Grundfragen ökumenischer Theologie: Gesammelte Aufsätze Band 2
 9783666563621, 9783525563625, 9783647563626

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie

Herausgegeben von ChristineAxt-Piscalar und Gunther Wenz Band 131

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Gunther Wenz

Grundfragen ökumenischer Theologie Gesammelte Aufsätze Band 2

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Universita˘¸tii »Babes¸-Bolyai« din Cluj-Napoca, Romnia, cu mult¸umire pentru conferirea titlului de Doctor Honoris Causa Hls köszönettel a kolozsvri (Romnia) Babes-Bolyai Egyetemnek a tiszteletbeli doktori cm adomnyozsrt Der Babes-Bolyai-Universität von Klausenburg/Rumänien zum Dank für die Verleihung des Titels eines Doctor Honoris Causa

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56362-5  2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck- und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis . . . . . . . . . . . .

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I. Evangelisches Bekenntnis und Wittenberger Reformation Reformationsjubiläum 2017. Historische Prolegomena . . . . . . . . .

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Theologia positiva acroamatica. Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs von 1664 . . . . . . .

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»… der Unterscheid des Gesetzes und Evangelii als ein besonder herrlich Licht« (BSLK 790, 21 f). Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums der Wittenberger Reformation in der Dogmatik des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 »Si quis aliud evangelium evangelizaverit, anathema sit.« (AC VII, 48) Häresie nach reformatorischem Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . 160 Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis. Ein Beitrag zur Strukturdebatte der EKD . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

II. Orthodoxer Glaube und ostkirchliche Tradition Den Griechen ein Grieche? Die Confessio Augustana Graeca von 1559 und der Briefwechsel der Leitung der Württembergischen Kirche mit Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573 – 1581 im Kontext der Konkordienformel von 1577 . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Orthodoxie im Gespräch. Zentralthemen ihrer bilateralen Ökumenedialoge auf Weltebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Filioque. Kontexte einer Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 III. Kirchliche Katholizität und römischer Katholizismus Die große Gottesidee »Kirche«. Joseph Ratzinger über Katholizismus, Orthodoxie und Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

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Inhalt

»Es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei« (ASm III). Von der Katholizität evangelischer Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . 339 Skizze des Entwurfs einer Gemeinsamen Erklärung zur Lehre vom Herrenmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis Eine »hoch berempte und wol beschissen universitet« (WA XV, 121, 3 f) hat Martin Luther einst die Vorläuferinstitution der heutigen Münchener LudwigMaximilians-Universität, die am 26. Juni 1472 gegründete herzoglich-bairische Landesuniversität Ingolstadt genannt. Anlass zu dieser Qualifikation gab dem Reformator die Verurteilung von siebzehn Sätzen des in München geborenen Arsacius Seehofer durch die Ingolstädter Theologische Fakultät. Seehofer hatte sich nach anfänglichen Studien in Ingolstadt nach Wittenberg begeben und wurde dort Anhänger der reformatorischen Bewegung, für die er in Briefen an Münchener Freunde und Bekannte warb. Nach Rückkehr von der Elbe an die Donau hat man ihn zwar trotz einiger Querelen zum Magister promoviert und mit einem theologischen Lehramt versehen, aber bald schon der Ketzerei bezichtigt und inhaftiert. Nach Konfiszierung seiner Bücher und Wittenberger Kollegiennachschriften bekam die Ingolstädter Theologische Fakultät den Auftrag, die Schriftstücke zu begutachten und dem akademischen Senat über mögliche Häresien Seehofers Bericht zu erstatten. Als irrig verurteilt wurden daraufhin, wie erwähnt, siebzehn Sätze, darunter die Thesen, dass der Glaube allein für die Rechtfertigung des Menschen genüge, weil Gott ihm Christi Gerechtigkeit ohne Rücksicht auf gute und verdienstliche Werke zurechne, oder dass man in der Kirche allein dem Worte Gottes und außer diesem niemand Gehorsam schuldig sei, auch den Bischöfen nicht. Herzog Wilhelm schaltete sich ein und die Religionscausa wurde zu einer Angelegenheit frühabsolutistischer Staatsraison. Seehofer sah sich zum Widerruf gezwungen. Dieser erfolgte am 7. September 1523 vor der versammelten Ingolstädter Universität im alten Kollegiensaal. Seehofers Schüler, soweit sie des Lutheranismus verdächtig waren, wurden bis zur Abschwörung arretiert, ihn selbst wies man ins Kloster Ettal ein, dem er jedoch bald schon entfliehen konnte. Nach einem Zwischenaufenthalt in Wittenberg wurde er auf Fürsprache Luthers und Melanchthons evangelischer Prediger in der Mark Brandenburg. 1535 unterrichtete Seehofer ein Jahr lang am St. Anna-Gymnasium in Augsburg, um dann auf Vermittlung Erhard Schnepfs hin durch den württembergischen Herzog Ulrich ein Pfarramt zuerst in Leonberg, dann in Winnenden übertragen zu bekommen, wo er 1545 starb. Einzelheiten hierzu sowie zum genauen Verlauf des Seehoferprozesses sind der biographischen Skizze des Aiblinger Cooperators Theodor Wiedemann zu entnehmen, die 1858 als Beitrag zur Jubiläumsfeier der Stadt München unter dem Titel vorgelegt wurde: »Arsacius Seehofer, Bürgerssohn aus München, der erste Teilnehmer an den Reformationsbewegungen in Bayern« (aus dem XXI. Bande des Oberbayerischen Archivs besonders abgedruckt).

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis

Was Luther betrifft, so hat er sich in die Ingolstädter Vorgänge um Seehofer höchstpersönlich eingeschaltet und zwar mit der eingangs zitierten Schrift »Wider das blind und toll Verdammniß der siebenzehn Artikel, von der elenden schändlichen Universität zu Ingolstadt ausgegangen« (vgl. WA XV, 95 – 125). Die Schrift ist unter dem genannten Titel anno 1524 in Wittenberg in mehreren Einzelausgaben erschienen. Darin verteidigt der Reformator in harschen Worten die inkriminierten Sätze Seehofers als rechtgläubig, verurteilt den Ingolstädter Prozess als von theologischen Eseln veranstaltetes Narrenspiel und schließt in bewährter Grobiansmanier mit den Worten: »Man hat bisher der Beyer mit den sewen gespottet. Nu hoff ich, wird es besser mit yhn werden. Denn dise zedel triege mich denn, so dunckt mich, alle sew ynn beyerland sind ynn die berempte hohe schule gen Ingolstad gelauffen und doctores, Magistri und eyttel berempte universitet worden, das hynfurt eyns bessern verstands ym beyerland zu hoffen ist. Erlose und Behute Gott Beyerland fur disen elenden blinden sophisten. Amen.« (WA XV, 125, 15 – 20) Der Fall Seehofer gehört akademisch der Vergangenheit an. War die (bairisch) bayerische Landesuniversität in ihrer ersten Blütezeit während des 16. Jahrhunderts in Ingolstadt ein Hort der Reformationskritik und der Gegenreformation, so hat sich die LMU München seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Hochschule entwickelt, in der ökumenische Theologie ihren festen Platz hat. Neben der Katholisch-Theologischen gibt es seit nunmehr über vierzig Jahren eine Evangelisch-Theologische Fakultät und seit geraumer Zeit auch eine Ausbildungseinrichtung für Orthodoxe Theologie. Daraus ergeben sich viele Möglichkeiten konstruktiver ökumenischer Zusammenarbeit. Um sie zu koordinieren, wurde vor einiger Zeit eigens ein Zentrum für ökumenische Forschung gegründet, das derzeit von Athanasius Vletsis (orth.), Bertram Stubenrauch (röm.-kath.) und mir gemeinsam geleitet wird, ohne dass dadurch die institutionelle Selbständigkeit der jeweiligen Lehreinrichtungen tangiert würde. Eine Reihe von Aufsätzen der vorliegenden Sammlung ist aus Anlass dieser Kooperation entstanden. 2017 gilt es, das 500-Jahresjubiläum der Reformation zu begehen. Die anstehenden Feierlichkeiten und die Vorbereitungsdekade sind nicht nur eine evangelische Angelegenheit, sondern eine ökumenische Herausforderung. Diese anzunehmen und konstruktiv zu gestalten, ist das programmatische Ziel, welches nachfolgende Texte in verschiedener Hinsicht anstreben. Sie wollen ihren Beitrag zu einem ökumenischen Reformationsgedächtnis leisten. Der Ökumenebegriff stammt aus dem Griechischen und bezeichnet in seiner Ursprungsbedeutung den gesamten bewohnten Erdkreis (vgl. z. B. Mt 24,14). Die christliche Ökumene ist gemäß den Zielen der sog. ökumenischen Bewegung, die im 20. Jahrhundert große kirchliche und theologische Bedeutung gewann und trotz mancher Rückschläge bis heute in vielerlei Organisationsformen ungebrochen fortwirkt, auf die Behebung konfessioneller Gegensätze zwischen den verschiedenen Denominationen ausgerichtet, die sich im Laufe der Christentumsgeschichte herausgebildet haben. Motiviert ist sie von der

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis

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Gewissheit, dass die Kirche ihrem Wesen nach eine ist, weil Gott, Christus und der Hl. Geist, in denen sie gründet, ungeteilt eins sind. Als wesensmäßig eine transzendiert die Kirche nach dem Bekenntnis des christlichen Glaubens alle Schranken des Raumes und der Zeit und alle Grenzen individueller und sozialer Art, wie sie durch Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder ähnliche Faktoren bestimmt sind. Stimmen darin grundsätzlich alle christlichen Kirchen überein, so divergieren sie gleichwohl in der Bestimmung der Voraussetzungen, die für die Erklärung konkreter Kirchengemeinschaft nötig sind. Die orthodoxen Kirchen sehen die kirchliche Einheit vor allem in der ungebrochenen Tradition der ersten christlichen Jahrhunderte begründet, die römisch-katholische Kirche verbindet sie eng mit Vollmachten kirchlicher Amtshierarchie, den Reformationskirchen genügt in der Regel die nötige Übereinstimmung in rechter Evangeliumsverkündigung und stiftungsgemäßer Sakramentsverwaltung. Weitere ekklesiologische Verständnisweisen der Grundlagen kirchlicher Einheit ließen sich im Blick auf die Vielzahl christlicher Denominationen unschwer benennen. Die unterschiedlichen Bestimmungen der Möglichkeitsbedingungen von Einheit und Gemeinschaft in den unterschiedlichen Kirchen und kirchenähnlichen Vereinigungen wirken sich direkt auf das jeweilige Ökumeneverständnis aus. So ergibt sich, dass die Frage, was Ökumene sei, in den christlichen Religionsgemeinschaften keineswegs einheitlich beantwortet wird, sondern selbst ein Gegenstand des ökumenischen Dialogs sein muss und tatsächlich ist. Ökumenische Verständigung ist nur möglich, wenn die konfessionellen Prämissen, die den Begriff der Ökumene und ihres Zieles je auf ihre Weise mitbestimmen, nicht unbedacht bleiben, sondern zu Bewusstsein gebracht und Gegenstand expliziter Reflexionen werden. Von daher bleibt es bei dem hermeneutischen Motto, das bereits den ersten Band meiner gesammelten Aufsätze zu Grundfragen ökumenischer Theologie1 vorangestellt war : durch Vertiefung in die reformatorische Tradition und unter Vermeidung des falschen Scheins transkonfessioneller Überreligiosität sich auf das Gemeinchristliche zu besinnen, ohne dabei das Humane im Sinne der zivilen Notwendigkeit zu vergessen, selbst unter den Bedingungen von Zwiespalt und nicht behebbarer Differenz in gerechter und friedlicher Koexistenz zusammenzuleben.2 Den genaueren Sinn dieser Devise habe ich in meiner Münchener Antrittsvorlesung über »Protestantismus und Konfessionalität« eigens darzulegen versucht.3 Die Notwendigkeit einer Reform der christlichen Kirche des Abendlandes an Haupt und Gliedern wurde in der Zeit des ausgehenden Mittelalters von wachen Geistern wiederholt reklamiert. Unbeschadet dessen wird der Begriff der Reformation als historiographische Kategorie im Anschluss an Veit 1 G. Wenz, Grundfragen ökumenischer Theologie. Band 1, Göttingen 1999. 2 Vgl. auch KuD 44 (1998), 1. 3 Vgl. KuD 43 (1997), 303 – 335.

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis

Ludwig von Seckendorf, der ihn erstmals in diesem Sinne verwendete, in aller Regel jener geschichtlichen Bewegung des 16. Jahrhunderts vorbehalten, in deren Verlauf es zu konfessionellen Spaltungen der westlichen Christenheit und zur Entstehung und Konsolidierung eigenständiger Kirchentümer neben der römisch-katholischen Kirche kam. Dieses Ergebnis war ursprünglich nicht intendiert. Die Reformatoren erstrebten Kirchenreform, nicht Kirchenspaltung. Dass es gleichwohl zu ihr kam, konnte auch durch erhebliche Erfolge der sog. Gegenreformation nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Reformation blieb selbst keine einheitliche Erscheinung, sondern führte zu unterschiedlichen Konfessionsbildungen, dem Luthertum als dem Ergebnis der Wittenberger Reformation einerseits und dem Calvinismus als dem Ergebnis insbesondere der Zürcher und Genfer Reformation andererseits, aber etwa auch zum Anglikanismus. Zu den sog. schwärmerischen Nebenströmungen der Reformation sind neben mystisch-spekulativen Einzelgestalten die sozialrevolutionär-apokalyptisch gestimmten Täufer oder Anabaptisten sowie die Antitrinitarier zu rechnen, welche die kirchliche Dreieinigkeitslehre im Interesse der Einheit Gottes für schrift- und vernunftwidrig erklärten. Reformationsgeschichtlich höchst einflussreich erwies sich ferner der Humanismus, der Motive der Renaissance fortführte und durch Rückbesinnung auf geschichtliche Ursprünge das Studium der biblischen Sprachen und der Texte der Kirchenväter reichlich förderte. Neben der Etablierung konfessioneller Kirchentümer resultierte aus der Reformationsgeschichte eine Konfessionalisierung des gesamten öffentlichen Lebens in den einzelnen Ländern, Territorien und Städten je nach Konfessionszugehörigkeit. Dieser Prozess der Sozialdisziplinierung ist eng verbunden mit der Ausbildung frühabsolutistischer Formen von Staatlichkeit. Die Prinzipien der Religionsund Gewissensfreiheit sowie der Nichtidentifikation von Staat und Kirche konnten sich, obwohl sie einen Anhalt an reformatorischer Theologie fanden, erst im Zuge der Aufklärung auf breiter Basis durchsetzen. Die historischen Aspekte der reformationsgeschichtlichen Entwicklung von ihren Anfängen her zu entfalten, wird im gegebenen Zusammenhang nicht intendiert. Exemplarisch verwiesen sei hierzu neben dem großen Werk von Diarmaid MacCulloch über die Zeit von 1490 bis 17004 auf die 2009 im Verlag der Weltreligionen erschienene »Geschichte der Reformation« des ehemaligen Münchener Kirchengeschichtlers Thomas Kaufmann5. Er thematisiert eingehend Kontinuität und Diskontinuität zwischen Reformation und Spätmittelalter und analysiert die Reformation als deutsches und europäisches Ereignis, um ihre frühneuzeitliche Wirkungsgeschichte im Detail zu entfalten. Identitätsbegründende Ursprungsintention der Reformation ist nach Kaufmann die Veränderung des bestehenden Kirchenwesens. »Die Reformation, wie sie in diesem Buch verstanden wird, stellt einen Prozeß der 4 D. MacCulloch, Die Reformation. 1490 bis 1700, München 2008. 5 Th. Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt a.M./Leipzig 2009.

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis

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theologischen Infragestellung, der publizistischen Bekämpfung und der gestaltenden Veränderung des überkommenen Kirchentums dar. Aufgrund der untrennbaren Verbundenheit von Kirche und Gesellschaft betrafen diese mit unterschiedlichen Mitteln ins Werk gesetzten Veränderungen des Kirchenwesens viele Menschen in unterschiedlichster Weise. Unter Reformation verstehe ich die in bewußter Abgrenzung von der Kirche Roms und im Bruch mit den in ihr geltenden Rechtsgrundlagen des kanonischen Rechts vollzogenen Umgestaltungsprozesse des Kirchenwesens in städtischen und territorialen Zusammenhängen, die diese Prozesse zum Teil initiierenden, zum Teil begleitenden, teils privaten, zumeist aber öffentlichen Kommunikationsakte insbesondere der sogenannten Flugschriftenpublizistik und die mit diesen Prozessen untrennbar verbundenen politischen, rechtlichen und militärischen Auseinandersetzungen, die auf den unterschiedlichsten Ebenen und Bühnen der Städte, Territorien und Regionen, des Reichs und Europas stattfanden.«6 Bezeichnet Reformation »nicht schon eine bestimmte theologische Erkenntnis Luthers im Zuge seiner prozessual zu denkenden theologischen Entwicklung«7, sondern erst eine gezielte »Veränderung des bestehenden Kirchenwesens oder einzelner seiner Erscheinungen«8, so lässt sich gleichwohl nicht leugnen, dass dem kirchlichen Veränderungsstreben ein motivierender theologischer Impuls zugrundelag, der sich auf eine ursprüngliche reformatorische Einsicht zurückführen lässt. Sie sei in gebotener Kürze anhand der Stichwörter Gnade, Rechtfertigung sowie Gesetz und Evangelium umschrieben und zwar so, dass bereits einige wirkungsgeschichtliche Aspekte andeutungsweise in Betracht kommen. Gnade ist ein Schlüsselwort der Bibel und Inbegriff gütiger und wohlwollender Zuwendung Gottes zum Menschen und zu allen Kreaturen (vgl. etwa Gen 18,3; Ex 33,12; Ps 5,13; 84,12; 100,5; 103,4; 108,5; Jes 54,8.10; Lk 1,30; 2,40; Joh 1,14.16 f; Röm 1,7; 1. Kor 15,10; Gal 6,18; Tit 2,11; Hebr 13,9). Ist bereits die Schöpfung selbst ein Akt göttlicher Liebe, so erweist sich deren Unbedingtheit nachgerade dort, wo Gott seinen Geschöpfen auch unter den Bedingungen von Bosheit und Übel in gnädigem Erbarmen die Treue hält. Vollendet offenbar ist die göttliche Gnade nach gemeinsamem Bekenntnis des christlichen Glaubens in Jesus Christus, der sie bezeichnet und bewirkt. Der Geist des auferstandenen Gekreuzigten verheißt Erlösung von allen Übeln und rechtfertigt den Sünder, der dem Gnadenevangelium vertrauensvoll glaubt, um Versöhnung zu bereiten zwischen Gott und dem Menschen, damit die Gnade Gottes sich eschatologisch erfülle und seine Liebe alles in allem sei. Die Entwicklung einer förmlichen Gnadenlehre reicht weit zurück bis in die Alte Kirche. Systematisiert worden ist sie vor allem in der westlichen Theologie und zwar zunächst in den Auseinandersetzungen mit dem Pelagianis6 A.a.O., 21 f. 7 Ebd. 8 Ebd.; bei K. z. T. kursiv.

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis

mus, für die Augustin bestimmend wurde, und dann im Zuge der Kontroverse zwischen reformatorischer und römisch-katholischer Theologie seit dem 16. Jahrhundert, die insbesondere das Verhältnis des Gnadenwirkens Gottes zu menschlicher Selbsttätigkeit und Willensfreiheit sowie vergleichbare Probleme betraf. Je komplexer sich die Gnadenlehre gestaltete, desto strittiger wurden einzelne ihrer Aspekte, wobei es zu Gnadenstreitigkeiten auch innerhalb der jeweiligen konfessionellen Gruppierungen kam. Die innerkatholischen Auseinandersetzungen über den sog. Molinismus geben dafür ebenso ein Beispiel wie die theologischen Kontroversen zwischen Lutheranern und Reformierten um die Prädestinationsfrage. Zwar wurde von den Reformatoren gemeinsam betont, dass die göttliche Gnadenwahl weder durch vorhergehende noch durch nachfolgende und von Gott vorhergesehene Werke des Menschen bedingt oder mitbedingt sei, sondern ihren unbedingten und alleinigen Grund in Gott selbst habe; dennoch war innerreformatorisch strittig, ob Gottes Gnade allen gelte oder nur der Schar der Erwählten. Mittlerweile herrscht Einvernehmen (vgl. Leuenberger Konkordie III/3), dass von der göttlichen Erwählung unbeschadet der Erfahrung tatsächlichen Unglaubens in der Welt nur im Blick auf die Berufung aller zum Heil in Christus gesprochen werden kann, wohingegen die Annahme eines ewigen Ratschlusses zur definitiven Verwerfung von Einzelpersonen oder Personengruppen durch das Christuszeugnis der Schrift verwehrt ist. Auch zwischen römisch-katholischer und reformatorischer Gnadentheologie ist inzwischen ein differenzierter Konsens erreicht, wie insbesondere die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (GER) von 1999 belegt. Mit dem Begriff der Rechtfertigung ist neben dem Gnadenbegriff ein zweites charakteristisches Stichwort zur Kennzeichnung der ursprünglichen Einsicht reformatorischer Theologie benannt. Das Neue Testament umschreibt das göttliche Heilsereignis, das in Leben, Tod und Auferweckung Jesu Christi gründet und vom Hl. Geist auf Glauben hin erschlossen wird, in verschiedenen Denk- und Vorstellungszusammenhängen sei es kultischer, medizinischer, iuridischer oder anderweitiger Herkunft. So wird das zentrale Kreuzesereignis mit den Begriffen des Opfers, der Sühne und Versöhnung, der Heilung, Befreiung und Erlösung oder mit dem Rechtfertigungsbegriff gedeutet, der besonders auf den Gedanken der Gerechtigkeit Gottes bezogen ist, welcher im Zentrum des jüdischen Toramonotheismus steht. Nach Paulus, auf dessen namentlich im Galater- und Römerbrief entfaltete Rechtfertigungstheologie sich die spätere kirchliche Lehre vor allem bezog, wird der Mensch nicht durch die Werke des Gesetzes, sondern ohne sie und allein aus gläubigem Vertrauen auf die unbedingte Gnade Gottes gerechtfertigt (vgl. Röm 3,28), wie sie im Kreuz des Auferstandenen in der Kraft des Heiligen Geistes offenbar ist. Die Gerechtigkeit Gottes, wie das Evangelium sie verkündet, teilt nicht jedem das Seine zu, indem sie den Gerechten belohnt und den Ungerechten straft, sondern sie rechtfertigt in bedingungsloser Gnade, deren personaler Inbegriff Jesus Christus ist, den gesetzeswidrigen, gottlosen Sünder, der glaubt, um ihn

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis

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so aus der Verkehrtheit seiner Bosheit zu bekehren und dem ewigen Leben im himmlischen Reich zuzuführen. Im systematischen Zusammenhang christlicher Glaubenslehre kann der Rechtfertigungsbegriff in einem engeren Sinne ein spezifisches Moment der Heilsordnung bezeichnen oder als Begriff des Gesamtvorgangs des Heils Verwendung finden, wie das in reformatorischer Theologie in der Regel der Fall ist, welcher der Rechtfertigungsartikel als »articulus stantis et cadentis ecclesiae«, also als der Artikel gilt, mit dem die Kirche steht und fällt. Während die ostkirchliche Theologie dem Rechtfertigungsbegriff eher mit Zurückhaltung begegnete, wurde er im Westen systematisch und in konfessionell z. T. kontroverser Weise entfaltet. Die Kontroversen zwischen römisch-katholischer und reformatorischer Theologie betrafen generell die Stellung der Rechtfertigungsthematik im Gesamtzusammenhang kirchlicher Lehre und im Speziellen Probleme ihrer anthropologischen Voraussetzungen und Implikationen, des Verhältnisses von Sündenvergebung und Gerechtmachung, des Sünderseins des Gerechtfertigten, der Heilsgewissheit des Glaubens, des Zusammenhangs von Glauben und Werken der Liebe etc. Durch die erwähnte GER des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen von 1999 ist ein differenzierter Konsens in diesen Fragen erreicht worden, der das übereinstimmende Bekenntnis ermöglicht: »Allein aus Gnade in Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befestigt und aufruft zu guten Werken.« (GER 15) Mit dem in der GER gemeinsam ausgesprochenen Bekenntnis, »daß der Mensch im Glauben an das Evangelium ›unabhängig von Werken des Gesetzes‹ (Röm 3,28) gerechtfertigt wird« (GER 31), ist auf ein weiteres und drittes Charakteristikum der Theologie jedenfalls der Wittenberger Reformation Bezug genommen, auf die Lehre von Gesetz und Evangelium. Versteht man unter Gesetz (vgl. Dt 6,1 u. a.) den Inbegriff dessen, was Gott allgemeinverbindlich den Menschen zu tun geboten hat, so stehen seine Bestimmungen naturgemäß auch für Christen in Geltung. Unbeschadet dessen bekennen sie im Anschluss an Paulus (Röm 3,28 u. a.), dass der Mensch sein Heil unabhängig von den Werken des Gesetzes im Glauben an das Evangelium (vgl. Mk 1,1; Lk 4,18; Apg 5,42; Röm 1,1.9.16; Gal 1,6.9.11 etc.) von der unbedingten Gnade Gottes finde, wie sie in Jesus Christus in der Kraft des göttlichen Geistes offenbar geworden sei. Die genaue Bestimmung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium war in der Christenheit seit den Auseinandersetzungen mit dem frühjüdischen Toraverständnis Gegenstand zahlreicher Kontroversen, die vor allem zwischen römisch-katholischer und reformatorischer Theologie, aber auch im binnenreformatorischen Raum ausgetragen wurden, wofür der V. Artikel der lutherischen Konkordienformel von 1577 oder die Auseinandersetzungen um die von dem reformierten Theologen Karl Barth u. a. favorisierte Wendung »Evangelium und Gesetz« Beispiele geben.

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis

Von lutherischer Seite wird traditionellerweise betont, dass die rechte Unterscheidung und Zuordnung von Gesetz und Evangelium entscheidend sei für das Verständnis des Heilsgeschehens, dessen innere Mitte die Rechtfertigung der Sünder allein aus Gnade, allein um Christi willen und allein durch Glauben bezeichne. Zwar sei das Gesetz im Sinne der lex naturalis geeignet, das zivile Zusammenleben der Menschen in der geschaffenen Welt halbwegs zu ordnen und so der Erhaltung der Schöpfung zu dienen. Zum Heil vor Gott hingegen gereiche es nicht. Vielmehr artikuliere das Gesetz in seinem theologischen Gebrauch vor allem die fordernde Anklage, unter der jeder Mensch, auch der Christ, insofern er Sünder ist, zeitlebens steht. Das Gesetz überwindet die Sünde nicht, sondern deckt sie auf, damit sich der Sünder im Glauben ganz dem Evangelium der Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus anvertraue, die allein ihn rechtfertigt. Innerhalb der katholischen, aber auch der orthodoxen Tradition wurden in der Regel andere Akzente gesetzt, etwa um die Notwendigkeit willentlicher Mitwirkung des Menschen an seinem Heil oder die auch für die aus Gnade zum Heil Bereiteten bestehende Pflicht hervorzuheben, die Gebote Gottes zu befolgen. Auch wurde behauptet, der Glaube habe nur unter der Bedingung des Haltens der Gebote seligmachende Kraft. All dies und vieles mehr unterstreicht die Bedeutung des mit der GER erreichten differenzierten Konsenses, der die Feststellung erlaubt, der Stand der jeweiligen Partnerkirche in der Lehre von Gnade, Rechtfertigung sowie Gesetz und Evangelium sei von den Damnationen und Anathematismen des 16. Jahrhunderts nicht länger betroffen. Zu Lehrverurteilungen kam es im 16. Jahrhundert bekanntlich nicht nur zwischen reformatorischer und altgläubiger Theologie, sondern auch und nicht minder im binnenreformatorischen Lager. Zwar stimmen fast alle reformatorischen Kirchen in der Überzeugung überein, dass das Kirchesein der Kirche allein in ihrer Verfasstheit in Wort und Sakrament und nicht in Verfassungen zusätzlicher Art gründet. Dennoch kam es im Zuge der Reformationsgeschichte zu Kontroversen, die Kirchenspaltungen auch im binnenreformatorischen Lager zur Konsequenz hatten. Aus der Ursprungsdifferenz, welche die Trennung von der katholischen Amtshierarchie bewirkte, ergaben sich weitere Differenzen, welche zu separaten Reformationskirchen führten. Sie betrafen im Falle der lutherischen und der reformierten Kirche materiale Fragen des Lehrbekenntnisses, nämlich Abendmahlslehre, Christologie und Prädestinationsthematik, und führten zu wechselseitigen Lehrverurteilungen, die Kirchengemeinschaft ausschlossen. Durch die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) von 1973 sind diese Lehrgegensätze behoben worden. Die der Konkordie zustimmenden lutherischen, reformierten und aus ihnen hervorgegangenen unierten Kirchen sowie die ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder erklären auf der Basis ihres gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums Übereinstimmung angesichts der Lehrverurteilungen der Reformationszeit und gegenseitige Kirchengemeinschaft. Sie gründet in der

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis

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reformatorischen Einsicht, dass zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend ist. Die Gemeinschaft reformatorischer Kirchen in Europa versteht sich als Bekenntnisgemeinschaft konfessionsverschiedener Kirchen, die im Grunde des Glaubens eins unterschiedliche Ausgestaltungen des einen Glaubens repräsentieren, ohne getrennt zu sein. Das ekklesiologische Konzept, das die Leuenberger Konkordie bestimmt, ist dasjenige versöhnter Verschiedenheit, das von reformatorischen Kirchen auch in gesamtökumenischer Hinsicht favorisiert wird. Formal antizipiert wurde es durch den Protestantismusbegriff, der zwar an die Protestation reformatorischer Stände von 1529 erinnert, aber erst im nachkonfessionalistischen Zeitalter zur geläufigen Bedeutung eines Oberbegriffs aller aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchenähnlichen Gemeinschaften gelangte. Im üblich gewordenen Sinn ist von Protestantismus im Deutschen nicht vor dem 18. Jahrhundert die Rede. Sucht man neben der für ihn konstitutiven Unterscheidung von Katholizismus und Orthodoxie die Aspekte inhaltlich näher zu bestimmen, die der neuzeitspezifische Protestantismusbegriff in sich vereint, so kann auf eine Hochschätzung der Hl. Schrift als öffentlicher, allgemeines Priestertum ermöglichender Norm des Glaubens, auf eine mehr oder minder ausgeprägte Reformwilligkeit, auf die traditionell kritische Haltung gegenüber kirchenleitenden Hierarchien und Monopolansprüchen, auf die Reduzierung der sakramentalen Handlungen und die entschiedene Wortbestimmtheit kirchlicher Vollzüge, auf die zu bewusster Entscheidung und aktiver Weltgestaltung namentlich im Beruf drängende Haltung und auf die Tendenz zur Verinnerlichung, Vergeistigung und Individualisierung sowie zur fortschreitenden Ausdifferenzierung verwiesen werden. In solchen Charakterisierungen deutet sich an, dass sich unter dem Namen des Protestantismus in historischer und sachlicher Hinsicht eine komplexe Fülle vielfältiger religiöser Erscheinungsgestalten mit mehr oder minder ausgeprägtem konfessionstypischen Profil verbergen. »Aufgeklärter Protestantismus«, steht im Vorwort einer gleichnamigen Aufsatzsammlung zu lesen, »ist weniger eine Konfession als vielmehr eine Denkungsart«9, deren Grundprinzipien auf Luther zurückgehen, aber für die kulturelle Identität der Neuzeit insgesamt verbindlich geworden sind. Neuzeitlicher Geist und aufgeklärter Protestantismus seien durch die Momente von Freiheit, Subjektivität und Kritik in einer Weise verbunden, die es als unmöglich erscheinen lasse, über die Zukunft des einen unabhängig von derjenigen des anderen zu urteilen. Ja, man wird weitergehen und sagen können, »daß sich das Protestantische über seine originären konfessionschristlichen Schranken hinaus entgrenzt hat zu einem vielfältig wirkungsmächtigen theologischen und religionsstrukturellen Ideenkomplex, der in den 9 U. Barth, Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, VII.

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis

Symbolsprachen höchst unterschiedlicher Religionen und Glaubensrichtungen jeweils mit eigenen Elementen verschmolzen werden kann«10. Vorzüge und Gefahren dieser Entwicklung liegen nahe beieinander. Denn so begrüßenswert die Tatsache einerseits ist, dass, mit Paul Tillich zu reden, das protestantische Prinzip seine soziokulturelle Prägekraft über die Grenze der reformatorischen Konfessionskirchen, ja über die christliche Religion im engeren Sinne hinaus zu entfalten vermochte, so wenig lassen sich doch andererseits die religiösen und theologischen Probleme übersehen, die selbst wenn man ihn nicht mit dem Verdikt der Selbstsäkularisierung belegt mit dem gekennzeichneten Entwicklungstrend verbunden sind. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher jedenfalls, der Neuprotestant par excellence, legte allen Wert auf die Positivität, wie er es nannte, von Religion und Christentum, deren Nichtsubstituierbarkeit durch Denken und Handeln er dezidiert behauptete. All dies und vieles mehr will im Zusammenhang eines Reformationsgedächtnisses, das ökumenisch genannt zu werden verdient, bedacht sein. »Magna vis est memoria«, sagt Augustin im zehnten Buch seiner »Confessiones«, groß ist die Macht des Gedächtnisses und zwar in mehrfacher Hinsicht. Ohne Erinnerungsvermögen hätte der Mensch weder eine beständige Welt, noch würde er seiner eigenen Identität wirklich gewahr werden. Nur vermöge des Gedächtnisses nehmen Selbst und Welt feste Konturen an und können in ihrer Differenzeinheit begriffen werden. Als Vermögen der Erinnerung äußerer Sinneseindrücke stellt das Gedächtnis deren jeweilige Augenblicklichkeit auf Dauer und bildet sie zu einer geordneten Welt. Das Gedächtnis vermag Gehalte vorstellig werden zu lassen, wenn deren aktuelles Hören und Sehen längst vergangen sind. Dabei sind es mitnichten nur sinnliche Eindrücke, welche das Gedächtnis in seinen Innenräumen speichert, um sie abrufbereit zu halten. Auch Wissensgehalte, die nicht aus der Sinnlichkeit stammen, sondern aus reiner Verstandestätigkeit hervorgehen, können erinnert und im Gedächtnis behalten werden. Mit dem Denken hat das Gedächtnis gemein, dass es das regellos Zerstreute sammelt und das Mannigfaltige in sich vereint. Zu förmlicher Übereinstimmung kommen beide, wenn das Gedächtnis seiner selbst gedenkt, um sich selber gewärtig zu werden. Durch Selbstanwendung seines Gedächtnisvollzugs auf sich wird der Mensch seiner selbst eingedenk und kommt zum Bewusstsein seiner selbst als eines sich wissenden Ichs. Doch gibt es, wie Augustin sagt, keinen sicheren Ort, wo die Menschenseele Grund und Ruhe zu finden vermag, außer in Gott. Die eingedenkende Andacht Gottes ist daher Ziel aller Gedächtnis- und Denkvollzüge des Menschen. Für eine ökumenische Gedächtnisfeier der Reformation wird dies in besonderem Maße zu gelten haben. Im Übrigen wird bei ihrer Gestaltung zu bedenken sein, dass sich das Erinnerungsvermögen des Gedächtnisses von produktiver Einbildungskraft nicht akurat trennen lässt. 10 F.W. Graf, Der Protetantismus. Geschichte und Gegenwart, München 2006, 116 f.

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Obwohl die erinnernde Einbildung sinnlicher Gegenständlichkeit keineswegs eine bloße Fiktion darstellt, darf die Produktivität der Gedächtnisleistung nicht unterschätzt werden. Erinnern ist ein Vorgang produktiver Rezeption. Es genügt, um im Umkreis des Themas zu verbleiben, ein kurzer Blick auf die Geschichte der Jubelfeiern der Reformation, um sich von der Richtigkeit dieser Annahme zu überzeugen. »Im Anti-Katholizismus«, heisst es bei Thomas Nipperdey im Blick auf Selbsteinschätzungen Deutscher im 19. Jahrhundert, »fühlten sich auch die Nicht-Christen noch ›protestantisch‹.«11 Und im Protestantismusartikel der dritten Auflage der Realenzyklopädie liest man: »Wer nicht geborener Katholik ist, sondern einer evangelischen Denomination entstammt, nennt sich oft noch gern ›Protestant‹, selbst wenn er kaum noch Gewicht darauf legt, für einen Christen zu gelten.«12 Diese Art protestantischer Tradition sollte anlässlich des bevorstehenden 500jährigen Reformationsjubiläums nach Möglichkeit nicht fortgesetzt werden. Ein Protestantismus, der seine Identität wesentlich durch den Gegensatz zu Katholizismus und Orthodoxie bestimmt, ist eine Schwundstufe der Reformation und mit deren genuinem Ansatz nicht kompatibel. Denn dieser war auf die Reform der una, sancta, catholica et apostolica ecclesia ausgerichtet, deren ökumenischer Bestimmung er sich verpflichtet wusste. Diese Verpflichtung, die auf den Herrn der Kirche selbst zurückgeht, bietet die Grundlage, welche nachfolgende Studien in ihrer thematischen Diversität und unbeschadet ihrer unterschiedlichen Entstehungszusammenhänge miteinander verbindet. Die Ordnung ihrer gesammelten Darbietung verfolgt keine strenge Systematik. Die Beiträge des ersten Teils sind um reformatorische Selbstverständigung bemüht, wobei der evangelische Standpunkt vor allem in der Perspektive der Wittenberger Reformation in Betracht kommt. Historische Prolegomena zum Reformationsjubiläum 2017 versuchen, den Begriff der Reformation und deren geschichtliche Rahmenbedingungen skizzenhaft zu klären. An die altlutherische Orthodoxie wird anhand eines einschlägigen Dogmatikkompendiums erinnert, das vor einigen Jahren neu ediert und ins Deutsche übersetzt wurde. Der Rezeption des hermeneutischen Kriteriums der Wittenberger Reformation in der Dogmatik des 20. Jahrhunderts ist ein dritter Beitrag gewidmet, während ein vierter das reformatorische Häresieverständnis expliziert. Es folgt ein Plädoyer, die Confessio Augustana zum evangelischen Grundbekenntnis und zur Verfassungsbasis der Evangelischen Kirche in Deutschland zu erklären. Der Ökumenediskurs hierzulande ist aus naheliegenden Gründen auf die Verständigung der evangelischen Kirchen und des römischen Katholizismus konzentriert. Nichtsdestoweniger ist ökumenische Theologie ohne Würdigung des Beitrags der Orthodoxie nicht denkbar. Die drei Beiträge des zweiten 11 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 432. 12 RE 316, 135 – 182, hier : 136.

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Vorwort: Ökumenisches Reformationsgedächtnis

Teils der Aufsatzsammlung wollen einige ostkirchliche Perspektiven erschließen. In Erinnerung an die Confessio Augustana Graeca von 1559 und den Briefwechsel der Leitung der Württembergischen Kirche mit Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel werden Zentralthemen bilateraler Ökumenedialoge der Orthodoxie auf Weltebene und schließlich jene Kontroversen behandelt, die sich zwischen Ost und West im Kontext der Filioquethematik ergaben. Zum letzten: Wenn ein deutscher Theologieprofessor, ein Dogmatiker zumal, zum Bischof von Rom gewählt wird, dann hat das immerhin den Vorteil, dass man über das päpstliche Denken relativ präzise Bescheid weiß oder doch Bescheid wissen kann. Was Joseph Ratzinger über Katholizismus, Orthodoxie und Reformation gelehrt hat und wohl immer noch lehrt, wird im Eingangsartikel des dritten Teils analysiert, um anschließend einen Begriff von der Katholizität evangelischer Ekklesiologie zu entwickeln. Im Archiv der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität befinden sich unter der Signatur K-N-6 Disputationsthesen, die der nachmalige Papst Benedikt XVI. im Jahre 1953 anlässlich seines Promotionsverfahrens angefertigt hat13. Die abschließende These IV.5 lautet: »Unitas ecclesiae primario non in Romano pontifice, sed in unitate sacramenti eucharistiae fundatur.« Auf Deutsch: die Einheit der Kirche hat ihren Grund in erster Linie nicht im Bischof von Rom, sondern in der sakramentalen Einheit der Eucharistie. Das ist auch heute noch ein verheißungsvolles Diktum. Das Abendmahl als sacramentum unitatis bezeichnet kirchliche Einheit nicht nur, sondern bewirkt sie auch. Evangelische Theologie und Kirche werden keine Praxisvollzüge provozieren oder forcieren, die gegenwärtig gültiger offizieller Lehre des Partners als Regelverstöße gelten. Sie sollten solche Praxisvollzüge aber auch nicht von vorneherein delegitimieren und als unstatthaft zurückweisen, wo sie von der sog. Basis aus eigenem Antrieb heraus getätigt werden. Wie auch immer : Es ist von elementar ökumenischer Wichtigkeit, möglichst bald zu einer offiziellen Gemeinsamen Erklärung zur Abendmahlslehre zu gelangen. Die Skizze eines Entwurfs hierzu ist dem vorliegenden Band gesammelter Aufsätze zu Grundfragen ökumenischer Theologie beigegeben. Für Korrekturarbeiten danke ich Frau PD Dr. Miriam Rose, für die Anfertigung des Registers Frau Barbara Rappenglück. München, 12. Mai 2010 (Tag der Eröffnung des 2. Ökumenischen Kirchentages) Gunther Wenz

13 Vgl. H. Verweyen, Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. Die Entwicklung seines Denkens, Darmstadt 2007, 22 ff: Die Jahre in Freising und München [1945 – 1959].

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I. Evangelisches Bekenntnis und Wittenberger Reformation

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Reformationsjubiläum 2017. Historische Prolegomena Zum hundertjährigen Reformationsjubiläum erschien 1617 in Holland ein mit schriftlichem Kommentar versehener Kupferstich, auf dem eine Tafelrunde zu sehen ist, die dicht gedrängt um ein den Bildmittelpunkt markierendes Kerzenlicht gruppiert ist: »t’ Licht«, so steht zu lesen, »is op den kandelaer gestelt«. Dem Betrachter den Rücken zuwendend, eben noch im Vordergrund und doch schon an den äußersten Bildrand geschoben, repräsentieren ein anonymer Papst, ein Kardinal und ein Mönch, denen ein teuflischer Luzifer beigesellt ist, die Mächte der Finsternis und des falschen Scheins, welche das helle Licht der Reformation mit dem faulen Atem ihres Lügengeistes vergeblich auszublasen versuchen. Ihnen gegenüber und erleuchtet von dem klaren und warmen Licht, in welchem das vor ihm aufgeschlagene Bibelbuch erstrahlt, finden wir – in bewegt-bewegender Weise die offene Schrift auslegend – Martin Luther, daneben Calvin, der auf den (geschlossenen) Kanon verweist, und im Verein mit beiden eine Schar weiterer Reformatoren, die im Unterschied zu den feindseligen Dunkelmännern allesamt als individuelle Lichtgestalten mit unterschiedlicher Ausstrahlung dargestellt und namentlich benannt sind: Den Hauptpersonen eng verbunden Melanchthon und Beza, anschließend Hus, Bucer und Wyclif, dahinter Bullinger, Vermigli, Knox, Hieronymus von Prag, Zwingli und im zweiten Glied Zanchi, Perkins, Flacius und Oekolampad, ergänzt durch Georg von Anhalt, Jan Laski, Wilhelm Farel, Johannes Sleidan, Philipp Marnix und Franz du Jon, deren Porträts gesondert beigegeben sind. Alles in allem: ein Reformationsbild lichter Eintracht. Dass sich das Problem von Einheit und Vielfalt der Reformation im Blick auf die historische Wirklichkeit komplexer und komplizierter darstellt, zeigt ein exemplarischer Disput, den drei evangelische Reformationshistoriker vor geraumer Zeit geführt haben. Die Fragen, um die es dabei im Wesentlichen ging, sind im Vorwort der Disputationsveröffentlichung folgendermaßen umschrieben: »Was ist das – die Reformation? Kann man von der einen Reformation überhaupt sprechen? Zerfällt sie nicht vielmehr bei genauerem Hinsehen in eine Vielzahl von Impulsen, Bewegungen, Konfessionen und Interessen? Oder ist das Verbindende und Gemeinsame so grundlegend, dass man sie als Einheit verstehen muß?«1

1 B. Hamm/B. Moeller/D. Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 5.

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Reformationsjubiläum 2017. Historische Prolegomena

1. Einheit und Vielfalt der Reformation Folgt man Bernd Moeller2, dann ist mit einer gegebenen Einheit der Reformation zumindest in Bezug auf ihre Frühzeit eindeutig zu rechnen. Unter modifizierter Bestätigung seiner 1984 entwickelten These, »in der Geschichte der Reformationsbewegung seien die Jahre vor 1525 als eine Phase der ›lutherischen Engführung‹ zu charakterisieren«3, spricht Moeller nun von einer »evangelische(n) Engführung«4. Der der Musikwissenschaft entstammende Begriff der Engführung soll dabei das Phänomen benennen, »daß voneinander entfernte Linien zusammengeführt und verdichtet werden und durch diese Zusammenführung zu neuer Wirkung kommen. Etwas Vergleichbares«, so Moeller, »hat sich … in den Verständigungsprozessen der frühen Reformation ereignet.«5 Anders als etwa Franz Lau, der die frühe Reformation als »Wildwuchs« kennzeichnete6, ist Moeller daher der entschiedenen Meinung, »die Reformation sei in ihren Ursprüngen nicht in erster Linie als ein multiformer, sondern als ein kohärenter Vorgang einzuschätzen«7, bei dem Luther eine unersetzliche, nicht austauschbare geschichtliche Rolle gespielt habe. Sei es doch die von diesem wiederentdeckte Rechtfertigungslehre gewesen, welche die Massen bewegt und in Kritik und Konstruktion zu einer jedenfalls anfangs gemeinsamen und keineswegs divergenten oder gar in sich widersprüchlichen geschichtlichen Bewegung – eben der Reformation – vereint habe. Die Antithese zu dieser Auffassung formuliert Dorothea Wendebourg, deren Beitrag die gekupferte Reformationsconcordia späterer Zeiten sogleich mit den Realitäten der originären Historie zu konfrontieren sucht: »Nicht Eintracht, sondern Streitigkeiten, nicht Gemeinschaft, sondern Verweigerung der Abendmahlscommunio – so sah die Wirklichkeit aus.«8 Dem korrespondiert die historiographische Grundannahme Wendebourgs: »Eine Einheit ist die Reformation nicht in sich; was sie zur Einheit macht, ist vielmehr das Urteil der Gegenreformation. Darin, daß die Führer der zeitgenössischen Kirche sich von den Reformatoren und reformatorischen Gemeinden trennten, die kirchliche Gemeinschaft mit ihnen aufhoben – in den individuellen Exkommunikationen von der Bannbulle gegen Martin Luther an bis zu den Anathemata des Trienter Konzils –, darin wurden diese in all ihrer Unter2 B. Moeller, Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, in: B. Hamm u. a., a.a.O., 9 – 29. 3 A.a.O., 21. Vgl. ders., Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt?, in: ARG 75 (1984), 176 – 193. 4 B. Moeller, Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, 21, Anm. 22. 5 B. Moeller, Replik, in: B. Hamm u. a., a.a.O., 128 – 131, hier : 130. 6 Vgl. F. Lau, Reformationsgeschichte bis 1532, in: ders./E. Bizer, Reformationsgeschichte Deutschlands bis 1555, Göttingen 21969, bes. § 2. 7 B. Moeller, Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, 27. 8 D. Wendebourg, Die Einheit der Reformation als historisches Problem, in: B. Hamm u. a., a.a.O., 31 – 51, hier : 32. Der eingangs erwähnte Kupferstich findet sich auf S. 30.

