBl – wenn auch mit zunehmend staatlichen Schwierigkeiten – noch veröffentlichen konnten.²¹⁷ – Dem gegenüber war die „Theologische Zeitschrift“ (Basel) von ihrer Herausgeberstruktur anders gelagert, so daß hier Schmidt redaktionelle Erfahrung gewichtig einbrachte, aber ihr nur begrenzt sein eigenes Profil geben konnte.²¹⁸ Schmidts Hauptwerk ist „Der Rahmen der Geschichte Jesu“ (1919; Nachdrucke 1964, 1969), das ihn zu den Mitbegründern der formgeschichtlichen Methode machte und ihm Martin Dibelius und Rudolf Bultmann mit ihrem einschlägigen Werken zuordnen ließ. Bultmanns kurze Charakterisierung trifft:²¹⁹ „Das Ergebnis seines Buches war die gesicherte Erkenntnis, daß der ganze aus topographischen und chronologischen Notizen bestehende Rahmen der Geschichte Jesu, also alles, was die einzelnen Episoden verknüpft, redaktionelle Arbeit der Evangelisten ist, wobei Schmidt nur die Leidensgeschichte ausnehmen will. Der überlieferte Aufriß des Lebens Jesu, mit dem die traditionellen Darstellungen des Lebens Jesu arbeiten, ist also keine Geschichte.“

Die ergänzende, fast monographische Studie in der Festschrift für Hermann Gunkel „Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte“ (1923 erschienen)²²⁰ fand ebenfalls kurze Würdigung bei Bultmann: Hier hat der Autor „die Evangelienbildung in Analogie gestellt zu volkstümlichen Traditionsbildungen, die sich an geschichtliche oder sagenhafte Persönlichkeiten anschließen, wie Apollonius von Tyana, Franz von Assisi, der große Maggid der chassidischen Bewegung, Dr.

 Vgl. Merk (s. Anm. 206), 266 mit Nachweisen.  Vgl. auch A. Mühling, Die Anfangsjahre der Theologischen Zeitschrift und ihr Redaktor Karl Ludwig Schmidt, ThZ 50, 1994, 286 – 294.  Bultmann, Urchristliche Religion (s. Anm. 10), 118; vgl. aber differenziert zu wichtigen auch methodischen Einzelfragen Bultmanns umfassende Besprechung in: Wochenschrift für klassische Philologie 37, 1920, 209 – 212.241– 247, wiederabgedruckt in: ders., Theologie als Kritik (s. Anm. 28), 104– 111 (dazu die aufschlußreiche Analyse von Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker [s. Anm. 28], 138 ff.); wichtig bleiben auch die Besprechung von M. Dibelius, ThLZ 45, 1920, 77– 79, und die Beurteilungen bei Fascher, Die formgeschichtliche Methode (s. Anm. 10), 46 ff.180 ff.; Vielhauer, K. L. Schmidt (s. Anm. 206), 191 ff.; Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 74), 419 ff.  In Doppelpaginierung wieder abgedruckt in: K. L. Schmidt, Neues Testament, Judentum, Kirche. Kleine Schriften, hg. zu seinem 90. Geburtstag am 5. Februar 1981 v. G. Sauter, TB 69, München 1981, 37– 130.

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Faust. Die Analogien sollen die Evangelien als zur Kleinliteratur gehörige Volksbücher [51] und Kultlegenden verstehen lehren. Ganz geklärt scheinen mir die Begriffe noch nicht zu sein; denn der Begriff eines kultischen Volksbuchs ist mir höchst fraglich.“²²¹

Schmidts zusammenfassende Darstellung bietet sein Artikel „Formgeschichte“ (RGG² 2, 1928, 638 – 640), zugespitzt auf die Fragestellung: „in allen Evangelien des ntl. Kanons wird letztlich in einer Fülle von Einzelspiegelungen das Thema der Menschwerdung des Logos behandelt“ (640). Die formgeschichtlichen Konsequenzen werden negativ wie positiv in dem Artikel „Jesus Christus“ (RGG² 3, 1929, 110 – 151) entfaltet, in dem Schmidt auch die Rückführung von Mt 16,18 auf Jesus begründet. Der „Quellort der Kirche“ (Sp. 148 f., in loser gedanklicher Anlehnung an F. Kattenbusch) – unter philologischer Berücksichtigung des hebräischen bzw. aramäischen Parallelbegriffs oder Korrelats – ist „die Sondergemeinde“, „das Volk Gottes im Rahmen der Eschatologie“, zusammengefaßt: „die Gemeinde, die mit J.[esus] und seinen Jüngern gegeben ist, ist Israel, nur Israel, der Rest Israels, das Israel der Endzeit“ (148). – Damit hatte er selbst auf den Kernpunkt seines zuvor erschienenen Aufsatzes „Die Kirche des Urchristentums. Eine lexikographische und biblisch-theologische Studie“²²² gewiesen und einer Fragestellung sich zugewandt, die für ihn in weiteren Arbeiten zur Ekklesiologie leitend sein sollte. In seinem Artikel „καλέω κτλ.“ (einschließlich „ἐκκλησία“, ThWNT III, 1938, 488 – 539, bes. 522 ff.) wird ein gewisser Höhepunkt in seiner Argumentation und Darlegung erreicht, auch wenn zukünftige Forschung nicht nur zustimmend, sondern auch in deutlich kritischem Widerspruch seine Überlegungen aufgriff. – Eine Fortführung des Problemkreises sah Schmidt in seiner Untersuchung im „Rektoratsprogramm der Universität Basel für das Jahr 1939“ (1939) über „Die Polis in Kirche und Welt. Eine lexikographische und exegetische Studie“ (vgl. S.VI). Hier wird wie in seinen ThWNT-Artikeln unter sorgfältigster philologischer Entfaltung das Verständnis der Polis in ihrem Gegenüber zum Wesen und Anderssein der Kirche herausgearbeitet: „Das Reich Gottes wird sein, wenn es keine Staaten mehr gibt. Die Kirche, der dieses Reich verheißen ist, befindet sich im Gegenüber zum Staate, weil sie selbst auf den wahren Staat, die himmlische Polis, ausgerichtet ist“ (110).²²³  Bultmann, Urchristl. Religion (s. Anm. 10), 120; zur Problematik „Kultbuch“ auch Fascher, Methode (s. Anm. 10), 191.217 ff.; Vielhauer, K. L. Schmidt (s. Anm. 206), 196 ff., bes. 199.  In: K. L. Schmidt (Hg.), Festgabe Adolf Deißmann, Tübingen 1927, 258 – 319, bes. 283 ff.; vgl. dazu Vielhauer, K. L. Schmidt (s. Anm. 206), 204: „Diese vielbeachtete Arbeit hat das Problem ‚Kirche‘ theologisch aktuell gemacht und nachhaltigen Einfluß ausgeübt.“; vgl. auch Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 74), 506 ff.  Dort Sperrdruck; vgl. auch K. L. Schmidt, Das Gegenüber von Kirche und Staat in der Gemeinde des Neuen Testaments, ThBl 16, 1937, 1– 16 (Wiederabdruck in: ders., Neues Testa-

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Die Paulus-Forschung steht nicht im Zentrum seiner Forschungen. Seine beiden Vorträge „Die Stellung des Paulus im Urchristentum“²²⁴ und „Der Apo[52] stel Paulus und die antike Welt“²²⁵ bieten umfassend Einblick in den damaligen Stand der Paulus-Interpretation, fragen für die „Persönlichkeit des Paulus“ nach dem Besonderen seiner Stellung in der hellenistischen Welt²²⁶ und erweisen den Autor als besonnenen Schüler Deißmanns. Auch wird seine freundlich-kritische Distanz zur „Dialektischen Theologie“ deutlich. Die Breite von Schmidts Interessen und Forschungen zeigt sein in Basel gehaltener und ausgestalteter Vortrag im Wintersemester 1943/44: „Kanonische und apokryphe Evangelien und Apostelgeschichten“ (AThANT 5, 1944), der teilweise zu Fragestellungen seiner wissenschaftlichen Anfangszeit zurückführt. Auch komplexere Sachverhalte werden in sehr verständlicher Darstellung in motivischer Vergleichung und wechselseitiger Prüfung der „apokryphen“ Berichte mit biblischen Aussagen unter ständiger kritischer Rückfrage nach den Grenzen des neutestamentlichen Kanons behandelt (22 ff.37 ff.78 ff.).²²⁷ Der Auftrag, eine „Biblische Theologie“ zu schreiben, wurde dem Emigrierten seitens eines renommierten deutschen Verlages wieder entzogen; eine schon angezeigte Abhandlung „Das neutestamentliche Doppelgebot der Liebe“ ist nicht erschienen. Das wissenschaftliche Werk von Karl Ludwig Schmidt ist in den Umbrüchen seines Lebens und seiner Zeit nicht voll gerundet, doch zeugt es von Achtung gebietenden Einsichten und Problemstellungen und von intensiver Arbeit eines im Herzen liberalen Theologen.

ment, Judentum, Kirche [s. Anm. 220], 167– 191). Der Verfasser schrieb zahlreiche fundierte Artikel im ThWNT (im Umfang von etwa 140 Seiten). Daß diese dem unten erwähnten, nicht erschienenen Werk dienen sollten, ist wahrscheinlich.  Zuerst in: VTKG 39, 1924, 3 – 17 (Wiederabdruck in: Schmidt, Neues Testament, Judentum, Kirche [s. Anm. 220], 131– 147).  Zuerst in: VBW 1924– 1925, 1927, 38 – 64; zitiert nach: Das Paulusbild in der Neueren deutschen Forschung, in Verbindung mit U. Luck hg. v. K. H. Rengstorf, WdF 24, Darmstadt 1964, 214– 245.  Vgl. den Anm. 225 genannten Vortrag, 230.234 ff.: Das besondere ist a) das „Mysterium des Kreuzes“, b) dieses Mysterium „ist nicht gebunden an den Taufritus“ (236, dort im Sperrdruck), näherhin: als „σῶμα Χριστοῦ“ die alttestamentliche „ἐκκλησία θεοῦ zu sein“, unterscheidet Christen von jeglichem Mysterienverein (237), zusammengefaßt: „Vom σταυρὸς Χριστοῦ blicken wir nicht nur auf Gott, sondern wir erkennen das Sein, die Existenz des Menschen“ (237).  Vgl. auch Vielhauer, K. L. Schmidt (s. Anm. 206), 21 ff.

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Schüler Ernst Fuchs (Habilitation); Eduard Schweizer (Promotion); Heinrich Schlier (Habilitation). Bibliographie in: K. L. Schmidt, Neues Testament, Judentum, Kirche. Kleine Schriften. Herausgegeben zu seinem 90. Geburtstag am 5. Februar 1981 v. Gerhard Sauter, TB 69, München 1981, 307– 321. – Würdigungen: O. Cullmann, Karl Ludwig Schmidt 1891– 1956, ThZ 12, 1956, 1– 9; P.Vielhauer, Karl Ludwig Schmidt, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Evangelische Theologie, Bonn 1968, 190 – 214; J. C. Meagher, The Implications for Theology of a Shift from the K. L. Schmidt Hypothesis of the Literary Uniqueness of the Gospels, in: B. Corley (Hg.), Colloguy on New Testament Studies: A Time for Reappraisal and Fresh Approaches, Macon 1983, 202– 233; E. Schweizer, Karl Ludwig Schmidt – Abschied von Illusionen über Jesus und die Kirche, ThZ 47, 1991, 193 – 207; A. Mühling, Karl Ludwig Schmidt. „Und Wissenschaft ist Leben“, AKG 66, Berlin 1997 (Lit.); ders., Art. Schmidt, Karl Ludwig (1891– 1956), TRE 30, 1999, [53] 231– 233; O. Merk, Besprechung v. A. Mühling [1997], ZBKG 67, 1998, 264– 267; P. D. Moessner, Art. Schmidt, Karl Ludwig (1891– 1956), DBI 2, 1999, 444 f.; W. Baird, History of New Testament Research, Vol. 2: From Jonathan Edwards to Rudolf Bultmann, Minneapolis 2003, 270 – 273.

Julius (Daniel) Schniewind (1883 – 1948) Leben Julius Daniel Schniewind wurde am 28. Mai 1883 in Elberfeld als Sohn des Seidenfabrikanten Julius Schniewind und seiner Ehefrau Elisabeth, geb. Burchard, einer Hamburgerin, geboren. Die Familie war evangelisch-lutherisch, väterlicherseits geprägt vom rheinisch-bergischen Pietismus, in dessen Sinne nach dem frühen Tod des Mannes auch der Sohn (mit seinen Geschwistern) von der Mutter, die aus liberalem Elternhaus kam, erzogen wurde. 1901 legte er am Elberfelder Gymnasium sein Abitur ab. Er studierte, zunächst schwankend zwischen ausübender Musik und Theologie – Schniewind war von frühen Jahren an und lebenslang ein ausgezeichneter Pianist –, dann doch aus Überzeugung Theologie in Bonn, Halle, Berlin und Marburg. Die beiden theologischen Examina legte er im Oktober 1905 und April 1910 beim Prüfungsamt der Rheinischen Kirche in Koblenz ab. Zwischen beiden Prüfungen arbeitete er u. a. zuhause im väterlichen Betrieb mit und bereitete zugleich seine Dissertation (unter Betreuung von E. Haupt) vor, die er unter dem Thema „Begriff und Wort Evangelium bei Paulus“ in Halle einreichte. Am 19. Februar 1910 fand das Rigorosum statt, am 9. Juli 1910 wurde ihm die Lizentiatenwürde verliehen. Daß sein Doktorvater am Tag seines Rigorosums starb, war für Schniewind im Hinblick auf seinen weiteren akademischen Weg belastend, obwohl für ihn der beeindruckendste Lehrer lebenslang Martin Kähler

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war, mit dem schon seine Eltern verbunden waren. 1914 legte er ebenfalls in Halle seine Habilitationsschrift vor mit dem Titel „Die Parallelperikopen bei Lukas und Johannes“. Im Ersten Weltkrieg war er Feldgeistlicher. Er kehrte erst 1921 in seine Privatdozentur nach Halle zurück und wurde im selben Jahr in seiner eigenen Fakultät außerordentlicher Professor für „Neutestamentliche und patristische Philologie und Schriftenkunde“. 1927 folgte die Berufung auf den Lehrstuhl für Neues Testament in Greifswald als ordentlicher Professor, 1929 in gleicher Eigenschaft in Königsberg. 1935 wurde er wegen erklärter Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und als Mitglied der Bekennenden Kirche als für eine Grenzuniversität unzuverlässig nach Kiel strafversetzt. Bereits 1936 folgte die Berufung nach Halle.²²⁸ – Wegen nicht genehmigter Teilnahme an einer Tagung der Bekennenden Kirche in Ostpreußen wurde Schniewind im März 1937 für ein Jahr unter gleichzeitigem Verlust seiner Gehaltszahlungen suspendiert. Einladungen ins Ausland wurden ihm behördlich versagt. Von 1938 bis 1945 traf ihn mehrfach Berufsverbot, in den Jahren des [54] Zweiten Weltkriegs aber war ihm das Abhalten von Lehrveranstaltungen erlaubt. Erst von 1945 an konnte er seinen Lehrstuhl wieder voll wahrnehmen. Aber er war von März 1946 an zugleich Propst des Sprengels Halle-Merseburg und damit von kirchlichen Aufgaben so überlastet, daß die Ausübung der Professur darunter leiden mußte. Der völlig Erschöpfte starb nach einer Operation am 7. September 1948 in Halle, am Todestag seines einstigen akademischen Lehrers und prägenden Vorbildes Martin Kähler († 7.9. 1912).

Werk und Wirkung Das Werk kann nur unter dem Blick des rastlos im Einsatz für seine Studenten und jungen Pfarrer wirkenden Hochschullehrers gewürdigt werden, der neutestamentliche Wissenschaft im Vollzug geistiger und geistlicher Zurüstung für das Amt in vielfach verunsicherten Jahren, besonders 1933 bis 1945 und in der ersten Nachkriegszeit, vermittelte und lebte. Bis in schlaflose Nächte hinein litt er selbst existentiell unter dieser Verantwortung.²²⁹

 Dort war E. Klostermann zwangspensioniert worden und der Nachfolger des im Amt verstorbenen E. v. Dobschütz, Hans Windisch, wenige Wochen nach seinem Amtsantritt (aufgrund Strafversetzung von Kiel nach Halle) gestorben.  Seine wichtigsten Beiträge aus dieser Situation erwachsen sind: „Die wissenschaftliche Arbeit am Neuen Testament und die kirchliche Praxis“, in: Gottes Herrschaft, Flugschriften für die evangelische Kirche im Osten, hg. v. G. Bornkamm u. K. v. Grot, Heft 1, 1935, 14– 24; „Die geistliche Erneuerung des Pfarrerstandes“, Berlin 1947 (²1949 erweitert). Zur Charakterisierung

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Viele geplante Arbeiten blieben halbfertig liegen, teilweise erschienen Vorträge und Aufsätze nach seinem Tode, das von ihm zu Lebzeiten Veröffentlichte erwies sich als wegweisend. Seine Dissertation greift mit der Begriffsuntersuchung zu „Wort“ und „Evangelium“ bei Paulus bereits Schwerpunkte seines nachfolgenden wissenschaftlichen Werkes auf. – Den begriffsgeschichtlichen Nachweis, daß zwar nicht das Wort „Evangelium“, wohl aber das dazugehörige Verbum „frohbotschaften“ als religiöser Begriff und der „Freudenbote“ als Überbringer solcher Botschaft seine Wurzel bei Deuterojesaja haben, legte Schniewind in seiner Untersuchung „Euangelion. Ursprung und erste Gestalt des Begriffs Evangelium“ vor (1. Teil 1927; 2. Teil 1931). Der Abschluß des Werkes kam nicht zustande. Doch unter Benutzung von Schniewinds noch unveröffentlichtem Material und teilweiser Auswertung ergab sich durch Gerhard Friedrich, daß dieser von Schniewind erwiesene Sprachgebrauch sich in der Weiterentwicklung in Aussagen der Rabbinen finde und dies auch für die Zeit Jesu gelte.²³⁰ Durch Schniewinds Untersuchung war – wenn auch in der weiteren Forschung nicht unbestritten – begründet nahe gelegt, daß die Sache der Frohbotschaft, das „Evangelium“ im Singular ausgedrückt, nicht mehr – wie bisher üblich – begrifflich einfach der hellenistischen Welt zugeordnet werden konnte. [55] Eigentlich sollte Schniewind sämtliche Wortgruppen, die mit „verkündigen“ zusammenhängen, im ThWNT bearbeiten. Wenn es auch dazu unter der Fülle sonstiger Aufgaben nicht kam, methodisch weiterführend blieb sein Grundsatz, daß Begriffsgeschichte zur theologischen Explikation neutestamentlicher Sachverhalte führe. Die Synoptikerforschung war sein wichtigstes Arbeitsgebiet. In einem groß angelegten und in einem ersten Teil veröffentlichten Bericht „Zur SynoptikerExegese“ (ThR N. F. 2, 1930, 129 – 189) zeigt er auf der Basis der ihm selbstverständlichen und unabdingbaren historisch-kritischen Forschung einerseits ihm sinnvoll begründbare Modifizierungen der von ihm anerkannten Zwei-QuellenTheorie, andererseits nimmt er für seine eigene exegetische Arbeit die (damals) bahnbrechende formgeschichtliche Arbeit auf.

von Schniewinds Dasein vgl. auch H.-J. Kraus, Julius Schniewind. Charisma der Theologie, Neukirchen-Vluyn 1965, 10 ff.255 ff.; W. Gutjahr, Schniewinds letzte Jahre (abgedruckt bei Kraus, J. Schniewind, 26 ff.).  Vgl. G. Friedrich, Art. εὐαγγέλιον κτλ., ThWNT II, 1935, 705 – 735; Hinweise bereits bei J. Schniewind, Art. ἀγγελία κτλ., ThWNT I, 1933, 56 – 71; vgl. im übrigen Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 74), 442 ff. u. 562 Anm. 403; P. Stuhlmacher, Das paulinische Evangelium, Bd. I, FRLANT 95, Göttingen 1968, 30 ff.; weiteres bei E. Lohse, Freude des Glaubens. Die Freude im Neuen Testament, Göttingen 2007, bes. 86 Anm. 10 u. ö.

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Geplant war von den Herausgebern, daß Schniewind die drei Synoptiker in der Reihe „Neues Testament Deutsch“ (NTD) bearbeiten sollte. Vorgelegt hat er „Das Evangelium nach Markus“ (1933) und „Das Evangelium nach Matthäus“ (1937). – Die Auslegung entspricht den methodischen Erörterungen und Vorgaben seines genannten Forschungsberichtes, ist aber darin gesamtbiblisch im Sinne Martin Kählers geprägt,²³¹ daß sich vom christologischen Verstehen her das übergreifend Biblische erschließt: „Jesus Christus, der Irdische, Gekreuzigte und Auferstandene, ist der Inhalt und Verkünder seiner Botschaft; Er ist der Herr beider Testamente.“²³² „Das Alte Testament … kann … nie unumschränkt in der christlichen Kirche gelten. Er [sic!; sc. Gott] redet zu uns nur durch Christus hindurch; in Christus ist das Gericht und die Vergebung hinaufgehoben und das Leben dieser Welt in das Leben der zukünftigen Welt Gottes“,²³³ für das Markus-Evangelium hermeneutisch gebündelt im verstehenden Nachzeichnen von „Messiasgeheimnis und Eschatologie“ und dahin zusammengefaßt: „In der Tat, unsere Evangelien sind vom Glauben an den Auferstandenen her geschrieben, die Jesusworte auch der Synoptiker auf die Auferstehung hin gesprochen.“ „Dennoch haben unsere Evangelisten Geheimnis und Bußruf nicht preisgegeben; gerade diese verhüllten Worte berichten sie als Boten der Gemeinde an Christengemeinden, und der Unverstand der Jünger und das ›skandalizesthai‹ und das Kreuz halten sie als Christen den Christen vor.“²³⁴ – Aus der Auslegung des Matthäus-Evangeliums sei nur hervorgehoben, daß auf Schniewind die Kennzeichnungen „Der Messias des Wortes“ (für Kap. 5 – 7) und „Der Messias der Tat“ (für Kap. 8.9) zurückgehen und daß von ihm die Bezeichnung „frühkatholisch“ als Kriterium in die neuere Evangelien-Auslegung eingebracht wurde (z. B. „Mt“, ⁶1956, 188). Im übrigen gibt der nicht namentlich genannte Herausgeber (vermutlich [56] E. Kähler) an zahlreichen Stellen und Abschnitten Hinweise auf Schniewinds Änderungen, die die neuere Forschung und zeitgeschichtlich notwendige Anmerkungen bringen sollten. Schließlich gibt Schniewind eine ihm zentrale Leseanleitung: „Wir verstehen kein Wort der Evangelien, es sei denn von Paulus her: vom Urteil Gottes her, das Verurteilung und Vergebung bedeutet, das die Rechtfertigung des Sünders be-

 Vgl. dazu O. Merk, Art. Biblische Theologie. II. Neues Testament, TRE 6, 1980, 455 ff., 472 f.  J. Schniewind, Die Eine Botschaft des Alten und Neuen Testaments, in: ders., Nachgelassene Reden und Aufsätze, mit einem Vorwort von G. Heinzelmann hg. v. E. Kähler, TBT 1, Berlin 1952, 58 – 71, 64 (Sperrdruck im Orig.).  Schniewind, Botschaft (s. Anm. 232), 69 f. (Sperrdruck im Orig.).  J. Schniewind, Messiasgeheimnis und Eschatologie, in: ders., Nachgelassene Reden (s. Anm. 232), 1– 13, 12 f.; vgl. ders., Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 61952, 41 Anm. 1 [Einfügung wohl von E. Kähler]; ders., Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 81956, 7 [wohl ebenfalls von E. Kähler ergänzt].

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deutet, von der Auferstehung und vom Kreuz her.“ „Die Einsicht, daß unsere Evangelien so zu verstehen seien, ist nun kein billiges Rezept. Diese Einsicht ist vielmehr ein Urteil, das sich an uns selbst als den Lesern der Evangelien vollzieht.“²³⁵ Für den nicht ausgeführten Kommentar zum Lukas-Evangelium geben die Auslegung zum Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk 15,11– 32) und seine Überlegung zu „Freude der Buße“ erste, aber bedeutsame Überlegungen.²³⁶ Gesamtbiblische Einsichten und gesamtneutestamentliche Verknüpfungen vermitteln „Die Eine Botschaft des Alten und Neuen Testaments“ und „Die Freude im Neuen Testament“.²³⁷ Schniewinds Anliegen vertiefend, aber sehr knapp in der Darlegung ist hierfür „Aufbau und Ordnung der Ekklesia nach dem Neuen Testament“.²³⁸ Erst posthum wurden – außer seiner Dissertation – auch paulinische Studien mit wichtigen Impulsen bekannt.²³⁹ „Das Seufzen des Geistes. Röm. 8,26 – 27“²⁴⁰ bietet eingehende exegetische Hinweise mit beachtenswerter Kontextanalyse und breiter Berücksichtigung der Forschung in den 30er Jahren²⁴¹ mit dem Ergebnis: Nicht paulinische Mystik, sondern die Rechtfertigungsbotschaft des Apostels ist die theologische Grundlage der Stelle (91 ff.). – In „Die Archonten dieses Äons“²⁴² wird gezeigt: Die Archonten sind hier irdische Herrscher der Welt. – Von weitreichender Bedeutung auch im religionsgeschichtlichen Kontext ist „Die Leugner der Auferstehung in Korinth“.²⁴³ Die paulinischen Ausführungen in 1Kor 15 sind „bestimmt durch die Gnosis der Gegner.“ „Der Kampf aber, den Paulus durchkämpft, führt uns immer neu vor seine letzten Positionen, die letzten Anliegen

 J. Schniewind, Die Botschaft Jesu und die Theologie des Paulus, in: ders., Nachgelassene Reden (s. Anm. 232), 16 – 37, 28.  J. Schniewind, Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, Wege in die Bibel 2, Göttingen 1940; ders., Was verstand Jesus unter Umkehr?, in: H. Asmussen (Hg.), Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit, Teil 2, Berlin 1938, 70 – 84; insgesamt ders., Die Freude der Buße, KVR 32, Göttingen 1956.  Schniewind, Die Eine Botschaft (s. Anm. 232); ders., Die Freude im Neuen Testament, in: ders., Nachgelassene Reden (s. Anm. 232), 72– 80.  In: Festschrift Rudolf Bultmann zum 65. Geburtstag überreicht [Hg. E. Wolf], Stuttgart 1949, 203 – 207. Die dort gebotene Form der Thesenreihe schätzte Schn. auch als Basis für zumeist in freier Rede gehaltene Vorträge.  Vgl. auch Kraus, J. Schniewind (s. Anm. 229), 212 ff.  In: Nachgelassene Reden (s. Anm. 232), 81– 103. Diese Studie sah Schn. als unabgeschlossen an. Sie sollte R. Bultmann gewidmet werden.  Dort z. B. die eingehendste Rezension des Buches von E. Fuchs, Christus und der Geist bei Paulus, UNT 23, Leipzig 1932 (vgl. 96 ff.).  In: Nachgelassene Reden (s. Anm. 232), 104– 109.  In: Nachgelassene Reden (s. Anm. 232), 110 – 139.

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seiner Verkündigung“ (139). Für die Profilierung und Herausarbeitung paulinischer Theologie ist nach Schniewind die Erforschung der Gnosis unentbehrlich. [57] Um die „Verkündigung“ geht es wesentlich auch im jahrzehntelangen Austausch mit Rudolf Bultmann, dessen theologisches Anliegen Schniewind in differenzierender Betrachtungsweise in zentralen Punkten teilt. Nicht zuletzt zeigt seine Würdigung des Problems der Entmythologisierung in Bultmanns bekanntem Programm das mit dem Marburger Gelehrten Gleichgerichtete seines Denkens gerade im kritischen Nachweis der neuralgischen Punkte. Seine „Antwort an Rudolf Bultmann. Thesen zum Problem der Entmythologisierung“²⁴⁴ spiegelt seine eigene theologische Position insgesamt, und Bultmanns Entgegnung in „Zu J. Schniewinds Thesen das Problem der Entmythologisierung betreffend“²⁴⁵ weitet sich zu einem freundschaftlich kritischen Gespräch, darin seiner „Freude Ausdruck“ gebend, „daß die Absicht meiner Arbeit deutlich erkannt und das Problem als solches bejaht ist“ (135).²⁴⁶ – Daß der erste Band von „Kerygma und Mythos“ „Dem Gedenken von D. Julius Schniewind † 7.9.1948“ gewidmet wurde, war ganz in Bultmanns Sinne, und den Zusatz zum Vorwort des Herausgebers Hans Werner Bartsch trug er aus Überzeugung mit. Dort heißt es über Schniewind: „Sein ganzes Leben in Wort und Schrift hat … das Problem [sc. ›des Verhältnisses von Kerygma und Mythos‹] in seiner ganzen Tiefe als Hintergrund. So mag dieser Band dem dankbaren Gedenken an diesen Lehrer der Kirche gewidmet sein, dem sich mit dem Herausgeber ein großer Teil der jungen Theologengeneration verbunden weiß“ (8). Das theologische Gespräch Schniewind – Bultmann ist noch nicht aufgearbeitet,²⁴⁷ aber ein nicht an Bultmann gerichteter Brief Schniewinds vom 1. Februar 1939 könnte die Richtung andeuten,wohin sein Denken auch in der Diskussion mit dem Marburger gehen könnte: „Vielleicht erleben wir ein neues Erwachen der liberalen Tradition.“ Aber es heißt dort auch, daß wir „auf diese neuen Ansätze

 In: Kerygma und Mythos Bd. 1 (s. Anm. 50), 85 – 134 (Schniewinds „Antwort“ ist im Herbst 1943 verfaßt und zuerst in der hektographierten Jahresgabe für die Mitglieder der „Gesellschaft für Evangelische Theologie“ 1944 veröffentlicht).  In: Kerygma und Mythos Bd. 1 (s. Anm. 50), 135– 153. In der breiten Entmythologisierungsdebatte hat Bultmann allein J. Schniewind einen eigenen Aufsatz gewidmet.  Von „scharfer Ablehnung“ Bultmanns durch Schniewind kann keine Rede sein (gegen K. G. Wesseling, Art. Schniewind, Julius, BBKL 9, 1995, 577– 581, 578).  Es sind nicht allein M. Kähler und H. Cremer von Bedeutung, ja Einfluß auf Schniewind gewesen. Hierher gehört auch Wilhelm Herrmann, sein Marburger akademischer Lehrer, den er bereits im Lebenslauf seiner Dissertation hervorhebt und der auch für Bultmann menschlich und theologisch prägend gewesen ist. Beide Gelehrte verbanden zudem Einsichten, die sie S. Kierkegaard verdankten. Für Schniewind war der Kontakt zu Bultmann auch durch intensiven Austausch mit G. Bornkamm und E. Wolf gegeben.

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achten müssen, und es ist gut, daß alle neu gewonnenen Einsichten über die Lehre und das Leben Jesu immer wieder angefochten werden; so werden wir bewahrt vor der Erstarrung einer neuen Orthodoxie.“²⁴⁸

Schüler Hans Walter Wolff (Promotion unter Betreuung Schniewinds); im weiteren Sinne Hans Werner Bartsch; Hans-Joachim Kraus (die aber nicht akademische Grade unter Anregung/Leitung von Schniewind erwarben); der in diesem Sinne oft genannte Otto Michel ist Schüler von Ernst v. Dobschütz und war bereits Dozent in Halle, als Schniewind dorthin berufen wurde; Günther Bornkamm wurde unter Schniewind habilitiert. [58] Bibliographie: E. Kähler, „Bibliographie“, in: J. Schniewind, Nachgelassene Reden und Aufsätze, mit einem Vorwort v. G. Heinzelmann hg. v. E. Kähler, TBT 1, Berlin 1952, 201– 207; vgl. K.-G. Wesseling, Art. Schniewind, Julius, BBKL 9, 1995, 577– 581, 578 – 580. – Würdigungen: H.-J. Kraus, Julius Schniewind. Charisma der Theologie, Neukirchen-Vluyn 1965 (²1990) (weitere Lit.) ; G. Friedrich, Julius Schniewind, ein Lehrer der Kirche, EvTh 43, 1983, 202– 221; W. Wiefel, Julius Schniewind (1883 – 1948), KuD 29, 1983, 182– 196; K.-G.Wesseling, Art. Schniewind, Julius, BBKL 9, 1995, 577 f. (Lit. 580 f.), O. Merk, Art. Schniewind, Julius, RGG⁴ 7, 2004, 947.

 Mitgeteilt von E. Kähler im Anschluß an Schniewinds Aufsatz „Messiasgeheimnis und Eschatologie“ (s. Anm. 234), 14 f.

„Viele waren Neutestamentler“ Zur Lage neutestamentlicher Wissenschaft 1933 – 1945 und ihrem zeitlichen Umfeld – ein Literaturbericht¹ Professor Dr. theol. Jürgen Roloff (29.9. 1930 – 21. 2. 2004) in dankendem Gedenken

Das Titel-Zitat betrifft eine nicht durch Namen ausgewiesene Feststellung von S. Heschel und die damit verbundene Skizzierung der universitären Situation von jungen Theologen, die in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts studiert haben und denen sich von der ihnen gebotenen Universitätstheologie her der geistige Nährboden ihrer Anfälligkeit gegenüber dem Nationalsozialismus erschlossen habe.² Dies ist das übergreifende Thema der beiden hier anzuzeigenden Untersuchungen. Gemeinsame Aspekte in der Sache werden von verschiedenen Fragestellungen und Positionen aus beleuchtet. Der Aufsatzband „Das mißbrauchte Evangelium“ ist gebündelter auf das Thema „Studien zur Theologie und Praxis Thüringer Christen“ ausgerichtet mit bewusst in Kauf genommenen (18) mehrfach (deutlichen) thematischen Überschneidungen und trifft sich in der Behandlung der Vorgänge weithin mit Beiträgen des Sammelbandes „Christlicher Antijudaismus“ und Beobachtungen und Recherchen bei Lubinetzki.³ Das ist kein

 Es handelt sich um die Besprechung der beiden Untersuchungen: Von der Osten-Sacken, Peter (Hg.): Das mißbrauchte Evangelium. Studien zur Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen, Berlin: Institut für Kirche und Judentum 2002, und: Lubinetzki, Volker: Von der Knechtsgestalt des Neuen Testaments. Beobachtungen zu seiner Verwendung und Auslegung in Deutschland vor dem sowie im Kontext des „Dritten Reiches“, Münster – Hamburg – London: LIT Verlag 2000. Zudem wird Bezug genommen auf: „Dr. W. Grundmann, N.T.-Theologie. Kollegnachschrift Jena, Winter 1937/38“, von Leonhard Thiel, masch.schriftl. 216 S. und nicht nummeriertes Inhaltsverzeichnis.  S. Heschel, Das mißbrauchte Evangelium, 77.  L. Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen, Arnoldshainer Texte 85, 1994, 5 f.; vgl. bes. die Beiträge: L. Siegele-Wenschkewitz, Adolf Schlatters Sicht des Judentums im politischen Kontext. Die Schrift Wird der Jude über uns siegen? von 1935 (95 – 110); S. Heschel, Walter Grundmann und das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben (125 – 170); K.-P. Adam, Der theologische Weg Walter Grundmanns bis zum Erscheinen der 28 Thesen der sächsischen Volkskirche zum inneren Aufbau der Deutschen Evangelischen Kirche Ende 1933 (171– 199); Birgit Jerke, Wie wurde das Neue Testament zu einem sogenannten Volkstestament „entjudet“? Aus der Arbeit des Eisenacher ‚Institutes zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‘ (201– 234). – V: Lubinetzki (Anm. 1), 309 ff. u. ö.

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Schade und spiegelt die Aktualität neuerer protestantischer Theologiegeschichte letztlich in der Weise, dass unerledigte Tatbestände bedrückend virulent geblieben sind, denen sich auf je eigenem Feld jede theologische Disziplin in unserem Lande notwendigerweise stellen muss.⁴ 1) Zunächst zum Aufsatzband „Das mißbrauchte Evangelium“: P. v. d. Osten-Sacken „Juden und Christen an der Jahrtausendwende. Zur Einführung“ (11– 34) vermittelt einen Überblick über den Stand wissenschaftlichen und kirchlichen Gesprächs zwischen Juden und Christen im Jahre 2000, deckt latenten wie offenen Antisemitismus schonungslos auf, um dann die besondere Ausrichtung [107] des vorliegenden Bandes auf die Situation in Thüringen seit 1933 und den Versuch ihrer Bewältigung (seit 1988) zu erklären. – Chr. P.Wagner „‚Gott sprach: Es werde Volk und es ward Volk‘. Zum theologischen und geistesgeschichtlichen Kontext der deutschen Christen in ihren unterschiedlichen Strömungen“ (35 – 69) fasst den inzwischen mehrfach aufgearbeiteten Bereich der Fragestellung (etwa durch die Arbeiten von K. Scholder; R. P. Ericksen; K. Meier; G. Besier; auch H. Assel) instruktiv zusammen, zeigt, wie viele Theologen unkritisch nationalsozialistische Ideologie übernahmen, bietet aber darüber hinaus Hinweise, die differenzierter geprüft werden müssten, damit nicht Persönlichkeiten in falsches Licht gesetzt werden.⁵ – S. Heschel entfaltet in ihrem bereits früher erschienenen Aufsatz (vgl. 70 Anm. 1) „Deutsche Theologen für Hitler. Walter Grundmann und das Eisenacher ‚Institut zur Erforschung…‘“ (vgl. o. Anm. 3) (70 – 90) sowohl „historiographische Aspekte“ des Werdens als auch „Entstehung“ und „Arbeit“ dieses 1939 offiziell gegründeten Instituts: „Die Durchsetzung des ‚Arischen‘ im Gewand des Christentums innerhalb der protestantischen Kirche“ ist „das Ziel der nationalsozialistischen Glaubens- und Kirchenbewegung ‚Deutsche Christen‘“ (71). Wurde auch die Bezeichnung des Instituts – wohl aus opportunistischen Gründen während des Krieges – unter Weglassung „und Beseitigung“ (sc. des jüdischen Einflusses) gemildert, so war doch erklärte Zielvorgabe des wissenschaftlichen Leiters Walter Grundmann, den „Antisemitismus“ der Natio Dass ‚Vor-‘ und ‚Nachgeschichte‘ sich auf die Anm. 1 genannten Publikationen beschränken müssen, sei festgehalten. Vf. steht im Folgenden für den Verfasser des jeweiligen Aufsatzes und in der Monografie für den Autor.  Z. B. 37 Anm. 7: Der Jurist Prof. Dr. Rudolf Smend wird zum persönlichen Protegé von E. Hirsch erklärt; 69 Anm. 87 wird den Herausgebern und Bearbeitern der TRE bewusste Tilgung nationalsozialistischer Vergangenheit bei verschiedenen Theologen vorgehalten; 67: „Schulterschluß zwischen deutschem Luthertum und NS-Ideologie oder evangelischer Theologie“ sollte nach dem schweren Verlust von Bibliotheken im 2. Weltkrieg nicht daraus geschlossen werden, dass die Bücher des „Eisenacher Institutes“ in das Thüringer Predigerseminar überführt wurden; vgl. zutreffend S. Heschel, 85 f.

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nalsozialisten „mit dem Argument zur Deckung zu bringen, Jesus sei Arier gewesen und habe die Vernichtung des Judentums angestrebt“ (71). Man wird jedoch die rund 50 Mitarbeiter des Instituts – unter ihnen auch der schwedische Neutestamentler Hugo Odeberg –, die zumeist verstreut an Universitäten und in kirchlichen Stellen ihre Mensa hatten, nicht in gleicher Weise und Intensität in ihren Forschungen dieser Zielsetzung zuordnen können, auch wenn Institutsarbeitsgruppen die „‚entjudete‘ Version des Neuen Testaments, ‚Die Botschaft Gottes‘“ (1940) und das „‚entjudete‘ Gesangbuch ‚Großer Gott, wir loben dich‘“ (1940) herausbrachten und W. Grundmanns eigene und anderer Veröffentlichungen der Zeit dem Programm des Instituts und nationalsozialistischer Grundüberzeugung entsprechen (78 ff.).⁶ Nach der amtlichen Schließung des Instituts 1945 fanden die Hauptakteure Weiterbeschäftigung in kirchlichen und anderen Stellen (83 ff.).⁷ Die Vf.in schließt mit ebenso berechtigt offenen wie kritischen Fragen: „Sind Phänomene wie Grundmanns Institut Produkte des Christentums oder seiner Perversion? Was die Erfahrung der Kirchen im NSDeutschland [108] deutlich macht ist, daß es innerhalb der christlichen Theologie keinen Mechanismus gab, der in der Lage war, die Nazi-Exzesse als unchristlich auszuschließen. Selbst diejenigen, die den Nationalsozialismus ablehnten, waren nicht besonders beunruhigt vom Antisemitismus des Instituts“ (90; es bleibt aber auch die Frage: War das Eisenacher Institut mit seinen Bestrebungen wirklich bis in die bekennenden Gemeinden im Land bekannt? Hinweise und Belege dafür fehlen hier und im ganzen Aufsatzband). Chr. Wiese, „‚Unheilsspuren‘. Zur Rezeption von Martin Luthers ‚Judenschriften‘ im Kontext antisemitischen Denkens in den Jahrhunderten vor der Schoah“ (91– 135), zeigt, dass der Bezug auf Luthers Äußerungen über die Juden Jahrhunderte hindurch zwiespältig geblieben ist und so im Geist nationalsozialistischen Denkens unheilvoll verwendet und rassistisch ausgewertet werden konnte und wurde. Entscheidet sich Vf. auch energisch für eine politische Auswertung der ‚Judenschriften‘ Luthers, so wird damit wohl doch zu stark die Trennlinie zwischen anders begründetem ‚Antijudaismus‘ im Reformationszeit-

 Dass Kräfte intakter Kirchenleitungen und der theologischen Wissenschaft „keine Einwände gegen Grundmanns negative Darstellung des Judentums“ erheben wollten und hier insbesondere H. v. Soden kritisiert wird (89), trifft nicht (vgl. z. B. die Recherchen bei A. Lippmann, Marburger Theologie im Nationalsozialismus, Academia Marburgensis Bd. 9, 2003, 332 ff.).  Unzutreffend ist 86 Anm. 49 die Verallgemeinerung: „Die Universität Gießen wurde 1945 wegen ihrer Sympathien für den Nationalsozialismus von den amerikanischen Streitkräften geschlossen“; vgl. P. Moraw, Organisation und Lehrkörper der Ludwigs-Universität Gießen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. v. H. G. Gundel, P. Moraw u. V. Press, Erster Teil, VHKH 35, 1982, 23* – 75*, bes. 58*ff.

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alter und politischer Auswertung gezogen. Es bleibt die Anfrage, ob nicht beide Aspekte geistesgeschichtlich stärker ineinander greifen. – P. v. d. Osten-Sacken, „Der nationalsozialistische Lutherforscher Theodor Pauls. Vervollständigung eines fragmentarischen Bildes“ (136 – 166), führt in ein sehr zeitgeistgebundenes Werk ein, betont die in der Forschungsgeschichte (z. B.W. Maurer; M. Brosseder; H. A. Oberman; E. L. Ehrlich) unterschätzte antisemitische Wirkung dieser drei Hefte (140; 104; 98 Seiten), bietet aber selbst nur eklektisch Inhalt und Aufnahme der Ausführungen in der Forschung. So fehlt bei Vf. z. B. die Charakterisierung des unverfänglichen demokratischen Gelehrten und Zeitgenossen Heinrich Hermelink (der 1935 als einziger seinen Lehrstuhl für Kirchengeschichte in der Theolog. Fakultät Marburg verlor). H. hebt in seiner Besprechung aus dem Jahre 1943⁸ hervor, dass die von Pauls angeführten Quellen die Absicht des Autors nicht zu tragen vermögen, „wie denn auch die von Pauls zugespitzten Überschriften der einzelnen Abschnitte sich oft mit den darunter stehenden Luthersätzen nicht decken“, und er zeigt in voller Deutlichkeit an mehreren Beiträgen dieser Art (von W. Petersmann; Pauls; H. G. Schroth; vgl. 46 ff.), „wie wenig die heutige rassenpolitische Behandlung der Judenfrage trotz scheinbarer Übereinstimmung in den Methoden … mit Luthers Stellung gegen die Juden begründet werden kann“ (48). Abschließend zeigt Vf., wie sich die Autoren rassistischer Inanspruchnahme Luthers auch nach 1945 halten konnten (W. Petersmann in der Landeskirche Hannovers und als NPD-Kandidat; Th. Pauls mehr unbeachtet⁹), während der bedeutende Erforscher der Fragestellung, Reinhold Lewin mit seinem Werk „Luthers Stellung zu den Juden“ (1911), als Rabbiner in Breslau mit seiner Familie 1942/43 deportiert wurde und vermutlich in der Gaskammer sein Ende fand (166). Den umfassendsten Beitrag, der sich gemäß des Bandes mit den „Thüringer Deutschen Christen“ befasst, hat W. Schenk vorgelegt: „Der Jenaer Jesus. Zu Werk und Wirken des völkischen Theologen Walter Grundmann und seiner Kollegen“ (167– 279; und „Literatur zum Thema ‚Thüringer Deutsche Christen‘“, 348 – 420; vgl. dazu auch 18).Weit ausholend wird die für Nationalsozialismus und Deutsche Christen verschiedenster Prägung sehr offene damalige Thüringer Landeskirche (die nach 1945 dieses Gedankengut verbrämt weiter[109]geführt, zugleich aber auch dem der DDR in breitem Maß Raum gewährt habe; so Vf. 224 ff. Anm. 278; S. 231 f.244.267.272.276 f. u. ö.) geradezu durchleuchtet, wobei die Vielzahl der entfalteten Fakten und Facetten – mehrfach verbunden mit persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen – das eigentliche Anliegen des Aufsatzes zu über-

 H. Hermelink, Zur Theologie Luthers, ThR, N.F. 15, 1943, 13 – 55.  Nach 166 Anm. 142 starb Pauls 1962; 275 Anm. 509 ist der Todestag mit 31.3.1962 in Nürnberg angegeben.

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decken droht: die Darstellung von Weg und Werk des konsequenten und zielstrebig machtbewussten NSADP-Mitgliedes und Neutestamentlers Walter Grundmann (1906 – 1976), der die nationalsozialistische Ausrichtung seines Denkens und als DC-Mann voll in sein wissenschaftliches Werk und sein akademisches Leben integrierte und nach 1945 bei leicht retuschierenden Abstrichen seine Grundüberzeugung weiter literarisch vertrat (bes. 170 ff.233 ff.251 ff.). Nach kurzer Assistentenzeit bei Gerh. Kittel (Tübingen) zur Vorbereitung des ThWNT (1930 – 1932) stieg er rasch in der seinen (kirchen‐)politischen Ideen unkritisch begegnenden Kirchenhierarchie der sächsischen Landeskirche zum „Oberkirchenrat“ auf (1933), um dann die (Partei‐)Gunst der Stunde, die ihm die Thüringer Landeskirche und die Universität Jena boten (190 ff.), zu nutzen, so dass er – nicht habilitiert – seit 1.11.1936 kommissarisch in der Theologischen Fakultät Jena lehrte und seit 5.10.1938 dort Ordinarius für „Völkische Theologie und Neues Testament“ war (so Vf. 150.242).¹⁰ Der schon in jungen Jahren auch literarisch ausgewiesene W. Grundmann (211 Anm. 221) hielt seine „programmatisch antijüdische Antrittsvorlesung … am 11. 2.1939“ (193; vgl.W. Gr., „Die Frage der ältesten Gestalt und des ursprünglichen Sinnes der Bergrede Jesu“ [Weimar 1939] u. 242 Anm. 358) fast zeitgleich mit der o.g. Gründung des Eisenacher „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“, dessen wissenschaftlicher Leiter (im übrigen Stellvertreter) er war (202 ff.). Grundmanns Jenaer Tätigkeit und die im Eisenacher Institut fallen sachlich und in der Ausrichtung zusammen. Das Maßgebende kreist um seine drei Arbeiten „Die Gotteskindschaft in der Geschichte Jesu und ihre religionsgeschichtlichen Voraussetzungen“ (Weimar 1938), „Jesus der Galiläer und das Judentum“ (Leipzig 1940) und „Aufnahme und Deutung der Botschaft Jesu im Urchristentum“ (Weimar 1941), verbunden mit einer gewaltsamen und höchst problematischen Darstellung „Das Problem des hellenistischen Christentums innerhalb der Jerusalemer Urgemeinde“ (ZNW 38, 1939, 45 – 73) und deren Weiterführung in „Die Apostel zwischen Jerusalem und Antiochia“ (ZNW 39, 1940, 110 – 137). Weniger im eigenen interpretierenden Durchgang durch die Konstruktionen Grundmanns als in ausdrücklicher Bezugnahme auf W. G. Kümmels kritische Berichterstattung mit dem Nachweis unhaltbarer tendenziöser, zeitverhafteter Konzeption des Jenaer Neutestamentlers (249 ff.)¹¹ entfaltet Vf. – und hier liegt sein eigentliches Interesse – unter weiterer Bezugnahme auf Kümmels Rezensionen, besonders zu W. Gr., „Die Geschichte Jesu Christi“, Berlin 1956 mit Erg.Heft 1959  Nach Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender, 6. Ausgabe 1940/41, Bd. I, 586 lautet Grundmanns Ordinariat auf „Neutestamentliche Wissenschaft und zeitgenössische Religionsgeschichte, Altjudentum und Hellenismus“.  Vgl. W. G. Kümmel, ThR, N.F. 14, 1942, 155.170 – 172; ders., ThR, N.F. 17, 1948, 3.23 – 25.

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[³1961] (254 Anm. 408)¹², dass Grundmann auch nach 1945, ja lebenslang in weiteren Veröffentlichungen mit leichten [110] Einschränkungen seine Sicht des „Jenaer Jesus“ literarisch vertreten habe. Er unterstreicht dies weiter u. a. mit Hinweisen auf Grundmanns bekannte Kommentare zu Mk, Lk, Mt, auf seine Arbeiten zur joh. Forschung, zum Sammelband „Umwelt des Urchristentums“ (1965; vgl.Vf. 258 ff.) und auf dessen zahlreiche Artikel im ThWNT. Hinzuzunehmen sind natürlich auch Grundmanns Beiträge in den von ihm herausgegebenen Sitzungsbänden des Eisenacher Instituts, „Christentum und Judentum“ (1940), „Germanentum, Christentum und Judentum“ (1943) und die unter Gr. mitverantworteten Ausgaben des Instituts „Die Botschaft Gottes“ (1940) und „Großer Gott, wir loben dich“ (1941). In seiner überblicksweisen, meist mehr indirekt belegten durchgängigen Kritik an Grundmann begegnen allerdings auch nicht so eindeutige Argumente: Der Sicht von der Gottes-Sohnschaft Jesu, dem „Vater-SohnKonzept“ in der Konstruktion Grundmanns (254.258 ff. u. ö.), möchte Vf. mit der ebenfalls problematischen These begegnen, dass Lk 15,11– 32 (Gleichnis/Parabel vom ‚Verlorenen Sohn‘) nicht jesuanisch, sondern insgesamt lukanische Konzeption sei (252 ff.). Dies ist – auch im Hinblick auf ältere wie neuere Gleichnisforschung – nicht gelungen und entfällt als Widerlegung Grundmanns.¹³ Weitaus schwieriger zu fassen ist Vf.s „linguistische Analyse der Nazisprache“ (244 Anm. 367; S. 258 u. ö.) im Werk Grundmanns nach 1945, zumal Vf.s eigenes Modell hierzu vielschichtig und variantenreich ist. Aber er hat sicher darin Recht, bei Grundmann auch die sprachlichen Konnotationen sorgfältig im Blick zu behalten: „Man beachte, daß Grundmanns Begriff der ‚hellenistischen‘ Gemeinde nicht einfach im beschreibenden Sinne der religionsgeschichtlichen Schule gelesen werden darf, da Grundmann seine spezifisch rassische Kodierung dieses Begriffs nie widerrufen hat. Das gilt auch für die Bezeichnung Jesu als ‚Galiläer‘, der bei Grundmann ‚arisch‘ kodiert bleibt, auch wenn er diesen verbrauchten Ausdruck (signifikant) nach 1945 natürlich nicht wiederholt. Als heutiger Grundmann-Leser muß man zusehen, nicht in eine ‚Signifikanten-Falle‘ zu tappen“ (251). Da Vf. nur eklektisch Nachweise für Grundmanns nazistisch-ideologisches und DC-verhaftetes Denken bringt, wäre, um selbst dem Verdacht einer Pau-

 Vgl. W. G. Kümmel, Vierzig Jahre Jesusforschung (1950 – 1990), ²1994, 33.44 f.; auch K.s „Nachwort“, ebd., 691 ff. bes. 697; ders., Heilsgeschehen und Geschichte. Ges. Aufs. 1933 – 1964, MThSt 3, 1965, 397 u. Anm. 13.14 ebd.  Zur Auslegung von Lk 15,11– 32 vgl. aus der Fülle der Forschung mit Nachweisen z. B. K.-W. Niebuhr, Kommunikationsebenen im Gleichnis vom verlorenen Sohn, ThLZ 116, 1991, 481– 494, bes. 487.492 mit Anm. 32; H. Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, FRLANT 120, 31984, 252– 262.

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schalität in seiner Beurteilung entgegenzutreten, ein noch tiefer greifendes Aufspüren der Sachverhalte im Hinblick darauf hilfreich gewesen, inwieweit der Gesamtansatz vor 1945 sich in Grundmanns Arbeiten nach 1945 spiegelt¹⁴ oder inwieweit dies einzelnen Strängen/Themen in dessen Werk gilt. Nun konnte und wollte Vf. keine Monografie zur Fragestellung bieten, aber man hätte doch gerne gesehen, wenn die zeitgleiche Kritik vor 1945¹⁵ [111] und die Aufnahme des Grundmannschen Werkes in der Forschung (einschl. Rezensionen) nach 1945 umfassender herangezogen und analysiert worden wären. Erst dann wäre die These des Vf.s allseitig abgesichert, zu der er festhält: „Man wird nicht resümieren können, daß Grundmann nach der Befreiung von seinem NS-Regime die ihm gegebenen Jahrzehnte genutzt hätte, um seinen Ruf durch wissenschaftliche Arbeit (wieder-?)herzustellen, da er im Grunde nur neue Rechtfertigungsbeiträge seiner anfänglichen Konzeption hervorgebracht hat. Man wird den Eindruck nicht los, daß es zumeist um eine – durch Auseinandersetzung mit neuerschienener Literatur aufbereitete – weitmöglichste Verbreitung seiner im Prinzip unveränderten DC-Konzeption ging, die 1938 – 1940 zeitbedingt keine weite Streuung erreicht hatte“ (276). „Gerade ein Verzicht auf explizit nazistische und antijüdische Formulierungen nach 1945 erscheint dabei weniger als Ausdruck einer Umkehr denn als Bekräftigung, die suggerieren soll: Seht ihr, meine Basis stimmt, also  Z. B. bleibt die Paulus-Forschung des Jenaers bei Vf. nahezu unberücksichtigt (doch vgl. 240 Anm. 349; 260 f.); dazu etwa F. Vouga, Paulus und die Juden. Interpretation aus der Zeitstimmung, WuD, N.F. 20, 1989, 105 – 120, bes. 106 ff. und W. Grundmann selbst, Kollegnachschrift „N. T. Theologie“ (s. Anm. 1), 133 – 187; ders., Der Römerbrief des Apostels Paulus und seine Auslegung durch Martin Luther, 1964. Eine durchgängige Beurteilung von Grundmanns PaulusArbeiten gibt E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, (1973) 41980.  Leider unterlässt es Vf., die grundlegenden Einzelrezensionen von W. G. Kümmel zu den Arbeiten Grundmanns von 1938 – 1941 in der NZZ (Neue Zürcher Zeitung) zu berücksichtigen: so zu W. Gr., Die Gotteskindschaft in der Geschichte Jesu und ihre religionsgeschichtlichen Voraussetzungen, 1938 = NZZ, 22.10.1939 (Nr. 1828), Bl. 3; zu W. Gr., Jesus der Galiläer und das Judentum, 1940 = NZZ, 30.11.1941 (Nr. 1922), Bl. 3 u. 30.11.1941 (Nr. 1923), Bl. 4; zu W. Gr., Aufnahme und Deutung der Botschaft Jesu im Urchristentum, 1941 = NZZ, 4.10.1942 (Nr. 1572), Bl. 4 (vgl. auch W. G. K., ThR, N.F. 17, 1948, 104.105 – 108). – Zu W. Gr., Jesus der Galiläer, vgl. weiter A. Oepke, AELKZ 73, 1940, 326 – 328.334– 335; J. Behm, DLZ 62, 1941, 338 – 342; F. Büchsel, ThLZ 67, 1942, 91– 94 u. (sehr pro domo) G. Bertram, Deutsche Frömmigkeit 8, 1940, 238 – 245; dazu die völlig unkritischen Besprechungen, die in „Christentum und Judentum. Studien zur Erfassung ihres gegenseitigen Verhältnisses“ (hg. v. W. Grundmann), 1940, 238 (ohne Seitenzählung) angeführt sind. – Zu F. Schenke [Schüler Grundmanns], Das Christentum im ersten Jahrhundert völkisch gesehen, Weimar 1940: W. Eltester, Notizen, ZNW 39, 1940, 242 ff., hier 246; W. G. Kümmel, ThR, N.F. 14, 1942, 82.89 – 92. – Im gesamten Aufsatzband nicht berücksichtigt wurde die einschneidende Kritik an der Arbeit des Eisenacher Instituts: M. Bertheau, Großer Gott wir loben dich. Das neue nationalsozialistische Gesangbuch, ThBl 21, 1942, 90 – 103; s. auch H. Strathmanns äußerst kritische Einschätzung, ebd., 90.

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können doch auch meine anfänglichen Konsequenzen nicht völlig falsch gewesen sein. In der mangelnden geistigen Entwicklung gleichen die Adepten ihrem ‚Führer‘“ (ebd.). Abschließend formuliert Vf.: „Walter Grundmann ist insgesamt ein abschreckendes und warnendes Exempel. In politisch-ideologischer und – damit verschränkt – in exegetischer Hinsicht bietet er ‚second-hand‘-Klischees eines interpretativen Konventionalismus. Will man etwas ‚aus einem See uniformer Schwafelei von altgedienten Vielschreibern fischen‘, so bleibt aus dem umfänglichen Literaturverzeichnis der ‚Entjudungsinstitutler‘ dafür kaum etwas, was der Rede wert sein könnte. Überheblichkeit in der Beschreibung wird hier nur finden, wer die Aufgabe der Wissenschaft verkennt“ (279 mit Anm. 529). Diese ungewöhnlich scharfen Äußerungen relativieren bedauerlicherweise die unbestritten notwendige Kritik an Position und „ideologisierten“ Veröffentlichungen Grundmanns (vgl. 279 Anm. 529). Hier mag bei Vf. auch sein eigenes Erleben in Thüringen zum Ausdruck kommen und sein Entsetzen darüber, dass Grundmann nahezu unbehelligt entnazifiziert [112] wurde (233 u. ö.; vgl. weiter P.v. d. Osten-Sacken 339 ff.) und in kirchlicher Stellung in der Thüringer Landeskirche die Muße zu ungewöhnlich vielen Veröffentlichungen hatte.¹⁶ Für die weitere Diskussion bleibt festzuhalten: Der hoch sensibel, immer nüchtern kritisch urteilende W. G. Kümmel zeigte – wie angeführt – vor wie nach 1945 stets die Grenzen im Werk Grundmanns und verwies ausdrücklich auf dessen versteckte Argumentation aus den Arbeiten von 1938 – 1941 in neueren Untersuchungen,¹⁷ bezog aber den Neutestamentler – mit vielen anderen Fachkollegen – in die wissenschaftliche Auseinandersetzung ein¹⁸ und kann zu Grundmanns Büchlein „Die Bedeutung der Gestalt Jesu von Nazareth“ (Berlin 1972) mit Einschränkungen durchaus positiv votieren.¹⁹ Schenk hat akzentuiert die Gefahren aufgedeckt, die in den Werken Grundmanns (und seines Kreises) liegen. Und mit J. Frey gilt es, wachsam zu bleiben, denn: „An dieser dunklen Etappe der Jesusforschung“ – gemeint sind vor allem

 Andere engere Mitarbeiter des Eisenacher Instituts und DC-Anhänger fanden weithin erneut kirchliche Stellen in der Landeskirche von Thüringen. Im Übrigen zeigten die Kirche von HessenNassau und besonders Kirchenpräsident M. Niemöller erhebliche Bereitschaft für den Neuanfang betr. Personen, während die Evang.-Luth. Kirche in Bayern sich große Zurückhaltung auferlegte (vgl. 230 ff. u. ö.).  Vgl. W. G. Kümmel (s. Anm. 12); P. Winter, Anläßlich eines neuen Jesus-Buches, ZRGG 11, 1959, 165 ff., bes. 166 ff.  Vgl. z. B. W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, AThANT 6, (1945) ³1956, 34 ff.77 f.85.109 f.; ders., Heilsgeschehen und Geschichte (s. Anm. 12), 461 ff. u. ö.  W. G. Kümmel, Vierzig Jahre Jesusforschung (s. Anm. 12), 229 f.; dagegen zurückhaltend Vf. 255 Anm. 469.

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Grundmanns Arbeiten – „wird deutlich, zu welchen Verirrungen historische Forschung in der Lage ist“.²⁰ Es gilt P. Winters Feststellung (1959): „Grundmanns frühere Veröffentlichungen … gehören zu jener Literatur, die zwar einen wenig nachhaltigen Eindruck in der neutestamentlichen Wissenschaft hinterlassen, dafür jedoch einen unverwischbaren Eindruck auf das Geschehen der Dreißigerjahre und Vierzigerjahre unseres Jahrhunderts ausgeübt hat.“²¹ Das von W. Schenk seinem Beitrag zugefügte wichtige Verzeichnis „Literatur zum Thema ‚Thüringer Deutsche Christen‘“ (348 – 420) greift weit über seine Ausführungen hinaus, weist etliche Versehen und Ungenauigkeiten auf und verträgt sogar noch Ergänzungen einschlägiger Titel. Schenks Ausführungen bieten bedauerlich viele Versehen, scharfe Verurteilungen anderer Persönlichkeiten auch über Grundmann und seinen Kreis hinaus und die Weitergabe offenbar ungeprüfter Sachverhalte, worauf in dieser Besprechung nur begrenzt hingewiesen werden kann: S. 170: Die antisemitische Grundeinstellung von K. L. Schmidt wird verschwiegen (dazu A. Mühling, Karl Ludwig Schmidt. „Und Wissenschaft ist Leben“, AZK 66, 1997, 8 f. u. ö.; O. Merk, ZBKG 67, 1998, 264 ff.). – S. 180 Anm. 63: Die Dekane sämtlicher Theol. Fakultäten in Deutschland seien im Jahre 1937 DC(‚Deutsche Christen‘)-Mitglieder gewesen, trifft nachweisbar nicht zu. – S. 189: Die Äußerungen über Martin Heidegger und seinen Einfluss auf „Eisenhuths theologische Systematik“ sind disqualifizierend bei aller auch mit diesem Philosophen sich verbindenden Problematik, treffen sich aber sachlich mit W. Grundmanns eigener Sicht, in: ders., Der Begriff der Kraft in der neutestamentlichen Gedankenwelt, BWANT, IV. F. 8, 1932, 39 Anm. 1. – S. 240: Dass H. v. Soden bewusst abgebrochen und W. G. Kümmel „mit voller Absicht … an Kittels ThWNT nicht mitgearbeitet hat“, bleibt [113] seitens des Vf.s unbelegt (meiner Erinnerung nach hatte dies bei Kümmel allein mit persönlichen wissenschaftlichen Plänen zu tun, die auch M. Dibelius, der ebenfalls nicht am ThWNT beteiligt war, offensichtlich billigte; im Übrigen vgl. Kümmels Besprechungen des ThWNT [Bd. I – III = NZZ, 2. 8.1938 (Nr. 1363), Bl. 1; Bd. IV = NZZ 14.10.1943 (Nr. 1602), Bl. 1]). Bei v. Soden dürften Arbeitsüberlastung im Rahmen der Bekennenden Kirche und zunehmende Herzerkrankung im Vordergrund gestanden haben, zumal sein Freund R. Bultmann der Arbeit am ThWNT ohne jede Affinität zu Kittels theol. u. politischer

 So J. Frey, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: J. Schröter u. R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, 2002, 273 – 336, hier 295 mit Anm. 112 (Zitat); 297 Anm. 127 mit ausdrücklichen Verweisen auf Grundmanns entsprechende Arbeiten.  P. Winter (s. Anm. 17), 165.

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Einstellung voll zugewandt war. – S. 249 Anm. 390 sind Kümmels Todestag und -ort falsch angegeben. Richtig: … 9.7.1995 in Mainz. Der Freundlichkeit von Herrn Prof. Dr. K.-W. Niebuhr verdanke ich die Vermittlung einer offensichtlich sehr sorgfältigen Kollegnachschrift der Jenaer Vorlesung von W. Grundmann „N.T. Theologie“ (W.S. 1937/38), die L. Thiel gefertigt hat (vgl. Anm. 1). Man kann aus dieser unschwer erkennen, dass hier die Grundfassung der o.g. Beiträge Grundmanns gegeben ist und dass der Jenaer ein ihm völlig feststehendes ‚Programm‘ in seine nachfolgenden Werke überträgt (wodurch sich möglicherweise auch die rasche Abfolge seiner Veröffentlichungen 1938 – 1941/42 erklärt). Ein Einzeldurchgang durch die acht Kapitel in 44 Paragraphen kann sich darum erübrigen.

P. v. d. Osten-Sacken, „Walter Grundmann – Nationalsozialist, Kirchenmann und Theologe. Mit einem Ausblick auf die Zeit nach 1945“ (280 – 312) erörtert – aus einem Vortrag erwachsen – wesentlich geraffter und übersichtlicher die auch bei Schenk angeführten Sachverhalte. Unter drei Aspekten „1. Grundmanns theologische Position als nationalsozialistischer Kirchenmann“ (280 ff.), „2. Grundmanns Ausbau seiner theologischen Position als nationalsozialistischer Universitätslehrer“ (290 ff.) und „3. Ausblick auf die Zeit nach 1945: Zur Kontinuität von Grundmanns Sicht“ (304 ff.) wird gezielt die Windigkeit der Konstruktionen des Jenaers zusammenfassend aufgedeckt: „Das Elend der gesamten Konzeption oder Konstruktion Grundmanns lässt sich daran ablesen, in welchem Maße sie das Evangelium verdirbt, das sie doch zur Geltung bringen will“ (297). „Irgendwann stellt sich beim kritischen Lesen all dessen … ein ausgesprochener Überdruß ein“ (311). „Die Klischees, deren er sich in seinen Darlegungen bediente, und damit die Sammlung halber Wahrheiten über das Judentum, die seine Publikationen in beträchtlichem Maße darstellen, hatten eine lange Tradition“ (312). Dass diese Arbeiten nicht weiter „hoffähig“ bleiben (ebd.), ist Anliegen des Vf.s (und der Mitautoren der von ihm hg. Aufsätze).²² In einem letzten Beitrag des Bandes behandelt P. v. d. Osten-Sacken „‚Die große Lästerung‘. Beobachtungen zur Gründung des Eisenacher Instituts und zeitgenössische Dokumente zur kritischen Wertung seiner Arbeit sowie zur Beurteilung Walter Grundmanns“ (313 – 347). Vf. dokumentiert und interpretiert die einschlägigen Akten, zeigt die Verstrickung Grundmanns in diesem Institut, bietet sehr aufschlussreiche „‚Notizen‘ eines Unbekannten“ (331), die „Walter Grund-

 Die 280 Anm. 1 genannte Hauptseminararbeit von Arnd Henze, „Kontinuität theologischer Judenfeindschaft“, unter Betreuung von Prof. Dr. Berndt Schaller in Göttingen im W.S. 1986/87 gefertigt, stand mir leider nicht zur Verfügung; Herrn Kollegen Schaller danke ich für den freundlichen Versuch, diese für mich beim Vf. zu besorgen und die Erlaubnis zum Zitieren zu erwirken.

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mann als Referent“ (so Vf. 333) geradezu als unkritisch-unfähig herausstellen (333 – 337). Vf. gibt aber auch Kenntnis, wie nicht nur durch Umstände der Zeit, sondern durch taktierende Täuschung Grundmann nach 1945 so rasch wieder in der Thüringischen Landeskirche Fuß fassen konnte, „der seine NS-Zeit wahrheitswidrig als Periode innerer Abkehr vom Nationalsozialismus ausgegeben hat“ (so Vf. 347) und dem von seinen engsten Mitarbeitern in der Fakultät und im Eisenacher Institut, Wolf Meyer-Erlach und Heinz Erich Eisenhuth, „‚mannhafte(r) Kampf … gegen die nationalsozialistische Ideologie‘ bescheinigt“ wurde (so Vf. 343 Anm. 78).²³ Dass „Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen“, kulminierend in dem Eisenacher Institut und den daraus hervorgegangenen Veröffentlichungen – eingeschlossen Grund[114]manns eigene und seiner besonders Gleichgesinnten Arbeiten während 1933 – 1945 –, nur wie ein winziges Rädchen im übergroßen NSApparat erscheinen, wird man nach der detailreich-informierenden und bedrückenden Lektüre dieses Aufsatzbandes ebenso bedenken müssen wie den Sachverhalt, dass Hitlers Pläne letztlich auf die Ausrottung jedweden Christentums ausgerichtet waren (vgl. Chr. P. Wagener 55 f.). 2) Zu V. Lubinetzki: Nach dem mehr auf begrenzten Raum ausgerichteten Aufsatzband ist jetzt eine übergreifend weit gespannte forschungsgeschichtliche Untersuchung zu bedenken, deren Obertitel in Anlehnung an M. Noths Beitrag zur FS J. Schniewind (1943) „Von der Knechtsgestalt des Alten Testaments“ formuliert ist (1). In ihr geht es darum, zunächst in Teil I „Umbrüche, Krisen und Bewältigungsversuche – Entwicklungen neutestamentlicher Wissenschaft vor 1933“ exemplarisch darzustellen (33 – 162), um dann in Teil II „Die Auslegung des Neuen Testaments nach 1933“ als „Auswirkungen der Krise“ eingehend zu entfalten (163 – 398). Ein Anhang dient der Dokumentation (401– 422), ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis schließt sich an (423 – 470), ein Personenregister ist beigefügt (471– 474). Eingeführt wird die Untersuchung durch eine „Einleitung“, die methodische Vorgaben und das Vorgehen des Vf.s skizziert (1– 29). Eine vorzügliche Gliederung der Arbeit ist ein wichtiger Wegweiser durch die Fülle der behandelten Aspekte (vgl. Inhaltsverzeichnis III – VI). Ein Durchgang durch die bisher geleistete Forschung (und deren Defizite) lässt sich gemäß „Einleitung“ als „Krise der Moderne“ (R. P. Ericksen, bei Vf. 19) für die Weimarer Zeit in der Weise ausmachen und zur „These“ vorliegender Untersuchung bündeln, „daß die hermeneutische Verunsicherung einen wesentlichen

 Der Nachlass von Walter Grundmann war bis zum Jahre 2006 gesperrt.

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Aspekt in der Unklarheit und potentiellen Verführbarkeit neutestamentlicher Exegese darstellt. Was sich für die Zeit nach 1933 als solche ‚Verführbarkeit‘ beobachten läßt, hat seine Wurzeln nicht nur in vielfältigen sozialen, biographischen und politischen Gegebenheiten und deren Rezeption, sondern auch im Gang der Entwicklung der neutestamentlichen Wissenschaft selbst“ (26). Das notwendig exemplarische Vorgehen des Vf.s (vgl. auch 68) – methodisch bedacht (aber auch Probleme aufweisend) – verlangt, der Vielschichtigkeit der Ansätze (und mehrfach zu kurz gefasst: der Weiterführung der Forschung der beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jh.s) gerecht zu werden. Im „Abschnitt A: Wege der Wissenschaft“ werden die ‚Religionsgeschichtliche Schule‘, die ‚Formgeschichtler‘, die „Wahrnehmung des Judentums“ und „jüdische Beiträge zur Auslegung des Neuen Testaments“ mit jeweils wichtigen Vertretern, aber auch offene Fragen ihrer Forschungen skizziert (33 – 68) mit dem Ergebnis: „Die Zeit der Weimarer Republik hatte ihre eigene Größe und ihre Stärken; sie war mehr als nur das Vorspiel zum Nationalsozialismus“ gerade auch in der exegetischen Neubesinnung bis hin zu einer wissenschaftlichen Öffnung zu den „exegetischen Gesprächspartner(n)“ im Judentum (67). „Die positiven Aspekte aber wurden durch die als ihre Kehrseite entstehende Verunsicherung und Infragestellung der eigenen Position konterkariert“ (68). Dies wird in „Abschnitt B: Hermeneutische Krise und Lösungsversuche der Weimarer Zeit“ problematisiert (69 – 162). Einsetzend mit einer durchaus hinterfragbaren These über Hermeneutik als Leitspruch wird zunächst die Krise der Hermeneutik im Überblick von der liberalen Theologie zu den Neuansätzen nach dem 1.Weltkrieg herausgearbeitet, besonders verdeutlicht an E. v. Dobschütz (aber auch H. Lietzmann): Die „kritische hermeneutische Linie“ als „Ebene liberaler Theologie“ werde auch über die Jahre 1933 – 1945 hinweg durchgehalten (69 – 76; Zitat 75), woran je von ihren Voraussetzungen her letztlich alle [115] neueren Richtungen zu ihrem Teil partizipierten und auch M. Kähler (und seine Schüler) nur indirekt einen „Ausweg“ fanden (76 ff.). Das Ringen um dieses Erbe musste sich zuspitzen in der „Theologischen Exegese“ und selbstredend in ihrer hermeneutischen Relevanz, wie Vf. an Hand der weithin bekannten Positionen von K. Barth und R. Bultmann referiert (81– 105; das Verhältnis Bultmann – M. Heidegger ist freilich in der Frühphase der beiden Gelehrten differenzierter als dargestellt [zu 92]). Zutreffend wird ebenfalls E. Lohmeyer in diese Fragestellung als eigenständiger exegetisch-theologischer Denker einbezogen (105 – 115), und schließlich jener „andere Aufbruch“ (H. Assel), die Schule Karl Holls, die im hermeneutischen Rückgriff auf Luther (115 – 122) zugleich „Urchristentum und Religionsgeschichte“ (so Holl, vgl. Vf. 121) hermeneutisch neu dimensionieren wollte und etwa der ‚Formgeschichtlichen Schule‘ sehr kritisch begegnete (121 Anm. 407). Nicht von

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ungefähr geht Vf. anschließend auf E. Hirsch ein (122– 134), denn dieser „führte … die Subjektivitätstheologie Holls unter kritischer Aufnahme des deutschen Idealismus (in der Gestalt Fichtes) weiter“ (122; vgl. auch 130 u. ö.), wovon – wie Vf. zeigt – seine ntl. Arbeiten nicht unwesentlich betroffen sind, so dass im „Disput zwischen Hirsch und Bultmann … noch einmal die tiefe Krise exegetischer Hermeneutik unter der Ägide historischer Kritik“ deutlich wird (134). – Auch P. Althaus (d. J.) (134– 145) wird im weiteren Sinne zur ‚Holl-Schule‘ gerechnet (134 f.), der zwar „nur eingeschränkt“ „als eigenständiger exegetischer Forscher“ „zu bezeichnen“ sei, aber gleichwohl „die Personifikation der Spannung zwischen wissenschaftlicher Lauterkeit und kirchlicher Gebundenheit“ darstelle (135; vgl. 144). Jedenfalls möchte er „der destruktiven Wirkung historischer Kritik an der neutestamentlichen Überlieferung … eine deutliche Grenze gezogen“ wissen (144). – Eine weitere Position bietet hermeneutisch die „‚pneumatische‘ oder ‚übergeschichtliche‘ Auslegung“ (146 ff.). Auch hier geht es um „Einblicke in die hermeneutischen Folgen der erneuten Rezeption Luthers“, aber „zu einer überzeugenden Lösung dringt die Diskussion nicht vor“ (152). Ob man mit Vf. unter die anstehende Position wirklich A. Oepke (153 f.) und M. Dibelius (154– 157) trotz des ursprünglichen Titels seines Werkes „Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum“ (1925; zweite unveränderte Aufl. „Evangelium und Welt“, 1929) sowie H. Windisch (157 f.), einordnen kann, verlangt nach hier nicht möglicher Spezialdiskussion (vgl. Dibelius, a.a.O., 171 ff.). Bei durchaus nicht glücklicher Terminologie ist dort die Krisensituation im ersten Drittel des 20. Jh.s tiefgreifender erfasst (vgl. a.a.O., 2ff, u. ö.) und für Vf.s Anliegen weitreichender, als dieser herausarbeitet.²⁴ Zutreffend ist die abschließende Feststellung: „So disparat wie die Anstöße zur ‚pneumatischen‘/‚übergeschichtlichen‘ Auslegung ist die Debatte“ (158). Es ist ein großer Gewinn, dass Vf. seinen raschen Durchgang durch die hermeneutischen Positionen bewusst im Horizont ntl. Wissenschaft vollzieht, wozu auch der Exkurs über 2 Kor 5,16 beiträgt (67 f.). Sein Fazit: „Die Lage der neutestamentlichen Wissenschaft zum Beginn der dreißiger Jahre ist uneinheitlich, obwohl manche Positionen das Feld anführen. Die hermeneutische Bewältigung hält mit der Entwicklung der Wissenschaft nicht Schritt“ (160), ist nicht falsch, aber ergänzungsbedürftig (das sicher im Sinne des Vf.s korrigierte Leitwort von H. Lietzmann: „Die Lage unserer neutestamentlichen Wissenschaft ist zur Zeit wirklich niederdrückend“, brieflich vom 5. 2.1926 [159], ist allerdings zu sehr aus dem Zusammenhang gerissen). Es ist hier forschungsgeschichtlich weiter auszuholen: Denn cum grano salis trifft diese Sachlagebeschreibung ebenso schon

 Vgl. W. G. Kümmel, Martin Dibelius als Theologe, ThLZ 74, 137 f.

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auf die ntl. Wissenschaft im 19. Jh. zu. In ihr spiegeln sich Wagnis und Unabgeschlossenheit exegetisch-theologischer Arbeit überhaupt. Dass es dabei seit der Aufklärung verstärkt um hermeneutische Problembewältigung geht und diese nicht erst für die Zwanzigerjahre des 20. Jh.s akut geworden ist, wäre deutlicher geworden, wenn Vf. die jeweils sehr verschiedene positionelle Auffassung von ‚Krise‘ und deren Begriffsbestimmung in der neutestamentlichen Forschung [116] und im allgemein geistesgeschichtlichen und politischen Umfeld für den in seiner Untersuchung anstehenden Zeitabschnitt analysiert hätte.²⁵ „Teil II: Auslegung des Neuen Testaments nach 1933 – Auswirkungen der Krise“ (163 – 398) behandelt zunächst in „Abschnitt C: Das Neue Testament in der Argumentation auf konkreten Problemfeldern“ (165 – 229; wobei es im Inhaltsverzeichnis treffender heißt: „Argumentationsbasis“ [IV]). Es geht um das Aufkommen und die ntl.-theol. Argumentationsbasis der „Deutschen Christen“ in ihren diversen Formen und Schattierungen, ihren Erklärungen, Bekenntnissen und Verlautbarungen, die Vf. akribisch nachzeichnet und exegetisch prüft. – Mit hoher Intensität und vorzüglicher kritischer Bearbeitung ihrer ntl.Voten wird dann die ‚Barmer Theologische Erklärung‘ (1934) auch in den Konsequenzen ihrer biblischen Bezüge erfasst (197 ff.), einmündend in den wichtigen Exkurs zu 1 Kor 9,19 ff., „‚den Deutschen ein Deutscher?‘“, in dem Vf. die (kirchlich verbrämte) nationalsozialistische Ideologie exegetisch aufdeckt (215 – 220). – Wie schon in der vorhergehenden kann sich Vf. auch in der anschließenden Erörterung über den ‚Arierparagraphen‘ und die bekannten Marburger und Erlanger Gutachten dazu weithin auf aufgearbeitete Quellen und vorliegende Untersuchungen stützen (221– 261) und die biblischen bzw. ntl. Kernstellen als Neutestamentler problembewusst prüfen. – Weitere konkrete Problemfelder sind das Ausloten bzw. die Aufwertung des ‚Führerprinzips‘ im kirchlichen Bereich nach 1933 und das Verstehen des Bischofsamtes (262– 273) sowie „die Debatte um den Treueid der Geistlichen 1934 und 1938“ (273 – 291). Es geht Vf. darum, deutlich zu machen, in einem wie starken Maße Kirchenkampf und „Auseinandersetzung um die Geltung der Schrift“ zusammen-

 Vgl. z. B. H. v. Soden, Die Krisis der Kirche (1931), in: ders., Urchristentum und Geschichte I, 1951, 25 ff., bes. 27.39 ff.; verschiedene Beiträge von M. Dibelius, z. B. Nachweise bei F. W. Graf (Hg.), Martin Dibelius über die Zerstörung der Bürgerlichkeit. Ein Vortrag im Heidelberger Marianne-Weber-Kreis 1932, ZNThG / JHMTh 4, 1997, 114– 153; zeitlich nach Vf.s Veröffentlichung erschien S. Geiser, Verantwortung und Schuld. Studien zu Martin Dibelius, 2001, mit dessen Vortrag „Die Krise der europäischen Kultur“ (1929/30), 75 – 96; weiter für Vf. interessant: H. Hübner, Der Begriff ‚Weltanschauung‘ bei Rudolf Bultmann, in: H. Gerke, M. Hebler, H.-W. Stork (Hg.), Wandel und Bestand. Denkanstöße zum 21. Jahrhundert. FS B. Jaspert zum 50. Geburtstag, 1995, 395 ff.

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hängen, „wesentlich von den D. C. und deren Schriftgebrauch evoziert“ (290). Das sich dabei vielfach zeigende „ambivalent(e) Bild“ möchte Vf. nicht nur dem (politischen) Kontext der Zeit zuschreiben, sondern auch der „Schwächung“ der Schriftauslegung vor 1933 (291). – Hier sollte beachtet werden, dass die verschiedenen methodischen Ansätze auch durchaus positiv aufgenommen wurden und z. B. für K. Staritz eine wichtige Hilfe zum Verstehen der biblischen Grundlage in ihrem Widerstand gegenüber dem sog. ‚Dritten Reich‘ waren.²⁶ – Weiter ist stärker in die Überlegungen des Vf.s einzubeziehen, dass der Vollzug der Schriftauslegung (und deren Ergebnisse) bei Vertretern der Bekennenden Kirche keineswegs in der wissenschaftlich theologischen Forschung jener Jahre unbestritten war, wenn dies hier auch nur am Rande erwähnt werden kann.²⁷ [117] „Abschnitt D: Dem Volk aufs Maul schauen oder nach dem Munde reden?“ (292– 308) behandelt ideologische Neufassungen/Neueindeutschungen von vor allem Luthers Bibelübersetzung nach 1933 mit entsprechenden Beispielen vollzogener Bibelverfälschungen. – Nicht zutreffend ist die schon mehr als nur als Vermutung geäußerte Ansicht des Vf.s, die ‚Formgeschichtliche Methode‘ habe – auch wenn W. Grundmann, dem Vf. hier folgt, dies meint (307) – Berührungen mit H. St. Chamberlains Auswahl der „Worte Christi“ (1901) und sei mitverantwortlich für die „Völkisch-deutschchristlichen Bibelübersetzungen“ und deren ideologisch ausgestaltete Auswahl von Bibelstellen (293 f.298 f.). Auch die zwar nur leichte Parallelisierung von M. Dibelius und H. St. Chamberlain geht fehl (293). – Zutreffend dagegen arbeitet Vf. die starke Kritik von H. v. Soden am „Gesellenstück deutschchristlicher Bibel‚verdeutschung‘“, „Die Botschaft Gottes“, und an anderen Bibelverfälschungen heraus (306 u. ö.).²⁸ Leider erwähnt Vf. nicht die grundsätzliche Kritik von M. Dibelius, Wozu Theologie? Von Arbeit und Aufgabe theologischer Wissenschaft, 1941, 7: „Mir scheint gerade, daß die Theologen sich viel zuviel mit solchen Künsten der Umfärbung beschäftigen – auf etwas anderes kommt es doch nicht hinaus bei diesen merkwürdigen Praktiken, die man Vergegenwärtigung, Eindeutschung oder wie immer nennen mag. Das Christentum ist nun einmal nicht auf unserem Boden entstanden; man kann es trotzdem an-

 Vgl. H. Erhart, J. Meseberg-Haubold, D. Meyer: Katharina Staritz 1903 – 1953. Dokumentation Bd. I: 1903 – 1942. Mit einem Exkurs Elisabeth Schmitz, 1999, 81 f. u. ö. und die Briefe von K. Staritz an H. v. Soden vom 17. 3.1926 u. 25.1.1929, ebd., 106 ff. 108 ff.  Vgl. z. B. R. Hermann, Deutung und Umdeutung der Schrift. Ein Beitrag zur Frage der Auslegung, 1937; weitere Nachweise bei H. Assel, Der du die Zeit in Händen hast…, BevTh 113,1992, 48.172 ff.; A. Mühling, Karl Ludwig Schmidt. „Und Wissenschaft ist Leben“, AKG 66, 1997 (passim).  Vgl. H. v. Soden, Die synoptische Frage und der geschichtliche Jesus, in: ders., Urchristentum u. Geschichte I, 1951, 159 – 213; ders., Ein erdichtetes Markusevangelium, ebd., 214– 238).

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nehmen oder deswegen ablehnen – wie man will; aber man soll nicht deutsch machen wollen, was semitisch ist oder dem großen Völkerbrei des Hellenismus angehört.“²⁹ – Ergänzend ist hinzuweisen auf die Kriterien moderner Bibelübersetzungen in den verschiedenen Vorworten in „Das Neue Testament übersetzt von Carl Weizsäcker“ (101915) und die Durchführung der Übersetzung selbst, die bis in die Jahre nach 1933 weit verbreitet war. Festzuhalten ist weiter, dass 1936 die „Privilegierte Württembergische Bibelanstalt“ „Das Neue Testament unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Neu durchgesehen nach dem vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß genehmigten Text [sc. 1912]. Mit den Vorreden Luthers“ herausbrachte. – Gerne hätte man vom Vf. eine eingehende Beurteilung der Bearbeitung der Bibelausgabe „Das ewige Wort, die Bibel in neuer Auswahl und Ordnung für Jedermann“ (Leipzig 1941) erhalten (doch vgl. zu allgemeineren Ausgaben und Verdeutschungen 295 ff.). Mit der Bibelausgabe „Die Botschaft Gottes“ legte das „Eisenacher Institut zur Erfassung und Beseitigung der jüdischen Einflüsse auf das deutsche kirchliche Leben“ sein nationalsozialistisch genehmes Ausweisdokument vor. Diesem Institut gilt „Abschnitt E: Neues Testament und antijüdisch ideologisierte Wissenschaft“ (309 – 393). Der ideologische Anspruch ist ein apologetischer im Sinne „nationalsozialistischer Wissenschaftsauffassung“ (309), wobei hier die Vorgeschichte der NSDAP und deren Wissenschaftsverständnis schon zur Zeit der Weimarer Republik einzubeziehen ist (310 ff.). Auch ist der (bewusste) Missbrauch von an sich – und isoliert gesehen – unverfänglichen theologischen Äußerungen zu beachten, z. B. die von M. Winkler: „Theologie muß als kirchliche Theologie betrieben werden, oder sie verliert ihren theologischen Charakter“ (Vf. 313 Anm. 26). Aus der „Überwindung des Libera[118]lismus“ wurden falsche Schulterschlüsse, etwa mit K. Barth, konstruiert oder Forschungen von M. Kähler „deutschchristlich“ missbraucht (317 f. u. ö.). – Die Hintergründigkeit seiner Ausführungen unterschätzt Vf., wenn er meint, dass M. Dibelius in „Wozu Theologie?“ (s.o.) „Konzessionen an das sog. ‚Dritte Reich‘ mache (315).³⁰ Die Hauptvertreter des Eisenacher Instituts werden in ihren Forschungen zum genuinen Judentum (bes. bei G. Kittel vor und nach 1933) und in ihrer Bearbeitung von „Hellenismus und Judentum“ (324 ff.) erfasst, wobei (im Kontrast) das Umfeld

 Vgl. auch M. Dibelius, Die Botschaft von Jesus Christus, 1935, Vff. 119 – 169: Hier wird der Laie in die Problematik von Übersetzung und ‚Auswahl‘ und zum kritischen Aufmerken angeleitet.  Sachgemäß W. G. Kümmel, ThLZ 74, 1949, 140; vgl. auch die teilweise erstaunliche Strukturverwandtschaft von „Wozu Theologie?“, 52 ff. [s.o.] mit H. v. Soden, Der Dienst des Staates und der Kirche an der Volksgemeinschaft (1937), in: ders., Urchristentum und Geschichte II, 1956, 219 – 247.

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seriöser Untersuchungen von beispielsweise W. Bauer und A. Alt zu Galiläa ebenso gewürdigt werden wie die entgleitenden, radikalisierenden und das „Judentum als finstere Folie“ wertenden Arbeiten (329 ff.). Das vom Vf. beigebrachte und geprüfte Material in den Beiträgen z. B. von G. Kittel, W. Grundmann, K. G. Kuhn, C. Schneider, H. Preisker, J. Leipoldt u. a. – auch G. Delling wird genannt – ist erdrückend und bedrückend zugleich, besonders dann, wenn sich in deren Forschungsergebnissen „Antiker Antisemitismus als Legitimation des gegenwärtigen“ erweist (342 ff.) und dies zum Grundsatz ‚wissenschaftlicher‘ Arbeit erhoben wird: Dass man von ‚antikem Antisemitismus‘ nicht eigentlich reden kann, war sachlich und begrifflich längst in der Weimarer Zeit bekannt.³¹ Vf.vertritt auch hier die Ansicht, dass die Vertreter der „deutschchristlichen Ansätze auf ihre Weise auf die Situation der exegetischen Lage vor 1933 und ihre hermeneutische Labilität“ reagierte (318) und im Ergebnis eine unheilvolle Wirkungsgeschichte hervorriefen, deren Auslöser u. a. auch Arbeiten von R. Otto und A. Schlatter, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen, seien (319 Anm. 58 – 60). Es belastet, dass fast alle Neutestamentler der Weimarer Zeit (und einige schon zeitlich davor) in die Mitschuld und Mitverantwortung sich verirrender, Zeitgeist und Politik ideologisch verpflichteter und somit zeitgebundener ntl. Arbeit gezogen werden, wie dies besonders deutlich im Abschnitt E vorliegender Untersuchung geschieht. Einem solchen Pauschalurteil entspricht die Sachlage nicht, und es verliert auch dadurch an Überzeugungskraft, dass andere Exegeten nicht in des Vf.s Untersuchung einbezogen werden (3), die denselben Lehrern aus den Zwanzigerjahren und zeitlich davor exegetisch-theologisch verpflichtet sind und nicht dem Zeitgeist erlegen wissenschaftliche Arbeit nach 1933 betrieben. Die von Vf. Genannten (H. Schlier, G. Bornkamm, E. Käsemann, O. Cullmann,W. G. Kümmel, E. Schweizer [3] ) sind um etliche Namen zu erweitern, etwa O. A. Piper, O. Schmitz, O. Bauernfeind, H. Braun, F. Büchsel, H. v. Campenhausen, E. Dinkler, G. Fitzer, G. Friedrich, E. Fuchs, G. Jasper, C. Maurer, P.Vielhauer, H.-D.Wendland. Auch ist hinsichtlich der in die vorliegende Untersuchung näher Einbezogenen wesentlich eindeutiger, als es durch Vf. geschieht, herauszustellen, dass ausgewiesenermaßen in diese Reihe R. Bultmann, M. Dibelius, J. Jeremias, H. Lietzmann, E. Lohmeyer, J. Schniewind, G. Schrenk, H. v. Soden u. a. gehören. Und dass die vom Vf. Angeführten (3) „aufgrund ihrer Situation nach 1933 … kaum in die aktuellen Diskussionen eingreifen konnten oder wollten“ (ebd.), ist viel zu allgemein und hält einer Nach-

 Statt Einzelnachweisungen vgl. den gerafften Überblick bei W. Schmitthenner, Kennt die hellenistisch-römische Antike eine ‚Judenfrage‘?, in: B. Martin u. E. Schulin (Hg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, dtv 1745, 1981, 9 – 29.335 – 337.

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prüfung im einzelnen so nicht stand. (Dass Vf. hier selbst ein „Desiderat“ seiner Arbeit sieht [3], sei ausdrücklich festgehalten). [119] Lässt sich diese Grundthese des Vf.s wissenschaftsgeschichtlich nicht halten, so ist jedoch überhaupt nicht zu bestreiten, dass die Kulmination nationalsozialistisch-ideologisch verpflichteter Exegese im Eisenacher Institut und auch sonst nicht ohne Vorläufer sehr verschiedener Geistesrichtungen und Ressentiments ist. Auch die Theologie in ihren verschiedenen Disziplinen ist hier punktuell einzubeziehen – z. B. hat H. v. Soden schon Anfang der Zwanzigerjahre geradezu prophetisch auf eine unheilvolle Nachwirkung Spenglers in diese Richtung hin verwiesen.³² Es bleibt zu undifferenziert, hier einfach auf unerledigte exegetische wie methodische Aufgaben und Entscheidungen und naturgemäß auch auf deren hermeneutische Probleme die Last abzuschieben (wobei Benutztund missbräuchliches Zitiertwerden im ideologischen Sinne nicht in der Hand des jeweiligen Autors liegen; vgl. auch Vf. 319 f. u. ö.). Vf. informiert umfassend auf gründlicher exegetischer Basis und deckt bis in Einzelheiten auf, wie Exegese missbraucht werden kann, wobei erstaunliche Wandlungen bei einigen Forschern von der Weimarer Zeit und dann bis in die Jahre nach 1933 zu Tage treten (etwa bei E. Hirsch, G. Kittel, G. Bertram). Paradigmatisch und exemplarisch wird dies in reichem Maße aufgezeigt, auch wenn man gerne gelegentlich noch Näheres zum Profil einzelner Persönlichkeiten erfahren hätte, z. B. bei G. Kittel.³³ Auch G. Delling wird unter den Mitarbeitern des Eisenacher Instituts geführt (334; vgl. 14 Anm. 89), aber er kann nicht geistiger Mitverantwortung an fachdisziplinärer Ideologie des sog. ‚Dritten Reiches‘ zugeordnet werden (auch Vf. ist zurückhaltend, 334), wenn er „auch in seinen frühen Arbeiten die jüdische Umwelt … allerdings im Rahmen eines aus heutiger Sicht problematischen Deutungsschemas“ „im Blick“ hatte (so K.-W. Niebuhr).³⁴ Gemeint ist sein Werk „Das Zeitverständnis des Neuen Testaments“ (1940), das u. a. O. Cullmann, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung (1946), 31962, 49.59 – 61.88.93, und W. G. Kümmel, Verheißung (s. Anm. 18), 12.19.119 f.134 f. rein wis H. v. Soden, Die Geschichte der christlichen Kirche bei Oswald Spengler (1924), in: ders., Urchristentum und Geschichte II, 1956, 21– 55.  U. a. den Zeitzeugen Gerh. Friedrich, vgl. G. Friedrich / J. Friedrich, Art. Kittel, Gerhard (1888 – 1948), in: TRE 19, 1990, 221– 225; siehe auch G. Kittel, „Meine Verteidigung. Neue erweiterte Niederschrift“, 1946, im Univ. Archiv Tübingen.  K.-W. Niebuhr, Der Neutestamentler Gerhard Delling (1905 – 1986) als Erforscher des Frühjudentums, in: Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, hg. v. U. Schnelle, 1994, 73 – 86, hier 74; vgl. T. Holtz, Zum wissenschaftlichen Lebenswerk von Gerhard Delling im Horizont Biblischer Theologie …, hg. v. W. Kraus u. K.-W. Niebuhr unter Mitarbeit v. L. Doering, WUNT 162, 2003, 345 – 360, 349.

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senschaftlich-kritisch ohne Hinweis auf dessen Entstehungszeit würdigen. Leider hat Vf. den bei Niebuhr (a.a.O., 76 Anm. 13) teilweise zitierten Brief Dellings vom 20.1.1963 an O. Cullmann nicht herangezogen, in dem er, wie auch in anderen Briefen, seine frühere Position deutlich korrigiert. – Gerade bei G. Delling, aber auch bei anderen behandelten Neutestamentlern, z. B. bei K. G. Kuhn, E. Haenchen u. a., erwähnt Vf. kaum je ihre – soweit vorliegend – wissenschaftliche Leistung nach 1945, was recht aufschlussreich gewesen wäre. – W. Grundmann ist nach dem Vf. besonders der „völkischen Umgestaltung christlichen Glaubens“ erlegen (398), nachgewiesen durch zahlreiche exegetische Beispiele und durch die treffende Charakteristik, die H. Lietzmann brieflich gegenüber H. v. Soden am 16.6.1941 (nicht 31.5.1941, so Vf.) gibt (378 Anm. 488).³⁵ G. Bertram aber wird über zahlreiche Einzelhinweise hinaus durch die Zufügung von drei Schriftstücken, die sich heute im Predigerseminar der Evang.-Luth. Kirche Thüringens befinden, als ebenso rühriger wie unerbittlicher Verfechter des [120] Eisenacher Instituts gekennzeichnet, der noch am 6. Mai 1945 (zwei Tage vor der Kapitulation) das Anliegen des Instituts apologetisch zu rechtfertigen sucht (401– 422). – Eine kurze Schlussbetrachtung (394– 398) – mehr Zusammenfassung – stellt die zentrale Frage: Wie kann sich exegetische Wissenschaft vor ‚ideologischer Vereinnahmung‘ bewahren (398)? Im Ergebnis: Vf. konnte in erheblichem Maße auf bereits bearbeitetes Quellenmaterial zurückgreifen, das teilweise gründlich in Monografien aufgearbeitet wurde. Sein besonderes Verdienst ist es, die schon unübersichtlich werdende Fülle des Stoffs und ihrer Quellenauswertungen gebündelt in einer Gesamtdarstellung unter vorwiegender Berücksichtigung exegetischer Forschung und deren zeitangepasstem Missbrauch vorgelegt zu haben. Ist auch seine Hauptthese, die ntl. Forschung während der Weimarer Republik trage in ihrer (divergierenden) Vielgestaltigkeit – als hermeneutische Krise hervortretend – erhebliche Mitschuld an der ideologischen Verblendung und Verirrung im Rahmen nationalsozialistisch-rassistischer Wissenschaftsauffassung, nicht stichhaltig belegbar und zu undifferenziert, zumal Vf. das in dieser Hinsicht eindeutige Versagen verschiedener Neutestamentler einer ganzen Disziplin und deren Vertretern aufbürdet, so ist doch insgesamt die Untersuchung sehr lehrreich und (mit über 2700 Anmerkungen fast überbordend) informativ.³⁶ Besonders der zweite Teil bietet eine

 Leider unvollständig angeführt. Ergänzend vgl. den Brief von H. G. Opitz vom 15.1.1940 an H. Lietzmann über W. Grundmann (und auch über G. Kittel), in: Glanz und Niedergang der Deutschen Universität …, hg. v. K. Aland, 1979, Nr. 1131 (S. 985 f.).  Das Werk enthält eine Reihe leicht erkennbarer Druckversehen und Fehler. Zu nennen sind jedoch: K. G. Kuhn wechselte nicht „nach 1945 auf den Tübinger Lehrstuhl für Neues Testament“

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ungemein wichtige Warnung an letztlich jede Fachwissenschaft vor Anbiederung und Sich-Vereinnahmen-Lassen. Dieses Anliegen verbindet eindrücklich und bewegend beide hier vorgestellten Untersuchungen.³⁷ Und das ist wahrlich nicht ihr geringster Beitrag für die Gegenwart, in der Aufarbeitung schuldbeladener Vergangenheit auch zu neuer Ideologie und Zeitgeistanpassung führen kann.³⁸

(338 Anm. 190); statt Gerd Lüdemann ist als Verfasser des Mk-Komm. im HNT Dieter Lührmann anzuführen (55 Anm. 215); durchgängig ist E. G. Gulin statt Guhlin zu lesen.  P. v. d. Osten-Sacken fragt (mit Chr. Gestrich) in der Einführung des Aufsatzbandes „‚nach den konkreten Bedingungen der Sündenvergebung‘“ (a.a.O. 20 ff., bes. 24) für jene Jahre. Mag hier nicht Röm 11,32 mehr aussagen und als ‚Evangelium‘ zusprechen, als es Menschen im Miteinander und vor Gott vermögen?  Vgl. dazu auch den Philosophen N. Hinske, in: Forschung & Lehre, 4. Jhrg. 1997, 336 und T. Holtz (Anm. 34), 347.

Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule Das mir gestellte Thema ist für die Forschergruppe, die wir vereinfacht „Religionsgeschichtliche Schule“ nennen, in mancher Hinsicht ungewöhnlich und doch zugleich eine Herausforderung gewesen.

I 1. Kontext der Fragestellung Der Begriff „Persönlichkeit“ war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert weitverbreitet. Spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts war er gesellschaftsfähig, wenn auch als Wort und Vorstellungsbereich bereits im 15. Jahrhundert nachgewiesen.¹ Doch erst durch Immanuel Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ und auch in seiner Religionskritik² wurde er zum Gegenstand [30] wissenschaftlicher Erörterung, wurde er in der späten deutschen Aufklärung von Bedeutung und in der Literatur, Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Medizin und Psychologie im 19. Jahrhundert fast schon zum Modebegriff bis hin zum gängigen Klatsch und Tratsch in der Gesellschaft um die schon erwähnte Jahrhundertwende. Im Gerede über Personen, in ihrer jeweiligen Beurteilung ging es nicht selten darum, ob diese oder jene Person auch als eine Persönlichkeit einzuschätzen sei. Person und Persönlichkeit waren in der zumeist gehobeneren Gesellschaft, die sich gerne von der Masse abhob, nicht unbedingt das Gleiche. Im wissenschaftlichen Gespräch wurde freilich in der Regel die Sachfrage differen-

 Vgl. Art. Persönlichkeit, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 7: bearb. v. M. Lexer, Leipzig 1889, 1567– 1568 (mit zahlreichen Beispielen); Art. Person, in: F. Kluge / A. Götze, Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, Berlin ¹⁶1953, 554 (mit Lit.).  I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. IV, 5. Nachdruck, Darmstadt 1983, 107– 302 (passim); ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. K. Vorländer. Mit einer Einleitung: Die Religionsphilosophie im Gesamtwerk Kants v. H. Noack, Philos. Bibl. 45, Abdruck der 7. Auflage von 1961, Hamburg 1966, zu 1,18.19 (S. 27; vgl. 25 – 28 u. ö.); vgl. z. B. auch A. Pieper, Zweites Hauptstück (57– 71), in: O. Höffe (Hg.), I. Kant. Kritik der praktischen Vernunft, Klassiker Auslegungen Bd. 26, Berlin 2002, 115 ff.122 f.; G. Irrlitz, Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart/Weimar 2002, 306 – 310 („Kritik der praktischen Vernunft“); im Überblick: M. Kühn, Kant. Eine Biographie, München 2003, 359 ff.

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zierter angegangen. Doch genauerhin im theologischen Bereich gilt dieses: In allen Strömungen und Lagern damals zeitgenössischer Theologie herrschte derselbe Begriff „Persönlichkeit“ vor.³ Hier unterschieden sich die Vertreter der liberalen Theologie, der Konservativen und auch der Religionsgeschichtlichen Schule nach außen hin nicht. Weithin war der Begriff ausgerichtet auf die „Persönlichkeit Jesu“, wobei Person und Persönlichkeit Jesu oft identifiziert wurden. Ein Hinweis auf Albert Schweitzers klassische und in dieser Hinsicht treffende „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ mag hier genügen.⁴

2. Hintergrund der Fragestellung in der religionsgeschichtlichen Schule Wenden wir uns entsprechend der Themavorgabe näherhin der „Religionsgeschichtlichen Schule“ zu, so soll nicht in die Erörterung eingetreten werden, wer denn überhaupt zu dieser gehörte. Festgehalten sei nur: Es handelt sich nicht um eine „Schule“, wie der von außen herangetragene Name anzeigen könnte, sondern um einen Kreis gleichgesinnter, teilweise näher untereinander befreundeter, damals junger Privatdozenten⁵, die fast alle zwischen 1888 und 1900 in der Göttinger Theologischen Fakultät habilitiert wurden und „Die ‚kleine Göttinger Fakultät‘“ innerhalb der Gesamtfakultät bildeten, wie sie E. Troeltsch bezeichnete.⁶ Ist auch in Einzelfällen die Zugehörigkeit bis heute nicht voll geklärt,⁷ so gilt doch im Hinblick auf unsere Fragestellung als gesichert, daß zu den vornehmlich Exegeten und Neutestamentlern A. Eichhorn (1856 – 1926), H. [31] Gunkel (1862– 1932), W. Wrede (1859 – 1906), J. Weiß (1863 – 1914), W. Bousset (1865 – 1920), W. Heitmüller (1869 – 1926) gehören, und daß E. Troeltsch (1865 – 1923) und in gewissem Sinne R. Otto (1869 – 1937) die Systematiker dieser Forschungsrichtung waren.⁸ Man geht

 Vgl. u. a. M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie, Gütersloh 1992, 326 ff.  A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede, Tübingen 1906; seit 2. Aufl.: Geschichte der LebenJesu-Forschung, Tübingen ²1913.  Vgl. G. Sinn, Christologie und Existenz. Rudolf Bultmanns Interpretation des paulinischen Christuszeugnisses, TANZ 4, Tübingen 1991, 5 ff.11 ff.24 f.  E. Troeltsch, Die „kleine Göttinger Fakultät“ von 1890, im Wiederabdruck bei G. Lüdemann / M. Schröder (s. Anm. 8), 22 f.  Vgl. die einschlägigen Artikel „Religionsgeschichtliche Schule“ in RGG, 1.–3. Aufl.; zuletzt F. Hartenstein / H. D. Betz‚ Art. Religionsgeschichtliche Schule, RGG4, Bd. 7, 2004, 321– 326; G. Lüdemann / A. Özen, Art. Religionsgeschichtliche Schule, TRE 28, 1997, 618 – 624; G. Sinn (s. Anm. 5), 11 ff.37– 111.  Mit den in Anm. 7 Genannten vgl. z. B. H. Gressmann, Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1914, bes. 25 ff.; W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte

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nicht fehl, die große Zeit der Religionsgeschichtlichen Schule von 1890 – 1920 anzugeben, ihre Nachwirkung/Wirkungsgeschichte reicht bis heute. Fast alle Vertreter waren ursprünglich Schüler A. Ritschls (1822– 1889) und mit dessen liberaler Theologie zunächst verbunden. Alle aber erkannten die exegetische Einseitigkeit des Lehrers mit ihren nicht hinreichenden Folgerungen. – Andere diesen jungen Privatdozentenkreis begleitende, aber auch weiterführend herausfordernde akademische Lehrer waren P. de Lagarde (1827– 1891), B. Duhm (1847– 1928), J. Wellhausen (1844 – 1918) in Göttingen, dazu A. Harnack (1851– 1930), den M. Rade 1913 „als unfreiwilligen Schöpfer der rg. Sch. [sc. religionsgeschichtlichen Schule]“ bezeichnete;⁹ aber auch A. Jülicher (1857– 1938) und R. Reitzenstein (1861– 1931). Am Beginn und im Verlauf der „Religionsgeschichtlichen Schule“ stand für diese Gruppe „eine durchaus innertheologische Entwicklung“, „deren eigentliches und letztes Bestreben die Religion selber in ihrer Tiefe und Breite zu erfassen“ Anliegen und Ziel war.¹⁰ „Es stünde schlimm um die religionsgeschichtliche Schule und ihre Bedeutung für die Theologie, wenn sie ihr Augenmerk einseitig auf die Einwirkungen anderer Religionen gerichtet hätte … . Religionsgeschichte treiben heißt“ für ihre Vertreter „in erster Linie die Geschichte der eigenen Religion [32] verfolgen“.¹¹ Zuvor schön hatte H. Gunkel erklärt: „Unsere historische Kardinalüberzeugung ist, dass wir nicht im stande sind, eine Person, eine Zeit, einen Gedanken zu verstehen, abgelöst von ihrer Vorgeschichte“, um dann gegenüber manchen Mißverständnissen/Fehldeutungen für das Neue Testament festzuhalten: „Demgegenüber soll hier … festgestellt werden, dass die Untersuchung des N.

der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg/München ²1970, 310 ff. u. ö.; O. Merk, Art. Bibelwissenschaft. II. Neues Testament, TRE 6, 1980, 375 ff., hier: 386 ff.; G. Lüdemann / M. Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, Göttingen 1987; G. Lüdemann‚ Die Religionsgeschichtliche Schule, in: B. Moeller (Hg.), Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttinger Univ. Schriften, Ser. A Bd. 1, Göttingen 1987, 325 – 361; ders., Das Wissenschaftsverständnis der Religionsgeschichtlichen Schule im Rahmen des Kulturprotestantismus, in: H. M. Müller (Hg.), Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, 78 – 107; ders., Die Religionsgeschichtliche Schule und ihre Konsequenzen, ebd., 311– 338; ders. / A. Özen (s. Anm. 7), 618 ff. mit weiterer Lit.; G. Seelig, Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart. Studien zu Geschichte und Methode des religionsgeschichtlichen Vergleichs in der neutestamentlichen Wissenschaft, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte Bd. 7, Leipzig 2001 (passim; bes. 227 ff.255 ff.). Im Übrigen vgl. Lit. in Anm. 7.  Nach M. Rade, Art. Religionsgeschichte und Religionsgeschichtliche Schule, RGG¹, Bd. IV, 1913, 2191.  So H. Gunkel, Die Richtungen der alttestamentlichen Forschung, ChW 36, 1922, 64 ff., 66.  So H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 29 f.

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T. selbst das eigentliche Thema der neutestamentlichen Forschung ist und bleibt.“¹² Nicht geht es darum, Literarkritik in weitere Verästelungen hinein zu führen,¹³ so notwendig es ist, „die Wandlung der Texte zu verfolgen“, „Varianten“ aufzuspüren. Das ist der Einstieg, um dann – wie A. Eichhorn es meint – „die Entwicklung der Religion“ zu „rekonstruieren“, genauerhin „die inneren Triebkräfte“, Umgestaltung und Überlieferung in den Blick zu bekommen, und das „heißt … nichts anderes als mit dem Begriff der Geschichte vollen Ernst (zu) machen“.¹⁴ „Je feiner der historische Sinn und die historische Methode ausgebildet ist, desto besser vermag man zu erkennen, wo eine stetige geschichtliche Entwicklung vorliegt, und wo dies nicht der Fall ist.“¹⁵ Aber war in dem Bemühen, die Geschichte der eigenen Religion grundlegend historisch zu erfassen, nicht angelegt, vielleicht sogar vorgegeben, auch die Persönlichkeiten der eigenen Religion zu eruieren? Hier ist ein weiteres Grundanliegen der Religionsgeschichtlichen Schule einzubeziehen: Indem diese sich den Pseudepigraphen und Apokryphen – entgegen der Konstruktion A. Ritschls, der sie völlig überging – maßgebend zuwandte, befaßte sie sich mit einer Welt, in der es ihrer Meinung nach „der schöpferischen Persönlichkeiten ermangelte“.¹⁶ Dies läßt z. B. auch der nicht zur Religionsgeschichtlichen Schule gehörende P. Fie[33]big indirekt zumindest in seinem Artikel „Pseudepigraphen des A.T.s“ in RGG¹ (1913) erkennen.¹⁷ Geht man unter unserer Fragestellung der Religionsgeschichtlichen Schule nach, zeigt sich hier ein Dilemma, das in ihr durchaus gesehen wurde und dem man zu entgehen suchte. Gewiß wollte man vornehmlich Altes und Neues Tes-

 Vgl. auch H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, FRLANT 1, Göttingen 1903, 10 f.  H. Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen 1 und ApJoh 12. Mit Beiträgen von H. Zimmern, Göttingen 1895, 209 Anm. 3: „Literarkritische Arbeiten haben natürlich ihr gutes Recht; aber ihre Resultate werden meist nur dann gesichert werden, wenn sie … in den Rahmen religionsgeschichtlicher Betrachtung eingestellt werden. Jedenfalls aber darf alle Literarkritik nur als Vorarbeit angesehen werden; sie hat nur so viel Wert, als sie zum historischen Verständnis der betreffenden Schrift beiträgt und dadurch an ihrem Teile die eigentliche Aufgabe aller biblischen Untersuchungen dh die Erkenntnisse der Religionsgeschichte fördert.“ Zu weiterem vgl. O. Merk, Art. Literarkritik. II. Neues Testament, TRE 21, 1991, 222– 233.  H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 17.35; A. Eichhorn, Das Abendmahl im Neuen Testament, Hefte zur „Christlichen Welt“ Nr. 36, Leipzig 1898, 14 f.28 ff.  A. Eichhorn, Abendmahl, 30.  H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 37 f.  P. Fiebig, Art. Pseudepigraphen des A.T.s, RGG¹, Bd. IV, 1913, 1952– 1964.

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tament und die zwischentestamentliche Literatur erfassen, aber es richtete sich dabei notwendig der Blick auf die Umwelt des Vorderen Orients ebenso wie auf die klassische und hellenistische Antike. Und da es ebenso selbstverständlich nicht einfach um das Sammeln von Parallelen/Analogien ging, wogegen sich die Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule immer wieder gegen ihre Kritiker mit Recht verwahrt haben, mußte aber doch ein für sie maßgebender Gesichtspunkt deutlich gemacht werden. Das Herausarbeiten geschichtlich eruierbarer Zusammenhänge und Entwicklungen, von Kontinuitäten und Diskontinuitäten – eine in der Religionsgeschichtlichen Schule zentral gewordene, wissenschaftlich auszuwertende Begrifflichkeit – führte zu der Einsicht, daß nicht selten „große Persönlichkeiten“ sich als „Herren der Überlieferung“, „der einheimischen wie der fremden“ erwiesen,¹⁸ ja daß – weit gefaßt – die Erforschung von „Volksglaube(n)“ und Synkretismus immer wieder auf „Persönlichkeiten“ im Hintergrund stößt. „Die religionsgeschichtliche Schule“ – so Greßmann vor allem im Hinblick auf ihre Exegeten – „ist zwar überzeugt, daß die großen Männer mit der Umwelt ihres Volkes aufs engste zusammenhängen, aber sie leugnet darin ihre Selbständigkeit und Größe keineswegs“.¹⁹ Gerade diese Forschungsrichtung, die „den Nachdruck auf“ die „Religion … im Unterschied“ zu „Dogma und Kirche“ legte, bezog diesen Begriff „auf die persönliche Frömmigkeit des Einzelnen und vor allem der großen Männer“.²⁰ Und Gunkel hielt schon 1895 in seiner Untersuchung der Apokalypse des Johannes fest, „dass selbstverständlicher Weise das älteste Christentum, aber auch das Judentum lebendige Religionen sind, mit selbständigen religiösen Bedürfnissen, in denen ein Buch zwar viel, geschichtlich aber nicht alles bedeutet. Grade das Lebenskräftige, geschichtlich Wirksame, d. h. das Bedeutsame in ihnen, so sehr es auch durch die Lektüre der „Schrift“ genährt oder wenigstens beeinflusst sein mag, hat seinen letzten Grund nie in dem Buche, sondern in den Personen, ihren Erfahrungen und Erlebnissen, und in der Geschichte, in der sie wurzeln.“²¹ [34] Das führt noch einen Schritt weiter: Es geht darum, „das Individuelle nicht zu vergewaltigen,“²² und das verlangt nach einer reflektierten „psychologischen Methode“.²³ Das lebhafte Interesse der Religionsgeschichtlichen Schule an der zu Ende des 19. Jahrhunderts aufblühenden Psychologie als Forschungs-

 H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 46 vgl: 42 ff.  H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 47.  H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 29.  H. Gunkel, Schöpfung und Chaos (s. Anm. 13), 238; ders.‚ Zum religionsgeschichtlichen Verständnis (s. Anm. 12), 11 f.  In etwas anderer Ausrichtung bei H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 46 f.  H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 43.

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zweig²⁴ verband sie einerseits mit den theologischen Strömungen der Zeit, unterschied sie aber andererseits dadurch, daß sie die psychologische Zuhilfenahme der streng historischen Entwicklung der Erforschung religionsgeschichtlicher Sachverhalte unterordnete. Aber auch psychologische Fragestellungen dienten in der Religionsgeschichtlichen Schule dazu, Möglichkeiten und Grenzen dessen aufzudecken, was „Persönlichkeit“ ausmacht.

II Die Durchsicht der einschlägigen Schriften läßt es zu, die Fragestellung vor allem an den Forschungen von William Wrede und Wilhelm Bousset zu dokumentieren, wobei auch andere Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule – wie etwa Johannes Weiß und Wilhelm Heitmüller – mit erwähnt werden.

1. William Wrede In vornehmlich drei Abhandlungen hat Wrede²⁵ auch unsere Fragestellung aufgegriffen: In „Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie“, Göttingen 1897 (folgende Seitenangaben entsprechen dem Nachdruck bei G. Strecker [Hg.], Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF CCCLXVII, Darmstadt 1975, 81– 154); „Paulus“, Religionsgeschichtliche Volksbücher 1,5.6, Halle 1904, 2. Auflage, Tübingen 1907 mit einem einführenden Geleitwort von W. Bousset „William Wrede. Zur zweiten Auflage von Wredes [35] ‚Paulus‘“, 3*–10* (nach dieser Ausgabe wird zitiert); „Die Entstehung der Schriften

 Vgl. instruktiv J. Wendland, Art. Psychologie. Allgemeines, RGG¹, Bd. IV, 1913, 1973 – 1976; vgl. auch W. Bousset als Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule, in: „Der religiöse Liberalismus“, in: L. Nelson u. a. (Hg.), Was ist liberal?, München 1910, 21 ff., bes. 22: „… Historie und Psychologie sind für den modernen religiösen Liberalismus Labyrinthe geworden, in denen er sich zu verirren droht“ (vgl. auch Verheule [s. Anm. 30], 372).  Zu W. Wrede zuletzt mit reichen Lit. Angaben W. Zager, Art. Wrede, William, TRE 36, 2004, 337– 343; darüber hinaus W. Baird, History of New Testament Research, Vol. 2, Minneapolis 2003, 144– 151; O. Merk, Art. Wrede., W., RGG⁴, Bd. 8, 2005, 1713; aus der Zeit der Religionsgeschichtlichen Schule noch immer herausragend: A. Jülicher, Art. W. Wrede, PRE, Bd. 21, 1908, 506 – 510; ders., Einleitung in das Neue Testament, GThW, IV, 1, 5.6Tübingen 1906, 48 zu Wredes „Die Echtheit des 2. Thessalonicherbriefes“ (TU, N. F. IX 2, 1903), was als grundsätzliche Feststellung zu Wredes Forschung gelten kann: „Muster einer von jeder advokatorischen Zutat freien, gründlichen und wahrhaft positiven Kritik, aber die Grenzen des bei Paulus Möglichen werden mit eisernen Pfählen abgesteckt.“

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des Neuen Testaments“. Vorträge, Lebensfragen 18, Tübingen 1907 (Die Vorträge wurden 1904 gehalten).²⁶ In seinem genau vor hundert Jahren erschienenen Paulusbüchlein (1. Aufl.) schreibt Wrede im Vorwort: „Die folgende Darstellung beabsichtigt nicht eine Lebensgeschichte des Paulus zu geben, sondern seine Persönlichkeit, Wirksamkeit, Religion und geschichtliche Bedeutung zu charakterisieren.“ Dieser eine Satz faßt bereits zusammen, was Wrede sowohl unter „Persönlichkeit“ versteht als auch, in welchem Sinn Paulus eine solche ist. In seiner Untersuchung zur sog. ntl. Theologie (1897) hat er es bereits dargelegt: An sich sind Persönlichkeiten als Schriftsteller im Neuen Testament nicht von Belang, wohl aber kann ein einzelner dann als „Persönlichkeit“ angesehen werden, „wenn er mit seinen Gedanken epochemachend auf die Kirche gewirkt hat“ (109). Deshalb muß „die Bedeutung der wenigen schöpferischen oder hervorragenden Persönlichkeiten … durch besondere Darstellung ihrer individuellen Anschauungen gewahrt bleiben“ (115 f.). Dieser Hinweis verlangt nach Wrede der methodischen Vergewisserung. Die religionsgeschichtliche Einordnung und Erklärung des frühen Christentums ist unter anderem darin ein Gegensatz zum liberalen theologischen Verstehen, daß sie gerade nicht wie jene leichthin von „Persönlichkeit(en)“ sprechen kann. Auch historisch eruierbare Gestalten wie Paulus stehen im Strom religionsgeschichtlicher Überlieferung.Wrede hält fest: „Daß wir bei diesem Erklären und historischen Analysieren die Bedeutung der Persönlichkeiten, z. B. die Bedeutung eines Paulus verkennen müßten, fürchte ich nicht. Weshalb sollte man nicht anerkennen können, daß die Eigenart und die Arbeit des Individuums selbst vieles erklärt, was ohne sie nicht erklärt werden kann? Ich glaube, die erklärende Methode [sc. gemeint ist die religionsgeschichtlich erklärende Methode] wird uns am gehörigen Ort die Bedeutung der Persönlichkeit in der denkbar schärfsten Beleuchtung zeigen. Nur hören wir auf, den einzelnen schon darum zum Schöpfer eines Gedankens zu machen, weil wir ihn zufällig zuerst bei ihm finden, und ferner aus der Persönlichkeit begreifen zu wollen, was nun einmal nicht aus ihr begriffen werden kann“ (127). „Konkrete Anschauungen werden zum wenigsten niemals allein aus noch so ausgeprägter Eigenart der Persönlichkeit verständlich“ (127 f.). Ohne Erhellung des religionsgeschichtlichen Hintergrundes wird nicht der „Grund“ deutlich, „weshalb sich die Eigenart gerade in diese bestimmten Anschauungen ergießt“ (128). Das eingehend die geschichtliche Situation bedenkende Verfahren, die relig.gesch. Methodik, ist notwendig, um konkret eigene Entscheidungen von

 Die Seitenzahlen im fortlaufenden Text besagen: Ohne verkürzte Titelangabe = Aufgabe und Methode der sog. Neutest. Theologie; Pls¹; Pls² = erste bzw. zweite Auflage der Paulusschrift; Entst. = Die Entstehung der Schriften des NTs.

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Personen zu würdigen, etwa des Paulus Missionstheologie, [36] seine im missionarischen Handeln entfaltete Rechtfertigungstheologie, die ihn als Persönlichkeit erkennen lassen. Das Proprium paulinischen Denkens und Handelns macht den Apostel zur Persönlichkeit (vgl. ebd. 128 – 132). Aber mit derselben streng historischen religionsgeschichtlichen Methodik läßt sich auch die Begrenzung des Propriums paulinischen Denkens erheben (z. B. 140), ja deutlich machen, wieviel Dunkles, nämlich nicht Deutbares, bei einer solchen Persönlichkeit wie Paulus bleibt, von der wir mehr als über andere auch chronologisch und geographisch ermitteln können (136 f.). „Eine Tatsache“ aber ist – so Wrede – nicht umzustoßen: „die Tatsache, daß Paulus in der Geschichte des ältesten Christentums die epochemachende Gestalt ist. Er ist nicht nur die mächtigste religiöse Persönlichkeit. Er hat durch seine Missionstätigkeit die Physiognomie der ganzen Kirche entscheidend verändert … . Er ist … der Schöpfer einer christlichen Theologie. An dieser Gestalt‚ die deutlicher vor uns steht als Jesus selbst, hat man sich also zu orientieren“ (138). Damit ist unter unserer Fragestellung ein Stichwort gefallen: Kann man nach Wrede von einer Persönlichkeit Jesu reden? So gewiß er diese Ausdrucksweise gebraucht, historisch und theologisch verantwortet kann weder „die Predigt Jesu … als eine eigentliche Lehre dargestellt werden“ noch die „Persönlichkeit Jesu“, so wenig wie der „erkennbare(n) Verlauf seines Lebens“ (135). „Ipsissima verba von Jesus haben wir nicht …; wir wissen über Jesus nur durch spätere Darstellungen …, das Bild der Persönlichkeit wie der Predigt Jesu“ ist – wie nicht nur der synoptische Vergleich zeigt – „von zahlreichen späteren Anschauungen und Auffassungen überzogen und getrübt“ (136). Schon in seinen Erwägungen zur sog. ntl. Theologie ist sein Werk „Das Messiasgeheimnis in den Evangelien … „ (1901) sachlich vorprogrammiert und in seinem „Paulus“ (¹1904) bildet das genannte Werk die Grundlage zum Verstehen der „Jesus-Paulus-Debatte“. Letztlich geht es um die Unvereinbarkeit der beiden „Persönlichkeiten“‚ wobei zu bedenken ist, daß nach Wrede die „Predigt Jesu … sich nicht lösen [läßt] von der Persönlichkeit Jesu und vom erkennbaren Verlauf seines Lebens“ (135), eine Feststellung, in der er H. J. Holtzmann folgt (135, Anm. 64). Das bestätigt die christologische Grundaussage des Paulus, wie Wrede diese in seinen Vorträgen über „Die Entstehung des Neuen Testaments“ (Jan./Feb. 1904; im Druck 1907) kennzeichnet: „Im Mittelpunkt seiner [sc. Pauli] Gedanken steht die Person Christi, aber es ist nicht das Leben Jesu, nicht seine Worte, seine Lehre, nicht seine erhabene Persönlichkeit in ihrer Reinheit, Liebe und Frömmigkeit, worauf es ihm ankommt. Das ist für ihn ganz untergeordnet. Vielmehr ist ihm Christus ein göttliches Wesen, das vom Himmel auf die Erde gestiegen ist und Menschengestalt angenommen hat, und außer dieser Menschwerdung kommt es ihm eigentlich nur auf zwei Dinge an: auf den Tod Christi am Kreuz und auf seine Auferstehung“ (Entst., 18). Im Paulus-Buch

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wird noch verdeutlicht, daß [37] Paulus für diese „der Begriff der Persönlichkeit, der menschlichen Individualität“ fehlt. „Daher bleibt für uns die Menschheit Christi, wie er sie denkt, ein unbegreifbarer Schemen“ (Pls², 55). Damit wir es nicht mißverstehen: Wrede denkt keineswegs gering von der „erhabene(n) Persönlichkeit“ Jesu (Entst., 18), aber sie ist uns historisch und kritisch bei allem Bemühen um Rekonstruktion nicht faßbar. Im Hintergrund steht die Kritik am Jesusbild seiner Zeit. Wredes Orientierung am Apostel ist aus seiner Eruierung der „Persönlichkeit“ des Paulus genommen und methodisch begründet nicht auf ein „Leben Pauli“ ausgerichtet. Auch das „Ich“ in Röm 7 zielt nicht auf das Leben des Apostels. Es ist nach Wrede allgemein gefaßt und nicht das persönliche Ich des Paulus. „Das Ich ist der unerlöste Mensch überhaupt; sein Elend wird gemalt, und zwar darum so besonders düster, weil Paulus vom Standpunkt der Erlösung redet“ (Pls², 83). Wenn Wrede abschließend in seinem Paulus-Buch Paulus als den „zweiten Stifter des Christentums“ bezeichnet, weiß er um den primären. Und wenn Wrede charakterisiert: „dieser zweite Stifter der christlichen Religion hat ohne Zweifel gegenüber dem ersten im ganzen sogar den stärkeren – nicht den besseren – Einfluß geübt“ (Pls², 104), so ist diese Feststellung nicht ohne die Ergebnisse kritischer Erforschung der Persönlichkeit des Paulus getroffen. Hier ist auch zumindest das I. Kapitel dieses Buches rekapituliert und doch Umfassenderes gemeint. Entscheidend ist „der objektive Abstand der paulinischen Lehre von der Predigt Jesu“ (Pls², 92), den Paulus als Persönlichkeit denkerisch und theologisch bewältigt. Er bekommt in den Griff, daß zwischen Jesus und ihm die an Christus glaubende Urgemeinde liegt, wie forschungsgeschichtlich gesehen noch präziser als Wrede A. Jülicher nachweist²⁷ und W. Heitmüller dahin erweitert, daß Urgemeinde und hellenistische Gemeinde den Abstand von Paulus zu Jesus historisch aufdecken²⁸ und daß dies theologische Konsequenzen zeitigt: Mit Paulus ist „der Schritt von der Religion zur Theologie“ vollzogen (Pls², 102). „Bei Jesus zielt alles auf die Persönlichkeit des Einzelnen“ (Pls², 93). Paulus ist darum eine Persönlichkeit, weil er Religion und Theologie so umgreift, „daß er das Christentum zur Erlösungsreligion gemacht hat“ (Pls², 103), daß er die „Heilstaten, die Menschwerdung, den Tod und die Auferstehung Christi, zum Fundamente der Religion ge-

 A. Jülicher, Paulus und Jesus, RV 1. Reihe, 14. Heft, Tübingen 1907.  W. Heitmüller, Zum Problem Paulus und Jesus (urspr. ZNW 13, 1912, 320 – 337), wiederabgedruckt in: Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, in Verbindung mit U. Luck hg. v. K. H. Rengstorf, WdF XXIV, 1964, 124– 143, 124 ff.131 ff.; vgl. auch F. Regner, „Paulus und Jesus“ im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte des Themas „Paulus und Jesus“ in der neutestamentlichen Theologie. Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 30, Göttingen 1977, 147 ff.

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macht hat“ (Pls², 103). Gegen die liberale Theologie der Zeit gerichtet gilt, so Wrede: [38] „Der Grund: er [sc. Paulus] denkt bei seiner Lehre gar nicht an das Individuum und die psychologischen Prozesse in ihm, sondern stets an die Gattung, die ganze Menschheit. Das Sterben mit Christus ist ein allgemeines Faktum, das sich an allen Gläubigen gleichmäßig vollzieht, kein mit besonderen Erfahrungen und Empfindungen verbundenes Erlebnis der einzelnen Seele“ (Pls², 67). Ist erkannt, daß nach Wrede die Persönlichkeit des Paulus Religion und Theologie umgreift, ist abrundend das I. Kapitel des Paulus-Buches näher einzubeziehen. Es trägt die Überschrift „Die Persönlichkeit“, und ist so abgefaßt, daß es auf die weiteren Kapitel („Das Lebenswerk“, „Die Theologie“, „Die Stellung des Paulus in der Geschichte des entstehenden Christentums“), diese im Vorgriff integrierend, hinzielt (Pls², 1– 27), so wie die späteren Kapitel die Persönlichkeit des Paulus noch in weiteren Zügen beleuchten. Das Kapitel behandelt drei Fragestellungen: „1. Jugend. Bekehrung“; „2. Grundzüge des religiösen Charakters“; „3. Menschlich-sittliche Individualität“. Es ergibt sich im Überblick: Die historisch eruierbaren anerkannten Briefe des Paulus zeigen „eine geschlossene, originale Persönlichkeit als Verfasser“ (Pls², 3); diese Briefe waren „bei ihrer Entstehung keine literarischen Produkte, sie waren rein persönliche Äußerungen für kleine Kreise mit dem ganzen Gelegenheitscharakter wirklicher Briefe“ (Pls², 97), an Christen geschrieben, vor allem aber geschrieben nach der „Bekehrung“, dem Geschehen, in dem Paulus bewußt wurde: „Der Gekreuzigte ist lebendig, also ist er der Messias. Dieser Augenblick entschied über sein Leben“ (Pls², 8). Einzelheiten können und sollen nicht hinterfragt werden. „Weit wichtiger, ja geradezu fundamental für das Verständnis seiner ganzen Arbeit und schließlich der Persönlichkeit selbst ist etwas Anderes: Paulus wußte sich verpflichtet; verpflichtet durch einen göttlichen Spezialauftrag“ (Pls², 14), darauf ausgerichtet: „Die Person geht ganz in der Sache auf“ (ebd.). Paulus war vor seiner Bekehrung Theologe und ist es geblieben (eine der Grundthesen von Wredes Paulus-Buch; vgl. z. B. Pls², 73). Nicht auszumachen ist, ob Paulus nach seiner Bekehrung gleich Heidenmission betrieb – wahrscheinlich erst später. Diese Persönlichkeit des Paulus – und das trifft ganz seine Person – hat ein unansehnliches Äußeres (Pls², 25) und ist von Krankheit gezeichnet, aber wie er besonders sein Leiden bewältigt, zeigt ihn als Persönlichkeit (Pls², 17). Inwieweit mit seiner Krankheit auch Visionen zusammenhängen, kann man erörtern, erheben läßt sich nur: „In seiner Persönlichkeit lagen … starke Elemente, die dem Überfluten des Schwärmerischen einen Damm entgegensetzten: vor allem der auf die Tat gespannte Wille, aber auch der scharfe Blick auf die wirklichen Dinge in seinem Gesichtskreise und die Fähigkeit verständigen Denkens“ (Pls², 18). Paulus ist eine starke religiöse Persönlichkeit, das spiegeln seine Briefe. Hier grenzt

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Wrede deutlich gegen die Sicht der liberalen Theologie ab – aber „darf man in [39] gleichem Sinne auch von einer ethischen Persönlichkeit reden“ (Pls², 20.66)?²⁹ Wrede bestreitet dies in seinem Paulus-Buch vehement, „so sicher Paulus auch unter den großen sittlichen Charakteren ein hoher Platz gebührt“ (Pls², 20). Dabei gibt Wrede unumwunden zu: „Jedenfalls ist es ziemlich schwer, ein volles, die feineren Züge fassendes Bild der sittlichen Individualität des Paulus zu gewinnen“ (Pls², 21). Auch im Blick auf Paulus gilt: „Briefe spiegeln die Persönlichkeit des Verfassers, aber Briefe täuschen auch darüber“ (ebd.). Briefe zeigen die „Persönlichkeit“ in dem „Licht, in dem sie sich selber sieht und in dem sie gesehen zu werden wünscht. Ein aktiver Charakter wie Paulus gibt sich ferner nur im Handeln deutlich zu erkennen … . Urteile Mitlebender über die Handlungen wie die Persönlichkeit fehlen fast ganz“ (ebd.). Insgesamt „empfangen wir“ – trotz des Philipperbriefes – „nicht gerade den Eindruck einer hervorragenden natürlichen Güte“, so verständlicherweise er „mit der ganzen Macht und Leidenschaft seiner Persönlichkeit … seine eigentlichen Gegner“ „trifft“ (Pls², 22). „Spuren einer gewissen Biegsamkeit“ kennzeichnen des Paulus Briefe, „man darf wohl sagen Politik, die ungünstiger Deutung eine Handhabe bot“. Man hat „kaum einen ganz angenehmen Eindruck“ (Pls², 24). Wrede will zwar „nicht aufbauschen; aber wer so schreiben kann, der hat auch in andern Fällen um der Wirkung willen ein Wort zu viel gesagt, kleine Kunstgriffe angewendet, ein wenig gefärbt und sich akkomodiert“ (Pls², 25). Selbst der Philemonbrief zeigt „eine gewisse Berechnung“ (ebd.). „In seiner Mischung von Herzlichkeit und Verbindlichkeit, Vertraulichkeit und Zurückhaltung ist das Billet … das Feinste, was wir in dieser Art von der Hand des Paulus besitzen.“ Es zeigt „unübertrefflich, wie der bei aller Wucht seiner Persönlichkeit außerordentlich fein organisierte Mann auf Menschen einzudringen versteht“ (Pls², 25). Paulus hat verschiedene Seiten an den Tag gelegt. Er „scheint … kein ganz liebenswürdiges Naturell gehabt zu haben, so gewinnend er sein konnte und oftmals war“ (ebd.). Diese herbe, fast mit den Augen seiner Gegner gegebene kritische Beurteilung der Persönlichkeit des Paulus zielt bei Wrede auf einen Punkt: „Nicht einen Heiligen haben wir geschildert, sondern einen Menschen“ (Pls², 26). Es ist für Wrede keine Abmilderung, wenn er das zuvor Gesagte dem „leidenschaftlichen, reizbaren Temperamente“ des Paulus zuschreibt, der „die eigne Person völlig mit Gottes Sache identifizieren“ und daran sein Verhalten messen will (Pls², 26). „Seine Theologie ist seine Religion“ (Pls², 48). Wollte man Paulus zu einer harmonisch  Im Verlaufe seiner Ausführungen resümiert und erweitert Wrede diese Kritik: „Wir haben mehrfach eine einseitig ethische Deutung der paulinischen Lehre abgelehnt. Daß sie so herrschend geworden ist, erklärt sich eben auch daraus, daß man den Abstand des modernen Denkens von dem des Paulus nicht erkennt“ (Pls², 66).

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ausgeglichenen Persönlichkeit stilisieren, wäre dies eine falsche Verklärung. Das vielmehr macht seine Persönlichkeit aus: „Paulus kann es vertragen, daß man“ [40] seine Schwächen „nicht zudeckt“ (Pls², 26). Auf diese Gesamtcharakterisierung kommt Wrede am Schluß seines Buches noch einmal zurück: „Daß er [sc. Paulus] religiös wie geistig und moralisch eine außerordentliche Persönlichkeit war, hat ihn befähigt, seine Lebensleistung zu vollbringen; ebensosehr freilich auch, daß er nicht auf normalem Wege Christ wurde“ (Pls², 105). Zusammenfassend ergibt sich: „Die Gestalt des Paulus in einer rein geschichtlichen Betrachtung zu erfassen und zu würdigen“ (Pls², 106), war die Aufgabe, die sich Wrede gestellt hatte. Das heißt für ihn: „rein geschichtlich“ ist die Persönlichkeit des Paulus nicht biographisch verrechenbar. Dieser Persönlichkeit, eben Paulus selbst, ist nach Wrede nur gerecht zu werden, wenn das theologische Denken des Apostels einbezogen ist. Paulus ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit, weil sein Menschsein aus seinem theologischen Denken zu erfassen ist, das Wrede darum auch nicht an den Fixpunkt seiner Bekehrung zum Christen allein oder überwiegend festmachen möchte, auch wenn an dieser des Paulus Christologie haftet. Die eminent geschichtliche Fragestellung Wredes bringt letztlich den Nachweis, daß historische Eruierung als Verstehen der Persönlichkeit des Paulus dessen Ringen um Theologie als Basis seines Lebens einschließt und daß ohne diesen für Paulus existentiellen Bezug nicht von ihm als Persönlichkeit geredet werden kann. Natürlich weiß Wrede Paulus als Person in seine Zeit einzuordnen und ihn betreffende Daten zu rekonstruieren (vgl.W. Boussets Geleitwort [Pls², 8*.9*, passim]), übrigens noch ohne die Kenntnis der Gallioinschrift, die erst im Jahre 1905, also nach Erscheinen des Paulus-Buches, gefunden wurde. Aber das genügte ihm nicht, es bleibt ihm einseitig. Denn geschichtliches Verstehen ist nach Wrede – und damit spricht er als Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule für seine Mitstreiter – immer zugleich theologische Aufarbeitung. Daß in der Religionsgeschichtlichen Schule Person und Persönlichkeit des Paulus unterschieden wurden, ist dafür beredter Ausdruck.

2. Wilhelm Bousset W. Boussets³⁰ Beitrag zu unserer Fragestellung hat verschiedene Aspekte. Um diese zu erkennen, bedarf es einiger Hinweise.