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Einheit und Vielfalt der Reformation

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schiedlichkeit und Gegensätzlichkeit zusammengefaßt.«9 Verdankt sich demnach die Einheit der Reformation, welche sich binnenperspektivisch nicht identifizieren lässt, dem außenperspektivischen Urteil der Gegenreformation, so ist es nur konsequent zu sagen, dass schon der Begriff der Reformation selbst nichts anderes ist als eine Funktion gegenreformatorischer Reaktion. Ohne sie und ohne die durch sie bezeichnete Alternative wäre es nach Wendebourg angemessener, den Singular »Reformation« durch den Plural »Reformationen« zu ersetzen. Dass diese Schlußfolgerung nicht zu ziehen ist, basiert, wie gesagt, nicht auf der von Wendebourg ausdrücklich geleugneten Möglichkeit, die Reformation vermittels eines theologischen oder genetischen Ansatzes binnenperspektivisch als Einheit zu begründen; vielmehr gelangt, um es zu wiederholen, die Reformation zur Einheit ihrer selbst und damit zu einem identischen Begriff erst durch das alternative Externurteil der Gegenreformation, dessen Außen nun freilich »gerade nicht äußerlich«10, sondern so geartet sein soll, dass es die Singularform der Reformation und ihre Einheit nicht nur ermöglicht, sondern notwendigerweise hervorruft. »Die Reformation gibt es nur als eine Seite jenes Geschehens, in dem die westliche Christenheit auseinander trat. Deshalb ist die Bruchlinie, an der das geschah, konstitutiv für die Sache selbst. Weil diese Bruchlinie aber als kirchentrennender Schnitt durch das Urteil der Gegenreformation gezogen wurde, wurde sie aus deren Sicht gezogen – nach dem Maßstab der Stellung zur kirchlichen Tradition als letztverbindlicher Instanz. Daran gemessen trat die westliche Kirche in zwei Teile auseinander, ist das eine Ergebnis der Trennung die reformatorische Christenheit und die gesamte Entwicklung, auf die dieser Teil zurückgeht, die eine Reformation – ebenso eine, wie die dem anderen Teil zugrundeliegende Gegenreformation. Und an jenem Maßstab gemessen sind alle Gegensätze innerhalb der Reformation zweitrangig, wie auch immer sie aus der Innenperspektive zu gewichten sind und von den Beteiligten eingeschätzt wurden.«11 Was immer dies genau bedeuten mag, klar ist neben der kirchen- und konfessionsgeschichtlichen Orientierung der Perspektive die 9 A.a.O., 34. Vgl. dies., Die Ekklesiologie des Konzils von Trient, in: W. Reinhard/H. Schilling (Hg.), Die Katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993, Gütersloh 1995, 70 – 87, hier : 85: »Mit der Abgrenzung Roms gegen die Reformation trat die westliche Christenheit in mehrere Konfessionen auseinander, entstand die römisch-katholische Konfessionskirche. Der abschließende, endgültige Vollzug jener Abgrenzung, die mit dem Lutherbann begann, war das Trienter Konzil.« In diesem Sinne stelle sich die römisch-katholische Konfessionskirche »wurzelhaft als tridentinische Kirche« (86) dar. Zur Frage historischer Äquivalenzen zwischen lutherischer, reformierter und römisch-katholischer Konfessionalisierung vgl. unter den sonstigen Beiträgen des genannten Sammelwerkes bes. H. Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: a.a.O., 1 – 49 sowie W. Reinhard, Was ist katholische Konfessionalisierung?, in: a.a.O., 419 – 452. 10 D. Wendebourg, Die Einheit der Reformation als historisches Problem, 50. 11 Ebd.

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Reformationsjubiläum 2017. Historische Prolegomena

offenkundige Differenz zu der von Moeller bekräftigten Auffassung, die Reformation sei binnenperspektivisch und nicht zuletzt aufgrund ihres Schriftprinzips und ihrer Rechtfertigungslehre als ursprüngliche Einheit zu betrachten und von den Zeitgenossen auch als solche betrachtet worden. Man muss kein Hegelianer sein, um die Erwartung zu hegen, dass dort, wo zwei sich streiten, ein dritter wenn nicht sich freuen, so zumindest darum bemüht sein wird, den vorhandenen Gegensatz zu vermitteln und dadurch aufzuheben, dass er dessen Bestimmungsgründe als Momente eines synthetischen Zusammenhangs vereint. Berndt Hamm enttäuscht diese Erwartung nicht: in seinem zu einer umfangreichen Studie ausgearbeiten Referat12 bezieht er eine mediatorische Position, welche Gemeinsamkeit und Differenz verbindet und die Reformation als ein Geschehen zu würdigen sucht, in welcher gegebener Widerspruch umfassende Kohärenz nicht ausschließen und Einheit nicht gleichförmige Einheitlichkeit bedeuten muss. Was die kohärente Einheit der Reformation betrifft, so rechnet Hamm erklärtermaßen und in betontem Unterschied zu Wendebourg mit einem »inneren Zusammenhang der reformatorischen Bewegungen und Konfessionsrichtungen«13, der es möglich und erforderlich macht, von der Reformation und ihrer sozusagen intrinsischen Identität zu sprechen. Dabei findet er das Gemeinsame der Reformation vor allem in dem fundamentalen Bruch mit dem mittelalterlichen Gradualismus. Ihm gegenüber stelle die normative Zentrierung14, wie sie die Reformation mit ihrer Betonung der Alleinwirksamkeit Gottes, der Heiligen Schrift als alleiniger Normquelle, der Rechtfertigung aus Glauben und nicht aus Werken, schließlich auch mit ihrem Gemeindeprinzip erbringe – um vom sonstigen 33-Punkte-Katalog Hamms zum »Gemeinsam-Reformatorischen« zu schweigen –, eine nicht mehr zu integrierende und damit systemsprengende Alternative dar, deren alternativer Charakter durchaus in der Eigendynamik der Reformation selbst begründet liege und keineswegs erst durch den gegenreformatorischen Kontext in Erscheinung trete. Bestätigt wird die reformationsinterne Gemeinsamkeit normativer Zentrierung durch dies, was Hamm als Durchdringungsvermögen und Überschreitungsfähigkeit der Theologie, Frömmigkeit und Kirchlichkeit der Reformation beschreibt, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Reformation tradierte soziale, politische, ökonomische und kulturelle Unterschiede zu integrieren bzw. zu transzendieren und sich nicht zuletzt auf diese Weise als identische Geschichtseinheit zu konstituieren vermochte. Erwähnt wird in diesem Zusammenhang besonders »die große Durchlässigkeit zwischen den Stadtreformationen, den territorialfürstlichen Reformationen, dem ritterschaftlichen 12 B. Hamm, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: Was die Reformation zur Reformation machte, in: ders. u. a., a.a.O., 57 – 127. 13 A.a.O., 63. 14 Vgl. B. Hamm, Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 7 (1992), 241 – 279.

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Einheit und Vielfalt der Reformation

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Eintreten für die Reformation und den bäuerlichen Reformationsvorgängen auf dem Dorfe, weiter die Durchlässigkeit zwischen einer sog. ›Reformation von oben‹ und einer ›Reformation von unten‹, der Reformation des ›Gemeinen Mannes‹ und der obrigkeitlichen Reformation«, ferner »de(r) Austausch zwischen den verschiedenen Reformationsgegenden Deutschlands und schließlich die Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Phasen der Reformation, besonders die Kontinuität zwischen den Jahren vor und nach der Zäsur von 1525/1526«15. Belegt dieses und vieles mehr die intensive und extensive Kohärenz der in sich einen Reformation, so möchte Hamm doch auch – stärker als ihm dies unter der Voraussetzung der scharf kritisierten Moeller’schen »Engführungsthese« als möglich erscheint – die mannigfach differierende und divergierende Vielfalt herausgestellt wissen: »Sobald die Reformationsbewegung eine gewisse Breite und Vielstimmigkeit erreicht, sobald neben Luther auch zahlreiche Prediger und neben ihnen auch viele Laien das Wort ergreifen, d. h. besonders nach dem Wormser Reichstag 1521/22 und kulminierend in den Jahren 1523 – 25, zeigt sich auch sofort – und zwar nicht nur in latenten Spannungen, sondern auch in offenen Konflikten – eine innerreformatorische Vielfalt und Divergenz. Es gab nie eine ›enggeführte‹ Reformationsbewegung, nie eine Einheitlichkeit der Reformation.«16 Ergebnis: »Zur genuinen Reformation gehört das Gemeinsame ebenso wie die Vielfalt.«17 In diesem von Hamm auf den Begriff gebrachten Resultat wissen sich die Kontrahenten bei allem vorhergehenden Streit zum Schluss alle gut aufgehoben und auffällig einig. Offen scheinen im Wesentlichen nurmehr das Problem, »wie das Gemeinsame, wie das Verschiedene und Gegensätzliche zu gewichten« ist, und die Frage, »nach welchem Maßstab solche Gewichtung zu erfolgen hat«18. »Solange diese Fragen nicht erörtert werden«, meint Dorothea Wendebourg, »besteht die Gefahr, dass ein Disput über unser Problem ein Schattenboxen darstellt, bei dem jeder auf einer anderen Ebene streitet, und schließlich Begriffe, die alle verwenden, aber unterschiedlich füllen – ›Einheit‹, ›Gemeinsamkeit‹, ›Differenz‹ usw. – hin- und hergeschoben werden.«19 Dem dürfte in der Tat so sein: doch lassen sich bekanntlich nicht nur Begriffe, sondern auch Gewichtungen einschließlich der Gewichtsmaße, nach denen sie erfolgen, verschieben, solange man kein kanonisches Richtmaß einzuführen gedenkt. Dass es ein solches kanonisches Richtmaß im Zusammenhang historischer Urteilsbildung nicht gibt und nicht geben kann, bestätigt sich auch in reformationsgeschichtlicher Hinsicht.

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B. Hamm, Einheit und Vielfalt der Reformation, 112. A.a.O., 122 f. A.a.O., 127. D. Wendebourg, Replik, in: B. Hamm u. a., a.a.O., 132 – 139, hier : 132. A.a.O., 132 f.

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Reformationsjubiläum 2017. Historische Prolegomena

2. Reformation als historischer Reflexionsbegriff Wenn der in Auswahl referierte Diskurs etwas evidentermaßen erwiesen hat, dann dies, dass ein von konstruktiver Interpretation losgelöster Begriff der Reformation eine Abstraktion darstellt, die sich als solche gerade nicht zur Anschauung bringen und historisch verifizieren lässt. Auch unter reformationsgeschichtlichen Bedingungen gilt: rezipierende Anschauung und produktive Begriffskonstruktion lassen sich nicht auseinanderdividieren, sondern sind ebenso untrennbar wie originär verbunden. Die Reformation gibt es nicht – und zwar von Anfang an nicht – ohne das Bewusstsein derer, die sich – sei es kritisch, sei es affirmativ, sei es in welchen Mischformen auch immer – zu dem verhalten, was man (und auch dies war selbstverständlich ein Prozess mit entsprechenden konstruktiven Anteilen) auf den Begriff der Reformation bzw. auf die diesem Begriff entsprechenden terminologischen Äquivalente gebracht hat. Von daher gewinnt der Reformationsbegriff etwas Fließendes, ohne deshalb aufzuhören eine identifizierbare Größe zu sein, sofern sich auch noch der jeweilige Wandel seiner Bestimmungen aus der Bewusstseinskonstellation erklären lässt, deren allgemeiner Ausdruck er ist. Einen angemessenen Umgang mit dem Reformationsbegriff und den geschichtlichen Phänomenen, die er zusammenfassend bezeichnet, wird man am ehesten dadurch erreichen, dass man sich den konstruktiven Charakter von Historiographie im Allgemeinen und der Reformationsgeschichtsschreibung im Besonderen zu Bewusstsein bringt und Einsicht nimmt in die unhintergehbare Perspektivität jeder Darstellung. Dabei kann zwischen Extern- und Binnenperspektive unterschieden werden, ohne dass eine Trennung beider möglich wäre. Während die historische Externperspektive vor allem die äußere Erscheinung des historischen Gegenstands ins Auge fasst und ihn primär unter Objektivitätsgesichtspunkten erinnert, sucht die Binnenperspektive seiner Bedeutung auf eine Weise inne zu werden, die der Selbst- und Weltverständigung von Subjektivität dienlich ist. Insofern ihr religiöse und theologische Komponenten unveräußerlich zugehören, lässt sich der Sinn der Reformationsgeschichte ohne solche Innenansichten nicht erschließen.20 Die Notwendigkeit einer Reform der christlichen Kirche des Abendlandes an Haupt und Gliedern wurde in der Zeit des ausgehenden Mittelalters wiederholt betont. Dennoch wird der Begriff der Reformation21 als historische 20 Analog stellt sich der Sachverhalt im Blick auf die Konzeption von Lutherbiographien dar. Vgl. hierzu exemplarisch die Debatte zwischen Dietrich Korsch und Volker Leppin in: Luther. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 79 (2008), 45 – 55. 21 Zum Reformationsbegriff des 15. und 16. Jahrhunderts, zur Übernahme des Wortes in die Historiographie durch Veit Ludwig von Seckendorf (1626 – 1692) sowie zum Begriff der Reformation als einer geschichtswissenschaftlichen Epochenbezeichnung vgl. R. Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982, 46 ff sowie Th. Mahlmann, Art. Reformation, in: HWPh 8, Sp. 416 – 427. Vgl. ferner Wohlfeils Hinweise zu den

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Reformation als historischer Reflexionsbegriff

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Kategorie in aller Regel jener geschichtlichen Bewegung22 des 16. Jahrhunderts vorbehalten, in deren Verlauf es zur konfessionellen Spaltung der westlichen Christenheit und zur Entstehung und Konsolidierung eigenständiger Kirchentümer neben der römisch-katholischen Kirche kam. Dieses reformationsgeschichtliche Ergebnis, das von den Reformatoren ursprünglich keineswegs intendiert war, konnte auch durch die erheblichen Erfolge der Gegenreformation nicht mehr rückgängig gemacht werden. Indes blieb die Reformation bekanntlich keine einheitliche Erscheinung, sondern führte – abgesehen vom Anglikanismus – zu zwei unterschiedlichen Konfessionstypen, dem Luthertum und dem Calvinismus. Zu den sog. schwärmerischen Nebenströmungen der Reformation zählen neben mystisch-spekulativen Einzelgestalten die sozialrevolutionär-apokalyptisch gestimmten Täufer oder Anabaptisten sowie die Antitrinitarier, welche die kirchliche Dreieinigkeitslehre im Interesse der Einheit Gottes für schrift- und vernunftwidrig erklärten. Reformationsgeschichtlich höchst einflussreich erwies sich ferner der – Motive der Renaissance fortführende – Humanismus23, dessen Rückkehr zu den Begriffen »Gegenreformation« (60 f), »Zweite Reformation« (61 f) sowie »Protestantismus«, »Calvinismus« und »Luthertum« (77 ff) und die ausführlichen bibliographischen und sonstigen Hinweise a.a.O., 205 ff. 22 Ob man sagen kann, dass es sich dabei um eine Umsturzbewegung gehandelt hat, ist in hohem Maße fraglich. Nach W. Becker (Reformation und Revolution. Die Reformation als Paradigma historischer Begriffsbildung, frühneuzeitlicher Staatswerdung und moderner Sozialgeschichte, Münster 21983, hier : 7 f) »ist es den Reformationshistorikern bisher nicht gelungen, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts einschneidende soziale Veränderungen aufgrund umfassender gesellschaftlicher Krisen nachzuweisen, die über ansatzhafte Entwicklungen und wichtige Einzelmotive hinaus sich zu einem Gesamtbild revolutionären Wandels zusammenfügen ließen«. Becker fügt hinzu: »Durch die Relativierung der Epochenscheide Reformation ist die langdauernde Diskussion um den noch mittelalterlichen oder schon neuzeitlichen Charakter der Glaubensspaltung nicht eben erleichtert worden …« (8; vgl. ferner 144 ff) Zur Eigenart des Kompositums »Neuzeit«, zum Mittelalterbegriff und zur Bedeutung der Reformation für die Entstehung der modernen Welt vgl. meine Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, 2 Bd., München 1984/86, bes. I, 33 ff, 89 ff und die dort gegebenen Literaturhinweise. Die Frage der Modernität bzw. Modernitätsförderlichkeit der Reformation wird im folgenden vorrangig im Zusammenhang des Themas von Religionsstreit und politischer Ordnung abgehandelt, wobei der sog. Zwei-Reiche-Lehre besondere Aufmerksamkeit zukommt, ohne dass sie deshalb notwendigerweise »als die Wasserscheide zwischen Mittelalter und Neuzeit« gelten müßte (G. Ebeling, Der kontroverse Grund der Freiheit. Zum Gegensatz von Luther-Enthusiasmus und Luther-Fremdheit in der Neuzeit, in: B. Moeller [Hg.], Luther in der Neuzeit, Gütersloh 1983, 9 – 33, hier : 32). 23 Zum Themenkreis »Humanismus – Reformation – Stadt« vgl. R. Wohlfeil, a.a.O., 114 ff, hier 117 f: »Unbestritten bleibt, daß sich Humanisten und humanistisch gebildete Theologen, vor allem jüngere, der evangelischen Reformation anschlossen und über ihre literarisch-pädagogischen Interessen humanistisches Gedankengut in die sich später ausbildenden Konfessionen einbrachten – allen voran Melanchthon. Humanistisch geprägt waren ebenfalls Vertreter der radikalen Reformation. Außerdem blieben Humanisten weiterhin in kirchlichen Fragen tätig – auf dem Augsburger Reichstag von 1530, bei Religionsgesprächen, in der Zweiten Reformation – und ohne sie lassen sich kulturelle und politische Prozesse nicht erklären; aber entscheidende Bedeutung errangen sie nicht mehr. Entscheidend für die evangelische Reformation war ins-

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geschichtlichen Ursprüngen das Studium der biblischen Ursprachen und der Kirchenvätertexte reichlich förderte. Überblickt man den skizzierten Gesamtzusammenhang der Reformationsgeschichte, so erscheint als sein wichtigstes Resultat die Begründung konfessioneller Kirchentümer, ja mehr noch die Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens überhaupt. Dabei spricht manches für eine vergleichende Betrachtung, »weil ungeachtet eines zeitlichen Vorsprungs der Reformation vor der Regeneration der alten Kirche und gewisser Besonderheiten der drei Konfessionen der Vorgang doch im Wesentlichen parallel nach denselben Regeln abläuft und das Ergebnis überall dasselbe ist: die calvinistische, katholische oder lutherische Konfessionskirche«24. Fügt man zu der Annahme einer historischen Funktionsäquivalenz der Konfessionen die zutreffende Beobachtung hinzu, dass in der europäischen und namentlich in der deutschen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts »das bekenntnismäßige Moment . . . für einige Generationen das geschichtliche Leben nach seiner Breite und nach seiner Tiefe hin«25 umgriff, so dass von einer Konfessionalisierung der gesamten Lebenswelt gesprochen werden kann, dann lässt sich der statthabende Prozess in systemtheoretischer Terminologie und mit den Worten W. Reinhards wie folgt beschreiben: »Als . . . das umfassende System ›Christenheit‹ der zunehmenden Komplexität der sich wandelnden Welt nicht mehr gewachsen war, reagierte es mit Differenzierung. Diese Ausdifferenzierung konnte jedoch nicht mit einem Schritt zum heutigen Zustand führen; ein Gesellschaftssystem, das ein autonomes Teilsystem Religion neben ebensolchen Teilsystemen Familie, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft usf. umschließt, war noch nicht einmal denkbar. Näher lag die Ausdifferenzierung neuer Totalsysteme des bisherigen Typs, aber mit religiöser oder räumlicher Begrenzung. Obwohl diese neuen Systeme am Totalanspruch des alten festhalten, verlieren sie doch durch ihren partikularen Charakter an Plausibilität und geraten durch die bloße Tatsache ihrer Pluralität unter Konkurrenzdruck. Beides ist Anlass zu verschärfter Anwendung systemstabilisierender Verfahren. Zum selben Ergebnis führt die geringe Differenzierung zwischen Glaube und Politik. Da religiöses und politisches Handeln nach ihrer Sinnstruktur noch kaum zu trennen sind, hängt die Ausdifferenzierung von Konfessionen aus dem Ganzen aufs engste mit derjenigen von Territorien oder Nationalstaaten zusammen.«26

gesamt nur, daß sie von der humanistischen Bewegung während ihrer Anfangsjahre bewußt mitgetragen worden war.« 24 W. Reinhard, Konfession und Konfessionalisierung in Europa, in: ders. (Hg.), Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang, München 1981, 165 – 189, hier : 179. 25 E.W. Zeeden, Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: HZ 185 (1958), 249 – 299, hier : 249. 26 W. Reinhard, a.a.O., 176 f. Die Frage nach der Art der wachsenden Komplexität und den Ur-

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Letzteres begründet Reinhard bezüglich der verspäteten deutschen Nation am Beispiel des frühneuzeitlich-katholischen Territorialstaats Baiern und in Bezug auf die bereits weiterentwickelten europäischen Nationalstaaten unter Verweis namentlich auf Spanien und England sowie auf Irland, Polen und Schweden: »Für den Zusammenhang des Katholizismus mit der politischen Integration Spaniens ist«, so Reinhard, »der beste Beweis die eigentümliche Stellung und Tätigkeit der Inquisition als staatskirchlicher Einrichtung. In England wird der Protestantismus je länger desto mehr zum Inbegriff nationaler Integration gegenüber der Bedrohung durch papistische Verschwörer und aufständische irische Untertanen; eindrucksvolle Restbestände dieses Bewusstseins haben sich bis heute erhalten. Umgekehrt entwickelte sich der Katholizismus später in Irland und Polen zur letzten Stütze der nationalen Identität unterdrückter Völker. Ein besonders lehrreiches Beispiel bietet Schweden, das die Reformation aus politischen Gründen zunächst eher verhalten betrieben hat, sich aber angesichts der Bedrohung durch das katholische Polen 1593 zur Annahme der CA entschließt, 1595 das Nationalheiligtum Vadstena beseitigt und die Katholiken des Landes verweist.«27 Koinzidiert demnach der Prozess der Herstellung konfessioneller Homogenität mit dem der Ausbildung frühneuzeitlicher Staatlichkeit – sei es des Territoriums, sei es der Nation –, so kann und muß im Sinne Reinhards davon ausgegangen werden, dass »konfessionelle und politische Identität … beinahe dasselbe (sind)«28.

3. Ursprüngliche Einsicht und Folgen der Reformation Inwieweit dies dem theoretischen Selbstverständnis der Wittenberger Reformation entspricht, ist sorgfältig zu prüfen. Erörterungsbedürftig ist insbesondere, ob die Geschichte der Glaubensreform tatsächlich ohne Wahrnehmungsverluste als Funktion der Ausbildung frühmoderner Staatlichkeit beschrieben werden kann mit der Folge, dass die einzelnen Konfessionen als funktionsäquivalent und ihre inhaltlichen und bis heute fortdauernden Differenzen als in historisch-faktischer Hinsicht zweitrangig erscheinen. Im gegebenen Zusammenhang soll gegenüber der eindrucksvollen Geschichtskonstruktion Reinhards, die von nicht wenigen Frühneuzeithistorikern geteilt wird, einstweilen nur der Vorbehalt angemerkt werden, dass die Zwangsläufigkeit, die dem Konfessionalisierungsprozess von seinem Resultat her rückblickend eignet, nicht als von Anfang an und notwendigerweise gegeben in sachen ihrer Zunahme beantwortet Reinhard mit dem Hinweis auf Bevölkerungswachstum, wachsende Städte sowie die zunehmende gesellschaftliche Arbeitsteilung. 27 A.a.O., 188. 28 Ebd.

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Anschlag gebracht werden darf. Es ist von daher der Versuchung zu widerstehen, die offenen Möglichkeiten etwa jenes historischen Moments vorschnell zu verdecken, wie er in Augsburg 1530 gegeben war : »1530 gab es zwar Zwiespalt, aber noch keine Spaltung … Die oft wiederholten Behauptungen, es habe sich in Augsburg nur um ein politisch begründetes Spiel der Protestanten auf Zeitgewinn gehandelt und zumindest Luther selbst sei sich über die Unüberbrückbarkeit des Glaubensgegensatzes von vornherein im klaren gewesen, treffen den historischen Sachverhalt nicht. Solche Deutung liest das spätere Scheitern der Einigung in die Situation von Augsburg hinein als etwas vermeintlich von vornherein Festgelegtes, Unabänderliches.«29 Dass Kirche nachreformatorisch nur noch als Konfession vorkommt, liegt jedenfalls nicht in der genuinen Absicht der Reformation, die auf Kirchenreform und nicht auf Gründung von Reformationskirchen ausgerichtet war. »Die Reformatoren wollten keine neue Kirche auf ein neues Bekenntnis gründen, sondern die alte von ihren Missständen in Lehre, Kultus und Leben reinigen. Bekenntnisschriften sind darum nicht als eine Art von Gründungsurkunden oder Statuten der lutherischen Landeskirchen anzusehen. Die Confessio Augustana konstituiert nicht eine schriftgemäß lehrende Kirche, sondern bezeugt ihr Vorhandensein.«30 Was die in der Augustana vorausgesetzte ursprüngliche Einsicht der Reformation anbelangt, so gründet sie in dem – im Zusammenhang der Auseinandersetzungen um das Bußsakrament – neugewonnenen Vertrauen auf das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen, wie die Schrift es beurkundet. Manifest geworden ist diese Einsicht spätestens in den Jahren nach 1517, mag der Thesenanschlag nun stattgefunden haben oder nicht.31 Aus ihr ergeben sich nicht nur alle wesentlichen Bestimmungen reformatorischer Lehre, aus ihr folgt zugleich die Kritik der Reformation an der kirchlichen Theorie und Praxis ihrer Zeit. Unter theologischen Gesichtspunkten lässt sich diese Kritik insonderheit drei themati29 W. Pannenberg, Die Augsburger Konfession und die Einheit der Kirche, in: Confessio Augustana. Hindernis oder Hilfe?, Regensburg 1979, 259 – 279, hier : 261 f. 30 H. Bornkamm, Die Bedeutung der Bekenntnisschriften im Luthertum, in: ders., Das Jahrhundert der Reformation. Gestalten und Kräfte, Frankfurt a.M. 1983, 286 – 293, hier : 287. Dies gilt mit Einschränkungen sogar noch für die Konkordienformel: »Die Formula Concordiae will ihrem Wesen und Inhalt nach nicht ein spezifisch lutherisches Bekenntnis sein, sondern ein Bekenntnis des allgemeinen christlichen Glaubens, wie ihn die lutherischen Theologen und Stände 1577 nach langem Streit zu formulieren vermochten.« (G. Klapper, Bericht über die Konventssitzungen 1976 und 1977, in: E. Koch u. a., Vom Dissensus zum Konsensus. Die Formula Concordiae von 1577, Hamburg 1980 [Fuldaer Hefte 24], 154 – 176, hier : 162.) 31 Vgl. E. Iserloh, Luther zwischen Reform und Reformation. Der Thesenanschlag fand nicht statt, Münster 31968; R. Bäumer, Die Diskussion um Luthers Thesenanschlag. Forschungsergebnisse und Forschungsaufgaben, in: A. Franzen u. a., Um Reform und Reformation. Zur Frage nach dem Wesen des »Reformatorischen« bei Martin Luther, Münster 21983, 53 – 95; vgl. auch 96 ff. In der neueren Diskussion sind die Thesen Iserlohs mit beachtlichen Gründen problematisiert worden.

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Ursprüngliche Einsicht und Folgen der Reformation

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schen Bereichen zuweisen, der Soteriologie, der Sakramentenlehre und der Lehre vom kirchlichen Amt. Soteriologisch ergibt sich aus der reformatorischen Grundeinsicht konsequent die Abgrenzung gegen jegliche Form von Werkgerechtigkeit bzw. emanzipativer Selbstbefreiung. Wie der Mensch sich nicht aus eigener Kraft vor Gott gerecht machen kann, so kann auch seine Freiheit nach reformatorischer Lehre nur als Befreiung durch Gott ausgesagt werden. Dies impliziert die generelle Bestreitung einer eigenmächtigen Wirkung oder Mitwirkung des Menschen zur Beschaffung seines Heils. Die göttliche Befreiung trifft den Menschen indes keineswegs wie ein Keil den Klotz. Der befreiende göttliche Zuspruch in Jesus Christus bekehrt den Menschen vielmehr zu seiner eigenen Bestimmung und nimmt ihn als freies Vernunftwesen in Anspruch, das zu sein er in sündiger Selbstverkehrung versagte. Im Rahmen der Sakramentenlehre hatte die der Reformation eigentümliche Soteriologie u. a. die entschiedene Bestreitung des Opfercharakters des Herrenmahls zur Folge. Theorie und Praxis des Messopfers empfand und wertete man als Elementarverkehrung des Altarsakraments, weil dadurch an die Stelle der göttlichen Gnadengabe ein Anspruch auf menschliches Sühnehandeln Gott gegenüber getreten und die Vollgenügsamkeit des Kreuzesopfers Christi bestritten sei. Abendmahlstheologische Kritik galt ferner der Transsubstantiationstheorie sowie dem Kelchentzug, in dem man einen Verstoß gegen die ausdrückliche Stiftung Christi sah. Hinzuzufügen ist, dass sich die Zahl der sakramentalen Handlungen in den Reformationskirchen erheblich reduzierte. Der Sakramentsbegriff wurde in der Regel Taufe und Abendmahl vorbehalten und gegebenenfalls noch auf das Bußinstitut ausgedehnt. Wie die Sakramentalität von Firmung, Ehe und Krankensalbung, so wurde auch der sakramentale Charakter der Ordination zumeist in Abrede gestellt, ohne dass deshalb die gottgestiftete Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes dem durch die Taufe begründeten Priestertum aller Gläubigen gegenüber bestritten wurde. Allerdings wurde es entschieden abgelehnt, das Verhältnis von allgemeinem Priestertum und besonderem Amt im Sinne einer geistlichen Standesdifferenz zu deuten.32

32 Die sog. altgläubigen Antworten auf diese reformatorischen Positionen wurden vor allem auf dem Konzil von Trient (1545 – 1563) formuliert, auf dem sich der römische Katholizismus in theoretischer und praktischer Hinsicht konsolidierte und sich eine wichtige Basis für gegenreformatorische Bestrebungen schuf.

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4. Kirchenreform und Reformationskirchen Trotz gemeinsamer antirömischer Haltung kam es auch im binnenreformatorischen Bereich bald zu erheblichen Differenzen, die zur Spaltung der reformatorischen Bewegung in getrennte Konfessionen und Kirchentümer führte. Ein gegenüber dem Wittenberger selbständiger Typus evangelischen Christentums war zuerst in der deutschsprachigen Schweiz entstanden, wo der von Erasmus geprägte Ulrich Zwingli (1484 – 1531) seit Anfang der 20er Jahre Zürich zu einem zweiten Zentrum der Reformation gemacht hatte; die theologische Differenz zu Luther wurde vor allem in der Abendmahlsfrage offenkundig, über die es auf dem Marburger Religionsgespräch von 1529 zu keiner Verständigung kam. Ein weiterer Mittelpunkt der Reformation wurde schließlich das Genf Calvins (1509 – 1564), der durch die mit Zwinglis Züricher Nachfolger Bullinger im Consensus Tigurinus von 1549 erreichte Verständigung in der Abendmahlsfrage die Union des später so genannten Reformiertentums zustande brachte und so zum Gründer eines dem lutherischen gegenüber eigenständigen reformatorischen Kirchenwesens wurde. Lediglich angemerkt sei, dass die reformierte Konfessionalisierung bisweilen als »Zweite Reformation« bezeichnet wird.33 Nach seiner endgültigen Durchsetzung in Genf (1555) und in der Schweiz entwickelte sich der Calvinismus zu einer religiösen Großmacht in ganz Europa. Während das Luthertum außerhalb Deutschlands vor allem in den skandinavischen und baltischen Ländern zur Alleinherrschaft gelangte, wurden die Grundsätze Calvins in klassischer Weise in der unter Führung von John Knox errichteten reformierten schottischen Staatskirche verwirklicht. In Frankreich befanden sich die reformierten Hugenotten zwar auf lange Zeit in der Situation einer unterdrückten 33 Vgl. bes. H. Schilling, Die »Zweite Reformation« als Kategorie der Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der »Zweiten Reformation«, Gütersloh 1986, 387 – 437. Weichenstellend für die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland war nach Schilling die an eine – von den späten 1540er bis zu den frühen 1570er Jahren reichende – vorkonfessionelle Phase anschließende Übergangsphase der 1570er Jahre, »in der die vororthodoxe Mittelfraktion oberdeutsch-reformierter, philippistischer und humanistischer Provenienz in die Krise geriet und zerrieben wurde« (405). Die Durchführung der »Zweiten Reformation« wird infolgedessen etwa für die Jahre 1580 bis 1619 angesetzt. Zur sozialgeschichtlichen Eigenart der reformierten Konfessionalisierung vgl. a.a.O., 428 ff. Zu den Einwänden gegen das Postulat einer »Zweiten Reformation« vgl. u. a. W.H. Neuser, Die Erforschung der »Zweiten Reformation« – eine wissenschaftliche Fehlentwicklung, in: a.a.O., 379 – 386; vgl. auch Schilling, a.a.O., 393 ff. Den harten Kern der Kritik hat M. Heckel, Reichsrecht und »Zweite Reformation«: Theologisch-juristische Probleme der reformierten Konfessionalisierung, in: a.a.O., 11 – 43, hier : 11 Anm. 1, formuliert: »Der Terminus ›Zweite Reformation‹ repristiniert eine Kampfposition der reformierten Theologen des 16./17. Jahrhunderts gegen die lutherische Orthodoxie, um die Reformation Luthers als bloßen Anfang und als steckengebliebenes, torsohaftes kirchengeschichtliches Ereignis zu charakterisieren, das erst durch die Reformierten seine Vollendung zur eigentlichen Reformation des Glaubens und der Kirche erfahren habe …«

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Minderheit; doch darf ihr soziokultureller Einfluss ebenso wenig wie der ihrer niederländischen Glaubensgenossen unterschätzt werden. Zu gewissen Erfolgen gelangte die Reformation überdies in Ost- und Südosteuropa, wohingegen Italien und insbesondere Spanien von evangelischen Einflüssen weitgehend unberührt blieben. Sieht man von der Sondergestalt des Anglikanismus34 ab, der für die kontinentale Entwicklung des Kirchenwesens im 16. Jahrhundert eher indirekt bedeutsam geworden ist, dann hat sich die Wittenberger Reformation neben dem Gegensatz zu Rom vor allem durch die Differenz zum Calvinismus zu einem besonderen Konfessionstypus im Sinne des Luthertums35 entwickelt. Wie der Begriff des Luthertums, so ist auch der Calvinismus-Begriff ursprünglich polemisch geprägt und keine Selbstbezeichnung der von ihren Gegnern Calvinisten Genannten. Zugleich ist der mit »calvinistisch« heutzutage in der Regel synonym verwendete Begriff »reformiert« ursprüngliches Prädikat aller Reformationskirchen und erst später denen vorbehalten worden, die wesentlich der Tradition Zwinglis und Calvins folgten. Analog zur lutherischen Konfession wurde die verbindliche Lehrüberlieferung auch im Calvinismus durch Bekenntnisschriften normiert. Doch unterscheiden sich die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche durch eine Reihe von Punkten schon formal von den lutherischen: Sie sind nicht in einem Buch von dogmenkanonischem Rang zusammengefasst, haben keinen festumrissenen Umfang, sind nicht in einer kurzen Epoche entstanden, stammen nicht von einem zeitlich und lokal umgrenzten Theologenkreis und sind infolgedessen weniger auf einen Hauptton gestimmt; ferner erheben sie nicht für alle reformierten Kirchen Gültigkeitsanspruch. Hinzu kommt, dass Kirchenordnungen in der reformierten Tradition in Bekenntnisrang und Bekenntnisschriften häufig in engem Bezug zu Kirchenordnungen stehen; auch blieb das reformierte Corpus Doctrinae stets offen, weil die Bekenntnisse nach ihrem Selbstverständnis nichts anderes sein wollen als grundsätzlich revidierbare Zeugnisse des Glaubens zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Signifikanterweise lauten einschlägige Titel nicht »Theologie der reformierten Bekenntnisschriften«, sondern lediglich: »Theologie reformierter Bekenntnisschriften«36. 34 Der äußere Anlass für die Entwicklung der anglikanischen Staatskirche war der politische Bruch zwischen König Heinrich VIII. und dem Papsttum. In der Suprematsakte von 1534 anerkannte das Parlament den König als »supreme head in earth of the Church of England«. Zu einer eigentlich religiös-kirchlichen Reform kam es nur allmählich und in sehr gemäßigter Form; hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang u. a. das 1549 erschienene »Book of Common Prayer«. Zu dauerhafter Stabilität gelangte die von Rom unabhängige Staatskirche nach einer scharfen Reaktion des Katholizismus unter Maria Tudor erst in der Zeit der Regentschaft von Elisabeth I. (1558 – 1603). 35 Zum Stichwort »Luthertum« vgl. den gleichnamigen Artikel in: LThK VI, Sp. 1231 – 1241 (E.-W. Zeeden, E. Kinder, A. Brandenburg). Ferner : H. Heppe, Ursprung der Geschichte der Bezeichnungen »reformierte« und »lutherische« Kirche, Gotha 1859. 36 Vgl. P. Jacobs, Theologie reformierter Bekenntnisschriften in Grundzügen, Neukirchen 1959; J.

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Was die Inhalte betrifft, so wusste sich der Namensgeber des Calvinismus mit der zentralen Einsicht Luthers, wie sie durch die Kürzel »sola fide«, »sola scriptura« und »solus Christus« umschrieben ist, im Wesentlichen eins und als dessen Schüler. Als Reformationstheologe der zweiten Generation zeichnet sich Calvin weniger durch Originalität als durch systematische Integrationsund Organisationskraft aus, wie er sie nicht nur im Bereich der Kirchenordnung, sondern ebenso als Dogmatiker eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Seine 1536 erstmals und 1559 in ihrer Endfassung erschienene »Institutio religionis christianae« beinhaltet eine klassische Gesamtdarstellung reformatorisch-reformierter Grundanschauungen.37 Eigentümlich für Calvin ist

Rohls, Theologie reformierter Bekenntnisschriften. Von Zürich bis Barmen, Göttingen 1987; dgg.: Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche. In authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register hg. v. E.F. K. Müller, Leipzig 1903. Im folgenden seien einige der wichtigsten reformierten Bekenntnistexte des 16. Jahrhunderts chronologisch aufgelistet und knapp charakterisiert: 1. Die »Confessio Tetrapolitana« von 1530, das Bekenntnis der Städte Straßburg, Memmingen, Lindau und Konstanz anläßlich des Reichstags zu Augsburg, welche sich von der Confessio Augustana insbesondere durch eine zwischen Luther und Zwingli vermittelnde Sakramentenlehre unterscheidet. 2. Zwinglis Privatbekenntnis zum Augsburger Reichstag, die sog. »Fidei ratio«. 3. Die »Confessio Helvetica prior« von 1536, die im Bemühen um Annäherung an die lutherische Abendmahlslehre verfaßt wurde und lange Zeit als wesentlicher Ausdruck des schweizerisch-reformierten Glaubens in Geltung stand. 4. Von den durch Calvin (und Farel) verfaßten Bekenntnisschriften sind insbesondere das »Genfer Bekenntnis« von 1537 sowie der »Genfer Katechismus« von 1542/45 zu erwähnen. Genannt werden muß ferner Calvins »Institutio religionis Christianae«, die in den reformierten Kirchen durchaus Bekenntnisrang genießt. 5. Der sog. »Consensus Tigurinus« von 1549 als Ergebnis der Unionsverhandlungen zwischen Calvin und Bullinger. 6. Die »Confessio Helvetica posterior« von 1566, in der Bullinger die Theologien Zwinglis und Calvins zum Ausgleich zu bringen versuchte. 7. Unter den westlichen Bekenntnissen sind hervorzuheben die »Confessio Gallicana« von 1559, die eng an sie anschließende »Confessio Belgica« von 1561, schließlich die von John Knox mitverfaßte »Confessio Scotica prior« von 1560. 8. Zu den wichtigsten Zeugnissen der anglikanischen Kirche ist neben den Artikeln von 1552 und 1563 der Katechismus von 1549 im »Book of Common Prayer« zu rechnen. 9. Ein entscheidendes Dokument des Presbyterianismus ist die »Westminster Confession« von 1647. 10. Für die deutschen Gebiete sei schließlich noch der »Heidelberger Katechismus« von 1563 genannt. Zu den Bekenntnisschriften der Wittenberger Reformation vgl. G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bd., Berlin/New York 1996/8. 37 Die calvinistisch-reformierte Orthodoxie setzte nach Calvins Tod mit seinem Genfer Nachfolger Theodor Beza ein und bestimmte mit ihrer auf der Synode von Dordrecht (1618/19) gegen den Arminianismus durchgesetzten doppelten Prädestinationslehre neben Frankreich und Schottland vor allem die Niederlande, während die deutsche Tradition eher auf Ausgleich angelegt war. Einen Höhepunkt der theologischen Entwicklung stellte neben der mehr und mehr ausgearbeiteten Verbalinspirationstheorie die heilsgeschichtlich-eschatologisch orientierte und namentlich vom Bundesgedanken geprägte Föderaltheologie des Cocceius dar. Wie die lutherische, so fand auch die calvinistische Orthodoxie ihr Ende mit Aufklärung und Pietismus. An die Stelle des Konfessionalismus trat zunehmend die Idee einer konfessionsübergreifenden Union zumindest der Reformationskirchen, die sich ihres gemeinsamen Protestantismus versichern (vgl. etwa Altpreußische Union von 1817). Allerdings kam es im 19. Jahrhundert namentlich in

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neben seiner Abendmahlslehre, in der er zwischen Luther und Zwingli zu vermitteln sucht (allerdings weitaus näher beim ersteren als beim letzteren steht), seine schroffe Betonung der Lehre von der (doppelten) Prädestination (praedestinatio gemina), der gemäß das göttliche Erwählungsdekret von Ewigkeit her einige Menschen zur Seligkeit, andere zur Verdammnis vorherbestimmt hat. Geprägt ist diese Annahme von einem theologischen Begriff der gloria Dei, demzufolge alles, was ist, der unmittelbaren Selbstbestimmung und Selbstverherrlichung Gottes zu dienen hat. Dem entspricht die typische, stark alttestamentlich geprägte calvinistische Frömmigkeit, deren Bewusstsein, Werkzeug in der Hand des allmächtigen Gottes zu sein, sie zu heroischem Aktivismus und durchsetzungsstarker Härte im Kampf für die Ehre Gottes befähigte. Während Luthers Verhältnis zum traditionellen kirchlichen Kultus eher konservativ war, haben Zwingli und Calvin die römische Messe gänzlich beseitigt. Die Genfer Gottesdienstordnung von 1542 sieht außer der Predigt nur Gebet und Gesang von alttestamentlichen Psalmen vor. Das Abendmahl, das nach Berner Vorbild viermal im Jahr von der ganzen Gemeinde gefeiert werden soll, wird vom Predigtgottesdienst getrennt. Bilder, Altäre und sonstiges kirchliches Gerät einschließlich der Orgeln werden aus den Kirchen entfernt, die Feiertage zum großen Teil abgeschafft. Charakteristisch für das genuin calvinistische Kirchenwesen sind ferner strenge Sittenzucht und Festigkeit des Dogmas. Die Verfassung der Kirche ist im Sinne Calvins im Wesentlichen durch vier geistliche Ämter bestimmt: das Amt der Pastoren für Predigt und Seelsorge, das der Doktoren für den Unterricht, das der dem weltlichen Rat entnommenen Ältesten für die Kirchenzucht, schließlich das der Diakone für die Armenpflege. Der im Calvinismus weitaus früher als im Luthertum realisierte Gedanke der Synodalverfassung und kirchlichen Selbstregierung entstammt der französischen Hugenottenkirche und ist besonders im englisch-amerikanischen Presbyterianismus wirksam geworden. Ferner haben die Ideen der Volkssouveränität sowie des Widerstandsrechtes ihre Wurzeln bereits im Altcalvinismus, dessen kirchlich-bürgerlicher Antifeudalismus der Entstehung moderner Demokratien insgesamt günstig war. Besonders wirkungsmächtig hat sich in dieser Hinsicht die presbyterianische und die kongregationalistische Gestalt des Calvinismus in England und Nordamerika erwiesen. Von puritanischer Religiosität gingen nach Max Webers berühmten Studien über protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus ferner wichtige Impulse für das Wirtschaftsleben aus, sofern die durch die Prädestinationsfrage motivierte innerweltliche Askese die Voraussetzung rationaler Lebensführung und einer erfolgreichen kapitalistischen Ökonomie gewesen sein soll. Wie immer man diese These beurteilt, fest steht, dass der städtisch geprägte Calvinismus zu Unternehmertum sowie Zins- und Geldwirtschaft von vorden Niederlanden und in der angelsächsischen Welt auch zu neocalvinistischen Reaktionen, die teilweise bis ins 20. Jahrhundert nachwirkten.

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neherein ein offeneres Verhältnis hatte als das in überwiegend agrarischen Ländern verbreitete Luthertum.38

5. Luthertum, Calvinismus und postkonfessionalistischer Protestantismus Hält man sich an die Lehrdifferenzen im engeren Sinne, so betreffen die Gegensätze zwischen Luthertum und Calvinismus, wie bereits angedeutet, insbesondere die Abendmahlslehre, die Christologie und die Lehre von der Prädestination. Im Zentrum des Abendmahlsstreits stand das Problem der rechten Bestimmung der sakramentalen Gegenwart Jesu Christi; die damit eng verbundenen christologischen Streitigkeiten behandeln namentlich die Frage, in welcher Weise und inwieweit die menschliche Natur des erhöhten Gottmenschen der Hoheitseigenschaften seiner göttlichen Natur teilhaftig wird. In der Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung stritt man vor allem um die Annahme einer sog. doppelten Prädestination, d. h. einer Vorherbestimmung sowohl zum Guten als auch zum Bösen, die vom Calvinismus im Grundsatz gelehrt, vom Luthertum hingegen abgelehnt wurde. Es ist hier nicht darüber zu befinden, wie diese Lehrgegensätze sich in der Gegenwart darstellen bzw. inwiefern sie durch die 1973 abgeschlossene Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) als grundsätzlich überwunden gelten können. Festgehalten werden soll lediglich, dass sie mit dem Prozess der Konfessionalisierung und der Ausbildung, Stabilisierung und Steigerung konfessioneller Identität untrennbar verbunden sind. Im Protestantismusbegriff kündigt sich demgegenüber ein neues, nachkonfessionalistisches Zeitalter an, wenngleich auch dieser Terminus nicht selten auf einen konstitutiven Gegensatz hin angelegt ist. Glaubt man nämlich dem Urteil von Th. Nipperdey39, dann fühlen sich »im Anti-Katholizismus … 38 Die Auswirkungen des Calvinismus auf die Kunst lassen sich exemplarisch an der holländischen Malerei studieren, deren Vorliebe für realistische Alltagsdarstellungen wesentlich durch das kirchliche Bilderverbot bestimmt ist; von singulärer Bedeutung ist der existentielle Biblizismus Rembrandts. Ähnlich wie in der Malerei bewirkte der Calvinismus auch in der Musik eine Entsakralisierung und betonte Weltlichkeit; ferner ist auf den großen Einfluss alttestamentlicher Themen namentlich in der Oratorienproduktion zu verweisen. Für die calvinistisch geprägte Literatur sind besonders die an den Psalmen geschulten Poeme und epischen Werke John Miltons (1608 – 1674) signifikant. Zum eigentümlichen Charakter des Calvinismus vergleiche insgesamt: J.T. Mc Neill, The History and Character of Calvinism, New York 21967; E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften. Erster Band), Tübingen 1912; W. Walker, John Calvin the Organizer of Reformed Protestantism, 1509 – 1564, New York 31969; M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionsphilosophie I, Tübingen (1920) 9 1988. 39 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 432.