 Zu W. Bousset vgl. A. F. Verheule, Wilhelm Bousset. Ein theologischer Versuch, Amsterdam 1973; H. Gunkel, Wilhelm Bousset. Gedächtnisrede, Evang. Freiheit 20, 1920, 141– 162 (Sonder-

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Als im Jahre 1892 Johannes Weiß in wissenschaftlich-kritischer Distanz zu seinem Schwiegervater A. Ritschl die Schrift „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“ publizierte (Göttingen, 67 Seiten) und in ihr die eschatologische Reich-GottesVerkündigung [41] herausstellte,³¹ reagierte darauf noch im selben Jahr W. Bousset mit einer gegenteiligen Darstellung, die Jesus weiterhin im Sinne liberaler Theologie erfaßte.³² Noch Jahre später in seinem Jesus-Buch (1904)³³ bleibt nach Bousset Jesus eine Persönlichkeit, wie ihn die liberale Theologie einschätzte. Auf gewisse Einschränkungen in dieser Sicht wird noch hinzuweisen sein. Er trifft sich darin weithin mit Joh. Weiß, als dieser in der 2. Auflage seines genannten Buches im Jahre 1900 fast ausschließlich in liberale Bahnen zurücklenkte. Das Persönlichkeitsbild der Liberalen war trotz aller Kritik Wredes bei verschiedenen Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule fest verankert. A. Ritschls Erbe trug weiterhin Früchte. Und dennoch unterschied sich Bousset von Joh. Weiß dadurch, daß er religionsgeschichtlich einen Weg von der „Volksreligion zur Individualreligion“ aufdeckte und anhand seiner – wie es damals hieß – Forschungen zum Spätjudentum zu dem Ergebnis kam, daß Jesus von Nazareth der Gipfel dieser Entwicklung und geradezu eine neuschöpferisch individuelle Persönlichkeit sei: es „strahlt aus unsern Evangelien das ungeheure autoritative Bewußtsein der Persönlichkeit Jesu“.³⁴ Hinzu kommt ein weiteres. W. Bousset war – mit verschiedenen seines Freundeskreises – ein großer Verehrer des schottischen Theologen und Schriftstellers Thomas Carlyle (1795 – 1881), eines Gelehrten, dessen Herausarbeitung der führenden Persönlichkeit in der Geschichte, ja einer Heldenverehrung im geistesgeschichtlichen Denken im 19. Jahrhundert auch in Deutschland Bahn brach. Ihm widmete Bousset schon 1897 eine grundlegende Abhandlung³⁵, und in einer

druck, 3 – 28); O. Merk, Wilhelm Bousset (1865 – 1920) / Theologe, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese, hg. v. R. Gebauer, M. Karrer u. M. Meiser, BZNW 95, Berlin 1998, 159 – 174 (Lit.); W Baird, History (s. Anm. 25), 243 – 251.  Vgl. W. G. Kümmel, Neues Testament (s. Anm. 8), 286 ff.450 Anm. 278.278a.279; im Kontext und Überblick B. Lammert, Die Wiederkehr der neutestamentlichen Eschatologie durch Johannes Weiß, TANZ 2, Tübingen 1989.  W. Bousset, Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum, ein religionsgeschichtlicher Vergleich, Göttingen 1892.  W. Bousset, Jesus, RV, 1. Reihe, 2/3, Halle 1904.  W. Bousset, Das Wesen der Religion dargestellt an ihrer Geschichte, Halle 1903, 211; vgl. ebd. 1– 26.192 ff.; A. F. Verheule, Bousset (s. Anm. 30), 367 ff.370 f; O. Merk, Bousset (s. Anm. 30), 167 f. (passim).  W. Bousset, Thomas Carlyle. Ein Prophet des 19. Jahrhunderts, ChW 11, 1897, 249 – 255. 267– 271.296 – 299.324– 327; vgl. auch H. Kahlert, Der Held und seine Gemeinde. Untersuchungen zum Verhältnis von Stifterpersönlichkeit und Verehrergemeinschaft in der Theologie des freien Pro-

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der letzten Vorlesungen Boussets im Sommersemester 1919 heißt es: Carlyles Werk „‚Helden und Heldenverehrung‘“ deckt auf, „wie die Menschheit von ihren Großen langsam emporgeführt wird zu Gott. Die Verehrung Jesu ist ein Fall unter vielen. Von allen der höchste ist Jesus von Nazareth. Der höchste Fall in einer Reihe von vielen Fällen.“³⁶ [42] Das Verstehen von Persönlichkeit ist bei Bousset erheblich durch Carlyle geprägt. Hatte Bousset Persönlichkeit und Person Jesu noch in seinem Jesus-Buch (1904), wenn auch mit gewisser Zurückhaltung, verflochten,³⁷ kamen ihm in den Folgejahren vermehrt Zweifel an dieser Sicht, und immer eindringender bestreitet er die Möglichkeit der Rekonstruktion der Person Jesu in dessen Lebensvollzug. Jesus selbst wird nicht infragegestellt – Bousset spricht öfter sehr bewußt vom „historischen Jesus“ –, aber er ist ihm nicht mehr historisch nachvollziehbare Gestalt, nicht mehr der schöpferische „Heros“ im Sinne Carlyles‚ auch wenn Bousset dessen Auffassung von „Persönlichkeit“ weiterhin teilt. Die Nachwirkung von Wredes „Das Messiasgeheimnis in den Evangelien“ und dessen „Paulus“Buch (und möglicherweise auch A. Schweitzers „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ [1. Aufl. 1906]) ist seit 1907 in den Forschungen Boussets wahrnehmbar.³⁸ Grundsätzlich äußert er sich später in der 1. Aufl. (wie auch in der 2. Aufl.) von „Kyrios Christos“: „Ich schließe mich im folgenden an Wredes vortreffliche Nachweise in dessen ‚Messiasgeheimnis‘ an. Hinsichtlich der von ihm aufgedeckten Tatsachen gebe ich ihm fast in jeder Hinsicht Recht. In der Beurteilung der Tatsachen differiere ich mit ihm, wie aus der Darstellung ersichtlich werden wird.“³⁹ Letzteres war nicht ohne Grund gesagt. Denn seit etwa 1907 verband Bousset mit Wredes Forschungen gleichzeitig Gedanken des Neufriesianismus, die

testantismus, EHS, Reihe XXIII, Bd. 238, Frankfurt a. M. / Bern / New York / Nancy 1984, bes. 171 ff.  W. Bousset, Neutestamentliche Religionsgeschichte II. Teil, S.S. 1919 [Manuskript]; zitiert nach A. F. Verheule, Bousset (s. Anm. 30), 373 Anm. 2.  Vgl. O. Merk, Bousset (s. Anm. 30), 167 f.; vgl. auch die Erwägungen von W. Bousset, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, ThR 5, 1902, 307 ff.347 ff.; A. F. Verheule, Bousset (s. Anm. 30), 117.180.261 u. ö.; H. Kahlert, Held (s. Anm. 35), 30 ff.42 ff.: Bousset dachte bereits in Richtung „Formgeschichte“.  Das gilt auch für andere Bereiche in Boussets Forschungen; vgl. den Hinweis bei A. F. Verheule, Bousset (s. Anm. 30), 372 Anm. 1.  W. Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, FRLANT 21, Göttingen ¹1913, 80 Anm. 1; gleichlautend ²1921, 66 Anm. 1.

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R. Otto zu jener Zeit vertrat.⁴⁰ Diese gipfeln hinsichtlich unserer Fragestellung auch zum Erstaunen von Boussets Freunden in dem Satz in „Kyrios Christos“: „Denn das rein Historische vermag eigentlich niemals zu wirken, sondern nur das lebendig gegenwärtige Symbol.“ Das aber charakterisiert für Bousset die Persönlichkeit Jesu,⁴¹ freilich – was häufig übersehen wird – in deren [43] kultischen Verehrung.⁴² – Dennoch war damit – weit gespannt – die „Jesus-Paulus-Debatte“ mit angestoßen, wie der Verfasser von „Kyrios Christos“ selbst formuliert: „Wrede hat in seinem Paulus … bei vielleicht zu scharfer Formulierung im einzelnen die Hauptdifferenz zwischen Jesus und Paulus doch richtig empfunden.“⁴³ Bis ins Kultische hin reicht die Fragestellung nach der „Persönlichkeit“, die unter diesem Aspekt hier nicht weiter verfolgt werden soll und doch in „Kyrios Christos“ immer auch Paulus mitbedenkt.⁴⁴ Wie steht es nun mit der „Persönlichkeit“ des Paulus bei Bousset? In seinem als Manuskript gedruckten Vortrag „Der Apostel Paulus“ (Halle 1898; Tübingen ²1906) ist Paulus die „einzig große Persönlichkeit“ (1). Seine Wirkung ist sein missionarischer Einsatz, wenn er auch nach seiner Bekehrung nicht gleich Heidenmissionar war. Hat Bousset auch größeres Vertrauen zur Auswertbarkeit der Angaben im Paulusteil der Apostelgeschichte als Wrede in den genannten Untersuchungen, so zeigt sich in diesem Vortrag letztlich kein anderes Resultat zur Persönlichkeit des Paulus als bei Wrede. Religion und Theologie greifen bei dieser ungewöhnlichen „Willensnatur“ Paulus als Persönlichkeit ineinander (14 f.). „Paulus“ ist „der Typus einer vollen Persönlichkeit“ (16). Weder

 Vgl. auch A. F. Verheule, Bousset (s. Anm. 30), 372 und zu Einzelhinweisen O. Merk, Bousset (s. Anm. 30), 168 f. Instruktiv bis heute sind J. Wendland, Art. Neufriesianismus, RGG¹, Bd. IV, 1913, 737– 739; W. Bousset, Kantisch-Friessche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, ThR 12, 1909, 419 – 436.471– 488, 419: Mit R. Ottos Überlegungen ist ein „Programm“ eingeleitet, „ein Wegweiser, der die Richtung andeuten soll, in welcher der Ausweg aus den vielfachen Wirrnissen der Gesamtlage unserer gegenwärtigen Theologie erfolgen könnte“.  W. Bousset, Kyrios Christos (s. Anm. 39), ¹1913, 91.  Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl. K. Lehmkühler, Kultus und Theologie. Dogmatik und Exegese in der religionsgeschichtlichen Schule, FSÖTh 76, Göttingen 1996 passim (u. a. 208 ff.215 ff.).  W. Bousset, Kyrios Christos (s. Anm. 39), ¹1913, 136 Anm. 1; ²1921, 130 Anm. 1. Zu manchen Klärungen vgl. W. Bousset, Jesus der Herr. Nachträge und Auseinandersetzungen zu Kyrios Christos, FRLANT, N.F. 8, Göttingen 1916; M. Meiser, Paul Althaus als Neutestamentler. Eine Untersuchung der Werke, Briefe, unveröffentlichten Mauskripte und Randbemerkungen, CThM, Reihe A Bd. 15, Stuttgart 1993, bes. 41 ff.  Vgl. nur W. Bousset, Kyrios Christos (s. Anm. 39), ²1921, 104.106 f.110 – 112.115.119.123.143 f.154.

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als ethische Persönlichkeit moderner liberaler Theologie noch als Person biographisch faßbar steht Paulus im Raum (15 f. u. ö.).⁴⁵ Von besonderem Belang ist weiter Boussets Artikel „Paulus, Apostel“ (RGG¹, Bd. IV, 1913, 1276 – 1309). Hier wird deutlich zwischen Person = „A. Lebensgang … [mit weiteren Unterpunkten]“ und „B. Lebenswerk und Persönlichkeit“ unterteilt, ja unterschieden (1276 f.). Unter „A.1“ werden die erkennbaren und ungekünstelt eruierbaren Punkte seines Lebens vorgestellt. Es handelt sich um eine Person, die in Tarsus im Umfeld der „griechischen Kultur“ aufwuchs, der Griechisch lernte und trotz gewisser wissenschaftlicher Bestreitung des Sachverhalts der griechischen Bildung als Sohn einer streng jüdischen Familie lediglich begrenzte Bedeutung zumessen konnte. Jedenfalls: „Seine Briefe sind und bleiben [44] trotz aller Rauheit und Unbeholfenheit ein Denkmal der spätgriechischen Sprache und Kultur“ (1277). Mutmaßlich in Jerusalem unter Gamaliel eignete er sich den „rabbinischen Schulbetrieb“ an. Er wurde jüdischer Theologe. Sein Beruf war „Zeltteppich-Zuschneider“ (1277ff).Von Geburt her hatte er das römische Bürgerrecht (Apg 22,28). Zunächst „leidenschaftlicher Gegner“ der Christen ergriff „sein Personleben“ „ein göttliches Wunder“, er wurde Christ. „Daß jene Bekehrungsstunde sich in dem unbewußten Personleben des Apostels lange Zeit vorbereitet hat, und daß diese verborgen vorhandene Stimmung aus der Tiefe des Unbewußten plötzlich und mit elementarer Wucht in das bewußte Leben eingebrochen ist: der verfolgte Nazarener hat doch Recht!“, ist nach Bousset zu vermuten, wobei psychologische Erwägungen seiner eigenen Zeit einwirken (1279). In der Zusammenschau von Apostelgeschichte und des Paulus eigenen Briefen läßt sich die „Wirksamkeit“ des Apostels erkennen, genauerhin sein Weg, eine Persönlichkeit zu werden. „Die unmittelbaren Jünger Jesu waren Juden geblieben, als sie zu Jesus kamen; Paulus hörte auf, Pharisäer zu sein, als er Christ wurde“ (1280 f.). Fortan ist er christlicher Theologe mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen (1281 f.): „P.[aulus] war der erste christliche Theologe“ (1284). Die Chronologie des Paulus ist 1913 durch die Auswertung der Gallioinschrift genauer möglich. Doch Daten sind bei Bousset mehr am Rande erwähnt. Viel wichtiger ist ihm, was sich aus Beobachtungen zur Person und zum Lebenswerk bündeln läßt: „P.[aulus] ist eine von den Persönlichkeiten, die eine Welt aus den Angeln gehoben und dem Lauf der menschlichen Geschichte eine andere Richtung gegeben haben“ (1283).

 Daß Bousset in diesem Vortrag die Bedeutung der paulinischen Theologie mindere, ist nicht nachweisbar; anders F. Regner, „Paulus und Jesus“ (s. Anm. 28), 158.

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Gilt dies, dann kann – so unter „B.2“ – ein „Charakterbild des P.[aulus]“ gezeichnet werden (1284 ff.), nämlich ein Apostel Paulus von „Wille“, „Tat und Energie“ (1285), der – wir kennen schon die Einzelheiten aus Boussets o.g.Vortrag und Wredes Zusammenstellung – nicht ohne menschliche Schwächen und belastender Krankheit mit intellektueller Kraft all dies in seine Persönlichkeit integrierte und theologisch bewältigte. „Bald schaut uns dieses oder jenes Gesicht an“, werden wir dieser oder jener Seite gewahr, „hinter dem allen aber ruht die unerschöpfliche Tiefe einer einheitlichen Persönlichkeit“ (1289). Dies bestätigt und interpretiert der abschließende Abschnitt „C. Frömmigkeit und theologisches Denken“ (1289 ff.). Religion und Theologie sind bei Paulus so ineinander verbunden, daß personübergreifend vom Apostel als Persönlichkeit gesprochen werden muß. Und das ist nach Bousset nicht das modern ethische Persönlichkeitsbild der liberalen Theologie seiner Zeit, nicht das „rein Ethisch-Religiöse“ wie in Jesu Reich-Gottes-Verkündigung (1290). [45] Natürlich muß ein orientierender Lexikon-Artikel auch, soweit möglich und erforderlich, über Daten und Lebensweg einer Person Auskunft geben, aber das Gewicht liegt bei Bousset nicht auf dem Biographischen, sondern auf Paulus als Theologen. Als Theologe ist er Persönlichkeit. In der Jesusforschung bleibt Bousset bei allen Differenzierungen und allen liberale Positionen entkräftenden Einwänden in seinen einschlägigen Untersuchungen ein liberaler Theologe innerhalb der Religionsgeschichtlichen Schule. Hinsichtlich seines Paulusverständnisses aber ist er W. Wrede und anderen Vertretern derselben Religionsgeschichtlichen Schule verbunden und alles andere als ein liberaler Theologe. Gerade durch seine genannten Beiträge zur Paulusforschung, noch verstärkt durch seine Auslegungen des Galaterbriefs und der beiden Korintherbriefe,⁴⁶ läßt er ein methodisches Anliegen deutlich werden, das er mit W. Wrede und anderen teilt: Isoliertes biographisches Erfassen als historische Untersuchung genügt nicht, trifft nicht das Entscheidende im faktischen Vollzug historischer Forschung in der Religionsgeschichtlichen Schule. Sie fordert die Interpretation heraus. Denn streng historische Forschung in religionsgeschichtlicher Arbeit zeigt das Proprium der Persönlichkeit des Paulus in seiner theologischen Dimension. Das Lebenswerk des Paulus besteht darin, daß er Religion und Theologie in seiner Persönlichkeit vereinte und diese als erster christlicher Theologe missionarisch ins Dasein eingebracht hat zum Segen seiner Gemeinden und der Welt.

 W. Bousset, in: Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt, Bd. II, Göttingen ³1917: Der Brief an die Galater (31– 74); Der erste Brief an die Korinther (74– 167); Der zweite Brief an die Korinther (167– 233), bes. z. B. 32.45.94.154.175.185 ff.193.

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Es ist hier abzubrechen. Die reizvolle Aufgabe eines erneuten Studiums der einschlägigen Quellen läßt notwendig den Abstand der Zeiten erkennen und diese doch auch wieder nahe kommen. Leicht ist es, aus heutigem Forschungsstand heraus die behandelten Positionen der Religionsgeschichtlichen Schule zu kritisieren. Wichtiger ist es, die von ihren Vertretern aufgegebenen Frage- und gebliebenen Problemstellungen sich wieder vor Augen führen zu lassen und sie neu zu bedenken, sie nicht als schon fertige Ergebnisse weiterzutragen. A. Harnack hat in seiner Rektoratsrede im Jahr 1900 die Studierenden aufgefordert, sich auch mit der Geschichte ihres je eigenen Faches eingehend zu befassen und dann ausgesprochen: „Wer sich damit begnügt, nur die Resultate sich anzueignen, gleicht dem Gärtner, der seinen Garten mit abgeschnittenen Blumen bepflanzt.“⁴⁷

 A. Harnack, Sokrates und die alte Kirche. Rektoratsrede, ChW 14, 1900, 1014– 1022, hier: 1022.

Paul Anton de Lagarde und die Theologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts* Der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena in Verbundenheit gewidmet

1 Lagarde 1.1 Vorbemerkung als Einführung und Voraussetzung a) Paul Anton de Lagarde (*2.11.1827 in Berlin, seit 1869 in Göttingen, † 22.12.1891 ebd.)¹ lebte in einem bedeutenden Jahrhundert textkritischer und editorischer

* Vortrag in der Sozietät zur Fakultätsgeschichte in der Theologischen Fakultät Jena am 14. April 2005. Die Schriften Paul de Lagardes sind vollständig verzeichnet in: P. de Lagarde, Deutsche Schriften. Gesammtausgabe letzter Hand. Mit einem Bildnis des Verfassers, Göttingen 41903 (nach S. 420 ohne Seitenzählung „Paul de Lagarde’s Schriften“). Die gängigste Ausgabe, nach der auch vor allem zitiert wird, ist: P. de Lagarde, Deutsche Schriften, hg. v. Paul Fischer, München 1924; P. de Lagarde, Ausgewählte Schriften. Als Ergänzung zu Lagardes Deutschen Schriften, zusammengestellt von Paul Fischer, München 1924. Nur mit Vermerk „Dtsch.Schr.“ (= „Deutsche Schriften“) werden in nachstehenden Ausführungen zitiert (in Klammern das Abfassungsjahr): Konservativ?, S. 9 – 21 (1853); Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik. S. 22– 44 (1863; zuerst erschienen 1874); Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion, S. 45 – 90 (1873); Die Religion der Zukunft, S. 251– 286 (1878); Die Stellung der Religionswissenschaften im Staate, S. 287– 304 (1881); Die graue Internationale, S. 358 – 371 (1881). Nur mit dem Vermerk „Ausg. Schr.“ (= „Ausgewählte Schriften“) werden angeführt: Lebens- und Zeitgeschichte, S. 1– 90; Judentum, S. 191– 219; Luther, Reformation, Protestantismus, Ritschl, S. 221– 279; Wichtig sind die sorgfältigen Verweisungen für diese Auswahl auf die Schriften Lagardes, S. 281– 284. Die Aufsatzsammlung von P. de Lagarde, Mittheilungen, Bd. I, Göttingen 1884; Bd. II, ebd. 1887; Bd. III, ebd. 1890 (zur falschen Angabe „1889“ vgl. Lagardes Richtigstellung, aaO, 376); Bd. IV, ebd. 1891, wird zur Vervollständigung und Ergänzung der teilweise in den oben angeführten Aufsatzsammlungen mit Einzelangabe der Beiträge herangezogen.  Zu Leben und Werk seien neben P. Fischer, Überblick über Paul Lagardes Lebensgang, in: P. Lagarde, Ausg.Schr. XIII – XVIII auf ebd., 1– 90, und die einschlägigen Untersuchungen verwiesen: z. B. auf E. Nestle, Art. Paul de Lagarde 1827– 1891, RE3 11, 1902, 212– 218 (Lit.); R. Heiligenthal, Art. Lagarde, Paul Anton de (1827– 1891), TRE 20, 1990, 375 – 378 (Lit.); U. v. Wilamowitz-Moellendorf, Am Sarge von Paul de Lagarde. Rede gehalten im Auftrage der Universität

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Forschung. [18] Sowohl die eklektische Methode als auch die, vom jüngeren/ jüngsten Text zum älteren/ältesten Text zurückzugehen, also eine „traditionsgeschichtliche“ Methodik, waren ihm vertraut. Carl Lachmann (1793 – 1851) stand ihm als Vorbild vor Augen.² b) Einzelheiten hier übergehend ist nach Lagarde von einer möglichst „deutschen“ (End)fassung (etwa Ulfila-Bibel) zurückzufragen zum ursprünglichen „noch einheitlichen biblischen Text(es)“, „der als solcher die Grundlage der Urform christlicher Religion darstellen muss“.³

Göttingen am 25. Dezember 1891 von dem zeitigen Prorector, in: ders., Reden und Vorträge, Berlin 31913, 91– 97 (bes. 91 Anm. 1); R. Hanhart, Paul Anton de Lagarde und seine Kritik an der Theologie, in: B. Moeller (Hg.), Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttinger Universitätsschriften Serie A: Schriften, Bd. 1, Göttingen 1987, 271– 305 (bes. 271– 284); I. U. Paul, Paul Anton de Lagarde, in: U. Puschner, W. Schmitz u. J. H. Ulbricht (Hgg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871– 1918, München u. a. 1996, 45 – 93 (bes. 50 ff.); D. Just, Die Schattenseite des Idealismus. Über die geistige Vorbereitung der Tragödie des deutschen Antisemitismus, Berlin 2004, 119 – 139. – Kritischer Durchsicht bedürfen die viele Einzelheiten bietenden, aber auch glorifizierenden Darstellungen von Anna de Lagarde (Ehefrau), Paul de Lagarde. Erinnerungen aus seinem Leben zusammengestellt, Leipzig ²1918 (abgekürzt: Erinnerungen); L. Schemann, Paul de Lagarde. Ein Lebens- und Erinnerungsbild, Leipzig/Hartenstein 1919.  W. Ziegler, Die „wahre strenghistorische Kritik“. Leben und Werk Carl Lachmanns und sein Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft, Schriftenreihe THEOS. Studienreihe Theologische Forschungsergebnisse, Bd. 41, Hamburg 2000 (doch ohne Bezug auf Lagarde); J. Wellhausen, Gedächtnisrede auf Paul de Lagarde, Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Geschäftliche Mittheilungen 1894, Nr. 1, Göttingen 1895, 49 – 57: „Wissenschaftlich ist er (sc. Lagarde) berauscht von der damals üblichen comparativen Methode, einer etwas wilden Vergleicherei“ (49), er ist darin mit der Methodik von Jacob Grimm, Carl Lachmann, Friedrich Rückert nicht vergleichbar (ebd.).  Vgl. R. Hanhart (s. Anm. 1), 286 ff. (auch einschließlich Zitaten zum Folgenden); hinzuweisen ist auf P. de Lagarde, Noch einmal meine Ausgabe der Septuaginta, Mittheilungen, Bd. III, Göttingen 1887, 229 – 256, hier: Brief an Kaiser Wilhelm I. vom 2.10.1883 (236 – 239); s. Weiteres bei A. de Lagarde, Erinnerungen (s. Anm. 1), 106 – 108; Th. Nöldecke, Bespr. von ‚Semitica von Paul de Lagarde‘, Erstes heft …, Göttingen 1878, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 32, 1878, 401– 410, 405: „Ich könnte noch viel Raum mit der Beurtheilung der textkritischen Vorschläge Lagarde’s ausfüllen, namentlich derer, welche tiefer einschneiden. Sie verdienen alle eine ernste Erwägung, aber der Leser muss sich, wie immer bei Lagarde, hüten, dass er sich nicht durch dessen apodictische Ausdrucksweise auch für höchst missliche Ansichten gewinnen lasse. Das Beweisverfahren geht eben zu oft von rein subjectiven Annahmen aus.“ (Dort auch treffend 408: „Er [sc. Lagarde] redet, als bestehe eine Verschwörung von Thoren und Schurken, ihn todt zu schweigen“; 410: „Indem ich die lebhafte Erwartung einer Fortsetzung namentlich des zweiten Theils ausspreche, kann ich den Wunsch nicht unterdrücken, diese Fortsetzung möge alle Prioritätsfragen bei Seite lassen und sich eines weniger herben Tones gegen Schuldige und Unschuldige befleissen.“)

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Hier liegt der entscheidende nicht nur methodisch unheilvolle Fehler: Nicht die „Urform des biblischen Textes“ zu gewinnen, ist das eigentliche Ziel, sondern ein (an die Texte von außen herangetragenes) „Ideal“ mit politischer Ausrichtung. Ein Phantom ist die Leitlinie, der Lagarde nachjagt. Es geht nicht mehr nur um eine der Rekonstruktion dienende, sondern um eine der Ideologie geöffnete Textvorlage. Die wahre [19] Religion nach den Mutmaßungen Lagardes ist Kriterium wie Ziel seiner Überlegungen.⁴ c) Das Ergebnis: Altes Testament und Neues Testament werden von ihrer „tendenziösen Gestalt befreit“. An sich richtig eruierte textkritisch relevante Zeugen werden aufgrund von Lagardes Inspirationen zurechtgelegt, um zu der von ihm erdachten „unverdorbenen“, „ältesten“ „Überlieferung“ zu gelangen. Die Unabgeschlossenheit seiner diesbezgl. Textausgeben zeigt, dass der textkritische Befund und die Zielvorstellung Zeit seines Lebens auseinander klafften. Doch baut Lagarde auf die Zielvorstellung sein Gedankengebäude. Es verbleibt als Höhepunkt die prophetische Botschaft⁵ – und Lagarde versteht sich selbst wie ein Prophet der klassischen Prophetie, nämlich als einer für die deutsche Erneuerung.⁶ Doch zurück zum Alten Testament: Seit der klassischen Prophetie geht es nach Lagarde nur noch abwärts. Es folgen Gesetz und (jüdische) Gesetzlichkeit – eine im 19. Jahrhundert verbreitete These –, die nach Lagardes Kriterium nicht mehr genügen und darum aus der biblischen Botschaft herausgesetzt werden. Im Neuen Testament geht es um die „Befreiung“ von der „Theologie des Apostels Paulus“ als eine dem Evangelium fremde – eine ebenfalls nicht neue Sicht im 19. Jahrhundert. Diese höchst willkürlich gereinigte biblische Botschaft hat nun nach Lagarde eine ganz bestimmte Ausrichtung, ja Zweck – so Hanhart –, „daß die

 R. Hanhart (s. Anm. 1), 286 (auch zu Folgendem).  Lagarde, Dtsch.Schr., 259 u. ö.  Zu E. Renans Bedeutung für Lagarde vgl. R. W. Lougee, Paul de Lagarde 1827– 1891. A Study of Radical Conservatism in Germany, Cambridge/Mass. 1962, 80 ff.129. Zu manchen gleichgerichteten Gedanken zwischen Renan und Lagarde (auch ohne ausdrücklichen Bezug) s. jetzt L. Rétat, L’Israël de Renan, Recherches en littérature et spiritualité, Vol. 9, Bern u. a. 2005; vgl. im Weiteren O. Merk, Art. Renan, Ernst, LThK3, Bd. 8, 1999, 1106 f. Ob Renan 1853 – vermutlich ironisch – Lagarde als „Propheten“ bezeichnet hat und dieser dies als bare Münze für seine eigene Lebensbestimmung nahm, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Jedenfalls hat Lagarde sich selbst vielfach als Propheten verstanden und ist von seinen Verehrern auch nach seinem Tode dahingehend profiliert worden; vgl. im Überblick P. Fischer, Paul de Lagarde, ein Prophet des deutschen Volkes, ChrW 29, 1915, 954– 959.975 – 978.1004– 1006: O. Conrad, Paul de Lagarde. Ein Prophet deutscher Bildung und deutschen Volkstums, Friedrich Mann’s Pädagogisches Magazin, Heft 1182, Langensalza 1928: „Lagarde ist der beste Prophet des deutschen Wesens, deutscher Religion und deutscher Bildung“ (Vorwort).

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der Religion zu Grunde liegende Überlieferung sich nach dem Wesen und der Geschichte eines jeden Volkes, einer jeden Nation als organisch gewachsener Einheit richten muß“. Man beachte die Reihenfolge! „Und seine, Lagardes Bestimmung“ der überlieferten Religion „ist die Verkündigung der in diesem Sinn neuen deutschen Kirche“.⁷ Diese neue Religion, die Lagarde anstrebt, bedarf einer genauer zu fassenden Grundlage. In drei Bereichen wird sie greifbar: 1) In der Jesus-Auffassung Lagardes; 2) in seinem Paulusverständnis, besser seiner Pauluskritik, in die hier seine geradezu vernichtende Beurteilung der reformatorischen Kirche(n) einbezogen wird; 3) Lagardes [20] Verständnis der „Religion der Zukunft“: a) seine Beurteilung des Judentums; b) seine religionsgeschichtliche Einschätzung der theologischen Wissenschaft und der theologischen Fakultäten; c) Entfaltung der „Religion der Zukunft“.

1.2 Die Durchführung in Lagardes Konzeption 1.2.1 Jesus Lagardes Auffassung von Jesus ist ein deutliches In-der-Schwebe-Lassen. Einerseits ist das Faktum Jesus als historische Größe auch von ihm nicht zu bestreiten (und auch nicht bestritten worden). Aber weder die älteste Überlieferung über ihn – in der Gemeinde – noch die Evangelien bieten ein genaues Bild. Das ist Lagardes Sicht gerade recht.⁸ Lagarde lässt erahnen, dass er von der Grunddiskussion im 19. Jahrhundert über die Evangelien – entweder Synoptiker oder Johannesevangelium⁹ – durchaus weiß. Er entscheidet sich klar für das Johannesevangelium als dem am stärksten judenfeindlichen (dessen Verfasser mit den drei Briefen und der JohApk mit Johannes dem Apostel identisch ist).¹⁰ „Johanneische Aussagen sind es denn auch, die die Lagardesche Auffassung von Person und Werk Jesu durchweg bestimmen.“¹¹ Lagarde: „Die unleugbare Tatsache, daß es kurze Zeit nach Jesu Auftreten schon unmöglich war, über ihn historische Wahrheit im Sinne der Wissenschaft zu treffen, hat übrigens für uns doch einen hohen Wert, der noch

 R. Hanhart (s. Anm. 1), 286.  Lagarde, Dtsch.Schr., 63 ff.  Zu diesem Entweder-Oder vgl. A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen ²1913, 232.  Lagarde, Dtsch.Schr., 65; H. W. Schütte, Lagarde und Fichte. Die verborgenen spekulativen Voraussetzungen des Christentumsverständnisses Paul de Lagardes, Gütersloh 1965, 37 f.  H. W. Schütte (s. Anm. 10), 37.

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nicht erkannt ist: sie zeigt, daß Jesu Wort und Leben wirklich ein die Zeit änderndes Element gewesen sind.“¹² Worin liegt das „ändernde Element“? Lagarde lässt hier nahezu alles in der Schwebe: Jesus gehört in sein Volk, aber sein „inneres Wesen“ zeigt den klaren Gegensatz zum Judentum. Bezeichnet sich Jesus als „Prophet“, so kann dieser Titel höchstens mit dem alten, dem Israel der Propheten verbunden werden, nicht mit dem Judentum. Hat Jesus sich als „Menschensohn“ bezeichnet, dann ist ihm diese Bezeichnung Ausdruck für „Nicht-Jude-Sein“, – und darin liegt die „Verneinung“ einer „Zugehörigkeit“ zu jedweder „Nation oder Nationalität“. Als solcher ist Jesus „Mensch“, „ist er Kind Gottes.“¹³ Das bringt Jesu Verkündigung zum Ausdruck. Er verkündigt: „Das Gotteserlebnis (sc. auch das Jesu) ist der Eingang in die Gotteskindschaft und geschieht allein in der Wiedergeburt.“¹⁴ Kurz: Eingang in [21] die Gotteskindschaft – Wiedergeborensein – und Reich Gottes greifen nach Lagarde bei Jesus ineinander. Jesu Wort der Verkündigung und Leben in der Gotteskindschaft sind verzahnt, und das ist nach Lagarde „Evangelium.“¹⁵ Losgelöst vom Faktum historischer Jesus – auch das Kreuz wird völlig relativiert als „Symbol des allgemein Menschlichen“¹⁶ – erweist sich „Evangelium“ – von Jesus inspiriert – als „geistiges Leben“. Dieses allein ist zukunftsträchtig, „weil dieses Evangelium … jederzeit durch die eigene Erfahrung bestätigt werden kann.“¹⁷ Voraussetzung ist nach Lagarde dabei, „daß die Wahrheit der Einsicht Jesu“ sich im eigenen „Lebensprozeß“ auch in der Gegenwart erschließt, und zwar dem Einzelnen in seiner gelebten Religion.¹⁸ Die Kirche als solche war dazu in 1900 Jahren unfähig gewesen, und das ist nach Lagarde kein Wunder. Schon die Jünger Jesu – ein „Unglück“ für den Meister – waren unfähig, historisch Zuverlässiges über ihn zu berichten. (Man meint H. S. Reimarus zu vernehmen.) „Nur daraus ist es zu erklären, daß ein völlig Unberufener Einfluß auf die Kirche erhielt.“¹⁹

 Lagarde, Dtsch.Schr., 66.  Lagarde, Dtsch.Schr., 262; vgl. ebd. 261.263.63 f. Zu Nachweisen und Zitaten s. auch H. W. Schütte (s. Anm. 10), 40.  H. W. Schütte (s. Anm. 10), 40 u. Anm. 36 ebd.; Lagarde, Dtsch.Schr., 262: Jesus „verlangt … neue Geburt für die, welche in dies Reich hinein kommen wollen“. „Er leugnet, daß die viel gepriesene Abstammung von Abraham und Jakob Anrecht auf den Genuß der Gottesfreundschaft verleihe.“  Zutreffend bei H. W. Schütte (s. Anm. 10), 40.  Vgl. treffend R. Hanhart (S. Anm. 1), 299.  So zentral H. W. Schütte (s. Anm. 10), 40 f (Zitat 41).  H. W. Schütte (s. Anm. 10), 41 passim mit Zitathinweisen auf Lagarde.  Lagarde, Dtsch.Schr., 67, vgl. 65 – 67.

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1.2.2 Paulus Dieser ist „Paulus …, der richtige Nachkomme Abrahams und auch nach seinem Übertritte Pharisäer vom Scheitel bis zur Sohle“. „Seine Beziehungen zu Jesus sind durch seinen Haß gegen Jesu Jünger und danach durch eine Vision, gewiß die schlechtesten Quellen historischer Erkenntnis, die es gibt, vermittelt worden.“²⁰ Von Paulus aus gibt es keine „Brücke“ zu Jesus, sondern nur die Zerstörung des Evangeliums. Denn „Paulus hat uns mit der pharisäischen Exegese beglückt, die alles aus allem beweist … . Paulus hat uns die jüdische Opfertheorie und alles, was daran hängt, in das Haus getragen.“²¹ „Und alles, was daran hängt“. Hier wurzelt die eigentliche politisch motivierte Kritik Lagardes an Paulus. In anderem Zusammenhang kann er durchaus sagen, „daß man Paulus sehr wohl als Zeugen für das ursprüngliche Evangelium verwerfen kann, und doch als einen energisch das Gute wollenden, einflußreichen Mann anerkennen kann“.²² Ja, Lagarde vermag sogar Jesus und Paulus darin zu vergleichen, dass beide [22] das Gesetz nicht als ursprünglich angesehen haben (Mt 19,8; Röm 5,20). Aber das trifft nicht das Entscheidende. a) Paulus hat aus der Einmaligkeit des Kreuzes Konsequenzen gezogen. So wenig Paulus von Jesus wusste, die Historizität Jesu hat sich ihm nicht wie bei Lagarde in seinem konstruierten „Evangelium“ verflüchtigt, sondern ist vom Apostel an Tod (und Auferstehung) fest gemacht. Das ist nach Lagarde der konkrete Haftpunkt für die Opfertheorie des Paulus, zu deren Voraussetzung das Sündenbewusstsein gehört wie es auch in deren Gefolge steht. Aus diesem nach Lagarde Grundübel paulinischen Denkens ergibt sich b) das Folgenreiche der Rechtfertigung, ergibt sich das Unglück des Entstehens des Protestantismus. Luther hat auf Paulus mit seiner Rechtfertigungslehre zurückgegriffen, und darum bekämpft Lagarde mit Zuspitzung auf diesen Reformator²³ und seine Auswirkung im 16. und 17. Jahrhundert den Protestantismus aufs

 Lagarde, Dtsch.Schr., 67.  Lagarde, Dtsch.Schr., 68.  Lagarde, Dtsch.Schr., 110; dazu ders., Zum letzten Male Albrecht Ritschl, Mittheilungen, Bd. IV, 1891, 384– 427, 407: „Ich habe gegen Paulus und Bismarck geschrieben, ohne sie darum für Popanze zu halten.“ Zum Folgenden auch Lagarde, Dtsch.Schr., 274.  Lagarde, Dtsch.Schr., 48; H. W. Schütte (s. Anm. 10), 24 f. mit Belegen; Lagarde, Zum letzten Male Albrecht Ritschl (s. Anm. 22), 408: Luther mit seinem „beschränkten Horizont“ „hat durch seine Demagogie die Barbarei über Deutschland gebracht“; ebd. 409: Die Bibel für Protestanten ist „in der scheußlichen Uebersetzung ihres Luther“, eine sprachlich und philologisch völlige Fehlleistung (so Dtsch.Schr., 48); ders., Die revidierte Lutherbibel des Halleschen Waisenhauses, Mittheilungen, Bd. III, 1890 (nicht 1889, wie L. ebd., 289 u. 376 erläutert), 335 – 373, deren scharfe ablehnende Beurteilung zur folgenden unkritischen Zuspitzung führt: „Kirche brauchen wir und Theologie, nicht die Bibel“ (371). Im weiteren Sinn gehört hierher auch Lagardes Feststellung:

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Äußerste, weil dieser politisch die Kleinstaaterei Deutschlands noch im 19. Jahrhundert bewirkt habe. Lagarde hat die Unvereinbarkeit Jesus – Paulus kantenscharf herausgestellt und dabei Paulus zum rückwärts gerichteten, der Vergangenheit zugewandten Menschen erklärt. Im Ergebnis: „Was Paulus lehrt, ist nicht Evangelium, sondern der Reflex eines Reflexes des Evangeliums in einer energischen und edlen, aber zweifellos durch und durch jüdischen Seele“, wie Lagarde schon 1853 formulierte.²⁴ Dagegen steht: In Jesus, nämlich in dem von Lagarde postulierten „Evangelium“ läge die Zukunftsperspektive des Einzelnen wie der Deutschen überhaupt. Der Gegensatz Jesus – Paulus ist bei Lagarde nicht theologisch oder gar exegetisch begründet, sondern er steht allein unter der Ausrichtung seiner eigenen politischen Intention. c) Ein weiterer Punkt, der bei Lagardes Polemik und überscharfer Kritik an Paulus eher versteckt erscheint und den Lagarde fast schmerzt, ist folgender: Paulus hat nach seiner Bekehrung seine jüdische Identität bewahrt, während die Deutschen im 19. Jahrhundert und besonders im Kaiserreich seit 1871 nicht fähig sind, an ihrer eigenen Identität zu arbeiten, um zu einer Nation zu werden. Das Verhältnis Judentum – Deutsche wird auch an diesem „Unberufenen“, ja „ungerufenen“ Paulus deutlich.²⁵ [23]

1.2.3 Die zukünftige Religion Standen schon die bisher dargelegten Punkte im verborgenen oder offenen Kontext einer zukünftigen Religion, so ist auch unter dieser seine Kritik am Judentum vor allem in seiner eigenen Zeit zu sehen.

1.2.3.1 Lagardes Beurteilung des Judentums Anders als bei Paulus hat die ermöglichte Emanzipation von Menschen jüdischen Glaubens seit der Aufklärung, haben die zahlreichen Übertritte zum Christentum, haben die soziale und die staatliche Eingliederung auf deutschem Boden die jüdische Identität fragwürdig werden lassen.²⁶ Äußerlich war man Christ, äußerlich

Sich „mit der ‚biblischen Geschichte des alten Testaments‘“ zu befassen, bedeute, sich „dem größesten Unrathe den es gibt“ zuzuwenden, in: ders., Ueber einige Berliner Theologen, und was von ihnen zu lernen ist, Mittheilungen, Bd. IV, 1891, 49 – 128, 119.  Lagarde, Dtsch.Schr., 18.  Vgl. etwa Lagarde, Dtsch.Schr., 18.54.63 ff.67 f.72 f.110.205.274.295.416; ders., Ausg.Schr., 72.75.211; s. auch das ebd., 96 zu Moses Mendelssohn Ausgeführte.  Vgl. vorige Anm. (passim); bes. Lagarde, Dtsch.Schr., 28 ff.41 ff.63 f.68 f.73.110.177 f.212 f.365 ff. 420 ff.446 ff.; ders., Ausg.Schr., 192– 195, bes. „Juden und Indogermanen. Eine Studie nach dem

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war man Deutscher, im Verborgenen blieb man Jude und hatte enge Gemeinschaft mit den Glaubensbrüdern national wie international. Diese so von Lagarde skizzierte Sicht teilte er mit vielen seines Jahrhunderts, verbunden mit allen Ressentiments und Klischees der Zeit über Menschen jüdischer Abstammung. Dabei konnte Lagarde Juden durchaus von einem Übertritt zum Protestantismus abraten, diesem „Mittelmaß aus fader, feiger Sentimentalität und des abgestandenen angefaulten Restes des Christentums“, ja „Juden wären Narren, wenn sie ihre altmodische, aber derbe und warme Kleidung gegen die plundrigen Lumpen des heutzutage Protestantismus umtauschen wollten“.²⁷ Es darf heute – weit verzweigte Forschung kurz zusammenfassend – als nachgewiesen gelten, dass Lagardes Antisemitismus nicht biologisch rassistisch gemeint ist,²⁸ sondern politisch auf Lagardes Zukunftsvision ausgerichtet ist. Mit Recht stellt beispielsweise R. Hanhart heraus: „Der Ursprung der Feindschaft liegt nicht bei Herkunft und Rasse, sondern bei der Existenz des jüdischen Volkes als einen fremden Volkes im deutschen Staat.“ Es geht in keiner Weise darum, Menschen jüdischer Abstammung das „Existenzrecht“ abzusprechen.²⁹ Die Auseinandersetzung ist eine politische ohne Zwang und Verfolgung, „ohne Büttel.“³⁰ Lagarde ist vehement gegen die Emanzipation, wie sie zu seiner Zeit Gang und Gäbe war, lässt aber vollständige Assimilation [24] gelten, auch wenn er diese realiter nur bei einzelnen Juden annimmt,³¹ und ist entschiedener Befürworter eines Staates Israel auf palästinischem Boden. Auch war er mit verschiedenen Persönlichkeiten jüdischer Herkunft in enger freundschaftlicher Verbindung. Aber man darf sich nicht blenden lassen. Auch wenn Lagardes scharfe und polemische Kritik am Judentum der gegenüber den Protestanten entspricht, sie trägt Züge an sich, die noch nach Jahrzehnten und in anderem politischen Umfeld

Leben“, ebd., 195– 216 (wenn nicht anders angegeben hiernach zitiert), vollständig in: ders., Mittheilungen, Bd. II, Göttingen 1887, 262– 351.  Lagarde, Dtsch.Schr., 30; I. U. Paul, Lagarde (s. Anm. 1), 47 ff.62 ff. mit verschiedentlich Hinweisen auf W. J. Mommsen, Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870 – 1918 (Studienausgabe), Frankfurt/M. – Berlin 1994; Th. Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870 – 1918, München 1988.  R. Hanhart (s. Anm. 1), 291 ff.; I. U. Paul, vorige Anm.  R. Hanhart (s. Anm. 1), 292.  Lagarde, Dtsch.Schr., 296.  Lagarde, Dtsch.Schr., 210.218 u. ö., vollständig in der Abhandlung „Juden und Indogermanen“ (s. Anm. 26), in: ders., Mittheilungen, Bd. II (s. Anm. 26), 331 f.346 ff.; ders., Lipman Zunz und seine Verehrer, in: ders., Mittheilungen, Bd. II, 1887, 108 – 162, 159: „Gewiss ist die Judenfrage auch eine Rassenfrage, aber kein ideal gesinnter Mensch wird je leugnen, daß der Geist auch die Rasse überwinden kann und soll.“

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zu unheilvoller Anknüpfung und Verdrehung führen konnten.³² Diese Kritik bildete schon zu Lagardes Lebzeiten mehr als nur Ärgernis – zum Beispiel: Nicht nur Friedrich Nietzsche, der der Paulus-Kritik Lagardes durchaus sekundierte, distanziert sich ausdrücklich in einem Schreiben vom 24. 3.1887 von Lagardes Antisemitismus, sondern auch der Historiker Heinrich von Treitschke, selbst bekannter Antisemit der Zeit, lehnte das seiner Meinung nach „Zuviel“ der antisemitischen Kritik Lagardes ab.³³ Und Ernst Troeltsch, der zwar den 2. Band seiner „Gesammelten Schriften“ (1913)³⁴ Lagarde im Gedenken widmete – nachdem der erste Band der Ehrung Albrecht Ritschls galt –,verbindet den Dank an den akademischen Lehrer mit eindeutiger Ablehnung von dessen Antisemitismus und der Paulus-Kritik sowie der Verurteilung Luthers. Auch widerspricht Troeltsch der „katholisierenden Romantik“ Lagardes ebenso wie dessen völliger Fehleinschätzung der Sozialgestaltung in der Gegenwart.³⁵ – Begeisterte Zustimmung zu Lagarde während der Kaiserzeit findet sich bei den Brüdern Heinrich und Thomas Mann.³⁶

 Lagarde, Lipman Zunz (s. Anm. 31), 161 f.; ders., Wie es jetzt um das in diesen Mittheilungen 2 108 – 182 (sic!, bis 162) Auseinandergesetzte steht, in: ders., Mittheilungen, Bd. IV, Göttingen 1891, 153– 160. Hier bedauert Lagarde „Deutschland“, weil „die Verseuchung“ (sc. durch die Juden) „schon weiter fortgeschritten“ sei, „als ich zu fürchten nöthig glaubte“ (160); vgl. auch ders., Besprechung von Güssfeld, Paul, „Die Erziehung der deutschen Jugend“ (1890), in: ders., Mittheilungen, Bd. III, Göttingen 1890, 290 – 323, bes. 295 über Moses Mendelssohn; A. de Lagarde, Erinnerungen (s. Anm. 1), 143 – 146 hält als Sicht ihres Mannes fest: Es gehe ihm darum, „das Judenthum zu zerstören …, sonst wird Europa zu einem Totenfelde“ (146; so Lagarde in einem selbst erdachten „Programm für die konservative Partei Preußens, 1884“, Datum 27. März 1884).  Nachweise bei I. U. Paul, Lagarde (s. Anm. 1), 78.  E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, Zweiter Band: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913 (21922).  Vgl. Einzelheiten und Nachweise bei I. U. Paul, Lagarde (s. Anm. 1) 78 u. Anm. 120 ebd.; E. Troeltsch, Gesammelte Schriften (s. Anm. 34), VIII; allerdings fährt Troeltsch fort: „Aber das ändert daran nichts, daß die Weite seines historischen Blickes, die wesentlich historische und nicht spekulative Erfassung des Religiösen, die starke selbstgewisse Religiösität und die Zusammenschau des Religiösen mit den Gesamtbedingungen des Lebens, insbesondere den politischen Verhältnissen, mir seiner Zeit eine ganz außerordentliche, fast erschütternde Anregung gaben“; Th. Nipperdey (s. Anm. 27), 147.  H. Mann, Jüdischen Glaubens, in: Das zwanzigste Jahrhundert 6, 1895/96 (Heft 1), 544– 562; Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1918; vgl. zu diesem umstrittenen Thema: R. Thiede, Stereotypen von Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs und dem Versuch seiner Überwindung, Berlin 1998; Y. Elsaghe, Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das „Deutsche“, München 2000. Manche Schärfe nehmend ist die Beurteilung bei H. Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 2001, bes. 205 – 233; ähnlich M. Reich-Ranicki, Deutschlands Glück in Deutschlands Unglück. Was

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[25] Schließlich: Daß zahlreiche Menschen jüdischer Herkunft in Deutschland und Europa sich kritisch in Presse und Zeitschriften monographisch gegenüber Lagarde äußerten und dies ungehindert tun konnten,³⁷ muss ebenso festgehalten werden wie das große Bedauern – besonders nach 1933 –, dass Lagarde für rassistische Fragestellungen nicht auswertbar sei.³⁸

1.2.3.2 Lagardes religionsgeschichtliche Einschätzung der theologischen Wissenschaft und der theologischen Fakultäten Im Hinblick auf die von Lagarde postulierte „Religion der Zukunft“ geht es um die Aufhebung jeglicher Konfession. In den theologischen Fakultäten aber, so kritisiert Lagarde, geht es gerade um die Stabilisierung von „Konfession“, nicht um exakte historische Wissenschaft. Deshalb sind theologische Fakultäten abzuschaffen. Die Theologenausbildung ist außerhalb der Universität in kirchliche Eigenregie (aber unter staatlicher Aufsicht!) zu geben.³⁹ Die Trennung von Staat und Kirche ist voranzutreiben.⁴⁰ Was dagegen in die Universität gehört, sind religionsvergleichende Lehrstühle. – Eine Feststellung Lagardes aus einem Vorlesungsmanuskript vom 26.11.1851 hält bereits seine Grundthese fest: „Eine große gefahr ist die, daß man über dem gelehrten aufsuchen der einzelnen religionsformen vergißt, darzutun, auf welche weise in diesen formen der mensch mit dem absoluten zusammenlebte.“⁴¹ [26]

1.2.3.3 Die Religion der Zukunft Diese ist ein nebulöses Gebilde, und es beruhigt, in einem Brief von J. Wellhausen an Lagarde vom 19. 2.1873 zu lesen: „Wie Sie zu dem Gedanken einer deutschen

Thomas Mann mir bedeutet. Die Lübecker Festrede, in: FAZ, 15.8. 2005 (= Nr. 188), 29.31 (bes. 31 [letzte Spalte]); einen schon Forschungsbericht bietet W. Schneider, Man spürt nichts als Kultur. Blüthenzweig und Co. Die Juden im Werk Thomas Manns – Eine Bestandsaufnahme vor der Tagung der Thomas-Mann-Gesellschaft, in: FAZ, 27. 8. 2002 (= Nr. 198), 36.  Wichtige Auflistung bei E. Nestle, Art. Lagarde (s. Anm. 1), 214.  R. Hanhart (s. Anm. 1), 295 Anm. 94 mit u. a. Verweis auf E. Botzenhart in Göttinger Universitätsreden Nr. 11, 1944.  Lagarde, Dtsch.Schr., 78.170 ff.; ders., Ausg.Schr., 32; vgl. H. W., Schütte, Theologie als Religionsgeschichte. Das Reformprogramm Paul de Lagardes, NZSTh 8, 1966, 111– 120 mit verschiedenen Einzelhinweisen, 114: „Und er (sc. Lagarde) hat mit einer gewissen Genugtuung die Folgerung gezogen, indem er die theologische Fakultät der Kirche in Gestalt von Seminaren zurückgegeben wissen wollte.“  Vgl. Lagarde, Dtsch.Schr., 75 ff.289 ff. u. ö.  Text und Nachweis bei R. Hanhart (s. Anm. 1), 300 Anm. 107.

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Nationalkirche kommen, begreife ich nicht“,⁴² und E. Troeltschs Urteil zu hören, bei Lagarde handle es sich um „eine unklare, unruhige und überreizte Sehnsucht nach Religion“.⁴³ Es geht um die Auflösung jeglicher in Deutschland bestehender Konfessionen/Kirchen etc.,⁴⁴ gebündelt: Abschaffung von Protestantismus, Judentum, Katholizismus mit leichten Differenzierungen, Theologischen Fakultäten. Es geht erst um die Schaffung von Religion, deren Inhalt in etwa dem schon Angeführten zu „Evangelium“ entspricht. Dann erst „sind Religion und Nation … untereinander in Einklang gebracht“, sind (deutsche) Stämme und (überwundene) Konfessionen harmonisch beieinander.⁴⁵ Mit Worten Lagardes hat I. U. Paul es treffend zusammengefasst: Es geht um die „Gotteskindschaft“, die die „unauflöslichen Beziehungen zwischen Gott, Nation und den einzelnen Angehörigen der Nation“ zur Geltung bringt.⁴⁶ Das ist Religion der Zukunft.

1.3 Fazit 1) Lagarde arbeitet „mit einem letztlich unhistorischen, aus pietistischen und romantischen Quellen gespeisten Religionsbegriff“, so die Editoren des Briefwechsels Franz Overbeck mit Lagarde, N. Peter und A. U. Sommer.⁴⁷ Beide Herausgeber stellen dem gegenüber, dass Franz Overbeck in seiner im gleichen Jahr wie Lagardes Schrift „Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion“ (1873) erschienenen und durchaus im Gegensatz zu ihr und deren Verfasser veröffentlichten Arbeit „Die Christlichkeit der heutigen Theologie“

 Zitiert bei R. Hanhart (s. Anm. 1), 297 u. Anm. 98 ebd.  E. Troeltsch, Die wissenschaftliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Grundströmungen IV – VI. Schluß, ZThK 4, 1894, 167– 231, 176: „Wenn heute religionsbedürftige Philosophen in Paul de Lagarde einen Propheten sich erwählt haben, so sind sie in ihrer Unkunde dessen, was Religion ist, an ein solches Gemüt geraten, das bei allem Reichtum und bei aller Tiefe seiner Frömmigkeit doch mehr eine unklare, unruhige und überreizte Sehnsucht nach Religion als diese selbst besaß“; auch wurde von „trübendem Nebel, der aus den Tiefen Lagardischer (sic!) Weisheit aufsteigt“ gesprochen; hierzu und zu weiteren Äußerungen E. Nestle. Art. P. de Lagarde (s. Anm. 1), 217.  I. U. Paul, Lagarde (s. Anm. 1), 67.  I. U. Paul. Lagarde (s. Anm. 1), 68.  I. U. Paul, Lagarde (s. Anm. 1), 67; vgl. Lagarde, Dtsch.Schr., 76.67.103 – 113.232 f.251– 286; doch erliegt Lagarde fast selbst der dem literarischen Gegner zugeordneten „Décadence“ (Besprechung Güssfeld [s. Anm. 32]), 298 und 296 f., indem er festhält: „Das bin ich anzusprechen verpflichtet, daß mit jedem Jahre die Möglichkeit, eine deutsche Kirche sich ausgestalten zu lassen, sich verringert.“  N. Peter und A. U. Sommer, Franz Overbecks Briefwechsel mit Paul de Lagarde, ZNThG (JHMTh) 3, 1996, 127– 171, 133.

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(Leipzig 1873) „ein historisch gewonnenes, [27] spezifisches Verständnis von christlicher Religion“ herausgearbeitet hat.⁴⁸ Damit ist von den Editoren hinsichtlich Lagarde nur neu ausgesprochen, was seit Julius Wellhausens Gedächtnisrede von 1894 auf den Göttinger Gelehrten im Raum stand, was Enno Littmann in seinem Lagarde-Artikel in RGG² herausarbeitete⁴⁹ und von Hans Walter Schütte (1965) klar zusammengefasst wurde:⁵⁰ „Lagardes Ansicht von der Geschichte als Lebenszusammenhang, die sich in den großen Persönlichkeiten ihren Ausdruck verschafft,⁵¹ schließt nicht nur die Unsicherheit über das Verhältnis von Spekulation und Empirie ein, sondern enthält darüber hinaus eine Unklarheit über das Verhältnis von Glaube und Geschichte, Geschichte und Gotteserkenntnis.“ „Lagarde ist der Meinung, daß geschichtliche Phrasen nur insofern von Belang sind, als sie in einem deutlichen Bezug zur Gegenwart und zur gegenwärtigen Erfahrung stehen.“⁵² „Weil bei Lagarde das Verhältnis von Geschichte und Gotteserkenntnis seinen Voraussetzungen nach dunkel bleibt, wird die Geschichtsbetrachtung selbst zur Quelle willkürlicher Entscheidungen …“.⁵³ Lagardes Werk lässt nichts von historisch-kritischer Forschung und ihren methodischen Voraussetzungen erkennen. Die „Religionsgeschichtliche Schule“ dagegen – das sei schon hier festgehalten – ist methodisch der historisch-kritischen Forschung verpflichtet und somit methodisch von Lagardes Vorgehen diametral unterschieden. 2) Diese auffallende Ungenauigkeit im Erfassen von Geschichte hängt sicher mit seinem Postulat einer Religion ohne Kirche zusammen, mit seiner unscharfen Weise, die „Religion der Zukunft“ näher zu bestimmen. Aber es hängt auch daran, dass Lagarde für die meisten seiner Thesen seine Abhängigkeit von vor allem Fichte und Schleiermacher nicht nur in der Sache verschweigt und vernebelt, sondern auch deren Begründungszusammenhänge ausblendet. Es ist das große Verdienst von Adolf Hilgenfeld, schon 1873 in seiner Besprechung der Schrift über „Das Verhältnis des deutschen Staates …“ Lagardes gedankliche Anleihen bei Schleiermacher aufgezeigt und im Übrigen Lagardes

 N. Peter u. A. U. Sommer (s. Anm. 47), 133. F. Overbecks Brief an Lagarde vom 1. 2.1873 ist hintergründig und kritischer zu lesen, als es zumeist geschieht (abgedruckt ebd., 140 – 144).  E. Littmann, Art. de Lagarde, P. A., RGG², Bd. III, 1929, 1452– 1453.  H. W. Schütte (s. Anm. 10), 55 ff.59 ff.; vgl. aber schon O. Conrad (s. Anm. 6) mit seiner Feststellung im Jahre 1928: „Wie denn überhaupt Lagarde und Fichte in ihrer Auffassung über das Wesen der Religion merkwürdig übereinstimmen!“ (30); D. Just, Schattenseite (s. Anm. 1), 139: „Aber dass Lagarde Fichte als Quelle für seinen Idealismus so selten erwähnte, war seine Unwahrhaftigkeit.“  Vgl. dazu auch Lagarde, Dtsch.Schr. 198.79 u. ö.  Beide Zitate bei H. W. Schütte (s. Anm. 10), 59.  H. W. Schütte (s. Anm. 10), 60.

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„Methode“ genau durchschaut zu haben.⁵⁴ Und aus neuerer Zeit lassen die minutiösen Nachweisungen [28] von H. W. Schütte im Ergebnis erkennen, dass Fichtes Darlegungen über „Christentum, Kirche, Theologie“⁵⁵ weitgehend die Vorlage für Lagarde sind und dass sich „Lagardes Abhängigkeit von Fichte als Schlüssel seiner Aporien“ ergibt.⁵⁶ Müssen hier Einzelheiten auf sich beruhen, so sei doch – noch stärker als es bei Schütte geschieht – hinzugefügt, dass sich Lagarde zumeist mit Tagesproblemen seiner eigenen Zeit auseinander setzte und aus diesem Grunde auch Umformungen in seinen „Anleihen“ vornahm.Vor allem zog er neben Schleiermacher auch D. F. Strauß’ „Leben Jesu“ (Stuttgart 1835/36) und überhaupt Gedankengut desselben ein. Auch Jacob Grimms Werk über „Deutsche Mythologie“ (Göttingen 1835) ist ihm wichtig. Die „Anleihen“ bei Fichte sind also für Lagarde mit „Zwischenstationen“ verbunden. – Lagardes philosophische Fehleinschätzung des 19. Jahrhunderts insgesamt – z. B. ist Hegel nach ihm der unfähigste philosophische Kopf seines Jahrhunderts⁵⁷ – hat die nachfolgende Forschung ohnehin deutlich kritisiert. – Im Ergebnis: Lagarde lebt in Vorstellungen der/einer (missverstandenen) Romantik (seine Vorbilder sind Friedrich IV. von Preußen und die von diesem gestaltete Monarchie).⁵⁸ Lagarde ist über einen geradezu unbeweglichen Konservatismus nicht herausgekommen, und das zeigt sich in seinem wie immer gearteten historischen Denken, z. B. in seinen keineswegs der historischen Rechtsschule im 19. Jahrhundert adäquaten Äußerungen, so sehr er sich auf K. F.v. Savigny, J. Grimm u. a. beruft.⁵⁹ Lagardes reichem Faktenwissen fehlt die den Stoff bündelnde und aus ihrer Zeit heraus erfassende

 A. Hilgenfeld, Der alte und der neue Glaube nach den neuesten Schriften von D. F. Strauss und Lagarde, ZwTh 16, 1873, 305 – 354, bes. 340 ff. Mit dieser Rezension bricht die Verbindung Lagarde – Hilgenfeld ab; vgl. H. M. Pölcher, ΣΥΜΦΙΛΟΛΟΓΕΙΝ. Briefe von Paul de Lagarde an Adolf Hilgenfeld aus den Jahren 1862– 1887, in: Lebendiger Geist. H. J. Schoeps zum 50. Geburtstag dargebracht, hg. v. H. Diwald, BZRGG, Bd. IV, Leiden/Köln 1959, 19 – 47, 46 und Brief Lagardes vom 9. Juni 1873 an Hilgenfeld (ebd. 45).  H. W. Schütte (s. Anm. 10), 67 ff.123.  H. W. Schütte (s. Anm. 10), 125 – 136.  Vgl. nur Lagarde, Ueber einige Berliner Theologen und was von ihnen zu lernen ist, in: ders., Mittheilungen, Bd. IV, 1891, 49 – 128, bes. 57.73 f. u. ö.  So auch E. Littmann, Art. de Lagarde (s. Anm. 49): Lagarde „war … seiner ganzen Art nach Romantiker und konnte oft zwischen subjektiver und objektiver Wahrheit nicht unterscheiden“ (1452). Selbst Frau Lagarde bestätigt dies in gewisser Weise: A. de Lagarde, Erinnerungen (s. Anm. 1), 98 – 100; L. Schemann (s. Anm. 1), passim.  Vgl. insgesamt den Überblick in: Art. Rechtsgeschichte, Der große Brockhaus15, Bd. 15, Leipzig 1933, 454, und die Darlegungen von O. v. Gierke, Die historische Rechtsschule und die Germanisten, Berlin 1903.

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Gedankenführung, und wenn sie vorhanden zu sein scheint, mündet sie in subjektiven Erwägungen, die seine eigene Ideologie bestärken.⁶⁰ [29] 3) Lagardes auf die Religionsgeschichte bezogenen Postulate, nach denen lediglich „der historischen Erforschung der Religionen“ dienende Lehrstühle in den staatlichen Universitäten verbleiben sollen, geht in der Sache die Wegweisung für die „Religion der Zukunft“ einher.⁶¹ Schon F. Overbeck hat dies in seiner genannten Schrift „Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie“ (1873) scharfsichtig gesehen.⁶² Auch hier gilt, dass Lagarde in seinen Überlegungen mit der „Bestimmtheit im einzelnen eine Unbestimmtheit im Ganzen“ aufweist.⁶³ Gerade die Nichtübernahme Lagardescher Postulate seines Programms in diesem Bereich seitens der ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘ führt zum II. Teil der Überlegungen.

2 Lagarde und die „Religionsgeschichtliche Schule“ Unbestritten ist, dass Lagarde der akademische Lehrer von einigen und ein Anreger für die freilich erst nach seinem Tode 1891 virulent werdende „Religionsgeschichtliche Schule“ war.⁶⁴ Das aber war ebenso sein ihm verhasster Antipode Albrecht Ritschl, das waren auch Bernhard Duhm, Adolf Harnack, Adolf Jülicher, Richard Reitzenstein u. a. auf je ihre Weise. Forschungsgeschichtlich hat sich

 Vgl. auch H. Greßmann, Art. de Lagarde, Paul Anton (1827– 1891), RGG1, Bd. III, 1912, 1919 – 1922, 1921: „Aber zum Historiker hat ihm fast alles gefehlt. Keinem religiösen Helden der Vergangenheit ist seine Subjektivität gerecht geworden, weder einem Jesus noch einem Paulus noch einem Luther.“ Das, was Lagarde anderen vorwarf, traf in hohem Maße ihn selbst, zusammengefasst in einem Zitat aus einer nicht ihn betreffenden Besprechung von A. Jülicher, auf das auch Lagarde hinwies (vgl. ders., Zum letzten Male Albrecht Ritschl [s. Anm. 22], 402). „Das Allerschlimmste ist, daß dem Verfasser über der Gabe methodischer Kritik und noch unzweifelhafter, der geschichtliche Sinn fehlt. Ich verstehe darunter die Fähigkeit – wie viel mehr den Willen – die Vergangenheit zu nehmen, wie sie ist, sie aus ihr selbst zu verstehn und nach ihren Maßstäben zu beurteilen. Wer dem ersten Jahrhundert n.Chr. nicht gestattet anders zu sein als das neunzehnte ist, der kann nicht Geschichte schreiben“ (zitiert nach GGA, 1885, 425 in der Bespr. des Werkes „L Christianisme et ses origines – Le Nouveau Testament“ par E. Havet, Paris 1884, GGA 1885, 415 – 429, der bes. im Paulusteil Lagardeschen Anschauungen geistesverwandt ist).  H. W. Schütte, Theologie als Religionsgeschichte (s. Anm. 39), 118.  S. oben bei Anm. 47.48.  H. W. Schütte, Theologie als Religionsgeschichte (s. Anm. 39), 116.  Vgl. im Überblick E. Troeltsch, Die „kleine Göttinger Fakultät“ von 1890, ChW 33, 1920, 281– 283; G. Lüdemann / M. Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen, Göttingen 1987; F. Hartenstein / H. D. Betz, Art. Religionsgeschichtliche Schule, RGG4, Bd. 7, 2004, 321– 326.

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bestätigt, was Hugo Greßmann in seinem Lagarde-Artikel in RGG1, 1912, bereits festhält: „Die Religionsgeschichtliche Schule verdankt ihm im einzelnen nicht so viel, wie oft angenommen wird.“⁶⁵ Hermann Gunkel sieht dies nicht anders,⁶⁶ auch wenn er einen gewissen [30] Einfluss des „vielseitige(n) und rätselhafte(n) Lagarde“ auf einzelne dieser Forschergemeinschaft Zugehörenden nicht in Frage stellen will.⁶⁷ Einige Hinweise mögen verdeutlichen. a) Hinsichtlich des Verständnisses von Religionsgeschichte bestehen zentrale Unterschiede/Gegensätze zu Lagarde. William Wrede skizziert dies in seinem Vortrag „Das theologische Studium und die Religionsgeschichte“ (1903).⁶⁸ Mit Adolf Harnack⁶⁹ und Adolf Jülicher⁷⁰ erklärt er gegen Lagarde: „Die Auflösung der theologischen Fakultäten in religionsgeschichtliche kann ich aus vielen Gründen nicht wünschen“ (83; vgl. 76), nachdem er zuvor die religionsgeschichtliche Aufgabe in der theologischen Wissenschaft, besonders in den exegetischen Disziplinen anhand von H. Gunkels, W. Heitmüllers, A. Eichhorns Untersuchungen, aufgedeckt hat, nämlich dass es nicht um abstrakte Vergleichung von Religionen nach Lagardes Empfehlung geht. Die Absolutheit des Christentums (im Sinne von

 H. Greßmann, Art. de Lagarde (s. Anm. 60), 1921; ähnlich E. Littmann, Art. de Lagarde (s. Anm. 49), 1452; A. F. Verheule, Wilhelm Bousset. Ein theologiegeschichtlicher Versuch, Amsterdam 1973, 299 f.: Die Bedeutung Lagardes für die „Religionsgeschichtliche Schule“ ist insgesamt gering. – Dass die „Religionsgeschichtliche Schule“ „den Entwicklungsgedanken auch für die Religion“ Lagarde verdanke (so G. Lüdemann / A. Özen, Art. Religionsgeschichtliche Schule, TRE 28, 1997, 618 – 624, 619) ist zu allgemein im Hinblick auf den Kenntnis- und Forschungsstand zur Thematik in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, um einlinig einen Bezug auf Lagarde erheben zu können (vgl. beispielsweise W. Bousset, Das Wesen der Religion dargestellt an ihrer Geschichte, Halle a. S. 1904, 27 ff.63 ff. u. ö.). Auch ist „die Theologie- und Kirchenkritik“ (Lüdemann/Özen, a.a.O., 619) viel mehr Allgemeingut im Denken der Zeit, so dass die Vertreter der „Religionsgeschichtlichen Schule“ sich nur „unter anderen“ auch mit Lagarde berührten.  Nachweise bei G. Sinn, Christologie und Existenz. Rudolf Bultmanns Interpretation des paulinischen Christuszeugnisses, TANZ 4, Tübingen 1991, 18 f.  H. Gunkel, Gedächtnisrede auf Wilhelm Bousset, Evangelische Freiheit 20, 1920, 141 ff., 145; überbetont wird der Sachverhalt bei E. v. Dobschütz, Probleme des Apostolischen Zeitalters, Leipzig 1904, 77 mit seiner Vermutung: „Es ist ein breiter Strom, der sich – darf ich sagen von Lagarde aus? – in die neutestamentliche Forschung ergossen hat“ (Hinweis bei W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg/München ²1978, 558 Anm. 353).  W. Wrede, Das theologische Studium und die Religionsgeschichte, in: ders., Vorträge und Studien, Tübingen 1907, 64– 83.  A. Harnack, Die Aufgabe der Theologischen Faucultäten und die allgemeine Religionsgeschichte. Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität, Berlin 1901.  A. Jülicher, Moderne Meinungsverschiedenheiten über Methode, Aufgabe und Ziel der Kirchengeschichte, Marburger Akademische Reden V, Marburg 1901.

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E. Troeltsch und A. Harnack) im Blick⁷¹ zeigt er, wie die religionsgeschichtliche Eruierung des Spezifischen und auch des Nicht-Spezifischen im Alten Testament / Neuen Testament, ja der christlichen Religion (81 f.) dazu dient, „die eigene Religion sich zu objektivieren“ (80), wodurch eine „Weitherzigkeit in der Beurteilung der religiösen Erscheinungen“ ermöglicht wird (82). Im Ergebnis: Zu den klassischen Fächern in den Theologischen Fakultäten sollen [31] zusätzlich Lehrstühle für Religionsgeschichte eingerichtet werden. Das national-politische und visionäre Programm der Religionsgeschichte im Blick auf eine „Religion der Zukunft“ liegt der „Religionsgeschichtlichen Schule“ völlig fern.⁷² b) Das Jesusbild in der „Religionsgeschichtlichen Schule“ ist – wenn auch mit Differenzierungen – der liberalen Theologie zuzuordnen, die Lagarde aufs Äußerste verfolgte.⁷³ Das Verständnis von Jesus als Persönlichkeit wird in der „Religionsgeschichtlichen Schule“ A. Ritschl – und sekundär Wilhelm Herrmann als Schüler Ritschls – verdankt⁷⁴ und nicht Lagardes Konstruktion des Evangeliums. Die Basis sind die Synoptiker, nicht Inspirationen in loser Anlehnung an das Johannesevangelium. Und das gilt selbstverständlich auch für die Erörterung über die Verkündigung Jesu. Seit Johannes Weiß die eschatologische Ausrichtung der Botschaft Jesu (1892) erkannte, wurde diese Fragestellung lebhaft und kontrovers in der „Religionsgeschichtlichen Schule“ erörtert, und gerade W. Wredes sehr ausgewogener Vortrag „Die Predigt Jesu von Reiche Gottes“ (1894)⁷⁵ zeigt keinerlei Bezug zu Lagarde.

 Durchaus in Anlehnung an die Begrifflichkeit und Gedankenwelt Lagardes und doch dessen Ansicht ins Gegenteil wendend formuliert Wrede, (siehe Anm. 68): „Wir stellen den Indogermanen über alle anderen Rassen und betrachten doch den Indianer, den Neger, den Malaysen nicht etwa nur als Entartung vom Begriffe des Menschen, sondern als wirklichen species der Gattung Mensch, wir erkennen selbst im tiefstehenden Papua das Verwandte, die Grundzüge der gemeinsamen Art“ (76). Er fährt fort: „Nun, ganz ebenso, denke ich, werden wir auch alle außerchristlichen Religionen positiv … würdigen; wir gestehen ihnen zu …: wirkliche Religion“ (76 f.). – Auch W. Boussets Formulierung: „Paulus hat in erster Linie den Übergang des Evangeliums von Palästina in die römisch-griechische Kulturwelt, von der semitischen zur indogermanischen Rasse vollzogen“, ist – wenn überhaupt – eher in Anlehnung an W. Wrede erfolgt und durch den Kontext eindeutig ohne jeden Bezug zu Lagarde (vgl. W. Bousset, Das Wesen der Religion [s. Anm. 65], 216).  Vgl. auch R. Hanhart (s. Anm. 1), 301.  „Ich hasse schon das bloße Wort liberal“, gilt für Lagarde im weitesten Sinne (vgl. A. de Lagarde, Erinnerungen [s. Anm. 1], 37), nicht nur im politischen Bereich.  Vgl. O. Merk, Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule, in: E.-M. Becker, P. Pilhofer (Hgg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005, 29 – 45, passim.  W. Wrede, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, in: ders., Vorträge (s. Anm. 68), 84– 126; vgl. auch H. W. Schütte (s. Anm. 10), 64.

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c) Anders steht es bei verschiedenen Einzelpunkten. α) Wredes Kennzeichnung Jesu als eines unmessianischen beruht wohl auf einer mehr Randbemerkung Lagardes in seiner Schrift „Über das Verhältnis des deutschen Staates …“ (1873): „Jesus ist den Messiasträumen der unteren Schichten Israels gegenüber kühl geblieben“,⁷⁶ woraus Lagarde ohne weitere Begründung folgert, dass „niemand das Recht (hat), ihn den Messias oder Christus … zu nennen“.⁷⁷ Wredes historische und theologische Konzeption, das Messiasgeheimnis sei nachösterlich, aber vormarkinisch und vom Verfasser des Markusevangeliums ausgebaut, hat keine Anhaltspunkte bei Lagarde.⁷⁸ β) Wredes Programmschrift „Über Aufgabe und Methode der sogenannten neutestamentlichen Theologie“ (Göttingen 1897) weist ebenfalls auf Spuren Lagardes hin. Dieser hatte die Aufhebung der neutestamentlichen Kanongrenze als wissenschaftlich unumgänglich gefordert. „Es ist aber völlig unmöglich, aus einer bestimmt begrenzten und in sich sehr unsicheren Gemeinschaft vorgelegten Sammlung von Schriften die Lehren einer Zeit vollständig zu erkennen.“ „Der neutestamentliche Kanon“ ist [32] „nichts, als die Sammlung der Bücher, welche die altkatholische Kirche in ihrem Kampfe mit den Ketzern und Sekten des zweiten Jahrhunderts geeignet erachtete“.⁷⁹ Wrede nennt ausdrücklich Lagarde,⁸⁰ doch gewichtiger sind ihm Gustav Krüger, Das Dogma vom neuen Testament (Programm Gießen 1896), und die methodische Übereinstimmung mit Albrecht Eichhorn⁸¹ im Gegenüber zu seinem eigentlichen Gesprächspartner Heinrich-Julius Holtzmann und dessen Werk über die neutestamentliche Theologie (1896/97).⁸² Lagarde liefert einen Problemhinweis, mehr nicht, während Wrede historisch-kritisch die Problematik der Lehrbegriff-Methode aufzeigt und – die Grenze des neutestamentlichen Kanons sprengend – „die urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der christlichen Religion und Theologie“ historisch im Spannungsfeld des Urchristentums verankert. Genau genommen: Das Verhältnis von Theologie und

 Lagarde, Dtsch.Schr., 65.  Lagarde, ebd.  W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901.  Lagarde, Dtsch.Schr., 51 f.  W. Wrede, Aufgabe und Methode der sogenannten neutestamentlichen Theologie, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF CCCLXVII, Darmstadt 1975, 81– 154, 85 Anm. 4.  So W. Wrede im Vorwort (Erstauflage Göttingen 1897; fehlt in G. Streckers Nachdruck); vgl. im Übrigen H. Greßmann, Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1914.  H.-J. Holtzmann, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie, Bd. 1.2., Freiburg/Leipzig, 1896/97.

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Religion, das Holtzmann in seinem Lehrbuch markant aufgeworfen hatte, neu zu bestimmen, war sein Anliegen.⁸³ γ) Die meist genannte Berührung Wredes mit Lagarde ist unter dem Stichwort der „Jesus-Paulus-Debatte“ bekannt. Dass die aufgezeigte Beurteilung des Paulus durch Lagarde eine „Vorgeschichte“ bei J. G. Fichte hat und mit Lagarde gleichzeitig diese Sicht bei F. Nietzsche mehr thematisch „hingeworfen“ als entfaltet wird, dass zudem die Fragestellung in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unter Verortung und Zuordnung des Verhältnisses von Theologie und Religion lebhaft diskutiert wurde,⁸⁴ ist als Hintergrund zu sehen. Wrede selbst soll – nach Erinnerung von Paul Wernle⁸⁵ – etwa 1894 geäußert haben: Paulus ist der „Verderber des Evangeliums Jesu“. Das klingt wie eine Kurzfassung der Sicht Lagardes. Ob diese Äußerung nur Wiedergabe von Lagarde oder Wredes eigene Meinung ist, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit ausmachen. In der gerade angeführten Methodenschrift von 1897 schreibt Wrede „hinsichtlich der geschichtlichen Zusammenhänge“: „Paulus bezeichnet einen sehr weiten Abstand von Jesus und ist von der Predigt Jesu aus schlechthin nicht genügend zu verstehen, wie denn überhaupt niemand neutestamentliche Theologie als Entwicklung und Fortbildung der Lehre Jesu zu schreiben vermöchte.“⁸⁶ [33] In seiner „radikal geschichtlichen Paulusdarstellung“ von 1904⁸⁷ kennzeichnet dann Wrede Paulus als den sekundären Religionsstifter, er ist der „zweite Stifter des Christentums“.⁸⁸ Paulus ist es, „der die ihm als Juden geläufige Christusgestalt auf Jesus überträgt, ohne von der Person Jesu und ihrer Lehre“ in irgendeiner Form „wesentlich beeinflusst zu sein“.⁸⁹ „‚Jesus oder Paulus‘“ ist nach Wrede die berechtigte streng historische Fragestellung, denn Paulus ist „Stifter des Christentums als einer Erlösungsreligion“.⁹⁰ Aber der Historiker Wrede ist zugleich

 G. Sinn, Christologie und Existenz (s. Anm. 66), 67 ff.52 (mit Einzelnachweisen).  Vgl. F. Regner, „Paulus und Jesus“ im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte des Themas Paulus und Jesus in der neutestamentlichen Theologie, Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 30, Göttingen 1977; W. Wiefel, Zur Würdigung William Wredes, ZRGG XXIII, 1971, 60 – 83.  P. Wernle, in: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. v. E. Stange, Bd. V, Leipzig 1929, 217 (vgl. ebd. 224).  W. Wrede, Aufgabe und Methode (s. Anm. 80), 141.  W. Wrede, Paulus, RV I, 5/6, Halle 1904 (Neudruck in: Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung. Hg. v. K. H. Rengstorf, in Verbindung mit U. Luck, WdF, Bd. XXIV, Darmstadt 1964, 1– 97).  W. Wrede, Paulus (1904), 104; Ausgabe Rengstorf, 96; nach H.-J. Holtzmann (s. Anm. 82), Bd. 2, 203 ist Paulus als „sekundärer Religionsstifter“ zu bezeichnen.  So W. G. Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 67), 377.  W. G. Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 67), 377.

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bei seiner Eruierung der Theologe, indem er „die Realität der Erlösung und den eschatologisch geschichtlichen Grundzug der paulinischen Theologie“ so eindeutig herausarbeitet, „daß die Neubesinnung auf den Verkündigungscharakter der paulinischen Theologie später an dieses radikal geschichtliche Paulusbild“, das Wrede seinen Zeitgenossen vorsetzt, „anknüpfen konnte“.⁹¹ Spitzen wir auf die vorgegebene Thematik zu: Sind Lagardes und Wredes Paulusbild vergleichbar? In der Grundfragestellung sind sicher Berührungen. Aber trennen sich die Wege nicht doch deutlicher als meist angenommen? Für Lagarde ist Paulus der ungerufene/unberufene Einmischer, den er tagespolitisch einordnet, und mit dessen Rechtfertigungslehre er letztlich das nationale Unglück seiner Zeit begründet. „Lagarde macht den Kampf gegen den jüdischen Christen Paulus zur Sache der deutschen Politik.“⁹² Für Wrede ist die paulinische Rechtfertigungsbotschaft eine Kampfeslehre im missionarischen Einsatz des Apostels,⁹³ der ursprünglichen Erlösungslehre zugewachsen. Wrede verortet die Rechtfertigungslehre in die Geschichte des Urchristentums hinein. – Für Lagarde bleibt Paulus der Pharisäer von dem Scheitel bis zur Sohle – politisch auswertbar –, nach Wrede ist Paulus geschulter jüdischer Theologe.⁹⁴ „Ohne zu große Mühe ließe sich aus“ seinen Briefen „eine leidlich umfassende jüdische Theologie zusammenstellen“.⁹⁵ Aber – so Wrede – die paulinische „Umbildung des Urchristentums“ ist „die Vorbedingung dafür gewesen, daß er (sc. Paulus) es als Religion mit eigenem Prinzip dem Judentum gegenübergestellt [34] hat. Ohne seine Erlösungstheologie hätte er nicht vermocht, das Judentum als überwundene Religion zu betrachten“.⁹⁶ „Die ganze Neuerung des Paulus ist darin beschlossen, wie er diese Heilstatsachen, die Menschwerdung, den Tod und die Auferstehung Christi, zum Fundament der Religion gemacht hat.“⁹⁷

 Vgl. die wichtige Analyse der Sicht Wredes bei W. G. Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 67), 377.  So F. Regner (s. Anm. 84), 115.  E. Wißmann, Das Verhältnis von ΠΙΣΤΙΣ und Christusfrömmigkeit bei Paulus, FRLANT, N.F. 23, Göttingen 1926, 14 ff. führt „Vorgänger“ für Wredes Sicht der Rechtfertigungslehre im 19. Jahrhundert an.  W. Wrede, Paulus (1904), 80: „Ja, es ist gar nicht unverständlich, daß Paul de Lagarde diesen Gegner des Judentums den jüdischsten aller Apostel heißen konnte“ (Ausgabe Rengstorf, 75).  W. Wrede, Paulus (1904), 80 (Zitat) und 80 ff. (Ausgabe Rengstorf, 75 ff.).  W. Wrede, Paulus (1904), 104 f. (Ausgabe Rengstorf, 96 f.)  W. Wrede. Paulus (1904), 103 (Ausgabe Rengstorf, 95).

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Wredes Paulus-Büchlein ist nicht ohne Bezug auf Lagarde,⁹⁸ aber der Verfasser zeigt eine eigenständig historisch-theologische Bewältigung, die der Lagardes keineswegs entspricht. Eine ganz andere Frage ist es, ob Wredes Lösung den Paulus des Neuen Testaments erfasst. Die lebhafte, an Wredes PaulusBüchlein sich anschließende Diskussion zur Fragestellung in und außerhalb der „Religionsgeschichtlichen Schule“ wandte sich wieder stärker der differenziert gesehenen Zuordnung „Jesus und Paulus“ zu, ohne Lagardes Sicht näherhin oder überhaupt zu berücksichtigen. Für die Sachfrage diskutiert man Wredes These. Damit ist ein zusammenfassender Einschnitt erreicht. Für die neutestamentlich-wissenschaftliche Diskussion waren nach Wredes Tod († 1906) in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts keine aufzugreifenden Impulse mehr gegeben, die mit dem Namen Lagarde verbunden wurden. Eine Überblicksdurchsicht durch die Untersuchungen von Johannes Weiß,Wilhelm Bousset, Wilhelm Heitmüller, Hermann Gunkel⁹⁹ u. a. zeigt dies für die „Religionsgeschichtliche Schule“ bis zu deren Ende nach dem Ersten Weltkrieg.¹⁰⁰ [35] Dass des Göttinger Gelehrten Spezialschüler Alfred Rahlfs die von Lagarde maßgebend angeregte und geförderte Septuaginta-Forschung vorantrieb

 Dass Wredes Sicht tief greifend durch Lagarde bestimmt sein soll (so F. Regner [s. Anm. 84], 181 Anm. 26 [im Übrigen dort wichtige Beobachtungen zu Wredes Buch]), ist stark einzuschränken und zu differenzieren. Wenn man wirklich Berührungspunkte aufspüren will, dann sind sie für Wrede in der Untersuchung seines Freundes und Schülers M. Brückner, Die Entstehung der paulinischen Christologie, Strassburg 1903, zu finden, in der keinerlei Bezugnahme auf Lagarde vorliegt und in der für Wredes Paulusbüchlein zentrale Fragestellungen präfiguriert sind (vgl. Brückner, 30 ff.41 ff.65 ff.82 ff.); s. auch oben Anm. 93.  Hermann Gunkel war auch Schüler Lagardes, bei dem er Arabisch und Syrisch erlernte. Doch Lagarde hielt – um Auskunft gebeten – Gunkel als künftigen akademischen Lehrer wegen „mangelnder wissenschaftlicher Begabung“ und „unsympathischen Charakters“ für unfähig (Nachweise mit Belegen bei W. Klatt, Hermann Gunkel. Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode, FRLANT 100, Göttingen 1969, 17.24); vgl. zudem Gunkels eigenes Urteil: „Das alte Gerede, das mich zum ‚Schüler von Lagarde‘ machen wollte, könnte nunmehr, nachdem ich mich über die verschiedensten Dinge in einer von Lagardes Stellung oft abweichenden Weise geäußert habe, bald verstummen. Aber dergleichen ist fast unsterblich wie die Hydra“ (DLZ 25, 1904, 1103; zitiert bei Klatt, aaO, 53 Anm. 15). – Im Übrigen gelingt Klatt in seiner Untersuchung begründet der Nachweis, dass Lagardes Einfluss auf die „Religionsgeschichtliche Schule“ sehr zu relativieren ist.  Vgl. unter allgemeineren Gesichtspunkten aufschlussreich E. Lächele, Protestantismus und Völkische Religion im deutschen Kaiserreich, in: U. Puschner, W. Schmitz, U. J. H. Ulbricht (Hgg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ (s. Anm. 1), 149 – 163, bes. 154 f.

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und die Erforschung der Orientalistik und der neutestamentlichen Textkritik sich weiterhin auch mit Lagarde befasste, steht dabei außer Zweifel.¹⁰¹ Im Ergebnis kommt zum Tragen, dass die in ihren Ansichten durchaus divergierenden Persönlichkeiten der „Religionsgeschichtlichen Schule“ von ganz anderen religionsgeschichtlichen Voraussetzungen her als Lagarde forschten¹⁰² und dass sie historisch-kritisch in Rekonstruktion und Interpretation der Geschichte des Urchristentums und seiner Weiterwirkung nachgingen.¹⁰³ W. Boussets „Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus“ (FRLANT, N.F. 4, Göttingen 1913; ²1921) ist dafür ein herausragendes Beispiel.

3 Lagardes Nachwirkungen Nur einige Linien können genannt, aber nicht ausgezogen werden. Lagardes Wirkung im Kaiserreich seiner Zeit und seine Nachwirkung nach seinem Tode (1891) waren nicht so groß, wie gelegentlich vermutet wird.¹⁰⁴ Seine Aufnahme in

 Vgl. nur A. Rahlfs, Paul de Lagardes wissenschaftliches Lebenswerk im Rahmen einer Geschichte seines Lebens dargestellt, Mitteilungen des Septuaginta-Unternehmens der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1928, bes. 55 ff.66 ff.; H. H. Schaeder, Paul de Lagarde als Orientforscher, OLZ 45, 1942, 1– 13.  Z. B. zeigt sich, dass auch das Pharisäerbild in der ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘ nicht durch Lagarde bestimmt ist, wie R. Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, WUNT 101, Tübingen 1997 trotz 222 Anm. 70 bestätigt (vgl. 96 – 135).  Dass ändert nichts daran, dass man auch Lagardes „Deutsche Schriften“ zur Kenntnis nahm; vgl. P. Wernle (s. Anm. 85), 217: „In Lagardes ‚Deutsche Schriften‘ wurde ich durch ihn (sc. Bousset) heimisch. Thomas Carlyles prophetische Gestalt gewann durch ihn (sc. Bousset) Einfluß auf mein Denken und Gemüt.“ W. Bousset hat in seinem wissenschaftlichen Werk keine Forschungslinien zu P. de Lagarde gezogen. Auch dass sich Bousset im Bereich Textkritik mit Lagarde befasst (und auseinandersetzt), lässt keine weiteren wissenschaftlichen Berührungen zu (vgl. A. F. Verheule [s. Anm. 65], 242 Anm. 3 mit Nachweisen). Freilich ohne Belege heißt es aber auch bei Verheule (300): „Persönliche Berührungen zwischen Lagarde und W. Bousset habe ich nicht feststellen können. Eine gewisse Verwandtschaft im geistigen Klima zwischen beiden Forschern ist aber unleugbar.“ In diesem Sinne kann auch der allgemeine Hinweis von W. Lueken, Wie ich in der Göttingern Germania die Anfänge der Religionsgeschichtlichen Schule erlebt habe. Aus einer in Frankfurt/Main am 13. Januar 1956 gehaltenen Vorlesung, hg. v. A. Özen, ZNThG/HMTh 7, 2000, 283 – 297, 291 f. gesehen werden: „In Göttingen war in unserem Kreis ein Name unvergessen …; der wenige Jahre zuvor (1981) verstorbene Orientalist Paul de Lagarde“, über den W. Lueken dort selbst vortrug.  Vgl. die Dokumentation und Auswertung bei I. U. Paul, Lagarde (s. Anm. 1), 74 ff. in dem Abschnitt „Vom Propheten zum Führer von 1891 bis ins Dritte Reich“; U. Puschner, Die völkische

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völkischen Kreisen [36] kann durchaus als zunächst gemessen bezeichnet werden,¹⁰⁵ auch wenn sie sich verstärkte und einzelne seiner Verehrer sich des Überschwangs kaum genug tun konnten.¹⁰⁶ Insgesamt setzte eine Berufung und Neubesinnung auf Lagarde erst vor dem Ersten Weltkrieg, in diesem selbst und dann in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts ein, aber nicht im bibelwissenschaftlich-theologischen, sondern im politischen Bereich. Der Boden wurde vornehmlich in den Jahren der Weimarer Republik bereitet,¹⁰⁷ um nach 1933 von einer „Anpassung“ seiner Gedanken an die Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache. Rasse. Religion, Darmstadt 2001 passim (bes. 124 ff.); im Übrigen s. die von A. de Lagarde, Erinnerungen (s. Anm. 1), 1 f. zusammengestellte Liste der Nachrufe. – Hinzu kommt die sehr geteilte Einschätzung der Persönlichkeit Lagardes, die auch durch dessen zu seiner Zeit vielfach beachtete Gedichte nicht aufgehoben wird (vgl. P. de Lagarde, Gedichte. Gesamtausgabe besorgt von A. de Lagarde, Göttingen [1897] ²1911). – Aufschlussreich, aber aus heutiger Sicht ein erschreckendes Beispiel für Heldenverehrung, ist das Werk von L. Schemann, Paul de Lagarde. Ein Lebens- und Erinnerungsbuch (s. Anm. 1), doch immerhin mit der Feststellung: „Lagardes Tragik ist es gewesen, … daß seine Fehden vielfach einen Charakter trugen, der auch Weitherzigere unter seinen Verehrern beirren, ja abstoßen mußte“ (322). Wichtig und authentisch in diesem Bande über die Begegnung mit Lagarde ist der Bericht des später zur „Religionsgeschichtlichen Schule“ gehörenden Heinrich Hackmann (401– 403); vgl. auch E. Troeltsch (s. Anm. 34) u. ders., Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart, ebd., 1– 21, 19 – 21: P. de Lagarde ist „einer der anregendsten und bedeutendsten, wenn auch zugleich einer der seltsamsten, theologischen Denker aus der Philologie“ (19). Auch sonst betonen und bedauern große Verehrer Lagardes, dass dieser eine tragische Persönlichkeit sei (so etwa O. Conrad [s. Anm. 6], 24 f.).  Vgl. die Ausführungen von I. U. Paul und U. Puschner (vorige Anmerkung).  Eine 4. Aufl. der „Deutschen Schriften“ erschien in Göttingen 1903. Nach A. de Lagarde, Erinnerungen (s. Anm. 1), 129 hoffte ihr Mann auf einen späteren politischen Erfolg.  Vgl. z. B. die Nachdrucke/Neudrucke, die P. Fischer herausgab: P. de Lagarde, Deutsche Schriften, München 1924; ders. Ausgewählte Schriften, ebd. 1924; wichtigste weitere Hinweise bei I. U. Paul, Lagarde (s. Anm. 1), 81 ff. – Zur Einschätzung vgl. W. Mommsen, Paul de Lagarde als Politiker. Zu seinem 100. Geburtstag am 2. November 1927, Göttingen 1927, der zahlreiche kritische Einwände gegen Lagarde zum Anlass nimmt festzuhalten: „Und wenn nun trotz diesen Schwächen seine Deutschen Schriften zwar nicht einen Augenblickserfolg errangen, der ja leicht blendet, sondern langsam und wachsend sich Anerkennung erwarben, so ist das der beste Beweis dafür, daß hier ein Mann spricht, der nicht nur seiner Zeit, sondern auch uns noch etwas zu sagen, sehr Wesentliches zu sagen hat“ (27; vgl. 29 u. ö.); vgl. auch R. Breitling, Paul de Lagarde und der großdeutsche Gedanke. Mit einem Geleitwort von G. v. Müller, Wien/Leipzig 1927; O. Conrad (s. Anm. 6) im Jahre 1928: „Denn in Lagarde lebt eine gewaltige Kraft, ein starker Geist, der uns erheben und antreiben kann! Es ist kein Zweifel, daß wir heute den Mann nötiger brauchen als jemals. Keiner von allen Denkern und Erziehern des deutschen Volkes hat die Idee des Ewigen in so enge Verbindung gebracht mit dem Deutschen, Nationalen … . Lagarde ist der beste Prophet deutschen Wesens, deutscher Religion und deutscher Bildung“ (Vorwort). Dass U. v. Wilamowitz-Moellendorf in der 4. Aufl. seiner gesammelten Aufsätze (Berlin 1926) seine Gedenkrede auf Lagarde nicht mehr aufnahm (s. Anm. 1) – wie in der 1.–3. Auflage – mag auch ein

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neue Zeit zu sprechen. Das „Manko“, ihn nicht rasse-politisch auswerten zu können, wird dabei geradezu peinlich [37] entschuldigend umschrieben.¹⁰⁸ Gleichwohl war Lagarde Stichwortgeber für Leitgedanken im „Dritten Reich“,¹⁰⁹ wurde aber noch während dieser zwölf Jahre zum „altmodische(n) Vorläufer“¹¹⁰ herabgestuft. Dies gilt freilich nicht so eindeutig für einige Theologen.

4 Drei Beispiele a) Heinz Erich Eisenhuth hat in „Die Idee der nationalen Kirche bei Paul de Lagarde“ (ZThK, N. F. 15, 1934, 145 – 166) auch Lagardes Sicht von Jesus, Evangelium, Gottessohn, Paulus, Luther der neuen Zeit unter nicht geringer Harmonisierung der ursprünglichen Gedanken und Ausführungen angepasst (158 ff.). So heißt es jetzt: „Im Tiefsten gibt L. eine Übereinstimmung zwischen dem Evangelium und Paulus zu“ (164); oder: „L.s ablehnendes Urteil über Luther und den Protestantismus“ ist „von einer tiefen Zustimmung her erfolgt“, denn „dieser Kampf muß von L.s Kirchenglauben positiv gesehen werden“ (165). Das führte selbst bei Lagarde-Anhängern im „Dritten Reich“ zur Kritik.¹¹¹ b) Bestimmt von der „Frage nach dem Verhältnis von Deutschtum und Christentum“, für die „Lagarde nicht bloß im landläufigen, sondern auch in einem höheren Sinn aktuell“ ist (Vorwort), zeichnet Lothar Schmid 1935 in Sympathie zugetan „Paul de Lagardes Kritik an Kirche, Theologie und Christentum“¹¹² sorgfältig, doch ohne jede kritische Einwendungen nach. „L.s Forderung einer Deutschland eigentümlichen [38] Religion“¹¹³ im Werk des Göttingers zu verZeichen der Gegensteuerung gegen die politische Verehrung Lagardes in den zwanziger Jahren sein.  Vgl. berichtend R. Hanhart (s. Anm. 1), 295 Anm. 94; und ganz im Geiste der Zeit E. Botzenhart, Paul de Lagarde, in: K. v. Raumer / Th. Schieder (Hgg.), Stufen und Wandlungen der deutschen Einheit, Stuttgart/Berlin 1943, 420 – 431.  Neben dem antisemitischen Gedankengut z. B. auch für den Begriff „Vorsehung“ (Lagarde, Dtsch.Schr., 282 u. ö.).  Kennzeichnung und Sachgehalt I. U. Paul, Lagarde (s. Anm. 1), 90.  Vgl. L. Schmid (s. Anm. 112), 102 Anm. 43.  L. Schmid, Paul de Lagardes Kritik an Kirche, Theologie und Christentum, Tübinger Studien zur systematischen Theologie, Heft 4, Stuttgart 1935. – Unter weithin gleicher Fragestellung wie H. E. Eisenhuth und L. Schmid hat nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Bezug auf diese H. Karpp, Lagardes Kritik an Kirche und Theologie, ZThK 49, 1952, 367– 385, behandelt – deskriptiv und ohne nennenswerte kritische Hinterfragung der Problematik, um dann festzuhalten: „In unserer Zeit vermag Lagarde noch einen wichtigen Dienst zu tun“, u. a. hat er „in besonderer Schärfe die Aufgabe gestellt, den Historismus zu überwinden ohne Verleugnung der Geschichte“ (385).  L. Schmid (siehe Anm. 112), 172 (dort Sperrdruck).

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deutlichen, ist das erklärte Ziel des Verfassers dieser Untersuchung. Denn „auch die deutsche Nation ist eine Idee Gottes und darin besteht für den Deutschen die religiöse Forderung der Wiedergeburt in sein Wesen hinein“ (172).¹¹⁴ c) Weitaus kritischer ist der Aufsatz von Karl Fischer „Das Paulus- und Lutherbild Lagardes“ (ZZ 11, 1933, 78 – 93). Auch bei ihm geht es darum, dass „Lagarde … heute gegenwärtiger“ ist, „als er es bei seinen Lebzeiten war“ (78). So deutlich der Verfasser Fehlurteile Lagardes aufdeckt und bespricht, kommt er zum Ergebnis, dass diese dem „positiven Wollen“ Lagardes unterzuordnen seien (90). Denn dieser habe „durch seine kraftvolle Kritik dem Glauben wieder den Weg gewiesen, sich auf eigene Füße zu stellen“ (92). Gleichwohl weiß er abschließend festzustellen: „Die deutsche Kirche, die Lagarde erträumte (und viele nach ihm), wäre keine Kirche geworden, die das deutsche Volk unter Gebot und Verheißung Gottes hätte stellen können“ (93). Dieser Aufsatz spiegelt die Ambivalenz des Denkens in jener Zeit auch P. de Lagarde gegenüber. – Noch mehr: Dieser Aufsatz war sicher nicht der einzige Auslöser, aber die Ambivalenz in ihrer damaligen Vielstimmigkeit, die zu oft die Eindeutigkeit in Kirche, Glaube, Theologie vermissen ließ, führte dazu, dass Karl Barth, Eduard Thurneysen und Georg Merz mit diesem 11. Band die Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ beendeten.¹¹⁵ Selbstverständlich wäre für den weiteren Verlauf hier auf Walter Grundmann einzugehen, was jedoch im Rahmen der Vorlesungsreihe der Sozietät der Theologischen Fakultät Jena an anderer Stelle erfolgt.¹¹⁶ Abschließend dieses: Nicht nur unser Handeln in seinen Konsequenzen ist es, sondern auch unser Denken und Schreiben – persönlich ungewollt – können

 So L. Schmid (siehe Anm. 112) in Anlehnung an Lagarde: Gotteskindschaft und Nation greifen ineinander.  Vgl. ebd. „Schluß“, 536 – 554.  Gerade Lagardes und Grundmanns Sicht der „Gotteskindschaft“ sind zu vergleichen. Auch ist H. E. Eisenhuths mögliche Einwirkung auf Grundmann zu erwägen, ja wahrscheinlich zu machen (vgl. unten „Anlage“. Weiter ist zu prüfen, ob L. Schmid und Grundmann in ihrer Tübinger Zeit Berührung hatten, zumal Schmids Ausführungen und später Grundmanns Arbeiten mehrfach gleiches, wohl letztlich auf Lagarde zurückgehendes Gedankengut bieten; zu Grundmann s. u. a. O. Merk., „Viele waren Neutestamentler“. Zur Lage neutestamentlicher Wissenschaft 1933 – 1945 und ihrem zeitlichen Umfeld, ThLZ 130, 2005, 106 – 120 (= in diesem Band S. 69 – 88); zur Aktualität der notwendigen Auseinandersetzung mit W. Grundmanns Thesen vgl. auch den Osteuropahistoriker G. Schramm, Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte. Ein Vergleich, Göttingen 2004, 102 Anm. 14; zur Thüringer kirchlichen Lage nach 1945 vgl. auch Th. A. Seidel, Im Übergang der Diktaturen. Eine Untersuchung zur kirchlichen Neuordnung in Thüringen 1945 – 1951, Stuttgart 2003 (dazu die wichtige Besprechung von C. Vollnhals, Thüringer Sonderweg, FAZ, 18.11. 2002 [= Nr. 270], 7).

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Spätere missbrauchen und möglicherweise dadurch ins Verderben stürzen. Fehldeutungen und Ideologien sind leider keine Grenzen gesetzt.¹¹⁷ [39] Auf P. de Lagarde als warnendes Beispiel zu verweisen, genügt dabei nicht. Unser eigenes Gefährdetsein und unser je eigenes Wagnis auch im subjektiven Irren bleiben. – Der hermeneutische Diskurs ist ein offener und uns allen in kritischem Auf-der-Hut-Sein aufgetragen.

 Als ein bedeutsames und nachahmenswertes Beispiel kritischen Aufmerkens sind Ausstellung und (leider ungedruckt) Katalog „Zwischen Heil und Unheil. Lehrer an der Jenaer Theologischen Fakultät in der jüngeren Vergangenheit“ (Wintersemester 2004/05) zu sehen (bearb. v. Dipl.theol. Dorothea Knetsch, stud. theol. Verona Lasch und stud. theol. Sebastian Pötschke unter Mitwirkung des gesamten Professoriums der Fakultät und unter maßgeblicher wissenschaftlicher Unterstützung von Prof. Dr. Volker Leppin und Dr. Joachim Bauer [Univ. Archiv Jena]).

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Anlage Das nachfolgend abgedruckte erschreckende Dokument ist dem Protokoll des Fakultätentages vom 25. April 1938 als „Anlage 2“ beigefügt und dort ausgewiesen (zitiert nach dem im Archiv der Theologischen Fakultät der Universität ErlangenNürnberg befindlichen Exemplar). Diese Denkschrift soll laut Angabe im Protokoll vom 23. Juli 1938 mehrheitlich in der Jenaer Theologischen Fakultät beschlossen worden sein. Denkschrift zu den Fragen der Studienreform und Fakultätsreform der theologischen Fakultäten. vorgelegt von Lic. Eisenhuth. I. Grundsätzliche Vorbemerkungen. 1. Für die Reform der theologischen Fakultäten und des theologischen Studiums gelten die Grundeinsichten des nationalsozialistischen Wissenschaftsverständnisses. Im Rahmen der die gesamte deutsche Volksordnung und damit auch die deutsche Hochschule tragenden nationalsozialistischen Weltanschauung hat die Theologie eine mit den Mitteln der modernen Wissenschaft arbeitende, volksbezogene und lebensfördernde Wissenschaft zu sein. 2. Die theologische Wissenschaft hat ihren Platz an der deutschen Hochschule als Religionswissenschaft, da das religiöse Leben ein entscheidender Faktor innerhalb der Geschichte und des Lebens unseres deutschen Volkes und der Völker überhaupt ist. 3. Eine Entfernung der theologischen Wissenschaft von den deutschen Hochschulen würde zur Folge haben, daß ein wesentlicher Zweig wissenschaftlichen Arbeitens, auf den der Historiker wie der Philosoph, der Jurist wie der Rasseforscher stößt, unkontrollierbar in die Hände freier kirchlicher Institute fallen und in konfessioneller Gebundenheit zu einer okkulten „Wissenschaft“ werden würde. Die unmittelbare Folge würde eine Verengung und Verdumpfung des deutschen religiösen Lebens sein. Weiter würde dadurch verursacht werden, daß die theologische Wissenschaft immer stärker vom Ausland her geführt würde, während bisher die deutsche Theologie ein Stück deutscher Weltgeltung bedeutete. 4. Die Aufgabe ist also eine durchgreifende Reform der theologischen Fakultäten und des theologischen Studiums. Sie allein entspricht aus der konstruktiven und nicht negativen Art, mit der der Nationalsozialismus die deutschen Lebensprobleme löst. Eine solche Reform hat auszugehen von der Tatsache, daß wir deut-

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sche Menschen, des Gesetzes der Rasse und der Art einsichtig geworden, auf allen Gebieten des Lebens und Wissens die Besinnung auf unsere Art und unser inneres Gesetz vollziehen. Die theologische Wissenschaft hat zu bearbeiten [40] und zu überprüfen, was uns durch die Jahrtausende als religiöse Tradition überkommen ist, uns geformt hat und sich an uns als lebensmächtig erwiesen hat. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht also Wesen und Erscheinungsform deutscher Frömmigkeit, deren Wurzeln in der germanischen Religiösen Vorgeschichte liegen und deren Entfaltung in der Begegnung mit dem Evangelium sich vollzieht.Von diesem Mittelpunkt aus hat sie zu überschauen, was in der Welt der Religionen einander begegnend, anziehend und abstoßend, lebendig ist. II. Der Aufbau der theologischen Fakultäten. Aus den grundsätzlichen Vorbemerkungen ergibt sich folgender Aufbau der theologischen Fakultäten: 1. Kunde des Evangeliums und der Anfänge des Christentums. Es ist die Aufgabe, die Erscheinung Jesu Christi und seine Botschaft von Gottes Reich darzustellen, sowie die Anfänge des Christentums darzulegen in ständigem Zusammenhang mit der religiösen und völkischen Umwelt. In den Vorlesungen sind zu behandeln: Die synoptischen Evangelien, die johanneische Literatur, Paulus (eine Gesamtvorlesung anstelle der Einzelauslegungen der paulinischen Briefe), Theologie, Literaturgeschichte des Neuen Testaments (NT), Geschichte Jesu und des Urchristentums, religiöse Zeitgeschichte des NT (Hellenismus und Spätjudentum, letzteres von Alexander dem Großen bis Hadrian mit Berücksichtigung der Entwicklung bis zum Talmud).

2. Allgemeine Religionsgeschichte. Die Religionsgeschichte hat es mit der Wirklichkeit der Religion innerhalb des Lebens der Völker zu tun. Sie versteht diese Wirklichkeit als Geschichte zwischen Gott und Völkern, erkennt ihre artbedingte Gestaltung und ihr Angelegtsein auf das Reich Gottes, wie es Jesus Christus erschließt. Ihre Darstellung gliedert sich in zwei Hauptteile: a) Die indogermanischen Religionen und die Religionen des fernen Ostens. Besonderer Wert ist auf die Darstellung des arischen Religionselements innerhalb der Gesamtgeschichte der Religionen zu legen. Es ist vor allem seine Ausstrahlung in die von verschiedenen Rassen und Völkern getragenen nicht indogermanischen Religionen zu zeigen. Zum Gesamtverständnis sind die primitiven Religionen heranzuziehen. Die fernöstliche religiöse Welt (Indien, China, Japan) bedarf einer ausführlichen Erörterung, da die religiöse und politische Weltlage das erfordert.

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In Vorlesungen sind Geschichte und Typen der Weltreligionen zu behandeln. b) Die Religionsgeschichte des vorderen Orients. Ihre Aufgabe ist die Erforschung der Religionen des alten Orients unter besonderer Berücksichtigung des semitischen Elementes. Der bisherige alttestamentliche Lehrstuhl wird zu einem „Lehrstuhl der Religionsgeschichte des vorderen Orients“, die Einzelauslegung alttestamentlicher Bücher fällt zugunsten umfassender religionsgeschichtlicher Vorlesungen weg. Für den augenblicklichen Unterrichtsplan würden etwa die Vorlesungen über alttestamentliche israelitische Religionsgeschichte und Geschichte des Volkes Israel in Frage kommen. Es bleibt unbenommen, in Spezialvorlesungen Einzelfragen zu behandeln (israelitisches Gesetz, Prophetismus, religiöse Dichtung). In Vorlesungen ist zu behandeln: Die Religionen Ägyptens, Babylon-Assyriens, Persiens, Syriens, Israels und die Entstehung und Geschichte des Judentums. 3. Geschichte des deutschen Glaubens und allgemeine Kirchenkunde. Die Teilung der Geschichte in Profan und Kirchengeschichte oder politische und Geistesgeschichte ist sachlich ungerechtfertigt, weil sie der ganzheitlichen Lebensauffassung widerspricht. Die gesamte Geschichte ist neu zu durchforschen und zu lehren als Lebensgeschichte der Völker auf der Grundlage von Raum und Rasse. Jede Teilbetrachtung faßt also das Glied eines Ganzen ins Auge und muß sich des Ganzen stets bewußt bleiben. [41] Während die allgemeine Religionskunde die Geschichte des Glaubens der Völker vor der Begegnung mit dem Evangelium als Geschichte Gottes mit den Völkern gemäß ihrer Artung zu behandeln hat, hat die Geschichte des Christentums die inneren Kräfte des Reiches Gottes, wie sie in Jesus Christus bezeugt sind, in der Lebensgeschichte der Völker im Rahmen der natürlichen Gottesordnung darzustellen. Dabei hat im Mittelpunkt die Geschichte der deutschen Frömmigkeit zu stehen. In den Vorlesungen ist zu behandeln: Die germanische religiöse Geschichte und die Gestaltung der deutschen Frömmigkeit seit der Begegnung mit dem Evangelium, ferner die Ausprägung des christlichen Glaubens durch das kirchliche Leben in der alten Welt, das die Voraussetzung für das Verständnis der deutschen Glaubenskämpfe ist, sowie das religiöse Leben der Völker des Abendlandes im Zusammenhang mit der deutschen Glaubensgeschichte. Das bedingt das Aufgeben der bisherigen mechanischen Einteilung zugunsten einer sachlich bestimmten Aufgliederung.

4. Glaubenslehre. Die Glaubenslehre hat zur Aufgabe die grundsätzliche Besinnung auf die wirk-

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samen Kräfte des Evangeliums für das fromme deutsche Leben innerhalb der völkischen Schöpfungsordnung. In den Vorlesungen sind zu behandeln: Ursprung und Wesen der Religion; Wesen, Wahrheit und Ausprägung des Christentums; Gestaltungskräfte christlichen Glaubens für das deutsche Leben; Christentum und deutsches Denken, Fragen der religiösen Charakterkunde und Religionspsychologie.

5. Kirchliche Gegenwartskunde und Gemeindeführung. Diese hat zum Gegenstand die konkrete Erscheinung des gegenwärtigen kirchlichen Lebens. Sie stellt die Grundsätze dar, nach denen es aufgrund des Wesens und der Geschichte christlichen Glaubens fortzubilden ist in den verschiedenen Bereichen: Verkündigung, Kultus und Ordnung. Die Arbeit ist dabei landschaftlich der Lage der Universität entsprechend auszurichten. In den Vorlesungen ist zu behandeln: Religiöse Volkskunde, religiöses Brauchtum, Gottesdienstgestaltung, Predigt, religiöse Jugendunterweisung, Seelsorge, Fragen des Aufbaus von Gemeinde und Kirche, die volksdeutschen Auslandskirchen. Die gesamte Vorlesungstätigkeit ist wie bisher durch Übungen und Seminare zu unterbauen. III. Der Gang des Studiums und der Vorbildung. 1. Für das theologische Studium wird für jeden deutschen Studenten zu fordernde Vertrautheit mit den politischen und weltanschaulichen Grundlagen des Nationalsozialismus verlangt und vorausgesetzt. Der Theologiestudent hat die volle politische Erziehung und Bildung zu erfahren. Als sprachliche Voraussetzung wird die Kenntnis des Lateinischen und Griechischen gefordert, hingegen kann die Kenntnis des Hebräischen fakultativ bleiben. Für das Alte Testament (AT) genügt das Griechische deshalb, weil es zur Zeit des NT und der alten Kirche in seiner griechischen Gestalt, deren Text zudem älter ist als der heutige hebräische, gelesen und zitiert wurde. Während des Studiums ist in jedem Fach ein Hauptseminar, und soweit notwendig, ein Proseminar zu besuchen. Zur Erlernung der Methodik wissenschaftlicher Arbeit ist in jedem Fach eine Seminararbeit anzufertigen, über die eine Bescheinigung ausgestellt wird.

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2. Es ist zu erwägen, ob für die Zulassung zum ersten Examen der Nachweis einer kurzen praktischen Betätigung in der Arbeit einer christlichen Anstalt und bei einem Gemeindepfarrer, etwa des Heimatortes, verlangt werden soll. 3. Nach der ersten Prüfung gliedert sich der Weg in das deutsche Pfarramt in folgender Weise: [42] a) ein kurzer Kameradschaftskurs, der den Weg in die unmittelbare praktische Arbeit vorbereitet, b) Lehrvikariat bei einem tüchtigen und zuverlässigen deutschen Pfarrer, c) ein vierteljähriger Kursus im Predigerseminar, nach dessen Beendigung ein Zeugnis ausgestellt wird. Nach seinem Ausfall geht der Weg entweder in ein zweites Lehrvikariat mit nochmaligem Kursus im Predigerseminar oder in das selbständige Vikariat. In beiden Fällen untersteht der Kandidat der Aufsicht des Direktors des Predigerseminars, der die Kandidaten von Zeit zu Zeit zu Kursen von etwa einer Woche zusammenfaßt. Nach anderthalbjähriger Ausbildungszeit wird die zweite Prüfung abgelegt, die die Zulassung zum Pfarramt ausspricht. IV. Die theologischen Prüfungen. 1. Die erste, das Studium abschließende Prüfung trägt rein wissenschaftlichen Charakter (wissenschaftliche Hausarbeit, Klausuren und mündliche Prüfung). Prüfungsgebiete sind: a) Kunde des Evangeliums und der Anfänge des Christentums. Verlangt wird eine Übersetzung aus dem griechischen NT, Neutestamentliche Theologie und Literaturgeschichte, Kenntnis der Geschichte des Urchristentums. b) Allgemeine Religionsgeschichte. Kenntnis der Grundlagen und der Geschichte der Weltreligionen, des AT und des Spätjudentums. c) Geschichte des deutschen Glaubens und allgemeine Kirchenkunde. Germanische Religionsgeschichte, Geschichte der deutschen Frömmigkeit und Fragen der allgemeinen Kirchenkunde. d) Glaubenslehre. Fragen des christlichen Glaubens im Zusammenhang mit dem deutschen Leben, Kenntnis der Hauptprobleme der Philosophie.

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e) Kirchliche Gegenwartskunde und Gemeindeführung. Entwurf einer Gottesdienstordnung mit einer ausgeführten Predigt, Fragen der Gemeindeführung, Geschichte des Kultus. 2. Die zweite theologische Prüfung ist Aufgabe der Kirchen. Sie hat nicht eine Wiederholung der wissenschaftlichen Prüfung zu sein, sondern die praktische Eignung des Kandidaten festzustellen. Prüfungsgebiete wären: a) Fähigkeit theologischen Denkens (nachzuweisen durch eine Hausarbeit oder Klausur). b) Kenntnis des Neuen Testaments (nachzuweisen in der mündlichen Prüfung). c) eine praktische Aufgabe der Gemeindearbeit (etwa Entwurf einer Beerdigungs- oder Traurede); d) der Nachweis über die homiletische und katechetische Befähigung ist während der Vikariatszeit in der Gemeinde zu erbringen. Diese Vorschläge haben das Ziel, dem deutschen Volke Menschen zu geben, die in voller nationalsozialistischer Zuverlässigkeit und nationalpolitischer Verantwortung, mit innerer Frommheit und sachlichem Wissen das religiöse Leben des deutschen Volkes zu tragen und zu gestalten in der Lage sind, damit das deutsche Volk in seinem religiösen Leben zu Gottgebundenheit und Klarheit über sich selbst gelange. Sie wollen aus der Enge konfessioneller Gebundenheit herausführen und zu einer weiten und tiefen deutschen Frömmigkeit den Weg frei machen.

Anmerkungen zu Gablers Altdorfer Antrittsrede* Otto Merk Dem Wunsch der Herausgeber dieses Bandes, einige Anmerkungen zu der von mir im Zusammenhang meiner Habilitationsschrift übersetzten und oben nachgedruckten Altdorfer Antrittsrede von Johann Philipp Gabler hinzuzufügen, komme ich einerseits sehr gerne nach, andererseits aber auch mit einer gewissen Zurückhaltung und nicht ohne Bedenken, da ich auf diese berühmte Rede in nunmehr dreißig Jahren mehrfach und teilweise ausführlich einzugehen Anlass hatte.¹ Eine Berechtigung kann nur darin bestehen, dass nicht allein jubiläumsbedingt Gablers Antrittsrede in den letzten Jahrzehnten vielfach biblisch-theologische Diskussionen auslöste.² Nachstehendes will darum in Auswahl einige neuere

* Für die freundliche technische Fertigung und Aufbereitung des Manuskriptes im Computer danke ich Herrn Kollegen Prof. Dr. Christfried Böttrich sehr herzlich.  Neben O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, MThSt 9, 1972; ders., Art. Biblische Theologie. II. Neues Testament, TRE 6, 1980, 455 – 477; ders., Art. Gabler, Johann Philipp (1753 – 1826), TRE 12, 1984, 1– 3, sind weitere Beiträge verzeichnet in: ders.‚ Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag, hg. v. R. Gebauer / M. Karrer / M. Meiser, BZNW 95, 1998, Bibliographie 1965 – 1998; im übrigen vgl. ebd. 21 ff.29 ff.99 ff.  In sehr knapper Auswahl nenne ich aus der neueren Forschung folgende Untersuchungen und Sammlungen von Aufsätzen, ohne diese – schon aus Platzgründen – im vorliegenden Zusammenhang sämtlich auswerten und besprechen zu können. Angaben aus dieser Fußnote werden im weiteren zumeist mit Verfasser/in und Kurztitel angeführt: R. Albertz, Religionsgeschichte Israels statt Theologie des Alten Testaments! Plädoyer für eine forschungsgeschichtliche Neuorientierung, in: Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments?, hg. v. B. Janowski / N. Lohfink, JBTh 10, 1995, 3 – 24; I. Baldermann u. a. (Hg), Einheit und Vielfalt Biblischer Theologie. Aufsatzsammlung, JBTh 1, 1986; W. Baird‚ History of the New Testament Research. I: From Deism to Tübingen, 1992, 184– 187; P. Balla, Challenges to New Testament Theology. An Attempt to Justify the Enterprise, WUNT 2/95, 1997; H. Boers, Art. Gabler, Johann Philipp (1753 – 1826), in: Dictionary of Biblical Interpretation I: A–J, hg. v. J. H. Hayes, 1999, 425 – 426; ders., What is New Testament Theology? The Rise of Criticism and the Problem of a Theology of the New Testament, 1979, 23 – 38; D. Böhler, Der Kanon als hermeneutische Vorgabe. Über aktuelle Methodendiskussionen in der Bibelwissenschaft, ThPh 77, 2002, 161– 178; Chr. Dohmen / Th. Söding, (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen biblischer Theologie, UTB 1893, 1995; H.-J. Dohmeier, Die Grundzüge der Theologie Johann Philipp Gablers, Diss. Münster (Fotodruck); K. Haacker, Biblische Theologie und historische Kritik, ThBeitr 8, 1977, 223 – 226; G. Hasel‚ New Testament Theology: Basic Issues in the Current Debate‚ 1978; J. H. Hayes / F. C. Prussner, Old Testament Theology. Its History and Development, 1985; F. L. Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie,

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Beiträge einbeziehen [44] und insgesamt nur wenige Linien der Ausführungen Gablers erneut nachzeichnen. Dabei ist vorauszuschicken, dass für die Erforschung dieser Rede bereits 1958 Werner Georg Kümmel deren problemgeschichtliche Bedeutung für das Werden einer eigenständigen ‚Biblischen Theo-

QD 185, 2001; H. Hübner / B. Jaspert, (Hg.), Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart, BThSt 38, 1999; B. Janowski, Der eine Gott und die beiden Testamente. Grundfragen einer biblischen Theologie, ZThK 95, 1998, 1– 36; R. Knierim, The Task of Old Testament Theology. Substance, Method and Cases, 1995, 495 – 556; K. Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testaments in Judentum und Christentum, in: Altes Testament und christlicher Glaube, hg. v. B. Janowski / M. Welker, JBTh 6, 1991, 215 – 242; N. Lohfink, Fächerpoker und Theologie. Herausgeber-Nachgedanken zu der Diskussion, in: Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments?, hg. v. B. Janowski / N. Lohfink, JBTh 10, 1995, 207– 230; F. Mildenberger, Biblische Theologie versus Dogmatik?, in: Altes Testament und christlicher Glaube, hg. v. B. Janowski / M. Welker, JBTh 6, 1991, 269 – 281; R. Morgan, Gabler’s Bicentenary, ET 98, 1986/87, 164– 168; R. Morgan / J. Barton, Biblical Interpretation, 21989 (bes. 167– 202); B. C. Ollenburger, Biblical Theology: Situating the Discipline‚ in: J. T. Butler / E. W. Conrad / B. C. Ollenburger (Hg), Understanding the Word. Essays in Honor of B. W. Anderson, JSOT.S 37, 1985, 37– 62; H. Räisänen, Beyond New Testament Theology. A story and a programme, 1990; ders., Neutestamentliche Theologie? Eine religionsgeschichtliche Alternative, SBS 186, 2000; H. Graf von Reventlow, Epochen der Bibelauslegung. IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, 2001 (bes. 210 – 225); ders., Hauptprobleme der Biblischen Theologie im 20. Jarhundert, EdF 203, 1983; D. Ritschl, „Wahre“, „reine“ oder „neue“ Biblische Theologie? Einige Anfragen zur neueren Diskussion um „Biblische Theologie“, in: Einheit und Vielfalt Biblischer Theologie, hg. v. I. Baldermann u. a., JBTh 1, 1986, 135 – 150; M. Saebø, Johann Philipp Gablers Bedeutung für die Biblische Theologie. Zum 200-jährigen Jubiläum seiner Antrittsrede vom 30. März 1787, ZAW 99, 1987, 1– 16; ders., Johann Philipp Gabler at the End of the Eighteenth Century, in: ders., On the Way to Canon. Creative Tradition History in Old Testament, JSOT.S 191, 1998, 327– 335; J. Sandys-Wunsch / L. Eldredge, J. P. Gabler and the Distinction Between Biblical and Dogmatic Theology: Translation, Commentary, and Discussion of his Originality, SJTh 33, 1980, 133 – 158; L. Schmidt, Biblische Theologie und alttestamentliche Hermeneutik, in: Von Gott reden. Beiträge zur Theologie und Exegese des Alten Testaments. FS für S. Wagner, hg. v. D. Vieweger / E.-J. Waschke, 1995, 15 – 29; W. H. Schmidt, „Theologie des Alten Testaments“ vor und nach Gerhard Von Rad (urspr. 1972), in: ders., Vielfalt und Einheit alttestamentlichen Glaubens. Psalmen und Weisheit, Theologische Anthropologie und Jeremia, Theologie des Alten Testaments, 1995, 155 – 179; H.-C. Schmitt, Die Einheit der Schrift und die Mitte des Alten Testaments (urspr. 1994), in: ders., Theologie in Prophetie und Pentateuch. Gesammelte Schriften, hg. v. U. Schorn / M. Büttner, BZAW 310, 2001, 326 – 345; ders., Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments?, ebd., 346 – 366; W. Sparn, Art. Gabler, Johann Philipp, RGG4 3, 2000, 446 – 447; L. T. Stuckenbruck, Johann Philipp Gabler and the Delineation of Biblical Theology, SJTh 52, 1999, 139 – 157; P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments I/II, 1992/1999 (bes. I, 1– 39; II, 322– 349); G. H. Wittenberg, Johann Philipp Gabler and the Consequences: In search of a new paradigm for Old Testament theology, Old Testament Essays 8, 1995, 103 – 128; E. Zenger, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, 1991 (bes. 28 – 38); W. Zimmerli, Art. Biblische Theologie. I. Altes Testament, TRE 6, 1930, 426 – 455.

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Anmerkungen zu Gablers Altdorfer Antrittsrede

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logie‘ aufdeckte³ und 1962 Rudolf Smend „Johann Philipp Gablers Begründung der Biblischen Theologie“ in einem Aufsatz bedachte. Mit Recht hat Smend vor vierzig Jahren „aus heutiger Perspektive an Gablers Programm charakteristisch“ hervorgehoben:⁴ 1. „Das Fehlen der geschichtlichen Dimension“; 2. „man könne zuerst objektiv historisch darstellen und hinterher darüber ‚philosophieren‘“; 3. „Gabler unterscheidet … Auslegung und Erklärung“, und dies „betrifft einen speziellen Aspekt des Verhältnisses von Theologie und Geschichte“; 4. nach Gabler ist „die Biblische Theologie von der Einleitungswissenschaft abhängig“. „Daraus mindestens ebensosehr wie aus den genannten allgemeinen Voraussetzungen erklärt sich, daß die Biblische Theologie erst nach Gabler ‚geschichtlich‘ werden konnte, und dadurch ist Gabler, wenn er dessen bedürfen sollte, für viele Mängel seines Programms entschuldigt. Man kann daran aber auch ermessen, welch weiter Weg der von ihm inaugurierten Disziplin noch bevorstand.“ – Das Gespräch mit dem Altdorfer und später Jenaer Gelehrten war neu eröffnet, Analyse und Aufarbeitung von Gablers Werk standen an.

1. Zur Übersetzung Nach Kümmels Teilübertragung⁵ und meiner vollständigen, stark wörtlichen Übersetzung⁶ und nach dem in Altdorfer Bezügen der Rede verkürzten Wiederabdruck dieser Übersetzung bei G. Strecker⁷ erfolgte eine ebenfalls vollständige, insgesamt etwas gefälligere englische Übersetzung durch J. Sandys-Wunsch und [45] L. Eldredge.⁸ Übersetzungsunterschiede gibt es nur wenige. Sandys-Wunsch / Eldredge notieren auf Seite 144 Anm. 1 eine Übersetzungsvariante, die ihrer Gewichtung des Theologen G. T. Zachariä in Gablers Rede dient (s. dazu unten unter 2 A). Weitere kleine Abweichungen nennt M. Saebø, Gablers Bedeutung,⁹ Seite 6 Anm. 15.18; Seite 8 Anm. 24. – Eine zu diskutierende Akzentverschiebung ist darin gegeben, dass die Übersetzung „Est vero theologia biblica e genere historico“  W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, (1958) 2 1970, 115 ff.  Zitiert aus dem Nachdruck: R. Smend, Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien 3, BEvTh 109, 1991, 104– 116, 114 ff.  W. G. Kümmel, Neues Testament (s. Anm. 3), 115 ff.  In: O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments (1972, s. Anm. 1), 273 – 284 (doch dort ohne die Anrede an das akademische Publikum).  G. Strecker‚ Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF 317, 1975, 32– 44.  J. Sandys-Wunsch / L. Eldredge, Gabler and the Distinction (s. Anm. 2), 134– 144; doch vgl. ebd. 144 Anm. 2.  M. Saebø, Gablers Bedeutung (s. Anm. 2).

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1. Zur Übersetzung

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(Oratio 184) bei Kümmel „Die biblische Theologie trägt historischen Charakter“, bei Merk „besitzt historischen Charakter“ lautet und entsprechend die englische Übersetzung Kümmels „a historical character“ bietet,¹⁰ der sich die angelsächsische Forschung vielfach angeschlossen hat.¹¹ Dagegen übersetzen SandysWunsch / Eldredge „of historical origin“, der ebenfalls häufig in der englischamerikanischen Forschung gefolgt wird.¹² L. T. Stuckenbruck problematisiert ausdrücklich Kümmels Übersetzung als in falsche Richtung führend, da sie einen von Gabler nicht gedeckten und intendierten Begriff des ‚Historischen‘ freisetze.¹³ Damit gewinnt die Übersetzungsfrage hermeneutische Relevanz: Dem wie immer von Gabler näher oder nicht näher bestimmten ‚Historischen‘ kommt eine mehr unvermeidliche, letztlich nicht maßgebende (Durchgangs‐)Stufe hin zu einer ‚Dogmatischen Theologie‘ zu.¹⁴ Auch wenn Stuckenbruck eine Eruierung ‚historischer‘ Sachverhalte bei Gabler nicht bestreitet, sieht er die Gefahr, dass einer solchen normativer Rang mit dem Ziel einer eigenständigen (historisch orientierten) Disziplin ‚Theologie des Neuen Testaments‘ zuerkannt werde.¹⁵ In einem zwar anderen, aber doch vergleichbaren Zusammenhang bringt Th. Söding die Problematik auf den Punkt: Es „könnte sich der Eindruck aufdrängen, die Exegese sei nur die Hilfswissenschaft einer im wesentlichen dogmatisch anzulegenden und … zu verantwortenden Biblischen Theologie“.¹⁶ [46] Die Übersetzung „Die biblische Theologie besitzt historischen Charakter“, die als die sprachlich genauere anzusehen ist,¹⁷ hebt das die „wahre Theologie“ Kennzeichnende in der Antrittsrede hervor, qualifiziert diese nicht als Durchgangsstufe, sondern charakterisiert das ihr Eigene im dauernden Gegenüber zur Dogmatik, wie Gabler in weiteren Jahren den Sachgehalt und Sachverhalt auch bei leicht sich wandelnder Begrifflichkeit in zahlreichen Besprechungen und

 W. G. Kümmel, The New Testament: The History of Investigation of its Problems, 1973, 98.  Etwa G. Hasel (s. Anm. 2), 22; R. Morgan, Gabler’s Bicentenary (s. Anm. 2), 164.  Vgl. etwa W. Baird (s. Anm. 2), 187ff; P. Balla, Challenges (s. Anm. 2), 7 f.  L. T. Stuckenbruck, J. P. Gabler (s. Anm. 2), 142 f.  L. T. Stuckenbruck, J. P. Gabler (s. Anm. 2), 153; vgl. auch J. Sandys-Wunsch / L. Eldredge, Gabler and the Distinction (s. Anm. 2), 147: Für Gabler gelte: „for him what is historical is secondary to what is true; however much it may accompany and even transmit the truth, the historical remains the rind on the orange and not the fruit itself… . History on its own has no significance for biblical theology.“  L. T. Stuckenbruck, J. P. Gabler (s. Anm. 2), 148 f.152 f.  Th. Söding, Probleme und Chancen. Biblische Theologie aus neutestamentlicher Sicht, in: Chr. Dohmen / Th. Söding, Eine Bibel – zwei Testamente (s. Anm. 2), 162.  Vgl. auch K. E. Georges / H. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Wörterbuch. I: A–H, 8 1913, 1921– 1923.

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Anmerkungen zu Gablers Altdorfer Antrittsrede

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Randbemerkungen gegenüber Werken seines Altdorfer Kollegen Georg Lorenz Bauer bestätigt.¹⁸ Darum greift auch quellenmäßig die These von N. Lohfink zu kurz: „Er [sc. Gabler] hat zwar seine ‚Biblische Theologie‘ der ‚Dogmatischen Theologie‘ als eine ‚geschichtliche‘ Wissenschaft gegenübergestellt (sie sei ‚e genere historico‘), aber bei näherem Zusehen zeigt sich: Er hat damit kaum mehr als die über Jahrhunderte verteilte Mehrheit der wenigen damals angenommenen biblischen Autoren gemeint … . Er wollte die vorhandenen biblischen Texte lesend auswerten (‚wahre biblische Theologie‘) und diese, obwohl unter sich verschieden und aus verschiedenen Zeiten stammend (und deshalb die Bezeichnung ‚historisch‘) dann in ihren wesentlichen Aussagen abstrahierend zusammenschauen (‚reine biblische Theologie‘), so wie sein Zeitgenosse Tiedemann es nach seiner Meinung mit Erfolg für die stoische Philosophie getan hatte. Diesem Programm lugt natürlich die rationalistische Naivität aus allen Knopflöchern.“¹⁹ So vereinfacht ist Gabler nicht gerecht zu werden, wie auch die neueren einschlägigen Forschungen selbst in den Kontroversen der Beurteilung zeigen.²⁰ [47] In meiner Übersetzung habe ich das zur Zeit von Gablers Oratio übliche „A.O.O.H.“ stehen gelassen. Die Auflösung lautet: „Auditores omnium ordinum honorabiles“.²¹

 Nachweise bei O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments (1972, s. Anm. 1), 143 – 203 passim.  N. Lohfink, Fächerpoker und Theologie (s. Anm. 2), 207– 230, 217 (Zitat); vgl. auch ebd. 225 in der Diskussion um eine alttestamentliche Religionsgeschichte: „Mit diesem Konzept Biblischer Theologie hat Gabler zugleich gewonnen und ausgedient.“ „Die Rezipienten Gablers haben auch ihre Biblische Theologie bald nicht mehr systematisch verstanden, sondern sie als reine Religionsgeschichte durchgeführt.“ – N. Lohfinks Äußerungen gelten vornehmlich einer Auseinandersetzung mit dem Entwurf von R. Albertz, Religionsgeschichte Israels statt Theologie des Alten Testaments! (s. Anm. 2), 3 – 24, wobei Albertz festhält: „Die Trennung der Biblischen Theologie von der Dogmatik, die Gabler vollzogen hat, war damals verständlich, aber möglicherweise dennoch ein Fehler. Sie hängt mit einem Methodenproblem der Dogmatik zusammen, in der damals die biblische Tradition nicht angemessen zum Zuge kam … . Wäre die Dogmatik, ihrem reformatorischen Ansatz getreu, wirklich in ihrem Kern ‚Biblische Theologie‘, wäre eine exegetische Disziplin dieses Namens überflüssig“ (10 Anm. 36; vgl. ebd. 8 Anm. 26).  Vgl. die Anm. 2 angeführten Spezialarbeiten zu Gabler; zur älteren Forschung O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments (1972, s Anm. 1), 31 ff.; ders., TRE 12 (s. Anm. 1), 1 ff.; G. Strecker, Das Problem (s. Anm. 7), 1 f.3 ff.  Vgl. auch J. Sandys-Wunsch / L. Eldredge, Gabler and the Distinction (s. Anm. 2), 137 Anm. 1.

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2. Einige Grundfragen

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2. Einige Grundfragen A. Der Antrittsrede Gablers wird man in ihrer Bedeutung nur gerecht, wenn man sie im Kontext der weitgespannten Arbeit aus der Altdorfer wie Jenaer Zeit des Gelehrten sieht, wenn man seine Grundsatzentscheidungen und vorsichtig-vorläufigen Erwägungen, aber auch die verschlungenen Wege seiner weithin auf eine brauchbare Dogmatik ausgerichteten Bemühungen, sein vorwärts drängendes, auf das Ganze der Theologie ausgerichtetes Programm in den Grenzen und unter den Rahmenbedingungen seiner Zeit würdigt. Die Antrittsrede ist als methodische Untersuchung konzipiert (Oratio 193 f.), die selbstredend manche Fragestellungen vorangegangener und gleichzeitiger Forschung aufgreift. Das ist an sich bekannt und in der bisherigen Gablerforschung berücksichtigt. Auch dies ist festgehalten, dass Gabler nach der Gepflogenheit seiner Zeit ohne nähere Bezugnahme mehr allgemein Gedankengut seiner Epoche einbezieht und bei seinen Hörern Konnotationen zu diesem voraussetzt. Vermutungen ist darum Raum gegeben, zum Beispiel dieser, ob Gabler, da er JeanAlphonse Turretini (1671– 1737) besondere Bedeutung für sein eigenes Verständnis des Protestantismus beimisst,²² dessen hermeneutische Grundlegung in „De Sacrae Scripturae interpretandae tractatus bipartitus …“ 1728 (etwa 322 f.), aber auch J. J. Wettsteins Ausführungen in seiner berühmten Ausgabe des ‚Novum Testamentum‘, 1751/52 (etwa Bd. II, 874.878 u. ö.), herangezogen hat (wofür sprachliche und sachliche Berührungen sprechen könnten). Auch mag ihm die kurz vor seiner Antrittsrede erschienene Neuauflage „Anleitung zum Studium der populären Dogmatik, besonders für künftige Religionslehrer“ (Jena 21786) seines Lehrers J. J. Griesbach im Hinblick auf das Stichwort ‚Biblische Theologie‘ für eine Neubesinnung Anlass gewesen sein. Neben begründbaren, aber nicht eindeutig nachweisbaren Vermutungen²³ stehen von Gabler zitierte Werke, die er – ebenfalls der [48] Gepflogenheit seiner Zeit entsprechend – anführt, sie teilweise rühmt und die seinen eigenen Anliegen doch nur wenig weiterhelfen. Zu letzteren gehört G. T. Zachariä’s „Biblische Theologie, oder Untersuchung des biblischen Grundes zu den vornehmsten theologischen Lehren“, Bd. I–IV, Göttingen 1771– 1775; Bd.V, hg. von J. C.Volborth, Kiel 1786 (Oratio 185.193). Man wird die Bezugnahme Gablers auf dieses Werk zwischen „nicht sehr ernst nehmen“²⁴ und Überbewertung einzu-

 Vgl. Nachweise bei O. Merk, TRE 12 (s. Anm. 1), 2, und ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese (s. Anm. 1), 55 f.  Vgl. zu diesem Komplex auch L. Schwienhorst-Schönberger, Einheit und Vielheit. Gibt es eine sinnvolle Suche nach der Mitte des Alten Testaments?, in: F. L. Hossfeld (Hg) (s. Anm. 2), 48 – 87 (passim).  R. Smend (s. Anm. 4), 112 Anm. 36.

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ordnen haben und auch bei gewissen Annäherungen in Teilfragen noch nicht sagen dürfen: „At all events there is no real difference between Gabler’s and Zachariae’s approach to biblical theology“ (besonders in der Herausarbeitung der dicta classica).²⁵ Denn schon die ständige Vermischung alt- und neutestamentlicher Belege für einen betont subjektiven Gebrauch in einer Dogmatik (Zachariä, I, S. VI. CXXI f.) spricht ebenso gegen Gablers Programm wie die Absicht, erst „nach und nach“ „der Dogmatik … eine größere Festigkeit und gründlichere Beweise und Verbindung in allen ihren Teilen zu verschaffen“ (ebd., I, S. CXXXVI). Dies fördert Gablers Anliegen nicht, auch wenn des Zeitgenossen Perspektiven für die Zukunft in der Antrittsrede gesehen werden. Bestimmend ist für Gabler der Leitsatz und dessen Entfaltung in seiner Rede, der auch in den noch im gleichen Jahr erschienenen Besprechungen als das Eigene und Neue, das Gabler eingebracht hat, gewürdigt wurde:²⁶ „Die biblische Theologie besitzt historischen Charakter, überliefernd, was die heiligen Schriftsteller über die göttlichen Dinge geredet haben; die dogmatische Theologie dagegen besitzt didaktischen Charakter, lehrend, was jeder Theologe kraft seiner Fähigkeit oder gemäß dem Zeitumstand, dem Zeitalter, dem Orte, der Sekte, der Schule und anderen ähnlichen Dingen philosophierte … .“ Die „richtige Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie“ und „die rechte Bestimmung ihrer beider Ziele“ verlangen die sachgemäße Differenzierung von Religion und Theologie in einem hermeneutisch komplizierten Prozess, um eine Biblische Theologie „im engeren Sinn des Wortgebrauchs“ als eigenständiges und unwandelbares [49] Fundament im unaufgebbaren Gegenüber zur dauernd im Wandel begriffenen Dogmatik abzusondern. Es geht letztlich um einen „doppelten Filtrierungsprozeß“,²⁷ durch den aufbereitet wird, dass eine von Zeitvorstellungen ‚gereinigte‘ Biblische Theologie für die Dogmatische Theologie bleibenden Bezug

 So J. Sandys-Wunsch / L. Eldredge, Gabler and the Distinction (s. Anm. 2), 144 Anm. 1; vgl. auch ebd., 152 ff.; J. Sandys-Wunsch, G. Zachariä’s Contribution to Biblical Theology, ZAW 92, 1980, 1– 23; ders., Art. G. T. Zachariä, Dictionary of Biblical Interpretation. II: K–Z, hg. v. J. H. Hayes, 1999, 665 – 666. – In Gablers Oratio heißt es durchaus kritisch: „Wie viel es aber ist, was er anderen zum Verbessern, richtiger Definieren und Erweitern überlassen hat, brauche ich kaum zu erwähnen“ (185).  Vgl. Erlangische gelehrte Nachrichten 42, 1787, 396 f.; Nürnbergische gelehrte Zeitung, 1787, 288; mit Recht hält K. Leder, Universität Altdorf. Zur Theologie der Aufklärung in Franken. Die Theologische Fakultät in Altdorf 1750 – 1809, Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft l4, 1965, fest: „Diese Konzeption war Gablers Zeitgenossen völlig neu, aber hochwillkommen“ (288).  K. Leder (s. Anm. 26), 289.

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hat,²⁸ denn „Dogmatik muß von Exegese und nicht umgekehrt, Exegese von Dogmatik abhängen“.²⁹ Die von ihm eruierte, von den Fesseln der Dogmatik befreite, eigenständige ‚Biblische Theologie‘ machte Gabler zum Begründer einer selbständigen Teildisziplin in der sich zu seinen Lebzeiten langsam herausbildenden neutestamentlichen Wissenschaft,³⁰ so gewiss seine zumindest seit 1802 erkennbar auch terminologisch und sachlich erfolgten Akzentverschiebungen sein Anliegen zwar präzisierten‚ aber nur begrenzt zum weiteren Durchbruch verhalfen.³¹ Gilt auch für Gabler sein Programm von 1787 unvermindert fort, so wird jetzt die „Biblische Theologie im engeren Sinne“ des Wortgebrauchs (vgl. Oratio 192 f.), die schon in der Antrittsrede am Rande als ‚reine‘ angeführt wurde (ebd. 190) direkt als „reine biblische Theologie“ bezeichnet.³² In der Sache aber wird die bisherige Aufgabe der ‚biblischen Theologie im engeren Sinne‘ jetzt der in der Antrittsrede genannten „wahren biblischen Theologie“ zugewiesen. Denn „diese“ ‚biblische Theologie im engeren Sinne‘ „stellt“ jetzt „historisch den wahren Sinn der biblischen Schriftsteller dar“, während die „reine biblische Theologie“ „durch philosophische Kritik die wahren Grundideen von den Modificationen der Zeit“ ‚absondert‘.³³ Das besagt für Gabler: Die ‚reine biblische Theologie‘ wird zwischen ‚wahrer biblischer‘ und ‚Dogmatischer Theologie‘ angesiedelt, und der „doppelte Filtrierungsprozeß“, der in der Antrittsrede dem „genus historicum“ zugehörte, um der Scheidung zwischen ‚Biblischer Theologie‘ und ‚Dogmatischer Theologie‘ zu dienen, [50] hat jetzt seine Funktion, zwischen ‚wahrer‘ und ‚reiner‘ Theologie zu trennen, gehört also deutlicher auf die Seite der dogmatischen Klärung. Die ‚reine biblische Theologie‘ ist an Gablers Offenbarungsverständnis orientiert. Durchführung und Präzisierung einer Biblischen Theologie gehen dem gemäßigten Vertreter einer

 Für die Einzelnachweise vgl. O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments (1972, s. Anm. 1), 31– 45 u. ö. mit Literatur. Zumeist in diesem Sinne (mit gelegentlichen Nuancierungen in Einzelheiten) vgl. auch die in Anm. 2 genannten, unmittelbar Gabler gewidmeten Untersuchungen.  J. G. Eichhorns Urgeschichte, hg. mit Einleitung und Anmerkungen von J. Ph. Gabler, I 1790, XV.  Zu Einzelheiten und Mitstreitern vgl. O. Merk, Anfänge neutestamentlicher Wissenschaft im 18. Jahrhundert, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese (s. Anm. 1), 1 ff.21 ff.  Belege und Diskussion bei O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments (1972, s. Anm. 1), 97 ff.  JthL 1802, 400 ff.  J. Ph. Gabler, ebd, Anm. unter S. 403 f.; JathL 2, 1805/06, 656 f.; 4, 1808, 233 Anm.; weitere Belege bei O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments (1972, s. Anm. 1), 98 ff.; Vermutungen in diese Richtung wohl schon bei dem unbekannten Rezensenten der Antrittsrede, in: Erlangische gelehrte Nachrichten 42, 1787, 398.

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vernünftigen Theologie (in der Phase der Spätneologie) seinem (hier nicht näher auszuführenden) Aufspüren und Verstehen der Offenbarung einher.³⁴ Ebenso einher gehen die Überlegungen zu einer sich sogar methodisch noch zuspitzenden exegetisch-theologischen Grundlage einer ‚Biblischen Theologie‘. Es ist Gablers Unterscheidung von „Auslegen und Erklären“ und deren hermeneutische Bewältigung für die ‚Biblische Theologie‘. Dabei wird im exegetischen Vollzug von Gabler der Interpretation größeres Gewicht als der Rekonstruktion eingeräumt, jedoch ohne beide strikt zu trennen.³⁵ In den Folgejahren im Gespräch und in der Beurteilung der Werke seines Altdorfer Kollegen Georg Lorenz Bauer, der zunächst stärker der Rekonstruktion verpflichtet war, haben beide Gelehrte präzisiert und die Unabdingbarkeit des Zusammengreifens von Rekonstruktion und Interpretation exegetisch-theologisch gebündelt. Diese Zusammengehörigkeit in der exegetischen Arbeit aufzulösen, strebt gegenwärtig H. Räisänen an, indem er die ‚Interpretation‘ als ‚Aktualisierung‘ für unsere Zeit von der ‚Rekonstruktion‘ zu trennen sucht³⁶ und die ‚Rekonstruktion‘ zum maßgebenden Anliegen historisch-kritischer Arbeit isoliert.³⁷ Damit aber wird die ‚historisch-kritische Methode‘ des bedingenden Ineinanders beider exegetischen Vollzugsbezüge bei Gabler / G. L. Bauer ihres springenden Punktes, ihres letzthin existentiellen Vollzugs³⁸ beraubt.³⁹ Demgegenüber kann es nach den Begründern eine ‚Theologie des Neuen Testaments‘ nur dort sachgemäß geben, wo – in Anlehnung an E. Käsemann formuliert – das „theologische(n) Recht historisch-kritischer Exegese“ gewahrt und Exegese in ihrem bedingenden Zusammenhang von Rekonstruktion und Interpretation methodisch bewältigt wird.⁴⁰ [51] Bei allen diesen Überlegungen bleibt im Ergebnis festzuhalten: Gablers Antrittsrede zielte auf eine brauchbare Biblische Dogmatik zu seiner Zeit, doch als folgenreich erwies sich allein seine dem genus historicum zugehörende „Biblische

 H.-J. Dohmeier‚ Grundzüge der Theologie Johann Philipp Gablers (s. Anm. 2); vgl. im weiteren auch R. Morgan / J. Barton, Biblical Interpretation (s. Anm. 2), 167 ff.; M. Saebø, Johann Philipp Gabler at the End of Eighteenth Century (s. Anm. 2), 327 ff.  Vgl. J. Ph. Gabler, Kleinere theologische Schriften, hg. v. Th. A. Gabler / J. G. Gabler, I 1831, 201– 214.  Vgl. H. Räisänen, Beyond New Testament Theology (s. Anm. 2), 157 Anm. 9; vgl. ebd, 3 ff.; gewisse Einwände dazu bei P. Balla, Challenges (s. Anm. 2), 6 ff.  Vgl. H. Räisänen, Beyond New Testament Theology (s. Anm. 2), 13 ff.; wichtige Hinweise bei P. Morgan, Re-Reading Wrede, ET 108, 1997, 206 ff. (bes. 209).  Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. O. Merk, UTB 630, 91984, 600.  Das sieht Räisänen, Neutestamentliche Theologie? (s. Anm. 2), 29 ff.; vgl. auch P. Balla‚ Challenges (s. Anm. 2) ,passim.  Vgl. E. Käsemann, Vom theologischen Recht historisch-kritischer Exegese, ZThK 64, 1967, 259 – 281.

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Theologie“, zu deren richtigen Erarbeitung und Exegese er in seinem Lebenswerk maßgebend beigetragen hat. B. Gabler hat bibelwissenschaftlich vornehmlich das Neue Testament bedacht, aber in seiner Antrittsrede auch auf das Alte Testament verwiesen. Doch ist die Trennung beider Testamente nicht nur aus arbeitstechnischen Gründen schon hier im Blick und kurze Zeit später mit voller Zustimmung Gablers in den einschlägigen Werken von Georg Lorenz Bauer vollzogen worden. Dabei zeigt Bauer, dass die konsequent grammatisch-historische Bearbeitung der einzelnen biblischen Schriften die Trennung beider Testamente wie ihre Bezugnahme aufeinander notwendig macht.⁴¹ Über diesen an sich bekannten Sachverhalt hinaus wird bis in die Gegenwart zu wenig Gablers Hinweis beachtet: „und aus vielen Gründen dürfen die apokryphischen Bücher zur Benutzung nicht verachtet werden“ (Oratio 187). Die geforderte Kenntnis des frühen Judentums für das Verstehen des Neuen Testaments ist hier gemeint.⁴² Um dies – durchaus als ‚historische‘ Feststellung zu werten – zur Geltung zu bringen, ist bei Gabler (und G. L. Bauer) die strikte Einhaltung des (ohnehin in seiner Festlegung Ende des 18. Jahrhunderts. umstrittenen) alttestamentlichen Kanons umgangen worden. Es ist de facto eine offene Kanongrenze gegeben, die W. Wrede in seiner Preisgabe des neutestamentlichen Kanons weiterführend auswertete und H. Räisänen für die gegenwärtige Forschung problematisierend bedenkt.⁴³ Gabler hat sich in seinem bibelwissenschaftlichen Werk nicht eindeutig geäußert, und dies berechtigt zur Problemanzeige. Jedenfalls sind einer kanongebundenen (Gesamt‐)Biblischen Theologie, sofern sich hierfür Autoren auf Gabler (und G. L. Bauer) – auch im Widerspruch – berufen, Grenzen gesetzt. Freilich kann die gegenwärtige Forschung zur ‚Biblischen Theologie‘ hier [52] nicht – und zudem nach mehreren vorliegenden Zusammenfassungen – erneut erörtert werden.⁴⁴ Aber dass Gablers Ausführungen in

 Vgl. etwa G. L. Bauer, Theologie des alten Testaments oder Abriß der religiösen Begriffe der alten Hebräer, 1796, 6; dazu u. zu weiteren Belegen O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments (1972, s. Anm. 1), 157 ff.167 ff.  Vgl. G. L. Bauer (s. Anm. 41), 6: „Das Christenthum ist aus dem Judenthum hervorgegangen.“  Vgl. H. Räisänen, Beyond New Testament Theology (s. Anm. 2), 4.13 ff.; ders., Neutestamentliche Theologie? (s. Anm. 2), passim; s. auch P. Balla, Challenges (s. Anm. 2), 251– 254 (mit nicht zwingenden Beispielen 159 ff.167 ff.; dazu Räisänen, Neutestamentliche Theologie?, 78 ff.); zur Diskussion im weiteren Sinne: Chr. Dohmen / M. Oeming (Hg.), Biblischer Kanon – warum und wozu? Eine Kanontheologie, QD 137, 1993; Th. Söding, Entwürfe Biblischer Theologie in der Gegenwart. Eine Neutestamentliche Standortbestimmung, in: H. Hübner / B. Jaspert (Hg.), Biblische Theologie (s. Anm. 2), 53.  Vgl. die umfassende Zusammenstellung bei B. Jaspert, Biblische Theologie und Kirchengeschichte, in: H. Hübner / B. Jaspert (Hg.)‚ Biblische Theologie (s. Anm. 2), 144 Anm. 2 (über

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diesem Bereich virulent geblieben sind – und sei es im Bemühen der theologischen Überwindung seiner Fragestellung –‚ gehört festgehalten zu werden zu den Anmerkungen, die seiner Rede gelten. P. Stuhlmacher fasst seine nicht nur von ihm geteilte Sorge am Ende des zweiten Bandes seiner ‚Biblischen Theologie‘ in die Worte: „Es ist leider noch nicht ausgemacht, ob im Rahmen der gegenwärtigen Neuorientierung der exegetischen Wissenschaft und der kirchlichen Veränderungen, denen wir entgegengehen, überhaupt Raum für Biblische Theologie bleiben wird.“⁴⁵ Dem ist die Wendung zu geben und hinzuzufügen: Eine Neubesinnung auf Johann Philipp Gablers durchaus vielfach zeitgebundene und doch wegweisende Antrittsrede⁴⁶ und eine kritisch aneignende Vergegenwärtigung der auf dornigen Pfaden errungenen Anfänge der Disziplin ‚Theologie des Neuen Testaments‘ sind der Mühe wert, in unserer exegetisch-theologischen Arbeit jene Grundlagen neutestamentlicher Wissenschaft nicht aufzugeben.⁴⁷

mehrere Seiten sich erstreckend); weiter Th. Söding (s. Anm. 43), 41– 103; F. L. Hossfeld (Hg) (s. Anm. 3).  So P. Stuhlmacher, Biblische Theologie (s. Anm. 2), II, 348.  R. Morgan, Gabler’s Bicentenary (s. Anm. 2), 164: „J. P. Gablers inaugural lecture at Altdorf on 30 March 1787 is rightly taken as the birth-hour of modern New Testament theology.“  Dass dies entsprechend für eine ‚Theologie des Alten Testaments‘ und für die Grundlagen alttestamentlicher Wissenschaft gesagt/vermutet werden darf und diskutiert wird, hat sich mir aus den in Anm. 2 genannten Untersuchungen zur atl. Forschung vielfach ergeben. (Erstaunlich viele Bezüge Gabler – neuere atl. Wissenschaft vermittelt G. H. Wittenberg [s. Anm. 2], 105 ff.: „The Paradigm of Old Testament Theology initiated by Gabler“ [105]).

Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele (Übersetzung von Gablers Altdorfer Antrittsrede) Rede, gehalten am 30. März 1787, für das Amt eines ordentlichen Professors der Theologie an der Universität Altdorf, von M. Johann Philipp Gabler¹ Magnifizenz, Rektor der Hochschule (Akademie); Edelster Herr, Präfekt dieser Stadt und des Landes; Sehr erfahrene, am höchsten zu verehrende Herren, sehr geschäftige, hochbedeutende, hervorragende und hochberühmte Professoren aller Fakultäten, beste Gönner, verbundenste Kollegen; Und du, sowohl durch Herkunft als auch durch den Adel der Tugend bestens ausgezeichnete Schar der Studierenden; Sehr verehrte und vortreffliche Hörer aller Fakultäten! Daß die heiligen Bücher, besonders des Neuen Testaments, jene einzige und leuchtendste Quelle sind, aus der jede wahre und sichere Erkenntnis der christlichen Religion zu schöpfen ist, und jenes heilige Palladium, zu dem wir bei der so großen Zweifelhaftigkeit und Wechselhaftigkeit der menschlichen Wissenschaft einzig unsere Zuflucht nehmen müssen, wenn wir nach einer festen Einsicht in das göttliche Wesen streben und wenn wir eine sichere und zuverlässige Hoffnung auf das Heil annehmen wollen: Das freilich, hochangesehene Zuhörer, bekennen alle einstimmig, die zu der heiligen Gemeinde der Christen gezählt werden. – Aber woher kommen bei dieser Übereinstimmung die so zahlreichen Meinungsverschiedenheiten in der Religion selbst?

 Übersetzung entnommen aus: O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei J. Ph. Gabler und G. L. Bauer und deren Nachwirkungen, Marburger Theologische Studien 9, Marburg 1972, 273 – 284. Für freundliche philologische Beratung danke ich Frau Assistentin Dr. phil. Bärbel Krebber vom Institut für Altertumskunde an der Universität Köln. Es wird eine möglichst wörtl. Übersetzung gegeben, bei der Satzkonstruktionen und Zeichensetzung weitgehend wörtl. beibehalten werden. Sperrungen werden, außer bei Eigennamen, nicht berücksichtigt.

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[19] Woher die so unseligen Abspaltungen von Gruppen? Freilich geht diese Uneinigkeit aus von der Dunkelheit, die an etlichen Stellen der heiligen Schrift selbst herrscht; freilich von jener schlimmen Angewohnheit, seine eigenen Ansichten und Urteile in diese Bücher hineinzulegen, oder sogar von der sklavischen Methode, sie zu interpretieren [gemeint ist wohl: die von der Dogmatik versklavte Methode der Interpretation]; freilich daher, daß man nicht auf den Unterschied zwischen Religion und Theologie achtet; schließlich daher, daß die Einfachheit und Leichtigkeit der biblischen Theologie schlecht vermischt ist mit dem Scharfsinn und der Strenge der dogmatischen Theologie. In der Tat, daß die heilige Schrift an vielen Stellen, ob wir nun den Text kritisch betrachten oder den Inhalt selbst, nicht selten von größtem Dunkel bedeckt wird, das freilich brauche ich nicht mit vielen Worten zu zeigen; denn es spricht die Sache selbst, und auch so viele erfolglose Arbeiten der Interpreten schreien zum Himmel. Dafür gibt es mehrere Gründe, bald vom Wesen und der natürlichen Beschaffenheit der Dinge her, die in diesen Büchern überliefert sind, bald von der Ungewöhnlichkeit der Wörter und dem allgemeinen Redestil her, bald von der Art und Weise der Zeiten und Sitten her, die von denen der unseren sehr verschieden sind, bald schließlich aus der Unfähigkeit vieler, diese Bücher, sei es aus der alten Gewohnheit im ganzen, sei es aus dem für jeden Schriftsteller charakteristischen Sprachgebrauch heraus richtig zu interpretieren. Diese Gründe aber alle im einzelnen anzuführen, darauf kommt es an dieser Stelle allerdings nicht an, da es ja sowieso offenbar ist, daß aus dieser Dunkelheit der heiligen Schrift, woher jene auch immer gekommen sein mag, unbedingt eine große Zahl verschiedener Meinungen entstehen mußte. – Dieses unglückliche Schicksal unserer Religion förderte auch noch jenes unheilbringende Unternehmen vieler, den Verfassern der heiligen Schrift selbst leichtfertig jeweils ihre eigenen, selbst die unwichtigsten Meinungen unterzuschieben. Natürlich bemühen diese Leute sich, ihre leichtfertigen Ansichten durch die Autorität der Verfasser der heiligen Schrift zu stützen: Es ist ja überhaupt von Wichtigkeit, den eigenen menschlichen Hirngespinsten gewissermaßen einen Heiligenschein umzulegen. Doch nicht nur von denen darf man annehmen, daß sie der heiligen Schrift in dieser Weise Gewalt antun, von denen wir wissen, daß sie von der Fähigkeit, richtig zu interpretieren, völlig verlassen sind, sondern wir merken ja auch, daß oft die scharfsinnigsten, in diesen Dingen erfahrensten Exegeten daran scheitern, daß sie die Gesetze richtiger Interpretation außer acht lassen und zu sehr ihren eigenen Einsichten nachgeben. Wir meinen aber auch nicht, daß schließlich diejenigen in angemessener und rechter Weise aus der heiligen Schrift ihre eigenen Lehren ermitteln, die die Worte der heiligen Schrift selbst verwenden: [21] Es geschieht nämlich häufig, daß sie, wenn sie bei den Wörtern stehenbleiben und nicht den Sprachgebrauch, der den Verfassern der heiligen Schrift zu eigen ist, beachten, eher irgendeine andere als

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die richtige Meinung der Verfasser wiedergeben. Denn wenn sie, um dieses eine Beispiel zu bringen, Metaphern mit einem Stäubchen abschnippen, wo die Sache auf allgemeine Begriffe zurückzuführen ist, dann freilich bringen dieselben Leute, die überzeugt sind, einen Sinn aus der heiligen Schrift herauszulesen, eben diesen erst hinein.² Ein anderer, und zwar gewichtiger Grund für die Uneinigkeit liegt in der Nichtbeachtung des Unterschieds zwischen Religion und Theologie; denn wenn das, was in den Bereich der Theologie gehört, andere auf die Religion selbst beziehen, erkennen wir leicht, daß hier ein für schärfste Meinungsverschiedenheiten sehr geräumiges Gebiet ist, wobei diese umso unheilvoller sind, je unwilliger jeder das, was er auf die Religion selbst bezieht, sich entreißen läßt. Daß aber zwischen Religion und Theologie ein großer Unterschied besteht, hat nach Ernesti, Semler, Teller, Spalding, Töllner und anderen jüngst Tittmann³ hervorragend gezeigt, ein verehrungswürdiger Mann. Es ist nämlich, um mit den Worten des hocherhabenen Herrn zu reden, die Religion eine göttliche Lehre, die schriftlich überliefert ist; sie lehrt, was jeder Christ wissen, glauben und tun muß, um in diesem und im zukünftigen Leben Seligkeit zu besitzen. Die Religion ist also eine gewöhnliche und einleuchtende (durchschaubare) Wissenschaft; aber die Theologie ist eine subtile, ausgeformte, mit vielen anderen Wissenschaften in Verbindung stehend, und zwar ist sie nicht nur aus der heiligen Schrift, sondern auch anderswoher, aus dem Umkreis der Philosophie besonders und der Geschichte, entnommen: Und sie ist daher eine durch menschliche Fähigkeit und Verstand ausgebildete Disziplin, aus sorgfältiger und ständiger Beobachtung entstanden, die vielfache Wechselbeziehungen mit den übrigen Disziplinen erfahren hat: Denn sie behandelt nicht nur Dinge, die in den Bereich der christlichen Religion gehören, sondern setzt auch alles, was immer in irgendeiner Weise damit verbunden ist, recht sorgfältig und auch recht ausführlich auseinander, und schließlich schafft sie Raum für dialektische Gründlichkeit und Strenge. Aber diese große Fülle an Literatur und Geschichte umfaßt die Volkstümlichkeit der Religion nicht. [23] Diese betrüblichen Meinungsverschiedenheiten nährte schließlich und wird leider noch länger nähren jenes unselige Bemühen,völlig verschiedene Dinge zu vermischen, zum Beispiel die Einfachheit der sogenannten Biblischen Theologie mit dem Scharfsinn der Dogmatischen Theologie, obwohl man doch wie mir

 Dazu verdient, besonders gelesen zu werden, was der selige Ernesti, ein unsterblicher Mann, in seiner Abhandlung „Pro grammatica interpretatione librorum sacrorum“ und in: „De vanitate philosophantium in interpretatione librorum sacrorum“, Opusc. Philolog., ed. II, S. 219 ff. und Morus, ein sehr bedeutender Mann, im Vorwort zu: „De discrimine sensus et significationis in interpretando“, Lipsiae 1777, wahrhaft und gelehrt beobachtet haben.  Progr(amm) de discrimine theologiae et religionis, Vitembergiae 1782.

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scheint, die eine von der anderen genauer, als es freilich bis heute von den meisten zu geschehen pflegt, unterscheiden muß. – Welcher notwendige Grundsatz freilich für diese Unterscheidung festzulegen ist oder welche Verfahrensweise einzuhalten ist: Das eben ist es, was ich bei mir beschlossen habe, ganz kurz in dieser meiner Rede auseinanderzusetzen, soweit es mit meinen schwachen Kräften möglich ist und wenn es überhaupt geschehen kann. – Ich bitte also heftig um Ihre Gnade, A. O. O. H., und bitte inständigst Sie alle einzeln mit der gebührenden Hochachtung, so wie ich es mehr von Herzen überhaupt nicht könnte, daß Sie mir, während ich rede, Ohren und Sinn gewogen zeigen und mir, der ich allzu zaghaft wichtige Dinge entwerfe, durch Ihre freundliche Geneigtheit Mut einflößen. Die biblische Theologie besitzt historischen Charakter, überliefernd, was die heiligen Schriftsteller über die göttlichen Dinge gedacht haben; die Dogmatische Theologie dagegen besitzt didaktischen Charakter, lehrend, was jeder Theologe kraft seiner Fähigkeit oder gemäß dem Zeitumstand, dem Zeitalter, dem Orte, der Sekte, der Schule und anderen ähnlichen Dingen dieser Art über die göttlichen Dinge philosophierte. Jene, da sie historisch argumentiert, ist, für sich betrachtet, sich immer gleich (obwohl sie selbst, je nach dem Lehrsystem, nach dem sie ausgearbeitet wurde, von den einen so, von den anderen anders dargestellt wird): Diese jedoch ist zusammen mit den übrigen menschlichen Disziplinen vielfältiger Veränderung unterworfen: Was ständige und fortlaufende Beobachtung so vieler Jahrhunderte übergenug beweist. Denn wie sehr unterscheiden sich die Kirchen der Gelehrten schon von den ersten Anfängen der christlichen Religion, wie viele Systeme nennen die Kirchenväter, je nach der Verschiedenheit von Zeit und Landschaft (Himmel)! Denn die Geschichte der Theologie lehrt auch, daß sowohl Chronologie als auch Geographie zu ihr gehören. Wie groß ist die Diskrepanz der scholastischen Theologie des Mittelalters, das von dichtem Dunkel der Barbarei bedeckt ist, von dieser alten Disziplin! Aber auch nachdem das Licht der Lehre des Heils aus dieser Dunkelheit aufgetaucht war, war die ganze Diskrepanz in der theologischen Disziplin nicht völlig aufgehoben, nicht einmal in der gereinigten Kirche selbst, um die Parteien der Sozinianer und Arminianer zu übergehen. Denn, um in der lutherischen Kirche zu bleiben, die Lehre eines Chemnitz und Gerhard ist eine, eine andere die von Calov, eine andere die von Musäus und von Baier, eine andere die von Buddeus, eine andere die von Pfaff und von Mosheim, eine andere die von Baumgarten, eine andere die von Carpov, eine andere die von Michaelis und Heilmann, eine andere die von Ernesti und Zachariä, eine andere die von Teller, [25] eine andere die von Walch und Carpzov, eine andere die von Semler, eine andere schließlich die von Döderlein. Aber die heiligen Schriftsteller sind wirklich nicht so wandlungsfähig, daß dieselben diese verschiedene Gestalt und Form der theologischen Disziplin anziehen könnten. Das freilich soll von mir nicht so gemeint sein, daß alles in der Theologie für unsicher

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und zweifelhaft gehalten werden soll oder daß alles bloß dem menschlichen Willen erlaubt sein soll; sondern nur so viel möchten diese Worte ausrichten, daß wir das Göttliche vom Menschlichen sorgfältig unterscheiden, daß wir eine gewisse Unterscheidung der Biblischen und der Dogmatischen Theologie festsetzen und nach Ausscheidung von dem, was in den heiligen Schriften allernächst an jene Zeiten und jene Menschen gerichtet ist, nur diese reinen Vorstellungen unserer philosophischen Betrachtung über die Religion zugrundelegen, welche die göttliche Vorsehung an allen Orten und Zeiten gelten lassen wollte, und so die Bereiche der göttlichen und menschlichen Weisheit sorgfältiger bezeichnen. So endlich wird unsere Theologie sicherer und fester, und so wird sie selbst vom heftigsten Angriff der Feinde nichts weiter zu fürchten haben. Diesen Bereich hat freilich mit Erfolg ein Buch des verstorbenen (seligen) Zachariä⁴ behandelt: Wie viel es aber ist, was er anderen zum Verbessern, richtiger Definieren und Erweitern überlassen hat, brauche ich kaum zu erwähnen. Die ganze Sache aber läuft darauf zurück, daß wir teils in richtiger Weise ein rechtes Maß bei vorsichtiger Darstellung der Vorstellungen der heiligen Autoren einhalten, teils deren dogmatischen Gebrauch und deren Grenzen richtig festsetzen. Das erste also ist in dieser außerordentlich wichtigen Sache, daß wir die heiligen Vorstellungen sorgfältig sammeln, und, wenn sie in der heiligen Schrift nicht ausdrücklich genannt sind, dann muß man sie selbst aus miteinander verglichenen Stellen entsprechend zusammenfügen. Damit dies umso erfolgreicher vonstatten geht und nicht irgendetwas aufs Geratewohl oder nach Belieben getan wird, ist freilich vielfache Vorsicht und Umsicht nötig. Vor allem wird Folgendes zu beachten sein: In diesen heiligen Büchern sind nicht die Ansichten eines einzigen Mannes enthalten und auch nicht die desselben Zeitalters oder derselben Religion. Die heiligen Schriftsteller sind freilich alle heilige Männer und durch göttliche Autorität geschützt; aber sie beziehen sich nicht alle auf dieselbe Form der Religion: Die einen sind Lehrer der alten und als solchen grundlegenden Lehrform, die Paulus selbst mit der Bezeichnung πτωχὰ στοιχεῖα bezeichnet; die anderen sind Lehrer der neueren und besseren christlichen Lehrform. [27] Deshalb können die heiligen Schriftsteller, wie sehr sie auch mit gleicher Achtung wegen der göttlichen Autorität, die ihren eigenen Schriften eingedrückt ist, von uns zu verehren sind, doch nicht alle, wenn wir auf den dogmatischen Gebrauch achten, auf dieselbe Stufe gestellt werden. Aber daß überhaupt die Theopneustie in jedem heiligen Mann die eigene Kraft des Verstandes und das Maß der natürlichen Einsicht in die Dinge nicht zerstört hat, das bedarf gar nicht vieler Worte. Schließlich da, jedenfalls an dieser Stelle, nur das untersucht werden

 In dem sehr bekannten Buch, das von ihm betitelt wurde: Biblische Theologie.

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soll, welche Ansicht jeder dieser Männer über die göttlichen Dinge gehabt hat, und da dies ohne Rücksicht auf die göttliche Autorität aus ihren Büchern selbst erkannt werden kann, möchte ich freilich meinen, es sei, damit wir nicht den Anschein erwecken, etwas, das irgendeiner Beweisführung bedarf, wie schon Anerkanntes anzunehmen, in dieser ersten Untersuchung, wo es nicht wichtig ist, mit welcher Autorität die Männer geschrieben haben, sondern was für eine Ansicht sie vertreten haben, überhaupt besser, diesen Punkt der göttlichen Inspiration völlig zu übergehen und ihn erst dann wieder zu behandeln, wo über den dogmatischen Gebrauch der biblischen Vorstellungen gehandelt wird. – Unter diesen Umständen müssen wir, wenn wir nicht erfolglos arbeiten wollen, die einzelnen Perioden der alten und neuen Religion, die einzelnen Autoren und schließlich die einzelnen Redeformen, die jeder je nach Zeit und Ort gebraucht hat, trennen; ob es das historische, didaktische oder poetische Genus ist.Wenn wir diesen geraden, wenn auch beschwerlichen und zu wenig angenehmen Weg verlassen, irren wir notwendigerweise irgendwie in unsichere Abwege ab. Man muß folglich sorgfältig die Vorstellungen der einzelnen Schriftsteller eifrig sammeln und jeweils an ihrem Ort einordnen: Die der Patriarchen, die des Mose, David und Salomo, der Propheten, und zwar jedes einzelnen, Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Daniel, Hosea, Sacharja, Haggai, Maleachi und der übrigen; und aus vielen Gründen dürfen die apokryphen Bücher zur Benutzung nicht verachtet werden: Danach aus der Epoche des Neuen Testaments die Vorstellungen Jesu, des Paulus, des Petrus, des Johannes und des Jakobus. Diese Aufgabe wird vor allem in zwei Teilen [Arbeitsgängen] gelöst: Der eine besteht in der richtigen Interpretation der Stellen, die sich hierauf beziehen; der andere im sorgfältigen Vergleich der Vorstellungen aller heiligen Autoren untereinander. [29] Der erstere Teil freilich enthält die meisten Schwierigkeiten.⁵ Denn man muß dabei nicht nur Rücksicht nehmen auf den Sprachgebrauch, bald auf den allgemeinen, der im Neuen Testament sowohl Hebräisch-Griechisch als auch die griechische Volkssprache jener Zeit ist, bald aber auf den, der jedem Schriftsteller eigen ist, und besonders auf eine Bezeichnung, die an einer bestimmten Stelle allein vorkommt, sei es, daß sie ausführlicher ist, sei es, daß sie knapper ist, wobei zugleich die Rücksicht auf diese Verschiedenheit hinzukommt und, wenn es möglich ist, jene allgemeine Vorstellung erklärt wird, in der mehrere Bedeutungen

 Darauf hat in hervorragender Weise hingewiesen der selige Ernesti in: Commentt. de difficultatibus N. T. recte interpretandi; und in: De difficultate interpretationis N. T., Opusc. philol.‚ ed.II., S. 198 ff. und S. 252 ff.

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desselben Wortes zusammenkommen.⁶ Aber auch die Bedeutung und der Sinn eines Satzes selbst muß erfaßt werden; auch, welches die Grundbedeutung eines Wortes ist und welche ihm nur angefügt wurde. Denn die Vorsicht des Übersetzers darf nicht innehalten bei der ersten Bedeutung, die einem Worte zugrundeliegt, sondern er muß auch zur Sekundärbedeutung weitergehen, die von dem Zeitalter, von der Auffassung oder vom Sachgebiet her mit dem Wort verbunden ist und aus eben diesem Grunde zu den wichtigeren Begriffen zu ziehen ist. – Ferner muß man den eigentlichen oder nicht eigentlichen Gebrauch eines Wortes beachten; darin allerdings werden vor allem Fehler gemacht: Daß wir bei den Topoi hängenbleiben und so neue Dogmen aufstellen, an die nicht einmal die Autoren gedacht haben. Das kommt oft vor, nicht nur bei den poetischen oder prophetischen Büchern, sondern auch in den Schriften der Apostel, wo dieser uneigentliche Gebrauch der Wörter zurückzuführen ist auf die Fülle des Talents oder auf die gewöhnliche Ausdrucksweise der Gegner oder auf den für die ersten Leser vertrauten Gebrauch eines Wortes.⁷ Das macht hier sehr viel aus, wenn wir mehrere Gedanken ein und desselben Autors, z. B. des Paulus, sorgfältig miteinander vergleichen und beim Vergleich des Inhalts und der Wörter viele Stellen, die denselben Sinn haben, der verschieden ausgedrückt ist, auf diese eine Vorstellung und Sache zurückführen: Was jüngst hervorragend bewiesen und gezeigt hat Morus⁸, dessen Name eine Aussage ist [wohl: für sich selbst spricht]. [31] – Endlich muß man gut unterscheiden, ob der Apostel mit seinen eigenen oder mit den Worten anderer spricht; ob er vorhat, irgendeine These nur aufzuzeigen oder aber zu beweisen; und wenn er das will, ob er den Beweis aus der inneren Natur und Beschaffenheit der Heilslehre selbst zieht oder aus den Aussprüchen der Bücher der alten Lehrform (= des Alten Testaments), und zwar angepaßt an das Verständnis der ersten Leser. Denn obgleich die Sätze der Apostel unser Vertrauen so verdienen, daß wir leicht irgendeinen Beweis ihrer selbst entbehren könnten, so verlangten doch die ersten Leser Beweise, und zwar ihrem Verständnis und Urteil angepaßt. Es liegt also viel daran, ob der Apostel irgendeine Meinung vorlegt wie einen Teil der christlichen Lehre oder ob vielmehr jene an die Bedürfnisse jener Zeit angeglichen und anstelle der Prämissen, wie die Logiker sagen, anzusehen sind. Wenn wir uns aber richtig an dieses alles halten, dann erst werden wir die wahren heiligen Vorstellungen, die

 Welche Vorsicht bei dieser Untersuchung der Erkenntnis der Bedeutungen eines und desselben Wortes jedenfalls anzuwenden ist, hat der hochbedeutende Morus im Vorwort zu: De nexu significationum eiusdem verbi, Lipsiae 1776, gelehrt.  f. disp. de discernenda propria et tropica dictione praes. s. v. Noesselt, Hallae 1763.  Dies hat der bedeutende Mann sowohl in der Abhandlung „De notionibus universis in Theologia“ als auch in „Progr. de utilitate notionum universarum in Theologia“, Lipsiae 1782, behandelt.

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jedem Autor vertraut waren, herausholen; freilich nicht alle (dafür wäre in den Büchern, die auf uns gekommen sind, kein Platz), sondern nur jene, die die Gelegenheit oder das Bedürfnis zu schreiben aus den Herzen der Autoren selbst herausgepreßt hatte, nichtsdestoweniger aber genügend viele, und zwar nicht selten von der Art, daß die übrigen, die übergangen worden sind, nicht schwer von da gesammelt werden können, wenn sie ein einzigartiges, deutlich gezeigtes Prinzip der Meinungen aufstellen oder wenn sie durch irgendeine notwendige Konsequenz mit ihnen verbunden sind: Diese Sache jedoch erfordert viel Vorsicht. Danach muß ich nun schließlich zum anderen Teil meiner Aufgabe übergehen, nämlich zu einem sorgfältigen und nüchternen Vergleich der verschiedenen Teile, die jedem der beiden (Lehr) Formen (= Altes und Neues Testament) zugesprochen werden, miteinander. Deshalb müssen wir die einzelnen Meinungen – wobei Morus, der bedeutende Mann, die Fackel voranträgt – den allgemeinen Vorstellungen unterordnen, besonders denen, die, an der oder jener Stelle der heiligen Schrift ausgedrückt, gelesen werden, doch unter der Bedingung, daß für je ihr Zeitalter, je ihre religiöse (Lehr‐) Form, je ihre Provinz (Gebiet) und für jeden Geist jeweils die Vorstellungen feststehen; und es soll nicht miteinander vermischt werden, was aus irgendeinem Grunde voneinander getrennt ist. Wenn diese Vorsichtsmaßregel außer acht gelassen wird, muß notwendigerweise der Vorteil (der Verwendung) von allgemeinen Vorstellungen zum größten Schaden für die Wahrheit werden und die ganze Mühe beim genauen Herausarbeiten der Meinungen der einzelnen Autoren, die vorher aufgewendet worden ist, unnütz machen und zerstören. Wenn aber dieser Vergleich mit Hilfe der allgemeinen Vorstellungen so vollzogen wird, daß jedem das Seine unangetastet bleibt und deutlich auf der Hand liegt, in welchem Punkt die einzelnen gut zusammenpassen oder sich wiederum unterscheiden, dann endlich wird die Gestalt der reinen, nicht mit anderen vermischten Biblischen Theologie erfreulich sein, [33] und dann endlich werden wir ein solches System der Biblischen Theologie haben, wie es Tiedemann mit Erfolg von der stoischen Philosophie geschaffen hat. Nachdem also diese Meinungen der göttlichen Männer aus den heiligen Schriften sorgfältig gesammelt, passend geordnet, vorsichtig auf Allgemeinbegriffe (= allgemeine Vorstellungen) zurückgeführt und genau miteinander verglichen sind, dann kann mit Nutzen eine Untersuchung über ihren dogmatischen Gebrauch und über die richtige Bestimmung der Grenzen der beiden Theologien, der Biblischen und der Dogmatischen, angestellt werden. Bei dieser Bezeichnung ist besonders zu untersuchen, welche Meinungen sich auf die bleibende Form der christlichen Lehre beziehen und so uns selbst angehen; und welche nur für die Menschen eines bestimmten Zeitalters oder einer bestimmten Lehrform gesagt sind. Es steht nämlich bei allen fest, daß nicht der gesamte Inhalt der heiligen Schriften für Menschen jeder Art bestimmt ist; sondern daß ein großer Teil von

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ihnen eher für ein bestimmtes Zeitalter, einen bestimmten Ort und eine bestimmte Art von Menschen nach dem Ratschluß Gottes selbst verbindlich gemacht worden ist. Wer, frage ich, bezieht wohl die mosaischen Riten, die schon von Christus abgeschafft worden sind, wer die Weisungen des Paulus, daß die Frauen sich in der heiligen Gemeindeversammlung verhüllen sollen, auf unsere Zeit? Die Vorstellungen der mosaischen Lehrform also, die weder von Jesus und seinen Aposteln noch von der Vernunft selbst her bestätigt werden, können von keinem dogmatischen Nutzen sein. Mit gleicher Methode muß man eifrig untersuchen, was in den Büchern des Neuen Testaments von den Vorstellungen und Notwendigkeiten der ersten christlichen Welt gesagt ist und was auf die bleibende Heilslehre zu beziehen ist; was in den Aussprüchen der Apostel wahrhaft göttlich und was zufällig und rein menschlich ist. – Und an dieser Stelle schließlich greift sehr gelegen die Untersuchung nach Art und Weise der Theopneustie ein. Dieser Sachverhalt, der allerdings sehr schwierig ist, wird, jedenfalls nach meiner Meinung, weniger richtig aus den Worten der Apostel gelehrt, in denen sie einen gewissen göttlichen Hauch erwähnen, weil nicht nur diese einzelnen Stellen viel Dunkelheit und Doppeldeutigkeit an sich haben, sondern weil wir uns auch davor hüten müssen, wenn wir uns mit Vernunft, weder voreilig noch begierig, mit diesen Dingen beschäftigen wollen, daß wir diese Meinungen der Apostel nicht über die zulässigen Grenzen hinaustragen, besonders weil nur die Wirkungen, nicht die Ursachen der Dinge mit den Sinnen wahrgenommen werden. Aber nach meinem Urteil allerdings muß die ganze Sache allein aus exegetischer Beobachtung durchgeführt werden, und zwar aus ständiger und sorgfältiger, und dieselbe muß dabei verglichen werden mit den deutlichen Versprechen unseres Retters für diese Angelegenheit: [35] Dadurch wird endlich mit Sicherheit festgestellt, ob überhaupt alle Meinungen der Apostel, welcher Art und Weise sie auch immer sind, wahrhaft göttlich sind, oder ob eher einige, die sich jedenfalls in keiner Weise auf das Heil beziehen, von deren Geist selbst hinterlassen werden. Sobald alle diese Dinge zugleich richtig beobachtet und sorgfältig festgelegt sein werden, so werden endlich jene Stellen der heiligen Schrift ausgesondert und durchsichtig sein, die – zugleich auch von nicht zweifelhafter Lesart – sich auf die christliche Religion aller Zeiten beziehen und mit deutlichen Worten eine wirklich göttliche Form des Glaubens ausdrücken, „dicta classica“ im wahren Sinn des Wortes, die als Fundament einer gründlichen dogmatischen Untersuchung zugrunde gelegt werden können. Aus diesen allein nämlich können ohne Zweifel jene sicheren und unzweifelhaften allgemeinen Vorstellungen eruiert werden, die allein in der Dogmatischen Theologie Verwendung finden. – Wenn diese allgemeinen Vorstellungen durch sachgerechte Interpretation aus jenen „dicta classica“ herausgearbeitet werden, herausgearbeitet sorgfältig miteinander verglichen werden, verglichen jeweils an ihrem Ort treffend so eingeordnet werden, daß eine

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brauchbare und taugliche Verknüpfung und Ordnung der wahrhaft göttlichen Lehren zustande kommt, dann ist wahrhaft das Resultat die „Biblische Theologie im engeren Sinn des Wortgebrauchs“ als der, wie wir wissen, der verstorbene (selige) Zachariä bei der Bearbeitung seines sehr bemerkenswerten Werkes gefolgt ist. Und nachdem diese sicheren Grundlagen der Biblischen Theologie, in diesem engeren Sinn verstanden, auf die Art und Weise, die wir bisher beschrieben haben, gelegt sind, muß endlich die Dogmatische Theologie, wenn wir keinen unsicheren Methoden folgen wollen, aufgebaut werden, und zwar eine unseren Zeiten angemessene. Die Vernunft unseres Jahrhunderts erfordert nämlich, daß wir bald die Übereinstimmung der göttlichen Dogmen mit den Entscheidungen der menschlichen Vernunft genau lehren, bald, daß wir mit möglichst großer Kunst und Geschicklichkeit die einzelnen Kapitel der Lehre so ausarbeiten, daß weder Gründlichkeit, sei es bei der richtigen Einordnung der Stellen, sei es bei richtiger Beweisführung, noch Eleganz in der allgemeinen Gestalt und Form, noch reiche Kenntnisse hinsichtlich menschlicher Weisheit, besonders auch der Geschichtsphilosophie in irgendeinem Teil vermißt werden. – Deshalb soll das System und die Gestalt der Dogmatischen Theologie, da sie ja eigentlich eine „philosophia christiana“⁹ ist, verschiedenartig sein im Verhältnis zu der Vielfalt sowohl der Philosophie als auch überhaupt der menschlichen Meinungen von dem, was scharfsinnig, gebildet, geeignet und nützlich, schließlich elegant und anmutig ist: [37] Wobei sie jedoch gleichzeitig in dem so großen Wandel der Wissenschaften selbst Biblische Theologie bleibt, soweit sie natürlich nur behandelt, was die göttlichen Männer über die Dinge, die die Religion betreffen, gedacht haben und was nicht für unsere Meinungen erdacht ist. Da dies sich so verhält, erkennen wir, A. O. O. H., wie viel wir bei der Vollendung theologischer Disziplinen, jedenfalls wenn wir eine sichere Lehrform anstreben, bis dahin noch tun müssen; aber wir brauchen ja nur den richtigen, sicheren Weg und die richtige, sichere Methode bei deren Ausbildung einzuhalten, die zu dem hohen Gipfel der Vollendung führen, zu dem sie einen emportragen können. Und diesen, wie mir scheint, besseren Weg richtig zu weisen und die geeignete Art, diese Dinge zu behandeln, sorgfältiger zu beschreiben, das war es freilich, was ich mir für meine heutige Rede vornehmen wollte: Mit welchem Erfolg ich dies schließlich getan habe, urteilen Sie jetzt selbst. – Wie Sie gesehen haben, habe ich bei den Dingen selbst nichts zu bestimmen gewagt; und ich werde auch, außer nach Erfahrung (Nutzen) und Beobachtung vieler Jahre, nichts dabei bestimmen: Denn dies ist nicht Aufgabe der Anfänger, sondern der Alterfahrenen. Vielmehr zielte die ganze Rede allein auf die Methode, die Biblische Theologie

 Vgl. Toellner, Theologische Untersuchungen, St. 1, S. 264 ff.

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sicherer und vorsichtiger zu fassen und ihre Grenzen richtiger zu bestimmen: Und ich wollte für andere, die sich eben in diesen Dingen besser auskennen, ein Gewährsmann und Ratgeber sein, damit sie wenigstens den Weg, der von mir beschrieben wurde, einhalten und so vollenden, wozu ich selbst mich nicht gewachsen fühle; sofern nur dies mit Demut und Ehrfurcht gegen Gott, die Religion und die heiligen Schriften und ohne unüberlegte Begier und Eile, Neues zu bringen, geschieht. Man muß allerdings wegen der Reinheit und Heiligkeit der Religion selbst bitten, daß die theologische Wissenschaft, sowohl die biblische als auch die dogmatische, von Tag zu Tag erfreulicher gedeihe! Es bleibt nun noch, daß ich dem hochzuverehrenden Mann, der dem irdischen Leben schon entrissen ist, dem hochverdienten Theologen dieser Hochschule (Akademie) und Gemeinde, D. Johann August Dietelmaier, meine Verehrung und Dankbarkeit bezeuge, ich, der ich durch die einzigartige Gunst der sehr illustren Herren Kuratoren unserer Hochschule (Akademie) aus den entferntesten Landstrichen Deutschlands zur öffentlichen Professur der Theologie an dieser berühmten Universität der schönen Wissenschaften berufen und mit so vielen so großen Wohltaten überhäuft wurde. Ich wünsche also nichts mehr, als daß unter der gnädigsten Regierung des hocherhabenen Kaisers Joseph II. die berühmte Stadt Nürnberg von Tag zu Tag wachse und gedeihe. – Der höchste Gott sei mit seiner vorausschauenden Fürsorge bei dem hochedlen Senat dieser berühmten Republik, damit der Ausgang der außerordentlich klugen Beratungen höchst erfolgreich sei und daß alle Ratschläge sich zum Heil der hochillustren Herren selbst und zur Erhaltung der hochedlen Geschlechter wenden. – [39] Es erleuchte die göttliche Gnade besonders die hochillustren Kuratoren dieser Universität, meine allergnädigsten Herren, die nicht weniger durch ihren Ruhm als durch den Glanz ihrer Abkunft angesehen sind, die nicht nur dadurch, daß sie mir eine so außerordentlich bedeutende Stelle in der ehrenwerten Theologischen Fakultät gnädig überlassen haben, sondern auch durch die gewaltige Anhäufung von anderen Wohltaten, ebenso wie die hochillustren Landesherren sich mich so sehr verpflichtet haben, daß ich mich mein ganzes Leben lang der Vergeltung dieser Dankesschuld nicht gewachsen fühle. Es erstatte also Gott T. O. M. das, was ich selbst jedenfalls nicht zu erstatten vermag, und er lasse jenen Herren das höchste und am meisten erwünschte Glück in allen Dingen zukommen. Er mache ferner, daß alle Pläne, die sie im Hinblick auf das Wohlergehen unserer Hochschule (Akademie) gefaßt haben, zu einem bei weitem sehr glücklichen Ausgang gelangen. Darauf werde ich in der Tat eifrig hinarbeiten, wobei ich nach Kräften, sofern mir Gott [ein so langes] Leben zugestanden haben wird, die einzelnen Bereiche (Teile) meines Amtes verwalten werde, daß die hochillustren Herren nicht meinen, sie hätten ihre Wohltaten einem Undankbaren erwiesen.

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Jetzt wende ich mich an Sie, Magnifizenz, Rektor der Hochschule (Akademie).¹⁰ So groß sind in der Tat Ihre Verdienste mir gegenüber, so große und so einzigartige Zeichen Ihrer besonderen Gunst und Ihres besonderen Wohlwollens haben Sie mir zuteil werden lassen, daß das Andenken an Ihren verehrungswürdigen Namen mir immer besonders heilig sein wird. Einen würdigen Dank freilich für diese so große Gunst, die ich schon in Dortmund erfahren habe, kann Ich ihnen, Magnifizenz, nicht abstatten; wenn aber etwas in mir ist, das mich für die Zukunft auf irgendeine Weise Ihnen empfehlen könnte, so ist dies in der Tat mein frommer Sinn, mit dem ich Sie verehre, der niemals aufhören wird, den höchsten Gott mit heißesten Gebeten anzuflehen, er möge die Wünsche, die er für sie ausgesprochen hat, erfüllt sein lassen: Gott, der Beste und Größte möge Sie, die besondere Zierde und Schmuck unserer Hochschule (Akademie) und meinen besten Gönner, bis in die späten Lebensjahre hinein gesund und unversehrt erhalten und Sie immer mit solch großem Glück beschenken, das mir und allen Gutgesinnten nur reichlichsten Anlaß liefern kann zur Freude und der ganzen Universität zum Dank. – [41] Möge es erlaubt sein, den anwesenden erhabenen Prokanzler dieser Hochschule (Akademie) zu verehren, einen Mann, der sich sowohl um die gesamte Wissenschaft als auch besonders um diese Universität der Wissenschaften bei weitem sehr verdient gemacht hat. Gott gebe, daß er sein Land zum Vorteil der öffentlichen und der wissenschaftlichen Angelegenheiten so lange wie möglich ziert und daß er reichlichste Frucht seiner so hervorragenden Bemühung um die Angelegenheiten des Vaterlandes ernte. Dasselbe erbitte ich für Sie, edelster Herr, Präfekt dieser Stadt und des Landes, bei dem ich nicht weiß, ob ich die Bildung des Geistes oder die Würde des Amtes mehr verehren soll. Sie haben mich, als ich ankam, ja mit so großem Wohlwollen aufgenommen, als ob ich mich schon lange um die Hochschule (Akademie) und Gemeinde gut verdient gemacht hätte, und bis hierher mit so großer Gunst umfangen, daß Sie mich Ihnen eng verpflichtet haben. Gott bewahre Sie mit Ihrem hochedlen Geschlecht so lange wie möglich, und Er überhäufe Sie mit jeder beliebigen Art von Segen. An Sie wendet sich schließlich meine Rede, hervorragendste und hochberühmte Professoren aller Fakultäten, hochverehrte, hochwillkommene Gönner und Kollegen; und besonders an Sie, meine am höchsten zu verehrenden Herren, die Sie der ehrenwerten Theologischen Fakultät angehören. Seit ich hierher gekommen bin, haben Sie mich mit so großer Freundlichkeit empfangen und sich  Das Szepter der Hochschule (Akademie) hält zur Zeit der außerordentlich hervorragende und hochbedeutende Georg Andreas Will in Händen, ein sehr berühmter Mann, der sich um diese Hochschule (Akademie) als auch um die Angelegenheiten der Stadt Nürnberg überhaupt im höchsten Maße verdient gemacht hat, und der mein bester Förderer ist.

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mir so wohlwollend und kollegial gezeigt, daß ich dieses besonders angenehme Band, das mich mit Ihnen verbunden hat, zum höchsten Glück meines Lebens zähle. Glauben Sie mir bitte, daß ich, wie ich niemals Ihre Wohltaten vergessen werde, ebenso mich außerordentlich glücklich schätzen werde, wenn ich, bei welcher Art meiner Aufgabe auch immer, Ihre Freundschaft auch in Zukunft verdienen und die verdiente Freundschaft bewahren könnte. Gott segne, das bitte ich inständig, Ihre privaten und öffentlichen Angelegenheiten: Er bewahre und stärke Ihre Kräfte über eine sehr lange Reihe von Jahren hin, damit sich diese Hochschule (Akademie) so lange wie möglich zu solchen Männern beglückwünschen kann, die durch Ruf und Verdienst sehr gefeiert sind. Ihnen schließlich, sehr verehrte Kommilitonen, bekenne ich meine dankbarste Gesinnung für Ihre so große Liebe zu mir, die Sie mir so oft bewiesen haben, und biete Ihnen jede beliebige Art der Aufgaben und Studien gern und dankbar an. Gott unterstütze Ihre wissenschaftlichen Studien, daß Sie, jetzt Hoffnung des Vaterlandes, einst als seine Zierde und Schmuck erstrahlen mögen. Der höchste Gott gebe, daß diese ganze Universität mehr und mehr blühe und gedeihe! Ich habe gesprochen.

Theodor Zahn Aspekte zu Leben und Werk Im Jahre 1804 veröffentlichte der Philosoph und Literaturkritiker Friedrich Schlegel seine Abhandlung „Vom Wesen der Kritik“. In dieser schreibt er: „Es ist nichts schwerer, als das Denken eines andern bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzen nachzukonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können.“¹ Das gilt auch für Theodor Zahn, so gewiß dessen umfassendes literarisches Werk und sein umfangreicher Nachlaß vielfach Aufschluß geben und sich im Abstand der Zeiten ein Rückblick vielleicht besser orten und Vergangenes an seinem Platz verstehbar machen läßt. Wir befinden uns in einem Jubiläumsjahr Zahns:

 Vortrag zum Festakt zu Ehren des 175. Geburtstages von Theodor von Zahn (10. Oktober 1838) am 31. Oktober 2013 in der Universität Erlangen-Nürnberg (bisher unveröffentlicht). F. Schlegel, Vom Wesen der Kritik (1804), in: ders., Schriften zur Literatur, hg. v. W. Rasch, München, 1972, 259. – Zu Th. Zahn vgl. besonders: Th. Zahn, Mein Werdegang und meine Lebensarbeit, in: E. Stange (Hrsg.), Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, 1925, 221– 248, Th. Zahn, Lebenserinnerungen Theodor Zahns 1838 – 1868, mitgeteilt von F. Hauck, ZBKG 20, 1951, 84– 100.190 – 211; 21, 1952, 72– 86; H. Model-Zahn, Theodor Zahn in Haus und Familie, Deutsches Pfarrerblatt 52, 1952, 452– 453.488 – 489.518 – 519; Art. Zahn, Theodor von, Die Professoren und Dozenten der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen 1743 – 1960, im Auftrag des Rektors hg. v. R. Wittern, Teil 1: Theologische Fakultät. Juristische Fakultät, 1993, 90 – 91 (= ErF, Sonderreihe 5); W. Baird, History of New Testament Research, Vol. 2: From Jonathan Edwards to Rudolf Bultmann, 2003, 367– 373; A. J. Bandstra, Theodor Zahn (1838 – 1933), Dictionary of Major Biblical Interpreters, ed. by Donald K. McKim, 2007, 1072– 1076; K. Beyschlag, Die Erlanger Theologie, Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 67, Erlangen 1993, 122 – 132; H. C. Brennecke, Art. Zahn, Theodor Ritter von, in: Erlanger Stadtlexikon, hg. v. C. Friedrich, B. Frh. v. Haller, A. Jakob, 2002, 759; W. Elert, Theodor Zahn. Eine Säkularbetrachtung, Luth. XV (= NKZ 49), 1938, 289 – 299; J. H. Hayes, Zahn Theodor (1838 – 1933), Dictionary of Biblical Interpretation, Vol. 2, 1999, 666; W. v. Loewenich, „Erlanger Theologie“ und Geschichtsforschung. Zum Gedächtnis von Theodor Zahn und Albert Hauck, Deutschlands Erneuerung 27, 1943, 240 – 245; W. v. Loewenich, Erlebte Theologie. Begegnungen, Erfahrungen, Erwägungen, München 1979, 105 – 108; O. Merk, Zahn, Theodor von (1838 – 1933), TRE 24, 2004, 478 – 482 (Lit.); U. Swarat, Alte Kirche und Neues Testament. Theodor Zahn als Patristiker, TVG 342, 1991 (Lit.); U. Swarat, Art. Zahn, Theodor (1838 – 1933), Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, Bd. 3, 1994, 2197– 2198; K. G. Wesseling, Art. Zahn, Theodor, BBKL 14, 1998, 321– 333; H. Windisch, Art. Zahn, Theodor, Ritter von, evg. Theologe, RGG1, Bd. V, 1913, 2181– 2182.

I. Jugend und Studienzeit

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Theodor Zahn wurde am 10. Oktober 1838 in Moers (Niederrhein) geboren und er starb vor 80 Jahren am 15. März 1933 in Erlangen. Seine Grabstätte befindet sich auf dem hiesigen Neustädter Friedhof. Politisch gesehen reichte sein fast 95jähriges irdisches Leben von der Epoche des Vormärz über das revolutionäre Jahr 1848, über den Aufstieg Preußens zum deutschen Kaiserreich 1871– 1918. Zahn sah in seinem Elternhaus den preußischen König Friedrich Wilhelm IV., er erlebte bewußt den Aufstieg Otto v. Bismarcks, zu dessen 80. Geburtstag er als Prorektor der Universität Erlangen eingeladen war und ihm persönlich die Glückwünsche in Friedrichsruh überbrachte. Er erlebte unmittelbar die Annexion Hannovers und Göttingens 1866 durch Preußen. Er erlebte den Zusammenbruch des Kaiserreiches, er durchlebte die gesamte Zeit der Weimarer Republik und noch die ersten Wochen des Naziregimes. Dem Theologen Th. Zahn begegnete das 19. Jahrhundert in seinen vielfältigen geistigen, religiösen und theologischen Strömungen von der Zeit der Erweckung an. Als Student prägte ihn die „Erlanger Schule“ und deren durchaus zu differenzierende, konservative Theologie – und im scharfen Gegensatz dazu sah er die schon bei Ferdinand Christian Baur einsetzende liberale Theologie und damit die Breitenwirkung historisch-kritischer Forschung in ihren Hauptvertretern wie z. B. Adolf Harnack. Er wußte um die „Religionsgeschichtliche Schule“ und ihre Wirksamkeit neben sich und seiner eigenen Forschungsarbeit. In der Weimarer Republik erkannte er das Aufblühen der „Dialektischen Theologie“. Und nicht zuletzt fiel in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ein starkes Erwachen der Erforschung der Alten Kirche, der Kirchenväter, der Patristik als Fachgebiet.² – In diesem nur in gröbsten Zügen genannten Rahmen möchte ich versuchen, Leben und Werk von Th. Zahn in einigen Punkten darzulegen.

I. Jugend und Studienzeit Aus seiner Kindheit und Jugend möchte ich nur zwei Zahn wichtige Feststellungen hervorheben.³ 1) Der als achter Sohn seiner Eltern Geborene, die zuvor drei Söhne in zartem Alter verloren hatten, wußte sich in einer außerordentlich glücklichen familiären

 Vgl. E. Preuschen, Art. Kirchenväter, RGG1, Bd. III, 1912, 1383 – 1384 mit Auflistung der zur Zeit Th. Zahns gängigen Forschung; C. Markschies, J. van Oort (Hg.), Zwischen Altertumswissenschaft und Theologie, 2002; bes. H. C. Brennecke, Patristik in der konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts, 62– 90.  Zum Folgenden vgl. bes. „Lebenserinnerungen Theodor Zahns 1838 – 1868“. Mitgeteilt v. F. Hauck, ZBKG 20, 1951, 84 ff.

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Lage. Die Zufriedenheit des Vaters, des Theologen und Pädagogen Franz Ludwig Zahn (1798 – 1890), der seine pädagogischen Ideale und Ziele als Direktor des von Friedrich Adolph Diesterweg übernommenen Lehrerseminars in Moers und in seiner privaten Präparandenschule im nahegelegenen Gutshof Fild verwirklichen konnte, wirkte sich auf die Familie aus. Die von Th. Zahn sehr geliebte Mutter Anna, geb. Schlatter, aus St. Gallen mit ihren durchaus strengen Erziehungsgrundsätzen verlor er mit 14 Jahren. Ihr Bruder war der Vater Adolf Schlatters. Th. Zahn und A. Schlatter sind direkte Vettern. – Auch in der zweiten Ehe des Vaters wußten sich die Kinder liebevoll von den Eltern ins Leben und im Leben begleitet und aufgehoben. 2) Th. Zahn schreibt: „Eine öffentliche Schule habe ich nie besucht. Bis heute beklage ich es nicht, daß ich niemals unter der despotischen Herrschaft gestanden habe, welche in vollen Schulklassen die Majorität über den Einzelnen auszuüben pflegt.“⁴ Gerade dieser häusliche Unterricht durch wechselnde Hauslehrer führte ihn zu starker Eigenverantwortung des Lernens und Arbeitens, ja zum selbständigen Nachgehen der Dinge und Probleme. Man braucht keine Suchmaschine, um zu ermitteln, wie sehr Th. Zahn diesen Sachverhalt selbständigen Denkens in seinem Gesamtwerk wiederholt und praktiziert. Mit knapp 16 Jahren legt er in Köln als Externer das Abitur ab. Eigentlich nach des Vaters Meinung noch zu jung zum Studium schickt dieser den Sohn nach Basel zum Eingewöhnen außerhalb des häuslichen Kreises. In klassischer Philologie und Theologie hört er Vorlesungen. Der Kulturphilosoph und –kritiker Jakob Burkhardt bleibt ihm lebenslang als Persönlichkeit wichtig. – In der Theologie macht er eine Erfahrung, die sein späteres Werk mitbestimmen sollte: Bei Christ. Joh. Riggenbach hört er eine „Synoptiker“-Vorlesung, die von der Sache her vergleichend die drei Evangelien Mt, Mk, Lk behandelt. Hier wird ihm für die eigene spätere wissenschaftliche Arbeit wichtig: Man muß erst die einzelnen Evangelien kennen. Ein solcher Vergleich ist „wissenschaftlich und vor allem hodegetisch ungeeignet“.⁵ Den synoptischen Vergleich lehnte er auch in seinem späteren Werk ab. Die sich an Basel anschließenden drei Erlanger Semester (1856/57) haben für ihn Weichenstellung. Es ist die Begegnung mit Johann Christian Konrad v. Hofmann. Von den damals etwa 500 Studenten in Erlangen waren rund 300 Theologen.⁶ Doch diesem akademischen Lehrer gelang es, sich persönlich anteilneh-

 Th. Zahn, Werdegang u. Lebensarbeit (s. Anm. 1), 225.  Th. Zahn, Werdegang u. Lebensarbeit (s. Anm. 1), 228.  Natürlich mit Schwankungen: vgl. aufschlußreich W. Elert, Die Hörer der Erlanger Theologischen Fakultät in zwei Jahrhunderten, zum Jubiläum der Friderico-Alexandrina, Luthertum (N. F.

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mend dem Einzelnen zuzuwenden. So wichtig ihm auch die Vorlesungen dieses Lehrers waren, Zahn hörte stets nur wenige und verwandte seine Zeit auf Vor- und Nacharbeit derselben, eben: zum eigenständigen Arbeiten. Auch das letzte Studienjahr in Berlin⁷ (1857/58) diente verstärkt dem Selbststudium. Außer dem praktischen Theologen Karl Immanuel Nitzsch, den schon seine Brüder gehört hatten, besuchte er – wie er später sagte: leider – nur gelegentlich die Vorträge/Vorlesung von Leopold Ranke, dem Meister historischer Methodik. 1858 – 1861 unterrichtet Th. Zahn – zunächst noch ohne Examen – an der Privatschule seines Vaters (mitunter 32 Wochenstunden), mitbedingt durch ein Augenleiden, das ihm immer wieder im Laufe der Jahre zu schaffen machte. Dennoch gelang es ihm, in dieser Zeit auch die kirchlichen Examina mit gutem Ergebnis in Koblenz abzulegen. Nur eine von ihm berichtete Episode dazu: „Am besten ging es wohl im Neuen Testament, wo latein gesprochen wird“, und in Katechetik „erregte es das größte Staunen, daß ich nach dem Heidelberger Katechismus unterrichtet sei“.⁸ Er selbst war nämlich inzwischen ein guter Lutheraner geworden. Es gilt, einen Augenblick innezuhalten: Th. Zahn hat die Jahre des Studiums und seiner Unterrichtszeit in Fild in folgende Einsichten gebündelt: Es sind vier Punkte: a) Nicht in der Anhäufung gebotener Stoffülle, sondern im eigenständigen Erarbeiten einiger Bereiche vollzieht sich Reifung im Denken. b) Im persönlichen Begegnen mit seinen akademischen Lehrern und auch häuslichem Verkehr bei ihnen, im geselligen Umgang überhaupt geschieht Reifwerden zur Persönlichkeit. c) In Verbindung mit Freunden, im mündlichen und schriftlichen Austausch mit diesen gestalten und glätten sich Positionen, die zu einem verantwortlichen Leben führen. Seine Brüder waren zugleich seine besten Freunde, gerade weil auch diese so eigenständig im Denken und Handeln waren wie er. – Studienfreunde kamen hinzu, z. B. Friedrich von Bodelschwingh, der nachmalige Gründer der Anstalten Bethel, und vor allem Hermann Ohl, der ihm später zum Schwager wurde und in dessen Elternhaus in Neustrelitz er schon als

von Neue Kirchliche Zeitschrift LV), 1943, 97– 123, 114 und Th. Zahns Angaben, in: Werdegang und Lebensarbeit (s. Anm. 1), 229 u. Anm. 1 ebd.  Das Folgende ist eindrücklich geschildert in: „Lebenserinnerungen Theodor Zahns 1838 – 1868“. Mitgeteilt von F. Hauck, ZBKG 20, 1951, 190 ff.  Brief an Hermann Ohl vom 22. April 1861, in : „Aus den Briefen Th. Zahns an Hermann Ohl 1860/67“. Mitgeteilt von F. Hauck, ZBKG 21, 1952, 227– 255, 237 f.

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Student reizend und warmherzig aufgenommen wurde.⁹ – Überhaupt, daß er mit verschiedenen Persönlichkeiten – das sei hier angeschlossen – näher oder flüchtiger bekannt wurde, war ihm für seine eigene Menschenbildung und -kenntnis wichtig: so z. B. mit Johann Hinrich Wichern, der das Rauhe Haus in Hamburg gründete und das Konzept der Inneren Mission schuf, so die Begegnung mit dem seiner Meinung nach verehrungswürdigen Wilhelm Löhe in Neuendettelsau, den er als Student von Erlangen aus aufsuchte (und dessen damalige Adepten er als unselbständige „Anbeter(n)“ bezeichnete);¹⁰ so August Vilmar in Marburg, der ihn zutiefst in seiner ganzen Art enttäuschte.¹¹ d) Wohl am nachhaltigsten und auch für seine eigene spätere Forschung am folgenreichsten war die Einsicht: „Ich selbst habe so durchaus keine dogmatische oder spekulative Ader.“¹² Dies bestätigt sich ihm auch in den folgenden Jahren. In einem Brief an seinen Bruder Michael vom 15.1.1865 heißt es: „Ich bin eben von allem, was man bei einem Theologen suchen mag, am wenigsten ein spekulativer Kopf und werde mich voraussichtlich mein Lebtage mit der Historie und ihren Hilfsmitteln abgeben, ohne zum System zu kommen.“¹³ Zurück in das Jahr 1861: Nach den Examina strebte Zahn eine andere Stelle an. Durch freundliche Vermittlung ergab sich die Möglichkeit, am Gymnasium in Neustrelitz zu unterrichten.¹⁴ Eine breite Lehrverpflichtung wartete dort auf ihn: vor allem Geschichte, Sprachen und auch Religion. Selbst immer wieder im Zweifel, ob er besser predigen oder unterrichten könne, kann er bald als Erfolg melden: „Die Sextaner fangen an, den Mund aufzutun, die Quintaner schlafen wenigstens nicht immer und die Tertianer haben dann und wann einen guten Tag.“¹⁵

 Dazu eingehend „Lebenserinnerungen…“ (s. Anm. 7), 192– 195.  So „Lebenserinnerungen…“ (s. Anm. 3), 98.  Dazu „Lebenserinnerungen…“ (s. Anm. 7), 208.  Brief an Hermann Ohl vom 30. Juni 1861, in: „Aus den Briefen…“ (s. Anm. 8), 240.  In: „Aus Briefen Theodor Zahns 1865 – 1878“. Mitgeteilt von F. Hauck, ZBKG 22, 1953, 112– 131, 113.  Näheres in: „Lebenserinnerungen Theodor Zahns 1838 – 1868“. Mitgeteilt von F. Hauck, ZBKG 21, 1952, 72 ff.  Brief an Hermann Ohl „Nov. 1861“: in: „Aus den Briefen…“ (s. Anm. 8), 245 f., 246.

II. Der akademische Lehrer

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II. Der akademische Lehrer Dreieinhalb erfolgreiche und besonders durch die Familie Ohl auch menschlich reiche Jahre in Neustrelitz fanden durch die Aussicht auf eine der drei Repetentenstellen in der Theologischen Fakultät in Göttingen ihr Ende.¹⁶ Th. Zahn verfaßte als Bedingung für die Bewerbung die in Latein abzufassende Schrift „De Marcelli Ancyrani theologia“ (1865). In ihr stellte er den als Ketzer angesehenen Theologen als bedeutenden Schrifttheologen ins rechte Licht. Er erhielt die erstrebte Repetentenstelle für die amtlich festgeschriebenen drei Jahre. Während dieser Zeit wurde er zum Licentiaten mit der in deutscher Sprache in endgültige Fassung gebrachten Untersuchung über „Marcell von Ancyra. Ein Beitrag zur Geschichte der Theologie“ (Gotha 1867) in der Göttinger Theologischen Fakultät promoviert. Er habilitierte sich kurz darauf ebenda mit einer Arbeit über „Der Hirt des Hermas untersucht“ (Gotha 1868). Von 1868 – 1871 war er Privatdozent und zweiter Universitätsprediger. 1871 wurde er beamteter a.o. Professor für Neues Testament und mit der weiteren Wahrnehmung des stellvertretenden Universitätspredigers betraut. Sein Antrag an die Fakultät 1868 lautete, Vorlesungen über das Neue Testament und „die sich daran anschließende altkirchliche Literatur“ halten zu dürfen. Im Rückblick definierte er die Aufgabe so: „Als Ziel meiner Lehrtätigkeit wie meiner Studien habe ich schon damals ins Auge gefaßt und bis heute nicht aus den Augen verloren ein auf selbständige Quellenforschung gegründetes Verständnis der Anfänge des Christentums“¹⁷, ein hoher, von ihm seit Beginn seines akademischen Wirkens und Forschens umgesetzter Anspruch. 1871 heiratete er Marie Ohl aus Neustrelitz. Schon auf das neunjährige Mädchen hatte er als Student anläßlich eines Besuches im Hause Ohl im Jahre 1857 den Blick geworfen. Diese Heirat war die glücklichste Entscheidung seines Lebens.Von Frau Marie Zahn wird später noch kurz zu berichten sein. Die Berufung auf eine der in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts mehrfach freien Stellen¹⁸ seines Faches schlug durch ministeriale Nichtberücksichtigung

 Vgl. zu Einzelheiten Th. Zahn, Werdegang und Lebensarbeit (s. Anm. 1), 231 ff.  S. Anm. 16, 233.  Angesichts der Stellenlage in der Theol. Fakultät in Göttingen bemerkte der Th. Zahn günstig gestimmte Universitätskurator von Warnstedt als in der Fakultät umlaufende Meinung: „Sie sind als Prediger eigentlich unentbehrlich und als Dozent sehr überflüssig“ (zitiert bei Th. Zahn, Werdegang und Lebensarbeit [s. Anm. 1], 235).

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fehl, wobei möglicherweise eigene kritische Äußerungen zum Kulturkampf mitspielten.¹⁹ Doch da einflußreiche Persönlichkeiten bei dem damals maßgebenden preußischen Minister Falk für Zahn eintraten, klappte die Berufung nach Kiel 1877. Nach erfreulich kurzem Einleben auch der Familie kam nach 11 Monaten die große Wende im Leben Zahns. Sein akademischer Lehrer Johann Christian Konrad v. Hofmann war am 20. Dezember des Jahres 1877 plötzlich verstorben. Dieser hatte Zahn ohnehin seinen Kollegen als ihm genehmen Nachfolger genannt.²⁰ Innerhalb weniger Tage – heute unvorstellbar –, nämlich bis Ende des Jahres 1877 hatten Fakultät und Senat der Universität beschlossen, Th. Zahn uno loco zu berufen und ihm dies noch vor Neujahr mitgeteilt. Die Ministerien in Preußen und Bayern wurden schnell einig, im Februar 1878 erging der Ruf, zum Sommersemester 1878 nahm Zahn seine Tätigkeit in Erlangen auf.²¹ Schon in Göttingen brieflich geäußerte Hoffnungen gingen jetzt in Erfüllung: „Ich für meine Person verlange nach nichts so sehr, als an einer kleinen stillen Universität ein Jahrzehnt verleben zu können, wo man sich sammeln und von unbefriedigtem Ehrgeiz frei halten kann.“²² Die Zahn übertragene o.ö. Professur war so umschrieben: „Neutestamentliche Exegese und Einleitende Wissenschaften“ und – jetzt vorgreifend – 1892 „Einleitende Wissenschaften und neutestamentliche Exegese“.²³ Zahn erläutert: „Einleitung in das Neue Testament“ meint nicht nur die Darlegung der „Entstehungsgeschichte der einzelnen neutestamentlichen Schriften“, „sondern alles,

 Th. Zahn, Mein literarischer, brieflicher und persönlicher Verkehr mit katholischen Gelehrten, in: ders., Altes und Neues in Vorträgen und kleineren Aufsätzen für weitere Kreise, Dritte Folge 1930, 45 – 53, 49 Anm. 1: „Die Idee, die katholischen Kandidaten der Theologie durch ein ‚Kulturexamen‘ zu patriotischer Gesinnung zu erziehen, scheint mir eher chinesisch als deutsch zu sein.“ Dem zuständigen Minister Falk soll dies zur Kenntnis gekommen sein (vgl. Werdegang und Lebensarbeit [s. Anm. 1], 237). Aber es wirkte sich auch aus, daß zahlreiche Ansichten Zahns hinsichtlich des frühen Christentums „not congruent with the contemparary critical positions“ waren (so A. Bandstra [s. Anm. 1], 1072).  Vgl. Th. Zahn, Johann Chr. K. von Hofmann. Rede zur Feier seines hundertsten Geburtstages in der Aula der Friederico-Alexandrina am 16. Dezember 1910 gehalten, 1911. Auf die zeitgleiche auch kritische Einschätzung des Verhältnisses v. Hofmann – Th. Zahn verweist H. Windisch (s. Anm. 1), 2181; s. auch F. W. Kantzenbach, Theodor Zahns wissenschaftliche Anfänge im Spiegel von Briefen Johannes v. Hofmanns, JFLF 31, 1971, 229 – 237.  Vgl. Th. Zahn, Werdegang und Lebensarbeit (s. Anm. 1), 237 f.  Brief an die Mutter vom 18. März 1869, in: „Aus Briefen Theodor Zahns 1865 – 1878“ (s. Anm. 13), 112 f. (Zitat 113).  Nachweise: Art. Zahn, Theodor von, in: Die Professoren und Dozenten der Friedrich-Alexander-Universität (s. Anm. 1), 90.

III. Das wissenschaftliche Werk

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was die akademische Jugend zu einem methodisch richtigen Studium des Neuen Testaments anzuleiten geeignet ist“.²⁴ Gewichtiger noch war Zahn: „Aber mein Lehrauftrag hinderte mich durchaus nicht, meine patristischen Studien fortzusetzen“, d. h. „den ursprünglichen Zweck meiner patristischen Studien: Sicherung der Geschichte des neutestamentlichen Kanons und die Förderung eines geschichtlichen Verständnisses des Neuen Testaments“.²⁵ Das führt unmittelbar zu Zahns wissenschaftlichem Werk.

III. Das wissenschaftliche Werk Man wird sehen müssen: a) Die ersten 32 Jahres seines wissenschaftlichen Wirkens galten fast ausschließlich der Patristik und nur von dieser Erforschung der altchristlichen Väter erschließt sich auch sein Zugang zur Arbeit an den neutestamentlichen Schriften. b) Doch diese Forschung steht unter einer festen methodischen Voraussetzung: Schon in seinem Artikel „Einleitung in das Neue Testament“ (zuerst 1879) bezeichnet er Richard Simon, den hochgelehrten Priester des Oratorianerordens, als „Begründer der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft“.²⁶ Er verbindet mit dessen Ansatz seine eigene Grundthese. Diese lautet: „Der Christenglaube hat durchaus Tatsachen zum Inhalt und ist nicht nur in seiner Entstehung, sondern auch in seinem Fortbestand dermaßen an Tatsachen gebunden, daß er mit ihnen steht und fällt.“²⁷ Der Begriff der Tatsache und das den Tatsachen inhärente

 So Th. Zahn, Werdegang und Lebensarbeit (s. Anm. 1), 238.  Ebd., 238 f.  Th. Zahn, Art. Einleitung in das Neue Testament (RE2, 1879, 142– 156) = Endfassung: RE3, 1898, 261– 274, 263.  Th. Zahn, Der Kampf um das Apostolikum, 1893, in: ders., Altes und Neues in Vorträgen und kleinen Aufsätzen für weitere Kreise, N.F., 1928, 1– 31, 16. – Für Zahn ist „Tatsache“ Schlüsselwort seiner wissenschaftlichen Arbeit und seines theologischen Denkens; vgl. ebd. etwa: „aller Glaube meint Tatsachen, behauptet Tatsachen, fordert Tatsachen“ (17), so daß erhoben werden kann: „Der Glaube selbst hat das unaustilgbare Bedürfnis, seiner historischen Wurzeln sich zu vergewissern“ (25), und im anstehenden Streitpunkt gefolgert werden kann, „daß das Apostolikum gar keine Theologie und Theorie enthält, sondern die von der Schrift beurkundeten Offenbarungstaten Gottes ausspricht, während alle anderen kirchlichen Bekenntnisschriften Lehrschriften sind“ (28). Weil es um diese Tatsachen geht, „gibt es eine historische Theologie, und darum ist diese notwendig“ (25), auch zur Erschließung der „Heilstatsachen“ (25). Manche

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Sachanliegen findet Th. Zahn in der Vorrede von R. Simons „Histoire critique du texte du Nouveau Testament“ (Rotterdam 1689) expliziert.²⁸ Nach Zahn wird von etwa 1720 an Simons Anliegen in seinem historischen und kirchlichen Sachgehalt so weithin preisgegeben, daß die weitere hermeneutisch-theologische Forschung auch für ihn, Th. Zahn selbst, irrelevant ist. D. h. Th. Zahn berücksichtigt R. Simons historisch-philologisches Vorgehen und Auslegen, nicht aber die in der deutschen Aufklärung sich langsam herausschälende Methodik historisch-kritischer Forschung.²⁹ Auch meidet er diese Bezeichnung in seinem gesamten wissenschaftlichen Werk.³⁰ Verstehen ist für Zahn im Glauben gründende Tatsachenwidergabe, die er historisch verabsolutiert. Und wie Richard Simon mit seinen Untersuchungen der Tatsachen-Sicherung des Glaubens auf biblischer Grundlage nachging, um damit seiner (römisch-katholischen) Kirche zu dienen, so verstand auch Th. Zahn sein wissenschaftliches Lebenswerk als eine der Kirche dienende Wissenschaft – und hier durchaus im Blick auf seine einstigen Erlanger akademischen Lehrer. c) Th. Zahn hat die Patristische Forschung bis in letzte Verästelungen hinein aufgearbeitet.³¹ Seine Quellenkenntnis galt als unübertrefflich, aber genau hier zeigten sich auch die Grenzen: Sein geradezu blindes Vertrauen in die Quellen weiteren Aspekte finden sich z. B. bei Th. Zahn, Warum müssen wir am Bekenntnis festhalten?, in: Altes und Neues (s.o.), 32– 56, bes. 50 – 55; ders., Ein Weihnachtsbekenntnis, ebd., 57– 68.  Th. Zahn, Der Kampf um das Apostolikum (s. Anm. 27), S. 16 Anm. 2: „Im Gegensatz zu der scholastischen Methode früherer Zeiten, welche mit abstrakten Begriffen operierte, aber auch im Gegensatz zu den Protestanten, welche sich auf ihren esprit particulier, d. h. auf das Zeugnis des h. Geistes beriefen, behauptet er (sc. R. Simon), die Religion bestehe vor allem in Tatsachen (choses de fait, womit p. 4 matières de fait wechselt).“ Zur Diskussion vgl. zusammenfassend O. Merk, Art. Zahn, Th. (s. Anm. 1), 479 (mit Lit.). Methodische Fragen bei R. Simon deckt auf: J. D. Woodbridge, Richard Simon le ‚pere de la critiquè, in: Le Grand Siècle et la Bible, ed. J. A. Amogathe, BTTG, 1989, 193 – 206; neuerer Gesamtüberblick: M. A. Fahey, Simon, Richard (1638 – 1712), Dictionary of Major Biblical Interpreters, ed. by D. K. McKim, 2007, 914– 918, bes. 915 f. (Lit.). Die ältere Forschung ist umfassend dargelegt bei W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, 21970, 41– 50.527 Anm. 33 – 38; 594 (Lit.).  Einzelnachweise dazu bei O. Merk, Art. Zahn, Th. (s. Anm. 1), 479.  Anders K. Beyschlag, Die Erlanger Theologie, in: 250 Jahre Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Festschrift, hg. v. H. Kößler, 1993, 205 – 269, bes. 249 – 253, 249. In Th. Zahns Vortrag „Warum müssen wir am Bekenntnis festhalten?“ (s. Anm. 27), heißt es (50): „Wer von uns die Kraft seines Lebens daran setzt, die Anfänge des Christentums und seine Literatur historisch und kritisch zu erforschen“, meint eindeutig nicht die „historisch-kritische Methode“, sondern das historisch-philologische Vorgehen Zahns, das er als solches als „kritisch“ bezeichnet und das er in seinem gesamten Werk durchhält.  Eine wichtige Nachzeichnung und Aufarbeitung bietet U. Swarat, Alte Kirche und Neues Testament (s. Anm. 1).

III. Das wissenschaftliche Werk

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führte zu einer historischen Überbewertung, zu einem Kombinieren von „Tatsachen“, der die Kraft des kritischen Unterscheidens zwischen Wahrscheinlichem und Unwahrscheinlichem oftmals fehlte. So bietet er – auch für den Fachgelehrten gelegentlich nicht mehr kontrollierbar – Kombinationen, über die A. Harnack einmal schrieb: Zahn führe „in Zeiten und Gegenden, die niemals gewesen sind, und zu Personen, die nie gelebt haben“.³² Daß dies der unbestritten anerkannten Gelehrsamkeit Th. Zahns keinen Abbruch tun konnte, ist auch von seinen oft scharfen Kritikern und Gegnern vielfach bezeugt, etwa von seinem Antipoden Adolf Harnack, von Adolf Hilgenfeld, von Franz Overbeck, von Adolf Jülicher, von H. J. Holtzmann, von Albert Schweitzer. Die Auseinandersetzungen waren hart, und Th. Zahn selbst war ebenfalls ein gefürchteter Kritiker, der wissenschaftlich Messer wetzen konnte. Doch soll dies hier nicht weiter berührt werden, so spannend es wäre, einmal die Geschichte der Kritik an Zahn und von Zahn aufzuarbeiten, die mit A. Hilgenfelds Behauptung ihren Anfang nahm, notwendig sei es „diesen Giftzahn rauszureißen“.³³ Zahn selbst stellte einmal fast resignierend fest: „Ich werde solches Zeug nicht wieder rezensieren. Ich habe ohnedies übergenug Polemik am Halse und weiß noch nicht recht, was ich eigentlich tun soll.“³⁴ d) Aus der Fülle von Zahns Schaffen – 248 Veröffentlichungen: Bücher, teils umfangreiche Schriften, Aufsätze und Rezensionen (es sollen rund 18000 Druckseiten, zuvor handgeschrieben, sein) – greife ich drei Hauptwerke mit kurzen Hinweisen heraus: In „Geschichte des Neutestamentlichen Kanons“, Bd. I. II 1.2 (1888 – 1892 [ein geplanter III. Bd. ist nicht erschienen]) geht es um folgenden Nachweis: Der ntl. Kanon ist aus liturgisch-gottesdienstlichem Gebrauch bereits zu Beginn des 2. Jahrhunderts mit 4 Evangelien, 13 Paulusbriefen und fast allen weiteren Schriften des Neuen Testaments erwachsen und abgeschlossen. Der „kirchliche(n) Erfahrungsbereich“³⁵ schuf den Kanon, nicht die dogmengeschichtliche Diskussion oder gar die Auseinandersetzung mit dem Erzketzer Markion. Diese Tatsache des Kanons ist das Fundament für die alte Kirche, freilich von Th. Zahn gewonnen aus patristischen Zeugnissen, durchwoben von den  So A. Harnack in seiner Rezension von Th. Zahn, Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons und der altkirchlichen Literatur, II. Theil: Der Evangeliencommentar des Theophilus von Antiochien, 1883, in: ThLZ 8, 1883, 487– 489, 488; vgl. auch Swarat (s. Anm. 31), 189.  Vgl. zu Zitat und Sachverhalt Th. Zahn, Werdegang und Lebensarbeit (s. Anm. 1), 234 f.; vgl. im Einzelnen: A. Hilgenfeld, Rezension von Th. Zahn, Der Hirt des Hermas, 1868, in: ZwTh 12, 1869, 229 – 241.  So Th. Zahn brieflich an H. Ohl am 25.6.1869, abgedruckt in: Aus Briefen Theodor Zahns 1865 – 1878 (s. Anm. 13), 125 f., Zitat: 126.  Nachweis bei K. Beyschlag (s. Anm. 30), 252.

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Ausführungen R. Simons und differenziert eingebrachten Bezügen der „Erlanger Schule“. In dem zeitlich anschließenden Hauptwerk „Einleitung in das Neue Testament“ (1897– 1899) geht es um den Nachweis der Entstehung der einzelnen Schriften des Neuen Testaments, die – als Tatsache konstatiert – alle im 1. Jahrhundert entstanden sind. Die älteste Schrift ist nach Zahn der Jakobusbrief (vom Bruder Jesu verfaßt); der Galaterbrief ist der älteste Paulusbrief; die Evangelien sind in der Reihenfolge Mt, Mk, Lk – so schon Augustin – geschrieben; sämtliche joh. Schriften (einschl. Apk) sind vom Zebedaiden Johannes verfaßt. Sämtliche Schriften des Neuen Testaments werden nicht aus der jeweils gegebenen Situation im Urchristentum erklärt, auch nicht die geistig-religiösen Wurzeln im Judentum und im Hellenismus bedacht, sondern ausnahmslos gilt deren Authentizität und Apostolizität, wie sie von Th. Zahn den patristischen Angaben entnommen werden. Ein solches Werk konnte nicht unbestritten bleiben, wie vielfache zeitgleiche Kritik belegt.³⁶ Zu diesen beiden Hauptwerken bieten die von Th. Zahn herausgegebenen „Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons und der altkirchlichen Literatur“ von 1881 an zumeist weitere minutiöse Begründungen. Das dritte Hauptwerk ist der von Zahn begründete und herausgegebene „Kommentar zum Neuen Testament“ (1903 – 1936). Hier zeigt sich nun der Neutestamentler Zahn,³⁷ da er – allerdings wegen Ausfall von Autoren nicht immer freiwillig – einen großen Teil der Kommentare selbst verfaßte. Im einzelnen ist die Intensität seiner Kommentierung darauf gerichtet, aus den Quellen der Väter der Alten Kirche historisch-philologisch und textkritisch die einzelnen Schriften des Neuen Testaments zu erklären. Nicht die exegetischen

 Auflistung der einschlägigen Rezensionen bei U. Swarat, Alte Kirche und Neues Testament (s. Anm. 31), 536; vgl. bes. A. Jülicher, GGA 161, 1899, 623 – 639; J. Weiß, ThR 3, 1900, 41– 50; weiter A. Schweitzer (Nachweise, Belege, Zitate bei O. Merk, Art. Th. Zahn [s. Anm. 1], 479 f.482); H. Windisch (s. Anm. 1), 2181: „Vollends seine ‚Einleitung in das NT‘ brachte einen glänzend zu nennenden Rechtfertigungsversuch aller kirchlichen Traditionen über Echtheit und Ursprung sämtlicher nt.licher Schriften. Freilich erreicht Z. seine Ziele nicht nur durch Beibringung gelehrten Materials und durch gründliche scharfsinnige Erörterung der Probleme, sondern bisweilen auch durch Ignorierung oder Beiseiteschieben entgegenstehender Bedenken, hin und wieder auch durch eine Beweisführung, die einen bestrittenen Tatbestand zur selbstverständlichen Voraussetzung macht. Der Arbeit der kritischen Theologie schenkt Z. zu wenig Beachtung.“  Als nahezu einzige auch exegetische Studie aus der Frühzeit Zahns ist der bedeutsame Aufsatz „Die seufzende Creatur, Röm 8,18 – 23, mit Rücksicht auf die neueren Auffassungen“, JDTh 10, 1865, 511– 542, zu nennen.

III. Das wissenschaftliche Werk

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Einsichten von der Zeit der Aufklärung an, nicht die historisch-kritische Forschung im unabdingbaren Ineinander von Rekonstruktion und Interpretation, nicht das reiche Feld religionsgeschichtlichen Vergleichens treten in den Blick. Die Entfaltung des theologischen Profils und die Forschung von Zahns eigener Gegenwart werden nahezu vollständig ausgeblendet. Und dennoch: Jeder einzelne Kommentar ist ein in sich geschlossenes Grundlagenwerk darin, die einzelne Schrift so zu verstehen, wie sie den ursprünglichen Lesern zugedacht war. Keinem der Kommentare fehlt der Zahn’sche Biß bzw. wie es R. Bultmann einst formulierte „die eigenwillige Art, seine Logik den Texten aufzuzwingen“. „Eine starke Monotonie und ein Vorbeigehen an aktuellen wissenschaftlichen Interessen ist allen Bänden des Zahnschen Kommentarwerkes eigen.“³⁸ Hinzugefügt sei: Zahns geradezu orthodoxes Luthertum wurde unterschwellig vielfach in die Kommentare verwoben. Es war schwer, mit Zahn wissenschaftlich ins Gespräch zu kommen,weil zu oft „über die Verwendung der Quellen keine Verständigung“ möglich war, und zudem war Zahn die liberale Theologie – der die meisten seiner wissenschaftlichen Kontrahenten zugehörten – auch kirchlich besonders seit dem Apostolikumstreit (1892/93) suspekt.³⁹ Insgesamt wird man über sein wissenschaftliches Werk sagen dürfen: Zahn war nahezu ausschließlich (und darin einseitig) Historiker. An einem theologischen Durchbruch hinderten ihn seine methodischen Voraussetzungen. Gleichwohl ist sein Gesamtwerk alpinem Urgestein vergleichbar, dessen Zusammensetzung nach einer Feststellung Harnacks „für uns andere einfach unkontrollierbar“ ist (in anderem Zusammenhang). Und Hans Lietzmann fügt hinzu: „Es gibt wenig Menschen, die so viel geschichtlich wissen und so wenig historisch-kritisch denken wie Zahn.“⁴⁰ Während von protestantischen Kollegen

 So R. Bultmann, Urchristliche Religion (1915 – 1925), Archiv für Religionswissenschaft XXIV, 1926, 83 – 164, 136; ders., Bespr. Th. Zahn, Grundsatz der neutestamentlichen Theologie (1928), in: ThLZ 55, 1930, 107– 110, 110. Schon H. Windisch (s. Anm. 1) konstatierte: „Die Kommentare Z.s zeichnen sich durch ausführliche, logisch überaus klare Erhebung des Gedankenzusammenhangs, gründliche Behandlung der textkritischen Probleme und ergiebige Heranziehung der patristischen Zeugnisse aus; weniger angenehm berührt die von Hofmann, Z.s Lehrer, übernommene Neigung zu originellen, aber gekünstelten Textlesungen und Textauffassungen“ (2181).  Vgl. z. B. Th. Zahn, Der Kampf um das Apostolikum (s. Anm. 27). Einen ausgezeichneten Überblick bietet Agnes v. Zahn-Harnack, Der Apostolikumstreit des Jahres 1892 und seine Bedeutung für die Gegenwart (1950), in: dies., Schriften und Reden 1914– 1950, hg. im Auftrag des Deutschen Akademikerinnenbundes durch M. Anders u. T. I. Reicke, 1964, 58 – 70.  Zu den beiden Zitaten vgl. W. v. Loewenich, Erlebte Theologie (s. Anm. 1), 106 f.

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Theodor Zahn

vielfach vor allem Zahns Methodik problematisiert wurde,⁴¹ fand sein Werk zu seinen Lebzeiten große Anerkennung in der röm.-kath. Patristik-Forschung, er wurde als „protestantischer Kirchenvater“ gewürdigt. Besonders auch durch seine Kommentare⁴² – und in der angelsächsischen Welt, die gegenüber den in Deutschland sich entwickelnden Forschungsmethoden sehr zurückhaltend war – fand Zahn erheblichen Anklang. Zahlreiche Übersetzungen seiner Untersuchungen ins Englische und lebhafter Austausch mit britischen Fachkollegen bereicherten Zahn selbst.⁴³ Der Versuch, in dieses Urgestein der Zahnschen Forschung einzudringen, ist gleichwohl bis heute geblieben: Nachdrucke seiner Hauptwerke und Kommentare im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts haben dazu beigetragen.⁴⁴ Ein im Erscheinen begriffenes Kommentarwerk zum Neuen Testament, aus der patristischen Literatur erstellt, ist ganz im Sinne Zahns, auch wenn Herausgeber und Bearbeiter viel zu wenig auf ihren geistigen Ahnherrn verweisen. – Klaus Bergers Kommentierung des Neuen Testaments in einem Band (²2012) zeigt in der Datierung ntl. Schriften zumindest deutliche Anleihen bei Th. Zahn. In nicht wenigen Einzelfragen und Beurteilungen in der heutigen ntl.Wissenschaft werden seine Anregungen – kritisch weitergeführt und geprüft – wieder aufgenommen, nicht immer erkennen lassend, daß Zahn der eigentliche Urheber derselben ist. Eine gute Aufarbeitung zur patristischen Forschung Zahns gibt Uwe Swarat (auch bei gelegentlich apologetischem Unterton). K. Beyschlag skizziert Zahn unter der Rubrik „Die großen Erlanger Historiker“.⁴⁵ – Das von Bischof U. Wilckens im August 2012 Papst Benedict XVI. gegenüber angeregte Schuld- und Bußbekenntnis der protestantischen Theologen, soweit sie sich der deutschen Aufklärung in ihrer Forschung zugewandt haben, würde wohl selbst Th. Zahn nicht einfordern, sondern eindeutig zurückweisen.⁴⁶ Insgesamt: Manche wissenschaftliche Anknüpfung an Th. Zahn führt gegenwärtig zur Neubewertung verschiedener seiner Beobachtungen und auch zur

 Vgl. z. B. oben Anm. 32.36.38; weiter W. G. Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 23), 247 f.  Vgl. etwa Th. Zahn, Mein literarischer, brieflicher und persönlicher Verkehr mit katholischen Gelehrten (s. Anm. 19), 45 ff., u. a. 45 Anm. 2; 50 Anm. 1; H. Windisch (s. Anm. 1), 2182.  Vgl. Th. Zahn, Werdegang und Lebensarbeit (s. Anm. 1), 247 f. Zahlreiche Schreiben von britischen Gelehrten finden sich im Nachlaß von Th. Zahn (aufbewahrt im Archiv der Universität Erlangen-Nürnberg und im „Archiv Theologische Fakultät“ in der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie).  Auflistung bei U. Swarat, Alte Kirche und Neues Testament (s. Anm. 1), 530.  K. Beyschlag, Die Erlanger Theologie (s. Anm. 1), 120 ff., 122– 132.  Zu Wilckens eigener weithin Abwendung von der historisch-kritischen Forschung vgl. U. Wilckens, Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann, 2012; zuvor schon ders., Kritik der Bibelkritik, in: Gottes Wort – zeitbedingte Vorstellung oder bleibende Wahrheit? Der Kampf um die Bibel heute, idea-Dokumentation 4/2012, 51– 58.

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Neueinschätzung seines wissenschaftlichen Werkes. Jedenfalls hat Zahn der Zusammengehörigkeit von patristischer Forschung und ntl. Exegese grundlegend Wege gewiesen.

IV. Zahns Leben in Erlangen Man darf sich diesen rastlos seiner Arbeit hingegebenen, hochgelehrten Forscher nicht wie einen „Hieronymus im Gehäuse“ vorstellen, der sich gar von Kirchenväterzitaten nährt. Er war ein seiner Familie und der Gesellschaft zugewandter Gelehrter. In seiner ersten Erlanger Zeit von 1878 – 1888 litt er ein wenig darunter, daß gerade seine damaligen Fakultätskollegen nicht so der Geselligkeit zugewandt waren. Aber er fand in der „Philomatia“, dem Fakultätenclub des 19. Jahrhunderts, einem interfakultativen Kreis in der Universität, regen Anschluß und hielt dort auch manchen Vortrag.⁴⁷ Mit seiner Familie wohnte er von 1878 an vor dem Bayreuther Tor, in der Bergstraße 13, dem heutigen Gästehaus der Universität, mit Garten, was ihm als passionierten Rosenliebhaber und –züchter wichtig war.⁴⁸ Sein Kollege v. Zezschwitz schrieb ihm schon vor dem Einzug: „Daß Sie so weit draußen wohnen werden, ist abscheulich.“⁴⁹ 1888, dem Dreikaiserjahr, erhielt er am 1. Mai einen Ruf nach Greifswald und am 18. Mai einen solchen nach Leipzig. Wegen des größeren Wirkungskreises, aber auch zur Horizonterweiterung für seine heranwachsenden Kinder ging er nach Leipzig. 1892 kehrte er nach dem sehr frühen Tod seines Nachfolgers Johannes Georg Gloel (1857– 1891) nach Erlangen zurück. In Leipzig störte ihn manche Schwierigkeit mit den sächsischen Kirchenoberen, z. B. daß die ntl. Prüfungen in lateinischer Sprache abgenommen werden mußten. Das eigentliche Wissen der Studenten käme wegen Sprachbarrieren zu wenig zur Geltung.⁵⁰ So kam er gerne wieder in das ihm vertraute Erlangen, wohnte in dem Haus, von dem wir gerade kommen, seit 1892 (Östliche Stadtmauerstraße 10, Ecke Universitätsstraße), und blieb hier über seine Emeritierung im Jahre 1909 hinaus auch in seinem Ruhestand.

 Brief an Hermann Ohl vom 23.1.1878 (in: Th. Zahn, Aus Briefen Theodor Zahns 1865 – 1878 (s. Anm. 13), 128 f.; Brief an den Vater vom 13.11.1881, in: Aus Briefen Theodor Zahns 1879 – 1930 (Erlangen-Leipzig-Erlangen). Mitgeteilt von F. Hauck, ZBKG 22, 1953, 249 – 266, 254 f.  Das Anwesen ist heute das völlig umgestaltete Gästehaus der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; vgl. auch den in Anm. 49 genannten Brief.  Zitiert im Brief an H. Ohl vom 24. 2.1878 (in: Aus Briefen Theodor Zahns 1865 – 1878 [s. Anm. 13], 131).  Th. Zahn, Werdegang und Lebensarbeit (s. Anm. 1), 243.

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Theodor Zahn

Hier erlebte er den Höhepunkt seines akademischen und wissenschaftlichen Wirkens.⁵¹ Unter seinen vielfachen wissenschaftlichen Ehrungen (5 x Dr. h.c.) war ihm die Ehrendoktorwürde von Cambridge die wohl herausragendste. 1907 erhielt er den „Verdienstorden der Bayerischen Krone“ (= pers. Adelstitel [= Theodor Ritter von Zahn]), von dem er kaum Gebrauch machte, während sein Verleger den Adelstitel durchaus zur Werbung nutzte. Als Autor hat er auch weiterhin in seinen Büchern „Theodor Zahn“ angegeben und in den Protokollen der Fakultätssitzungen, an denen er noch als 92-jähriger teilnahm, mit „Th. Zahn“ unterzeichnet. – 1894/95 war er Prorektor (der Rektor war immer der Landesherr), zudem mehrfach Dekan seiner Fakultät. 1909 wurde er Ehrenbürger der Stadt Erlangen, und anläßlich seines 90. Geburtstages 1928 erhielt eine Erlanger Straße seinen Namen. Das Ehepaar Zahn führte ein offenes, konfessionelle und soziale Grenzen sprengendes Haus, es empfing gerne Gäste und nahm Einladungen an.⁵² Das zeigte sich auch in einem herausragenden Fall. Der neu eingesetzte Erzbischof von Bamberg, Prof. Friedrich Philipp von Abert, machte 1905 zunächst bei Professor Zahn Antrittsbesuch und erst zu einem späteren Zeitpunkt bei dem amtierenden Prorektor. Der protokollarische Eklat wurde nur dadurch gemildert, daß der Erzbischof am gleichen Tage noch Angelegenheiten der katholischen Kirchengemeinde in Erlangen regelte.⁵³ Der Erzbischof erkannte sofort und sprach es auch aus, wie segensreich Frau Zahn diesem Hause inneres Gewicht gäbe.⁵⁴ Er traf damit auf den Punkt. In der großen Familie war sie Mittelpunkt gelingenden und gestaltenden Familienlebens. Darüber hinaus war sie nicht nur in Universitätskreisen, sondern auch in der sonstigen Stadt bekannt und wurde mit „Frau Konsistorialrat“ angeredet. Einmal im Jahr gab sie nur für Frauen und Kinder der Stadt ein großes Sommerfest oberhalb Erlangens auf den Atzelsberger Wiesen. Hier führte sie die verschiedensten Schichten der Stadt zusammen. Sie schuf soziale Weite. – Aber sie hatte auch innerhalb der Universität einen geachteten Platz. Es war Usus, daß an die Universität Neuberufene auch bei ihr Besuch machten und durch sie geradezu eine Einführung in die akademischen Sitten und Gebräuche erhielten und bei Wegberufung sich bei ihr verabschiedeten. Einer der

 Zum folgenden vgl. auch Art. Zahn, Theodor von, in: Die Professoren und Dozenten der Friedrich-Alexander-Universität (s. Anm. 1), 90; weiter: Th. Zahn, Aus Briefen Theodor Zahns 1879 – 1930 (s. Anm. 47), 249 f.  Vgl. – auch im folgenden mehrfach herangezogen – H. Model-Zahn, Theodor Zahn in Haus und Familie (s. Anm. 1).  Vgl. dazu auch Th. Zahn, Mein literarischer, beruflicher und persönlicher Verkehr mit katholischen Gelehrten (s. Anm. 19), 51.  Nach dem Bericht von H. Model-Zahn, Theodor Zahn in Haus und Familie (s. Anm. 1), 489.

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bedeutendsten Gynäkologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Walter Stoeckel, hat Frau Marie Zahn in seinen Lebenserinnerungen ein humorvollüberspitztes, köstliches literarisches Denkmal gesetzt.⁵⁵ Die Ferien mit der ganzen Familie verbrachten Zahns meist in Tirol. Aber einmal sollte eine große Italienreise der Familie anläßlich des 75. Geburtstages von Theodor Zahn und des 65. Geburtstages seiner Ehefrau Marie 1913 stattfinden. Sie begann glücklich – in Rom sogar mit einer Aussöhnung mit A. Harnack, der den Reisenden sehr behilflich war –, endete aber in Neapel mit tieftraurigem Ausgang: Die Familie bekam Typhus, eine Tochter starb und mußte in Neapel beerdigt werden, die übrige Familie kehrte krank nach Erlangen zurück. Das Ehepaar Zahn war todkrank. Frau Marie Zahn überstand die Strapazen der Krankheit nicht und

 W. Stoeckel, Erinnerungen eines Frauenarztes, hg. v. Dr. H. Borgelt, 1966, 124– 134 i. A. „Was Frau von Rottenburg in Bonn, war Frau Geheime Konsistorialrat von Zahn in Erlangen … . Die Gattin des international berühmten lutherischen Theologen Theodor von Zahn gehörte zu den oberen Zehntausend – in diesem Städtchen gleichbedeutend mit den oberen Fünfzig – und beeinflußte entscheidend das gesellschaftliche Leben. Mit ihr mußte man sich gut stellen, wollte man in Erlangen reüssieren. … ‚Vergessen Sie nicht, der Frau Konsistorialrat Ihre Aufwartung zu machen!‘ mahnte mein Chef. ‚Das ist wichtiger als alles andere!‘ Frau von Zahn empfing uns sehr gnädig, und obgleich sie das, was sie über uns wissen wollte, bereits in Erfahrung gebracht hatte, hörte sie nicht auf zu fragen. ‚Ja, meine Lieben‘, sagte sie dann, ‚Erlangen ist nicht Bonn, und Sie werden sich gewiß sehr umstellen müssen. Wer hierher kommt und sofort ein Haus kauft, hat damit zu rechnen, indigniert beobachtet zu werden. In Bonn mag aufwendige Lebensführung zum guten Ton gehören, hier aber – nun ja, Sie sind Frauenarzt. Wir erleben es am guten alten Veit, daß Frauenärzte mit besonderem Maß gemessen werden wollen … . Aber eins sage ich Ihnen: Es ist hier nicht üblich, nach der Suppe noch ein Zwischengericht zu geben, und Ihre Servierfrau wird sich weigern, Spülschalen zum Obst hinzustellen, das gibt es nur bei Rektors! Und wenn Sie gesellschaftlichen Umgang pflegen – bei Rosenthals bitte Zurückhaltung!‘ Im Telegrammstil hielt sie uns einen Vortrag über Universitätsprofessoren und ihre Frauen. Etwa so: Gerlach (Anatom) – unbedeutend, aber nette Gemahlin; Graser (Chirurg) – originell, Tyrann, Frau völlig versklavt; Voit (Interner Polikliniker) – sehr nett, leider verheiratet mit Münchner Spießerin; Haack (Historiker) – dumm, aber famos; Pentzold (Internist) – völlig unter der Fuchtel seiner gräßlichen Frau; Merkel (Anatom) – nervös, anständig, sie unpassend hübsch; Hensel (Philosoph) – sehr klug, fast blind, trotzdem guter Skatspieler; Rosenthal (Physiologe) – die Sache mit dem Frosch wird man ihm nie verzeihen! … ‚Vor allem, meine Lieben‘, schloß Frau Geheime Konsistorialrat ihre Vorlesung über den Umgang in Erlangen ab, ‚versäumen Sie Ihre Pflichtbesuche nicht! Sie können das in zwei oder drei Tagen erledigen. Sechzig bis achtzig Adressen dürften genügen.‘ … Wir verabschiedeten uns von Frau von Zahn mit ehrerbietigstem Dank für ihre wertvollen Hinweise und dem Entschluß, diese sofort in den Wind zu schlagen. … Die letzten Worte der Frau Geheimen Konsistorialrat, bei der uns abzumelden wir beileibe nicht versäumt hatten, aber lauteten: ‚Ich wußte ja, daß Ihnen eine große Zukunft bevorsteht. Wer meine Ratschläge richtig befolgt, für den ist Erlangen ein Sprungbrett in die Welt!‘„

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starb am 14. März 1914. Th. Zahn erwartete sein Hinscheiden und nahm Abschied von den Seinen. Doch er genas, fand zu alten Kräften zurück und überlebte seine geliebte Frau fast auf den Tag 19 Jahre, versorgt von seiner jüngsten Tochter. Mit 93 Jahren veröffentlichte er 1932 sein letztes Buch.

V. Schluß Lassen Sie mich schließen, indem ich noch einmal auf die beiden großen Gelehrten Zahn und Harnack zurückkomme.⁵⁶ Beide haben gemeinsam in ihrer akademischen Anfangszeit Editionen herausgebracht, sie entfremdeten sich dann durch sehr gegensätzliche Positionen, die Th. Zahn als ‛Konservativen’, A. v. Harnack aber als den großen ‛Liberalen’⁵⁷ zeigten. Nachweisbar im September 1913 haben sie dann bei gutem Chianti-Wein in Rom bei durchaus deutlicher Verschiedenheit ihrer Positionen persönlich Frieden geschlossen. Zum 91. Geburtstag Zahns schreibt Harnack am 9. Oktober 1929 dem „hochverehrten Kollegen, von dem ich seit dem Jahre 1869 in Dankbarkeit reichste Anregung, Belehrung und Berichtigung erfahren habe“. Und auf Zahns Zusendung seines neuesten Buches schreibt Harnack am 20. Dezember 1929: „Besten Dank für ‛Altes und Neues’, das ich mit Freude empfangen und gern und mit Nutzen gelesen habe. Ihr Brunnen spendet aus vielen Röhren; da hält man gerne sein Glas unter!“⁵⁸ – Das genügt und wirkt in die Gegenwart hinein – auch in eine theologisch und kritisch anders denkende Zeit.

 Th. Zahn, Aus Briefen Theodor Zahns 1879 – 1930 (s. Anm. 47), 250 u. Anm. 4 ebd. (Recherchen von F. Hauck); Briefe Adolf Harnacks an Theodor Zahn. Mitgeteilt von F. Hauck, ThLZ 77, 1952, 497– 502, 497 f. (Recherchen von F. Hauck); F. W. Kantzenbach, Adolf Harnack und Theodor Zahn. Geschichte und Bedeutung einer gelehrten Freundschaft, ZKG 83, 1972, 226 – 244.  Feinsinnige Nachzeichnung für Harnack bei A. v. Zahn-Harnack (s. Anm. 47).  Abgedruckt bei Hauck in: Briefe Adolf Harnacks an Theodor Zahn (s. Anm. 56), 502.

Walter Felix Bauer (1877 – 1960) Professor für Neues Testament Dem Gymnasium Philippinum zum 475-jährigen Bestehen

Anlässlich der Wiederkehr seines 125. Geburtstages am 8. August 2002 sollte es für das Gymnasium Philippinum Anlass sein, Walter Bauers als eines auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften herausragenden Gelehrten, der unsere Schule durchlaufen hat, zu gedenken. Von beiden Eltern her schwäbischer Herkunft wurde er am 8. August 1877 in Königsberg/Ostpr. als Sohn des dortigen Ordinarius für Mineralogie, Prof. Dr. Max Bauer, und seiner Ehefrau Julie, geb. Schnurrer, geboren. Er selbst hält in seinem Lebenslauf fest: „Nachdem ich in meiner Geburtsstadt kurze Zeit eine Vorschule besucht hatte, folgte ich 1884 meinen Eltern nach Marburg. Hier trat ich in die zweite Klasse der Vorschule ein und wurde nach anderthalb Jahren in die Sexta des Kgl. Gymnasiums aufgenommen. Nach bestandenem Maturitätsexamen bezog ich Ostern 1895 die Universität Marburg, um Theologie zu studieren“ (Diss., S. 45). Schon von der Schule her gut zugerüstet legte er 21-jährig nach sechs Semestern – darunter einem in Berlin – das erste Theologische Examen vor der Theologischen Fakultät in Marburg im Dezember 1898 ab. Anschließend studierte er zwei weitere Semester in Straßburg Orientalia und Geschichte und – für seinen späteren wissenschaftlichen Weg gewichtig – mit dem etwas älteren Albert Schweitzer zusammen bei dem damals in der liberalen Theologie führenden Neutestamentler Heinrich Julius Holtzmann (W.S. 1899/1900 und S.S. 1900). Seit Herbst 1900 war er „mit privaten Studien“ befasst, wohinter sich vornehmlich die weitere Aneignung orientalischer Sprachen und die Abfassung seiner akademischen Qualitätsarbeiten verbarg. 24-jährig wurde er zum Licentiaten der Theologie promoviert (6. Mai 1902) und wenige Monate später für das Fach Neues Testament habilitiert (Februar 1903). Er war damit einer der jüngsten Dozenten der Philipps-Universität. Seit Herbst 1901 (zweiter) Repetent an der Hessischen Stipendiatenanstalt hatte er hier über eine lange Privatdozentenzeit hindurch eine (schmale) Mensa, bis er 1913 a.o. Professor in Breslau wurde (erst hier waren die finanziellen Voraussetzungen für Ehestand und Familiengründung gegeben). In gleicher Position ging er 1916 nach Göttingen und wurde ebenda 1919 o.ö. Professor. Hier blieb er auch nach seiner Emeritierung (31.12.1945). Schon im Übergang zum Ruhestand wurde er als politisch völlig Unbelasteter Dekan seiner Fakultät und führte diese mit Geschick durch eine krisenreiche Zeit. Am 17. November 1960 ist er in Göttingen gestorben.

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Walter Felix Bauer (1877 – 1960)

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Worin liegt die Bedeutung Walter Bauers? Zunächst ist festzuhalten: Vom Studium her und in seinem theologischen Denken war er – weit gefasst – von der liberalen Theologie und dem ihr inhärenten Wissenschaftsethos durch seine akademischen Lehrer geprägt. Namen wie Adolf Jülicher (Marburg), Adolf Harnack (Berlin, damals noch nicht geadelt), Heinrich Julius Holtzmann (Straßburg) stehen dafür. Hinzu kommt für seine orientalisch philologischen [484] Interessen der Orientalist Theodor Nöldeke (Straßburg). Die Herausgabe von H. J. Holtzmanns Kommentar zum Johannesevangelium (³1908) und von dessen ‚Lehrbuch der Neutestamentlichen Theologie‘ (²1911, zus. mit A. Jülicher) verband ihn besonders mit diesem Straßburger Lehrer, dem er im Gedenken an die Wiederkehr seines 100. Geburtstags 1932 eine Maßstäbe setzende biographische und wissenschaftliche Würdigung zuteil werden ließ. Seine gerade vor einem Jahrhundert erschienene Dissertation im Umfang von 44 Seiten über „Mündige und Unmündige bei dem Apostel Paulus“ (1902) eröffnet eine theologisch und religionsgeschichtlich weitgreifende Diskussion über die Weisheitspredigt des Apostels und zeigt auch deutlich lexikographisches Interesse des Verfassers. Seine Habilitationsschrift über „Der Apostolos der Syrer in der Zeit von der Mitte des 4. Jahrhunderts bis zur Spaltung der syrischen Kirche“ (1903) führt in einen Teilbereich der syrischen Kirchengeschichte, die Bauer auch in weiteren Forschungen beschäftigen wird. Er rekonstruiert einen wesentlichen Abschnitt, den die neutestamentlichen Schriften auf dem Weg in die syrische Kirchenbibel genommen haben. Bauers auch weiterhin zentrales wissenschaftliches Anliegen wird bereits hier deutlich: Die Rekonstruktion ermöglicht ihm erst die Interpretation. – Umfassende Kenntnis der vorderorientalischen Sprachen lassen Bauer mühelos jüdische, aramäische, syrische, koptische Quellen auswerten, dazu selbstredend das Material der hellenistischen Welt. Die Breite seiner Forschungen und nicht zuletzt seine zahlreichen noch gegenwärtig wichtigen Quelleneditionen bis weit in die frühe Kirchengeschichte reichend verdanken sich diesem Sachverhalt und erlaubten ihm auch religionsgeschichtlich eigenständig weiterführende Studien. Das noch in die Marburger Zeit fallende Werk „Das Leben Jesu im Zeitalter der neutestamentlichen Apokryphen“ (1909; den Lehrern A. Jülicher und H. J. Holtzmann gewidmet) ist eine bis heute kaum ausgeschöpfte ‚Fundgrube‘ des gesamten Bereichs der Jesusüberlieferung, eine auch entlegendste apokryphe Äußerungen in den frühen Jahrhunderten der Kirche aufspürende Darstellung, die mit Recht 1967 in einem Nachdruck erneut vorgelegt wurde. – Seine Auslegung des Johannesevangeliums lässt in drei Auflagen (1912; ²1925; ³1933) den Wandel der religionsgeschichtlichen Forschung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu diesem Evangelium erkennen. Er erklärt von der ersten Auflage an durchgängig dieses Evangelium aus der Religionsgeschichte der damaligen hel-

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lenistischen Welt und vermittelt von der zweiten Auflage an ein Bild der im Johannesevangelium kritisch aufgenommenen Gnosis, bei dem sich Bauer mit einem anderen Marburger Theologen, dem ebenfalls unserer Schule eng verbundenen Rudolf Bultmann grundsätzlich traf. Auch wenn dessen theologisch existentiell betroffen machende Auslegung in seinem Kommentar zum Johannesevangelium (1941) auf Dauer Bauers Werk in den – allerdings bleibend wichtigen – Hintergrund rückte, hat dies der Freundschaft beider Gelehrter seit der gemeinsamen Marburger Zeit (1907– 1913) nie Abbruch getan. Bauers erkannter theologischer Leitfaden im Johannesevangelium hat durchaus in die weitere Forschung hineingewirkt: Gegenüber den Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas „stellt“ Johannes „bereits das Leben des Irdischen so dar, daß fortgesetzt die himmlische Herrlichkeit die sterbliche Hülle durchbricht“ (²1925, 22; ³1933, 25). In die frühen Göttinger Jahre fallen die Auslegungen der Briefe des Ignatius von Antiochia und des Briefes des Polykarp von Smyrna an die Philipper (1920). Diese Kommentare bestätigen für Bauer die Notwendigkeit, neutestamentliche Exegese und Fragestellungen bewusst in die Zeit der frühen Kirche – in diesem Falle in das 2. Jahrhundert hinein – als ihrer ersten Wirkungsgeschichte zu bedenken, wie u. a. die theologisch-christologischen Konzeptionen dieser Schreiben vor Augen führen. Am weitreichendsten unter seinen Aufsätzen und Einzelveröffentlichungen hat seine Monographie „Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum“ gewirkt (1934; ²1967 mit einem Nachtrag von G. Strecker), allerdings zur Enttäuschung des Autors nur begrenzt zu seinen Lebzeiten. 1971 erschien das Werk in englischer Übersetzung. Es ist seitdem in den letzten Jahrzehnten in der angelsächsischen Welt lebhaft diskutiert worden und dadurch mit ausgelöst im deutschen und europäischen Raum. Es geht Bauer um den sehr beachtenswerten, wenn auch häufig nur hypothetisch zu erschließenden Nachweis, dass in der frühen Christenheit keineswegs am Beginn überall die Orthodoxie, sondern die Häresie in mannigfaltigen Ausprägungen stand (so z. B. in Edessa, in Ägypten und zahlreichen weiteren Kirchengebieten) und dass erst allmählich, entscheidend von Rom ausgehend, sich die Orthodoxie durchsetzen konnte. Hier bündeln sich – teilweise weitergeführt und korrigiert (so sein Kommentar zu den Ignatianen) – des Autors jahrzehntelange Forschungen in einer maßgebenden Neukonzeption gegenüber des Altmeisters Adolf v. Harnacks Sicht des Urchristentums. Führende Fachkollegen meldeten sich ganz überwiegend positiv zu Wort. So schrieb der Berliner Neutestamentler und Kirchenhistoriker [485] Hans Lietzmann gleich nach Erscheinen: „ein prachtvolles Buch“, „ein mit solidester Gelehrsamkeit, bohrender Kritik und wagemutiger Konstruktionsgabe höchst temperamentvoll durchgeführter Generalangriff auf die übliche Kirchengeschichtsschreibung, die sich von unserem Quellenbestand verleiten läßt, die Rolle der ‚Ketzereien‘ in der

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Entwicklung des Christentums ganz gewaltig zu unterschätzen und so ein völlig falsches Bild vom Gesamtzustand der Religion in ihrer Frühzeit zu zeichnen“. „Bauers Buch gehört zu den Werken, deren Wert nicht in der Summe der bewiesenen Einzelheiten liegt, sondern die durch ihre aufrüttelnde Gesamtwirkung die Forschung zu heilsamer Selbstbesinnung zwingen“ (Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 33, 1934, 94). Doch durchaus stärkeren Einfluss schon zu seinen Lebzeiten hatte das von ihm nach dem Tode des Neutestamentlers Erwin Preuschen (1920) fortgeführte und völlig neugestaltete Lexikon „Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur“ (²1928). Wieder ist es Hans Lietzmann, der in diesem Falle für alle seine Kollegen und den weiteren Benutzerkreis schreiben kann: „Wir besitzen … nun zum NT und dem nachapostolischen Schrifttum ein Spezialwörterbuch, das all den hohen Ansprüchen gerecht wird, welche die Wissenschaft auf diesem allerschwierigsten Grenzgebiet zu stellen berechtigt ist. Es geschieht selten, dass ein derartiges Werk seine mannigfachen Aufgaben restlos erfüllt: hier ist es zur Wirklichkeit geworden, und wir dürfen den Verfasser zur Vollendung dieses Meisterwerkes aufrichtig beglückwünschen“ (Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft [s.o.] 27, 1928, 349). Eine dritte Auflage erfolgte 1937, eine vierte 1952, eine fünfte 1958, die beiden letzten unter erheblichen Beschwernissen einer Augenkrankheit des Verfassers. Bei der Vorbereitung der dritten Auflage hat Wilhelm Luther, der spätere Direktor des Gymnasium Philippinum, als klassischer Philologe und Theologe geholfen. Als er – Walter Bauer schützend – nationalsozialistischen Eindringlingen unsanft handgreiflich die Türe wies, verlor er seitens der Leitung der Universität Göttingen seine Mitarbeiterstelle und wurde daran gehindert, sich im Fachgebiet Neues Testament (unter W. Bauer) zu habilitieren (vgl. auch „Chronika“ 5. Folge, Nr. 2, Dezember 1972, 36). W. Luther ist gleichwohl diesem Wörterbuch durch Mitarbeit treu geblieben, und W. Bauer schreibt im Vorwort zur vierten Auflage (Juli 1952): „Ein besonders herzlicher Dank aber sei meinem Freunde Studienrat Dr. W. Luther in Marburg a. d. L. ausgesprochen, der seinem vollbesetzten Arbeitstag noch die Zeit abgewonnen hat, mich bei der Korrektur tatkräftig zu unterstützen“ (S. VIII). Dieses Wörterbuch ist seit seiner zweiten Auflage ein Standardwerk aller Theologen und zahlreicher Altphilologen. Es gehört zu den bedeutendsten geisteswissenschaftlichen Leistungen in unserem Land. Eine englische Übersetzung (1957; ²1979) ermöglichte ihm weltweite Verbreitung, eine sechste, neubearbeitete Auflage 1988, besorgt von Barbara und Kurt Aland im Institut für Neutestamentliche Textforschung in Münster, hält es auf dem gegenwärtigen internationalen Stand. Welch eine Persönlichkeit steckt hinter dem hier Skizzierten, der in seinem Lebenswerk, auch in den jetzt nicht näher angeführten exegetischen und ausle-

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gungsgeschichtlichen kleineren Beiträgen, im besten Sinne Anstöße gegeben hat und der es stets ablehnte, ‚halbreife Früchte‘ seiner Arbeit zu publizieren? Göttinger Kollegen pflegte er gelegentlich zu sagen: Sobald man den Ort gefunden habe, in dem man gerne lebe, solle man nicht mehr umherziehen, sondern den Platz seines Arbeitszimmers und Schreibtisches nutzen. So konnte der Spruch aufkommen: ‚Bauers Leidenschaft ist der Schreibtisch‘, den er ebenso akzeptierte, wie er humorvoll war und gesellig sein konnte. Heute hochbetagte Theologen wissen zu berichten: ‚Bei Bauer hörte man nicht, er ist ja nur Philologe.‘ Wer es dennoch tat, wie Wilhelm Luther, erlebte anderes, und mancher hat es wohl später bereut, ihn nicht gehört zu haben. Der tief vom christlichen Glauben geprägte Bauer wusste Katheder und Kanzel, unter der er so oft saß, zu unterscheiden. Jeglichen Modeströmungen, die es auch in der Theologie gibt, war er abhold. Seine Lehrveranstaltungen müssen zwar nüchtern, aber sehr präzise die Studierenden in die Gedankenabfolge einbeziehend gewesen sein. Methodische Klarheit, die zu eigenem Mitbedenken der Sachfragen anleitete, letztlich das Anliegen seiner Veröffentlichungen, galt ihm auch für die akademische Lehre: „Der Historiker darf keine vorgefaßte Meinung haben. Er muß wohl konstruieren, um so nötiger, je weniger ergiebig seine Quellen sind … . Aber er darf erst konstruieren, wenn er alles, was sich feststellen läßt, auch wirklich ermittelt hat und seine Konstruktion nun im Einklang damit bleibt; und er darf es ferner nur, wenn er deutlich kundgibt, was Hypothese und was Vermutung ist“ (Aufsätze und kleine Schriften, hg. v. G. Strecker, 1967, 156). Gesamtwissenschaftlichen Aufgaben entzog er sich nicht: Er gab von 1930 – 1939 die für theologisches Schrifttum führende „Theologische Literaturzeitung“ heraus, und von 1949 an bis zu seinem Tode war er [486] Mitherausgeber der „Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche“. Vielfach wurde er wissenschaftlich geehrt: Seit 1925 war er Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, seit 1934 „Honorary member of the Society of Biblical Literature and Exegesis“, seit 1949 gehörte er der wissenschaftlichen Gesellschaft „Sodalicium Neotestamenticum Upsalense“ an. Schon 1916 wurde er Ehrendoktor der Marburger Theologischen Fakultät, mehrfach Dr. phil. h. c.‚ zuletzt seitens der philosophischen Fakultät der Universität Hamburg 1954. Im gleichen Jahr empfing er das große Verdienstkreuz der damals jungen Bundesrepublik Deutschland. In Walter Bauer verbinden sich der Exeget, der (Kirchen‐)Historiker und der Philologe. Im glücklichen Zusammentreffen dieser Bereiche und ihrer hart errungenen, sie zusammenfügenden Auswertung liegt seine wissenschaftliche Lebensleistung, wobei der Gelehrte um den dauernden Fortgang der Forschung sehr genau wusste und diesen auch in selbstkritischer Weiterarbeit ständig förderte. Was er zu seinem Wörterbuch im 77. Lebensjahr schrieb, gilt als Devise für sein

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gesamtes Werk und Wirken: „Niemand braucht Sorge zu haben, es gäbe hier bald nichts mehr zu tun, und es lohne sich daher nicht, in diese Arbeit einzutreten. Denn keiner, der sich ihr mit einiger Hingabe widmet, kann dem Gefühl entgehen: wie groß ist doch das Meer, wie winzig die Muschel, mit der man schöpft“ (Aufsätze, 90).*

* Für freundliche Übermittlung von Angaben aus dem Schularchiv danke ich Herrn OStR. Wolfgang Gut sehr herzlich. – Für weitere Belege zu Leben, Werk u. Lit. vgl. W. Eltester, ZNW 52, 1961, S. Vf.; G. Strecker, Art. Bauer, Walter, TRE 5, 1980, 317– 319; O. Merk, Art. Bauer, Walter Felix, RGG⁴, Bd. 1, 1998, 1169. Ungedruckte Vorträge Bauers befinden sich in der Staats- u. Univ. Bibliothek Göttingen.

Adolf Jülicher als Paulusforscher – anläßlich seines 150. Geburtstages* Adolf Jülichers an seinem heutigen 150. Geburtstag zu gedenken heißt, anhand der Persönlichkeit eines Gelehrten, seines Wirkens und Forschens, einer bedeutenden Epoche theologischen Denkens, der „liberalen Theologie“, in einem begrenzten Ausschnitt zu begegnen. I. Doch wer war (Gustaf) Adolf Jülicher?¹ Der am 26. Januar 1857 in Falkenberg bei Berlin Geborene wurde nach Schulzeit und Studium in Berlin 1880 in Halle mit einer alttestamentlichen Untersuchung zum Lic. phil. promoviert.² Er erwarb 1886 in Berlin mit einem Werk über die Gleichnisreden [150] Jesu den Dr. theol.; 1887 erfolgte dort mit einer patristischen Arbeit die Habilitation in Kirchengeschichte. 1888 aufgrund eines fulminanten Gutachtens von A. Harnack aus dem Pfarramt (1882– 1888) nach Marburg auf eine a.o. Professur berufen, war er dort von 1889 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1923 o.ö. Professor für Neues Testament und Alte Kirchengeschichte. Über diese „Umgrenzung“ seines Lehr- und Forschungsbereichs war Jülicher stets sehr befriedigt, denn – so schreibt er – „das

* Vortrag gehalten in der Plenarsitzung am 26. Januar 2007 der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.  Zur reichen Literatur zur Person und über das Werk vgl. in Auswahl: A. Jülicher in seiner Selbstdarstellung, in: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. v. E. Stange, Bd. IV, 1928, 154– 200 (abgek.: A. Jülicher; zitiert gemäß Doppelpaginierung 1– 41); H. v. Soden, Akademische Gedächtnisvorlesung für Adolf Jülicher, ThBl 18, 1939, 1– 12; N. van Bohemen, Art. Jülicher, Adolf, DBS IV, 1949, 1414– 1417; W. G. Kümmel, Adolf Jülicher (1857– 1938) – Theologe, Neutestamentler und Kirchenhistoriker, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte, Bd. 2., Ges. Aufs. 1965 – 1976, hg. v. E. Gräßer u. O. Merk, MThSt 16, 1978, 232– 244 (Lit.); H.-J. Klauck, Adolf Jülicher – Leben, Werk und Wirkung, in: Historische Kritik in der Theologie. Beiträge zu ihrer Geschichte, hg. v. G. Schwaiger, Studien zur Theologie- und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 32, 1980, 99 – 150 (mit fast vollst. Bibliographie); O. Merk, Jülicher, (Gustaf) Adolf, in: Literaturlexikon (Hg. W. Killy), Bd. 6, 1990, 150 f.; B. Reicke, Jülicher Adolf (1857– 1938) in: DBI, Vol. 1: A–J, 1999, 650 f.; J.-Chr. Kaiser, Adolf Jülicher als Zeitgenosse. Eine biographische Skizze, in: U. Mell (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899 – 1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher, BZNW 103, 1999, 257– 286 (Lit.); W. Baird, History of New Testament Research, Vol. 2: From Jonathan Edwards to Rudolf Bultmann, 2003, 156 – 163 u. ö. – Weiter vgl. die bibliographischen Angaben bei H. Schmidt, Art. Jülicher, Adolf 1857– 1938, in: ders., Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 15, 1998, 108.  A. Jülicher, Die Quellen von Exodus I–VII,7. Ein Beitrag zur Hexateuchfrage, Diss. phil. Halle 1880 (Teildruck); die Fortsetzung: ders., Die Quellen von Exodus VII,8-XXIV,11. Ein Beitrag zur Hexateuchfrage, JPTh 8, 1882, 79 – 127.272– 315.

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Neue Testament und die alte Kirchengeschichte gehören zusammen, und besonders dem Neutestamentler ist nichts gefährlicher als die Beschränkung auf sein enges Gebiet“.³ 1894 wurde er „Correspondirendes Mitglied“ in der Philologisch-Historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.⁴ Am 2. August 1938 starb der zeitlebens Schwerstbehinderte, über den der Kirchenhistoriker H. Lietzmann bewegend schrieb: „Es liegt auf diesem tapferen Gelehrtenleben von früh an eine erdrückende Kette von Leid.“⁵ Für den entschiedenen und – soweit dem Erblindeten möglich – aktiven Gegner des nationalsozialistischen Regimes sollten Nachrufe in der öffentlichen Tagespresse möglichst vermieden werden.⁶ II. Unter Jülichers annähernd 800 Veröffentlichungen auf den Gebieten Neues Testament, Patristik, Textkritik ist heute noch am ehesten sein Werk über die „Gleichnisreden Jesu“ (Bd. I 1886; Bd. II 1899 und Nachdrucke) [151] bekannt, das bis in die jüngste Zeit hinein theologische und auch germanistische Forschung beschäftigt.⁷ Seine „Einleitung in das Neue Testament“ (1.21894-71931 [mit E. Fascher]) darf als Höhepunkt liberaler historisch-kritischer Forschung gewertet werden. Hier wird der Ertrag des durch Carl Weizsäcker (1822 – 1899) vermittelten Erbes der Tübinger Schule eines Ferdinand Christian Baur (1792– 1860) in die nachbaursche Ära, die liberale Epoche Jülichers, eingebracht. Nur Fachkollegen sind Titel und Sachgehalt des Werkes noch gewärtig und wichtig.

 A. Jülicher (s. Anm. 1), 24.  Schon zuvor, von P. de Lagarde angeregt, schrieb er seit 1883 in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen“ Besprechungen. In vier Jahrzehnten veröffentlichte er dort etwa 50 teilweise umfangreiche Rezensionen.  H. Lietzmann, Notizen, ZNW 36, 1937 (erschienen 1938), 293 ff., 293 (Zitat).  Außer in der Lokalpresse erschien wohl nur anonym ein kurzer Artikel im „Schwäbischen Merkur“ am 10.8.1938; vgl. im übrigen: Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892– 1942). Mit einer einführenden Darstellung hg. v. K. Aland, 1979, 132 ff. Jülicher war ein politisch interessierter, aber nie parteipolitisch gebundener Zeitgenosse; vgl. A. Jülicher (s. Anm. 1), passim; J.-Chr. Kaiser (s. Anm. 1, mit auch Überzeichnung von Sachverhalten). Eindeutig kritisch stand er zur Berufungspolitik der Preußischen Hochschulverwaltung gegenüber der Marburger Theologischen Fakultät; dazu seine Streitschrift „Die Entmündigung einer preußischen theologischen Fakultät in zeitgeschichtlichem Zusammenhange“, 1913, in deren Besprechung E. Troeltsch (ThLZ 38, 1913, 401– 403) festhält: „Solange Männer wie Harnack und Jülicher an unserer Spitze stehen und ihre warnende Stimme erheben, werden wir den Mut nicht zu verlieren haben“ (vgl. auch H.-J. Klauck [s. Anm. 1], 99).  Bibliographie darüber seit 1945 bei H. Schmidt (s. Anm. 1), 109; vgl. weiter U. Mell (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899 – 1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher, BZNW 103, 1999.

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Ebenfalls nur Spezialisten des Faches, aber auch Altphilologen, mag die textkritische, bei Jülicher unter dem Namen „Itala“ laufende Überprüfung, Rekonstruktion und Sammlung der lateinischen Textüberlieferung vor deren Bearbeitung durch den Kirchenvater Hieronymus noch von ferne ein Begriff sein. Jülichers, auf 8000 Quartblättern das ganze Neue Testament erschließende Textsammlungen erschienen, überarbeitet für die Evangelien, erst in den Jahrzehnten nach seinem Tode, zum Teil sogar in zweiter Auflage.⁸ Schließlich wird der Patristiker Jülicher, der auf dem Gebiet der Alten Kirche die größte Zahl seiner Veröffentlichungen aufweist, nur noch punktuell und gelegentlich herangezogen. Das von Theodor Mommsen angeregte und im persönlichen Austausch mit Jülicher geplante Werk der „Prosopographie“, in dem „über die Zeit Diokletians hinaus bis zu Justinian I.“ die christlichen Gestalten, nicht nur die „Standesgenossen“ behandelt werden sollten, erwies sich schon durch die Fülle des Materials als eine letztlich unabschließbare Aufgabe für einen Einzelforscher.⁹ Fast ganz unbeachtet ist heute Jülichers Paulusforschung, obwohl sich gerade an dieser der theologische Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zur „Dialektischen Theologie“ mit entzündet hat. Auch das zeigt nur an: Jülicher ist in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion nicht mehr im Blick, seine Nachwirkung aber kann schon deshalb nicht so klanglos verhallt sein, weil drei seiner bedeutendsten und engsten Schüler unserer Akademie angehörten: Walter Bauer, Rudolf Bultmann, Hermann Dörries. Überhaupt ist, wenn man sich der Paulusforschung Jülichers zuwendet, die eigentliche Adresse seiner diesbezüglichen Arbeiten Göttingen. Er war der liberale, historisch-kritische Freund, Förderer, aber auch weiterführende [152] Kritiker der „Religionsgeschichtlichen Schule“. Dies verband ihn über schon lange bestehende Freundschaft auch darin mit Julius Wellhausen, dem er schon als Berliner Student seine einzige „Bekehrung“ verdankte.¹⁰ Jülicher selbst hat sich bereits in Studientagen ganz bewußt der „liberalen Theologie“ zugerechnet. III. Im Jahr 1907 konstatiert Jülicher, und damit sind wir mitten in seiner Paulusforschung: „ich möchte aber das Bekenntnis aussprechen, daß ich in der geschichtlichen Forschung mich auf keinen anderen Boden stellen kann und will als Bousset und Wrede.“¹¹ Wie aber war diese gemeinsame Grundlage beschaffen? Die

 Bibliographie bei H. Schmidt (s. Anm. 1), 109 f.; zu weiteren Einzelheiten H. Lietzmann (s. Anm. 5), 293 f.; W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, 211983, 471 f.589 (Lit.).  A. Jülicher (s. Anm. 1), 32 f. (mit Zitaten).  A. Jülicher (s. Anm. 1), 12.  A. Jülicher, Paulus und Jesus, RV I/14, 1907, 8 f.