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5. Luthertum, Calvinismus und postkonfessionalistischer Protestantismus 37

auch die Nicht-Christen noch ›protestantisch‹«. Diese bemerkenswerte Beobachtung steht in Zusammenhang mit der terminologiegeschichtlichen Tatsache, dass für den neuzeitlichen und auch gegenwärtig noch geläufigen Protestantismusbegriff neben einer von konfessionellen Inhalten tendenziell abgehobenen Formalität in der Regel die ausgesprochene Alternative zum Katholizismus kennzeichnend ist. Erste Versuche, einen gegenüber innerreformatorischen Lehrstreitigkeiten indifferenten, lediglich auf die Antithese zum Katholizismus bezogenen Begriff des Protestantismus zu finden, gehen bereits in vorneologische Zeit zurück; seit der Aufklärung wurde die so verstandene und so zu verstehende Rede vom Protestantismus und seinem Wesen bzw. Prinzip dann allgemein und in ihrer Verwendung keineswegs mehr auf den engeren Kontext der Neologie beschränkt, wie etwa Schleiermachers Beispiel beweist. Nach seiner einflussreichen Definition »kann man den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, dass ersterer das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältnis zur Kirche«40. Wie immer man über das theologische Recht dieser Formel urteilen mag, charakteristisch ist, dass sie – wie ähnlich lautende andere – von der auf Union der Reformationskirchen abzielenden Voraussetzung ausgeht, dass die Lehrverschiedenheit namentlich zwischen Luthertum und Calvinismus keineswegs eine Prinzipiendifferenz, sondern lediglich eine Sache von Schulen darstelle, deren Einheit hinwiederum im Wesentlichen durch den Unterschied zum Katholizismus bestimmt sei. Sucht man neben der Ablehnung einzelner katholischer Glaubensbestände die Gemeinsamkeiten des Protestantismus inhaltlich näher zu bestimmen, so kann u. a. auf eine Hochschätzung der Hl. Schrift als öffentlicher, allgemeines Priestertum ermöglichender Norm des Glaubens, auf eine mehr oder minder ausgeprägte Reformwilligkeit, auf die traditionell kritische Haltung gegenüber kirchenleitenden Hierarchien und Monopolansprüchen, auf die Reduktion der sakramentalen Handlungen und die entschiedene Wortbestimmtheit kirchlicher Vollzüge, auf die zu bewusster Entscheidung drängende Glaubenshaltung usw. verwiesen werden. Solche Charaktisierungen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich unter dem Namen Protestantismus in historischer und sachlicher Hinsicht eine komplexe und differenzierte Fülle vielfältiger religiöser Erscheinungsgestalten verbirgt, welche zu übergehen oder einem abstrakten Sammelbegriff zu subsumieren mit dem in der Regel ebenso zum Wesenskennzeichen erklärten protestantischen Individualismus unvereinbar sein dürfte. Man muss daher nicht unbedingt ein Anhänger der Dialektischen Theologie sein, um ein gewisses Verständnis aufzubringen für den Wunsch Karl Barths: »Die Worte

40 F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin 21830, § 24.

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›protestantisch‹ und ›Protestantismus‹ sähe ich gerne aus unserem Sprachschatz verschwinden …«41 Im Blick auf das 16. Jahrhundert ist der Verzicht auf den modernitätsspezifischen Protestantismusbegriff aus Gründen der Anachronismusvermeidung ohnehin obligat. Denn im Kontext des Reformationszeitalters verweist der Protestantismusbegriff nicht auf einen reformationskirchlichen Generalnenner, sondern auf ein spezifisches reformationsgeschichtliches Ereignis, nämlich auf die »Protestation«, welche sechs evangelisch gesinnte Fürsten und vierzehn Städte Deutschlands im April 1529 auf dem Reichstag zu Speyer gegen einen wider die Reformation gerichteten Beschluss der katholischen Majorität einlegten.42 Eine Folge davon war, dass die Anhänger der Refor41 K. Barth, Ad Limina Apostolorum, Zürich 1967, 17. 42 Zu beachten ist, dass es sich bei der »protestatio« um eine bei mittelalterlichen Reichstagen geläufige und regelmäßig vorkommende Rechtsfigur handelte. »Die ›protestierenden Stände‹, wie es fortan hieß, beriefen sich jedoch zugleich auf ein landesherrliches Gewissensprinzip in Religionsfragen, die so auf lange Sicht ganz einer Mehrheitsentscheidung entzogen wurden. Das Auseinandertreten der Reichsstände in zwei Religionsparteien, ein religionsgeschichtlich wie verfassungsrechtlich folgenreicher Vorgang, hat hier seinen Anfang.« (J. Burkhardt, Frühe Neuzeit, 16.–18. Jahrhundert, Königstein/T. 1985, 85; vgl. E. Heuser, Die Protestation gegen den Reichstagsabschied von Speier, Neustadt 1904; H.-J. Becker, Protestatio, Protest. Funktion und Funktionswandel eines rechtlichen Instruments, in: Zeitschrift für historische Forschung 5 [1978], 385 – 412; ferner : H. Bornkamm, Die Geburtsstunde des Protestantismus. Die Protestation von Speyer [1529], in: ders., Das Jahrhundert der Reformation, a.a.O., 146 – 162. Zum Protestantismusbegriff vgl. im einzelnen J. Boehmer, Protestari und protestatio, protestierende Obrigkeiten und protestantische Christen. Zur Würdigung von Sinn und Auswirkung der Protestation[en] des Speierer Reichstags von 1529, in: ARG XXXI [1934], 1 – 22 sowie F.W. Graf, Einleitung – Protestantische Freiheit, in: ders./K. Tanner [Hg.], Protestantische Identität heute, Gütersloh 1992, 13 – 23.) Während bis 1648 nur die Angehörigen der lutherischen Religionspartei und noch nicht die Reformierten Protestanten genannt wurden, änderte sich dies mit dem Westfälischen Frieden, der neben den lutherischen auch den calvinistisch-reformierten Ständen eine »exacta mutuaque aequalitas«, also eine religiöse Gleichbehandlung mit dem Katholizismus im Alten Reich gewährte. Diese rechtliche Gleichstellung der beiden wichtigsten reformatorischen Religionsparteien war eine entscheidende historische Voraussetzung eines für den seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert geläufigen und in der Aufklärungszeit allgemein gewordenen Protestantismusbegriffs, der von nun an das bezeichnet, was Reformierte und Lutheraner im Gegensatz zum römischen Katholizismus miteinander verbindet. Dabei tritt im Laufe der Zeit der ursprüngliche reichsrechtliche Gehalt des Begriffs gänzlich zurück, mit welcher Entwicklung zugleich seine tendenzielle Entkonfessionalisierung einhergeht. Die Folge davon ist, dass der Begriff nicht nur in Oppositionen wie derjenigen von freiem Protestantismus und verfasster evangelischer Kirche Verwendung finden kann, sondern schließlich auch jene Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zu umfassen vermag, die sich nicht direkt von der Wirksamkeit der Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin herleiten lassen, sondern reformationsgeschichtliche Sonderbildungen darstellen, wie in Deutschland die baptistischen Gruppierungen oder die Sozinianer in Polen. Zu nennen wären ferner die Freikirchen der Brüdergemeine, der Quäker oder der Methodisten und vor allem die anglikanische Kirche, die üblicherweise dem Protestantismus zugerechnet wird, obwohl sie in der Reformationsgeschichte eine Stellung gänzlich eigener Art einnimmt. Selbst von einem Protestantismus innerhalb des römischen Katholizismus bzw. innerhalb der orthodoxen Kirchen kann unter den Bedingungen dieses Sprachgebrauchs die Rede sein. Anzumerken ist ferner, dass das Be-

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5. Luthertum, Calvinismus und postkonfessionalistischer Protestantismus 39

mation anfangs nur von ihren Gegnern Protestanten genannt wurden, während sie sich selbst am liebsten als »evangelici« bezeichneten. Zu erwähnen ist erneut, dass auch der Begriff »Lutheraner« keineswegs eine ursprüngliche Selbstbezeichnung der solchermaßen Benannten darstellt. Vielmehr handelt es sich dabei – wie bei der Rede von Calvinisten – um eine polemische, von den Gegnern geprägte Begriffsbildung. Erst später wird Luthertum zur Sammelbezeichnung für die Gesamtheit der Kirchen und ihrer Glieder, die in der, wenn auch nicht ausschließlich, so doch primär von Luther geprägten reformatorischen Tradition gründen, bzw. zur Sammelbezeichnung der von diesen Kirchentümern vertretenen Glaubenslehren und praktischen Lebenshaltungen. Auch wenn Luther den Ausdruck »Lutheranismus« nicht generell verworfen hat, wollten er und seine Anhänger etwa die Wendung »lutherische Kirche«, die erst nach 1580 allmählich unter den »Lutheranern« in Gebrauch kam, ausdrücklich vermieden wissen.43 wusstsein einer geschichtlichen Entwicklung des Protestantismusbegriffs in diesen selbst eingegangen ist, etwa in Gestalt der im 19. Jahrhundert aufgekommenen, nicht nur historiographisch bedeutsamen Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus, mit der sich vielfach der Streit verbindet, ob der genuine Protestantismus des 16. Jahrhunderts eine eher mittelalterliche oder neuzeitliche Erscheinung war. Während etwa bei Strauß, Feuerbach, Lagarde, Nietzsche und Hartmann der Altprotestantismus restlos in das Mittelalter eingeordnet und schroff vom modernen Geistesleben unterschieden wird, wird das Problem bei Hegel, Baur, Schelling u. a. entwicklungsgeschichtlich gelöst. Ambivalent schätzten Troeltsch und Weber die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt ein. Davon bleibt die Tatsache unberührt, dass die primär religiös motivierte Erscheinung des Protestantismus schon bald zu einer einflussreichen Kulturmacht geworden ist, worauf u. a. die – allerdings noch recht junge und in der Regel im polemischen Interesse der Unterscheidung eines wahren, evangelischen und eines falschen, der Moderne angepassten Protestantismus gebrauchte – Wortschöpfung »Kulturprotestantismus« hinweist. (Vgl. insgesamt: G. Hornig, Art. Protestantismus, in: HWPh 7, Sp. 1529 – 1536.) 43 Zu den bemerkenswerten Zusammenhängen zwischen Konfessionsbezeichnungen und konfessionellem Identitäts- bzw. Abgrenzungswillen vgl. Reinhard, a.a.O., 187 f: »Die vagen Gruppenbezeichnungen der Frühzeit, denen wir heute noch mit Begriffen wie ›Altgläubige‹ oder ›Neugläubige‹ Tribut zollen müssen, weichen … den bekannten Konfessionsnamen. Die Lutheraner bevorzugen zunächst ›Evangelische‹ oder aus juristischen Gründen ›Augsburger Konfessionsverwandte‹. Der zuerst von Eck 1520 gebrauchte Begriff ›lutherisch‹ wurde wegen theologischer Bedenken und wegen des polemischen Gebrauchs durch Katholiken und Reformierte als Selbstbezeichnung lange abgelehnt. Erst nach der Konkordie wurde ›lutherisch‹ als stolzes Prädikat des Besitzes der nunmehr gesicherten reinen Lehre des Reformators angenommen, der Begriff ›lutherische Kirche‹ aber vermieden. Soweit sich die Anhänger Calvins nicht wie diejenigen Luthers als ›Evangelische‹ oder im Gegensatz zu den Altgläubigen schlicht als›Christen‹ bezeichneten, nannten sie ihre Gemeinden ›glises rformes‹ und sich selbst ›Reformierte‹. Damit sollte die Überlegenheit über das Luthertum betont werden, das dem Papismus noch Zugeständnisse gemacht hatte. ›Calvinist‹ war eine 1553 auftauchende polemische Fremdbezeichnung beider Gegner und blieb es noch lange. Die ehrwürdige Bezeichnung ›katholisch‹ wurde zunächst von allen Richtungen in Anspruch genommen. Es gelang jedoch der alten Kirche, diesen Begriff für sich zu retten, so daß er heute in evangelischen Glaubensbekenntnissen nur in übersetzter Form als ›allgemein‹ auftauchen darf, um nicht konfessionelle Verwirrung zu stiften.«

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6. Konfession und Bekenntnis Die Begriffe Bekenntnis und Konfession haben im Laufe der durch die Reformation bestimmten Geschichte einen Bedeutungswandel erfahren, an dem sich nicht lediglich ein semasiologischer Befund ablesen lässt, sondern das historische Gesetz einer Epoche. Wenngleich beide Termini bis heute einen personalen Akt der Glaubensäußerung sowie dessen inhaltliche Dokumentation benennen können, so ist doch im Zuge der neueren Wortgeschichte die Verwendung der Begriffe als kirchliche Gruppenbezeichnung führend geworden. Konfession heißt dann soviel wie Denomination, nämlich eine bestimmte christliche Glaubensgemeinschaft. Eine analoge Primärkonnotation hat sich mittlerweile auch mit dem Begriff des Bekenntnisses verbunden. Nun lässt sich die Bedeutung von Konfession als Bezeichnung einer Sonderorganisation zwar »nicht vor 1800 nachweisen«44, was als ein Beleg dafür gewertet werden mag, dass die lebendige Erinnerung an genuine Bedeutungsgehalte des Bekenntnis- oder Konfessionsbegriffs einseitig gruppenspezifische Fixierungen im Sinne denominationeller Verwendung geraume Zeit verhindert hat.45 Nichtsdestoweniger existiert »die Sache . . ., um die es geht, die Konfessionskirche, … lange vorher«46. Die gruppenspezifische Festlegung des Konfessionsbegriffs, wie sie sich für das 19. und 20. Jahrhundert nachweisen lässt, ist daher keine eigentliche Neuerung, sondern zieht nur die Konsequenz aus einer Entwicklung, die das Reformationszeitalter charakteristisch kennzeichnete und deren terminologische Folge durch Wendungen wie »Anhänger der Augsburger Konfession« gleichsam vorherbestimmt war. In signifikanter Weise ist sonach der Bedeutungswandel des Konfessionsbegriffes paradigmatisch für das, was üblicherweise und nicht von ungefähr als Prozess der Konfessionalisierung umschrieben wird. 44 W. Reinhard, a.a.O., 165, Anm. 1. Dort finden sich auch Verwendungshinweise für nichtdeutsche europäische Sprachen. Zur Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit des Bekenntnisbegriffs und seiner rechtlichen Handhabung im konfessionell gespaltenen Reichskirchenrecht vgl. M. Heckel, Reichsrecht und »Zweite Reformation«, in: H. Schilling (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland, a.a.O., 11 – 43, bes. 15 ff, 19 ff. Sehr bemerkenswerte Erwägungen zum evangelisch-theologischen Bekenntnisbegriff finden sich 26 f. 45 Nach Reinhard hängt der Begriff der Konfession als einer kirchlichen Gruppenbildung »in Deutschland mit den evangelischen Unionen, der neulutherischen Reaktion und dem ›klassischen‹ Zeitalter konfessioneller Auseinandersetzung im 19. Jahrhundert« ursächlich zusammen. (Reinhard, ebd.) Dieser Befund wird bestätigt durch F.W. Graf, »Restaurationstheologie« oder neulutherische Modernisierung des Protestantismus? Erste Erwägungen zur Frühgeschichte des neulutherischen Konfessionalismus, in: W.-D. Hauschild (Hg.), Das deutsche Luthertum und die Unionsproblematik im 19. Jahrhundert, Gütersloh 1991, 64 – 109, wo es 66 f, Anm. 15 heißt: »,Konfession‹ als Gruppenbezeichnung löst um 1800 die bis dahin dominierenden Begriffe ›Religionspartei‹, ›Glaubenspartei‹, ›Konfessionsverwandte‹ und ›Protestantische Hauptparteien‹ ab.« 46 W. Reinhard, a.a.O., 165.

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Konfession und Bekenntnis

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Der Prozess der Konfessionalisierung, den die Terminologiegeschichte des Bekenntnis- und Konfessionsbegriffs in nuce, wenngleich mit eigentümlicher Verspätung reflektiert, schreitet spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts laufend fort, um im 17. Jahrhundert sowohl seinen Höhepunkt als auch seinen historischen Niedergang zu erleben. Dabei ist unter Konfessionalisierung nicht nur Konfessionsbildung im Sinne »geistige(r) und organisatorische(r) Verfestigung der seit der Glaubensspaltung auseinanderstrebenden verschiedenen christlichen Bekenntnisse zu einem halbwegs stabilen Kirchentum nach Dogma, Verfassung und religiös-sittlicher Lebensform«47 zu verstehen, sondern eine konfessionalistische Durchdringung und Formierung der gesamten Sozialgemeinschaft einschließlich des Rechtslebens und der Wissenschaft. Eng verbunden ist dieser Prozess der »Durchkonfessionalisierung«48 in Deutschland mit Genese und Ausbildung des frühabsolutistischen territorialen Fürstenstaats und seiner institutionell und flächenmäßig organisierten Sozialdisziplinierung, die historisch als epochaler Modernierungsschub zu beurteilen sind. Folgt man H. Schilling, dann sind es vor allem drei komplexe Zusammenhänge, die der deutschen Geschichte im Aufgang der Neuzeit die Richtung gewiesen haben: »– die frühmoderne Staatsbildung, die in den meisten europäischen Ländern Nationalstaatsbildung, in Deutschland dagegen Territorialstaatsbildung unter dem Dach eines vorstaatlichen Reiches war ; – die frühneuzeitliche, den endgültigen Umbruch Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts vorbereitende Modernisierung, die über die mit Staatsbildung bezeichnete politische Modernisierung hinaus einen gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Fundamentalvorgang der europäischen Neuzeit ausmacht; – die Konfessionalisierung, die nicht als Rückschlag, sondern als ein spezifischer Teil der frühneuzeitlichen Modernisierung begriffen wird, der in dem zwischen drei Konfessionskirchen gespaltenen Reich besonders ausgeprägt war und daher innerhalb einer deutschen Geschichte besondere Beachtung verlangt. Das alles läuft auf die These von einer Vorachsenzeit im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts hinaus, in der sich bereits vieles an staatlicher und gesellschaftlicher Formierung anbahnte, das in der

47 E. W. Zeeden, a.a.O., 251. 48 A.a.O., 297. »Die Herausbildung konfessionell unterschiedlicher Kirchentypen gehört mit zu den Hauptvorgängen der europäischen wie besonders der deutschen Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert. Sie vollzieht sich in einem Prozeß, der nicht nur das Kirchliche berührt, sondern auch die Lebensbereiche des Politischen und Kulturellen, überhaupt alles Öffentliche und Private, in Mitleidenschaft reißt.« (A.a.O., 249) Das Verfahren der Konfessionalisierung ist unter Berufung auf Zeeden beschrieben worden bei Reinhard, a.a.O., 179 ff. Zur Verbreitung und Durchsetzung der konfessionellen Normen bediente man sich neben Propaganda und Zensur insonderheit der Ausbildungstätten. »Ziel war eine konfessionell homogene Bevölkerung« (a.a.O., 184), welche die Konfessionswerte bereits im Sozialisationsprozeß internalisiert hatte. Als Instrumente der Disziplinierung der Geistlichen sind insbesondere Vereidigungen und Visitationen zu nennen. Vgl. W. Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff »Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit«, in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), 265 – 302.

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nachfolgenden Krise nochmals in Frage gestellt wurde und sich daher erst seit dem ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert fest zu etablieren vermochte.«49

7. Das Konfessionalisierungsparadigma der Frühneuzeithistoriographie In der Konsequenz dieser These hat Schilling dem Zustandekommen der Konkordienformel von 1577 und des Konkordienbuches von 1580 den Charakter eines epochal zu nennenden Datums zuerkannt. Bezeichnend dafür ist, dass er seine Darstellung der Konfessionalisierung Deutschlands unter der Überschrift »Trient, Genf und Kloster Bergen« beginnt50. Mit katholischer Erneuerung51, dem Aufstieg des Calvinismus und der Neuformierung des 49 H. Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517 – 1648, Berlin 1988, 11 f. In Anbetracht dieses Sachverhaltes stellt sich der neueren Forschung »das Problem der historischen Periodisierung wesentlich komplizierter dar, als es die (dem jeweiligen Modernitätsbewußtsein verpflichtete) Schematik von ›Mittelalter‹ und ›Neuzeit‹ suggeriert. Insbesondere handelt es sich bei dem ›langen‹ 16. und dem ›krisenhaften‹ 17. Jahrhundert, politisch und sozial, religiös und theologisch, um mehr und anderes als eine Reprise des Mittelalters: um eine Epoche eigener Physiognomie, in der alte und neue Motive, Faktoren und Formen des geschichtlichen Lebens sich eigentümlich konstellieren. Sie erscheint als gesamtgesellschaftlicher Modernisierungsprozess, in dem die Konfessionalisierung der in der Reformationszeit gespaltenen Kirche zu drei juridisch und organisatorisch selbständigen, dogmatisch und spirituell eigenartigen Kirchen ein konstitutives Element bildet. Die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus hat, jedenfalls im Sinne der Prädikate ›mittelalterlich‹ und ›neuzeitlich‹ ihre erschließende Kraft verloren. Als fruchtbarer hat es sich erwiesen, eine Frühe Neuzeit (,Early Modern History‹) zwischen der Reformation des 16. und den Revolutionen des 18. Jahrhunderts zu rekonstruieren.« (W. Sparn, Preußische Religion und lutherische Innerlichkeit. Ernst Troeltschs Erwartungen an das Luthertum, in: F.W. Graf/T. Rendtorff [Hg.], Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation [Troeltsch-Studien Bd. 6], Gütersloh 1993, 152 – 177, hier : 167 unter Verweis auf E. Hinrichs, Einführung in die Geschichte der Frühen Neuzeit, München 1980 sowie K. v. Greyertz [Hg.], Religion and Society in Early Modern Europe, London 1984.) Einen guten Überblick über »die geistesgeschichtliche Einordnung der Reformation« gibt H. Rückerts gleichnamiger Beitrag in: ders., Vorträge und Aufsätze zur historischen Theologie, Tübingen 1972, 52 – 70. Zu dem Versuch, »aus der Unterscheidung zwischen Entstehungsbedingungen und eigenem Grund der Neuzeit« die »Differenzierung zwischen früher N(euzeit) und der als Moderne sich selbst erfassenden N(euzeit)« zu gewinnen, vgl. F. Wagner, Art. Neuzeit, in: EKL3 Bd. III, Sp. 699 – 704, hier : 700. 50 H. Schilling, a.a.O., 267 ff. 51 Die Ursprünge einer Restauration des Katholizismus liegen in Spanien, wo Ignatius von Loyola den 1540 päpstlich bestätigten Regularklerikerorden »Societas Jesu« stiftete, dessen straff militärische Verfassung einzig auf die Herstellung der Alleinherrschaft der römisch-katholischen Kirche durch Bekehrung der Ketzer und Heiden ausgerichtet war. Auch anderwärts kam es zu antireformatorischen Reaktionsbewegungen großen Stils, wobei das Konzil von Trient mit der theoretischen und praktischen Abgrenzung gegen den »Protestantismus« zugleich eine ernsthafte Reform der innerkatholischen Verhältnisse erbrachte. Auf dieser Grundlage basierte die Gegenreformation, welche das über 100 Jahre währende Zeitalter der freilich keineswegs nur

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Das Konfessionalisierungsparadigmader Frühneuzeithistoriographie

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deutschen Luthertums sind nach seinem Urteil die äußerlich betrachtet vielfach konträr verlaufenden, genauer besehen aber sachlich weitgehend korrespondierenden Entwicklungen benannt, die im letzten Viertel des Reformationsjahrhunderts zur Ausdifferenzierung dreier bekenntnismäßig und rechtlich scharf abgegrenzter Konfessionskirchen und zur Verfestigung ihres institutionellen und ideologischen Gegensatzes führten. »Nun existierten in sich geschlossene Weltanschauungssysteme mit Ausschließlichkeitsanspruch. Das betraf nicht nur den jeweils als einzig richtig angesehenen Weg zum Heil mit seinen religiösen Praktiken und kirchlichen Institutionen, sondern auch weite Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens.«52 Seine ideologisch exklusive weltanschauliche Strukturierung und Durchorganisation war nach Schilling eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Etablierung und Befestigung des frühmodernen Fürstenstaates, dessen Bürokratie und Zentralregierung eine immer differenziertere und effektivere Gestalt annimmt. In diesem Sinne bedeutet die Konfessionalisierung »einen jener Fundamentalvorgänge, die die europäische Neuzeit hervorbrachten«53. Dass der im Rahmen der Konfessionalisierung vollzogene politische und gesellschaftliche Wandel das späte 16. Jahrhundert als Vorsattelzeit der Moderne kennzeichnet, wird nach dem Urteil Schillings durch das Schicksal des mittelalterlichen Kaiserreiches bestätigt, das als vor- und überstaatliche Institution zwar noch weit in die Frühmoderne und Moderne hineinragt, machtpolitisch aber seit der Abdankung Karls mehr und mehr hinter den Einfluss der Fürsten zurücktritt, die in ihren Territorien zu Trägern der frühneuzeitlichen Staatlichkeit werden. Zwar sah es nach der großen Zeit der Fürstenreformation in den vierziger Jahren bzw. um die Mitte des Jahrhunderts noch einmal so aus, als könne es dem Kaiser gelingen, »Reformation und Fürstenmacht zu brechen und an die Stelle von Territorialität und Mehrkonfessionalität doch noch die Katholizität eines einheitlichen Kaiserstaates zu setzen«54. Doch schon der nach Maßgabe des Passauer Vertrags zustande gekommene Augsburger Religionsfrieden, in dessen Folge Bikonfessionalität, später dann sogar Trikonfessionalität und Multiterritorialität unter dem Dach des vorstaatlichen Reiches gewährleistet wurden, beendete Karls Pläne katholisch-cäsaristischer Einheitlichkeit. Sein Bruder, Ferdinand I., anerkannte das historische Vorrecht der Fürsten auf frühmoderne Staatsbildung und Machtakkumulation in ihren Territorien an, für welche Staatsbildung die fortschreitende, im letzten Drittel des Jahrhunderts sich vollendende Konfessionalisierung ein entscheidendes, wenn nicht das entscheidende Datum darstellte. religiös, sondern mindestens ebenso sehr politisch motivierten europäischen Konfessionskämpfe heraufführte. 52 H. Schilling, a.a.O., 274. 53 A.a.O., 275. 54 A.a.O., 227.

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Während vom Niedergang des universalmonarchischen, an der Idee der unio imperii et ecclesiae orientierten Herrschaftsprogramms Karls sogleich noch ausführlich die Rede sein wird, sei hier nur vermerkt, dass zu einem gerechten Urteil über die Epoche der Konfessionalisierung die Einsicht in die Unvermeidbarkeit einer Phase der Reaktion gegen Auflösung und Ordnungsverlust im Anschluss an die Veränderungen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts notwendig hinzugehört. Die territorialstaatliche Konfessionalisierung, die angesichts der unzureichenden Ausbildung anderer gesellschaftsintegrativer Elemente als ein wesentliches Instrument sozialer Sinnstiftung und frühneuzeitlicher Herrschaftstechnik zu betrachten ist, kann in dieser Perspektive als der Versuch gewertet werden, vielfältige Innovationen des »langen« 16. Jahrhunderts zu kontrollieren und zu entschärfen.55 Hält man sich vor Augen, dass die Rückbesinnung auf einheitliche Ordnungsprinzipien, wie sie sich in der konfessionellen Unifizierung der Territorien als wirksam erwies, ihrerseits keineswegs bloß traditionalistische, sondern modernitätsförderliche Folgen zeitigte, so wird man auch in dieser Hinsicht das ausgehende 16. und das beginnende 17. Jahrhundert nicht länger als eine Periode bloßer Epigonen betrachten, sondern als eine Zeit, in der sich Traditionalität und Modernität in eigentümlicher Weise verschränkten.56 55 Vgl. im Einzelnen W. Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1500 – 1618, Frankfurt a.M. 1987, 7 ff sowie ders., Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhunderts als Problem von Statik und Dynamik, in: ders. (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988. Über den Zusammenhang zwischen religiösen und ökonomischen Verschiebungen des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. H.R. Trevor-Roper, Religion, Reformation und sozialer Umbruch. Die Krisis des 17. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Berlin 1967. Am Beispiel der Hexenverfolgungen versucht Trevor-Roper zu belegen, dass Reformation und Gegenreformation, auf deren Konflikt er die Wiederbelebung des Hexenwahns während der sechziger Jahre des 16. Jahrhunderts vor allem zurückführt, die Lebensdauer der mittelalterlichen Synthese künstlich verlängerten. Zerstört worden sei sie erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts – »und durch die durchbrochene Kruste floß das verschlammte Wasser ab« (179). 56 Erst neuerdings ist besagte Zeit wieder Gegenstand intensiver Forschungen geworden, nachdem vorher zumeist die Absagen und Verdikte vorherrschend waren, auch wenn sie inhaltlich verschieden ausfielen. Signifikant ist allein schon die Tatsache, dass es abgesehen von knappen Überblicken in Lexika, Lehrbüchern und Kompendien im 20. Jahrhundert nur drei größere wissenschaftliche Werke über die Kirchen- und Theologiegeschichte des späten 16. und des nachfolgenden 17. Jahrhunderts gibt, nämlich die theologiegeschichtlich angelegten Arbeiten von Otto Ritschl (Dogmengeschichte des Protestantismus I–IV, Leipzig 1908/12, Göttingen 1926/27) und Hans Emil Weber (Reformation, Orthodoxie und Rationalismus I–II, Gütersloh 1937 – 1951, Darmstadt 1966) sowie die Kirchengeschichte Karl Müllers, die eine umfangreiche Darstellung der abendländischen Kirchengeschichte von 1560 – 1688 enthält (vgl. K. Müller, Kirchengeschichte II,2, Tübingen 1923, 11 ff). Zu nennen wäre ferner als ein Werk eigener Art Werner Elerts »Morphologie des Luthertums« (Erster Band: Theologie und Weltanschauung des Luthertums hauptsächlich im 16. und 17. Jahrhundert, München 1931. Zweiter Band: Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums, München 1932). Über die Philosophiegeschichte der Zeit vgl. u. a. S. Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550 – 1650, Berlin 1988, 21993. Zur deutschen Lyrik im konfessionalistischen Zeitalter vgl. die Monographie von H.-G. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 2: Konfessionalismus, Tübingen 1987. Berechtigte Einwände gegen Kemper finden sich bei J. Baur, Lutheri-

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Das Konfessionalisierungsparadigmader Frühneuzeithistoriographie

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Was das Luthertum bzw. die lutherischen Territorien betrifft, so ist der Prozess ihrer Konfessionalisierung bereits eingehend untersucht und detailliert beschrieben worden.57 Orientiert man sich vorrangig an Lehrfragen, so liegt es nahe, zwischen einer Konfessionalisierung nach innen und einer Konfessionalisierung nach außen zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden. Für erstere ist nach W. Sparn namentlich die im Kontext der Abendmahlslehre entwickelte Christologie, für letztere der Erwählungsgedanke wichtig und charakteristisch geworden.58 Beide konfessionsspezifischen Lehrbildungen haben – wenn auch noch nicht definitiv, so doch im Grundsatz erkennbar – bereits in der Konkordienformel ihren Niederschlag gefunden. Was die Christologie betrifft, die den zumindest bis ins erste Drittel des 17. Jahrhunderts am intensivsten bearbeiteten theologischen Topos des Luthertums darstellt, so wurde sie durch FC VIII zu einem eigentümlichen Kennzeichen der sich umbildenden lutherischen Konfessionskirche erklärt, dessen »Anerkennung ein unabdingbares Moment der Kirchenzugehörigkeit war, und zwar nicht nur für Theologen und Pfarrer, sondern darüber hinaus für die politischen Eliten und kulturellen Multiplikatoren«59. Analoges ist – bei stärkerer Betonung des Außenbezugs des Konfessionalisierungsprozesses – im Blick auf die in FC XI entwickelte Erwählungslehre zu sagen, die auf den polemischen Gegensatz zur calvinistischen Prädestinationslehre fixiert ist, welche ihrerseits zum Zentrum spezifischer Ausgestaltung reformierter Tradition werden sollte. Kurzum: Die Entwicklung der evangelischen Bekenntnisbewegung tendiert auf Konfessionen im denominationellen Sinne des Begriffs. Für das Luthertum ist die Konkordienformel im Verein mit dem Konkordienbuch ein exemplarisches Beweisdokument für diesen Trend.

sches Christentum im konfessionellen Zeitalter – ein Vorschlag zur Orientierung und Verständigung, in: ders., Einsicht und Glaube. Bd. 2, Göttingen 1994, 57 – 74, hier bes. 58, 62 ff. 57 H.-C. Rublack (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, Gütersloh 1992. Weitere Literatur enthält in diesem Band der Beitrag von J. Wallmann, Lutherische Konfessionalisierung – ein Überblick, a.a.O., 33 – 53. Rublack selbst bietet a.a.O., 13 – 32 eine Übersicht zur Problemlage der Forschung zur lutherischen Orthodoxie in Deutschland. 58 Vgl. im Einzelnen W. Sparn, Die Krise der Frömmigkeit und ihr theologischer Reflex im nachreformatorischen Luthertum, in: H.-C. Rublack (Hg.), a.a.O., 54 – 82; zur Konfessionalisierung des theologischen Berufs vgl. 71 ff. 59 »Eine differenzierte Christologie wird zum qua ›Bekenntnis‹ zu internalisierenden Identifikationsmerkmal einer Kirche erhoben, die sich aber dadurch nicht als eine neben anderen Konfessionskirchen konstituiert sieht, sondern als vera ecclesia catholica versteht. Andere Kirchen, die diesem Christusverständnis in ihrer offiziellen Lehre widersprechen und durch die ihnen zugehörigen Theologen bestreiten, gelten als häretisch oder zumindest – in abgestufter Weise – als schismatisch.« (J. Baur, Lutherische Christologie, in: H.-C. Rublack [Hg.], a.a.O., 83 – 124, hier : 88 f. Zum Thema »Die lutherische Christologie im Kontext der Gestaltwerdung lutherischen Christentums« vgl. die gleichnamige Studie Baurs in: ders., Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen, Tübingen 1993, 164 – 203 sowie die a.a.O., 115 – 289 gesammelten Texte.)

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8. Corpora Doctrinae und evangelischer Glaube Stellt sonach Konfessionalisierung zweifellos einen festen Bestandteil der Bekenntnisbildung Wittenberger Reformation dar, wie er funktionsäquivalent auch im Hinblick auf Genf und Trient zu konstatieren ist, so wäre es doch verkehrt, den besagten Bekenntnisbildungsprozess ausschließlich in konfessionalistischer Perspektive erfassen zu wollen. Denn dass Konfessionalisierung im Sinne spezifischen Luthertums nur als ein Element bzw. als ein Moment Bestandteil der Bekenntnisbildung Wittenberger Reformation ist, bestätigt auf ihre Weise auch und gerade die Konkordienformel als das sozusagen konfessionalistischste Bekenntnis im Konkordienbuch.60 Denn die Konkordienformel weiß sich nach Maßgabe ihres Inhalts nicht nur in einer für ihr Selbstverständnis konstitutiven Weise vom Zeugnis der Schrift unterschieden, an dem überprüft zu werden ihr ausgesprochener Wille ist; sie will zugleich nicht für sich allein, sondern im Kontext mit anderen Bekenntnisschriften, namentlich im Kontext der CA gelesen werden, wofür bereits der historische Zusammenhang von FC und Konkordienbuch ein eindeutiger Beleg ist. Dabei kann der erhobene Anspruch auf Auslegungsauthentizität nicht bedeuten, die Stimme der CA sei differenzlos in diejenige der FC zu überführen. Der Authentizitätsanspruch der FC ist vielmehr deren Selbstverständnis zufolge überhaupt nur unter der Bedingung rechtens zu erheben und angemessen wahrzunehmen, dass er den Text, dessen verbindliche Interpretation er zu leisten beansprucht, nicht eskamotiert, sondern buchstäblich zur Geltung bringt. Der Text der FC kann nur kontextuell, im Kontext weiterer Bekenntnisschriften recht verstanden werden – und zwar nach Maßgabe seines eigenen Verständnisses. Entsprechend gilt, dass das eigentümliche Wesen des Luthertums nur aus jenem evangelischen Glauben heraus sich erschließt, welcher nach reformatorischer Einsicht mit dem christlichen Grundzeugnis übereinkommt, wie es in der Schrift beurkundet und in den altkirchlichen Symbolen komprimiert zum Ausdruck gebracht ist. Es verdient bemerkt zu werden, dass confessio nach üblichem mittelalterlichen Sprachgebrauch einen der drei Elementarbestandteile des Bußsakraments neben contritio und satisfactio bezeichnet. Im Zusammenhang des Verständnisses von confessio als Beichte steht ferner die auf Augustin zurückzuführende Gegenüberstellung von confessio laudis und confessio peccatorum, von Lobpreis und Sündenbekenntnis. Daneben ist die Terminologie mittelalterlicher Messerklärungen bedeutsam, »für die der dreifache Heiligruf 60 »Auch die Konkordienformel hat ja die Idee der die streitenden Religionsparteien umfassenden gemeinsamen Christenheit noch keineswegs preisgegeben, wie ja diese Idee bekanntlich gerade den Lutheranern selbst im 17. Jahrhundert noch teuer war.« (G. Kretschmar, Die Bedeutung der Confessio Augustana als verbindliche Bekenntnisschrift der Evangelisch-Lutherischen Kirche, in: H. Fries u. a., Confessio Augustana. Hindernis oder Hilfe?, Regensburg 1979, 31 – 77, hier : 64.)

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der Seraphen, das Sanctus am Ende der Präfation, ›Confessio‹, Bekenntnis der Trinität ist, im ›Benedictus‹ weitergeführt zum Kanon als ›Bekenntnis‹ zu dem im eucharistischen Mahl, in Brot und Wein, gegenwärtigen Christus«61. Folgt man Georg Kretschmar, dann schließt der für die anfängliche Wittenberger Reformation charakteristische Bekenntnisbegriff insonderheit an letztgenannte Redeweise kirchlicher Tradition an.62 Kretschmar belegt dies vor allem mit Luthers 1528 erschienener Schrift »Vom Abendmahl Christi«, deren dritter und abschließender Teil den Titel »Bekenntnis« trägt: Daran zeige sich in der nötigen Deutlichkeit, wie eng für den Reformator Bekenntnis zur Gegenwart Christi im Herrenmahl und Trinitätsbekenntnis zusammengehörten. Aus dem gottesdienstlich situierten und mit der dankbaren Annahme sakramentaler Heilspräsenz Christi untrennbar verbundenen Bekenntnis zum dreieinigen Gott entwickelt Luther nach Kretschmar sodann »unverbrüchlich gültige Lehraussagen, also eine Lehrnorm, und bemüht sich, alle Kontroverspunkte in dieses Schema einzufangen«63. Damit war eine neue theologische Weise, vom Bekenntnis zu reden, ausgeprägt. Bekenntnis heißt nun jenes Gefüge von Glaubensaussagen über Trinität, Christologie, Soteriologie, Pneumatologie, Ekklesiologie etc. bis hin zur Eschatologie, welche den katechismusartig aufgelisteten Inhalt des dritten Teils der Schrift »Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis« ausmachen. Dieser Sprachgebrauch sollte für das Bekenntniskonzept Wittenberger Reformation insgesamt kennzeichnend werden.64 61 G. Kretschmar, a.a.O., 34 unter Verweis auf Gabriel Biel, Canonis missae expositio, hom. XIX, ed. H.A. Oberman/W.G. Courtenay, Wiesbaden 1963, I, 164 ff. 62 Im Unterschied zu Kretschmar ist W. Brandmüller bemüht, mit Nachdruck den Kontinuitätsbruch zwischen reformatorischem Bekenntnis und patristisch-mittelalterlicher confessio fidei herauszustellen. Die Confessio Augustana bietet ihm dafür einen exemplarischen Beleg: »Im Gegensatz zur Überlieferung formulierten weder Papst noch Konzil den Text des Bekenntnisses, sondern die der Häresie verdächtigten Gläubigen, nämlich Fürsten und Städte, bzw. von diesen beauftragte Theologen und Juristen. Dieses so entstandene Bekenntnis wurde auch nicht der obersten glaubensrichterlichen und für die Wahrung der kirchlichen Einheit zuständigen Instanz, also Papst oder Konzil, sondern Kaiser und Reichsständen vorgelegt. Im Gegensatz zur Überlieferung werden überdies gerade nicht die bestrittenen Glaubensinhalte zum Gegenstand des Bekenntnisses gewählt, sondern wird vielmehr der Nachweis versucht, daß die Unterzeichner nichts anderes glaubten und lehrten als die katholische Kirche. Aus diesem Grunde wurden gerade die besonders heftig bestrittenen Materien bewußt übergangen. Allein schon an diesen formalen Merkmalen wird, unabhängig vom Inhalt der Confessio Augustana, die Tatsache eines fundamentalen Bruches mit der kirchlichen Überlieferung sichtbar – eines Bruches, dessen Nichtvorhandensein zu beweisen die CA abgefaßt worden war.« (W. Brandmüller, Der Weg zur Confessio Augustana, in: W. Reinhard [Hg.], Bekenntnis und Geschichte, 31 – 62, hier : 39) 63 G. Kretschmar, a.a.O., 35. 64 Hervorzuheben ist, dass Kretschmar in Konsequenz seiner Beobachtung, dass das Wort »Bekenntnis« seinen festen Ort in der mittelalterlichen Messliturgie hat, nachdrücklich den engen Bezug der Termini »Bekenntnis« und »bekennen« zum Sakrament des Altars akzentuiert, wie er in Luthers Abendmahlsschrift von 1528 gegeben ist. (Zum Zusammenhang von Bekenntnis und Sakrament vgl. auch die Studie von W. Maurer, Bekenntnis und Sakrament. Ein Beitrag zur

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Trifft diese Rekonstruktion zu, dann steht der reformatorische Begriff des Bekenntnisses in einem engen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem im sakramentalen Mahl zentrierten gottesdienstlichen Geschehen, und es kann namentlich im Hinblick auf das ursprüngliche Confessio-Verständnis Luthers, wie es sich 1528 in testamentarischer Form zu erkennen gibt, gesagt werden: »Das Bekenntnis schlägt die Brücke vom Gottesdienst der Gemeinde zur eschatologischen Verantwortung des Lehrers in der Gemeinschaft der ganzen rechtgläubigen Kirche, eben weil das Bekenntnis stets, im Gottesdienst und im Endgericht, den Bekennenden vor Gottes Majestät stellt, den gegenwärtigen und den künftigen Richter.«65 Dieses genuine Bekenntnisverständnis Wittenberger Reformation ist nach Kretschmar mehr oder minder latent auch dort noch vorauszusetzen, wo sich Bekenntnis »zur Bezeichnung für eine bestimmte literarische Gattung kirchlicher Texte«66 entwickelte, wie das bereits im Vorfeld der Confessio Augustana der Fall war. Trotz und unbeschadet der fortschreitenden terminologischen Festlegung des Wortes im Sinne einer literarischen Gattung sei die Erinnerung an den genuinen – gottesdienstlich, gesamtkirchlich und eschatologisch ausgerichteten – Sitz im Leben des Begriffs durchaus erhalten geblieben, auch wenn das doktrinelle Interesse an verbindlichen Lehrformeln, wie es schließlich in der Sammlung von Bekenntnisschriften zu normativen, auf Abgrenzung bedachten Corpora Doctrinae am Werke ist, diese Erinnerung gelegentlich verblassen ließ. Dieses Gedächtnis des originären Bekenntnisverständnisses Wittenberger Reformation gilt es auch fernerhin wachzuhalten bzw. zu erneuern und das umso mehr, als der Begriff der Konfession im Laufe der Zeit »zum Kennzeichen und dann geradezu zur Bezeichnung für partikulares Kirchentum«67 geworden ist. Wenn Bekenntnis nicht aus der Koinonia des Leibes Christi heraustritt, sondern, wie das bei Luther 1528 der Fall ist, dezidiert in deren Zusammenhang geübt und gepflegt wird, trägt es die Verheißung in sich, »die gegeneinander stehende Partikularität denominationeller Kirchentümer« Entstehung der christlichen Konfessionen. Teil I: Über die treibenden Kräfte in der Bekenntnisentwicklung der abendländischen Kirche bis zum Ausgang des Mittelalters, Berlin 1939.) Das Bekenntnis zu dem im sakramentalen Mahl realpräsenten Herrn ist für Luther »nicht abzulösen vom Glauben und Bekenntnis gegenüber dem dreieinigen Gott und der Menschwerdung des Sohnes Gottes, wie sie im zweiten Artikel des Apostolischen Symbols beschrieben wird. Damit enthält das Wort Bekenntnis für Luther implizit die Ausrichtung auf das Ganze des christlichen Glaubens, nicht nur einen einzelnen, vielleicht isolierten Streitpunkt. Umgekehrt wird gerade unter diesem Gesichtspunkt deutlich, daß Glaube nicht ein Wissen um Glaubenswahrheiten ist – so unbestreitbar er solche Gewißheiten einschließt –, sondern unmittelbare Ausrichtung auf Gott selbst; Glaube ist Anbetung und Lobpreis und fordert deshalb auch Bekenntnis.« (Kretschmar, 103 f) 65 G. Kretschmar, Der christliche Glaube als Confessio. Die Herkunft des lutherischen Bekenntniskonzepts, in: P. Neuner/H. Wagner (Hg.), In Verantwortung für den Glauben. Beiträge zur Fundamentaltheologie und Ökumenik, Freiburg/Basel/Wien 1992, 87 – 116, hier : 104. 66 A.a.O., 105. 67 A.a.O., 87.