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Basis war im ganzen die historisch-kritische Forschung in ihrer liberalen Ausprägung mit dem Schwerpunktergebnis in der neutestamentlichen Wissenschaft, die Persönlichkeit Jesu einerseits und die Persönlichkeit des Apostels Paulus andererseits zu erfassen.¹² Es war durchaus, wie Jülicher 1894 schreibt, Allgemeingut in der Fachwissenschaft des Neuen Testaments, daß die Quellenlage nur hinsichtlich des Paulus „ein leidlich klares Bild von seiner Persönlichkeit“ und „seiner schriftstellerischen Eigenart“ erlaubt, und weiterhin, daß diese Gestalt – worauf Jülicher besonderes Gewicht legt – in die Geschichte des Urchristentums eingeordnet und nur aus dieser heraus interpretiert werden kann und muß.¹³ Hinter seinem Paulusverständnis steht in nachhaltiger Vermittlung durch C. Weizsäcker die Paulusdarstellung von Ferd. Christ. Baur. Bei weitreichender Kritik an dessen konstruierter Geschichte des Urchristentums, bei Ablehnung der ihm eigenen Tendenzkritik, hat nach Jülicher gleichwohl der große Tübinger die Grundlage für das geschichtliche Verstehen des Paulus gelegt. „Seit Baur kann die Literarturgeschichte des NT’s nicht mehr außerhalb des Zusammenhangs mit der Gesamtgeschichte des Christentums behandelt werden.“¹⁴ Die Rekonstruktion, die jedes antike Schriftstück erfordert und die somit die neutestamentlichen Texte nicht von diesen unterscheidet, ist für Jülicher in seine exegetisch-hermeneutische Grundregel eingebettet: „Denn Worte und Schriften auslegen kann nur, wer die Menschen versteht.“¹⁵ Rekonstruktion [153] und Interpretation greifen in der Sache des Auslegens ineinander: Nur dann ist Paulus in seiner Persönlichkeit, seinem Wirken und seiner Verkündigung, ja als tragende Gestalt des Urchristentums verstanden. Es wundert darum nicht, daß Rudolf Bultmann in seiner sorgfältigen Nachschrift der Vorlesung von A. Jülicher über „Galater-, Philipper-, Thessalonicherbriefe“¹⁶ so häufig Jülichers Hinweis auf die „Existenz“ aufgreift. Dem entspricht, wenn Jülicher in seinem Artikel „Fleisch und Geist“ (1910)¹⁷ festhält, „daß das volle Verständnis der Theologie des Paulus und seiner Persönlichkeit abhängt von der Einsicht in seine Auffassung von Fleisch

 Vgl. dazu im Überblick und besonders zu W. Wrede und W. Bousset: O. Merk, Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule, in: Biographie und Persönlichkeit des Paulus, hg. v. E.-M. Becker u. P. Pilhofer, WUNT 187, 2005, 29 – 45.  A. Jülicher, Einleitung in das Neue Testament, GThW III/1, 1.21894, 5; vgl. ebd. §3: „Der Apostel Paulus“ (19 – 34).  A. Jülicher, Einl. (s. Anm. 13), 13.  A. Jülicher (s. Anm. 1), 7.  Die im Titel genannte Vorlesung hielt Jülicher im Wintersemester 1905/06. Die Mitschrift befindet sich im Nachlaß von R. Bultmann unter der Nummer Mn 2– 3099 in der Universitätsbibliothek Tübingen und wird mit freundlicher Genehmigung von Frau Professorin Antje Bultmann (und Familie Bultmann) benutzt.  A. Jülicher, Art. Geist und Fleisch, RGG1, Bd. II, 1910, 910 – 914.

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und Geist“ (Sp. 911), konkret, daß durch den anthropologischen Rahmen, den Paulus selbst gesetzt hat, die Theologie des Apostels zu erschließen ist.¹⁸ Jülichers exegetisch-theologischen Bemühungen aber haben dieses Ergebnis: Nur bei Paulus (und Johannes) kann im Neuen Testament von „Theologie“ gesprochen werden. Hier ist der theologische Gipfel, dem dann der Abfall von der Höhe ins christliche gewöhnliche Leben folgt.¹⁹ Aber das kann nach Jülicher nur gesagt werden, weil Religion und Persönlichkeit Jesu den Ausgangspunkt bilden.²⁰ Diese Einsichten hat Jülicher durch den Vollzug genauer Einzelexegese gewonnen. Er liebte die Bezeichnung „Einzelexegese“,²¹ mit der sich für ihn Versund Wortanalyse verband.²² Philologisch und historisch im Detail arbeiten heißt bei ihm, „daß ein moderner Theologe, zu dessen Handwerkszeug Wettstein nicht gehört, nicht existiert“. Die nach Jülicher zu sichtende Sammlung von J. J. Wettsteins Material in dessen „Novum Testamentum graecum“ (Amsterdam 1751/52), „die Hauptquellen Wettsteins“, von denen Jülicher sagt, daß sie „selbstverständlich zu meinem Arbeitsapparat gehören,“ begegnen fortgesetzt in seiner exegetischen Ausarbeitung [154] der neutestamentlichen Texte.²³ Von seinen Wortund Begriffserklärungen kann man sogar behaupten, daß sich in Anlehnung an diese nicht wenige in Walter Bauers „Wörterbuch zum Neuen Testament“ (²1928; 5 1958) wiederfinden. Historisch-kritische Eruierung des neutestamentlichen Textbestandes ist für Jülicher die Voraussetzung „liberaler Theologie“, für die Erschließung des Urchristentums ebenso wie für die Erfassung der Persönlichkeiten desselben. Jülichers Beiträge zur paulinischen Forschung verdanken sich – abgesehen von denen in seiner „Einleitung in das Neue Testament“ und wenigen weiteren Ausnahmen – den Vertretern der „Religionsgeschichtlichen Schule“. Von ihnen wurde er zur Mitarbeit in der von W. Bousset und W. Heitmüller gegründeten und

 Jülichers Kommentar über den Römerbrief (s. Anm. 31) zeigt allerdings den notwendigen Bezug zur „Theologie“, vgl. etwa 254.256.  Vgl. A. Jülicher, Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentum bis zum Nicaenum, in: P. Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart, Bd. I 4/1: Die christliche Religion mit Einfluß der israelitisch-jüdischen Religion, (1906) ³1922 mit Nachtrag, 42– 131, 86 ff.; ders., Art. Sitte und Sittlichkeit: III. Sittlichkeit des Urchristentums, RGG1, Bd. V, 1913, 663 – 683.  A. Jülicher, Die Religion Jesu (s. Anm. 19), 91; vgl. ebd. 54 ff.  A. Jülicher (s. Anm. 1), 35.  R. Bultmanns Mitschrift der o.g. Vorlesung (s. Anm. 16) belegt dies eindrücklich.  Zitate in A. Jülicher, Ein philologisches Gutachten über Phil 2 v. 6, ZNW 17,1916, 1– 17, 2 f.; zur reichen Lit. über Wettstein vgl. u. a. G. Seelig, Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart. Studien zur Geschichte und Methode des religionsgeschichtlichen Vergleichs in der neutestamentlichen Wissenschaft, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, Bd. 7, 2001, bes. 337 ff.; vgl. ebd. 56 ff.

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herausgegebenen „Theologischen Rundschau“ aufgefordert. Hier erschien sein erster einschlägiger Bericht „Paulinische Theologie“.²⁴ Weiter baten ihn die Göttinger um die Mitarbeit an ihrer Reihe „Religionsgeschichtliche Volksbücher“, und schließlich haben diese ihn veranlaßt, in ihrem Auslegungswerk „Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt“²⁵ zur Einführung „Die Geschichte des Neuen Testaments“ (Bd. 1, 1– 30) und weiter die Auslegung des Römerbriefs (Bd. 2, 223 – 335) zu verfassen. – Auch das von ihnen ins Leben gerufene Lexikon „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ (1. Aufl. 1909 – 1913) wurde von Jülicher u. a. mit Artikeln zur Paulusforschung bedacht. Es war also tatsächlich die Paulusforschung, die Jülicher vornehmlich mit den Göttingern verband, wenn ihm auch für die Evangelienforschung William Wrede ein maßgebender Gesprächspartner war²⁶ und Fragen der [155] „Religionsgeschichte“ ihn im Austausch mit der „Religionsgeschichtlichen Schule“ lebhaft bewegten.²⁷ Ein besonderer Moment kritischen Gesprächs war gegeben, als 1904 das Paulusbüchlein von William Wrede erschien.²⁸ Wrede stellte dort einen deutlichen Gegensatz zwischen der Religion und Frömmigkeit Jesu und der Persönlichkeit des Paulus heraus und erklärte aufgrund zahlreicher Nachweisungen Paulus zum zweiten Stifter des Christentums, der nicht einen besseren, sondern einen eher schlechteren Einfluß auf die junge Christenheit ausgeübt habe. Dieser Konzeption mit ihrer unmittelbaren Gegenüberstellung von Jesus und Paulus trat Jülicher in

 ThR 4, 1901, 187– 198 mit dem ernüchternden Fazit: „Mein Gesamteindruck von der hier besprochenen Litteratur ist der schmerzliche, daß selbst auf dem Gebiete des Paulinismus, wo die Einigung der verschiedenen Richtungen am leichtesten erreichbar wäre, wir von einer solchen weiter denn je entfernt sind; beinahe nichts kann als allgemein anerkanntes Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit gelten“ (198).  1. u. 2. Aufl. (1906 ff.) hg. v. J. Weiß; 3. Aufl. (1917) hg. v. W. Bousset u. W. Heitmüller; eine „vierte, fast unveränderte Auflage“ erschien 1929.  A. Jülicher, Neue Linien der Kritik der evangelischen Überlieferung, Vorträge des Hessischen und Nassauischen theologischen Ferienkurses, Heft 3, 1906, bes. 14– 36.67 ff.; zu Wrede insgesamt ders., Art. Wrede, William, PRE, Bd. 21, 1908, 506 – 510; aus neuerer Sicht: W. Zager, Art. Wrede, William, TRE 36, 2004, 337– 343; O. Merk, Art. Wrede, W., RGG4, Bd. 8, 2005, 1713.  Vgl. etwa A. Jülicher, Besprechung von W. Boussets ‚Antichrist‘ (1895),ThLZ 21, 1896, 373 – 379; ders., Moderne Meinungsverschiedenheiten über Methode, Aufgabe und Ziele der Religionsgeschichte, MakR 5, 1901 (= Rektoratsrede), bes. 6 ff.  W. Wrede, Paulus, RV I/5.6, 1904; vgl. dazu wie zur 2. Aufl. 1907 mit einem Geleitwort von W. Bousset bei O. Merk, Die Persönlichkeit des Paulus (s. Anm. 12.), 34 ff. – Daß Wredes Nachweisungen über die Unechtheit des 2. Thessalonicherbriefs bei Jülicher deutlich nachwirkten, zeigt seine „Einleitung in das Neue Testament“, 5.61906, 48 – 56 (mit Lit.).

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seiner Schrift „Paulus und Jesus“ (1907) entgegen.²⁹ Im einzelnen lotet Jülicher zunächst das Gegensätzliche „zwischen Paulus und Jesus“ aus (13 ff.) und dann den Grad „innerer Verwandtschaft zwischen Paulus und Jesus“ (35 ff.; vgl. 12 f.), um schließlich eine Einordnung in das „Gesamtbild“ mit der Zuspitzung, „wer denn der eigentliche Stifter des Christentums gewesen ist“, vorzunehmen (12; vgl. 52 ff.). „Übereinstimmung und Unterschied“ (52 ff.) von Jesus und Paulus erklären sich (in deutlicher Zurechtrückung von Wredes Sicht) aus der verschiedenen heilsgeschichtlichen Situation. „Paulus hat selber als das A und O seines Evangeliums das Wort vom Kreuz bezeichnet; der Tod Christi ist für ihn die Heilstat ohnegleichen, natürlich sein Tod nur als Voraussetzung für seine Auferstehung“ (25). Somit war der „Ausgangspunkt“ der Christologie für Paulus „der auferstandene Mann von Golgatha“ (28). Bei aller von Jülicher konstatierten, auf demselben jüdischen Hintergrund erwachsenen, Jesus und Paulus gemeinsamen und doch je eigenen Frömmigkeit ist gleichzeitig die Verschiedenheit Jesus – Paulus im „Kreuzestod Jesu“ gegeben (62). So kann Jülicher – durchaus in gedanklicher Anlehnung an Ferd. Christ. Baur – formulieren: „Die Religion Jesu konnte gar nicht in ihrer ursprünglichen Einfachheit verbleiben, seit Jesus selbst nicht mehr [156] auf Erden war“ (62). Das über die Religion Jesu hinaus Neue ist bei Paulus die Theologie, das Bedenken von Kreuz, „Erlösung, Versöhnung, Rechtfertigung“ (66), in summa: „Das Heil kommt eben aus Jesu Tod“ (67). Daraus ergibt sich: Paulus ist nicht der „zweite Stifter der christlichen Religion“, der „Stiftungstag der christlichen Kirche“ ist vielmehr „der Tag, wo zum ersten Male von Jesusgläubigen der Tod Christi als Heilstatsache begriffen worden ist“ (68 f.). Hier rundet sich für Jülicher das Sachproblem. Zwischen Jesus und Paulus liegt die von Wrede in seiner Konzeption nicht beachtete Urgemeinde, und Paulus ist derjenige, der den ersten Jüngern die theologische Panzerung gegeben hat. Mit den Worten Jülichers: „Jesus ist gekommen und hat auf Erden einen neuen Paradiesesgarten angelegt.“ Doch nach Jesu Tod hatten die Erben einen schweren Stand. „Da kam Paulus und führte um den Garten her die dicken Schutzwälle seiner Theologie auf“ (71): „Paulus hat also seine Theologie nicht an die Stelle der Religion Jesu gesetzt, sondern rings um sie her“ (72). Im methodisch äußerst überlegten In-

 A. Jülicher, Paulus und Jesus (s. Anm. 11). Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Schrift. Zu Jülichers Antwort an Wrede vgl. W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, ²1970, 396 f. u. Auszüge 397– 399; F. Regner, „Paulus und Jesus“ im 19. Jahrhundert, Beiträge zur Geschichte des Themas „Paulus und Jesus“ in der neutestamentlichen Theologie, Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 30, 1977, 191 f. (mit harter Kritik an Jülicher, doch ohne den eigentlichen Kern zu treffen); E. Jüngel, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie, HUTh 2, ²1961, 9 f.16 (Punkt 2).

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einander von Rekonstruktion und Interpretation verortete Jülicher Jesus und Paulus im Urchristentum und verweist so in seiner Entgegnung auf Wrede Religion und Theologie in ihren einander bedingenden historischen Rahmen. Unverkennbar ist dabei, daß Jülicher für seine Konzeption den Aufriß Ferd. Christ. Baurs „Vorlesungen über neutestamentliche Theologie“ für seine Fragestellung nachbedenkt und auswertet.³⁰ Hier ist in Kürze Jülichers Römerbriefauslegung anzuschließen und damit mehr summarisch zu Einzelheiten seiner exegetischen Einsichten zu kommen:³¹ a) Daß Paulus sich in seinen Briefen als Schriftsteller von Rang erweist, läßt sich besonders bezüglich des Römerbriefs behaupten. Diese Sicht in der ersten Auflage seiner „Einleitung in das Neue Testament“ (1894) schränkt Jülicher allerdings bis zur siebten Auflage (1931) immer stärker dahingehend ein, daß die paulinischen Briefe dem Apostel aufgenötigte Gelegenheitsschreiben seien, was ihnen aber ihre literarische Bedeutsamkeit nicht nehme. b) Der Römerbrief – und das ist zu Jülichers Zeit keineswegs in Fachkreisen anerkannte Meinung – hat ein durchgängiges Thema: die Rechtfertigung. Die Disposition des Schreibens muß dem Rechnung tragen, [157] wobei insbesondere Kap. 9 – 11, die Israelkapitel, dem Grundthema in 1,16 f. zugehören (225.292). Kap. 5 – 8 bilden ebenfalls eine Einheit, während Kap. 12– 15,13 insgesamt lockerer zum Briefkorpus stehen (309 ff.). „Kurz, wie zuletzt alles in Röm. 12 – 14, ein Ideal“ (325), aber gleichwohl werden „usuelle“ und „aktuelle“ Weisungen (ausdrücklich von Jülicher so charakterisiert [310.319]) herausgearbeitet. – Kap. 16 bleibt in seiner Zugehörigkeit zum Römerbrief offen, die Verse in 16,25 – 27 (Doxologie) sind sekundär (335 u. ö.). c) Die Abfassung des Schreibens muß nach Röm 15,26 „hinter 2. Kor 8.9“ (die Kollektenkapitel) fallen.³² d) Eingehend befaßt sich Jülicher mit „Glossen“ im Römerbrief, wobei er nahezu alle Stellen anführt und bespricht (2,1.16; 7,25; 8,1 [224 f.240.279]), die später R.

 F. C. Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, hg. v. F. F. Baur (1864). Mit einer Einführung zum Neudruck v. W. G. Kümmel, 1973, bes. die Abschnitte „Übergang der Lehre Jesu zu der der Apostel“ u. „Die Auferstehung Jesu“ (122– 127), sehr bewußt zwischen 45 – 121 u. 128 ff. stehend.  A. Jülicher, Der Brief an die Römer, SNT, Bd. 2, ³1917, 223 – 335 (Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe).  Daß chronologisch nach Röm noch Philipperbrief, Philemonbrief, Kolosserbrief einzuordnen sind, zeigt Jülicher in seiner „Einleitung in das Neue Testament“, zuletzt 71931.

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Bultmann in einem berühmt gewordenen Aufsatz behandelt.³³ Hinzu kommen erhellende textkritische Erörterungen, die auch ein Laie verstehen kann. e) Erhebliche Bedeutung mißt Jülicher evtl. Traditionsstücken bei. Über Röm 1,3 f.; 8,3 (vgl. z. St. u. 281) hinaus zeigt er – ohne sich für ein Traditionsstück zu entscheiden –, daß Röm 3,24 ff. den Sprachgebrauch der Urgemeinde, nicht aber den des Paulus etwa in 3,21– 23 bietet. Jülicher hat in der Sache erkannt, was wir in Röm 3,25 f. heute in der Regel als Traditionsstück bezeichnen. f) In Röm „7,14 ff. schildert Paulus den vorchristlichen Menschen, wie er, vom christlichen Standpunkt her gesehen, erscheint“ (279; vgl. 278 u. ö.). Jülicher hat hier, auch durch die große Zurückhaltung gegenüber einer psychologischen Ausdeutung dieser und anderer Stellen (vgl. 296.302), exegetisch-theologisch einer Sicht vorgearbeitet, die, allseitig begründet durch W. G. Kümmel, weithin die Forschung zu diesem Abschnitt im 20. Jahrhundert bestimmt hat.³⁴ g) „Das Gesetz ist seit Christus ungültig“ (299), es muß aber im Gesamtzusammenhang der Theologie des Paulus – nicht zuletzt im Röm – gesehen werden (272 ff.): „Wir Heutigen haben die Empfindung, daß es für den Segen des Gesetzes, auch gerade des jüdischen, keinen gewaltigeren Zeugen gibt als den Heidenapostel“ (274). [158] h) Zur eschatologischen Sicht des Paulus im Röm führt Jülicher einerseits aus: „Man darf nicht übersehen, daß Röm 2,6 – 11 nicht bestimmt sind, die Vorstellungen des Apostels Paulus über das Weltgericht und über das letzte Schicksal des Menschen zu entwickeln“ (238; auch teilweise in der Auslegung zu Röm 9 – 11 relevant). Andererseits bestreitet er nicht die Bedeutung der Nähe des Weltendes im Glauben des Paulus sowie deren Auswirkung, sittliche Energien freizusetzen (zu Röm 13,11.12 [319]). Aber eine wirkliche Verankerung der Eschatologie im Denken des Paulus fehlt bei Jülicher. So viele wichtige Beobachtungen dieser Kommentar enthält und so gewiß exegetische Probleme seiner Zeit in die Ausführungen eingegangen sind, Jülicher hat sie in seiner weiterführenden Auslegung auf den Punkt gebracht.³⁵ Der Kom R. Bultmann, Glossen im Römerbrief (1947), in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, ausgew., eingel. u. hg. v. E. Dinkler, 1967, 278 – 284 (mit ausdrücklichem Hinweis auf Jülicher [279 Anm. 1]).  W. G. Kümmel, Römer 7 und die Bekehrung des Paulus, UNT 17, 1929, mit vielfachem Bezug auf Jülicher, bes. zu dem zitierten Ergebnis vgl. u. a. 121.126.  Wie zurückhaltend der Autor über seine eigenen Leistungen dachte, zeigt A. Jülicher, Einleitung in das Neue Testament (s. Anm. 13), Vorwort (S. V): „daß beinahe alles, was ich hier vortrage, durch die treue Arbeit ganzer Generationen zusammengebracht und nicht von mir entdeckt worden ist, weiss wohl Jedermann. Prioritätsansprüche werde ich aufgrund dieses Buches gegen Niemanden erheben.“

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mentar ist durchgehend ein Zeugnis „liberaler Theologie“.³⁶ Der Römerbrief ist „die Haupturkunde der paulinischen Religion“, er ist des Paulus „Glaubensbekenntnis“ (224 f.). „Das Evangelium von Christi Heilswerk bietet Gerechtigkeit und ewiges Leben dar jedem gläubigen Menschen“ (244), und die „Rechtfertigung“ bzw. „die Gerechtmachung“ ist für den Christen ein Prozeß der „Entscheidung, die nicht mit einem Schlag fertig ist, sondern wie eine Art von Verwandlung des Menschen aus dem Fleischlichen ins Göttliche über sein ganzes ferneres Erdenleben hin andauert“ (246 f.). Das Verständnis des Reiches Gottes in der „liberalen Theologie“ als einer inwendigen, wachsenden Größe im Menschen wird von den Evangelien her auf die paulinische Rechtfertigung übertragen. – Aber es gilt ebenso, und das ist nicht nur für „liberale Theologie“ stehend: „Der Glaube des Christen ist für Paulus das Vertrauen auf die durch Jesu Christi Sterben und Auferstehung von Gott gewirkte Vergebung unserer Sünden und auf unsre Umwandlung aus Sündern in Gerechte unter der einzigen Voraussetzung, daß wir dieses Vertrauen haben: ganz wie 3,21– 30“ (255). [159] Eine liberale Leitlinie kennzeichnet die ethischen Partien des Briefes. Das gilt ebenso für Kap. 6 wie für 12,1 ff., so gewiß Jülicher in einem Exkurs festhält: „Seine ganze Ethik, beinahe seine ganze Religion hat Paulus auf den Geist gegründet“ (276). Aber Jülicher kann es auch so formulieren: „Gottes Wille ist einfach das, was ein Mensch vor seinem Gewissen als gut rechtfertigen kann. So ist die Versöhnung von Religion und Sittlichkeit gefunden; die einzige religiöse Pflicht, die im Christentum übrig bleibt, ist der Wandel im Stil der zukünftigen Welt; fromm sein heißt nichts weiter als gut sein im Denken und Tun“ (310). Jülichers Römerbrief-Kommentar ist auch durch seine geschliffene Sprache und Formulierung sowie durch seine dichte Argumentation eine herausragende Auslegung seiner Zeit gewesen.³⁷

 „Liberale Theologie“ war zu Jülichers Zeit durchaus vielschichtig in ihren Ausprägungen und auch im Bereich der Bibelwissenschaft äußerst different; vgl. geradezu resigniert H. Mulert, Art. Liberalismus: II. Liberalismus und Kirche, RGG1, Bd. III, 1912, 2107 ff., 2109: „Von theologischem L.[iberalismus] oder liberaler Theologie zu reden, wird besser vermieden“; eindeutiger schon A. Meyer, Art. Bibelwissenschaft: II. Neues Testament, RGG1, Bd. I, 1909, 1212 ff., bes. 1219 ff.1227 ff. Aus neuerer Sicht im weitgefaßten Überblick vgl. M. Jacobs, Art. Liberale Theologie, TRE 21, 1991, 47– 68; insgesamt der Zeit Jülichers exegetisch u. bibelwissenschaftlich näher: W. Zager, Liberale Exegese des Neuen Testaments. David Friedrich Strauß – William Wrede – Albert Schweitzer – Rudolf Bultmann, 2004.  Es wundert darum nicht, daß Jülicher die Kommentierung des Römer- und des Galaterbriefs in „Meyers kritisch-exegetischem Kommentar“ angetragen wurde. Diese hätte er gerne vorgenommen. Er gab diesen Auftrag nicht nur wegen seiner Erblindung auf, sondern auch, weil er meinte, dies könnten andere ebenso gut, während die textkritische Arbeit an der „Itala“ seiner in Jahrzehnten erworbenen Spezialkenntnisse weiterhin bedürfe.

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R. Bultmanns offenbar sehr genau nachgezeichnete o.g. Vorlesung Jülichers über den Galaterbrief, den Philipperbrief und die beiden Thessalonicherbriefe im W.S. 1905/06 – im Manuskript Bultmanns 201 Seiten – ist die einzige Vorlesung dieser Art, denn die Vorlesungsmanuskripte Jülichers sind offensichtlich nicht erhalten geblieben.³⁸ Zwei Hinweise seien aus der Vorlesungsnachschrift Bultmanns für Jülichers Paulusverständnis angeführt:³⁹ a) Zu Gal 2,9 stellt Jülicher in der Nachschrift Bultmanns über die Aufteilung der Missionsgebiete fest: „Das Princip sagt natürl.[ich] nicht, daß Pls [= Paulus] nie einen Juden, Pt. [= Petrus] nie einen Heiden bekehren sollte. Das Princip war auf die Dauer nicht haltbar“ (MS, 37). Jülicher wollte dies dahin verstanden wissen, wie der Paulusteil seiner „Einleitung“ zeigt, daß Petrus durchaus auch in Korinth und anderswo gewirkt haben könnte.⁴⁰ b) Wichtiger ist die mittelbar sich mit W. Wrede befassende Auslegung des Antiochiakonflikts in Gal 2,11– 14, denn Jülicher meint, daß der Abschnitt bis 2,21 reicht, und zeigt auf, daß die Rechtfertigungslehre bereits in diesem Konflikt bestimmend sei (MS, 43 ff.). Mag diese hier noch [160] nicht die Breite der später bei Paulus vorliegenden Argumentation tragen, so ist doch erkannt, daß nicht Wredes Sicht von der Rechtfertigung als einer sich erst im Zusammenhang der galatischen Auseinandersetzung gebildeten Kampfeslehre⁴¹ gelte, sondern die Rechtfertigung bereits in die früheste, schon antiochenische Zeit paulinischer Lehre gehöre. Aus Bultmanns Mitschrift ergibt sich als Jülichers⁴² Sicht zu Gal 2,16: „Ob Ptr [= Petrus] u.[nd] die anderen Christen in Antiochien das Verständnis für die Antithese im Denken des Pls [Paulus] hatten, ist sehr fraglich.Wohl stets glaubte man in der Kirche durch Werke und durch den Glauben die Seligkeit zu erlangen. Sollte das Christentum eine selbständige Religion werden, sollte es frei werden vom Judentum, so war es notwendig, daß die Antithese erga nomou u.[nd] pistis gestellt wurde. Auf die Werke des jüd.[ischen] Gesetzes mußte einmal principiell verzichtet werden. Diese Antithese gestellt zu haben, ist die histor.[ische] Bedeutg [tung] des Pls

 Vgl. o. Anm. 16. Recherchen haben bisher nur dieses Ergebnis gebracht; im übrigen ist der Nachlaß Jülichers in der Marburger Universitätsbibliothek unter Nummer MS 695. Zur Beschreibung des Nachlasses vgl. H.-J. Klauck (s. Anm. 1), 149.  Angaben/Belege sind mit MS u. Seitenzahl gekennzeichnet.  A. Jülicher, Einleitung in das Neue Testament. Neubearbeitung in Verbindung mit E. Fascher 7 1931, 37 ff. u.ö. 73 ff. (passim).  So W. Wrede (s. Anm. 28).  Dieser ist Bultmann offenbar selbst gefolgt; vgl. ders., Das Problem der Ethik bei Paulus (1924), in: ders., Exegetica (s. Anm. 33), 36 – 54, 53 Anm. 11.

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[= Paulus]“ (MS, 45),⁴³ und diese Antithese auch im Konfliktfall existentiell bewährt zu haben, zeigt den Theologen Paulus. Dazu als Zitat Jülichers von Bultmann eingebracht: „‚Auf die selbst verdiente Gerechtigkeit verzichten wir u.[nd] eignen uns die Gerechtigkeit an, die aus Gnaden dem Glauben geschenkt ist‘“ (MS, 45). Auch diese Vorlesung zeigt: Jülicher weiß sich als Historiker. Neutestamentliche Wissenschaft und ihre Methodik gehören wie die Kirchengeschichte zur historischen Disziplin in der Theologie, doch unvermindert in den Grenzen der bedingenden Voraussetzung, daß „auszulegen“ nur vermag, „wer die Menschen versteht“.⁴⁴ Und dem dient ein die Paulusforschung einbeziehendes, aber sie übergreifendes Anliegen Jülichers. Es geht ihm, wie er in seiner Rektoratsrede (1901) erläutert, um die „‚Demokratisirung‘“ (sic!) als Aufgabe der historischen Disziplin in der Theologie,⁴⁵ respektive der Kirchengeschichte im besonderen. „Demokratisirung“ war natürlich im damaligen Kaiserreich ein nicht gern gehörtes Wort. Der von Jülicher aus einer belanglosen Untersuchung seiner Zeit entlehnte [161] Begriff wurde ihm in der Sache zu einer zentralen Fragestellung. Die in der „liberalen Theologie“ im neutestamentlichen Bereich so bedeutsame Erfassung der Persönlichkeit, wie derjenigen Jesu oder der des Apostels Paulus, muß geweitet werden im Blick auf die Menschen allgemein, z. B. auf die Menschen in der Bildhälfte der Gleichnisse Jesu; es müssen die Leser der paulinischen Briefe einbezogen werden, es müssen die angeredeten Gemeindeglieder in ihrem Dasein, ihrem Leben, mit ihren Sorgen erfaßt werden. Jülicher gleitet hier nicht in eine freischwebende, isolierte sozialgeschichtliche Forschung ab, sondern er will aufzeigen: „In der Regel wird auch damals die Umwandlung bestenfalls eine allmählich fortschreitende gewesen sein; der Mensch, der sich seines Glaubens wegen als geistlicher Mensch fühlte, hörte darum noch lange nicht auf zu bleiben, was er gewesen war“ (19 f.; vgl. 22 f.). Jülicher weiß um den – wie er es nennt – „aristokratischen Charakter der christlichen Religion“, und er weiß, daß „‚Demokratisirung‘ im gewissen Sinn Verweltlichung der Kirchengeschichte“ ist und daß dieses die Welt-in-den-Blick-

 Vgl. ebd., MS, 45 f.: „Ptr [Petrus] war sich natürl.[ich] nicht bewußt, durch das Aufgeben der Tischgemeinschaft die Gerechtigkeit aus den Werken vertreten zu haben. Aber dies lag in der Konsequenz des Verhaltens des Petr [= Petrus], u.[nd] Pls [= Paulus] sah vielleicht schon die Folgen in der heidenchristl.[ichen] Gemeinde. So behandelt Pls [= Paulus] die Frage mit Recht als Principienfrage.“  A. Jülicher (s. Anm. 1), 7.  A. Jülicher, Moderne Meinungsverschiedenheiten (s. Anm. 27), bes. 17 ff. (Seitenangaben im folgenden innerhalb des Textes beziehen sich auf diese Rede).

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Nehmen auch in den Konsequenzen für die exegetische Arbeit am Neuen Testament zu bedenken ist und zu beherzigen bleibt (23 u. ö.). Die Konsequenzen aber reichen für ihn noch weiter. Sie betreffen die Theologie als Wissenschaft im Gefüge der Universität: „Entschlossen müssen wir die Schranken der theologischen, der kirchlichen, der erbaulichen Litteratur überschreiten“ (23). Jülicher zählt im weiteren auf, welch großes Feld sich hier für den Theologen und auch eigens für den Exegeten erschließt in der Mitarbeit daran: „So häufen wir in stiller, bescheidener … Arbeit Bausteine für eine Geschichte, zwar nicht der offiziellen Kirche,⁴⁶ manchmal eher der Unkirchlichkeit, doch immer des Christentums, Zeugnisse für seine Elasticität, für seine unerschöpfliche Kraft, sich anzupassen, sich umzubilden, sich zu den Niedrigen herabzulassen und das Gewöhnliche zu adeln“ (23). Theologie als Wissenschaft hat sich in die Welt der Wissenschaften und im Kontext der Religionen einzubringen (23 f.), und die Bibelwissenschaft hat daran einen gewichtigen Anteil. Es war deshalb für Jülicher, der in solcher Breite und Weite, der so gesamttheologisch auch über seine engere Fachwissenschaft hinaus dachte, schmerzlich zu erleben, wie eine veränderte, durch den Ersten Weltkrieg aufgewühlte Generation über diese Arbeit historisch-kritischer liberaler Forschung hinwegging. Karl Barths Römerbrief in seiner ersten Auflage 1919 war von anderem Geiste. Jülicher hat das Wollen der jüngeren Theologen, die zum Teil seine eigenen Hörer und Schüler waren, durchaus gesehen [162] und auch anerkannt in seiner im übrigen äußerst kritischen Besprechung dieses Werkes.⁴⁷ Es fehle den Ausführungen Barths die solide historisch-kritische Forschung.Vor allem aber vermißt Jülicher in Barths Kommentar die Ehrfurcht vor dem Text des Paulus. Und daß sich einer neben, vielleicht sogar über Paulus zu stellen wage, konnte er nur als unangemessenen geistigen Hochmut werten. In einem umfangreichen handschriftlichen Brief aus Safenwil vom 14. Juli 1920 an Jülicher⁴⁸ hat Barth um Verständnis seiner

 Wie hier Jülicher von „Rechtgläubigkeit“ – auch Orthodoxie und geradezu Ketzerei – des weiteren spricht (23 f.), läßt rückblickend Stichworte in seines Schülers Werk Walter Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, BHTh 10, 1934, erkennen.  A. Jülicher, Ein moderner Paulusausleger (1920) in: Anfänge der dialektischen Theologie, hg. v. J. Moltmann, ThB 17/I, 51985, 87– 98.  In Jülichers Nachlaß in der Univ. Bibliothek Marburg, MS 695, 20, mit freundlicher Genehmigung von Herrn Dr. Reifenberg, Univ. Bibl. Marburg, angeführt und zitiert; vgl. auch den Teildruck in H. Graß, Karl Barth und Marburg. Rede zur Eröffnung der Karl-Barth-Ausstellung in der Universitäts-Bibliothek am 9.1.1971, hg. v. Marburger Universitätsbund, 1971, 6., u. Bezugnahme bei W. G. Kümmel (s. Anm. 1), 242 f.; zu zahlreichen Einzelaspekten der damaligen Diskussion vgl. O. Merk, Karl Barths Beitrag zur Erforschung des Neuen Testaments (1989), in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Ges. Aufs. zum 65. Geb., hg. v. R. Gebauer, M. Karrer u. M. Meiser, BZNW 95, 1998, 187– 211, 193 – 201 (Lit.).

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und seiner theologischen Freunde Situation geworben und Mißverständnisse auszuräumen versucht. Barth will da anfangen, wo seiner Meinung nach Jülichers Auslegung des Römerbriefs endet, wobei freilich die auf Jülicher gemünzte Frage, „bei welchem Grad der Unbeteiligtheit am Objekt die Eintrittsberechtigung in den Tempel der Wissenschaft anfängt“,⁴⁹ an den Falschen gerichtet ist. Jülicher hat auf diesen Brief – soweit ermittelbar – nicht geantwortet, wohl aber die zweite, völlig umgearbeitete Auflage von Barths Römerbrief, ebenfalls positive Momente benennend, sehr kritisch besprochen⁵⁰ und abschließend festgehalten: „Aber, daß Barths Versuch, den Paulus mit Beschlag zu belegen für eine Weltanschauung, die schon seinem naiven Schrift- (und dadurch in gewissem Sinn doch wieder Buchstaben‐)glauben ins Gesicht schlägt, der Hybris eines Pneumatikers entspringt und nicht aus nüchterner Wissenschaft, ist das letzte Wort, das ich über einen Römerbrief Barths sagen werde“ (542). Es war in gewisser Hinsicht eine Tragik, daß in der Krisenzeit für die Kultur wie für die Wissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg Jülicher und Barth nicht zueinander finden konnten, obwohl beide von ihren je eigenen Voraussetzungen her nicht nur ein Stück weit Recht hatten. R. Bultmann hat (1924) in seinem Aufsatz „Die liberale Theologie und die jüngste theologische Entwicklung“⁵¹ die Problematik im Grundsätzlichen aufgedeckt und betont: „Es ist kein Zufall, daß die jüngste theologische [163] Bewegung aus der liberalen Theologie geboren ist“ (1), und es ist kein Zufall, daß er – selbst der liberalen Theologie vielfach verpflichtet⁵² – in einer tiefgreifenden Besprechung des Römerbriefs, 2. Aufl. 1922, das Anliegen Barths treffend darlegt mit der ausdrücklichen Feststellung: „daß ich mich übrigens sowohl was die historischphilologische Erklärung betrifft, wie was die sachliche Beurteilung des Römerbriefs und des Paulus angeht, in hohem Maße dem anschließe, was Jülicher zur ersten Auflage ausgeführt hat, wird Barth teils dem Gesagten entnehmen, teils sich selbst sagen“.⁵³ Daß mitten in der hohen Zeit der „Dialektischen Theologie“ eine

 Brief Barths S. 4, freilich auf Jülichers Vorwurf eines „Pneumatikerhochmuts“.  A. Jülicher, Bespr. von Barth, K., Der Römerbrief, 2. Auflage in neuer Bearbeitung (XVII, 523 S.) 1922, ThLZ 47, 1922, 537– 542.  R. Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Entwicklung, in: ders., Glauben und Verstehen, Ges.Aufs. Bd. I, 41961, 1– 25.  Ebd. (s. Anm. 51), 2: „Wir, die wir von der liberalen Theologie herkommen, hätten keine Theologen werden oder bleiben können, wenn uns in der liberalen Theologie nicht der Ernst der radikalen Wahrhaftigkeit begegnet wäre.“  R. Bultmann, Karl Barths „Römerbrief“ in zweiter Auflage (1922), in: Anfänge der dialektischen Theologie (s. Anm. 47), 119 – 142, 141 Anm. 4 (Zitat); im übrigen vgl. die eingehende Analyse von M. Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker in seinen Rezensionen und Forschungs-

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vierte Auflage seiner Römerbriefauslegung 1929 erschien, war für Jülicher eine stille Freude. Jülicher sah, daß eine neue Epoche im theologischen Denken heraufgezogen war, aber sein Rücktritt vom Lehramt 1923 war keine Resignation. Er hat sich – wie er 1922 schreibt – „nicht verblüffen lassen“ von K. Barth und anderen, wohl aber selbstkritisch zu bedenken gegeben: „ihre Erfolge lassen doch merken, daß an dem hergebrachten Betrieb etwas Wesentliches fehlen muß: man hat die Texte zu wenig in ihrer Eigenart, als religiöse Offenbarungen, gewürdigt, zu sehr auf das Wie und Woher geachtet, nicht genug auf das Was und hat manchmal auch wohl nicht mutig genug gezwungene Deutungen aufgegeben.“⁵⁴ Jülicher blieb ein Lernender.⁵⁵ Aber es keimte in ihm hinsichtlich der Paulusforschung – hier seine Göttinger Freunde gedanklich einschließend – eine Rück- wie Neubesinnung auf den von ihm so häufig mittelbar wie unmittelbar herangezogenen Ferd. Christ. Baur: „Ob wohl die Zeit naht, wo neben der Konstruktion der modernen Religionshistoriker und ihres Widerparts die von Ferd. Christ. Baur wieder zu Ehren gelangt? Gewiß bedarf sie erheblicher Einschränkungen, gewiß müssen bedeutsame Wahrheitsmomente aus der Geschichtsauffassung der Boussetschen Schule mit ihr in Verbindung gebracht werden. Aber ganz an [164] Baur vorbei wird man den Paulus niemals richtig begreifen.“⁵⁶ Sein Schüler R. Bultmann hat dies dann eindrücklich aufgegriffen.⁵⁷ Brechen wir ab. Über Jülicher ist manches ehrende Wort einst gesagt und geschrieben worden. Zitiert sei nur eines. Franz Overbeck hat sich privat notiert: „Wer etwas lernen und nicht gerade sich unterhalten will, wird viel besser an Jülicher gewiesen, als an Harnack.“ Und er fährt an weiterer Stelle fort: „Mit Jülicher ist viel eher auf einem guten und festen Grund zu wertvollen Erkenntnissen zu kommen.“⁵⁸ Lassen wir Overbecks Beurteilung Harnacks auf sich beruhen. Lassen wir ebenso das leicht nachweisbar Zeitbedingte und exegetisch aus heu-

berichten. Kommentierende Auswertung, Beiträge zum Verstehen der Bibel, Bd. 11, 2005, 151– 186.  A. Jülicher, Die Religion Jesu (s. Anm. 19), 131 (Nachtrag).  Vgl. auch seine Diskussion im Anschluß an einen Vortrag v. E. Thurneysen in Marburg im Februar 1924 mit dem Vortragenden, mit M. Rade, R. Bultmann u. M. Heidegger; Hinweis in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil II: R. Bultmann, F. Gogarten, E.Thurneysen, hg. v. J. Moltmann, BTh 17/II, 41987, 220.  A. Jülicher, Die Religion Jesu (s. Anm. 19), Nachtrag 131e (sic!).  Vgl. R. Bultmann, Zur Geschichte der Paulusforschung, ThR, N.F. 1, 1929, 26 – 59; vgl. dazu die Besprechung von M. Dreher (s. Anm. 53), 373 ff.  F. Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie, hg. v. C. A. Bernoulli, 1919, 211 f.; weitere Belege für die Hochschätzung Jülichers bei H.-J. Klauck (s. Anm. 1), 99 f.

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tiger Sicht Überholte in Jülichers Werk auf sich gestellt. Festzuhalten aber ist: In unserer Gegenwart, in der theologische Wissenschaft so häufig auf Gedanken und Einsichten der „liberalen Theologie“ zurückgreift und diese nicht selten als eigene neue Erkenntnisse ausgibt, bleibt Adolf Jülicher ein kritischer Lehrmeister. Er ist ein Theologe, dessen innovative, zur selbständigen Urteilsfindung anregende Arbeiten auch in der Paulusforschung weiterhin allen Nachbedenkens wert sind.

Forschungsgeschichte im Werk Adolf Jülichers Rudolf Smend in langjähriger Verbundenheit und gemeinsamer forschungsgeschichtlicher Interessen gedenkend dankbar zugeeignet

Adolf Jülicher (1857– 1938) hat in reichem Maße als Kirchenhistoriker und Neutestamentler in seinen Publikationen die Forschungsgeschichte berücksichtigt. Sie war ihm Grundlagenwissenschaft für exegetische und hermeneutische Einsichten und sie vertiefte ihm kirchengeschichtliches Verstehen. Sie war ihm Basis, Vergangenheit und Gegenwart in je ihrem besonderem Feld und Ort zu erfassen, nüchtern und ohne Überdeutung. Es geht um „Verstand und geschichtlichen Sinn“.¹ Die Relevanz der Forschungsgeschichte aber weitet sich über die neutestamentliche und kirchengeschichtliche Disziplin hinaus bei Jülicher hin zu theologiegeschichtlichen Aspekten im Allgemeinen und findet sich in universitätsgeschichtlichen Beiträgen. Das reiche Material unter seinen etwa 800 Veröffentlichungen insgesamt kann hier nur teilweise ausführlicher aufgegriffen und vieles nur im Überblick genannt werden. [315]

I. Sein erstes und bekanntestes Hauptwerk Die Gleichnisreden Jesu zeigt im ersten Teil Die Gleichnisreden im Allgemeinen ² sein Anliegen bereits deutlich. Schon das erste Kapitel „Die Echtheit der Gleichnisreden Jesu“³ zielt darauf, nicht nur Jülichers Grundsätze hinsichtlich der Gleichnisforschung zu entfalten, sondern diese wissenschaftsgeschichtlich zu orten. Über Heinrich Ewalds Nachweise⁴ hinausgehend ist ihm wichtiger als das Alter des Gleichnisgutes im synoptischen Vergleich „die Thatsache, dass die Gleichnisse der verschiedenen Evangelien den

 Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 317.  A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, T. 1: Die Gleichnisrede im Allgemeinen, Freiburg i. Br. 1886 / 1888, zitiert nach: Zweite, neu bearbeitete Auflage. Zweiter unveränderter Abdruck, Tübingen 1910 (bei Zitaten werden Kapitälchen zur Hervorhebung von Namen in Jülichers Werk nicht berücksichtigt; Hervorhebungen durch den Autor dieses Artikels werden, auch in diesen Zitaten, kursiviert); zu den einzelnen Ausgaben vgl. Die Publikationsgeschichte von Adolf Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, zusammengestellt von U. Mell, in: ders. (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899 – 1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher, Berlin / New York 1999, BZNW 103, 1– 3.  Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 1– 24.  Jahrbücher der biblischen Wissenschaft 1, 1848/1849, 135– 138; 2, 1849/1850, 197.

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Charakter des Evangelisten deutlich zur Schau tragen“, wozu er redaktionsgeschichtliche Überlegungen bei C. Ph. Conz (Morgenländische Apologen, 1803) aufspürt und auswertet.⁵ Schon die Frage der Echtheit der Verkündigung Jesu bezüglich Gleichnis/Parabel verlangt die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung. Denn auch diese Spezialfrage führt notwendig zur Leben-Jesu-Diskussion und der ihr zuzuordnenden Lehre Jesu.⁶ Sie mündet in das Problem der synoptischen Fragestellung, inwieweit sich eine mündliche Vorgeschichte der Parabeln eruieren lässt, wofür Jülicher auf den Holländer C. E. van Koetsveld verweist.⁷ In zweiten Kapitel „Das Wesen der Gleichnisreden Jesu“ wird zunächst aufgedeckt,⁸ dass das Verständnis von Parabel im deutschen Sprachbereich [316] nicht der neutestamentlichen Zeit entspricht⁹ und dass auch der Rückgriff auf ‫משׁל‬ im Alten Testament, wofür H. Ewald¹⁰ wichtige Hinweise gab, nur zur „geringen Ausbeute aus dem A.T.“ führt.¹¹ Jülicher kommt nach breiter Erörterung der These, die Parabel entspreche der Allegorie, und kritischer Auswertung der Forschung (z. B. der Erwägungen von Friedrich Rückert¹²) zu dem Ergebnis: „Trotz der Autorität so vieler Jahrhunderte, trotz der grösseren Autorität der Evangelisten kann ich die Parabeln Jesu für Allegorien nicht halten.“¹³ Die Parabeln sind „eigentlich“ zu verstehen (wenigstens nach Jülicher ganz überwiegend¹⁴). „Einen Teil der παραβολαί halte ich einfach für ‚Gleichnisse‘. Ich verbinde mit diesem Wort den Sinn, welchen Aristoteles Rhet. II 20 der παραβολή zuweist. Das ‚Gleichnis‘ ist die Vergleichung auf höherer Stufe, die Veranschaulichung eines Satzes durch Nebenstellung eines andern ähnlichen Satzes.“¹⁵ Die weitere Definition Jülichers hinsichtlich Parabel, Gleichnis, Beispielerzählung zeigt den notwendigen Rückgriff auf die Forschungsgeschichte,¹⁶ weil nur die Nachzeichnung von Wegen und Irrwegen in der Forschung zur Herausbildung des eigenen Ergebnisses führt. Die Bestimmung des tertium comparationis ist für die Parabel unumgänglich. Bereits in Jülichers eigene Zeit reichend ist dabei die Feststellung von Bernhard Weiß: „Die

 Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 7 f.  Ebd., 9 – 21.  Ebd., 22; zu van Koetsveld vgl. die näheren Angaben in Anm. 52.  Ebd., 25 – 118.  Ebd., 36 f.  Jahrbücher der biblischen Wissenschaft 8, 1856/1857, 23 f.  Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 39.  Ebd., 60; vgl. auch 77.79.145.  Ebd., 61; vgl. 63 f.  Ebd., 66.  Ebd., 69.  Ebd., 79 ff.

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Parabel will beweisen“,¹⁷ auch wenn Jülicher selbst diese Einsicht früherer wissenschaftlicher Arbeit zuordnet und schon im Vorwort¹⁸ bittet, zukünftig nicht mehr „von einer ‚Methode von B. Weiß – Jülicher‘“ „reden zu wollen“. Das dritte Kapitel „Der Zweck der Gleichnisreden Jesu“¹⁹ entfaltet mit wichtigen Forschungsergebnissen seiner eigenen Zeit (H. J. Holtzmann, [317] G. Volckmar, J. Weiß²⁰) die Bedeutung des Hörens der Parabeln. Die Ausführungen zielen darauf, den Sinn der Parabelrede aufzudecken und zugleich Jülichers Betonung der Markus-Priorität in der Abfolge der Synoptiker hervorzuheben.²¹ Das vierte Kapitel „Der Wert der Gleichnisreden Jesu“²² ist dem Bilderreichtum in den Parabeln schon in der Umwelt Jesu und den möglicherweise religionsgeschichtlichen Parallelen gewidmet, zugespitzt auf das Problem, ob Jesus die Ursprünglichkeit der Parabel als Ausdruck seiner Verkündigung abgesprochen werden kann. Dies geschah zugunsten des Rabbinismus insbesondere seit J. Lightfoot († 1675), wie Jülicher an dessen horae hebraicae nachweist.²³ Auch diskutierte buddhistische Parallelen werden mit Literatur vorgestellt, um dann doch insgesamt die Einzigartigkeit der Verkündigung Jesu in Parabeln darzutun.²⁴ Im fünften Kapitel „Die Aufzeichnung der Gleichnisreden Jesu“²⁵ ist eine Zielvorgabe bestimmend: „Nach der Beschreibung des Gegenstandes selber sollen die Grundlinien seiner Geschichte entworfen werden.“ Es ergeben sich „zwei ungleiche Hälften, die ich als Aufzeichnung und Auslegung unterscheide, obwohl eins ins andre hinüberspielt; aber eine Grenze wird doch deutlich gebildet durch das Moment, wo unsere Evangelien kanonische Geltung erhielten, und so der Text gegeben war, mit dem die junge Kirche sich durch Erklärung abfinden musste, an dem sie nicht mehr wie die ersten Generationen äusserlich viel ändern konnte.“²⁶

 Ebd., 105.  Ebd., III.  Ebd., 118 – 148.  Die Parabelrede bei Mc, ThStKr 64, 1891, 289 – 321.  „Ich halte nach wie vor Mc für den Schöpfer des Parabelkapitels und sehe keinen genügenden Grund, hier eine ältere Quelle für ihn und die beiden Seitenreferenten zu konstatieren, so wenig wie seine Abhängigkeit von Mt zuzugestehen“ (Jülicher, Gleichnisreden [Anm. 2], 129, Anm. 1).  Ebd., 148 – 182.  Ebd., 164 ff.  Z. B. ebd., 173.177.182.  Ebd., 183 – 203.  Ebd., 183.

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Es geht Jülicher in diesem Kapitel „um die Periode, in der erhebliche Veränderungen noch möglich waren“.²⁷ Unter dem wesentlich von Georg Lorenz Bauer (1755 – 1806) erkannten Gesichtspunkt, dass jede Parabel [318] nur einen Gedanken hat,²⁸ und dem weiteren, dass Jesu Parabeln keine allegorischen Züge enthalten, entwickelt Jülicher in Grundzügen der Form- und Redaktionsgeschichte (ohne diese Bezeichnungen zu verwenden) das Werden der einzelnen Parabeln und ihre Letztgestalt im Werk des jeweiligen Evangelisten, um von dieser Bestandsaufnahme her dann im sechsten Kapitel die „Geschichte der Auslegung der Gleichnisreden Jesu“ anzugehen.²⁹ Man geht nicht fehl in der Annahme, dass Jülicher in den voranstehenden Kapiteln auf dieses forschungsgeschichtliche Resümee hingearbeitet hat, so wie forschungsgeschichtliche Ergebnisse in nicht geringem Maße die Ausführungen in den früheren Kapiteln bestimmen. Dieses forschungsgeschichtliche sechste Kapitel beginnt mit einem wissenschaftsgeschichtlichen Grundanliegen Jülichers: „Ein Ueberblick über alle bisherige exegetische Arbeit an den in den kanonischen Evangelien überlieferten Gleichnissen Jesu wird uns eher ermöglichen unsern Vorgängern gerecht zu werden.“³⁰ Und dies bedeutet für Jülicher auch, unumwunden auf diejenigen zu verweisen, die hier bahnbrechend vorgearbeitet haben wie z. B. C. E. van Koetsveld. Geht es doch um nicht weniger als 1800 Jahre der Forschung. Aus der breiten Darlegung müssen einige Hinweise genügen. Für den Patristiker Jülicher ist es betrüblich, dass „die erste Periode in der Geschichte der Parabelerklärung“ mit Origenes „abgelaufen“ ist,³¹ ohne dass eine irgendwie weiterführende Sicht zu erheben wäre.³² Eine „zweite Periode“ reicht für Jülicher bis zur Reformationszeit.³³ Einige Namen stehen für bedenkenswerte Einsichten: Gregor von Nazianz († 390) bietet den ersten Parabelkatalog (ohne diesen auszuwerten), sieht in jeder Parabel ein Ganzes und in den Parabeln insgesamt eine Besonderheit der Verkündigung Jesu; auch betont er die Verwandtschaft von Parabel und [319] Fabel (μῦθος).³⁴ Übertroffen aber wird er von Chrysostomos, der erkannt habe, „dass die Parabel nur  Ebd.  Ebd., 190; vgl. 290; zu G. L. Bauer siehe unten Anm. 46.  Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 203 – 322.  Ebd., 203.  Ebd., 224.  Tertullian bietet zwar Ansätze, aber „seine Exegese ist doch zu befangen, zu dienstbar, nämlich für Dogmatik und Polemik, als dass er sich die Ruhe gönnte, eine neue Bahn zu brechen“ (ebd., 220).  Ebd., 225 ff.  Ebd., 227 ff.

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wirkt, wenn man sie eigentlich und als Ganzes versteht“.³⁵ Trotz des hervorragenden Exegeten Cyrill von Antiochien († 444) auch hinsichtlich der Parabeln gibt es nach Jülicher „keinen …, der an einem Punkte über das Mass des von Chrys. Erreichten hinausgeschritten wäre“.³⁶ Hieronymus († 420) und Augustin († 430) fallen nach Jülicher für die anstehende Fragestellung aus, und selbst Nicolaus von Lyra († 1340) ist diesbezüglich unergiebig.³⁷ Luther „verbindet … mit den hellen Einsichten des Chrys. die Irrtümer des Origenes“, aber er hat sich nicht eigentlich der Parabelauslegung zugewandt, während Bucer „im wesentlichen die hergebrachten Fehler der Parabelexegese sämtlich überwunden“ hat und Calvin in dieser Hinsicht auf den richtigen Weg wies.³⁸ Auch Flacius († 1575) „ist der wahren Einsicht in Wesen und Zweck der Parabel ganz nahe gekommen“.³⁹ Doch am bedeutendsten erwies sich J . Maldonatus († 1583), der weithin den Sinn der Parabeln erkennt und der nicht selten sich zu Spezialfragen an seinem Erzfeind Calvin orientiert.⁴⁰ Jülichers voranstehende Kapitel in diesem Werk der Gleichnisreden zeigen oft mittel- wie unmittelbar Bezüge zu Maldonatus. Aber nicht Maldonatus, sondern Alfons Salmeron († 1585), der als Erster ein Spezialwerk über die Parabeln schrieb, fand wirkliche Verbreitung in der gegenreformatorischen Epoche, obwohl dessen einschlägiges Werk, unmethodisch gearbeitet, einen Rückschritt darstellte.⁴¹ Gleichwohl ist – abgesehen von einzelnen, zu denen auch Cocceius und H. Grotius gehören, die Parabelforschung bis um 1700 n.Chr. enttäuschend,⁴² und auch die pietistische Auslegung führt nicht weiter. [320] Mitte des 18. Jahrhunderts gewinnt Lessings Fabeltheorie wissenschaftliche Nachahmung, bringt aber genau so wenig die Parabelforschung weiter wie R. Lowths – nach Jülicher – entgleisendes Verstehen der Parabel als Unterart der Allegorie.⁴³ Auch J. S. Semler († 1791) ist unter Jülichers Fragestellung nicht näher heranzuziehen, da für diesen Fabel und Parabel eine zu enge sachliche Berührung haben.⁴⁴ Dagegen hat das „Trefflichste zur Sache im ganzen Jahr-

 Ebd., 234; vgl. 236.  Ebd., 238.  Zu den beiden Ersteren s. ebd., 241– 250; zu Letzterem 259 f. (im Gegensatz zu van Koetsveld).  Zu Luther s. ebd., 256 ff. (Zitat: 257), zu Bucer 259, zu Calvin 260 ff.  Ebd., 264.  Ebd., 267 f.  Ebd., 270 ff. (mit auch bibliographischen Einzelheiten).  Zu Cocceius und Grotius s. ebd., 278 ff., zur negativen Gesamtbilanz 284 f.  Ebd., 287. Hier sind von Jülicher wichtige Nachweisungen von R. Lowth, die auch hermeneutisch weiterführend sind, übersehen; vgl. Merk, Theologie (Anm. 46), 145 f.  Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 288.

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hundert … G. Ch. Storr († 1805) geschrieben“,⁴⁵ auch wenn hier noch Lessings Fabeltheorie nachwirkt. Ebenbürtig und sogar bedeutender erweist sich in Jülichers Charakterisierung Georg Lorenz Bauer mit seinem Werk Sammlung und Erklärung der parabolischen Erzählungen unseres Herrn (Leipzig 1782). Hier ist der Sinn der Parabel klar erkannt, nach Jülicher eine „heilsame Reaktion“ auf die Deutungen in der Orthodoxie (und anderswo), hier ist „die Einheit des Grundgedankens in jeder Parabel Axiom“.⁴⁶ Zu solchen Einsichten sind – wie Jülicher geradezu bedauernd konstatiert – selbst J. G. Herder († 1803) und andere nicht gelangt.⁴⁷ Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts stehen zur Sachfrage in Deutschland wieder stark im Zeichen der „Allegorisierung der Parabeln“, also einer deutlichen Rückwendung, während die gleichzeitige diesbezügliche englische Forschung sich langsam von der Allegorisierung löst.⁴⁸ Bei allen bahnbrechenden Einsichten in die Schriftauslegung im 19. Jahrhundert etwa durch Schleiermacher, W. M. L. de Wette – so resümiert Jülicher – finden sich keine Parabelforscher; Hermeneutik und Parabel als [321] zusammenhängende Fragestellung wurden kein Thema⁴⁹. Auch der vom Verfasser hochgeschätzte F. C. Baur († 1860) war kein Ansprechpartner in diesem Forschungsbereich. Fast resignierend hält Jülicher für die Mitte des 19. Jahrhunderts und schon in seine eigene Zeit reichend fest: „dies bequeme Ja – Nein ist für die herrschende Parabelauffassung typisch: pietistische, konfessionalistische und selbst mehr kritisch gerichtete Exegeten wetteifern miteinander um den Vorsprung in seiner Handhabung“,⁵⁰ nämlich allegorisch oder anders. Und er bedauert, dass selbst führende kritische Theologen unentschieden sind oder sich zur Fragestellung nicht weiter äußern, wie etwa der von ihm verehrte K. (v.) Weizsäcker († 1899).⁵¹

 Ebd., 288. G.Th. Storr, Dissertatio hermeneutica de Parabolis Christi, Tübingen 1779; Nachdr. in: ders., Opuscula Academia, Tom. I, 1798, 89 – 143.  Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 290; vgl. O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972, MThSt 9, 144 ff. Bauer erkannte die Bedeutung von Lowth für die Parabelforschung.  Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 294 ff.  Ebd., 299 – 301.  Ebd., 306 ff.307 Anm. 1.  Ebd., 311.  Vgl. A. Jülicher, Art. Weizsäcker, Karl W., protestantischer Theologe, † 1899, in: ADB 55, Leipzig 1910, 27– 38.

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Anders dagegen steht es mit C. E. van Koetsveld, der 1869 das nach Jülicher maßgebende Werk zur Parabelforschung verlegte,⁵² aber die methodische Grenze liegt darin, dass er es nicht wagt, „an dem Text Kritik zu üben“, so dass er je und dann zur Allegorese neigt.⁵³ Für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts ist dieses Werk für Jülicher selbst Leitfaden der Beurteilung anderer Untersuchungen über die Parabeln.⁵⁴ Daneben aber und zeitlich sogar etwas davor liegend führt Jülicher die einschlägigen Arbeiten des Orientalisten Heinrich Ewald⁵⁵ und – in nicht geringem Gefolge zu diesem – Untersuchungen von Bernhard Weiß an, der Ewalds Resultate wissenschaftlich verbreitet habe. An Ewald lobt Jülicher, er „verzichtet auf jedes Allegorisieren, sucht den einen Grundgedanken jeder Parabel [322] festzustellen“.⁵⁶ „Er übertrifft B. Weiß an kritischer Unbefangenheit, namentlich über Grund und Zweck der Parabelrede vertritt er ganz nüchtern geschichtliche Anschauungen.“ Dass diese Sicht cum grano salis auch in seiner eigenen Zeit immer mehr beachtet wird,⁵⁷ konstatiert er mit der Feststellung: „Wir sind zufrieden mit dem Resultat, dass die Allegoristerei à tout prìx aus dem Felde geschlagen ist und in allen theologischen Lagern der Rückzug zur Deutung nur der Hauptsachen gutgeheissen wird, wenn auch diese ‚Hauptsachen‘ noch stark durch den dogmatischen Geschmack beeinflusst werden.“⁵⁸ Gerade weil sich Jülicher  Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 313ff; C. E. van Koetsveld, De Gelijkenissen van den Zaligmaker, 2 Bde, Schoonthoven 1869; weitere bibliographische Hinweise bei Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 314 Anm. 1.  Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 315.  Kritisch dazu G. Heinrici, Art. Gleichnisse, in: RE³ 6, Gotha 1899, 688 – 703, 702: „Noch enger verwandt mit den Grundsätzen von Storr, steht das gründliche und sinnige, aber in Deutschland jetzt allzulaut gepriesene Werk des Holländers C. E. [van] Koetsveld.“  Neben den o.g. Beiträgen s. H. Ewald, Die drei ersten Evangelien übersetzt und erklärt, Göttingen 1850.  Jülicher, Gleichnisreden (Anm. 2), 318. Das nachfolgende Zitat s. ebd.  Ebd., 318 ff.  Ebd., 322; kritisch dazu G. Heinrici, Art. Gleichnisse (Anm. 54), 703: „Neue Bahnen bemüht sich A. Jülicher zu eröffnen, indem er die von B. Weiß verteidigte Wertung der Parabeln sich aneignete und selbständig ausbaut. Zugleich hat er das Verdienst, die kritischen Fragen der Überlieferung energisch in Angriff genommen zu haben. ‚Drei Möglichkeiten sind für die Parabeln überhaupt nur gegeben, daß man nichts, daß man alles, und daß man die Hauptsachen allegorisiert‘, so sagt er und tritt im Vertrauen auf Mt 19,30 für die erste ein. Er hat Recht bei den Beispielerzählungen, Unrecht bei den Parabeln, wenn er ‚allegorisieren‘ im Sinne von deuten nimmt … und wenn er sie alle nach einem Schema beurteilt. Der Zwang der Deutung liegt in der παράθεσις der religiösen Wahrheit; ihre Schranke liegt in der Parabel selbst, in ihrer Einheit als Vorgang. Die allegorisierende Färbung aber von Einzelzügen, die sich vereinzelt nachweisen lässt, erklärt sich aus der Art, in der Parabeln entstehen. Denn um dem Reichtum der Parabeln Jesu gerecht zu werden, ist die in dem Wesen aller veranschaulichenden Lehrweise liegende, psychologisch betrachtet notwendige Mannigfaltigkeit der Berührungen und Übergänge einer

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auf das „Typische“⁵⁹ in der Nachzeichnung der Parabelauslegung beschränkt hat und in keiner Weise über die Spezialfragestellung hinaus eine allgemeine Bilanz neutestamentlicher Wissenschaftsgeschichte zieht,will er sich in einem doppelten Sinne verstanden wissen: „Wenn ich nach Butzer, Calvin und Maldonatus, nach van Koetsveld und B.Weiss, mit diesem Werk über die Gleichnisreden Jesu hervorgetreten bin, so habe ich nicht das Gefühl gehabt, einen Neubruch anzulegen. Alles, was ich behaupte, ist schon von Andern behauptet worden, meine Aufgabe war blos, die m. E. gesunden [323] Einsichten weniger Männer hinsichtlich unsres Gegenstandes in Zusammenhang zu bringen, Reste irrationaler Ueberlieferung, die allerwärts bemerklich waren, zu beseitigen, eine einheitliche Anschauung von Jesu Parabeln nach Wesen und Zweck klar zu entwickeln, um der Sache willen im kräftigsten Gegensatz gegen die bisher vorherrschenden Theorien.“⁶⁰

Mit dem Letzteren ist zum zweiten Bereich übergeleitet: Einsichten aus der Forschungsgeschichte verlangen eine sorgfältige Auslegung der Parabeln. Und hier gilt für ihn,was den zweiten Band seines Werkes kennzeichnet: „Wir aber kämpfen weiter unter der Fahne: simplex sigillum veri.“⁶¹ Zusammengefasst: Die ersten fünf Kapitel des ersten Bandes finden ihre kritische Prüfung durch Jülichers Nachweisungen aus der „Geschichte der Auslegung der Gleichnisreden Jesu“, und die Auslegungen im zweiten Band sind die Konsequenz solchen forschungsgeschichtlichen Prüfens.⁶² Eine weitere forschungsgeschichtliche Aufgabe, vielleicht sogar Herausforderung stellte für Jülicher sein zweites bekanntes Werk Einleitung in das Neue Testament dar.⁶³ Für die Einleitungswissenschaft war es in den einschlägigen

Bildform in die andere gegenwärtig zu halten. Was aber ihren Zweck angeht, so bleiben die Parabeln Verdeutlichungen für den, der die Wahrheit im Herzen trägt, die sie verdeutlichen.“ Auch Heinrici bleibt letztlich bei dem von Jülicher abgelehnten, „bequeme(n) Ja – Nein“.  Jülicher, Gleichnisreden (Amn. 2), 322.  Ebd., 320.  Ebd., 322.  A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu. T 2: Auslegung der Gleichnisreden der drei ersten Evangelien, Freiburg i. Br. 1899; zweiter unveränderter Abdruck: Tübingen 1910; vgl. ebd. auch das Vorwort der Erstauflage vom November 1898; siehe auch G. Heinricis Nachtrag in: ders., Art. Gleichnisse (Anm. 54), 703: „Nachtrag. Nach Ablieferung dieses Artikels ist eine ‚Auslegung der Gleichnisreden der drei ersten Evangelien‘ von Ad. Jülicher … erschienen. Mit Beseitigung alles eintragenden Systematisierens erklärt Jülicher, das Verwandte gruppierend, nach einander ‚die eigentlichen Gleichnisse, die Parabeln und die Beispielerzählungen‘. Seine eindringende und lebensvolle Auslegung beweist, daß die Praxis sachgemäßer als die Theorie sein kann.“  A. Jülicher, Einleitung in das Neue Testament, Freiburg i. Br. / Leipzig 1.21894 (GThW 3/1); zuletzt Neubearbeitung in Verbindung mit E. Fascher, Tübingen 71931 (Zitiert wird nach der 1. u. 2. Aufl., gelegentlicher Sperrdruck bei Jülicher bleibt unberücksichtigt).

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Werken durchaus üblich, auch einen forschungsgeschichtlichen Abriss der Entstehungsgeschichte dieser Teildisziplin zu bieten. Jülicher betrat also kein Neuland, wie es im Forschungsverbund und doch eigenständig für den forschungsgeschichtlichen Nachweis in den Gleichnisreden Jesu [324] gelten konnte. Schon im Vorwort der ersten Auflage der Einleitung (1894) spricht er es – ähnlich wie bei den Gleichnisreden – aus: „dass beinahe Alles, was ich hier vortrage, durch die treue Arbeit ganzer Generationen zusammengebracht und nicht von mir entdeckt worden ist, weiss wol Jedermann. Prioritätsansprüche werde ich auf Grund dieser Bücher gegen Niemanden erheben.“⁶⁴ Aber forschungsgeschichtlich lassen sich Jülichers Akzente erkennen, die sich durch alle jeweils aktualisierten Auflagen seines Werkes durchgehalten haben. Die „Prolegomena“ der ersten Auflage⁶⁵ spitzen bereits über das notwendig in ihnen zu Behandelnde zu auf den Punkt, den der forschungsgeschichtliche Teil fokussiert: „Die historisch-kritische (sc. Methode) ohne jede dogmatische Tendenz.“⁶⁶ Das ist der Leitfaden, der forschungsgeschichtlich Tiefenschärfe erfährt. Völlig zu Recht werden die Bemühungen um die „Einleitung in das Neue Testament“ von der Alten Kirche an bis in das 17. Jahrhundert aus je ihrer Zeit skizziert, um dann durch die Werke von R. Simon († 1712), J. D. Michaelis († 1791) und J. S. Semler († 1791) den langsamen Durchbruch und die Wirkung freierer Schriftauslegung für die Einleitungswissenschaft zu erheben. Doch die eigentlichen Nachweise für sein Anliegen findet Jülicher erst in der Forschung des 19. Jahrhunderts, kulminierend zunächst in W. M. L. de Wettes († 1849) Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung des Neuen Testaments (1826, ⁵1860), bei „dem grossen Bibelforscher“.⁶⁷ Zwar hat Jülicher einzuwenden: „die Stellung des Vrf. zu den kritischen Problemen wechselt in den verschiedenen Auflagen stark, und vor Allem erfährt man mehr von den Meinungen der Theologen über die NTlichen Bücher als dass diese selber einem lebendig vor das Auge geführt würden“, um dann fortzufahren: „aber der Reichtum sorgfältigst gesammelter Angaben über die Literatur und die Geschichte der Forschung, die Gleichmässigkeit der Behandlung, die freie, nüchterne, ernste Art der Kritik, die objective,vornehme Haltung des Darstellers, der fast mit den Worten kargt, machen seine Arbeit zu einer noch heute nutzbaren.“ [325] Bahnbrechend ist für Jülicher die mit den Namen F. C. Baur († 1860) verbundene „Tübinger Schule“. Zwar sei es eher irreführend, bei diesem Tübinger

 Ebd., V.  Ebd., 1– 18.  Ebd., 3.  Allerdings bedauert Jülicher, dass „hier die Geschichte des Ntlichen Kanons wie manches andere Unentbehrliche sich in der Einleitung zum A.T.“ befindet (ebd., 10); das nachfolgende Zitat s. ebd.

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von einer „Tendenzkritik“ zu sprechen. Denn „das Grosse bei Baur ist vielmehr seine Forderung“, die „Schriften“ des Neuen Testaments „nicht mehr als gleichsam zufällige Producte irgend einer religiösen Persönlichkeit jede für sich zu betrachten, sondern sie im engen Zusammenhange mit der Geschichte des Christentums als notwendige Erzeugnisse einer bestimmten Phase dieser Entwicklung zu begreifen“, „er hat uns gelehrt, die Bücher des NT’s wahrhaft geschichtlich … zu würdigen.“⁶⁸ Zwar ist die Konstruktion Baurs im Wesentlichen unhaltbar, wie dessen Schüler – selbst durchaus nicht einer Meinung – vielfach begründet nachgewiesen haben. Gerade als Kritiker ihres Lehrers schätzt Jülicher sie hoch.⁶⁹ Aber das Grundanliegen des Meisters ist seiner Meinung nach das Zukunftsweisende für die neutestamentliche Einleitungswissenschaft. Dieses sieht Jülicher von C. Weizsäcker „in meisterhaftem Wurf“ verwirklicht, in dessen Werk Das Apostolische Zeitalter der christlichen Kirche (¹1886, ²1892): „In dem Rahmen der Gesamtentwicklung der christlichen Religion in ihrem ersten Jahrhundert werden da so gut wie alle Ntlichen Bücher an geeigneter Stelle analysirt, geprüft und verwertet; die überzeugende Kraft, die von diesem Geschichtsbilde ausgeht, ist grösser als sie bei einer abgesonderten Behandlung der NTlichen Schriften erreicht werden kann.“⁷⁰

Hier ist für Jülicher forschungsgeschichtlich und methodisch der Punkt erreicht, den er selbst anstrebt. Trotz der Grenzen, die in den Vorgaben gegenüber einem Lehrbuch beschlossen liegen, geht es ihm um dieses Ziel⁷¹ in der gesamten Durchführung.⁷² Der Zweite Teil Die Geschichte [326] des NTlichen Kanons besonders, aber auch der Dritte Teil Die Geschichte des NTlichen Textes sind dieser Ausrichtung verpflichtet.⁷³ „Einleitung in das Neue Testament“ bleibt für Jülicher die Wissenschaft vom geschichtlichen Verstehen des Urchristentums, die auch in seinem Lehrbuch in der Zusammengehörigkeit von Hermeneutik und Geschichte hervortritt.

 Ersteres Zitat s. ebd., 11, letzteres 13.  Ebd., 11 ff.  Ebd., 17. Jülicher ebd. fährt fort: „und es ist der schönste Triumph für Baur, dass der Mann, der nach seinem Tode an seine Stelle berufen wurde, um den bösen von B.[aur] gestreuten Samen zu entfernen, zuletzt ein Werk geschaffen hat, das den Grundgedanken Baur’s in der vollkommensten Form durchführt“; vgl. auch Jülicher, Weizsäcker (Anm. 51).  Jülicher, Einleitung (Anm. 63), VIf.  Vgl. ebd., 19 Anm. 1, und den Aufbau des ersten Teils des Werkes.  Deshalb hat Jülicher jedes Lehrbuch der neutestamentlichen Einleitungswissenschaften ohne die Behandlung der Geschichte des Kanons und der Textgeschichte des Neuen Testaments als unzureichende Verkürzung abgelehnt (vgl. ebd. [⁷1931], 19 ff. [passim]).

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II. Jülicher hat sich teils als Auftragsarbeiten, teils zu besonderen Anlässen oder aufgrund ihm angetragener Rezensionen verschiedentlich in kleineren Studien zur Forschungsgeschichte geäußert oder Reflexionen zu dieser beigesteuert. Gerade die Reflexion war ihm wichtig. Als Johannes Ficker den ersten Teil der Römerbriefvorlesung Martin Luthers 1908 herausgab, verfasste Jülicher eine eingehende Rezension über diese Edition mit der besonderen Ausrichtung auf die Bedeutung reformatorischer Schriftauslegung für die Geschichte der Exegese, so sehr natürlich zunächst einmal die „Exegese Luthers“ aus ihrer Zeit heraus gewürdigt werden müsse.⁷⁴ Sicher durch das Calvinjubiläum bedingt und doch nicht zufällig veröffentliche Jülicher im gleichen Jahr 1909 eine Studie über Calvin als Schriftausleger: „Aber so lesen wir denn auch heute z. B. Luthers RömerbriefKommentar aus Liebe zu Luther, den von Calvin dagegen vor allem aus dem Interesse an Paulus.“⁷⁵ Calvin war für Jülicher der bedeutendere Exeget als Luther und der wohl wichtigste unter den Reformatoren. „Das Großartige an Calvins Kommentaren sind nicht einzelne vorzügliche Dinge, es ist die Vereinigung von eindringender Tiefe des Auslegens und weiser Beschränkung auf das Notwendige, von gleichmäßiger Berücksichtigung aller Textbestandteile [327] und energischer Betonung des Fundamentalen“‚⁷⁶ er „beschränkt sich auf die buchstäbliche Auslegung, achtet sorgfältig auf den Zusammenhang, und hat sogar ein Empfinden für das, was dem einen Schriftsteller zugetraut werden kann, dem andern nicht“.⁷⁷ In Summa: „Mir scheint er (sc. Calvin) der unsterbliche Zeuge dafür, daß die gediegenste wissenschaftliche Auslegung zugleich die praktischste ist.“ Aber Jülicher verkennt nicht die Wärme, die Luthers (Römerbrief‐)Kommentar spiegelt, während bei Calvin immer eine gewisse Distanz zum Gegenstand des Kommentierten bleibt. Mit Calvins Auslegung in dessen Kommentaren, besonders in der des Römerbriefs, ist für Jülicher ein forschungsgeschichtlicher Maßstab gesetzt zur Beurteilung anderer Werke, den er aber auch für sich selbst in Anspruch nimmt und dem er sich beugt. Ganz das Gegenteil deckt Jülicher in einer vernichtenden Kritik der Schallanalyse als Beitrag zur Kommentierung paulinischer Briefe auf, wie er anhand einer Untersuchung zum Galaterbrief zeigt.⁷⁸ Es geht ihm aus begründeter bis-

 A. Jülicher, Luthers Vorlesung über den Römerbrief, in: ChW, 23 1909, 194– 198; Zitat ebd., 195 f.  A. Jülicher, Calvin als Schriftausleger, in: ChW 23, 1909, 655 – 657; Zitat ebd., 656.  Ebd., 655.  Ebd., 656. Darauf beziehen sich auch die weiteren Hinweise in diesem Absatz.  A. Jülicher, Eine Epoche in der neutestamentlichen Wissenschaft?, in: PrM 24, 1920, 41– 56.

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heriger Forschung um die Warnung vor einem Irrweg, den zukünftige neutestamentliche Wissenschaft vermeiden sollte. Im Bericht über das Entlarven eines gefälschten Briefes des Chrysostomos weist Jülicher mit geradezu kriminalistischem Spürsinn nach, dass gelehrte Arbeit als Forschungsgeschichte auch solcher Bemühungen bedarf, so in seiner entlegenen Spezialarbeit: Ein Blatt aus der Geschichte des Kampfes um die Freiheit des Geistes im 16. und 17. Jahrhundert. ⁷⁹ Herausragend sind über die genannten, Forschungsgeschichte von verschiedenen Aspekten her angehenden Studien Jülichers biographische Beiträge, wobei der liberale Theologe, der die ‚Persönlichkeit‘ schon in den Schriften des Urchristentums so stark bedachte, hier einfühlsam Persönlichkeit und Werk einzelner Gelehrter charakterisieren kann. Seine biographischen Skizzen behandeln Kollegen und Zeitgenossen. In diesem Sinne sind Jülichers entsprechende Ausführungen noch nicht Forschungsgeschichte, [328] aber sie verdeutlichen mehrfach, welche Tragweite sie für ihn im Hinblick auf das sachgemäße Einschätzen zurückliegender Forschung haben. Es gilt für ihn grundsätzlich im Beurteilen neuester Untersuchungen, wie er es anlässlich des Werkes von W. Wrede Das Messiasgeheimnis in den Evangelien (1901) im Jahre 1906 festhält: „Ob das Erscheinen von Wredes Buch 1901 eine neue Epoche in der Geschichte unserer Wissenschaft gebildet hat, kann überhaupt erst die nächste Generation entscheiden; wir stehen noch zu nahe, um die Höhenverhältnisse sicher zu beurteilen.“⁸⁰ Er betont dabei eindrücklich und im Bilde, dass „neue Linien“⁸¹ in einem Forschungsfeld sich so verhalten: „Der neue Wein ist auf denselben Reben gewachsen, die schon früher edle Frucht getragen haben, es ist ein neuer Jahrgang. Wer den Wein überhaupt nicht mag, wird auch an dem neuen, dessen Herbigkeit eher abstoßend wirkt, keinen Geschmack finden. Als Allheilgetränk bietet er sich nicht an.“⁸² Aufbruch zu Neuem und in der Forschung gewachsene Ergebnisse haben ihr Recht und bündeln sich in ein in die Gegenwart des wissenschaftlich Arbeitenden hinein förderliches Nachdenken. Seine wichtigsten biographischen Beiträge gelten Heinrich Julius Holtzmann,⁸³ Gustav Vol(c)kmar,⁸⁴ William

 In: Rektoratsprogramm der Universität Marburg, der 52. Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner als Festgabe gewidmet, Marburg 1913, 57– 89.  In: A. Jülicher, Neue Linien in der Kritik der evangelischen Überlieferung, Vorträge des Hessischen und Nassauischen Ferienkurses 3, Gießen 1906, 8 f.  Ebd., 67.  Ebd., 74 f.  A. Jülicher, Heinrich Julius Holtzmann’s Bedeutung für die neutestamentliche Wissenschaft, in: PrM 6, 1902, 165 – 172.  A. Jülicher, Art. Vol(c)kmar, Gustav, in: ADB 54, Leipzig 1908, 764– 775.

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Wrede,⁸⁵ Alfred Loisy,⁸⁶ Hermann Weingarten,⁸⁷ Karl Weizsäcker,⁸⁸ Julius Wellhausen,⁸⁹ Karl Holl.⁹⁰ [329] Unter den Genannten sind ihm H. J. Holtzmann und K. Weizsäcker besonders geistesverwandt. Liberale Persönlichkeit und liberale Exegese treffen bei Holtzmann zusammen, „die in allem gleiche Verbindung von solider Gelehrsamkeit, von gründlicher Vertrautheit mit dem Gegenstand wie mit der Geschichte seines bisherigen Verständnisses“.⁹¹ Er ist für Jülicher, „der Schatzmeister der neutestamentlichen Wissenschaft in unserem Zeitalter“,⁹² ein Vorbild für kritische Forschung, der schon in Grundfragen des Faches in die neuere Forschungsgeschichte eingegangen ist und es verdient, weiterhin in dieser berücksichtigt zu werden. Bei K. Weizsäcker steht das schon von Jülicher im Zusammenhang der Einleitungswissenschaft Ausgeführte,⁹³ dem er forschungsgeschichtlichen Rang zumisst. Jetzt aber zeichnet er ein Gesamtbild des Gelehrten, wobei er Grundsätzliches für das forschungsgeschichtliche Verstehen hervorhebt. Es ist „der Standpunkt des Geschichtsschreibers … der rein historische: er mengt keine Reflexionen über die Stellung des Glaubens zu diesem oder jenem Stück Geschichte ein, und bringt an die Kritik seiner Quellen keine wie immer geartete religiöse Voraussetzungen mit.“⁹⁴ Von seinem wissenschaftlichen Lebenswerk aber gilt: „was am Schluß des 19. Jahrhunderts die Forschung auf dem Gebiet des Urchristenthums allmählich und stückweise erkannt und festgestellt hatte, das hat W. zu einer Gesammtanschauung in eins gefügt, so daß durch den Zusammenhalt des Ganzen nun auch die einzelnen Bestandteile volles Licht und rechte Werthschätzung empfangen.“⁹⁵

 A. Jülicher, Art. Wrede, William, in: RE3 21, Gotha 1908, 506 – 510; ders., Neue Linien (Anm. 80), 14 ff.  A. Jülicher, Alfred Loisy, in: ChW 23, 1909, 315 – 317.345 – 349.  A. Jülicher, Art. Weingarten, Georg Wilhelm Hermann, in: ADB 55, Leipzig 1910, 364– 372.  A. Jülicher, Art. Weizsäcker, Karl W., in: ADB 55, Leipzig 1910, 27– 38.  A. Jülicher, Julius Wellhausen, in: ChW 32, 1918, 72– 74; ders., Nachruf zu den Nachrufen auf Wellhausen, in: PrM 22, 1918, 145 – 153; ders., Wellhausen, J., Das Evangelium Marci, übersetzt und erklärt, Berlin 1903, in: ThLZ 29, 1904, 256 – 261; ders., Neue Linien (Anm. 80), 37 ff.  A. Jülicher, Karl Holl, in: ChW 40, 1926, 627– 632.  Jülicher, Holtzmann (Amn. 83), 170.  Ebd.‚ 171.  Siehe oben bei Anm. 70.  A. Jülicher, Weizsäcker (Anm. 88), 33.38 spricht Jülicher bei W. vom „Segen der Verbindung von neutestamentlich philosophischer Forschung mit der allgemein geschichtlichen Schulung“.  Ebd.‚ 33.

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Hier liegt nach Jülicher das Zukunftsweisende, das in die spätere Forschungsgeschichte eingehen sollte. Und auch dieses, was Jülicher selbst in hohem Maße beherzigte, sieht er bei Weizsäcker vorbildlich ausgewiesen: „Vorzüglich gelang es ihm, das Bild eines Menschen streng wahrhaftig zugleich und doch mit der Zuthat von innerer Antheilnahme, ohne die es [330] nicht Anschauungen schafft, zu zeichnen.“⁹⁶ „Die Pflicht, eine fremde Individualität aus ihr heraus zu verstehen, hat er sehr ernst genommen.“ Das Gesamtbild Weizsäckers aber rundet Jülicher dahin ab: „er war ganz frei von dem Streben, Andern seine Meinung aufzudrängen. Aber wer das Zeug in sich hatte, eine eigene Meinung sich zu erwerben, wissenschaftliche Selbständigkeit zu lernen, der kam bei W. in die beste Schule.“ Forschungsgeschichte und die Persönlichkeit des einzelnen Forschers zu verbinden, sah Jülicher als besondere Aufgabe an. In der Charakterisierung von William Wrede kommt Jülichers eigene zunächst Annäherung, dann aber freundschaftliche Zuneigung zur ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘ zum Tragen, dabei vom Schicksal und Geschick Wredes persönlich berührt. Das aber ändert nichts daran, dass Jülicher in Wredes Werk sezierend die neuralgischen Punkte, besonders im Messiasgeheimnis in den Evangelien (1901) und im Paulus (1904), in noch heute aktuellen Nachweisen der dortigen Einseitigkeiten aufzeigt und an aufbauender Kritik nicht spart:⁹⁷ „sein Verdienst um die theologische Wissenschaft aber verteilt sich gleichmäßig auf alle seine Werke, und wahrlich nicht das ausgeschlossen, was er geleistet hat als Lehrer und gelebt als Mensch.“⁹⁸ „Wer den Namen W.s (sc. Wrede) mit Ehrfurcht ausspricht“ – und Jülicher tat es –, „erinnert sich, daß die neutestamentliche Wissenschaft alles andere eher als fertig ist, daß für ihre großen Werke nur die höchsten Anstrengungen freier Geister Förderliches ausrichten können. Grundbescheiden wie er war ist er’s zufrieden, wenn alle ehrlichen Menschen anerkennen: er ist dahingegangen über unser Ackerfeld und hat tiefe Furchen gezogen und Samen ausgeworfen in das umgepflügte Land, aus dem die Ähren aufsprießen mögen – für andere.“⁹⁹

 Ebd., 35; die beiden nachfolgenden Zitate s. ebd., 36.37.  A. Jülicher, Wrede (Anm. 85), 506 ff.; ders., Linien (Anm. 80), 14 ff.; ders., Paulus und Jesus, Tübingen 1907 (RV 1/14).  A. Jülicher, Wrede (Anm. 85), 506.  Ebd., 510.

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Für Wredes Werk und für die ‚Religionsgeschichtliche Schule‘ erwartete Jülicher in späteren Jahren und Jahrzehnten eine ertragreiche forschungsgeschichtlich relevante Diskussion.¹⁰⁰ [331] Unter den von ihm biographisch Erfassten stand Jülicher der persönliche Freund Julius Wellhausen am nächsten, den er über dessen Tod hinaus als Theologen und weniger als Orientalisten gewürdigt wissen wollte.¹⁰¹ Was dieser über seine grundstürzenden Beiträge zur alttestamentlichen Wissenschaft auch für die neutestamentliche Forschung geleistet hat, zeigt Jülicher beispielhaft in einer kritischen Besprechung von dessen Markus-Kommentar Das Evangelium Marci‚ übersetzt und erklärt (1903).¹⁰² „Was man bei Wellhausen nicht suchen darf, ist Berichterstattung über den Stand der bisherigen Forschung; um den Anschluß an die gelehrte Tradition bemühte er sich nicht.“¹⁰³ Das aber konnte nach Jülicher bei dieser Persönlichkeit kein Mangel sein. Denn „er ging in Allem seine eignen Wege, und fand dann manchmal etwas, was schon vor ihm ein Andrer gefunden hatte. Wenn Alle so arbeiteten wie er, wäre es ein Schade; aber ein so reicher Geist wie der seine tat gut daran, seine Zeit nicht mit dem Ringen um Vollständigkeit in der Erkenntnis fremder Deutungsversuche auszufüllen.“ Auch solche Beobachtungen und Einsichten gehören nach Jülicher zur Forschungsgeschichte, aber er wusste zugleich genau, dass Wellhausens forschungsgeschichtlicher Rang eindeutig war und dass dieser über seine eigene Zeit hinaus fortbestehen werde. Persönlichkeit und Forschungsgeschichte in ihrer Beziehung zueinander sind für Jülicher tragende Aspekte eigener Forschung. [332]

 Diese hat Jülicher († 1938) zum Teil noch miterlebt; vgl. auch sein weiter gefasstes Urteil in: ders., Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum, in: P. Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart, I/4,1: Die christliche Religion mit Einschluß der israelitischjüdischen Religion, Berlin u. a. ³1922, 41– 128, hier: Nachträge zum zweiten Abdruck, 131 d (sic): „Ob wohl die Zeit naht, wo neben der Konstruktion der modernen Religionshistoriker und der ihres Widerparts die von Ferd. Chr. Baur wieder zu Ehren gelangt? Gewiß bedarf sie erheblicher Einschränkungen, gewiß müssen bedeutsame Wahrheitsmomente aus der Geschichtsanschauung der Boussetschen Schule mit ihr in Verbindung gebracht werden. Aber ganz an Baur vorbei wird man Paulus niemals richtig begreifen, wie auch die Entwicklung der evangelischen Tradition nicht an Strauß vorbei, und wenn irgendwann in der Welt haben in den ersten Jahrhunderten des Christentums die Persönlichkeiten mehr bedeutet als die Gedanken, die Atmosphären, die Ausdrucksformen.“  A. Jülicher, Wellhausen (Anm. 89), 72 ff.  A. Jülicher, Evangelium (Anm. 89), hier: ThLZ 29, 1904, 256 ff.  A. Jülicher, Wellhausen (Anm. 89), 73; Zitat s. ebd.

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III. Abschließend ist auf Jülichers universitätsgeschichtliche Beobachtungen und Beiträge zu verweisen. Als mehrfacher Dekan seiner Fakultät und als Rektor der Philipps-Universität Marburg, der er von 1888 bis 1938 angehörte, konnte er auf diesem Gebiet praktische Erfahrungen und wissenschaftsgeschichtliches Interesse verbinden. Erstmals kommt dies in einer umfassenden Besprechung des Werkes von Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium (Berlin 1902), zur Geltung. Unter dem Titel Die deutschen Universitäten in der Gegenwart ¹⁰⁴ würdigt er dieses umfassende Werk überwiegend, in vielem zustimmend, positiv als Bestandsaufnahme zur Jahrhundertwende und im Rückblick auf das 19. Jahrhundert,verbunden jedoch mit verschiedenen kritischen Einwänden. Besonders gegenüber dem Abschnitt über das System der Professorenberufungen äußert er schwere Bedenken hinsichtlich der Feststellungen über theologische Fakultäten.¹⁰⁵ Überhaupt befriedigen Jülicher die Ausführungen über die theologischen Fakultäten in diesem Überblick am wenigsten, so dass er in dem Aufsatz Die deutschen theologischen Fakultäten der Gegenwart ¹⁰⁶ eine Fortsetzung seiner Besprechung des genannten Werkes folgen lässt. Er zeigt, dass F. Paulsen die „Entwicklung der theologischen Fakultäten“ im „letzte(n) Drittel“ des 19. Jahrhunderts „recht ungenügend charakterisiert“¹⁰⁷ und „einseitig“ Beurteilungen vornehme. Der Verfasser überbewerte den Einfluss dogmatischer Traditionen und zeichne dadurch ein unscharfes Bild der tatsächlichen Lage in den protestantisch-theologischen Fakultäten, mit dem Fazit: „Ich wüßte nicht, was den theologischen Exegeten und Historiker heute noch zu dogmatischer Ueberlieferung veranlassen könnte.“ Auch hinsichtlich der katholisch-theologischen Fakultäten rückt Jülicher einiges zurecht (wobei hier vielleicht am stärksten seine eigene [333] Zeitgebundenheit und das Verständnis vom Lehramt der römischen Kirche um die Jahrhundertwende hervortreten¹⁰⁸). Doch darin trifft er sich weithin mit F. Paulsens Sicht: „Das Interesse auch der protestantischen Kirche an der absolut unbeschränkten Lehrfreiheit der theologischen Fakultäten kann meines Erachtens so lange kaum hoch genug eingeschätzt werden, als diese Kirche nur auf Universitäten gebildete Geistliche anstellen will“, ja: „und heute vielleicht mehr

 A. Jülicher, Die deutschen Universitäten in der Gegenwart, in: ChW 17, 1903, 635 – 641,639.  Später wird er die Sachfrage im Zusammenhang seiner eigenen Marburger Theologischen Fakultät erörtern (s. unten).  A. Jülicher, Die deutschen theologischen Fakultäten der Gegenwart, in: ChW 17, 1903, 674– 678.  Ebd., 675; ebd. s. auch das nachfolgende Zitat.  Ebd., 676 f.

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als je hat der protestantische Pfarrer, wenn er an dem religiösen Leben seiner Kirche wirklich mitbauen will, es nötig, wissenschaftliche Selbständigkeit erworben zu haben.“¹⁰⁹ Diese Besprechung ist der wissenschafts- und geistesgeschichtliche Hintergrund für den von Jülicher aufgegriffenen und engagiert dargelegten Fall der Berufungspolitik des preußischen einschlägigen Ministeriums, wie sie an der Marburger Theologischen Fakultät zwischen 1892 und 1912 praktiziert wurde. In seiner Schrift Die Entmündigung einer preußischen theologischen Fakultät im zeitgeschichtlichen Zusammenhang (Tübingen 1913) will es Jülicher nicht einfach bei der Aufarbeitung der eindeutigen Fakten belassen‚¹¹⁰ sondern es soll dies ein „Beitrag zur Zeitgeschichte“ sein: „Ich denke an spätere Historiker, die mir Dank wissen werden für diese Zusammenstellung von Tatsächlichem und ein wenig Kommentar, und an die nicht gerade große Schicht von Deutschen, die die Schicksale der Universitäten im Zusammenhang mit der Geschichte des Geisteslebens, der Freiheit und der Kultur zu würdigen verstehen.“ Es geht Jülicher darum, eigene erlebte Zeitgeschichte wissenschaftsgeschichtlich für die nachfolgende Generation aufzubereiten, um das Selbstbestimmungsrecht nicht nur der außertheologischen, sondern auch der theologischen Fakultäten zu begründen.¹¹¹ „Mein Kampf gilt dem Recht und noch mehr der Wahrheit. Denn das Recht [sc. im Kontext Jülichers auch das Hochschulrecht] ist [334] wandelbar, die Wahrheit nicht. Und der Historiker muß die Wahrheit für groß achten, auch in kleinen Dingen.“¹¹² Einen letzten forschungsgeschichtlichen Beitrag steuerte der schon nahezu erblindete Jülicher für den Jubiläumsband der Marburger Universität 1927 bei.¹¹³ In meisterhafter Kürze bietet er eine die Studierenden einbindende Geschichte seiner Fakultät im theologischen und historischen Nachweis ihrer liberalen Entfaltung und zeitenbedingten Wandlung von 1866 (der beginnenden preußischen Zeit der

 Ebd., 677 f.; vgl. auch Jülicher im ersten Teil seiner Rezension (Anm. 104), 640 f.  A. Jülicher, Die Entmündigung einer preußischen theologischen Fakultät im zeitgeschichtlichen Zusammenhang, Tübingen 1913, 1– 15; zum nachfolgenden Zitat s. ebd., 33; vgl. damit zudem 15 ff.  Ebd., 39; vgl. 53.  Ebd., 41. Kurz, aber ohne den Hintergrund, den Jülicher seinen Ausführungen gibt, und vornehmlich die äußere Veranlassung bedenkend wird diese Schrift behandelt von J.-C. Kaiser, Adolf Jülicher als Zeitgenosse. Eine biographische Skizze, in: Mell (Hg.), Gleichnisreden (Anm. 2), 256 – 286, 273 ff.  A. Jülicher, Zur Geschichte der theologischen Fakultät, in: Die Philipps-Universität zu Marburg 1527– 1927. Fünf Kapitel aus ihrer Geschichte (1527– 1866) v. H. Hermelink und S. A. Kähler. Die Universität Marburg seit 1866 in Einzeldarstellungen, Marburg 1927 (Nachdr. 1977), 569 – 574, 571.

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Universität) bis in die Mitte der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Hier findet sich Jülichers Maxime bestätigt: „Zur Beschränkung aber auf das Wesentliche, das dann um so gründlicher verarbeitet wird, erzieht man die Studierenden durch das eigene Beispiel.“¹¹⁴ Jülichers Gesamtbeitrag zur Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte ist in seiner Bedeutung – vielleicht außer zu den Gleichnisreden Jesu – kaum oder gar nicht beachtet worden, sicher auch, weil sich dieser Gelehrte mit seinen diesbezüglichen Einsichten nirgends aufdrängte. Aber die einschlägigen Nachweisungen sind für ihn kein schmückendes Beiwerk in seinen Untersuchungen. Sie sind ihm Kennzeichen und Anstoß dafür zu zeigen, dass historische Forschung – zumal in ihrer historisch-kritischen Ausrichtung – eine notwendig unabgeschlossene ist. Forschungs- und wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten sind ihm im Spezielleren wie auch im Allgemeinen förderliche und aufbauende Hilfe für jede neu den anstehenden Problemen sich zuwendende Generation: ein existentieller Beitrag zum kritischen Verstehen der Vergangenheit und der Gegenwart.

 Da Jülicher auch Sachverhalte aus seiner Schrift „Die Entmündigung einer preußischen Fakultät…“ erwähnte (572), erhob der mitbetroffene Kollege K. Bornhäuser Protest, der in einer Gegendarstellung der Jubiläumsschrift beigelegt wurde (werden musste); jedenfalls erhielten alle 1927 in Marburg tätigen Hochschullehrer diese den Ausführungen Jülichers widersprechende Mitteilung.

Albert Schweitzer – sein Denken und sein Weg 14. Januar 1875 – 4. September 1965 Der 100. Geburtstag Albert Schweitzers gibt Anlaß, in einem kurzen Rückblick einer der bedeutendsten Gestalten unseres Jahrhunderts zu gedenken, eines Mannes, der in seltener Einheit von Denken und Tat ein Mahnmal auch für unsere Zeit aufgerichtet hat. Doch Gedenken heißt nicht staunende Bewunderung, sondern – im Sinne Schweitzers – Mitvollzug im Denken, der darin besteht, die Linien aufzuspüren, die den Menschen und sein Werk geprägt haben. Die äußeren und inneren Stationen dieses reichen Lebens sind eng miteinander verbunden. Schon in der Kindheit und Jugendzeit macht der Elsässer Pfarrerssohn Erfahrungen und verarbeitet er Erlebnisse, die sein späteres Denken mitbestimmt haben.Während seines Studiums der Theologie und der Philosophie in Straßburg (1893 – 1898) gewinnt er durch eigenes Nachdenken die Grundkonzeption, die sich ihm zunächst in seinen neutestamentlichen Forschungen in den Jahren 1901– 1913 als „konsequente Eschatologie“ bestätigen und vertiefen sollte. Bereits in die Zeit des Studiums (1896) fällt der Entschluß, sich bis zum 30. Lebensjahr Kunst und Wissenschaft zu widmen, dann aber in den Dienst „unmittelbaren menschlichen Dienens“ zu treten, ohne vorerst zu ahnen, wie dieses Dienen aussehen werde. Der Doktor der Philosophie (1899) und Doktor der Theologie (1900), der Privatdozent und Professor für Neues Testament (1902– 1912), für den sich aufgrund seiner Veröffentlichungen eine bedeutende akademische Karriere anbahnte‚ entschloß sich 1905 zum Studium der Medizin mit dem Ziel, Tropenarzt zu werden. Durch einen Artikel in einer Missionszeitschrift wurde ihm unmittelbar deutlich, worin für ihn „menschliches Dienen“ Gestalt finden sollte. Nach Abschluß des Medizinstudiums (1911) und Promotion zum Dr. med. (1913) erfolgte am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Ausreise nach Lambarene und die Gründung des dortigen Spitals (1913). Das ganze weitere Leben Schweitzers ist durchdrungen vom helfenden Dienst in der konkreten Sorge um dieses Spital (1917 Internierung Schweitzers, 1924 Neugründung Lambarenes). Häufige Reisen zunächst in das Europa der Väter und später weltweit (1918 – 1959) dienten durch Vorträge und Konzerte der Gewinnung von Freunden und der Beschaffung der Mittel für diese seine ureigene „Improvisation“‚ wie er sein Spital gelegentlich nannte. In Lambarene wirkte er, bis sein im Denken begründetes ungemein tätiges Leben am 4. September 1965 sein Ende fand.

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Theologische und philosophische Lehrer Für den Lebensweg Schweitzers ist kennzeichnend, daß er die Einsichten seines vielschichtigen Denkens in das Leben hinein zu übersetzen verstand und damit auch sein reichhaltiges wissenschaftlich-literarisches Werk in den Kontext seines Lebens spannte. Die ersten greifbaren Wurzeln dieses Denkens zeigen sich im Straßburger Studium der Theologie und der Philosophie, genauerhin in der denkerischen Leistung jener, die Schweitzer als seine Lehrer besonders hoch schätzte: Heinrich Julius Holtzmann, den führenden liberalen Neutestamentler im südwestdeutschen Raum, und die Philosophen Wilhelm Windelband und Theobald Ziegler. Vor allem letzterer war ihm durch dessen eigenen Lebensweg als Theologe und Philosoph nah verbunden. Die Bedeutung Th. Zieglers für Schweitzer geht weit über die von ihm angeregte und bei ihm vorgelegte philosophische Dissertation über „Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1899) hinaus und bedarf noch der Aufarbeitung: Zieglers eigene Position, die ihrerseits Ansätze bei F. Schleiermacher und besonders bei D. F. Strauß hat, ist zwar grundlegend vom ethischen Positivismus geprägt. Aber seine Ausführungen über die ethische Relevanz des Willens, sein religionsphilosophisch durchdrungenes Bemühen, „die Religion mit der Kultur zu versöhnen“, seine Deutung des Begriffs „Mystik“, seine Erklärung des Sündenverständnisses, schließlich seine Beurteilung der Reformation, sein Verstehen Goethes als eines „synthetischen“ Denkers und die in seinen Forschungen durchgängig sichtbar werdende „Erziehung zur Wahrhaftigkeit“ haben für Schweitzers philosophischen und theologischen Denkansatz, besonders auch für seine Darlegung der paulinischen „Mystik“, für sein Lutherverständnis, seine eigene Deutung Goethes und seine Grundauffassung von Wahrhaftigkeit erhebliche Bedeutung. Zumindest wird man von einer erstaunlichen Parallelität des Denkens in den genannten Punkten bei Lehrer und Schüler sprechen müssen. Ziegler hatte erkannt, was den jungen Theologen und Philosophen Schweitzer bewegte, als er ihm das Thema über Kants Religionsphilosophie gab. An Kants religionsphilosophischen Schriften gewinnt Schweitzer eine bleibende Einsicht für sein Denken: Der Vorrang der sittlichen Vernunft vor der theoretischen Erkenntnis. Ziegler hat Schweitzer auf den Weg ethischen Verstehens und Wollens gewiesen, bei Kant fand der Doktorand – wie Ziegler selbst – bei durchaus beachtlichen Vorbehalten gegenüber dem Königsberger sein eigenes ethisches Denken präformiert, ein Anliegen, das ihm am Ende des 19. Jahrhunderts zugleich zu einem Zeitanliegen wurde. In seinem kaum bekannten Aufsatz „Die Philosophie und die allgemeine Bildung im neunzehnten Jahrhundert“ (in: Das 19. Jahrhundert, 24 Aufsätze. Zur Jahrhundertwende, hg.von G. Wolf, Straßburg 1900, S. 61– 68) findet sein „Pessimismus“ gegenüber dem

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Erste theologische Veröffentlichungen

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Kulturbetrieb seiner Zeit bereits beredten Ausdruck. Denn Schweitzers philosophisch-ethisches Bemühen um die Jahrhundertwende zielt auf die eigene kritische Distanz gegenüber einer im Optimismus auf ein Jahrhundert zurückblickenden Zeit. Dieses Bemühen zeigt letztlich – noch bevor Schweitzer seine theologischen Hauptwerke verfaßt – die Grundlegung seiner Kulturphilosophie. Er schreibt in seiner „Selbstdarstellung“ (Sonderausgabe, 1929, S. 25) über ein Gespräch im Hause von Ernst Curtius in Berlin im Sommer 1899: „Plötzlich äußerte einer …: ‚Ach was! Wir sind ja doch alle nur Epigonen!‘ Dies Wort schlug wie ein Blitz neben mir ein. Es sprach aus, was ich dunkel empfand.“ Diese Grundzüge seiner später ausgeführten Kulturphilosophie, die Schweitzer sichtbar sich andeutenden Gefahren des Epigonentums, sind mitzubedenken, wenn wir uns nunmehr dem weitaus bekannteren Teil in Schweitzers Werk, den theologischen Hauptschriften, zuwenden. Das Angebot Zieglers, sich im Fach Philosophie zu habilitieren, lehnte Schweitzer unter anderem deshalb ab, weil man in der philosophischen Fakultät nur ungern einen Philosophen, [27] der allsonntäglich Gottesdienst hielt, sehen wollte. Schweitzer wußte sich bei allem Gewinn durch die philosophische Ethik als Theologe, und es ist bezeichnend, daß auch sein theologischer Lehrer H. J. Holtzmann, der ebenfalls umfassend zu Kants Religionsphilosophie Stellung genommen hatte, um so gewisser bei der neutestamentlichen Forschung blieb (vgl. Zeitschrift für wiss. Theol., 1875, S. 161 ff., worauf Schweitzer dankbar verweist).

Erste theologische Veröffentlichungen Schweitzers früheste, der neutestamentlichen Wissenschaft gewidmete Arbeiten (Diss. und Habil. Schrift) behandeln „Das Abendmahlsproblem auf Grund der wissenschaftlichen Forschung des 19. Jahrhunderts und der historischen Berichte“ und „Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis Jesu“. Beide schmalen Hefte stehen unter dem übergeordneten Titel: „Das Abendmahl im Zusammenhang mit dem Leben Jesu und der Geschichte des Urchristentums“ (1901) und verraten, vielleicht sogar verdeckt durch die Widmung „Seinem Lehrer Herrn Prof. D. Dr. H. J. Holtzmann gewidmet in aufrichtiger Verehrung und treuer Anhänglichkeit von seinem dankbaren Schüler Albert Schweitzer“, nicht, daß hier ein erster gezielter Angriff auf das kritische liberale Jesusbild mit seiner Deutung Jesu als ethischem Lehrer und Vorbild geschieht. „Das Abendmahl kann nur aus dem Zusammenhang des Lebens Jesu begriffen werden“ (Heft I, S. 62). Dieses Leben Jesu aber ist, wie am Ende des ersten

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Heftes und besonders im zweiten Heft gezeigt wird, nur aus der konsequent eschatologischen Sicht der Verkündigung und des Auftretens Jesu zu verstehen. In gebotener Kürze können nur einige Sachverhalte genannt werden: 1) Schweitzer gibt nicht zu verstehen, was man Jahrzehnte später durch die Darstellung seines Lebens (1929) erfährt, daß ihm bereits bei der kursorischen Lektüre des Matthäusevangeliums (Kap. 10, bes. anhand von 10,23) im Jahre 1894 der Gedanke wichtig wurde, Jesus sei nur im Zusammenhang einer rein eschatologischen Grundkonzeption verstehbar. Man erfährt ebenfalls nicht, daß Mt 10,23 in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der Eschatologie Jesu heftig umstritten war. 2) Der Verfasser zeigt hier noch nicht an, was er später in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ ausdrücklich betont, daß seine Forschungen durch Johannes Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (1892, ²1900), und durch Wilhelm Baldensperger, Das Selbstbewußtsein Jesu im Lichte der messianischen Hoffnungen seiner Zeit (1888‚ ³1903), maßgeblich bestimmt sind, d. h. daß die eschatologische Fragestellung für Leben und Verkündigung Jesu um die Jahrhundertwende erheblich diskutiert wurde. 3) Ein Vergleich mit Heinrich Julius Holtzmanns „Lehrbuch der Neutestamentlichen Theologie“, Bd. I, 1896 und Schweitzers Schrift zeigt bereits eine durchgängige Kritik an der Auffassung seines Lehrers und damit die Ablehnung der liberalen Leben-Jesu-Darstellung. 4) In dieser frühen Untersuchung ist die Gesamtauffassung Schweitzers von Jesus bereits dargelegt, wie sie – etwas präzisiert – in der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ wiederkehrt. 5) In dieser Schrift ist auch bereits sein Paulus-Verständnis im Ansatz konzipiert. Auch Paulus muß konsequent eschatologisch verstanden werden: „Auf diesem Gedanken beruht überhaupt die ganze paulinische Theologie und Ethik“ (Heft II, S. 77). 6) Die Ausführungen sind von einem merkwürdigen Vertrauen in die Geschichtsforschung begleitet (etwa Heft I, S. XI). Dahinter steht nicht der Optimismus seiner Zeit, denn es ist a) zu sehen, daß Schweitzer durch den Hinweis auf die Historie gerade die Fremdheit der Zeit Jesu (und des Paulus) vor Augen führen will, b) hervorzuheben, daß der Verfasser zwar nicht durchgängig, aber offenbar weithin bewußt zwischen „historisch“ und „geschichtlich“ unterscheidet, um damit hier anzubahnen, daß die konsequent historische Erforschung der Zeit und des Lebens Jesu (und des Paulus) die konsequente eschatologische Interpretation der historischen Rekonstruktion erfordert. Für Schweitzer heißt das konkret: die Bewältigung der Enteschatologisierung, die systematisch ins Leben übersetzte Entfaltung des eschatologischen Bewußtseins Jesu. Um die Jahrhundertwende ist wie das philosophische so auch das theologische Werk Schweitzers im Grundlegenden abgeschlossen, aber es bedarf der Entfaltung.

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Die Entfaltung des theologischen Werkes Dies geschieht zunächst in der Leben-Jesu-Forschung („Von Reimarus zu Wrede“, 1906; ²1913: „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“), ein Werk, das forschungsgeschichtlich nicht überholt ist und zudem zeigt, welchen Vorläufern Schweitzer für sein Denken besonders verbunden ist, das zweitens den Grabgesang für das liberale Jesusbild anstimmt, das drittens nicht, wie häufig irrigerweise gesagt wird, die Rückfrage nach dem „historischen“ Jesus als theologisch illegitim aufdecken will. Ganz im Gegenteil: Die bleibend notwendige Rückfrage nach dem Jesus der Historie entbindet erst dazu, Konsequenzen aus der Fremdheit von Jesu Wort und Werk zu ziehen. Es kommt ein weiterer Sachverhalt hinzu, den in gleicher Weise treffend „Die Geschichte der paulinischen Forschung“ (1911) zeigt: Forschungsgeschichtliche Arbeit entlarvt unbarmherzig die Epigonen, so viel Wertvolles sie auch im einzelnen geleistet haben mögen. Forschungsgeschichte ist für Schweitzer nicht nur Information (das ist sie bei ihm in ganz vorzüglicher Weise), sondern auch ein Beitrag zur Gegenwartsbewältigung. Daß Schweitzers Anliegen bei aller berechtigten Kritik an seinen Konstruktionen im einzelnen nicht verstanden wurde, zeigen – soweit sein Werk überhaupt zur Kenntnis genommen wird – die Rezensionen der genannten Arbeiten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Man erkannte deshalb auch nicht, daß Schweitzer gerade durch die Zerstörung des liberalen Jesusbildes ein liberaler Theologe geblieben war und er einem Verständnis liberaler Theologie vorgearbeitet hat, das nach dem Ersten Weltkrieg bestimmend werden sollte. Man kann und muß aus dem historisch-kritisch gewonnenen Wirken und der Verkündigung Jesu systematisch Konsequenzen für die eigene Gegenwart ziehen: im tätigen Lebensvollzug, in gelebter Jüngerschaft. Nicht der Jesus der Dogmen, sondern der der existentiell gelebten Tat ist gemeint, der aber, wie die Umsetzung des eschatologischen Horizonts im Neuen Testament zeigt, nie der uns greifbare ist, sondern immer Vorbild und darin für den Jünger Aufgabe und Verpflichtung bleibt. [28] Es ist darum nicht verwunderlich, daß der große Wurf seines PaulusBuches, „Die Mystik des Apostels Paulus“ (1930) – vor der Ausreise nach Lambarene weitgehend fertiggestellt –, bei seinem Erscheinen in eine völlig andere theologische Situation gerät. Von Einzelheiten abgesehen beruht die positive Aufnahme des Buchs jetzt vornehmlich darauf, daß Schweitzer mit seiner liberalen Position als Wegbereiter der existentialen Interpretation angesehen werden kann. Spätestens seit Erscheinen der „Mystik des Apostels Paulus“ lassen sich Berührungen Rudolf Bultmanns mit dem Werk Schweitzers dahingehend verdichten, daß Schweitzer auch Bultmanns Verstehen des Neuen Testaments mitbeeinflußt hat und Schweitzer aus der Sicht der sog. „dialektischen Theologie“ der

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Bultmann-Seite zugeordnet werden muß. Wenn der alte Schweitzer am 28. Juni 1952 in einem Brief seine geistige Verwandtschaft zur alten Marburger Theologischen Fakultät betont und darauf hinweist, „weil ich mich zu Marburg ja von jeher hingezogen fühlte“, so ist das in der Sache begründet. Dieser Sachverhalt hat nicht zuletzt darin seine Wurzel, daß der liberale Schweitzer und der liberale Bultmann – wenn auch nur aus teilweise gleichen Motiven – auf Ferdinand Christian Baurs Lebenswerk zurückgreifen und damit, über die „Epigonen“ in der liberalen Theologie hinweg, auf denjenigen, der in seinem der ntl. Forschung gewidmeten Werk Grundlinien liberaler Theologie im Ansatz aufweist. Schweitzer ist in späteren Jahren nur selten noch zur ntl. Thematik zurückgekehrt. Sein Vorwort zur sechsten Auflage der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ (1950) bekräftigt noch einmal seine einst vorgetragene Sicht. In seinem Aufsatz „Die Idee des Reiches Gottes im Verlaufe der Umbildung des eschatologischen Glaubens in den uneschatologischen“ (engl. 1950; deutsch 1953) wird die Notwendigkeit der Interpretation der ausgebliebenen Parusie als existenzbestimmend herausgearbeitet, und in seinem nachgelassenen Werk „Reich Gottes und Christentum“ (hg. von U. Neuenschwander, 1967) faßt er seine Konzeption von „Reich Gottes und Parusieverzögerung“ deskriptiv zusammen. Darf auch bei der eindrucksvollen Geschlossenheit der ntl. Untersuchungen nicht verschwiegen werden, daß eine Fülle von Einzelheiten historisch-kritischer Exegese nicht standhielten und daß Schweitzer den Forschungsstand seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr berücksichtigt hat (z. B. die „Formgeschichte“ und die religionsgeschichtlichen Fragestellungen), wichtiger ist es, kurz aufzuzeigen, wie diese Arbeiten im Gesamtgefüge des Denkens Schweitzers verankert sind.

Ethik als Religion Die philosophische wie auch die theologische Arbeit Schweitzers treffen sich in seiner These von der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Seit der Jahrhundertwende suchte Schweitzer einen sein philosophisches und theologisches Denken einenden Oberbegriff, mit dem der Theologe Schweitzer beiden Bereichen gerecht werden konnte und der doch so weit gefaßt ist, daß der Mediziner Schweitzer mit seiner naturwissenschaftlich exakten Denkweise sich darin wieder erkennen konnte. Auf einer Fahrt nahe Lambarene wurde ihm im Jahre 1915 plötzlich dieser sein Denken fortan bestimmende Begriff geschenkt. Erstmals entfaltet hat er ihn in zwei Straßburger Predigten vom 16. und 23. Februar 1919 (über Mk 12‚28 – 34 und Röm 14,7; vgl. Straßburger Predigten, hg. von U. Neuenschwander, 1966, S. 115 ff., 127 ff.).Voraussetzung und Anlaß dazu ist die Begegnung mit Jesus (für Schweitzer beherrschend von Jugend an), die er im Schlußkapitel der „Geschichte der Leben-

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Jesu-Forschung“ als Begegnung von Wille zu Wille kennzeichnet und in den genannten Predigten als eine Synthese von Vernunft und Herz auf Seiten der Menschen erläutert. Nur in dieser Synthese ist nach Schweitzer der Weg zum „Urbegriff des Guten“, zum Leben, gegeben, wird der Wille Jesu denkend „ins Leben übersetzt“ (ein häufiger gebrauchter Ausdruck Schweitzers in diesem Zusammenhang) und als „Ehrfurcht vor dem Leben“ humanitätsbegründend. Es ist erkennbar, daß diese These an den die Historie übergreifenden Jesus der Geschichte, an den „dogmatischen“ Willen Jesu jenseits der historischen Einkleidung gebunden bleibt, aber zugleich sich als die Konsequenz darbietet, die sich Schweitzer durch seine Beschäftigung mit Kant (und Th. Ziegler) als Grundkonzeption philosophischer Ethik ergeben hat. Genauer: Ethik als Religion. Denn: Alle „Ethik gelangt schließlich zur Religion Jesu“. Geradezu dialektisch vermag Schweitzer die „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu entfalten: Einerseits mißt er die Kultur- und Geistesgeschichte an diesem Leitbegriff (vgl. Verfall und Wiederaufbau der Kultur; Kultur und Ethik, I. II, 1923/24) ohne auf das Christentum bzw. auf die Religion Jesu einzugehen: „Ethisch ist nur die Ehrfurcht meines Willens zum Leben vor jedem andern Willen zum Leben“, und diese „Ethik geht nur so weit, als die Humanität … geht“ (II, S. 257). Andererseits aber stellt er ausdrücklich fest: „Soll die Kirche ihre Aufgabe erfüllen, so muß sie die Menschen in elementarer denkender Religiosität einigen“ (II, S. 273). Daß Schweitzer den Leitbegriff „Ehrfurcht vor dem Leben“ erst während des unmittelbaren Dienens in Afrika fand, ist von tragender Bedeutung. Die Begegnung mit dem Willen Jesu führt in den Dienst der Liebe und damit in die Weltverantwortung. Das Leiden, das Schweitzer in Afrika vorfand, ist der Kontext seines Leitbegriffs. In einem seiner letzten Aufsätze hat er noch einmal von ntl. Seite her sein Anliegen zusammengefaßt: „In der Erwartung des Weltendes setzen die ersten Gläubigen ihr Hoffen allein auf das Reich Gottes. Wir tun es in der Erwartung des Endes der Menschheit. Der Geist läßt uns die Zeichen der Zeit erkennen und gibt uns ihre Deutung ein.“ „Es kann nicht Reich Gottes in die Welt kommen, wenn nicht Reich Gottes in unsern Herzen ist. Anfang des Reiches Gottes ist, daß wir darum ringen, daß Gesinnung des Reiches Gottes unser Denken und Tun beherrschen“ (Schweizer Theol. Umschau 23, 1953, S. 20). Das aber ist die Aufgabe, die „Die Religion in der modernen Kultur“ hat (Aufsatz Schweitzers, 1934). Hier schließt sich der Kreis: Für die „Ehrfurcht vor dem Leben“ bleibt grundlegend die Begegnung von Wille zu Wille, aber dieser Leitbegriff ist längst nicht mehr allein aus der konsequent eschatologischen Interpretation des Neuen Testaments gewonnen, sondern ist die Synthese von Schweitzers theologischem, philosophischem und medizinisch-naturwissenschaftlichem Denken. Es ist eine

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Synthese, die zum Leitbegriff werden konnte, weil das Denken ihres Verfassers sich in der Tat verwirklichte. [29] Die vorgetragenen und an sich notwendigen Einwände gegenüber Schweitzers Leitbegriff beiseite lassend soll ergänzend und abschließend auf Schweitzers Deutung Goethes verwiesen werden.

Besonderes Verhältnis zu Goethe Schweitzer, der in verschiedenen Phasen seines Lebens ein je besonderes Verhältnis zu Goethe gewann, hat die genannte Einheit von Denken und Tat bei dem großen Weimarer wiederzufinden vermocht. Sein eigenes, wie er es bezeichnet, „existentielles Verstehen“ war ihm durch Goethe exemplarisch vorgelegt, so wie er andererseits meinte, daß Goethes Denken ein Nachvollzug der Musik Johann Sebastian Bachs sei (Goethereden, S. 51). Vor allem aber war es Schweitzer gelungen, das von den „Epigonen“ Goethe beigelegte und entstellende Bild des Geistesheroen abzubauen und einen im Denken begründeten, umfassend die Geistes- und die Naturwissenschaften einbeziehenden, um sittliche Wahrhaftigkeit ringenden Menschen zu zeichnen: gelebte Humanität. Er hat damit unbewußt vorgezeichnet, worin die Tragik seines eigenen Lebens liegt: daß diejenigen, die sich auf ihn bewundernd und unkritisch berufen, doch nur „Epigonen“ sein werden, weil sie nicht gleich ihm die Kraft des Denkens und die aus diesem Denken resultierende Tat zu verbinden wissen. Das hier nur skizzenhaft umrissene vielschichtige Denken und Wirken Schweitzers bleibt in seiner unlösbaren Einheit für unser Jahrhundert das erstaunlichste Beispiel einer Überwindung der „Selbstentzweiung des Lebens“ (Kultur u. Ethik II, S. 243). Schweitzer hat wesentliche Gesichtspunkte und Anstöße nicht nur für die theologische Wissenschaft, sondern zur geistig-sittlichen Bewältigung der Geschehnisse im 20. Jahrhundert insgesamt gegeben. Das von Schweitzer stets geforderte kritische Denken aber gilt auch gegenüber seiner eigenen Position und wird manche seiner Anschauungen in Zukunft noch stärker als bisher in anderem Lichte erscheinen lassen. (Wesentliche Teile seines umfangreichen Nachlasses harren der Veröffentlichung, die Ulrich Neuenschwander, Professor in Bern, in entsagungsvoller Arbeit vorbereitet.) Doch daß Forschen heißt, Anstoß zu geben zu selbständigem Denken (vgl.Vorwort zu 1. Aufl. der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung), daß jedes Denken ins Leben zu übersetzende Konsequenzen für unser Dasein in der Welt hat, ja daß diese Einheit von Denken und Tat an das Evangelium gebunden bleibt, werden Theologie und Kirche als weiterwirkendes Vermächtnis Albert Schweitzers auch heute zu bedenken haben.

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Literaturhinweise

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Literaturhinweise Neben den im Text genannten Originalausgaben ist zu vergleichen: Schweitzer, A., Gesammelte Werke in fünf Bänden, München 1973. Ziegler, Th., Glauben und Wissen, in: Das Stiftungsfest der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg am 1. Mai 1899, Straßburg 1899, 15 – 41. Ziegler Th., Sittliches Sein und Sittliches Werden. Grundlinien eines Systems der Ethik, Straßburg ²1890. Ziegler, Th., Geschichte der christlichen Ethik I. II., Bonn/Straßburg 1881, 1886. Buchenau, A., Theobald Ziegler († 1. Sept. 1918), Kant-Studien 23, 1918/19, 503 – 506. Bultmann, R., Zur Geschichte der Paulus-Forschung, Theologische Rundschau, N.F. 1, 1929, 26 – 59. Bultmann, R., Bespr. von A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus (1930), Deutsche Literaturzeitung, Dritte Folge, 2. Jahrg., 1931, 1153 – 1158. Héring, J., De H. J. Holtzmann à Albert Schweitzer, in: Ehrfurcht vor dem Leben: Albert Schweitzer. Eine Freundesgabe zu seinem 80. Geburtstag, Bern 1954, 21 – 29. Picht, W., Albert Schweitzer. Wesen und Bedeutung, Hamburg 1960. Bähr, H. W. (Hg.), Albert Schweitzer. Sein Denken und sein Weg, Tübingen 1962. Lönnebo, M., Albert Schweitzers etisk-religiösa ideal. Zusammenfassung: Das ethisch-religiöse Ideal Albert Schweitzers, Stockholm 1964. Pribnow, H., Jesus im Denken Albert Schweitzers, Schriftenreihe Freies Christentum, Beihefte zur Monatsschrift „Freies Christentum“, Heft 50/51, 1964. Kümmel, W. G., Die „konsequente Eschatologie“ Albert Schweitzers im Urteil der Zeitgenossen, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte. Gesammelte Aufsätze 1933 – 1946, Marb. Theol. Stud. 3, 1965, 328 – 339. Kümmel, W. G. – Ratschow, C. H., Albert Schweitzer als Theologe, zwei akademische Reden, Marburg 1966. Roloff, J., Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesus-Erzählungen der Evangelien, Göttingen 1970. Wiefel, W., Albert Schweitzers Eintritt in die neutestamentliche Wissenschaft, Wiss.-Zeitschr. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, XXI, 1972 (Gesell. und sprachwiss. Reihe), 91 – 100. Gräßer, E., Die Naherwartung Jesu, Stuttgarter Bibelstudien 61, Stuttgart 1973. Neuenschwander, U., Albert Schweitzer, in: ders., Denker des Glaubens I, Gütersloher Taschenbücher 81, Gütersloh 1974, 47 – 70.

Albert Schweitzers Straßburger Vorlesungen¹ Vor genau 100 Jahren am 1. März 1902 hielt A. Schweitzer nach erfolgter Habilitation im Fach Neues Testament seine Antrittsvorlesung in Straßburg. Bis zu seiner Ausreise nach Lambarene 1913, um dort als Arzt zu wirken, hielt er regelmäßig als Privatdozent einschlägig fachspezifische Vorlesungen (letztes Vorlesungsmanuskript W.S. 1911/12), deren Manuskripte im reichen Nachlaß Schweitzers über Jahrzehnte nicht aufgefunden werden konnten. Erst 1989 entdeckte im bisher noch ungeöffneten „Nachlaßgepäck der Eltern in der Schweiz“ die Tochter Rhena Schweitzer-Miller mit anderen Skripten auch die handschriftlichen Ausführungen der Vorlesungen ihres Vaters, ein die Schweitzer-Forschung ungemein bereichernder Fund, der vielfach Einblick in das theologische Denken des jungen Dozenten, eingebunden in die liberale Theologie seiner Zeit, gewährt. In minutiösen Nachweisen zeigen die Herausgeber Einzelheiten, besonders – so E. Gräßer (S. 16 ff.) – daß die Angaben in den Straßburger Vorlesungsverzeichnissen jener Jahre zwar im wesentlichen stimmen, daß Schweitzer jedoch teilweise speziellere Überschriften für seine Vorlesungen gewählt hat und daß des Straßburgers Datierungen seiner Vorlesungsmanuskripte auch ein gewichtiger Anzeiger für sein theologisches Nachdenken sind. Ein Teil der Manuskripte ist geradezu druckreif ausformuliert, andere enthalten Stichworte (für freie Rede) und Vorarbeiten. Bis zur Gestaltung seiner DIN-A-5-formatigen Kolleghefte (mit jeweils 72 Blättern), deren Anlage er offenbar auch Studierenden als Hilfe empfahl (vgl. W. Zager, Albert Schweitzers Anleitung zu selbständiger exegetischer Arbeit. Kleine Lesefrüchte aus den Kollegheften Albert Schweitzers, ZNW 85, 1994, 286 – 289), begegnen wir einem äußerst sorgfältig sich vorbereitenden Dozenten als Exegeten, „der seinen Studenten Probleme, Themen und Ergebnisse der neutestamentlichen Wissenschaft vorgetragen hat, nämlich allgemeinverständlich, unprätentiös, in klarer, deutlicher Sprache und zumeist als ‚Querdenker‘ hinsichtlich der herrschenden Lehrmeinungen“ (E. Gräßer, S. 19). Wir begegnen in den Vorlesungsmanuskripten vertieft und detailliert jenem Jesus- und Paulusforscher, der aus den großen Werken Schweitzers bekannt ist, auch wenn er vornehmlich Spätschriften des Neuen Testaments als Privatdozent behandelte (behandeln mußte). – Von besonderem Belang für die Forschung darf angesehen werden, daß sich unter den Manuskripten wohl zumindest ein gewichtiges Teilstück, das von Schweitzer angekündigte, aber nie im Druck er-

 Rezension zu Albert Schweitzer: Straßburger Vorlesungen. Herausgegeben von Erich Gräßer und Johann Zürcher (= Werke aus dem Nachlaß, hg. v. R. Brüllmann, C. Günzler, B. Kaempf, U. Körtner, U. Luz, J. Zürcher), München: C.H. Beck, 1998, 759 S.

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schienene dritte Heft zu seiner Habilitationsschrift „Das Abendmahl im Zusammenhang mit dem Leben [282] Jesu und der Geschichte des Urchristentums“ befindet. Aus diesem ergibt sich, daß Schweitzer seine Sicht des Eschatologischen im Zueinander von Enteschatologisierung und konsequenter Eschatologie dogmengeschichtlich bedacht und in der Vorlesung „Das Abendmahl in der dogmengeschichtlichen Forschung von Baur bis Harnack“ dargelegt hat (S. 469 ff. [sollten auch Abschnitte aus S. 167 ff. zu diesem o. g. Heft gehört haben?]). In ungewöhnlich gründlicher und sorgfältiger Weise haben die Herausgeber den Fund dokumentiert und ihre Erklärungen deutlich gekennzeichnet und so reiches Material zu einer vorzüglichen Edition aufbereitet. – Folgende Vorlesungen sind in den Band aufgenommen: 1) „Die Bedeutung der Logosspekulation …“, Antrittsvorlesung in der theologischen Fakultät zu Straßburg, 1. 3.1902 (S. 27– 41). – 2) „Aus ‚Arbeiten über Taufe (und Abendmahl)‘“, a) „Die Taufe im Neuen Testament“ (Habilitationsschrift 1901, S. 44– 151), b) „Publikum über Taufe und Abendmahl“ (S.S. 1902, S. 152– 242; S. 152 f. enthält Inhaltsverzeichnis, mit 21 §§). Vorangestellt ist das Habilitationsgesuch Schweitzers vom 31.1.1901 mit inhaltlicher Gliederung und der Feststellung: „Diese drei Überschreitungen der Grenze des N.T. (sc. in die Patristik hinein) bedeuten also keine Erweiterung des Themas, sondern sie waren unvermeidlich bei dem Weg, den die Untersuchung einschlug“ (S. 43). – 3) „Kolleg über die katholischen Briefe“ (W.S. 1902/03, S. 243 – 368). – 4) „Geschichte der Eschatologie“ (S.S. 1903, Inhaltsverzeichnis S. 369); „Einleitung zum Kolleg über die Apokalypse (S. 370 – 468). – 5) „Der Übergang der historischen Feier in die Gemeindefeier. 1. Abschnitt: Rekapitulation“ (ohne Datum, S. 460 – 468). – 6) „Abendmahl. 3. Heft. 1. Das Abendmahl in der dogmengeschichtlichen Forschung von Baur bis Harnack. Die Dogmengeschichten und die durchgehenden Monographien“ (geschrieben laut Schweitzers Angabe: 4.-12. 5.1903, S. 469 – 503). – 7) „Einleitung zur Exegese. Orientierung über den Paulinismus und den Galaterbrief (und den 1. Thessalonicherbrief)“ (S.S. 1906, S. 504– 523). – 8) „Schlußvorlesung des Kollegs: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von Reimarius bis zur Gegenwart“ (29.7.1908, S. 524– 531). – 9) „Stück aus der ‚Erforschung des Paulinismus‘“ (1909, S. 532 – 542). – 10) „Mystik des Apostels Paulus. Eine dogmengeschichtliche Studie“ (Vorlesung im S.S. 1911, S. 543 – 692). – 11) „Die Ergebnisse der historisch-kritischen Theologie und der Naturwissenschaft für die Wertung der Religion“ (die vier letzten Vorlesungen, W.S. 1911/12, S. 692– 723). Kann es in einer knappen Anzeige schon aus Platzgründen nicht um eine inhaltliche und kritikwürdige Aufbereitung dieser Vorlesungen gehen, so ist doch – schon angedeutet – hervorzuheben, daß Schweitzers Haupt-Werke zur neutestamentlichen Forschung zeitgleich mit den Vorlesungen veröffentlicht wurden: „Von Reimarius zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“, 1906; 2. Aufl. 1913 unter dem Titel „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“; „Geschichte

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der paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart“, 1911. „Die Mystik des Apostels Paulus“ war im wesentlichen gedanklich in jenen Jahren konzipiert (vgl. Vorl. S. 543 – 692), auch wenn diese Untersuchung in deutlich veränderter theologischer Situation überarbeitet und durch Schweitzers Lebensgeschichte bedingt erst 1930 erschien. – In den Vorlesungen, die inzwischen ein lebhaft diskutiertes Feld der Forschung sind (vgl. E. Gräßer, „Der Paulinismus als apostolisches Urchristentum“. Albert Schweitzers Paulusverständnis in seinen Straßburger Vorlesungen, in: Kirche und Volk Gottes. Festschrift für Jürgen Roloff zum 70. Geburtstag, hg. v. M. Karrer, W. Kraus u. O. Merk, 2000, 1– 18; W. Zager, Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs. Ein Impuls für die heutige Paulus- und Actaforschung, in: Eschatologie und Schöpfung. Festschrift für Erich Gräßer zum siebzigsten Geburtstag, hg. v. M. Evang, H. Merklein u. M. Wolter, BZNW 85, 1997, 427– 448), lernen wir den Fragen und Problemlösungen zwingend aufeinander beziehenden Forscher kennen, der z. B. bzgl. der Taufe festhält: „Das historische und das urchristliche Urteil decken sich eben nicht“ (S. 49), und der bedenkt, „daß die Lösung geschichtlicher Fragen oft überraschend einfach ist, wenn das Problem richtig gestellt ist“ (S. 91). Oder: „Wie ist es gekommen, daß überhaupt, nach dem Verblassen der [283] Eschatologie, noch etwas vom Christentum übrig blieb?“ (S. 166), eine Frage, die Schweitzers eigenem eschatologischen Ansatz inhärent ist. – Mit größter Skepsis hält er mehrfach fest: „Niemand weiß, was eigentlich Urchristentum ist“ (S. 519, Anm. 68). – „Der Paulinismus ist ein Rätsel“ (S. 571): „Sicher ist, daß seine (sc. Pauli) Lehre sich einsam ausnimmt. Es scheint fast unmöglich, die historischen Verbindungslinien nach vor- und rückwärts auszuziehen. Ein Verhältnis der Kontinuität mit der Lehre Jesu besteht nicht. Der Paulinismus ist eine uns unbegreifliche Neuschöpfung des ‚Urchristentums‘, in welcher Zeitnähe mit dem Auftreten Jesu man ihn auch ansetzen mag“ (S. 551), um dann prägnant festzuhalten: „Mit Tod und Auferstehung Christi ist eine neue Tatsache im Hoffen, Glauben und Erkennen gegeben (S. 575).“ „Der Paulinismus will nichts anderes sein als die Predigt des Verklärten durch den Mund des Heidenapostels“ (ebd.). Damit aber verbindet sich grundlegend – wie an anderer Stelle ausgeführt –, „den Paulinismus als Christentum und als Eschatologie zu begreifen“ (S. 329). Schweitzers Vorlesungen sind aufrüttelnd, teilweise drastisch und immer wieder lebensnah: „In der Tinte, die über das 6. Kapitel Johannis, wo die Ausführungen über das Abendmahl sich finden, verschrieben worden ist, könnte man ein gutes Dutzend Theologen ersäufen, und was darüber geschrieben ist, reichte hin, jeden, der es lesen müßte, verrückt zu machen“ (S. 225). Auffallend sind in den Vorlesungen drei Sachverhalte: a) Schweitzers enge Verknüpfung von neutestamentlicher Exegese und Patristik, die als zukunftsweisend bezeichnet werden kann (vgl. z. B. S. 56 f. 60 ff. 72 ff. 124 ff. 138 ff. 216 ff.

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235 ff. 238 f. 291 ff. 254 ff. 333 – 366). – b) Die ungewöhnlich orientierende Aufnahme der Forschung seiner Zeit bietet noch gegenwärtig zentrale forschungsgeschichtliche Perspektiven (z. B. 160 ff. 168 ff. 183. 283 ff. 307 ff. 325 ff. 469 – 503. 533 ff.). Ebenfalls hierher gehört die Infragestellung einer Entwicklung im paulinischen Denken (z. B. S. 532 ff. 549). Grundsätzlich bedenkenswert heißt es im Kolleg über die „katholischen Briefe“: „Da mein Verfahren, im Kolleg jedem erwähnten Namen, sofern er für die Geschichte der Theologie Bedeutung hat, biographische Notizen beizufügen, Zustimmung gefunden hat, werde ich dasselbe auch in diesem Kolleg zur Anwendung bringen“ (S. 243). – c) Durchgängig und zu Teilen schroff ist bei methodisch klarer Unterscheidung von Analogie und Genese Schweitzers Ablehnung religionsgeschichtlicher Forschung, weit über die z. Zt. seiner Vorlesungen bedeutsame „Religionsgeschichtliche Schule“ hinaus (z. B. S. 76 ff. 174. 558 u. ö.), auch wenn er fast unbefangen von Paulus als „Gnostiker“ und spätjüdischem Theologen reden kann (S. 567 ff.) und geradezu selbstredend der „Hellenismus“ als Problem des frühen Christentums die Vorlesungen durchzieht. Es ist nicht schwer, aus heutiger Sicht und gewandelter Forschungssituation den Inhalt von Schweitzers akademischer Lehre zu kritisieren.Viel wichtiger ist es, den die Forschung seiner Zeit erstaunlich reflektierenden, eigenständig überragenden Denker in seinen Vorlesungen wahrzunehmen und darin Forschungsgeschichte über ein Jahrhundert hinweg gegenwartsnah zu erheben, aber sie auch im theologie- und geisteswissenschaftlichen Kontext des jungen Straßburger Gelehrten zu orten und über Bekanntes hinaus noch weiter der Bedeutung etwa von Friedrich Spitta, Heinrich Julius Holtzmann, Wilhelm Baldensperger, Ernest Renan, David Friedrich Strauß, Eduard Reuß, Karl Heinrich Graf u. a. auf ihn nachzugehen (vgl. für den Hintergrund u. a. „Ernst Reuss’ Briefwechsel mit seinem Schüler und Freunde Karl Heinrich Graf …“, hg. v. K. Budde u. H. J. Holtzmann, 1904). Schließlich ist das Erbe von F. C. Baur für Schweitzers Denken weiter zu diskutieren (vgl. K. Scholder, Albert Schweitzer und sein Weg, 1962, 184 ff.; E. Gräßer, FS Roloff, 5 ff.), ebenso die im 19. Jahrhundert in Straßburg erörterten Grundfragen neutestamentlicher Eschatologie (vgl. z. B. die bei W. G. Kümmel, Ein Jahrhundert der Erforschung der Eschatologie im Neuen Testament, ThLZ 107, 1982, 81 ff. Genannten). Die wissenschaftliche Erforschung auch des Neutestamentlers A. Schweitzer ist in den letzten Jahrzehnten bedeutend gefördert worden (vgl. E. Gräßer, Albert Schweitzer als Theologe, BHTh 60, 1979; ders., Studien zu Albert Schweitzer. Ges. Aufs., hg. v. A. Mühling, [284] Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung, Bd. 6, 1997; W. G. Kümmel, Albert Schweitzer als Paulusforscher, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte. Ges. Aufs. 1965 – 1977, hg. v. E. Gräßer u. O. Merk, MThSt 16, 1978, 215 – 231; ders., „Zur Einführung“, in: A. Schweitzer, Die Mystik des

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Apostels Paulus, UTB 1091, S. I*-XVI*; hinzu kommen zahlreiche Beiträge verschiedener Autoren, bes. aus dem Kreis der wiss. A. Schweitzer-Gesellschaft). Nicht zuletzt die Herausgabe der „Werke aus dem Nachlaß“, zu denen der hier angezeigte Band gehört, läßt jenen Forscher neu ins Licht treten, der seine letzte Vorlesung als akademischer Lehrer im Hinblick auf den existentiellen Vollzug seines Denkens durch seinen weiteren Lebensweg am 29. Februar 1912 mit den Worten schloß: „Nicht Worte siegen, sondern die Tat!“ (S. 723). – Sehr gute Register, von Beate Alenfelder und Olaf Waßmuth erstellt, bereichern den bedeutenden Band (S. 725 – 759), dem viele nachdenkende Leser zu wünschen sind.