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(Kretschmar, 111) statt zu befestigen zu beheben und in jene universale Gemeinschaft zu überführen, zu der die Kirche als der durch die Gegenwart des Herrn beseelte Leib Christi ihrem Wesen nach bestimmt ist.68

9. Konfessionsstreit und politische Ordnung Als Kaiser Karl V. am 21. September 1558 in der Einsamkeit von San Jernimo de Yuste starb, sank mit ihm »das alte Kaiserideal ins Grab der Geschichte«69. Der Niedergang des nach dem Urteil Hugo Rahners letzten abendländischen Kaisers, dessen auf eine religiöse Einheitskultur im Sinne der unio imperii et ecclesiae angelegter Reichsgedanke durch die noch in der Sterbestunde seinem Testament beigegebene Verfügung strenger Bestrafung der Häretiker ein letztes Mal bekräftigt wurde, begann bereits Jahre vorher und ist veranlasst nicht nur durch wachsende physische Hinfälligkeit des Regenten, sondern zumindest ebensosehr durch den fortschreitenden Verfall politischer Realisierungsmöglichkeiten jener Kaiseridee, welche Karls Wirken von Anbeginn kennzeichnete. Hatte Karl bereits den Passauer Vertrag nur mit Vorbehalt angenommen, so lehnte er den Augsburger Religionsfrieden, der die Protestanten als paritätischen Religionsstand anerkannte, dezidiert ab, wofür die förmliche Resignation, deren erster Akt unmittelbar auf den Augsburger Religionsfrieden erfolgte, der offenkundige Beleg ist. Nicht zuletzt weil es wegen der Abdankung Kaiser Karls V. (der sich in jenem Jahr aus der Politik zurückzog und die Führung der Geschäfte in Deutschland seinem einzigen Bruder Ferdinand, in seinen übrigen Reichen seinem Sohn Philipp anvertraute) einen wichtigen Einschnitt nicht nur deutscher, sondern gesamteuropäischer Geschichte darstellt70, bezeichnet das Jahr 1555 ein wenn auch nicht »kanonisches«71, so doch epochal zu nennendes 68 In diesem Zusammenhang ist auch auf den konstitutiven Gemeindebezug reformatorischen Bekenntnisses zu verweisen, wobei der Begriff Gemeinde als differenzierte Einheit orts- und universalkirchlicher Bezüge zu fassen ist. Vgl. dazu bes. M. Brecht, Bekenntnis und Gemeinde, in: ders./R. Schwarz (Hg.), Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch, Stuttgart 1980, 45 – 56, hier : 55: »Die Geschichte der reformatorischen Bekenntnisse hat viele, weithin auch wohlbekannte Aspekte, politische, rechtliche, zwischenkirchliche, momentane, theologische usw. Über all dem sollte jener schwer zu greifende, weithin verborgene Bezug des Bekenntnisses zu Lehre, Leben und Ordnung der Gemeinde nicht übersehen werden, in dem sich seine eigentliche Funktion erfüllte. Ließe man dies außer Betracht, wären die reformatorischen Kirchen lediglich von außen verstanden.« 69 H. Rahner, Der Tod Kaiser Karls V., in: ders., Abendland. Reden und Aufsätze, Freiburg i.Br./ Basel/Wien 1966, 219 – 235, hier : 219. 70 Vgl. G. Müller, Die Reformation als Epoche europäischer Geschichte, in: ders., Causa Reformationis. Beiträge zur Reformationsgeschichte und zur Theologie Martin Luthers, hg. v. G. Maron und G. Seebaß, Gütersloh 1989, 9 – 24. 71 E.W. Zeeden, Die Deutung Luthers und der Reformation als Aufgabe der Geschichtswissenschaft, in: TThQ 140 (1960), 154; zit. n. G. Müller, a.a.O., 11.

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Datum. Was Deutschland betrifft, so besiegelte der Augsburger »Präventivfriede(n)«72 die konfessionelle Spaltung insofern, als er »beständigen, beharrlichen, unbedingten, für und für ewig währenden« Frieden sowohl für die altgläubigen Reichsstände als auch für die ständischen Vertreter der Augsburgischen Konfession rechtlich zusicherte. Kein Reichsstand sollte künftig wegen seiner Zugehörigkeit zur Confessio Augustana reichsrechtlich belangt oder mit Krieg überzogen werden. Ausdrücklich vom Frieden ausgeschlossen blieben hingegen alle, die nicht als »Verwandte des Augsburgischen Bekenntnisses« galten. Damit ist bereits angezeigt, dass mit der Freistellung der CA keineswegs die Gewährung allgemeiner Religionsfreiheit verbunden war. Vielmehr blieb nach Maßgabe des Grundsatzes, der später mit der Formel »cuius regio, eius religio« umschrieben wurde, der Religionsentscheid, das sog. ius reformandi, ausdrücklich dem Landesherrn vorbehalten, während den Untertanen für die Lande der Reichsstände lediglich das Auswanderungsrecht eingeräumt wurde. Allenfalls in Reichsstädten lässt sich eine »Frühform des modernen, konfessionell paritätischen Staates (erkennen), weil in ihrem Bereich am ehesten die Voraussetzungen für individuelle Glaubensfreiheit geschaffen war«73. Der Fortbestand der geistlichen Fürstentümer wurde im Reichstagsabschied durch das »reservatum ecclesiasticum« gesichert, demgemäß ein die alte Glaubensgemeinschaft verlassender Fürstbischof sein Territorium aufzugeben hatte; das Zugeständnis einer Duldung von zur CA gehörigen Rittern, Städten und Gemeinden in geistlichen Territorien wurde lediglich in Gestalt einer Deklaration König Ferdinands gegeben, der sog. Declaratio Ferdinandea. Anzumerken ist, dass der Augsburger Religionsfriede nicht ohne weiteres als jenes »sakrosankte Reichsfundamentalgesetz« in Geltung stand, »das die evangelischen Juristen in ihm verherrlichten und das die moderne Historiographie im Rückblick in ihm sieht. Die katholische Seite hielt noch bis tief in das 18. Jahrhundert daran fest, daß die eigentliche Reichsverfassung des Sacrum Imperium iure divino katholisch bleiben müsse und im unlöslichen Verbund mit der katholischen Kirche verblieben sei. Sie hat deshalb den Religionsfrieden nur als eine begrenzte Ausnahmeregelung kraft Notrechts mit interimistischer Vorläufigkeit bis zur Rückkehr der Abtrünnigen verstan-

72 H. Bornkamm, Der Augsburger Religionsfriede (1555), in: ders., Das Jahrhundert der Reformation. Gestalten und Kräfte, Frankfurt a.M. 1983, 315 – 330, hier : 316. »Der Verzicht auf Waffengewalt, die Anerkennung der beiden Glaubensformen, der Katholiken und der Anhänger der Augsburgischen Konfession, im Reich, das Recht der ungehinderten Übersiedlung in ein Land des eigenen Glaubens, Parität in den Reichsstädten –, das war gegenüber dem kirchlichen Zwangsrecht des Mittelalters ein neues Blatt der Geschichte.« (325) 73 E. Koch, Der Weg zur Konkordienformel, in: Vom Dissensus zum Konsensus. Die Formula Concordiae von 1577, Hamburg 1980, 10 – 46, hier : 17. Vgl. ferner die Verhältnisse in der Schweiz nach 1531.

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den . . .«74 Faktisch freilich wurde diese Annahme immer mehr zur Fiktion, wozu der Religionsfrieden von 1555 historisch durchaus das Seine beigetragen hat, so dass es bei aller gegebenen Differenzierungsbedürftigkeit sachlich legitim bleibt, ihn ein epochales Datum zu nennen.75 Sogar unter Toleranzgesichtspunkten und unter Aspekten von Religionsund Gewissensfreiheit darf der Religionsfriede von 1555 als epochal gelten. Dieses Urteil mag überraschen: Räumte doch, wie erwähnt, die pax Augustana lediglich den Landesherren das Recht freier Religionswahl ein, wohingegen er die Untertanen nach wie vor dem Religionsbann unterstellte.76 »Kraft des Jus 74 M. Heckel, Religionsbann und Landesherrliches Kirchenregiment, in: H.-C. Rublack (Hg.), a.a.O., 130 – 162, hier : 147 f. 75 Dies wird u. a. auch durch die einschlägigen Forschungen von Heinrich Lutz bestätigt. Bereits in seinem Werk »Christianitas afflicta«, das die unmittelbar um den Augsburger Religionsfrieden gruppierten Ereignisse europäischer Geschichte von der französisch-protestantischen Offensive im Frühjahr 1552 bis zu den Abdankungen Kaiser Karls V. und seiner Abreise aus den Niederlanden nach Spanien 1556 behandelt, hat Lutz gezeigt, dass mit dem Scheitern der universalmonarchischen, an der unio imperii et ecclesiae orientierten Reichsidee Karls die Möglichkeit, die Einheit und Totalität der Christenheit im Sinne des Corpus Christianum politisch zu realisieren, definitiv erledigt und vergangen war. (Vgl. H. Lutz, Christianitas afflicta. Europa, das Reich und die päpstliche Politik im Niedergang der Hegemonie Kaiser Karls V. [1552 – 1556], Göttingen 1964. Interessant ist, dass Lutz universalmonarchische Intentionen nicht nur Karl V., sondern auch seinem Gegner Franz I. zuschreibt. »Nicht im Zusammenstoß eines mittelalterlichen Universalismus mit dem modernen Nationalstaat« sieht er daher »den Sinn der habsburgisch-französischen Rivalität …, sondern im Ringen zweier sich ähnlicher Systeme, die beide Altes und Neues vermischt enthalten: mittelalterliches Erbe an Eigenstaatlichkeit und neuerwachten Universalismus – so könnte man die üblichen Gegensatzpaare hier in einer nur scheinbaren Paradoxie vertauschen.« [A.a.O., 22; vgl. auch die Bezüge auf ältere Forschungen Anm. 14]) So konfliktreich und keineswegs geradlinig sich der Weg auch darstellt, »der von der Machthöhe der kaiserlichen Hegemonie zu der neuen Entfaltung eines Pluralismus politischer und auch kirchlicher Lebenszentren in Europa führte« (a.a.O., 484), eindeutig ist, dass mit Karl zugleich die von ihm programmatisch vertretene Einheitsordnung von Politia und Ecclesia an ihr geschichtliches Ende gelangt war. Dabei verdient es bemerkt zu werden, wie nachdrücklich Lutz die nicht nur faktische, sondern auch ideelle Bedeutung der Reformation für die Genese des frühneuzeitlichen Europa hervorhebt. Namentlich Luther sei es gewesen, der, »um der Unverfälschtheit der christlichen Existenz den Weg zu öffnen, den Gedanken des christlichen Staates leidenschaftlich abgelehnt und unerbittlich die Verschiedenheit von politia und ecclesia verfochten« habe. »Das war«, so Lutz, »ein Beitrag zum Werdeprozeß des neuzeitlichen Europa, mit dessen herausfordernder Radikalität von nun an jeder Versuch, die religiös-ethische Wertwelt der Christenheit in politisch-rechtliche Ordnungen zu übersetzen, zusammenstoßen mußte.« (A.a.O., 32 f mit Verweis auf die thematischen Auseinandersetzungen Karl Holls mit Sohm, Meinecke und Troeltsch) 76 M. Heckel legt Wert auf die Feststellung, dass sich der Begriff »ius reformandi« nicht bei den Reformatoren findet. »Wenn sie, Melanchthon vorab, von der custodia utriusque tabulae und von der cura religionis sprachen, hatten sie anderes im Sinn als den Bekenntnisbann und das Kirchenregiment der nachfolgenden Generationen von Juristen und Theologen der lutherischen Orthodoxie.« (M. Heckel, Religionsbann und Landesherrliches Kirchenregiment, 133) Zu ergänzen ist, dass das Episkopalsystem, welches aus der Suspension der iurisdictio ecclesiastica von 1555 in den evangelischen Territorien den Übergang aller iura episcopalia vom katholischen Bischof auf die evangelischen Reichsstände folgerte, anders als der spätere Territorialismus das regimen ecclesiae nicht zu einem Teil der Staatsgewalt erklärte, sondern scharf

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reformandi konnte der Landesherr die konfessionelle Geschlossenheit seines Territoriums gewaltsam durchsetzen. Widerstrebenden Bürgern verblieb nur das reichsverfassungsrechtlich garantierte Recht zur Auswanderung unter gewissen erleichterten Bedingungen. Die von der späteren Publizistik zur Interpretation dieses Sachverhalts gebrauchte Formel ›cuius regio eius religio‹ umschrieb daher die Rechtslage verhältnismäßig präzis.«77 Von Religionsfreiheit und Toleranz im modernen Sinne kann demnach unter den Bedingungen des Augsburger Religionsfriedens, der aus Deutschland »eine Art Mosaik katholischer und protestantischer Fürstentümer«78 machte, offenbar nicht die Rede sein,79 zumal da der Religionszwang in den Territorien im Zuge der Ausbildung des frühabsolutistischen Fürstenstaates, als dessen Funktion man die territoriale Konfessionalisierung samt der mit ihr verbundenen Sozialdisziplinierung historiographisch beschrieben hat, vergleichsweise eher verstärkt wurde.

unterschied zwischen iurisdictio saecularis und iurisdictio ecclesiastica. Hinzuzufügen ist ferner, dass »Episkopalismus wie Territorialismus … staatsrechtliche, nicht kirchliche Theorien (sind) – aus dem weltlichen Recht mit säkular-juristischen Argumentationen und Ergebnissen gefolgert« (a.a.O., 141). Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass der Augsburger Religionsfriede von 1555 das ius reformandi ausschließlich auf die Landesherren, genauer gesagt auf die weltlichen Fürsten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation beschränkte, den Bürgern hingegen kein Recht auf freie Religionsausübung zuerkannte. 77 Chr. Link, Toleranz im deutschen Staatsrecht der Neuzeit, in: P. F. Barton (Hg.), Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhundert in den Reichen Josephs II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen. Eine Festschrift, Wien 1981, 17 – 38, hier : 18; vgl. ferner : F. Spiegel-Schmidt, Vom »beneficium emigrandi« zur Toleranz, in: a.a.O., 39 – 75. 78 J. Lecler SJ, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation. 2 Bd., Stuttgart 1965, hier : Bd. 1, 346. Zu den reformatorischen Theorien von der landesherrlichen »Cura religionis« vgl. a.a.O., 349 ff, hier : 361 f: »Ganz allgemein orientierten sich die großen deutschen Reformatoren nach dem Prinzip, das zur Grundlage des Augsburger Religionsfriedens werden sollte: In einem Staat oder einem Fürstentum kann nur eine einzige Religion bestehen, die des Fürsten, der ihr Organisator ist. Schon Luther erklärte 1526, daß auf einem Territorium nur eine einzige Art der Predigt bestehen könne; als Grund gab er die Notwendigkeit der öffentlichen Ordnung an. Sowohl die Fürsten als auch die anderen Reformatoren haben die Lektion wohl behalten.« Zur Herkunft der Formel »cuius regio, eius religio« vgl. a.a.O., 367 f, wo sie auf den lutherischen Rechtsgelehrten Joachim Stephani (1544 – 1623) zurückgeführt wird. Zum Thema »Der Augsburger Religionsfriede im Dienste der Gegenreformation« vgl. a.a.O., 392 ff. 79 Vgl. N. Paulus, Religionsfreiheit und Augsburger Religionsfriede (1912), in: H. Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit. Darmstadt 1977, 17 – 41, hier : 41: »Für den Gedanken der Religionsfreiheit in modernem Sinn hat man auf dem Augsburger Reichstag von 1555 weder auf katholischer noch auf protestantischer Seite ein Verständnis gehabt.« Vgl. ders., Protestantismus und Toleranz im 16. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 1911.

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10. Religionsfrieden und ziviles Recht Dennoch und unbeschadet dessen spricht einiges für die Vermutung, dass der Verzicht auf die alte Glaubenseinheit im Reich, wie er mit dem Augsburger Religionsfrieden faktisch gegeben war, und die Anerkennung konfessionellen Dissenses eine der entscheidenden historischen Voraussetzungen für die Ausbildung und Realisierung der Toleranzidee darstellen. Mit W. Schulze zu reden: »Toleranzideen … haben ihren Ursprung in einer komplizierten Gemengelage verschiedener Argumente. Sie können – wie der Blick auf das europäische 16. Jahrhundert zeigt – durchaus auf der Basis einer humanistischen Grundüberzeugung von der Würde und der Gottähnlichkeit des Menschen entwickelt werden. Dies scheint jedoch die Ausnahme zu sein, so bemerkenswert solche Auffassungen auch sind. Im viel bedeutsameren Kontext der konkreten konfessionspolitischen Auseinandersetzungen, in denen ja erst die Duldung anderer Konfessionen durchgesetzt werden musste, scheint Toleranz erst denkmöglich zu werden nach der Legitimierung und Akzeptierung des konfessionellen Dissenses und im Verzicht auf die alte Einheit des Glaubens. Erst auf dieser Grundlage konnten dann Auffassungen entwickelt werden, die aus politischen und wirtschaftlichen Motiven heraus verschiedene Bekenntnisse in einem Gemeinwesen akzeptierten.«80 In diesem Sinne ist der 80 W. Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1500 – 1618, Frankfurt a.M. 1987, 264. Zur tendenziellen Säkularisierung des Reichsrechts seit 1555 vgl. G. Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches, in: H. Grundmann (Hg.), Handbuch der deutschen Geschichte (Gebhardt), Bd. 2, Stuttgart 91970, 360 – 436 sowie M. Heckel, Weltlichkeit und Säkularisierung. Staatskirchenrechtliche Probleme in der Reformation und im Konfessionellen Zeitalter, in: B. Moeller (Hg.), Luther in der Neuzeit, Gütersloh 1983, 34 – 54. Ferner : H. Bornkamm, Der Augsburger Religionsfriede (1555), in: ders., Das Jahrhundert der Reformation. Gestalten und Kräfte, Frankfurt a.M. 1983, 315 – 330. Mit der Säkularisierung des Reichsrechts verbindet sich dessen schrittweise Loslösung »von der äußeren Bestimmung durch die kirchliche Gewalt und zugleich von der inneren Bindung an den geistlichen Anspruch dieser wie jener Konfession« (M. Heckel, a.a.O., 46; zum Begriff der Säkularisierung als einem Schlüsselbegriff der neueren Geschichte vgl. im einzelnen W. Schulze, Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 1987, 48 ff). Unter dieser und faktisch nur unter dieser Voraussetzung konnte der Augsburger Religionsfriede eine Koexistenzordnung begründen, deren – immerhin jahrzehntelang bewährte – Leistung nachgerade darin bestand, »daß der Glaubensstreit, der weder theologisch beigelegt noch politisch-militärisch entschieden werden konnte, doch mit Hilfe des Rechts im Reich neutralisiert und äußerlich befriedet worden ist, während der geistliche, theologische Kampf weiter loderte« (M. Heckel, a.a.O., 47). Diese Leistung konnte, wie gesagt, nur durch eine ansatzweise geschehende Säkularisierung des Reichsrechts erbracht werden, die primär die Einheitsidee des Reiches betraf, sofern diese nicht mehr mit der unio imperii et ecclesiae gleichzusetzen war. »So hat die Säkularisierung der Reichsidee das mittelalterliche Einheitsdenken von Kirche, Reich und Recht zerrissen.« (A.a.O., 47 f) Dies geschah ebenso zwangsläufig wie notwendig, sofern unter Bedingungen mittelalterlichen Einheitsdenkens von einer Gleichheit differenter Religionsparteien prinzipiell nicht hätte die Rede sein können. Entsprechend wird man behaupten dürfen, daß mit der wie auch immer eingeschränkten Anerkennung religiöser Parität ein historischer Schritt getan worden ist, der

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Augsburger Religionsfriede, der das Scheitern der Reichsidee Karls und das Ende der mittelalterlichen unio imperii et ecclesiae ratifizierte, auch im Hinblick auf die Geschichte der Toleranz und der Religionsfreiheit ein epochal zu nennendes Datum. Das gilt analog für die Reformation im Allgemeinen, insofern sie für die Auflösung der religiösen Einheitskultur des Mittelalters ursächlich war.81 Nun

die mittelalterliche Einheitskultur im Grundsatz vergangen sein ließ. Die Umbestimmung der mittelalterlichen pax christiana zu einer Friedensidee, welche auch kirchlich Exkommunizierte zu erfassen vermag und damit die Zuständigkeiten des Ketzerrechts entscheidend einschränkt, bestätigt diese Entwicklung einer Ausdifferenzierung von Recht und Religion, deren geschichtliche Zukunftsträchtigkeit gerade darin zu suchen ist, dass mit der Emanzipation des Rechts von unmittelbaren Einflüssen und Dominanzansprüchen der Religion auch eine Befreiung der Religion einhergeht, sofern deren Belange nicht mehr unter der direkten Bedrohung möglichen Rechtszwangs stehen. 81 Tatsache ist, dass die Reformation die abendländische Christenheit mit dem – den Status einer historischen Novität begründenden – Faktum einer unter den überkommenen kirchlich-gesellschaftlichen Strukturbedingungen nicht mehr behebbaren Differenz konfrontierte, indem sie in ihrem geschichtlichen Verlauf eine religiöse Zweiheit bzw. Dreiheit bewirkte, welche die relative Einheitskultur des Mittelalters, in der bestehende Unterschiede im wesentlichen durch gradualistische Stufenordnungen bewältigt wurden, progressiv auflöste bzw. in neue Struktursysteme transformierte. Dem reformationsgeschichtlichen Differenzierungs- und Pluralisierungsschub, der durch die Situation im ausgehenden Mittelalter des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts bereits vorbereitet war, ohne dass dadurch allerdings der Gradualismus der mittelalterlichen Stufenordnungen schon gesprengt worden wäre, entspricht eine das bisherige Normengefüge auflösende Zentrierungsqualität und -intensität. (Vgl. B. Hamm, Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: Jahrbuch für Biblische Theologie [JBTH] Bd. 7: Volk Gottes, Gemeinde und Gesellschaft, Neukirchen/Vluyn 1992, 241 – 279; vgl. auch ders., Das Gewicht von Religion, Glaube, Frömmigkeit und Theologie innerhalb der Verdichtungsvorgänge des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: M. Hagenmaier/S. Holtz [Hg.], Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit – Crisis in Early Modern Europe [FS H.-C. Rublack], Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1992, 163 – 196) Das prozessuale Zusammenwirken gesteigerter Differenzierung und Pluralisierung und sich verdichtender Zentrierung hatte zur Folge, dass Einheit und Verschiedenheit nicht länger gradualistisch vermittelt werden konnten. Hamm macht diesen »Bruch mit dem Gradualismus« (Normative Zentrierung, 260) in theologisch-frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht ebenso plausibel wie im Blick auf Prozesse obrigkeitlicher Herrschaftszentrierung und -intensivierung im frühabsolutistischen Territorialstaat samt der damit verbundenen Rationalisierung, Bürokratisierung und Sozialdisziplinierung, die nicht selten mit forcierten Bedürfnissen der Abgrenzung und Diskriminierung verbunden waren. In diesem Zusammenhang weist Hamm mit Recht auf eine gegenüber dem Spätmittelalter enorm »gesteigerte Verflechtung von politia und ecclesia« in der Entwicklung des 16. Jahrhunderts und auf die dementsprechende Tatsache hin, »daß, beginnend mit den späten zwanziger Jahren, die machtpolitische Zentrierung und Abgrenzung des frühmodernen Territorialstaats eine Symbiose mit dem normativen Verdichtungs- und Abgrenzungsschub der reformatorischen Theologie, Kirchen- und Bekenntnisbildung eingeht« (a.a.O., 255 f). Dieser Entwicklungstrend findet nicht nur in der nachmaligen Ausdifferenzierung zweier wechselseitig sich ausschließender Reformationstypen seine Bestätigung, sofern auch in diesem Prozeß Staatsräson und ausgrenzende Bekenntnisfixierung einen auf Koinzidenz hin angelegten Zusammenhang darstellen; er erfasst auch die spätestens seit dem Tridentinum zur Religionspartei formierte altgläubige Seite, so dass sich »in

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hat freilich die Reformation, deren genuine Intention zweifellos auf binnenkirchliche Reform hin angelegt war, die Kirchenspaltung und die konfessionelle Differenzierung des Reichs mit Sicherheit nicht ursprünglich bezweckt und gewollt. Insofern kann, wie die Genese der neuzeitlichen Welt überhaupt, so auch die Entstehung moderner Toleranz und Religionsfreiheit nur als »unbeabsichtigte Folge der Reformation«82 bezeichnet und gesagt werden: »Dieses Resultat ist so von niemandem geplant worden. Es läßt sich nicht als direkte Wirkung dieser oder jener erhabenen Idee begreifen.«83 So richtig dies ist, so ändert es gleichwohl nichts an der Tatsache, dass die Reformation über theoretische Potentiale verfügte, auf das Scheitern ihrer gesamtkirchlichen Reformbemühungen und auf die nachfolgende Konfessionsspaltung konstruktiv und in einer Weise zu reagieren, welche den Gedanken von Toleranz und Religionsfreiheit als mit der reformatorischen Einsicht nicht nur vereinbar, sondern ursprünglich vereint erkennen lässt. Grundlegend hierfür ist, wie u. a. H. Lutz zutreffend hervorgehoben hat, die namentlich von Luther geforderte strikte, wenngleich nicht als Trennung mizuverstehende Unterscheidung von politia und ecclesia, der leiblich-äußeren Sphäre zivil-politischer Freiheit und der geistlichen, die innere Seele des Menschen betreffenden Sphäre des Glaubens, hinsichtlich derer jeder Zwang konsequent zu vermeiden ist. Das im Gewissensbezug zu Gott begriffene Innere der Menschenseele kann und darf nicht zur Disposition der Politik (auch nicht der Kirchenpolitik!) und ihrer Machtmittel gestellt werden, deren Zuständigkeit vielmehr auf Erhalt und Förderung von Leib und Leben zu beschränken ist, welche antitotalitäre Beschränkung die eigentümliche Grenze, aber auch Würde allen weltlichen Geschäfts ausmacht. Man vergleiche in diesem Zusammenhang exemplarisch Luthers Haltung zu den Türkenkriegen: »Der gerechte Krieg ist kein Religionskrieg, und der Religionskrieg ist kein gerechter Krieg – das ist eine Konsequenz seiner Zweireichelehre, die Luther in bezug auf den Türkenkrieg gezogen hat. Dass der Kaiser keinen Glaubenskrieg zu führen, sondern seine Fürsorgepflicht zu erfüllen hat, dass er also nicht mit falschem Selbst- und Berufungsbewußtsein zu Felde ziehen darf, das ist der Sinn der Mahnungen, die Luther an seinen Karolus richtet: ›Denn der keiser ist nicht das heubt der Christenheit noch beschirmer des Euangelion odder des glaubens‹.«84 Zu verweisen wäre ferner auf die unter mittelalterlichen Bedingungen durchaus revolutionäre Forderung der Abschaffung des sog. Großen Bannes85,

82 83 84 85

katholischen Gebieten ein vergleichbares Zusammenwirken von staatlicher und konfessioneller Zentrierung ergeben« (a.a.O., 273) konnte. W. Pannenberg, Reformation zwischen gestern und morgen, Gütersloh 1969, 13. Ders., Reformation und Neuzeit, in: H. Renz/F.W. Graf (Hg.), Troeltsch-Studien Bd. 3: Protestantismus und Neuzeit, Gütersloh 1984, 21 – 34, hier : 30. W. Maurer, Historischer Kommentar zur Confessio Augustana, Bd. 1, Gütersloh 1979, 155 mit Verweis auf WA 30 II, 130, 27 f. »Das Rechtsverhältnis, in welchem Staat und Kirche im Mittelalter zueinander standen, läßt für

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dessen mangelnde Unterscheidung geistlicher und weltlicher Strafe Luther ebenfalls als unstatthafte Vermengung von potestas ecclesiastica und potestas civilis kritisierte. Nicht von ungefähr hat sich Castellio in seiner – aus Anlaß der Genfer Hinrichtung Servets verfassten – Schrift »De haereticis an sint persequendi« von 1554, »die als Fanal der Forderung nach Toleranz in der Neuzeit gilt«, mit Nachdruck auf Luther und seine Forderung berufen, Häretikern sei »nicht mit dem Ketzerrecht, d. h. mit Feuer und Schwert, sondern mit der Predigt, dem Versuch der inneren Gewinnung für den rechten Glauben gegenüberzutreten«86.

11. Zwei-Regimenten-Lehre In elementarer Form grundgelegt ist diese und vergleichbare Kritik in dem, was man später die Zwei-Reiche- oder Zwei-Regimenten-Lehre Luthers genannt hat, mit welcher Lehre das »umfassende Orientierungsschema für die Politische Ethik lutherischer Herkunft«87 bzw. der »Maßstab für jede evangeden Toleranzgedanken keinen Raum übrig. Staat und Kirche sind Glieder des einen Corpus christianum, und imperium wie sacerdotium haben die Aufgabe, mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln die Einheit desselben aufrecht zu erhalten. Mochte man zu dem das ganze Mittelalter beherrschenden Problem ›Staat und Kirche‹ als Kurialist oder Imperialist, als Welfe oder Ghibelline Stellung nehmen, mochte zwischen Monarchen und Päpsten wegen dieser oder jener Rechtskompetenz ein heftiger Streit entbrennen, so stand doch die Frage außerhalb jeglicher Diskussion, daß beide Gewalten gegen Ketzer, Schismatiker und Apostaten zusammengehen müssen.« (K. Völker, Toleranz und Intoleranz im Zeitalter der Reformation, Leipzig 1912, 3) 86 K. Aland, Toleranz und Glaubensfreiheit im 16. Jahrhundert, in: M. Greschat/J.F.G. Goeters (Hg.), Reformation und Humanismus. FS R. Stupperich, Witten 1969, 67 – 90, hier : 83. »Luther hat damals diese Haltung auch in der Praxis bewährt. In seinem ›Sendbrief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist‹ wendet sich Luther 1524 an Kurfürst Friedrich den Weisen und seinen Bruder Johann, um sie zu Maßnahmen gegen die vordringende Propaganda Müntzers aufzurufen, in welcher er den Teufel am Werk sieht. Aber die staatliche Obrigkeit soll nur dafür sorgen, daß die Schwärmer nicht Kirchen und Klöster zerstören, sich ›mit gewallt setzen widder die oberkeyt und stracks daher eyne leypliche auffruhr anrichten‹. In die geistige und geistliche Auseinandersetzung sollen die Fürsten sich jedoch keinesfalls einmischen: ›Jtzt sey das die summa, gnedigisten herrn, das E.F.G. soll nicht weren dem ampt des worts. Man lasse sie nur getrost und frisch predigen, was sie konnen, und widder wen sie wöllen. Denn, wie ich gesagt habe, Es müssen secten seyn (1 Kor 11,19), und das wort Gottes mus zu felde ligen und kempffen, daher auch die Euangelisten heyssen heerscharen, Ps. 68,12, und Christus eyn heerkönig ynn den Propheten. Ist yhr geyst recht, so wird er sich fur uns nicht furchten und wol bleyben. Ist unser recht, so wird er sich fur yhn auch nicht noch fur yemand fürchten. Man lasse die geyster auff eynander platzen und treffen. Werden ettlich ynn des verfüret, Wolan, so gehets noch rechtem kriegs laufft. Wo eyn streyt und schlacht ist, da müssen ettlich fallen und wund werden. Wer aber redlich ficht, wird gekrönet werden.‹« (A.a.O., 84 mit Verweis auf WA 15, 212, 14 f u. 218, 17 ff) 87 G. Sauter (Hg.), Zur Zwei-Reiche-Lehre Luthers, München 1973, Einführung: VII–XIV, hier : VII.

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lische politische Theologie« 88 formuliert ist. Man lese dazu beispielsweise Luthers 1523 erschienene Schrift »Von weltlicher Oberkeit« (WA 11, [229] 245 – 281), die als paradigmatisch gelten kann, auch wenn sich ihr Ansatz bei Luther nicht konsequent durchgehalten hat. Man lese ferner – um auf das Corpus Doctrinae des Luthertums und seine wichtigste Schrift direkten Bezug zu nehmen – den letzten und umfangreichsten Artikel der Confessio Augustana, der für deren Entstehungsgeschichte von entscheidender Bedeutung ist89 : CA XXVIII, De potestate ecclesiastica, Von der Bischofen Gewalt. Einer seiner Grundsätze lautet: »Sine vi humana, sed verbo« (CA XVIII,21), »ohn menschlichen Gewalt, sonder allein durch Gottes Wort« (BSLK 124,4 f) soll ein Bischof wirken und sein kirchliches Amt ausüben. Dieser Grundsatz plädiert, wie durch die Vorgeschichte des Artikels bestätigt wird90, für eine klare Unterscheidung weltlicher und geistlicher Vollmachten, deren Vermischung für eines der zu reformierenden Grundübel der Kirche der Zeit erachtet wird. Mögen auch Päpste und Bischöfe geistliches und weltliches Amt in Personalunion geschichtlich vereint haben und noch vereinen, so ändert die Anerkennung dieses historischen Faktums, wie sie vonseiten der Wittenberger Reformation keineswegs grundsätzlich verweigert wurde, nichts an der Tatsache, dass auch bei gegebener personaler Vereinigung theologisch strikt zwischen potestas ecclesiastica und potestas civilis zu unterscheiden ist. Mit der Pflicht zu solcher Differenzierungsleistung ist der Theologie eine ihrer entscheidenden Aufgaben gestellt, nämlich nach ihren Möglichkeiten für die Vermeidung totalitärer Entwicklungen zu sorgen, wie sie zwangsläufig aus der Vermischung von potestas ecclesiastica und potestas civilis folgen. Um es abgrenzend zu formulieren: »Einer Kirche, die mit Zwangsmaßnahmen auch über die äußere Existenz herrschen will, entspricht ein Staat, der auch die innere Gesinnung mit Terror erzwingen will. In der Vermischung der beiden Gewalten besteht das Wesen des Totalitarismus.«91 Diesen – in seinen theokratischen, cäsaropapistischen oder welchen Formen auch immer – zu verhindern und zu bekämpfen, ist der wesentliche Sinn lutherischer Zwei-Reicheoder besser : Zwei-Regimenten-Lehre und ihres Grundsatzes: »Sine vi humana, sed verbo.« Dieser Grundsatz besagt, dass der Streit der Gewissen durch keine menschlichen Zwangs- und Gewaltmittel entschieden werden kann und entschieden werden darf und deshalb »durch eine nichttotalitäre Ordnung des Gemeinwesens politisch respektiert werden muß«92. Die politische Option des

88 A. Pawlas, Evangelische politische Theologie. Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Christi als ihre Kriterien und Interpretamente, in: KuD 36 (1990), 313 – 332, hier : 318. 89 Vgl. W. Maurer, a.a.O., 15 ff. 90 Vgl. a.a.O., 27 ff, 73 ff. 91 W. von Loewenich, Luthers Stellung zur Obrigkeit, in: W.P. Fuchs (Hg.), Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 1966, 53 – 68, hier : 57 f. 92 E. Herms, Theologie und Politik. Die Zwei-Reiche-Lehre als theologisches Programm einer

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Glaubens muss in diesem Sinne dezidiert antitotalitär und auf die prinzipielle Anerkennung einer weltanschaulichen Pluralität ausgerichtet sein. Dies klarzustellen ist die wesentliche Bedeutung der Zwei-Reiche-Lehre als einer reformatorischen Theorie spezifisch christlicher Politik. Es gehört neben dem Scheitern gesamtkirchlicher Reform und der folgenden abendländischen Kirchenspaltung zur – mit schuldhaftem Versagen untrennbar verbundenen – geschichtlichen Tragik der Wittenberger Reformation, das mit der sog. Zwei-Reiche-Lehre formulierte Theorieprogramm in ihrer politischen Einflusssphäre nicht konsequent realisiert und zur Durchsetzung gebracht zu haben. Historisch steht fest, dass die Durchführung der Reformation in den Territorien und Städten »alles andere als ein Paradebeispiel für eine Anwendung der Zwei-Reiche-Lehre«93 war. Das hat nicht lediglich äußere Gründe. Zeigt sich doch, dass in der Wittenberger Reformation die Grundsätze der sog. Zwei-Reiche-Lehre auch in theoretischer Hinsicht nicht durchweg eingehalten wurden. Hieß es ursprünglich: »Haereticos comburi est contra voluntatem spiritus« (WA 7, 139, 14) – ein Satz Luthers, der in die Bannandrohungsbulle »Exsurge domine« vom 15. Juni 1520 aufgenommen (vgl. DH 1483) und später vom Reformator nachdrücklich verteidigt wurde – so weist etwa die Schrift »Von den Schleichern und Winckelpredigern« von 1532 (WA 30 III, [510] 518 – 527) »eine charakteristische Verengung in bezug auf die Behandlung der Schwärmer«94 auf. Obwohl Luther den Gedanken des christlichen Staates im Unterschied zu den Erasmianern »zeitlePolitik des weltanschaulichen Pluralismus, in: ders., Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991, 95 – 124, hier : 101 f. 93 G. Müller, Luthers Zwei-Reiche-Lehre in der deutschen Reformation, in: ders., Causa Reformationis. Beiträge zur Reformationsgeschichte und zur Theologie Martin Luthers. Hg. v. G. Maron und G. Seebaß, Gütersloh 1989, 417 – 437, hier : 425. Nach G. Müller ist dies primär bedingt durch die noch allzu deutlichen Nachwirkungen mittelalterlicher Einheitskultur, derzufolge der Gedanke einer ständischen Verfassung der Gesamtgesellschaft weitaus vertrauter war als das komplexe und innovative Differenzierungsgefüge der Lehre von den zwei Regimenten. Vgl. auch die – freilich sehr tendenziöse – Lutherdarstellung in dem erwähnten Werk von J. Lecler SJ, a.a.O., Bd. 1, 231 – 252, welches signifikanterweise die Überschrift trägt: »Von der ›christlichen Freiheit‹ zur Staatskirche«. Seit dem Jahr 1525 rechnet Lecler mit einem »Fortschreiten der lutherschen Intoleranz« (241). Entscheidend hierfür sei Luthers »Trennung zwischen Gewissensfreiheit und Kultfreiheit« (243), welche Annahme zur Folge habe, dass des öffentlichen Friedens wegen nur eine Religion in jedem Fürstentum zu dulden sei: »So bilden sich in den deutschen Fürstentümern unter dem Patronat Luthers, in dem allmählich alle Skrupel und jedes Zögern erlöschen, die Staatskirchen heraus.« (246) Dass man auch andere Konsequenzen aus der sog. Zwei-Reiche-Lehre ziehen konnte, bestätigt u. a. der bemerkenswerte Fall jenes gebildeten Nürnbergers, den Verfolgungen und drohende Religionskriege als Konsequenzen intoleranter Konfessionalisierung Anfang 1530 dazu brachten, deren Grundvoraussetzungen in Frage zu stellen: »Unter Berufung auf die lutherische Zwei-Reiche-Lehre bestritt er die cura religionis der Obrigkeit und wollte sie auf die eigene Konfession beschränkt wissen. Die Obrigkeit sei nicht für das ewige, sondern für das zeitliche Heil zuständig.« (G. Seebaß, Stadt und Kirche in Nürnberg im Zeitalter der Reformation, in: B. Moeller [Hg.], Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert, Gütersloh 1978, 66 – 86, hier : 81) 94 K. Aland, a.a.O., 85.

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bens mit Leidenschaft von sich gewiesen«95 hat, wollte er ab einem bestimmten Zeitpunkt seiner Entwicklung gleichwohl öffentliche Lehre der Ketzerei als strafwürdig verboten wissen. Zwar wurde die Notwendigkeit obrigkeitlichen Einschreitens gegen die Häresie nicht mit der aufgegebenen Bewahrung der Seelen vor ewigem Verderben, sondern mit der Verpflichtung begründet, der Unordnung und dem Aufruhr zu wehren. Insofern hielt der Reformator an seiner ursprünglichen Überzeugung fest, dass der Glaube unerzwingbar und das Evangelium nicht mit Mitteln der Gewalt zur Durchsetzung zu bringen sei. Faktisch aber führte seine sich namentlich im Zusammenhang der Erfahrungen der Bauernkriege96 ausbildende Annahme, um der Ordnung und Einheit im Lande willen sei Ketzerei auch mit weltlichen Maßnahmen zu bekämpfen, zu der Konsequenz, dass Luther die obrigkeitliche Todesstrafe für hartnäckige Anhänger insonderheit der anabaptistischen Bewegung für rechtens erklären konnte. »Vom späteren Luther führt also kein direkter Weg zur Toleranz im Sinne der öffentlichen Lehrfreiheit. Wohl gibt es für ihn eine unabdingliche persönliche Gewissens- und Glaubensfreiheit. Aber sie erhält keinen Raum, sich anderen gegenüber zu betätigen. Der gewaltige Unterschied gegenüber dem Mittelalter besteht darin, dass er keine von der Kirche durchgeführte Befragung und Verfolgung des einzelnen um seines Glaubens willen kennt. Luther hat dem Ketzerprozess ein Ende gemacht, aber die Überzeugung von der politischen Gefahr der Ketzerei, die natürlich auch im Mittelalter als eine der Begründungen mitgewirkt hatte, nicht überwunden.«97 Nun ist die Gefahr einer Zersetzung der politischen Ordnung ziviler Öffentlichkeit und ihrer äußeren Rechts- und Freiheitssphäre durch »Ketzerei« in der Tat nicht einfach in Abrede zu stellen. Offenkundig gegeben ist sie dann, wenn etwa die Herrschaft Gottes mit Mitteln weltlicher Macht und Gewalt aufgerichtet werden soll, wie das z. B. im radikal-eschatologischen Enthusiasmus eines Thomas Müntzer der Fall war, welcher »das Gottesreich im Sturm, wenn nötig mit Gewalt, herbeizwingen wollte«98, wobei er eine Duldung An95 H. Bornkamm, Das Problem der Toleranz im 16. Jahrhundert, in: ders., a.a.O., 342 – 379, hier : 349. 96 »In einem Punkt blieb Luther … der mittelalterlichen Auffassung verhaftet, und dieser Punkt gewann bei ihm je länger umso mehr an Gewicht: Luther war mit dem Mittelalter der Ansicht, daß die Ketzerei die Allgemeinheit gefährdet. Gerade die Erfahrungen mit den Schwärmern im Bauernkrieg sowie später bei dem Abenteuer der Wiedertäufer in Münster haben diese Sorge bei Luther von neuem groß werden lassen. Luther hat darum später gefordert, daß die öffentliche Lehre der Ketzerei doch verboten werden müsse. Luther hat von hier aus in reformatorischen Gebieten eine Beschränkung der katholischen Lehre gefordert, war aber andererseits auch zu dem Zugeständnis bereit, daß in katholischen Territorien die reformatorische Predigt sich gewisse Beschränkungen gefallen lassen müsse.« (B. Lohse, Evangelische Wahrheit und Toleranz, in: Luther. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 37 [1966], 50 – 64, hier : 55) 97 H. Bornkamm, a.a.O., 355 f. 98 A.a.O., 367. Vgl. J. Baur, Ratlos vor dem Erbe – Die Reformation: Last und Chance, in: ders., Einsicht und Glaube. Bd. 2, Göttingen 1994, 9 – 20, hier : 17: »Indem Luther die sakrale Reichsidee Karls V. ebenso verneinte wie den Umsturz Müntzers, machte er deutlich, daß ver-

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dersdenkender nicht kannte, sondern eine massive Intoleranz zugunsten der Auserwählten vertrat. Dies wird man Luther zugute halten müssen; auch heute gehört die Markierung seiner Grenzen im Sinne festgelegter Ordnung im Umgang mit intoleranter Gewalttat unveräußerlich zur Bestimmung des Toleranzbegriffs. Kritisch ist gegen Luther indes die Tatsache zu wenden, dass er die Strafwürdigkeit der Ketzerei nicht klar auf manifest totalitäre, die zivile Ordnung durch erklärte Aufhebungsbestrebungen elementar gefährdende Häresien beschränkte99 und den Gedanken schuldig blieb, »daß der Glaube um seiner selbst willen dem Andersdenkenden die Freiheit für Glauben und Gottesdienst einräumen solle«100. Darin liegt es vor allem begründet, dass Luther in Bezug auf das Problem der Gewissensfreiheit und Toleranz sein Reformationswerk trotz hochbedeutender und auch heute noch gültiger Ansätze »nicht ideologisch widerspruchslos zu fundamentieren vermocht«101 hat. Solches zu leisten aber bleibt damals wie heute die entscheidende Aufgabe einer Theologie der Toleranz, welche die Gewissheit des Glaubens und die Freiheit des Gewissens nicht nur als äußerlich übereinstimmend, sondern aus einem Grunde hervorgehend und daher als unveräußerlich einig zu denken hat. Weil dies – obwohl die prinzipiellen Möglichkeiten dafür vorhanden gewesen wären – im 16. Jahrhundert nicht in der nötigen Eindeutigkeit zustande gekommen ist, konnte der Weg zur Toleranz aus dem Glauben zu keinem Ziel von geschichtlicher Dauer gelangen. »So war das Feld frei für die Motive einer Toleranz aus Relativismus und Skepsis, die bei den Humanisten und Spiritualisten aufgebrochen waren. Sie bestimmten den Weg in die Zukunft.«102

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antwortliches politisches Handeln weder die Spur eines legitimistischen Konservatismus noch die blutige Verneinung alles Vorgegebenen wählen kann.« »Praktisch … verwischten sich doch auch für Luther die Unterschiede zwischen einer bloßen Lehre, die von der offiziellen abweicht, und dem Aufruhr gegen die Obrigkeit. Es ist darum kein Zufall, wenn von Luther keine entscheidenden Impulse für die Verwirklichung der Toleranz ausgegangen sind, obwohl er mit seiner Differenzierung zwischen geistlichem und weltlichem Bereich eine saubere theologische Begründung für die Propagierung des Toleranzgedankens geliefert hat.« (B. Lohse, a.a.O., 56) H. Bornkamm, a.a.O., 376. H. Hoffmann, Reformation und Gewissensfreiheit, in: ARG 37 (1940), 170 – 188, hier : 178. H. Bornkamm, a.a.O., 376; vgl. ders., Art. Toleranz II, in: RGG3 VI, Sp. 933 – 946, hier : 943: »Da der Weg zu ihr (sc. der Toleranz) vom Glauben her, wozu es bei Luther Ansätze gab, nicht gefunden wurde, war sie aus der Skepsis gegenüber dem Dogma erwachsen.« Nachgetragen sei, dass sich das deutsche Wort Toleranz wie viele seiner Äquivalente im europäischen Sprachraum vom lateinischen tolerantia, tolerare herleitet, womit »ursprünglich das Ertragen, das Erdulden von Übeln und Unrecht (gemeint ist), und zwar nicht durch einen willenlos oder widerwillig Leidenden, sondern so, daß das Leiden bejaht, die Last willentlich getragen wird, also nicht aus Schwäche, sondern kraft einer virtus, einer Tugend, die von innen her bewältigt, was einen von außen her überfällt. So verstanden, berührt sich tolerantia eng mit patientia.« (G. Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, in: T. Rendtorff [Hg.], Glaube und Toleranz. Das theologische Erbe der Aufklärung, Gütersloh 1982, 54 – 73, hier : 56.) Die antike Bedeutungsnähe von tolerantia und patientia wird übrigens noch durch J. Altenstaigs »Vo-

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Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit

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12. Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit Dabei waren es vor allem die aus dogmatischer Intoleranz hervorgehenden Konfessionskriege und ihre Schreckenserfahrungen, welche dazu veranlassten, Toleranz und vernünftige Allgemeinheit auf tendenzielle Glaubensindifferenz zu gründen. Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn man die historische Leistung der Aufklärung theologisch gerecht beurteilen will. Es war »das überaus schwere Erbe des konfessionellen Zeitalters, mit welchem sich die Aufklärung unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten und mit unterschiedlichen Tendenzen auseinanderzusetzen hatte«103. In Anbetracht des »konfescabularius theologiae« von 1517 bestätigt, wo zum Stichwort Toleranz lediglich der eine Satz zu lesen steht: »Tolerantia idem est quod patientia, venitque a tolero, quod est patienter fero.« (Vgl. a.a.O., 60, Anm. 22; zum mittelalterlichen Sprachgebrauch und zum Sprachgebrauch der Vulgata vgl. a.a.O., 59 f. In theologisch elementarster und konzentriertester Form tritt die Bedeutung von tolerantia als leidendem Erdulden in der Wendung tolerantia Dei zutage, wie sie in Luthers 3. Thesenreihe über Röm 3,28 von 1536 [WA 39 I, 82 f] begegnet. Gerhard Ebeling hat in einer eindringlichen Analyse dieses Textes gezeigt, dass der Sinn der Rede von der tolerantia Dei in Gottes abgründiger Leidensgüte offenbar ist, die um des Heils des sündigen Menschen willen den unerträglichen Widerspruch der Sünde auf sich nimmt und in göttlicher Passion, die mit überlegener Gleichgültigkeit schlechterdings nichts gemein hat, schmerzlichst erduldet. »Im Christusgeschehen kommt die Toleranz Gottes zu innerster Verdichtung. Tolerantia Dei ist letztlich tolerantia crucis.« [A.a.O., 65]) Die zu konstatierende weitgehende Bedeutungskoinzidenz von tolerantia und patientia in der antiken und mittelalterlichen Terminologiegeschichte sollte ein bleibender Anlass dafür sein, den Toleranzbegriff entgegen bestimmten Tendenzen des Zeitgeistes nicht zu leicht zu nehmen, sondern ihn mit Assoziationen des schwer Erträglichen zu verbinden. Wo die Devise »anything goes« herrscht, kann von Toleranz überhaupt nicht die Rede sein. Denn gestellt ist das Problem der Toleranz nur dort, wo Anderes als Differierendes, ja als Widerstreitendes begegnet. Der erste Nachweis sprachlicher Eindeutschung von tolerantia in Luthers Gutachten über die Regensburger Artikel von 1541 (WA Br 9, 437 – 439 bzw. 440 – 442; dazu: H. Bornkamm, Die religiöse und politische Problematik im Verhältnis der Konfessionen im Reich, in: H. Lutz [Hg.], Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, 252 – 262, hier : 256 sowie G. Ebeling, a.a.O., 61 Anm. 31) ist ein signifikanter Beleg hierfür. Zugleich ist die anfängliche Verwendung des deutschen Begriffs Toleranz ein klarer Hinweis darauf, dass das durch ihn bezeichnete moderne Problem im frühneuzeitlichen »Spannungsfeld von Kirche und Staat, von Religion und politisch-sozialer Ordnung« (H. Lutz, [Hg.], Einleitung, a.a.O., VII–XXIV, hier : IX.) seinen Ursprung hat. 103 H. Lutz, Das Toleranzedikt von 1781 im Kontext der europäischen Aufklärung, in: T. Rendtorff (Hg.), a.a.O., 10 – 29, hier : 13. Im Ursprungsland der Reformation endete der Konfessionskampf des Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648) mit dem Westfälischen Frieden, der die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens unter ausdrücklicher Ausdehnung auf das reformierte Bekenntnis anerkannte, das seit 1560 in einer Anzahl von westdeutschen Territorien bestimmend geworden war. Religionsgeschichtlich entscheidend ist, dass damit der Protestantismus im Ursprungsland der Reformation seine paritätische Existenz gegenüber dem Katholizismus behaupten konnte. Dies gelang allerdings nur mit Hilfe des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf, in dessen Land die Gegenreformation ohne jeden Erfolg geblieben war, wohingegen im Hl. Röm. Reich die seit etwa den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts wirksam werdende katholische Reaktion bedeutende Erfolge erzielte, was u. a. auf die innere Uneinigkeit

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sionell gespaltenen Absolutheitsanspruch(s) christlicher Wahrheit«104, der nicht selten mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden sollte und schließlich völker- und länderverheerende Religionskriege zur Folge hatte, kann es nicht überraschen, »wenn im 18. Jahrhundert die Kritik am zwangskirchlichen Erbe des konfessionellen Zeitalters nicht bei einer Neuausarbeitung christlicher und innerkirchlich-evolutionärer Toleranzideen stehen blieb …, sondern weiter eskalierte. Bald wurde vielerorts nicht nur die Bedeutung der kirchlichen Formen des Christentums mit zunehmender Schärfe in Frage gestellt, sondern auch die Prinzipien und die Inhalte der Offenbarungsreligion. Es des deutschen Luthertums und seine Differenzen mit dem stärker werdenden Calvinismus zurückzuführen ist. Dieser sah sich in seinen westeuropäischen Gestalten bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in mannigfache Religionskriege verwickelt, sowohl in Frankreich und den Niederlanden als auch in England und Schottland. Die französischen Hugenottenkriege (1562 – 1598) endeten unter Heinrich IV. (von Navarra) mit dem Edikt von Nantes, das beschränkte Toleranz in Religionsfragen gewährte, unter Ludwig XIV. allerdings 1685 wieder aufgehoben wurde, woraufhin der größte Teil der französischen Calvinisten außer Landes floh. Der in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der spanischen Herrschaft geführte niederländische Freiheitskampf (1566 – 1609; 1621 – 1648) erbrachte die Loslösung der sieben nördlichen Provinzen von Spanien, die nach mancherlei Wechselfällen und im Unterschied zu den mittleren und südlichen Provinzen, die spanisch und rein katholisch blieben, ihre Selbständigkeit als unabhängige Republik und ihre calvinistische Religionszugehörigkeit behaupten konnten. In Schottland gewann nach dem Tod Maria Stuarts die reformierte Kirche endgültige staatsrechtliche Anerkennung, während England und der Bestand der anglikanischen Staatskirche durch die Katastrophe der spanischen Armada im Kanal im Jahre 1588 gerettet wurden. Allerdings erwuchsen bereits unter Elisabeth I. dem Anglikanismus ernsthafte Gegner in den streng calvinistisch geprägten Puritanern, zu deren wichtigster religiöser Erscheinungsgestalt die ihrer Verfassungsgrundsätze wegen so genannten Presbyterianer wurden. Ihr religiös motivierter Kampf gegen den königlichen Absolutismus und für politische Freiheit leitete in Großbritannien eine zweite Phase reformationsgeschichtlich bedingter Konfessionskämpfe ein, welche noch einmal zu wichtigen protestantischen Neubildungen, etwa den Quäkern, führte und erst 1688 mit der »glorious revolution« Wilhelms III. von Oranien endete. Schien es nach Ausbruch der Revolution (1642) und zu Beginn der sog. Westminster Synode (1643 – 1647) noch so, als sollte die bisherige episkopal verfasste englische Staatskirche durch eine presbyterial verfasste ersetzt werden, so kam des weiteren mit den Kongregationalisten oder Independenten eine neue Religionspartei auf, die jedes der Einzelgemeinde übergeordnete Amt verwarf und mit der strikten Ablehnung des Staatskirchentums die Forderung der Religionsfreiheit verband. Zwar erlebte das Land nach der Ära Oliver Cromwells, in der mit dem Independentismus die enthusiastisch-apokalyptisch, mystischanabaptistischen Nebenströmungen des Protestantismus einen ihrer religionspolitischen Höhepunkte erreichten, noch einmal zu einer Restauration der Stuarts, aber mit der »glorreichen Revolution« scheiterte auch dieser letzte Versuch, England dem Katholizismus wiederzugewinnen. Die 1689 erlassene Toleranzakte gewährte den protestantischen Dissenters ebenso wie inneranglikanischen Oppositionsparteien das Recht auf öffentlichen Gottesdienst und religiöse Duldung, von der allerdings neben den Antitrinitariern auch Katholiken ausgeschlossen waren. Zu ergänzen ist, dass die von England ausgehende Auswanderungsbewegung unterdrückter religiöser Minderheiten im Laufe der Zeit die religiösen Gegensätze Europas nach Nordamerika exportierte und dem Protestantismus ein riesiges Ländergebiet eröffnete, was seine weltgeschichtliche Bedeutung endgültig besiegelte. 104 Ebd.

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Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit

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wurde also der Gedanke der Toleranz nicht mehr nur im Sinne von Zwangsfreiheit und mildem Verständnis zwischen den Konfessionen gelehrt. Das Pendel schlug viel weiter aus: Die Konfessionskirchen selbst und bald auch grundlegende Positionen des Christentums werden im Namen einer besseren, glücklicheren Zukunft der Menschheit mit Skepsis behandelt. Und stets schwingt in dieser aufgeklärten, sich radikalisierenden Kritik die Erinnerung an das konfessionelle Zeitalter mit.«105 Die Gründe sind nicht unverständlich, warum die aus humanistisch-spiritualistischem Relativismus geborene Toleranzidee nicht nur zu einer bestimmten Art von Latitudinarismus, sondern zu einer fortschreitenden Entleerung christlicher Glaubensinhalte, ja zu einem völligen religiösen Indifferentismus führen konnte. Solchem Indifferentismus ist christlich nicht dadurch zu begegnen, dass man an die Notwendigkeit zivilreligiöser Verbindlichkeiten für Begründung und Erhalt eines funktionsfähigen Gemeinwesens appelliert. Denn zum einen ist religiöser Indifferentismus samt seinem Wahlspruch »anything goes« in bestimmter Weise selbst zu einer Art von postmoderner Zivilreligion geworden. Zum anderen ist mit dem Begriff der Zivilreligion auch noch in seiner Indifferentismusgestalt die Annahme einer notwendig zu fordernden Anerkennung metaphysischer Restbestände (und sei es auch nur der eines prinzipiellen Relativismus) verbunden, welche Forderung wie eine Schwundstufe der – auch noch in ihrem Schwundstufencharakter quasi kategorischen – Maxime wirken muss, dass es aus Gründen öffentlicher Ordnung und Einigkeit nur eine Konfession bzw. Religion im jeweiligen obrigkeitlichen Territorium geben dürfe. Die evidente Tatsache, dass die offenkundigsten Gestalten moderner Zivilreligion im 20. Jahrhundert nationalistisch-faschistischer bzw. kommunistisch-stalinistischer Art waren, sollte sensibel dafür machen, dass die Forderung staatstragender Zivilreligion stets mehr oder minder totalitäre Tendenzen zeitigt, sofern sie dem Staat Züge wenn nicht einer Kirche, so doch einer Weltanschauungsgemeinschaft zu verleihen sucht. Demgegenüber ist als ein Elementarprinzip ziviler Toleranz der Grundsatz zu verteidigen, dass Bürgerrechte weder von religiösen noch von religionskritischen Bekenntnissen direkt abhängig gemacht werden dürfen. Damit wird keineswegs geleugnet, dass der Staat unbeschadet seiner zu fordernden Allgemeinheitsorientierung eine geschichtliche Gestaltungsgröße darstellt, die nicht in abstrakter Ahistorizität, sondern in traditional bestimmten Herkunftszusammenhängen religiös-weltanschaulicher Art existiert, von denen der Staat je und je in besonderer Weise geprägt ist. Dass diese Tatsache die Aufgabe christlicher Gesellschaftsprägung einschließt, die konsequent wahrzunehmen ist, bedarf keiner Betonung. Indes hat die Wahrnehmung dieser Aufgabe gemäß der Maxime zu geschehen, dass ein Verständnis des Staates aus Geist 105 A.a.O., 13 f; vgl. H. Kamen, Intoleranz und Toleranz zwischen Reformation und Aufklärung, München 1967.

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und Überlieferung der Reformation dessen Bestand und Rechtsordnung niemals unmittelbar auf das Prinzip einer gegebenen bzw. vermeintlich gegebenen Einheit gründen wird, welche Differierendes zumindest der Tendenz nach zwangsläufig ausschließen muss. Statt ihn auf die Fundamente einer allen Staatsangehörigen gemeinsamen Überzeugungseinheit stellen zu wollen, ist dem Staat gerade umgekehrt »die Aufgabe zuzuweisen, durch die Mittel des sanktionsbewehrten Rechts elementare Kooperations- und Verständigungsmöglichkeiten allererst sicherzustellen, die von weltanschaulich-ethischen Konsensen in der Weise unabhängig sind, dass sie über alle jeweils erreichten derartigen Konsense hinausreichen und neue ermöglichen; die also den weltanschaulich-ethischen Konsens weniger voraussetzen als ihm vor allem erlauben, sich zu bilden, fortzuentwickeln.«106 Insofern die reformatorische Zwei-Reiche-Lehre mit ihrer strikten Unterscheidung von potestas ecclesiastica und potestas civilis und der solcher Unterscheidung sowohl in kirchlicher als auch staatlicher Hinsicht grundsätzlich eigenen antitotalitären Tendenz prinzipiell mit dieser Aufgabenzuweisung übereinstimmt, lässt sie sich mit Recht und guten Gründen als theologisches Programm einer Politik des weltanschaulichen Pluralismus deuten. Dabei ist hinzuzufügen, was im Vergleich zu Pluralismus- bzw. Toleranzkonzepten, die einen tendenziellen Indifferentismus zur Voraussetzung haben, als die entscheidende Pointe dieses Programms gelten kann, dass nämlich die Zwei-Reiche-Lehre »das politische Eintreten für einen prinzipiellen weltanschaulich-ethischen Pluralismus nicht aus religiöser oder ethischer Indifferenz (verlangt), sondern aufgrund und in Kraft einer spezifischen religiös-ethischen Bindung«107. Die Zwei-Reiche-Lehre ist in diesem Sinne »nicht die Theorie der Trennung von Glaube und Politik, sondern … die theologische Theorie spezifisch christlicher Politik«, welche die »Ganzheitlichkeit einer Lebensorientierung an der Gewißheit des Glaubens … mit der prinzipiellen Anerkennung des weltanschaulichen Pluralismus«108 insofern verbindet, als zu den unveräußerlichen Gehalten des Glaubens die Überzeugung gehört, dass Gewissheit nicht zu erzwingen ist, der Streit der Gewissen daher durch kein Gewaltmittel entschieden werden kann und darf, sondern einzig und allein gewaltlos auszutragen ist. Dass dies entsprechend geschehen kann, dafür hat eine prinzipiell nichttotalitäre Ordnung des Gemeinwesens politisch zu sorgen, welche Sorge den möglichen Einsatz rechtlich geordneter, 106 E. Herms, a.a.O., 98. 107 A.a.O., 123. 108 A.a.O., 122. Vgl. ders., Vom halben zum ganzen Pluralismus. Einige bisher übersehene Aspekte im Verhältnis von Staat und Kirche, in: EvTh 54 (1994), 134 – 157; vgl. ferner a.a.O., 105 – 119 den Beitrag von W. Jaeschke, Der Glaube als Hüter der Verfassung, hier : 106: »Alle Begriffe, in denen man das Verhältnis von Staat und Kirche fassen kann, sind keine unveränderlichen Wesensbegriffe, sondern historisch geprägt. Sie sind geprägt durch ein Ereignis, das primär der Theologiegeschichte und der Kirchengeschichte angehört: nicht durch den eigentümlichen Lehrbegriff, sondern durch das bloße Faktum der Reformation.«

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Antitotalitarismus und Toleranz

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auf Schutz und Erhalt von Leib und Leben ausgerichteter und der Gewaltlimitierung und -minimierung dienender Zwangsmittel nicht aus-, sondern einschließt.

13. Antitotalitarismus und Toleranz Wehrhafter Antitotalitarismus und konsequentes Eintreten für zivile Toleranz gehören in diesem Sinne untrennbar zusammen, wie denn auch das Plädoyer für die Freiheit des Gewissens aus der Gewissheit des Glaubens selbst hervorgeht.109 Solches zu behaupten und in Beziehung zu setzen zu Grundeinsichten Wittenberger Reformation kann nicht bedeuten, die Ambivalenz von deren geschichtlicher Selbstrealisierung in Abrede zu stellen. Auch geht es nicht an, tolerante und intolerante Anteile der Reformationsgeschichte historisch zu sondern. Es ist vielmehr ein Gebot der Wahrhaftigkeit, es beim Eindruck einer nicht behebbaren Zweideutigkeit zu belassen. Um zum epochalen Ausgangsbeispiel zurückzukehren: Auf der einen Seite ist die nach Grundsätzen des Augsburger Religionsfriedens erfolgte konfessionelle Differenzierung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zweifellos als 109 Dass darin, wie immer man über mögliche Begründungsdifferenzen urteilen mag, grundsätzliches ökumenisches Einverständnis herrscht, kann in Bezug auf den nachreformatorischen römischen Katholizismus spätestens seit der Erklärung über die Religionsfreiheit »Dignitatis humanae personae« des II. Vatikanischen Konzils gesagt werden. (Vgl. LThK Erg. Bd. II, 712 – 747; dazu K. Rahner u. a., Religionsfreiheit. Ein Problem für Staat und Kirche, München 1966 sowie die Einleitung zur Textausgabe der »Erklärung über die Religionsfreiheit« von E.-W. Böckenförde, in: H. Lutz [Hg.], a.a.O., 401 – 421. Böckenförde stellt mit Recht den Kontinuitätsbruch heraus, den die Erklärung »De libertate religiosa« bezüglich der vormaligen römisch-katholischen Lehre zur Toleranzfrage darstellt. Vgl. ders., Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen. Gedanken eines Juristen zu den Diskussionen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: StZ 176 [1965], 199 – 212, hier : 203: »Die traditionelle katholische Lehre bis hin zur sog. Toleranzansprache Pius’ XII. von 1953 hat die Anerkennung der Religionsfreiheit oder, was auf dasselbe hinausliefe, der Toleranz als Prinzip im Ergebnis immer abgelehnt. Sie geht dabei von dem Primat der Wahrheit gegenüber der Freiheit aus und von der These, daß der Irrtum an sich kein Recht hat gegenüber der Wahrheit. Nur besondere Gründe – ›graves causae‹ – im Hinblick auf das Gemeinwohl können es gestatten, daß dem Irrtum gleichwohl Existenz zuerkannt werde, dies aber niemals de iure als Prinzip, sondern immer nur de facto als Hinnahme eines Übels. Das ist, im Grundsätzlichen, noch die gleiche Lehre wie zu Zeiten der Reformation und Gegenreformation. Auch in der Konzilsaula ist sie von etlichen Vätern, einer Minderheit allerdings, mit Nachdruck vertreten worden.« Ferner R. Bäumlin/E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 28, Berlin 1970, 3 – 88, hier : 80: »Der moderne Staat steht unter dem Gesetz der ›Entzweiung‹, das die moderne Welt bestimmt. Er gründet sich nicht auf eine geoffenbarte Wahrheit, sondern auf vernünftige Zwecke. Er bleibt, nach den Erfahrungen der konfessionellen Bürgerkriege, bewußt im Bereich der Setzungen, im vorletzten Raum. Eben deshalb kann er seine Bürger nicht mit der Unbedingheit und Kraft einer offenbaren Wahrheit verbinden, sondern nur mit der Kraft seiner Zwecke.« Über »Die Entstehung des modernen Gewissens« informiert H. Kittsteiner in seinem gleichnamigen Buch [Frankfurt a.M./Leipzig 1991]. Zu Luther vgl. bes. 159 ff)

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ein erster Schritt zu Toleranz und Pluralitätsanerkennung zu werten; auf der anderen Seite hatte das faktische Ende der überkommenen religiösen Reichseinheitskultur eine gesteigerte Uniformierung in den Territorien zur nicht nur tatsächlichen, sondern zur durchaus intendierten Folge. Die Gemengelage des Historischen – »Toleranz im Reich, Intoleranz in den Ländern«110 – erlaubt demnach auch hinsichtlich des reformationsgeschichtlichen Epochendatums von 1555 nur ein eindeutiges theologisches Urteil, nämlich das der Zweideutigkeit. Dieses Urteil kann freilich nicht daran hindern, klar zwischen dem Begründungs- und den Realisierungszusammenhängen reformatorischer Einsicht zu unterscheiden, wobei noch einmal zu betonen ist, dass es zu den konstitutiven Eigentümlichkeiten reformatorischer Theologie gehört, die Erkenntnis der Zweideutigkeit ihrer historischen Verwirklichung ins Bewusstsein ihrer religiösen Identität selbst aufzunehmen. Die dadurch erschlossene Komplexität der Selbstwahrnehmung sollte es ermöglichen, die vorbehaltlose Anerkennung der Ambiguität geschichtlicher Realisierung des Eigenen mit dem unzweideutigen Festhalten an der Ursprünglichkeit gewonnener theologischer Einsicht zu verbinden. Unter dieser Voraussetzung sei ein abschließender Versuch unternommen, die geschichtliche Rolle der Reformation im Reich und in den Territorien sowie ihre Folgen für die politische Ordnung in Grundzügen zu skizzieren. Was sich schon seit dem späten Mittelalter abzeichnet, wird im Verlauf des 16. Jahrhunderts zusehends manifest: Die Territorien, im Vergleich zu denen die Städte eine mehr und mehr nachgeordnete Rolle spielen, bestimmen die geschichtliche Entwicklung im Reich und werden zu »Vorreiter(n)«111 des modernen Staates. Dass diese vom Augsburger Religionsfrieden ebenso belegte wie beschleunigte Entwicklung unter dem entfalteten Gesichtspunkt der Religionsfreiheit betrachtet auch äußerst kontraproduktive Aspekte aufweist, wird man selbst dann nicht in Abrede stellen können, wenn man im Hinblick auf die vergangene mittelalterliche Einheitskultur keine Restaurationsinteressen hegt und die Emanzipation der Territorien von der mittelalterlichen Reichsidee für einen geschichtlich notwendigen und unter den Bedingungen reformatorischer Theologie grundsätzlich zu begrüßenden Prozess bewertet. Unleugbar ist, dass der durch Anerkennung paritätischer Zweiheit auf Reichsebene zugunsten ansatzweiser Pluralität behobene religiöse Einheitszwang auf der Ebene der Territorien häufig potenziert auftrat; und ebenso wenig lässt sich leugnen, dass die territoriale Konfessionalisierung entscheidend durch Gründe der Staatsraison motiviert war, der eine Glaubenseinheit im Lande politisch unverzichtbar erschien. Landesordnung und 110 H. Bornkamm, a.a.O., 376. Bornkamm fährt fort: »der Religionsfriede war weder ein Produkt der Intoleranz noch der Toleranz, sondern der erste (und damit entscheidende) Schritt von der einen zu(r) anderen.« 111 V. Press, Der Kaiser, das Reich und die Reformation, in: K. Löcher (Hg.), Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Schweinfurt o. J., 61 – 94, hier : 62.

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Antitotalitarismus und Toleranz

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Kirchenordnung stehen daher vielfach in engstem Zusammenhang: »Es werden separate Landeskirchen gebildet, an deren Spitze der Fürst als ›summus episcopus‹ tritt und die das schulische und kulturelle Leben weitgehend beherrschen. Dem Landesherrn fällt nunmehr die Entscheidung über Lehre und Kultus zu und die Wahrnehmung der geistlichen Gerichtsbarkeit, insbesondere in Ehesachen, wofür er Visitationen veranstaltet und als besondere Behörden Konsistorien oder Kirchenräte einrichtet.«112 Insgesamt gilt, dass das bisherige Kirchenregiment der Fürsten durch die Reformation erheblich gesteigert wurde, wozu die Säkularisierung des Kirchenguts entscheidend beitrug. Gleichwohl darf die üblich gewordene Rede von der deutschen Fürstenreformation113 nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Steigerung landesherrlichen Kirchenregiments im Zuge der Reformation keineswegs nur in protestantischen Ländern stattfand und im Übrigen einen Prozess betraf, der weit ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Hinzukommt, dass die Realisierung des landesherrlichen Summepiskopats den ursprünglichen theologischen Einsichten der Reformation weder in ekklesiologischer noch auch in politischer Hinsicht entsprach. Auch wenn man im Verlauf der Reformation »die Gemeinschaft mit der bischöflich verfaßten katholischen Kirche nicht mehr als um des Evangeliums willen notwendig (anerkannte) und … daraus das Recht ab(leitete), in der konkreten Notsituation eine neue, eigene Kirchenordnung einzurichten«114, setzte man doch in der Regel gegenüber der Notlösung des landesherrlichen Episkopats auf ein kircheneigenes Ordnungsamt. Man wird daher die refomatorische Bewegung nicht undifferenziert mit dem Prozess landesherrlicher bzw. territorialstaatlicher Emanzipation vom Reich gleichsetzen dürfen. Entsprechend unangemessen wäre es, die Reformation – ob nun im Sinne eines positiven oder eines negativen Werturteils – unmittelbar für den Niedergang des Reiches verantwortlich zu machen. Wenn hier ein reformatorisch bestimmter Gegensatz vorliegt, dann betrifft er nicht die Reichsidee als solche, sondern lediglich die Reichsidee, welche Karl V. repräsentierte, wobei auch hier noch einmal zwischen der kaum oder allenfalls mit äußerster Zurückhaltung geübten Kritik an der Person des frommen Kaisers und der Ablehnung der politischen Folgen seines ideologischen Programms zu unterscheiden ist. Die manifesten Schwierigkeiten im reformatorischen Lager mit der Frage des Rechts eines möglichen Widerstands gegen den Kaiser sind ein Beleg hierfür, und auch die in den Jahren nach dem Augsburger Reichstag 1530 von der Mehrheit favorisierte Lösung dieser Frage ist nicht gegen das Reich, sondern lediglich gegen dessen vorbehaltlose 112 G. Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches, in: H. Grundmann (Hg.), Handbuch der deutschen Geschichte (Gebhardt), Bd. 2, Stuttgart 1970, 360 – 436, hier : 398. 113 Vgl. etwa E. Iserloh, Die deutsche Fürstenreformation, in: ders. u. a., Reformation, Katholische Reform und Gegenreformation, Freiburg i.Br./Basel/Wien 1967, 217 ff. 114 W. Kasper, Das Augsburger Bekenntnis im evangelisch-katholischen Gespräch, in: TThQ 160 (1980), 82 – 95, hier 90: »Damit war die Kirchenspaltung gegeben.«

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Reformationsjubiläum 2017. Historische Prolegomena

Identifizierung mit dem Kaiser und der persönlichen Reichsidee Karls gerichtet.

14. Zwischen Mittelalter und Neuzeit Unter historischen Gesichtspunkten ist es ohnehin Faktum, dass nachgerade die Reichsverfassung wesentliche Bedingungen für den Erfolg der Reformation enthielt; keineswegs kann dieser einseitig oder gar ausschließlich den protestantischen Fürsten zugerechnet werden: Waren die Territorien, in denen die Reformation durchgeführt wurde, doch selbst »ein Bestandteil der Reichsverfassung und durch diese in ihren internen Entscheidungen geschützt«115. Zu einem prinzipiellen reformatorischen Gegensatz gegen das Reich, das sich im Zuge der Reichsreformbewegung zu einer wirklichen Rechtsgemeinschaft und zu einem durchaus differenziert geordneten Gemeinschaftsgefüge entwickelt hatte, gab es also keinen Anlass. Wahr freilich ist, dass die Reformation gegen den erklärten Willen Karls V. durchgesetzt werden musste. Doch der Kaiser war nicht das Reich, wofür Wahl und Wahlkapitulation Karls selbst ein Beweis sind. An diesem Sachverhalt musste der reformatorischen Bewegung in partikularer Übereinstimmung mit ständischen Interessen gelegen sein; und in diesem Sinne war die Resignation Karls im Zusammenhang mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 für die Reformation zweifellos ein entscheidender Erfolg, der in bestimmter Hinsicht auch dem Reich zugerechnet werden kann, dessen differenziertes Gefüge ein friedliches Zusammenleben kirchlich getrennter Konfessionen auf deutschem Boden zumindest bis auf weiteres ermöglichen sollte, was unter den Bedingungen der programmatischen Reichsidee Karls ausgeschlossen war. Unbestreitbar ist freilich auch, dass der Augsburger Kompromiss von 1555, der dem Reich immerhin sechzig Jahre lang den äußeren Frieden erhielt, weitere konfessionell bedingte Verfassungskonflikte zur Folge hatte, die Anfang des 17. Jahrhunderts zum offenen Ausbruch kamen und schließlich einen dreißigjährigen Krieg für Deutschland heraufführten. Das erste Jahrzehnt dieses Krieges brachte Kaiser Ferdinand II. wichtige Erfolge, die er im Sinne einer dezidiert monarchischen Ausgestaltung der Reichsverfassung nutzen wollte. »Es wiederholte sich die Entwicklung der Jahre 1546 – 1552 im größeren Rahmen.«116 Am schließlichen Ende des Krieges kommt man auf das 115 W. Becker, Reformation und Revolution, 72. 116 G. Oestreich, a.a.O., 376. Vgl. in diesem Zusammenhang die Bemerkung J. Baurs, Lutherisches Christentum im konfessionellen Zeitalter – ein Vorschlag zur Orientierung und Verständigung, in: ders., Einsicht und Glaube. Bd. 2, Göttingen 1994, 57 – 74, hier : 72: »Im Blick auf die religiös verschärfte Aggressivität der altgläubigen und reformierten Kontrahenten, die nach 1618 in den Krieg umschlug, mag zwar das lutherische Festhalten am Religionsfrieden von 1555 als ›Fiktion‹ taxiert werden können, aber der nicht nur das Problem der historischen

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Zwischen Mittelalter und Neuzeit

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Ergebnis von 1555 zurück. Der Augsburger Religionsfriede wird bekräftigt und auf die Calvinisten ausgedehnt. Zwei in allen die Religion berührenden Fragen auseinandertretende und nur zu gütlichem Ausgleich befugte Reichstagskurien, das Corpus Catholicorum und das Corpus Evangelicorum, sollen die konfessionelle Parität repräsentieren und gewährleisten. Auch zeigen sich zum Zweck des Ausgleichs der fixen Konfessionsverleihungsregel des Normaljahres 1624 gewisse Ansätze einer Stärkung der religiösen Rechte des Einzelnen, sofern unter Wahrung des konfessionell bedingten Auswanderungsrechts ein landesherrlicher Auswanderungszwang abgewiesen und den von der Konfession des Landesherrn abweichenden Untertanen Möglichkeiten der Religionsausübung gewährt werden. Obwohl die erreichte Lösung der religiösen Frage den ausdrücklichen Protest des Papstes hervorrief, brachte der Westfälische Friede »die große politisch-konfessionelle Krise des europäischen Staatslebens im 17. Jahrhundert, die eine ihrer Ursachen im Versuch des Aufbaus einer römisch-katholischen Universalmonarchie hatte, für das deutsche Reich zu einem gewissen Abschluß«117. Erneut wurde damit die epochale Bedeutung des Augsburger Religionsfriedens geschichtlich bestätigt, mit dem die alte unio imperii et ecclesiae im Prinzip bereits an ihr Ende gelangt und das Mittelalter dem Ansatz nach vergangen war.118 Schuld am Religionskrieg tangierende Umstand einer theologischen und gerade nicht indifferenten Begründung des äußeren Religionsfriedens und der damit akzeptierten Pluralität des Christentums könnte zum Anlaß werden, die Bedingungen der Genese der Moderne noch einmal zu überdenken.« 117 G. Oestrich, a.a.O., 378. Zur Voraussetzung und mehr noch zur tatsächlichen Folge hatte diese Lösung eine über den Friedensschluss von 1555 weit hinausführende Säkularisierung des Rechts und der sonstigen Lebensordnungen sowie eine massive Beschränkung des ehemals beherrschenden Einflusses der institutionalisierten Religion auf die soziokulturelle Ordnung. Die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, in die die europäischen Religionskriege des späten 16. und des 17. Jahrhunderts mündeten, ohne eine wirkliche Entscheidung des konfessionellen Streits erbracht zu haben, markiert so in bestimmter Weise den Ausgangspunkt für die endgültige Entstehung der modernen Welt, der Neuzeit, für welche die gesellschaftliche Emanzipation von dogmatischem Einheitszwang und kirchlichen Monopolansprüchen charakteristisch werden sollte. Das konnte dann unter anderem auch dazu führen, dass sich die politischen, ökonomischen und kulturellen Lebensformen der Gesellschaft von religiösen Bindungen überhaupt ablösten, wie das für jenen modernen Säkularismus kennzeichnend ist, der Religion allenfalls als Privatsache gelten lässt. 118 Ob man in der Reformation »nur einen Durchbruch durch das Mittelalter« (E. Wolf, Reformatorische Religiosität und neue Weltlichkeit, in: Peregrinatio. Band II: Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 300 – 317, hier : 307) oder bereits dessen definitives Ende zu sehen hat, ist im Grund eine Frage systematischer Gewichtung, die sich historisch ebenso wenig eindeutig entscheiden lässt wie das Problem, ob die Idee des Corpus Christianum reformatorischerseits anfangs nur umgedeutet oder von vorneherein und grundsätzlich problematisiert wurde. Als Kompromiss bietet sich etwa folgende, monokausale Erklärungen historisch in Schranken weisende Formel an: »Das, was … als ›moderne Welt‹ entsteht, ist nicht das Erzeugnis, aber die Folge des protestantischen Geistes, der durch die Reformation herbeigeführten Befreiung von normativen Autoritäten traditionell-institutioneller Art.« (A.a.O., 316)

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Theologia positiva acroamatica. Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs von 1664 1. Theologia als scientia practica Aristoteles1 hat die Wissenschaften in theoretische, praktische und sog. poetische, auf Hervorbringung bezogene unterschieden. Seit Alexander von Aphrodisias ist die Drei- in der Regel auf eine Zweiteilung in theoretische und praktische Wissenschaften reduziert worden. Ist die Theologie eine theoretische oder eine praktische Wissenschaft im aristotelischen Sinn? Unter den theologischen Aristotelesrezipienten des Mittelalters wurden auf diese Frage unterschiedliche Antworten gegeben. Während Thomas von Aquin unter Verweis auf die höhere Würde, die der Theorie wegen ihrer Selbstzwecklichkeit im Vergleich zum praktischen Wissen eigne, die Theologie als spekulative Wissenschaft zu bestimmen suchte, galt sie anderen Theologen vor und nach ihm als scientia practica bzw. als eine sapientiale Wissenschaft, in der sich theoretische und praktische Aspekte verbinden. Endzweck aller Praxis ist nach Aristoteles Glückseligkeit als ein in sich vollendetes und sich selbst genügendes Gut, auf das alle Tugendübung hinstrebt. Dieses Gut liegt allen spezifischen Handlungszielsetzungen voraus, und 1 Einen Überblick über die »Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland« gibt P. Petersen in seiner gleichnamigen, 1921 bei Felix Meiner in Leipzig erschienenen philosophischen Habilitationsschrift. Die Vorherrschaft der aristotelischen Philosophie ist trotz seiner eklektischen Art zu philosophieren von Philipp Melanchthon grundgelegt und durch den Sieg des Melanchthonianismus über den Ramismus befestigt worden. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert hat der Aristotelismus an protestantischen Universitäten und Schulen auf Physik, Ethik, Rhetorik und Logik bestimmenden Einfluss gewonnen und auf die Theologie namentlich durch die Metaphysik eingewirkt. »Wie im dreizehnten Jahrhundert durch die Bekanntschaft mit der Metaphysik des Aristoteles der Wissenschaft des Abendlandes ein neuer Antrieb zu großartiger Denkarbeit gegeben wurde, so hat die Aufnahme der metaphysischen Fragen innerhalb der protestantischen Welt Deutschlands seit Ende des sechzehnten Jahrhunderts den Schulwissenschaften kraftvolleres Leben zugeführt und vielseitig fruchtbar gewirkt.« (A.a.O., 327) Das 17. Jahrhundert ist für Deutschland »das Jahrhundert der Metaphysik geworden« (a.a.O., 218). Dabei galt die Gotteslehre der aristotelischen Metaphysik den Theologen als »ein Stück natürliche Theologie« (a.a.O., 332) mit der Folge, dass die frühaufklärerischen Tendenzen, die theologia revelata in eine theologia naturalis zu überführen, an der Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie einen zumindest partiellen Anhalt fanden. In einem abschließenden Teil seiner Untersuchung (vgl. a.a.O., 339 – 519) widmet sich Petersen dem Kampf gegen den Aristotelismus und der allmählichen Herausbildung einer philosophisch-geschichtlichen Betrachtungsweise in Philosophie und Theologie.

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seine Erkenntnis bildet die Basis jeder Bestimmung richtiger Praxis. Gleichwohl kann Aristoteles die Erkenntnis des Ziels, dem alle rechte Praxis zustrebt, selbst bereits der praktischen Wissenschaft zurechnen, sofern zu dieser nicht nur das Wissen um aktuelle Zielbestimmungen des Willens, sondern auch dasjenige um den Endzweck gehört, der allen aktuellen Zielbestimmungen des Willens als letztes Bestimmungsziel zugrunde liegt. Dementsprechend konnte im Anschluss an Aristoteles auch die Lehre vom Wesen Gottes und seiner Erkenntnis als praktische Wissenschaft verstanden werden. Die Wirklichkeit Gottes, wie sie an sich selbst ist, ist Gegenstand und Grundthema nicht nur einer Theologie, die sich als theoretische, sondern auch einer solchen, die sich als praktische Wissenschaft versteht. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Auffassung der Theologie als scientia practica im Unterschied zu ihrer Deutung als rein theoretische Wissenschaft die Gottebenbildlichkeit alles Kreatürlichen und nachgerade die Hinordnung des gefallenen Menschen auf Gott explizit in den Theologiebegriff aufnimmt. Theologie als Wissenschaft von Gott steht in einer für ihren Begriff konstitutiven Relation zum Heil von Menschheit und Welt, dessen Ermöglichung und Realisierung von der Wirklichkeit Gottes und seinem göttlichen Wesen nicht zu trennen ist, weil zur Gottheit Gottes unveräußerlich der Wille gehört, dass allen Menschen geholfen werde. In der Reformation wurde der Begriff der Theologie als einer scientia practica nicht nur beibehalten, sondern eigens und dezidiert hervorgehoben: »Vera theologia est practica« (WA TR 1, 72,16 [Nr. 153]), sagt Luther, wohingegen er die spekulative Theologie ablehnt, weil sie nach seinem Urteil Gott und Mensch beziehungslos oder jedenfalls nicht in jenem Beziehungszusammenhang denkt, der in dem Grundsatz umschrieben ist, »ut proprie sit subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus justificans vel salvator peccatoris« (WA 40/II, 328, 1 f). Weil Theologie ohne Bezug auf das Verhältnis, das von der Christusoffenbarung her in der Kraft des Heiligen Geistes zwischen dem sündigen Menschen und dem den Sünder rechtfertigenden Gott waltet, nicht konkret zu denken ist, hat sie ihrem Begriff nach nicht als eine rein theoretische, sondern als eine praktische Wissenschaft zu gelten. Die neoaristotelische Dogmatik der altlutherischen Orthodoxie2 hielt an dieser 2 Der Begriff der Orthodoxie, der in seiner in der christlichen Gräzität entwickelten und allmählich auch im lateinischen Westen übernommenen Allgemeinbedeutung Rechtgläubigkeit u. ä. bezeichnet (vgl. J. Baur, Art. Orthodoxie, Genese und Struktur, in: TRE 25, 498 – 507), wird theologiehistoriographisch üblicherweise als Sammelname für die im konfessionalistischen Zeitalter herrschende Kirchenlehre lutherischer und reformierter Provenienz verwendet. Doch kann er in funktionsanaloger Weise auch auf die – der sog. altprotestantischen Orthodoxie im Widerspruch verbundene – nachtridentinische Barockscholastik Anwendung finden. Während sich die reformierte Orthodoxie der Zeit zwischen Calvins Tod und dem beginnenden 18. Jahrhundert in Ländern von politisch und kulturell sehr unterschiedlichem Gepräge auszubilden hatte (vgl. O. Fatio, Art. Orthodoxie II. Reformierte Orthodoxie, in: TRE 25, 485 – 497), war die lutherische »an einen geographisch homogenen Raum gebunden« (a.a.O., 487). Zu Zentren ihrer Entwicklung wurden die jeweiligen, teilweise neugegründeten Universitäten in den Kernländern der Refor-

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mation. Zu nennen sind neben Wittenberg insbesondere Tübingen, Gießen, Straßburg, Leipzig, Rostock, Jena oder Greifswald. Eine Sonderstellung nimmt die Universität Helmstedt ein, wo Georg Calixt wirkte, dessen Irenik Anlass zum sog. Synkretistischen Streit im Luthertum des 17. Jahrhunderts gab. (Der Begriff Synkretismus bezeichnet gemäß einer Fabel Plutarchs ursprünglich die Verbundenheit der ansonsten uneinigen Kreter gegen äußere Feinde und im übertragenen, seit dem Humanismus gebräuchlichen Sinn die Vermischung verschiedener Religionen und Kulte.) In Skandinavien gelangte die Kopenhagener Theologie zu überregionaler Bedeutung (vgl. im Einzelnen F. Matthias, Art. Orthodoxie I. Lutherische Orthodoxie, in: TRE 25, 464 – 485, hier : 468 – 473). Ihren Anfang nahm die lutherische Orthodoxie in der Zeit nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 mit dem sich ausbildenden Konkordienwerk von 1580. (Vgl. hierzu G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bd., Berlin/New York 1996/98.) Auf die Phase der Frühorthodoxie folgte die Hochorthodoxie als die wissenschaftlich produktivste Periode. Sie reicht von der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert bis etwa 1675 und ist gekennzeichnet durch eine extensive Rezeption der aristotelischen Schulphilosophie und einer umfassenden Systematisierung der Dogmatik. Man begnügte sich nicht länger mit einer philologisch-rhetorischen Schriftauslegung im humanistischen Stil bzw. einer bloßen Zusammenstellung verallgemeinernder Leitsätze und Ordnungsgesichtspunkte in der Weise von Loci communes. Die Anforderungen an wissenschaftliche Kohärenz der Theologie wurden nicht unerheblich gesteigert. Johann Gerhards Loci theologici sind dafür ein erster hervorragender Beleg. In offener Distanzierung zur Methodik Melanchthons und in dezidierter Aufnahme der neuaristotelischen Theorie Giacomo Zabarellas (1533 – 89) wird »das Wesen der Theologie als Wissenschaft neu bestimmt« (TRE 25, 475). Im Zuge der Konzeptionierung der Theologie als einer scientia practica wird innerhalb des wissenschaftlichen ordo generalis mehr und mehr die sog. analytische Methode führend, die ausgehend vom Ziel menschlicher Beseligung in Gott nach dem Subjekt dieser Zielbestimmung, nämlich dem gefallenen Menschen, und den Prinzipien und Mitteln fragt, dieses Ziel zu erreichen. Der klar strukturierten Systematik des Lehrgebäudes im Großen und Ganzen entspricht eine gesteigerte Differenzierung des Stoffs im Einzelnen, der in alle möglichen Details zergliedert wird. Die Prolegomena und dabei insbesondere die Lehre von der Heiligen Schrift als dem Erkenntnisprinzip der Dogmatik nehmen immer elaboriertere Form an. In der materialen Dogmatik wird namentlich die Christologie und in ihr besonders die Lehre von der Idiomenkommunikation in hochkomplexer Weise ausgebaut, was zu teilweise heftigen Schulauseinandersetzungen wie dem sog. Kenosis-Krypsis-Streit zwischen den Tübinger und den Gießener Theologen führte. Auch der Grad soteriologischer Differenzierung steigert sich erheblich; obwohl der Begriff selbst im Luthertum erst verhältnismäßig spät begegnet, wird ein förmlicher ordo salutis ausgearbeitet, der den Rechtfertigungsvorgang in seine logischen Momente zergliedert, was beispielsweise bei Hollaz zu folgender Reihung führt: vocatio, illuminatio, conversio, regeneratio, iustificatio, unio mystica, renovatio, conservatio fidei et sanctitatis (vgl. im Einzelnen J. A. Steiger, Art. Ordo salutis, in: TRE 25, 371 – 376). Wie die reformierte, die seit der Dordrechter Synode in den Niederlanden ihr Zentrum hatte, neigte sich auch die lutherische Hochorthodoxie im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts ihrem Ende zu, um in eine Phase der Spätorthodoxie überzugehen, die durch wachsende Auseinandersetzungen mit aufgeklärt-rationalistischen und pietistischen Tendenzen der Zeit gekennzeichnet ist. Schon seit geraumer Zeit hatten die wachsenden Erfolge der empirischen Wissenschaften und die Entstehung neuer philosophischer Ansätze wie etwa des cartesianischen den Neoaristotelismus als die schulphilosophische Basis der Orthodoxie in Zweifel gezogen. Die historische Problematisierung des Kanons und die allmähliche Auflösung des inspirationstheoretisch abgesicherten zeitinvarianten Autoritäts- und Geltungsanspruchs der Heiligen Schrift taten ein Übriges. Spätestens 1740 war die altprotestantische Ortodoxie von einigen

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Bestimmung fest und verband sie nach geraumer Zeit mit der die Loci-Methode allmählich ablösenden sog. analytischen Methode, »die den untersuchten Gegenstand im Hinblick auf seine Zweckbeziehung nach dem Gesichtspunkt von Ziel, Subjekt und Mitteln zum Ziel analysiert und darstellt«3. Scientia practica ist die Theologie primär nicht deshalb, weil sie den menschlichen Willen zu einzelnen religiös-sittlichen Handlungen bestimmt, sondern weil sie die Wesensstruktur und gesamte Existenz des Menschen auf Gott als ihren Endzweck ausrichtet. Ein signifikantes Beispiel für das Konzept der Theologie als einer scientia practica bietet Johann Friedrich Königs (1619 – 1664)4 Dogmatikkompendium Nachhutgefechten abgesehen an ihr theologiegeschichtliches Ende gelangt. (Einer der ersten und zugleich repräsentativsten Vertreter einer sog. Übergangstheologie von lutherischer Orthodoxie zu Aufklärung und Pietismus war Johann Franz Budde [Buddeus; 1667 – 1729], bei dem sich bereits der Gedanke findet, die Offenbarung könne nichts der vernünftigen Gotteserkenntnis und der religio naturalis Widersprechendes enthalten. Zur Frage, warum nach Buddeus durch den Begriff der natürlichen Religion gleichwohl »keine der Offenbarung äußerliche Kontrollinstanz eingesetzt« ist, vgl. im Einzelnen F. Nüssel, Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus, Göttingen 1996, hier : 274; ferner 340 etc.). 3 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 234. A.a.O., 234 ff finden sich weitere Hinweise zum altprotestantischen Verständnis der Theologie als praktischer Wissenschaft und zum Bezug, in dem dieses Verständnis zu demjenigen der analytischen Methode und ihrer Anwendung steht. 4 Bevor auf Königs Werk näher einzugehen ist, seien einige vor ihm lehrende Vertreter altlutherischer Orthodoxie zumindest benannt. Martin Chemnitz (1522 – 1586), »summus theologus« der zweiten Generation nach Luther, war neben Jakob Andreae (1528 – 1590) der wichtigste Vater des Konkordienwerkes von 1580 und ist durch seine Dogmatik und Kontroverstheologie zum Ausgangspuntk der Lehrsysteme der altlutherischen Orthodoxie geworden. Formal bedient er sich des Wissenschaftsverfahrens Philipp Melanchthons; dessen Lehrinhalte werden aber dem Theologiekonzept von Chemnitz kritisch subordiniert. Bemerkenswert ist insbesondere Chemnitzens eigentümliche Christologie: Die Weltgegenwart der menschlichen Natur Jesu Christi folgert er zwar mit Johannes Brenz (1499 – 1570) aus der Personeinheit des Gottmenschen, erklärt sie jedoch nicht zum Realgrund, sondern lediglich zum Möglichkeitsgrund realer Präsenz des Menschseins Jesu Christi im Abendmahl. Als ein weiterer Begründer lutherischer Orthodoxie verdient Jakob Heerbrand (1521 – 1600) erwähnt zu werden. Wie Chemnitz war auch er methodisch von Melanchthon, inhaltlich-theologisch aber von Luther geprägt. Sein »Compendium theologiae«, das 1573 erstmals, 1578 in neu bearbeiteter und erweiterter Form erschien, gliedert den dogmatischen Stoff nach Loci und spezifiziert ihn nach Fragen. In Tübingen diente das Kompendium für längere Zeit als Vorlage für Vorlesungen. Für ihr dogmatisches Verfahren bedient sich die altlutherische Orthodoxie, wie erwähnt, anfänglich der sog. Lokalmethode. Der Ausdruck Locus bzw. Loci verweist auf die Topik des Aristoteles, der topos (Ort) einen allgemeinen Satz bzw. eine logische Regel zur Auffindung von Beweisen nannte. Im Sprachgebrauch der Rhetorik sind loci communes Gesichtspunkte zur Sammlung und Gliederung des Stoffes. Die »Loci communes rerum theologicarum« von Melanchthon, deren erste Fassung 1521 erschien, sind nach Maßgabe zentraler Grundbegriffe wie Sünde, Gesetz, Evangelium, Gnade, Rechtfertigung und Glaube etc. geordnet. Als neuer Typ von Dogmatik wollen die sog. Loci communes eine zusammenfassende und systematisierte Bibelauslegung bieten. Für die altprotestantische Orthodoxie ist vor allem die ausgereifte Fassung der melanchthonischen Loci von 1559 wirksam geworden, die viermal umfänglicher sind als die Erstfassung. Unter den theologischen Repräsentanten Wittenberger Reformation der dritten Generation nach