Neutestamentliche Wissenschaft in Briefen von und an Albert Schweitzer* In einem Brief an den Philosophen Herbert Spiegelberg vom 4. April 1965 betont A. Schweitzer, wie sinnvoll es sei, unter einer bestimmten Fragestellung Äußerungen eines Autors zu sammeln.¹ Das berechtigt, die wichtigsten Belege in Schweitzers Briefwechsel zur neutestamentlichen Wissenschaft zusammenzustellen.

I Schweitzer hat lebenslang eine ungewöhnlich große Korrespondenz zu bewältigen gehabt, die auf verschiedensten, dem Briefschreiber eigenen Fachgebieten international geführt wurde und insgesamt nur zum geringsten Teil brieflichen Austausch mit neutestamentlichen Fachkollegen zeigt. Verbot es Schweitzer aus eigenen traurigen Erlebnissen in seiner Kindheit seinen Nichten, Neffen und Patenkindern, zwischen Weihnachten und Neujahr Dankbriefe für erhaltene Geschenke zu schreiben, so hielt er in seinen Erinnerungen Jahre später fest: „Unterdessen bin ich durch die Lebensumstände dahin geführt worden, eine außerordentlich umfangreiche Korrespondenz unterhalten zu müssen.“² Der alte Schweitzer bekennt seinem Freunde, dem Philosophen Eduard Spranger, am 8. März 1963: „Und jede meiner Europareisen hat dazu geführt, dass meine übergrosse Korrespondenz zu einem Chaos wurde, was zur Folge hatte, dass Hunderte von Briefen unbeantwortet blieben. Ich bin sehr traurig, wenn Briefe an mich unbeantwortet bleiben. Ich schäme mich.“³ Die Umstände seines Briefschreibens – besonders in Afrika, in Lambarene – waren außer einem von seiner Mutter her ererbten Schreibkrampf in verschiedener Intensität nicht einfach. Oft in tiefer Nacht, ebenso oft aber auch im Konsultationsraum mit allem Betrieb und Lärm um sich, der ihn aber nicht am konzen-

* Der Titel ist an die bekannte Briefsammlung/Korrespondenz von Hans Lietzmann angelehnt.  So A. Schweitzer, Theologischer und philosophischer Briefwechsel 1900 – 1965, hg. v. W. Zager in Verbindung mit E. Gräßer. Unter Mitarbeit v. M. Aellig, C. Frey, R. Wolf u. D. Zager, Werke aus dem Nachlaß, Bd. 9, München 2006. Nach dieser Ausgabe wird, wenn nicht anders angegeben, zitiert (wobei Orthographie und Interpunktion aus diesem Band übernommen werden); dort S. 698 f. der angeführte Brief Schweitzers an H. Spiegelberg vom 4. April 1965.  So A. Schweitzer, Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, München 1924, 15 f.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 720 – 723, 721 f.

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trierten Schreiben störte, verfasste er seine Briefe. Er ließ davon auch bei nachlassender [192] Augenkraft und unter Zuhilfenahme der Lupe⁴ nicht ab. Bisweilen schildert er es anschaulich, wie dem Philosophen Oskar Kraus am 12. November 1937: „Die Antilope, die neben dem Schreibtisch steht und drauf lauert, einen Brief zu fressen, lässt dich grüssen.“⁵ Auch auf Flussfahrten und Reisen schrieb er so manchen Brief, was seinen einstigen akademischen Lehrer im Alten Testament, Karl Budde, zu der Frage veranlasste: „Ob Sie wohl je Ihre Briefe anders als auf dem Ogowe schreiben …?“⁶ Unter oft großer Müdigkeit arbeitete Schweitzer an seiner Korrespondenz, er verfasste seine Briefe durchgehend handschriftlich.⁷ Aus der Einsamkeit in Lambarene waren die Briefempfänger seine Gesprächspartner. Den wohl ersten maßgebenden Anstoß, Briefe Schweitzers zur wissenschaftlichen Auswertung sammeln und veröffentlichen zu wollen, gab Dr. Hans Walter Bähr in einem Brief an Schweitzer: „Für die Forschung sind diese Dokumente aus Deiner Hand unschätzbar für die wissenschaftliche Arbeit und werden es bleiben.“ Nach Hinweisen auf die sich ergebenden Schwierigkeiten fährt er fort: „Ich bin mir ganz klar, dass die Aufgabe sehr umfangreich ist und auch nur ein Teil der Briefe heute noch ermittelt werden kann. Aber dieser Teil lohnt um Deines Werkes und Lebens willen alle Mühe.“⁸ Natürlich bedurfte eine solche Sammlung der Genehmigung Schweitzers. Aber dieser ist zögerlich und ablehnend: „… ich bin der Meinung, dass man nicht daran denken soll, Briefe von mir zu veröffentlichen. Sie sind zu persönlich.“ Alle bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs in Lambarene angesammelten Briefe vernichtete er, „weil in so manchen von Politik die Rede war“.⁹ Öfter verweist er auf den vertraulichen Inhalt seiner Schreiben¹⁰ und in einem Brief an den mehrfachen Nobelpreisträger Prof. Linus Pauling äußerte er: „… bitte ich Sie, wie alle meine Freunde, meine Briefe immer als etwas ganz Vertrauliches anzusehen, und nie etwas daraus zu veröffentlichen. Ich lasse

 Das wird in zahlreichen Briefen erwähnt; vgl. A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 807.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 453 f., 454.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 154.  Vgl. z. B. A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 226 f., in einem Schreiben an Helene Dukas, Sekretärin und Haushälterin von A. Einstein vom 18. Mai 1957: „Wenn Sie mir Copien meiner Briefe an ihn (sc. Einstein) zukommen lassen können, bin ich froh. Ich besitze keine Abschrift von ihnen, da ich ja alles mit der Hand schreibe“ (227).  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 42– 45.  So in einem Brief an H. W. Bähr vom 24. November 1962, in: A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 46 – 48, hier 47 f.  So z. B. an Pfarrer Rudolf Grabs in einem Brief vom 11. Februar 1959, in: A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 256 – 258, 258: „Diesen Brief als ganz vertraulich behandeln! Nichts daraus veröffentlichen.“

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mich in meinen Briefen völlig gehen, da kommen dann Sachen drin vor, die gar nicht für die Öffentlichkeit passen.“¹¹ Schweitzers Zurückhaltung, eigene Briefe veröffentlicht zu sehen, verbindet sich ihm auch mit der seinem Denken und Handeln entsprechenden, völligen [193] Hintanstellung seiner Person und der berechtigten Sorge, dass seine Freunde aus ihm „einen eitlen Kerl zu machen“ „auf dem besten Weg“ waren.¹² Gleichwohl war es richtig, in den letzten Jahrzehnten Briefe Schweitzers neben seinen veröffentlichten Werken zur weiterführenden Interpretation derselben und zur allgemeinen Schweitzerforschung freizugeben‚ wie es Frau Rhena SchweitzerMiller als Erbin des Nachlasses nach dem Tode ihres Vaters ermöglichte und dies selbst energisch förderte.¹³ Die Brief-Editionen von Hans Walter Bähr¹⁴ und Werner Zager¹⁵ in ihrer je eigenen Ausrichtung führen beispielhaft auch für andere Gelehrtennachlässe vor Augen, in welch hohem Maße Briefe Forschungsmaterialien im Umfeld gelebten Lebens sind und zum vertiefenden Verstehen von Persönlichkeit und Werk des Betreffenden beitragen.

II Das schon Ausgeführte mitbedenkend ist in dem kurzen Überblick zunächst festzuhalten, dass seine theologische Lizentiatenarbeit nur am Rande erwähnt wird. An Martin Rade, den Herausgeber der Zeitschrift „Christliche Welt“, schreibt er am 21. August 1900: „Meine Arbeit über die Geschichte des Abendmahls vom

 A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 509.  In einem etwas anderen Zusammenhang z. B. Schweitzer brieflich an Rudolf Grabs am 6. Juni 1965, in: A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 271 f., 271.  Vgl. R. Schweitzer-Miller / G. Woytt (Hg.), Albert Schweitzer – Helene Bresslau. Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902– 1912, München 1992.  Vgl. H. W. Bähr (Hg.), Albert Schweitzer. Leben, Werk und Denken 1905 – 1965. Mitgeteilt aus seinen Briefen, Heidelberg 1987. Hier wird aus (teilweise gekürzten) Briefzeugnissen Schweitzers bewusst der Lebensweg nachgezeichnet, verbunden mit sorgfältigen, kommentierenden Anmerkungen (353 – 417) und einem „Bericht des Herausgebers“ (437– 451).  W. Zager bietet in der Edition A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), eine wirklich theologische und philosophische Korrespondenz, vorzüglich erläutert und selbstverständlich in einer repräsentativen Auswahl; vgl. dazu ders., Einleitung, ebd., 11– 15, und die Selbstanzeige des Herausgebers im Rahmen einer Besprechung von Nachlass-Editionen des Werkes Schweitzers in: ThR 72, 2007, 246 – 258, 257 f.; F. W. Graf, Liebes Fräulein Bultmann. Neuschöpfung und Müdigkeitskrisen: Albert Schweitzers eindrucksvoller Briefwechsel, SZ, 3./4. März 2007. – Über weitere kleine Briefsammlungen und Korrespondenzen Schweitzers orientieren sowohl H. W. Bähr als auch W. Zager, jeweils a.a.O.

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Tag der historischen Feier bis zu Irenäus wurde von den Herren (sc. Heinrich Julius) Holtzmann und (sc. Paul) Lobstein sehr günstig censiert.“¹⁶ Anders steht es mit seinem nachmalig am bekanntesten gewordenen Werk zur Leben-Jesu-Forschung. Mit einer eigenen brieflichen Empfehlung an den Verlag [194] J. C. B. Mohr in Tübingen aus dem Jahre 1905 (genaues Datum offen) setzt es ein: „Für jetzt hätte ich Ihnen ein aus Vorlesungen erwachsenes Manuscript anzubieten: ‚Von Lessing und Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Erforschung des Lebens Jesu‛. – Was ich gebe, ist 1) eine systematische Entwicklung der Probleme in der Folge der Werke, 2) eine plastische Darstellung des Inhaltes, so daß mein Buch die Lektüre ersetzt.“ Es folgen eine nähere Erklärung dazu und das Ergebnis: „So bin ich in der Lage, vollständig zu sein.“ „Was keine Bedeutung hat, wird eben nur erwähnt“, und schließlich heißt es, „daß es ein Lehrbuch für Pfarrer und Studenten ist, für ein allgemeines Publikum berechnet“.¹⁷ Für dieses 1906 unter dem Titel „Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ erschienene Werk erhoffte er sich eine Besprechung in der im liberalen Bürgertum verbreiteten Zeitschrift „Christliche Welt“ und schrieb darum an den Herausgeber Martin Rade am 12. Mai 1906 mit Hinweisen für einen Rezensenten gebündelt: „Die Frage, die ich uns und mir (seit Jahren!) stelle ist die: Was machen wir, wenn Jesus historisch betrachtet einzig und ausschließlich nur als eine Persönlichkeit der jüdischen Eschatologie zu begreifen ist? Wie bringen wir dann aus ihm das Ewige, das er für uns enthält, heraus? Was antworten wir dem Reimarus, der so furchtbar Recht behalten hat? Dies der Geist, in dem das Buch geschrieben ist, als eine Frage eines modernen Theologen an die, welche mit ihm auf dem Wege sind.“¹⁸ Rade brachte keine Rezension, und Schweitzer bedauerte es, dass sich die Redaktion „dem armen Reimarus zu Wrede verschlossen hat aus Rücksicht auf die Seelenruhe der Leser“.¹⁹ Deutlicher noch kommt es in einem Brief an den Neutestamentler Rudolf Bultmann vom 24. Juli 1912 zum Ausdruck: „Das that mir damals sehr weh.“²⁰

 A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 616 – 618, 617. Es handelt sich um A. Schweitzer, Das Abendmahl im Zusammenhang mit dem Leben Jesu und der Geschichte des Urchristentums, Heft 1: Das Abendmahlsproblem auf Grund der wissenschaftlichen Forschung des 19. Jahrhunderts und der historischen Berichte, Tübingen 1901; Heft 2: Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu, Tübingen 1901.  Zitiert nach H. W. Bähr (s. Anm. 14), 14.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 618 f., 619. Zwischen vorletztem und letztem Satz des Zitates ist im Original ein Absatz.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 621 f. in einem Brief an M. Rade vom 7. Dezember 1907, Zitat 621.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 178 f., 178.

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Nach offenbar schneller Verständigung mit dem Verlag J. C. B. Mohr²¹ über die Bearbeitung erschien 1913 die zweite Auflage unter dem heute bekannten Titel „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“.²² Diese zweite Auflage wurde von R. Bultmann in der „Christlichen Welt“ 1914 besprochen, wobei der Rezensent um die einstige Enttäuschung Schweitzers wissend Erwägungen zu Rades Entscheidung in seine Besprechung einbezieht und ebenso kritisch wie schon bei seiner Rezension der ersten Auflage die Untersuchung charakterisiert: „Mir persönlich ist das Werk auch in der neuen Auflage lieb, obwohl ich seine Schwächen nicht verkenne: Die konsequente Eschatologie, die souveräne Verachtung [195] der synoptischen Kritik und manche Einseitigkeit des Urteils. Temperament und Darstellung, das scharfe Herausarbeiten der entscheidenden Fragen, die unbedingte Wahrhaftigkeit und das Dringen auf prinzipielle Klarheit machen es zu einem ungewöhnlichen Buch.“²³ Auf Einzelheiten, Wirkmächtigkeit und Wirkungsgeschichte dieses Werkes kann hier nicht eingegangen werden.²⁴ In dem von W. Zager edierten Briefwechsel spielt das Werk außer den genannten Belegen kaum eine Rolle. Für Adolf v. Harnack ist es 1929 eine Stütze in der Begründung für eine Ehrenmitgliedschaft Schweitzers in der preußischen Akademie der Wissenschaften.²⁵ Dem entspricht zuvor Schweitzers Brief an A. (v.) Harnack vom 10. Oktober 1913: „Eu[re] Excellenz haben mir mit den so freundlichen Zeilen über die zweite Auflage der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung eine sehr große Freude gemacht. Es war mir eine Wohltat zu sehen, dass die Principien, denen ich gefolgt bin, die Zustimmung Eurer Excellenz gefunden haben.“²⁶ – Und Theodor

 Einschlägige Briefe Schweitzers an den Verlag vom 5. April 1910 und 26. August 1911 bei H. W. Bähr (s. Anm. 14), 26 – 28.  Seitdem Nachdrucke, die sechste Auflage 1950 bietet ein forschungsgeschichtlich relevantes, längeres neues Vorwort des Verfassers vom 19. August 1950.  R. Bultmann, Besprechung der 2. Auflage in: ChW 28, 1914, 643 f., Zitate: 643; vgl. ders., Besprechung der 1. Auflage in: ders.‚ Die neutestamentliche Forschung 1905 – 1907, MPTh 5, 1908/09, 124– 132.154– 164, 157 f. (u. a.: „Mit der größten Vergewaltigung der Quellen sucht Schweitzer seine Konstruktion des Lebens Jesu durchzuführen“ [157]). Beide Rezensionen sind jetzt leicht zugänglich in: R. Bultmann, Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, hg. v. M. Dreher und K. W. Müller, Tübingen 2002, 7– 26, 19; 54– 56, 55. Zu beiden Besprechungen vgl. auch M. Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker in seinen Rezensionen und Forschungsberichten. Kommentierende Auswertung, Beiträge zum Verstehen der Bibel 11, Münster 2005, 41.93 f.  Vgl. aus der reichen Forschungsliteratur E. Gräßer, Albert Schweitzer als Theologe, BHTh 60, Tübingen 1979, 88 – 92.114– 116.126 – 139 u. ö.; W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg/München ²1970, 298 – 309, mit wichtigen problemgeschichtlichen Akzentuierungen und Auszügen aus Schweitzers Werk.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 292– 294.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 274.

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Heuß betont bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an A. Schweitzer 1953, dass dessen Werk über die Geschichte der Leben-JesuForschung „eine sublimierte Geistesgeschichte von 150 Jahren Europa“ darstelle.²⁷ In den Briefen von und an Martin Werner allerdings gewinnt es Gewicht, da dieser Berner Theologe die unbedingte Richtigkeit von Schweitzers These der „konsequenten Eschatologie“ ohne Abstriche vertrat und verteidigte.²⁸ [196] Aber auch M. Werners unentwegter Einsatz, die Richtigkeit des Schweitzerischen Ansatzes hervorzuheben, ändert nichts daran, dass das Werk der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung für Schweitzer als solches abgeschlossen war. Doch gedanklich wirkt es in ihm weiter in der Suche und Begründung ethischer Weltanschauung und persönlicher Entscheidung. Im Briefwechsel mit dem Philosophen O. Kraus kommt es mehrfach zur Sprache. So schreibt Schweitzer an Kraus am 2. Januar 1924: „Mein Schicksal und meine Bestimmung ist, zu denken und zu leben, wie viel Ethik und Religiosität in einer Weltanschauung sein kann, die wagt unabgeschlossen zu sein.“²⁹ Im Brief vom 4. Juli 1925

 Zitiert nach A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 306.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 742– 901 (passim), bes. 878 – 882. Maßgebend für die Sicht von M. Werner ist dessen Brief an Schweitzer vom 18. Juli 1922: „dass Ihr Standpunkt einfach unwiderleglich ist, und dass Sie in der Frage der Entstehung des Christentums die definitiv abschließende Erkenntnis gefunden und ausgesprochen haben“ (745 f., 746); die durchgängig kritische Auseinandersetzung mit M. Werner bot W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, AThANT 6, Zürich ³1956, bes. 11.56.59.81.83.97.100.115.117.131 (bei vielfach gleicher Kritik an F. Buri, z. B. 11.81.140 f.); im übrigen s. E. Gräßer (s. Anm. 24), 126.138 u. ö. – Eine geradezu vernichtende Kritik an Methode und Durchführung der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ übt der Züricher Pfarrer und Psychologe Oskar Pfister in einem Brief an M. Werner vom 5. Juli 1924, wobei allerdings der Psychologe Pfister unverkennbar ist. Seine Beurteilung gipfelt in der Feststellung: „Die großen sittlichen Ideale, die Sch[weitzer] in Jesus (636 [sc. Leben-Jesu-Forschung ²1913]) anerkennt, hat er nicht herausgearbeitet, so wenig, als die grandiosen religiösen Ideen, die man auch abgesehen von der entliehenen Eschatologie Jesus nicht absprechen kann … . Dass Jesus seinem Wesen nach nur Moralist & Rationalist war, der in der spätjüdischen Metaphysik lebte (641 [sc. s.o.]), lasse ich nicht gelten.“ „Mir ist Schweitzer ein großer Denker & herrlicher Charakter, auch persönlich ein sehr lieber Freund, der auch mich liebt. Wenn ich ihn sehr frei kritisiere, so weiß ich, dass es ihn freut. Aber ich halte ihn für genau so irrtumsfähig, wie uns alle. … Auch Sch [weitzers] Argumente sind absolut nicht denknotwendig; ihre Beweiskraft stammt zum guten Teil aus unterschwelligen Regionen, die der Objektivität ihr Recht schmälern, so gut, wie bei mir selbst. Auch unser neutestamentliches Wissen ist Stückwerk, wenn die Gelehrten einig sind, so geschieht es aus Ermüdung. Und was die Gewissheit anbetrifft, dass man eine wissenschaftl [iche] Ansicht zeitlebens festhalten werde – Gott bewahre mich vor dieser Prophetie,“ „Herzlich grüssend. Ihr Streitgenosse & Bruder in Schweitzer“ (aus A. Schweitzer, Briefwechsel [s. Anm. 1], 585 – 588, Zitate: 587 f.).  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 430 – 432, 431.

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bekennt Schweitzer: „Das Verhältnis zu Jesus beruht darauf, dass er der erste ist, der in der pessimistischen Anschauung des thatsächlichen Seins ethischer Optimist ist im Bezug auf das Endschicksal der Menschheit. Ich glaube, daß es meine philosophische Weltanschauung ist, die mir erlaubte diese ethische Eschatologie in ihrer Unmittelbarkeit zu verstehen und das Zuckerwasser, das man als Leben Jesu ausgab, auszuschütten.“³⁰ Schließlich charakterisiert Schweitzer in einem umfangreichen Schreiben an O. Kraus vom 2. Mai 1926: „Das Verhältnis zur Persönlichkeit Jesu erfassen Sie, meines Erachtens, so wie es ist. Trotz der Verschiedenheit der äußeren Form der Weltanschauung, fühle ich mich in Jesu Weltanschauung drin stehend durch das, was ich die Schlichtheit, die Endlosigkeit und das Heroische der Ethik nennen möchte.Von der Welt- und Lebensanschauung, wie sie sich in mir gestaltete, habe ich die Eschatologie Jesu verstanden und wurde so befähigt dem historischen Jesus gerecht zu werden. Was mich an ihm so gewaltig anzieht, das [197] ist das so Schlicht-Rationalistische in dieser so phantastischen Weltanschauung.“³¹ Längst nachdem Schweitzer die „Ehrfurcht vor dem Leben“ zur Denk- und Seinsgrundlage geworden war, bestimmt diese – im gewissen Rückblick – auch die Folgerungen, die er einst aus seinem Erstlingswerk zog. Schweitzer bestätigt dies in einem Brief an den Systematiker Ulrich Neuenschwander (in Bern) vom 16. Juni 1953: „Daß Sie die Zusammengehörigkeit der Kulturphilosophie und der LebenJesu-Forschung u. der Mystik des Apostels Paulus dartun, ist etwas, das mich besonders bewegt. Denn schon über der Beschäftigung mit dem Leben und der Predigt Jesu drängte sich mir die Überzeugung auf, dass das Wesen der Ethik ergründet werden müsse … . Darauf kam ich erst in der Konzentration auf das Problem in der Einsamkeit Afrikas während des 1ten Krieges.“³² – Und in einem Brief an M. Werner vom 14. November 1947 fasst er so zusammen: „Wir Freisinnige gestehen uns die durch das Ereignis des Nichteintreffens der eschatologischen Erwartung notwendig gewordene Wandlung ein und suchen im Geiste Jesu und Pauli den innersten, von allem Zeitlichen freien Kern des Evangeliums zu erfassen. Wir bekennen uns zu dem Evangelium, wie es bei Aufgabe der eschatologischen Hoffnung werden muss, um der Welt ein Segen zu werden.“³³ In den letzten Briefvoten sind bereits Gedanken zu Paulus eingewoben. Schweitzers Paulus-Forschung wird wiederum – wie schon bei der „Leben-Jesu-

 A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 432– 435, 433.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 437– 442, 438.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 460 – 462, 461; vgl. auch (ebd., 294– 297) den Bericht Schweitzers, den er dem damaligen Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Prof. Werner Hartke, gegeben hat.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 813 – 816, 815.

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Forschung“ – mit einer sein neues Werk empfehlenden Anfrage aus dem Verlag J. C. B. Mohr eingeleitet. Am 5. April 1910 schreibt Schweitzer an den Verlag: „Soeben arbeite ich an der Durchsicht eines Werkes, das im Manuscript fertiggestellt ist. Es bildet die Fortsetzung der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung und ist in derselben Art geschrieben. Es bietet eine Geschichte und Zusammenfassung der Studien über Paulus, von Semler (XVIII. Jahrh.) bis zu Völter und den Hypothesen der Holländer.“³⁴ Am 26. August 1911 teilt er dem Verleger Siebeck mit, „dass das Manuscript für die ‚Geschichte der paulinischen Forschung‛ vollendet ist und Ihnen vom 1 Sept. an zur Verfügung steht. Es handelt sich um die Fortsetzung des ‚Reimarus zu Wrede‛. Nur habe ich diesmal Geschichte der Forschung und meine Darstellung getrennt. Meine Darstellung erscheint unter dem Titel ‚Die Mystik des Apostels Paulus‛. Auch dieses, das erste fortsetzende Werk ist so gut wie fertiggestellt.“³⁵ Eine solche Trennung war wohl – analog zum Werk „Von Reimarus zu Wrede“ – zunächst nicht vorgesehen, [198] denn ursprünglich sollte das Paulusbuch den Titel tragen „Der Paulinismus als eschatologische Mystik“.³⁶ Noch im selben Jahr 1911 erschien das Werk unter dem endgültigen Titel „Geschichte der paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart“. Das briefliche Gespräch über diese Darstellung setzt aufschlussreich ein aufgrund der rasch erfolgten Rezension Rudolf Bultmanns in der „Christlichen Welt“ (26, 1912, 605), die der Rezensent sofort Schweitzer zuschickte.³⁷ Wirklich über dieses Echo erfreut schreibt Schweitzer am 24. Juli 1912 an Bultmann: „Ich

 H. W. Bähr (s. Anm. 14), 26.  H. W. Bähr (s. Anm. 14), 27.  H. W. Bähr (s. Anm. 14), 359.  Bultmann hatte in seiner Besprechung eingangs auf die Nichtberücksichtigung von Schweitzers Leben-Jesu-Forschung in ChW Bezug genommen, um dann im Vergleich beider Werke festzuhalten: „Wie jenes Buch ist auch dieses außerordentlich fesselnd, reich an treffenden Charakteristiken und glänzenden Bemerkungen. Freilich ist die Darstellung oft stark subjektiv gefärbt und einseitig.“ Bultmann weiß besonders zu schätzen, dass Schweitzer nicht bei einer negativen Betrachtung stehen bleibt, sondern positiv einen Beitrag zu der Frage leisten will: „[W]ie ist es von der Lehre Jesu zum altgriechischen Dogma gekommen?“ Auch Schweitzer geht es – so Bultmann – um die Geschichte des Urchristentums, die seit F. C. Baur virulent ist. „So ist Schweitzer naturgemäß von der Darstellung der Lehre Jesu zu der des Paulus fortgeschritten. Welche Stelle nimmt Paulus in der Entwicklung ein? Nach Schweitzer ist Paulus völlig auf dem Hintergrund der jüdisch-urchristlichen Eschatologie zu verstehen. Konsequente Eschatologie, so heißt auch hier die Lösung des Problems wie bei Jesus. Damit ist zugleich seine dogmengeschichtliche Stellung nach einer Seite gegeben. Doch ist hier nicht der Ort, Schweitzers Ergebnisse, denen ich im wesentlichen nicht zustimmen kann, zu entwickeln“, zumal der Verfasser bereits sein diesbezügliches Folgewerk anzeigt hat (so ChW 26, 1912, 605 = R. Bultmann, Theologie als Kritik [s. Anm. 23], 40 f., und die Auswertung bei M. Dreher, Rudolf Bultmann als Kritiker [s. Anm. 23], 61 f.).

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muss Ihnen ein Wörtlein schreiben, um Ihnen zu sagen, wie mich Ihre Zeilen über meine Geschichte der p[au]l[i]n[ischen] Forschung gefreut haben.“ Das war verständlich nach der schon genannten Enttäuschung. „Ich dachte, dass auch mein neues Opus als zu bös angesehen würde, und nun haben Sie so herzliche Worte dafür gefunden.“ „Ich hoffte, dass die Fortsetzung Sie in vielem befriedigen wird, womit Sie sich nach den Andeutungen des ersten Bandes nicht befreunden können.“ „Die Niederschrift der paulinischen Forschung begann ich am Tage nach meinem medizinischen Staatsexamen. Die Vorarbeiten betrieb ich seit Jahren.“ „B [and] II ist fertig.“ Aber er fügt nun auch – und Bultmann ist einer der ersten außerhalb seines engsten Kreises, der es erfährt – hinzu: „Das ist dann mein Abschied von der wissenschaftlichen Theologie. Den zweiten Teil meines Lebens verbringe ich im Congo, als Arzt für die armen Schwarzen, um alle meine kritischen Sünden zu büssen.“³⁸ Der „Band II“ war 1911 zwar weithin konzipiert und auch niedergeschrieben, aber er war durchaus noch nicht veröffentlichungsreif. Die äußeren Lebensumstände Schweitzers vor der 1913 erfolgten Ausreise nach Lambarene und literarische Aufgaben, vornehmlich die medizinische Doktorarbeit und die Bearbeitung [199] der Leben-Jesu-Forschung (²1913), ließen das Manuskript nicht zum Abschluss kommen.³⁹ Wäre „Die Mystik des Apostels Paulus“ tatsächlich 1912/13 oder 1914 veröffentlicht worden,⁴⁰ wäre das Werk eine damals die theologische Welt aufwühlende Sensation gewesen; als es 1930 erschien, traf es in eine theologisch völlig andere Lage. Enthält die paulinische Forschungsgeschichte bereits in nuce Schweitzers Sicht, die im zweiten Band entfaltet wird, so ergibt ein genauer Vergleich doch beachtenswerte Differenzierungen, die erkennen lassen, dass der vielfältig mit anderen Aufgaben befasste Autor auch in den dazwischen liegenden zwanzig Jahren die weitergegangene Forschung bedenkenswert in Auswahl zur Kenntnis nahm.⁴¹ Aber darauf wie auch auf Schweitzers Paulusforschung im

 A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 178 f.  W. Zager, in: A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 179 Anm. 32.  Schweitzer an Harnack am 10. Oktober 1913: „Meine Abende gehören der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit. Ich denke, dass die definitive Fertigstellung des Manuscriptes über die Mystik Pauli, die durch das Zwischenhineinkommen der zweiten Auflage der Gesch[ichte] d [er] L[eben] J[esu‐] Forschung verzögert wurde, nur noch eine Frage von Monaten ist.“  Gegenüber Pfr. Rudolf Grabs betont Schweitzer am 11. Februar 1959: „Mit Absicht habe ich mich nicht mit denjenigen, die sich zu meiner eschatologischen Deutung der Lehre und des Lebens Jesu und der Lehre Pauli äusserten, auseinandergesetzt. Ich war ja auch durch andere Arbeit so in Anspruch genommen, dass ich es nicht hätte durchführen können. Ich habe, was ich für Wahrheit hielt, einfach hingestellt. Was davon unhaltbar ist, wird dahinwelken, was wahr ist, dem wird auf die Dauer keine Kritik etwas anhaben können“ (A. Schweitzer, Briefwechsel [s. Anm. 1], 256 – 258, 257).

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Einzelnen kann unter unserer Fragestellung hier nicht weiter eingegangen werden.⁴² In zahlreichen Briefen der 20er Jahre erwähnt Schweitzer die Weiterarbeit an seinem zweiten Paulusband. Drei Beispiele mögen das verdeutlichen. Im Brief Schweitzers an Adolf von Harnack vom 10. Mai 1929 heißt es: „Den ganzen Winter arbeitete ich an der Mystik des Apostels Paulus, mit der ich seit 25 Jahren beschäftigt bin. Ich hoffe sie in diesem Sommer zu Ende zu bringen. Ich versuche die Theorie durchzuführen, daß bei Paulus in keiner Weise hellenisiertes Christentum vorliegt, sondern daß die Gedanken, aus denen die Mystik ‚In Christo‛ entstanden ist, in der spätjüdischen Eschatologie gegeben sind und in der glühenden unmittelbaren eschatologischen Erwartung triebkräftig wurden.“ Am 11. Juli 1929 fügt Schweitzer in gleicher Sache an Harnack hinzu: „Nächte hindurch sitze ich am Paulus. Der Titel: Mystik des Apostels Paulus in ihren Beziehungen [200] zum Urchristentum und zum hellenistischen Christentum. Gerade die Bezugnahme auf das Vorher und Nachher ist Schuld an dem Umfang des Werkes. Aber ich hielt sie für notwendig.“⁴³ Am selben Tag, 11. Juli 1929, schreibt Schweitzer an den Nobelpreisträger Prof. Max Planck: „Ich arbeite zur Zeit mit allen Kräften an der Fertigstellung einer dogmengeschichtlichen Studie über die Mystik des Apostels Paulus, die die Fortsetzung meiner 1911 erschienenen Arbeit über die Geschichte der Paulinischen Forschung sein soll.“⁴⁴ Und Rudolf Bultmann lässt Schweitzer in einem Brief vom 18. Februar 1929 wissen: „Seit meiner Heimkehr bin ich ja ständig mit Paulus beschäftigt. Ich möchte vor meiner Abreise nach Afrika noch die Mystik des Apostels Paulus fertigbringen. Ich besitze ein vollständiges Manuscript derselben von 1911, das ich nun bearbeite – d. h. neu schreibe. Neu Schreiben ist leichter als überarbeiten.“⁴⁵ Als nun tatsächlich „Die Mystik des Apostels Paulus“ (Tübingen 1930) erschienen war, dessen letztes Kapitel Schweitzer auf der Rückreise nach Afrika

 Vgl. dazu: W. G. Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 24), 401; ders., Albert Schweitzer als Paulusforscher, in: ders.‚ Heilsgeschehen und Geschichte. Bd. 2: Gesammelte Aufsätze 1965 – 1977, hg. v. E. Gräßer u. O. Merk, MThSt 16, Marburg 1978, 215 – 231; ders., Zur Einführung, in: A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, UTB 1091, Tübingen 1981, I* – XVI* (dort auch die Besprechung der wichtigsten Rezensionen des Werkes); E. Gräßer (s. Anm. 24), 155 – 205; G. Sellin, Eschatologische Mystik. Die Bedeutung des Paulus für die Theologie Albert Schweitzers, in: W. E. Müller (Hg.), Zwischen Denken und Mystik. Albert Schweitzer in der Theologie heute, BASF Bd. V, Bodenheim 1997, 85 – 107.  Beide zuvor genannten brieflichen Äußerungen in: A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 279.281.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 606 f., 607.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 179 f.

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abschloss, waren Beachtung und Echo sowohl in der Fach- als auch in der gebildeten Welt groß, galten diese doch einer durch sein Wirken weltweit ausgewiesenen und geachteten Persönlichkeit. Dies spiegelt sich auch in der Korrespondenz. Es sind relativ wenige kritische, brieflich geäußerte Besprechungen des Werkes darunter. Eine der wenigen Ausnahmen stellt Bultmanns Brief an Schweitzer vom 28. August 1930 dar.⁴⁶ Bultmann verweist dort auf seine in der „Deutschen Literatur-Zeitung“ erscheinende Besprechung.⁴⁷ Wesentliche Punkte bleiben die religionsgeschichtliche Einordnung des Paulus, wobei der theologische Ort des Paulus im Urchristentum kein Streitpunkt ist, und die Frage, ob der Apostel ohne die gedankliche Welt des Hellenismus bzw. der Hellenisierung sachgemäß erfasst werden kann.⁴⁸ – Nach Erhalt der Besprechung antwortet Schweitzer am 11. Oktober [201] 1931 und stellt dort das vielfach mit Bultmann Übereinstimmende heraus – zum Beispiel: „Ganz Ihrer Meinung bin ich, dass man das, was ich paulinische Mystik nenne, auch als Gnosis bezeichnen kann“, um dann aber eingehend hinsichtlich dieser zu differenzieren und zu zeigen, dass spätjüdischer und hellenistischer Ansatz im Denken des Apostels unvereinbar sind und eine solche Verbindung auch nicht nachweisbar ist. „In meinem Buche versuche ich einfach eine Rekonstruktion seines (sc. Pauli) Gedankengebäudes nach den Plänen, wie sie mehr oder weniger deutlich in seinen Briefen erhalten sind.“ In einem Punkte irre Bultmann: Schweitzer sei nicht von Wredes Paulusbüchlein (1904) abhängig, sondern seine eigene Sicht habe längst zuvor festgestanden.⁴⁹ – „Aber, sehen wir von der religionsgeschichtlichen Streitfrage ab, so ist die Kon-

 Vgl. A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 180 – 182.  Vgl. DLZ 52, 1931, 1153 – 1156 (= ders., Theologie als Kritik [s. Amn. 23], 263 – 266).  Bultmann legte dem Brief seinen Artikel „Paulus“ in RGG² und seine Besprechung von G. Kittel, Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum, Stuttgart 1926, bei. – Am 15. Oktober 1930 bedankt sich Schweitzer für beides: „Ihre Gliederung des Stoffes (sc. im Paulusartikel) ist außerordentlich klar.“ „Dank auch für die Besprechung des Kittelschen Werkes, das ich mit grossem Gewinn seinerzeit las. Damit bin ich ganz einig mit Ihnen: Das Rabbinentum zur Zeit Jesu war ein anderes als das, von dem wir durch spätere Fixierung Kunde haben. Wie wenig im Grunde dieser uns erhaltene Rabbinismus zur Kenntnis der Anfänge des Christentums beibringen kann, zeigt wieder das jüdische Leben Jesu von Klausner“ (sc. J. Klausner, Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre, Berlin 1930). – Angefügt sei Schweitzers Brief an A. von Harnack vom 4. Mai 1929: „In diesen Wochen lese ich Stracks rabbinischen Commentar zu den Evangelien. Das zusammengetragene Material ist in manchem wertvoll. Aber enttäuscht bin ich, dass Strack so wenig auf die großen Probleme des Verhältnisses der Lehre Jesu und des Urchristentums zur spätjüdischen Theologie eingeht. Er trägt ganz mechanisch Parallelen herbei, statt dabei zugleich den Fragen auf den Grund zu gehen.“ – Beide hier angeführten Briefe in: A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 182.278 f.  Vgl. A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 183 f.

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zeption des Buches wirklich eine große.“⁵⁰ Hier konnten sich Bultmann und Schweitzer im Dissens ihres jeweiligen Paulusverständnisses treffen.⁵¹ Adolf von Harnack, der 1929 nach einem Besuch Schweitzers bei ihm unbedingt die Korrekturbögen des Druckes mitlesen wollte, sandte dann Bogen für Bogen nach Lambarene ohne eine Randbemerkung. Auf den letzten Bogen schrieb er: „Alles gut“. Wenige Wochen, nachdem Schweitzer auch diesen Druckbogen erhalten hatte, starb Harnack. Schweitzer war über Harnacks persönliches Interesse zeitlebens sehr bewegt. Gleichwohl konnte Harnack am 10. April 1930 Schweitzer noch den Empfang des „Reindruck[s]“ bestätigen und hinzufügen: „Das Buch ist Ihnen vortrefflich gelungen – es ist die notwendige u. richtige Ergänzung zum Paulus der Rechtfertigungslehre und wird gewiss den Erfolg haben, den ganzen Paulus zu erkennen, der erst an zweiter Stelle im Schema der ‚dikaiosyne‛ (von mir in Umschrift gesetzt, O.M.) gedacht hat, an erster Stelle aber Mystiker war. Der Abschnitt S. 214– 221 (sc. ‚Die Glaubensgerechtigkeit als Fragment einer Erlösungslehre‛) ist besonders wichtig; er ist revolutionär; klar, eindeutig und führt zu einer reinlichen u. geschlossenen Erkenntniß des Paulinismus. Hier müssen die Collegen umlernen; aber auch die Gleichung Paulus = Luther kommt in Unordnung“.⁵² – Kurz darauf, am 13. [202] April 1930, schreibt A. v. Harnack an Schweitzer: „Ich muß meiner ersten Karte noch eine zweite nachsenden“, nachdem er das Schlußkapitel „Das Unvergängliche der Mystik Pauli“ (365 – 385) eingehend gelesen hat. Es vertieft ihm sein Gesamturteil: „Daß Ihre Darlegungen mich nicht befremdet haben, werden Sie verstehen: aber ich muß sofort hinzufügen, daß erst Sie volle Einsicht, Kraft u. Klarheit geschaffen haben durch Ihr Verständniß des Paulinismus. Daß in diesem das ‚Mitsterben‛ u. ‚Mitauferstehen‛ dem Bewußtsein gerechtfertigt zu sein übergeordnet ist, ist eine sehr wertvolle Erkenntniß.“⁵³ – Bei durchaus verschiedenen Positionen liberaler

 So R. Bultmann in seiner Besprechung (s. Anm. 47), 1159 bzw. 263.  Dass Schweitzer durchaus kritische Anfragen an Bultmann hatte, zeigt seine energische Ablehnung des Entmythologisierungsprogramms des Marburgers und seine erhebliche Kritik an einer Kerygma-Theologie (vgl. A. Schweitzer, Briefwechsel [s. Anm. 1], 461 f.882 f.).  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 281 f.; vgl. (ebd., 285) Schweitzers Brief an Bibl.– Direktor Axel von Harnack vom 20. Juli 1965 und (ebd., 294– 297) Schweitzers brieflichen Bericht an den damaligen Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, W. Hartke, vom 23. November 1963.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 282; ebd. verweist Harnack auf einzelne Punkte, bes. bei der „Lehre vom ‚Geiste‘“, die noch „einer genaueren Untersuchung bedürfen“.

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Theologie – ja gegensätzlicher Auffassung vom „Reich Gottes“ – treffen sich in Schweitzers Paulusverständnis zwei bedeutende Liberale.⁵⁴ Am gleichen Tage wie Harnacks soeben zitierte Karte dankt Max Planck am 13. April 1930 für die Übersendung der Mystik des Apostels Paulus: „denn wenn ich auch nicht entfernt über die Vielseitigkeit des fachmännischen Urteils verfüge, das Ihnen selber eigen ist, so verfolge ich doch mit reger Aufmerksamkeit die Entwicklung der Stellung der Wissenschaft zu den grossen Fragen der Religion. Dass Sie den Apostel Paulus rein eschatologisch fassen und in seiner Mystik die Brücke zu der späteren hellenistischen Lehre sehen, scheint mir neu und sehr interessant. Vor allem aber teile ich durchaus Ihre Ueberzeugung, dass die Erforschung der geschichtlichen Wahrheit nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch ethischen Ertrag liefert, allerdings nicht für jeden, sondern nur für den, der in die Tiefe geht.“⁵⁵ Der damals junge Student der Theologie und nachmalige Greifswalder Neutestamentler Günter Haufe schreibt am 7. Januar 1952 an Schweitzer: „Ihre elementaren Gedanken sind wie Leuchttürme auf dem chaotisch bewegten Meer des modernen Denkens. Ihr Werk ist wie ein Lichtstrahl aus dem Unendlichen, der uns trotz der Finsternis und Kälte an die göttliche Liebe glauben lässt.“ „In den vergangenen Weihnachtsferien habe ich Ihre ‚Mystik des Apostels Paulus‛ mit viel Eifer gelesen und excerpiert. Ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß dieses Buch zum Gewaltigsten zählt, was ich je gelesen habe.Warum findet es nicht mehr Anerkennung?! Das Schlußkapitel unterschreibe ich Satz für Satz; es könnte mein Glaubensbekenntnis sein.“⁵⁶ Bei aller notwendigen weiterführenden Kritik⁵⁷ bis hin zu seiner neueren [203] Auswertung in der angelsächsischen Forschung⁵⁸ sollte auch für dieses Werk gelten: „Es darf heute kein Zurück hinter die exegetischen Erkenntnisse Schweitzers mehr geben, sondern nur ein Darüberhinaus.“⁵⁹ Zwei Aspekte gehören bedeutsam in die Korrespondenz hinein:

 Vgl. auch K. Budde an Schweitzer am 8. Juli 1930: „Hand in Hand mit Harnack bilden Sie eine Phalanx gegen die hellenistisch eingestellte Schule“ (A. Schweitzer, Briefwechsel [s. Anm. 1], 165 – 167, 165).  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 607 f.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 299 – 301, 300.  Vgl. Anm. 42, bes. W. G. Kümmel, Zur Einführung, XIII*–XV*.  Ob zu Recht oder Unrecht kann hier nicht erörtert werden; vgl. aber u. a. E. P. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, STUNT 17, Göttingen 1985 (engl. Original 1977).  So W. G. Kümmel, Albert Schweitzer als Jesus- und Paulusforscher, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte, Bd. 2 (s. Anm. 42), 1– 11, 9; und E. Gräßer (s. Anm. 24), 205.

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1) Schweitzer konnte sich als „Krypto-Tübinger“ bezeichnen⁶⁰ und in einem Brief an den Philosophen Eduard Spranger vom 27. Juni 1957 schreiben: Von Tübingen „hat ja die geschichtliche Erforschung des Christentums ihren eigentlichen und entscheidenden Ausgang genommen“.⁶¹ Hier liegt der bestimmende Bezugsund Berührungspunkt Schweitzers mit Ferdinand Christian Baur, auch wenn Einzelpunkte sich für ihn in der Weise vertiefen, dass die wissenschaftliche Abwendung von seinem Lehrer Heinrich Julius Holtzmann ihn lebenslang bewegte und schmerzte. So schreibt er an H. W. Bähr, dass er „sich nicht von der Markushypot[h]ese lossagte, um meinen lieben Lehrer Holtzmann, dem ich so viel verdankte zu betrüben, nachdem ich es (sc. dessen Leben) durch die Bedeutung, die ich der Eschatologie zuerkannte, schon reichlich betrübt hatte“.⁶² Und fast zur Lebensbeichte wird es in einem Brief an M.Werner vom 19. Juli 1955: „Von ihm (sc. F. C. Baur) habe ich persönliche Kunde besessen durch Theobald Ziegler, dessen Vater ein Freund von ihm war. Ziegler hat mir erzählt, wie er von dem Manne beeindruckt war, als er ins Zimmer kam, wo er sich mit seinem Vater befand. Das ist mein und dein Patron. Als ich studierte, war er zu Fall gebracht. Durch Holtzmann war die Markushypothese zum Siege gekommen. Ich aber, als Student schon, kam nicht von ihm los. Ich konnte mich nicht aufraffen, dem Markus den Vorrang vor Matthäus zu geben. Es war ein ganz unbewusster Widerstand, den ich leistete. Und als ich Mth 10 und 11 in ihrer Bedeutung entdeckt hatte, ging mir immer mehr auf, dass ich zu Baur, dem Vergessenen und Hilgenfeld, seinem tüchtigen Schüler halten müsse. Schwer habe ich dann später darunter gelitten, dass ich Holtzmanns Lebenswerk zunichte machte, den ich liebte und dem ich so viel verdanke. Ich weiß durch ihn, was das für ein Schlag für ihn war. Ich bin noch nicht darüber hinweggekommen. Es bleibt für mich das Tragische meines wissenschaftlichen Schaffens. Vom Untreuwerden [204] kann einen niemand freisprechen, auch wenn es schicksalhaft geschah.“⁶³

 So in einem Brief an H. W. Bähr vom 7./9. Januar 1962, in: A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 38 – 41, 41.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 701 f., 702.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 38 – 41, 41. – An Pfr. Rudolf Grabs schreibt Schweitzer am 11. Februar 1959: „Ich gehöre der höchsten Orthodoxie an, weil ich den Glauben an die Geschichtlichkeit des Matthäus wiederhergestellt habe“ (A. Schweitzer, Briefwechsel [s. Anm. 1], 256 – 258, 257).  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 852– 857, 855 f. – Nicht zu unterschätzen ist – aber das bedarf weiterer Nachprüfung – , dass F. C. Baur schon eine Frühform liberaler Theologie vertritt. Für Schweitzer ist er auch „liberaler Theologe“, was ihn darüber hinaus mit Adolf Jülicher verbindet, obwohl dieser die Zweiquellentheorie in der synoptischen Frage vertritt; vgl. Schweitzers Brief an A. Jülicher vom 26. Januar 1937 (in: Briefwechsel [s. Anm. 1], 416 f.) und auch Schweitzers Brief an die Marburger Theologische Fakultät vom 30. Juni 1952 im Dank für

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2) Die Briefe zeigen eine erstaunliche Konstanz in Schweitzers Beurteilung neutestamentlicher Sachverhalte. Doch eine gewisse Wandlung in seiner Sicht zeichnet sich bei der Ausarbeitung des geplanten Buches „Reich Gottes und Christentum“ ab.⁶⁴ Im Schluss des zweiten Teils „Gibt Jesus seinem Tod die Bedeutung eines Sühnetodes?“ äußert Schweitzer: „Auf Grund einer fortgesetzten Beschäftigung mit der spätjüdischen Eschatologie und den Leidensgedanken Jesu glaube ich diese Ansicht nicht mehr vertreten zu können.“ Dagegen protestiert M. Werner in Kenntnis des Manuskripts. Er verteidigt Schweitzers ursprüngliche Sicht vehement in seinem Brief an Schweitzer vom 18. Juni 1957.⁶⁵ Auch in diesen beiden gesondert angeführten Punkten (wie in seinen Briefen überhaupt) zeigt sich: A. Schweitzer blieb zeitlebens Theologe, so vielfältig auch sein in viele Richtungen weisendes Denken war, und sein Beginnen in der neutestamentlichen Forschung verbirgt er nicht.⁶⁶

III In vielen Briefen spiegelt sich Schweitzers ständige Überbeanspruchung in verschiedenen Tätigkeiten zugleich, so wie er es in wenigen – inzwischen zum bekannten Dictum gewordenen – Zeilen an Helene Bresslau, seine spätere Gattin, in tiefer Nacht am 23. Dezember 1906 schreibt: „Es tut so wohl, ruhig bei der Arbeit bleiben zu können und nicht aus seinem Stoff herausgerissen zu werden … .Wenn ich denke, dass ich es mein ganzes Leben so haben könnte und es in [205] meiner Macht läge zu den glücklichen Menschen zu gehören, die immer nur mit einer Sache beschäftigt sind … aber es soll nicht so sein. Und es wird wohl so gut sein. Aber wenn ich in den Himmel komme, verlange ich, dass ich nur zu einer Arbeit herangezogen werde, Sterneputzen, Mondscheuern, Donnerraketenstopfen, der Mutter Gottes Tafelmusik machen oder was es sonst sei, meinetwegen auch die

die Ehrenpromotion: „Sie ist für mich etwas ganz besonderes, weil ich mich zu Marburg von jeher hingezogen fühlte. Diejenigen die dort lehrten bedeuteten mir viel. Wie gerne hätte ich ein oder zwei Semester in Marburg studiert aber aus verschiedenen Gründen ging es nicht“ (zitiert nach dem Faksimile auf der inneren Umschlagseite in: W. G. Kümmel / C. H. Ratschow, Albert Schweitzer als Theologe – zwei akademische Reden, Marburg 1966); im übrigen vgl. K. Scholder, Albert Schweitzer und Ferdinand Christian Baur, in: Albert Schweitzer. Sein Denken und sein Weg, hg. v. H. W. Bähr, Tübingen 1962, 184– 192.  A. Schweitzer, Reich Gottes und Christentum. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Ulrich Neuenschwander, Tübingen 1967.  In: A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 831– 835, 833.  Vgl. unter anderer Fragestellung beispielsweise W. G. Kümmel und C. H. Ratschow (s. Anm. 63), 9 – 27.29 – 40.

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Predigten der Berliner Hofprediger für den lieben Gott stenographieren: aber nur eine Arbeit! Darauf werde ich bestehen, und wenn ich unhöflich werden sollte. In der Hoffnung darauf will ich mir’s hienieden so gefallen lassen.“⁶⁷ Er hat es sich „hienieden so gefallen lassen“ – und dem verdanken wir letztlich auch seine Briefe. Zum Schluss: Im Hinblick auf die von ihm an seinen Vater gerichteten Briefe schreibt Axel von Harnack dem Autor Albert Schweitzer am 9. Januar 1960 und bringt es auf den Punkt: „Wenn diese Briefe z.T. vor Jahrzehnten geschrieben sind, so strahlen sie doch eine starke Leuchtkraft aus“, sie sind „zeitgemäß“⁶⁸ und sicher auch heutigen Nachdenkens aller Beachtung wert.

 In: Albert Schweitzer – Helene Bresslau, Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902– 1912 (s. Anm. 13), 162 f.  A. Schweitzer, Briefwechsel (s. Anm. 1), 284.

Werner Georg Kümmel als Paulusforscher Einige Aspekte Blickt man auf das reiche wissenschaftliche Lebenswerk von Werner Georg Kümmel (* Heidelberg 16. Mai 1905, † Mainz 9. Juli 1995),¹ verbinden sich mit seinem Namen vor allem drei Bereiche: Forschungsgeschichte,² Einleitungswissenschaft³ und Jesusforschung.⁴ Hinzu aber treten gewichtige Untersuchungen sowohl zur Geschichte des Urchristentums als auch zur Paulusforschung. Diesem letztgenannten Bereich sollen hier einige Stichworte und damit ein Einstieg in die Bestandsaufnahme dienen, um festzuhalten, was eigentlich eine Monographie erforderte. Sie wollen daran erinnern,welche maßgebenden Einsichten Kümmel bereits in seiner Erstlingsarbeit zur Geltung gebracht hat, die auch in die neuere Paulusforschung explizit und implizit eingegangen sind, wenn freilich dieser Sachverhalt auf den wenigen Seiten eines Festschriftbeitrags nicht entfaltet werden kann. [246] Mit seiner bahnbrechenden Dissertation „Römer 7 und die Bekehrung des Paulus“ (1929)⁵ war der Autor rasch im wissenschaftlichen Gespräch.⁶ Aus dem Vorwort der Buchausgabe ist näher zu erfahren: „Der Gedanke, die Frage der Exegese von Röm. 7 einmal gründlich von allen Seiten zu erörtern, tauchte mir auf, als ich im Wintersemester 1925/26 am Marburger neutestamentlichen Seminar bei Prof. R.

 Über den Gelehrten vgl. zuletzt: E. Gräßer, Werner Georg Kümmel zum neunzigsten Geburtstag, ZNW 86, 1995, 3 f.; O. Merk, Nestor der Neutestamentler, Marburger Universitätszeitung Nr. 247 vom 1. Juni 1995, 4; O. Böcher, Werner Georg Kümmel zum Gedenken, ThLZ 120, 1995, 945 f.  Vgl. vor allem: W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, 1958. ²1970.  P. Feine J. Behm, Einleitung in das Neue Testament, 12., völlig neu bearbeitete Auflage von W. G. Kümmel, 1963, bis W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, (171973) 211983.  W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, AThANT 6, (1945) 31956; ders., Vierzig Jahre Jesusforschung (1950 – 1990), hg. v. H. Merklein, BBB 91, 21994 (als 2. verb. Aufl. des 1985 unter dem Titel „Dreißig Jahre Jesusforschung (1950 – 1980)“ erschienenen Bd. 60 der Reihe „BBB“).  Erschienen in: UNT 17, 1929. Diese Untersuchung wird im folgenden mit „Diss.“ abgekürzt. Fortlaufende Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Werk, soweit nicht anders vermerkt.  Es handelt sich um eine Heidelberger, von M. Dibelius betreute Doktorarbeit. Das Rigorosum fand am 23. Juli 1928 statt, wie Kümmel in dem dem Teildruck der Dissertation beigefügten „Lebenslauf“ mitteilt: W. G. Kümmel, Das Subjekt des 7. Kapitels des Römerbriefs, Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg, Altenburg/Thür. 1929. – Die Doktorarbeit wurde handschriftlich bei der Fakultät eingereicht.

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Bultmann teilnahm, das die Anthropologie des Paulus behandelte“ (III).⁷ Dieses Werk greift unmittelbar in eine unerledigte, von der liberal-kritischen wie konservativen Theologie exegetisch nicht eingelöste Grundproblematik hinein, die in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts zur Bewältigung anstand: „Sobald … die Berechtigung, psychologische Maßstäbe für jede historische Tatsache anzuwenden, fraglich wird, muß auch dieser ganze Gedankenkreis und seine exegetische Grundlage fraglich werden. Dazu kommt, daß die immer erneute Beschäftigung mit der Gedankenwelt des Paulus die Schilderung von Röm. 7 in Widerspruch sowohl mit den Angaben des Paulus über seine vorchristliche Zeit als auch mit seiner Anschauung vom Christenleben finden und auch Spannungen zwischen Röm. 7 und den sonstigen anthropologischen Vorstellungen des Paulus aufdecken mußte. So stehen sich heute eine zuversichtliche Verwendung des Kapitels in seiner psychologischen Deutung und eine immer wieder erneute Bemühung, das eigentliche Wesen des hier Geschilderten [247] festzustellen, gegenüber, ohne daß man zu einer Einigung gekommen wäre“ (2).⁸ Das Ergebnis des Werkes, heute zumeist mehr allgemein kurz wiedergegeben, läßt kaum erahnen, welch problembeladener Weg zu diesem Ziel führte. Ein Wiederbedenken der Ausführungen möge dies etwas verdeutlichen. Der Aufbau ist methodisch streng durchdacht: I. „Das 7. Kapitel im Zusammenhang des Römerbriefs“ (5– 13) führt zu der notwendigen Annahme, daß Röm 7,7– 24 zwar von Aussagen über den Gerechtfertigten umrahmt ist, selbst aber „nicht auch eine Schilderung des Lebens des Gerechtfertigten sein“ kann, vielmehr „7,7– 24 eine Apologie des Gesetzes geben will“ (11). „Obwohl der Zweck des Exkurses 7,7 ff.

 W. G. Kümmel, Rudolf Bultmann als Paulusforscher, in: B. Jaspert (Hg.), Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, 1984, 174– 193, 176: Bultmanns „wissenschaftliches Werk hat mich in Zustimmung und Ablehnung beeinflußt, seit ich 1925/26 sein Hörer in Marburg war, und nachdem ich 1952 als sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Neutestamentliche Theologie berufen worden war, bot sich die jahrelange Gelegenheit zu gegenseitigem wissenschaftlichen Austausch“ (vgl. auch Anm. 9 ebd.); vgl. weiter B. Jaspert, Sachliche Exegese. Die Protokolle aus Rudolf Bultmanns Neutestamentlichen Seminaren 1921– 1951, MThS 43, 1996, 39.41. – Kümmel erzählte gelegentlich von einer größeren Seminararbeit, die er zum Thema anläßlich dieses Seminars geschrieben habe. – K. Haacker, Zum Werdegang des Apostel Paulus. Biographische Daten und ihre theologische Relevanz, ANRW, Teil II: Principat, Bd. 26.2, 1995, 816 ff.867 Anm. 242 verweist auf Folgendes: „Das Ergebnis von Kümmels Monographie kündigte sich an in Thesen von R. Bultmann, Das Problem der Ethik bei Paulus, ZNW 23 (1924) 123– 140, hier 130 im Anschluß an W. Heitmüller, ZThK 27 [1917] 139f.)…“. Ist auch der Sachverhalt weiter gespannt, so verweist Vf. tatsächlich häufig auf den genannten Beleg in Bultmanns Aufsatz, z. B. Diss. 124, aber auch 118 Anm. 3; 130.  Die nahezu vollständige Verwertung der einschlägigen Literatur aus dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts (3 f.) zeigt ein wichtiges wissenschaftliches Anliegen Kümmels, das er in Strenge gegenüber sich selbst in seinen Veröffentlichungen beibehalten hat und auch bei seinen Schülern in erheblichem Maße voraussetzte.

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eine Verteidigung des Gesetzes ist, so zeigt sich doch im Verlauf der Erörterung, daß die ursprünglich als Argument gedachte Schilderung des Kampfes im Menschen unter dem Gesetz gegen Ende des Kapitels zugleich zu dem in 6,23 verlassenen Thema zurückkehrt, indem der Mensch von 7,14 ff. in einem gewissen Gegensatz zu 8,1 ff. dargestellt wird. Soviel läßt sich doch wohl, auch ohne ein näheres Urteil über das Subjekt von 7,14 ff. abzugeben, sagen“ (12). Damit aber bahnt Kümmel bereits den Weg zur Lösung. Denn ist das „richtig, so ergibt sich …, daß die 1. Person“ nicht einfach als Bekenntnis des Paulus ausgewertet werden kann, „sondern daß, wie Paulus sich in 8,4 ff. mit den Lesern zusammenschließt, so auch in 7,14 ff. von etwas nicht bloß Persönlichem die Rede sein muß“ (ebd.). Im Fazit: „Jede Erklärung des 7. Kapitels des Römerbriefs wird also diese Tatsache nicht übersehen dürfen, will sie das Kapitel als Bestandteil des Briefes verstehen. Sie wird also beachten müssen, daß es sich um einen sachlichen Zusammenhang, nämlich die Verteidigung des Gesetzes, nicht um selbstbiographische Nachrichten handelt, daß ferner die Stellung von [sc. Kap.] 7 zwischen 6 und 8 einen Unterschied des Subjekts (oder seines Zustands) in Kap. 7 und 8 voraussetzt, und daß schließlich die Schilderung nicht nur persönlich sein kann“ (12). Kap. II. „Grundbegriffe der paulinischen Anthropologie“ (14– 35) ist m. W. aus der genannten Seminararbeit erwachsen.⁹ „Da aber die nähere Auslegung von Röm. 7 immer wieder auf die sehr umstrittenen paulinischen Vorstellungen vom Menschen zurückgreifen muß, wird es zweckmäßig sein, der Erklärung dieses Kapitels eine kurze Darstellung der paulinischen [248] Anthropologie vorauszuschicken“ (13), allerdings kann es nur darum gehen, „die Unterlage für ein Verständnis des 7. Kapitels des Römerbriefs im Ganzen der paulinischen Anschauungen zu schaffen“ (35). Kap. III. behandelt „Hauptfragen der Interpretation von Röm. 7, abgesehen von der Subjektsfrage“ (36– 73). Der eingehende exegetische Durchgang umfaßt Röm 7,1– 8,4, untergliedernd in 7,1– 4 mit Einschluß von 7,5– 6, in denen Paulus unmittelbar sachlich Röm 6,14 ff. aufgreift (41 f.), dann 7,7– 13 mit dem gliedernden und in der Sache begründeten Ergebnis: „Der Gedankengang der vorangehenden Verse findet in 7,13 seinen vorläufigen Abschluß“ (56). 7,14– 24 ist zunächst „eine Fortsetzung der Apologie des Gesetzes in 7,7– 13“, jedoch ist hier zu nuancieren. Denn „mit keinem Worte ist bisher versucht worden, das eigentümliche Geschehen, daß das Gesetz gegen seine eigentliche Bestimmung der Sünde bei der Tötung des Menschen helfen mußte, begreiflich zu machen. Bisher war nur diese Tatsache festgestellt worden“ (57). Paulus empfindet wohl die Notwendigkeit einer Erklärung, „und so folgt dann die vielerörterte Schilderung des Zwiespalts im Menschen gegenüber dem Gesetz und seinen Forderungen“, wobei sich im Gedankengang dieser Verse „das Interesse nach

 Vgl. oben Anm. 7.

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dem beschriebenen Zwiespalt hin verschiebt“ (57). – 7,25a ist ein Dankruf (aber „keine Antwort“) auf die Frage in 7,24. – 7,25b verbindet sachlich mit 7,14– 24 (64 ff.). Minutiöse exegetische Nachweisungen ergeben die Notwendigkeit, 8,1– 4 zur Sacherklärung von 7,14– 24 einzubeziehen (68 ff.).¹⁰ Denn aus ihnen „geht … bei aller Schwierigkeit im einzelnen … hervor, daß durch Christi Sendung und Verleihung des Geistes an die Christen diese frei sind von der Sündenknechtschaft und nach dem Geiste wandeln. Und so erhebt sich von neuem die Frage, ob die Schilderung von 7,7– 24 von denselben Christen handeln könne bzw. in welcher Beziehung das dort redende Subjekt zu dem Christen Paulus stehe, der sich in 8,1 ff. doch sicher mit einschließt“ (73). Damit aber wird es zwingend, „der bisher zurückgestellten Frage nach dem Subjekt und damit nach dem eigentlichen Sinn von Kap. 7“ nachzugehen (73). Kap. IV „Das Subjekt des 7. Kapitels des Römerbriefs“ (74– 138), identisch mit dem Teildruck der Dissertation,¹¹ wird – was nicht immer in der nachfolgenden Forschung gesehen wurde – nicht allein aus dem Abschnitt 7,14– 24 erhoben, sondern in breiter exegetischer Absicherung herausgearbeitet. Der „Zwiespalt“ „ist im Menschen …, aus dem er allein nicht herauskommt, [249] wie 7,24 zeigt, aus dem jedoch Christus befreien kann. Die Christen sind befreit und können nach dem Geist wandeln (8,1ff). Es wird also,wie diese Inhaltsangabe zeigt, die Seinsweise des in 7,7– 13 geschilderten Subjekts in 7,14 ff. zum Beweis für die Möglichkeit der geschilderten Sündenwirkung verwandt. Wenn also dieser Beweis einen Sinn haben soll, so muß das Subjekt in 7,14 ff. das gleiche sein wie in 7,7– 13, ohne daß man voraussetzen müßte, es sei auch beidemale derselbe Zustand des Subjekts geschildert“ (90). Kann aber, wie Kümmel im einzelnen nachweist, „7,7– 13 nicht auf Paulus bezogen werden“, so muß dies auch für 7,14 ff. gelten (97). Gerade der Zusammenhang 7,14 ff.; 8,1 ff. „macht es … unmöglich, in 7,14 ff. eine Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes des Paulus und damit der Christen zu sehen“ (98), also nicht im Sinne Augustins und der Reformatoren (Luther für 7,7 ff. nur teilweise [77 Anm. 2]) zu lesen, sondern im Sachanliegen anknüpfend an Tertullian und Origenes (77 ff.) zu verstehen. Aber auch der Inhalt bestätigt dies, der weder konfessionell noch psychologisch zurechtgebogen werden darf (99 ff.103 ff.). „Überhaupt aber sehe ich keine Berechtigung, mit … psychologischen Argumenten einen Text erklären zu wollen“ (103). Im Ergebnis: Das „präsentische Ich“ in Röm 7,14 ff. „kann“ „nicht im gewöhnlichen Sinn zur Beschreibung eigener Zustände verwandt sein, sondern muß irgendwie ‚rhetorische‘ Bedeutung haben“ (104), wofür ihm W. Heitmüller¹² und besonders W. Bousset¹³

 Vgl. auch Diss. 97 Anm. 3: „Es ist m. E. ein schwerer Fehler der monographischen Darstellungen“ (Hinweis auf verschiedene schon damals ältere Beiträge), „daß sie ihre exegetische Erörterung mit 7,25 abbrechen“.  Vgl. zu Anm. 6.  W. Heitmüller, Die Bekehrung des Paulus, ZThK 27, 1917, 136– 153, 140.151 f.

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maßgebende Hinweise geben. Boussets Feststellung „Das ἐγώ in Röm. 7 spiegelt nicht die persönlichste Erfahrung des Paulus wieder, sondern das Erleben des menschlichen Ich überhaupt von der Höhe der gegenwärtigen Glaubenserfahrung des Paulus spekulativ betrachtet,“¹⁴ veranlaßt Kümmel zu der Konsequenz: „Von dieser Erkenntnis aus muß nun ein Verständnis des Abschnitts gesucht werden“ (119).¹⁵ – Die weitere Untersuchung zeigt, daß die „Annahme einer Stilform für Röm. 7,7– 25“ nicht nur möglich ist, sondern auch begründet werden kann. Auszugehen ist wiederum von 7,7– 13: „Der Gedanke … ist …, daß das Gesetz, weil es der Sünde zur Handhabe dienen muß, nur zum Tode führen kann“ (vgl. 7,10b.11). Paulus stellt in dem Zusammenhang von 7,7– 13 fest, „daß der Mensch am Leben ist, wenn kein Gesetz [250] existiert, aber er stirbt, d. h. von Gott getrennt wird, sobald durch das Gesetz die Sünde in ihm Gewalt bekommt. Paulus geht also von einer psychologischen Tatsache aus, aber benutzt sie zur Schilderung des ‚objektiven Seins des Unerlösten‘“ (124).¹⁶ „Darum darf man νεκρά, ἔζων, ἀνέζησεν und ἀπέθανoν nicht in das Bewußtsein des geschilderten Menschen verlegen, sondern muß die Termini als Aussagen über das Sein des Menschen in seiner Beziehung zu Gott, soweit es durch die Sünde bestimmt ist oder nicht,verstehen. Durch diese Schilderung des Menschen in seiner Beziehung zu Gesetz und Sünde erweist Paulus die Unschuld des Gesetzes am Tode des Menschen.Vielmehr hat das Gesetz die Sünde als widergöttliches Wesen ans Licht gestellt“ (124 f.). Daraufhin „folgt in 7,14– 24 die Erklärung für das in 7,7– 13 geschilderte Verhältnis von Sünde und Gesetz“, die im ‚Ich‘ den unerlösten Menschen „in einem ewigen Zwiespalt“ charakterisiert (125). – Ist aber der in Kap. 7„geschilderte Mensch ἐν Χριστῷ 8,1, so ist er befreit und hat die Antwort auf die Frage 7,24 gefunden“ (126). Dieser Gesamtnachweis ermöglicht das Fazit: „Ich glaube also nach dem Dargelegten, daß das Verständnis von Röm. 7,7– 25 als Stilform die Schwierigkeiten beseitigt, die sich jeder anderen Erklärung widersetzen, und daß dies Verständnis durchaus auch von den ersten Lesern geteilt werden konnte“ (126).¹⁷ – Diesem Verständnis fügt sich auch, daß in 7,7– 13 im Aorist und in 7,14– 24 im Präsens argumentiert wird: „Denn in 7,7– 13 wird, ausgehend von einer psychologischen Tatsache, geschildert, wie der Mensch durch die Sünde, die das Gesetz benützt, dem

 W. Bousset, Jesus der Herr, FRLANT N.F. 8, 1916, 50 f.; doch vgl. schon A. Wabnitz, (Révue théologique de Montauban, 1888); ders., La conversion de Saul de Tarse, RThQR 14, 1905, 385– 437, bes. 421; A. Westphal, De epistolae Pauli ad Romanos septimo capite (7– 25). Commentatio criticotheologia. Thèse de Montauban, Tolosae 1888; vgl. die Recherchen Kümmels, Diss., 118 Anm. 2.  W. Bousset, Jesus (Anm. 13), 50 f.; bei Kümmel, Diss., 118f.  Vgl. auch die Kümmel, Diss., 118 Anm. 3 Genannten, bes. R. Bultmann, Ethik (Anm. 7), 130; A. Jülicher, Der Brief an die Römer, SNT III, ³1917, 279.  Zitat im Zitat: R. Bultmann, Ethik (Anm. 7), 130.  Mit ausdrücklichem Verweis auf W. Wrede, Paulus, RVI, 5.6, ²1907, 83.

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Tode verfällt. Es ist also ein Geschehen geschildert. In 7,14– 24 aber wird das Wesen des Gesetzes und des Menschen benutzt, um das Geschehen von 7,7 ff. zu erklären. Es wird also ein Tatbestand dargestellt, darum das Präsens“ (126). – Weitere Absicherungen zur Stilform in der ersten Person Singular, zur Erklärung des gesamten Kapitels 7 aufgrund dieser verwendeten Stilform und deren Relation zur anders gearteten sonstigen paulinischen Anthropologie, darunter wichtige Hinweise auf Röm 1,18 ff.; 2 für die „Schilderung des Menschen ohne Christus“ und auf den Sachverhalt, daß Paulus in seinem Denken nicht in ein festgefügtes System ‚gepreßt‘ werden kann (137 f.), beschließen Kap. IV. Kap. V. „Die Bekehrung des Paulus“, der ursprünglichen Dissertation zugefügt, bestätigt, daß Röm 7 als „biographischen Text“ und damit für die Erklärung des ‚Damaskusgeschehens‘ entfällt (139 – 160).¹⁸ Diese in ihrem Ergebnis wie in ihrer methodischen exegetisch-theologischen [251] Durchführung wichtige Dissertation ist Kümmels Hauptwerk zur Paulusforschung geblieben, das 1965 in den Vereinigten Staaten nachgedruckt wurde¹⁹ und in „Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament. Zwei Studien“²⁰ einen erneuten Nachdruck zusammen mit W. G. Kümmels Untersuchung „Das Bild des Menschen im Neuen Testament“²¹ in deren ins Deutsche rückübersetzten erweiterten englischen Fassung²² erhielt. An seiner erarbeiteten Auslegung konnte Kümmel – von kleineren Korrekturen, Modifizierungen und Präzisierungen abgesehen – festhalten und auch auf vielfache Zustimmung verweisen.²³ Aber er erfuhr besonders darin auch Widerspruch, daß sich durch seine Sicht Röm 7,14 ff. nicht mit der sonstigen paulinischen Anthropologie in Übereinstimmung bringen lasse.²⁴ Doch hatte er diesen Widerspruch schon in seiner Dissertation gleichsam vorab aufgefangen mit dem Nachweis, daß Röm 7,14 ff. nicht isoliert unter nur anthropologischem Gesichtspunkt gesehen werden darf, so daß er in seiner Untersuchung über das ‚Menschenbild‘ diese Seite seiner Argumentation weiter begründend erneut einbringen konnte.²⁵ –

 Kümmel, Diss., 153 Anm. 1: „Damit fällt aber auch das Recht, die ganze Theologie des Paulus von der aus Röm. 7 abgeleiteten vorchristlichen Erfahrung aus zu entwickeln.“  Dort: Lexington Kentucky. The American Librarian Association, 1965.  in: TB 53, hg. v. G. Sauter, 1974; im folgenden zitiert: Röm 7 u. d. Bild des Menschen; dazu O. Merk, ThLZ 102, 1977, 821– 823.  Ursprünglich: AThNT 13, 1948.  W. G. Kümmel, Man in the New Testament. Translated by John J. Vincent. Revised and enlarged edition, London 1963.  W. G. Kümmel, Röm 7 u. d. Bild des Menschen, 186 Anm. 59; weitere Vertreter der Zustimmung bei O. Merk (Anm. 20), 821. Die Reihe läßt sich bis in die unmittelbare Gegenwart erweitern.  Ebd. 187 ff. und 220 in Ergänzungen zu Anm. 59 ff.  Ebd. (Anm. 24).

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Einige Aspekte

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Eine Zusammenfassung der Problemlage von Röm 7 bietet er in seiner „Theologie des Neuen Testaments“.²⁶ Auffälligerweise ist Kümmel bei der Aufarbeitung der weiteren einschlägigen Forschung nicht näher auf seine Rezensenten eingegangen, die sich weithin verständnisvoll zu seiner allseits begründeten Lösung der Schwierigkeiten von Röm 7 äußerten.²⁷ [252] Auseinandergesetzt dagegen hat er sich mit R. Bultmanns These, die dieser in „Römer 7 und die Anthropologie des Paulus“ im Anschluß an Kümmels Sicht entfaltete, aber in der Sache auch an seinen Aufsatz über „Das Problem der Ethik bei Paulus“ anknüpfte.²⁸ Nachdem Bultmann festgehalten hat: „Die neuste Monographie, die m.W. dies Problem (sc. Römer 7) zum Thema hat, die von W. G. Kümmel, hat die Fragen mit mustergültiger Vorsicht und Sorgfalt und mit richtigem Urteil behandelt,“²⁹ stellt er seinerseits heraus, „daß es sich bei Röm 7,7– 25 um transsubjektive Vorgänge handelt“, denn das Tun des Menschen ziele auf „die eschatologischen Möglichkeiten ζωή und θάνατος“ und erlaube, „Röm 7 in seiner Einheit mit 5,12– 21 zu verstehen.“³⁰ Damit wird – wie Kümmel sachgemäß folgert – „die transsubjektive Tendenz der menschlichen Existenz „überhaupt“ aufgedeckt. Das aber widerspricht seiner Meinung nach dem Wortlaut von Röm 7,14 ff., weil in diesem Abschnitt „die Tatsache besonders betont ist, dass dieser Mensch um seine Sün W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, GNT 3, (1969) 1987, bes. 156– 161.  Wichtig sind die weiterführenden Beiträge bei K. Staab, ThRv 29, 1930, 497 f. mit dem Hinweis auf Didymus von Alexandrien, der als erster die Stilform in Röm 7 erkannt habe; E. Jacob, MGWJ 75, 1931, 334 mit Verweis auf C. G. Montefiore, Judaism and St. Paul, London 1914, 102 f. als weiteren Vorläufer von Kümmels Sicht. Deutlich ablehnend ist H. Strathmann, ThG 24, 1930, 314 f., der hinter Kümmels Deutung den „genius loci“ (gemeint ist ohne Namensnennung R. Bultmann [im Verbund mit M. Dibelius]) vermutet und erklärt: Röm 7 als „Schilderung des Nichtchristen vom christlichen Standpunkt aus“ bringe im Ergebnis kein hilfreiches Verstehen des Apostels. Äußerst kritisch äußert sich K. H. Rengstorf, PBL 73, 1930/31, 312 zur von Kümmel erarbeiteten Stilform: „Leider ist die Behandlung dieser wichtigen Frage viel zu knapp; das beigebrachte hellenistische Material ist von geringem Umfang, und die wenigen rabbinischen Stellen sind leider völlig mißverstanden.“ Die Dissertation bietet „in ihrem gegenwärtigen Zustande … mehr Anregung als eine wirklich begründete Lösung des behandelten Problems“. Mit diesen Feststellungen blieb Rengstorf allein; vgl. weiter die auch internationalen Besprechungen von M.-J. Lagrange, RB 39, 1930, 618 f.; B.S. Easton, AThR 12, 1930, 455– 457; C. A. Scott, JThS 32, 1931, 294 f.; A. E. Garvie, ET 42, 1930/31, 328 f.; A. Oepke, ThLBl 51, 1930, 214 f. – In den Rezensionen zum ‚Menschenbild‘ (1948) bleibt als springender Punkt der Erörterung das Verhältnis von Röm 7,14 ff. im gesamtpaulinischen Zeugnis; vgl. z. B. A. N. Wilder, JBL 29, 1949, 239 f.; K. Stendahl, SvTK 25, 1949, 59 – 63, bes. 61.  R. Bultmann, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, in: Imago Dei. Gustav Krüger zum 70. Geburtstag, 1932, 53 – 62 (= ders., Exegetica, 1967, 198– 209); ders., Ethik (Anm. 7).  R. Bultmann, Römer 7 (Anm. 28), 53 bzw. 198.  R. Bultmann, Römer 7 (Anm. 28), 59.62 bzw. 205.209.

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denverlorenheit und darum um das Tun des Bösen, um seine Nichterfüllung der Gesetzesforderung Gottes weiss“. Das ist der „Zug des Wissens um den eigenen verzweifelten Zustand“.³¹ Kann hier auch nicht diese Diskussion weiterverfolgt werden,³² so ist doch ein m. W. letzter Hinweis Kümmels zu Röm 7 noch aufzunehmen. In seinem Aufsatz „Die Botschaft des Römerbriefs“³³ hebt er in der Besprechung [253] von E. Käsemanns Kommentar „An die Römer“³⁴ zum einschlägigen Textabschnitt fest: „Zum Verständnis von 7,14 ff. betont Käsemann richtig, daß ‚hier die Ebene des Moralischen und psychologisch Erfahrbaren überschritten ist‘ (S. 190) und schließt sich deswegen R. Bultmanns Meinung an, daß wir nach diesem Text mit der Intention, mit unserm Tun das Leben zu beschaffen, faktisch stets den Tod bewirken (S. 192); aber dagegen spricht, wie schon mehrfach gezeigt worden ist, nicht nur der Sprachgebrauch, sondern auch der Zusammenhang mit 7,7 ff.“³⁵ Insgesamt ist festzuhalten: Kümmels Dissertation hat sich bei selbstverständlich auch weiterführenden Modifikationen im einzelnen³⁶ als Basisuntersuchung zum Verständnis von Röm 7 in der neutestamentlichen Wissenschaft durchgesetzt. Sie ist auch heute nach fast 70 Jahren ihres Erscheinens die notwendige Grundlage für alle weitere Erörterung dieses umstrittenen Kapitels,³⁷ auch wenn gegenwärtig, wovor Kümmel als exegetischen Rückfall gewarnt hat, die alte Frage nach psychologischen Elementen in Röm 7 und auch Erwägungen zur Bekehrung des Paulus anhand dieses Kapitels Platz greifen und damit liberale und religionspsychologische Aspekte der Jahrhundertwende (1900) erneut begegnen. Das anregend Neue solcher Fragestellungen wird man – auch selbstkritisch – doch

 W. G. Kümmel, Römer 7 u. d. Bild des Menschen, 191 u. Anm. 69 und Ergänzung 220.  Vgl. jedoch die umfassende Aufarbeitung zu Bultmanns anthropologischem Ansatz bei E. Kivekäs, Rudolf Bultmann, teologinen anthropologia. Die theologische Anthropologie Rudolf Bultmanns. Zusammenfassung, SFThL 79, 1967, z. B. 187.190f.201 u.ö., und die Überblicke z.B. bei K. Kertelge, Exegetische Überlegungen zum Verständnis der paulinischen Anthropologie nach Römer 7, ZNW 62, 1971, 105 ff.; M. Meiser, Paul Althaus als Neutestamentler. Eine Untersuchung der Werke, Briefe, unveröffentlichten Manuskripte und Randbemerkungen, CThM, Reihe A 15, 1993, 203 ff. („Römer 7 in der Diskussion“); zur neueren exegetischen Diskussion vgl. U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie. Jesus-Paulus-Johannes, BTh 18, 1991, 79 ff.; R. Weber, Die Geschichte des Gesetzes und das Ich in Römer 7,7– 8,4, NZSTh 29, 1987, 147– 179.  W. G. Kümmel, Die Botschaft des Römerbriefs, ThLZ 99, 1974, 481– 488.  E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, 1973.  Vgl. Kümmel, Botschaft (Anm. 33), 487.  Vgl. etwa W. G. Kümmel, „Individualgeschichte“ und „Weltgeschichte“ in Gal 2,15– 21, Heilsgeschehen und Geschichte. Bd. 2. Ges. Aufs. 1965 – 1976, hg. v. E. Gräßer u. O. Merk, MThS 16, 1978, 130ff., bes. 135 f. u. Anm. 31 im kritischen Gespräch mit G. Klein und seinem pointierten Verständnis der ‚Heilsgeschichte‘.  Vgl. zuletzt U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie. Ein Forschungsbericht, ANRW, Teil II: Principat, Bd. 26.3, 1996, 2658 – 2714, 2684f.

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Einige Aspekte

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stärker an Kümmels Votum auszurichten haben.³⁸ Denn einen solchen Rückfall sah er durch nicht konsequente Beachtung des unmittelbaren Kontextes von Röm 7 wie auch des Gesamtzusammenhangs paulinischer Theologie veranlaßt,³⁹ aber auch darin, daß nicht genau genug die Argumentation des Apostels in den Blick trete, die ergibt, daß in Röm 7 nicht nur vom Menschen die Rede ist, sondern der Zusammenhang von Sünde, Gesetz und Tod im Hinblick auf den Menschen grundstürzend aufgewiesen wird. – Möglicherweise war Kümmel selbst zu moderat mit seiner Feststellung: „Es scheint mir also durchaus möglich, ja notwendig, die Frage zu stellen, ob in Röm. 7 persönliche Erinnerungen die Darstellung bestimmen und wer Subjekt der Schilderung ist“ (119 Anm. 1), die falsche Folgerungen aus seinen Ausführungen möglich machte und macht. Hier ist in der Sache öfter E. Lohmeyers Votum, [254] auf das Kümmel kritisch verweist, mit Kümmels Sicht verbunden worden: „Deshalb läßt sich die Frage weder stellen noch beantworten, ob in Röm 7 Erinnerungen an persönliche Erlebnisse die Darstellung bestimmen, ob hier der Jude oder der Christ spricht. Das Kapitel gibt vielmehr Gesichtspunkte an, aus dem jedes empirische Ich gültig, d. h. ‚vor Gott‘ beurteilt werden muß.“⁴⁰ Ein erneuter Durchgang durch Kümmels Dissertation läßt über die Erörterung von Römer 7 hinaus im Rückblick zugleich erkennen, daß nahezu alle von ihm in einem langen Gelehrtenleben behandelten Themen paulinischer Theologie bereits hier genannt oder auch diskutiert sind. Dies liegt aber auch wieder nahe, wenn man wie er umfassend Röm 7 in den Gesamtkonnex des Römerbriefs hineinstellt⁴¹ und die exegetisch-theologische Untersuchung in weiten Partien exegesen- und forschungsgeschichtlich absichert. Ohne Einzelheiten zu explizieren, sei auf das bleibende Gespräch mit seinen Lehrern verwiesen. Das nach dem Ableben von Martin Dibelius zu Ende geführte Paulusbüchlein in der Sammlung Göschen⁴² hat Kümmel nach eigenem Bekunden im Sinne seines Lehrers abgeschlossen und dabei auch wichtige Gesichtspunkte aus seiner Dissertation thematisch zu behandeln gehabt.⁴³ Nicht nur diese Ergänzung

 Vgl. im übrigen U. Schnelle, Anthropologie (Anm. 37), 2685 f.; O. Merk, ThR 53, 1988, 81.  Vgl. W. G. Kümmel, Diss., 96 Anm. 3; 97 Anm. 3; 98.111.142 Anm. 4.  So E. Lohmeyer, Grundlagen paulinischer Theologie, BHTh 1, 1929, 43 Anm. 1.  So wie er in seinem späteren Aufsatz „Πάρεσις und ἔνδειξις. Ein Beitrag zum Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre“, in: Heilsgeschehen und Geschichte. Bd. 1. Ges. Aufs. 1933– 1964, hg. v. E. Gräßer, O. Merk, A. Fritz, MThS 3, 1965, 260 – 270, mit der speziellen, auch philologischen Fragestellung zugleich die theologische Deutung des Rechtfertigungsgeschehens im Röm vielfach angeht und darin 7,13 einbezieht (267).  M. Dibelius / W. G. Kümmel, Paulus, SG 1160, (1951) 41970, zugefügt 103 bis Schluß.  Vgl. ebd. (Anm. 42), bes. 108 f., aber auch 101 ff.

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zeigt, wie er selbst eigenständig durch diesen Lehrer und Freund geprägt ist.⁴⁴ – Das Gespräch mit Rudolf Bultmann ist intensiv in Zustimmung und Kritik.⁴⁵ 1934 betont Kümmel als zentral für den theologischen Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg wie schon in seiner Dissertation: „Man fragte … aus sachlicher Beteiligung nach dem inneren Zusammenhang der paulinischen Gedanken“, wobei man unter [255] den „synthetischen Versuchen“ als „bedeutendste(n) … Bultmanns Paulusartikel in der zweiten Auflage der RGG (sc. Bd. IV, 1930, 1019 – 1045) wird bezeichnen dürfen,“⁴⁶ um dann nach weitreichendem Überblick über die paulinische Eschatologie unter Einbezug von Bultmanns und A. Schweitzers Konzeption zugleich in Fortführung seiner eigenen Dissertation zu entfalten: „Alle ernsthafte Anthropologie wird den Menschen immer als geschichtliches, nicht naturhaftes Wesen verstehen, und die Bibel hat den Menschen nie anders gesehen als in Gottes Geschichte hineingestellt.“⁴⁷ Die Entfaltung des göttlichen Heilshandelns ist das Anliegen des Paulus, und darum ist die paulinische „Christuspredigt … Ausdruck des Glaubens an die Wende der Zeiten in Christus“,⁴⁸ wie Kümmel vielfach nachweist und wie es sich im Paulus-Teil seiner „Theologie des Neuen Testaments“ unmittelbar spiegelt.⁴⁹ Denn hier geht es um die Vorordnung des eschatologischen Heilshandelns Gottes im Christusgeschehen, ehe die Anthropologie dargelegt und „das Heil in Christus“ als „Rettung und Erlösung“, „Befreiung von den Geistermächten“, „Befreiung vom Gesetz“, „Rechtfertigung“, „Versöhnung“ entfaltet und anschließend „Gottes Heilsgabe und die Aufgabe des Christen“ bedacht wird. Es ist noch einmal der Nachweis der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Röm 7,7– 25 und 8,1 ff., und „diese Sicht des Menschen entspringt nicht einem irgendwie begründeten Pessimismus oder Dualismus, sondern ist die Folge der Gewißheit, daß die Christen aus dieser Lage durch Gott befreit  Vgl. W. G. Kümmel, Martin Dibelius als Theologe, ThLZ 74, 1949, 129 – 140 (= HuG, Bd. 1 [Anm. 41], 192– 206, bes. 194.201 f., mit dem er sich auch in wichtigen Einsichten zum Verstehen des geschichtlichen Handels Gottes einig weiß); ders., Art. Dibelius, Martin (1883 – 1947), TRE 8, 1981, 726 – 729.  Vgl. W. G. Kümmel, Bultmann (Anm. 7). Bes. hinsichtlich einer Konzeption der ‚Heilsgeschichte‘ gingen die Wege auseinander (ebd., 191 Anm. 58). Die dort angeführte einschlägige Untersuchung Kümmels: „Heilsgeschichte im Neuen Testament?“ (= HuG, Bd. 2 [Anm. 36] 157– 176, bes. 166 ff.), betrifft fast eingehender die Konzeption von G. Klein. – In der ‚Jesus-Paulus-Debatte‘ sieht Kümmel eine weitaus stärkere Kontinuität zwischen Jesus und Paulus, so sehr er das Sachanliegen Bultmanns in dieser Frage anerkennt (vgl. die gleichbetitelten Aufsätze „Jesus und Paulus“, HuG, Bd. 1 [Anm. 41], 81– 106.439– 456.)  W. G. Kümmel, Die Bedeutung der Enderwartung für die Lehre des Paulus, HuG, Bd. 1 (Anm. 41), 36ff (Zitat 37).  Ebd. (Anm. 46), 47.  W. G. Kümmel, Die Eschatologie der Evangelien. Ihre Geschichte und ihr Sinn, HuG, Bd. 1, (Anm. 41), 48ff. (Zitat 59).  W. G. Kümmel, Theologie (Anm. 26), 121– 227.

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sind und daß jeder Mensch aus dieser Lage durch Gott befreit werden kann. Das Bild des Menschen, das Paulus kennzeichnet, ist also nur die Kehrseite seiner Botschaft von der Erlösung des Menschen durch Christus“.⁵⁰ Abschließend ist auf das seinen weiteren Arbeiten inhärente hermeneutische Anliegen der Dissertation zu verweisen, das der streng exegetischen Untersuchung eigen ist⁵¹ und das Kümmel auch in seiner Paulusforschung – hier sicher mit dem Jubilar in Übereinstimmung – durchgehalten und in späten Jahren noch einmal hinsichtlich eines ihn persönlich besonders bewegenden Abschnitts aus dem Römerbrief zusammengefaßt hat:⁵² „Denn uns [256] begegnet dieser Text ja nicht nur, ja nicht einmal primär als historisches Dokument, obwohl er das zunächst unzweifelhaft ist, sondern uns begegnet dieser Text ebenso, ja in betonter Weise, als Teil des Neuen Testaments und damit als ein Text, der uns als Christen anreden und Weisung geben will und soll. Darum kann es nicht allein unsere Aufgabe sein, den geschichtlichen Sinn des Textes zu erfragen, wir müssen auch danach fragen und betont danach fragen, was uns und überhaupt den Menschen von heute dieser Text heute zu sagen hat, in welcher Weise er uns für unsere Probleme bleibend gültige Weisung geben will. Eine Antwort auf diese Frage, oder möglicherweise auch die Erkenntnis der Unmöglichkeit einer solchen Antwort, können wir aber nur gewinnen, wenn wir den geschichtlich verstandenen Text mit unseren Fragen konfrontieren und gegebenenfalls in unsere Sprache oder auch in Beziehung zu unsern anders gearteten Fragen transponieren. Aber ein Doppeltes muß uns dabei immer bewußt bleiben:Wir dürfen den Paulus nicht sagen lassen, was wir hören möchten oder wie wir es hören möchten, wir dürfen eine Antwort auf unsere Fragen nicht erzwingen; und: Die Antwort, die wir geben, darf in der Sache dem von Paulus Gesagten nicht widersprechen, wenn es eine Antwort des Paulus bleiben soll.“

 Ebd. (Anm. 49), 165.  Vgl. z.B. W. G. Kümmel, Diss., 108; O. Merk, (Anm. 20) 822.  W. G. Kümmel, Die Probleme von Römer 9 – 11 in der gegenwärtigen Forschungslage, HuG, Bd. 2 (Anm. 36), 245 ff. (Zitat 260); vgl. auch M. Dibelius, Auslegen und Einlegen, DtPfBl 41, 1937, 629– 631.

Die synoptische Redenquelle im Werk von Werner Georg Kümmel Eine Bestandsaufnahme Anläßlich der 52. Jahrestagung der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) hat der Jubilar am 7. August 1997 in Birmingham einen sehr beachteten Vortrag gehalten, dessen Thematik dem Menschensohn in Lukas 12,8 galt. Der Vortragende zeigte präzise und minutiös an diesem Vers unter Einbezug des zu eruierenden synoptischen Vergleichs an dieser christologischen Aussage Grundfragen gegenwärtiger Forschung an der Quelle Q auf und führte so exemplarisch in sein derzeitiges Arbeitsfeld ein, das er mit J. M. Robinson, C. Heil und anderen als Großprojekt theologischer und geisteswissenschaftlicher Untersuchung bearbeitet.¹ Die Ausführungen, reich belegt durch die Diskussion zur Sachfrage besonders im 20. Jahrhundert, lassen zugleich erkennen, was für den Jubilar vielleicht nicht nur als Fernziel ein Anliegen ist: eine wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der Forschung zur Quelle Q, die unter anderem auch zu manchem freundschaftlichen Gespräch zwischen Bamberg und Erlangen Anlaß war (und ist). Daß eine solche wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung nicht nur die „Spezialisten“ dieses Forschungsgebiets einbeziehen kann, sondern auch diejenigen zu berücksichtigen hat, die mehr oder weniger selbstverständlich und in herkömmlicher Weise in ihren Untersuchungen auf die Quelle Q Bezug nehmen, ist – wie schon der genannte Vortrag von Paul Hoffmann zeigt – ebenso zu bedenken wie der Sachverhalt, daß eine Fülle einzelner Forscher auf ihr Verständnis dieser Redenquelle zu befragen und zu untersuchen ist. In diesem letzteren Sinne sollen die Hinweise, die W. G. Kümmel dazu in seinem Werk gibt, nachgezeichnet werden als gleichsam ein Mosaiksteinchen für das dem Jubilar und seinem Arbeitskreis anstehende wissenschaftsgeschichtliche Werk.

I Die von Kümmel seit den frühen dreißiger Jahren unter verschiedenen Fragestellungen behandelten synoptischen Belege zeigen den Umgang mit der Redenquelle,

 P. Hoffmann, Der Menschensohn in Lukas 12,8 (22 Seiten MS). Der Vortrag wurde den Teilnehmern der Jahrestagung zugänglich gemacht und wird vermutlich in NTS 44 (1998) publiziert. – Nachrtag: NTS 44, 1998, 357– 379.

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Die synoptische Redenquelle im Werk von W. G. Kümmel

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wie er durch die maßgeblichen Werke seiner Lehrer R. Bultmann² und M. Dibelius³ [192] gegeben war, d. h. auf der Basis der Zweiquellentheorie als der auch ihm überzeugendsten Arbeitshypothese für die Bearbeitung der Synoptiker. Eine nähere Erörterung zur Quelle Q findet sich nicht.⁴ Einen ersten ausdrücklichen Bezug auf die Zweiquellentheorie als Grundlage für die Synoptiker-Forschung bietet seine Rezension von K. Grobel, Formgeschichte und synoptische Quellenanalyse (1937), mit begründender Zustimmung zu dessen erheblicher Kritik an anderslautenden „Quellenkonstruktionen“; auch in der divergierenden Beurteilung des Traditionsstoffes durch Bultmann und Dibelius geht er mit dem Autor in der Beachtung der Konsequenzen derselben konform.⁵ Selbstredend ist in Kümmels Monographie „Verheißung und Erfüllung“⁶ häufig die Redenquelle stark einbezogen. Dabei zeigt sich, daß die Zweiquellentheorie im einzelexegetischen Vollzug für die themarelevanten Belege zum Tragen kommt, um die „eschatologische(n) Verkündigung“ Jesu herauszuarbeiten. Im einzelnen geht es ihm darum zu erheben, „daß Jesus gemäß dem Einzelspruch der Q-Überlieferung (sc. Lk 10,8 par Mt 10,7) und der Zusammenfassung in Mk 1,15 das Nahegekommensein der Gottesherrschaft verkündet hat“,⁷ so gewiß der Redenquelle darin Gewicht zukommt, daß in ihr die Gegenwart des Reiches Gottes allein in der Person Jesu ausgesprochen sei (Lk 11,20 par Mt 12,28):⁸ „Damit ist gegeben, daß die Verkündigung von der Nähe der Gottesherrschaft ihren besonderen Sinn im Munde Jesu offensichtlich in dieser ungewöhnlichen Verkündigung von der Gegenwart der zukünftigen eschatologischen Vollendung hat; und es ist ebenso damit gegeben, daß es die Person Jesu ist, deren Wirken diese Gegenwärtigkeit der eschatologischen Vollendung verursacht und damit im Mittelpunkt der eschatologischen Verkündigung Jesu steht.“⁹ – Aber ebenso gilt von Einzelaussagen der Markusgrundlage in den Synoptikern (Mk 3,27 par Mt 12,29; Lk 11,21 f.): „Da es … eine bestimmte jüdische Erwartung ist, daß der Satan in der Endzeit gebunden wird, so bedeutet auch diese Aussage, daß die Gottesherrschaft zu wirken

 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 1921 (21931).  M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen1919 (21933; danach zitiert).  Vgl. z. B. W. G. Kümmel, Die Eschatologie der Evangelien (1936), in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte (I). Gesammelte Aufsätze 1933– 1964, hg. von E. Gräßer, O. Merk, A. Fritz, MThSt 3, Marburg 1965, 48 f; ders., Der Glaube im Neuen Testament. Seine katholische und reformatorische Deutung, in: ebd. 67 ff.  W. G. Kümmel, Rezension von: K. Grobel, Formgeschichte und synoptische Quellenanalyse, FRLANT 53, Göttingen 1937, in: ThLZ 63, 1938, 360 f.  W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, AThANT 6, Basel 1945 (Zürich 31956; nach dieser Aufl. wird im folgenden zitiert).  Verheißung (s. Anm. 6), 17f.  Verheißung (s. Anm. 6), 17.98 ff.  Verheißung (s. Anm. 6), 101 (Hervorhebung im Original).

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Die synoptische Redenquelle im Werk von W. G. Kümmel

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begonnen hat. Und es ist der Sinn der Sendung Jesu, der das Nahen der Gottesherrschaft anzeigt, zugleich diese Zukunft bereits in der Gegenwart Wirklichkeit werden zu lassen.“¹⁰ – Hinweise auf „die messianischen Taten Jesu“ bestätigen dies gerade im Zeugnis der Redenquelle: „Mt 11,2– 6 = Lk 7,18 – 23“; [193] „Mt 13,16 = Lk 10,23 f.“; „Mt 12,41 f. = Lk 11,31 f.“: „Das verheißene eschatologische Geschehen erhält demnach auch hier seinen Sinn von dem in der Gegenwart sich vollziehenden Heilshandeln Jesu her.“¹¹ – Hinsichtlich der Diskussion über ein in Gleichnissen angedeutetes „Wachstum“ des Gottesreiches hält Kümmel zu „Mk 4,30 – 32 par. Mt 13,31 f.; Lk 13,18 f.“ fest: „Das Gleichnis (sc. vom Senfkorn) ist bekanntlich in zwei Formen überliefert, einer erzählenden Form bei Lukas (wohl aus Q) und einer schildernden Form bei Markus, während Matthäus beide Formen verbunden hat.“ „Dafür, daß die Markusfassung ursprünglicher ist, spricht … einerseits die Tatsache, daß nur bei ihr sich die Wahl gerade des Senfkorns als des sprichwörtlich kleinsten Samens (Mt 17,20) erklärt, und daß andererseits die Q-Fassung als Abwandlung der Markusfassung begreiflich ist (es soll eben die Entwicklung der Gottesherrschaft zur Völkerkirche betont werden), während die umgekehrte Abwandlung nicht erklärbar wäre.“¹² – Und zu „Mt 13,33 = Lk 13,20 f.“ (Gleichnis vom Sauerteig) ergibt sich ihm: „Der Vorgang der Durchsäuerung liegt offenbar nicht im Blickpunkt der Schilderung, sondern die Tatsache, daß diese Durchsäuerung trotz des unscheinbaren Ausgangspunktes eine so große Wirkung hat. Dazu kommt, daß das Sauerteigsgleichnis in der Q-Überlieferung mit dem Senfkorngleichnis verbunden ist, und daß gegen die Ursprünglichkeit dieser Verbindung kein ernstlicher Einwand möglich ist.“ Dann aber geht es um „den Gegensatz von kleinem Anfang und großem Ende“ und nicht um eine „allmähliche Durchdringung der Welt mit den Kräften der Gottesherrschaft“.¹³ Natürlich sieht Kümmel auch in diesem Werk seine methodisch durchdachten und exegetisch gewonnenen Nachweisungen im Horizont der Unabgeschlossenheit exegetischer Arbeit überhaupt, wenn er hier besonders aus der Redenquelle erhebt, „daß für Jesus die erwartete Heilsvollendung“ in seiner Verkündigung und „in seinem Wirken bereits zur gegenwärtigen Wirklichkeit geworden ist und von dieser gegenwärtigen Verwirklichung her ihren besonderen Sinn erhält.“ Daraus kann er exegetisch-theologisch folgern: „Die Tatsache, daß für Jesus die Gottesherrschaft eine gegenwärtige Wirklichkeit ist, ist somit ebenso sicher bezeugt

 Verheißung (s. Anm. 6), 102 (Hervorhebung im Original).  Verheißung (s. Anm. 6), 102 ff. (Zitat: ebd. 105). – Im Zusammenhang der Exegese des Einzelwortes Lk 10,18 verweist K. auch auf die „biographisch nicht verwertbare(n) Q-Fassung der Versuchungsgeschichte“ (106).  Verheißung (s. Anm. 6), 122f.  Verheißung (s. Anm. 6), 124; doch vgl. ebd. 124 Anm. 98.

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wie die Verkündigung von dem nahe bevorstehenden Eintritt der Gottesherrschaft“,¹⁴ wobei für das in der Sache Zutreffende und heute weithin Anerkannte¹⁵ unter unserer Fragestellung jetzt nicht zu erörtern ist, ob Kümmel den Niederschlag der Verkündigung des historischen Jesus in der Quelle Q da und dort eindeutiger gegeben sieht als gegenwärtige, nun über Jahrzehnte weitergegangene Forschung heute zu erkennen vermag. [194]

II Zwei an Kümmel in den 50er Jahren herangetragene und von ihm übernommene wissenschaftliche Aufträge haben ihn veranlaßt, forschungsgeschichtlich und auf dem Gebiet der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft Fragen der Redenquelle nachzugehen. A) Zunächst seien die forschungsgeschichtlichen Nachweisungen angeführt. In „Das Neue Testament“¹⁶ wird problemgeschichtlich das Aufkommen der These einer Redenquelle in der Forschung erörtert. Im Zusammenhang der „Grundlegung der Hauptdisziplinen der neutestamentlichen Wissenschaft“¹⁷ kommt er in der Eruierung der äußerst komplizierten Urevangeliumshypothese von Johann Gottfried Eichhorn in dessen Untersuchung „Über die drey ersten Evangelien“ (1794)¹⁸ zu dem Ergebnis, „daß Matthäus und Lukas den nur ihnen gemeinsamen Stoff aufnehmen“¹⁹ „aus andern schriftlichen Quellen, aus denen sie … neben der oben beschriebenen … überarbeiteten und bereicherten Urschrift geschöpft haben.“²⁰ Mit Recht folgert Kümmel, daß Eichhorn das Problem, doch ohne schon zur befriedigenden Lösung zu finden, gesehen hat, nämlich, „daß die Übereinstimmungen, die nur Matthäus und Lukas miteinander aufweisen, auf eine besondere schriftliche Quelle schließen lassen“.²¹ – Auch die von F. D. E. Schleier-

 Verheißung (s. Anm. 6), 116 f. und die Auswertung ebd. 146 f.  Vgl. E. Gräßer, Verheißung und Erfüllung. Werner Georg Kümmels Verständnis der Eschatologie Jesu, in: Glaube und Eschatologie, FS W. G. Kümmel zum 80. Geb., hg. von E. Gräßer / O. Merk, Tübingen 1985, 33 –49.  W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg/München 1958 (21970; im folgenden Hinweise und Zitate nach der 2. Aufl.).  Das Neue Testament (s. Anm. 16), 71 ff.  J. G. Eichhorn, Über die drey ersten Evangelien. Einige Beyträge zu ihrer künftigen kritischen Behandlung, in: Eichhorn’s allgemeine Bibliothek der biblischen Literatur 5, Leipzig 1794, 759 – 996.  Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 16), 92.  So Eichhorn, Evangelien (s. Anm. 18), 967.  Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 16), 92.

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macher vermutete und im Matthäusevangelium als Werk des Apostels Matthäus aufgenommene „Sammlung von Jesusworten“ konnte nicht die Beweislast einer herausgearbeiteten Redenquelle tragen.²² Erst im Zusammenhang „konsequent geschichtliche(r) Betrachtung des Neuen Testaments“ und in der „Auseinandersetzung mit [D. F.] Strauß und [F. C.] Baur“ war „eine grundlegende Lösung der“ synoptischen „Quellenfrage“ möglich.²³ In diesem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext steht die durch den Philosophen Christian Hermann Weiße in seinem Werk „Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet“, Bd. I. II, 1838, dargebotene Lösung, die Kümmel aus der Fülle der Einzelbeobachtungen Weißes so zusammenfaßt: „Das Markusevangelium als das in Anordnung und Sprache primitivste ist das älteste der synoptischen Evangelien; das Matthäusevangelium und das Lukasevangelium aber haben mit dem Markusevangelium eine auf den Apostel Matthäus zurückgehende Sammlung von Jesusworten verbunden. Damit war nicht [195] nur die Markuspriorität von einer neuen Seite her bewiesen, sondern es war auch die Notwendigkeit der Annahme einer zweiten Quelle aufgezeigt, für deren Vorhandensein auch bereits die Doppelüberlieferungen (Dubletten) bei Matthäus und Lukas als wichtiger Beweis genannt werden. Mit diesen Erkenntnissen war die ‚Zweiquellentheorie‘ zum erstenmal umfassend begründet, und Weiße zog aus dieser Erkenntnis nun auch geschichtliche Folgerungen, indem er auf dem Boden einer Kritik an der Überlieferung des Markus und der zweiten Quelle das geschichtliche Bild Jesu zu zeichnen versuchte.“²⁴ Doch erst mit H. J. Holtzmanns die Fragestellung zum Zielpunkt führenden, ebenso breiten wie souveränen Untersuchung „Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und ihr geschichtlicher Charakter“, 1863, hat sich die Zweiquellentheorie maßgebend durchgesetzt, wie Kümmel zustimmend hervorhebt und gleichzeitig festhält: „Daß Holtzmann bei diesen Quellenuntersuchungen eine Grundschrift (‚A‘ genannt) vom Markusevangelium unterschied und nachweisen wollte, daß Markus diese Grundschrift durch Streichung der in ihr enthaltenen Reden verkürzt habe, ist unwesentlich, zumal Holtzmann diese Urmarkushypothese später selber praktisch wieder aufgab.“²⁵ Diese Feststellung sollte sich auch für Kümmels eigene synoptische Forschung als wichtig erweisen,²⁶ aber in der Aufarbeitung der Problemgeschichte neutestamentlicher Wissenschaft ist ihm bedeutsamer noch, daß Holtzmann „auf die

 Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 16), 100 mit Nachweisungen.  Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 16), 145 ff.177 ff.  Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 16), 182 und die Nachweisungen ebd. 543 Anm. 205.207.  Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 16), 185 mit Nachweisungen 543 Anm. 211.  Vgl. auch Dibelius, Formgeschichte (s. Anm. 3), 219 Anm. 1: „Eine Ur-Markushypothese aber, die … gewisse ungeklärte Probleme der synoptischen Vergleichung durch Hinweis auf den Ur-Markus erklären will, ist methodisch von vornherein bedenklich.“

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Aufnahme weiterer schriftlicher Quellen der Synoptiker verzichtete, weil zeitlich vor und neben der Abfassung des Markusevangeliums die mündliche Überlieferung anzunehmen sei, womit die durch Herder erkannte Aufgabe der Gewinnung dieser mündlichen Überlieferung von neuem gestellt war.“²⁷ Daß auch die Redenquelle nur im Gesamtzusammenhang formgeschichtlicher Arbeit und nicht mehr literarkritisch isoliert angegangen werden kann, also im Umfeld methodischer Zugänge exegetischen Vollzugs zu sehen ist, ergibt sich problemgeschichtlich aus den einschlägigen Arbeiten von R. Bultmann und M. Dibelius, die Kümmel in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext abschließend zur Fragestellung in seiner Problemgeschichte des Neuen Testaments würdigt.²⁸ Nicht zur Problemgeschichte neutestamentlicher Wissenschaft gehört die Kennzeichnung der Redenquelle mit dem Sigel „Q“, das nach Kümmel auf J. Weiß, „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“ (1892, S. 8) zurückgeht.²⁹ [196] Weitere forschungsgeschichtliche und mit ihr verbundene methodische Hinweise bestätigen mit gelegentlich ergänzender Begründung das problemgeschichtlich von ihm Erörterte, verschweigen offene Fragen nicht und beziehen auch neuere Untersuchungen ein. In seinem Vortrag „Das Erbe des 19. Jahrhunderts für die neutestamentliche Wissenschaft von heute“ (1960)³⁰ faßt er zusammen: „Die überzeugende Begründung der Priorität des Markusevangeliums und der Wahrscheinlichkeit einer zweiten Quelle … war erst das Werk der Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch wenn die Zweiquellentheorie noch immer umstritten ist, so hat sich doch die Grundauffassung … weitgehend durchgesetzt“. – Hinsichtlich neuerer Einwände knüpft er in seinem Forschungsbericht von 1970 an das an, was er schon 1938 positiv an K. Grobels Untersuchung anerkennend zu dessen kritischer Position besonders gegenüber der im angelsächsischen Bereich stark umstrittenen Zweiquellentheorie (und Formgeschichte) betont hatte, ohne auf seine frühere Rezension und Grobels Monographie direkt zurückzukommen.³¹ Er fährt fort, indem er verschiedene ältere

 W. G. Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 16), 185f. – Die weiteren Aspekte der Quellenlösung durch Holtzmann, insbesondere für die „Leben-Jesu-Forschung“, sind unter unserer Fragestellung jetzt nicht zu bedenken.  Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 16), 418 ff.428 ff.  W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 211983, 37 Anm. 47; vgl. auch die ebd. im Anhang z. St. genannte Literatur.  W. G. Kümmel, Das Erbe des 19. Jahrhunderts für die neutestamentliche Wissenschaft von heute, in: ders., Heilsgeschehen (s. Anm. 4), 364 ff.; in leicht verkürztem Wiederabdruck in: ders., Das Neue Testament im 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, SBS 50, Stuttgart 1970; danach das folgende Zitat ebd. 20.  Vgl. Kümmel, Rezension Grobel (s. Anm. 5); ders., NT im 20. Jahrh. (s. Anm. 30), 33 ff.; Grobels Arbeit ist ebd. 148 im Lit.Verz. aufgeführt.

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und neuere Einwände gegen eine schriftliche Redenquelle erörtert:³² „Nun spricht allerdings mancherlei dafür, daß die Hypothese einer schriftlichen Redenquelle doch recht gut begründet ist, aber die Unsicherheit in dieser Frage beruht weitgehend auf der Tatsache, daß sich die Forschung noch keineswegs ausreichend mit der Frage beschäftigt hat, wie denn die Quellenbenutzung bei der Entstehung der Synoptischen Evangelien überhaupt zu denken sei, und erst im Zusammenhang einer befriedigenden Beantwortung dieser noch kaum untersuchten Frage könnte das Problem der Zweiquellentheorie überzeugender als bisher gelöst und damit auch die Frage nach der Berechtigung der Annahme einer schriftlichen Redenquelle besser begründet werden.“³³ Aus diesen Überlegungen resultiert die wenige Jahre später erfolgende Feststellung anhand einer Untersuchung über Mt 11,2– 6 par. Lk 7,18 – 23: „Daß die gemeinsame Überlieferung von Matthäus und Lukas eine von beiden benutzte schriftliche Quelle (Q) gewesen ist, scheint mir die einleuchtendste Hypothese zu sein …, doch gelten die folgenden Ausführungen ebenso, wenn es sich nur um eine gemeinsame mündliche Tradition [197] gehandelt haben sollte.“³⁴ Doch gilt auch hier der exegetische Weg des Überprüfens³⁵ wie bei der christologischen Fragestellung in der Untersuchung „Jesus der Menschensohn?“³⁶ methodisch das Quellenverhältnis der Synoptiker zur Basis weiterer Überlegungen gemacht werden muß: Wieder verweist Kümmel auf das forschungsgeschichtliche Ergebnis für die Zweiquellentheorie,³⁷ um dann methodisch hinsichtlich des Titels ‚Menschensohn‘ zu erheben: „Darf diese literarkritische Theorie als methodischer Ausgangspunkt beim Vergleich parallel überlieferter Menschensohnworte verwendet werden, so ist zu vermuten, daß in den Fällen, in denen Markus neben einem oder beiden Seitenreferenten vorhanden ist, die Markusfassung als die älteste überlieferte Fassung eines Textes gelten darf, ohne daß daraus eine règle de fer abzuleiten wäre; wo aber nur Matthäus und Lukas gemeinsam ein Jesuswort bezeugen, kann nur durch den Vergleich der beiden Texte die vermutlich älteste Überlieferung rekonstruiert werden. Von diesen Voraussetzungen aus ergibt sich, daß eine größere Anzahl von Stellen bei Matthäus und Lukas

 Kümmel, NT im 20. Jahrh. (s. Anm. 30), 35 Anm. 62 werden genannt: J. Jeremias, Zur Hypothese einer schriftlichen Logienquelle Q (1930), in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 90 – 92; S. Petrie, Q is Only what You Make, in: NT 3, 1959, 28– 33; H.-Th. Wrege, Die Überlieferungsgeschichte der Bergpredigt, WUNT 9, Tübingen 1968.  Kümmel, NT im 20. Jahrh. (s. Anm. 30), 35 (Hervorhebung im Original).  W. G. Kümmel, Jesu Antwort an Johannes den Täufer. Ein Beispiel zum Methodenproblem in der Jesusforschung (1974), in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte II, MThSt 16, Marburg 1978, 177 ff. (Zitat: ebd. 192 Anm. 69).  Kümmel, Jesu Antwort (s. Anm. 34), 192– 200.  W. G. Kümmel, Jesus der Menschensohn?, SbWGF XX,3, Wiesbaden 1984.  Jesus (s. Anm. 36), 152 (= S. 10): „Nun hat sich in den letzten einhundertfünfzig Jahren weithin die Annahme (sc. der Zweiquellentheorie) als im wesentlichen richtig erwiesen …“.

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für die Frage nach der ältesten Überlieferung ausgeschaltet werden kann, weil sie deutlich von Markus abhängig sind; und einige weitere Stellen erweisen sich ebenfalls teils aus dem Parallelenvergleich, teils aus sachlichen Gründen mit großer Sicherheit als nicht zur ältesten Überlieferung gehörig und können im folgenden außer Betracht bleiben. So bleiben, wenn man die bei Matthäus und Lukas gemeinsam bezeugten Texte einfach zählt, 26 Jesusworte übrig, die nach methodischen Gesichtspunkten Anspruch darauf haben, auf ihre Zugehörigkeit zur vorevangelischen Tradition und dann auch auf ihre mögliche Herkunft von Jesus geprüft zu werden.“³⁸ – Es gibt kein ungeprüftes „Zutrauen zur geschichtlichen Zuverlässigkeit des Markusevangeliums und der Redenquelle“, und ein „geschichtliche(s) Hintereinander“ im eruierten Quellenbestand der Synoptiker ist nicht erhebbar, sondern „nur die Einzelberichte und Einzelworte, und das gilt erst recht für die Redenquelle, die die überlieferten Worte und Wortgruppen Jesu offenbar nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet hatte.“³⁹ „Wir haben auf alle Fälle keine Möglichkeit, über eine Aufzeichnung von Jesusworten oder Jesusberichten vor der vielleicht um die Mitte des ersten Jahrhunderts begonnenen Niederschrift der sog. ‚Redenquelle‘ irgendetwas zu wissen. Aber es wäre zweifellos ein Irrtum, aus diesem [198] Sachverhalt zu folgern, daß die ältesten Christen für die Person des irdischen Jesus und für seine Lehre kein Interesse gehabt hätten.“⁴⁰ Im einzelexegetischen Vollzug werden Kümmel forschungsgeschichtliche Nachweisungen virulent. Auch die Redenquelle Q ist ihm unablässig je neuem exegetischen Prüfen und Entscheiden ausgesetzt, sie gewinnt darin ihre theologische Bedeutung für die Jesusforschung und erschöpft sich nicht in strukturellen Vorgaben synoptischer Literarkritik.⁴¹ Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die m. W. letzte

 Jesus (s. Anm. 36), 152 f (= S. 10 f.); Hervorhebungen im Original.  W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen Jesus-PaulusJohannes, GNT 3, Göttingen 1969 (51987; danach zitiert), 21.  Theologie (s. Anm. 39), 102; vgl. auch ders., Art. Urchristentum, in: RGG3, 6, 1962, 1187ff, hier: Abschn. 4 (1191).  Vgl. auch Kümmel, Jesus (s. Anm. 36), 170 ff. (= 28 ff.); dazu weiter ders. / P. Feine / J. Behm, Einleitung in das Neue Testament, 12., völlig neu bearbeitete Aufl. v. W. G. Kümmel, Heidelberg 1963, 36: „Und wenn wir mit stilistischen, sprachlichen oder sachlichen Argumenten für ein Jesuswort in Q einen hinter Mt. und Lk. liegenden ursprünglichen Text erschließen können …, so bleibt unsicher, ob diese Fassung in Q gestanden hat oder dahinter anzunehmen ist. Ist so der genaue Umfang und Wortlaut von Q uns unerreichbar, so lassen sich doch einige Vermutungen über den literarischen Charakter von Q aufstellen“ (mit Verweis auf „Mt. 13,16 f. par. Lk. 10,23 f.“ und Kümmel, Verheißung [s. Anm. 6], 105 Anm. 21).

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forschungsgeschichtliche Äußerung Kümmels zur Redenquelle Q mit Hinweisen auf S. Schulz, P. Hoffmann, A. Polag zu sehen.⁴² B) Abschließend ist auf Kümmels „Einleitung in das Neue Testament“ im Hinblick auf die Redenquelle einzugehen. Hier läßt sich von der 12. Auflage (1963) an bis zur neubearbeiteten 17. Auflage (1973) forschungsbedingt eine deutlich breitere Bezugnahme auf unsere Fragestellung erkennen, so gewiß der Autor, auf die Anlage eines Lehrbuchs bedacht, die Sachfragen und Argumente vielfach rubrizierend bündeln mußte.⁴³ Die Erörterungen im Rahmen der „synoptischen Frage“ (Paragraph 5) bieten Kümmels schon nachgezeichnete Position. Die Existenz von Q steht ihm außer Frage, wofür a) „Übereinstimmungen im Wortlaut“, b) die gleiche, [199] bei Lk wohl ursprünglicher bewahrte Reihenfolge des Stoffes,⁴⁴ c) „Dubletten bzw. Doppelüberlieferungen“ bei Q anzuführen sind.⁴⁵ Der Rekonstruktion der Redenquelle sind Grenzen gesetzt, eine sachliche Anordnung aber ist schon zum Zwecke des kirchlichen Gebrauchs zu vermuten, Anfänge der Gestaltung von Q könnten in der palästinischen Urgemeinde liegen.⁴⁶ Ob Q Lk und Mt „in etwas verschiedener Form vorgelegen“ haben sollte, ist zu erwägen: „Wenn diese Vermutung dahin präzisiert wird, daß es sich bei Q um eine wachsende Traditionsschicht gehandelt habe, so genügt das freilich zur Erklärung der … Tatbestände nicht. Wenn aber gemeint ist, daß die schriftliche Quelle Q sich in verschiedener Richtung entwickelt hat, vielleicht auch gelegentlich die griech.(ische) Form des einen oder anderen Textes durch eine abweichende Fassung aus der mündlichen Überlieferung ersetzt wurde, dann dürfte diese Annahme den Beobachtungen am  W. G. Kümmel, L’exégèse scientifique au XXe siècle: le Nouveau Testament, in: Le monde contemporain et la Bible, sous la direction de C. Savart / J.-N. Aletti, Bible de tous les Temps, Vol. 8, Paris 1985, 473ff, hier: 477 f unter Anführung von S. Schulz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972; P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA 8, Münster 1972; A. Polag, Die Christologie der Logienquelle, WMANT 45, Neukirchen-Vluyn 1977.  Zur 12. Aufl. vgl. Titel bei Anm. 41; zitiert wird im folgenden nach W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, (17., neubearbeitete Aufl., 1973 =) 21., erneut ergänzte Aufl. 1983. Aus Besprechungen sei zur Redenquelle nur angeführt: J. Schmid zur 14. Aufl. 1964 in: ThRv 62, 1966, 303ff, 304: „Ebenso widerlegt er (sc. Kümmel) die These, die Quelle Q sei nur als mündliche Tradition anzunehmen. Auch die übrigen Bemerkungen zu Q verdienen Beachtung“; K. Weiß zur 13. Aufl. 1964 in: DLZ 89, 1968, 297ff, hier 298: „Ob er (sc. Kümmel) sich gegenüber den zahlreichen Quellenhypothesen in der Evangelien-Forschung auf die geradezu schon unmoderne klassische Zweiquellentheorie beschränkt, also auch der alten, heute von so vielen aufgegebenen Redenquelle die Treue hält …: überall zeigt sich ein weder ängstlich konservatives noch ein unkritisch-kritisches, sondern ein den Tatbeständen in wohltuender Nüchternheit Rechnung tragendes Urteil.“  Vgl. die Einleitung (s. Anm. 43), 39 übernommene Tabelle mit weiteren Nachweisungen.  Einleitung (s. Anm. 43), 37– 41.  Einleitung (s. Anm. 43), 41 f.

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gemeinsamen Text des Mt und Lk am besten entsprechen.“⁴⁷ Eine konkrete Verfasserschaft ist für Q nicht zu ermitteln, doch ihre Entstehungszeit begründet zu vermuten. Dazu gehört auch die Einsicht, „daß ein Überlieferungszusammenhang zwischen den bei Mk und Q erhaltenen Texten besteht …, aber nichts zwingt zu der Annahme, daß dieser Zusammenhang, der ja nur einen verschwindend geringen Teil des Stoffs von Mk und Q betrifft, durch eine literarische Beziehung zwischen den beiden Schriften zu erklären sei.“⁴⁸ Entfällt eine literarische Verbindung MkQ, ist damit zwar die Bestimmung der Abfassungszeit von Q erschwert, „doch ist es unwahrscheinlich, daß diese Schrift später als etwa 50 – 70 abgeschlossen worden ist.“⁴⁹ Die Frage nach dem „geschichtlichen Zusammenhang“ von Q veranlaßt Kümmel, eine vielgefächerte Diskussion vorzustellen⁵⁰ mit dem Ergebnis: „Vielmehr haben Bornkamm, Tödt und Hoffmann mit ihrer These recht, daß man die Worte Jesu mit der Absicht der Weiterverkündigung und im Glauben an ihre bleibende Gültigkeit gesammelt hat und daß darum die Aufnahme von Selbstaussagen Jesu (z. B. Mt 12,32; 13,16⁵¹ par) in Q demselben kerygmatischen Ziel dient wie bei Mk.“⁵² „Das Fehlen einer Ankündigung des Leidens“ in Q bleibt zwar auffällig, läßt sich aber daraus erklären, „daß die Redenquelle darin ihren ‚Sitz im Leben‘ hat, daß die an die Auferstehung des Gekreuzigten glaubende älteste Gemeinde in [200] den Worten Jesu Anweisung für ihre Missionsverkündigung und für ihr Leben in der Nachfolge sucht und findet.“⁵³ Die Sammlung der Redenquelle Q läßt sich also auch „ohne eine Leidensgeschichte begreiflich machen“, jedoch bleibt der abschließend von Kümmel dargestellte und beurteilte „Einwand, daß eine derartige Sammlung ohne erzählenden Rahmen keinerlei Parallele habe“.⁵⁴ Ein Vergleich mit dem Thomasevangelium ergibt ihm, daß dieses „keine Spätform derselben literarischen Gattung wie Q“ ist, „sondern eine andersartige, spätere Stufe der Entwicklung in der Überlieferung der Jesusworte.“⁵⁵ Im Ergebnis: Es „darf

 Einleitung (s. Anm. 43), 43 (Hervorhebung im Original).  Einleitung (s. Anm. 43), 43 (Hervorhebung im Original).  Einleitung (s. Anm. 43) 44 und die dort angeführten Hinweise.  Einleitung (s. Anm. 43), 45 f.  Vgl. zu Mt 13,16 auch Anm. 41.  Kümmel, Einleitung (s. Anm. 43), 46. Die genannten Autoren sind dort im Druck hervorgehoben. Kümmel meint offenbar die in P. Hoffmann, Die Anfänge der Theologie der Logienquelle, in: Gestalt und Anspruch des Neuen Testaments, hg. von J. Schreiner unter Mitwirkung von G. Dautzenberg, Würzburg 1969, 134 Anm. 1 mit Literatur Genannten; vgl. auch Kümmel, Einleitung, 15.  Einleitung (s. Anm. 43), 46 f. mit Verweis auf E. Käsemann, Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 115.  Einleitung (s. Anm. 43), 47.  Einleitung (s. Anm. 43), 47 ff. (Zitat: 49).

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als sicher gelten, daß Mk und die hypothetische Quelle Q den beiden größeren Evv. (= Evangelien) Mt und Lk zur Grundlage dienten.“⁵⁶ Diese Sicht liegt auch der methodischen Einführung in die Redenquelle zugrunde, die Kümmel in „Die neutestamentliche Exegese“ gibt.⁵⁷ Abschließend bleibt festzuhalten: Der Durchgang durch Kümmels Werk unter unserer Fragestellung zeigt, wie sehr hier nicht Spezialstudien zur Quelle Q in einem langen Forscherleben, das über 65 Jahre unmittelbar mit der neutestamentlichen Wissenschaft verbunden war,vorliegen, sondern wie diesem Gelehrten – ohne jemals extremen Positionen das Wort zu reden – vielfältige Einzelprobleme der Redenquelle, im Rückblick und in der Gesamtschau gesehen fast zu einem kleinen Kompendium gerundet, wichtig wurden. In Einzelstudien zu den Synoptikern, zur Jesusforschung, in wissenschaftsgeschichtlichen Beiträgen und notwendig gewordenen Überblicken zu Q wie in der „Einleitung in das Neue Testament“ bleibt ihm die exegetisch begründete Einzelentscheidung vorrangig vor jeder These und Hypothese und jeder vorgetragenen Gesamtkonzeption im dornigen Geflecht der Erarbeitung der Quelle Q. Auch für die Erforschung der Redenquelle Q gilt ihm und uns sein selbstkritisches Votum: „Es gibt theologisch bedeutsame Texte, die trotz aller exegetischen Bemühung sich einer sicheren Auslegung widersetzen, und der Exeget sollte sich ebenso wie der Prediger davor hüten, sich und anderen eine Sicherheit des Verständnisses vorzutäuschen, die nicht vorhanden ist.“⁵⁸

 Einleitung (s. Anm. 43), 49; vgl. auch die reichen Literaturnachträge zu Paragraph 5 in 211983, 552– 557.  W. G. Kümmel, Die neutestamentliche Exegese, in: G. Adam / O. Kaiser / W. G. Kümmel, Einführung in die exegetischen Methoden, München 1963 (51975; danach ist hier zitiert), 61 ff.69 f.93 Anm. 41.  So Kümmel, Exegese (s. Anm. 57), 75.

Werner Georg Kümmel (1905 – 1995) Ein Neutestamentler im 20. Jahrhundert* Es ist bereits forschungsgeschichtlich bekannt, daß im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts über zwanzig nachmals im Verlauf dieses Jahrhunderts zumeist international bekannt gewordene Fachvertreter der neutestamentlichen Wissenschaft im deutschsprachigen Europa geboren wurden. So verschieden ihre Wege (auch politischen Irrwege) und ihre wissenschaftlichen Ausrichtungen waren, sie stehen für das breite Spektrum historischen und theologischen Nachdenkens über die Schriften des Neuen Testaments, ihres Umfeldes und für die Erforschung des Urchristentums. Ihr methodisches Vorgehen kann mit Differenzierungen zumeist als historisch-kritischer Arbeit verpflichtet bezeichnet werden. Sich in diesem Beitrag mit Werner Georg Kümmel anlässlich seines 100. Geburtstages (geb. am 16. Mai 1905 in Heidelberg)¹ im Rückblick auf seine Zeit erneut zu befassen,² ist nicht nur im Hinblick auf sein wissenschaftliches Lebenswerk berechtigt, sondern auch im Bezug auf unseren Jubilar. E. Earle Ellis ist wissenschaftlich zumindest in frühen Gelehrtenjahren [356] besonders mit zentralen theologischen Einsichten Kümmels konform gegangen und Mitherausgeber von „Jesus und Paulus. Festschrift für Werner Georg Kümmel zum 70. Geburtstag“ (hg. v. E. Earle Ellis und Erich Gräßer, Göttingen 1975 [²1978]). Des Jubilars Feststellung:

* Abkürzungen im folgenden Beitrag: HuG I = Heilsgeschehen und Geschichte. Bd. 1. Gesammelte Aufsätze 1933 – 1964, hg. von Erich Gräßer, Otto Merk und Adolf Fritz, MThS 3, Marburg 1965. HuG II = Heilsgeschehen und Geschichte. Bd. 2. Gesammelte Aufsätze 1965 – 1976, hg. von Erich Gräßer und Otto Merk, MThS 16, Marburg 1978. IATG = S. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 1974, ²1992.  Das gleiche Geburtsjahr haben Günther Bornkamm, Gerhard Delling, Werner Schmauch.  A. Pfeiffer, Zwischen Welt und Weltlichkeit. Zum 85. Geburtstag von Werner Georg Kümmel, Deutsches Pfarrerblatt 90, 1990, 245 – 246; E. Gräßer, „Werner Georg Kümmel zum neunzigsten Geburtstag, ZNW 86, 1995, 3 f.; O. Merk, Nestor der Neutestamentler. Professor Kümmel 90 Jahre alt, Marburger Universitätszeitung 247, 1995, 4; O. Böcher, Zum Gedenken an Werner Georg Kümmel, ThLZ 120, 1995, 945 f.; O. Merk, Kümmel, Werner Georg (1905 – 95), in: Dictionary of Biblical Interpretation, ed. John H. Hayes, Vol. 2, Nashville, TN 1999, 40 f.; K. F. Ulrichs, Kümmel, Werner Georg, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XVIII, Erg. Bd. V, Herzberg 2001, 827 f. – Literatur über Veröffentlichungen Kümmels wird in weiteren Anmerkungen genannt.

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„The important monographs of W. G. Kümmel³ argue convincingly that both, ‚present‘ and ‚future‘ eschatology are equally and permanently rooted in the teaching of Jesus and of Paul“.⁴ ist ihm Leitgedanke seiner eigenen theologischen Arbeit geblieben. Auch treffen sich beide in forschungsgeschichtlichen Fragestellungen⁵ und auch in der Lukasforschung.⁶

I W. G. Kümmel, mit 18 Jahren Student, mit 23 Jahren promoviert (1928) und als 26 jähriger außerordentlicher Professor in Zürich (1932), erlebte in seinem Studium in Heidelberg, Berlin, Marburg vor allem akademische Lehrer, die von der Religionsgeschichtlichen Schule wie von der „Liberalen Theologie“ dem jungen Studenten das kritische und theologische Erbe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vermittelten. Dieses Erbe spiegelt sich in Kümmels eigenem wissenschaftlichen Werk in nüchtern klarer Darstellung und Argumentation. Es ist die von ihm konsequent bedachte historisch-kritische Exegese, mit der er jeder Willkür der Schriftauslegung, zu der die dialektische Theologie seiner Studienzeit neigte, argumentativ widerstand⁷ und gleichwohl die theologische Auslegung eindeutig herausstellte. Kümmels methodisches Vorgehen, dessen Grundlegung in seiner Dissertation erfolgte,⁸ ist in seinem Gesamtwerk erstaunlich konstant. Einige Zitate aus verschiedenen Werken und Zeiten mögen verdeutlichen und für das Ganze stehen: „Sobald die Berechtigung, psychologische Maßstäbe für [357] jede historische Tatsache anzuwenden, fraglich wird, muß auch dieser ganze Gedankenkreis und seine exegetische Grundlage fraglich werden“ (Diss., 2). „Der Text verlangt von uns, daß wir mit dem Bewußtsein unserer Schranken ihn zu verstehen suchen,

 Gemeint sind: W. G. Kümmel, Promise and Fulfilment, The Eschatological Massage of Jesus, SBT 25, London 1957, 141– 155; ders., Futurische und präsentische Eschatologie im ältesten Urchristentum, NTS 5, 1958/59, 113 – 126.  E. E. Ellis, Paul and His Recent Interpreters, Grand Rapids 1961, Eugene, OR ⁶2004, 33; vgl. auch ebd. 37.45.  Vgl. Ellis (Anm. 4), 7 f.  E. E. Ellis, Die Funktion der Eschatologie im Lukasevangelium, ZThK 66, 1969, 387– 402; vgl, auch W. G. Kümmels Beiträge zu den lukanischen Schriften (HuG II), 75 – 86. 87– 100 in ihrer Bedeutung für den Jubilar; z. B.: The Gospel of Luke, Grand Rapids ⁴1983, Eugene, OR ⁸2003.  Vgl. die kritischen Hinweise zu K. Barth, Römerbrief, München ²1922, in: W. G. Kümmel, Römer 7 und die Bekehrung des Paulus, UNT 17, Leipzig 1929, 59 Anm. 2; 61 Anm. 2; 67 Anm. 1; 96 Anm. 3.  Kümmel, Römer 7 (Anm. 7).

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aber nie vergessen, daß eine die Dinge restlos verstehende Erkenntnis auch mit den Mitteln der Wissenschaft niemals erreichbar ist“ (Diss., 160).⁹ In dem Vortrag „Jesus und die Rabbinen“¹⁰ zeigt der Verfasser die Grundrichtung seines methodischen Arbeitens: „Die theologische Arbeit am Neuen Testament ist als philologische Exegese zunächst immer Kleinarbeit, die die einzelnen Texte und Schriften immer neu und immer besser zu verstehen sich bemüht. Aber so wichtig diese Arbeit ist, die Erforschung des Neuen Testaments ist niemals bei dieser rudimentären Aufgabe stehengeblieben. Denn auf der einen Seite fordert die Stellung des Neuen Testaments innerhalb der antiken Literatur- und Religionsgeschichte eine Einordnung der neutestamentlichen Gedanken in diesen Gesamtzusammenhang. Auf der andern Seite aber fordert das Wesen des Neuen Testaments als der Urkunde der christlichen Offenbarung immer wieder eine Gesamtdeutung der neutestamentlichen Botschaft und ihre Abgrenzung gegen benachbarte und verwandte Lehren und Religionen. Bei dieser zusammenfassenden Aufgabe stehen aber immer wieder drei Probleme als die brennendsten im Vordergrund. Einmal ist heute mehr als je die Frage umstritten, inwiefern wir wissenschaftlich zu einer wirklichen Erfassung der Offenbarungstatsache im Neuen Testament kommen können; mit andern Worten, das Verhältnis von historischer Exegese und glaubensmäßiger Erfassung der neutestamentlichen Botschaft sucht immer wieder seine Klärung. Zweitens aber hat die historische Forschung immer deutlicher gezeigt, daß das Neue Testament nicht eine Lehre, sondern mehrere stark abweichende Typen christlicher Lehre enthält. Natürlich ist die Art und Weise dieser Abweichungen auch rein historisch immer wieder fraglich; aber daneben erhebt sich doch die Frage, inwiefern in diesen abweichenden Typen die eine Botschaft sich zeigt und inwiefern die Unterschiede Wesentliches und Unwesentliches betreffen. Zu diesen beiden Problemen gesellt sich aber als drittes die Frage, worin denn historisch die Eigenart des Christentums gegenüber den andern antiken Religionen bestehe, und wie es kommt, daß das Christentum diesen andern Religionen als etwas anderes und als der Sieger gegenübertritt. Aber auch bei diesem dritten Problem steht hinter und in der historischen Frage eine theologische Frage. Ist das Christentum nur eine von den vielen synkretistischen Religionen der ausgehenden Antike, oder ist es etwas [358] grundsätzlich anderes? Wie kommen wir überhaupt dazu, einer historisch zufälligen Religion des Altertums heute noch absolute Bedeutung zuzuschreiben? Alle diese drei Fragenkomplexe sind gleich wichtig, alle diese Fragen sind Lebensfragen für Theologie und Kirche. Wenn ich meinerseits die dritte Frage in den Vordergrund stelle, so bewegt mich dabei die Überzeugung, daß wir nur auf dem Wege der Religionsvergleichung eine sichere Anschauung vom eigentlichen Wesen des Christentums finden können. Diese sichere Einsicht aber brauchen wir heute dringend, weil in Kirche und Staat, in der Schweiz wie anderswo, sich ein erbitterter

 E. Schweizer, Besprechung von W. G. Kümmel, Kirchenbegriff und Geschichtsbewußtsein in der Urgemeinde und bei Jesus, SymBU I, Uppsala/Zürich 1943 (VuF. Theologischer Jahresbericht 1947/48), 68 f.: „weil hier das Gewicht darauf gelegt wird, die historischen Tatbestände aus dem Text zu eruieren“.  Kümmel, Jesus und die Rabbinen (HuG I), 1 f.

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Kampf abspielt um die Frage, was als das Wahre und Wesentliche im Christentum anzusehen sei.“¹¹

Es bleibt, wie er später einmal (1967) resümierend festhält, „für den protestantischen Exegeten“ die „Aufgabe streng geschichtlicher Erforschung des Neuen Testaments“.¹² Im Zusammenhang des Beitrags „Die Probleme von Römer 9 – 11 in der gegenwärtigen Forschungslage“ verdeutlicht er diese Aufgabe:¹³ „Abschließend sei schließlich noch auf eine Tatsache hingewiesen, die wir nicht übersehen dürfen, wenn wir uns dem Studium von Röm 9 – 11 im einzelnen zuwenden: so wenig es erlaubt ist, aufgrund des historischen Verständnisses dieses Textes kurzschlüssig direkte Antworten auf Fragen wie ‚Kirche und Judentum‘ oder ‚Christusglaube und Weltgeschichte‘ zu versuchen, so wenig dürfen wir einen Augenblick vergessen, daß wir als Exegeten nicht der Versuchung unterliegen dürfen, uns nach der Devise ‚l’art pour l’art‘ nur um die historischen Fragen zu kümmern, die uns der Text stellt. Denn uns begegnet dieser Text ja nicht nur, ja nicht einmal primär als historisches Dokument, obwohl er das zunächst unzweifelhaft ist, sondern uns begegnet dieser Text ebenso, ja in betonter Weise als Teil des Neuen Testaments und damit als ein Text, der uns als Christen anreden und Weisung geben will und soll. Darum kann es nicht allein unsere Aufgabe sein, den geschichtlichen Sinn des Textes zu erfragen, wir müssen auch danach fragen und betont danach fragen, was uns und überhaupt den Menschen von heute dieser Text heute zu sagen hat, in welcher Weise er uns für unsere Probleme bleibend gültige Weisung geben will. Eine Antwort auf diese Frage, oder möglicherweise auch die Erkenntnis der Unmöglichkeit einer solchen Antwort, können wir aber nur gewinnen, wenn wir den geschichtlich verstandenen Text mit unseren Fragen konfrontieren und gegebenenfalls in unsere Sprache oder auch in Beziehung zu unsern anders [359] gearteten Fragen transponieren. Aber ein Doppeltes muß uns dabei immer bewußt bleiben: Wir dürfen den Paulus nicht sagen lassen, was wir hören möchten oder wie wir es hören möchten, wir dürfen eine Antwort auf unsere Fragen nicht erzwingen; und: Die Antwort, die wir geben, darf in der Sache dem von Paulus Gesagten nicht widersprechen, wenn es eine Antwort des Paulus bleiben soll.“

Dasselbe methodische Sachanliegen verweist auf Kümmels Jesusforschung zurück.