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74 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs von 1664.5 Die Theologia positiva acroamatica bestimmt sich nach Maßgabe des Begriffs, den sie von sich selbst hat, und gemäß der diesem Begriff entLuther ragen Aegidius Hunnius und Leonhard Hütter bzw. Hutterus hervor. Hunnius (1550 – 1603), herzoglicher Stipendiat in Tübingen und Schüler Heerbrands, ist in christologischer Hinsicht durch seine Theorie der intima praesentia ad invicem, der Binnengegenwart Gottes und Jesu Christi füreinander einflussreich geworden, aus der er folgerte, dass Jesus Christus das Universum ohne räumliche Rücksicht gegenwärtig ist. Der Theologie des Konkordienluthertums hat er eine feste und systematisch tragfähige Basis gegeben. Auch Hutter (1563 – 1616) ist ein bedeutender theologischer Vertreter des durch das Konkordienwerk geeinten Luthertums. Zeugnis seiner starken Nachwirkung ist der »Hutterus Redivivus oder Dogmatik der evangelischlutherischen Kirche«, den Karl von Hase (1800 – 1890) 1828 (121883) als »Dogmatisches Repetitorium für Studierende« erscheinen ließ, womit er eine Renaissance altlutherischer Orthodoxie bewirkte und wesentlich zur Konfessionalisierung der Theologie seiner Zeit beitrug. Unter den Zeitgenossen Königs verdient Abraham Calov (1612 – 1686) besondere Erwähnung. Er war ein in vieler Hinsicht außergewöhnlicher Mann. So befolgte er Luthers Rat, man solle lieber drei- oder gar sechsmal nacheinander in den Ehestand treten, statt sich von seinen libidinösen Begierden zu Unzucht verleiten zu lassen (vgl. WA 26, 527, 3) »überaus wörtlich; zwei Jahre vor seinem Tode heiratete er noch mit 72 Jahren die achtzehnjährige Tochter seines Kollegen Quenstedt, nachdem er 5 Gattinnen und 13 Kinder begraben hatte« (A. Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 5: Beichte, Haustafel, Traubüchlein, Taufbüchlein, Göttingen 1994, 110 f) Im übrigen hat sich der aus Ostpreußen stammende, in Rostock, Königsberg, Danzig und Wittenberg als Pastor und Professor wirkende Calov durch einer strengen Verbalinspirationstheorie verpflichtete Schriftauslegung, antisozianische Polemik (vgl. bes. seinen Socinismus profligatus von 1652) und durch dogmatische Werke (vgl. bes. die zwölf, in den Jahren 1655 – 77 in Wittenberg erschienen Bände »Systema locorum theologicorum«) einen Namen gemacht, die durch strengstes Gnesioluthertum gekennzeichnet sind. »Luther selbst wird wegen seines Urteils über den Jakobusbrief und seiner Unterscheidung zwischen kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Irrtums bezichtigt.« (J. Wallmann, Art. Calov, Abraham, in: TRE 7, 563 – 568, hier : 568) »Im Gedächtnis der Nachwelt lebt er fort als der Prototyp des lutherisch-orthodoxen Streittheologen, so wie ihn schon Lessing in einem Atemzug mit Johann Melchior Goeze nannte.« (Ebd.). 5 J.F. König, Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664). Hg. u. übers. v. A. Stegmann, Tübingen 2006. Die nachfolgenden Verweise im Text beziehen sich auf die jeweiligen Paragraphennummern der Protheoria bzw. der drei Teile des Werkes. Zitiert wird entweder das lateinische Original oder die deutsche Übersetzung Stegmanns. Sperrungen werden nicht wiedergegeben. Zur Edition und Übersetzung von Königs Lehrbuch vgl. den Begleitband A. Stegmann, Johann Friedrich König. Seine Theologia positiva acroamatica (1664) im Rahmen des frühneuzeitlichen Theologiestudiums, Tübingen 2006. Die Untersuchung »stellt zum einen die Gattung des lutherischen Dogmatikkompendiums und den akademischen Dogmatikunterricht des 17. Jahrhunderts vor, zum anderen widmet sie sich konkret der Theologia positiva und ihrem Autor Johann Friedrich König« (a.a.O., 1). Nach Königs Biographie (a.a.O., 3 – 86) und der allgemeinen Geschichte seines Werkes (a.a.O., 87 – 99) werden die Entstehung der Theologia positiva, ihr Aufbau und ihre Vorgehensweise sowie ihre Wirkungsgeschichte (a.a.O., 186 – 242) detailliert dargestellt. Ein hervorragendes Zeugnis der Wirkungsgeschichte ist Johann Andreas Quenstedts Theologia Didactico-Polemica Sive Systema Theologicum von 1685. »Diese große Dogmatik, die wahrscheinlich unter anderem auf Vorlesungen Quenstedts zu Königs Kompendium basiert, lehnt sich in ihrer sectio didactica eng an die Paragraphen Königs an.« (A. Stegmann, a.a.O., 210) Nach Stegmann darf Königs Theologia positiva »nicht primär als systematisch-theologischer Text im Rahmen der theologie- und philosophiegeschichtlichen Entwicklung der nachreformatorischen Theologie gelesen werden – ein solcher Ansatz wird der Eigenart dieser Quelle nicht

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gerecht. Natürlich ist ein Dogmatiklehrbuch auch ein dogmatischer Text, der systematischtheologisch etwa auf sein Verhältnis zur reformatorischen Theologie oder zur aristotelischen Philosophie befragt werden kann, aber er ist zuerst und vor allem ein Lehrbuch, dessen Form und Inhalt vom akademischen Dogmatikunterricht geprägt sind, für den es geschrieben ist. Der Schlüssel zu solch einem Gebrauchstext ist die Formgeschichte, d. h. die Rekonstruktion seines Sitzes im Leben und der darauf abgestimmten gattungsspezifischen Verbindung von Form und Inhalt.« (A.a.O., 1). Der formgeschichtlichen Rekonstruktion des geschichtlichen Sitzes im Leben der Theologia positiva sind Stegemanns Ausführungen zum Dogmatikunterricht im Kontext der frühneuzeitlichen Universität und zu den Grundformen des lutherischen Dogmatikkompendiums, ihrer buchtechnischen Gestaltung sowie ihrer Präsentationsmethoden etc. a.a.O., 100 – 185, gewidmet. Die beiden Teile des Fragment gebliebenen Werkes von C.H. Ratschow über »Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung« (Gütersloh 1964/66) geben in einem jeweils ersten Passus Königs Theologia positiva acroamatica im vollen Wortlaut der ersten Ausgabe von 1664 wieder und versehen sie mit Erläuterungen. Als Gründe für die Wahl des Lehrbuchs von König werden dessen »absolute Präzision«, »äußerste Kürze« und entwickelte Lehrgestalt benannt, welche die wesentlichen Bestände und Erträge der Dogmatik altlutherischer Orthodoxie bereits in sich enthalte (vgl. I,16). Ein jeweils zweiter Passus bringt Notizen zur vorhergehenden und nachfolgenden Entwicklungsgeschichte der lutherischen Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung bei. Den Ausgangspunkt bilden dabei Philipp Melanchthons Loci und Werke von Dogmatikern, die wie Jakob Heerbrand und Martin Chemnitz dogmatische Theologie im Sinne Melanchthons betreiben wollten. Abgehoben werden davon erste Rückwendungen auf Luther bei Leonhard Hutter und Nicolaus Hunnius sowie bei Balthasar Mentzer und Johann Gerhard, die zu den beiden Erstgenannten in enger Beziehung stehen und einen bereits fortgeschrittenen, wenngleich noch nicht einheitlich durchwirkten Standpunkt vollzogener Rezeption aristotelischer Metaphysik repräsentieren. Ein wesentlich neuer Schritt ist nach Ratschow in Auseinandersetzung mit Descartes durch die spätere, von Johann Musäus begründete und von Johann Wilhelm Baier zum System verfasste Jenaer Theologie getan. Nun nehme die aristotelische Metaphysik bereits den Status einer zu verteidigenden, wenngleich modifizierbaren Position ein. Hierauf bauen die großen Systemkonzeptionen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf. In Betracht kommen neben König namentlich Martin David Hollaz, Abraham Calov und Johann Andreas Quenstedt, daneben Johann Hülsemann und sein Schüler Johann Adam Scherzer. Der Abschluss der Entwicklung und der Übergang zur Aufklärung wird durch Johann Franz Buddeus und seine ansatzweise Rezeption des Cartesianismus markiert. Ratschows Kompendium altlutherischer Barocktheologie im Anschluss an Königs Theologia positiva acroamatica blieb infolge ebenso harscher wie berechtigter Kritik, die an ihm geübt wurde (vgl. R. Schröder, Altprotestantische Orthodoxie in Angebot und Nachfrage. Wider Carl Heinz Ratschows Darbietungen aus der lutherischen Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung, in: EvTheol 31 [1971], 16 – 51, hier : 29: »Vor einer Fortsetzung des Werkes in dieser Art können Verfasser, Leser und Verlag nur eindringlich gewarnt werden.«) unvollendet und auf Ausführungen zur protheoria generalis und zur protheoria specialis (de religione Christiana; de principio theologiae cognoscendi, seu de scriptura sacra; de conclusionibus sive veritatibus theologicis et articulis fidei) im ersten sowie zum Zweck der Theologie (De Deo, De fruitione Dei) im zweiten Teil beschränkt. Pars Secunda (De theologiae subjecto) und Pars teria (De Principiis ac mediis salutis) des König’schen Lehrbuchs fallen aus. Ratschow war angetreten, die aus den Quellen belegte Darstellung der »Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche« von Heinrich Schmid zu ersetzen, der er vorwarf, die altlutherische Theologie zwischen 1560 und 1720 undifferenziert als Einheit betrachtet, in abstrakte Schemata gepresst und damit grundlegend verfälscht zu haben (zu den Einzeleinwänden vgl. a.a.O., 11 f). In der Tat gibt es Grund zu Bedenken gegen Schmids Kompendium, das im Zuge neulutherischer Restaurationstheologie 1843 erstmals erschienen ist, bis Ende des Jahrhunderts eine Vielzahl von

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76 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs sprechenden analytischen Methode dezidiert als praktische Wissenschaft. In einer Protheoria generalis, die zusammen mit besonderen Vorerörterungen zur christlichen Religion, zur Heiligen Schrift als Erkenntnisprinzip der Theologie und zu den theologischen Schlussfolgerungen und Glaubensartikeln das eigentliche System einleiten, erörtert König den Theologiebegriff seiner Theologia positiva acroamatica zunächst onomatologisch6 mit dem Ergebnis, dass der Terminus, der seinem griechischen Wortsinn nach nichts anderes als »Rede von Gott« (logos peri tou theou) bedeute, in seiner eigentlichen Verwendung entweder archetypisch oder ektypisch gebraucht werde. Die archetypisch-urbildliche Theologie ist diejenige, die Gott selbst wesensmäßig, aber auch dem »per unionis gratiam« (Proth. 12) mit der göttlichen Natur personal vereinten Menschsein Jesu eigen ist. Der Begriff der abbildlichektypischen Theologie hingegen wird erstens auf die secundum humanitatem betrachtete menschliche Natur Jesu Christi, zweitens auf die guten Engel und drittens auf die adamitische Menschheit bezogen, um nach dem jeweiligen Status differenziert zu werden, in denen diese sich befindet. Mit dem postlapsarischen Stand des Menschen ist der Theologie jener Status zugewiesen, in dem sie als scientia practica konkret zu betreiben ist. Als in statu corruptionis zu betreibende scienctia practica hat die Theologie entweder natürliche oder übernatürliche, geoffenbarte Form, wobei die theologia naturalis entweder nach Art einer eingeborenen Beschaffenheit eingepflanzt oder hinzuerworben ist, die offenbarte Theologie entweder auf unmittelbarer oder auf mittelbarer Erleuchtung beruht. Die auf mittelbarer Erleuchtung beruhende offenbarte Theologie wird als theologia positiva entweder katechetisch für alle Christen oder akroamatisch als Sache der Gelehrten und Diener des Wortes entwickelt, wobei zwischen Verfahrensweisen exegetischer, didaktisch-systematisch-thetischer, polemischer, homiletischer oder sonstiger Art unterschieden werden kann. Der Begriff, den Königs Neuauflagen erhielt und 1979 in seiner durchgesehenen neunten Auflage von H. G. Pöhlmann neu herausgegeben wurde (H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt. Neu hg. und durchgesehen von H. G. Pöhlmann, Gütersloh 1979). Gleichwohl ist es für das Studium der altltutherischen Orthodoxie und ihrer Wirkungsgeschichte nach wie vor hilfreich, zum einen als eine primär an Hollaz orientierte Sammlung historischer Quellen und Belegstellen, zum anderen aber auch als ein Dokument, das »selber historische Quelle« (a.a.O., 9) für die Wirkungsgeschichte altlutherischen Dogmatik geworden ist. 6 Königs methodus particularis, also seine Vorgehensweise im Einzelnen ist in der Regel durch den Zweischritt von Onomatologie und folgender Pragmatologie bestimmt. »Die Onomatologie zielt nicht direkt auf die (Real-)Definition, sondern lediglich auf eine Nominaldefinition …, die vor der Sacherörterung (Pragmatologie) erst einmal vorläufig nennt, worum es dann gehen wird.« (R. Schröder, a.a.O., 18) Sie hat als Namenslehre lediglich die Funktion, den Sprachgebrauch für die nachfolgenden pragmatologischen Erörterungen zu sondieren und zu regulieren. Dies geschieht nach Maßgabe des Dreischritts von Etymologie, Synonymie und Homonymie, auch wenn dieser nicht immer zur vollständigen Durchführung kommt und im Einzelnen stark variiert. Die Etymologie klärt die Wortherkunft, die Synonymie bietet Hinweise auf entsprechende Wörter von identischer Bedeutung, die Homonymie dient der Ausgrenzung von Äquivokationen.

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Theologia als scientia practica

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theologia positiva acroamatica als eine für werdende Gelehrte und Diener des Wortes in thetischer Form entworfene postlapsarische Offenbarungstheologie von sich selbst hat, ist damit im Wesentlichen nominaldefinitorisch entwickelt. Ergänzt wird die onomatologische Nominaldefinition durch den doppelten Hinweis, dass die auf mittelbare Erleuchtung beruhende, in thetischer Form akroamatisch vorgelegte theologia revelata als auf den Endzweck der Rückführung des Sünders zu Gott angelegte theologia viatorum nicht nur die himmlische Lehre vom wesenseinen Gott und den trinitarischen göttlichen Personen, sondern auch die göttliche Ökonomie umfassen soll. Ihrem Selbstverständnis gemäß will sie dabei nicht lediglich akzidentelle, bloß um der Lehre und Wissenschaft willen, sondern wesenhaft und absolut, mit einem habitus practicus betriebene Theologie sein. Die anschließende pragmatologische Erörterung7 des Begriffs der Theologie bietet als erstes eine Aufzählung der Prinzipien ihres Werdens, ihres Seins und ihres Erkennens. Das theologische principium fiendi umfasst die Wirkursache und die Zweckursache. Die causa efficiens movens der Theologie ist von innen her Gottes barmherzige Güte, extern das menschliche Unwissen und Elend. Als causa efficiens agens fungiert hauptsächlich der dreieinige Gott, auf instrumentelle Weise das geschriebene Wort Gottes, dem unmittelbar die inspirierten Schriften und mittelbar deren Schüler und Nachfolger dienend zugeordnet sind. Letzter Zweck der Theologie ist absolut die Ehre Gottes und damit verbunden das ewige Heil des Menschen, auf welches Glaube und Theologie je auf ihre Weise hingeordnet und bezogen sind. Kommen hinsichtlich des Prinzips ihres Werdens Wirk- und Zweckursache der Theologie in Betracht, so ist ihr Seinsprinzip materialiter durch die theologischen Wahrheiten, formaliter durch den entweder logischen oder metaphysischen Inbegriff dessen bestimmt, was sie ihrer gegebenen Bestimmung nach definitions- und wesensgemäß ist. Hat als das eine und ungeteilte principium cognoscendi der Theologie die von Gott eingegebene und insoweit unfehlbar wahre Heilige Schrift zu gelten, so ist ihr Subjekt zum einen derjenige, welcher sich mit ihr beschäftigt, zum andern dasjenige, womit sie sich beschäftigt. Aus der Näherbestimmung dieses differenzierten Zusammenhangs ergibt sich die pragmatologische Realdefinition der Theologie: Sie ist das Befähigtsein der Vernunft zu einem bestimmten Handeln, das die Religion 7 Königs Pragmatologie ist an der aristotelischen Philosophie und an metaphysischen Vorgaben orientiert, von denen sich die theologischen Sacherörterungen leiten lassen. Bestimmend für sie sind insbesondere die vier aristotelischen causae, die in den einzelnen Lehrstücken gegebenenfalls im Verein mit anderen Bestimmungen die theologische Realdefinition vorbereiten und prägen. Als pragmatologisches Idealschema für die Behandlung eines locus ergibt sich etwa folgende Reihung: »– causa efficiens – forma – objectum, materia circa quam – subjectum, materia in qua – materia ex qua – finis – effectus – definitio, descriptio – affectiones, attributa, proprietates, adjuncta« (vgl. A. Stegmann, a.a.O., 200). Inwieweit die Repristination aristotelischer Metaphysik die theologische Sachgemäßheit der Dogmatik altlutherischer Orthodoxie befördert oder behindert hat, bleibt umstritten (vgl. etwa R. Schröder, a.a.O., 29 ff).

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78 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs betrifft und aus dem geschriebenen Wort Gottes geschöpft ist, damit durch seine Betätigung der Sünder durch den Glauben zum ewigen Leben geführt werde (Proth. 54). Seine methodische Entsprechung findet Königs Begriff der Theologie als einer scientia practica in der bei der Einteilung und Durchführung des dogmatischen Systems in Anwendung gebrachten Verfahrensweise.8 Die analytische Methode schreitet von der Bestimmung des Endzwecks der Theologie und der Erkenntnis ihres Subjekts zur Darstellung der Prinzipien und Mittel voran, aufgrund derer und durch die das theologische Ziel der Vollendung in Gott für den gefallenen Menschen als Subjekt der Theologie realisiert wird. Der Zweck der Theologie ist nach König entweder objektiv oder formal (I,2: finis cui, seu objectivus; finis cuius, seu formalis9). Der objektive Zweck der Theologie ist die »ipsa res« (I,3), die ihren Begriff und gesamten Inhalt bestimmt: Gott. Ihr formaler Zweck hinwiederum ist die fruitio Dei in ihrer anfänglichen und vollendeten Gestalt (vgl. I,287 f) Als Subjekt der Theologie kommt der gefallene, zu Gott zurückzuführende Mensch in Betracht (II,1: homo lapsus ad Deum reducendus). Sein Fall wird zunächst hinsichtlich seines terminus a quo (II,2), nämlich seines Ausgangspunkts beim Zustand der Unschuld in den Blick genommen, wie er im status integritatis ursprünglicher Gottebenbildlichkeit des Menschen gegeben ist. Auf diesem Hintergrund, der theologisch geurteilt einer prinzipiellen Vergangenheit angehört, wird dann von der Sünde und schließlich von den bescheidenen natürlichen Kräften gehandelt, die unter postlapsarischen Bedingungen im Menschen zurückgeblieben sind. Schließlich werden die Prinzipien, von denen das ewige Heil abhängt, und die Mittel thematisiert, durch welche der gefallene Mensch ihm zuzuführen ist.

8 Zu der mit der wissenschaftstheoretischen Bestimmung der Theologie als praktischer Wissenschaft begründeten Verwendung des analytischen Ordo und seiner dreigliedrigen Struktur bei König und anderen vgl. im Einzelnen A. Stegmann, a.a.O., 167 ff, hier : 170: »Die Theologie bildet Pfarrer für die Tätigkeit des Zum-Heil-Führens anderer aus und muss darum vor allem die Mittel (media) dieser Tätigkeit darstellen. Vor diesem Hauptteil muss sie jedoch den Zweck (finis) bestimmen, auf den sich diese Tätigkeit richtet, damit die media auch diesem finis entsprechen. Zwischen finis und media wird im ausgebildeten analytischen Ordo noch das subjectum der Theologie behandelt, d. h. derjenige, der vom Theologen mittels der media zum finis geführt wird. Diese Struktur der Darstellung bringt deutlicher als die Loci-Anordnung das Zentrum der lutherischen Theologie – Christologie und Soteriologie – zur Geltung. Beides ist das Hauptthema des für den analytischen Ordo zentralen dritten Teils, der media. Die Hamartiologie ist in den zweiten Teil ausgelagert, so dass sich eine Gliederung ergibt, die Luthers Themavorgabe ›homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator‹ folgt.« 9 Vgl. hierzu C. H. Ratschow, a.a.O., II,15; dagegen mit Recht R. Schröder, a.a.O., 22 f.

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Erkenntnisprinzip der Theologie und Artikel der Glaubenslehre

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2. Erkenntnisprinzip der Theologie und Artikel der Glaubenslehre 2.1. De scriptura sacra Die christliche Religion (vgl. Proth. 58 ff) als die wahre und rechte Weise der Verehrung des in Christus kraft seines Heiligen Geistes offenbaren Gottes und die Theologie als die ihr und ihren Glaubensbekenntnissen (vgl. Proth. 75 ff) entsprechende Reflexionsgestalt finden das Prinzip ihrer Erkenntnis allein im Worte Gottes und nach vollständigem Vorliegen der kanonischen Bücher Alten und Neuen Testaments ausschließlich in dessen schriftlicher Gestalt. Es gilt der Grundsatz: »Quicquid Sciptura sacra docet, divinitus inspiratum, adeoque infallibiliter verum est.« (Proth. 79) Nach onomatologischen Erwägungen zur Wendung »Heilige Schrift«, die insbesondere im Blick auf das Verhältnis zwischen Wort Gottes und biblischem Buchstaben von dogmatischem Interesse sind, expliziert König die Lehre von der Schrift als principium cognoscendi theologiae pragmatologisch zunächst anhand der vier aristotelischen causae. Causa efficiens principalis der Schrift ist der dreieinige Gott, der nicht nur die Sachaussagen, sondern auch den Wortlaut der Schrift eingibt (Proth. 86: inspirans non tantum res, sed ipsa etiam Scripturae verba); als Ministerialursache fungieren Propheten, Evangelisten und Apostel, die beim Schreiben der Schrift wegen der unmittelbaren göttlichen Erleuchtung nicht irren konnten. Materia circa quam sind die der Schrift innewohnenden göttlichen Gehalte, als deren Summe Gesetz und Evangelium zu gelten haben und deren Mitte Jesus Christus ist. Die Form der Schrift ist als forma externa ihre Sprache, ihr Stil und die Art und Weise ihres Ausdrucks, als forma interna der Schriftsinn im buchstäblichen oder im mystischen Sinn. Im Unterschied zum bloßen Buchstabensinn bezeichnet der buchstäbliche Schriftsinn jenen, den der Hl. Geist mit den von ihm eingegebenen Worten und Schriftzeichen zu verbinden gedachte. Formal kann es daher wegen der Selbigkeit des göttlichen Autors der Schrift nur einen authentischen buchstäblichen Sinn derselben geben. Der mystische Schriftsinn als zweite innere Form der Schrift ist derjenige, welcher im Unterschied zum buchstäblichen vom Hl. Geist absichtlich auf etwas anderes als das von den Worten unmittelbar Bezeichnete bezogen wird. Er bedarf daher einer anderen Auslegung als der buchstäbliche Schriftsinn. Was schließlich den Zweck der Schrift betrifft, so liegt er in der Erkenntnis Gottes und seiner entsprechenden Verehrung um des zeitlichen und ewigen Heiles des Menschen willen begründet. Unter den affectiones scripturae ist die Eigenschaft göttlicher Schriftautorität (divina auctoritas) die hervorragendste. Das Prinzip der Erkenntnis göttlicher Schriftautorität ist nach König das geistvolle und begeisternde Zeugnis, welches die Schrift von sich selbst gibt, sowie das Wirken des Hl. Geistes durch die Schrift. Mit der divina auctoritas S. Scripturae verbunden

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80 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs sind infallibilitas, perpetua conformitas, revelationis perfectio, perspicuitas, infallibilis semetipsam ex semetipsa interpretandi facultas, will heißen: das unfehlbare Vermögen, sich selbst auszulegen, sowie diverse andere Eigenschaften, die sich aus der göttlichen Schriftautorität ergeben. Zweitrangige Eigenschaften der Schrift wie ihre catholica communicabilitas, ihre Mitteilbarkeit an grundsätzlich alle verständigen Menschen fügen sich an. Königs Schriftlehre schließt mit zwei Paragraphen zur Gliederung der kanonischen Bücher Alten und Neuen Testaments. 2.2. De articulis fidei Ist die Hl. Schrift principium cognoscendi theologiae, so besteht die Aufgabe der Theologie im Wesentlichen darin, Schlussfolgerungen aus ihren Vorgaben zu ziehen, um durch Konklusionen zu Hauptaussagen der christlichen Lehre und insbesondere zu Glaubensartikeln zu gelangen, welche die doctrina fidei im Sinne der fides, quae creditur, enthalten. Seiner generellen Definition gemäß ist ein articulus doctrinae fidei sonach ein Teil der himmlischen Lehre von irgendeinem in den kanonischen Schriften geoffenbarten, zu glaubenden geistlichen Gegenstand als solchen. Eingeteilt werden die Glaubensartikel, für welche Übereinstimmung mit der Hl. Schrift und untereinander charakteristisch ist, in reine, die einzig auf der Offenbarung Gottes beruhen und nur geglaubt, und gemischte, die teils aus der göttlichen Offenbarung, teils durch das Licht der Natur erkannt werden können. Doch gilt auch im Hinblick auf sie: »creduntur tamen solum, quaternus e revelatione divina constant.« (Proth. 138) Eine weitere Einteilung unterscheidet Fundamentalartikel von nicht grundlegenden, die ohne Beeinträchtigung des Glaubensgrundes sowohl nicht gewusst als auch geleugnet werden können. Dazu gehören die Dogmen von der Schöpfung der Welt in der Zeit, vom Engelfall und der fortwährenden Verwerfung einiger gefallener Engel, vom Begräbnis Christi, vom Antichrist, vom Untergang der Welt etc. Anders verhält es sich mit den grundlegenden Glaubensartikeln, die in naher oder allernächster Verbindung zum Glaubensgrund stehen. Diese können ohne Beeinträchtigung der Glaubensgrundlage nicht einmal nicht gewusst werden. Dies gilt insbesondere von jenen Artikeln, die den Glaubensgrund innerlich und unmittelbar begründen. »Dazu gehören die Aussagen der christlichen Lehre von der unsere Sünden sühnenden und Gott versöhnenden Genugtuung des Gottessohnes, vom allgemeinen Wohlwollen Gottes gegen das gefallene menschliche Geschlecht, vom allen geltenden Verdienst Christi, von der ernsthaften Absicht Gottes, allen Christi Verdienst zukommen zu lassen und das Mittel der Zueignung dieses Verdienstes zu geben, den Glauben nämlich für alle, und von der Rechtfertigung durch das im Glauben angeeignete Verdienst Christi.« (Proth. 150) Von diesen articuli fundamentales constitutivi unterscheidet König solche

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Erkenntnisprinzip der Theologie und Artikel der Glaubenslehre

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Artikel, die nicht unmittelbare, sondern mittelbare Voraussetzung des Glaubensgrundes sind, den sie zwar nicht innerlich legen, als dessen notwendige Bedingung sie aber fungieren. Dazu rechnet König »die Lehrstücke von der Existenz, Zuverlässigkeit und Unfehlbarkeit einer göttlichen Offenbarung; von Gottes Existenz, Macht, Wissen, Wahrheit, Unwandelbarkeit, Heiligkeit und Barmherzigkeit; vom dreieinigen Gott; von der Tatsache, dass der Messias der Welt versprochen und gegeben ist, von seiner Gottheit; von der Wahrheit seiner menschlichen Natur und ihrer Sündlosigkeit; von der persönlichen Einheit der zwei Naturen in Christus; von Leiden, Tod und Auferstehung des Gottmenschen, und zwar nicht als rein historische Geschehnisse, sondern als Teile des Mittleramtes; ferner von unserer Hineinführung ins ewige Leben, vom Jüngsten Gericht, von der Auferstehung der Toten etc.« (Proth. spec. 149) Zusammengenommen ergibt sich aus den Fundamentalartikeln, welche lehrmäßig die Grundlage des Glaubens formulieren, folgendes Zentraldogma, in welchem Ursprung und Ziel des Heilsglaubens inbegriffen sind: »Gott will aus reiner Gnade, dass alle und jeder einzelne gefallene Mensch gerettet werde durch den einzigen Mittler Christus, der, vom Vater in die Welt gesandt, um für alle und jeden Gefallenen der göttlichen Gerechtigkeit vollauf genug zu tun, für alle und jeden die Gnade und das ewige Leben verdient hat. Und dieses Verdienst des Sohnes beabsichtigt Gott fest, allen zuzueignen; allen und jedem will er den Glauben geben, durch den jenes Verdienst zugeeignet werden kann. Schließlich hat er festgesetzt, allen und jedem hinreichende und wirksame Gnadenmittel reichlich bereit zu stellen, mit der festen Absicht, dass durch den Glauben, der auf das einzigartige Verdienst Christi gegründet ist, gänzlich alle gerechtfertigt und gerettet werden.« (Proth. 151) Bleibt hinzuzufügen, dass König von den bisher behandelten erstrangigen Fundamentalartikeln eine Reihe von articuli fundamentales secundarii unterscheidet, von denen gilt, dass sie zwar nicht gewusst, nicht aber geleugnet werden können, ohne den Glaubensgrund preiszugeben. »Von der Art sind die Artikel von der Unübertragbarkeit des Namens ›Jehovah‹, von der Unermesslichkeit, Unendlichkeit und Geistigkeit Gottes, von den personalen Eigenheiten, durch welche die göttlichen Personen sich voneinander unterscheiden, von der gegenseitigen Mitteilung der beiden Naturen in Christus, von der aufgrund der personalen Einheit geschehenden Idiomenkommunikation der göttlichen Natur an die menschliche Natur Christi, von der Allgegenwart des Menschen Christus, vom Ratschluss der mit Blick auf Glaube und Unglaube von Ewigkeit her geschehenen Erwählung und Verwerfung, von der Rechtfertigung durch die Anrechnung des Verdienstes Christi unter Ausschluss der einwohnenden Gerechtigkeit etc.« (Proth. 152)

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82 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs

3. De Deo et fruitione Dei oder : Vom Zweck der Theologie Das Ziel der Theologie als einer scientia practica, wie es von ihrem Endzweck her bestimmt ist, besteht darin, ihr Subjekt, den gefallenen Menschen, durch rechte Anleitung zum Gebrauch der in den Prinzipien des Heils gründenden Mittel zu Gott zurück- und der Freude in und an Gott zuzuführen. Die fruitio Dei ist der theologische Zweck, dessen finis objectivus Gott selbst ist, der die besagte Freude von sich aus ermöglicht und ihr Gegenstand ist. 3.1. De fruitione Dei Anfänglich wird die fruitio Dei bereits in diesem Leben durch den Glauben an Christus erlangt, der schon jetzt wirkliche Teilhabe an allen wesentlichen Heilsgütern Gottes erschließt. Ihre Vollendung gehört gleichwohl erst in die kommende Welt, in der sie den zum ewigen Heil Bestimmten in vollendeter Weise zukommt. Ganz vollendet ist die fruitio Dei nach erfolgter Wiedervereinigung von Seele und Leib, weil sie nun den ganzen zum Heil geführten Menschen beseligt. Doch darf sie auch schon unter der mit dem Tode gegebenen Bedingung der Trennung des Körpers von der Seele als in bestimmter Hinsicht vollendet gelten, insofern die Seelen der im Glauben Abgeschiedenen sofort und ohne Verzug der fruitio Dei teilhaftig werden.

3.2. De Deo 3.2.1. De naturali et supranaturali Dei notitia Grund und Inbegriff der fruitio Dei, zu welcher hinzuführen den höchsten Zweck der Theologie als einer scientia practica darstellt, ist Gott selbst als finis cui und ipsa res theologiae. König beginnt den umfangreichen Lehrbuchabschnitt »De Deo« mit Ausführungen zur Gotteserkenntnis. Erkannt wird Gott zum einen »ex lumine naturae« (I,4), also auf natürliche, zum anderen »ex lumine gratiae« (ebd.), d. h. auf übernatürliche bzw. geoffenbarte Weise. Dass das Gegebensein natürlicher Gotteserkenntnis durch die Schrift belegt ist, wird vorausgesetzt. Erste Wirkursache der notitia Dei naturalis ist Gott, ihre mittelbare das menschliche Vernunftvermögen (I,6: facultas hominis intellectiva), das entweder durch »notitia insita« (vgl. I,7) oder »notitia acquisita« (vgl. ebd.), also entweder durch angeborene oder durch erworbene Kenntnis zur Einsicht zu gelangen vermag, dass es »aliquod supremum Numen« (I,18), irgendein höchstes, göttliches Wesen gibt, welches mit Weisheit und Macht das Weltgeschehen bestimmt und entsprechend zu verehren ist. Existenz Gottes und Grundbestimmungen seines Wesens sind der notitia Dei naturalis

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De Deo et fruitione Dei oder : Vom Zweck der Theologie

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durchaus einsichtig, wenngleich uneindeutig und nicht in jener Eindeutigkeit, die erst von der geoffenbarten Gotteserkenntnis, der »notitia Dei supernaturalis« (I,23) erschlossen wird »quae est cognitio Dei unitrini salvifica e verbo Dei scripto hausta« (ebd.). Erst durch sie gewinnt die Gotteslehre ein tragfähiges Fundament. Der vornehmste Zweck der notitia Dei naturalis ist darin begründet, zur Erkenntnis anzureizen, weiter nach Gott zu fragen und zu suchen. Im Falle des Missbrauchs der natürlichen Erkenntnis hinwiederum dient sie der Unentschuldbarkeit des Menschen.

3.2.2. De essentia Dei 3.2.2.1. De essentia Dei absolute considerata Materialiter entwickelt wird die Gotteslehre von König unter dem Gesichtspunkt einerseits des Wesens und andererseits der Werke Gottes. Das Wesen Gottes kommt zunächst absolute, will heißen: an sich selbst und ohne Bezug auf die trinitarischen Personen, sodann »relative in ordine ad tres personas divinas« (I,32), also bezogen auf die drei göttlichen Personen in Betracht. Der conceptus quidditativus absolutus, der Begriff von Gottes Gottheit ihrem reinen Wesen nach ist derjenige einer essentia spiritualis infinita. Die Eigenschaften, die von dem unbegrenzten geistigen Wesen Gottes prädiziert werden, sind von diesem und untereinander nur in Gedanken und nicht der Sache nach unterschieden, weil in Gott Essenz und Attribute untrennbar eins sind. Der gedanklichen Ordnung gemäß können die göttlichen Eigenschaften danach differenziert werden, ob sie das Wesen Gottes in sich und ohne Rücksicht auf göttliche Werke oder unter deren Berücksichtigung beschreiben. Zu den attributa absoluta zählt König »Perfectio, Unitas, Veritas, Bonitas, Independentia in essendo, Aeternitas, Immensitas, Incomprehensibilitas, Immutabilitas etc.« (I,40). Unter den Eigenschaften, die sich auf das göttliche Außenwirken beziehen, bezeichnet das unsterbliche Leben Gottes, durch das sich sein Wesen als immer tätig erweist, das Prinzip des Ursprungs göttlichen Handelns. Die Art und Weise seines Handelns hinwiederum gibt Anlass, zwischen einem bestimmenden, anordnenden und ausführenden (dirigens, imperans, exequens) Prinzip dieses Handelns und entsprechenden Eigenschaften zu unterscheiden. Das erste Prinzip der Art und Weise göttlichen Handelns, nämlich das bestimmende, ist Gottes Vernunft, »Dei intellectus, cognoscens per omniscientiam, judicans per omnisapientiam« (I,60). Das zweite, anordnende Prinzip ist der Wille Gottes, durch den er seit Ewigkeit von sich aus mit einem einzigen beständigen und freien Akt das Gute will, wobei die Liebe, Gnade, Barmherzigkeit und Geduld umfassende Güte Gottes seine Willensbetätigungen bewegt, während sie durch seine Heiligkeit und Gerechtigkeit gelenkt werden. Ausgerichtet werden die in Gottes Vernunft und Willen gründenden

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84 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs Ratschlüsse schließlich durch die göttliche Macht, durch welche Gott kraft der ewigen Tätigkeit seines Wesens gänzlich unabhängig alles tun kann und als der Allerwahrhaftigste tut, was keinen Widerspruch in sich enthält. 3.2.2.2. De consideratione Dei relativa Wurde bislang das göttliche Wesen absolut und ohne Rücksicht auf die drei Personen der Gottheit betrachtet, so erfolgt die Betrachtung der trinitarischen Beziehungen in grundlegender Hinsicht auf dreifache Weise, nämlich erstens unter Hervorhebung der Erhabenheit des mysterium trinitatis, das alles Verstehen, Erfassen und Begreifen übersteigt und daher aus Vernunftgründen weder widerlegt noch bewiesen werden kann, zweitens durch Geltendmachen des Prinzips der Erkenntnis und des Bekenntnisses der göttlichen Dreieinigkeit, welches allein in der in den Schriften Alten und Neuen Testaments mitgeteilten Offenbarung gegeben ist, und drittens in Bezug auf die Heilsnotwendigkeit, das trinitarische Dogma weder zu negieren noch auch nur zu ignorieren. Seine pragmatologische Explikation erfolgt nach knappen onomatologischen Erwägungen in zwei Teilen: der erste handelt von Zahl, Namen, Unterschiedenheit und Wesenseinheit der göttlichen Personen, der zweite von jeder Person für sich. Was die distinctio personarum divinarum betrifft, so sind die trinitarischen Personen einerseits vom göttlichen Wesen, andererseits untereinander unterschieden, wobei letzterer Unterschied in re begründet ist, wohingegen ersterer zwar einen Anhalt an der zu bedenkenden Sache hat, aber realiter nur in der menschlichen Gedankenoperation auftritt. Aus der realen Unterschiedenheit der trinitarischen Personen ergibt sich ihre Seins- und Tätigkeitsordnung. Der ordo in subsistendo betrifft die unterschiedliche Weise der Teilhabe am einen und selben göttlichen Wesen: »Pater habet (sc. hanc essentiam) a seipso, tanquam fons et principium SS. Trinitatis, atque inde prima persona est: Filius eandem habet a Patre per aeternam generationem, atque inde secunda persona est: Spiritus Sanctus a Patre et Filio per aeternam spirationem, atque inde tertia Divinae essentiae persona est et dicitur.« (I,88) Die Tätigkeitsordnung, die sich aus der realen Unterschiedenheit der trinitarischen Personen ergibt, entspricht dieser und ist in der Schrift etwa mit den Präpositionen »aus« (sc. dem Vater), »durch« (sc. den Sohn) und »im« (sc. Heiligen Geist) umschrieben. Insgesamt gilt, dass die Personen der göttlichen Dreieinigkeit unbeschadet ihrer wirklichen Unterschiedenheit wesenseins sind und bleiben mit der Konsequenz eines einzigartigen und gegenseitigen Ineinanderseins und Einanderdurchdringens, einer vollkommenen Gleichheit und gleichen Vollkommenheit sowie einer Selbigkeit ihrer nach außen gerichteten Werke und Handlungsweisen, dergemäß sie dasselbe auf dieselbe Weise, wenngleich nicht in derselben Ordnung tun. Was die trinitarischen Personen je als solche betrifft, so thematisiert sie

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De Deo et fruitione Dei oder : Vom Zweck der Theologie

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König durchgehend unter den Gesichtspunkten des Namens, der Gottheit, der personalen Subsistenz sowie der personalen Eigenheit, um jeweils mit einer zusammenfassenden descriptio Gottes des Vaters, des Sohnes bzw. des Heiligen Geistes zu enden. Am umfänglichsten werden die proprietates characteristicae erörtert und zwar sowohl in Bezug auf die Innen- als auch auf die Außenbeziehung der trinitarischen Personen. Nach außen besteht die personale Eigenheit des Vaters in der Schöpfung, Erhaltung und Lenkung der Welt, des Sohnes in der Erlösung des Menschengeschlechts und des Hl. Geistes in der Heiligung. Die Proprietas Patris ad intra ist seine jede Weise des Hervorgehens aus einer anderen Person ausschließende Ungezeugtheit (agennesia), die eine doppelte Bezogenheit mit sich führt, nämlich im Verhältnis zum Sohn diejenige der aktiven Zeugung (generatio activa) und im Verhältnis zum Hl. Geist diejenige der aktiven Hauchung (spiratio activa). Durch das seiner personalen Eigenheit der Ungezeugtheit entsprechende interne Werk bringt der ewige Vater sonach (zusammen mit dem ewigen Sohn) durch Mitteilung seines an Zahl einen und selben Wesens den ihm wesenseinen und gleichewigen Hl. Geist in einem unteilbaren und ewigen Akt auf übernatürliche und unaussprechliche Weise hervor. Die innertrinitarische Eigenheit der göttlichen Person des Sohnes ist die Zeugung (gennesis). Durch sie ist die zweite Person der Gottheit auf die erste durch dasjenige bezogen, was man generatio passiva nennt, aus der die missio passiva Filii in carnem folgt, welche der Inkarnation vorhergeht (vgl. I, 125). Auf den Hl. Geist als die dritte Person der Gottheit ist die zweite kraft ihrer personalen Eigenheit durch die sog. aktive Hauchung (spiratio activa) bezogen, deren Folge die Sendung des Hl. Geistes in der Zeit ist. Hinzuzufügen ist, dass dieses opus ad intra nur im Westen gelehrt, von der ostkirchlichen Trinitätslehre hingegen dezidiert in Abrede gestellt wird. Die Kontroverse zwischen Ost- und Westkirche betrifft analog die Lehre von der innertrinitarischen Personeigenheit des Hl. Geistes, sofern dieser nach der von König geteilten westlichen Lehrart als nicht nur vom Vater, sondern auch vom Sohn passiv gehaucht und hervorgebracht zu gelten hat mit der Folge seines Gesandtseins von Vater und Sohn. Eigens erwähnt wird, dass die Beziehung der personalen Eigenheit des Hl. Geistes auf die beiden anderen Personen als nur eine gedacht werden muss, weil die aktive Hauchung des Vaters und des Sohnes nur eine einzige ist.

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86 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs

3.2.3. De operibus divinis 3.2.3.1. De operibus divinis ad intra Nach Gottes Wesen handelt der zweite Hauptteil der materialen Gotteslehre als der Lehre vom finis objectivus der Theologie von den göttlichen Werken. Die opera SS. Trinitatis ad intra beziehen sich auf Gott selbst und sind entweder opera essentialia oder opera personalia. Die zum göttlichen Wesen gehörenden Werke Gottes nach innen betreffen das allen trinitarischen Personen gemeinsame Prinzip des Handelns in Form des actus intellectus, durch den Gott sich selbst erkennt, sowie des actus voluntatis, wie er in göttlichen Ratschlüssen wirksam ist. Sind die opera essentialia SS. trinitatis ad intra ungeteilt und allen drei Personen der Gottheit gemeinsam, so sind die opera personalia geteilt und so auf Gott selbst gerichtet, dass das Prinzip des Handelns nicht das den drei Personen gemeinsame Wesen ist, sondern entweder eine Person oder zwei der Personen (vgl. I,146). Es bestätigt sich, was in der Lehre von den proprietates characteristicae der trinitarischen Personen über ewige Zeugung und Hauchung sowie über die zeitliche Sendung des Sohnes im Fleisch und die Geistsendung zum Werk der Heiligung ausgeführt wurde. 3.2.3.2. De operibus divinis ad extra Im Unterschied zu den opera divina ad intra richten sich die opera ad extra nicht auf Gott selbst, sondern auf ein von Gott Verschiedenes. Dabei ist zwischen opera ad extra interna und opera ad extra externa zu unterscheiden. Erstere beziehen sich zwar auf ein von Gott Verschiedenes, aber geschehen nicht außerhalb von Gott, sondern in Gott und im Innersten der Gottheit. Zu ihnen gehören sowohl die actus intellectus divini, durch welche Gott alles, was er nicht selbst ist, erkennt, sowie Gottes freie Willensbetätigungen bezüglich der Geschöpfe. Die opera ad extra externa dagegen beziehen sich auf ein außerhalb von Gott Befindliches, um, sobald sie getätigt sind, eine gottexterne Wirkung zu zeitigen. Als opera ad extra externa personalia sind sie einer bestimmten trinitarischen Person kraft heilsgeschichtlicher Zuordnung appropriiert. Die opera ad extra externa essentialia hinwiederum beziehen sich auf einen äußeren Gegenstand dergestalt, dass sie allen drei Personen der Gottheit im Rahmen ihrer Personordnung gemeinsam sind. Unterschieden werden die außerhalb des Inneren Gottes vollbrachten, zum göttlichen Wesen gehörenden Werke nach außen in solche der Macht, der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit. Während König die beiden opera ad extra externa essentialia misericordia und iustitia in die Lehre von den Prinzipien des Heils im dritten Teil seines Lehrbuches zieht, handelt er in der pars prima lediglich von den beiden ersten Werken der Macht, nämlich von Schöpfung und Vorsehung.

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De Deo et fruitione Dei oder : Vom Zweck der Theologie

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3.2.3.2.1. De creatione Die Erschaffung der Welt als das erste Werk der göttlichen Macht wird zum Zwecke der Ehre und des Lobpreises Gottes sowie des Nutzens des Menschens durch den einheitlichen und ungeteilten Akt der Hl. Dreieinigkeit getätigt, welcher aus dem – in rein negativem Sinn verstandenen, nicht durch den Gegensatz zu etwas bestimmten – Nichts (I,164: ex nihilo pure negativo) die Materie produziert, um aus ihr mit Ausnahme der Seele alles hervorzubringen, was ist. Die forma creationis besteht in der absoluten Allmacht Gottes und seines Willens, durch dessen Entschluss das Sein gesetzt ist, damit Seiendes sei, und ohne welchen nichts wäre, was ist, weder Sichtbares noch Unsichtbares. Die erste Stelle unter den Schöpfungswerken Gottes nehmen die Engel und die Menschen ein. Engel sind körperlose Geister ohne physische Materie und Form. Ihnen eignet Unteilbarkeit, Unsichtbarkeit, vergleichsweise Unwandelbarkeit, Unsterblichkeit und Ortsungebundenheit. Der materiellen Welt können sie sonach nicht ohne weiteres zugerechnet werden, obwohl sie als Geschöpfe mit den sonstigen Kreaturen der Schöpfung verbunden sind. Das Innere des Engelwesens ist durch Kraft des Verstandes und Willens sowie durch andere Vermögen und Mächtigkeiten wie diejenige höchster Beweglichkeit bestimmt. Extrinsisch haben Engel die Eigenschaft einer Dauerhaftigkeit, die zwar einen Anfang, aber kein Ende hat. Aber nicht nur ihre Zeit, auch ihre Räumlichkeit ist von eigener Wesensart, sofern das Wo der Engel zwar Unterschiede, aber keine Schranken der sinnlichen Menschenwelt kennt. Um die eigentümliche Raumzeitlichkeit der Engel genauer zu erfassen, muss vor allem bedacht werden, was neben den actiones angelicae immanentes über transeunte Handlungen von Engeln wie Körperannahme oder Ortswechsel gesagt wird (vgl. I,86). Doch mag es bei der zusammenfassenden Feststellung sein Bewenden haben, dass Engel als reine Geistwesen zwar einerseits allen materiellen Schranken überlegen, aber doch andererseits nicht unbegrenzt und infinit, sondern mit einem internen finis versehen sind. Dies liegt in der Urtatsache ihrer gottunterschiedenen Geschöpflichkeit begründet, die zugleich der Grund ihrer gegebenen Mehr- bzw. Vielzahl ist. Ob auch mit bestimmten Ordnungen unter den Engeln wie Engelshierachien etc. zu rechnen ist, lässt König offen. Das neben den Engeln zweite der edelsten Geschöpfe ist der Mensch. Hinsichtlich seines Werdens (I,234: in fieri) und faktischen Seins (vgl. ebd.: in facto esse) unterscheidet er sich von den Engeln wesentlich dadurch, dass er nicht als leibloses spirituelles Geistwesen geschaffen, sondern – sei es aus Erdenstaub, wie Adam, sei es aus Adams Rippe, wie Eva – leibhaft gebildet wurde, um ein beseelter Leib zu sein. Insofern gilt: »Principia hominis constitutiva interna sunt materia et forma Physica.« (I,242) Die Materie des Menschen ist sein beseelter stofflicher Körper ; seine stoffliche Form aber

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88 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs bildet die Seele, die nach König durch Weitergabe fortpflanzbar ist (I,244: propagabilis per traducem). Bleibt hinzuzufügen, dass der beseelte stoffliche Körper (I,243: corpus animatum organicum) des Menschengeschöpfs in statu integritatis weder leidentlich noch sterblich und die Menschenseele als forma Physica rein und frei von jedem Sündenmakel sowie durch das große Licht der anerschaffenen Weisheit und Einsicht erleuchtet war.

3.2.3.2.2. De providentia Der Schöpfung als dem ersten Werk der göttlichen Macht folgt als zweites die Vorsehung, wobei unter providentia nach König strikt ein opus SS. Trinitatis ad extra externum, also ein ungeteiltes trinitarisches Werk nach außen zu verstehen ist, welches auch nach außen gerichtet ist und nicht lediglich das Internverhältnis göttlichen Außenwirkens bezeichnet. Materie der so verstandenen göttlichen Vorsehung ist generell alles, was ist. Aller Kreatur gilt Gottes Providenz. Im Speziellen versieht Gott sich des Lebens und Tuns von Engeln und Menschen insgesamt und je einzeln, wobei die Differenz von gut und böse für den Modus göttlicher Vorsehung von elementarer Bedeutung ist. Die konkrete Form der providentia Dei ergibt sich aus den drei Handlungen, aus denen sie besteht, nämlich Erhaltung (conservatio), Mitwirkung oder Begleitung (cooperatio seu concursus) und Lenkung (gubernatio). Durch die conservatio erhält Gott seinem Willen gemäß die Geschöpfe in ihrer Natur, in ihren Eigenschaften und in den Kräften, die sie in der Schöpfung empfangen haben. Durch cooperatio seu concursus wirkt er in allgemeiner und unmerklicher Weise an allen Geschehensabläufen mit, die seiner Allgegenwärtigkeit präsent sind. Von der Providenzform der gubernatio hinwiederum macht Gott vierfachen Gebrauch: durch Zulassung (permissio), Hinderung (impeditio), Leitung (directio) sowie durch Vorherbestimmung (determinatio), nach Maßgabe derer Gott den Vermögen, Tätigkeiten und Widerfahrnissen der Geschöpfe unüberschreitbare Grenzen setzt. Wie Gott sein gubernatorisches Wirken in Bezug nicht nur auf das natürliche, sondern auch und vor allem auf das moralische Böse gebraucht, macht König am Beispiel von Handlungen klar, die der Sünde vorangehen, sie begleiten und ihr folgen (I,283: actus, peccatum tum antecedentes, tum concomitantes, tum consequentes).

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4. De homine peccatore ad Deum reducendo oder : Vom Subjekt der Theologie89

4. De homine peccatore ad Deum reducendo oder : Vom Subjekt der Theologie Subjekt der Theologie ist nach König der gefallene Mensch, der zu Gott zurückgeführt werden muss. Theologisch in Betracht kommt der Mensch mithin vor allem als Sünder. Der sündige Mensch ist das konkrete Subjekt der Theologie. Vom Zustand seiner Unschuld und kreatürlichen Gottebenbildlichkeit wird unter dem Gesichtspunkt des terminus a quo des Sündenfalles, also immer schon unter Bezug auf diesen gehandelt. Dies muss bedacht sein, um den Stellenwert der Lehre vom status integritatis und von der urständischen imago Dei nicht falsch einzuschätzen.

4.1. De imagine Dei Der dreieinige Gott hat durch das erste seiner nach außen gerichteten Werke in der Freiheit seiner göttlichen Allmacht teils unmittelbar aus dem Nichts, teils mittels der Materie, die er »ex nihilo pure negativo« (I,164) schuf, die Welt zum Zweck seiner Ehre und zum Nutzen des Menschen ins Sein gerufen. Der ursprüngliche Zustand der Schöpfung war ganz und ohne Einschränkung gut. Dies gilt sowohl in Bezug auf die Engel als auch in Bezug auf die Menschen, die beide unter den Werken der Hände Gottes den ersten Platz einnehmen. Als körperlose Geistwesen waren die Engel in statu originali allesamt heilig und mit der ihnen zukommenden Einsicht in die göttliche Wahrheit ausgestattet. Obwohl »indifferentes … ad bonum et malum morale« (I,188) hatte die »inclinatio ad bonum« (ebd.) in ihnen doch dergestalt die Oberhand, dass jede »potentia peccandi naturalis et proxima« (ebd.) gänzlich abwesend war. Auch der Mensch als das andere der beiden edelsten Geschöpfe war, obwohl keine rein geistige Substanz, sondern seinem kreatürlichen Wesen nach eine leibhafte Seele, ursprünglich gut und zwar insgesamt und in Gestalt beider Geschlechter. Die Vernunft des prälapsarischen Menschen stand in exzellenter Übereinstimmung mit ihrer gottebenbildlichen Bestimmung sowohl hinsichtlich ihres Verstandes, als auch ihres Willens und ihres appetitus sensitivus. Entsprechendes galt für den menschlichen Leib, der durch die vernünftige Seele seine innere Form gewinnt und vor dem Fall in allem ihren verständigen, willentlichen und sinnesbezogenen Vollkommenheiten korrespondiert. Der beseelte Leib des prälapsarischen Menschen war deshalb zwar nicht apathisch, aber doch leidenslos im eigentlichen Sinn und mit einer zwar nicht absoluten, aber doch geordneten, an bestimmte von Gott eingesetzte Mittel gebundenen Unsterblichkeit versehen. Auch war ihm gegeben, sein dominium terrae in Übereinstimmung mit der Macht und Erhabenheit des Schöpfers wahrzu-

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90 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs nehmen. Kurzum: Vor dem Fall der Sünde war der Mensch als die differenzierte Leib-Seele-Einheit, als welche er geschaffen ist, gut und Gottes vollkommenes Ebenbild, das sich in einer vorzüglichen Übereinstimmung mit Gottes Weisheit, Gerechtigkeit, Erhabenheit und Unsterblichkeit befand, die ihm anerschaffen war, damit er Gott vollkommen erkenne, liebe und verherrliche. Zwar war die ursprüngliche Vollkommenheit von Seele und Leib des Menschen insofern nicht absolut, als sie nicht grundsätzliche und allseitige Sündenunfähigkeit, sondern nur das Fehlen eines wie auch immer gearteten schöpfungsbedingten Vermögens zu sündigen einschloss. Da dieses Fehlen aber gänzlich war, kann der status integritatis perfekt, wenn auch nicht vollendet im Sinne absoluter Vollkommenheit genannt werden. Dies wird durch den akzidentellen Gebrauch des Wortes Gottebenbildlichkeit in der Lehre vom Menschengeschöpf nicht falsifiziert. Gottebenbildlichkeit ist zwar eine veränderliche und verlierbare, aber gleichwohl eine Qualität des Menschen, die konstitutiv und wesentlich zu seinem kreatürlichen Ursprungstatus gehört. Der Fall der Sünde kann daher weder aus der Geschöpflichkeit des Menschen noch aus der ursprünglichen Verfassung der Schöpfung insgesamt oder gar aus dem Schöpfer selbst abgeleitet werden. 4.2. De peccato Gott ist in gar keiner Weise Ursache der Sünde, unter welchem Aspekt auch immer von ihm die Rede ist. Deshalb kann das Faktum des Sündenfalls auch aus seiner Schöpfung, die ursprünglich ganz gut war, theologisch nicht deduziert werden. Die causa peccati liegt ausschließlich im grundlosen Vollzug der Sünde begründet, wie er aus reinem Belieben verkehrter Freiheit und schierer Gottaversion hervorgeht. Statt einer causa efficiens kommt der Sünde daher nur eine causa deficiens zu, ein abgründiger Grund, der seiner eigenen Bodenlosigkeit verfallen und dazu bestimmt ist, sich selbst zu verwirken. Subjekt der Sünde bzw. materia peccati in qua sind zum einen die gefallenen Engel und zum anderen die gefallenen Menschen. Was die angeli lapsi betrifft, so hat ihr Fall keine andere Wirkursache außer dem willkürlichen Willen, aus einem im Grunde nicht aufklärbaren Belieben (vgl. I,207) heraus von Gott abzufallen. Sünde ist reine Willkür. Dass sich dieser Willkür zuerst körperlose Geister schuldig machen, enthält einen Hinweis darauf, dass die Sünde ihr Unwesen primär nicht in Form sinnlicher Verfehlungen, sondern geistiggeistlicher Verkehrung betreibt. Die Perversion des Geistes ist der innere Abgrund des Bösen, der den Sündenfall zum Höllensturz werden lässt. Das Motiv des Sündenfalls muss zuletzt unerfindlich bleiben. Wenn überhaupt, dann kommt als identifizierbarer Beweggrund der Sünde nur der anmaßend-affektive Wille in Frage, Gott gleich zu sein. Es ist teuflisch, als rein geistiges Engelwesen sein zu wollen wie Gott. Die Folgen solch grundver-

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4. De homine peccatore ad Deum reducendo oder : Vom Subjekt der Theologie91

kehrten Wollens und abfälligen Verhaltens an sich vollkommener Wesen Gott gegenüber sind Höllensturz und habituelle Bosheit von beharrlicher Unverbesserlichkeit. Kennzeichnend für sie ist konzentrierter Hass gegen Gott, der mit äußerster Aversion gegen alles Kreatürliche einhergeht, und es von Gott abzukehren und in Besitz zu nehmen trachtet. Weist der Sturz der Engel und ihres Anführers, des Satans, darauf hin, dass der Fall der Sünde aus der Sphäre des Geistigen hervorgeht, so ist auch im Menschen das Erstaufnehmende, das proton dektikon der Sünde die Seele mit ihrem Vermögen und ihren Fähigkeiten, so sehr die sündige Verfehlung den ganzen Menschen einschließlich seines Leibes erfasst. Dies gilt sowohl für das peccatum primum des Menschen als auch für die Sünde, die aus der ersten menschlichen Sünde hervorgeht und als peccatum a primo ortum traditionell Erbsünde genannt wird. Die äußere Ursache der ersten Menschheitssünde rührt zuerst und hauptsächlich von teuflischer Verführung her, die in pervertierter Engelsgeduld ständig zu verkehrtem Verhalten verleiten will, ohne dies gewaltsam erzwingen oder aus dem Innersten des Menschen heraus von sich aus erwirken zu können. Die innere und gewissermaßen direkt bewirkende Ursache menschlicher Ursünde liegt insofern nicht im Teufel begründet, der den Menschen als ursprüngliches Gottesgeschöpf nur zu versuchen vermag. Innerliche Schuld an der Ursünde des ersten Menschen tragen dessen Seelenvermögen, Verstand und Wille, die nicht wegen eines ihnen innewohnenden Mangels, den es in statu integritatis nicht gab, sondern aus einem Grund, der ebenso verstandeswidrig wie willkürlich war, sich vom Teufel und dem teuflischen Streben zu Unglauben gegen Gott und dazu verführen ließen, sich selbst an Gottes Stelle zu setzen. Von den Ureltern des Menschengeschlechts hat sich die Ursünde, die mit dem gänzlichen Verlust menschlicher Gottebenbildlichkeit einhergeht und allenfalls einige Überbleibsel und Spuren derselben hinterlässt, auf die Nachkommen fortgezeugt, um ausnahmslos »omnes ordinaria naturae via ex Adamo descendentes homines« (II, 80) zu betreffen. Das mit der von den Ureltern ererbten Sünde nicht unmittelbar, sondern vermittels eigener Tätigkeit gleichzusetzende peccatum originale ist im Handelnden intern durch den verkehrten Willen verursacht, der ihre causa deficiens interna ausmacht. Als innerer Antrieb verkehrten Willens fungiert die »concupiscentia irritans« (II,98), als äußerer jedwede Form der Verführung zum Tun des Bösen. Materiale, formale sowie ihre Wirkung und Eigenschaften betreffende Bestimmungen der peccata actualia und der Versuch ihrer Gliederung schließen an. Hinsichtlich der im Handeln wirkenden inneren Ursachen werden beabsichtigte und unbeabsichtigte Tatsünden unterschieden (vgl. II,115 f), hinsichtlich des sündigen Subjekts lässliche und solche Sünden, die in dem Moment, in dem sie begangen werden, den geistlichen Tod mit sich bringen und – sofern nicht ernsthafte Buße erfolgt – in die Verdammnis führen (vgl. II, 147 ff), hinsichtlich der Materie, gegen die sich die Tatsünden richten, eine Sünde gegen den Menschensohn, die vergebbar,

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92 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs und eine solche gegen den Heiligen Geist, die unvergebbar ist. Der Abschnitt endet mit Ausführungen zur Verstockung.

4.3. De viribus naturalibus post lapsum in homine residuis Die nach dem Fall im Menschen zurückgebliebenen Kräfte sind dürftig und werden im Wesentlichen nur dafür aufgeführt, die Unentschuldbarkeit des sündigen Zustands des postlapsarischen Menschen zu begründen. Ein liberum arbitrium im Sinne des Vermögens, seine Bekehrung und entsprechende geistliche Handlungen zu bewirken, wird ihm abgesprochen. Nur der Wille als solcher im Sinne der Freiheit von Zwang und äußerer Notwendigkeit sowie passive Aufnahmefähigkeit im logischen Sinne eines bloß möglichen Nichtwiderstehens wird ihm zugesprochen. Hingegen wird eine Freiheit zur Entscheidung zwischen geistlich Gutem und Bösem ausdrücklich nicht zuerkannt, weil der postlapsarisch verkehrte Wille des Menschen auf das geistlich Böse festgelegt ist. Wahlmöglichkeit besteht für ihn nur bedingt und lediglich in Bezug auf das natürlich Gegebene im Allgemeinen und im Besonderen. In geistlichen Dingen ist das liberum arbitrium des gefallenen Menschen kraftlos, ja tot.

5. De principiis salutis oder : Über die Prinzipien, von denen das ewige Heil des sündigen Menschen abhängt 5.1. De benevolentia Patris erga homines lapsos Die Prinzipien menschlichen Heils sind göttliche Gnadenhandlungen seiner Bewirkung und dreieinig verfasst. Das erste Prinzip des durch Gnadenhandlungen zu bewirkenden Heils des sündigen Menschen ist das Wohlwollen Gottes des Vaters als ein actus efficacissimae dilectionis (III,5). Gottes väterliches Wohlwollen ist konsequenter Wille wirksamster Liebe, das menschliche Heil durch geeignete Mittel zu realisieren. Gegenstand des allgemeinen göttlichen Wohlwollens sind generell alle sündigen Menschen, ohne Ausnahme eines auch nur einzigen (III,9: ne uno quidem excepto). Mit dem Willen, der allen folgenden Willensaktivitäten vorausgeht (III,6: voluntas antecedens), will Gott der Vater das Heil des gesamten Menschengeschlechts, welches er im Modus intensivster, ernsthaftester und durch hinreichende und wirksame Heilsmittel geordneter Liebe (III,12: dilectio … non absoluta, sed ordinata) zu verwirklichen trachtet. Aus dem allgemeinen Wohlwollen Gottes des Vaters gegenüber dem ganzen sündigen Menschengeschlecht, welches die willentliche Mitwirkung des göttlichen Sohnes und des Heiligen Geistes nicht aus-,

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Prinzipien, von denen das ewige Heil des sündigen Menschen abhängt

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sondern einschließt und sich »in mediorum salutis ordinatione« (III,15) äußert, entspringt die »benevolentia specialis« (ebd.), die in der Vorherbestimmung zum Leben (ebd.: »in praedestinatione ad vitam«) sichtbar wird. Nach einer onomatologischen Bestimmung des Prädestinationsbegriffs im Sinne des biblischen Sprachgebrauchs und entsprechenden Ausführungen zum Begriff der electio verbindet König beide pragmatologisch mittels des Begriffs des göttlichen Vorherwissens. In der Konsequenz seiner aller Zeit vorausgehenden ewigen Vorherbestimmung, die den göttlichen Willen, dass allen Menschen geholfen werde, zur Voraussetzung hat (vgl. III,27), erwählt Gott in der Freiheit seines Willens vor Grundlegung der Welt aus rein gnadenhafter Gnade (III,35: ex gratia mere gratuita), die jedes Verdienst menschlicher Werke gänzlich ausschließt, in Christus kraft des Hl. Geistes jene menschlichen Sünder zum Heil, die finaliter glauben, will heißen: die sich die in den media salutis ordnungsgemäß wirksame Heilszuwendung Gottes vorbehaltlos und beständig gefallen lassen, statt sich ihr gegenüber zu versperren (vgl. III,6: obice objecto). Die prädestinatorische Erwählung erfolgt sonach nicht unmittelbar, sondern auf eine Weise, die durch die göttliche »praevisio futurae fidei finalis in certis individuis« (III,29) vermittelt ist. Subjekt der Erwählung sind entsprechend nicht einfach die Menschen überhaupt, obzwar ihnen Gottes benevolentia generalis ausnahmslos gilt, sondern die beständig und bis ans Lebensende – kraft des in den Medien des Heils wirksamen Hl. Geistes – an Christus Glaubenden. Dabei ist vorausgesetzt, dass es sich bei den Glaubenden um gefallene Menschen handelt, denen als Sündern trotz ihrer heillosen und heilswidrigen Sünde, die alles soteriologische Eigenvermögen zersetzt, göttliches Heil durch Glauben zuteil wird. Hinzuzufügen ist, dass auch die der Erwählung der Glaubenden und dem allgemeinen Wohlwollen Gottes gegenüber dem sündigen Menschengeschlecht insgesamt zuwiderlaufende Verwerfung, in der sich die strafende bzw. vergeltende Gerechtigkeit Gottes (III,45: justitia DEI punitiva seu vindicativa) gegenüber der Sünde am ungläubigen Sünder auswirkt, nicht von unmittelbarer, sondern von vermittelter Art und durch das göttliche Vorherwissen der definitiven Zurückweisung des Verdienstes Christi durch den unbußfertigen Unglauben der Ungläubigen bedingt ist. 5.2. De fraterna Jesu Christi redemtione 5.2.1. De redemtore 5.2.1.1. De persona Jesu Christi Ist das erste Prinzip des Heils die benevolentia Dei universalis et specialis gegenüber dem gefallenen Menschengeschlecht, so schließt sich als zweites die fraterna Jesu Christi redemtio an, in Bezug auf die zwischen Erlöser und

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94 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs Erlösung bzw. zwischen Christologie und Soteriologie unterschieden wird, ohne dass diese Unterscheidung als Trennung missverstanden werden dürfte. Die Christologie als Lehre vom Erlöser handelt nach einer kurzen Notiz zu den nomina redemtoris von seiner Person (de persona), von seinem Amt (de officio) und von seinen Ständen (de statibus). Die christologische Lehre von der Person des Erlösers setzt die Lehre von der (asarkischen) zweiten trinitarischen Person voraus, wie sie vor ihrer Inkarnation von Ewigkeit her war, und handelt von ihr als der ensarkischen, wie sie in der Fülle der Zeit (III,58: in temporis plenitudine) durch Aufnahme (ebd.: assumtio) unserer menschlichen Natur in die unendliche Hypostase des Sohnes Gottes zu sein begann. Die ensarkische, fleischgewordene Person des Erlösers besteht aus zwei Naturen (III,59: ex duabus constat naturis): der göttlichen, die sie von Ewigkeit her vom ewigen Vater durch die ewige, wahre, allein dem Sohn zukommende substantiale Zeugung hat, und der menschlichen, die in der Zeit aus dem Blut der jungfräulichen Mutter durch das wunderbare und außerordentliche Übersie-Kommen des Hl. Geistes hervorgebracht und vom Logos in seine eine Hypostase aufgehoben wurde.

5.2.1.1.1. De duabus in Jesu Christo naturis Was die Lehre von den beiden Naturen der Person des Erlösers näherhin betrifft, so werden diese entweder absolut und an sich, nämlich hinsichtlich ihres Seins als solchen behandelt oder in ihrer Beziehung zueinander und als personale Einheit. Die göttliche Natur Jesu Christi ist absolut und an sich selbst betrachtet »eadem numero essentia Divina« (III,62), das der Zahl nach eine und selbe Wesen, welches auch, wenngleich auf unterschiedliche Weise, Gottvater und der Hl. Geist haben. Jesu Christi menschliche Natur hat ihr Wesen als differenzierte Einheit der vernünftigen Seele und des leiblichen Körpers mit allem, was ihm zugehört, und verfügt über Eigenschaften, die einerseits der ganzen menschlichen Art gemeinsam sind (einschließlich natürlicher Schwächen sowohl des Leibes als auch der Seele wie »ignorantia purae negationis« [III,76], Unwissen im rein negativen, nicht schuldbedingten Sinn oder wie »animi perturbationes naturales« [ebd.], natürliche Affekte und Seelenbedrängnisse) und die andererseits nur und individuell dem Menschsein Jesu Christi zukommen wie erstens einwohnende Sündlosigkeit, zweitens durch die göttliche Hypostase ermöglichte Anhypostasie und drittens eine »singularis animae et corporis excellentia« (III,78). Die einzigartige Vollkommenheit der Seele der menschlichen Natur Jesu Christi ist dreifacher Art und auf intellectus, voluntas und appetitus erstreckt; die Vollkommenheit des Leibes wiederum beinhaltet höchste Ausgewogenheit, intrinsische Unsterblichkeit bei extrinsischer Möglichkeit des Sterbens (ohne im freiwillig auf sich genommenen Tod verweslich zu sein) und höchste Schönheit und Anmut des Aussehens.

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Prinzipien, von denen das ewige Heil des sündigen Menschen abhängt

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5.2.1.1.2. De unitione et unione personali In ihrer Beziehung zueinander kommen die beiden Naturen Jesu Christi zunächst hinsichtlich des Zustandekommens ihrer Einheit (III,83: quoad actum), sodann hinsichtlich der Gegebenheit dieser Einheit (ebd.: quoad statum) in Betracht. Das Zustandekommen personaler Einheit göttlicher und menschlicher Natur vollzieht sich in einem punktuellen Geschehen und in einem vorübergehenden Augenblick, in dem sich die beiden Naturen zu einer Hypostase verbinden. Dieser Vollzug wird unbeschadet aller Differenzierungen, die terminologisch zu beachten sind, traditionell Einigung (II,85: unitio), Inkarnation (vgl. III,86) oder »(a)ssumtio« (III,87) des Menschseins in die Person des Logos genannt und mit Wendungen wie »verbum caro factum est« etc. (vgl. III,94 f) umschrieben. Die causa efficiens unitionis ist inchoative die ganze Trinität, terminative nur der Logos, »qui solus incarnatus est« (III,89) und dessen Person im Vollzug der unitio als Vereiniger handelt und die Vereinigung vollendet, wohingegen die anhypostatische menschliche Natur passiv vollendet wird. Die Person des Logos ist es auch, welche die Einigung formt und das eigenständige Bestehen des Menschseins Wirklichkeit werden lässt (III,91: terminet in subsistendo humanitatem). Der Logos personiert die menschliche Natur Jesu Christi und durchdringt sie in aktiver Perichorese aufs innigste und rundum (III,92: intime et circumcirca), um sich ihr in ihrer Gänze ganz mitzuteilen. Die Wirkungen der unitio sind zum einen der beständige und unveränderliche Status der unio personalis göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus selbst, sodann die Einigungs- bzw. Einheitsprädikationen (III,93: praedicationes singulares) und schließlich die Vollzüge von Eigenschaftsmitteilung (ebd.: communicatio propriorum), die durch sie erschlossen sind. Was den Zustand personaler Einheit göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus (status unionis) betrifft, der dem actus unionis folgt, so ist sein Zweck die Ausführung der zum Amt Christi gehörenden Handlungen, deren Möglichkeitsbedingungen er gewährleistet. Lehre von der Person und Lehre vom Amt Christi bilden sonach eine differenzierte Einheit. Ihrer Form nach ist die unio die unaufhörliche Personalbeziehung der beiden wesensunterschiedenen, aber gänzlich füreinander aufgeschlossenen Naturen, die in dauerhaftester und innigster Gemeinschaft wechselseitiger Kopräsenz einzigartig verbunden sind. Die personale Einheit Gottes und des Menschen, wie sie im Gottmenschen unbeschadet der Wesensdifferenz göttlicher und menschlicher Natur gegeben ist, unter dem Aspekt der Personthematik und insbesondere der Thematik der Mitteilung von jeweiligen Natureigenschaften zu bedenken und näher zu explizieren, ist Aufgabe der Lehre von der communicatio idiomatum im weiteren und im engeren Sinn.

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96 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs

5.2.1.1.3. De communicatione idiomatum Die die Person Jesu Christi betreffenden Aussagen, die sich aus der unio göttlicher und menschlicher Natur ergeben, explizieren, indem sie Jesus Christus den göttlichen Menschen, den menschlichen Gott, den Gottmenschen nennen, etwas Konkretes und nicht etwas Abstraktes. Sie sagen das Konkrete der einen Natur vom Konkreten der anderen Natur so aus, wie es der Einzigartigkeit der unio personalis göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus entspricht. Ihr Aussagegehalt ist keineswegs von bloß verbaler oder bildlicher Bedeutung, sondern real und eigentlich zu verstehen. Die christologische Ausssage, dieser Mensch ist Gott, sagt eine wirkliche Identität aus, ohne eine Identitätsaussage von unmittelbarer und allgemeiner Art zu treffen, welche von der konkreten Einzigartigkeit jenes Vermittlungsgeschehens abstrahiert, das die unio personalis Gottes und des Menschen in Jesus Christus begründet. Die Logizität der generellen Aussagenlogik wird dadurch nach König zwar einerseits transzendiert und auf eine Wahrheit hin überschritten, die höher ist als alle Vernunft; ihre Geltung wird aber andererseits auch nicht einfachhin suspendiert und außer Kraft gesetzt, weil sonst über das alles Begreifen übersteigende Geheimnis der unio personalis göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus überhaupt keine begrifflichen Aussagen von innerer Logizität und Verständlichkeit gemacht werden können. Zum Begriff christlicher Theologie gehört es, um die Unbegreiflichkeit ihres Gegenstandes zu wissen, ohne deshalb der Begriffslosigkeit zu verfallen und im nichtssagenden Schweigen zu enden. Diese Einsicht wird durch Königs Lehre von der communicatio idiomatum bestätigt, die sich im engeren Sinne auf die gegenseitige Mitteilung der Eigenschaften und Eigenheiten sowie im weiteren Sinne auf Taten, Widerfahrnisse, Wirkungen und Handlungen der beiden Naturen in Jesus Wirken bezieht. Es gibt drei Arten der Idiomenkommunikaton als einer wirklichen und nicht bloß verbalen, wenngleich übernatürlichen Mitteilung von Eigenschaften der personal vereinten Naturen Jesu Christi. Die erste Art, das genus idiomaticum, betrifft die kraft der unio personalis mögliche reale Zuschreibung von Eigenheiten einer der beiden Naturen in Bezug auf die ganze Person des inkarnierten Logos mit Rücksicht auf die jeweilige Natur, der die betreffende Eigenheit zukommt. Die zweite Art der Idiomenkommunikation, das genus maiestaticum, das zu einem christologischen Charakteristikum der Lehrentwicklung der Wittenberger Reformation wurde, ist auf die Mitteilung von Hoheitseigenschaften der göttlichen an die menschliche Natur bzw. auf die Erhöhung der in die Hypostase des Logos aufgenommenen menschlichen Natur zur Inbesitznahme (III,176: ad possesionem) der ganzen Fülle und Herrlichkeit der erhabenen Gottheit bezogen, wie sie unter der Voraussetzung und in der Kraft personaler Gottmenscheinheit in Jesus Christus statthat. Diese Mitteilung hat ebenfalls als wahrhaft und wirklich zu gelten, ohne dass

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Prinzipien, von denen das ewige Heil des sündigen Menschen abhängt

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es zu irgendeiner Vermischung der beiden Naturen und ihrer Eigenschaften käme. Bleiben im genus idiomaticum der communicatio idiomatum die göttlichen Eigenschaften formal der göttlichen Natur vorbehalten, so werden sie im zweiten genus als der menschlichen Natur wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittels der Personeinheit zukommende betrachtet. Das genus apostelesmaticum schließlich als die dritte Art der Idiomenkommunikation hat das gemeinsame Handeln der beiden personal vereinten Naturen zum Thema, wobei die gottmenschlichen Handlungen sowohl Erhabenes als auch Niedriges umfassen. Auch im Passionsgeschehen sind beide Naturen des Gottmenschen vereint wirksam, wenngleich auf unterschiedliche, ihrer jeweiligen Wesenswirklichkeit entsprechende Weise.

5.2.1.2. De officio Jesu Christi 5.2.1.2.1. De officio prophetico Zielbestimmung von unitio und unio menschlicher und göttlicher Natur in der Person Jesu Christi ist sein Heilswerk, welches zu verrichten seines Amtes ist, das er als Prophet, Priester und König wahrnimmt. Das officium bzw. munus propheticum hat Jesus Christus während der Zeit seines irdischen Daseins durch Verkündigung des Evangeliums und rechte Auslegung des göttlichen Gesetzes persönlich ins Werk gesetzt. Mittelbar ist das prophetische Amt in besonderer Weise den Aposteln und ihren Nachfolgern aufgetragen, die den stellvertretenden Dienst, zu dem sie berufen sind, bis zum Jüngsten Tage ausüben werden. 5.2.1.2.2. De officio sacerdotale 5.2.1.2.2.1. De satisfactione Das officium sacerdotale, das Jesus Christus ausübt, um die gefallenen Menschen mit Gott zu versöhnen, besteht aus zwei Teilen: satisfactio und intercessio (vgl. III,218). Das principium quod der Genugtuung ist allein der Gottmensch, ihr principium quo eine jede seiner beiden Naturen und zwar die göttliche orginale et formale, die menschliche organicum, also auf werkzeugliche Weise und zwar so, dass sie aus der ihr durch die unio personalis mitgeteilte göttliche Kraft heraus handelt (vgl. III,221 – 223). Dargebracht wird die Genugtuung nicht etwa dem Teufel, wie von einigen in der Alten Kirche verbreiteten, schon von Anselm zurückgewiesenen volkstümlichen Vorstellungen nahegelegt, sondern allein dem dreieinigen Gott und zwar nicht als einer willkürlichen Macht, sondern als dem gerechten Richter, der nach Maßgabe der Strenge seiner unendlichen Gerechtigkeit, welche die Differenz von gut und böse niemals vergleichgültigt oder vergleichgültigen lässt, eine unendlich

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98 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs wertvolle Genugtuung fordert (vgl. III,224). Ihr objectum pro quo sind in personaler Hinsicht ausnahmslos alle gefallenen Menschen, für deren »omnia omnino peccata« (III,226) sowie zeitliche und ewige Sündenstrafen insgesamt Satisfaktion geleistet wird. Das Mittel hierzu ist das »pretium universae Christi obedientiae« (III,228), also sowohl seines leidenden als auch seines aktiven Gehorsams, durch welchen er freiwillig die ganze fremde Schuld bezahlt hat. Diese im göttlichen Gericht angerechnete Bezahlung (III,229: solutio) des Mittlers gilt nicht nur aufgrund göttlicher Annahme (ebd.: ex Divina acceptatione), sondern auch »secundum se« (ebd.) und kraft ihres Eigenwertes, der ihr zum einen wegen der Unendlichkeit der genugtuenden Person und zum anderen wegen der vollständigen Mitteilung der göttlichen Majestät an die menschliche Natur in der unio personalis zukommt.

5.2.1.2.2.2. De intercessione Die seit dem ersten Augenblick seiner Erniedrigung bis in die äußerste Gottferne des Kreuzestodes hinein durch vollkommenen Gehorsam dem dreieinigen Gott gegenüber freiwillig erbrachte Genugtuung des Gottmenschen, die ihm im göttlichen Gericht um der Erlösung der Menschen willen als Verdienst angerechnet wird, folgt seine Fürbitte (intercessio), mit der er den gerechten Gott durch Verweis auf die geleistete satisfactio und das daraus resultierende meritum zu beständiger Barmherzigkeit bewegt, um so den grundlegenden Dienst seines priesterlichen Amtes zu ratifizieren und für den in Sünde gefallenen Menschen dauerhaft dasjenige zu erwirken, von dem er weiß, dass es für Leib und Seele heilsam ist. Solche priesterliche Fürbitte leistet der gottmenschliche Mittler generell für alle Menschen insgesamt und im Einzelnen, im Besonderen aber für die Glaubenden und Erwählten. Dem Eintreten des Hl. Geistes für uns ist die Fürsprache Jesu Christi verwandt, ohne doch mit ihr identisch zu sein; denn diese beruht im Unterschied zu jener nicht auf dem Verdienst eines anderen, sondern auf dem Verdienst des Fürbittenden selbst. 5.2.1.2.3. De officio regio Das dritte unter den munera Jesu Christi besteht in seinem officium regium, wobei sein königliches Reich ein dreifaches ist, nämlich dasjenige der Macht (regnum potentiae), dasjenige der Gnade (regnum gratiae) und dasjenige der Herrlichkeit (regnum gloriae). Generell gilt, dass Jesus Christus seine königliche Regentschaft gemäß seinen beiden personal vereinten Naturen ausübt und zwar, was die menschliche Natur angeht, im Prinzip vom ersten Augenblick der Empfängnis an, doch in umfassender und nicht endender Weise erst seit seiner Erhebung zur Rechten der Majestät Gottes. Gemäß der Herrschaft der Macht regiert Jesus Christus als der zur Rechten Gottes Erhöhte gänzlich

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Prinzipien, von denen das ewige Heil des sündigen Menschen abhängt

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alles von Gott Erschaffene mit der unbeschränkten Majestät seiner beiden Naturen, wobei seinem Menschsein vollkommene Herrschaftsteilhabe zukommt, insofern es jedem geschaffenen »Wo« und damit jedem »Ort« des Reiches der Macht auf ubiquitäre Weise präsent ist (vgl. III,255). Im Reich der Gnade herrscht Jesus Christus durch Wort und Sakrament, um sich in der Menschenwelt eine Kirche zu sammeln und sie zu regieren, zu schützen und zu bewahren, damit der Name Gottes gepriesen, das satanische Reich zerstört und das Heil der Glaubenden realisiert werde. Am Ende der Welt wird die Königsherrschaft im Reich der Gnade aufhören und Jesus Christus sein officium regale im Reich der Herrlichkeit als himmlischer Herrscher der Engel und erwählten Menschen zur Ehre des dreieinigen Gottes und zur Freude der Seligen vollenden. Zwar übt er die Herrschaft im Himmel der Seligen gemäß seiner Gottheit von Ewigkeit an und auch gemäß seiner Menschheit schon seit dem ersten Augenblick seiner Erhöhung zur Rechten des Vaters aus. Aber vollkommen manifest und definitiv vollendet wird das regnum gloriae erst im Eschaton sein, wenn die Seligen um den göttlichen Thron versammelt sind und die Kirche triumphieren wird.

5.2.1.3. De statibus Jesu Christi 5.2.1.3.1. De statu exinanitionis Als letztes Thema der Christologie kommt nach der Lehre vom dreifachen Amt die Ständelehre in Betracht, wobei zwei status Christi unterschieden werden: exinanitio und exaltatio (vgl. III,276). Dem Stand der Erniedrigung werden im Anschluss an das Apostolische Glaubensbekenntnis die Empfängnis, mit der er seinen Anfang nahm, die Geburt, das Leiden und der Tod sowie das Begräbnis bzw. die Grabesruhe bis zu jenem, den Beginn der Erhöhung markierenden Augenblick zugerechnet, in dem der Leib des Gekreuzigten lebendig gemacht und mit seiner Seele wiedervereinigt wurde. Subjectum quod der Erniedrigung ist der inkarnierte Logos, subjectum quo seine menschliche Natur, an der sie sich auswirkt. In statu exinanitionis entäußert sich Jesus Christus nicht nur seiner göttlichen Gestalt (III,280: hoc est status Divinus gloriosus), sondern verzichtet hinsichtlich seiner menschlichen Natur auch freiwillig und real auf den vollen und ununterbrochenen Gebrauch der ihm und seinem Menschsein kraft der unio personalis zukommenden göttlichen Majestätseigenschaften wie Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, um der göttlichen Gerechtigkeit Genugtuung »pro commissio in protoplastis Dei-formitatis raptu« (III,283) zu leisten und das Heil für die Gefallenen zu erwerben.

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5.2.1.3.1.1. De conceptione et nativitate Mit dem ersten Augenblick der Inkarnation, wie er im Empfängnismoment statthat, beginnt der Status der Erniedrigung und zwar auf folgende Weise: nach erfolgter Reinigung des Mutterleibes, der den einzigartigen Fötus mere obedientialiter (III,293) empfangen soll, wird die Seele Christi vom Hl. Geist aus der Seele der Jungfrau Maria hervorgebracht und die Leibeswohnstatt für die Seele allmählich ausgebildet, bis das göttliche Kind den Leib der jungfräulichen Mutter verlassen und das Licht der Welt erblicken kann. Ob die Geburt Jesu Christi mit dem Ende der Jungfräulichkeit Mariens einhergeht oder nicht, lässt sich nach König aus der Schrift nicht entscheiden. Die Frage der ewigen Jungfrauenschaft Mariens muss daher offen bleiben.

5.2.1.3.1.2. De passione et derelictione Auf die Geburt des Gottmenschen folgt sogleich sein Leiden, das mit der frühesten Kindheit Jesu Christi beginnt (wenn es nicht überhaupt mit dem Stand der Erniedrigung gleichzusetzen ist), und während seines ganzen irdischen Lebens anhält, um sich am Lebensende dramatisch zu verdichten und zu vollenden. Auch wenn das Leiden Jesu Christi recht eigentlich nur seine menschliche Natur angeht, weil die göttliche gänzlich leidensunfähig ist, so ist durch es doch auch die göttliche Natur auf vielerlei Weise (vgl. III,307) im Innersten betroffen bis dahin, dass sie sich die Passion des Menschseins des Erlösers auf hypostatisch vermittelte Weise appropriiert (vgl. III,307). Zweck des Leidens Jesu Christi, das wahrhaft und wirklich und keineswegs bloß scheinbar war, ist die vollständige Sühne für alle Sünden des Menschengeschlechts und die Befreiung von den Strafen der Hölle. Seine äußerste Tiefe erreicht der status exiniationis des Gottmenschen mithin im Erleiden der göttlichen Sündenstrafe, was nicht nur dem ewigen Tod gleichkommt, sondern unendlich viel mehr wiegt als alle ewigen Tode aller Verdammten zusammen (III,309: omnes omnium damnatorum aeternas mortes infinities supergrediens). Im Erleiden der göttlichen Strafe verfällt der Gekreuzigte der resignatio ad infernum als dem inneren Abgrund seiner Passion. Die unaussprechliche Gottverlassenheit, über die Jesus Christus am Kreuz nicht in Bezug auf andere, sondern höchst persönlich klagt und die neben dem schmerzlichen Empfinden des sterbenden Leibes, auswegslos dem physischen Tod verfallen zu sein, auch die höllische Seelenpein eines Ausgeliefert- und Preisgegebenseins an den Teufel umfasst, besteht primär und vor allem im Entzug des inneren Fühlens der himmlischen Gnade, des Trostes und der Wonne, welches ansonsten mit der einwohnenden Gottheit verbunden ist. Dem um der Sünde des Menschengeschlechts willen dem Strafgericht göttlicher Gerechtigkeit aus-

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gelieferten Jesus Christus musste Gott als gnadenlos und seine Lage als absolut trostlos erscheinen. Anders konnte er nicht zum Erlöser und Versöhner werden, der aus dem Grab des Todes und der Bodenlosigkeit der Hölle zu befreien vermag. Die Passion Jesu Christi ist einzigartig und ohne Beispiel und zwar hinsichtlich des Leidenden selbst (III,327: ratione derelicti), des Ursprungs des Leidens (III,328: ratione principii) und seiner Schwere (III,329: ratione intensionis) sowie der folgenden Schmerzen (III,330: ratione consequentium dolorum). Letztere waren so groß, wie sie keiner der Verdammten in der Hölle je erleiden kann. Der Schrei der Verlassenheit am Kreuz ist die Klage desjenigen, der das unerträgliche Flehen aller Verzweifelnden und zu Verdammenden auf sich nimmt und an sich selbst zu ertragen gewillt ist. Der Sünde des Menschengeschlechtes wegen, die er insgesamt und für jeden Einzelfall auf sich lud, wurde niemand jemals von Gott für einen größeren Sünder erachtet als Christus (III,329: nemo unquam major peccator reputatus a DEO fuit) und die Strafe, die er zu erleiden hatte, war mit dem schlimmsten aller göttlichen Flüche verbunden: »quia enim hic omnia omnino omnium hominum peccata in se susceperat, non potuit non Pater coelestis vi justitiae suae extreme odisse ipsum tanquam kataran, Gal. 3,13. et peccatorem, quos sol unquam vidit, omnium maximum, 2. Cor. 5,21.« (III,328)

5.2.1.3.1.3. De morte et sepultura Was vom Tod, dessen Dauer einen Zeitraum von drei Tagen umfasste, und dem anschließenden Begräbnis des entseelten Leibes Jesu Christi gesagt wird, ist ebenfalls auf den Zweck der Sühne für die menschliche Sünde und der Erlösung vom ewigen Tod bezogen. Genauer bedacht zu werden verdient die Bemerkung, dass Jesus Christus während seines dreitägigen Todes zwar wahrhaft als tot, aber wegen der hypostatischen Fortdauer der auf natürliche Weise getrennten Teile von Leib und Seele im Logos wegen der Unveränderlichkeit der personalen Einheit weiterhin als wahrer Mensch zu betrachten ist (vgl. III,338). 5.2.1.3.2. De statu exaltationis Die Lehre vom status exaltationis handelt von der gesamten seiner Erniedrigung entgegengesetzten Verherrlichung Jesu Christi. Subjekt der Erhöhung ist wie im Falle der Erniedrigung der inkarnierte Logos hinsichtlich seines angenommenen Menschseins. Ihr Vollzug geschieht stufenweise und hebt an mit der Lebendigmachung des gestorbenen Leibes des Gekreuzigten und seiner Wiedervereinigung mit der Seele Jesu Christi. Die göttliche Erweckungsaktion ist die Vor- und Grundbedingung der exaltatio, welche an den status exinanitionis anschließt und dessen Momente in sich aufhebt.

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5.2.1.3.2.1. De descensu ad inferos Nach König ist die erste Stufe der Erhöhung die nach erfolgter Lebendigmachung als realis profectio (III,362) vollzogene Niederfahrt Jesu Christi zur Hölle, die seiner Auferstehung noch vorhergeht. Zwar könne unter der Höllenfahrt metaphorisch auch das Erleiden höllischer Schmerzen und das Fühlen des göttlichen Zorns oder virtuell ein durch das Verdienst Christi ermöglichtes Heilsgeschehnis verstanden werden. Aber im eigentlichen Sinne einer wirklichen Fahrt in die Hölle sei der descensus ad inferos der erste Erhöhungsgrad (III,370: primus exaltationis gradus), wie dies 1. Petr 3,18 ff oder in der zutreffenden Vorstellung der Alten vorausgesetzt werde, die Höllenfahrt Christi habe in jenem großen Erdbeben stattgefunden, das sich frühmorgens vor Sonnenaufgang am Tage des Passa ereignete. Der Zweck des Geschehens ist der Triumph Christi über seine Feinde, die Bestätigung seines vollen Sieges und der Erweis seiner absoluten Macht über Lebende und Tote. Erst nachdem dieser Zweck erfüllt worden war, ereignete sich die Auferstehung als zweite Stufe der Erhöhung Jesu Christi.

5.2.1.3.2.2. De resurrectione Unter Auferstehung versteht König das von der Lebendigmachung (Auferweckung) zu unterscheidende und ihr folgende Herausgehen des wieder lebendiggemachten Leibes aus dem Grab (III,372: redivivi corporis egressio e sepulchro) am dritten Tag (vgl. III,379) sowie dessen Erscheinung vor anderen (ebd.: egressi praesentatio ad alios). Materie der Auferstehung ist der an Substanz und Zahl selbe, wenngleich mit neuen Eigenschaften ausgestattete Leib Jesu Christi, der zuvor gestorben war und begraben wurde und mit der selbigen Seele, die zuvor vom Leib getrennt war, wiedervereinigt ist. Als Wirkursache der Auferstehung fungiert im Verein mit Gottvater und den Hl. Geist der auferstehende Gottmensch selbst, der in der Auferstehung indes nicht nur gemäß seiner göttlichen Natur, sondern auch secundum humanitatem tätig ist, weil seine menschliche Natur kraft unio personalis an der lebendigen Wirkmacht der göttlichen vollgültigen Anteil hat. Was schließlich den formalen Zweck der Auferstehung betrifft, so liegt er in der Bestätigung des errungenen Sieges Jesu Christi über Tod und Teufel mit allen Implikationen begründet, die dieser perfekte Sieg zur Folge hat.