 Dazu E. Gräßer, Verheißung und Erfüllung. Werner Georg Kümmels Verständnis der Eschatologie Jesu, in: Glaube und Eschatologie. Festschrift für Werner Georg Kümmel zum 80. Geburtstag, hg. v. E. Gräßer und O. Merk, Tübingen 1985, 31– 49, 34 f  Kümmel, Die neutestamentliche Forschung der Gegenwart und die konfessionellen Gegensätze (HuG II), 28.  Kümmel, Die Probleme von Römer 9 – 11 in der gegenwärtigen Forschungslage (HuG II), 245 – 260, Zitat 259 f.

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„Mein Hauptanliegen“ – so im Vorwort zur zweiten Auflage von „Verheißung und Erfüllung“¹⁴ – „ist dabei nach wie vor gewesen, die Quellen mit besonnener Kritik zu befragen“ (3). Wichtig waren Kümmel Einsichten des französischen Althistorikers H.-J. Marrou in dessen Werk „Über die historische Erkenntnis“,¹⁵ der die Dialektik von kritischer Prüfung und „Freundschaft des Historiker(s) und seinem Gegenstand“ betont und bewußt mit dem Begriff der „‚kritischen‘ Forschung“ „den positiven Begriff vom ‚Verstehen‘ des Dokumentes“ verbindet, ja dazu neigt, den ersteren durch den letzteren zu „ersetzen“.¹⁶ Darum kann nach Kümmel – und Marrou – „der synoptischen Jesusüberlieferung mit kritischer Sympathie“ begegnet werden, auch wenn natürlich die Kriterien zu erarbeiten und zu prüfen sind, „um zu der ältesten Überlieferungsschicht vorzudringen“.¹⁷ Nach einer eingehenden Beurteilung methodischer Probleme der Jesusforschung und der Perikope Mt 11,2– 6 par Lk 7,18 – 23 hält Kümmel für sein exegetisch-theologisches Forschen maßgebend fest:¹⁸ „Der Bericht, mit dem wir uns beispielhaft beschäftigt haben, will zweifellos nicht unbeteiligt und mit kritischem Abstand gelesen werden, sondern fordert in seinem Schluß wie damals, so auch heute zur Entscheidung gegenüber dem Jesus auf,von dem er erzählt. Ich kann dieser Aufforderung ausweichen oder sie gar von vornherein als Anmaßung leidenschaftlich ablehnen – beide Haltungen begegnen nicht nur in der Wirklichkeit, sondern sind auch erlaubt und schließen eine geschichtswissenschaftlich engagierte und darin mit kritischer Sympathie vorgehende Beschäftigung mit dem Text keineswegs aus. Ich habe mich bemüht, [360] meine persönliche Stellungnahme zu dieser Aufforderung des Textes bei der geschichtswissenschaftlichen Erörterung bewußt zurückzustellen, aber ich möchte am Schluß dieser Ausführungen doch nicht verschweigen, daß ich diese Aufforderung des Textes persönlich bejahe und darum bereit bin, in diesem Wort Jesu wie in manchen anderen der Evangelien nicht nur den einstigen Menschen Jesus von Nazareth, sondern auch Jesus Christus zu vernehmen, zu dessen Herrsein ich mich bekenne. Das sage ich nicht mehr als Geschichtswissenschaftler, doch darum nicht weniger persönlich engagiert.“

Dieser überlegte methodische Ansatz Kümmels zeigt, daß ihm Hyperkritik fern lag und die Achtung vor dem gegebenen Zeugnis/Text ihn von gewagten Hypothesen  W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verküdigung Jesu, AThANT 6, Zürich ²1953 (³1956).  H. -J. Marrou, Über die historische Erkenntnis, deutsch von Ch. Beumann, Darmstadt 1973.  Nach Kümmel (s. Anm. 17), 187, bei Marrou (Anm. 15), 115 f.128.117.126.164.117 gemäß der Reihenfolge der Zitate.  W. G. Kümmel, Jesu Antwort an Johannes den Täufer. Ein Beispiel zum Methodenproblem in der Jesusforschung (HuG II), 177– 200, 183 ff., Zitate 187 f.  W. G. Kümmel, Jesu Antwort (Anm. 17), 200; vgl. den Abschluß von ders., Verheißung und Erfüllung (Anm. 14), 147, den E. Gräßer, Verheißung (Anm. 11), 49 als „so etwas wie ein testamentum“ bezeichnet.

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fern hielt. Die maßvolle, vor allem begründete Kritik, die andere, ebenfalls begründbare Deutungen des überlieferten Textbestandes nicht ausschloß, war ihm methodisches Anliegen auch im akademischen Unterricht¹⁹ und in zahlreichen Rezensionen. Auch seine immer wieder bewunderte breite Kenntnis der Forschungslage und der internationalen Fachliteratur diente der Vertiefung dieser methodischen Sorgfalt. Auf unbegründet hingesetzte phantasievolle Thesen (besonders im Bereich der Redaktionsgeschichte) und gestelzten Konstruktionen konnte er heftig reagieren, aber auch darauf, wenn mit methodischem Wissen dem Quellenbestand und dessen Tatbeständen überstülpend apologetisch genehme Ergebnisse herausgepreßt wurden. Das methodische Können Kümmels läßt unschwer die kritische Aufnahme und Weiterführung jener Grundlagen erkennen, die in historisch-kritischer Gemeinsamkeit bei allen Unterschieden im einzelnen seine akademischen Lehrer R. Bultmann, M. Dibelius, A. Jülicher und Hans v. Soden verband, wobei M. Dibelius wohl die stärksten methodischen Spuren bei ihm hinterlassen hat.²⁰ [361]

II Das Leben des Gelehrten ist vielfach im Überblick festgehalten.²¹ Das schon Angeführte aufgreifend sind knapp die Stationen seines Weges zu skizzieren. Nach der Promotion 1928 in Heidelberg, den Theologischen Examina und einem Englandaufenthalt war er von 1930 bis 1932 Assistent bei Hans von Soden in Marburg

 Vgl. W. G. Kümmel, Die neutestamentliche Exegese, durchgesehen und ergänzt von O. Merk, in G. Adam, O. Kaiser, W. G. Kümmel, O. Merk, Einführung in die exegetischen Methoden, Gütersloh ⁶2000, 75 – 111, 89: „Es gibt theologisch bedeutsame Texte, die trotz aller exegetischen Bemühung sich einer sicheren Auslegung widersetzen, und der Exeget sollte sich ebenso wie der Prediger davor hüten, sich und anderen eine Sicherheit des Verständnisses vorzutäuschen, die nicht vorhanden ist … . Natürlich hat diese Warnung nicht die Absicht, den exegetischen Anfänger zu einem frühen Abbruch der exegetischen Arbeit zu verleiten; wohl aber gehört es zum methodischen Rüstzeug sauberer Exegese, daß sie auch um ihre Grenzen weiß und sich zu bescheiden lernt, wo keine andere Wahl bleibt.“  Vgl. M. Dibelius, Auslegen und Einlegen, Deutsches Pfarrerblatt 41, 1937, 629 – 631; W. G. Kümmel, Martin Dibelius als Theologe, ThLZ 74, 1949, 129 – 140 (HuG I).192– 206; ders., Dibelius, Martin, TRE 8, 1981, 726 – 729 (weitere Literatur); doch vgl. auch W. G. Kümmel, Rudolf Bultmann als Paulusforscher, in: Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, hg. v. B. Jaspert, Darmstadt 1984, 174– 193.  Vgl. die Anm. 2 Genannten; zur Geschichte von Kümmels Familie: G. B. Gruber, Henle, Friedrich Gustav Jakob, NDB 8, 1969, 531 f.; W. F. Kümmel, Kümmel, Werner, NDB 13, 1982, 213 f.

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(und teilweise bei dessen Vorgänger, dem erblindeten A. Jülicher).²² 1932 wurde er überraschend zum Sommersemester als außerordentlicher Professor nach Zürich berufen, während er bereits mitten in der Vorbereitung seiner Habilitationsschrift über das Thema „Jesus und der jüdische Traditionsgedanke“ war, die er dann in einer im übrigen nicht weiter ausgearbeiteten Kurzfassung am 19. November 1932 als Antrittsvorlesung in der Universität Zürich hielt.²³ Eine von ihm gern erzählte Episode schildert die Situation: Kümmel suchte im Magazin der Marburger Universitätsbibliothek nach Materialien für seine erste Züricher Vorlesung, als ihn Bultmann am selben Orte traf und ihn nach seinen Recherchen fragte: „Ach – wissen Sie Herr Kümmel – Sie werden ohnehin nicht den ganzen erarbeiteten Stoff in einer Vorlesung vortragen, sondern nur eine Auswahl“, worauf Kümmel antwortete: „Herr Professor, ich muß doch überhaupt erst einmal ein Manuskript haben.“ Der Ruf nach Zürich war für ihn – wie er öfter betonte – im Rückblick auf das wenige Monate später über Deutschland hereinbrechende nationalsozialistische Unheil von 1933 bis 1945 gesehen der sein Leben erhaltende Glücksfall, so gewiß die Jahre in Zürich für ihn und seine Familie aufgrund der politischen Situation in Deutschland, die er vom Ausland her soweit möglich bekämpfte,²⁴ und besonders während des Zweiten Weltkriegs sich nicht einfach gestalteten und die Sorge um seine Angehörigen und Freunde in Deutschland schmerzlich berechtigt war. Hinzu kam die Schwierigkeit,weiterhin in Deutschland veröffentlichen zu können. Dankbar hat er hier stets den mutigen und erfolgreichen Einsatz von Rudolf Bultmann und Hans von Soden (Theologische Rundschau), Hermann Strathmann (Theologische Blätter) und Walter Bauer (Theologische Literaturzeitung) erwähnt und [362] außerhalb Deutschlands den von Oscar Cullmann und Anton Fridrichsen sowie das freundliche Entgegenkommen der Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Anders verhielt sich K. L. Schmidt, der ihn auch in Zürich wegen seiner jüdischen Abstammung in Mißkredit zu bringen versuchte (was Kümmel allerdings in vollem Ausmaß erst später erfuhr).²⁵ 1946 wurde er Ordinarius in Zürich. 1951 ging er nach Deutschland zurück, zunächst nach Mainz. Vom Herbst 1952 bis Sommer 1973 war er Nachfolger Rudolf

 W. G. Kümmel, Adolf Jülicher (1857– 1938). Theologe, Neutestamentler und Kirchenhistoriker (HuG II), 232– 244, 238.  W. G. Kümmel, Jesus und der jüdische Traditionsgedanke, ZNW 33, 1934, 105 – 130 (HuG I), 15 – 35.  Zusammenfassend dazu mit Abdruck von Dokumenten E. Dinkler, Neues Testament und Rassenfrage. Zum Gutachten der Neutestamentler im Jahre 1933, ThR. N.F. 44, 1979, 70 – 81.  Vgl. A. Mühling, Karl Ludwig Schmidt. „Und Wissenschaft ist Leben“, AKG 66, Berlin 1997, 8 f.

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Bultmanns auf dem Marburger Lehrstuhl für Neues Testament. Diese Jahre brachten die größte Entfaltung und Breitenwirkung seines Werkes und für ihn persönlich ökumenische Beachtung und interkonfessionelle Freundschaft (z. B. mit F. Mußner, J. Schmid, R. Schnackenburg und besonders A. Vögtle, mit dem er auch gemeinsame Tagungen in den 60er Jahren abhielt). Seine letzten Dienstjahre wurden durch die studentischen Unruhen der „68er“ überschattet, da er nicht nur als Ordinarius Humboltdscher Prägung, sondern auch immer wieder wegen seiner jüdischen Herkunft persönlichen Verletzungen ausgesetzt war. Seiner Universität entfremdet arbeitete er gleichwohl wissenschaftlich unermüdlich, doch von schwerem Schicksalsschlag betroffen, bis ins höchste Alter. Nach seiner Promotion (1928) schlossen sich 65 weitere Jahre intensiver Forschung an. Am 9. Juli 1995 starb er in Mainz, wohin er kurze Zeit zuvor mit seiner Gattin gezogen war.²⁶ Wiederum im Rückblick gesehen lag ihm an der internationalen Verbindung mit seinen Fachkollegen, die ihn für das Jahr 1963/64 zum Präsidenten der Studiorum Novi Testamenti Societas wählten. Seine mehrfachen Vortragsreisen in den U.S.A., der Ehrendoktor (D.D.) von Glasgow und die Verleihung der BurkittMedaille haben ihn als wissenschaftliche Auszeichnung und als Zeichen der Verbundenheit mit der angelsächsischen Welt erfreut, auch wenn er einen ehrenvollen Ruf in die Vereinigten Staaten nach reiflicher Überlegung ablehnte (und auch andere Rufe nicht in Erwägung zog). Unter den kontinentalen Neutestamentlern gehörte er zu den meist gelesenen Fachvertretern in England und in den U.S.A., wie die englischen und amerikanischen Übersetzungen fast aller seiner größeren Untersuchungen bestätigen. [363]

III Das Lebenswerk des Gelehrten kann knapp angeführt werden, zumal die Veröffentlichungen Kümmels schon mehrfach zusammenfassend dargestellt und diskutiert wurden. Die großen Bereiche seines Forschens galten der Jesusüberlieferung, der Einleitungswissenschaft und der Forschungsgeschichte, insgesamt der Erschließung des Urchristentums, die selbstredend Beiträge zur paulinischen Theologie einschließen.²⁷ Seine Dissertation „Römer 7 und die Bekehrung des Paulus“ (1929) ist die Basisuntersuchung seines wissenschaftlichen Werkes geblieben. Nahezu die ge-

 Vgl. auch Böcher (Anm. 2).  Auf zentrale diesbezügliche Beiträge Kümmels wird im folgenden hingewiesen; vgl. auch die Bibliographien in HuG I.II.

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samte Forschung zu Röm 7 knüpft an sie in Zustimmung,Weiterführung oder auch Modifikation und Kritik an, ohne sich immer jener methodischen Sorgfalt zuzuwenden, die Kümmels Arbeit auszeichnet.²⁸ Das Subjekt in Röm 7 ist nicht der Apostel Paulus, sondern Paulus beschreibt aus der Sicht des Erlösten, aus der Sicht von Röm 8,1 ff., rückblickend die verzweiflungsvolle Situation des unerlösten Menschen (Röm 7,7 ff. [14– 25]). An diesem Nachweis hat Kümmel mit weiterer Begründung und exegetischer Absicherung festgehalten.²⁹ Die Jesusforschung Kümmels setzt ein mit Spezialfragen zur Eschatologie im Neuen Testament, nämlich mit „Die Bedeutung der Enderwartung für die Lehre des Paulus“ (1934):³⁰ „Jesus hatte die unmittelbare Nähe des Endes verkündigt, und die Urgemeinde hatte diesen Glauben übernommen. Paulus teilte ebenfalls diesen Glauben an das baldige Kommen des Messias“ (37). Doch bedarf es der gründlichen Klärung, wie [364] Kümmel in seinem Aufsatz darlegt.³¹ „Denn die geschichtliche Frage nach der Entwicklung des eschatologischen Denkens innerhalb der Evangelien und die theologische Frage nach dem Sinn dieses Denkens sind unauflöslich miteinander verknüpft und können nur in stetiger Verbindung geklärt werden.“ Es geht darum, „die geschichtliche Entwicklung der eschatologischen Verkündigung der Evangelien als Frage nach ihrem Sinn zu behandeln und damit einen Beitrag zur Klärung des Wesens der neutestamentlichen Verkündigung zu liefern“ (50). Dem Aufsatz „Die Eschatologie der Evangelien. Ihre Geschichte und ihr Sinn“, dem die voranstehenden Zitate entnommen sind, kommt weichenstellende Bedeutung für seine weitere Jesusforschung (vgl. dort 52 ff.) wie für sein Verständnis der Kirche³² und für die Fragestellung „Futurische

 Erstauflage der Dissertation (Anm. 7); Nachdruck, Lexington 1965; ein weiterer Nachdruck: W. G. Kümmel, Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament. Zwei Studien, TB 53, München 1974, 1– 160 (mit Literaturnachträgen) in Verbindung mit dem Wiederabdruck: Das Bild des Menschen im Neuen Testament, AThANT 13, Zürich 1948, einschließlich der um Anmerkungen erweiterten engl. Ausgabe: Man in the New Testament. Revised and enlarged edition, trans. J. J. Vincent, London 1963; vgl. O. Merk, ThLZ 102, 1977, 821– 823.; zu Einzelheiten O. Merk, Werner Georg Kümmel als Paulusforscher. Einige Aspekte, Festschrift für Günter Klein zum 70. Geburtstag, hg. v. M. Trowitzsch, Tübingen 1998, 245 – 256 (in diesem Band S. 249 – 259).  Vgl. Kümmel, Römer 7 (Anm. 28), 185 ff. und ergänzende Anmerkungen 219 f.; ders., Die Botschaft des Römerbriefs, ThLZ 99, 1974, 481– 486, 487.  HuG I, 36 – 47. Hier beginnt Kümmels Gespräch mit A. Schweitzer, dessen eschatologische Sicht er vielfach bedacht hat; vgl. zusammenfassend unter Aufnahme verschiedener eigener Veröffentlichungen W. G. Kümmel, Albert Schweitzer als Paulusforscher (HuG II), 215 – 231.  Kümmel, Die Eschatologie der Evangelien. Ihre Geschichte und ihr Sinn (HuG I), 48 – 66; wichtig auch die forschungsgeschichtliche Einordnung der Fragestellung: ders., Ein Jahrhundert Erforschung der Eschatologie des Neuen Testaments, ThLZ 107, 1982, 81– 96.  W. G. Kümmel, Kirchenbegriff und Geschichtsbewusstsein in der Urgemeinde und bei Jesus (Anm. 9; Nachdruck, Göttingen ²1968).

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und präsentische Eschatologie im ältesten Urchristentum“³³ zu und bildet für die Jesusforschung die exegetisch-theologische Begründung und Entfaltung in der Monographie „Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu“.³⁴ In den vier Kapiteln dieses Buches „I. Die nahe Zukunft der Gottesherrschaft“, „II. Eschatologische Verheißung, nicht apokalyptische Belehrung“, „III. Die Gegenwart der Gottesherrschaft“, „IV. Der Sinn der eschatologischen Rede Jesu“ gelang Kümmel der überzeugende exegetische Nachweis von Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes in der Verkündigung Jesu, wobei die Gegenwart dieses Reiches in der Person Jesu auf Gottes zukünftiges Handeln vollmächtig verweist. Bei offener Diskussion über einzelne Belege für diese Sicht blieb vor allem die von Kümmel postulierte „Erwartung einer Zwischenzeit zwischen Jesu Tod und der Parusie“ (58 ff.) und damit die Frage der „Hinausschiebung des Termins der Gottesherrschaft“ (vgl. 77 ff.) umstritten.³⁵ Im exegetischen wie hermeneutischen [365] Erfassen von „Verheißung und Erfüllung“, von Gegenwart und Zukunft des Handelns Gottes, ist diese Untersuchung und damit die Verkündigung Jesu das theologische Zentrum seiner Forschung.³⁶ Hierin integriert ist die Jesusforschung, die Kümmel in kritischer Bestandsaufnahme seit 1950 in weiteren vierzig Jahren in der „Theologischen Rundschau“ vorgenommen hat und deren Einzelberichte in einem Band zunächst für 30 und dann für 40 Jahre durch H. Merklein gesammelt herausgegeben wurden.³⁷ International, interkonfessionell und teilweise interreligiös wird die Fülle der methodisch sehr ungleichen, von unangemessener Apologetik bis zum völligen Methodenwirrwarr reichenden Literatur über Jesus besprochen, werden dem Leserkreis Schneisen geschlagen und wird dieser zum  Kümmel, Futurische und präsentische Eschatologie im ältesten Urchristentum (Anm. 3 [HuG I, 351– 363]).  1. Auflage: AThANT 6, Basel 1945; 2. u. 3. Auflage (Anm 14); Fortführung und weitere Begründung: Kümmel, Die Naherwartung in der Verkündigung Jesu (1964) (HuG I), 457– 470; ders. Jesu Antwort an Johannes den Täufer (Anm. 17), passim; wichtige Hinweise auch in Kümmels Besprechungen der Jesusliteratur seit 1950: W. G. Kümmel, Vierzig Jahre Jesusforschung (1950 – 1990), hg. v. H. Merklein, BBB 91, Weinheim ²1994, 195 ff.319 ff.474 ff. und öfter.  Vgl. E. Gräßer, Die Naherwartung Jesu, SBS 61, Stuttgart 1973, 102– 124 (Literatur); ders., Verheißung und Erfüllung (Anm. 11), 31– 49; O. Merk, Lukas 11,20. Zur Debatte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, Z Nového Zákona. Festschrift Zdenek Sázava, ed. H. Tonzarová, P. Melmuk, Prag 2001, 30 – 37 (in diesem Band S. 319 – 325).  Das wurde auch in der angelsächsischen Welt gesehen; vgl. die Übersetzung von Promise and Fulfilment (Anm. 3), 1957, ²1961.  Vgl. Kümmel, Vierzig Jahre Jesusforschung (1950 – 1990) (Anm. 34); ders., Das Problem des historischen Jesus in der gegenwärtigen Forschungslage; Das Problem des historischen Jesus in der gegenwärtigen Diskussion; Der persönliche Anspruch Jesu und der Christusglaube der Gegenwart (HuG I), 392– 405; 417– 428; 429 – 438.

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Nachdenken in eigener Beurteilung angehalten. Diesen Besprechungen, inzwischen selbst einen grundlegenden neutestamentlichen Bereich neuerer Theologiegeschichte spiegelnd, kann man nur wünschen, daß sie fortlaufend gelesen und nicht nur als „Nachschlagewerk“ benutzt werden. Kümmels Jesusforschung und auch seine diesbezüglichen Besprechungen sind in reichem Maße von Einsichten in die Forschungsgeschichte mitbestimmt. Durch die in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgearbeitete „Problemgeschichte“ in dem Werk „Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme“ und ihre Fortschreibung (1970) und Weiterführung (1985) hat die Forschungsgeschichte im Fachgebiet einen Schwerpunkt erhalten. Sie ist seitdem nicht mehr Parergon neben der als eigentlich angesehenen Forschungsarbeit in der neutestamentlichen Wissenschaft. Die Dokumentation der maßgebenden problemgeschichtlich weiterführenden Aspekte in dem genannten Werk³⁸ mit hilfreich orientierender Einführung und Kommentierung stellt das Werden der neutestamentlichen Fachdisziplinen (71 ff.) und ihre Voraussetzungen ebenso heraus wie die konsequent geschichtliche Fragestellung (143 ff.) als auch deren Infragestellung (234 ff.). Der behandelte Zeitraum schließt begründet mit etwa dem Jahr 1930 ab (S. V f.). Das Werk bietet keine – wie gelegentlich [366] missverstanden – Forschungsgeschichte der neutestamentlichen Wissenschaft, denn „eine Problemgeschichte hat die Aufgabe, die grundlegenden Fragestellungen aufzuzeigen, die sich im Verlauf der sich wandelnden Erforschung eines Sachgebietes ergeben haben“ (S. V). Sie deckt freilich eminent auf, daß „der neutestamentlichen Wissenschaft … von ihren Anfängen an das Problem aufgegeben“ war, „wie die unerläßliche historische Aufgabe der Erforschung des Neuen Testaments in Einklang gebracht werden könne mit der eigenen Forderung dieser Schriften an den Leser, sich der in ihnen enthaltenen göttlichen Botschaft gegenüber zu entscheiden“ (520). Der Verfasser fährt fort: „Die Wissenschaft vom Neuen Testament verfehlt in der Tat ihre Aufgabe, wenn sich der Forscher gerade als Forscher diesem Anspruch verschließen zu müssen meint.“ „Diese Erkenntnis ist freilich nicht allgemeingültig, sondern ergibt sich nur aus der persönlichen, zur Entscheidung bereiten Begegnung mit diesem durchaus ungewöhnlichen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung“ (520). Daß die neutestamentliche Wissenschaft keine anderen als die profanen

 W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg/München 1958, ²1970 (= The New Testament: The History of the Investigation of its Problems, trans. S. M. Gilmour and H. C. Kee, Nashville / New York 1972).

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Methoden historischer Erforschung überhaupt verwendet (anwenden darf), zeigen Kümmels Nachweise vielfach (vgl. 65 ff.73 ff. u. ö.).³⁹ Nunmehr Problemgeschichte und Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft verbindend hat Kümmel seine forschungsgeschichtliche Arbeit in dem Sammelband „Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert (Bd. II) unter dem Titel „B. Die exegetische Erforschung des Neuen Testaments in diesem Jahrhundert“ (279 – 371) fortgesetzt.⁴⁰ Dieser Forschungsbericht wiederum ist in einer „in Einzelheiten ergänzten Darstellung“ und mit einem gekürzten Vortrag „Das Erbe des 19. Jahrhunderts für die neutestamentliche Wissenschaft von heute“⁴¹ als Monographie unter dem Titel „Das Neue Testament im 20. Jahrhundert. Ein [367] Forschungsbericht“ (1970) erschienen.⁴² Diese international informierende Darstellung zeigt eindrücklich ebenso den Fortgang wie die offen gebliebenen Fragen der neutestamentlichen Forschung. „Von weitgehend anerkannten Resultaten kann man nur in beschränktem Maße reden“ (146). Dies bestätigt der sich anschließende bedeutsame Überblick, der die Jahre 1970 bis etwa 1983/84 einschließt: „L’exégèse scientifique au XXe siècle: le Nouveau Testament“ (1985).⁴³ Unter den zahlreichen Einzelheiten fällt auf, daß Kümmel aufgrund neuerer Forschung nicht mehr eindeutig an der paulinischen Verfasserschaft des Kolosserbriefs festhält (und auch diesbezügliche Bedenken bei 2Thess hat) (483 f.). Damit ist zu seinem wohl verbreitetsten Lehr- und Lernbuch übergeleitet, zur „Einleitung in das Neue Testament“, zunächst unter Einbezug und Nennung der früheren Bearbeiter P. Feine und J. Behm, (¹²1963 bis ¹⁶1969), dann als „wiederum völlig neu bearbeitete Auflage“ allein unter Kümmel als Verfasser (¹⁷1973 bis  Bei seinen Recherchen fand Kümmel folgende, ihm besonders zusagende Äußerung: „Das Panier, zu welchem ich in Schrift und Predigt unumwunden und aus Herzensgrunde mich bekenne, ist eben die Bibel selbst, aber erforscht und erklärt ohne maßgebende confessionelle Vermittelung. Denn den Inhalt der Schrift nach kirchlicher Voraussetzung zu ermitteln, ist eine von vorne herein bestochene Procedur, bei welcher man hat, ehe man sucht, und findet, was man hat“, so Heinrich August Wilhelm Meyer, in: Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament. Erste Abtheilung, erste Hälfte: Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen ²1844, XII–XIII; vgl. Kümmel (HuG I), 370 f.  W. G. Kümmel, B. Die exegetische Erforschung des Neuen Testaments in diesem Jahrhundert, Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert. Perspektiven, Strömungen, Motive der christlichen und nichtchristlichen Welt, hg. v. H. Vorgrimler und R. van der Gucht, Bd. II, Freiburg 1970, 279 – 371.  W. G. Kümmel, Das Erbe des 19. Jahrhunderts für die neutestamentliche Wissenschaft von heute (HuG I), 364– 381.  W. G. Kümmel, Das Neue Testament im 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, SBS 50, Stuttgart 1970.  W. G. Kümmel, L’exégèse scientifique au XXe siècle: le Nouveau Testament, in: Le monde contemporain et la Bible, ed. C. Savart und J. N. Aletti, BTT 8, Paris 1985, 473 – 515.

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²¹1983).⁴⁴ Kümmel selbst bezeichnet seine Neubearbeitung als „gemäßigt kritisch“⁴⁵ und seine „Absicht bei der Neugestaltung war es, in umfassender Weise in den Stand der internationalen Forschung einzuführen und zugleich klare Entscheidungen in strittigen Fällen zu treffen“. Er fährt fort: „Doch habe ich mich nicht gescheut, diejenigen Fragen offen zu lassen, auf die keine einigermaßen sichere Antwort gegeben werden kann“ (Vorwort, ¹²1963, S.V). Schon zuvor hatte er betont, Einleitung in das Neue Testament „gehört ‚zu jenem durchaus profanen Dienst, der historische Wissenschaft heißt‘ (sc. Zitat aus E. Käsemann)“, dann aber hinzugefügt, daß „nur derjenige die theologische Aufgabe der ‚Einleitung in das Neue Testament‘ wirklich erkennen und sachgemäß in Angriff nehmen“ kann, „der darum weiß, daß uns in diesen menschlichen Worten Gottes ewige Anrede begegnen will, die wir freilich nur hören können, wenn wir das Menschenwort des Neuen Testaments in [368] seiner geschichtlichen Bedingtheit mit den dafür unerläßlichen Mitteln geschichtlicher Forschung uns hörbar machen“.⁴⁶ Kümmel ordnete die Behandlung der 27 Schriften des Neuen Testaments nicht in den Ablauf der (zu rekonstruierenden) Geschichte des Urchristentums ein, lediglich die Paulusbriefe werden in einer diskutierbaren chronologischen Reihenfolge geboten (allerdings werden Lk und Apg nacheinander behandelt, und seit der 17. Auflage 1973 wird der Gal nicht mehr den Kor.-Briefen vorgeordnet, sondern kommt vor dem Röm zu stehen). Die Hochschätzung der „Einleitung“ insgesamt galt besonders auch der Behandlung der Geschichte des neutestamentlichen Kanons und der neutestamentlichen Textkritik, zwei Bereichen, die Kümmel in Forschung und Lehre vielfach bedachte. Regelmäßig hielt er über sie Spezialvorlesungen (mit einer eigenen vorzüglichen Lichtbildsammlung). Seine Veröffentlichungen zur Textkritik/Textforschung reichen bis in die dreißiger Jahre zurück.⁴⁷ Dieses durch A. Jülicher und Hans v. Soden stark angeregte und geför-

 P. Feine und J. Behm, Einleitung in das Neue Testament, 12., völlig neu bearbeitete Auflage von Werner Georg Kümmel, Heidelberg ¹²1963–¹⁶1969; W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament (ebd., ¹⁷1973–²¹1983); vgl. auch W. G. Kümmel, Introduction to the New Testament, founded by P. Feine and J. Behm completely re-edited by W. G. Kümmel, trans. A. Matthill, Jr., with the author, New Testament Library, London 1965; W. G. Kümmel, Introduction to the New Testament. Revised Edition, trans. H. C. Kee, Nashville 1975. Die wichtigste Besprechung (zur 14. Aufl. 1965) bietet J. Schmid, ThRev 62, 1965, 303 – 308.  Kümmel, L’exégèse (Anm. 43), 284.  W. G. Kümmel, „Einleitung in das Neue Testament“ als theologische Aufgabe (HuG I), 340 – 350, Zitat 350.  W. G. Kümmel, Textkritik und Textgeschichte des Neuen Testaments 1914– 1937, ThR, N.F. 10, 1938, 206 – 221.292– 327; ThR, N.F. 11, 1939, 84– 107; vgl. ders., Die älteste Form des Aposteldekrets (HuG I), 278 – 288, und zahlreiche einschlägige Rezensionen, etwa zu A. Jülicher, ThLZ 90, 1965, 40 f.; ThLZ 98, 1973, 754 f.

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derte Interesse bezog sich auch auf die Kanongeschichte, die durchgängig in der „Einleitung“ eine relevante Beachtung findet und in dem Aufsatz „Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons“ (1950) disziplinübergreifend von Belang wurde.⁴⁸ Das zweite weitverbreitete, wenn auch nicht in gleicher Weise als Lehrbuch konzipierte Werk ist „Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen. Jesus. Paulus. Johannes“ (1969; ⁵1987;⁴⁹ seit ⁴1980 mit sachlichen Änderungen S. 19.62 f.75.129.154.187 f.218 in der deutschen Ausgabe). Eine sehr klare, die methodischen Probleme einer „Theologie des Neuen Testaments“ auch dem Laien bewußt machende Einführung steht voran: „Die Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments kann … auf keinen Fall primär darin bestehen, die Auffassungen des Neuen Testaments [369] als etwas Ganzes zusammenfassend darzustellen“, sie „kann vielmehr nur darin bestehen, die einzelnen Schriften oder Schriftengruppen zunächst für sich zu Worte kommen zu lassen und erst dann nach der sich dabei zeigenden Einheit zu fragen oder auch eine nicht zu beseitigende Verschiedenheit festzustellen“ (17). Diese Frage zu lösen, ist nur „auf geschichtlichem Wege und damit aufgrund wissenschaftlicher Urteilsbildung“ möglich (17). Insgesamt: Die „Darstellung“ einer „Theologie des Neuen Testaments“ beruht auf dem „Resultat der Beschäftigung mit den verschiedenen Formen der neutestamentlichen Verkündigung“ (18). Obwohl das Werk den Titel „Die Theologie des Neuen Testaments“ trägt, setzt Kümmel das Wort „Theologie“ in seinen Ausführungen nur ganz begrenzt ein: Das „I. Kapitel“ behandelt die „Verkündigung Jesu nach den drei ersten Evangelien“, in dem Kümmel seine reiche Jesusforschung – besonders auch hier die Frage nach dem „Anspruch Jesu“ (52 ff.) – differenziert ausbreitet und zusammenfasst.⁵⁰ Das „II. Kapitel: Der Glaube

 W. G. Kümmel, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons (HuG I), 230 – 259. „Die Grenze des neutestamentlichen Kanons ist … geschlossen, sachlich aber immer von neuem zu bestimmen. Und darin hat der Kanon nur Anteil an der geschichtlichen Zufälligkeit und Ungesichertheit, aber ebenso an der einmaligen und unbedingten Bedeutsamkeit des rettenden Handelns Gottes in Christus“ (259; vgl. 249 ff.).  W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen. Jesus. Paulus. Johannes, GNT 3, Göttingen 1969, 51987; amerikanische Ausgabe: W. G. Kümmel, The Theology of the New Testament According to Its Major Witnesses. Jesus–Paul–John, trans. J. E. Steely, Nashville 1973.  Vgl. weiterführend W. G. Kümmel, Jesus der Menschensohn?, Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. XX/3, Wiesbaden 1984; O. Merk, Die synoptische Redenquelle im Werk von Werner Georg Kümmel – Eine Bestandsaufnahme, in: Von Jesus zum Christus. Christologische Studien. Festgabe für Paul Hoffmann, hg. v. R. Hoppe und U. Busse, BZNW 93, Berlin / New York 1998, 191– 200 (in diesem Band S. 260 – 270).

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der Urgemeinde präzisiert Kümmels Forschungen zum Urchristentum im palästinischen und hellenistischen Bereich und besonders zum „Kirchenbewußtsein“.⁵¹ Erst im „III. Kapitel“ – und allein in diesem ausdrücklich – wird von „Theologie“ gehandelt: „Die Theologie des Paulus“ entfaltet der Autor in Einzelheiten als das geschichtliche Handeln Gottes und ordnet darum das Christusgeschehen vor die anthropologischen Aussagen des Apostels (134 ff.153 ff.). Unter der Fragestellung „Paulus und Jesus“ gibt Kümmel einer ihn seit frühen Jahren beschäftigenden Thematik eine besondere Tiefenschärfe.⁵² Im „IV. Kapitel: [370] Die Christusbotschaft des vierten Evangeliums und der Johannesbriefe“ erörtert Kümmel zunächst die notwendige Klärung auch einleitungswissenschaftlicher Fragen, also die geschichtlichen Voraussetzungen dieser Schriftengruppe für eine Eruierung der „johanneischen Theologie“ (231), um dann die „Christusbotschaft“ in ihr zu entfalten.⁵³ Gegenwart und Zukunft des Heils im Johannesevangelium werden umfassend herausgearbeitet. Im „V.“ Kapitel „Schluß: Jesus – Paulus – Johannes: Die Mitte des Neuen Testaments“ bekräftigt Kümmel, daß bei diesen Zeugen die Basis des Neuen Testaments gegeben ist. „Die den Hauptzeugen der Theologie des Neuen Testaments gemeinsame Grundanschauung“ ist in Hebr 13,8 genannt: „Jesus Christus (ist) derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.“⁵⁴

 Vgl. auch Kümmel, Jesus und die Anfänge der Kirche (HuG I), 289 – 309; ders., Kirchenbegriff und Geschichtsbewußtsein (Anm. 9 und 32); ders. Urchristentum RGG³ VI, 1962, 1187– 1193; ders., Forschungsberichte zum Urchristentum, ThR, N.F. 14, 1942, 81 ff.155ff; ThR, N.F. 17, 1948/49, 3 ff.; ThR, N.F. 18, 1950, 1 ff.; ThR, N.F. 22, 1954, 138 ff.191 ff.; ThR, N.F. 48, 1983, 101 ff.; ThR, N.F. 50, 1985, 132 ff.327 ff.; ThR 51, 1986, 239 ff.; ThR 52, 1987, 111 ff.401 ff.; ders., Jesus und Paulus. Zu Joseph Klausners Darstellung des Urchristentums (HuG I), 169 – 191; O. Merk, Das Urchristentum im Werk von Werner Georg Kümmel. Ein Überblick, in: Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte. Festschrift für J. Becker zum 65. Geburtstag, hg. v. U. Mell und U. B. Müller, BZNW 100, Berlin 1999, 543 – 554.  W. G. Kümmel, Jesus und Paulus (HuG I), 81– 106; ders. Jesus und Paulus. Zu Joseph Klausners (Anm, 51); ders., Jesus und Paulus (HuG I), 439 – 456; ders. in verschiedenen Berichten über das Urchristentum (Anm. 51), W. G. Kümmels Nachträge in H. Lietzmann, An die Korinther I. II, HNT 9, Tübingen 41949, ⁵1969; ders., Πάρεσις und ἔνδειξις. Ein Beitrag zum Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre (HuG I), 260 – 270; ders., „Individualgeschichte“ und „Weltgeschichte“ in Gal 2,15 – 21 (HuG II), 130 – 142; ders., Heilsgeschichte im Neuen Testament? (HuG II), 157– 176 (bes. 172 ff.).  Seit den frühen Schweizer Jahren ist Kümmel die Abhandlung von E. Gaugler, Das Christuszeugnis des Johannesevangeliums, in: Jesus Christus im Zeugnis der Heiligen Schrift und der Kirche, Beiheft 2 zur „Evangelischen Theologie“, München 1936, 34– 67, für sein eigenes Johannes-Verständnis von hoher Bedeutung geblieben, wie er auch seinen Studenten immer wieder sagte.  W. G Kümmel, Das Problem der „Mitte des Neuen Testaments“ (HuG II), 62– 74 (bes. 72 ff.)

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Ist damit Kümmels Werk in wesentlichen Bereichen in seinem Sachgehalt nachgezeichnet und erfaßt, so bleibt des Gelehrten eigenes Votum stets im Blick, daß jede Forschung selbstverständlich nur den jeweils gegenwärtigen Kenntnisstand spiegelt, daß wir Grundanstöße vergangener Forschung aufgreifen und deren bleibende Fragestellungen bedenken müssen im eigenen Wissen des dauernden Weitergehens jeder wissenschaftlichen Arbeit. Seine ungemein reiche und vielfältige Rezensententätigkeit unterstreicht diesen Sachverhalt. Wichtig war ihm die gründliche Kenntnisnahme der Quellen, natürlich des Neuen Testaments und seiner Umwelt, aber auch der Zeugnisse der Forschungsgeschichte. Die Herausgabe (mit anderen) der „Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit“ (JSHRZ) hat er wesentlich angestoßen und noch sehr fördern können. Bis zu seinem Tode war der überwiegende Teil der von Mitarbeitern neu übersetzten und edierten Bände erschienen, die er vor der Drucklegung prüfte. Er plante, nach (allerdings rascher erwartetem) Abschluß der GesamtEdition einen auswertenden Band zu verfassen. Reiche Vorarbeiten dazu waren ihm ohnehin durch seine regelmäßige Vorlesung über diese Schriften gegeben. – Auch als Mitherausgeber der „Theologischen Rundschau“ und der Reihe „Marburger Theologische Studien“ hat er über Jahrzehnte gewirkt. [371] Die historisch-kritisch geschulte methodische Klarheit, die sein gesamtes Werk charakterisiert und seine zahlreichen Besprechungen bestimmt, machte ihn zu einem kritischen Mahner in seiner Fachwissenschaft. Und nicht nur darin ist er Vorbild geblieben.⁵⁵ Mit P. Benoit stellte er zukunftsweisend „die Gefahr vor Augen“, „die uns alle immer wieder bei unserer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Neuen Testament bedroht, daß wir nämlich über der Fülle des unvermeidlichen wissenschaftlichen Stoffes nicht mehr die Zeit und Ruhe finden, die Texte selber wirklich zu uns sprechen zu lassen“.⁵⁶

 Mit Recht hält Gräßer, Werner Georg Kümmel (Anm. 2), seinen Eindruck als Assistent, den spätere Mitarbeiter und Schüler nur bestätigen können, fest: Es „waren neben seinem stark ausgeprägten Pfichtbewußtsein und der Disziplin im wissenschaftlichen und im persölichen Bereich die große Bescheidenheit und Selbstlosigkeit, mit der er seine Aufgabe als Lehrer der akademischen Jugend wahrgenommen hat. In einer vielfältig verunsicherten Zeit ist er dabei der Sache des Neuen Testaments und sich selber immer treu geblieben“ (4).  W. G. Kümmel, Jesus und Paulus (HuG I), 439.

Momentaufnahmen aus dem „Archiv Theologische Fakultät“ I. Eigentlich sollte von einem anderen Geburtstägler die Rede sein, von dem in der hiesigen Theologischen Fakultät Altmeister des Faches Neues Testament, von Theodor Zahn, der heute am 10. Oktober seinen 175. Geburtstag hat. Doch da dieser Geburtstag in Kürze durch den Fachbereich Theologie in besonderer Weise begangen wird, will ich nur eines berichten: Im Februar 1984 kam ich nach der Vorlesung am mittleren Vormittag in mein Dienstzimmer. Es war dunkel, obwohl die Witterung dazu keinen Anlaß gab. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich dann etwa 40 Schachteln und Kisten, die man bei mir abgelagert hatte. Der Inhalt derselben entpuppte sich als Nachlaß Theodor Zahns, den dann freundlicherweise Herr Kollege Karlmann Beyschlag in das Archiv der Fakultät übernehmen konnte, da unser Hebräischlehrer, unser Kollege Prof. Hans Werner Hoffmann als Mitglied des Haushaltsausschusses der Universität zusammen mit anderen wohlwollenden Mitgliedern derselben und Unterstützung von Prof. Wolfgang Blomeyer die Mittel für entsprechende ArchivSchränke erwirkt hatte. So habe ich durch den Zahn-Nachlaß die erste Berührung mit dem „Archiv Theologische Fakultät“ gehabt, von dem ich heute einige Momentaufnahmen geben will. Dieses Archiv besteht aus mehreren Abteilungen: 1) den Akten der Theologischen Fakultät seit etwa 1760 bis 1970; 2) dem v. MeyerSchrank; 3) dem (Teil‐)Nachlaß von Theodor Zahn; 4) dem Nachlaß von Werner Elert; 5) dem Nachlaß des Religionspädagogen Otto Eberhard. Der gesamte Bestand war zunächst schwer zugänglich. Von den Archivalien einiger Lehrstühle wie Reformierte Theologie, Theologie und Geschichte des Christlichen Ostens und Institut für Kirchenmusik sehe ich hier ab. Die Fakultätsakten von rund 150 Jahren ordnete und registrierte erstmals der Kirchenhistoriker Hermann Jordan vor genau hundert Jahren 1913 nach den damals geltenden archivarischen Regeln. Er war auch der erste Betreuer des Bestandes bis zu seinem Tode. Ihm folgte von 1925 an der zunächst Kirchenhistoriker Werner Elert, er betreute das Archiv bis zu seinem Lebensende 1954. Seine Arbeit führte die Dekanatsverwalterin Frau Dr. Eleonore Goepel, die Witwe eines jung verstorbenen Kollegen aus der Medizinischen Fakultät, weiter. Sie war promovierte Juristin mit

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außerordentlichem Interesse an der Fakultäts- und Universitätsgeschichte. Längst schon im Ruhestand hat sie noch als über 85-jährige im Archiv gewirkt, dessen offizieller Betreuer von 1975 bis 1988 der Kirchenhistoriker Beyschlag war. Frau Dr. Goepel hat – noch auf Bitte von W. Elert – den v. Meyer-Schrank 1954 registriert.¹ Seit 1988 hat Herr Kollege Niels-Peter Moritzen das Archiv verwaltet, mit größter Umsicht die Bestände geprüft und manche äußeren Schäden an Papphüllen/ Einbänden eigenhändig repariert und bis weit in seinen Ruhestand hinein, bis 1998, die Dokumente in Gedenken an seinen Doktorvater Elert treulich verwaltet. In seine Zeit fiel die Übernahme des Elert-Nachlasses, vermittelt durch Prof. Slenczka, und die mühevolle Registrierung eines an sich von Elert überwiegend geordneten Bestandes. Der sehr umfangreiche Nachlaß von Otto Eberhard kam etwa 2005 aus dem Institut für Praktische Theologie hinzu. Er hat eine fast abenteuerliche Vorgeschichte, denn die Bestände wurden unter schwierigsten Umständen 1955/56 aus der damaligen DDR nach Erlangen zu Prof. Kurt Frör gebracht, speziell bestimmt für das Institut der Praktischen Theologie. Der Besitzer wollte seine fast lückenlose Sammlung pädagogischer und religionspädagogischer Materialien aus der Zeit der Weimarer Republik und den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gerettet wissen. In einer umfangreichen Kieler Dissertation wurden wichtige Teile dieses Nachlasses aufgearbeitet.² In den letzten 30 Jahren wurde das „Archiv Theologische Fakultät“ mit vielen Anfragen und auch Besuchen aus dem In- und Ausland bedacht. Zahlreiche Monographien und Aufsätze sind aus seinen Beständen zumindest mit erwachsen. Prof. Moritzen hat dies ebenso erlebt wie ich selbst als sein Nachfolger im Archiv seit 1998. Aus diesen Beständen möchte ich Ihnen einige Ausschnitte – Momentaufnahmen – vorführen: Zu Anfang des 20. Jahrhunderts mehrten sich Anfragen zum Nachlaß eines Johann Friedrich v. Meyer. Anlaß war die sich verstärkende Goetheforschung im Kaiserreich und die Gründung der nationalen Stätten in Weimar. Man gewährte einem hochrangigen Offizier Hellwig in Straßburg den Zugang. Nachdem die einschlägigen Belege im Fakultäts-Archiv gefunden sind,³ läßt sich jetzt auch rekonstruieren,wie und wann der Nachlaß eines Nicht-Theologen in den Besitz der

 Das Verzeichnis umfaßt 62 Seiten, maschinenschriftlich eng geschrieben und ist so bezeichnet: „v. Meyer-Schrank. ‚Im Auftrag von Professor D. Dr. Elert wurde dieser Schrank 1954 durch den Studenten O. Lillge und Frau Dr. Göpel [sic!] aufgenommen und genauestens registriert‘“.  K. K. Kronhagel, Religionsunterricht und Reformpädagogik. Otto Eberhards Beitrag zur Religionspädagogik in der Weimarer Republik, Jugend-Religion-Unterricht. Beiträge zu einer dialogischen Religionspädagogik Bd. 10, Münster / New York / München / Berlin 2004.  Akten Theol. Fak. Abt. B XIII, 7.10.

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Theologischen Fakultät kam. Man wußte bis vor wenigen Jahrzehnten nur, diesem Herrn v. Meyer sei Freundliches durch die Erlanger Theologische Fakultät widerfahren und dies sei der Grund dafür, daß ein späterer Verwandter diesen Nachlaß aus seiner Familie der Fakultät vermacht habe. Es war mit größter Wahrscheinlichkeit der genannte Offizier Hellwig, der Ende des 19. Jahrhunderts den Nachlaß v. Meyer der Fakultät übergab. Dieser Offizier war es, der von Goetheforschern um Auskunft angegangen wurde. Denn diesen war bekannt, daß der Johann Friedrich v. Meyer-Nachlaß es mit dem Umfeld von Goethe zu tun hatte, speziell auch mit Materialien zum Faustdrama des großen Weimarers. Im Ergebnis: Es gab einen großen weißen Schrank in der Fakultät, in dem offenbar die Schwarze Kunst des Dr. Faustus verwahrt wurde. Genaues aber, weil nicht nachgeprüft, wußte man nicht. Der Schlüssel zu diesem geheimnisvollen Schrank wurde dem jeweiligen Dekan für seine Amtszeit ausgehändigt. Und als es in einer Anfrage aus dem Jahre 1905 auch noch hieß, von Meyer sei doch Ehrendoktor der Theologischen Fakultät, schrieb Th. Zahn an den Rand, er habe keinen Nachweis dafür finden können, auch sei es unwahrscheinlich, daß dieser Mann einen theol. Ehrendoktor habe.⁴ Die Fakultäts-Akten waren zu dieser Zeit noch nicht geordnet. Wer war dieser Johann Friedrich v. Meyer? Um den Nachlaß zu verstehen, ist kurz der biographische Hintergrund anzuführen.⁵ Johann Friedrich v. Meyer, geb. 12.9.1772 in Frankfurt/M., war Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns (der selbst – soweit erkennbar – aus Bankierskreisen stammte). Er wollte sich der Altphilologie zuwenden, studierte aber auf Wunsch des Vaters und mit dessen Einwilligung von 1789 an in Göttingen Jura (im Gegensatz zu Goethes Vater, der seinen Sohn nicht in Göttingen studieren ließ). Georg Lichtenberg, dessen Vorlesungen über Physik v. Meyer hörte, trieb den jungen Studenten dringend zu allgemeiner, die Jurisprudenz übergreifender Bildung und Betätigung an. Er studierte eingehend auch bei dem Göttinger Altphilologen C. G. Heyne und schloß sein Studium als Dr. jur. mit einer Dissertation zur antiken Rechtsgeschichte ab.⁶  Akte wie Anm. 3: Brief von Major Hellwig vom 2.12.1905; Th. Zahn schrieb an den Rand dieses Briefes, er habe nichts Urkundliches zu einer Ehrenpromotion von J. Fr. v. Meyer auffinden können.  Vgl. dazu: J. Fabry, Le théosophe de Francfort Johann Friedrich von Meyer (1772– 1849) et l’ésotérisme en Allemagne au XIX e siècle, Publications Universitaire Européennes, Série 1, Bd. 1123, Bd. I.II, Berne / Francfort-s. Main / New York / Paris 1989; dort Bd. I, 397 f. Anm. 1– 7 weitere biographische Arbeiten über v. Meyer; zum Folgenden vgl. bes. Bd. I, Kap. 1– 10, S. 1– 396.  J. F. v. Meyer. Commentatio de eo, quod interest inter tutelam et curam aetatis, Göttingen (Verlag Dietrich) 1797 (71 Seiten).

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1793 ging v. Meyer kurz nach Leipzig, 1795 als Praktikant an das Reichskammergericht in Wetzlar. In dieser Stadt fand er im Gegensatz zu Goethe seine zukünftige Frau und heiratete – aus höheren Adelskreisen stammend – Franziska von Zwackh-Hohenhausen. Schon in Göttingen schloß er mit dem ihm wesensverwandten, aber sehr viel älteren Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) enge Freundschaft.⁷ Mit seinen eigenen literarischen Arbeiten fühlt sich v. Meyer in der Nachfolge Goethes. Er hätte wohl aus Privatvermögen als Schriftsteller/Dichter leben können. Er schickte seine Werke an Goethe und andere und erfuhr für seine literarischen Arbeiten⁸ manchen freundlichen, ja teilweise begeisterten Zuspruch, von Wieland, Jean Paul, Königin Luise von Preußen u. a., auch von Goethe – aber dieser machte ihm gleichzeitig klar, daß er literarisch die Grenze zum Überragenden nicht überschreite (Briefwechsel Goethe – v. Meyer).⁹ Nach Jahren als Intendant des Frankfurter Schauspielhauses (1803 – 1806), worüber Frau Rat Goethe ihrem Sohn sehr positiv berichtet und anzeigte, mit wie viel Geschmack er dessen Schauspiele inszeniere,¹⁰ bewirbt sich v. Meyer um eine Anstellung als Jurist. Er machte sich selbst rational klar, daß er sich mit dem bedeutenden Sohn der freien Reichsstadt Frankfurt nicht messen könne. Er bewarb sich für höhere Posten in Preußen, beim Herzog von Weimar und anderswo, doch ohne Erfolg. Schließlich vermittelte ihm der angesehene Jurist Wolfgang H. Frh. v. Dalberg, der längere Zeit Direktor des Mannheimer Theaters war, eine gehobenere Stelle beim Senat – dem Rat der Stadt Frankfurt –, freilich entgegen dem Willen der städtischen und sonstigen ansäßigen Juristen. Grund: v. Meyer gehe zu vielen außerjuristischen Interessen nach. Doch diese anderen Interessen hinderten ihn nicht, seinen juristischen Aufgaben vorzüglich nachzukommen und in seiner Karriere zu höheren Stadtämtern zu gelangen (seit 1824 mehrfach Zweiter oder Erster Bürgermeister in Frankfurt und über Jahre Präsident der dortigen „Gesetzgebenden Versammlung“). Doch seine wirklichen Neigungen lagen tatsächlich woanders.¹¹ Das literarische Werk blieb weiter im Blick und in neuer Weise Goethe sein großes Vorbild. Er sucht, was „die Welt im Innersten zusammenhält“, er sucht in religiösen Schriften des Rätsels Lösung und erforscht die Rätsel des Seins und des Kosmos. In Johann Friedrich v. Meyer steckt ein Faust. Er weiß sich selbst als Magier und wird auch von seiner Umwelt so gesehen. Mit Hilfe der „Kabbala“, mit Alchemie, schließlich mit einem Netzwerk mythischer und mystischer und jenseits

 Vgl. H. J. Schelle, Der junge Johann Friedrich von Meyer im Briefwechsel mit Wieland, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Bd. 15, 1971, 36 – 207.  Auf eine Auflistung seiner literarischen Beiträge wird hier verzichtet.  Vgl. auch J. Fabry (s. Anm. 5), Bd. I, 71 ff., 434 Anm. 331; 435 Anm. 337.  Quellennachweise bei J. Fabry (s. Anm. 5), Bd. I, 451 Anm. 474.475.  Viele Einzelheiten darstellend und zusammenfassend bei J. Fabry (s. Anm. 5), Bd. II.

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der christlichen Überlieferung liegender Überlegungen, mit Theosophie und pantheistischen Systemen und Gedanken der Esoterik sucht er das Welträtsel zu lösen. Er kommt dabei mit zahlreichen ähnlich suchenden Menschen schriftlich und persönlich in Berührung. Das geistesgeschichtliche, para-religiöse und parachristliche Denken der Goethezeit spiegelt sich bei ihm in seinen Werken und in seinem umfangreichen Briefwechsel. Und doch findet er immer wieder zum Offenbarungsglauben des Christentums und der Bibel. Er erlernt Hebräisch im Selbststudium, er übersetzt die Bibel in Revision der Lutherbibel und schreibt im Geiste der religiösen Erweckung bedeutende Auslegungen zu einzelnen biblischen Abschnitten. Die Schöpfungsgeschichten der Bibel und Fragen von Schöpfung und Natur in einzelnen biblischen Schriften Alten wie Neuen Testaments beschäftigen ihn besonders. Er schuf – soweit erkennbar – den Begriff der „Uroffenbarung“,¹² um Gottes schöpferisches Handeln biblisch zu verdeutlichen. Diesem so vielseitigen Zeitgenossen verlieh auf Anregung der Philosophischen Fakultät der Erlanger Universität die hiesige Theologische Fakultät 1821 den Ehrendoktor. Das damals noch vom Altdorfer Geist und der Spätaufklärung erfaßte Kollegium äußerte sich in begeisterten Voten über v. Meyer, wohl wissend, daß es ganz ungewöhnlich war, einem Nichttheologen – und dann noch einem so weitgespannten Geist – die theologische Doktorwürde zu verleihen.¹³ Die mit v. Meyer in Verbindung stehenden Persönlichkeiten reichen von Petersburg, Riga bis Frankreich, von England bis Nord- und Süddeutschland, bis in die Schweiz und Italien. Dies ermöglichte ihm auch den Zugang zu zahlreichen Zeitschriften und Verlagen. So vermittelte ihm der Mythenerforscher und Altphilologe aus dem Kreis der Romantiker, Friedrich Creuzer in Heidelberg, in den „Heidelberger Jahrbüchern“ vielfach Werke Goethes zu rezensieren. Er tat es – besonders „Dichtung und Wahrheit“ – unter dem Gesichtspunkt ‚Goethe und die Religion‘ und deutete damit eine bisher nicht erörterte Seite von Goethes Gedankenwelt. Dieser rastlos tätige Mann starb am 28. Januar 1849 – 13 Stunden nach seiner Frau – hochverehrt von Institutionen und der Bevölkerung seiner Vaterstadt. Der lebenslang Goethe Verehrende mußte es nicht mehr erleben, daß wenige Wochen nach seinem Ableben der Rat der freien Reichsstadt Frankfurt das Ge-

 Vgl. auch J. Fabry (s. Anm. 5), Bd. I, 213 und passim die Briefe von G. Ph. Chr. Kaiser (v. Meyer-Nachlaß, Nr. 31 A, Faszikel b); s. auch v. Meyer-Nachlaß Nr. 19, Fasz. Bh „Bündel mit der Aufschrift ‚Von der Schöpfung‘; Inhalt handschriftlicher Aufsatz über dieses Thema“.  Fak. Akten, Abt. IV, Fasc. 1, Nr. 16; dazu J. Fabry, (s. Anm. 5), 211– 230 passim; 508 Anm. 973 ist der vollständige Text des Ehrendoktordiploms abgedruckt.

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denken an den 100. Geburtstag Goethes nicht beging, um sich mit diesem Sohn der Stadt keine Blamage einzuholen. Nun zum Nachlaß selbst: Der Nachlaß v. Meyer ist sehr viel umfangreicher als der Teil in Erlangen. Im hiesigen Bestand befinden sich die geistesgeschichtlichreligiösen und der Erweckung zugehörenden Stücke einschließlich all dessen, was Esoterik, Theosophie, Naturphilosophie, jüdische Kabbala ausmacht. Die literaturgeschichtlichen und literaturwissenschaftlich bedeutsamen Teile befinden sich in einschlägigen Archiven:¹⁴ so der Briefwechsel mit Goethe im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar, Einzelstücke auch im freien Deutschen Hochstift in Frankfurt – vielleicht auch als Rarität manches wertvolle Dokument bei der Familie v. Meyer. Ebenso fehlen im hiesigen Bestand der Briefwechsel mit Jean Paul und die Dokumentation der Freundschaft mit Christoph Martin Wieland.¹⁵ Die Übersetzung der Bibel (Altes Testament und Apokryphen) und v. Meyers entsprechenden Anmerkungen verwahrt die Stadt- und Universitätsbibliothek in Frankfurt. Im hiesigen Nachlaß¹⁶ befinden sich seine Werke und Untersuchungen zur jüdischen Kabbala, seine Herausgeberschaften wie seine Erkenntnisse zur Geheimwissenschaft, zur Magie und Hermetik etc. Dies alles ist reichlich dokumentiert sowie seine Aufzeichnungen zur Paläontologie und Geologie, zum Magnetismus und zur Astronomie (und Grenzgebiete). Die Motivik von Faust I.II ist weithin nachweisbar. Daß sich Goethe so manche Auskunft bei v. Meyer holte, leuchtet unmittelbar ein. Große Bedeutung haben die Aufzeichnungen spiritistisch-theosophischen Inhalts, ebenso die Abteilung „Theologica; biblica; ‚exegetica‘“, bereichert durch eine wichtige Sammlung zur Mythenerforschung (Stand 1810 ff.). Historisch aufschlußreich sind die „Sitzungsberichte der deutschen Bundesversammlung“ (1848) in Frankfurt und die „Sitzungsberichte der ständigen Bürger-Repräsentation“ in Frankfurt. Den breitesten Teil nehmen die an v. Meyer gerichteten Briefe verschiedenster Persönlichkeiten¹⁷ ein, die das große genannte Netzwerk spiegeln; entsprechend weit sind v. Meyers Antworten an die Briefschreiber gestreut. So befinden sich z. B. 146 Briefe v. Meyers an Justinus Kerner im Marbacher Literatur-Archiv, im hiesigen Nachlaß 167 Briefe Kerners (aus Weinsberg). Sehr umfangreich ist die Briefsammlung Jung-Stilling (85 Briefe), hinzu kommen solche vom Vater und vom Sohn Jung-Stilling und Briefe Jung-Stillings an Friedrich Rudolf Saltzmann

 Wichtige Teilauflistung bei J. Fabry (s. Anm. 5), Bd. I, S. V–VII.  Vgl. oben Anm. 7.  Die übersichtliche Auflistung der Einzelstücke im oben Anm. 1 genannten Verzeichnis erübrigt hier eine differenzierte Kennzeichnung.  v. Meyer-Nachlaß, Standort Nr. 24.31 A, Fasz. a)–t). 31B, bes. b); d); f). 34.

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(Straßburg), einem Journalisten und freimaurerischen Publizisten (20 Stück). Zu Jung-Stilling hatte v. Meyer ein besonderes Freundschaftsverhältnis, und jener veranlaßte ihn u. a. zu vielfachen religiösen Schriften. Dies wiederum schloß zahlreiche Briefe von ähnlich gesinnten Persönlichkeiten ein, darunter nicht wenige aus der religiösen Erweckung, z. B. von Blumhard in Basel, Krumacher in Elberfeld, Pfr. Oberlin aus dem Elsaß, Recke-Vollmarstein (13 Briefe), dem Theologen F. H. Ranke (dem Verfasser von „Tochter Zion, freue Dich“). Letzterer war für kurze Zeit Professor der Systematischen Theologie in Erlangen. Die Briefe Savignys¹⁸ an v. Meyer zeigen nicht nur dessen frühe Berührung mit Clemens v. Brentano, sondern auch den Beginn der durch Savigny begründeten historischen Rechtsschule im 19. Jahrhundert, ausgewiesen durch „Johann Friedrich von Meyers gekrönte Preisschrift von dem Unterscheiden zwischen Tutel und Curatel. Unmündige und Minderjährige nach Römischem und Deutschem Recht“ (Frankfurt/M. [Verlag Können] 1803 [144 Seiten, teilweise erweiterte Dissertation]). Überhaupt spielt für v. Meyer die Romantik in ihren Auswirkungen eine wichtige Rolle, die u. a. in Freundschaft und Briefwechsel mit Friedrich Creuzer in Heidelberg im Bedenken des Verhältnisses von Mythos und Mystik beide bewegt (8 Briefe).¹⁹ Für die Breitenwirkung v. Meyers kann ich nur einige Briefverfasser nennen: Franz v. Baader (12 Briefe), die Philosophen Feuerbach und Fichte, die Theologen Hengstenberg und Tholuck (8 Briefe), den Arzt Hufeland, den Ökonomen Albert Knapp, Menken, die Verleger Nicolai in Berlin, Reclam und Brockhaus in Leipzig, Runge in Hamburg (nicht ganz geklärt, ob der Brief wirklich von Ph. O. Runge, dem Künstler, stammt). Nicht gering ist die Zahl der Briefe aus Erlangen,²⁰ besonders aus der Philosophischen Fakultät: von dem Philosophen Heller, dem Orientalisten Kanne (direkter Vorgänger F. Rückerts), dem Rektor am Gymnasium und Prof. Döderlein, dem Naturforscher und Naturphilosophen G. H. Schubert (20 Briefe). Unter den Theologen G. Ph. Chr. Kaiser,²¹ dem Promotor v. Meyers als derzeitigem Dekan (mit dem sich v. Meyer sehr anfreundete), nicht zuletzt durch gemeinsame Interessen; mit dem Theologen Joh. Chr. Ludwig Krafft. Von Meyer war öfter in Nürnberg und auch gelegentlich in Erlangen. Sein älterer Sohn hatte die jüngste Tochter aus dem Hause von Tucher geheiratet, deren älteste Schwester die Frau des Nürnberger Schuldirektors und Philosophen Hegel war. Freundschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen führten zu man   

v. v. v. v.

Meyer-Nachlaß, Meyer-Nachlaß, Meyer-Nachlaß, Meyer-Nachlaß,

Standort Standort Standort Standort

Nr. Nr. Nr. Nr.

34. 24, Fasz. 8. 31 A, Fasz. b); c); f); 31B, Fasz.B. 31 A, Fasz.B.

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chem Besuch auch bei Familie Hegel (doch um Hegels Philosophie machte er auch bei späteren Besuchen an anderen Orten stets einen Bogen). Einen nicht unerheblichen Teil im Nachlaß nehmen Dokumente zur „Loge der Einheit“ in Frankfurt von 1742 bis 1892 ein (nach v. Meyers Tod ergänzt und wohl eine vollständige Dokumentation).²² Zahlreich sind Briefe von Freimaurern an v. Meyer, so z. B.von Saltzmann in Straßburg (39 Briefe),von Herbort in Bern,von van Ess in Marburg, aus denen sich auch mentalitätsgeschichtlich etwa für Straßburg, Bern, Marburg im zweite und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wichtige Aspekte ergeben. Carl v. Hessen in Gottorf und auch der dänische König trugen v. Meyer eine Ehrenmitgliedschaft in der Loge an, aber v. Meyer war kein Logenmitglied,²³ wie er mehrfach betonte, weil ihm eine solche mit dem christlichen Offenbarungsglauben nicht vereinbar war. Damit ist zu einem letzten Bereich übergeleitet: Auffällig zahlreich sind im Nachlaß Briefe von Persönlichkeiten damaliger Herrscherhäuser:²⁴ von Königin Luise von Preußen, dem König von Dänemark, den regierenden Häusern von Hessen-Darmstadt und Kurhessen, dazu Einladungen v. Meyers zu Essen bei Hofe. Überblickt man den Gesamtbestand des tausende von Seiten umfassenden Erlanger Nachlasses von Johann Friedrich v. Meyer, so kann er als einer der vielseitigsten und sicher auch als einer der bedeutendsten Einzelnachlässe in der Friedrich-Alexander-Universität bezeichnet werden.

II. Wenden wir uns nun einigen Bereichen des eigentlichen Fakultätsarchivs zu. 1) Der Bestand von 1760 an hat bis etwa 1820²⁵ ein herausragendes Thema: die Besetzung der Professuren im Verhältnis zu den Erlanger Stadtpfarrämtern. Vom Beginn der Universität an wurden theologische Professuren mit Pfarrern der Altwie Neustädter Kirche besetzt, gelegentlich auch mit dem Pfarrer aus Bruck. Das war für die Markgrafen finanziell sehr günstig: Die Pfarrer wurden von der Kirche bezahlt, anfallende Kolleggelder und Prüfungsgebühren von den Studenten. Nur eine der in der Regel drei (gelegentlich vier) Professuren war vom „Staat“ zu bestreiten. Das führte auf Dauer zu erheblichen Auseinandersetzungen zwischen

 v. Meyer-Nachlaß, Standort Nr. 11.12.27, Fasz. c), d).  Vgl. dazu auch J. Fabry (s. Anm. 5), Bd. I, 259 ff. u. 551 Anm. 1289: Brief v. Meyers an Baron Hans Ernst v. Kottwitz vom 6.7.1825: „Ich war nie aufgenommenes Logenmitglied.“  v. Meyer-Nachlaß, Standort Nr. 24, Fasz. a. (u. ö.).  Fak. Akten, Abt. A, I–XXI, bes. A I a, Fasz. 1– 20.

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Kirche und Markgrafschaft, weil jede Seite der anderen die Kosten für die Gehälter aufbürden wollte. Auch konnten die Gehälter für die Betroffenen nicht durch Naturalien (Weizen oder Holz) gebessert oder gesichert werden. Besonders zwischen 1790 und 1820 entstanden wirkliche Notlagen in den Pfarrer-ProfessorenFamilien. 2) Ein weiterer Streit entstand zwischen Kirche und Theologischer Fakultät über die Ausbildung der Theologiestudenten. Die Doppelfunktion Professur-Pfarramt führte dazu, daß die pfarramtliche Seite von etwa 1790 an immer stärker einen praktisch-theologischen Bezug in die Ausbildung einbrachte und so eine übergeordnet praxisbezogene Ausrichtung des Studiums gegenüber den theoretischen Fächern erfolgte. Homiletik und Katechetik in der gemeindlichen Erprobung behielten bis etwa 1820 die Oberhand. Das aber führte durch die vermehrte Herauslösung der Professuren aus den Erlanger Pfarrämtern zu zwischen Staat und Kirche festgelegten Lehrplänen mit alleinigem Prüfungsrecht der Kandidaten in Ansbach und der sich daran anschließenden Vikariatsausbildung durch die Landeskirche. Ob die von dem nachmaligen Philosophen Hegel für die Landeskirche ausgearbeitete Ansbacher Prüfungsordnung tatsächlich Professoren als Prüfer ausschloß, bleibt interpretationsbedürftig. Jedenfalls nahm die Landeskirche damals keine Prüfer aus der Erlanger Theologischen Fakultät. 3) Aus der genannten praktisch-theologischen Ausrichtung der Fakultät ergab sich ein gesteigertes Interesse der Pfarrer-Professoren an liturgischer Gestaltung der Gottesdienste, an Entwürfen von Agenden. So entstand etwa – was mit der Theologischen Fakultät eigentlich nichts zu tun hatte –jene Gottesdienstordnung von 1780, wonach in der Altstädter Gemeinde zwischen Hauptgottesdienst und Abendmahlsfeier ein möglichst 12 bis 15 Strophen umfassendes Lied gesungen werden sollte, damit die Hausfrauen währenddessen die Klöße aufsetzen und zum Abendmahl wieder in die Kirche zurückkehren konnten. 4) Als Bayern 1810 die Markgrafenschaften Bayreuth und Ansbach, also die preußischen Gebiete Frankens in sein Königreich eingliederte (ja mußte), hat die Notwendigkeit einer Evangelisch-theologischen Fakultät im Lande sicher die Universität als solche gerettet – und das geschah in den Folgejahren noch mehrfach. Doch Bayern mußte zugleich die immensen Schulden aus diesem preußischen Land mitübernehmen, so daß die übernommene Universität finanziell äußerst knapp gehalten wurde. Gehälter wurden oft über Monate nicht bezahlt. Die Theologische Fakultät war aktenkundig für lange Zeit die ärmste, aber das war sie schon seit 1800. Als sie 1807/08 nur noch – durch Todesfälle bedingt – aus einem Professor bestand, war auch personell der Tiefststand erreicht.

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5) Zunächst von der Theologischen Fakultät nicht sonderlich beachtet waren die sich bildenden Studentenverbindungen in Erlangen. Diese konnten sich auch dadurch gut entfalten, weil amtlich verordnet nach 17 Uhr jeglicher akademischer Unterricht entfiel. Doch spitzte sich die Lage durch einen besonderen Fall zu, der die Bayerische Regierung zu harten Erlassen 1819 und in den Folgejahren veranlaßte.²⁶ Ein gewisser Carl Ludwig Sand aus Wunsiedel war 1816 für kurze Zeit in Erlangen als stud. theol. eingeschrieben und erwies sich sehr bald als Wirrkopf. Er erkor den Burgberg für einen neuen Rütlischwur und verschwor sich dort mit etlichen Studenten zu einer vereinigten Studentenschaft. Dann verschwand er nach Jena, wurde mächtiger Schreihals hinsichtlich des Wartburgfestes 1817 (angetrieben und radikalisiert durch einen juristischen Dozenten in Jena). Dieser Unglücksmensch, der im März 1819 A. v. Kotzebue in Mannheim ermordete, hatte sich – wohl aus Examensgründen – drei Monate zuvor, im Dezember 1818, erneut als stud. theol. in der hiesigen Theologischen Fakultät einschreiben lassen. Die Wirkung war verheerend. Von allen Seiten wurde die Universität Erlangen geradezu verunglimpft, weil sie solche Typen hier studieren lasse. Doch konnte die Fakultät die Abwehr der Vorwürfe dem Universitätssenat überlassen, und ebenso wurde eindeutig nachgewiesen, daß der Mörder eigentlich Jenaer Student gewesen sei. Die hiesige Theologische Fakultät spürte die Erlasse aus München hart: Jeder Student der Fakultät mußte erklären, keiner Studentenverbindung zuzugehören. Die Studenten verweigerten größtenteils die Unterschriften. Umfassende Listen der Verweigerer mußten angefertigt werden, sie füllen viele Seiten im Archiv. Natürlich gab es weiterhin geheime Studentenvereinigungen. Zu diesen gehörte ein stud. theol. Carl Hase, der den Auszug der Erlanger Studenten nach Altdorf (1822) mitorganisierte und der dann bestimmt wurde, die Bedingungen der Studenten an die Stadt und den Universitätssenat für die Rückkehr der Studentenschaft nach Erlangen zu überbringen und zu verlesen. Wegen seiner Zugehörigkeit zu einer studentischen Landsmannschaft wurde er mit dem „Consilium abeundi“ von der Universität verwiesen und erhielt Karzerhaft. Er konnte über die Landesgrenze entfliehen.²⁷ Es handelt sich um den später berühmt gewordenen Jenaer Kirchenhistoriker Carl von Hase. Sein Urenkel ist Dietrich Bonhoeffer.

 Fak. Akten, Abt. A XVII, Fasz. 60.61. A XVI, Fasz. 1– 73. Zu Hintergrund und Einzelheiten vgl. Th. Kolde, Die Universität Erlangen unter dem Hause Wittelsbach 1810 – 1910. Festschrift zur Jahrhundertfeier der Verbindung der Friderico-Alexandrina mit der Krone Bayern im Auftrag des akademischen Senats verfaßt von Theodor Kolde, Erlangen/Leipzig 1910 (Nachdruck Erlangen 1991), 164– 216, bes. 186 ff.233 ff.245 ff.  Zu vielen Einzelheiten vgl. K. Hase, Ideale und Irrthümer. Jugend-Erinnerungen, Leipzig 2 1873, bes. 173 f. 175 ff. u. ö.

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6) Eine wichtige Aufgabe, und das bestätigen schon frühe Akten der Fakultät, ist ihre Gutachtertätigkeit. Die Fakultät hatte vielfach zu theologischen Fragen Stellung zu nehmen. Besonders Gutachten zur kirchlichen Eheschließung Geschiedener (1840 ff.) können exegetisch und theologisch noch heute als vorbildlich gelten (weitere Gutachten zur Eheschließung bereits 1800; 1804; 1817).²⁸ Auch Gutachten zur Landwirtschaft, über einzelne Persönlichkeiten und 1838 über die geplante Einrichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät in Erlangen²⁹ finden sich. 7) Mit großer Sorgfalt wurden die rite vollzogenen Promotionen betreut. Es sind alle Promotionsverfahren in einzelnen Ordnern aufbewahrt.³⁰ Einen Doktorgrad zu erwerben, war für Promovierende sehr teuer,³¹ für Professoren eine gute Zusatzeinnahme zum schmalen Gehalt. Schwieriger war die jeweilige Entscheidung bei Ehrenpromotionen. Nicht alle waren so eindeutig und mit voller Zustimmung wie die für Johann Friedrich v. Meyer. Schwer tat sich die Fakultät z. B. mit der ihr nahezu aufgenötigten von Paul Bötticher alias Paul de Lagarde (1851).³² Der Fakultät wichtigstes Verdienst in Sachen Promotion aber war für die ganze Universität, die Promotion in absentia abzuschaffen (1876/77).³³ Allerdings war dies verstärkt ein Problem der Philosophischen Fakultät, die auch bekannte Persönlichkeiten wie den Dichter und Schriftsteller Friedrich Hebbel auf diese Weise promovierte. 8) Von besonderem Belang waren die Preisarbeiten. Das Ministerium setzte in jedem Semester für eingereichte Arbeiten größeren Umfangs (= Seminararbeiten) eine beachtliche Summe aus, die an die Verfasser der mit Erfolg bewerteten Arbeiten nach bestimmten Richtsätzen als Preise ging. Ein eventuell verbleibender Restbetrag mußte satzungsgemäß für Bibliotheksanschaffungen verwendet werden. Eine Durchsicht dieser Arbeiten ist aufschlußreich, denn die Themen in ihrer Abfolge spiegeln zugleich die theologiegeschichtlich gesehen relevanten Fragestellungen durch die Zeiten (z. B. 1905 im Umfeld der Diskussion über die

 Fak. Akten, Abt. A XIV a (Fasz. 1– 11); A XIV c, Fasz. 11.  Fak. Akten, Abt. XIV c, Fasz. 36.  Z. B. Fak. Akten, Abt. B IV, Fasz. 47.48; Fak. Akten, Abt. A IV, Fasz. I; ebd. Abt. IV, Fasz. II; ebd., Abt. A XX, Fasz. 1– 6; Abt. B IV, Fasz. 1– 26.  Fak. Akten, Abt. C XXII, Fasz. 1.2.  Fak. Akten, Abt. A XII, Fasz. 36.  Fak. Akten, Abt. C XII, Fasz. 1.2; zur Problematik solcher Dissertationen vgl. auch A. Wendehorst, Geschichte der Universität Erlangen-Nürnberg 1743 – 1993, München 1993, 100 f.

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Eschatologie: „Die Bedeutung der eschatologischen Erwartung für die Frömmigkeit des ältesten Christentums bis Irenäus“).³⁴ 9) In vielen Akten geht es um die Einrichtung von Instituten. Die Nase vorn hatte die Praktische Theologie, die seit Mitte der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts fortlaufend verbessert ein homiletisches und ein katechetisches Seminar eroberte und auch eine eigene staatliche Universitätspfarrstelle und seit 1854 ein Institut für Kirchenmusik. Langwieriger war es bei den theoretischen Fächern der Theologie. Grundsätzlich wurde ihnen seit etwa 1830 das Recht auf eigene Seminare zugestanden (Vorkämpfer Benedict Winer), aber es gab erst allmählich wirklich die einzelne Disziplinen betreuenden Professoren. Seit etwa 1870 war die Kennzeichnung der einzelnen Lehrstühle nach Fachdisziplinen eindeutig, und seit etwa 1875 gab es dann zu den schon bestehenden der Praktischen Theologie die Seminare für Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, deren Institutsleiter jeweils 100 Goldmark zusätzlich zum Jahresgehalt erhielten.³⁵ 10) Bei Berufungen wandte die Fakultät zumeist folgendes Verfahren an: Bei ihr geeignet erscheinenden Persönlichkeiten fragte sie zunächst an, ob sie einem Ruf nach Erlangen folgen würden. Nicht wenige Briefe handeln davon. 1832 hätte man gerne als Nachfolger Benedict Winers Friedrich Lücke in Göttingen oder – vielleicht noch lieber wegen der Weite seiner Interessen – Carl Lachmann in Berlin gewonnen. Beide sagten ab: der Göttinger, weil er sich mit Haus und Garten, in Universität und Stadt dort wohl fühlte; Carl Lachmann aber, weil er als Editor und textkritischer Bearbeiter von Handschriften des Mittelalters und des Neuen Testaments sich rein theologischen Fragestellungen zu wenig gewidmet habe.³⁶ Nicht selten griff man auf in der eigenen Fakultät Promovierte und eventuell Habilitierte zurück, wobei die Kosten der Übersiedlung eine wichtige Rolle spielten. Besonders bei der Berufung von Theodosius Harnack aus Dorpat (1852) sollte der Umzug allein ein Jahresgehalt übersteigen. Man einigte sich darauf, daß Harnack zuvor seine Privatbibliothek in Dorpat verkaufte und sich diese dann in Erlangen neu anschaffte, weil dies preiswerter war als der Umzug. Auseinandersetzungen über Berufungen gab es relativ selten, etwa bei H. W. J. Thiersch (dem späteren Irvingianer), J. H. A. Ebrard, Paul Althaus (1925), Georg Kempff (1931) und Hermann Sasse (1932/33).  Fak. Akten, Abt. B XIV.  Vgl. z. B. Fak. Akten, Abt. C IV, Fasz. 6; zur Gründung der einzelnen Institute s. Fak. Akten, Abt. A IX, Fasz. 6.7.8.16.17.23; Abt. B I a, Fasz. 23; Abt. B X, Fasz. 45.46.  Fak. Akten, Abt. A IX, Fasz. 23.

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11) Auf die sich in den Jahren nach 1840 herausbildende, zwischen 1850 und 1870 ihren Höhepunkt aufweisende „Erlanger Schule“ will ich hier nicht weiter eingehen. Diese große Erlanger Zeit im 19. Jahrhundert ist vorzüglich von Johannes Wischmeyer unter fakultätsgeschichtlichem Gesichtspunkt im Vergleich mit anderen theologischen Fakultäten dieses Zeitraums aufgearbeitet worden.³⁷ Auch aus den Archivakten ergibt sich, daß es eine unter den Kollegen sehr harmonische Zeit gewesen sein muß, aber letzthin dadurch getrübt, daß Franz Delitzsch einen Ruf nach Leipzig annahm und Theodosius Harnack nach Dorpat zurückging.³⁸ Die gerade Genannten machten sich mit anderen auch aktenkundlich über J. Chr. K. v. Hofmanns liberale Haltung in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts Sorge und mahnten ihn.³⁹ Und als v. Hofmann auf Anfrage sogar als „liberaler Theologe“ an die seit 1871 deutsche Universität Straßburg Neigung hatte zu gehen, war die damalige hiesige Theologische Fakultät einigermaßen erstaunt und entsetzt. Den für ihn vorgesehenen Straßburger Lehrstuhl erhielt dann der Neutestamentler Heinrich Julius Holtzmann.⁴⁰ 12) Naturgemäß gehört es nicht in die Akten eines Archivs, Schwerpunkte und weiterführende Akzente bei den einzelnen Mitgliedern der Fakultät festzuhalten. Gelegentlich aber kommt es doch heraus. So zeigt sich bei G. Ph. Chr. Kaiser, dem Dekan bei der Ehrenpromotion von v. Meyer, über seine Veröffentlichungen hinaus bis in seine Gutachten hinein eine von ihm begründete – freilich Mißverständnisse und Irrtümer einschließende – „religionsgeschichtliche Methode“, die sich wirkungsgeschichtlich erweisen sollte.⁴¹ Für die „Erlanger Schule“ des 19. Jahrhunderts zeigen sich auch in den Akten deutliche Hinweise, wie wichtig eine innere und eine äußere Mission sind. Es ist sicher kein Zufall, daß mit der Habilitation von

 J. Wischmeyer, Theologiae Facultas. Rahmenbedingungen, Akteure und Wissensorganisation protestantischer Universitätstheologie in Tübingen, Jena, Erlangen und Berlin 1850 – 1870 (Diss. Evang. Theol. Fak. München 2007), Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 108, Berlin 2008.  Fak. Akten, Abt. B I a, Fasz. 18 u. B I a, Fasz. 15.  Vgl. zum Hintergrund: Briefwechsel v. Hofmann mit Delitzsch, hg. v. W. Volck, 1891 passim; Th. Kolde (s. Anm. 26), 444 f.; J. Wischmeyer (s. Anm. 37), 81.  Vgl. zu Einzelheiten O. Merk, Art. Holtzmann, Heinrich Julius, TRE 15, 1986, 519 – 522; H. Graf Reventlow, Bedingungen und Voraussetzungen der Bibelkritik in Deutschland in der Periode des zweiten Reiches und bevor. Der Fall Heinrich Julius Holtzmann, in: Theologie und Aufklärung. Festschrift für Gottfried Hornig zum 65. Geburtstag, hg. v. W. E. Müller u. H. H. R. Schulz, Würzburg 1992, 264– 283.  Vgl. Kaisers Anm. 12 nachgewiesenen Briefe; im Überblick O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit, Marburger Theologische Studien Bd. 9, Marburg 1972, 214 ff.218.234 f.

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Karl Graul (1864)⁴² erstmals in Deutschland eine solche für Missionswissenschaft ausgewiesen ist. Erwähnt sei auch, daß Friedrich v. Bodelschwingh als einer der bekanntesten Schüler seines akademischen Lehrers v. Hofmann aus dessen Konzept wesentliche Impulse für die Gründung der Anstalten in Bethel aufgegriffen hat. Schließlich bleibt auffällig – nur am Rande angeführt –, daß Albert Eichhorn, Wilhelm Bousset und Ernst Troeltsch als spätere Begründer und Säulen der „Religionsgeschichtlichen Schule“ in Göttingen etliche Semester in Erlangen studierten. So wäre von manchen ehemaligen Erlanger Theologiestudenten zu berichten, die freilich in den Archivakten zumeist nur als Prüflinge im Hebräischem, als Preisträger von Arbeiten oder als Examenskandidaten aufgeführt sind. In den Promotions- und Habilitationsakten finden sich nicht wenige später bekannt gewordene Hochschullehrer. 13) In den letzten Jahren richteten sich zahlreiche Anfragen zu Archivalien aus der Zeit des Dritten Reichs. Hier ist die „Ausbeute“ hinsichtlich der zumeist interessierenden Unterlagen gering. Das „Erlanger Gutachten“, dessen Hauptverfasser Werner Elert in Absprache mit Paul Althaus war, spielt in den Fakultätsakten praktisch keine Rolle, und der „Ansbacher Ratschlag“ gehört sachgemäß überhaupt nicht in das Fakultätsarchiv.⁴³ In der Zeit des Dritten Reiches galt die Erlanger Theologische Fakultät mit der in Greifswald und Marburg als intakte, sie wies nach der Blütezeit im 19. Jahrhundert 1933/34 ihre höchste Zahl von Studierenden auf (über 600 Studenten). Die damals sehr häufigen Fakultätsexamina wurden in allen Landeskirchen anerkannt. Vier Sachverhalte will ich stichwortartig nennen: a) Im Jahre 1942 wurde als einzigem der hiesigen Theologischen Fakultät Georg Heinrich Neunobel der Grad des „Lic. theol.“ aberkannt, er beantragte und erhielt den Titel 1953 zurück. Neunobel war hier im Mai 1926 mit einer liturgiewissenschaftlichen Arbeit zum „Lic. theol.“ promoviert worden und wurde zusätzlich 1929 von der Tübinger evangelisch-theologischen Fakultät zum „Dr. theol.“ auf-

 Hierzu vgl. K. Beyschlag, Die Erlanger Theologie, Einzelarbeiten zur Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 67, Erlangen 1993, 110 f. (ebd. Anm. 207: Auflistung der wichtigsten Literatur über K. Graul).  Zu diesen Dokumenten liegen zahlreiche, hier nicht anzuführende Untersuchungen und kritische Stellungnahmen vor; vgl. neuestens G. Jasper, Paul Althaus (1888 – 1966). Professor, Prediger und Patriot in seiner Zeit, Göttingen 2013, der rekonstruierend und darstellend die Sicht und Überlegungen von Paul Althaus behandelt (bes. 224 ff.235 ff.254 ff.382).

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grund einer praktisch-theologischen Arbeit erneut promoviert. F. v. Bodelschwingh hatte ihn wohl wegen dieser Tübinger Doktorarbeit für Bethel gewonnen. Neunobels sehr kritische Einstellung zum und entsprechende Äußerungen gegenüber dem Dritten Reich führten zur gerichtlichen Verurteilung mit Haftstrafe und Entzug des Tübinger Doktortitels, dem die Erlanger mit Entzug des „Lic. theol.“ nachziehen mußten.⁴⁴ b) Die einstige hiesige Studentin jener Jahre, Annemarie Winter, Jahrgang 1912, die auch hier ihr Fakultätsexamen ablegte und bei Kriegsende ihre Gemeinde in Hinterpommern nicht verließ, wurde von den Russen nach Sibirien verschleppt, wo sie im Gefangenenlager im Sommer 1945 im Alter von 33 Jahren starb. Sie ist die einzige Märtyrerin, die aus der Erlanger Theologischen Fakultät zu beklagen ist. Ihr Bruder, der langjährige Präses der Kirchen der DDR und noch nach 1990, hat unter anderem auch aus den Archivunterlagen der Fakultät und aus Notizen von Werner Elert ein Lebensbild seiner Schwester geschrieben und veröffentlicht. Darin wird auch aus Briefen der Schwester an ihre Eltern über ihre Erlanger Professoren und ihre Haltung zum Dritten Reich in Vorlesungen in den Jahren 1933 bis 1935 eingehend berichtet. Ihr Bruder hat mir persönlich zur späteren Weitergabe an das Archiv der Fakultät alle ihre Erlanger Briefe in Kopie geschickt. Diese Briefe sind ein einzigartiges Zeugnis für eine aufgewühlte, Antworten bei ihren akademischen Lehrern suchende junge Studentengeneration. Sie zeigen mehr, als Archivakten überhaupt in damaliger Zeit aussagen können.⁴⁵ c) Während des Krieges bestand seitens der Fakultät rege Verbindung zu den im Felde stehenden Studierenden. Besonders in wissenschaftlichen, aber auch allgemeinen Themen gewidmeten Aufsätzen orientierten sie die Professoren. Diese zumeist nicht publizierten Arbeiten befinden sich maschinenschriftlich oder hektographiert in Duplikaten im Archiv. Manches wäre noch heute veröffentlichungsreif. Mit den Eltern gefallener Studenten wurde mancher Brief gewechselt. Die Lehrenden kannten viele ihrer Hörer persönlich. Briefe voller Tröstung gingen an die Hinterbliebenen. Das Archiv enthält viele Briefe tiefen Dankes seitens der Eltern für die Anteilnahme.⁴⁶ d) Bedeutsam ist schließlich – und vorsichtig formulierte Papiere im Archiv zeigen es –, wie sehr man sich in der Fakultät um aus rassischen Gründen ge-

 Vgl. dazu O. Merk, Depromotion an der Erlanger Theologischen Fakultät in der NS-Zeit, in: Aberkennung der Doktorwürde an der Universität Erlangen in der Zeit des Nationalsozialismus, hg. v. Th. A. H. Schöck, Akademische Reden und Kolloquien der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Bd. 29, Erlangen 2010, 53 – 65.  Vgl. F. Winter, Weiß ich den Weg auch nicht… .Das Leben der Vikarin Annemarie Winter (1912– 1945), Leipzig 2005 (22005) (zur Erlanger Zeit bes. 38 ff.).  Fak. Akten, F. Schuber 1, Fasz. 250.251 a) u. b); 252.

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fährdete Studierende menschlich aufrichtend und auch mit materieller Unterstützung kümmerte und im Geheimen sogar zur Ablegung von Examina verhalf.⁴⁷ Damit komme ich zum Schluß: Auch Archive sind keine Sammlungen stummen Papiers. Jedes einzelne Dokument will entdeckt werden, es führt in den Umkreis seiner Welt, es will im Abstand der Zeiten gesehen und interpretiert werden. Jeder Einzelnachlaß, jedes Archiv – auch jedes Fakultätsarchiv – ist ein Stück der nicht auslöschbaren und nicht entrinnbaren Identität, in der sich Vergangenheit und Gegenwart treffen.

 Fak. Akten, Abt. F. Schuber 1, Fasz. 262; vgl. auch G. Jasper (s. Anm. 43), 237.335 Anm. 34.

II. Zur Exegese

Gemeinde – Fürbitte – Mission Aspekte ihrer Zuordnung in den Deuteropaulinen In den folgenden Erwägungen geht es bewußt um die Zuordnung der im Titel genannten, an sich weiten und inhaltbeladenen Begriffe, wenn man sie je für sich im Bereich der Deuteropaulinen bedenkt. In solcher Zuordnung liegen Beschränkung und Spezifizierung, und darin der Versuch, das Verstehen des „Deuteropaulinischen“ in einem kleinen Punkt weiter zu differenzieren. In einem kurzen Durchgang ist auf einige Stellen im 2 Thess, Kol, Eph und in den Past Bezug zu nehmen, ohne daß die breite exegetische Diskussion im einzelnen erneut nachgezeichnet wird und ohne daß in Vergessenheit gerät, was F. Hahn global als „das Auseinandertreten von Mission und Kirche“ in den genannten Schriften festgehalten hat und zu bedenken gibt.¹

I. Mit dem 2 Thess zu beginnen, ist unter der bis heute umstrittenen zeitlichen und theologischen Einordnung dieses Schreibens insofern berechtigt, als diese vom „Deuteropaulinen“ noch zu Lebzeiten des Apostels Paulus bis in den Beginn des 2. Jahrhunderts hinein reicht und erörtert wird.² 2 Thess aus dem Bereich des Deuteropaulinischen überhaupt auszuschließen,³ ist nicht wahrscheinlich zu machen, da der Verfasser – [164] schwer bestreitbar – den 1 Thess benutzt hat. Und wenn für einen solchen Ausschluß aus der „Paulusschule“ stehen soll, „denn nirgends zeigt sich darin (sc. in diesem Brief) eine kreative Aufnahme und Weiterführung paulinischer Gedanken“,⁴ bleibt dies eine These, die näherer Begründung bedarf. In der derzeitigen, besonders durch die amerikanische Forschung belebten und die Gesichtspunkte differenzierenden Diskussion steht sie

 F. Hahn, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament, WMANT 13, 1963, ²1965, 121.  Vgl. den Stand der Diskussion bei U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, ³1999, Abschn. 5.4, 330 – 340.  So W. Trilling, Der zweite Brief an die Thessalonicher, EKK XIV, 1980, 27 (und passim). Ihm neigt in anderer Weise J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, 1993, 223 Anm. 3 zu: „Der … pseudepigraphische 2. Thessalonicherbrief stammt … nicht aus dem paulinischen Schulkreis, sondern ist vermutlich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum 1. Thessalonicherbrief und als direkter Kommentar zu diesem entstanden.“  So J. Roloff, Einführung in das Neue Testament, Reclam-Universal-Bibliothek Nr. 9413, 1995, 213, wo 2 Thess hinter die Past eingeordnet wird.

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isoliert,⁵ ohne daß damit die schwierige zeitliche und situative Einordnung des 2 Thess bewältigt ist. Für eine Frühdatierung wie eine Spätdatierung, für eine „deuteropaulinische“ oder eine nicht mehr im Rahmen des Paulinismus erklärbare Bestimmung dieses Briefes stellt sich notwendig die einzelexegetische Entscheidung von Vers zu Vers als gleichsam Baustein für die Gesamtinterpretation dieses Schreibens. Dazu gehört auch: Kann unsere Fragestellung überhaupt sachgemäß mit 2 Thess verbunden werden? F. Hahn kommt in seiner o. g. Untersuchung diesbezüglich zu dem Ergebnis: „Somit ist der 2.Thessalonicherbrief in noch viel stärkerem Maß als der 1. Petrusbrief und die Pastoralbriefe Zeugnis für das Auseinandertreten von Mission und Kirche in der nachpaulinischen Zeit“,⁶ um dann wenige Jahre später in einer stark exegetisch ausgerichteten Predigtmeditation sich weitaus positiver zu äußern.⁷ Jetzt wird 2 Thess nicht nur wesentlich eindeutiger als deuteropaulinisch bestimmt, sondern auch festgehalten, daß 3,1– 5 und 2,13 – 17 „zumindest der Intention nach ausgesprochen paulinisch“ sind,⁸ daß die Berufungs- und Erwählungsaussagen (etwa 2,13b.14) deutlich Anlehnungen an 1 Thess bieten und zum „Kernstück“ dieses Schreibens auch „in ihrer fast formelhaft verdichteten Gestalt“ gehören und daß 2,13 – 17 mit 3,1– 5 in vielfach geradezu reziproker „Parallelität“ steht bei allerdings nicht zu übersehenden Besonderheiten.⁹ Letzteres ist auch in der an 2 Thess erprobten Rhetorikforschung seit den 80er Jahren mehrfach betont worden, wenngleich 3,1– 5 in der Gliederung lockerer ist, als es rhetorische [165] Überlegungen erkennen lassen,¹⁰ und ebenso ist das Aufeinanderzugehen der genannten Abschnitte im exegetischen Gespräch.¹¹ So ist festzuhalten, daß nach dem Dankgebet des Apostels (wer immer der Briefschreiber ist) für die Gemeinde (2,13 ff.) nunmehr die Gemeinde zur  Vgl. z. B. K. P. Donfried, The Theology of 2 Thessalonians, in: ders. / I. H. Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters, Cambridge 1993, 82 ff., bes. 90 ff.; G. S. Holland, The Tradition that You Received from Us. 2 Thessalonians in the Pauline Tradition, HUTh 24, 1988; E. Krentz, Traditions Held Fast. Theology and Fidelity in 2 Thessalonians, in: The Thessalonian Correspondence, ed. by R. F. Collins, BEThL LXXXVII, 1990, 505 ff.  Mission (s. Anm. 1), 126.125: „Der missionarische Aspekt ist so gut wie ganz verschwunden“; 125 Anm. 2: „Allenfalls auf die an Paulus angelehnte Aussage in 2 Thess 3,1 ist zu verweisen.“  F. Hahn, 2. Advent. 2. Thessalonicher 3,1– 5, GPM 26, 1971/72, 9 – 14 (im folgenden abgek.: GPM 26).  GPM 26 (s. Anm. 7), 10 Anm. 1.  GPM 26 (s. Anm. 7), 10 f.  Vgl. K. P. Donfried und G. S. Holland (s. Anm. 5); dazu die Übersichtstabellen bei R. Jewett, The Thessalonian Correspondence. Pauline Rhetoric and Millenarian Piety, Philadelphia 1986, 222 ff.  Vgl. O. Merk, Uberlegungen zu 2 Thess 2,13 – 17, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Ges. Aufs. z. 65. Geb., hg. v. R. Gebauer / M. Karrer / M. Meiser, BZNW 95, Berlin / New York 1998, 422 ff.

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Fürbitte aufgefordert wird (3,1 f.),¹² Gebet und Gemeinde also in einer Wechselbeziehung stehen, die implizit und explizit eine missionarische Verklammerung hat. Gottes erwählendes Handeln, im gemeindegründenden Einsatz des Apostels sichtbar geworden, die Existenz der Gemeinde selbst, die als solche steht und belehrt werden kann (2,15), die innergemeindlich sich zu festigen vermag und vielleicht selbst in ihrem Dasein und gemeindlichen Leben auch „Missionarisches“ freisetzt und ermöglicht, wird zum Gebet um das Wirken des Wortes angehalten. Der Abschnitt 3,1– 5 bildet den Übergang zur Paränese in 3,6 ff.¹³ Sein Einsatz mit τὸ λοιπόν (3,1) und diesem „stets verbunden mit der Anrede ἀδελφοί“¹⁴ leitet die allen Gemeindegliedern geltende Aufforderung¹⁵ zur Fürbitte ein, deren sachlicher Gehalt in zwei ἵνα-Sätzen entfaltet wird. Diese Fürbitte gilt dem Lauf des λόγος τοῦ κυρίου, womit in christlicher Missionssprache¹⁶ – und so nur noch 1 Thess 1,8 in dieser Formulierung – die Eindeutigkeit des Anliegens hervorgehoben wird und in der Sache auch das zweite Anliegen (3,2) für das Gebet bestimmt. 3,1b erinnert über die Begrifflichkeit hinaus an den missionarischen Impetus gemäß 1 Thess 1,4– 8. Im λόγος τοῦ κυρίου kommt das Evangelium zur Sprache, das vom Herrn aufgetragen wurde und dessen „Inhalt … der Kyrios selbst ist“,¹⁷ mit τρέχω ist der „rasche Lauf“ der [166] missionarischen Verkündigung im Blick,¹⁸ und mit δοξάζηται ist möglicherweise 2,14 in der Weise aufgegriffen, „daß die endzeitliche δόξα unseres Herrn Jesus Christus, an der wir teilhaben sollen …,

 F. Hahn, GPM 26 (s. Anm. 7), 11; O. Merk, Überlegungen (s. Anm. 11), 424 ff.  Zur älteren Diskussion vgl. O. Merk, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt 5, 1968, 59 f.; zur neueren Diskussion vgl. z. B. die Kommentare von W. Trilling (s. Anm. 3), 133 ff.; C. Wanamaker, The Epistles to the Thessalonians. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, 1990, 273 ff.; M. J. J. Menken, 2 Thessalonians, London / New York 1994, 125 ff.; E. Reinmuth, Der zweite Brief an die Thessalonicher, in: N. Walter / E. Reinmuth / P. Lampe, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, NTD 8/2, 18=11998, 185 f.; wichtig auch trotz des mehr allgemein gehaltenen Kommentars B. R. Gaventa, First and Second Thessalonians, Interpretation. A Bible Commentary for Teaching and Preaching, Louisville/ Kent. 1998, 124 ff.  Vgl. zuletzt H. Fendrich, Art. λοιπός, EWNT II, 1981, 889 f.  Vgl. J. Beutler, Art. ἀδελφός, EWNT I, 1980, 67 ff., bes. 71 ff.  Vgl. H. Ritt, Art. λόγος, EWNT II, 1981, 880 ff., hier Abschn. 7c (887).  Nachweise bei T. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher, EKK XIII, 1986, 51 f.  Vgl. EWNT III, 1983, 884; bes. W. Bauer-B. / K. Aland, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin / New York 61988, 1646.

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jetzt schon in der Teilhabe am Evangelium wirksam wird“.¹⁹ Solche eigene Teilhabe am Evangelium „wie auch bei euch“ (3,1b) und Fürbitte um die Ausbreitung des Evangeliums gehören sachgemäß zusammen und bedingen einander. Das zweite Gebetsanliegen gilt dem Apostel (und seinen Mitarbeitern, worunter auch den Briefschreiber einzubeziehen durchaus in Erwägung gezogen werden darf). Die allgemeine Situation des Ergehens der Missionare wird hier getroffen, die man nicht als unmittelbare Reminiszenz an 1 Thess 2,1 ff. wird auswerten dürfen. W. Wredes Beobachtung bleibt wichtig, „dass die Partie I 21– 310 im Ganzen keinerlei Seitenstück in unserm Briefe (sc. 2 Thess) hat; d. h. die geschichtlichpersönlichen Erörterungen fallen aus“,²⁰ wenn auch die Kenntnis des ganzen 1 Thess durch den Autor des 2 Thess nicht bestritten werden kann. Es geht um das Grundverhältnis, daß die Bitte um den missionarischen Lauf des Evangeliums die Botschafter desselben einschließt, daß Fürbitte um Ausbreitung des Wortes keinem automatischen oder gar naturhaften Geschehen unterliegt, sondern solches Gebet im Bereich menschlicher Begegnung ihren Ort und ihre Stunde hat. Ἄτοπος und πονηρός sind auf Menschen bezogen,²¹ deren Charakteristik die Implikation des begründend eingeführten Sachverhaltes darlegt, daß der Glaube nicht jedermanns Angelegenheit ist. Diese letztere Feststellung zielt auf die Nicht-Annahme der christlichen Botschaft.²² Zur erbetenen Fürbitte gehört, Mission in ihrem lebensnahen Vollzug und damit auch in ihren negativen Erfahrungen zu bedenken und doch als Gemeinde eine „grundsätzlich offene Gemeinschaft“ zu sein, da die Ausbreitung des Wortes „Gottes Heilsangebot“ an alle bleibt.²³ Mit 3,3 einsetzend wird zumeist in lockerer Weiterführung [167] eine Hinleitung zu 3,4 f. und damit zur Paränese gesehen, die in 3,6 ff. ihre Konkretion erfährt. Doch ist 3,3 auch in Verbindung zur voranstehenden Fürbitte zentral. Unter der Treue des in

 So vermutungsweise F. Hahn, GPM 26 (s. Anm. 7), 12 Anm. 8. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, daß 2 Thess innerhalb der paulinischen Briefe allein 1 Thess aufgreift; 2 Thess 3,17a und 1 Kor 16,21 sind zu formelhaft, um aussagekräftig zu sein.  W. Wrede, Die Echtheit des zweiten Thessalonicherbriefs, TU N.F. IX, 2, 1903, 34.  Daß 2,7 und überhaupt die Szene 2,3 – 12 einen gewissen Hintergrund für 3,2; 3,3b abgibt, ist gelegentlich vermutet worden, bleibt aber vage; ein Bezug zur Vater-Unser-Bitte (Mt 6,13b) ist traditionsgeschichtlich nicht auszumachen; vgl. schon M. Dibelius, An die Thessalonicher I II. An die Philipper, HNT 11, ³1937, 53; so wohl auch O. Cullmann, Das Gebet im Neuen Testament. Zugleich Versuch einer vom Neuen Testament zu erteilenden Antwort auf heutige Fragen, Tübingen ²1997, 90.  Vgl. auch R. Bultmann, Art. πιστεύω κτλ., ThWNT VI, 1959, 213 u. Anm. 278; Weiteres bei H. S. Hwang, Die Verwendung des Wortes πᾶς in den paulinischen Briefen, Diss. theol. Erlangen 1985, 301 f.  F. Hahn, GPM 26 (s. Anm. 7), 12.

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der Gemeinde wirkenden und gegenwärtigen Herrn²⁴ ist Fürbitte möglich. Gemeinde und Fürbitte stehen reziprok zueinander. Ziehen wir ein Fazit aus den voranstehenden Beobachtungen, so ist festzuhalten: a) 2 Thess aus dem Bereich der Deuteropaulinen herauszunehmen, ist weder theologisch noch aus anderen Gründen notwendig. b) Unter dem Gesichtspunkt unserer speziellen Fragestellung bleibt 2 Thess aus dem Impetus des 1 Thess verstehbar, wenn auch der dort sich spiegelnde missionarische Aufbruch im 2 Thess sicher nicht in dieser Form vorhanden ist. Hier geht es um ein von 1 Thess her noch unbewältigtes Problem: um Zukunftserwartung und Gemeinde und die darin liegende Spannung bis in die Paränese hinein. Daß der Deuteropauline 2 Thess „sich … in seinem Sosein aus der konkreten Situation bald nach 1 Thess, wohl sogar am besten so verstehen läßt“,²⁵ ist eine weiterhin nicht unbegründete Vermutung, und daß er unterstützend zur genannten Problemlösung beitragen will, wird vielfach angezeigt. Auch wenn der missionarische Aspekt durch das im Vordergrund stehende Anliegen nicht einen eigenen Schwerpunkt des Schreibens ausmacht, aber auch nicht in diesem Brief auf die schon gleichsam gerundete Missionsarbeit des Apostels Paulus zurückgeblickt wird, so ist doch das Zueinander von erwählter Gemeinde in Fürbitte und Mission eindeutig und durchaus im paulinischen Sinne erfaßt.²⁶ Dazu gehört auch, daß die im Blick stehende Gemeinde als solche selbstredend missionarisch sein kann. 1 Thess 4,11b.12 ist in der Sache auch für 2 Thess gegeben. c) Der in der älteren Forschung unternommene Versuch, über 3,1ff hinaus weitere unmittelbare missionarische Hinweise in diesem Schreiben aufzuspüren,

 Zu κύριος im 2 Thess vgl. F. Hahn, GPM 26 (s. Anm. 7), 12 Anm. 12; s. auch M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, 1998, 347 u. Anm. 51.  So mit Bezug auf J. Fangmeier, 2. Advent – 2 Thessalonicher 3,1– 5, in: hören und fragen. Eine Predigthilfe, hg. von G. Eichholz / A. Falkenroth, Bd. 6. Dritte Epistelreihe, Neukirchen-Vluyn 1971, 22– 31, 22 (mit wichtigen exegetischen Hinweisen).  Zum Grundsätzlichen auch G. Harder, Paulus und das Gebet, NTF I, 10, 1936, 205; H. Greeven, Die missionierende Gemeinde nach den apostolischen Briefen, in: Sammlung und Sendung. Vom Auftrag der Kirche in der Welt. Festgabe für H. Rendtorff zum 70. Geburtstag, hg. v. J. Heubach / H. H. Ulrich, Berlin 1958, 59 ff., 62.64; G. Friedrich, Die Fürbitte im Neuen Testament, in: ders., Auf das Wort kommt es an. Ges. Aufs. zum 70. Geburtstag, hg. v. J. H. Friedrich, Göttingen 1978, 431ff, bes. 447 ff.455; R. Gebauer, Das Gebet bei Paulus. Forschungsgeschichtliche und exegetische Studien, TVG 349, 1989, 174 f.181.183.202 f. u. ö.; O. Cullmann, Das Gebet (s. Anm. 21), 112 f.

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ist heute in der Sache überholt, aber noch im Gespräch;²⁷ in unsere Fragestellung greifen diese Überlegungen nicht. [168]

II. Den Kol in unsere Erwägungen einzubeziehen, ist nach gegenwärtigem Stand der Forschung geboten, doch steht hier ebenso wie bei 2 Thess die Näherbestimmung und Differenzierung des „Deuteropaulinischen“ für Chronologie und Zuordnung dieses Schreibens in der Diskussion.²⁸ Wieder können wir uns auf eine geraffte Skizze beschränken: Auf der Grundlage des Hymmus (1,15 – 20)²⁹ wird das Christusgeschehen in seinem weltweiten Horizont und in seiner kosmischen Tiefe entfaltet und in dieser umfassenden Dimension zur Widerlegung der kolossischen Irrlehre (2,8 – 23) aufgeboten. Diesem Anliegen ist der missionarische Dienst des Apostels Paulus in weltweiter Evangeliumsverkündigung (1,23) des einst verborgenen, jetzt aber geoffenbarten Geheimnisses in der Sache zugeordnet, und mehr noch, es ist in seinem apostolischen Dienst und Amt realisiert und Gegenwart geworden (1,24– 29; 2,1– 5).³⁰ Es ist der Apostel, der für die Verkündigung des Evangeliums steht,

 So hatte bes. O. Cullmann angeregt, das Verzögerungsmotiv in 2 Thess 2,6 f dahin zu deuten, daß vor dem Ende die Heidenmission gemäß Mk 13,10 durchgeführt sein müsse: vgl. O. Cullmann, Der eschatologische Charakter des Missionsauftrags und des apostolischen Schriftbewußtseins des Paulus. Untersuchung zum Begriff des κατέχον (κατέχων) in 2. Thess. 2,6 – 7 (1936), in: ders., Vorträge und Aufsätze 1925 – 1962, hg. v. K. Fröhlich, Tübingen/Zürich 1966, 305 ff.; ders., Eschatologie und Mission, a.a.O., 348 ff., bes. 357 ff.; ders., Wann kommt das Reich Gottes? Zur Enderwartung der christlichen Schriftsteller des zweiten Jahrhunderts, a.a.O., 535 ff., 535 Anm. 1, und in weiteren Beiträgen (ähnliche Beobachtungen bei P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. II: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung. Der Kanon und seine Auslegung, Göttingen 1999, 57); vgl. kritisch auch F. Hahn, Mission (s. Anm. 1), 126 Anm. 1; W.-H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission, WMANT 50, 116 Anm. 36 (mit weiterer Lit.).  Vgl. den neuesten Überblick bei U. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 2), 297 ff., bes. 297 f.314, und z. B. die Überlegungen bei J. Roloff, Die Kirche (s. Anm. 3), 222 ff.  Auf dessen Erweiterung durch den Verfasser des Kol (und vielleicht teilweise schon in der von ihm übernommenen Fassung) kann hier nicht näher eingegangen werden. Ohne Einzelnachweis sei (mit anderen, vgl. die Kommentare [passim]) als Zufügung vermutungsweise genannt: V. 16: εἴτε θρόνοι … εἴτε ἐξουσίαι; V. 18: τῆς ἐκκλησίας, und: ἵνα γένηται … πρωτεύων; V. 20: διὰ τοῦ αἵματος τοῦ σταυροῦ αὐτοῦ, wobei die Zufügung des Hinweises auf die Kirche (V. 18) und die in V. 20 in der Forschung die breiteste Zustimmung fanden.  Wichtige Beobachtungen dazu u. a. bei P. Pokorný, Der Brief des Paulus an die Kolosser, HThK 10/I, (1987) ²1990, 80 ff.88 ff.

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und sein Wirken ragt schon fast selbst in diese Verkündigung hinein. Die nicht von Paulus gegründete Gemeinde von Kolossae (1,7) ist dennoch Frucht seines missionarischen Einsatzes, ist Ergebnis des Dienstes seines Mitarbeiters Epaphras, letztlich des göttlichen Heilsgeschehens (1,27), und die bestehende Gemeinde (ἐκκλησία) ist das σῶμα, dessen κεφαλή Christus, der Kosmokrator ist. Das allumfassende Christusgeschehen ist in die Gemeinde eingebunden, wirkt in ihr und durch sie auch wieder in die Welt hinein, der „dogmatische“ wie der „ethische“ Rekurs des Schreibens trifft sich in diesem. [169] Der Dank des Apostels (1,3 ff.) für das in der Gemeinde wirkende und sich ausbreitende Evangelium (1,6) wird in der Fürbitte aufgenommen (1,9: διὰ τοῦτο) und weitergeführt, „damit die Adressaten fähig sind, Gott zu danken, wie es in 1,11b–14 vorgeführt ist, weil Gott in seinem Sohn so gehandelt hat, wie es der Hymnus besingt“.³¹ Die widerfahrenes Heil und paränetische Ausrichtung verbindende Fürbitte (1,9 – 11) nimmt die Gemeinde in die Bewegung des Heilsgeschehens hinein, macht sie fähig zum Dank, zum Gebet (1,12– 14). Und wenn in 1,12 im Dank an Gott auch zu 1,3 zurückgelenkt, nämlich „den Gläubigen Anteil am Dankgebet der Apostel“ gegeben wird,³² ist hier verbunden, was in 4,2– 6 seitens der Gemeinde ansteht: Fürbitte für den Apostel im Danken (4,2). Dabei ist nicht zu übersehen, daß in 1,5 – 7 sehr entscheidend die Mission Inhalt des apostolischen Dankes ist und daß die Fürbitte der Gemeinde in 4,2 ff. dem (weiterhin möglich werdenden) missionarischen Wirken seitens des Apostels gilt. Gemeinde – Fürbitte – Mission,vom Apostel bedacht und von der Gemeinde erbeten, stehen im Kol in Wechselbeziehung unter der bleibenden Vorgabe des in kosmischer Weite erfolgten Heilshandelns Gottes in Christus und in der Realität, in der apostolische Fürbitte die Gemeinde auch paränetisch-ethisch einbezieht und die Fürbitte der Gemeinde im Bereich der Paränese des Kol erbittet (4,2– 6).³³

 P. Pokorný, Kol. (s. Anm. 30), 37 f.; zur kunstvollen, theologisch durchdachten Gestaltung – fast Konstruktion – von Danksagung/Fürbitte/Mission in Kol 1 vgl. noch immer maßgebend M. Dibelius, An die Kolosser. An Philemon, neubearb. v. H. Greeven, HNT 12, ³1953, 5 f; weiter P. Pokorný, Kol., 38; zur theologischen Dichte der Gebetsinhalte vgl. die Kommentare, zuletzt bes. M. Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon, ÖTK 12, 1993, 50 ff.57 ff.; H. Hübner, An Philemon. An die Kolosser. An die Epheser, HNT 12, Tübingen 1998, 44 ff.50 f.; U. Luz, Der Brief an die Kolosser, in: J. Becker / U. Luz, Der Brief an die Galater, Epheser und Kolosser, NTD 8/1, ¹⁸=¹1998, 193 ff.  U. Luz, Kol. (s. Anm. 31), 198.  U. Luz, Kol. (s. Anm. 31), 239: „Die betonte Mahnung zur Fürbitte für Paulus in V. 3 f. (sc. 4,3 f.) entspricht gleichsam spiegelbildlich dem ebenso betonten Bericht über die Danksagung und Fürbitte des Paulus für die Gemeinde in 1,3 f.9“; vgl. O. Cullmann, Gebet (s. Anm. 21) zum Grundsätzlichen und mit Verweis auf Kol: „Dem Gebet des Apostels für die Gemeinden“

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Über den den Abschluß der Paränese in Kol bildenden Abschnitt 4,2– 6 besteht von der älteren Forschung an³⁴ bis in die gegenwärtigen Kommentare hinein in Sachfragen weithin Konsens,³⁵ auch darin, daß auf Begrifflichkeit und Anliegen des bisherigen Briefes zurückgegriffen wird. Sind exegetische Einzelheiten nicht zu wiederholen, so bleibt doch noch einmal unter der anstehenden Thematik hervorzuheben: In strukturierter Abfolge wird in diesen Versen zur Fürbitte um die Mission in Zuspitzung [170] auf den Völkermissionar Paulus angehalten (4,2– 4), wird mit der Eingangsdanksagung auch 1,23.24– 29; 2,1– 5 in der Sache aufgegriffen, beruhend aber auf der Basis, „daß (damit) Gott uns eine Tür für das Wort öffne“,³⁶ und in 4,5 f steht paränetisch die missionarische Relevanz der Gemeinde im Blick auf die οἱ ἔξω.³⁷ Solche Relevanz in ihrem existentiellen Vollzug des Christseins und in Ausrichtung/Anwendung der der Gemeinde geschenkten Gaben (etwa „Sophia“ und „Offenbarung“ [des Heilsgeschehens]) verleiht der voranstehenden Fürbitte Tiefenschärfe und sachlichen Bezug. Die unsere Fragestellung im Kol betreffenden Aussagen erlauben es, sie in bedenkenswerte Nähe zu den authentischen Paulinen zu rücken.³⁸ Die in der neueren Forschung besonders seit W.-H. Ollrogs³⁹ Untersuchung über die (selbständigen) Mitarbeiter des Paulus auch als Verfasser von Gemeindebriefen diskutierte, von E. Schweizer⁴⁰ eingehend erörterte und zuletzt von U. Luz⁴¹ als plausible Möglichkeit entfaltete These, daß Kol noch zu Lebzeiten (oder im Zeitpunkt des unmittelbar vorangegangenen Todes) des Paulus von einem Mitarbeiter

„muß“ „das Gebet der Gemeinden für den Apostel entsprechen“ (113); G. Friedrich, Fürbitte (s. Anm. 26), 449.453 – 455.  O. Merk, Handeln (s. Anm. 13), 224.  Vgl. z. B. P. Pokorný, Kol. (s. Anm. 30), 156 ff.; H. Hübner, Kol., 114 ff.; U. Luz, Kol. (s. Anm. 31), 239 f.; E. Schweizer, Der Brief an die Kolosser, EKK XII, (1976) ³1989, 171 ff. mit der Überschrift: „Der Ruf zur Fürbitte und missionarischen Verantwortung (4,2– 6)“ (171).  Zu ἡ θύρα in seiner Bedeutungsbreite wie auch als Begriff der Missionssprache vgl. noch immer maßgebend J. Jeremias, Art. θύρα, ThWNT III, 1938, 173 – 180; weiter R. Kratz, Art. ἡ θύρα, EWNT II, 1981, 397– 399, bes. Abschn. 3b (398); H. Ritt (s. Anm. 16), Abschn. 3c (883); die in Anm. 35 angeführten Kommentare; A. Lindemann, Der Kolosserbrief, ZBK.NT 10, 1983, 69 f.  Bes. M. Wolter, Kol. (s. Anm. 31), 211 f. bestreitet diesen Bezug.  Auch ohne der (eigenwilligen) Rekonstruktion eines authentischen Paulusbriefes im Kol von W. Schmithals, Literarkritische Analyse des Kolosserbriefes, in: Paulus. Apostel Jesu Christi. Festschrift für G. Klein, hg. v. M. Trowitzsch, Tübingen 1998, 149 – 170, zu folgen, ist doch zu beachten, daß die Belege für die Zuordnung von Gemeinde – Fürbitte – Mission im Kol von Schmithals sogar als authentisch paulinisch angesehen werden (z. B. 153.170).  W.-H. Ollrog (s. Anm. 27), 219 ff.236 ff. u. ö.  Vgl. E. Schweizer, Kol. (s. Anm. 35), 20 ff.  U. Luz, Kol. (s. Anm. 31), 183 ff.188 ff. (kritisch dazu E. Lohse in seiner Besprechung, ThLZ 124, 1999, 907 f., 908).

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– also etwa um das Jahr 60 n.Chr. – abgefaßt sei, verdient themabezogen den Vorzug vor einer schwer datierbaren, chronologisch mehr freischwebenden Einordnung in den letzten Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts. Noch ist die Mission unmittelbar Anliegen erbetener Fürbitte, und noch ist die Gemeinde der tragende Ort solchen Gebetsanliegens. F. Hahns Feststellung, „jenes höchst bezeichnende Merkmal der nachpaulinischen Zeit, das Auseinandertreten von Mission und Kirche“ im Kol,⁴² greift für unsere Fragestellung in diesem Brief noch nicht.

III. Anders sieht es im Eph aus. Hier kann das soeben von F. Hahn Angeführte eingebracht werden: Denn dem Auseinandertreten von Mission [171] und Kirche ist in diesem Schreiben „die Konzentrierung der theologischen Aussage auf die ekklesiologischen Probleme“⁴³ durchaus zugeordnet, ja übergeordnet. Die neuere Forschung ist hinsichtlich unserer Fragestellung divergent, geht es doch darum, ob überhaupt sachgemäß von Mission im Eph gesprochen werden kann. Missionsterminologie tritt völlig zurück, und selbst „εὐαγγελίζεσθαι in 2,17 hat keine eigentlich missionarische Dimension“,⁴⁴ und in 3,8 verweist dieses Verbum rückblickend auf die einstige Missionstätigkeit des großen Apostels Paulus. Das missionarische Anliegen ist verwirklicht, die Kirche aus Juden und Heiden ist realisiert (2,1 ff.11– 22), und Paulus ist der „Verkündiger und Interpret des durch die Kirche enthüllten Heilsmysteriums“.⁴⁵ Auch dieses „missionstheologisch ‚definierte‘ Geheimnis Christi“ (3,6)⁴⁶ steht im Rückblick auf die erfolgte Mission (3,1– 13) und hat für die „christliche Existenzverwirklichung in Kirche und Welt“⁴⁷ ihre ekklesiale Verankerung. Gelten die wenigen mehr Randhinweise auf „Mission“ im Eph der gegenwärtigen Kirche, an die der unbekannte Verfasser in einem sehr allgemeinen Schreiben – nach G. Sellin einem „katholischen Paulus-Brief“ – sich richtet,⁴⁸ so  So F. Hahn, Mission (s. Anm. 1), 134.  A.a.O.  F. Hahn, Mission (s. Anm. 1), 133 Anm. 4.  R. Schnackenburg, Der Brief an die Epheser, EKK X, 1982, 127 ff. (Zitat 127).  So H. Hübner, Eph. (s. Anm. 31), 187.  Vgl. R. Schnackenburg, Eph. (s. Anm. 45), 160 ff. (Zitat 160).  G. Sellin, Adresse und Intention des Epheserbriefes, in: Paulus, Apostel Jesu Christi (s. Anm. 38), 171– 186; im Überblick zentral H. Merkel, Der Epheserbrief in der neueren Diskussion, in: ANRW II 25.4, Berlin / New York 1987, 3156 – 3246; U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (s. Anm. 2), Abschn. 5.3, 315 – 329; M. Gese, Das Vermächtnis des Apostels. Die Konzeption der paulinischen Theologie im Epheserbrief, WUNT II/99, Tübingen 1997.

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ist verschiedentlich unter sachlicher Ausweitung und Überdeutung theologischer Zentralbegriffe dieses Schreibens versucht worden, das missionarische Anliegen des Eph in den Vordergrund zu rücken: E. D. Roels, God’s Mission. The Epistle to the Ephesians in Mission Perspective, Franeker 1962, und Regina P. Meyer, Kirche und Mission im Epheserbrief, SBS 86, Stuttgart 1977. Während beide Untersuchungen in der Intention und im Ergebnis gar nicht so weit auseinanderliegen, ist die Dissertation von Roels in der Forschung wohl auch wegen ihrer methodischen Schwächen nahezu unbekannt geblieben,⁴⁹ die von R. P. Meyer dagegen kritisch gewürdigt worden. Auch Regina Meyer sieht, daß im Eph nicht von Mission im Sinne authentischer Paulusbriefe die Rede ist, wohl aber sei die „ekklesiologische Konzeption“ dieses Schreibens derart, daß in allen tragenden theologischen Begriffen, in der Entfaltung des Heilsmysteriums und letztlich im Verständnis der „Kirche als Soma“ das nicht aufgegebene missionarische Anliegen zumindest implizit dargelegt sei, wobei „das charismatisch-missionarische Pleroma“ [172] den „weltweite(n) Wirkungsbereich Christi“ zur Geltung bringe.⁵⁰ Nicht nur die Überdeutung von Eph 1,22b.23; 4,7– 16 und weiterer Bezugnahmen⁵¹ und die gewisse Angleichung an Aussagen in den anerkannten Paulusbriefen, sondern die Gesamtkonzeption der Verfasserin unterliegt Bedenken, die M. Gese auf den Punkt gebracht hat: „Meyer erarbeitet“ ihre Deutung „aber nur durch ein neugefaßtes Missionsverständnis“, ohne genügend zu reflektieren, „daß die grundlegende Mission“ im Eph „bereits abgeschlossen ist“.⁵² Unter diesem Gesichtspunkt sind die Reminiszenzen an den Missions- und Völkerapostel Paulus zu sehen, ist aber auch zu beachten, daß die wie immer näher zu kennzeichnende Gemeinde (bzw. möglicherweise Gemeinden) als Christen vom Umfeld der „Welt“ umgeben angeschrieben sind. Die „weltbezogene Paränese von Kap. 4– 6“ wäre sonst in dieser Form nicht möglich.⁵³ Unter unserer Fragestellung ist zu sehen, daß Kap. 1– 3 ganz vorwiegend dem Gebet gewidmet ist. U. Luz⁵⁴ und andere haben es noch einmal auch für den Aufbau des Schreibens hervorgehoben: Auf einen Lobpreis (1,3 – 14) folgt eine Fürbitte (1,15 – 23) – ein Aufbau, der sich in umgekehrter Reihenfolge in Kap. 3  Vgl. z. B. H. Merkel (s. Anm. 48), 3244; im Teildruck ihrer Dissertation berücksichtigt R. P. Meyer, Kirche und Mission, die Arbeit von E. D. Roels nicht.  R. P. Meyer, Kirche und Mission, 11 ff.15 ff.49 ff.78 ff. (Zitate 78 f.44 f., im Orig. teilweise im Druck hervorgehoben).  Teilweise Auflistung bei H. Merkel (s. Anm. 48), 3244 f.  M. Gese (s. Anm. 48), 33 Anm. 36 u. 250 ff., bes. 254; vgl. auch R. Schnackenburg, Eph. (s. Anm. 45), 317 Anm. 812.  Vgl. U. Luz, Der Brief an die Epheser, in: J. Becker / U. Luz, Der Brief (s. Anm. 31), 105 – 180, 125.  U. Luz, Eph. (s. Anm. 53), 107.115 ff.147 ff.

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wiederholt: Auf die Fürbitte folgt ein Lobpreis (3,14– 21), nachdem zuvor in 3,1– 13 die in Kap. 2 entfaltete, jetzt vorhandene Kirche aus Juden und Heiden, im Rückblick gesehen, mit dem grundlegenden Wirken des Apostels Paulus als Verkündiger des Geheimnisses verbunden wurde. Der Fürbitte für die Gemeinde/ Gemeinden durch den „Apostel“ ist, das Briefcorpus abschließend, in 6,18 – 20 die erbetene Fürbitte der Gemeinde für den Apostel zugeordnet. Auch Eph bewahrt also in einem weiteren Sinne und stark ausgeweitet die Zuordnung von Gemeinde und Apostel im fürbittenden Gebet, doch der Bezug zur Mission tritt deutlich zurück. Einige Hinweise müssen genügen: In 1,15—23 fällt „die stark erweiterte Fürbitte um das Wachstum des Glaubens“ auf, unterstützt durch „die Beobachtung, daß im Epheserbrief statt der Ausbreitung die Vertiefung des Glaubens ins Zentrum tritt“, ein Zeichen für die bereits durchgeführte Mission.⁵⁵ Die Fürbitte in 1,15 – 23 läßt das Anliegen der Mission nicht erkennen. Es wird auch in den gegenwärtigen [173] Kommentaren nicht thematisiert.⁵⁶ Die Fürbitte des Apostels in 3,14– 19 – mit manchen Bezügen zu 1,15 – 23 – ist theologisch-ekklesiologisch ausgerichtet, sie hat innerkirchlich ihr Gewicht, aber keinen Bezug zur Mission. Die Fürbitte der Gemeinde in 6,18 – 20 steht im Kontext der Paränese 6,10 – 20. Dabei ist im Aufbau des Eph zu beachten, daß wie der erste Teil in 3,1ff mit dem Hinweis auf das missionarische Wirken des Apostels Fürbitte und Lobpreis schloß, jetzt am Ende des zweiten Teils (4,1– 6,20) in der gemeindlichen Fürbitte an die Missionsarbeit des Apostels erinnert wird. Ist die Fürbitte in 6,18 – 20 auch nicht ohne die Kenntnis von Kol 4,2– 4 formuliert, ist doch die ekklesiologische Einbindung ihr Charakteristikum (und darin über Kol hinausgreifend): das Gebet für alle Heiligen, dem die Fürbitte für den gefangenen Apostel und für seinen missionarischen Auftrag folgt. Der Aufbau des Eph könnte es nahelegen, wie in 3,1 ff. rückblickend auf das Wirken des Paulus dieses im Gebet zu vergegenwärtigen. Dann wäre der ekklesiologische Bezug, unter dem der Missionar Paulus im Eph gesehen wird, für 6,19 f. auszuschließen und die zu Kol 4,2– 4 differente Begriff-

 So M. Gese (s. Anm. 48), 33 mit Anm. 36. Vor einer überspitzten Alternative im Eph warnt J. Roloff, Kirche, besonders im Hinblick auf 2,19 – 22: „Die Frage, ob dieses Wachstum intensiv, als Festigung im Glauben, oder extensiv, als numerisches Wachstum gemeint ist, ist gegenstandslos, weil sie eine falsche Alternative aufrichtet. Gemeint ist wohl beides: wenn die Kirche ganz von der ‚Fülle‘ Christi ‚erfüllt‘ ist (1,23), wird sie auch missionarisch wirksam der Welt Christus als den bezeugen, der bereits ihr Herrscher ist“ (239).  Vgl. etwa H. Hübner u. U. Luz in ihren Kommentaren zum Abschnitt. Die tiefgründige Erschließung des Abschnitts bei R. Schnackenburg, Eph. (s. Anm. 45), 68 – 85 zielt auf die Feststellung: „Im Kontext von 1,17– 23 soll der Blick auf die Kirche als Leib Christi und Fülle Christi den Adressaten nur das eine bewußt machen, daß sie durch ihre Eingliederung in die Kirche der vollen Segensherrschaft Christi unterstellt sind, dessen Sieg über die Unheilsgewalten gewiß ist“ (83).

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lichkeit aus dieser Sachlage erklärbar.⁵⁷ Die Ausdrucksweise und der Inhalt dieser Fürbitte bleiben schwebend.⁵⁸ Die Entscheidung für eine letztlich ekklesiologische Ausrichtung dieser Fürbitte aber kann nicht deren Kontext im Bereich der Paränese übergehen. Auch die im Eph theologisch bedachte Kirche ist nicht ohne „weltlichen“ Bezug (4,1– 5,20). Insoweit bleibt auch für Eph, im Wirken des Paulus gleichsam gebündelt, das missionarische Moment in der Fürbitte nicht auszuschließen, auch wenn die weitreichende Feststellung von A. Lindemann trotz ekklesiologischer Abmilderung, „die Mission ist die Präsenz des Evangeliums in der Welt“, der Intention des Eph gegenüber zu weitgehend ist.⁵⁹ Unter den Gesichtspunkten der anstehenden Fragestellung weist Eph in ein deutlich späteres Stadium. Das Zueinander von Gemeinde – Fürbitte – Mission ist zwar strukturell noch gewahrt, aber in seinem Sachanliegen so in die Ekklesiologie integriert, daß Mission bereits der kirchengründenden [174] Vergangenheit zugehört und in der Gegenwart missionarische Momente höchstens ekklesiologische Bezüge haben.⁶⁰

IV. Die eingangs genannten Pastoralbriefe in die anstehenden Überlegungen einzubeziehen, ist bei aller notwendigen Differenzierung innerhalb der Deuteropaulinen⁶¹ zwar selbstverständlich, aber 1.2 Tim, Tit versagen sich weithin unserer Fragestellung. Das ist einerseits in der Struktur dieser Schreiben als an (fiktiv) persönliche Mitarbeiter des Paulus gerichtet begründet. Andererseits aber liegt es an den Sachanliegen dieser Briefe, deren Empfänger hinsichtlich Gebet und Mission nicht eigens angewiesen werden müssen, auch wenn beides unter verschiedenen Aspekten – nicht besonders hervortretend – im Blick bleibt, denn mit

 Manchen Hinweis dazu bietet H. Schlier, Der Brief an die Epheser. Ein Kommentar, Düsseldorf ⁷1971, 300 ff. in seiner umfassenden Auslegung (305): „Freilich ist Kol 4,3 f. … im deutlichen Unterschied zu unserer Stelle das Gebet der Gemeinde dafür erbeten, daß er, der Apostel, (wieder) eine Gelegenheit finde zur Verkündigung – eine offene Tür.“  H. Schlier, Eph. (s. Anm. 57), 303.  So A. Lindemann, Der Epheserbrief, ZBK.NT 8, 1995, 116; ihm folgend H. Hübner, Eph. (s. Anm. 31), 271.  Weiter zu bedenken bleibt J. Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, HThK.S V, 1994, 348: Dem Verfasser des Eph ist es wichtiger, den „inneren Wachstums- und Reifungsprozeß der Kirche einzuschärfen. Er scheint ihm in seiner Lage wichtiger als der Missionsvorgang“.  Die gegenwärtig erneut erwogene Unterscheidung zwischen „Deuteropaulinen“ und „Tritopaulinen“, die nach H. Hübner (s. Anm. 31) auch Eph berücksichtigen müßte, wird hier nicht diskutiert.

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„Mission“ verbindet sich im wesentlichen der Rückblick auf den Apostel Paulus. Obwohl letztlich in den Adressaten die dahinterstehenden Gemeinden angesprochen sind,⁶² führt dies nicht zur stärkeren Beachtung der anstehenden Thematik. In den Past ist nur eine Fürbitte ausgesprochen (1 Tim 2,1 ff.), paränetisch eingebunden und umfassend mit vier Begriffen für „Gebet“ eingeführt. In Sache und Anliegen entspricht sie dem Grundduktus dieser Schreiben,⁶³ kennzeichnet sie mittelbar eine Gemeinde im Umfeld der Welt (V. 2). Doch ihre Intention greift tiefer. Das Gebet, das auch die gesamte „Obrigkeit“ – weit gefaßt den „Staat“ – einschließt, ist soteriologisch ausgerichtet, und die vierfache Aufnahme von πᾶς („für alle Menschen“ [V. 1]; für alle in herausragender Stellung [V. 2]; für alle Menschen [V. 4]; „für alle“ [V. 6]) führt darauf hin.⁶⁴ Ohne auf die Fülle von Einzelproblemen [175] in 2,1– 7 näher einzugehen, ist unter unserer Fragestellung zwar darauf hinzuweisen, daß „der Abschnitt ganz betont in die Paulus-Anamnese des V. 7 einmündet, wo Paulus ‚als der heilsgeschichtlich besonders hervorgehobene Zeuge des Heilswerkes Jesu Christi für alle Menschen‘ erscheint“⁶⁵, aber es steht damit doch an, ob in 1 Tim 2,1– 7 tatsächlich die Zuordnung von Gemeinde – Fürbitte – Mission Gewicht gewinnt, zumal die Bestimmung einer „missionarischen Situation“ im Zusammenhang des Abschnittes nicht unbestritten ist.⁶⁶ Der sicher auch vorhandene missionarische Bezug, der mit der grundlegenden Bedeutung des Völkerapostels Paulus für die Past ohnehin gegeben ist, ist in 2,1– 7 der soteriologischen Kernaussage (2,4.5 f.) zugeordnet und substituiert, so daß

 Für das Verstehen der Pastoralbriefe hat der Jubilar umfassend beigetragen; vgl. seine eigene Auflistung in: J. Roloff, Art. Pastoralbriefe, TRE 26, 1996, 50 – 68, 67; über den genannten Artikel hinaus vgl. bes. ders., Der erste Brief an Timotheus, EKK XV, 1988; ders., Die Kirche (s. Anm. 3), 250 – 267.  Dies wird besonders zur Charakterisierung dieser Fürbitte hervorgehoben von A. Sand, „Am Bewährten festhalten“. Zur Theologie der Pastoralbriefe, in: Theologie im Werden. Studien zu den theologischen Konzeptionen im Neuen Testament. In Zusammenarbeit mit dem Collegium Biblicum München hg. v. J. Hainz, Paderborn 1992, 351 ff., bes. 358 ff.; zu weiteren Gesichtspunkten vgl. G. Friedrich, Fürbitte (s. Anm. 26), 450 ff.  Vgl. J. Roloff, 1 Tim (s. Anm. 62), 108; L. Oberlinner, Die Pastoralbriefe. Erste Folge. Kommentar zum ersten Timotheusbrief, HThK XI/2.1, 1994, 77 u. ö.; umfassend dazu aus der älteren Forschung C. Spicq, Saint Paul. Les Épîtres Pastorales, ÉtB, ²1947, 52 ff., bes. 57 f.  So L. Oberlinner, 1 Tim (s. Anm. 64), 65 Anm. 4 unter Zitat-Aufnahme von J. Roloff, 1 Tim (s. Anm. 62), 112.  Vgl. die Bedenken bei E. Schlarb, Die gesunde Lehre. Häresie und Wahrheit im Spiegel der Pastoralbriefe, MThSt 28, 1990, 245 f. u. ö.; auch F. Hahn, Mission (s. Anm. 1), bezieht unseren Abschnitt nicht in seine Überlegungen ein; zu wichtigen Einzelheiten vgl. M. Wolter, Die Pastoralbriefe als Paulustradition, FRLANT 146, 1988, 69 ff.77 ff.; H. Merkel, Die Pastoralbriefe, NTD 9/1, 13=11991, 25 zu 1 Tim 2,4.

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diese Fürbitte aus den prägend soteriologischen Aussagen des Abschnitts ihren inneren Bezug gewinnt. Daraus ergibt sich: Die Fürbitte steht „im Zusammenhang der Ermahnung der christlichen Gemeinden, für alle Menschen zu beten“. Und dieses, „der Gedanke der universalen Gebetsverpflichtung, macht das Besondere der Past aus“.⁶⁷ Damit aber weist diese so gestaltete Fürbitte in die dritte christliche Generation, weist sie die Gemeinde an ihren Platz in der sie umgebenden heidnischen Welt um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert n.Chr. Abschließend ist festzuhalten: Unsere begrenzte Fragestellung, die von den anerkannten paulinischen Briefen auch in ihrer theologischen Intention gedeckt ist, setzt sich in den „Deuteropaulinen“ fort. Dabei zeigt sich, daß die Verfasser von 2 Thess und Kol ihr am engsten verbunden sind, daß die einschlägigen Hinweise im Eph schon einer deutlich späteren Zeit zugehören und daß die Past angesichts der Thematik an der Schwelle zum 2. Jahrhundert stehen. Bei aller Differenzierung, die die Erschließung der Deuteropaulinen erfordert, bleibt die These, 2 Thess und Kol als „Deuteropaulinen“ schon zu Lebzeiten des Völkerapostels (bei Kol auch die Erwägung einer Niederschrift kurz nach dem Tod des Paulus) einzuordnen, aufgrund der theologisch relevanten Zuordnung von „Gemeinde – Fürbitte – Mission“ eine diskussionswürdige und begründbare Vermutung.

 So L. Oberlinner, 1 Tim (s. Anm. 64), 80.

Lukas 11,20 Zur Debatte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts* Die Herausgeber haben einen etwa fünfseitigen Beitrag erbeten, um diesen in einen wissenschaftlichen Blumenstrauß für den verehrten Kollegen und Freund Zdenek Sázava einzubinden. Um zugleich ein Interessensgebiet des Jubilars zu berühren, soll in der gebotenen Kürze das in der Lukas-Forschung im 20. Jahrhundert vielfach strittige Verständnis von Lk 11,20 im Überblick skizziert werden und damit ein Detail aus der vielschichtigen Diskussion über das Verständnis des Reiches Gottes im lukanischen Werk. Denn es gilt nach wie vor die Feststellung von A. Weiser: „Da es sich um einen sehr komplexen Sachverhalt handelt, ist es verständlich, daß es eine Vielfalt von Meinungen gibt und daß sich gegenwärtig noch keine einheitliche Lösung abzeichnet.“¹ 1) Lk 11,20 steht in einem größeren, Lukas teilweise vorgegebenen Abschnitt, dessen Gesamtthema als „Die Chance der Begegnung mit Jesus“ charakterisiert werden kann und der nach E. Schweizer von 11,14– 36 reicht,² aber sinngemäß untergliedert wird in 11,14– 16 (Einleitung), 17– 26 (1.Teil), 27– 28 (Unterbrechung), 29 – 36 (2. Teil).³ Lk 11,20 als ein der Quelle Q zugehöriges Einzelwort (vgl. Mt 12,28) aus seinem jetzt neuen Kontext herauszulösen, ist möglich. Es muß also dieser Vers nicht in einer von Anbeginn an ursächlich vorgegebenen, festen „Komposition 11.(14).15.17– 18a“ gestanden haben.⁴ – Ohne weitere Nachweisung wird die in der Nachfolge R. Bultmanns häufig begründete Sicht akzeptiert, daß Lk 11,20 „den höchsten Grad der Echtheit beanspruchen“ kann, „den wir für ein Jesuswort anzunehmen in der Lage sind“,⁵ und ebenso wird festgehalten, daß dieser Vers * Herrn Kollegen Prof. Dr. Zdenĕk Sázava zum 70. Geburtstag am 28. Juni 2001.  So A. Weiser, „Reich Gottes“ in der Apostelgeschichte, in: Der Treue Gottes trauen. Beiträge zum Werk des Lukas. Für Gerhard Schneider (FS zum 65. Geburtstag), hg. v. C. Bussmann u. W. Radl, Freiburg 1991, 127– 135, 127 f. (ebd., 127 Anm. 3 reiche Auflistung neuerer Forschung).  E. Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 18=11982, 127 (dort Schrägdruck).  So zuletzt R. Dillmann / C. M. Paz, Das Lukas-Evangelium. Ein Kommentar für die Praxis, Stuttgart 2000, 224 ff.  So z. B. H. Schürmann, Das Lukasevangelium, HThK III/2.1, Freiburg 1994, 238; ähnlich aufgrund früherer Hinweise Schürmanns H. Merkel, Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu, in: M. Hengel u. A. M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, WUNT 55, Tübingen 1990, 143; im übrigen vgl. die methodisch vorbildlich aufgearbeitete Diskussion bei H. Merklein, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchung zur Ethik Jesu, fzb 34, Würzburg 1978, 158 ff.  So R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen ²1931, 174.

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gegenüber seiner Parallele in Mt 12,28 in seinem Wortlaut für ursprünglicher gelten kann.⁶ 2) Die bereits forschungsgeschichtlich zu bezeichnende Aufarbeitung der Probleme von Lk 11,20 im 20. Jahrhundert läßt auch mit wenigen Hinweisen die vielschichtig relevante Bedeutung dieses Verses erkennen: [31] Bahnbrechend und darum für das Weitere als Paradigma stehend sind die diesbezüglichen Untersuchungen von W. G. Kümmel. Schon 1936 zeigte er in „Die Eschatologie der Evangelien. Ihre Geschichte und ihr Sinn“ zur Stelle die theologische Notwendigkeit auf, hier von der Gegenwart des Heils in Jesu Wirken als Gottes Handeln zu sprechen.⁷ Er begründete diese Sicht auch sprachlich in der ersten Auflage von „Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu“,⁸ um dann in der völlig neubearbeiteten zweiten Auflage dieser Untersuchung 1953 (=³1956) seine Überlegungen allseitig abzusichern⁹ mit dem Ergebnis: „Es kann … keine Rede davon sein, daß φθάνειν jemals wirklich synonym mit ἐγγίζειν gebraucht wird“, und es ist darum sprachlich eindeutig gegeben, ἔφθασεν Lk 11,20 (Mt 12,28) zu übersetzen: „Die Gottesherrschaft ist zu euch gekommen.“¹⁰. Die Konsequenz daraus ist eine weitreichend theologische: In Jesus selbst, in seiner Verkündigung und seinem Wirken ist das Reich Gottes gegenwärtig, woraus sich nach Kümmel für die eschatologische Verkündigung Jesu das grundlegend zu erhebende unbedingte Zueinander von gegenwärtiger und noch ausstehender Gottesherrschaft als zu klärende Aufgabe stellt,¹¹ zusammengefaßt in einer Feststellung aus dem Jahre 1982, daß „dieses ‚Gekommensein‘ der Gottesherrschaft in

 Vgl. O. Merk, Das Reich Gottes in den lukanischen Schriften (1975), in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese, hg. v. R. Gebauer, M. Karrer u. M. Meiser, BZNW 95, Berlin / New York 1998, 281 Anm. 31 (mit Literatur).  W. G. Kümmel, Die Eschatologie der Evangelien. Ihre Geschichte und ihr Sinn (1936), in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte. Bd. 1. Gesammelte Aufsätze 1933 – 1964, hg. v. E. Gräßer, O. Merk u. A. Fritz, MThS 3, Marburg 1965, 48 ff.52.  AThANT 6, Basel 1945, 12.63 ff.; vgl. ders., Kirchenbegriff und Geschichtsbewußtsein in der Urgemeinde und bei Jesus, SyBU 1, Uppsala 1943, 54 Anm. 88.  W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, AThANT 6, Zürich ³1956, 98 – 102; vgl. auch O. Merk, Die synoptische Redenquelle im Werk von Werner Georg Kümmel, in: Von Jesus zum Christus. Christologische Studien. Festgabe für P. Hoffmann zum 65. Geburtstag, hg. v. R. Hoppe u. U. Busse, BZNW 93, Berlin / New York 1998, 191 ff. (in diesem Band S. 260 – 270).  A.a.O., 99 f.  A.a.O., 101 f.102 ff.133 ff.; vgl. die Aufarbeitung der Fragestellung bei E. Gräßer, Verheißung und Erfüllung. Werner Georg Kümmels Verständnis der Eschatologie Jesu, in: Glaube und Geschichte. FS Werner Georg Kümmel zum 80. Geburtstag, hg. v. E. Gräßer u. O. Merk, Tübingen 1985, 33 – 49.

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Jesus (Lk 11,20 par.) die Gegenwart als eschatologisches Geschehen in unauflösliche Verbindung setzt zu dem notwendigerweise noch ausstehenden nahe futurischen Geschehen des Kommens der Gottesherrschaft, d. h. des Offenbarwerdens Gottes als Endzeitherrscher“.¹² Die sich durchhaltende Sicht Kümmels zu Lk 11,20 und die in ihr liegenden Implikationen¹³ waren wesentlich Anlaß, im letzten halben Jahrhundert zentrale Fragestellungen, die an diesen Vers im einzelnen wie an die eschatologische Verkündigung Jesu knüpften, zu bedenken. 3) A) Blieb auch Kümmels Verständnis der eschatologischen Verkündigung Jesu im Hinblick ihrer Näherbestimmung als „Naherwartung“ umstritten,¹⁴ so fand doch seine Deutung von Lk 11,20 als Aussage über die Gegenwart der Gottesherrschaft weithin Zustimmung. Insgesamt sah man – mit Ausnahmen – als Charakteristikum Jesu seine Verkündigung von Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes an,¹⁵ deren Proprium Kümmel dahingehend bestimmte, „daß es die Person Jesu ist, deren Wirken diese Gegenwärtigkeit der eschatologischen Vollendung verursacht“.¹⁶ Zugleich aber zeigte Kümmel, daß schon das Judentum zur Zeit Jesu durchaus von der gegenwärtigen „Wirklichkeit“ der Gottesherrschaft sprechen konnte,¹⁷ so daß die heute kaum noch aufgrund neuer religionsgeschichtlicher

 So W. G. Kümmel, Vierzig Jahre Jesusforschung (1950 – 1990), hg. v. H. Merklein, BBB 91, Weinheim ²1994, 482.  Vgl. auch W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, GNT 3, Göttingen 41980 (= 51987), 33 zu Lk 11,20: „Das ist zweifellos eine paradoxe Aussage; denn der Jude erwartet, daß mit dem Kommen der Gottesherrschaft Gottes Macht sichtbar zutage tritt, und hier ist es nur Jesu Macht über die Dämonen, die Jesus zu der Behauptung veranlaßt, in seinen Taten sei die kommende Gottesherrschaft angebrochen.“ Aber „der Hörer Jesu“ kann „diese Gegenwart der kommenden Gottesherrschaft in Jesu Wirken und Verkündigen nur erkennen“, „wenn er diesen Anspruch Jesu anerkennt“ (vgl. auch ebd. 55).  Vgl. z. B. R. Bultmann, Werner Georg Kümmel, Verheißung und Erfüllung, ThLZ 72, 1947, 271– 274; E. Fuchs, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu von Werner Georg Kümmel, in: ders., Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1960, 66 – 78; E. Gräßer, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte, BZNW 22, Berlin (1957) ³1977, 6.100 u. „Einleitung zur 3. Auflage“, IX–XXXII (mit Modifikationen gegenüber 1. Aufl.; vgl. dazu W. G. Kümmel, Ein Jahrhundert Erforschung der Eschatologie des Neuen Testaments, ThLZ 107, 1982, 81 ff., 95 Anm. 50); ders., Die Naherwartung Jesu, SBS 61, Stuttgart 1973, 102 ff.121 ff.; E. Jüngel, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie, HUTh 2, Tübingen ²1964, 174 ff. u. passim.  Vgl. weiter gefaßt den Überblick bei W. G. Kümmel, Ein Jahrhundert (Anm. 14), 90 ff.  W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung (Anm. 9), 101.  W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung (Anm. 9), 100 Anm. 9 (mit Nachweisungen); vgl. auch ders., Vierzig Jahre Jesusforschung (Anm. 12), 196 mit dem 1976 erfolgten Hinweis auf H.-W.

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Quellengrundlage bestrittene Sicht an Kümmels einstige Einschätzung des Sachverhalts anknüpfen konnte: „Immediately after World War II [32] the German scholar Werner Georg Kümmel demonstrated that in Jesus’ eschatology we find both future expectation and already present experience. Against this thesis of Kümmel, presented in 1945 in his book Verheißung und Erfüllung, Rudolf Bultmann wrote his review of the book in Theologische Literaturzeitung 1947 that such an interpretation of the eschatology of Jesus, which he narrowed down to the term ‚Kingdom of God‘ is impossible because this would be totally foreign to contemporary Jewish thinking. We see now that Bultmann was mistaken; in fact, I know of no New Testament scholar who still holds his position. (I will not discuss here the ideas of the so-called Jesus Seminar in North America which denies eschatology and apocalypticism in the authentic teaching of Jesus.)“¹⁸ B) Hinsichtlich der philologischen Bestimmung wird überwiegend ἔφθασεν im Sinne gegenwärtigen Bezugs in Lk 11,20 („die Gottesherrschaft ist bereits da“) entschieden.¹⁹ Dabei macht G. Fitzer mit Recht darauf aufmerksam, daß „vom Lexikalischen her“ keine falschen Alternativen des theologischen Verständnisses aufgerichtet werden dürfen.²⁰ M. Wolter verweist auf die Verbindung ἔφθασεν ἐπὶ (u. Akkusativ) und deutet diese als „einen räumlichen Vorgang: „Es geht darum, daß eine im Himmel bereits bestehende Wirklichkeit in den Exorzismen Jesu irdische Realität gewinnt.“²¹ C) Es kann nicht Sinn sein, die Breite der Forschung im Für und Wider auch nur annähernd nachzuzeichnen. Einige Positionen für die Gegenwartsbedeutung sowie einige, die dieser ablehnend oder mit problematisierender Zurückhaltung begegnen, sollen im folgenden für Lk 11,20 genannt werden. a) Für „Gegenwart des Reiches Gottes“ im Wirken Jesu seien neben Kümmel z. B. angeführt: H. Merkel,²² E. Käsemann,²³ G. Klein,²⁴ J. Ernst,²⁵ J. A. Fitzmyer,²⁶ M.

Kuhns Dissertation „Enderwartung und gegenwärtiges Heil …“, STUNT 4, Göttingen 1966, daß diese Vorstellung im palästinischen Judentum „keineswegs neu“ ist.  So H.-W. Kuhn, Qumran Texts and the Historical Jesus. Parallels in Contrast, in: The Dead Sea Scrolls. Fifty Years after their Discovery. Proceedings of Jerusalem Congress, July 20 – 25, 1997, ed. by L. H. Schiffman, E. Tov, and J. VanderKam, Jerusalem 2000, 573 ff., 576.  Für die ältere Forschung vgl. die Nachweise bei H. Merkel, Gottesherrschaft (Anm. 4), 143 Anm. 36.  G. Fitzer, Art. φθάνω, ThWNT 9, 1973, 90 ff., 93 f. u. Anm. 27 ebd. (Zitat).  M. Wolter, „Was heisset nu Gottes reich?“, ZNW 86, 1995, 5 ff., 14 (Zitat); ders., ‚Reich Gottes‘ bei Lukas, NTS 41, 1995, 541 ff.550 u. Anm. 36.  H. Merkel, Gottesherrschaft (Anm. 4), 142 ff. (mit Anführung zahlreicher Vertreter auch aus der älteren Forschung).

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Hengel / A. M. Schwemer,²⁷ H. Merklein,²⁸ M.Wolter,²⁹ C. Burchard,³⁰ R. Dillmann / C. M. Paz.³¹ b) Die zumindest die Gegenwart des Reiches in Lk 11,20 abschwächenden Positionen hat H. Merkel besprochen, und einige weitere sind für die gegenwärtige Forschungslage zu nennen.³² D) Der Gegenwartsbezug der Gottesherrschaft in Lk 11,20 wird mit dem Hinweis auf den „Finger Gottes“ präzisiert. Denn dieser ist nicht nur „Ausdruck des unmittelbaren [33] und konkreten Eingreifens Gottes“,³³ sondern er zeigt an: „Jesu Dämonenaustreibungen sind Zeichen für die Gegenwart (nicht nur „Nähe“!) des Gottesreiches“.³⁴ In Jesu Austreiben der Dämonen handelt Gott selbst, in dieser heilenden Begegnung mit Jesus ist Gottes Herrschaft gegenwärtig.

 E. Käsemann, Lukas 11,14– 28, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 1960, 242 ff., 244: „Wer es mit Jesus zu tun bekommt, bekommt es nach seinem eigenen Anspruch mit der praesentia dei auf Erden und bis in die Leiblichkeit hinein zu tun.“  G. Klein, Art. Eschatologie IV. Neues Testament, TRE 10, 1982, 270 ff., 273: „Auf der anderen Seite sind die Aussagen über die Gegenwart der Gottesherrschaft eindeutig und in der alten Jesusüberlieferung fest verankert (Lk 10,18; 11,20 par. sind die entscheidenden Belege …).“  J. Ernst, Das Evangelium nach Lukas, RNT, Regensburg 6=21993, 278 f.  J. A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke (X–XXIV). Introduction, Translation, and Notes, AncB 28 A, New York 1985, 917: „the surely the kingdom of God has already reached you“ (mit Diskussion 922).  M. Hengel / A. M. Schwemer, Vorwort zu „Königsherrschaft Gottes“ (Anm. 4 unter H. Merkel), 10 f.  H. Merklein, Gericht und Heil. Zur heilsamen Funktion des Gerichts bei Johannes dem Täufer, Jesus und Paulus, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 60 ff., 66.  M. Wolter (Anm. 21).  C. Burchard, Jesus für die Welt. Über das Verhältnis von Reich Gottes und Mission, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 51 ff., 56 (mit skeptischer Abwägung), dann ebd.: „Es ist wohl das einzige Wort, in dem Jesus sich ausdrücklich zum Reich in Beziehung setzt“; 57: „Das gegenwärtige Kommen des Reiches ist an Jesus gebunden. Der Finger Gottes ist nicht frei verfügbar.“  R. Dillmann / C. M. Paz, Lukas-Evangelium (Anm. 3), 228.  H. Merkel, Gottesherrschaft (Anm. 4), 144 f.; vgl. auch die Diskussion bei E. Gräßer (Anm. 14); weiter C. Demke, Art. Gott. IV. Neues Testament, TRE 13, 1984, 645 ff., 648: „Zeichen der Nähe der Gottesherrschaft (Lk 11,20)“; in der Entscheidung schwankend bleibt F. Mußner, Jesu Ansage der Nähe der Gottesherrschaft nach Markus 1,14– 15. Ein Beitrag der modernen Sprachwissenschaft zur Exegese, in: ders., Jesus von Nazareth im Umfeld Israels und der Urkirche, hg. v. M. Theobald, WUNT 111, Tübingen 1999, 223 ff., 241 (vgl. in auch 78.133).  So H. Schlier, Art. δάκτυλος, ThWNT 2, 1935, 21 (mit Belegen).  J. Ernst, Evangelium nach Lukas (Anm. 25), 278 f.; vgl. lehrreich J. A. Fitzmyer, Luke (Anm. 26), 922; B. Ego, Gottes Weltherrschaft und die Einzigkeit seines Namens. Eine Untersuchung zur Rezeption der Königsmetapher in Mekhilta de R. Yishmael, in: M. Hengel / A. M.

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Lukas 11,20

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4) Es können hier weder eine Analyse noch der komplizierte synoptische Vergleich zu Lk 11,14– 26.27– 28.(29 – 36) durchgeführt werden, doch ist festzuhalten, daß differenzierter als eingangs erwähnt der ursprüngliche Einzelspruch Lk 11,20 wohl als „zweite Antwort“ auf den „Vorwurf“ Lk 11,14 f. unter „Einbau“ des Verbindungsverses 11,19 zugeordnet worden ist und dies bereits Lukas in seinem Q-Bestand des Abschnitts vorgefunden hat, er selbst aber unter Hervorhebung von Lk 11,20 möglicherweise in die Verse 14– 19 leicht eingegriffen hat.³⁵ Jedenfalls ist die Gewichtung von Lk 11,20 bei Lukas für seine theologische Konzeption von Belang, und es darf – in vorliegender Skizze ohne nähere Begründung – erneut die These gewagt werden,³⁶ daß sich der Verfasser des dritten Evangeliums theologisch vielschichtig Aussagen der Quelle Q zu eigen machen und auch mit seinem Sondergut in sachgemäße Beziehung setzen (Lk 10,18; 17,20 f.)³⁷ und so insgesamt für sein Verstehen von βασιλεία τοῦ θεοῦ auswerten konnte. Selbstredend haben wir heute in unserer exegetischen Arbeit zwischen den Gegenwartsaussagen über das Reich Gottes (Lk 10,18; 11,20; 17,20 f.) und dem Anliegen des Evangelisten zu unterscheiden, was in gleicher Weise auch von den Aussagen über die Zukunft des Reiches Gottes im lukanischen Werk gilt. Die redaktionelle und theologische Leistung des Lukas ist unter anderem darauf ausgerichtet, mit dem Theologumenon, das „Reich Gottes“ zu verkündigen, unter Aufnahme der Gegenwartsaussagen und der zahlreichen, von ihm teilweise problematisierten Hinweise auf die Zukunft des Gottesreiches eine eigene/eigenständige Konzeption in seinem Gesamtwerk (Lk und Apg) vorzulegen, die er zu seiner eigenen Zeit und an seinem Ort innerhalb der Geschichte des Urchristen-

Schwemer (Hg.), Königsherrschaft (Anm. 4 unter H. Merkel), 257 ff.271 u. Anm. 84; S. SchmidGrether, Auge um Auge. Zahn um Zahn. Texte aus der Bergpredigt auf dem jüdischen Hintergrund unter die Lupe genommen, Wetzikon 1999, 156 f. (zu Lk 11,20). – Auf die eingehenden Überlegungen von M. Hengel, Der Finger und die Herrschaft Gottes, in: La Main de Dieu. Die Hand Gottes, hg. von R. Kieffer u. J. Bergman, WUNT 94, 1997, 87 ff. kann in dieser Kurzinformation leider nur hingewiesen werden, zumal diese hinsichtlich „Finger Gottes“ und gegenwärtige Gottesherrschaft für Lk 11,20 im wesentlichen zum gleichen Ergebnis kommen.  Zu hier offenen Problemen eingehend F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 9,51– 14,35), EKK III/2, Zürich 1996, 165 ff.; vgl. die oben Anm. 4 genannten Untersuchungen; dazu A. Polag, Die Christologie der Logienquelle, WMANT 45, Neukirchen-Vluyn 1977, 38 ff. (Zitate 39 f.); wichtige Hinweise auch auf Lk 11,14 ff. anhand von Mt 12,22– 37 bei W. G. Kümmel, in: G. Adam, O. Kaiser, W. G. Kümmel, O. Merk, Einführung in die exegetischen Methoden, Gütersloh 72000, 99 ff.; anders M. Hengel (Anm. 34), 91 u. ö.  Vgl. Hinweise bei O. Merk, Reich Gottes (Anm. 6).  Lk 17,20 wird man nicht als durchgängige Redaktion des Lukas ansehen können; vgl. zutreffend H. Merkel, Gottesherrschaft (Anm. 4), 144 f.

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Zur Debatte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts

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tums einbringt. Darüber ist jedoch jetzt nicht zu befinden.³⁸ Die Diskussion darüber ist – wie erwähnt – im Ergebnis offen, sie verfehlt aber dann ihre maßgebende theologische Richtung, wenn nicht die Basis-Aussage in Lk 11,20 weiterhin Bestand hat: In Jesu Wirken und Verkündigen handelt Gott selbst, er ist gegenwärtig nach dem Wort Jesu dort: ἐφ᾿ ὑμᾶς ausgerichtet. Das zu interpretieren ist der Gemeinde vom Zeugnis der neutestamentlichen Schriften an aufgetragen. Es bündelt sich und führt zum Zentrum: Kreuz und Auferweckung Jesu Christi stehen dafür, im Wort des Irdischen das gegenwärtige Handeln Gottes für uns zu begreifen und so aussagbar zu machen, daß Gottes kommendes Reich im Blick bleibt.

 Vgl. die bei A. Weiser (Anm. 1) aufgelistete neuere Forschung (dort Anm. 3); darüber hinaus z. B. M. Wolter (Anm. 21) und P. Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, FRLANT 174, Göttingen 1998, 44 ff. u. ö.

Beobachtungen zu Wilhelm Heitmüllers Auslegung des Johannesevangeliums Forschungsgeschichtliche Arbeit steht in der ihr eigenen Spannung zwischen der Rückblende auf einst Gedachtes und Erkanntes, dem Eruieren von Forschungspositionen in Detailbeiträgen und übergreifenden Werken im wissenschaftlichen oder zumindest Fach-Horizont ihrer eigenen Zeit und dem, wie die nachfolgenden Generationen frühere Einsichten rezipiert oder nicht rezipiert haben, mit Recht über frühere Forschung hinauskamen oder auch bedenkenswerte Sachverhalte älterer Überlegungen mehr übergangen als erarbeitet haben, um dann in sehr viel späterer Zeit diese als eigene Neuentdeckung zumeist ohne Kenntnis(nahme) von Vorgängern zu präsentieren. Ein Blick auf Wilhelm Heitmüllers Johannesforschung lässt Aspekte sichtbar werden, die nicht einfach unter den Stichworten Nostalgie oder Repristination abgelegt werden können. Wilhelm Heitmüller (geboren am 3. 8.1869 in Döteberg/Hannover – gestorben am 29.1.1926 in Tübingen), bedeutender Vertreter der „Religionsgeschichtlichen Schule“, von 1908 bis 1920 Professor für „Neutestamentliche Theologie und Exegese“ in Marburg, von 1920 bis 1923 in gleicher Eigenschaft in Bonn und anschließend bis zu seinem frühen Heimgang in Tübingen,¹ schrieb als junger Göttinger Privatdozent einen Kommentar zum JohEv, der in dem von den Vertretern der „Religionsgeschichtlichen Schule“ initiierten Werk „Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt“, herausgegeben von J. Weiß (1905/06 bzw. 1905/07), erschien. Dieses Kommentarwerk, dessen Ausrichtung und Auslegung bewusst auf den „gebildeten Laien“ tendierte, erreichte in zwei rasch ineinander greifenden Auflagen die Verbreitung von 20.000 Exemplaren² und war somit schnell in die vorderste Reihe theologischer Publikationen der damaligen Zeit gerückt. [174] Heitmüllers Kommentar erschien dort im II. Band, S. 162– 314 (wobei Einzelseitenzählung der Teilbände und Gesamtnumerierung des II. Bandes in der 2.

 Vgl. zu W. Heitmüller: Catalogus Professorum Academiae Marburgensis. Die Akademischen Lehrer der Philipps-Universität in Marburg von 1527 bis 1910, bearb. v. F. Gundlach, VHKHW 15,1, Marburg 1927, 55 f.; ebd., Zweiter Band: Von 1911 bis 1971, bearb. v. I. Auerbach, VHKHW 15,2, Marburg 1979, 24; Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation v. G. Lüdemann u. M. Schröder, Göttingen 1987, 74 f.; R. Bultmann, Wilhelm Heitmüller (Nachruf), CW 40, 1926, 209 – 213.  Angabe nach: ThLZ 33, 1908, 58.

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Aufl. zusätzlich für H.s Auslegung auch die Seiten 685 – 861 ergeben).³ In einer dritten,verbesserten und vermehrten Auflage dieses Kommentarwerkes, nach dem Tode von J. Weiß (1914) nunmehr von W. Bousset und W. Heitmüller herausgegeben, stehen Heitmüllers Ausführungen in Bd. IV, 1918, S. 9 – 184; diesem Kommentar vorangestellt „Die Johannes-Schriften. Einleitung“, S. 1– 9,vom selben Autor verfasst. – Zwischenzeitlich war ein Aufsatz Heitmüllers im Festschrift-Heft für Julius Wellhausen unter dem Titel „Zur Johannes-Tradition“ (ZNW 15, 1914, 189 – 209) erschienen. Man wird, um keinen falschen Eindruck zu erwecken, weder von einer epochalen Breiten- noch Nachwirkung der Johannesforschung von Heitmüller sprechen dürfen, wohl aber ist festzuhalten, dass W. Bousset im Artikel „JohannesEvangelium“ in RGG¹, Bd. 3 (1912), S. 608 – 636 in erheblichem Maße Heitmüllers Ausführungen bedenkt und anführt, zumindest also die „Religionsgeschichtliche Schule“ mit dessen Konzept nicht unbeträchtlich konform gehen konnte.⁴ – Die durch den frühen Tod Heitmüllers sicher auch gebremste weitere Diskussion über sein Werk verhinderte jedoch nicht, dass seine Lösung der joh. Verfasserfrage in den Lehrbüchern der Einleitungswissenschaft des Neuen Testaments mehr oder minder weiterhin im Gespräch blieb, dass selbstredend seine Kommentierung in nicht wenigen späteren Kommentaren zumindest bibliographisch angeführt wurde und dass bis in die Gegenwart hinein gelegentlich einzelne Punkte seiner Auslegung erörtert werden,⁵ wie dies im übrigen auch in Monographien bis heute geschieht.⁶ Dem Sachanliegen unangemessen wäre es, die überreiche Johannesforschung in unserem Jahrhundert minutiös auf Hinweise zu Heitmüllers einschlägigen Beiträgen durchprüfen zu wollen. Stichproben in repräsentativen diesbezüglichen Werken kommen einem Stehenbleiben bei Quisquilien gleich – mit [175] zwei Ausnahmen: In Adolf Jülichers „Einleitung in das Neue Testament“ (GThW III/1), Tübingen ⁷1931, und in Rudolf Bultmanns „Das Evangelium des Johannes“ (KEK II), Göttingen (¹⁰1941) ¹⁵1957, ist Heitmüllers Anliegen so eingegangen, dass von diesen Werken her zum Ansatz des Autors hinzulenken ist.  Vgl. auch die sorgfältige Auflistung von H. Schuster in seiner Besprechung der 2. Aufl.: „Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt …“, 2. Aufl., 2 Bände, Göttingen 1905/7 (VI, 484 u. IV, 954 S.); ThLZ 33, 1908, 587– 589.  Wohl etwas zurückhaltender J. Weiß, Art. Literaturgeschichte des NT, ebd. 2175 – 2215: 2199 – 2201.  Vgl. z. B. U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 1998, 321.  Vgl. z. B. W. Schmithals, Johannesevangelium und Johannesbriefe. Forschungsgeschichte und Analyse, BZNW 64, Berlin / New York 1992 (passim); M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch, mit einem Beitrag zur Apokalypse von J. Frey, WUNT 67, Tübingen 1993 (passim); J. Frey, Johanneische Eschatologie. Band I: Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1997, 25.38.59 f.77.86 f.

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Was Heitmüller in ZNW 1914, 200.201 ff. darlegt und 208 f. zusammenfasst, bringt Jülicher (für diesen Teil der Bearbeitung vgl. E. Fascher) sachgemäß auf den Punkt. Es ist Heitmüllers Bemühen, die altkirchliche Tradition und den Bestand der joh. Schriften in einem beide verbindenden Modell zur Lösung der joh. Frage zu bringen, das nach eingehender Diskussion von Jülicher-Fascher wie folgt festgehalten wird: „So ist es aussichtslos, hier eine klare Antwort zu geben. Wie kompliziert jede ‚Erklärung‘ wird, die Tradition und Befund gewissenhaft zu verwerten trachtet, hat Heitmüllers Untersuchung in ZNTW (sc. ZNW) 1914 gelehrt, wo bei Gleichsetzung des Lieblingsjüngers mit dem Presbyter und der ‚wir‘ (Joh 21,24) mit den Presbytem bei Papias (und Irenäus), zwischen letztere und Papias noch eine Schülerkette⁷ eingeschoben werden muß, um den verschiedenen Bedenken gerecht zu werden. Selbst bei Annahme der Richtigkeit dieser Traditionskette bleibt nichts als die Antwort, daß Apk vom Presbyter, Evgl. und Briefe von Leuten seines ‚Kreises‘ geschrieben seien. Ist dieses Abschieben auf ein Kollektivum, von dessen Eigenart wir nichts wissen, aber eine befriedigende Lösung? So müssen wir mit einem ignoramus schließen“ (423). Damit aber ist im Resultat ein Heitmüller positiv wichtiges Ergebnis, die Existenz einer joh. Schule, als unbeweisbar abgewiesen worden. Für Heitmüller ist sie eine hilfreiche Hypothese, die joh. Schriften in ihrem Miteinander in den Blick zu bekommen und vor allem das Evangelium selbst situativ und in seiner uns vorliegenden Endgestalt einsichtig zu machen.⁸ Schon in seinem „Nachruf“ (1926)⁹ hatte Bultmann die Bedeutung der Johannesforschung im Gesamtwerk Heitmüllers erwähnt. In seinem eigenen Kommentar zum JohEv lässt sich eine intensive Beschäftigung mit Heitmüllers Forschungen überhaupt, deutlich aber die Bezugnahme auf dessen einschlägige [176] Auslegung zu diesem Evangelium erkennen. Das unmittelbare wie mittelbare Begegnen im Gespräch über das JohEv, auch Bultmanns vielfach kritische Zurückweisung der Sicht des einstigen Doktorvaters, ist zu konstatieren, um dann doch bei dem späteren „Alten Marburger“ zumindest zu erspüren: Im Ringen um die Sache, in der Intensität des Fragens und Durchdringens, hat er das theolo Diese „Kette“ ist auch U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen ³1999, 454 im Anschluss an Heitmüller von Belang.  Vgl. auch W. Heitmüller, Die Johannes-Schriften. Einleitung, IV 1– 9. – Die 1. und 2. Auflage sind unverändert, die 3. Auflage zeigt einen sorgfältigen erneuten Durchgang durch die Ausführungen, bleibt aber weithin am gelegentlich präzisierten Wortlaut der früheren Auflagen. In den Sachausführungen ist eine gravierende Veränderung nicht festzustellen. – Im folgenden wird wesentlich die 3. Auflage herangezogen (abgek. = IV, u. Seitenzahl), die 1. Auflage (abgek. II/3, u. Seitenangabe) von Fall zu Fall, wobei die jeweilige Bandzählung in dem Kommentarwerk mitberücksichtigt ist.  S. Anm. 1.

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gische Zum-reden-Bringen bei Heitmüller in die eigenen Überlegungen in gewandelter theologischer Lage und anderer Einschätzung „religiöser Werte“ mit hineingenommen. Der interpretatorische Impetus, den Bultmann bei Heitmüller ausmachte, ist es, nicht Einzelheiten gegebenenfalls überholter Sachverhalte oder auch missglückter Ableitungen und Rekonstruktionen, der unter dem Neuen und in den Bann Ziehenden bultmannscher Auslegung bleibt.¹⁰ Bereits 1908 erkannte H. Schuster das Besondere der Auslegung Heitmüllers: „Diese Aufgabe, den bleibenden religiösen Wert des streng geschichtlich erklärten Dokuments deutlich zu machen, hat wohl keiner glänzender gelöst als Heitmüller beim Johannesevangelium.“¹¹ Worin liegt das Besondere? Es liegt in dem, was Heitmüller zum Kern seiner interpretatorischen Überlegungen macht: „Die eigentliche Hörerschaft Jesu sind – die Leser der Evangelienschrift“ (IV, 14). Nicht ein Kommentar über das JohEv, sondern eine „Lehrschrift“, die hermeneutisch den Leser einbezieht, ist interpretatorisch zu bewältigen (IV, 18). Die am Leser orientierte Hermeneutik bestimmt darum auch die „Form“ „der Lehre“ (IV, 15), genauer: „Die Geschichte ist nur eine andere Form der Lehre“, zugespitzt (von H. selbst): „Alles Vergängliche, d. h. hier alles Geschichtliche ist nur ein Gleichnis“ (IV, 15). „Der Lehrer in dieser Lehrschrift ist der Form nach Jesus. Er lehrt durch sein Wort und durch sein Tun“ (IV, 15), in Wirklichkeit aber ist es der Evangelist, der „Unterricht“ erteilt, denn „die Reden und Gespräche“ sind „vom Verfasser komponiert“ (IV, 15; im Druck teilweise hervorgehoben), deren „Mittelpunkt“ Jesus selbst ist (IV, 16). Hier gilt es – darin trifft die spätere Auslegung Bultmanns mit Heitmüllers Interpretation überein –, das Grundlegende zu erfassen: „Jesu Person ist radikal vom Gedanken der [177] Offenbarung aus gezeichnet“,¹² so sehr dies Heitmüller in Zügen und Konzeptionen joh. Forschung seiner Zeit ausspricht (IV, 27).¹³ Viele Einzelheiten, die an

 Vgl. z. B. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 1 Anm. 2; 191 Anm. 3; 194 Anm. 2; 203 Anm. 1; 293 Anm. 8; 299 Anm. 2; 428 Anm. 4; 451; 463 Anm. 1; 471 Anm. 6; 555. Zunächst ist allerdings Bultmann in einer seiner eigenen frühesten Veröffentlichungen im Urteil zurückhaltend; vgl. ders., Die neutestamentliche Forschung 1905 – 1907, MPTh 5, 1908/09, 124– 132.154– 164, 162: „Vom früheren Standpunkt aus ist das Johannes-Evangelium charakterisiert von Schmiedel und wesentlich ebenso von Heitmüller“; 163: „Schon bei Heitmüller tauchen hier und da Vermutungen auf, daß diese oder jene Stelle eingeschoben sein mag, ohne daß aber dadurch der Charakter des ganzen Evangeliums verändert würde“ (Sperrdruck bei Namen bleibt unberücksichtigt).  H. Schuster (s. Anm. 3), 589.  R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 191 Anm. 3; W. Heitmüller, IV, 16.18 ff.  Zu Heitmüllers herangezogenen Werken gehören u. a. B. Weiß, Das Johannes-Evangelium, KEK II, Göttingen 91902; H. J. Holtzmann, Evangelium, Briefe und Offenbarung des Johannes, HC IV, Tübingen ²1893, ³1908 (neubearb. v. W. Bauer).

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Fragestellungen und im Stoff unentbehrlich sind, verraten H. J. Holtzmanns vorangegangene minutiöse Erfassung und Auslegung.¹⁴ Ihre Entfaltung darf aber nach Heitmüller nicht den Blick auf den Offenbarer als den Geoffenbarten verdecken: „Daß Jesus von Nazareth der Messias ist, und welches die Art dieses Messias, welches seine Bedeutung, das ist der Hauptinhalt des Buches. Jesus Christus, der einzige Sohn Gottes, von Ewigkeit her bei Gott vorhanden, der Logos, der Vermittler der Schöpfung und Offenbarung, Gott von Art und nun dieser Sohn Gottes Mensch, wirklich Mensch geworden“ (Joh 1,14) (IV, 16 [bei H. weithin im Druck hervorgeben]; vgl. 19 f.). Im JohEv geht es um „das kaum je erreichte und erreichbare Zeugnis von dem, was Jesus in einem Menschen wirken kann“, es geht um „ein Zeugnis, das Glauben sprüht und Glauben weckt auch da, wo seine theologische Einkleidung längst als veraltetes Kleid abgetan ist“ (IV, 30). Das „Dass“ des Gekommenseins Jesu aber wird von Heitmüller in stärkstem Maße der Offenbarung des Offenbarers unterstellt. Auf die Begegnung mit dem Offenbarer kommt es an, und diese Begegnung mit dem Offenbarer führt zum Glauben im Vollzug. „D. h. aber: Unser Evangelist entfernt sich an wichtigen Punkten weiter vom geschichtlich Wahrscheinlichen als die Synoptiker, bringt an wichtigen Punkten nicht Geschichte, sondern Sage und Dichtung“ [178] (1. Aufl., Bd. II/3, 166 [dort teilweise im Druck hervorgehoben]).¹⁵ An anderen Stellen spricht Heitmüller geradezu von „Vergewaltigung geschichtlicher Eruierung“ (1. Aufl., Bd. II/3, 167). Das JohEv ist Glaubenszeugnis, und doch spiegelt es gelebte Wirklichkeit und Auseinandersetzung, eine Situation, in der zwischen Juden und Christen hart

 Die klare Trennung von Synoptikern und JohEv als eines der tragenden Ergebnisse der ntl. Forschung im 19. Jh. ist selbstverständlich vorausgesetzte Grundlage. Schon in den Eingangsworten zur 1. Aufl. beschreibt er es mit einem eindrücklichen Bilde: „Kommen wir von den älteren Evangelien, so geht es uns wohl wie dem Wanderer, der aus belebter, heller Straße in einen hohen, stillen Dom tritt, in den durch die gemalten Fenster nur matt gebrochen das Licht fällt. Dort bunt wechselnde Szenen, lebhafte laute Bewegung, helles Licht: hier Ruhe und Stille, gemessene Feierlichkeit, ein unbestimmtes Dämmerlicht. Ein eigenartiges Helldunkel liegt über den Personen, den Ereignissen, den Gedanken. Zwiespältig, ja gegensätzlich sind die Eindrücke, die der Leser erhält. Nicht mit Unrecht hat man den Verfasser mit Correggio verglichen, der es in meisterhafter Weise verstand, Licht und Schatten mit einander zu vermählen und die verschiedensten Farben und Glanzlichter zu eigenartiger Wirkung zu verbinden. Das Evangelium scheint die entgegengesetztesten Elemente in sich zu vereinigen“ (1. Aufl., Bd. II/3, 162). – Und dieses Bild wird auf die Sprache in diesem Evangelium übertragen: „Die Sprache“ (sc. des Joh) „ist schlicht und einfach, der Stil schwerfällig und eintönig: und doch ist die sprachliche Wirkung bisweilen von ungewöhnlicher Wucht“ (ebd.).  Zu dieser Sicht (und ihrer Nachwirkung) vgl. auch W. G. Kümmel, Das Neue Testament im 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, SBS 50, Stuttgart 1970, 108 ff.; dort auch der wichtige Verweis auf B. H. Streeter, The Four Gospels. A Study of Origins, London 1924.

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gerungen wird (IV, 17; vgl. z. B. auch 113 – 119.158).¹⁶ „Glaubenszeugnis und zugleich Kampfesschrift, begeisterte Verkündigung der Botschaft von Jesus Christus und doch auf der ganzen Linie scharfer Kampf und nimmermüde Verteidigung – das verleiht der Schrift ihren eigentümlichen Charakter“ (IV, 18). Und auch darin ist der Leser einbezogen (IV, 18). Eine Hermeneutik, die nach dem Leser fragt, bleibt im Horizont der Realität, bleibt – theologisch – im Einbeziehen des Lesers derart, dass die ihn angehende Offenbarung ihn selbst ergreift, dass „theoretisches Erkennen“ im „Ergreifen des Erkannten“ sich erschließt (IV, 20) – dass dies im eigenen Betroffensein bewältigt wird, so gewiss die Korrelation von Hermeneutik und (eigens bemühter) „Mystik“ zur Sachklärung hier für Heitmüller zum Balanceakt gerät und der Hinweis, im Evangelium „stoßen“ wir „ständig auf hartes dogmatisches Gestein, aber die Goldadern der lebendigen Erfahrung liegen offen zutage“, nur unterstützenden Wert hat (IV, 20 f.). Die Bestimmung der „Herkunft“ der „johanneischen Weltanschauung“ steht durchaus im Rahmen damaliger Forschung. Alle einschlägigen Bezüge sind von Heitmüller ganz im Sinne der „Religionsgeschichtlichen Schule“ mit Sorgfalt bedacht: Das Zusammentreffen von jüdischem Hellenismus und heidnisch religiösem Synkretismus, verbunden mit Zügen paulinischen Christentums. Religionsgeschichtliche Standortbestimmung auch in ihrem hermeneutischen Belang kennzeichnet die Kommentierung durchgängig und zeigt, dass der Synkretismus zum umtreibenden Daseinsproblem in diesem Evangelium geworden ist (vgl. etwa IV, 21 ff.). Wie aber präsentiert sich dieses Evangelium dem Leser? Auszugehen ist nach Heitmüller von seiner vorliegenden Endgestalt, doch darf dem Leser keinesfalls verschwiegen werden, dass diese Endfassung einen bewegten Vorlauf hat. Es ist zu erheben, wie diese Evangelienschrift zu ihrer Endgestalt kam: Kap. 7,53 – 8,11 ist synoptisches Einsprengsel, Kap. 21 ein Nachtrag.¹⁷ [179] Kräfte einer „Schule“

 Vgl. H. J. Holtzmann (s. Anm. 13), ³1908, 29 f. Ist R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 428 u. ebd. Anm. 4 eine mittelbare Differenzierung zu Heitmüllers Sicht z. Zt. des Kirchenkampfes?  Heitmüller zu Kap. 21: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Hauptzweck unseres Kapitels in V. 24 zu suchen ist. Der große Ungenannte, der Lieblings-Jünger, der im Evangelium selber nur als Gewährsmann und Zeuge erscheint …, soll hier zum Verfasser gestempelt und damit die Bedeutung des Evangeliums, als unmittelbar apostolischen Ursprungs, noch erhöht werden. Wir wissen nicht sicher, wer die ‚wir‘ V. 24 sind … . Sind diese Männer, was immerhin wahrscheinlich ist, in Kleinasien, in Ephesus, zu suchen“, so gelten jene schon oben genannten Probleme, die Heitmüller in ZNW (1914) anging und Jülicher-Fascher beleuchteten. – Heitmüller hält jedoch weiter fest: „Neben diesem Hauptzweck liegt die Tendenz unseres Kapitels vor allem in dem Vergleich des Petrus mit dem Lieblings-Jünger oder genauer – in der rückhaltlosen Anerkennung des Petrus. In V. 15 – 23, weniger deutlich in V. 1– 14 (s. V. 7), wird das Rivalitätsspiel

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haben möglicherweise Teilstücke/Abschnitte geschaffen, eine theologisch gewichtige und gestaltende Hand muss über das Ganze gegangen sein: „Man hat nachweisen wollen, daß im Evangelium zwei Quellenschriften vereinigt, andere, daß eine Grundschrift ein- oder mehrfach überarbeitet worden sei; auch an ein mehr oder weniger zufälliges An- und Zusammenwachsen der Schrift hat man gedacht. Keiner der bisherigen Versuche befriedigt. Es wird wohl auch kaum jemals gelingen, das Rätsel zu lösen. Wir können wohl die vorhandenen Schwierigkeiten aufzeigen, aber der Faden, der aus dem Labyrinth herausführen könnte, fehlt uns. Bei der Untersuchung des Problems darf jedenfalls nicht übersehen werden, daß abgesehen von Kap. 21 und kleinen leicht ablösbaren Glossen das Evangelium [180] so wie es vorliegt trotz allem, auch wenn verschiedene Hände beigesteuert haben, ein planvolles Ganzes ist.¹⁸ Jeder Erklärungs-Versuch wird fehlgehen, der das außer acht läßt. Die Schrift ist sicher nicht das mehr oder zwischen Petrus und dem Namenlosen fortgeführt, scheinbar ganz in der Art des Evangeliums. Aber doch nur scheinbar. Im Evangelium wird der Lieblingsjünger im Grunde höher gestellt als Petrus; dieser zieht in der Konkurrenz mit jenem immer etwas den Kürzeren … . Hier, Kap. 21, wird zwar auch die hohe eigenartige Bedeutung des Namenlosen anerkannt. Aber Petrus erhält doch zweifellos das Übergewicht: als unbeschränkt anerkannter Führer der Kirche und Nachfolger Jesu im Martyrium des Kreuzes (V. 15 – 19), als der eigentliche Menschenfischer bei dem großen Fischzug der Kirche (V. 1– 14). Damit kann sich der Lieblings-Jünger doch nicht messen. Wir erkennen hier also eine zwar etwas verdeckte, aber zweifellose Verschiedenheit der Anschauung des 21. Kapitels von der im eigentlichen Evangelium. Dessen Charakteristikum bestand gerade darin, daß es seine Darstellung des Christentums mit der Autorität des LieblingsJüngers deckte, daß es die höhere Autorität dieses Vertrauten Jesu gegen die gemein-christliche Autorität des Apostelfürsten ausspielte. Hier, Kap. 21, tritt der Namenlose schließlich doch hinter die Vulgär-Autorität der Kirche zurück. Und gerade hier, in dieser Verschiebung des Bildes, dürfte neben V. 24 f. … die eigentliche Tendenz des Kapitels liegen. Indem das allgemein verehrte Haupt der Kirche, Petrus, offiziell anerkannt wurde, wurde das – entweder noch nicht herausgegebene – oder nur in kleinen Kreisen verbreitete – Evangelium gleichsam ‚kirchenfähig‘ gemacht und der Gesamtkirche empfohlen“ (IV, 184; vgl. 35 ff.177; vgl. 1. Aufl., II/3, 314); zur frühesten Diskussion dazu vgl. O. Zurhellen, Die Heimat des vierten Evangeliums (1909), in: K. H. Rengstorf (Hg.), Johannes und sein Evangelium, WdF 82, Darmstadt 1973, 314– 380, bes. 361 ff.  Heitmüller zu Joh 6: „So kunstvoll die Komposition Kap. 6 ist, ganz einheitlich scheint sie nicht zu sein. Allerdings dürften die Versuche, V. 51 (oder 51b) bis 56 (oder 59) als einen fremden Bestandteil auszuscheiden, abzulehnen sein, da sie auf einer Verkennung der eigenartigen Abendmahls-Anschauung des Evangeliums beruhen … . Wohl aber muß man rein aus formalen Gründen des Zusammenhangs ernstlich die Frage aufwerfen, ob nicht die Ausführung über den Glauben, bzw. den Unglauben der Juden, V. 36 – 40; 44– 47, vielleicht auch V. 28 – 30 (? ), dem ursprünglichen Evangelium fremd und von seinem Herausgeber eingearbeitet sind … . Auch in V. 22– 24 und in dem Schlußabschnitt V. 63 – 71 erkennen wir Spuren der Überarbeitung“ (IV, 106; vgl. 95 ff.98.102 f. u. ö.); zu Heitmüllers diesbzgl. Erwägungen vgl. auch W. Bousset, Ist das vierte Evangelium eine literarische Einheit?, ThR 12, 1909, 39 – 64, 40.48.60 (mit guter Zusammenstellung der einschlägigen zur Diskussion stehenden Abschnitte und Einzelverse [40]).

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weniger zufällige Ergebnis von Zusammen-Schiebungen und Überarbeitungen. Man kann wohl ziemlich deutlich erkennen, daß fertige literarische Materialien benutzt und verarbeitet worden sind. Aber das Ganze, das uns vorliegt, ist im wesentlichen doch von der Hand eines planvoll arbeitenden Schriftstellers geschaffen. – Es ist wahrscheinlich, daß der Verfasser des 1. Johannes-Briefes nicht unerheblich an dem Werden unseres Evangeliums beteiligt gewesen ist“ (IV, 31 f.; vgl. 112 f.180 – 184). Macht es vordergründig den Eindruck, Heitmüller müsse – den Rahmenbedingungen des Gesamtwerkes der „Schriften des Neuen Testaments“ sich fügend – von der vorliegenden Endfassung des JohEv her seine Kommentierung vornehmen,¹⁹ so ist dies in Wirklichkeit eigenes methodisches Anliegen: nämlich von der Endgestalt dieser Evangelienschrift her auszulegen, exegetisch von dort her dann aber auch die möglicherweise vorangegangenen Stufen/Schichten etc. aufzurollen, zu eruieren, „ob der Evangelist selbst der Dichter war oder ob er den Stoff aus der nie rastenden, unaufhörlich schaffenden und umschaffenden GemeindeÜberlieferung entnommen hat“(IV, 59; vgl. 26 u. ö.; so auch 1. Aufl., II/3, 207).²⁰ Eindeutig formgeschichtliche Gesichtspunkte [181] werden von der ersten Auflage an aufgeboten, um das lebendige Werden, die spannende und wechselvolle, unserem Evangelium vorausgehende Traditionsgeschichte gleichsam im Rückwärtsaufrollen von der Endfassung her zu erhellen²¹ – doch immer wieder verbunden mit der Mahnung, nur zwischen „Möglichkeiten, vielleicht Wahrscheinlichkeiten“ oszillieren zu können (IV, 37). Darum heißt Heitmüllers Forderung, „sich in erster Linie um das Wichtigste, den Inhalt der Schrift zu kümmern“ (IV, 37). Es ist ein methodisch bedenkenswerter, vielleicht auch pädagogisch mit bedachter Schritt, die Gliederung des Evangeliums in die theologische Auslegung einzubringen, indem Heitmüller häufig bibelkundlich verdeutlichende Ausfüh-

 „Im Rahmen dieses Buches ist die Aufgabe, das Evangelium in seiner jetzigen Gestalt zu verstehen und zu erklären. Nur hier und da und ganz kurz können die literarischen Schwierigkeiten berücksichtigt werden“ (IV, 32, dort im Druck hervorgehoben).  Vgl. z. B. Heitmüller zu Joh 12,20 – 36a: „Der Abschnitt … ist ein bezeichnendes Beispiel johanneischer Erzählungsweise. Die Griechen tauchen auf und verschwinden sofort wieder. Haben sie eigentlich mit Jesus gesprochen oder nicht? … Daß die Rede vom Evangelisten stammt, zeigte sich auf Schritt und Tritt. Ihr Thema ist ein Grundthema des ganzen Buches: das Rätsel des Todes Jesu; ihre Absicht: diesen Tod als notwendig und als Beginn der Verherrlichung darzustellen“ (IV, 139; vgl. 137 ff.).  Aber es gibt auch Fälle, in denen sich der Evangelist eindeutig über jede Überlieferung hinwegsetzt (z. B. IV, 168 im Abschnitt Joh 18,12– 27). – Zur neueren formgeschichtlichen Arbeit am JohEv vgl. bes. die Untersuchung des Jubilars: H. Leroy, Rätsel und Missverständnis. Ein Beitrag zur Formgeschichte des Johannesevangeliums, BBB 30, Bonn 1968.

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rungen den größeren, mehrere Perikopen umfassenden Abschnitten voranstellt (z. B. IV, 56.63.74.85.95.119.122.125.133.141 f.154.180). Im Ergebnis: Heitmüller hat einen Kommentar vorgelegt, der in methodischer Dichte von der ersten Auflage an das bedenkt, was spätere Forschung als „Formgeschichte“, „Traditionsgeschichte“ und „Redaktionsgeschichte“ bezeichnen und weitergestalten wird. Er hat das JohEv von seiner Endgestalt her methodisch aufgeschlüsselt und im hermeneutischen Zugriff den Leser mit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus konfrontiert. Auch seine einleitungswissenschaftlichen Erörterungen sind nicht ohne Resonanz geblieben. Heitmüllers Auslegung verleugnet ihre Entstehungszeit nicht, und auch ihre Begrifflichkeit verrät dies vielfach, aber der Verfasser bietet Beobachtungen, die es erlauben, in die unbestrittene wissenschafts- und problemgeschichtliche Bedeutung der Hauptwerke dieses Vertreters der „Religionsgeschichtlichen Schule“²² auch seinen „nur“ auf den „gebildeten Laien“ ausgerichteten Kommentar zum JohEv einzubeziehen. Denn Heitmüller hat vor knapp hundert Jahren (und in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts) in seinem Kommentar Akzente gesetzt und Hinweise gegeben, die methodisch und hermeneutisch auf Spuren geführt haben, die nachfolgenden Generationen in der Forschung – weithin ohne Kenntnis Heitmüllers – schon fast zu ausgetretenen Pfaden wurden.

 Vgl. mit Textauszügen W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg/München (1958) ²1970, 322 ff.; 554 Anm. 319; 583.

Als Schwerhöriger die Bibel lesen* In ihrem bedeutenden Essay „Gedanken um das Ohr und das Hören“ schreibt die Theologin und Kunsthistorikerin Dr. Hildegard Urner-Astholz: „Der hochkomplizierte Vorgang der akustischen Wahrnehmung erregt die Bewunderung aller, die sich näher mit ihm befassen. Im Hören erschließt sich uns die herrliche Welt der Musik und der Dichtkunst. Vor allem aber kommt dadurch die Verbindung mit anderen Menschen zustande. Wo dieser Zugang zur Umgebung wegen eines Gehörleidens verhindert wird, vereinsamt der Mensch. Durch den von außen kommenden Impuls wird der Mensch in eine Kommunikation eingebunden, indem ihn das Gehörte aus einem Woher in ein Wohin leitet.“¹ Die Verfasserin zeigt dann an teilweise ergreifenden Beispielen, wie es um den Menschen im Vollzug seines Hörens wie Nichthörens bestellt ist. Sie zitiert u. a. die Dichterin Catarina Carsten, die eines ihrer Gedichte als „Gehörübung“ bezeichnet:² „Ganz unten am Abgrund, nach einem Sturz, hat man die besten Ohren für die Stimme des Retters, der langsam naht.“

Abschließend ruft sie appellierend dazu auf, durch „gegenseitige vertrauensvolle Anteilnahme“ „die todbringende Isolation“ im existentiellen Bereich des Hörens wie des Nichthörens zu überwinden. Sie endet ihre Ausführungen mit dem Leitwort der Internationalen Erlanger Literaturtage 1988, mit einem tiefgreifenden Gedanken des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera: „Das ganze Leben ist ein Kampf um das Ohr des Nächsten.“³ Frau Urner-Astholz leitet behutsam eindringlich dazu an, im Akt des Hörens wie des versagenden Hörens uns dem Verstehen zu öffnen, für das das biblische Zeugnis einsteht. * Vortrag bei der Arbeitsgemeinschaft für evangelische Schwerhörigenseelsorge anläßlich der Tagung „100 Jahre Schwerhörigenarbeit“ am 21. September 2001 in der Diakonischen Akademie Berlin.  In: H. Urner-Astholz, Geheimnisreiches Kulturgut. Miniaturen von der Antike bis zur Neuzeit, 1993, 66 – 71, 68.  Aus: C. Carsten, Meine Hoffnung hat Niederlagen. Gedichte, 1988; H. Urner-Astholz (s. Anm. 1), 71.  H. Urner-Astholz (s. Anm. 1), 71.

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Doch halten wir noch einen Augenblick inne, ehe wir uns der Bibel unmittelbar zuwenden. Unsere Generation, die ärztliche Kunst der Gegenwart eingeschlossen, weiß vielleicht heute mehr über das Ohr, über dieses so außerordentlich kunstvolle Gebilde, und doch ist alles wissenschaftliche Bemühen um die Ortung der Gehörvorgänge und um die Heilung dieses so [3] gebrechlichen und von den Phasen des Alterns mitbestimmten Organs gewiesen an Grundkenntnisse und Grunderfahrungen, die sich seit der Antike und dem Hellenismus und nicht zuletzt im Umbruch der Zeitenwende von der vorchristlichen zur christlichen Zeit mit dem staunenden Erforschen der „Fünf Sinne“ verbinden. Der Anatom Professor Dr. Bernd (Bernhard) Tillmann hat in seiner kleinen Abhandlung „Gehör-StimmeSprache“ in dem heute wohl führenden Sammelband „Die fünf Sinne. Beiträge zu einer Medizinischen Psychologie“ (1978)⁴ prägnant auf Voraussetzungen verwiesen, die unserer Thematik inhärent sind. Und ebenso hat im Vollzug der Lebensbewältigung bei einem nahezu Ertaubtsein der Medizinprofessor Max Samter seinen Weg als Hochschullehrer und Forscher beschrieben und anderen ermutigend gezeigt, wie er – und mit ihm mancher in Zeitgenossenschaft – schwerste Hörbehinderung existentiell in ein tätiges Dasein umgesetzt hat.⁵ Von ganz verschiedenen und vom Hören und Nichthörenkönnen markierten Positionen im menschlichen Leben gewinnt unsere Fragestellung Plastizität. Sie führt nicht in theoretische Erörterungen, sondern themabezogen konkret in die Vielfalt auch zum anstehenden Problemfeld im Horizont der biblischen Schriften. Sie lenkt dahin, unsere Situation im Lichte der Bibel zu reflektieren und im Zugang / in Zugängen zu ihr unsere Wirklichkeit als Hörende und Nichthörende erschließen zu lassen.

I. Damit komme ich unmittelbar zu dem mir gestellten Thema. Das gesamtbiblische Zeugnis spricht in reichem Maße vom Hören.⁶ Vom „Höre Israel …“ als dem

 Vgl. M. Putscher (Hg.), Die fünf Sinne. Beiträge zu einer Medizinischen Psychologie, 1978, ebd., 43 – 61.182 f.  Vgl. M. Samter, in: M. Pinner / B. F. Müller (Hg.), Was Ärzte als Patienten erlebten, 1953, 77 ff. (Teildruck bei M. Putscher [s. Anm. 4], 195 ff. Das Werk erschien ursprgl. unter dem Titel „When Doctors are Patients“, New York 1947].  Grundlegend noch immer: G. Kittel, Art. „hören“ (u. Derivate), ThWNT I, 1933, 216 – 225; J. Horst, Art. „Ohr“ (u. Derivate), ThWNT V, 1954, 543 – 558; Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament von L. Köhler † u. W. Baumgartner †, 3. Aufl., neu bearb. v. J. J. Stamm,

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Grundgebet des Gottesvolkes bis hin zum vom Verbum „hören“ abgeleiteten Wort „Predigt“ stehen der Wortstamm „hören“ und seine Derivate. In weit über 1000 Vorkommen im Alten Testament und in annähernd 500 Vorkommen im Neuen Testament wird die ganze Breite irdisch-mitmenschlichen wie religiös-theologischen Hörens entfaltet. Und doch ist vor falscher Erwartung zu warnen. Kaum je ist unsere Situation als physisch Schwer- und Schwersthörende im Blick. Unsere geheime oder auch sehr bewußt geäußerte, jedenfalls sehr menschliche Erwartungshaltung, im Zugehen auf die Bibel Bestätigung oder Hilfe für unseren Zustand zu erfahren, wird zumindest sehr nüchtern zu prüfen und als ein zu kurzschlüssiger Weg einzuschätzen sein. Drei Mal geht es um die Heilung von Ohren/ Gehör im Neuen Testament: Mk 7,31– 37 (die Heilung des Taubstummen); Lk 22,50 f. (die Heilung des abgeschlagenen Ohres eines Knechtes des Hohenpriesters) und Mt 11,5 par. Lk 7,22 (Jesu Heilen der Tauben als Kennzeichen der messianischen Zeit). Das Leiden des Menschen darunter, daß er nicht oder kaum hört, ist in der biblischen Welt ein nahezu nicht beachtetes Phänomen. Auch in der griechisch-hellenistischen Welt liegt der Sachverhalt ganz ähnlich. Bei dem dort allerdings sehr viel selteneren Vorkommen von unmittelbaren Hinweisen auf das Hören⁷ sind „Votivohren als Nachbildung geheilter kranker Ohren“ (wenn auch archäologisch in der Deutung umstritten) bekannt,⁸ die den Dank für wiedererlangtes Gehör zum Ausdruck bringen wollen. Dieser Befund stellt notwendigerweise vor die Frage, ist das Thema „Als Schwerhöriger die Bibel lesen“ überhaupt eine legitime Ausgangsposition, die zum Verstehen der Bibel hilfreich ist? Sollten wir es nicht dabei genügen lassen, daß wir in die Fülle biblischer Aussagen zum Hören genauso als Schwerhörige mit einbezogen sind wie jeder, der „Ohren hat zu hören“? Die Antwort darauf kann nur positiv sein: Wir sind nicht ausgegrenzt. Wir sind hineingenommen in den Reichtum alles dessen, was im Hören uns zum Heil mitschwingt: In Gottes Hören und unser Erhörtwerden, in Gottes uns mahnenden Ruf zum Hören und unter sein im Hören uns geöffnetes [4] Wort der Botschaft des Evangeliums, im SchuldigLieferung IV, 1990, 1452– 1459; Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur von W. Bauer, 6. völlig neu bearb. Auflage, hg. v. K. Aland u. B. Aland, 1988, s. v. „hören“, 61– 63; ebd. s. v. „Ohr“, 1204 f. Dazu kommen: G. Liedke, Art. ‚„Ohr“, THAT I, 1978, 95 – 98; H. Schult, Art. „hören“, THAT II, 1979, 974– 982; U. Rüterswörden, Art. „hören“, ThWAT VIII, 1995, 255 – 279; R. Mosis, Art. „Ohr“, ThWAT I, 1978, 95 – 98; G. Schneider, Art. „hören“ (u. Derivate), EWNT I, 1980, 126 – 131; M. Völkel, Art. „Ohr“, EWNT II, 1981, 1339 f.; W. Mundle, Art. „hören“ (u. Derivate), Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, neubearb. Ausgabe, begründet durch E. Beyreuther, H. Bietenhard u. L. Coenen, hg. v. L. Coenen u. K. Haacker, Bd. I, 1997, 987– 993.  J. Horst, ThWNT V, 544 f. (Belege).  J. Horst, ThWNT V, 545.

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werden verweigerten Hörens vor Gott wie unter seinem Erbarmen, weil unser Gott auch dann zu hören verheißt, wenn wir versagen.⁹ Noch ein zweiter Bereich ist hier mitzubedenken.Wenn auch weitaus geringer als auf das Hören wird im biblischen Zeugnis auf das Lesen gewiesen.¹⁰ Ist nicht gerade der Hinweis auf das „Lesen“ für Schwerhörige ein willkommener Anzeiger und somit eine besondere Hilfe für das Verstehen der Bibel? In Kürze dieses: Obwohl im ersten christlichen Jahrhundert (darauf will ich mich beschränken) weitaus mehr Menschen nach Ergebnissen gegenwärtiger Forschung lesen konnten, als früher angenommen wurde, handelt es sich viel weniger um das individuelle leise Lesen als um das laute, Zuhörer und Öffentlichkeit einschließende (Vor‐)Lesen. „Das stille Für-sich-Lesen … gab“ es „zwar“, „aber“ es war die „Ausnahme von der Regel“.¹¹ Erst etwa zur Zeit des Kirchenvaters Augustin (Confessiones VI, 3) wird das private Lesen verbreiteter. Lesen gehörte also zur Zeit des Neuen Testaments dem gesprochenen Wort und damit dem Hören zu. Lesen und Verstehen in ihrer Ausrichtung auf das Hören sind ebenso für den griechischrömischen wie für den gesamten biblischen Bereich signifikant, wofür in neueren Untersuchungen zum Lesen zahlreiche Beispiele geboten und diskutiert werden.¹² Im Blick auf unsere Fragestellung seien folgende Belege herausgegriffen: Das schriftlich aufgezeichnete Bundesbuch wird von Mose verlesen und damit vom Volk gehört (2 Mose [Exodus] 24,4.7): „Hören und Tun sind die angemessene Reaktion darauf“;¹³ die Geschichte vom Kämmerer der Königin Kandaze aus dem Mohrenland (Apg 8,26 ff., hier V. 28 – 30: der Kämmerer liest laut einen Jesajatext, so daß es Philippus hören kann); 1 Thess 5,27: Paulinische Briefe werden verlesen, zur Kenntnis genommen durch Hören im Gottesdienst; nicht zuletzt sei auf das Zueinander von (Vor‐)Lesen und Hören im synagogalen Gottesdienst verwiesen. Auf die Kohärenz von Text – Lesen – Hören bis in die heute diskutierten litera-

 Vgl. unter verschiedenen Aspekten: M. Dibelius, „Wer Ohren hat zu hören, der höre“, ThStKr 83, 1910, 461 ff.; E. v. Dobschütz, Die fünf Sinne im Neuen Testament, JBL 48, 1929, 378 ff., bes. 395 ff.405 ff.; J. Gnilka, Zur Theologie des Hörens nach den Aussagen des Neuen Testaments, Bibel und Leben 2, 1961, 71 ff.; K. Lammers, Hören, Sehen und Glauben im Neuen Testament, SBS 11, 1966; J. Kaufmann, Der Begriff des Hörens im Johannes-Evangelium, Diss. Gregoriana (Rom), 1969/70 (passim); G. Kittel, ThWNT I, 217 ff.220 ff.; J. Horst, ThWNT V, 551 ff.  Knapper instruktiver Überblick bei J. Blunck / C.-J. Thornton, Art. „Lesung“ (u. Derivate), Theol. Begriffslexikon; s. zu W. Mundle (Anm. 6), Bd. II (I–Z), 2000, 1571 f.  P. Müller, „Verstehst du auch, was du liest?“, Lesen und Verstehen im Neuen Testament, 1994, 21.  Z. B.: P. Müller (s. Anm. 11), dort 21 der Hinweis auf Augustin, und breite Zitierung von Conf. VI, 3; M. Mayordomo-Marín, Den Anfang hören. Leseorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1– 2, FRLANT 180, 1998.  P. Müller (s. Anm. 11), 33.

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turwissenschaftlichen Zugänge zur Schriftauslegung kann hier nicht näher eingegangen werden,¹⁴ aber festzuhalten ist für unsere Fragestellung: Die Leser waren Hörer.¹⁵ Mit Recht führt P. Müller aus: „Gesprochenes und geschriebenes Wort leihen sich gegenseitig ihr jeweils Eigenes“,¹⁶ so daß gesagt werden kann: „Lese- und Hörgemeinschaft“ sind „komplimentär“¹⁷ und in actu als Verstehensgemeinschaft verzahnt. So führt ein Zugang zur Schrift über das Lesen auch den Hörbehinderten wieder in den Kreis der Hörenden, in die Gemeinschaft der Hörenden, es geschieht Kommunikation.

II. Mit diesen Erwägungen zu profan-antiken und biblischen Sachverhalten im Umfeld von Hören, Lesen und Verstehen spitzt sich hermeneutisch die Frage zu, ob ein Schwerhöriger überhaupt einen besonderen Zugang zur Schrift hat. Die anstehende Problematik will ich in nur einem Punkt skizzieren. Es gehört zu den bedeutenden Einsichten der europäischen, nicht nur der deutschen Aufklärung, daß die Bibel nicht anders als jede andere antike (und selbstredend auch jede andere profane) Schrift auszulegen ist. Jean Alphonse Turretini (1671– 1737), ein führender Genfer Theologe, Hermeneut und klassischer Philologe hat diesen Sachverhalt zum Grundsatz erhoben. Aus seiner lateinisch verfaßten, maßgebenden Methodenschrift aus dem Jahre 1728 zitiere ich einige Zeilen in Übersetzung:¹⁸ „Zu Anfang behalten wir ganz fest

 Vgl. die Einzelnachweise z. B. bei P. Müller (s. Anm. 11), bes. 121 ff.; M. Mayordomo-Marín, Den Anfang hören (s. Anm. 12), 11– 195.368 ff. mit breiter Aufarbeitung der Forschung; O. Wischmeyer, Thesen zum Verstehen des Neuen Testaments. Die Bedeutung der neutestamentlichen Hermeneutik für die Theologie, in: „Daß Gott eine große Barmherzigkeit habe“. Konkrete Theologie in der Verschränkung von Glaube und Leben. FS für Gunda Schneider-Flume zum 60. Geburtstag, hg. v. D. Hiller u. C. Kress, 2001, 57– 76 (passim); J. Kügler, Für wen arbeitet die Bibelwissenschaft? Exegese im Kontrast gegenwärtiger und zukünftiger Pluralität, in: R. Bücher (Hg.), Theologie in den Kontrasten der Zukunft. Perspektiven des theologischen Diskurses, Theologie im kulturellen Dialog, Bd. 8, 2001, 95 ff., bes. 99 f.108 ff.  Vgl. auch die Erwägungen bei P. Müller (s. Anm. 11), 145 u. ö.; D. S. Moore, Literary Criticism and the Gospels. The Theoretical Challenge, New Haven / London 1989, 84.86 u. ö.; M. Mayordomo-Marín, Den Anfang hören (s. Anm. 12), 166 ff.  P. Müller (s. Anm. 11), 145.  Vgl. P. Müller (s. Anm. 11), 145; vgl. 115.144; M. Mayordomo-Marín, Den Anfang hören (s. Anm. 12), 166 ff.  Der Titel lautet: „De Sacrae Scripturae interpretandae methodo tractatus bipartitus,—Auctore Joanne Alphonso Turretino“, Trajecti Turiorum (= Dordrecht) 1728. Übersetzung (und weitere Einzelheiten) bei W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Pro-

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im Auge, daß die (heiligen) Schriften auf keine andere Art zu erklären sind als die übrigen Bücher; man muß auf den Sinn der Worte und Redeweisen bedacht sein, auf das Ziel (scopus) des Verfassers, auf das Vorhergehende und das darauf Folgende und was es noch mehr dieser Art gibt. Das ist deutlich die Art, in der alle Bücher wie auch alle Reden verstanden werden; da uns aber Gott durch Bücher und Reden lehren wollte, nicht aber auf eine [5] andere Weise, so ist es deutlich eben dadurch einleuchtend, daß die heilige Schrift nicht anders zu verstehen ist als die übrigen Bücher (auch) … . Über die Meinung der heiligen Schriftsteller ist nicht nach heutigen Grundsätzen und Systemen zu urteilen, sondern man muß sich in die Zeiten und Gegenden versetzen, in denen sie geschrieben haben, und man muß sehen, welche (Vorstellungen) in der Seele derer, die damals lebten, entstehen konnten … . Ein leerer Kopf, um mich so auszudrücken, muß der Schrift entgegengebracht werden, er muß gleichsam eine tabula rasa (unbeschriebene Tafel) sein, um den wahren und ursprünglichen Sinn der Schrift zu begreifen.“ Die Methodik des Auslegens an sich und damit auch der Bibel unterscheidet sich in keiner Weise von der Auslegung profaner Werke von der Antike bis in die Gegenwart. Daß ein Christ wie ein Nichtchrist das exegetische Rüstzeug des Auslegens sich aneignen und anwenden kann, sollte darum nicht bestritten werden. Dieser Sachverhalt aber schließt zwingend die Überlegung ein, ob wir je aus der Welt, der wir im Spezifischen zugehören und durch die wir geprägt sind, Vorgaben des Verstehens mit einbringen, die unserem Existieren eigen sind. Stellvertretend, letztlich anknüpfend an J. A. Turretini und weiterwirkend bis in unsere Tage hat es der Theologe Rudolf Bultmann (1884– 1976) in seinem Aufsatz „Ist voraussetzungslose Exegese möglich?“ bedacht:¹⁹ „Die Exegese der biblischen Schriften muß wie jede Interpretation eines Textes vorurteilslos sein“,²⁰ aber sie ist „nicht voraussetzungslos“, weil es um unsere „existentielle(n) Begegnung“ mit dem Text geht.²¹ Bringen wir hier unsere Fragestellung mit ein. Wir kommen alle von uns gegebenen/vorgegebenen geschichtlichen Voraussetzungen her: als Mann oder Frau, als alter oder junger Mensch, als Kranker oder (vermeintlich) Gesunder und – weitergefaßt –: als Christ oder Nichtchrist und mög-

bleme, OA III/3, (1958) ²1970, 65 ff.; O. Merk, Anfänge neutestamentlicher Wissenschaft im 18. Jahrhundert (1980), in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Ges. Aufs. zum 65. Geburtstag, hg. v. R. Gebauer, M. Karrer u. M. Meiser, BZNW 95, 1998, 1 ff., bes. 6 ff.; ders., Von JeanAlphonse Turretini zu Johann Jacob Wettstein (1988), ebd., 47 ff., bes. 49 – 61 (mit zahlreichen Einzelnachweisungen).  R. Bultmann, Ist voraussetzungslose Exegese möglich? (1957), in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. III, 1960, 142– 150.  R. Bultmann, ebd., 148.  R. Bultmann, ebd., 149.

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licherweise als Atheist. Wir begegnen der Bibel unter unserem Erfahrens-, Erlebens- und Erleidenshorizont, und wir suchen Zugänge zur Heiligen Schrift, die unsere existentielle Identität spiegeln. Auf unsere Thematik bezogen:Vorurteilslos haben wir uns dem zu stellen, was das biblische Zeugnis zu „Hören“ und „Lesen“ zu seiner damaligen Zeit und Umwelt ausführt. Wir haben uns als Schwerhörige dem zu stellen, daß das uns Bewegende nahezu nicht erörtert wird, nicht im Vorstellungsbereich für einschlägige Ausführungen lag. Wir kommen mit Voraussetzungen, die an der Sachaussage biblischer Texte ihre Grenze finden, und doch hat unser Vorverständnis seinen legitimen Ort im Verstehen und Vergegenwärtigen der Schrift. Freilich: Auch das Einsetzen des vollen exegetischen Instrumentariums und die sorgfältigste Beachtung methodischen Vorgehens ermöglichen eines nicht: nämlich, ob unser Bemühen um den Text gleichsam den Funken überspringen läßt. Ob dieser mit allen Mitteln exegetischen Könnens bearbeitete Text für unser Leben etwas sagt, uns und unsere Wirklichkeit neu zu verstehen lehrt, vielleicht sogar in unserem Leiden Mut und Trost zuspricht, das liegt nicht in unserer Hand. Das ist das Wagnis, das jede Schriftauslegung einschließt und alle unsere „Vorverständnisse“ relativiert. Gott hat sein Wort durch Menschen aufzeichnen lassen. In der Bibel begegnet uns Gottes Wort im Menschenwort. Gott hat es gewagt, uns so menschlich zu begegnen, und dem entspricht, daß wir in je unserer Vorfindlichkeit es mit diesem Wort und auf dieses Wort hin wagen können, es auszulegen, ja daß im Vollzug solchen Auslegens für uns selbst ein Akt des Lebens liegt. Lassen Sie mich dies an einem bekannten, aber heute nicht mehr ganz unumstrittenen Zugang zur Schriftauslegung verdeutlichen, an der „historisch-kritischen Methode“. Diese Methode erfuhr ihre umfassende Begründung in der Spätphase der deutschen Aufklärung²² und ist seitdem die verbreitetste, aber nur selten in ihrer Sachweite voll angewendete. Zumeist wird nur, wie es U. Luz [6] kennzeichnet, gesehen: „Historisch-kritische Exegese … schiebt den Text von uns weg, zurück in die Vergangenheit, in seine Ursprungssituation.“²³ Der Text wird den uns wichtigen Fragestellungen entnommen, uns gegenüber verfremdet, das Anliegen ist die Rekonstruktion seiner Aussage in einer damaligen Situation und Wirklichkeit, die nicht die unsere ist. Das ist richtig und doch dann verzerrt einseitig, wenn nicht sofort der Schritt der Interpretation hinzutritt. Denn historisch-

 Nachweise bei O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, MThSt 9, 1972.  In: Zankapfel Bibel. Eine Bibel – viele Zugänge. Ein theologisches Gespräch, hg. im Auftrag der Theologischen Kommission des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes von U. Luz, Zürich 1992, 122.

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kritische Methode / historisch-kritische Forschung ist evident nur in dem unabdingbaren Ineinander von Rekonstruktion und Interpretation.²⁴ E. Käsemann hat es auf den Punkt gebracht: Historisch-kritische Forschung ermöglicht es, „uns dahin zurückzuführen, wo Menschen einst gefragt und gezweifelt, geglaubt und verleugnet haben, als sie die Botschaft vom Heil hörten. Sie stellt damit auch uns vor Entscheidung und unter Verheißung.“²⁵ Das ist das Zueinander von Rekonstruktion und Interpretation: Wir sind mit dem Einst des Gewesenen existentiell konfrontiert, wir begegnen dem biblischen Wort und seinem Anspruch mit unserem je eigenen Vorverständnis auch als Schwerhörige. Wir sind „vor Entscheidung“ gestellt, wir sind gefordert, unsere sehr eigenen Gedanken in „ständiger kritischer Nachprüfung“²⁶ am Text und damit uns selbst infragestellen und neu orientieren zu lassen, z. B. darin, daß das Hören und Lesen im biblischen Zeugnis geradezu konträr zu unserer gängigen Sicht und zu unserem speziellen Leiden und Erleiden liegen; aber auch, daß es uns strikt untersagt ist, die vielfältige Begrifflichkeit von „Hören“ und ihre Implikationen psychologisch und allegorisch umzudeuten und ihren Sinn in unseren Vorstellungsbereich umzubiegen. Aber wir stehen ebenso „unter Verheißung“: Wir können unsere Situation im Lichte der Schrift bedenken, auch neu bedenken. Denn der historisch-kritische Zugang zur Schrift ist niemals abgeschlossen, die Interpretation greift in das weitergehende Leben hinein und entläßt uns nicht aus dem kritischen, uns existentiell treffenden Gespräch. Wir bleiben auch als Schwerhörige unter Gottes Wort und seiner auch den Leidenden Leben eröffnenden Verheißung. Sie sehen, der historisch-kritischen Forschung als legitimem Zugang, die Bibel zu lesen, messe ich auch als Schwerhöriger größte Bedeutung zu. An ihr – so meine ich – ist die Vielzahl der heute in der Diskussion stehenden sonstigen Zugänge zur Schrift zu messen, etwa fundamentalistische, sozialgeschichtliche, feministische Bibelauslegung.²⁷ Diese verschiedenen Zugänge sind daran zu

 Zusammenfassend O. Merk, Biblische Theologie (s. Anm. 22), 197– 203.  E. Käsemann, Vom theologischen Recht historisch-kritischer Exegese, ZThK 64, 1967, 259 ff. (Zitat: 281); vgl. ebd. 260.264 ff.  R. Bultmann (s. Anm. 19), 149.  Vgl. dazu den Anm. 23 angeführten Band „Zankapfel Bibel“; weiter: Das Buch Gottes. Elf Zugänge zur Bibel. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz, Veröffentlichungen der Arnoldshainer Konferenz, 1992. Eine Bezugnahme auf die zahlreich gegenwärtig verbreiteten Methodenbücher zur Einführung in die Bibel Alten wie Neuen Testaments und deren Erörterung von methodischen Zugängen überschreitet den vorliegenden Rahmen des Vortrags. Doch vgl. im Überblick den Artikel „Bibelkritik“, RGG4, Bd. 1, 1998, 1474– 1486 (verfaßt von M.-Th. Wacker im atl. Bereich; von U. Schnelle, D. Dormeyer, D. Patte, C. Osiek, H. Raguse, L. Schottroff, Th. Schmeller, I. Broer im ntl. Bereich) und den noch längst nicht

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messen, ob nicht jeweils durchaus legitime Anliegen als nur partiell der Interpretation eigener Anliegen und der Rechtfertigung eigenen Vorverständnisses dienen. Ob solche Zugänge im Konnex von Rekonstruktion und Interpretation sich angesichts des biblischen Textes und seines Anspruchs kritischer Selbstprüfung stellen, ist keine folgenlose Anfrage, sondern fordert ihre Vertreterinnen und Vertreter heraus, ihre möglicherweise eigenen überbewerteten Vorgaben infragestellen zu lassen. Im Ergebnis: Als Bibelwissenschaftler sehe ich in meiner Schwerhörigkeit keinerlei Grund, die historisch-kritische Arbeitsweise zu verlassen oder diese auch nur an den Rand zu drängen. So gewiß Methode nicht alles ist, so hat doch dieses historisch-kritische Fragen und Exegesieren dazu geführt, daß sich mir die Schrift bei allen meinen Versuchen als immer wieder fremd und immer wieder nah erschlossen hat, meine Wirklichkeit im Heute aufdeckend und im Glauben verstehbar und wahrnehmbar machend.

III. Natürlich ist es mit dem bisher Ausgeführten selbstverständlich gegeben, in unserer Lage sehr bewußt gerade auf jene Texte und Worte im biblischen Zeugnis zu achten, die vom Hören handeln. Zum Beispiel gilt der Ruf, „wer Ohren hat zu hören, der höre“ auch uns, die wir es mit den Ohren [7] schwer haben, ganz unmittelbar. Dieser Aufruf ermutigt uns sogar, das, was wir hören, intensiv zu hören und aufzunehmen. Wir sind nicht zuletzt gefordert, unserem Erlahmen und Müdewerden im Hören entgegenzusteuern und dies auch im Mühen und Bemühen um das Wort der Schrift zu bedenken. Der Neutestamentler Martin Dibelius (1883 – 1947) hat den Sachverhalt schon vor fast hundert Jahren sehr eindrücklich bedacht: „Die Formel (sc.: ‚wer Ohren hat zu hören, der höre‘) ist für uns das Kennzeichen einer wichtigen Wendung in der Geschichte der christlichen Vorstellungen: ihr Gebrauch entstammt einer Epigonenzeit; der ursprüngliche Quell religiösen Lebens ist im Begriff zu versiegen; die intellektuelle Beschäftigung mit dem Vergangenen muß diesen Mangel der Gegenwart ersetzen.“²⁸ In diesem Sinne des Herausgefordertseins will ich, unsere Situation spiegelnd, unter den wenigen anstehenden Texten, die auf die Heilung des Gehörs

ausgeschöpften Beitrag von H. Merklein, Integrative Bibelauslegung? Methodische und hermeneutische Aspekte (1989), in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, 1998, 114 ff.  M. Dibelius (s. Anm. 9), 461 ff., Zitat: 471; vgl. auch J. Gnilka, Zur Theologie des Hörens (s. Anm. 9), 80.

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eingehen, zunächst die Heilung des Taubstummen herausgreifen und den Sachaussagen anhand weniger Beobachtungen nachgehen. 1) Mk 7,31– 37 (die Übersetzung nach dem revidierten Text der Übersetzung Martin Luthers 1984): 31

Und als er (sc. Jesus) wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. 32 Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, daß er die Hand auf ihn lege. 33 Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und 34 sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! 35 Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. 36 Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. 37 Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

Während im gesamten mediterranen Gebiet einschließlich Palästina Blindheit als die ungewöhnlich schwere, von ärztlicher Kunst kaum zu bewältigende Krankheit galt,²⁹ die auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, ist – wie schon ausgeführt – der am Gehör erkrankte Mensch nicht eigentlich der Erwähnung wert. Nur wenn zur Taubheit, wie in unserem Abschnitt, eine weitere totale Störung, etwa das Stummsein hinzutritt, wird von ihr gehandelt und sie behandelt. Zu beachten ist in unserer Perikope: a) Wir haben es mit einer Wundergeschichte zu tun, deren Topik eindeutig ist: Einleitung (ein Kranker wird gebracht, V. 32), Durchführung der Heilung (V. 33 – 35) und Reaktion auf die Heilung (V. 37). Dabei sollen einzelne Erweiterungen in diesen drei Teilen und auch die Überleitung (V. 31) jetzt unberücksichtigt bleiben. b) Ebenso kann ein auffallender Sachverhalt, der das (literarische) Verhältnis der drei ersten Evangelien (Mt, Mk, Lk) untereinander berührt, nicht behandelt, sondern nur themabezogen angeführt werden: Unser Abschnitt ist in Mt 15,29 – 31 bezüglich seiner Parallelität zu Mk 7,31– 37 fast zur Unkenntlichkeit verkürzt und in eine allgemeine Aussage über Jesu [8] Heilungstätigkeit eingebracht, während ihn der Evangelist „Lukas“ in seinem Evangelium überhaupt nicht bietet. c) Menschen nehmen den der Hilfe Bedürftigen wahr, sie sorgen sich um ihn und bringen ihn zu Jesus. Von ihm erwarten sie Hilfe und Heilung, „daß er die Hand auflege“ (V. 32).

 Guter Überblick bei U. B. Müller, in: K. Seybold / U. B. Müller, Krankheit und Heilung, Bibl. Konfrontationen, Bd. 1008, 1978, 121 ff.

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d) Jesus nimmt den der Heilung Bedürftigen aus der Menge heraus für sich. Er konzentriert sich auf ihn, er will ihm in seinem Leiden helfen (V. 33). e) Die Durchführung der Heilung mit vermutlich gängigen Heilanwendungen/ ‐praktiken der damaligen Zeit ist zu konstatieren. Wichtiger ist Jesu Blick zum Himmel. Das zeigt an, wo die eigentliche Kraft für seine Befähigung zum Heilen liegt. – Und er seufzte/stöhnte. Das nur hier in den Evangelien begegnende Wort gilt dem Ungenügen dieser Welt, zu dem auch Krankheit und Leiden gehören. Schon in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments steht es für das Stöhnen „in Situationen, die Menschen von sich aus nicht verändern können“ (Hiob 23,2; 30,25; Jer 4,31; Ps 31,11; nach H. R. Balz).³⁰ Mögen auch, wie Belege der Umwelt zeigen, magische Handlungen etwa hellenistischer Wundertäter einschließlich eines fremdartig artikulierten Rufs (hier: „Hefata“) nicht ausgeschlossen sein, der Sinn der „Aussage dürfte darin liegen, daß Jesus stellvertretend für den Kranken und ihm zugute dessen Leiden in starker eigener Betroffenheit vor Gott bringt“ (H. R. Balz).³¹ Und indem Jesus – wohl im Sinne des Evangelisten – das „Zauberwort“ mit „tu dich auf“ übersetzt, nimmt er diesem die magische Kraft. f) Die Wirkung der Heilung ist sofort konstatierbar. Sie ist vollständig, der zuvor Taube und Stumme kann hören und kann reden (V. 35). g) Das folgende Schweigegebot ist an die ganze Volksmenge (vgl.V. 33) und unter ihr an den Geheilten gerichtet. Dieses Schweigegebot erlaubt eine Auslegung in doppelter Ausrichtung: Es kann die – in der hellenistischen Welt weit verbreitete – Forderung des Medizinmanns sein, der auf Geheimhaltung seiner Praktiken bedacht sein muß,³² es kann aber auch auf die christologische Sicht des Markusevangeliums verweisen: nämlich, daß erst nach Jesu Tod und Auferstehung frei heraus von ihm / über ihn verkündigt werden soll (vgl. Mk 9,9 f.). Damit bekommt die anstehende Wundergeschichte ihr Gewicht in der nachösterlichen Situation, worauf auch im griechischen Text in V. 36 das Wort „verkündigen“ hinweist (in „Luther 84“: „breiteten es aus“). h) Noch bedeutender aber ist die Reaktion des Volkes, wie sie in V. 37 in dem Ausruf entsetzten Erstaunens festgehalten wird: „Er hat alles wohl gemacht. Die Tauben macht er hören³³ und die Stummen reden.“ Hier geschieht ei-

 H. R. Balz, Art. „seufzen, stöhnen“ (u. Derivate), EWNT III, 1983, 650 ff., Zitat: 651.  Ebd., Zitat: 651.  Vgl. dazu G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StUNT 8, 1974, 143 ff.152.  E. Schweizer gibt Mk 7,31– 37 die Überschrift „Das Wunder der Öffnung tauber Ohren“ (in: ders., Das Evangelium nach Markus, NTD 1,11=11967, 86); nach J. Horst, ThWNT V, 552, ist die Perikope „ein signifikantes Paradigma für den Menschen überhaupt“, doch verkürzt Horst die

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nerseits ein Rückgriff auf den ersten Schöpfungsbericht im ersten Buch Mose (Genesis) 1,31: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut.“ Andererseits aber wird auf die prophetische Botschaft des Jesaja in Kap. 35,5 verwiesen, auf die dort noch ausstehende eschatologische Heilszeit, die jetzt nach Mk 7,37 die Menge in Jesu Wundertat vollzogen sieht. Es ist nicht entscheidend, ob Jesus dieses Wunder in der dargestellten Weise oder anders oder überhaupt im historisch Nachvollziehbaren vollbracht hat. Entscheidend ist vielmehr, daß die Gemeinde nach Ostern eine solche Wundertat auf Jesus und sein Wirken bezieht und in seinem Handeln das messianische Reich aufleuchten sieht³⁴ und Gottes Herrschaft im [9] Anbruch weiß. Es geht hier um die Wiederherstellung der gestörten Schöpfung und alles Fragmentarischen unseres Seins³⁵ auf Gottes Reich hin. Durch Jesu Heilshandeln werden wir heil, haben auch Taube und Stumme Zukunft, können wir wieder hören, reden und verstehen, sind wir wieder kommunikationsfähig und vereint mit der Menge im Staunen über Gottes Tat (V. 37), die über den Inhalt der voranstehenden Wundergeschichte weit hinausgeht.³⁶

2) In die gleiche Richtung führt der Abschnitt Mt 11,2– 6 (par Lk 7,18 – 23), genauerhin die Antwort Jesu auf die Anfrage Johannes des Täufers aus dem Gefängnis:³⁷ „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Die Antwort Jesu lautet (V. 5.f. [par Lk 7,22 f.]): 5

Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; 6 und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert. (nach „Luther 84“)

Wir müssen aber noch weitergreifen und den sich auf die Handlung der Szene beziehenden Beginn der Antwort Jesu hinzunehmen: Seht und verkündigt Johannes, was ihr hört und seht. (V. 4)

Aussage der ganzheitlichen Annahme des Menschen, wenn er „Öffnung des Ohrs“ strikt reziprok zur Rettung des Menschen faßt (ebd.).  Es ist umstritten, ob die jüdische messianische Erwartung einen heilenden Messias kennt. Nach U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8 – 17), EKK I/2, 1990, 169: „Jüdische Texte, nach denen der Messias heilen wird, gibt es nicht.“  Vgl. in anderem Zusammenhang H. Luther, Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit, WzM 43, 1991, 262 ff.  Vgl. auch G. Theißen (s. Anm. 32), 164.  Vgl. D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, 1987, 133 im Vergleich zu Mk 7,37: „die durchaus ähnliche Konzeption in Q Lk 7,22 / Mt 11,5“.

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U. Luz beobachtet dazu in seinem Kommentar: „Das Hören ist vorangestellt und bildet mit V.5 fin (‚den Armen wird das Evangelium verkündet‘) chiastisch eine Klammer um die Wunder Jesu“,³⁸ die bereits in Mt 8.9 entfaltet wurden. Eine fast schon schriftgelehrt zu bezeichnende Kombination von prophetischen Aussagen aus dem Buche Jesaja (Jes 35,5 f.; möglicherweise 26,19 [auch Berührungen zu 29,18; 42,7.18]; 61,1 f. LXX) umschreibt in Mt 11,5 die Heilszeit, die in Jesu Wirken Gottes im Anbrechen befindliches Reich aufleuchten läßt. Darum: „Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“ (V. 6). Wieder ist nicht entscheidend, ob wir es mit einer authentischen Szene und einer Antwort des (modern gesagt) „historischen“ Jesus zu tun haben oder nicht,³⁹ sondern dies ist das Bestimmende: Auch die nachösterliche Gemeinde vermag kaum treffender Intention und Wirken Jesu wiederzugeben, wie sie in V. 5 und 6 zum Ausdruck kommen. Das heißt für die Orientierung an Jesus auf unsere Thematik bezogen: Hören und Sehen (V. 4) umschließen die Taten (V. 5), die im „Frohbotschaften“ (im „euangelizesthai“), in der Verkündigung auch dies zusprechen: Taube werden wieder hören. Es ist hilfreich, daß die Tauben nicht allein genannt werden. Sie stehen im Konnex des Heilwerdens überhaupt, in der Solidargemeinschaft all derer, die auf Gott unendlich angewiesen sind. Es geht um unser Stehen vor Gott auch in der Gemeinschaft der Leidenden (vgl. die Pluralformen: Taube, Blinde usw.), und doch gilt jede Heilung dem Einzelnen, wie Jesus in seinem heilenden Wirken unvergleichlich kundtut und wie die Wundergeschichten der Evangelien es erzählen und reflektieren. 3) In Lk 22,50 f. heißt es: 50

Und einer von ihnen (sc. Jesu Jüngern) schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. 51 Da sprach Jesus: Laß ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. (nach „Luther 84“) [10]

Diese Episode auf dem Weg Jesu in die Passion anzuführen und sie aus ihrem Kontext herauszunehmen, geschieht im Hinblick auf unsere Fragestellung. Es geht hier um Jesu letzte heilende Tat vor seinem Tode, zugleich um die letzte im LkEv. Diese nur von „Lukas“ mit der durchgeführten Heilung überlieferte Szene (Mk u. Mt erwähnen die Heilung nicht) zeigt noch einmal: Jedem Menschen gilt Jesu Heilen. Doch nicht das Wunder steht im Vordergrund, auch nicht das Wieder-

 U. Luz (s. Anm. 34), 168.  Ob Mt 11,2– 6 zum ursprünglichen Jesusgut gehört oder (wahrscheinlicher) Gemeindebildung ist, ist nach wie vor bis in die neuesten Kommentare hinein umstritten; vgl. im Überblick U. Luz (s. Anm. 34), 163 – 170.

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gutmachen einer unrechten Tat aus dem Jüngerkreis, sondern das Heil- und GanzSein des Menschen, auch wenn es „nur“ die Heilung des rechten Ohrs als Organ des Menschen ist. Auch an dieser kleinen Szene, auch an diesem Handeln Jesu sehen wir: Unsere Fragestellung greift hinein in die Anthropologie. So wie zum Menschen Leib und Glieder, Herz, Seele und Verstand und manches mehr gehören, so auch das Ohr.⁴⁰ 4) Das veranlaßt, einen vierten Einzeltext in unsere Überlegungen einzubeziehen, Joh 7,23: Wenn nun ein Mensch am Sabbat die Beschneidung empfängt, damit nicht das Gesetz des Mose gebrochen werde, was zürnt ihr dann mir, weil ich am Sabbat den ganzen Menschen gesund gemacht habe? (nach „Luther 84“)

Unabhängig davon, ob der Abschnitt Joh 7,15 – 24 heute an seiner ursprünglichen Stelle im Ablauf des JohEv steht,⁴¹ und unabhängig davon, daß er überhaupt nicht von einer Heilung gehörloser Menschen handelt, ist der zitierte Vers hier anzuführen. Es geht Jesus bei seinen Heilungen um den ganzen Menschen,⁴² und das nicht nur in lebensbedrohlicher Lage, wobei für letztere auch das „Gesetz des Mose“ Freiraum am Sabbat gewährte. „Das Wirken des Offenbarers befreit gerade in der Welt zu neuem Leben, das den Menschen in seiner Leiblichkeit erfaßt“ (U. Luck).⁴³ Die im JohEv berichteten Heilungen betreffen keine Menschen, die Taubheit mit sich tragen. Dennoch dürfen wir – und zugleich über den Sachverhalt hinaus, daß in diesem Evangelium das Sehen letztlich dem Hören übergeordnet ist – im Blick auf unser Thema weiterschreiben und den Nicht-Hörenden einbeziehen. Denn zum „ganzen Menschen“ gehört auch das Ohr. Zur biblischen Anthropologie gehört der Mensch mit allen seinen Organen. Jesu Wille, daß der „ganze Mensch“ heil sei, ist darum ein ins Zentrum führender Aspekt anthropologischen Fragens und Ausrichtens im Neuen Testament. Schon E. v. Dobschütz hat darauf in seinem

 Vgl. L. Köhler, Theologie des Alten Testaments, ³1953, 152: „Augen und Ohren sind von Gott allen Menschen zugedacht“; dieser Gesichtspunkt wird von Köhler mehrfach im Zusammenhang der Entfaltung atl. Anthropologie bedacht; noch deutlicher ders., Theol. d. AT, ²1947, 121 f.128 – 131.  Er gehört sachlich in den Zusammenhang der Joh 5,1– 14 angeführten Heilung.  Vgl. auch H. Seesemann, Art. „ganz“ (u. Derivate), ThWNT V, 1954, 175 f.  U. Luck, Art. „gesund“ (u. Derivate), ThWNT VIII, 1969, 308 ff., Zitat: 312; zur „ganzheitlichen Heilung“ vgl. im Überblick auch D. von der Goltz, Krankheit und Heilung in der neutestamentlichen Forschung des 20. Jahrhunderts, Diss. theol. Erlangen, 1998, 71 ff.118 ff.

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Beitrag über „Die fünf Sinne im Neuen Testament“ (1929) mehrfach hingewiesen.⁴⁴ Unter dem Stichwort „Anthropologie“ sind nicht nur die einzelnen einschlägigen Begriffe zu erfassen. Vielmehr wird im Vollzug des Begegnens mit dem uns anredenden Wort das Hören und Antworten in unser Sein integriert, und wir sind als Geschöpfe dieser Welt einbezogen in solchen Lebens- und Daseinsvollzug. Dies bedenkend macht es verständlich, weshalb so vielfach in den verschiedenen Schriften des Neuen Testaments das „Hören“ thematisiert und aktualisiert wird. Biblische Anthropologie und Hören greifen ineinander. Der Wille des Offenbarers, daß der ganze Mensch heil sei, ist eine biblische Grundaussage. Sie steht dafür: Gott will uns. Er nimmt uns an, so wie wir sind, in unserer Geschöpflichkeit, in unserer Gebrechlichkeit, in unserer uns belastenden Gehörlosigkeit. Er will, daß der „ganze Mensch“ heil wird, daß auch wir heil werden, so werden, wie Gott uns haben will. Die tiefe Einsicht von S. Kierkegaard hat hier ihren Platz: „Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit.“⁴⁵ [11] Lassen Sie mich schließen mit einer Beobachtung, die nicht neu ist, die uns aber als Hörende wie Nicht- oder Schwerhörige ansteht zu verinnerlichen: Es gibt ein Hinübergleiten vom Hören zum Sehen, zum Schauen, ein sogar Verlassen des Wortfeldes „hören“ im spezifischen Sinne. Die Zeugen des Neuen Testaments weisen damit bis in die Begrifflichkeit hinein auf das Eschaton, die von Gott gewährte, noch ausstehende Zukunft, die im Ostergeschehen, im Schauen des Auferweckten, wegweisend gründet: 1 Kor 15,5 ff.; 9,1. In 1 Kor 13,12 lesen wir, daß wir „jetzt“ „durch einen Spiegel“ in ein dunkles, rätselhaftes Bild „sehen“, „dann aber von Angesicht zu Angesicht“; in 1 Joh 3,2 heißt es: „wir werden ihn (sc. Gott) sehen, wie er ist“; und für die himmlische Gottesstadt gilt nach Apk 22,4, daß wir „sein (sc. Gottes) Angesicht sehen“ (vgl. auch Mk 14,62; Mt 5,8).⁴⁶ Vom Glauben (2 Kor 3,18) zum Schauen (2 Kor 5,7) ist der Weg markiert, auf dem auch unser Hörenwie Nicht-hören-Können unter unseres Gottes Verheißung stehen.

 E. v. Dobschütz (s. Anm. 9), bes. 391 ff.; vgl. auch L. Köhler (s. Anm. 40).  Angeführt bei H. Luther (s. Anm. 35), 262.  Vgl. z. B. E. v. Dobschütz (s. Anm. 9), 403 ff.; G. Kittel, ThWNT I, 221; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 11,17– 14,40), EKK VII/3, 1999, 314 Anm. 209.

‚Katēchein‘ als Begriff des Unterrichtens im Neuen Testament?¹ Zu den noch immer bekannten Begriffen im kirchlichen Unterrichtswesen gehören Katechese, Katechet, Katechumenenunterricht‚ Katechismus, auch Katechumenat, während die Bezeichnungen „Lehrer“, „lehren“, „unterrichten“ allgemein auf verschiedene Felder und Formen des Lehrens bezogen werden. Weniger bekannt ist, dass schon die Antike und ebenso das Neue Testament eine erstaunliche Vielzahl von Ausdrücken für den Sachverhalt des Unterrichtens kennen,² ohne dass eine Differenzierung des jeweils Besonderen im einzelnen Wortgebrauch sofort augenfällig wird.

I Zu den in der näheren Bestimmung des Sachgehaltes schwierigen Worten gehört katēcheō (mit Derivaten). Dabei schien im 18./19. Jahrhundert das Ergebnis der Forschung recht eindeutig, zusammengefasst z. B. in „Dr. W. Pape’s GriechischDeutsches Handwörterbuch“ (1842; ²1848; ³1880):³ Zu dem spätantiken, zumeist im patristischen Sprachgebrauch verwendeten katēcheō heißt es dort: „entgegentönen; umtönen; durch den Klang ergötzen, bezaubern …‚ mündlich unterrichten, belehren, … dem ‚didaskein‘ entsprechend; so bes.[onders] N.[eues] T. [estament] u. [nd] K.[irchen]S.[chriftsteller], auch pass. ‚katēcheisthai‘, unterrichtet werden, lernen“.⁴ Entsprechend heißt es zum Wort katēchesis: „Ergötzung durch Töne, mündlicher Unterricht …; bes.[onders] in den christlichen Glaubenslehren“, [30] und zu katēchetēs: „der unterrichtende Lehrer, nach der ältesten Lehrweise, nach welcher der Lehrer das zu Erlernende so lange mündlich wiederholte, bis der Lehrling es nachsagen konnte; bes.[onders] der in den christlichen Glaubenslehren unterrichtet“, und zu katēchizō, katēcheō: „unterrichten,

 In den nachfolgenden Ausführungen werden griechische Wörter, auch in Zitaten, weitestgehend in Umschrift geboten.  Vgl. den komprimierten Überblick bei R. B. Zuck, Greek Words for Teach‚ Bibliotheca Sacra 122, 1965, 158 – 168.  Benutzt wurde „Sechster Abdruck“ der „Dritten[n] Auflage“, bearb. v. M. Sengebusch, Braunschweig 1914.  A.a.O., Erster Band, 1401.

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ermahnen“.⁵ Die Belege werden teilweise in Pape’s Wörterbuch aufgeführt, die umfassendsten einschlägigen antiken und christlichen Bestandsaufnahmen liegen heute bei A. Knauber⁶ und im Artikel „Katechese (Katechismus)“ im RAC⁷ vor. Ohne hier die Forschungsgeschichte zur Fragestellung im 20. Jahrhundert im Einzelnen ausbreiten zu können, müssen jedoch die neuralgischen Punkte festgehalten werden, die letztlich die Beobachtungen seit der Aufklärung überprüfen ließen. Schon der Artikel zu didaskein (mit Derivaten) und katēcheō im ThWNT⁸ machten deutlich, dass beide Begriffe in der Profangräzität nicht unbesehen promiscue verwendet werden können.⁹ Besonders H.W. Beyer möchte darüber hinaus ein herausragendes Moment in der paulinischen Unterscheidung der Begriffe ermitteln. Doch ist hier zu beachten: Auch wenn katēcheō in der Septuaginta (LXX) nicht und im hellenistischen Judentum nur gelegentlich nachweisbar ist und die methodische Überlegung des Unterscheidens wie auch des sachlichen Bezuges beider Begriffe zueinander berechtigt ist, kann es nicht angehen, folgenden begrifflichen Gegensatz zu konstruieren: „Paulus hat … neben dem üblichen ‚didaskein‘ ein ganz wenig und in der religiösen Sprache des Judentums überhaupt nicht gebräuchliches Wort benutzt, um einen term[inus] techn[icus] für die christliche Unterweisung zu schaffen, wohl um die Besonderheit des Lehrens auf Grund des Evangeliums herauszuheben.“ Paulus „wählt“ „einen dem Judentum fremden Ausdruck“.¹⁰ Hier bleiben die entscheidende, in der Begrifflichkeit liegende Sachfrage und ihre hermeneutischen Konsequenzen offen. Auch hätte ein Konkordanznachweis vor solcher Konstruktion mit weit reichenden Schlüssen warnen können, denn didaskein wird nur 6 mal von Paulus verwendet (didaskalos 3 mal, didachē 2 mal), katēcheō 4 mal. [31] Hier setzt A. Knauber (1967) mit seinen klärenden Darlegungen ein.¹¹ „Über die sprachliche Grundbedeutung von katēchein – catechizare herrscht bis zur

 Sämtliche Nachweise a.a.O.‚ 1401; zur deutlichen Hinterfragung vgl. H. G. Liddell / R. A. Scott, Greek-English Lexicon. New Edition by H. S. Jones and R. McKenzie, Oxford 1940, Vol. I, 927, und G. W. Lampe, A Patristic Greek Lexicon. Oxford 1961, 732 f.  A. Knauber, Zur Grundbedeutung der Wortgruppe κατηχέω – catēchizō. Oberrheinisches Pastoralblatt 68, 1967, 291– 304.  O. Pasquato / H. Brakmann, Art. Katechese (Katechismus), RAC, Lfg. 126, 2003, 422– 496, bes. 424 ff.  K. H. Rengstorf, Art. διδάσκω und Derivate, ThWNT II, 1935, 138 – 168; H. W. Beyer, Art. κατηχέω, ThWNT III, 1938, 638 – 640.  H. W. Beyer, a.a.O.‚ 638 Anm. 1; indirekt K. H. Rengstorf, a.a.O.‚ 138 f.  H. W. Beyer, a.a.O., 639 f.  A. Knauber, a.a.O. (s. Anm. 6); Knauber bietet die griech. Wörter in Umschrift und Schrägdruck, auf letzteres wird durchgängig in diesem Beitrag verzichtet.

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Stunde noch eine erhebliche Unsicherheit.“¹² In minutiöser Erörterung des Belegbestandes von der Spätantike an gelingt es ihm, exegesen-, kirchen- und liturgiegeschichtlich nachzuweisen, dass alle ‚etymologischen Spekulationen‘ „über die Silben kata- und ēchein hinfällig“ sind, es bei der Begriffsbestimmung nicht um ein „Von-oben-Herab“-Tönen im Nachhall aus der Welt des antiken Theaters geht, wie in verhängnisvoller Wirkungsgeschichte der profan-klassische Hauptbeleg „aus einer Satire des Lukian von Samosata, Juppiter Tragoedus 39“, über Jahrhunderte hinweg fälschlich nahe legte.¹³ Vielmehr ist im „Suidas-Lexikon (um 1000 [sc. n.Chr.])“ nach Knauber die Tiefendimension unseres Begriffs erläuternd nachgewiesen¹⁴ durch die „Umschreibung“ mit „protrepomai bzw. parainō“, so dass „die Lukian-Stelle in neuer Weise zum wertvollen Hauptbeleg für den ursprünglichen Wortsinn von katēcheō“ wird, nämlich in der (an sich bekannten) protreptischen Redeweise zu verstehen ist und mit „eindringliches Aufrufen und ein werbendes Ansprechen“, etwas „zu Ohren bringen“, „zureden“ wiedergegeben werden kann.¹⁵ Gleichwohl hält Knauber mit Bedacht fest: „Sicher wird sich jede sprachphänomenologische und wortgenetische Besinnung streng an die Texte und ihre ursprüngliche Aussage halten müssen. Sie wird aber auch ebenso bestimmt der möglichen Sinnverluste und Fehldeutungen späterer Entwicklung sich bewußt bleiben und sich von Verunklarungen und Verflachungen freihalten, wie sie etwa gegeben sind in jedem Übersetzungs- und Übertragungsversuch.“¹⁶ Seine Eruierungen zu katēcheō zielen darauf, den „Zugang zum Sprachgebrauch des NT … zu erschließen“, und seine Durchprüfung der neutestamentlichen Belege ergibt: „,Anfangsunterricht im Christenglauben‘ scheint an keiner Stelle vorzuliegen.“¹⁷ [32] Mit A. Knaubers Beitrag war eine Neubesinnung zum anstehenden Begriff eingeleitet, die aber in den letzten Jahrzehnten kaum je berücksichtigt wurde. Am unmittelbarsten ist G. Schneider in der Herleitung des Wortes Knauber gefolgt in seinem einschlägigen Artikel im EWNT, im Übrigen für die neutestamentlichen Belege einerseits einen allgemeinen Sinn des Mitteilens und durch

 Ebd., 291.  Ebd., 299.294 (dort auch die Zitate).  Ebd., 298 f. mit dem Hinweis auf: Suidae Lexicon, ed. A. Adler, Lexicographi Graeci 1, Leipzig 1928  Ebd., 299; vgl. ebd. 300 die Belegsammlung, die hellenistisch-jüdische Belege einschließt (etwa Vita Iosephi 65; Philo, Leg ad Gaium 198).  Ebd., 300.  Ebd., 302– 304.

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Unterrichten Erfahrens voraussetzend‚ andererseits besonders für Lk 1,4 und die paulinischen Stellen den Bezug „auf die christl.[iche] Lehre“ herausstellend.¹⁸ Wichtig in teilweiser Anknüpfung an A. Knauber sind Hinweise im Artikel „Katechese (Katechismus)“ im RAC,¹⁹ auch in der Fragestellung: „Das Lexem ist … mehrdeutig …; ein entsprechendes Objekt verleiht ihm religiösen Sinn, so überwiegend schließlich im Christlichen.“ Für K. Wegenast in seinem diesbezüglichen Artikel im TBLNT²⁰ ist die allgemeine Bezeichnung „Kunde geben von etwas, etwas berichten“ ebenso eindeutig wie die leider von ihm nicht aus der Profangräzität belegte Bedeutung „unterweisen, belehren und unterrichten“, woraus sich zumindest für Paulus ergebe, er „benutzt das Wort ausschließlich im Sinne theol.[ogischer] Belehrung“.²¹ Insgesamt bewegt sich Wegenast im Rahmen der Nachweisungen im Wörterbuch von Bauer/Aland, in dem „Lucian, Jupp trag 39; Ps.-Lucian asin 48“ zum Beleg für „unterweisen, belehren“ steht mit der Zufügung: „in uns.[erer] Lit. [eratur] von Unterweisung relig.[iöser] Art“.²² In beiden letztgenannten Beiträgen ist auf A. Knaubers Untersuchung nicht Bezug genommen. Fazit aus diesem Überblick lexikografischer Forschung vornehmlich im 20. Jahrhundert: Die Unsicherheit sachgemäßer Verwendung von katēcheō im Neuen Testament ist geblieben. Dazu kommt die Schwierigkeit, die Wörter „unterrichten“, „unterweisen“ in der deutschen Sprache eindeutig zu fassen, wodurch die Auslegung neutestamentlicher Belege erschwert wird.²³ [33]

II Diesem Sachverhalt entspricht die vielfach offene Exegese der im lukanischen Werk und bei Paulus allein sich befindenden Belege. Da Paulus der älteste literarische Zeuge unter den Schriften des Neuen Testaments ist, sei mit ihm in sehr gerafften Hinweisen begonnen, wobei A. Knaubers bisher in der exegetischen  G. Schneider, Art. „κατηχέω katēcheō mitteilen, unterrichten, belehren; Pass. erfahren“. EWNT II, 1981, 673 – 675 (Zitat 673).  O. Pasquato / H. Brakmann, a.a.O. (s. Anm. 7), 424 (dort auch das nachfolgende Zitat).  K. Wegenast, Art. Lehre, Abschn. κατηχέω, TBLNT II, ²2000, 1265 f.  Ebd.‚ 1265.  W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch …, 6., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. K. Aland / B. Aland, Berlin 1988, 861 f. (Zitat 862) (ist auch Ps.Luc, philopatr 17 zu vergleichen?).  Auffallend ist auch die Vielzahl lateinischer Wörter in der Vulgata und bei den Kirchenvätern, um katēcheō zur Geltung zu bringen; vgl. die Nachweise bei A. Knauber, a.a.O. (s. Anm. 6), 302.

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Forschung nahezu unbekannt gebliebenen Kurzauslegungen mit einbezogen werden. Gal 6,6: Hier liegt sicher „die dunkelste Stelle des Wortgebrauchs von katēcheō“²⁴ vor. Zwar ist die Kommentierung, die den Vers zum Kardinalbeleg für christlichen Unterricht erhebt, längst hinterfragt, aber sie wirkt weiter z. B. bei K. Wegenast.²⁵ Dagegen steht der interpretierend deutliche Rückgriff auf die Grundbedeutung von katēcheō bei A. Knauber: „Der Satz enthält eine sehr individuelle Mahnung: Wer für das Wort gewonnen (angesprochen, aufgerufen) werden soll, der möge in allen guten Dingen in die Gemeinschaft mit dem, der ihn gewinnen (ansprechen, aufrufen) will, aufgenommen werden, d. h. er möge sich diesem in allem Guten anschließen. Hier ist also in erster Linie nicht an den finanziellen Unterhalt eines Katecheten gedacht. Es geht vielmehr um den alle Gläubigen angehenden Auftrag, um katēchein … im protreptischen Sinn, also: anzusprechen und zu werben für das Evangelium“.²⁶ Das Gewicht liegt auf der Verbindung von katēchoumenos ton logon, und die besagt: Jemandem, dem die Botschaft, das Evangelium anrufend, werbend gilt, der sie erfährt (pass.), soll für die Gemeinschaft des um des Evangeliums willen Werbenden offen sein, aber auch für die ihm daraus erwachsenen Konsequenzen.²⁷ Das „Objekt“ ton logon „verleiht“ hier dem Gebrauch von katēchein „religiösen Sinn“.²⁸ Gal 6,6 [34] ist ein werbend missionarischer Zug eigen, er entspricht darin dem Sachgehalt von katēchein. 1 Kor 14,19: Im Zusammenhang der im urchristlichen Gottesdienst sinnvollen Entfaltung der Charismata verweist Paulus in 14,18 f. – einer Art „Zwischenbemerkung“²⁹ – auf seine besondere Begabung zur Zungenrede (Glossolalie), um

 Ebd., 303.  K. Wegenast, a.a.O. (s. Anm. 20), 1265; kritisch G. Schneider, a.a.O. (s. Anm. 18), 674 im Anschluss an Knauber.  A. Knauber, a.a.O. (s. Anm. 6), 303.  Der häufig z. St. angeführte Satz aus dem Eid des Hippokrates: „Ich werde meinen Lehrer in dieser Kunst so hoch wie meine Eltern achten, er soll teilhaben an meinem Hab und Gut und im Fall der Not werde ich ihm geben, was er bedarf (seine Söhne sollen ohne Entgelt unterrichtet werden)“, zitiert und Quellenangabe nach A. Oepke / J. Rohde, Der Brief des Paulus an die Galater, ThHK 9, Berlin ⁴1979, 192 mit Anm. 99; vgl. auch Neuer Wettstein …, hg. v. G Strecker / U. Schnelle, Berlin 1996 z. St. (S. 589), bietet leider keinen Hinweis auf katēchein. – Ps. Hippocr., praec. 13 (um 350 v. Chr.) kennt den Ausdruck katēchesis idiōteōn als „Belehrung von Laien durch den Arzt“ (vgl. G. Delling, Jüdische Lehre und Frömmigkeit in den Paralipomena Jeremiae, BZAW 100, Berlin 1967, 22).  So in Sachaufnahme von O. Pasquato / H. Brakmann, a.a.O. (s. Anm. 7), 624.  So A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/I, Tübingen 2000, 306 z. St.

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dann fortzufahren: Für die Gemeinde sind fünf Worte vernünftiger Rede maßgebender, „damit ich andere katēchēsō“ im Gegensatz zu zehntausend Worten in Glossolalie. A. Knauber hält fest: „1 Kor 14,19 hat nichts mit ‚Katechese‘ oder ‚gottesdienstlicher Predigt‘ zu tun“. „Paulus“ „will … von sich aus auf Glossolalie verzichten“. Wichtig ist dem Apostel, „daß der andere durch die verständlich gehörten Worte ‚erbaut‘ wird. Eben diese Absicht ist es, die er zum Schluß mit dem Ausdruck umschreibt: … katēchesō. An dieser Stelle erscheint der Sinn des Wortes geradezu identisch mit oikodomein. Paulus möchte in verständlicher Gebetssprache anderen ‚in die Seele reden‘, und wenn es bloß mit fünf Worten wäre.“³⁰ Es geht um ein in nüchterner Sprache „werbendes Ansprechen“,³¹ das den „erbauen“ soll, der als Fremder den urchristlichen Gottesdienst besucht und im Zweifel ist, ob er das „Amen“, das Ja-Sagen dazu sprechen kann (vgl. 1 Kor 14,16). Protreptische Redeweise und Wortgebrauch verdeutlichen das Anliegen. „Hier tritt der Missionszweck wieder deutlich hervor.“³² Die Annahme einer „katēchetisch-didaktische(n) Funktion … im Sinne eines ‚Erwachsenenkatēchumenats‘“ trifft die Auslegung der Stelle nicht.³³ Röm 2,18: In der Charakterisierung des Juden als Typos Mensch steht zur Debatte, ob Paulus hier von diesem – wie zumeist gedeutet wird – als „im Gesetz unterwiesen/unterrichtet“³⁴ spricht oder ob spezifischer als Meinung [35] des Apostels – so in der neueren Forschung nicht begegnend – die von A. Knauber geltend gemacht werden darf: „H. W. Beyer (sc. ThWNT III, 639; s.o. Anm. 8) meint, Paulus verwende katēcheō ausschließlich in der Bedeutung ‚Unterricht über den Glauben geben‘: das tue er schon im Blick auf das vorchristliche Judentum, wenn er in Röm

 A. Knauber, a.a.O. (s. Anm. 6), 303.  Ebd.‚ 299.  So J. Weiß, Der erste Korintherbrief, KEK V, Göttingen 101925, 331 (der diesen Hintergrund auch für Gal 6,6; Röm 2,18; Lk 1,4; Apg 18,25 konstatiert).  Gegen W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, 3. Teilband: 1 Kor 11,17– 14,40, EKK VII/3, Zürich 1999, 403 f. und Anm. 176 ebd.; ähnlich Chr. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Leipzig (Neubearbeitung) 1996, 533 f. und Anm. 448 ebd; zutreffend A. Lindemann, a.a.O. (s. Anm. 29), 306: „fast bedeutungsgleich mit οἰκοδομεῖν“; H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, KEK V, Göttingen 12=21981 z. St.: „Paulus gebraucht“ katēcheō „nur vom ‚dogmatischen‘ Unterricht (Röm 2,18; Gal 6,6)“, ist nicht verifizierbar.  Zuletzt E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 15=12003, 110; von „christlicher Unterweisung“ sollte man freilich z. St. nicht reden; so aber W. Radl, Das Evangelium nach Lukas. Kommentar, Erster Teil: 1,1– 9,50, Freiburg 2003, 34 Anm. 95. Zur Diskussion bleiben ParJer 5,21; TestJos IV,4, die aber, anders konstruiert, nicht zur Erklärung von Röm 2,18 weiterhelfen. Doch die Beobachtungen (und Belege) bei G. Delling, a.a.O. (s. Anm. 27), 21 ff. sind auch für die weitere Forschung von Belang.

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2,18 den rechten Juden katēchoumenos ek tou nomou nenne. Das ist eine vorschnelle‚ aus der heutigen retrospektiven Sicht von ‚Katechese‘ hervorgegangene Deutung. Man darf nicht übersehen, daß das Gesetz hier nicht als Inhalt des katēcheisthai, sondern als Antriebsursache (ek … ) bezeichnet wird. Was Paulus meint, ist: Der typische Jude ist vom Gesetz her ‚aufgerufen‘ und ‚angetrieben‘. Der ‚protreptische‘ Sinn von katēchein wird hier spürbar.“³⁵ Sowohl die Präposition ek, in dieser Bedeutung nachgewiesen,³⁶ als auch der Sachverhalt, dass katēcheō für jüdische Traditionsterminologie und Traditionsvermittlung entfällt, sprechen dafür. Dann aber ist Röm 2,18 ein weiterer Beleg, katēcheō (hier pass.) als „Aufgerufensein“, „Angetriebensein“ im missionarischen Sinne³⁷ und somit kontextgemäßer zugeordnet in Röm 2,17– 24 zu verstehen. Neben den paulinischen stehen in den lukanischen Schriften vier Belege für Wort und Gebrauch von katēcheō. Apg 21,21.24: Die Verse lassen sich zusammen behandeln und den Sachverhalt verdeutlichen. Gemäß 21,18 f. begibt sich Paulus nach seiner Ankunft in Jerusalem zu Jakobus und den Presbytern, und nachdem er sie begrüßt hatte, heißt es, Paulus exēgeito „im einzelnen, was Gott getan hat unter den Heiden durch seinen (sc. des Paulus) Dienst“ (V. 19). Auf das Wort exēgeomai ist hier deshalb zu verweisen, weil es in Apg „die Berichterstattung über ein Handeln Gottes, das nach Meinung des jeweiligen Erzählers die Heidenmission ausweist“,³⁸ kennzeichnet und im Unterschied und Gegensatz zur Verwendung von katēchein in [36] 21,21 steht. Denn letztere Stelle bezeichnet mit dem Wort im pejorativen Sinne, dass Paulus unter den Juden ins Gerede gekommen ist, weil er den Abfall vom väterlichen Gesetz des Mose lehre (und betreibe). Der Verfasser der Apg will hier auch sprachlich mit katēchein ³⁹ das negativ Falsche einer Nachrichtenverbreitung ausdrücken.⁴⁰ – Dem entspricht Apg 21,24 im anstehenden Wortgebrauch insoweit, als Paulus hier die Übernahme eines Nasiräergelübdes empfohlen wird,

 A. Knauber‚ a.a.O. (s. Anm. 6)‚ 302 f.  Bauer/Aland, a.a.O. (s. Anm. 22), s. v. Abschn. 3 (passim), 471 ff.‚ bes. 473 – 475.  Vgl. auch J. Weiß‚ a.a.O. (s. Anm. 32); A. Jülicher, Der Brief an die Römer, in: Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt, Zweiter Band, Göttingen ³1917, 240 in seiner Erklärung des Begriffs: „den Eifer, andere zu bekehren, Mission zu treiben“.  So G. Schneider, Die Apostelgeschichte. Kommentar zu 9,1– 28,31, HThK V/2, Freiburg 1982, 67 Anm. 66 mit Verweis auf Apg 10,8; 15,12.14; 21,19; vgl. ebd. 309.  Auf textkritische Varianten, ob katēchein z. St. in akt. oder pass. Form ursprünglicher ist, gehe ich nicht ein.  Beispiele für diese profangriechische Verwendung des Begriffs bei A. Knauber‚ a.a.O. (s. Anm. 6), 300.

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damit so die üblen Gerüchte (Falschmeldungen) (katēchein) über ihn entkräftet werden können. Mit dem Wort katēchein kennzeichnet der Verfasser der Apg seine Sicht, beurteilt er – vermutlich auch im Sinne seiner Leser – die Situation: Paulus ist stets auf rechtem Wege geblieben.⁴¹ Auch in Apg 18,25 urteilt der Autor mit Hilfe des Wortes katēchein. Apollos, ein alexandrinischer Jude (18,24), hat nur ein „Halb-Wissen“ von der Sache der Christen. Dieses vom „Hören-Sagen“ dem Apollos zu Ohren Gekommene, diese Form des „Erfahrenhabens“ erfasst „Lukas“. Wieder findet sich grammatisch der Akkusativ, der für katēchein den „religiösen Bezug“ anzeigt (s.o. zu Gal 6,6): Es ist „der ‚Weg des Herrn‘“, „nach dem Kontext (V. 25b) der von Gott durch Jesus erschlossene Weg, sein Heilshandeln“.⁴² Apollos kennt nur die Johannestaufe und lehrt in den Grenzen seiner mittelbaren Kenntnis als „charismatischer Prediger“⁴³ „genau das über Jesus“. Er hat noch nicht eine im Vollsinn „christliche Unterweisung“⁴⁴ erfahren wie der hellenistische Schriftsteller „Lukas“ sprachlich mit großer Sorgfalt beachtet.⁴⁵ Priska und Akylas mussten Apollos erst „genauer den Weg Gottes auseinandersetzen“ (18,26). Lk 1,4: Eine alte, in der Forschung offene Frage ist, ob hier die Bedeutung von katēcheō (pass.) ein Informiertsein oder spezieller durch [37] Unterricht vermittelte Kenntnisse zum Ausdruck bringt. Da „Lukas“ in den ersten vier Versen seines Evangeliums ein Proömium bietet und die Begrifflichkeit der Verse Widmungen aus der Profan-Gräzität nahezu durchgängig entspricht,⁴⁶ liegt es nahe, katēcheō ebenfalls unter diesem Aspekt zu sehen und z. St. als „Informiertsein“ wiederzugeben.⁴⁷ „Auch hier bezieht sich der Ausdruck nicht auf ‚Lehren‘, in denen

 Vgl. auch H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, HNT 7, Tübingen ²1972, 131.  G. Schneider, a.a.O (s. Anm. 38), 260 Anm. 15.  J. Jervell, Die Apostelgeschichte, KEK III, Göttingen 17=11998, 470.  So nach G. Schneider, a.a.O. (s. Anm. 38), 260.  Vgl. zutreffend H. Conzelmann, a.a.O. (s. Anm. 41), 118: „daß dieser eminente Schriftgelehrte (sc. Apollos) noch des Elementarunterrichts bedarf“; A. Knauber‚ a.a.O. (s. Anm. 6)‚ 302: „Das heißt schlicht: Der ‚Lebensweg‘ der Christusanhänger war ihm zu Ohren gekommen“; aus der früheren Forschung vgl. F. J. Foakes Jackson / K. Lake, The Beginnings of Christianity, Vol. IV, ed. by K. Lake / H. J. Cadbury, London 1933, 233.  Vgl. zur Diskussion die Kommentare, zuletzt W. Radl, a.a.O. (s. Anm. 34), 25 ff., und die Nachweise bei L. Alexander, Luke’s Preface in the Context of Greek Preface-Writing, NT 28, 1986, bes. 59 ff.72 ff.; dies., The Preface to Luke’s Gospel, NTSMS 78, Cambridge 1993.  Vgl. die Erwägungen z. B. bei G. Delling, Wort Gottes und Verkündigung im Neuen Testament, SBS 53, Stuttgart 1971, 114 Anm. 30; ders., Jüdische Lehre und Frömmigkeit, a.a.O. (s. Anm. 27), 23 zu katēcheō (= informieren).

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Theophil ‚katechetisch unterrichtet‘ worden ist, sondern auf die ‚Nachrichten‘, die ‚ihm zu Ohren gekommen‘ sind, wobei durchaus auch der Unterton mitschwingt, daß diese Kunde ihn ‚werbend‘ oder ‚gewinnend‘ angesprochen hat.“⁴⁸ Dies lässt sich noch präzisieren: Das Wort „Sicherheit“ (asphaleia) und Derivate verwendet ‚Lukas‘ außer Apg 16‚23 f nur in übertragener Bedeutung (Apg 2,36; 21,34; 22,30; 25,26). (Bisherige) Nichtchristen wollen oder müssen erfahren, was es mit Jesus Christus auf sich hat,⁴⁹ so dass hinsichtlich Lk 1,4 interpretiert werden kann: notwendige (= verlässliche) Grundlage und die Übersetzung vertretbar ist: „damit du die notwendige (verläßliche) Grundlage der ‚Worte‘ erkennst, über die du informiert wurdest“. Diese Grundlage besteht inhaltlich in dem anschließenden Lukasevangelium. Nach dem Durchgang durch die Belege aus dem Neuen Testament ist der einzige weitere Beleg aus den „Apostolischen Vätern“, aus dem etwa um 150 n.Chr. verfassten 2 Klem heranzuziehen, der gängig als Einstiegsnachweis für den christlichen Katechismusunterricht gilt. Dort heißt es (17,1): „Laßt uns also von ganzem Herzen Buße tun, damit keiner von uns verlorengeht! Wenn wir nämlich Gebote haben, und das auch tun, nämlich den Götzen abspenstig zu machen und die Katechumenen zu unterweisen (hier katēchein), um wieviel weniger darf dann eine Seele, die Gott kennt, verlorengehen!“⁵⁰ In diesem Verständnis treffen sich zumeist [38] die Übersetzungen von katēchein, etwa „Unterweisung erteilen“,⁵¹ „Katechumenenunterricht“,⁵² natürlich Bezug nehmend auf das nach dem Kontext innergemeindliche katēchein. Sehr viel zurückhaltender in seiner Erklärung ist wiederum A. Knauber:⁵³ „Was heißt hier katēchein (ohne beigefügtes Objekt!)? Mir scheint hier die Übersetzung ‚doceo, Katechumenenunterricht erteilen‘⁵⁴ eine verfrühte Konkretisierung einzuschmuggeln. An dieser Stelle handelt es sich um die oben angeführte ‚protreptische‘ Bedeutung ‚aufrufen‘ (werben, zu gewinnen suchen o. ä.), zumal hier nicht eine Amtsbetätigung gemeint ist, sondern ein Auftrag, der alle Getauften angeht.“ Hier wird die Nähe des katēchein zum Ter-

 A. Knauber, a.a.O. (s. Anm. 6), 303.  Vgl. auch F. J. Foakes Jackson / K. Lake, The Beginnings of Christianity, Part I: The Acts of the Apostels, Vol II., London 1922, 509; dies., IV, a.a.O., 271.276.  Übersetzung K. Wengst, Didache (Apostellehre). Barnabasbrief. Zweiter Klemensbrief. Schrift an Diognet. Schriften des Urchristentums. Zweiter Teil, Darmstadt 1984, 261.  So A. Lindemann, Die Apostolischen Väter I. Die Clemensbriefe, HNT 17, Tübingen 1992, 249.  So R. Knopf, Die Apostolischen Väter I. Die Lehre der Zwölf Apostel. Die zwei Clemensbriefe, HNT-Erg.Bd., Tübingen 1920, 177.  A. Knauber, a.a.O. (s. Anm. 6), 301.  Knauber zitiert H. Kraft, Clavis Patrum Apostolicorum, Darmstadt 1963, 243.

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minus euangelizein deutlich spürbar.⁵⁵ Auch dieser Beleg aus der Mitte des 2. Jahrhunderts wird weitaus kritischer als bisher zu bedenken sein. Wahrscheinlicher bleibt die Vermutung, dass der Begriff erst in späterer Zeit zur Kennzeichnung für „kirchlichen Unterricht“ wurde.

III Was folgt aus dieser erneuten Prüfung der Verwendung des Wortes katēchein im Neuen Testament und dem einzigen Beleg in den Schriften der „Apostolischen Väter“? Unterrichten als christliche Katechese lässt sich nicht einfach aus dem Neuen Testament ableiten. Vorstellung und Begrifflichkeit haben sich erst in Jahrhunderten der Ausbreitung und steten Festigung des Christentums zu jener innerkirchlichen Weise des Unterrichtens geformt, die dann vielfach segensreiche Früchte getragen hat. So gewiss Kerygma und Lehre (didachē, didaskein) das Urchristentum geprägt haben,⁵⁶ [39] so kommt doch durch das viel seltener in den neutestamentlichen Schriften verwendete katēchein ein besonderer Akzent hinzu. Es gibt in der Rückbesinnung auf das Neue Testament zu denken, dass katēchein in Begriff und Sachgehalt maßgebend in den profanen Bereich verweist, dass protreptische Redeweise des Informierens, werbenden Aufrufens, des Mahnens und daraus Konsequenzen-Ziehens weltlichem Rahmen und Horizont zugehört. In der Aufnahme dieses Begriffs bei Paulus und Lukas wird offenkundig, dass „Weltlichkeit“ und christliche Botschaft durchaus für je Eigenes stehen, dass aber Information auch in betont profaner Begrifflichkeit für die Sache Jesu Christi zur Anknüpfung an die Welt werden kann. Den dem Begriff inhärenten missionarischen Impetus haben Paulus und Lukas sachbezogen erkannt und eingebracht. Nicht konfliktfreier, von der Welt abgeschirmter kirchlicher Unterricht in sturmgesicherter und verborgener Nische ist, wie das Wort katēchein ausweist‚ vom Neuen Testament her angezeigt, sondern jene aufrufend-werbende, herausfordernde Information, die in je ihrer Stunde zur Begegnung mit dem Evangelium für den Einzelnen werden, ihn treffen und zum Glauben führen kann. Darin

 Knauber, a.a.O. (s. Anm. 6), 301 verweist ebd. Anm. 67 auf Irenäus mit Beleg. Die Nähe zum „Missionsauftrag“ sieht auch K. Wengst, a.a.O. (s. Anm. 50)‚ 261 Anm. 148. Weitaus positiver in Richtung „Katechumenenunterricht“ urteilen O. Pasquato / H. Brakmann, a.a.O. (s. Anm. 7), 424 mit weiteren Autoren.  Vgl. nur R. Bultmann, Kirche und Lehre im Neuen Testament, in: ders.: Glauben und Verstehen, Bd. I., Tübingen (1933) 41961, 153 – 187; J. I. McDonald, Kerygma and Didache. The articulation and structure of the earliest Christian Message, NTSMS 37, Cambridge 1980.

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liegen Wagnis und Verheißung für jegliche kirchliche Unterweisung und für den schulischen Religionsunterricht jedweder Gestalt.

1 Thessalonicher 2,13 Eine exegetisch-theologische Besinnung Und deswegen auch danken wir Gott unablässig (dafür), dass ihr, die ihr das von uns gepredigte (und gehörte) Wort Gottes empfingt, es (in freier Entscheidung) angenommen habt‚ nicht als Menschenwort, sondern wie es wirklich ist, als Wort Gottes, welches sich auch wirksam erweist in euch, den Glaubenden. ¹

I Für einen Pfarrer wie unseren Jubilar, der an fast jedem Sonntag in mehreren Gemeinden seines großen Kirchspiels zu predigen hat, mag dieser biblische Vers ein Begleiter in seinem treuen Dienst am Wort sein. Geht es hier um nicht weniger als das verkündigte Wort Gottes und seine Aufnahme bei den Hörern, so will zugleich beachtet sein, dass eine einzelne Aussage / ein einzelner Vers in einem Brief des Apostels Paulus in der Regel nicht isoliert in seinem Schreiben steht, sondern sich im Kontext weitet und dadurch theologische Tiefenschärfe gewinnt. Doch soll zunächst vom „Kontext“ im übertragenen und lebensgeschichtlichen Sinn die Rede sein. Das „Wort Gottes“ als umgreifendes Thema der Theologie ist dem Jubilar seit seinen Marburger Studientagen unter unserem gemeinsamen Lehrer Werner Georg Kümmel wohl vertraut und ist ihm immer wieder ganz persönlich treffend begegnet. Beherrschend war im alten Marburg jener Tage, wie es der damalige Altmeister der Theologischen Fakultät, Rudolf Bultmann, schon Jahrzehnte zuvor in seinem Aufsatz „Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament“ erforscht und ausgesprochen hatte, gebündelt im existentiellen Ergreifen, was „Glauben und Verstehen“ ausmacht:² Wort Gottes – auch unter Aufnahme einschlägiger Belege im 1. Thessalonicherbrief – „ist ein Wort, das Macht hat, das wirksam ist. Das Gesprochenwerden ist wesentlich für dieses Wort, es wird verkündigt und muß gehört werden. Es ist Weisung, Befehl, und muß getan, gehalten werden“ (280). „Damit aber ist zugleich gesagt, daß das Wort Gottes, so wenig es menschlichen Kriterien unterliegt und so sehr es autoritatives Wort ist, ja gerade deshalb, verständliches Wort ist, daß es also weder durch seine Magie wirkt, noch als Dogma

 Zu Einzelheiten der Übersetzung vgl. die nachfolgenden Ausführungen.  R. Bultmann, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen (1933) ⁴1961, 268 – 293 (Zitatbelege im fortlaufenden Text).

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1 Thessalonicher 2,13

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die blinde Unterwerfung, die Annahme von Absurditäten fordert. Ohne seine Verständlichkeit wäre es nicht im echten Sinn [121] Anrede. Echte Anrede ist nur ein Wort, das dem Menschen ihn selbst zeigt, ihn sich selbst verstehen lehrt, und zwar nicht als theoretische Belehrung über ihn, sondern so, daß das Ereignis der Anrede ihm eine Situation des existentiellen Sich-Verstehens eröffnet, ihm eine Möglichkeit des Sich-Verstehens eröffnet, die in der Tat ergriffen werden muß. Anrede stellt nicht dies oder das für mich zur beliebigen Wahl, sondern sie stellt in die Entscheidung, sie stellt gleichsam mir mich selbst zur Wahl, als ein welcher ich durch die Anrede und meine Antwort auf sie sein will“ (282 f.). Diese Grundeinsichten stehen auch heute bei veränderter Forschungslage an. Sowohl im Überblick als in Einzelheiten wirken sie nach.³

II Die Einordnung unseres Verses im 1. Thessalonicherbrief wird seit Anfang des vorigen Jahrhunderts – um nur auf diesen Zeitraum hinzuweisen – diskutiert. Noch immer bedeutsam sind methodisch die Ausführungen von J. Schniewind in seiner Dissertation, da nach ihm gliedernde und theologische Aspekte ineinandergreifen müssen.⁴ Hatte E. v. Dobschütz in seinem Kommentar 1909 dezidiert 1 Thess 2‚1– 13 als Einheit gefasst, aber den Übergangscharakter des Verses 13 zum folgenden Abschnitt nicht bestreiten wollen,⁵ so hat sich gegenwärtig als exegetisch-theologisch begründet ergeben, 2,1– 12 als einen in sich gerundeten Abschnitt zu sehen.⁶  Vgl. bei durchaus verschiedener positioneller Einstellung etwa: G. Delling, Wort Gottes und Verkündigung im Neuen Testament, SBS 53, Stuttgart 1970, bes. Kap. VIII: „Das Wort Gottes als Anrede“‚ 136 ff.; O. Wischmeyer, Das „Wort Gottes“ im Neuen Testament. Eine theologische Problemanzeige, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Wort Gottes – Kerygma – Religion. Zur Frage nach dem Ort der Theologie, Neukirchen-Vluyn 2003, 27– 40 (Lit) = dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments, hg. v. E.-M. Becker, WUNT 173, Tübingen 2004, 505 – 517; K. Haacker, Art. Wort Gottes. II. Neues Testament, TRE 36, 2004, 298 – 311 (Lit).  J. Schniewind, Die Begriffe Wort und Evangelium bei Paulus, Inaugural-Dissertation HalleWittenberg, Bonn 1910, 10 Anm. 3.  E. v. Dobschütz, Die Thessalonicherbriefe, KEK X, Göttingen 91909 = Nachdruck 1974, 82 f.105. „Ebensowenig darf man 21–16 zusammen fassen wollen“ (83).  Vgl. Nachweise u. a. bei H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, UTB 2022, Paderborn 1998, 267 ff., 273 ff.; O. Merk, 1 Thessalonicher 2‚1– 12: ein exegetisch-theologischer Überblick, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Ges. Aufs. …, hg. v. R. Gebauer, M. Karrer u. M. Meiser, BZNW 95, Berlin / New York 1998, 383 ff., bes. 385 – 387; R. Hoppe, Verkündigung – Botschaft – Gemeinde. Überlegungen zu 1 Thess 2,1–

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Die Besonderheit der Stellung von Vers 13 für seine briefliche Einordnung ist versimmanent vorgegeben, da durch καὶ διὰ τοῦτο⁷ ein Bezug zum Voranstehenden ebenso angezeigt ist, wie 1 Thess 2,14 durch ὑμεῖς γὰρ μιμηταί eine Verbindung zum vorhergehenden kennzeichnet. 1 Thess 2,13 ist [122] somit für Vers 14 von Belang, und von diesem her führt die Verbindung zu 1 Thess 2,15 f. 1 Thess 2,13 als eine Überleitung zu verstehen, der die Verse 14– 16 präludiert und mit diesen einen neuen Abschnitt bildet, ist die naheliegendste, freilich in der Forschung keineswegs neue Annahme.⁸

III Erst inhaltliche Aspekte – die exegetisch-theologische Aufarbeitung – erschließen die eigentliche Stellung des Verses im 1. Thessalonicherbrief. „Und deswegen sagen auch wir Gott Dank unablässig.“ Das gilt nicht nur für den voranstehenden Abschnitt 2,1– 12 oder Teile desselben – diskutiert werden Vers 12 oder auch die Verse 10 bis 12 –, sondern weist auf 1 Thess 1,2 zurück, weist auf eine Wiederaufnahme und Fortführung der Eingangsdanksagung, soweit sie in 1,2– 2,12 in Untergliederungen begegnet, und greift im Vorgriff – mit weiteren Unterabschnitten – bis 3,10, um dann in 3,11– 13 einen Abschluss zu finden. Einzelprobleme dieser auffällig langen Danksagung im ersten uns erhaltenen Paulusbrief (und im Unterschied zu denen seiner späteren Briefe) müssen hier auf sich beruhen. Deutlich aber ist: Das Aussprechen des Dankes verbindet mit dem schon von Paulus in diesem Brief Angeführten, das in seiner Vielschichtigkeit ohnehin Danksagungen gängiger Art durchbricht. Dieser Dank gilt jetzt zentriert der Aufnahme des Wortes Gottes durch die Thessalonicher und hat darin seine Besonderheit, dass er ausgelegt und entfaltet wird. Die Gott und Mensch aufeinander beziehende Dimension steht im Horizont Gestalt gewordenen Dankes, weil auf das

12.13 – 16, in: Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt. FS für A. Fuchs, hg. v. C. Niemand, Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge 7, Frankfurt/Main 2002, 325 ff., 325 f.338; ders., Der Topos der Prophetenverfolgung bei Paulus, NTS 50, 2004, 535 ff.  Das erste καί in Vers 13 ist textkritisch zu belassen; weitere Hinweise zu diesem Verbindungspartikel bei T. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher, EKK XIII, Zürich 1986, 97 Anm. 435.  Vgl. die Hinweise bei R. Hoppe, H.-J. Klauck u. O. Merk (s. jeweils Anm. 6); dazu R. Bultmanns Erwägungen, angeführt bei O. Merk, Zu Rudolf Bultmanns Auslegung des 1. Thessalonicherbriefes, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese (s. Anm 6), 350 ff., 353 (vgl. auch ebd. 387 Anm. 20); zu 1 Thess 2,13 – 16 als ursprünglichen Abschnitt in 1 Thess s. im Überblick U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 42002, 61 ff., 65 f.

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empfangene und verkündigte Wort Gottes hin die diesen Gott annehmende Antwort der Thessalonicher erfolgte, Antwort im Glauben. Einige Aussagen in diesem vielfach kommentierten Vers⁹ mögen im Nachbedenken verdeutlichen: [123] Die grammatisch nicht anfechtbare Wortstellung λόγον ἀκοῆς παρ᾽ ἡμῶν τοῦ θεοῦ verweist zunächst auf die Zusammengehörigkeit von λόγος und τοῦ θεοῦ, auf Gottes Wort. Λόγος τοῦ θεοῦ ohne Artikel ὁ, unüblich im Unterschied zu den allerdings nur wenigen Belegen im Corpus Paulinum für „das Wort Gottes“ (vgl. Röm 9,6; 1 Kor 14,36 [in der Authentizität nicht unangefochten]; 2 Kor 2,17; 4,2; 1 Thess 1,8: ὁ λόγος τοῦ κυρίου), ist sachlich diesen gleichzuordnen. Das Fehlen des Artikels ist im Hinblick auf die ebenfalls artikellose Gegensatzformulierung λόγον ἀνθρώπων in 1 Thess 2,13 erklärbar. Wichtiger ist: Vom „Wort des Herrn“ als Entfaltung des „Evangeliums“ hat Paulus bereits in 1 Thess gesprochen. 1,8 und 1,5 greifen in dieser Sache ineinander, und Verkündigung des Evangeliums ist tragendes Leitwort in der „potentiellen Apologie“ in 1 Thess 2,1– 12 (vgl. 2,2.9 und auch 2,4.8). „Evangelium“ und „Wort Gottes“ gehören zusammen. Aber, „was Paulus verkündigt, ist das Wort Gottes und deshalb auch Evangelium, nicht umgekehrt“.¹⁰

 Die Überflut der heute fachwissenschaftlich diskutierten Literatur zu den Thessalonicherbriefen (darunter ca. 160 Kommentare) ist nicht mehr überschaubar und auch für jeden im Amt, der sich für einen Teilabschnitt zur Predigt- und Unterrichtsvorbereitung exegetisch orientieren will, abschreckend. Für wichtige kürzere Informationen und Auslegungen zu 1 Thess 2,13 und Kontext verweise ich als hilfreich auf: M. Dibelius, An die Thessalonicher I.II. An die Philipper, HNT 11, Tübingen ³1937; E. v. Dobschütz (s. Anm. 5); G. Friedrich, Der erste Brief an die Thessalonicher, in: Die Briefe an die Galater, Epheser …, NTD 8, Göttingen 14=11976; G. Haufe, Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher, ThHK 12/1, Leipzig 1999; T. Holtz (s. Anm. 7); A. J. Malherbe, The Letters to the Thessalonians. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 32B, Garden City / New York 2000; W. Marxsen, Der erste Brief an die Thessalonicher, ZBK.NT 11/1, Zürich 1979; P.-G. Müller, Der Erste und Zweite Brief an die Thessalonicher übers. u. erkl., RNT, Regensburg 2001; E. Reinmuth, Der erste Brief an die Thessalonicher, in: Die Briefe an die Philipper …, NTD 8/2, Göttingen 18=11998; B. Rigaux, Saint Paul. Les Épîtres aux Thessaloniciens, EtB, Paris-Gembloux 1956; C. A. Wannamaker, The Epistles to the Thessalonians. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids 1990. – Zu weiteren Auslegungen vgl. unten Anm. 17.24.  T. Holtz, 1 Thess (s. Anm. 7), 99. – Zu ἐκλογή, zur Erwählung der Thessalonicher (1,4), entfaltet im Evangelium (1,5 – 8) als dem Wort Gottes, in ihrer Ausrichtung auf 1 Thess 2,13 und hinzielend auf die Gemeinde vgl. die bei O. Merk, 1 Thess 2,1– 12 (s. Anm.6), 391 f. u. Anm. 40.41 Genannten; E. Reinmuth, 1 Thess (s. Anm. 9), 117.128. Näherer Begründung kann in diesem Beitrag nicht nachgegangen werden.

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Beachtenswert hineingeschoben zwischen λόγον und τοῦ θεοῦ ist ἀκοῆς παρ᾽ ἡμῶν. Hier meint ἀκοή die Verkündigung, die Predigt,¹¹ die παρ᾽ ἡμῶν, von Paulus (und möglicherweise von ihn begleitenden Missionaren) gehalten, „immer auf den die Verkündigung Hörenden“ zielt,¹² so daß mit Bauer-Aland übersetzt werden kann: „die ihr das gepredigte Wort von uns empfingt“.¹³ Durch die erwähnte Wortstellung ist deutlich: Der Prediger selbst ist vom Wort Gottes geradezu umschlossen. Das ist der Platz, den Paulus dem Verkündiger anweist, und das ist der Maßstab für die Predigt. In das Gottes Wort eingebettet bleibt sie an Gottes Wort gebunden, und wie die Hörer der Verkündigung Empfangende sind, so darf man ohne Überdeutung des Textes mitbedenken, ist es letztlich auch der apostolische Verkündiger selbst. Die Solidarität von Prediger und Hörer ereignet sich unter dem verkündigten, von beiden gehörten Wort Gottes.¹⁴ Dass Paulus durch ein außergewöhnliches Geschehen Christ wurde, dass er aufgrund einer ihn treffenden Offenbarung zum Verkündiger und Missionar wurde (Gal 1,12.15 f.), wird zwar hier nicht z. St. dargelegt, gehört aber zur Voraussetzung auch seines Wirkens in Thessalonich. In 2,13 bezieht sich παραλαβόντες grammatisch korrekt auf die Thessalonicher, die das gehörte Wort empfangen haben. Wenn auch παραλαμβάνειν die Übernahme von Lehre und Predigt (1 Kor 15,1), von [124] ethischer Weisung (1 Thess 4,1) kennzeichnen kann, sollte das Verb in 1 Thess 2,13 ebensowenig wie λόγος τοῦ θεοῦ inhaltlich näherbestimmt werden.¹⁵ Es geht hier um das Grundsätzliche, wie die Fortsetzung des Verses hervorhebt. Die Thessalonicher haben das ihnen verkündigte Gotteswort nicht als Menschenwort angenommen, sondern „wie es wirklich ist“,¹⁶ als Wort Gottes. „Im Begriff δέχεσθαι liegt … das Moment eigener Entscheidung und Zustimmung“ (vgl. auch 1 Thess 1,6; 2 Kor 7,15; 8,17; Gal 4,14), es liegt der existentielle „Entschluss“ darin, sich für

 W. Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, 6. völlig neu bearb. Aufl. … v. K. u. B. Aland, Berlin / New York 1988, 59 s. v. Abschn. b. (im folgenden abgek.: Bauer-Aland).  G. Kittel, Art, ἀκούω κτλ., ThWNT 1, 1933, 216 ff., 222 mit Verweis auf Röm 10,16 ff.; Hebr 4,2; auch Gal 3,2– 5 ist anzuführen.  Bauer-Aland (s. Anm 11).  Aus der älteren Forschung mit noch immer wichtigen Anstößen für die Gegenwart vgl. A. Niebergall, Der Prediger als Zeuge, Handbuch für Gemeindearbeit Heft 4/5, Gütersloh 1960, z. B. 24 ff.74 ff.  Im übrigen vgl. biblische Beispiele bei Bauer-Aland (s. Anm. 11), 1251 f., s. v. Abschn. 2 u. 3. Dass Paulus auch im 1 Thess inhaltliche Akzente der Verkündigung setzt, steht außer Frage; vgl. etwa O. Merk, Zur Christologie im ersten Thessalonicherbrief, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese (s. Anm. 6), 360 ff.; diese genauer zu bestimmen und gar auf „präsynoptische Tradition“ hin zu pressen, ist nicht gelungen; anders R. Schippers, The pre-synoptic tradition in IThessalonians II13 – 16, NT 8, 1966, 223 – 234.  Bauer-Aland (s. Anm. 11), 72 s. v. ἀληθῶς.

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„Gottes Wort, das sich in Menschenwort verhüllt“, zu entscheiden. „Sie … haben im Menschenwort der Boten Gott selbst reden hören und zu diesem menschlichen Wort als zu Gottes Wort an sie ja gesagt.“¹⁷ Endete mit dieser Feststellung der Satz, verwiese er auf die erfreuliche missionarische Anfangssituation in Thessalonich. Mit dem abschließenden Relativsatz im Vers aber tritt die Stetigkeit in den Blick, die der Verkündigung des Wortes Gottes bei den Thessalonichern beschieden ist: ὅς καὶ ἐνεργεῖται ἐν ὑμῖν τοῖς πιστεύουσιν. Der relative Anschluss ὅς bezieht sich auf λόγον θεοῦ, auf Gottes Wort, und das Verbum ἐνεργέω, hier im Medium stehend und intransitiv gebraucht, „wird bezeichnenderweise auch nicht direkt auf Gott bezogen“.¹⁸ Wäre ἐνεργεῖται im aktivischen Sinn oder im Passiv zu verstehen, wäre das logische Subjekt Gott.¹⁹ Gemeint ist: Das Wort Gottes „erweist sich wirksam in euch, den Glaubenden“. War mit παραλαβόντες und ἐδέξασθε die Vergangenheitsform genannt als Hinweis auf die missionarische, jedoch ins Grundsätzliche gewandte Evangeliumsverkündigung und deren Aufnahme bei den Thessalonichern‚ so zeigt τοῖς πιστεύουσιν als Partizip im Präsens die Gegenwart an, die Paulus auch in der Fortsetzung seines Briefes bedenkt (1 Thess 3,1– 4.). Die Thessalonicher stehen im Glauben (vgl. 3,8). „Das ist die ‚Energie‘ dieses Wortes, das sie glaubend aus Menschenmund als Gottes Wort angenommen haben.“²⁰ Τοῖς πιστεύουσιν ist nicht wie ein „Zusatz“ zu werten,²¹ sondern die in den am Anfang des Verses stehenden Dank des Paulus einmündende Glaubenswirklichkeit der Gemeinde. Weil die Thessalonicher Halt im Glauben an Gottes Wort haben, kann der Apostel in 1 Thess 2,14 kommentierend (γάρ) ihre Situation als ihnen widerfahrene Wirklichkeit im Leben aus Glauben aufgreifen²² (vgl. schon 1 Thess 1,6). [125] Die „wirkende Mächtigkeit“ des ihnen bekundeten und in ihr Leben hinein akzeptierten Heils (2,13) macht die Thessalonicher zu vergleichbaren Nachahmern jener Gemeinden, die – wie sie selbst – von ihren Landsleuten in „Judäa“ Verfolgung erleiden (2,14).²³ Es zeigt sich eine innere Stringenz der äußerlich nur lockeren Verbindung von 2,13 zu 2,14. Somit erweist sich auch nach inhaltlicher Näherbestimmung 2,13 – wie schon oben skizziert – als Übergang und Grundlegung für  Treffend H. Schlier, Der Apostel und seine Gemeinde. Auslegung des ersten Briefes an die Thessalonicher, Freiburg 1972, 38 vgl. 22.  H. Paulsen, Art. ἐνεργέω energeō wirken, EWNT I, 1980, 1106 ff., Zitat: 1107.  Ausführlicher Nachweis bei T. Holtz, 1 Thess (s. Anm. 7), 99 Anm. 443.  H. Schlier (s. Anm 17), 38 f.  So z. B. E. v. Dobschütz, Thess (s. Anm. 5), 105.  Vgl. mit vielen Auslegrn z. B. G. Haufe, 1 Thess (s. Anm. 9), 44 f.  Zu Einzelheiten vgl. O. Merk, Nachahmung Christi. Zu ethischen Perspektiven der paulinischen Theologie, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese (s. Anm. 6), 302 ff., bes. 323 – 326.

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2,14. Der Neueinsatz des Dankes in 2,13 nach 1,2 bezieht die leidvolle gegenwärtige Lage der Thessalonicher ein.

IV Die wenigen Erwägungen und Nachzeichnungen zu 1 Thess 2,13 und seinem Kontext möchten Schwestern und Brüdern im Pfarramt das für sie Wichtige und auch Tröstliche erkennen lassen, aber ebenso herausfordern. Zusammengefasst und zielgerichtet: Es geht in der Verkündigung um das gepredigte Wort Gottes. Das ist die Basis. „Auch Menschenwort kann ja vernünftig und einsichtig sein. Gottes Wort aber unterscheidet sich von allen Philosophien, Ideologien und aller Weltweisheit dadurch, daß es Botschaft von Gott her ist.“²⁴ Es bleibt die vom Apostel gewiesene und von ihm vorgelebte Aufgabe,Verkündigung nicht in Menschenwort abgleiten zu lassen, und doch besteht für uns fort: Gott redet durch Menschen seine Botschaft, bezeugt im Alten und Neuen Testament. Der Rückbezug auf Gottes Wort geschieht in jeder Predigt entscheidend durch die Schriftauslegung, durch das bei jeder Perikope sich neu Infrage-stellen-lassen des Auslegers. Und hier sind Pfarrerinnen und Pfarrer (Religionslehrer und Religionslehrerinnen) gefordert, durch ihr Studium geschult, stellvertretend für ihre Gemeinden (Schulklassen), die die biblischen Sachverhalte nicht ohne weiteres nachprüfen können, in exegetisch-theologischer Auslegung existentiell-verantwortlich zu handeln. „Die Bedeutung der Theologie für Kirche und Gemeinde“²⁵ ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Im steten eigenen Hören auf das Wort Gottes und im Nachbedenken dieses Wortes in kritisch prüfender Schriftauslegung²⁶ ist es dann

 H. Schürmann, Der erste Brief an die Thessalonicher, GS 13, Düsseldorf ²1962, 53.  So die in Titel und Sache gleich wichtig gebliebene Schrift von C. H. Ratschow, Die Bedeutung der Theologie für Kirche und Gemeinde, glauben und leben 3, Bad Salzuflen 1963.  Vgl. E. Gräßer, Von Bultmann zu Schweitzer, in: E.-M. Becker (Hg), Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie, Tübingen/Basel 2003, 30 ff., 39 f.; J.-W. Taeger, Die neutestamentliche Wissenschaft als theologische Disziplin, ebd., 374 ff., 382: „Unsere Lehrer haben uns gelegentlich gesagt, der Prozess der Auslegung neutestamentlicher Texte sei zum Ziel gekommen, wenn der Text zur Predigt nötige. Damit sollte (ohne jede Frömmelei) festgehalten werden, die Auslegung sei der ‚Sache‘ der Texte verpflichtet. Wie diese pauschale Aussage auch im Einzelnen zu entfalten sein mag, ich denke, die neutestamentliche Wissenschaft nimmt ihre Aufgabe als theologische Disziplin wahr, wenn sie nicht nur beharrlich an den Ursprung des Christentums erinnert und dessen Grundurkunde nach allen Regeln der Kunst erklärt, sondern auch den reformatorischen Grundsatz sola scriptura von einem bloß behaupteten zu einem immer wieder plausiblen werden lässt und schließlich – ja, das auch – den dazu Berufenen und Befähigten Lust zur Predigt macht.“

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möglich, dessen Gegenwartsbezug als Herausforderung [126] unter dem Wort auch in die Verkündigung einzubringen, ja dann erschließt sich Gegenwart wie in 1 Thess 2,13. Es gilt: Auf οἱ πιστεύοντες im Vers 13 ist 1 Thess 2,14 bezogen. Aber es gilt dies nur mit dem Grundlegenden: „Wer eine Predigt hört, muss heraushören“ wie die Thessalonicher: „Gott selbst redet mich an.“²⁷ Ein solches Wort haben sie als Gottes Wort, ihr Leben im Kern treffend und radikal wendend (vgl. 1 Thess 1,8 f.), akzeptiert und sind als οἱ πιστεύοντες Gemeinde. Dass derartiges geschieht, bezeugt Paulus in 1 Thess 2,13. Und auch dafür steht der Apostel ein, dass solche in 2,13 genannte Verkündigung nicht vergeblich ist in dem Herrn (vgl. 1 Thess 2,2)²⁸ – bis heute, bis in unsere Gemeinden hinein. Das Dank-Sagen unserem Gott bleibt in je neuer Stunde.

 H. Schürmann (s. Anm. 24); so schon R. Bultmann (s. Anm. 2).  Vgl. die wichtige, aber insgesamt nur für 1 Thess voll auswertbare Studie von E. Reinmuth, „Nicht vergeblich“ bei Paulus und Pseudo-Philo, Liber Antiquitatum Biblicarum, NT 33, 1991, 97 ff.

Arbeiten Zu Begriff und Thematik von ἐργάζεσθαι in den beiden Thessalonicherbriefen Arbeit, Arbeitslosigkeit, Niederlegung der Arbeit oder auch Nicht-mehr-arbeitenKönnen: Das ganze Begriffsfeld „arbeiten“ ist in den Brennpunkt der Gesellschaft in unserem Lande gerückt. Die heute anstehende und existenziell in das Leben greifende Problematik lässt sich natürlich nicht mit Hinweisen zur Arbeit in den Briefen des Apostels Paulus in den Griff bekommen. Solche Versuche und so zu argumentieren, wäre eine biblizistische Verkennung angemessener Schriftauslegung. Wohl aber vermag der biblische Aspekt – wenn auch nur in einem kleinen Ausschnitt beleuchtet – den Horizont zu weiten und das Bewusstsein zu schärfen für einen sich immer wieder anders gestaltenden Komplex unseres Daseins, den wir mit „arbeiten“ verbinden. Das Problemfeld, das fast nur in Randbemerkungen in den vorgegebenen wenigen Zeilen aufgegriffen werden kann, soll vornehmlich am 1. Thessalonicherbrief aufgezeigt werden. In diesem Schreiben erweist sich Paulus um die Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. (ca. 50/51) als erster christlicher Zeuge, der schriftlich Arbeit/arbeiten sinnstiftend gemeindebezogen in seine Überlegungen einbezieht, ja der überhaupt die Fragestellung thematisch behandelt. Mit dieser Feststellung sind der äußere und innere Sachbezug der Problematik berührt.

1. Die Wortgruppe ἔργον/ἐργάζεσθαι zählt zu den häufigeren Begriffen im Neuen Testament. Mit Recht hat der Jubilar in seinem mit Gerhard Schneider herausgegebenen Exegetischen Wörterbuch zum Neuen Testament stringent darauf geachtet, die Zuordnung der Begrifflichkeit in den verschiedenen Bereichen neutestamentlicher Schriftengruppen auch exegetisch zu berücksichtigen.¹ Ohne Beachtung der Nuancen in der Wortbedeutung ergibt sich: ἔργον mit 169 Belegen im Neuen Testament begegnet bei Paulus in seinen unbestrittenen Briefen (Röm, Gal, 1/2 Kor, Phil, 1 Thess, Phlm) 39 mal, davon im 1 Thess 2 mal (im deuteropaulinisch ihm nahe stehenden 2 Thess 2 mal). Ἐργάζεσθαι ist 41 mal im Neuen Testament vertreten, darunter in den paulinischen Briefen 12 mal (davon 1 Thess

 H. Balz / G. Schneider (Hg.)‚ Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. I–III, Stuttgart 1981– 1983 (²1992).

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2 mal [2 Thess 4 mal]). Die statistische Auflistung gewinnt themabezogene Ausrichtung, sobald die Begrifflichkeit [20] belegmäßig in 1 Thess (2 Thess) zugeordnet wird: für ἔργον 1 Thess 1,3; 5,13 (2 Thess 1,11; 2,17), für ἐργάζομαι 1 Thess 2,9; 4,11 (2 Thess 3,8.10.11.12). Dabei zeigt sich, dass für die anstehende Fragestellung im Näheren das Verbum ἐργάζεσθαι im 1 Thess (wie auch im 2 Thess) heranzuziehen ist, dass aber ὁ κόπος (1 Thess 2,9; vgl. 2 Thess 3,8) ebenso wie ὁ μόχθος (1 Thess 2,9; vgl. 2 Thess 3,8)² und πράσσω (1 Thess 4,11) mit zu berücksichtigen sind und möglicherweise ἄτακτος (1 Thess 5,14) und Derivate (vgl. ἀτακτέω 2 Thess 3,7; ἀτάκτως 2 Thess 3,6.11) als Gegenbegriff zu „arbeiten“ anstehen.³ Mutmaßlich ist auch περιεργάζεσθαι (2 Thess 3,11) als „unnütze Betriebsamkeit“ hier einzureihen.⁴

2. Paulus hat als Missionar im Dienst der Verkündigung des Evangeliums seinen bürgerlichen Beruf nicht aufgegeben, sondern mit seiner eigenen Hände Arbeit gewirkt (1 Thess 2,9; 1 Kor 4,12; vgl. 2 Thess 3,8). Seine berufliche Tätigkeit und seine Mission greifen ineinander. Der arbeitende Missionar ist in diesem Sinn Vorbild für seine Gemeinden, wie es 1 Thess zeigt und es 2 Thess kommentierend ausspricht (3,7 f.). Dieser arbeitende Missionar versteht seinen Einsatz auch nach 1 Thess unter dem Zeichen einer ihrem Ende zueilenden Welt. Naherwartung (z. B. 1 Thess 4,15) und Rettung sind missionarische Ausrufezeichen, die auch den paulinischen Weisungen ausgesprochen und unausgesprochen Richtung und Nachdruck geben.⁵

 Dazu M. Seitz / F. Thiele, Art. κόπος, ThBLNT², Bd. I, 1997, 62 ff.  Dazu G. Delling, Art. τάσσω, Unterabschn. ἄτακτος κτλ., ThWNT, Bd. VIII, 1969, 49 f.  So G. Bertram, Art. ἔργον κτλ., ThWNT, Bd. II, 1935, 631 ff., Zitat: 632.  Vgl. zahlreiche Nachweisungen auch zu 1 Thess bei W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, GNT 3, Göttingen ⁵1987, 127 f.; dort auch die begründete Feststellung, „daß Paulus in allen seinen Briefen, abgesehen von dem kleinen Philemonbrief, auf das nahe Ende oder das kommende Endgeschehen verweist“ (127); S.-H. Lee, Die Mission des Paulus. Forschungsgeschichtliche Studien zu den anerkannten paulinischen Briefen von 1960 – 1999/2000, Diss. theol. Erlangen 2000 (Fotodruck), 21 ff.71 ff.159 ff.280 f.

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3. Dieser Missionar Paulus dringt in eine Welt mit sehr verschiedenem Verständnis von Arbeit und Arbeitsauffassung, zumal in zu gründenden Gemeinden von überwiegend oder ganz heidenchristlicher Provenienz. Gilt es einerseits zu beachten, dass die Vielfalt des Begriffs „arbeiten“ sowie seine praktische Umsetzung von der klassischen Zeit an bis in die Welt des Hellenismus keineswegs eindeutig definiert [21] werden können,⁶ so ist andererseits zu sehen, dass für Paulus schon herkunftsmäßig die im Judentum hoch geschätzte Arbeit selbstverständlich war und dass er als schriftgelehrter Rabbi den Lebensunterhalt selbst erarbeitete.⁷ Zumal in einer mit großer Wahrscheinlichkeit heidenchristlich orientierten Gemeinde wie in Thessalonich⁸ war Paulus genötigt, sich dem Thema Arbeit und damit einem Grundproblem der Arbeitsauffassung in der griechisch-hellenistischen Welt zu stellen. Die herkömmlichen Strukturen der griechischen Arbeitswelt und ebenso die Beliebigkeit bzw. den Freiraum zu arbeiten oder nicht zu arbeiten, hat jüngst der Althistoriker Christian Meier in seiner groß angelegten Studie: Griechische Arbeitsauffassungen in archaischer und klassischer Zeit. Praxis. Ideologie. Philosophie. Weiterer Zusammenhang,⁹ zusammenfassend mit der Interpretation reichen Quellenmaterials entfaltet. „Die Griechen besaßen zwar ein Wort (ἐργάζεσθαι), mit dem sie verschiedenste Arten des Arbeitens bezeichnen konnten, die dadurch gestiftete Gemeinsamkeit reichte jedoch nicht weit.“¹⁰ War es dem freien Bürger in der wie immer gearteten πόλις gestattet, einer Arbeit nachzugehen oder nicht, der Sklave stand unter der Verpflichtung angeordneten Tuns bis hin zu der „Tatsache, daß griechische Bürgerschaft ein Privileg war, und

 Vgl. dazu noch immer maßgebend W. Pape, Griechisch-Deutsches Handwörterbuch, 3. Aufl. bearb. v. M. Sengebusch, 6. Abdruck, 1914, Bd. 1, 1018 f. s. v. ἐργάζομαι.  Das ist häufig nachgewiesen worden; vgl. zusammenfassend M. Brocke, Art. Arbeit. II. Judentum, TRE 3, 1978, 618 – 622; J. Ebach, Art. Arbeit II. Biblisch, RGG⁴ 1, 1998, 678 – 680; W. Grimm, Art. Arbeit, Calwer Bibellexikon. Bd. I, 2003, 106 – 109. Verbreitet ist die gegenteilige Ansicht aus Sir 38,25 – 39,1, die sich aber nicht hat durchsetzen können, wonach „Schriftgelehrsamkeit“ und „handwerkliche Tätigkeit“ nicht vereinbar seien; vgl. Grimm, a.a.O., 109.  Vgl. etwa O. Merk, 1 Thessalonischer 2,1– 12. Ein exegetischer Überblick, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag, hg. v. R. Gebauer, M. Karrer u. M. Meiser, BZNW 95, Berlin / New York 1998, 383 ff., bes. 394 ff.402; zuletzt M. M. Mitchell, Art. Thessalonicherbriefe, RGG4 8, 2005, 360 ff., 360: Die Gemeindeglieder „waren keine Christen jüdischer Herkunft“.  C. Meier, Griechische Arbeitsauffassungen …, in: M. Bierwisch (Hg.), Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen, Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Sonderbd. 9, Berlin 2003, 19 – 76.  A.a.O., 19.

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die andere, daß sie über Sklaven verfügte“ (was für „naturgegeben“ angesehen wurde). Dies „erleichterte es, Arbeit vom Bürgerbegriff“ (und damit auch konkrete Inhalte von Arbeit) „auszuschließen“.¹¹ Die gleichen Probleme – einschließlich Arbeitslosigkeit, Arbeitsverweigerung etc. – gelten in der hellenistischen Zeit fort, wie Sitta [22] von Reden eindrücklich dokumentiert¹² und wie sie sich in der Situation von Sklavinnen und Sklaven zumeist hinsichtlich der Arbeit ausweisen.¹³ In eine solche Welt im makedonisch-griechischen Raum trifft der Heidenmissionar Paulus. Die Feststellung von Jürgen Ebach, „die A.[rbeits]welt und ihre Bewertung im NT (sc. Neuen Testament) basiert auf der HB (sc. Hebräischen Bibel)“,¹⁴ trifft für die paulinischen Briefe so undifferenziert nicht zu. Paulus weiß sich bei seiner durchaus herkömmlichen positiven Einstellung zur Arbeit mit den diesbezüglichen Gegebenheiten in der heidnischen Welt konfrontiert, gleich, ob er sich usuell oder aktuell mit diesem Problemfeld auseinander setzen muss. Man mag fragen: Stand in Thessalonich schon bei Gemeindegründung eine grundsätzlich notwendige Klärung an sich an, worauf in 1 Thess 4,11 παρηγγείλαμεν als Ausdruck verschärften Mahnens (Befehlens) hinweisen könnte?¹⁵ Die spätere (Wieder‐)Aufnahme des Wortes παραγγέλλω in 2 Thess (3,4.6.12) verdeutlicht in offenbar gleicher Angelegenheit die Situation und auch die eindringliche, ja scharfe Wortwahl in 1 Thess 4,11.

 A.a.O., 75.  Vgl. S. v. Reden, Art. Arbeit, Der Neue Pauly, Bd. 1, 1996, 964– 969, bes. 965; C. Meier (s. Anm. 9), passim.  Vgl. dazu im Überblick über die hellenistische Welt außerordentlich treffend die Charakterisierung von M. Stolleis, Diebstahl an sich selbst. Römische Rechtsquellen und flüchtige Sklaven (Bespr. von „Corpus der römischen Rechtsquellen zur antiken Sklaverei“, bearb. von G. Klingenberg, 2005), FAZ vom 24. Mai 2006, Nr. 120, Seite N 3.  J. Ebach (s. Anm. 7), 679.  Von den verschiedenen Verwendungen des Wortes παραγγέλλειν in der griechischen Welt (vgl. W. Pape [s. Anm. 6], Bd. 2, 473) ist im Neuen Testament „lediglich die der gebietenden Weisung“ geblieben (so O. Schmitz, Art. παραγγέλλω, παραγγελία, ThWNT V, 1954, 759). Das Wort wird im Unterschied zu dem befehlenden κελεύειν gebraucht, „wenn der Betroffene ganz persönlich angesprochen u.[nd] verpflichtet werden soll …“ (a.a.O., 760; vgl. auch C. Spicq, Notes de lexicographie néo-testamentaire, Tom. II, 1978, 647– 649). – Auffallend ist, dass das sich bei Paulus nur in 1 Thess 4,2 findende Substantiv παραγγελία (dort im Plural) die folgenden ethischen Weisungen insgesamt in ihrem fordernden Charakter herausstellen kann (vgl. auch E. v. Dobschütz, Die Thessalonicher-Briefe [Nachdr. der Ausg. von 1909, hg. v. F. Hahn], Göttingen 1974, 158), dass aber bei den Einzelweisungen in 1 Thess 4,1– 12 allein die Mahnung zu geordneter Arbeit mit dem Verbum παραγγέλλω in ihrer Notwendigkeit unterstrichen wird. – Eindeutiger lassen sich die beiden sonstigen Vorkommen von παραγγέλλω bei Paulus erklären: In 1 Kor 7,10 geht es um eine Weisung, die wirklich persönlich den Einzelnen trifft, vor allem aber, diese Weisung ist vom κύριος gegeben; in 1 Kor 11,17 liegt ein konkreter Anlass vor.

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Das zu konstatieren, führt zu dem eigentlichen Punkt: Das Verhältnis zur Arbeit in seinen heidnisch-weltlichen Bezügen stellt sich διὰ τοῦ κυρίου Ἰησοῦ (1 Thess 4,2) für einen zum christlichen Glauben Hingeführten, für ein Gemeindeglied neu. Jetzt [23] gilt παρακαλοῦμεν δὲ ὑμᾶς, ἀδελφοί (1 Thess 4,10b). In der Gemeinde der zum Herrn Gehörigen ist „arbeiten“ die je eigene Entscheidung im Sinn der Bruderliebe, in deren Wirklichkeit nicht mehr der Freie und der Sklave unter dem Gesichtspunkt der Arbeit gegenüberstehen, so gewiss die Sklaverei in den jungen christlichen Gemeinden nicht einfach abgeschafft war. Über die Bruderliebe muss Paulus der Gemeinde nicht schreiben (1 Thess 4,9), aber sie bedarf der Konkretion des Arbeitsverständnisses und des Aufdeckens der diesbezüglichen Gefahren, die in den inhärenten Praktiken der sie umgebenden Welt lagen, aus der Christen – schon 1 Thess bedacht (vgl. etwa 4,12) – nicht herausgehen können (1 Kor 5,1) und der sie sich auch nicht mehr gleich gestalten sollen (vgl. Röm 12,2).

4. Skizzenhaft und in geraffter Auswahl müssen im Folgenden mehr thetische Hinweise genügen: a) Zu 1 Thess 4,(9)10 – 12 „Ἐργάζεσθαι als Teil des christlichen Lebenswandels“¹⁶ gilt für Paulus (1 Thess 2,9; vgl. 1 Kor 4,12) wie für die Gemeinde. Der mit Vers 9 einsetzende Unterabschnitt¹⁷ in 1 Thess 4,1– 12 lässt in 4,10b einen Grundkonsens erkennen. Es geht um das Nochreichlicher-Werden des anschließend im Einzelnen zur Verwirklichung Anstehenden. Betont schon die Anrede „Brüder“ den Bezug auf die Gemeinde, so zielt auch φιλοτιμεῖσθαι, obwohl das einzelne Gemeindeglied im Blick ist, auf die Gemeinde selbst. Dies gilt ebenfalls für ἡσυχάζειν (4,11), wobei der profangriechische Hintergrund möglicher Arbeitsverachtung¹⁸ zwar anklingt, aber hier positiv für das Verhalten der Gemeinde ausgewertet wird (vgl. den ἵνα-Satz in 4,12).

 R. Heiligenthal, Art. ἐργάζεσθαι κτλ., EWNT II, 1981, 120 – 123, 121 (Zitat).  Vgl. zur älteren Forschung im Überblick O. Merk, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt 5, Marburg 1968, 51– 54; zur neueren Diskussion C. R. Nicholl, From Hope to Despair in Thessalonica. Situating 1 and 2 Thessalonians, SNTSMS 126, Cambridge 2004, 102 ff.  Vgl. A. J. Malherbe, The Letters to the Thessalonians, The Anchor Bible, Vol. 35B, Garden City, N.Y. 2000, 246 ff. mit zahlreichen Belegen.

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Inwieweit πράσσειν τὰ ἴδια „wertneutral“ in seiner Aussage ist,¹⁹ mag offen bleiben.²⁰ Begrifflich wird die Erledigung eigener Angelegenheiten als geordnetes Sich-Beschäftigen hervorgehoben. Jedenfalls „besteht“ „keine Parallele … zwischen [24] πράσσειν τὰ ἴδια und ἐργάζεσθαι“,²¹ so dass „mit den eigenen Händen arbeiten“ nicht einfach zur Erläuterung von πράσσειν τὰ ἴδια herangezogen werden kann.²² Letzteres verweist, durch ἐργάζεσθαι bedingt, auf (vorwiegend) handwerkliche Tätigkeit.²³ 4,12 bietet die Begründung,²⁴ die in der Sache die Auswirkung ungeordneten Arbeitslebens und ihre mögliche Beurteilung durch die heidnische Umwelt bedenkt. Dass in 1 Thess 4,9 – 12 keine eschatologische Motivierung einwirkt, ist gesehen, ihr mittelbarer Hintergrund für die Mahnungen wurde vielfach problematisiert und kontrovers beurteilt, wobei heftige Kritik an solchen Überlegungen nicht ausblieb.²⁵ Erledigt ist auch für die anstehende Fragestellung nicht, dass in dem paränetischen Abschnitt 1 Thess 4,1– 5,22 in 4,13 – 5,11 in belehrender, tröstlich zusprechender und mahnender Weise eschatologische Probleme in der Gemeinde als einer eschatologisch bestimmten dargelegt werden und dass in 5,12 ff. wohl doch 4,9 – 12 darin anklingt, soweit es um die Ermahnung der ἄτακτοι (5,14), also einiger in der Gemeinde – nicht der ganzen Gemeinde – geht. Eine gedankliche Rückblende, durch den eschatologischen Abschnitt nahe gelegt, auf 4,9 – 12 ist nicht kategorisch abzuweisen. b) Die ἄτακτοι Der heutige Kenntnisstand zur Wortgruppe erlaubt festzuhalten: Diese steht im Zusammenhang des Arbeitens, sei es allgemein oder spezieller im militärischen Dienst. Im Profangriechischen bezeichnet der Wortbereich „sich der geordneten Arbeit entziehen“. „Für das Verbum ist die Bdtg (sc. Bedeutung) der Arbeit fernbleiben ausdrücklich belegt.“²⁶ Nicht das Moment der Faulheit ist vorherrschend,

 So H.-C. Hahn / F. Thiele, Art. πράσσω, ThBLNT² I, 1997, 68 – 70.  Vgl. Belege bei A. J. Malherbe (s. Anm. 18), 248 f.  So C. Maurer, Art. πράσσω κτλ., ThWNT VI, 1959, 632– 645, 636 u. Anm. 14 ebd.  Wie es H.-W. Bartsch, Art. ἴδιος κτλ., EWNT II, 1981, 420 – 423, 422 vorschlägt. Im Übrigen ist ἰδίαις (4,11) textkritisch in „Nestle-Aland“ ²⁷1993 vertretbar bezeugt.  Maurer (s. Anm. 21), 636 Anm. 14.  Vgl. Nachweise bei Merk, Handeln (s. Anm. 17), 53 f.  So z. B. G. Haufe, Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher, ThHK 12/I, Leipzig 1999, 75; zuletzt Nicholl (s. Anm. 17), 103 u. ö. (jeweils mit Anführung verschiedener Positionen).  Nachweise und Zitate bei Delling (s. Anm. 3), 49 f., bes. auch 49 Anm. 1. Hinweise auch bei H. Roose, Polyvalenz durch Intertextualität im Spiegel der aktuellen Forschung zu den Thessalonicherbriefen, NTS 51, 2005, 250 – 269, 266 ff.

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sondern das „unordentliche Verhalten gegenüber der Verpflichtung zur Arbeit“.²⁷ [25] Ein Sachbezug von 5,14 zu 4,11 ist also nicht auszuschließen.²⁸ – Ob die missionarisch-eschatologische Botschaft des Paulus dem ohnehin problematischen Bezug zur Arbeit in den zu gründenden Gemeinden eine natürlich missverstandene Rückendeckung verlieh, ist dem 1 Thess nicht zu entnehmen. Der Aufbau des paränetischen Teils in diesem Brief schließt dies aber auch nicht ganz aus. Aus dem vermutlich zeitlich nahe an den 1 Thess heranzurückenden 2 Thess als erstem Deuteropaulinen noch zu Lebzeiten des Paulus²⁹ aber wird kommentierend zu 1 Thess eine Situation deutlich (2 Thess 3,6 – 12), in der religiöse Motive mitschwingen oder gar verstärkende Auslösemomente für das Verhalten der ἄτακτοι gegenüber der Arbeit sind. Die These von Paul-Gerhard Müller, „die spätere Situation, wie sie aus 2 Thess 3,6 – 12 hervorgeht, darf nicht auf die Frühzeit der Gemeinde in Thessalonich zurückprojiziert werden“,³⁰ ist notwendig in differenzierterer Sicht zu sehen.³¹ Die in 2 Thess 3 erfolgenden scharfen Anordnungen zeigen, dass „arbeiten“ und „Arbeit“, in welcher Gestalt auch immer, eine verpflichtend dringende Aufgabe für die ganze christliche Gemeinde auch um ihrer selbst willen bleiben.³² Dazu bedarf es keiner Lehre von der Arbeit, sondern des im Glauben gründenden Zugriffs auf Gemeinde und Welt.³³  Delling (s. Anm. 3), 49.  Vgl. z. B. T. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher, EKK XIII, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1986, 251; E. Reinmuth, Der erste Brief an die Thessalonicher, in: N. Walter u. a., Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, NTD 8/2, Göttingen 1998, 103 – 156, 141.153.  Vgl. die Erwägungen bei O. Merk, Überlegungen zu 2 Thess 2,13 – 17, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese (s. Anm. 8), 422 ff.; ders., Gemeinde – Fürbitte – Mission, in: Kirche und Volk Gottes. FS J. Roloff, hg. v. M. Karrer, W. Kraus u. O. Merk, Neukirchen-Vluyn 2000, 163 ff., bes. 163 – 167 (in diesem Band S. 305 – 318).  So P.-G. Müller, Der Erste und Zweite Brief an die Thessalonicher, RNT, Regensburg 2001, 178; doch vgl. a.a.O., 294– 304 wichtige exegetische Beobachtungen.  Das zeigt z. B. J. Frey, Art. ἡσυχία, ThBLNT² II, 2000, 1508, noch ohne Bezug auf P.-G. Müller mehr grundsätzlich; vgl. auch E. Reinmuth, Der zweite Brief an die Thessalonicher, in: N. Walter u. a. (s. Anm. 28), 157– 200, 186 ff.: „Zum Abschnitt (sc. Kap. 3) V 6 – 13 sind als Leittexte 1 Thess 2,9; 4,11 f.; 5,14 zu vergleichen“ (186); bei allerdings anderer Einschätzung des 2 Thess (vgl. etwa a.a.O., 161).  Vgl. im Überblick über die ältere Diskussion Merk, Handeln (s. Anm. 17), 61 ff.; zum gegenwärtigen Stand z. B. Malherbe (s. Anm. 18), 448 – 461 u. Nicholl (s. Anm. 17), 158 – 175, bes. 158 ff.163 ff., worauf an dieser Stelle nicht in ein kritisches Gespräch eingetreten werden kann.  Zu Gedanken aus den Thessalonicherbriefen ohne einen unmittelbaren Bezug auf diese vgl. U. Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, München 2005, 93: „Wer fleißig, kreativ und zuverlässig einen Beruf ausübt, wer seinen Lebensunterhalt mit seiner Hände Arbeit verdient, sollte wieder mehr geachtet und vielleicht der Müßiggang auch wieder stärker missbilligt werden.“

1 Thessalonicher 5,23.24 Eine exegetisch-theologische Besinnung Seinem langjährigen, lieben Kollegen, Prof. Dr. Manfred Seitz, zu seinem 80. Geburtstag und zum Goldenen Doktorjubiläum 2008 in dankbarer Verbundenheit zugeeignet. „Er selbst aber, der Gott des Friedens, heilige euch ganz und gar, und umfassend unversehrt möge euer Geist und Seele und Leib untadelig auf die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus bewahrt werden. Treu ist der euch Rufende, er wird es auch tun.“

Überlegungen zu 1 Thess 5,23.24 gleichen bei dem heutigen Stand fachwissenschaftlicher Arbeit und unter Berücksichtigung der Ergebnisse vorangegangener Forschung eher einem Schneisen-Schlagen im Felde überbordender und divergierender Meinungen. Ein Exeget kann in der Regel zumeist nur ernüchtert feststellen, daß in Beiträgen zurückliegender Bibelwissenschaft nahezu alles zu finden ist, was so mancher in unserer Gegenwart als neue Erkenntnis darbietet. Das gilt im Kern auch für gewichtige und bedenkenswerte Neuansätze in der gegenwärtigen Schriftauslegung, wobei unbestritten bleibt, daß weitere Quellenfunde die Sachlage ändern und die Interpretation vertiefend in eine bisher nicht gesehene Richtung weisen. – Andererseits aber ist es auch reizvoll mit zu vollziehen, wie frühere Auslegungen für die eigene Zeit virulent werden oder zumindest zum neuen Nachbedenken eines biblischen Abschnitts führen können. Das muß nicht spektakulär sein und kann sich je und dann doch nachhaltig für den Einzelnen erweisen. Sich auf Schriftauslegung einzulassen, bleibt Wagnis. Aber solches Bemühen eröffnet die Möglichkeit, zu einem Verstehen zu gelangen, das einem selbst – und vielleicht auch anderen – bisher in dieser Form verborgen war.

I. Selten stehen biblische Einzelverse ganz für sich. Auch 1 Thess 5,23.24 hat einen Kontext, den zu bestimmen sich die Forschung im letzten Jahrhundert nicht leicht gemacht hat.¹ [63]

 Zu verschiedenen neueren Gliederungsversuchen des 1 Thess vgl. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, ⁶2007, 64 Anm. 105.

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Drei Lösungen bieten sich vornehmlich an. Diese Verse könnten den Abschluß des zweiten Hauptteils des Briefes bieten (also 4,1– 5,24), zumal der erste Hauptteil von 1,2 bis 3,13 reicht, der in 3,11– 13 einen fürbittenden Abschluß findet. Zudem sind 5,23.24 wie 3,11– 13 grammatisch im Optativ und dadurch auffallend gestaltet. Ebenso ist eine Reihe tragender Begriffe wiederkehrend („untadelig“, „Parusie“), wenn auch die inhaltliche Näherbestimmung beider Stellen einschließlich Satzstruktur² durchaus nicht durchgängig gleich ist.³ Gerade die „Unterschiede“ sind nach T. Holtz (hier repräsentativ für neuere Kommentatoren genannt) Anlaß, 5,23.24 als Abschluß des Abschnittes von 5,12 an geltend zu machen. Denn „die Stellung des Gebets dort (sc. 3,11– 13) ist singulär, seine Stellung hier (sc. 5,23.24) am Ende einer Paränese hat Parallelen bei Paulus“.⁴ „Der Inhalt des ersten Stückes weist weit über das Vorangehende hinaus und umgreift bereits inhaltlich den folgenden Teil des Briefes. Auch dieser zweite Gebetswunsch erschöpft sich nicht in Aufnahme und Neuwendung der paränetisch formulierten Bedingungen des Christseins ab Vers 12; er ist aber doch wesentlich konzentrierter darauf bezogen“⁵ mit dem (bibelkundlichen) Ergebnis: „Das Leben in der Gemeinschaft und als Gemeinde (5,12– 24)“.⁶ – Die Komplexität der Gliederung zeigt M. Müller: „Der Briefkorpusabschluß markiert den Übergang vom Briefkorpus zum Briefschluß. Insofern steht er (sc. 1 Thess 5,23.24) in einem engen Kontext zur katalogischen Paraklese von 5,12– 22. Darüber hinaus nimmt 1 Thess 5,23 f allerdings eine wichtige Funktion innerhalb des Gesamtduktus des ersten Thessalonicherbriefes wahr.“⁷ Damit ist M. Müllers Sicht zugleich mit dem dritten Gliederungspunkt unmittelbar verbunden. 1 Thess 5,23.24 gehört als gesonderter Abschnitt zu 5,23 – 28, also dem Schlußteil des Briefes. Diese Zuordnung der Verse hat nach Vorgängern Ende

 Vgl. u. a. M. Müller, Vom Schluß zum Ganzen. Zur Bedeutung des paulinischen Briefkorpusabschlusses, FRLANT 172, 1997, 114 Anm. 146.  Vgl. dazu H. Schlier, Der Apostel und seine Gemeinde. Auslegung des ersten Briefes an die Thessalonicher, 1972, 7 f.103 f.; W. Marxsen, Der erste Brief an die Thessalonicher, ZBK. NT 11/1, 1979, 57.70 – 72; G. Haufe, Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher, ThHK 12/I, 1999, 66.107 f; zur älteren Forschung s. eingehend E. v. Dobschütz, Die Thessalonicher-Briefe, KEK X, ⁷1909, 154.228 ff.  T. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher, EKK XIII, 1986, 263 ff. u. Anm. 689 (Zitat: 263).  Ebd., 263.  Ebd., 239; vgl. auch E. Reinmuth, Der erste Brief an die Thessalonicher, in: N. Walter / E. Reinmuth / P. Lampe, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, NTD 8/2, 18–1 1998, 103 – 156, 153 ff.  Vgl. M. Müller (s. Anm. 2), 118 (Zitat) u. 113 ff.

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des 19. Jahrhunderts W. Bornemann herausgearbeitet als Abschnitt „C) Fürbitte und gläubiger Gruss (523 – 28)“, wobei er die inhaltliche Seite der Fürbitte im Blick auf den ganzen Brief erkannte, Einzelheiten aber auch mit 5,12 ff. motivlich verbunden sah.⁸ Ohne Kenntnis des weithin vergessenen Exegeten und [64] doch im Neuansatz letztlich seine Grundthese variierend, auch unter Hinzunahme rhetorischer Gliederungsversuche des Briefes, stehen sogar diese Überlegungen im Vordergrund der Diskussion⁹ hinsichtlich der Zuordnung der anstehenden Verse. Diese drei sich mehrfach auch berührenden und in der Forschung ausgewiesenen Versuche der Kontextbestimmung aber erschließen sich und verlieren den Charakter des Formalen erst in einer exegetischen Nachzeichnung der anstehenden Verse, um dann möglicherweise deren auch theologisch verankerten Ort im Briefganzen ermitteln zu können.

II. Wenige Hinweise müssen genügen.¹⁰ In 5,23 greifen Satzstruktur und Inhalt ineinander. Der Optativ zeigt auch in der Form des Aorists den erfüllbaren Wunsch.¹¹ Es geht Paulus um die Realität Gottes. Αὐτὸς δέ, Gott selbst ist „der Gott des Friedens“. Die griechische Ausdrucksweise αὐτὸς δὲ ὁ θεός kann für die indirekte Anrede Gottes stehen. „Es entspricht dem ‚Du‘ der Gebetsanrede.“¹² Die Realität Gottes ist zunächst einmal die, daß er angeredet werden kann. Und die Näherbezeichnung als „Gott des Friedens“ führt unmittelbar in das Sachanliegen.¹³ Denn es ist „in umfassenderem Sinn Bezeichnung des an seiner Gemeinde heilsam

 W. Bornemann, Die Thessalonicherbriefe. Völlig neu bearbeitet, KEK X, 5.61894, 43 (vgl. 6).246.  Vgl. etwa H. J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, UTB 2022, 1998, 280 f.; M. Müller (s. Anm. 2), 105 ff.112 ff. u. ö.; A. J. Malherbe, The Letters to the Thessalonians, AB 32 B, 2000, 336 ff.; P.-G. Müller, Der Erste und Zweite Brief an die Thessalonicher, RNT, 2001, 47.213 ff.; H. Schürmann, Der erste Brief an die Thessalonicher, GS 13, ²1962, 21.101 f., der aber „Zusammenfassende Schlußmahnung (5,23 – 24)“ vom „Briefschluß (5,25 – 28)“ trennt (101 f.103 f.).  Vgl. zu Einzelheiten T. Holtz (s. Anm. 4), 263 ff.; A. J. Malherbe (s. Anm. 9), 336 ff.; P.-G. Müller (s. Anm. 9), 213 ff.  Vgl. F. Blaß / A. Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. v. F. Rehkopf, ¹⁴1975, § 384.  So T. Holtz (s. Anm. 4), 263 mit weiteren Hinweisen.  Zur Herkunft der Charakterisierung „Gott des Friedens“ vgl. die Kommentare; bes. G. Delling, Die Bezeichnung „Gott des Friedens“ und ähnliche Wendungen in den Paulusbriefen, in: Jesus und Paulus. FS für W. G. Kümmel zum 70. Geburtstag, hg. v. E. E. Ellis u. E. Gräßer, 1975, 76 ff.

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handelnden Gottes“ (vgl. z. B. Röm 15,33; Phil 4,9; auch Röm 16,20).¹⁴ Genauerhin zu Vers 23: „Erscheint hier der Gott des Friedens als der Heiligende, so ist damit angedeutet, daß in der Heiligung das heilsame Handeln Gottes zum Vollzug kommt – auf die Parusie hin, wie ausdrücklich herausgestellt wird. Der Gott des Heils ist der, der zum Anteil am Heilberuf und die Heiligung durchführt (V. 24) auf die Zukunft hin.“¹⁵ Die vielfache Parallelität von ἁγιάζειν und καλεῖν im Alten Testament und in der Septuaginta¹⁶ [65] bündelt sich in Vers 23 im Handeln des „Gottes des Friedens“ und trifft sich in der Zielrichtung: „das Heil des ganzen Menschen mit Leib und Seele“, nämlich „das eschatologische Heilsein des ganzen Menschen“.¹⁷ Das hier ausgesprochene Ganze wird durch ὁλοτελεῖς und ὁλόκληρον auf den Menschen und sein Bewahrtwerden im Blick auf das Heil, die Parusie, die „Ankunft unseres Herrn Jesus Christus“ unmittelbar vertieft. ὁλοτελής – nur hier im Neuen Testament vorkommend – kennzeichnet „ganz vollständig, ganz unbeschädigt“.¹⁸ In der Sachaussage ganz nahe gerückt ist ὁλόκληρος, stärker ein Ausdruck für Quantität als für Qualität. Er kennzeichnet das seinem „Umfang“ nach Vollständige und in diesem Sinne Unversehrte.¹⁹ Für „qualitativ – vollständig“ plädiert P. A. van Stempvoort,²⁰ um daraus anknüpfend eine weitgehende stilistischgrammatische Neugestaltung des Verses 23 vorzunehmen. Zweifellos hängt die Deutung auch daran, wie der Bezug dieses Unversehrtseins gefaßt ist. Bezieht sich ὁλόκληρος nur auf πνεῦμα oder sinngemäß auf die gesamte, anthropologisch gefaßte „Trichotomie“ in ihrer Kennzeichnung als Geist, Seele und Leib? Der Bezug auf τὸ πνεῦμα würde grammatisch gesehen ausreichen.Van Stempvoorts Lösung, unter anderem deshalb hinter πνεῦμα einen

 So ebd., 84.  So ebd., 80.  Zu Einzelnachweisen vgl. G. Dellling, Geprägte partizipiale Gottesaussagen, in: ders., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze von 1950 – 1968, hg. v. T. Holtz, N. Walter u. F. Hahn, 1970, 401– 416, 409.  So W. Foerster, Art. εἰρήνη κτλ., ThWNT II, 1935, 398 – 418, 412 f. (Zitat: 413).  Vgl. EWNT II, 1981, 1244 (redaktionelle Angabe durch die Herausgeber); W. Bauer, Griechischdeutsches Wörterbuch …, 6. völlig neu bearbeitete Auflage, hg. v. K. Aland u. B. Aland, 1988, 1145 zu 1 Thess 5,23: „Gott heilige euch ganz und gar od[er] durch und durch“; H. Seesemann, Art. ὅλος, ὁλοτελής, ThWNT V, 1954, 176, bes. ebd. Anm. 2.  Vgl. EWNT II, 1981, 1242 (redaktionelle Angabe der Herausgeber); W. Bauer (s. Anm. 18), 1144: „Euer Geist möge vollkommen … bewahrt werden“; W. Foerster, Art. ὁλόκληρος, ThWNT III, 1938, 765 f. (Zitat: 765).  P. A. van Stempvoort, Eine stilistische Lösung einer alten Schwierigkeit in 1 Thess V, 23, NTS 7, 1960/61, 262– 265, 263.

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Punkt zu setzen und so den ersten Teil des Verses 23 für sich zu nehmen, scheint zunächst einleuchtend, birgt aber andere Schwierigkeiten nicht nur sprachlichgrammatischer und stilistischer Art.²¹ Seine Übersetzung: „Und der Gott des Friedens heilige euch gänzlich in allen Teilen“,²² bringt nicht die trichotomische, doch offenbar von Paulus bewußt gesetzte und – wenn auch nur hier in seinen Briefen begegnende – so gesehene Ganzheitsbezeichnung des Menschen zur Geltung. Auch wird sie nicht dem theologischen Sachgefüge gerecht, das die ganzheitliche Berücksichtigung von ἀμέμπτως und die Zielrichtung, die durch τηρηθείη ausgewiesen ist, voll einbringt. Man wird ὁλόκληρος wie ἀμέμπτως mit den drei genannten, hier anthropologisch gefaßten Begriffen in Verbindung bringen müssen, um dann τηρηθείη in seiner Gewichtung gerecht zu werden. Denn „in dem τηρηθείη ἐν … verbindet sich, wie oft im Griechischen, die Bewegung zum Ziel mit dem Sein am Ziel … . Das prädikativ gestellte, alle drei Substantive umfassende ὁλόκληρον zielt darauf [66] ab, daß die Thessalonicher, jeder als eine Ganzheit, in jeder Richtung vom Bösen bewahrt bleiben mögen.“²³ Man wird die dreifache Begrifflichkeit, mit der Paulus hier den Menschen bezeichnet, sicher nicht pressen dürfen. Es geht nicht um das umschriebene Menschenbild von in der Gemeinde zu Thessalonich agierenden Gegnern des Apostels,²⁴ wohl aber darum, daß Paulus im Hinblick auf die Zusammensetzung und Herkunft der Gemeindeglieder²⁵ in anthropologischer Allgemeinheit der griechischen Welt die Ganzheitlichkeit des Menschen hervorhebt.²⁶ Paulus vertritt keine einheitliche Anthropologie, und weil nach ihm der „Heilige Geist“ wie das gesamte Heilshandeln Gottes jeweils „den ganzen Menschen“ „trifft“, kann er ohne weiteres auch πνεῦμα mehrfach zur anthropologischen Kennzeichnung heranziehen.²⁷ In diesem Zusammenhang wichtig bleibt die Feststellung von R. Bultmann:²⁸

 Vgl. die Darlegung der entstandenen Diskussion bei T. Holtz (s. Anm. 4), 264 Anm. 698; H. Schlier (s. Anm. 3), 119 Anm. 147.  P. A. van Stempvoort (s. Anm. 20), 264 (dort kursiv).  W. Foerster (s. Anm. 19), 765 f.  So ausgeprägt R. Jewett, Paul’s Anthropological Terms. A Study of Their Use in Conflict Settings, AGJU 10, 1971, 179 ff.250 f.  Nach zahlreichen neueren Nachweisen zusammengefaßt bei M. M. Mitchell, Art. Thessalonicherbriefe, RGG4, Bd. 8, 2005, 360 ff., 360: Die dortigen Gemeindemitglieder „waren keine Christen jüdischer Herkunft“.  Vgl. auch E. Schweizer, Art. πνεῦμα, ThWNT VI, 1959, 433; ähnlich F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments, Bd. II, 2002, 312. – Auf die Spezialliteratur zur paulinischen Anthropologie kann hier nicht eingegangen werden.  So etwa E. Schweizer (s. Anm. 26), 433 (Zitat) mit Bezug auf die wichtigsten einschlägigen Belege.  R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, ⁹1984, 206 f.

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„[Es] meint der Wunsch 1. Th 5,23, daß unversehrt und tadelsfrei bewahrt bleiben möge ὑμῶν τὸ πνεῦμα καὶ ἡ ψυχὴ καὶ τὸ σῶμα offenbar nichts anderes, als daß die Leser ganz und gar bewahrt bleiben sollen. Der Form nach liegt ein trichotomisches anthropologisches Schema vor; doch ist die Formulierung aus (vielleicht traditioneller) liturgisch-rhetorischer Redeweise zu erklären, so daß aus der Stelle nichts weiter zu entnehmen ist, als daß Paulus eben auch vom menschlichen πνεῦμα reden kann.“

Da Paulus keine trichotomische Anthropologie in seinen Briefen entfaltet und auch nicht zur anstehenden Stelle, ist das Besondere zu sehen: ὁλόκληρος und ἀμέμπτως in Vers 23 umschließen in spezifischer, weil zielbezogener Weise jeden einzelnen Christen in Thessalonich in seinem Dasein, in je seiner den ganzen Menschen treffenden Lage, nämlich zielgerichtet auf „die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus“. Der Gott des Friedens handelt heilsam als der die in das Christusgeschehen Einbezogenen bewahren wollende. Mit „Parusie“ ist sicher die in diesem Brief schon genannte Parusie (2,19; 4,15), die für Paulus und für die Gemeinde in der Naherwartung ihren Ausdruck findet (vgl. 4,13 ff.) gemeint, aber auch, was in 5,1 ff. hinsichtlich der Plötzlichkeit der Ankunft des Herrn für jedes einzelne Gemeindemitglied gesagt ist. Das Christsein im Grundsätzlichen wie im konkreten einzelnen Verhalten (vgl. 4,1– 12) bestimmt die aufgetragene und zu bewältigende Gegenwart derjenigen, die auf die im Heilshandeln Gottes gründende Zukunft [67] hin leben (5,10 f.). Der voranstehende Brief erhält in Vers 23 noch einmal Tiefenschärfe. Der anschließende Vers 24 führt dies in der Form der Aussage zum Zentralen: „Treu ist der euch Rufende.“ Gott ist der Rufende (vgl. 2,12; 4,7),²⁹ der es auch „tun wird“. Der Gott des Friedens ist kein anderer als der Rufende, kein anderer als der Wirkende. Das ist das Verbindende in den beiden Versen dergestalt, daß im Hinweis auf die Treue Gottes sachgemäß der Kommentar zu Vers 23 gegeben wird.

III. Gerade die Anklänge an alttestamentlichen und (früh‐)jüdischen Hintergrund³⁰ und teilweise auch die ungewöhnliche Formulierung im Vers 23 haben mehrfach die Vermutung aufkommen lassen, hier liege liturgische (sei es frühjüdische, sei es

 Vgl. E. Gräßer, Das eine Evangelium. Hermeneutische Erwägungen zu Gal 1,6 – 9, in: ders.; Text und Situation. Gesammelte Aufsätze zum Neuen Testament, 1973, 84– 122, 101 Anm. 57: „καλεῖν wird bei Paulus immer mit Gott, nicht mit Christus verbunden“ (mit Heranziehung sämtlicher Belege).  Besonders betont von P. A. van Stempvoort (s. Anm. 20), 269; aus neuerer Forschung M. Müller (s. Anm. 2), 118 ff. u. ö.

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frühhellenistische) Tradition oder Teilstücke einer solchen zugrunde.³¹ Das ist möglich, aber nicht eindeutig belegbar. Jedenfalls aber hat Paulus die Verse 23 und 24 gezielt in den Kontext seines Briefes an die Thessalonicher geschrieben und formuliert und zwar zum Schluß seiner Ausführungen. Denn in den Versen 25 – 28 folgt noch der unmittelbare Briefschluß, freilich differenziert in seiner Gliederung: Verse 23 und 24 sind die Basis für das Fürbittengebet für den Apostel (und seine Mitarbeiter) in Vers 25, das Paulus von seiner Gemeinde erbittet. Es schließen sich Hinweise für den Gottesdienst (auch für die Verlesung des Briefes) in den Versen 26 und 27 an und in Vers 28 der Segenswunsch. In Vers 23 ist ein Bezug auf den ganzen Brief – wie angeführt – vielfach gegeben, ein Wunsch ausgesprochen (V. 23),³² der „vom Schluß zum Ganzen“³³ weist. Dieser Wunsch ist ein Gebet, das über den zweiten Teil des Briefes (4,1– 5,22) hinausgreift, das die große Danksagung des ersten Teils (1,2 – 3,13) einschließt und auf den Friedenswunsch in 1,1 zurücklenkt.³⁴ [68] Näherhin ist es eine Fürbitte des Missionars Paulus, der seine Gemeinde so abrupt verlassen mußte (2,17 ff.). „Intercessory Prayer“³⁵ mag die angemessene und umfassende Bezeichnung für diese sein,³⁶ zumal sie theologisch den Grund des Anliegens des Apostels zum Ausdruck bringt. – So gewiß vom Schluß her auf das Ganze in dieser Fürbitte der Blick fällt, ist hier trotz inhärenter Züge eines „konduktiven Gotteszuspruchs“ nicht von einem solchen unmittelbar und allein zu sprechen, denn er ist nicht verbunden mit einem Gebet.³⁷ Er ist formal epistolographisch (und formal rhetorisch?) in seiner überwiegend neutralen Aussage zu eng gefaßt und vermag nicht

 Vgl. bes. M. Dibelius, An die Thessalonicher I/II, An die Philipper, HNT 11, ³1937 mit verschiedenen bibliogr. Angaben; R. Bultmann (s. Anm. 28), 206. Diese Vermutung hat vielfach in die neuere Forschung Eingang gefunden.  Doch hat sich die z. St. öfter diskutierte Form des Segenswunsches nicht erheben lassen; anders z.T. G. L. Champion, Benedictions and Doxologies in the Epistle of Paul, Diss. theol. Heidelberg, 1934, 126 ff.; J. Jewett, The Form and Function in the Homiletic Benediction, AThR 51, 1969, 18 – 34.  So der Titel der Untersuchung von M. Müller (s. Anm. 2), auch wenn der Verfasser einen Bezug zu Gebet/Gebetswunsch gerade verneint (ebd., 109 – 114 bzw. 114– 129).  Vgl. bedenkenswert und Impulse gebend R. C. Nicholl, From Hope to Despair in Thessalonica. Situating 1 and 2 Thessalonians, SNTSMS 126, 2004, 108 – 111 (vgl. 101).  Vgl. G. P. Wiles, The Significance of Intercessory Prayer-Passages in the Letters of Paul, SNTSMS 24, 1974, 24.40 u. ö.; zu Wiles Untersuchung s. eingehend R. Gebauer, Das Gebet bei Paulus. Forschungsgeschichtliche und exegetische Studien, TVG 349, 1989, 73 ff.  H. J. Klauck (s. Anm. 9), 280.  Gleichwohl bleiben die umsichtigen Überlegungen von M. Müller (s. Anm. 2), bes. 124 ff., für die weitere Forschung anregend und diese anstoßend wichtig.

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das Heilshandeln Gottes so in seiner tiefgängigen Weite in sich aufzunehmen, wie es Paulus hier fürbittend ausspricht.³⁸ Das lenkt abschließend noch einmal zum Ganzen: Die Fürbitte in 1 Thess 5,23.24 ist an den Gott gerichtet, der gegenwärtig ist und im Kommen bleibt und im Zeichen „der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus“ jeden Einzelnen umfassend in seiner ganzen menschlichen Existenz und darin die Gemeinde in ihrer Lebenswirklichkeit herausfordert und bewahren will. Diese Fürbitte gründet sich für den Apostel in der Gewißheit des erfahrenen Heilshandelns Gottes. Es ist das Vertrauen auf die Treue des zu seinem Rufen/Berufen stehenden und weiterhin wirkenden Gottes. Das aber ist die Zusage – und in diesem Sinne auch ein Gotteszuspruch –, aus der die Fürbitte lebt und aus der ihre vertrauensvolle Kraft erwächst, das ist der geistig/geistliche Zuspruch, der zum Beten ermutigt.

 Zurückhaltend auch H. J. Klauck (s. Anm. 9), 280 f.

Erster Thessalonicher 5,1 – 11 Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 10. November 1996, in der Neustädter (Universitäts‐) Kirche in Erlangen Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. 1 Thess 5,1 – 11 Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Gemeinde, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; ² denn ihr selbst wißt genau, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. ³ Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen. ⁴ Ihr aber, liebe Schwestern und Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß der Tag wie ein Dieb über euch komme. ⁵ Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. ⁶ So laßt uns nun nicht schlafen wie die anderen, sondern laßt uns wachen und nüchtern sein. ⁷ Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. ⁸ Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. ⁹ Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unseren Herrn Jesus Christus, ¹⁰ der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. ¹¹ Darum ermahnt euch untereinander, und einer erbaue den anderen, wie ihr auch tut.

Liebe Gemeinde! Die letzten Sonntage im Kirchenjahr lenken den Blick auf Gottes Zeit und Ewigkeit und von dort auf unsere Zeitlichkeit in Raum und Welt. Doch was wissen wir von Zeit und Stunde, von der irdischen Begrenztheit, die uns umgibt? „Der Tod ist gewiß, die Stunde ungewiß.“ Das ist eine uralte Erfahrung der Menschheit, an der auch die Christenheit nicht auslernt, auch wenn wir es lieber mit dem Psalmisten halten mögen: „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.“ Nicht zur Resignation schreibt der Apostel Paulus, sondern um uns [258] Augen und Ohren zu öffnen zum Wahrnehmen unseres Lebens in dieser Zeitlichkeit. Eine junge amerikanische Christin hat vor Jahren in einem gleichsam Überwältigtsein von den Worten des Apostels in unserem Abschnitt den vielleicht wirkungsmächtigsten Hinweis in einem einzigen Satz ausgesprochen: „Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens.“ In der Tat: Paulus lädt uns ein, unsere Zeit und unser Leben in Beziehung zu setzen. „Heute ist der erste Tag vom Rest meines

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Lebens“, das ist die große unverbrauchte vor uns liegende Chance des neuen Anfangs, auch wenn morgen der letzte Tag unseres Lebens sein sollte. Und dies trifft noch mehr als das in den Umbrüchen unseres Jahrhunderts entstandene Wort: „Und wenn morgen die Welt unterginge, will ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.“ Um Christsein und Zeit geht es in unserem Predigtabschnitt. Zum ersten: Wir wollen uns nichts vormachen: Die Zeit ist ein laufendes und eigentlich nicht faßbares Gebilde. Was ein jeder von uns an jedem Tag im Guten wie im Bösen tut, denkt, vollbringt oder liegenläßt, mit Eifer betreibt oder nachlässig handhabt, ist getan. Jeder Tag ist qualifiziert durch unser Tun, und so bleibt kein Tag ungesehen und ungeschehen. – „Alles hat seine Zeit.“ Aus dem Buch des Predigers hören wir es eindrücklich: Alles hat seine bestimmte Stunde. Jedes Ding unter dem Himmel hat seine Zeit. Und wir dürfen fortfahren: Auch das Wachen und das Schlafen, der Tag und die Nacht haben je ihre Zeit. Im Grunde sind wir es ja leid, von der Zeit zu reden. Zu oft hören wir oder sprechen wir es selbst aus: „Ich habe keine Zeit“, und ein Terminkalender mit weißen Flecken ohne Eintragungen gilt auch in unserer Stadt vielen als unseriös. Das zeigt nur: Die Zeit ist in unserer Gesellschaft, die über Freizeit wie nie zuvor verfügt, zum ungelösten Problem geworden, und wir stecken als Christen und Gemeinde mitten in diesem Sog. Wann gelingt es denn noch, einen einigermaßen passenden Termin für gemeindliche Kreise und Veranstaltungen zu finden? Und die Terminkalender unserer Pfarrer sind sitzungsüberladen und lassen für das Entscheidende, für Gottesdienst und Seelsorge kaum noch die nötige Zeit, auch nicht die Zeit zum Atemholen und Vorbereiten, zur Besinnung und zum theologischen Nachdenken. Dem „wir haben keine Zeit“ geht zumeist von uns unausgesprochen bedrückend empfunden das gleichsam andere Gesicht der Zeit parallel: „Die Zeit läuft uns davon.“ Die Jahre eilen weiter. Wir erfahren es, wie schnell etwa ein Semester vergeht und Examenstermine und -nöte vor der Türe stehen. Wir müssen es zur Kenntnis nehmen, daß wir älter werden und daß Berufschancen sich ebenso wandeln wie sie in erschreckendem Maße schnell schwinden. Daß unser Sein in die Zeit geworfen und offensichtlich mit ihr verstrickt ist, das macht uns unruhig. Der unlösbare Zusammenhang von „Sein und Zeit“ bewegt nicht nur die [259] Philosophen, sondern er betrifft alle Bereiche unseres Daseins. Denn: „Alles Sein hat seine Zeit, und alles Sein hat seinen Tag.“ Wege und vielleicht auch Abwege tun sich auf, wenn wir einmal beginnen, über unsere uns ganz persönlich betreffende Zeit, über unser je eigenes Leben nachzudenken. „Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens“, das ist die Chance auch für solche Besinnung, ist Aufbruch zu Neuem in davoneilender Zeit.

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Klar, nüchtern und bestimmt spricht Paulus in eine umtreibend beunruhigende Zeit der jungen Gemeinde zu Thessalonich hinein: Christen wissen über Zeiten und Stunden Bescheid, auch wenn weder die Christen damals noch wir unsere letzte Stunde kennen. Wodurch wissen wir Bescheid? Das ist das Zweite, was wir heute bedenken wollen. Es läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Jeder Tag ist in seinem Ablauf von Gott her und auf Gott hin gestundete Zeit. Freilich: Das ist eine unserem profanen Verständnis von Zeit, Zeitnot und Zeitdruck entgegenstehende, gleichwohl richtungsweisende Glaubensaussage. Nur wenige Sätze zuvor hat es Paulus den Thessalonichern im gleichen Brief geschrieben: „Wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist“ (4,14). Das ist das Urdatum des Glaubens und das Urdatum des uns eröffneten Wissens über Zeiten und Stunden. Der Christen Zeit inmitten der Welt hat es gegenwartsbestimmend und zukunftsweisend mit diesem einen zu tun: mit Jesu Tod und Auferstehung, mit dem Herrn, der für uns gestorben und von Gott auferweckt ist. Das ist die Botschaft des Evangeliums für uns in der uns gestundeten Zeit. Auch wenn uns im täglichen Getriebe solche Gedanken ferner liegen, wir dürfen es uns mitten in unseren Alltag hinein zurufen lassen: Von dieser Botschaft her gewinnen Glaube und Zeit ein neues Verhältnis zueinander. Paulus traut es uns zu, Glaube und Zeit in unserem Alltag miteinander zu verbinden. In einer uns sicher ungewohnten und schwierigen Sprache spricht Paulus von Licht und Finsternis, vom Wachen und Schlafen, vom Nüchternsein, vom Tag und von der Nacht im teils wörtlichen, teils übertragenen Sinn. Fassen wir es auf das Entscheidende hin zusammen: Wie die Christen in Thessalonich sind die Leute, die im Licht und nicht in der Finsternis stehen. Wir sind als die Gemeinde des Auferstandenen die Leute, die jeder neue Tag braucht. Paulus mutet uns sprachlich und sachlich einiges zu. Umsonst ja, aber nicht billig ist das Heil zu haben, das uns im Glauben tragfähige, tröstlich-aufbauende Wirklichkeit erschließt. Worin besteht diese Wirklichkeit? Das ist das Dritte, was uns Paulus vor Augen stellt. Diese Wirklichkeit besteht darin, daß wir uns nicht von jeder tickenden Zeituhr des wahrlich vielfachen Bedrohtseins schrecken lassen, sondern nüchtern [260] und klaren Blickes mit dem uns auch von Gott gegebenen Verstand, mit Vernunft und Umsicht das Gebotene und das Mögliche vor Ort ausrichten und gegebenenfalls spontan handeln, solange diese Welt besteht und jeder neue Tag heraufzieht. Denn das ist Kennzeichen des Tages. Der Tag steht hier für die uns eröffnete Möglichkeit und Wirklichkeit: Heute ist der erste Tag vom Rest meines und unseres Lebens. Kinder des Tages sind Leute, die jeden neuen Tag als geschenkte Zeit nutzen. Nicht weiter als Schlafmützen, die z. B. die Abschaffung des Buß- und Bettages verschlafen haben, sondern als wache, umsichtig schauende und im Zupacken Hoffnung weckende Menschen sind wir in die Welt entlassen, die Gott nicht aufgibt. Dazu

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gehört auch dies, falsche Sicherheit von der in Grenzen möglichen Sicherheit zu scheiden. Das können wir, und dazu sind wir aufgerufen. Denn wir erwarten in unserer vielfach und weltweit verunsicherten, bedrohten Zeit nicht dieses oder jenes Schrecknis, wir erwarten am Ende des zweiten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung nicht irgendetwas Ungewisses, über uns bedrohlich Hereinbrechendes, sondern wir erwarten unseren kommenden Herrn Jesus Christus. Wir erwarten keinen anderen als den, der für uns gestorben und auferstanden ist. Nicht Zeiten und Stunden sind zu berechnen, sondern es gilt, mit diesem einen Herrn zu rechnen, wann immer ER kommt – und sei es unerwartet und plötzlich wie ein Dieb in der Nacht. Es gilt, mit diesem einen Herrn zu rechnen, der uns in unserer ganzen Existenz will. Darum sind Christen Kinder des Tages, nicht in Umrissen verschwommene und verhuschende Gestalten im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung. Tag und Nacht sind klar geschieden wie von Anbeginn der Schöpfung, und das Licht des Tages wirft scharf umrissene Schatten. Um diese Eindeutigkeit geht es, und das hat Konsequenzen. Es muß einmal gesagt werden: Weit mehr Menschen, als wir vermuten, warten darauf, daß Christen, daß wir wieder den Mut gewinnen, in unserem Denken, Urteilen und Handeln so eindeutig zu sein, wie Tag und Nacht, Licht und Finsternis voneinander geschieden sind. Die innere Distanz zur Kirche, die viele in unserer volkskirchlichen Situation sich vom Glauben hat abwenden lassen, und viel Groll über die Kirche überhaupt sind nicht grundlos. Bei aller notwendigen Abwägung der Argumente verharren wir zu oft in unverbindlichen Sowohl-als-auch-Entscheidungen in Glaubens- und ethischen Fragen. Wir lassen auf diese Weise Menschen, die unsere Schwestern und Brüder sind, in ihrer inneren seelischen Not allein. Wer wollte sich ausnehmen? Auch hier gilt: Umdenken und neu Anfangen. Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens. Und Paulus macht uns Mut dazu: Mit gewaltigen Worten und mit Bildern, die ihren Grund im gemeinsamen biblischen Erbe des ganzen Gottesvolkes haben, spricht er es aus: Wir aber, die Kinder des Tages, [261] sind angetan, sind bekleidet mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und tragen als Helm die Hoffnung auf das Heil. Wir sind ausgerüstet als Gottes Hoffnungsträger. In dieser Funktion fordert uns Gott ganz, jeden Tag neu. Nicht eine Kriegsrüstung, sondern eine Alltagsrüstung ist uns gegeben: Nämlich das von Gott gewährte Geleit in unserem Dasein bei der Arbeit und in der Arbeitslosigkeit, bei Gesundheit und in der Krankheit, beim Sich-Freuen und in der Traurigkeit, bei überlastendem Zeitdruck und in ausruhender Stille. „Wir sind von Gott umgeben auch hier in Raum und Zeit“ (A. Poetzsch). Und wir bleiben Gottes Hoffnungsträger ohne Weltsucht und Weltflucht, wenn wir es wieder freier und unerschrockener wagen, Grund und Maßstab unseres Glaubens, unserer Hoffnung und unseres Tuns zu benennen. Hoffnung und Tag gehören zusammen, denn auch

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das Tägliche ist eingebettet in die von Gott gestundete und von uns durchzuhaltende Zeit. Halten wir es fest: Wir sind Gottes Hoffnungsträger, weil Gott selbst für uns einsteht. Wir sind nicht allein. Seit Ostern ist uns die in Gottes Tat gründende und unsere Lebenstage überdauernde Hoffnung eröffnet. Noch einmal wendet Paulus das Bild und die Sache von Wachen und Schlafen. Jetzt bündelt er alles, was unsere Zeit und Zeitlichkeit umschließt, in die unverbrüchliche Zusage unseres Gottes: Wir werden mit Christus sein und mit ihm leben allezeit (4,17). Das ist es, was gilt im Leben und im Sterben und über den Tod hinaus. Und das genügt im Leben und im Sterben. „Deswegen“ – so schließt der Apostel – „sprecht einander tröstlich Mut zu und erbaue ein jeder den anderen.“ „Alles Sein hat seine Zeit, alles Sein hat seinen Tag, nur die Liebe bleibt grenzenlos“ – uns aufgetragen in allen vorletzten Stunden unseres Lebens. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Nachbemerkung 1) Es ist mir eine besondere Freude, einen Dankesgruß an Petr Pokorný in Gestalt einer vor Jahresfrist gehaltenen Predigt zum Ausdruck bringen zu dürfen. Denn das Sachanliegen des für den genannten Sonntag verordneten Predigttextes ist in reichem Maße im wissenschaftlichen Werk des Jubilars bedacht, nämlich „Konsequenzen“ aus uns geschenkter und begründeter Hoffnung zu ziehen. Er hat in verschiedenen seiner Untersuchungen¹ in methodischer kritischer Arbeit und zugleich in Treue zur biblischen Überlieferung aufgezeigt, daß sich Hoffnung in theologischer Verantwortung mit nüchterner Gegenwartsbewältigung verbindet, [262] und dabei ausdrücklich auf die „Konsequenzen für die heutige christliche Verkündigung“ als Auftrag auch des Exegeten verwiesen.²

 Vgl. z. B. P. Pokorný, Die Hoffnung auf das ewige Leben im Spätjudentum und Urchristentum. Arbeiten und Vorträge zur Theologie und Religionswissenschaft, 1978, 20 ff.; ders., Die Entstehung der Christologie. Voraussetzungen einer Theologie des Neuen Testaments, 1985, 140 (vgl. ebd., 56 f.131); ders., Die Zukunft des Glaubens. Sechs Kapitel über Eschatologie, ATh I, 72, 1992, 53.75.77 ff.  P. Pokorný, Die Hoffnung (s. Anm. 1), 38.

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Nachbemerkung

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2) In der voranstehenden Predigt gehe ich bewußt den Schritt „vom Text zur Predigt“ und unterscheide mich darin von heute vielfach geübter homiletischer Praxis.³ Sich zunächst und als Voraussetzung vom vorgegebenen, ja aufgetragenen Predigtabschnitt im Vollzug historisch-kritischer Exegese selbst infragestellen zu lassen, steht mir am Anfang der Predigtvorbereitung, nicht mögliche „Predigteinfälle“ oder gar lieb gewordene Gedanken, die dann, je nach dem zu wie strenger Selbstkorrektur der Prediger bereit ist, durch exegetische Kontrolle korrigiert werden. Dieser Primat der Exegese auch für die Predigt impliziert die wissenschaftsgeschichtliche Einsicht, daß historisch-kritische Forschung in ihrem Zueinander von Rekonstruktion und Interpretation die exegetisch-theologische Basis, das Fundamentum auch für die Predigt bietet. Methodisch haben dies die Begründer der „Biblischen Theologie“ in der Spätphase der deutschen Aufklärung, der Neologie, erkannt und erarbeitet.⁴ Es ist „vom theologischen Recht historisch-kritischer Exegese“⁵ in ihrer grundlegenden Bedeutung als ihrer im Umsetzen und Durchführen vorrangigen exegetisch-theologischen Bearbeitung auch eines Predigttextes ebenso zu sprechen und auszugehen wie das Votum von Ernst Fuchs seine Aktualität behalten hat: „Die historisch-kritische Methode der Auslegung neutestamentlicher Texte hat ihren Dienst dann getan, wenn sich aus dem Text die Nötigung zur Predigt ergibt.“⁶ In diesem Sinne führte mich der Weg „von der Exegese zur Predigt“. Existentiell betroffen von der exegetisch-theologischen Aussage des Abschnittes⁷ war

 Auf die Fülle gegenwärtig diskutierter, aber auch in sich divergierender Zugänge für eine sachgemäße Predigt kann hier nicht eingegangen werden.  Vgl. Hinweise bei P. Pokorný, Die Entstehung der Christologie (s. Anm. 1), 1 ff. (und die dort Genannten); zuletzt F. Hahn, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die evangelische und katholische Exegese. Eine problemgeschichtliche Skizze, in: Theologie an der Universität. Zum 525. Stiftungsfest der Ludwig-Maximilians-Universität München, MThZ 48, 1997, 231 ff.  E. Käsemann, Vom theologischen Recht historisch-kritischer Exegese, ZThK 64, 1967, 259 ff.  E. Fuchs, Die der Theologie durch die historisch-kritische Methode auferlegte Besinnung, in: ders., Zur Frage nach dem historischen Jesus, Ges. Aufs. Bd. 2, 1960, 219 ff. (Zitat: 226, im Original im Druck hervorgehoben); vgl. auch E. Gräßer, Von der Exegese zur Predigt?, in: ders., Text und Situation. Gesammelte Aufsätze zum Neuen Testament, 1973, 287 ff. mit der beachtenswerten Feststellung: „Recht und Grenze der historisch-kritischen Methode sind noch nie dogmatisch starr fixiert worden“ (297), um zugleich zu betonen: „Die Gefahr beginnt sich abzuzeichnen, daß das Woher der Theologie nicht mehr primär der biblische Text ist, sondern das weltlich Gegebene“ (298).  Vgl. dazu die älteren und neueren Kommentare z. B. von E. v. Dobschütz (¹1909; Nachdruck 1974), M. Dibelius (³1937), W. Marxsen (1979), T. Holtz (1986), C. A. Wanamaker (1990); H. Schürmann, Der erste Brief an die Thessalonicher, Geistliche Schriftlesung, Bd. 13, ²1962; H. Schlier, Der Apostel und seine Gemeinde. Auslegung des ersten Briefes an die Thessalonicher,

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mir auf dem weiteren Weg hin zur Predigt im meditativen Durchdringen manche dem Text nachspürende Einsicht von ebenfalls um diese Perikope hermeneutisch ringenden Weggefährten⁸ – mit eigenen Gedanken verbindend – klärend und hilfreich, bis schließlich im Vertrauen auf Gnade und auf die Kraft des Gebetes die Predigt ihre innere Gestaltung und äußere Niederschrift fand. Gegenwärtige Erfahrung lehrt es: Wir Bibelwissenschaftler sind gefordert, wieder intensiver den exegetisch-theologischen Basis-Beitrag für die Predigt auch hermeneutisch so einzubringen, daß unsere Verkündigung des biblischen Zeugnisses die aktuelle Wirklichkeit umgreift und orientiert an dem Wort, aus dem die Predigt kommt: zukunftsweisend, aufrichtend und tröstend.

1972; die Untersuchung von W. Harnisch, Eschatologische Existenz. Ein exegetischer Beitrag zum Sachanliegen von 1. Thessalonicher 4,13 – 5,11, FRLANT 110, 1975; eigene frühere exegetische Bemühungen (O. Merk, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt, 1968, 55 ff.).  Etwa R. Christiansen, CPh, Reihe 6 B, 1984, 243 – 250; C. Kähler, PTh 85 = GPM 49, 1995/96, 432– 438; D. Kahl, 1 Thess 5,1– 6 (7– 11), CPh VI, 2, 1996, 220 – 228; W. Marxsen, GPM 38, 1983/84, 418 – 427; B. Reicke, Paulus über den Tag der Herrn. Homiletisch orientiere Auslegung von 1 Thess 5,1– 11, ThZ 44, 1988, 91– 96; W. Schmithals, 1 Theses 5,1– 5, GPM 30, 1973/74, 7– 12; J. Seim, hören und fragen 4/1, 1975, 1– 7; H. Stoevesandt, 1 Thess 5,1– 6 (7– 11), CPH 44, 1989/90, 450 – 456; G. Voigt, Die Lebendigen Steine. Homiletische Auslegung der Predigttexte, NF Reihe VI, 1983, 431– 436. – Die Gedichte von Ingeborg Bachmann, „Die gestundete Zeit“, und Arno Poetzsch, „Wir sind von Gott umgeben“: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 26. August 1996, 26: Anzeige mit dem Hinweis „Alles Sein hat Zeit“. – Biblische Lesung gemäß „Das Neue Testament. Nach der Übersetzung Martin Luthers“, Revidierter Text 1984 (mit leichter erläuternder Verbesserung).

Bibliographie Otto Merk 1998 – 2013 1998 (Fortsetzung aus Wissenschaftsgeschichte und Exegese [Bd. I]) Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag, hg. v. R. Gebauer, M. Karrer u. M. Meiser, BZNW 95, Berlin / New York 1998. Art. Michaelis, Johann David, Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 7, 1998, Sp. 239 – 240. Art. Nösselt, Johann August, Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 7, 1998, Sp. 915 – 916. Art. Bauer, Walter Felix, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 1, 1998, Sp. 1169. Art. Bornkamm, Günther, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 1, 1998, Sp. 1698. Diskussionsbeitrag in: Föderalismus – Prinzip und Wirklichkeit. Atzelsberger Gespräche 1997. hg. v. H. Neuhaus, Erlanger Forschungen Reihe A. Geisteswissenschaften Band 83, Erlangen 1998, S. 59 – 60.

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1999 Das Urchristentum im Werk von Werner Georg Kümmel. Ein Überblick, in: Festschrift für Jürgen Becker zum 65. Geburtstag, hg. v. U. Mell u. U. B. Müller, BZNW 100, Berlin 1999, S. 543 – 554. Jesaja 5,1 – 7. Predigt am Sonntag Reminiscere, 27. Februar 1994, in der Neustädter (Universitäts‐)Kirche in Erlangen, in: Antikes Judentum und Frühes Christentum. Festschrift für Hartmut Stegemann zum 65. Geburtstag, hg. v. B. Kollmann, W. Reinbold u. A. Steudel, BZNW 97, Berlin 1999, S. 512 – 518. Art. Bauer, Georg Lorenz (1755 – 1806), Dictionary of Biblical Interpretation, ed. J. H. Hayes, Vol. I, A–J, Nasville 1999, S. 109 – 110. Art. Coelln, Daniel Georg Konrad, von (1788 – 1833), Dictionary of Biblical Interpretation, ed. J. H. Hayes, Vol. I, A–J, Nasville 1999, S. 202 – 203. Art. Kümmel, Werner Georg (1905 – 1995), Dictionary of Biblical Interpretation, ed. J. H. Hayes, Vol. II, K–Z, Nasville 1999, S. 40 – 41. Art. Reicke, Bo, Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 8, 1999, Sp. 1003. Art. Renan, Ernest, Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 8, 1999, Sp. 1106 – 1107.

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Art. Dibelius, Martin, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 2, 1999, Sp. 833. Art. Dobschütz, Ernst v., Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 2, 1999, Sp. 890.

Rezensionen Angstenberger, P., Der reiche und der arme Christus. Die Rezeptionsgeschichte von 2 Kor 8,9 zwischen dem zweiten und dem sechsten Jahrhundert, Hereditas 12, Bonn 1997, ThLZ 124, 1999, Sp. 622 – 623. Meißner, St., Die Heimholung des Ketzers. Studien zur jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe 97, Tübingen 1996, ThLZ 124, 1999, Sp. 1245 – 1248. (Erw. engl. Translation: Stefan Meißner, The Rehabilitation of the Heretic. Studies on the Jewish Dispute with Paul, Review of Theological Literature. A Selection from Theologische Literaturzeitung, Vol. I, 1999, S. 77 – 81).

2000 Gemeinde – Fürbitte – Mission. Aspekte ihrer Zuordnung in den Deuteropaulinen, in: Kirche und Volk Gottes. Festschrift für Jürgen Roloff zum 70. Geburtstag, hg. v. M. Karrer, W. Kraus u. O. Merk, Neukirchen-Vluyn 2000, S. 163 – 175. Werner Georg Kümmel, Die neutestamentliche Exegese, durchgesehen und ergänzt v. Otto Merk, in: G. Adam, O. Kaiser, W. G. Kümmel, O. Merk, Einführung in die exegetischen Methoden, Gütersloh 2000, S. 71 – 111. (Ungedruckt: Predigt über Jesaja 29, 17 – 24. 12. Sonntag nach Trinitatis am 22. August 1999 in St. Markus in Erlangen, in: Des HERRN Lob verkündigen. Festgabe für Hans Werner Hoffmann und Ludwig Schmidt, hg. v. F. Fechter [Erlangen] 2000, S. 129 – 135). Art. Schniewind, Julius, Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 9, 2000, Sp. 193 – 194. Art. Seeberg (Oskar Theodor) Alfred, Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 9, 2000, Sp. 368. Art. Dinkler, Erich (1909 – 1981), Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 17, 2000, S. 263 – 275.

Herausgeberschaft Kirche und Volk Gottes. Festschrift für Jürgen Roloff zum 70. Geburtstag, hg. v. M. Karrer, W. Kraus u. O. Merk, Neukirchen-Vluyn 2000.

2002

393

2001 Lukas 11,20. Zur Debatte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Z Nového Zákona. Sbornik k narozeninám. Prof. Dr. Zdeňa Sázavy, ed. H. Tonzarová, P. Malmuk, Praha 2001, S. 30 – 37. Beobachtungen zu Wilhelm Heitmüllers Auslegung des Johannesevangeliums, in: Johannes aenigmaticus. Studien zum Johannesevangelium für Herbert Leroy, hg. v. St. Schreiber u. A. Stimpfle, Regensburg 2001, S. 173 – 181. Art. Weiß, Johannes, Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 10, 2001, Sp. 1046. Art. Windisch, Hans, Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 10, 2001, Sp. 1307. Art. Schweizer, Eduard, Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 11, 2001, Sp. 233 – 234.

Rezensionen Reichardt, M., Psychologische Erklärung der paulinischen Damaskusvision? Ein Beitrag zum interdisziplinären Gespräch zwischen Exegese und Psychologie seit dem 18. Jahrhundert, Stuttgarter Biblische Beiträge 42, Stuttgart 1999, ThLZ 126, 2001, Sp. 931 – 933. Christophersen, Alf, Friedrich Lücke (1791 – 1855). 1. Neutestamentliche Hermeneutik und Exegese im Zusammenhang mit seinem Leben und Werk; 2. Dokumente und Briefe, Berlin 1999, ThLZ 126, 2001, Sp. 1016 – 1019. Waubke, Hans Günther, Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, Beiträge zur historischen Theologie 107, Tübingen 1998, ThLZ 126, 2001, Sp. 1019 – 1021.

2002 Als Schwerhöriger die Bibel lesen, in: Religionsunterricht und Konfirmandenunterricht für Gehörlose und Schwerhörige, Heft 53, Nordhorn 2002, S. 2 – 14. Walter Felix Bauer (1877 – 1960), Chronika Gymnasium Philippinum, 6. Folge Nr. 9, 2002, S. 483 – 486. Schweitzer, Albert: Straßburger Vorlesungen, Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 71, 2002, S. 281 – 284. Art. Traditionskritik/Traditionsgeschichte II. Neues Testament, Theologische Realenzyklopädie, Bd. 23, 2002, S. 744 – 750. Art. Lütgert, Wilhelm, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 5, 2002, Sp. 557. Art. Meyer, Heinrich August Wilhelm, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 5, 2002, Sp. 1199.

Rezensionen Schweitzer, Albert, Straßburger Vorlesungen, hg. v. E. Gräßer u. J. Zürcher (= Werke aus dem Nachlaß, hg. v. R. Brüllmann u. a.), München 1998, Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 71, 2002, S. 281 – 284.

394

Bibliographie Otto Merk 1998 – 2013

2003 Anmerkungen zu Gablers Altdorfer Antrittsrede (S. 42 – 52) und: Vollständige Übersetzung von „De iusto discrimine …“, Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele“ (16 – 41), in: Johann Philipp Gabler (1753 – 1826) zum 250. Geburtstag, hg. v. K.-W. Niebuhr u. Chr. Böttrich, Leipzig 2003, S. 16 – 41 u. 42 – 52. Calwer Bibellexikon, Bd. 1 A–K, Stuttgart 2003 (²2006), Art. Glaube, S. 445 – 448. Calwer Bibellexikon, Bd. 2 L–Z, Stuttgart 2003 (²2006), Art. II. Paulus als Theologe, S. 1016. 1026 – 1029 [erg. in ²2006]. Art. Reich Gottes, S. 1123 – 1125. Art. Römerbrief, S. 1143 – 1145 [erg. in ²2006]. Art. Thessalonicherbriefe, S. 1341 – 1342. Art. Timotheus, S. 1353. Art. Timotheusbriefe, S. 1353 – 1355.

Rezensionen Moberly, R. W. L., The Bible, Theology and Faith. A Study of Abraham and Jesus, Cambridge 2000, ThLZ 128, 2003, Sp. 1018 – 1019.

2004 Art. Zahn, Theodor von (1838 – 1933), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 34, 2004, S. 478 – 482. Art. Schmidt, Karl Ludwig, Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Auflage, Bd. 7, 2004, Sp. 934. Art. Schniewind, Julius, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 7, 2004, Sp. 947. Art. Schürer, Emil, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 7, 2004, Sp. 1041.

2005 ‚Katēchein‘ als Begriff des Unterrichtens im Neuen Testament, in: Denk-Würdige Stationen der Religionspädagogik. Festschrift für Rainer Lachmann, hg. v. H. F. Rupp, R. Wunderlich, M. Pirner unter Mitarbeit von H. Schönfeld, J. Wolff u. H. Garreis, Jena 2005, 29 – 39. Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule, in: Biographie und Persönlichkeit des Paulus, hg. v. E.-M. Becker u. P. Pilhofer, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 187, Tübingen 2005, 29 – 45. „Viele waren Neutestamentler“. Zur Lage der neutestamentlichen Wissenschaft 1933 – 1945 und ihrem zeitlichen Umfeld, ThLZ 130, 2005, Sp. 106 – 120.

2008

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O. Merk / M. Meiser, Das Leben Adams und Evas (JSHRZ II/5), in: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. VI, Supplements, hg. v. H. Lichtenberger u. G. S. Oegema: Einführung zu den Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit: Unterweisung in erzählender Form, hg. v. G. S. Oegema, Gütersloh 2005, S. 151 – 194. Art. Wrede, Friedrich Georg Eduard William, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 8, 2005, Sp. 1713.

2006 Werner Georg Kümmel 1905 – 1995: Ein Neutestamentler im 20. Jahrhundert, in: History and Exegesis. New Testament Essays in Honor of Dr. E. E. Ellis for his 80th Birthday, ed. by S. W. (Aares) Son, New York / London 2006, S. 355 – 371. 1. Thessalonicher 2, 13. Eine exegetische Besinnung, in: Theologie und Gemeinde. Beiträge zu Bibel, Gottesdienst, Predigt, Seelsorge. R. Landau zum 60. Geburtstag, hg. v. H.-D. Neef, Stuttgart 2006, S. 120 – 126.

2007 Arbeiten. Zu Begriff und Thematik von ἐργάζεσθαι in den beiden Thessalonicherbriefen, in: Fragmentarisches Wörterbuch. Beiträge zur biblischen Exegese und Christlichen Theologie. Horst Balz zum 70. Geburtstag, hg. v. K. Schiffner, K. Wengst, W. Zager, Stuttgart 2007, S. 19 – 25. Paul Anton Lagarde und die Theologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in: Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich, hg. v. R. Deines, V. Leppin u. K.-W. Niebuhr, Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 21, Leipzig 2007, S. 17 – 42. Adolf Jülicher als Paulusforscher – anläßlich seines 150. Geburtstages, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2007, Berlin 2008, S. 149 – 164. Art. Kümmel, Werner Georg (1905 – 1995), Dictionary of Major Biblical Interpreters, ed. by D. K. McKim, Downers Grove, Ill. / Nottingham 2007, S. 625 – 627.

2008 Die Evangelische Kriegsgeneration. Martin Albertz, Rudolf Bultmann, Martin Dibelius, Erich Fascher, Gerhard Kittel, Johannes Leipoldt, Ernst Lohmeyer, Karl Ludwig Schmidt, Julius Schniewind, in: Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler, hg. v. C. Breytenbach / R. Hoppe, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 1 – 58. Forschungsgeschichte im Werk Adolf Jülichers, in: Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend, hg. v. M. Kessler u. M. Wallraff, Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Neue Folge, Band 5, Basel 2008, S. 314 – 334.

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Neutestamentliche Wissenschaft in Briefen von und an Albert Schweitzer, in: Neutestamentliche Exegese im 21. Jahrhundert. Grenzüberschreitungen. Für Joachim Gnilka, hg. v. Th. Schmeller, Freiburg/Br. 2008, S. 191 – 205.

2009 Rezensionen Dictionary of Biblical Criticism and Interpretation, ed. by S. E. Porter, London / New York 2006, Zeitschrift für Antike und Christentum 12, 2009, S. 579 – 582. F. Bovon, Studies in Early Christianity, WUNT 161, Tübingen 2003, Zeitschrift für Antikes Christentum 13, 2009, S. 147 – 149. The Collected Biblical Writings of T. C. Skeat. Introduced and edited by J. K. Elliott, Suppl. to Novum Testamentum CXIII, Leiden 2004, Zeitschrift für Antikes Christentum 13, 2009, S. 531 – 533.

2010 1 Thessalonicher 5,23.24. Eine exegetisch-theologische Besinnung, Kerygma und Dogma 56, 2010, S. 62 – 68. Depromotion an der Erlanger Theologischen Fakultät in der NS-Zeit, in: Aberkennung der Doktorwürde an der Universität Erlangen in der Zeit des Nationalsozialismus …, hg. v. Th. A. H. Schöck, Akademische Reden und Kolloquien 29, Erlangen 2010, S. 53 – 65.

2011 Art. Bauer, Bruno, Encyclopedia of the Bible its Reception, Vol. 3, 2011, S. 617 – 618.

2012 Art. Bultmann, Rudolf Karl, Encyclopedia of the Bible and its Reception, Vol. 4, 2012, S. 594 – 596.

2013 Momentaufnahmen aus dem „Archiv Theologische Fakultät“ (in diesem Band). Theodor Zahn. Aspekte zu Leben und Werk (in diesem Band). Art. Eichhorn, Karl Albert August Ludwig, Encyclopedia of the Bible and its Reception, Vol. 7, 2013, S. 540 – 542.

Namenregister Angaben im Fettdruck beziehen sich auf Beiträge zu den betreffenden Personen in diesem Band. Abert, F. Ph. v. 176 Aebert, B. 55 Aland, B. 182 Aland, K. 182 Albertz, M. 3 – 9. 23. 31 Albertz, R. 142 Alexander, L. 357 Alt, A. 85 Althaus, P. 81. 298. 300 Angstenberger, P. 392 Anz, W. 18 Assel, H. 70. 80 Baader, F. v. 293 Bach, J. S. 27. 226 Bachmann, I. 390 Bähr, H. W. 234 f. 246 Baier, J. W. 152 Baird, W. 19. 28. 55. 62 Baldensperger, W. 222. 231 Balz, H. R. 345 Barth, K. 4. 12. 37. 57. 80. 84. 130. 197. 198 f Bartsch, H. W. 28. 67 f. 374 Bauch, B. 49 Bauer, B. 396 Bauer, G. L. 142. 146 f. 204. 206. 391 Bauer, J. 179 Bauer, M. 179 Bauer, W. 10. 29. 32. 85. 179 – 184. 187. 189. 197. 277. 379. 391. 393 Bauernfeind, O. 4. 85 Baumbach, G. 33 Baumgärtel, F. 34 Baur, F. C. 50. 163. 186. 188. 191 f. 199. 206. 209 f. 215. 224. 229. 231. 240. 246. 264 Bea, A. 35 Behm, J. 282 Benoit, P. 286 Berger, K. 174

Bertheau, M. 75 Bertram, G. 31. 75. 86 f Besier, G. 70 Beyer, H. W. 351. 355 Beyschlag, K. 174. 287 f Bismarck, O. v. 163 Blomeyer, W. 287 Bodelschwingh, F. v. 165. 300 f Böhme, J. 46 Bonhoeffer, D. 296 Bornemann, W. 378 Bornhäuser, K. 218 Bornkamm, G. 18. 67 f. 85. 269. 271. 391 Bousset, W. 10. 20 f. 37. 90. 94. 100 – 105. 121 f. 126 f. 189. 199. 215. 252 f. 300. 327. 332 Bovon, F. 324. 396 Brakmann, H. 359 Braun, H. 85 Brentano, C. v. 293 Bresslau, H. 247 Brosseder, M. 72 Bruckhaus, A. E. 19 Brückner, M. 126 Buber, M. 37. 47. 58 Budde, K. 234. 245 Buddeus, J. F. 152 Bucer, M. 205. 208 Büchsel, F. 85 Bultmann, A. 188 Bultmann, A. K. 9 Bultmann, H. (geb. Feldmann) 10 Bultmann, H. (geb. Stern) 9 Bultmann, R. 3. 6. 9 – 19. 23. 25. 29 f. 37. 39. 43. 46. 48 f. 51 – 53. 59. 66 f. 77. 80 f. 85. 173. 181. 187 – 189. 193. 195 f. 198 f. 223 f. 236 f. 240 – 244. 250. 255 f. 258. 261. 265. 276 – 278. 319. 322. 327 – 329. 340. 361. 363. 380. 396 Burchard, C. 323 Burkhardt, J. 164

398

Buri, F.

Namenregister

238

Calov, A. 152 Calvin, J. 205. 208. 211 Campenhausen, H. v. 15. 52. 85 Carlyle, Th. 101 f. 127 Carsten, C. 335 Cassirer, E. 49 Chamberlain, H. St. 83 Champion, G. L. 382 Chemnitz, M. 152 Christophersen, A. 393 Claussen, J. H. 22 Cocceius, J. 205 Coelln, D. G. K. 391 Conrad, O. 118. 128 Conz, C. Ph. 202 Conzelmann, H. 355. 357 Corley, B. 62 Cremer, H. 35. 67 Creuzer, F. 291. 293 Cullmann, O. 62. 85 – 87. 277. 309 – 311 Curtius, E. 221 Dahm, C. 40 Dalberg, W. H. Frh. v. 290 Deines, R. 34. 40. 127 Deißmann, A. 3. 6. 20. 45. 51. 56. 61 Delitzsch, F. 299 Delling, G. 85 – 87. 271. 355. 357. 374 Demke, C. 323 Dibelius, F. 19 Dibelius, Martin 3. 6. 14. 19 – 28. 31. 39. 45 f. 59. 77. 81. 83 – 85. 249. 255. 257 f. 261. 265. 276. 311. 343. 382. 392 Dibelius, Martha 19 Diesterweg, F. A. 164 Dietelmaier, J. A. 159 Dillmann, R. 323 Dinkler, E. 18. 85. 392 Dobschütz, E. v. 30. 63. 68. 80. 121. 348. 362. 377. 392 Dörries, H. 187 Dostojewski, F. 42 Dreher, M. 19. 59 Duhm, B. 91. 120 Dukas, H. 234

Ebach, J. 372 Eberhard, O. 287 f Ebrard, J. H. A. 298 Ehrlich, E. L. 72 Eichhorn, A. 90. 92. 121. 123. 300. 396 Eichhorn, J. G. 263 Einstein, A. 234 Eisenhut, H. E. 79. 129 f. 132 Eldredge, L. 140 f Elert, W. 287 f. 300 Ellis, E. E. 271 Ericksen, R. P. 70. 79 Ernesti, J. A. 151 f. 154 Ernst, J. 322 Esking, E. 55 Ewald, H. 201 f. 207 Fabio, U. Di 375 Fahey, M. A. 170 Falk, A. 168 Falkenhagen, R. 46 Fascher, E. 3. 29 – 33. 59. 186. 328 Feine, P. 282 Feuerbach, L. 293 Fichte, J. G. 81. 118 f. 124. 293 Ficker, J. 211 Fiebig, P. 92 Findeiß, A. 28 Fischer, K. 130 Fitzer, G. 55. 85. 322 Fitzmyer, J. A. 322 f Flacius, M. 205 Forck, G. 8 Frey, J. 77. 375 Frey, J. B. 35 Frick, H. 32 Fridrichsen, A. 47. 54. 277 Friedrich, G. 36. 40. 64. 68. 85 f. 309 Friedrich, J. 40 Friedrich Wilhelm IV. 119. 163 Fritsch, H. 40 Frör, K. 288 Fuchs, E. 18. 62. 85 Gabler, J. Ph. Gaventa, B. Gebauer, R.

7. 50. 138 – 149. 394 307 309. 382. 391

Namenregister

Geiser, S. 28 George, St. 51 Gerhard, J. 152 Gese, M. 314 Gestrich, Ch. 88 Gloel, J. G. 175 Gnilka, J. 316 Goepel, E. 287 f Goethe, J. W. v. 220. 226. 289 – 292 Gogarten, F. 29. 48. 53 Goltz, D. von der 348 Grabs, R. 234. 241. 246 Gräßer, E. 228. 230. 271. 275. 381. 389 Graf, F. W. 28 Graf, K. H. 231 Graul, K. 300 Greeven, H. 28. 309 Greßmann, H. 35. 37. 93. 121 Griesbach, J. J. 143 Grimm, J. 108. 119 Grobel, K. 261. 265 Grotius, H. 205 Grundmann, W. 40. 44. 69 – 79. 83. 85. 87. 130 Gunkel, H. 9. 20. 23. 59. 90 – 93. 121. 126 Gutbrod, W. 40 Gut, W. 184 Haacker, K. 250 Haenchen, E. 87 Hahn, F. 8. 305 f. 313. 317 Hanhart, R. 109. 114 Harder, G. 9. 309 Harnack, Adolf v. 9. 20. 56. 91. 106. 120 – 122. 163. 171. 173. 177 f. 180 f. 185 f. 199. 229. 237. 241 – 245 Harnack, Axel v. 244. 248 Harnack, Th. 298 f Hartke, W. 239. 244 Hase, C. v. 296 Haufe, Ch. 44 f Haufe, G. 42. 44 f. 55. 245 Haupt, E. 62 Hebbel, F. 297 Hegel, G. W. F. 50. 119. 293 – 295 Heidegger, M. 13. 15. 77. 80. 199 Heil, C. 260

399

Heiler, F. 32 Heinrici, C. F. G. 40. 207 f Heinzelmann, G. 68 Heitmüller, W. 10. 20. 37. 90. 94. 97. 121. 126. 189. 250. 252. 326 – 334. 392 Hengel, M. 322 f. 324 Hengstenberg, E. W. 293 Henze, A. 78 Herder, J. G. 206 Hermelink, H. 72 Hermle, S. 9 Herrmann, W. 9. 10. 55. 67. 122 Heschel, S. 69 f Hessen, C. v. 294 Heuß, Th. 39. 238 Heyne, C. G. 289 Hilgenfeld, A. 118 f. 171 Hirsch, E. 70. 81. 86 Hitler, A. 70. 79 Hönigswald, R. 49. 50. 52. 55 Hoffmann, P. 260. 268 f Hoffmann, H. W. 287 Hofmann, J. C. K. v. 164. 168. 299 f Holl, K. 80 f. 213 Holtz, T. 363. 366. 377. 380 Holtzmann, H. J. 96. 123 f. 171. 179 f. 203. 212 f. 220 – 222. 231. 236. 246. 264 f. 299. 329 f Hoppe, R. 363 Hübner, H. 10. 15. 316 Hutter, U. 55 Jacob, E. 255 Jacobs, M. 194 Jacobsthal, P. 23 Jasper, G. 85 Jaspers, K. 9 Jaspert, B. 15 Jean Paul (Richter, J. P. F. ) 290. 292 Jeremias, J. 44. 85. 312 Jewett, R. 380. 382 Jonas, H. 18 Jordan, H. 287 Jülicher, A. 9 f. 31 f. 91. 94. 97. 120 f. 171. 180. 185 – 200. 201 – 218. 246. 276 f. 283. 327 f Jung-Stilling, J. H. 292 f

400

Just, D.

Namenregister

118

Kähler, E. 65. 68 Kähler, M. 62 f. 65. 67. 80. 84 Käsemann, E. 18. 75. 85. 146. 256. 269. 283. 322 f. 342 Kahlert, H. 102 Kaiser, G. Ph. Ch. 291. 293. 299 Kaiser, J. -C. 217 Kant, I. 89. 220 f. 225 Karpp, H. 129 Karrer, M. 391 Kattenbusch, F. 60 Kempff, G. 298 Kerner, J. 292 Kertelge, K. 256 Kierkegaard, S. 67. 349 Killy, W. 28 Kittel, G. 3. 34 – 40. 44. 47. 73. 77. 84 – 87. 243. 365 Kittel, R. 34 Kivekäs, E. 256 Klatt, W. 126 Klauck, H. -J. 363. 383 Klausner, J. 243 Klein, G. 256. 258. 322 f Klostermann, E. 63 Knauber, A. 351 – 358 Koch, H. 52 Kögel, J. 35 Köhler, L. 348 Köhn, A. 47. 49. 53. 55 Köppen, K. -P. 33 Koetsveld, C. E. van 202. 204. 207 f Kopalin, L. P. 48 Kottwitz, H. E. v. 294 Krafft, J. C. L. 293 Kraus, H. -J. 68 Kraus, O. 234. 238 Krebber, B. 149 Krüger, G. 123 Kümmel, W. G. 24. 28. 36. 73. 75 – 78. 85 f. 121. 125. 139 – 141. 170. 193. 237 f. 249 – 259. 260 – 270. 271 – 286. 320 – 322. 324. 330. 361. 370. 391 f. 395 Kuhn, H. -W. 321 f Kuhn, K. G. 85. 87

Kundera, M.

335

Lachmann, C. 108. 298 Lächele, E. 126 Lagarde, A. de 108 Lagarde, P. de 91. 107 – 131. 186. 297. 395 Leder, K. 144 Leipoldt, G. 40 Leipoldt, J. 3. 34. 40 – 45. 85 Leipoldt, M. 40 Leroy, H. 333 Lessing, G. E. 205 f. 236 Lewin, R. 72 Lichtenberg, G. 289 Lieb, F. 57 Lietzmann, H. 52 f. 80 f. 85. 87. 173. 181 f. 186. 233 Lightfoot, J. 203 Lindemann, A. 18. 316. 355 Lippmann, A. 71 Lisco, H. 6 Littmann, E. 118 f Lobstein, P. 236 Löhe, W. 166 Lohfink, N. 142 Lohmeyer, C. H. L. 45 Lohmeyer, E. 3. 28. 37. 45 – 55. 80. 85. 257 Lohmeyer, G. 46 Lohmeyer, M. 45 Lohse, E. 312. 355 Loisy, A. 213 Lowth, R. 205 Lubinetzki, V. 26. 69. 79 Lücke, F. 298 Lüdemann, G. 121 Lührmann, D. 88. 346 Lueken, W. 127 Lütgert, W. 393 Luise von Preußen 290. 294 Luther, M. 71 f. 80 f. 83 f. 112. 115. 120. 129. 205. 211. 244. 252 Luther, W. 182 f Luz, U. 311 f. 314. 341. 346 f Maldonatus, J. 205. 208 Mann, H. 115

Namenregister

Mann, Th. 115 Marrou, H. -J. 275 Marx, W. 22 Maurer, C. 85 Maurer, W. 72 Mayordomo-Marin, M. 339 Meagher, J. C. 62 Meier, Ch. 371 Meier, K. 70 Meiser, M. 256. 391. 395 Meißter, St. 392 Mendelssohn, M. 113 Merk, O. 28. 62. 68. 77. 141. 170. 324. 363 f. 366. 373 Merkel, H. 319. 322. 324 Merklein, H. 280. 323. 343 Merz, G. 130 Meyer, A. 194 Meyer, H. A. W. 282. 393 Meyer, J. F. v. 288. 289 – 294. 297. 299 Meyer, R. P. 314 Meyer-Erlach, W. 79 Michaelis, J. D. 152. 209. 391 Michel, O. 68 Mitchell, M. M. 371. 380 Moberly, R. W. L. 394 Moessner, P. D. 62 Mommsen, Th. 187 Mommsen, W. 128 Morenz, S. 44 f Morgan, R. 148 Moritzen, N. -P. 288 Morus, S. F. N. 151. 155 f Mosheim, J. L. v. 152 Mühling, A. 62. 77. 391 Müller, K. 9 Müller, K. W. 19 Müller, M. 377. 381 f Müller, P. 338 f Müller, P. -G. 375 Müller, U. B. 344 Mulert, H. 194 Mußner, F. 278. 323 Naumann, F. 21 Neander, A. 50 Neuenschwander, U.

226. 239

401

Neunobel, G. H. 300 f Nicholl, C. R. 373. 382 Niebergall, A. 365 Niebuhr, K. -W. 78. 86 f Niemöller, M. 76 Nietzsche, F. 26. 115. 124 Nitzsch, K. I. 165 Nöldecke, Th. 108. 180 Nösselt, J. A. 391 Norden, E. 6. 23 Noth, M. 79 Nottebohm, D. 4 Oberman, H. A. 72 Odeberg, H. 71 Oepke, A. 81 Özen, A. 121 Ohl, H. 165 Ohl, M. 167 Ollrog, W. -H. 312 Olrik, A. 23 Opitz, H. G. 87 Osten-Sacken, P. v. d. 69 f. 72. 76. 78. 88 Osterhof, J. M. 19 Otto, R. 32. 85. 90. 103 Otto, W. 55 Overbeck, F. 23. 117. 120. 171. 199 Pape, W. 350 f. 371 Pasquato, O. 359 Paul, I. U. 117 Pauling, L. 234 Pauls, Th. 72 Paulsen, F. 216 Paz, C. M. 323 Peter, N. 117 Petersmann, W. 72 Pfaff, Ch. M. 152 Pfister, O. 238 Pfleiderer, O. 20 Piper, O. 4. 85 Planck, M. 242. 245 Poetzsch, A. 387. 390 Pokorný, P. 310. 388 Polag, A. 268 Preisker, H. 85 Preuschen, E. 182

402

Namenregister

Rad, G. v. 39 Rade, M. 55. 91. 199. 235 f Radl, W. 355. 357 Räisänen, H. 146 f Rahlfs, A. 126 Ranke, F. H. 293 Ranke, L. v. 50. 165 Ratschow, C. H. 367 Ratzinger, J. (Benedikt XVI. ) 54. 174 Raupp, W. 18 f Reden, S. v. 372 Regner, F. 104. 126. 191 Reichardt, M. 393 Reicke, B. 391 Reimarus, H. S. 223. 236. 240 Reinmuth, E. 368. 375 Reitzenstein, R. 91. 120 Renan, E. 109. 231. 391 Rengstrof, K. H. 255 Reuß, E. 231 Reyher, G. 40 Riggenbach, Ch. J. 164 Ritschl, A. 91 f. 101. 115. 120. 122 Robinson, J. M. 260 Roels, E. D. 314 Rohde, J. 33 Rohls, J. 19 Roloff, J. 69. 305. 315. 392 Roose, H. 374 Rückert, F. 108. 202. 293 Runge, Ph. O. 293 Rusche, H. 28 Saebo, M. 140 Salmeron, A. 205 Saltzmann, R. 292. 294 Samter, M. 336 Sand, A. 317 Sandys-Wunsch, J. 140 f Saß, G. 55 Sasse, H. 298 Sauter, G. 62 Savigny, K. F. v. 119. 293 Sázava, Z. 319 Schaller, B. 78 Scharf, K. 8 Schemann, L. 108. 128

Schenk, W. 72. 77 Schenke, F. 75 Schenke, H. -M. 16. 44 f Schippers, R. 365 Schlarb, E. 317 Schlatter, A. 35. 37. 85. 164 Schlegel, F. 3. 162 Schleiermacher, F. D. E. 118. 206. 220. 263 f Schlier, H. 18. 62. 85. 316. 366. 380 Schmauch, W. 53. 55. 271 Schmid, J. 278 Schmid, L. 129 Schmidt, A. F. 55 Schmidt, H. 19. 55 Schmidt, J. D. 55 Schmidt, K. L. 3. 6. 23. 29. 31. 37. 39. 55 – 62. 77. 277. 394 Schmithals, W. 15. 18. 312 Schmitz, O. 4. 85. 372 Schnackenburg, R. 278. 315 Schneider, C. 85 Schneider, G. 352. 356. 369 Schneider, J. 33 Schneider, W. 116 Schnelle, U. 256. 328. 363. 376 Schniewind, E. 62 Schniewind, J. 3. 62 – 68. 79. 85. 362. 392. 394 Schoeps, H. J. 37 Scholder, K. 70 Schrage, W. 355 Schramm, G. 130 Schrenk, G. 85 Schroth, H. G. 72 Schubert, G. H. 293 Schürer, E. 394 Schürmann, H. 319. 378 Schütte, H. W. 118 f Schulz, S. 268 Schuster, H. 329 Schweitzer, A. 8. 11. 32. 42 f. 90. 102. 171. 179. 219 – 226. 228 – 232. 233 – 248. 258. 279. 393 Schweitzer-Miller, R. 228. 235 Schweizer, E. 62. 85. 273. 312. 319. 345. 393

Namenregister

Schwemer, A. M. 323 Seeberg, A. 392 Seitz, M. 376 Sellin, G. 313 Semler, J. S. 151 f. 205. 209. 240 Seybert, A. 46 Seybold, Ch. 20 Siebeck, O. 31 Siebeck, P. 240 Simon, R. 169 f. 172. 209 Slenczka, R. 288 Smend, R. 70. 140 Soden, H. v. 39. 71. 77. 83 – 87. 276 f. 283 Sommer, A. U. 117 Spalding, J. J. 151 Spengler, O. 86 Spicq, C. 317 Spiegelberg, H. 233 Spitta, F. 231 Spranger, E. 233. 246 Staab, K. 255 Staritz, K. 55. 83 Stempvoort, P. A. v. 379. 381 Stoeckel, W. 177 Stolleis, M. 372 Storr, G. Ch. 206 Strack, H. L. 243 Strathmann, H. 59. 75. 255. 277 Strauß, D. F. 119. 215. 220. 231. 264 Strecker, G. 94. 140. 181. 183 Streeter, B. H. 330 Strege, M. 8 Stuckenbruck, L. T. 141 Stuhlmacher, P. 148. 310 Stumpff, A. 40 Surkau, H. -W. 28 Swarat, U. 170. 174 Taeger, J. -W. 367 Theißen, G. 14. 28 Thiel, L. 69. 78 Thiersch, H. W. J. 298 Tholuck, A. 293 Thurneysen, E. 130. 199 Tiedemann, D. 142. 156 Tillich, P. 49 Tillmann, B. 336

403

Tödt, H. E. 269 Treitschke, H. v. 115 Troeltsch, E. 21. 90. 115. 117. 122. 128. 186. 300 Turretini, J. -A. 143. 339. 340 Urner-Astholz, H.

335

Verheule, A. F. 127 Vielhauer, Ph. 18. 28. 60. 62. 85 Vilmar, A. 166 Vögtle, A. 278 Volborth, J. C. 143 Volckmar, G. 203. 212 Wagner, Ch. P. 70. 79 Waßmann, H. 19 Waubke, H. G. 393 Weber, R. 256 Wegenast, K. 353 f Wegnern, U. v. 56 Weingarten, H. 213 Weiser, A. 319 Weiß, B. 20. 203. 207 f. 329 Weiß, J. 9. 10. 20. 90. 94. 101. 122. 126. 203. 222. 265. 326 f. 355. 393 Weiß, K. 268 Weiße, Ch. H. 264 Weizsäcker, C. 84. 186. 188. 210 Weizsäcker, K. W. 206. 213 f Wellhausen, J. 91. 108. 116. 118. 187. 213. 215. 327 Wendland, H. -D. 28. 85 Wengst, K. 359 Werner, K. 41 Werner, M. 238. 239. 246. 247 Wernle, P. 124. 127 Wesseling, K. -G. 45. 67 f Wette, W. M. K. de 206. 209 Wettstein, J. J. 143. 189 Wichern, J. H. 166 Wiefel, W. 45. 68 Wieland, Ch. M. 290. 292 Wiese, Ch. 71 Wilamowitz-Moellendorf, U. v. 128 Wilckens, U. 174 Will, G. A. 160

404

Namenregister

Windelband, W. 220 Windisch, H. 63. 81. 168. 172 f. 393 Winer, B. 298 Winkler, M. 84 Winter, A. 301 Winter, P. 77 Wischmeyer, J. 299 Wißmann, E. 125 Wittenberg, G. H. 148 Wittich, D. 20 Wolf, E. 6. 67 Wolf, G. 220 Wolfes, M. 28 Wolff, Ch. 32 f. 355 Wolff, H. W. 68 Wolter, M. 317. 322 f

Woodbridge, J. D. 170 Wrede, W. 50. 90. 94 – 103. 105. 121 – 126. 147. 190. 191 f. 195. 212 – 215. 223. 236. 240. 243. 308. 395 Zachariä, G. T. 140. 143 f. 152 f. 158 Zager, W. 194. 228. 235. 237 Zahn, A. 164 Zahn, F. L. 164 Zahn, M. 167. 177 Zahn, Th. 162 – 178. 287. 289. 394 Zahn-Harnack, A. v. 173 Zezschwitz, G. v. 175 Ziegler, Th. 220. 225. 246 Zwackh-Hohenhausen, F. v. 290

Stellenregister Angaben im Fettdruck beziehen sich auf Beiträge zu den betreffenden Stellen in diesem Band. Genesis 1,31 346 Exodus 24,4.7 Hiob 23,2 30,25

338

345 345

Psalmen 31,11 345 Jesaja 5,1 – 7 391 26,19 347 29,17 – 24 392 29,18 347 35,5 346 35,5 f 347 42,7 347 42,18 347 61,1 f 347 Jeremia 4,31 345 Matthäusevangelium Kap. 5 – 7 65 5,8 349 6,13 308 Kap. 8 f 65.347 Kap. 10 222.246 10,7 261 10,23 222 Kap. 11 246 11,2 – 6 262.266.275.346 f 11,4 346 f 11,5 337.346 f 11,5 f 346 11,6 347

12,22 – 37 324 12,28 261.319 f 12,29 261 12,32 269 12,41 f 262 13,16 262.269 13,31 f 262 13,33 262 15,29 – 31 344 16,18 60 17,20 262 19,30 207 Markusevangelium 1,14 f 323 1,15 261 3,27 261 4,30 – 32 262 7,31 344 7,31 – 37 337.344 – 346 7,32 344 7,33 345 7,33 – 35 344 7,35 345 7,36 345 7,37 344 – 346 9,9 f 345 13,10 310 14,62 349 Lukasevangelium 1,4 353.355.357 f 7,18 – 23 262.266.275.346 7,22 337.346 7,22 f 346 9,51 – 14,35 324 10,8 261 10,18 262.323 f 10,23 f 262 11,14 319 11,14 f 324

406

Stellenregister

11,14 – 16 319 11,14 – 19 324 11,14 – 26 324 11,14 – 28 323 11,14 – 36 319 11,14ff 324 11,15 319 11,17 f 319 11,17 – 26 319 11,19 324 11,20 261.319 – 325.393 11,21 f 261 11,27 f 319.324 11,31 f 262 11,29 – 36 319.324 12,8 260 13,18 f 262 13,20 f 262 15,11 – 32 66.74 17,20 324 17,20 f 324 22,50 f 337.347 f Johannesevangelium 1,14 330 5,1 – 14 348 Kap. 6 230 6,22 – 24 332 6,28 – 30 332 6,36 – 40 332 6,44 – 47 332 6,51 – 56 332 6,63 – 71 332 7,15 – 24 348 7,23 348 f 7,53 – 8,11 331 12,20 – 36 333 18,12 – 27 333 Kap. 21 331 f 21,1 – 14 331 f 21,7 331 21,15 – 19 332 21,15 – 23 331 21,24 328.331 21,24 f 332

Apostelgeschichte 2,36 358 8,26ff 338 8,28 – 30 338 10,8 356 15,12 356 15,14 356 16,23 f 358 18,24 357 18,25 355.357 21,18 f 356 21,19 356 21,21 356 21,24 356 21,34 358 22,30 358 25,26 358 Römerbrief 1,3 f 193 1,18ff 254 Kap. 2 254 2,1 192 2,6 – 11 193 2,16 192 2,17 – 24 356 2,18 355 f 3,21 – 23 193 3,21 – 30 194 3,24ff 193 3,25 f 193 Kap. 5 – 8 192 5,12 – 21 255 Kap. 6 194.251 6,14ff 251 6,23 251 Kap. 7 97.249 – 257.279 7,1 – 8,4 251 7,5 f 251 7,7ff 252.254.256.279 7,7 – 13 251 – 253 7,7 – 24 250.252 7,7 – 25 253.255.258 7,10 f 253 7,14 – 24 251.253 f 7,14 – 25 279 7,14ff 193.251 f.254 – 256

Stellenregister

7,24 252 f 7,24 f 252 7,25 192 7,25a 252 Kap. 8 251 8,1 192.253 8,1 – 4 252 8,1ff 251 f.258.279 8,3 193 8,4ff 251 8,18 – 23 172 8,26 f 66 Kap. 9 – 11 58.192 f.274 9,6 364 10,16ff 365 11,32 88 Kap. 12 – 14 192 12,1 – 15,13 192 12,1ff 194 12,2 373 13,11 f 193 15,26 192 15,33 379 Kap. 16 192 16,20 379 16,25 – 27 192

4,2 364 5,7 349 5,16 81 7,15 365 8,9 192 8,17 365 13,13 7 Galaterbrief 1,12 365 1,15 f 365 2,9 195 2,11 – 14 195 2,16 195 2,21 195 4,14 365 6,6 354 f.357

Erster Korintherbrief 4,12 370.373 5,1 373 7,10 372 9,1 349 9,19ff 82 11,17 372 13,12 349 14,16 355 14,18 f 354 14,19 354 f 14,36 364 Kap. 15 66 15,1 365 15,5ff 349 16,21 308

Epheserbrief Kap. 1 – 3 314 1,3 – 14 314 1,15 – 23 314 f 1,17 – 23 315 1,22 f 314 Kap. 2 315 2,1ff 313 2,11 – 22 313 2,17 313 2,19 – 22 315 Kap. 3 314 3,1 – 13 313 3,1ff 315 3,6 313 3,8 313 3,14 – 19 315 3,14 – 21 315 Kap. 4 – 6 314 4,1 – 5,20 316 4,1 – 6,20 315 4,7 – 16 314 6,10 – 20 315 6,18 – 20 315 6,19 f 315

Zweiter Korintherbrief 2,17 364 3,18 349

Philipperbrief 2,5 – 11 52 4,9 379

407

408

Stellenregister

Kolosserbrief 1,3 311 1,3ff 311 1,5 – 7 311 1,6 311 1,7 311 1,9 311 1,9 – 11 311 1,11 – 14 311 1,12 311 1,12 – 14 311 1,15 – 20 310 1,16 310 1,18 310 1,20 310 1,23 310.312 1,24 – 29 310.312 1,27 311 2,1 – 5 310.312 2,8 – 23 310 4,2 311 4,2 – 4 312.315 4,2 – 6 311 f 4,2ff 311 4,3 f 316 4,5 f 312 Erster Thessalonicherbrief 1,1 382 1,2 363.367 1,2 – 2,12 363 1,2 – 3,13 377.382 1,3 370 1,4 – 8 307 1,5 364 1,6 365 f 1,8 307.364 1,8 f 368 2,1 – 12 362 – 364 2,1 – 13 362 2,1ff 308 2,2 364.368 2,4 364 2,8 364 2,9 364.370.373.375 2,10 – 12 363 2,12 363.381

2,13 361 – 368.395 2,13 – 16 363 2,14 363.366 – 368 2,14 – 16 363 2,15 f 363 2,17ff 382 2,19 381 3,1 – 4 366 3,8 366 3,10 363 3,11 – 13 363.377 4,1 365 4,1 – 12 372 f.381 4,1 – 5,22 374.382 4,1 – 5,24 377 4,2 372 f 4,7 381 4,9 373 4,9 – 12 374 4,10 373 4,10 – 12 373 4,11 370.372 f.375 4,11 f 309.375 4,12 373 f 4,13 – 5,11 374 4,13ff 381 4,14 386 4,15 370.381 4,17 388 5,1 – 11 384 – 388 5,1ff 381 5,10 f 381 5,12 377 5,12 – 22 377 5,12 – 24 377 5,12ff 374.378 5,13 370 5,14 370.374 f 5,23 378 – 382 5,23 f 376 – 383.396 5,23 – 28 377 5,24 379.381 5,25 382 5,25 – 28 378.382 5,26 f 382 5,27 338 5,28 382

Stellenregister

Zweiter Thessalonicherbrief 1,11 370 2,3 – 12 308 2,6 f 310 2,7 308 2,13 f 306 2,13 – 17 306 2,13ff 306 2,14 307 2,15 307 2,17 370 Kap. 3 375 3,1 306 – 308 3,1 f 307 3,1ff 309 3,1 – 5 306 f.309 3,2 307 f 3,3 308 3,4 372 3,6 370.372 3,6 – 12 375 3,6ff 307 f 3,7 370 3,7 f 370

3,8 370 3,10 – 12 370 3,11 370 3,12 372 3,17 308 Erster Timotheusbrief 2,1 317 2,1 – 7 317 2,1ff 317 2,2 317 2,4 317 2,5 f 317 2,6 317 2,7 317 Hebräerbrief 4,2 365 Erster Johannesbrief 3,2 349 Offenbarung des Johannes 22,4 349

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Orte der Erstveröffentlichung Die Originalseitenzahlen sind in diesem Band jeweils in eckigen Klammern und in den Kopfzeilen notiert. Die Evangelische Kriegsgeneration. Martin Albertz, Rudolf Bultmann, Martin Dibelius, Erich Fascher, Gerhard Kittel, Johannes Leipoldt, Ernst Lohmeyer, Karl Ludwig Schmidt, Julius Schniewind, in: Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler, hg. v. C. Breytenbach u. R. Hoppe, Neukirchen-Vluyn 2008, 1 – 58. „Viele waren Neutestamentler“. Zur Lage neutestamentlicher Wissenschaft 1933 – 1945 und ihrem zeitlichen Umfeld, ThLZ 130, 2005, 106 – 120. Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule, in: Biographie und Persönlichkeit des Paulus, hg. v. E.-M. Becker u. P. Pilhofer, Tübingen 2005, 29 – 45. Paul Anton de Lagarde und die Theologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in: Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich, hg. v. R. Deines / V. Leppin / K.-W. Niebuhr, AKThG 21, Leipzig 2007, 17 – 42. Anmerkungen zu Gablers Altdorfer Antrittsrede, in: Johann Philipp Gabler (1753 – 1826) zum 250. Geburtstag, hg. v. K.-W. Niebuhr u. C. Böttrich, Leipzig 2003, 42 – 52. Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele. Rede, gehalten am 30. März 1787, für das Amt eines ordentlichen Professors der Theologie an der Universität Altdorf, von M. Johann Philipp Gabler, übersetzt v. O. Merk, in: ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei J. Ph. Gabler und G. L. Bauer und deren Nachwirkungen, MThSt 9, Marburg 1972, 273 – 284; Wiederabdruck in: Johann Philipp Gabler (1753 – 1826) zum 250. Geburtstag, hg. v. K.-W. Niebuhr u. C. Böttrich, Leipzig 2003, 17 – 41, ungerade Seiten (= Vorlage für diesen Band). Theodor Zahn. Aspekte zu Leben und Werk, bisher unveröffentlicht Walter Felix Bauer (1877 – 1960). Professor für Neues Testament, in: Chronika. Gymnasium Philippinum Marburg. Zeitschrift für heutige und frühere Schüler, 6. Folge, 2002, 483 – 486. Adolf Jülicher als Paulusforscher – anläßlich seines 150. Geburtstages, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2007, Berlin 2008, 149 – 164. Forschungsgeschichte im Werk Adolf Jülichers, in: Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend, hg. v. M. Kessler u. M. Wallraff, SGWB NF 5, Basel 2008, 314 – 334. Albert Schweitzer – sein Denken und sein Weg. 14. Januar 1875 – 4. September 1965, NELKB 30, 1975, 26 – 29. Schweitzer, Albert: Straßburger Vorlesungen, ZBKG 71, 2002, 281 – 284. Neutestamentliche Wissenschaft in Briefen von und an Albert Schweitzer, in: Neutestamentliche Exegese im 21. Jahrhundert. Grenzüberschreitungen. Für Joachim Gnilka, hg. v. Th. Schmeller, Freiburg/Br. 2008, 191 – 205. Werner Georg Kümmel als Paulusforscher. Einige Aspekte, in: Paulus, Apostel Jesu Christi. Festschrift für Günter Klein zum 70. Geburtstag, hg. v. M. Trowitzsch, Tübingen 1998, 245 – 256.

Orte der Erstveröffentlichung

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Die synoptische Redenquelle im Werk von Werner Georg Kümmel. Eine Bestandsaufnahme, in: Von Jesus zum Christus. Christologische Studien. Festgabe für Paul Hoffmann zum 65. Geburtstag, hg. v. R. Hoppe u. U. Busse, Berlin 1998, 191 – 200. Werner Georg Kümmel 1905 – 1995. Ein Neutestamentler im 20. Jahrhundert, in: History and Exegesis. New Testament Essays in Honor of Dr. E. Earle Ellis for His 80th Birthday, hg. v. Sang-Won (Aaron) Son, London 2006, 355 – 371. Momentaufnahmen aus dem „Archiv Theologische Fakultät“, bisher unveröffentlicht Gemeinde – Fürbitte – Mission. Aspekte ihrer Zuordnung in den Deuteropaulinen, in: Kirche und Volk Gottes. Festschrift für Jürgen Roloff zum 70. Geburtstag, hg. v. M. Karrer / W. Kraus / O. Merk, Neukirchen-Vluyn 2000, 163 – 175. Lukas 11,20. Zur Debatte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Z Nového Zákona. Festschrift für Zdenka Sázavy, hg. v. H. Tonzarová u. P. Melmuk, Prag 2001, 30 – 37. Beobachtungen zu Wilhelm Heitmüllers Auslegung des Johannesevangeliums, in: Johannes aenigmaticus. Studien zum Johannesevangelium für Herbert Leroy, hg. v. St. Schreiber u. A. Stimpfle, Regensburg 2001, 173 – 181. Als Schwerhöriger die Bibel lesen, in: Religionsunterricht und Konfirmandenunterricht für Gehörlose und Schwerhörige 53, 2002, 2 – 14. ,Katechein‘ als Begriff des Unterrichtens im Neuen Testament?, in: Denk-Würdige Stationen der Religionspädagogik. Festschrift für Rainer Lachmann, hg. v. H. F. Rupp / R. Wunderlich / M. L. Pirner, Jena 2005, 29 – 39. 1 Thessalonicher 2,13. Eine exegetisch-theologische Besinnung, in: Theologie und Gemeinde. Beiträge zu Bibel, Gottesdienst, Predigt und Seelsorge. Festschrift R. Landau, hg. v. H.-D. Neef, Stuttgart 2006, 120 – 126. Arbeiten. Zu Begriff und Thematik von ἐργάζεσθαι in den beiden Thessalonicherbriefen, in: Fragmentarisches Wörterbuch. Beiträge zur biblischen Exegese und christlichen Theologie. Horst Balz zum 70. Geburtstag, hg. v. K. Schiffner / K. Wengst / W. Zager, Stuttgart 2007, 19 – 25. 1 Thessalonicher 5,23.24. Eine exegetisch-theologische Besinnung, KuD 56, 2010, 62 – 68. Erster Thessalonicher 5,1 – 11. Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 10. November 1996, in der Neustädter (Universitäts‐) Kirche in Erlangen, in: EΠI TO AYTO. Studies in honour of Petr Pokorný on his sixty-fifth birthday, Prag 1998, 257 – 263.