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5.2.1.3.2.3. De ascensione in coelos et de sessione ad dextram Dei Der Auferstehung folgt als dritte Stufe der Erhöhung die Himmelfahrt Jesu Christi, die zu seiner Inthronisation zur Rechten des göttlichen Vaters als der vierten und letzten Exaltationsstufe führt. Aus dieser Reihenfolge geht hervor, dass König die Himmelfahrt nicht im weiten Sinne himmlischer Platzierung und Verherrlichung Jesu Christi, sondern im engen Sinne einer visibilis elevatio, einer sichtbaren Erhöhung des Auferstehungsleibes Jesu Christi in den Himmel und damit zugleich als Voraussetzung der Tatsache versteht, dass der Gottmensch nicht nur als Gott, sondern auch als Mensch zur Rechten Gottes sitzt und an dessen Königsherrschaft teilhat. Als ein die menschliche Natur Jesu Christi primär betreffender, wenngleich von der gottmenschlichen Person insgesamt in der trinitarischen Gemeinschaft bewirkter Vorgang hebt die Himmelfahrt an einem spezifischen Ort an (III,388: mons oliveti), um in Form einer wahren und wirklichen Ortsveränderung (III,391: loci mutatio) der freilich besonderen Art (zum modus ascensionis vgl. im Einzelnen III,392 ff) an den translokalen Ort zu gelangen, wo die Seligen wohnen, um daselbst für die sündigen Menschen das durch ihre Schuld verschlossene Paradies zu öffnen und ihnen eine dauerhafte Bleibe im Himmel zu verschaffen. Sein Sitzen zur Rechten Gottes (zum Verständnis der Wendung vgl. III,397 ff), in der sich seine Fahrt in den Himmel erfüllt, ist in differenzierter Weise ebenfalls auf diesen Zweck ausgerichtet, den Jesus Christus durch sein unaufhörliches und vollmächtiges königliches Herrschen im Reich der Macht, der Gnade und der Herrlichkeit zu erfüllen trachtet und tatsächlich erfüllt. 5.2.2. De redemtione Das dritte Prinzip des Heils nach der benevolentia des göttlichen Vaters und der fraterna redemtio Jesu Christi ist die gratia spiritus sancti applicatrix, die zueignende Gnade des Hl. Geistes. Von ihr handelt König im Anschluss an eine verhältnismäßig kurz gehaltene christologische Erlösungslehre (vgl. III,408 – 424), die sich an die Lehre von Person, Amt und Ständen des Erlösers anschließt. Wie bereits der Name des redemtors zeigt, ist das soteriologische Werk der Erlösung von seiner persönlichen, amtlichen und die Stände betreffenden Wirklichkeit nicht zu trennen. Dies wird in dem kurzen Lehrstück »De redemtione« eigens unterstrichen. Aus der Onomatologie resultiert, dass unter redemtio unsere kostspielige Erlösung aus der geistlichen Gefangenschaft zu verstehen ist; die Pragmatologie kommt zu dem Ergebnis: »Est itaque Redemtio haec alterum salutis nostrae Principium, quo Goel noster, in aeterno Sacrosanctae Trinitatis consilio Redemtor ordinatus, in temporis plenitudine secundum utramque naturam genus humanum, spiritualiter captivum, soluto pro universis et singulis consummatissimae obedientiae

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104 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs lytro, ab ira Dei, legis maledictionis, peccato, Diabolo, morte et inferno liberavit, ut hac ratione in libertatem asserti, aeternum cum ipso viveremus.« (III, 424) Ausdifferenziert wird diese Definition u. a. durch den Hinweis, dass die Gefangenschaft der gefallenen Menschen nicht Geldschuldcharakter habe, sondern durch die kriminelle Straftat einer Beleidigung der Gerechtigkeit Gottes bedingt sei, der als alleiniger Empfänger der Lösegeldzahlung in Betracht komme, wohingegen dem Satan keinerlei Genugtuung geschuldet werde. Erbracht wird die Leistung der Satisfaktion durch die aktive und passive Obödienz Jesu Christi, der als Gottmensch brüderlich Mitleidender und die Güte, Liebe und Barmherzigkeit Gottes selbst in einer Person ist.

5.3. De gratia Spiritus Sancti applicatrice Im Anschluss an diese Bestimmungen handelt das pneumatologische Lehrstück vom dritten Prinzip des Heils und der Gnade des Hl. Geistes, welche die aus Gottes Wohlwollen durch Jesus Christus erworbene Erlösung dem gefallenen Sünder anbietet und zueignet. Die wichtigsten actus, durch welche diese Zueignung geschieht, sind nach König Berufung (vocatio), Wiedergeburt (regeneratio), Bekehrung (conversio), Buße (poenitentia), Rechtfertigung (iustificatio), mystische Einheit der Glaubenden mit Gott (unio credentium mystica cum deo) und Erneuerung (renovatio).

5.3.1. De vocatione et regeneratione Der pragmatologischen Erörterung der einzelnen Handlungen des Geistes ist jeweils eine mehr oder minder ausführliche onomatologische Bestimmung vorgeschaltet, die eine Nominaldefinition der einzelnen Begriffe in ihrem Unterschied und Verhältnis zueinander zu leisten versucht. Die Berufung, mit der der pneumatologische ordo salutis beginnt, erfolgt, wenn sie denn als vocatio ordinaria geschieht, durch die generell an das ganze gefallene Menschengeschlecht gerichtete äußere Predigt des Worts (III,431: per externam Verbi concionem), mittels dessen das nach Gottes Willen durch Christus erworbene Gut in suffizienter und wirksamer Weise angeboten wird. In der Wiedergeburt werden dem in Sünden gänzlich toten Menschen – sei er erwachsen oder ein Kind – durch Wort und Sakrament (oder auf außerordentliche Weise) jene Kräfte zugeeignet, durch die ihm Gott geistliches Leben schenkt und sein Seelenvermögen des Verstandes und des Willens so bestimmt, dass er offen zu werden vermag für die Erkenntnis des Heils und, was den Willen betrifft, für den Heilsempfang durch herzliches und vertrauensvollen Sich-Verlassen (III,469: recumbentia fiducialis).

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5.3.2. De conversione Die Umkehr vom Unglauben zum Glauben, wie sie mit der Berufung anhebt, setzt sich neben der Wiedergeburt und in einem differenzierten Zusammenhang mit ihr fort in der Bekehrung, die, wenn sie in einem von Rechtfertigung und Erneuerung unterschiedenen Sinn verstanden wird, die Hinkehr des geistig toten (erwachsenen) Menschen zum Heil bedeutet, wie sie vom Hl. Geist üblicherweise durch das äußere Wort bewirkt wird. In der unmittelbaren Vollzugskonsequenz der nur durch den in den Heilsmitteln wirkenden Hl. Geist, nicht aber durch moralische Überzeugungsarbeit zu leistenden Bekehrung als einer allmählichen und stufenweisen ersten Überführung des gefallenen Menschen aus dem Stand der Sünde in den Stand des Glaubens liegt die Buße. Buße tritt dann ein, wenn dem Bekehrungshandeln des Geistes, bei dem es sich um eine actio non irresistibilis sed resistibilis (vgl. III,510) handelt, kein Riegel vorgeschoben wird, durch den sich der Sünder der gewährten Gnade verschließt. 5.3.3. De poenitentia Die Buße als Folge der transitiv verstandenen Bekehrung besteht materialiter aus zwei Teilen: contritio et fides (III,531), Reue und Glaube. Die Reue als erste der übernatürlich gewirkten und alle Eigenkräfte des Sünders transzendierenden Bußhandlungen wird ermöglicht durch die Erkenntnis der Sünde aus dem Gesetz (III,524: agnitio peccati ex lege) und besteht im Empfinden des Gotteszornes, dem das Bewusstsein der Sünde als Schuld entspricht sowie in dem Entsetzen und einer herzlichen Betrübnis über das begangene Böse. Doch ist nicht bereits die Reue als solche heilsam, sondern erst der Glaube, mit welchem der vom Gesetz verklagte Sünder mit zerknirschtem Herzen das Verdienst Christi ergreift. Ohne Glauben bleibt die Gewissenspein heillos. Der Glaube und der Glaube allein ist das Mittel zur Aneignung der versöhnenden Gnade (III,534: medium apprehendendae gratiae reconciliatricis) Gottes, wie sie Christus bereitet hat und der Hl. Geist offeriert. Die unmittelbare Folge des geistgewirkten Bußglaubens ist die Rechtfertigung des sündigen Menschen vor Gott, als mittelbare Konsequenzen ergeben sich Annahme (III,561: adoptio) zu Kindern Gottes, Vereinigung mit Christus und der neue Gehorsam der vom Hl. Geist Ergriffenen, der den guten Vorsatz sowie die äußerliche Ausübung des Glaubens in Form guter Werke umfasst.

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5.3.4. De iustificatione Durch das Rechtfertigungshandeln wird der sündige Mensch wegen des im Glauben angenommenen Verdienstes (III,562: propter Christi meritum fide apprehensum) durch die Vergebung der Sünden (ebd.: remissis peccatis) aus reiner Gnade (ebd.: gratis) von Gott gerecht gesprochen (ebd.: justus reputat). Es ist der Glaube und der Glaube allein, der die von Gott dargereichte Rechtfertigung empfängt. Doch stellt nicht er, sondern allein die in der Kraft des Hl. Geistes wirksame Gnade Gottes in Christus den Grund der Rechtfertigung dar, durch welche dem Glaubenden die Sünde durch Zurechnung des fremden Gehorsams (III,558: obedientia aliena) Christi nicht zugerechnet wird. In diesem Sinne ist zwischen imputatio (positive) und non-imputatio (privative) zu unterscheiden (vgl. III,552) und klarzustellen, dass der Glaube zur Gerechtigkeit nicht angerechnet wird, soweit er unser Handeln ist, sondern allein soweit er Christi Verdienst annimmt. »Omnis itaque fidei imputabilitas ad justitiam haud aliunde, quam ex objecto justificato apprehenso est.« (III,557) Der Grund der Rechtfertiung ist nicht im Menschen, sondern außerhalb des Menschen (III,559: non in homine, sed extra hominem) zu suchen und zu finden. Gleichwohl ist die ungeschuldete imputatio der Gerechtigkeit vor Gott keineswegs scheinbar, sondern ganz und gar wirklich (III,559: haut imaginaria, sed realissima) und der gerechtfertigte Sünder gänzlich gerecht, zwar nicht in sich selbst in Form einer inhäsiven Eigenqualität, wohl aber in Christus, auf den er sich glaubend verlässt. 5.3.5. De unione mystica Im Verein mit Gotteskindschaft und anderen ewigen Gütern wirkt die Rechtfertigung die mystische Einheit des Glaubenden mit Gott und die Erneuerung, mit der König das Lehrstück »De gratia Spiritus Sancti applicatrice« beschließt, ohne damit die Behauptung zu verbinden, eine in jeder Hinsicht erschöpfende pneumatologische Beschreibung des ordo salutis geleistet zu haben. Im geheimnisvollen Geschehen der unio mystica vereinigt sich der dreieinige Gott in seiner göttlichen Substanz mit der Substanz des Glaubenden, nicht um eine Transsubstantiation von dessen Menschsein oder eine der personalen Vereinigung des Logos mit der menschlichen Natur Jesu Christi analoge Verbindung herbeizuführen, sondern um den mit dem Elend dieses Lebens ringenden Glaubenden der Rechtfertigungsgnade dauerhaft gewiss zu machen und ihnen die nötige Beständigkeit im Glauben zu verleihen. Auch die Bewirkung der Einheit der Glaubenden untereinander in Glauben und Liebe gehört zu den Zielen der unio mystica. Zu ihren vortrefflichen Gütern, die sie in sich enthält (vgl. III,585), ist des Weiteren die Tatsache zu rechnen, dass sich Gottes Gottheit auf eine zwar nicht hyposta-

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tische, aber gleichwohl reale Weise alles zueigen macht, was den frommen Gliedern der Gemeinde zustößt, um ihnen beständig hilfreich zu sein, damit sie das ewige Leben ererben.

5.3.6. De renovatione Die von Wiedergeburt und Rechtfertigung unterschiedene Erneuerung, die auch Heiligung (sanctificatio) genannt wird, bezeichnet den Übergang vom alten zum neuen Menschen, die voneinander »non ratione substantiae, sed ratione qualitatum diversarum« (III,599) unterschieden werden, und eine Veränderung des sündigen Menschen dergestalt, dass sein verfinsterter Verstand erleuchtet, sein verkehrter Wille zum Guten gekehrt und seine falsche sinnliche Begierde überwunden und in ein Begehren dessen überführt wird, was Gottes Gottheit gemäß ist. Auf diese Weise werden durch das Erneuerungshandeln des Hl. Geistes gute Werke in den Glaubenden hervorgerufen. Doch sind diese, was den sie tätigenden Menschen betrifft, unvollkommen und durch die Differenz von Wachstum und Abnahme bestimmt. Als nachträglicher Grund der Rechtfertigung kommen sie nicht in Frage. Es bleibt dabei, dass der Mensch ohne alle menschlichen Werke allein um Christi willen gerechtfertigt wird: sola gratia, sola fide.

6. De mediis salutis: Von den Heilsmitteln 6.1. De mediis salutis proprie dictis Der Lehre von den Prinzipien des Heils folgt diejenige seiner Mittel. Zu unterscheiden ist dabei zunächst zwischen media salutis im engeren und eigentlichen sowie solchen im weiteren, uneigentlichen Sinn. Zu denen im weiten Sinn zählen Tod, Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht und annihilatio mundi im Sinne einer Nichtung alles Nichtigen, weil sich in gewisser Weise auch mit ihrer Hilfe das ewige Heil realisiert. Die media salutis im engeren und eigentlichen Sinn sind von zweifacher Art, nämlich, was Gott angeht, darreichende und, was den Menschen betrifft, empfangende.

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6.1.1. De mediis salutis exhibitivis 6.1.1.1. De verbo 6.1.1.1.1. De lege Die media salutis exhibitiva sind Wort und Sakrament. Das Wort ist entweder das des Gesetzes oder des Evangeliums (III,608: verbum Legis vel Evangelii). Was das göttliche Gesetz betrifft, so ist zwischen einer lex divina perpetua et moralis und einer lex divina temporaria et Judaica zu unterscheiden. Das göttliche Gesetz von zeitlich begrenzter Gültigkeit bindet allein die Juden und steht und fällt mit ihrem Gemeinwesen (vgl. III,646). Dies gilt sowohl für das jüdische Zeremonialgesetz (vgl. III,648 – 670) mit seinen diversen Opfer- und sonstigen Vorschriften als auch für die lex forensis seu judicialis (vgl. III,677 – 686) und seine das Judentum ordnenden Rechtsregeln. Dauerhaft gültig und von bleibender Verbindlichkeit sind nur die angeborene lex naturalis sowie das moralische Gesetz im engeren Sinn. Lex naturalis meint im gegebenen Zusammenhang nicht die Naturgesetze bzw. die Ordnungen, wie sie die Kreatur einschließlich der extrahumanen insgesamt bestimmen, sondern das »jus homini per naturam impressum« (III,611), also das mit der Wesensnatur und geschöpflichen Bestimmung des Menschen gegebene Recht. Das ihm angeborene bzw. von Natur aus eingeprägte Gesetz verpflichtet den Menschen zu einem seinem Wesen und seiner geschöpflichen Bestimmung entsprechenden Verhalten gegen Gott, gegen sich selbst und gegenüber Mitmenschen und Welt. Dem humanen Naturrecht eignen zwar immutabilitas und indispensabilitas absoluta; gleichwohl ist es nicht nur insuffizient in Bezug auf Verdienst und Heil, sondern auch von postlapsarischer Unvollkommenheit (III,626: imperfectio post lapsum). Es bedarf daher unter postlapsarischen Bedingungen zu seiner Vervollkommnung der förmlichen Ergänzung durch das moralische Gesetz im engeren, nämlich im Sinn besonderer göttlicher Verfügungen. Zu denken ist dabei in Sonderheit an den Dekalog, dessen allgemeinverbindliche Bestimmungen das Gewissen zu vollkommenem Gehorsam verpflichten. Die zehn Gebote sind in Gänze aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüt und mit allen Kräften vorbehaltlos und konsequent zu befolgen. Andernfalls drohen schwerste und ewige Strafen, die dem Gesetzesübertreter von Gott auferlegt werden. Zwar verheißt die göttliche lex moralis, deren Inhalt mit der lex naturalis koinzidiert, unter den Bedingungen ihrer Befolgung das ewige Leben. Realiter aber erweist es, dass der Mensch in seiner vorfindlichen Verfassung zur geforderten vollkommenen Gesetzeserfüllung unfähig ist, und enthält insofern die Aufforderung in sich, einen Arzt zu suchen (III,642: ad medicum quaerendum compulsio), der das tödliche Gebrechen heilt. Die Lehre von den usus legis moralis ergibt sich hieraus jedenfalls teilweise von selbst. König unter-

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scheidet einen vierfachen Gebrauch des Gesetzes, den politischen, den überführenden (usus elenchticus), den pädagogischen und den didaktischen (vgl. III,643). Der zuletzt genannte usus didacticus legis besteht in der Lenkung des Lebens und Verhaltens der Wiedergeborenen und Gerechtfertigten und ist sonach derjenige, der nach Maßgabe von FC VI üblicherweise der dritte Gebrauch des Gesetzes genannt wird. Zu einer abweichenden Zählung gelangt König deshalb, weil er nach dem usus politicus, der auf die Funktion äußerer Bändigung und Zügelung des sündigen Menschen beschränkt wird, dem usus elenchticus, der den Menschen seiner Sünde überführt und zum Bewusstsein der Schuld kommen lässt, einen weiteren Gebrauch zudenkt, nämlich den pädagogischen, der den zerknirschten Sünder mittels der Erkenntnis seiner Sündenschuld dazu bewegt, bei dem im Evangelium offenbaren Christus seine Zuflucht zu suchen. Der zweite Gesetzesgebrauch wird also, wenn man so will, als in sich gedoppelt wahrgenommen: indem das Gesetz dem Sünder den höllischen Abgrund seines Falls zur Einsicht bringt und dadurch alles soteriologische Eigenvermögen entzieht, kann es, ohne an sich selbst bereits heilsames Evangelium zu sein, zum Zuchtmeister auf Christus hin werden. Interessant und bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass König die Zuordnung der hörbaren gesetzgebenden Stimme nur zur Person des Sohnes unter Verweis auf Act 7,38 und Deut 33,2 für richtig erklärt (vgl. III,631).

6.1.1.1.2. De evangelio Auch wenn der pädagogische Gebrauch des Gesetzes zur Flucht auf Christus hin bewegen kann, so ist es doch das Evangelium und das Evangelium allein, durch welches das von Christus erworbene Heil für den Sünder durch Gott in der Kraft des Hl. Geistes erschlossen wird. Zwar kann der Begriff des Evangeliums neben seiner Anwendung auf die neutestamentlichen Evangelien generaliter so verwendet werden, dass er zusammen mit dem Wort der Gnade auch dasjenige des Gesetzes umfasst. Im engeren und eigentlichen Sinn aber bedeutet er die pneumatische Zusage der durch Christus erwirkten Gottesgnade. Das Evangelium ist entsprechend »promissio gratiae gratuita« (III,695), Verheißung ungeschuldeter Gnade. Adressaten evangelischer Gnadenverheißung sind grundsätzlich alle Menschen; aber heilbringend ergriffen wird das Wort des Evangeliums allein durch den Glauben. Seiner Realdefinition gemäß ist es sonach reine, vom Wort des Gesetzes unterschiedene Gnadenpredigt, die den Menschen das Verdienst Christi und die damit erworbenen Wohltaten anbietet und durch den Glauben zueignet, zur Ehre Gottes und zum Glaubensheil derer, denen es verkündigt wird (vgl. III,703).

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6.1.1.2. De sacramentis Wie das Wort in seinen Gestalten als Gesetz und Evangelium sind auch die Sakramente Heilsmittel der darreichenden Art. Gemäß seiner von König verwendeten Bedeutung bezeichnet der Sakramentsbegriff einen von Gott eingesetzten solennen Vollzug, in welchem durch ein äußeres und sichtbares Zeichen (III,705: per externum et visibile signum) unsichtbare Güter (ebd.: bona invisibilia) gnadenhaft angeboten, zugeeignet und besiegelt werden (ebd.: gratiose offeruntur, conferuntur et obsignantur). Während die Sakramente des Alten Bundes, nämlich Beschneidung (vgl. III,730 – 751) und Passazeremonie (vgl. III,752 – 774) in ihrer Geltung begrenzt und befristet sind und in ihrer Vorläufigkeit auf diejenigen des neuen Bundes vorausweisen, haben diese als Mittel des in Christus durch den Hl. Geist vollendet erschlossenen göttlichen Heils für den Menschen perfekten Charakter. Die Sakramente des neuen Bundes sind wie diejenigen des alten zwei: Taufe und Herrenmahl (III,776: Baptismus et Coena Domini). Sie sind von Gott unter Einschluss der menschlichen Natur Jesu Christi, der aufgrund ihrer personalen Einheit mit dem Logos eine potestas instituendi Sacramenta (III,708) zukommt, dazu eingesetzt, durch Darbietung der unsichtbaren res sacramenti mittels des mit den Einsetzungsworten verbundenen sichtbaren äußeren Elements die Verheißung der gnadenhaften Vergebung der Sünden durch Christus zuzueignen und zu besiegeln (vgl. III,726).

6.1.1.2.1. De baptismo et sacramento coenae Die Taufe als das erste, nichtwiederholbare Sakrament des neuen Bundes ist ein Wasserbad der Wiedergeburt im Wort, mittels dessen Gott durch seinen Sohn in der Kraft des Hl. Geistes allen Menschen ohne Unterschied von Herkunft, Stand, Geschlecht und Alter Glauben und Bundesgnade anbietet und diese auch zueignet und besiegelt, wenn der Mensch sich nicht gegen die angebotene Gnadengabe sperrt. Die Taufe wird ordnungsgemäß durch ordentlich berufene und rechtgläubige Amtsträger der Kirche vollzogen; doch kann sie im Notfall auch durch einen minister haereticus, ja sogar – in dieser Reihenfolge – durch einen Laien oder eine Frau (vgl. III,785 f) gespendet werden, wenn die Spendung rite, das heißt stiftungsgemäß geschieht. Von solchen Ausnahmen ist im Hinblick auf das Abendmahl nicht die Rede, dessen Verwaltung allein den kirchlichen Amtsträgern vorbehalten bleibt (vgl. III,806). Im zweiten – wiederholbaren und regelmäßig zu wiederholenden – Sakrament des neuen Bundes gibt der dreieinige Gott den Mahlteilnehmern mittels des konsekrierten Brotes und Weines den wahren und wirklichen Leib und das wahre und wirkliche Blut Jesu Christi auf übernatürliche, aber reale Weise mündlich zu essen und zu trinken, um den Glauben zu stärken und die

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Bundesgnade Gottes zum Lobpreis seiner Güte und zum Heil der Teilnehmenden zu besiegeln. 6.1.1.2.2. De testamentis divinis An die Erörterung der darreichenden Heilsmittel Wort und Sakrament schließen sich Ausführungen »De testamentis divinis« (III,829 ff) an, die zeigen, dass die Heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments in der altlutherischen Dogmatik nicht nur als principium cognoscendi der Theologie, sondern auch im Kontext der media salutis in Betracht kommen. Unter Testament versteht König eine »letztwillige«, durch den Tod des »Testators« besiegelte freie Verfügung Gottes »de religionis legitima dispensatione« (III,836), also »de cultu Divino, mediisque salutis, ac forma regiminis in Ecclesia« (III,837). Die alttestamentlichen Verfügungen, als deren hauptursächliche Wirkursache die göttliche Dreieinigkeit, insbesondere der logos asarkos fungiert, beziehen sich auf die Institution der wahren Kirche vom Anfang der Welt bis zum Kommen des Messias (vgl. III,839), auf den sie verweisen und zu dem sie hinführen. Die vom Alten Testament eingesetzten Erben (III,843: Haeredes instituti) sind in erster Linie die Juden, dann aber auch die Heiden, denen die Bundesverheißung zwar nicht hinsichtlich der verheißenen leiblich-weltlichen, wohl aber hinsichtlich der geistlich-himmlischen Güter galt. Obwohl auch das Neue Testament zuerst auf die Juden und dann erst auf die Heiden bezogen ist, hat Christus die Trennwand zwischen ihnen definitiv eingerissen, sodass die Ungleichheit beider als aufgehoben gelten darf (vgl. III,857). Die neutestamentlichen Verfügungen, die der Hauptsache nach im trinitarischen Verein vor allem der logos ensarkos, der inkarnierte Gottessohn Jesus Christus gewirkt hat, sind nicht mehr nur durch das Blut des Opfertiers, das auf den Opfertod Christi vorausweist (III,851: sanguine pecuino typico), sondern durch diesen selbst versiegelt und durch die Apostel über den ganzen Erdkreis (III,853: per universum terrarum orbem) verbreitet worden, damit das mosaische Gesetz im Evangelium aufgehoben und vollendet werde. Auflistungen von Übereinstimmungen (vgl. III,867 ff) und Unterschieden (vgl. III,876 ff) des Alten und des Neuen Testaments schließen sich an. 6.1.2. De medio salutis apprehensivo 6.1.2.1. De fide Die media salutis proprie dicta sind ex parte Dei darreichende Mittel (vgl. III,606). Empfangsmittel der media salutis exhibitiva ist der Glaube, der insoweit, aber auch nur insoweit, als er sich die angebotene Gabe gegeben sein und zueignen lässt, als medium salutis zu gelten hat. Die materialen Be-

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112 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs standteile des Glaubens als eines Heilsmittels der indirekten Art sind notitia, assensus und fiducia (III,894). Notitia ist verstandesmäßige Erkenntnis, assensus verständige Zustimmung und Anerkenntnis der Gnadenverheißung von Sündenvergebung und Rechtfertigung in Christus, fiducia schließlich persönliche Annahme des durch Christus erworbenen Heils im Sinne herzlichen, ungeteilt-individuellen Sich-Verlassens. Erst in der die Momente von notitia und assensus in sich aufhebenden fiducia als eines mit dem Intellekt den ganzen Willen des Menschen umfassenden Vertrauens vollendet sich die fides. Fides iustificans ist infolgedessen allein der Fiduzialglaube zu nennen, der sich in der Kraft des Hl. Geistes ganz auf den durch Jesus Christus rechtfertigenden Gott verlässt, dessen unbedingtes Heil das Evangelium in Wort und Sakrament nach Maßgabe des Neuen Testaments zusagt. 6.1.2.2. De bonis operibus Ist die unmittelbare Folge des Fiduzialglaubens als der fides iustificans die Rechtfertigung, so gehen als mittelbare Wirkungen die guten Werke aus ihm hervor. Es gilt der Grundsatz: »Quoad influxum in productionem bonorum operum habet se fides haec ad analogiam formae ad propria sua, quorum causa per emanationem ipsa est.« (III,908) Lässt sich der glaubende Mensch im Glauben die Gnadenzusage des Evangeliums gefallen, statt dem Wirken des Hl. Geistes einen hindernden Riegel vorzuschieben (III,910: malitiosus obex), um sich in sich selbst und seinem Eigensinn zu verschließen, dann öffnet sich sein Tun auf gute Werke hin, die in zwangloser Freiheit und Spontaneität aus dem menschlichen Gottvertrauen hervorgehen. Ihre Norm ist den Werken, durch die der Glaube tätig ist, durch die lex Dei gegeben, die sie formt, obzwar sie göttliches Wohlgefallen nicht wegen des Gesetzes und der Befolgung seiner Vorschriften, sondern um des Glaubens an das Evangelium willen finden, aus dem sie hervorgehen.

6.1.2.3. De exercitio bonorum operum 6.1.2.3.1. De cruce et oratione Was über das christliche Tun der guten Werke im Einzelnen und insgesamt auszuführen ist, kann nach König mit der Wendung »Militia Christiana« (III,926) umschrieben und zusammengefasst werden. Der christliche Kriegsdienst vollzieht sich unter dem Feldzeichen des Kreuzes samt all den Anfechtungen, Versuchungen und sonstigen Prüfungen (vgl. III,932 ff), die damit für die Frommen verbunden sind. Doch ist das Kreuz der Christen durch Christi Kreuz geheiligt und keine Strafe im eigentlichen Sinn, sondern eine väterliche Zurechtweisung, die allein Gutes und Heilsames beabsichtigt.

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Das wichtigste Hilfsmittel des christlichen Kriegsdienstes (III,945: subsidium militiae Christianae praecipuum) ist die oratio fidelis, das Gebet des Glaubenden, mit dem dieser den dreieinigen Gott einschließlich der in der Hypostase des Logos subsistierenden menschlichen Natur Jesu Christi in der Gewissheit von dessen interzessorischen Wirken in Bitte, Fürbitte und Danksagung vertrauensvoll anruft.

6.1.2.3.2. De tribus statibus hierarchicis Die Reichweite der militia Christianae ist raumzeitlich grenzenlos. Funktional erstreckt sie sich namentlich auf den kirchlichen, den politischen und den häuslichen Bereich, wie König in der Lehre »De tribus statibus hierarchicis« ausführt. Bezüglich des kirchlichen Standes wird »De ministerio ecclesiastico« (vgl. III,966 ff) gehandelt, nämlich von dem von Gott eingesetzten und an eine ordnungsgemäße Berufung gebundenen kirchlichen Amt der öffentlichen Wortverkündigung, Sakramentsverwaltung und der potestas clavium. Das Recht, in dieses Amt zu berufen, zu senden und zu ordinieren, hat unter Beachtung der gebührenden Ordnung bei seiner Ausübung die ganze Kirche. Ein ministrorum gradus (III,975) ist vorgesehen, ohne dass dadurch die wesentliche Einheit des ministerium ecclesiasticum aufgelöst würde. Der status politicus wird in Bezug auf die weltliche Obrigkeit thematisch, wie sie durch Wahl, Nachfolge oder berechtigte Inbesitznahme (vgl. III,978) konstituiert ist. Der Zuständigkeitsbereich des magistratus civilis erstreckt sich neben dem Politischen im engeren Sinn auch auf die Kirche, doch nur auf dasjenige, was zum äußeren Kirchenregiment gehört (III,982: ad externum Ecclesiae regimen). Zweck der weltlichen Obrigkeit, den sie nach dem Maß der ihr zugestandenen Gewalt und entsprechend der Vorschrift der geltenden Gesetze zu verfolgen hat, ist neben der gebührenden Verehrung Gottes die Sicherung und Förderung des Gemeinwohls generell und insbesondere des öffentlichen Friedens und Anstands sowie der freien Religionsausübung. Was schließlich den häuslichen Stand (status oeconomicus) angeht, so wird er unter Bezug auf die Ehe expliziert. Die Ehe ist eine von Gott zum Zweck des Erhalts des Menschengeschlechts durch Zeugung und Erziehung von Nachkommen, zur gegenseitigen Unterstützung und als »remedium adversus vagas libidines« (III,995) eingesetzte unauflösliche Verbindung zweier erwachsener Menschen, und zwar eines Mannes und einer Frau, deren Verlobung ihren gemeinsamen Willen zu jener einzigartigen Gemeinschaft bekundet, die »per copulam carnalem in nuptiis« (III,988) vollzogen wird.

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114 Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs

6.1.2.3.3. De ecclesia Zwar kann das Gesamtaggregat, das die hierarchischen Stände bilden, nach König ecclesia genannt werden (sowie denn auch der große Antichrist [vgl. III,1044 ff] der gemeinsame Feind der gesamten Kirche und aller hierarchischen Stände ist), doch ist seinem Urteil zufolge der Begriff im eigentlichen Sinne auf jene congregatio sacra zu beschränken, die gemäß CA VII Kirche heißt. Von ihrer synthetischen und repräsentativen Form wird zum Abschluss des Lehrabschnitts über die Empfangsorgane und annehmenden Mittel des Heils gehandelt. Die zusammengesetzte Kirche ist der coetus promiscuus (vgl. III,1025) der durch das Wort Gottes zum Heil berufenen und im äußerlichen Bekenntnis der wahren Lehre übereinstimmenden Menschen, seien es Heilige oder Heuchler. Repräsentativ vertreten wird die ecclesia synthetica durch die berufene congregatio Doctorum (vgl. III,1027), deren Versammlung auch Konzil oder kirchliche Synode genannt wird und der neben dem Vorsitzenden, als der nach guter Regel, wenn auch nicht notwendig, der Fürst fungiert, »non tantum Episcopi, sed quivis fideles, literarum sacrarum periti« (III,1033), also nicht nur leitende Geistliche, sondern alle Glaubenden angehören können, die sich in der Hl. Schrift auskennen, welche den alleinigen kanonischen Maßstab für Entscheidungen in kirchlichen Lehr-, Sitten- und Zeremonialfragen darstellt.

6.2. De mediis salutis laxius sumtis 6.2.1. De morte Nachdem unter den Heilsmitteln im engeren und eigentlichen Sinn neben den darreichenden auch diejenigen der empfangenden Art umfassend behandelt worden sind, verbleiben noch die media salutis im weiteren Sinn, denen König Tod, Totenauferstehung, Jüngstes Gericht und annihilatio mundi zurechnet. Der Tod ist seiner eigentlichen Wort- und Sachbedeutung nach die Trennung der Seele vom Leib, wie sie ausnahmslos und gänzlich alle sündigen Adamskinder betrifft mit dem Unterschied freilich, dass das Sterben für die Frommen und Gläubigen der väterlichen Züchtigung und Überführung in das Leben ewiger Herrlichkeit dient, wohingegen es für die Gottlosen und Ungläubigen die Verdammung zu ewiger Sündenstrafe nach Maßgabe des göttlichen Gesetzes zur Folge hat.

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6.2.2. De resurrectione mortuorum et de extremo judicio Die von partikularen Totenerweckungen einzelner zu zeitlichem Leben zu unterscheidende endzeitliche universale Auferweckung aller verstorbenen Menschen (der die augenblickliche Verwandlung der am Jüngsten Tag noch Lebenden auf ihre Weise entspricht) besteht der Form nach im Beleben und Wiederaufrichten der vorher toten Leiber, die, an Zahl und Substanz selbig, mit ihren Seelen wiedervereinigt werden, damit an ihnen im Jüngsten Gericht, das insgesamt alle Menschen betrifft, die Gerechtigkeit Gottes offenbar werde, die die Gottlosen und Ungläubigen, welche das Evangelium verachtet haben, nach Maßgabe des Gesetzes richtet und verdammt, den Frommen und Gläubigen aber, die dem Evangelium vertrauten, aus Gnade um Christi willen vollkommene Rechtfertigung und ewiges Heil zuteil werden lässt. Dies geschieht wegen ihres Glaubens und nicht aufgrund ihrer Werke, die freilich nicht einfachhin unberücksichtigt bleiben, sondern im Zusammenhang des Rechtfertigungsglaubens, der allein aus dem Gericht rettet, die ihnen gebührende Berücksichtigung finden. Zu ergänzen ist, dass das Jüngste Gericht, bei dem der dreieinige Gott durch den sichtbar erscheinenden Christus neben allen Menschen auch die bösen Engel richten wird, als ein öffentliches Rechtsgeschehen mit förmlicher Gerichtsverhandlung, Urteilsermittlung, Verkündigung des endgültigen Urteils und seines folgenden Vollzugs vorgestellt wird. Doch nimmt es für die Glaubenden in Gestalt ihres Heilandes die Form reiner Gnade an, durch die das Heil vorbehaltlos und gänzlich gratis gegeben wird, wodurch mit jedem Anspruch des Gesetzes auch die Gerichtsvorstellung selbst behoben wird. Königs Werk endet mit Ausführungen »De consummatione seculi« (vgl. III, 1117 ff).

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»… der Unterscheid des Gesetzes und Evangelii als ein besonder herrlich Licht« (BSLK 790, 21 f) Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums der Wittenberger Reformation in der Dogmatik des 20. Jahrhunderts*

Wer Gottes Wort verstehen will, muss Gesetz und Evangelium unterscheiden und als einen Zusammenhang nicht von Menschen, sondern nur vom göttlichen Geist synthetisierbarer Differenz begreifen lernen. So lautet die hermeneutische Grundregel der Wittenberger Reformation. Nach Zeiten weitgehender Vernachlässigung hat die Lehre von Gesetz und Evangelium, deren kriteriologische Funktion die Epitome der Formula Concordiae »als ein besonder herrlich Licht« (BSLK 790, 22) rühmte, im Kontext der sog. Theologie der Krise nach dem Ersten Weltkrieg eine bemerkenswerte Renaissance erfahren.1 Die kontroversen Debatten um das Programm der Dialektischen Theologie und die Weisen seiner Durchführung wurden von lutherischen Theologen in aller Regel unter dezidiertem Bezug auf die GesetzEvangelium-Thematik geführt. Ein zentrales Interesse war dabei die kritische Abgrenzung zum Ansatz namentlich der Theologie Karl Barths, dessen Neuordnung der alten Lehre zu derjenigen von »Evangelium und Gesetz«, wie sie im Jahre 1935 erfolgte, nach Urteil vieler Lutheraner zu einer christomonistischen Umpolung aller theologischen Themen und einer Suspendierung der traditionellen hermeneutischen Kriteriologie Wittenberger Reformation geführt hatte. Dass das gegen Barth gerichtete Bestehen auf der Unterscheidung des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium nicht identisch sein musste mit einer Annäherung an die von prominenten Vertretern des Luthertums wie Werner Elert, Paul Althaus und Emanuel Hirsch in der aufkommenden nationalsozialistischen Periode vertretenen (kirchen)politischen Positionen, zeigt zum einen die Tatsache, dass aus solchem Insistieren auch andere, durchaus gegenläufige Konsequenzen gezogen werden konnten, und zum anderen das Vorhandensein strukturanaloger Argumente im engsten Umkreis der Dia* Vortrag anlässlich der Tagung des Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntnisses vom 5.–7. März 2003 im Johannesstift Berlin-Spandau 1 Vgl. H.-M. Barth, Art. Gesetz und Evangelium. I. Systematisch-theologisch, in: TRE 13, 126 – 142, hier bes. 130 ff.

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

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lektischen Theologie, etwa bei Emil Brunner und Rudolf Bultmann oder bei dem ehemaligen Hirschfreund Paul Tillich, der sich in diesem Zusammenhang ebenfalls nennen ließe.2 Auf solche Strukturanalogien und damit auf die Bedeutung der Gesetz-Evangeliums-Thematik für das Problem der systematischen Gesamtorganisation der Dogmatik soll im folgenden die Aufmerksamkeit konzentriert werden. Dabei kann nicht übersehen werden, dass die »Repristination einer an eine vergangene geschichtliche Situation gebundenen Begriffsbildung« teilweise zu »abenteuerlichen Identifikationen«3 führte, in jedem Fall aber erhebliche Sachverschiebungen gegenüber der Reformationszeit mit sich brachte. Umso dringlicher stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Weise der reformatorischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium eine bleibende konstruktive und kritische Funktion für die dogmatische Hermeneutik zukommen kann. Zu dieser Frage werden im folgenden Fallstudien geboten, zunächst (I.) zu Elert, Althaus und Hirsch, sodann (II.) zu Brunner und Bultmann, schließlich (III.) – um ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit beizugeben – zur erklärtermaßen hermeneutisch angelegten Dogmatik des christlichen Glaubens von Gerhard Ebeling. Auch Friedrich Gogarten etwa hätte ein gutes Fallbeispiel abgegeben, insofern sein Denken »in immer wieder neuen Anläufen um das lutherische Thema von Gesetz und Evangelium (kreiste): Das Wort des Evangeliums wird dem Menschen nur vernehmbar unter der Erfahrung des Gesetzes, als rettender Freispruch vom Verdammungsurteil des Gesetzes.«4 Doch konnte Vollständigkeit sinnvollerweise nicht angestrebt werden, sondern nur eine möglichst paradigmatische Auswahl nach systematischen Gesichtspunkten. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei, wie gesagt, der Bedeutung der Gesetz-Evangeliums-Thematik für die Organisation und konstruktive Zuordnung des dogmatischen Stoffes. Unter den traditionellen Gliederungsschemata der Dogmatik dominiert bis heute auf die eine oder andere Weise das triadisch-trinitarische, welches sich in Anlehnung an das Apostolicum und Nicaeno-Constantinopolitanum die Strukturierung der dogmatischen Themenbestände von der Unterscheidung Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes vorgeben lässt.5 Durch seinen, wenn man so will, ökonomischen Aspekt ist das trinitarische Gliederungsprinzip vermittelt mit einem von heilsgeschichtlichen Grundsätzen bestimmten, welches den dogmatischen Stoff unter den Gesichtspunkten von Schöpfung, Versöhnung und 2 Vgl. im Einzelnen H. Fischer, Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 62 ff, 97 ff. 3 W. Pannenberg, Gesetz und Evangelium. Das Thema aus theologischer Sicht, in: ders./A. Kaufmann, Gesetz und Evangelium (Sitzungsberichte der Philosophisch-historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Jg. 1986/Heft 2), München 1986, 5 – 24, hier : 22. 4 Ders., Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, 234 5 Vgl. W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, 40 ff.

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

Vollendung ordnet. Trotz der formalen Vorzüge dreiteiliger Gliederungsschemata sind ihnen im Verein mit der offenen Frage genauer Verhältnisbestimmung immanenter und ökonomischer Trinität eine Reihe von inhaltlichen Problemen implizit, welche die Berücksichtigung zwei- bzw. vierteiliger Gliederungsprinzipien nahe legen. Diese Probleme betreffen insbesondere die Sünde des Menschen und die Übel der Welt sowie deren Beziehung zu Wesen und Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung und Abskondität. In heilsgeschichtlicher Perspektive sind dann etwa folgende Sequenzen die Regel: Schöpfung, Sünde, Versöhnung und Vollendung. Die ökonomisch-trinitarische Gliederung wird also um die Hamartiologie und gegebenenfalls um eine Lehre vom Übel erweitert. Unter den mit den vierteiligen verwandten zweiteiligen Gliederungsprinzipien ragt in Unterscheidung und differenzierter Verbindung dasjenige von Gesetz und Evangelium hervor. Es wird zu zeigen sein, dass die formale Organisationsfunktion dieses Gliederungsprinzips auch dann – gegebenenfalls sogar in gesteigerter Weise – erhalten bleiben kann, wenn die traditionellen Inhalte, die ihm ursprünglich zugehörten, jedenfalls zum Teil in den Hintergrund getreten sind. Die Ursache hierfür dürfte in der internen Komplexität zu suchen sein, die der Gesetz-Evangeliums-Thematik nicht zuletzt deshalb eigen ist, weil sie mit dem Problem rechter Unterscheidung und Zuordnung ihrer beiden bestimmenden Begriffsgrößen Binnendifferenzierungen und Binnenrelationen wie etwa diejenige zweier (oder dreier) usus legis verbindet, welche sie geeignet erscheinen lassen, den inhaltlichen Gesamtzusammenhang der Dogmatik in formaler Differenziertheit zu erfassen und zu strukturieren, gleich ob dies nun vorweg im Rahmen einer methodische Prolegomena bietenden dogmatischen Prinzipienlehre oder im Kontext der materialen Dogmatik geschieht. Reduktion und Steigerung von Komplexität lassen sich durch die Gesetz-Evangeliums-Thematik offenbar gleichermaßen bewirken: darin dürfte ihre dauerhafte Bedeutung für die dogmatische Hermeneutik im Wesentlichen begründet sein.

1. Der dreieinige Gott und die Differenzgestalt seiner Offenbarung. Fallbeispiele lutherischer Dogmatik 1.1. Die Zwiespältigkeit der Offenbarung bei Werner Elert Die Meinung, dass es nur ein gnädiges Handeln Gottes gebe, ist nach Werner Elert ein ebenso schriftwidriger Irrtum wie die Annahme, aus der Singularität des in Jesus Christus gesprochenen Gotteswortes folge dessen Exklusivität. Dezidiert abgelehnt werden müsse daher der Grundsatz, demgemäß das Ge-

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Der dreieinige Gott und die Differenzgestalt seiner Offenbarung

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setz nichts anderes als die Form des Evangeliums sei, als dessen Inhalt die Gnade zu gelten habe.6 Elerts Verdikt ist namentlich gegen Karl Barth gerichtet. Dieser hatte 1935 in einem im 32. Heft der »Theologischen Existenz heute« publizierte Beitrag die traditionelle Gesetz-Evangelium-Formel umgekehrt und in programmatischer Absicht von »Evangelium und Gesetz« gesprochen.7 Gegliedert ist die Argumentation Barths durch die Unterscheidung zwischen der Wahrheit des Evangeliums und des Gesetzes in ihrem gegenseitigen Verhältnis und deren Wirklichkeit. Für die Wahrheit des Verhältnisses beider ist es nach Barth schlechterdings konstitutiv, zunächst vom Evangelium zu reden. »Das Evangelium ist nicht Gesetz, wie das Gesetz nicht Evangelium ist; aber weil das Gesetz im Evangelium, vom Evangelium her und auf das Evangelium hin ist, darum müssen wir, um zu wissen, was Gesetz ist, allererst um das Evangelium wissen und nicht umgekehrt.« (3) Um hinwiederum zu wissen, was das Evangelium ist, muss von dessen Inhalt, nämlich von der Gnade Gottes die Rede sein. Diese Gnade Gottes heißt und ist Jesus Christus. Er selber und er ganz allein ist die Gnade Gottes. »Er selber und er ganz allein ist also der Inhalt des Evangeliums.« (7) Ist dieses gesagt, so kann und muss im Anschluss daran, nämlich an zweiter Stelle, nun auch vom Gesetz geredet werden und zwar als von demjenigen, welches durch Jesus Christus, die Gnade Gottes in Person, erfüllt ist. Von dieser seiner Erfüllung her wird aus der Gnadenoffenbarung zugleich das Wesen des Gesetzes offenbar. Barth führt dies zu folgendem Schluss: »das Gesetz ist nichts anderes als die notwendige Form des Evangeliums, dessen Inhalt die Gnade ist. Gerade dieser Inhalt erzwingt diese Form, die Form, die nach Gleichform ruft, die gesetzliche Form. Gnade heißt, wenn sie offenbar, wenn sie bezeugt und verkündigt wird, Forderung und Anspruch an den Menschen. Gnade heißt, wenn an Jesus Christus, den Kommenden oder den Gekommenen geglaubt, wenn sein Name gepredigt wird: das Amt des Mose und Elia, des Jesaia und Jeremia, das Amt des Täufers, des Paulus, des Jakobus. Gnade heißt, indem sie zum Aufruf zur Gnade wird: Kirche, die es wagt und wagen muss, mit Autorität zu reden.« (11) In dieser Weise ist im Evangelium das Gesetz beschlossen, und es ist zu sagen: »Wir würden, obwohl das Gesetz nicht das Evangelium ist, ohne das Gesetz tatsächlich auch das Evangelium nicht haben.« (12) Das hebt allerdings nicht die Voraussetzung auf, sondern bestätigt sie, dass der Inhalt des Evangeliums die Bedingung der 6 Vgl. etwa W. Elert, Gesetz und Evangelium, in: ders., Zwischen Gnade und Ungnade. Abwandlungen des Themas Gesetz und Evangelium, München 1948, 132 – 169. 7 »Über ›Gesetz und Evangelium‹ würde ich nach der unter uns fast selbstverständlich gewordenen Formel zu sprechen haben. Ich möchte aber sofort darauf aufmerksam machen, dass ich nicht über ›Gesetz und Evangelium‹, sondern über ›Evangelium und Gesetz‹ sprechen werde. Die traditionelle Reihenfolge ›Gesetz und Evangelium‹ hat an ihrem Ort, den wir noch bezeichnen werden, ihr gutes Recht. Richtunggebend für das Ganze der hier zu umreißenden Lehre darf sie gerade nicht sein.« (K. Barth, Evangelium und Gesetz, München 1935, 3. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf diese Schrift.)

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

Form des Gesetzes ist. »Das Gesetz bezeugt ja die Gnade Gottes; darin ist es die Form des Evangeliums; darin ist es Anspruch und Forderung, Bußruf und Prophetie.« (13) Komprimiert zum Ausdruck gebracht sind Anspruch und Forderung des das Evangelium bezeugenden Gesetzes im ersten Gebot, welches gebietet, an Jesus Christus und die in ihm offenbare Gnade Gottes zu glauben. Von der Wirklichkeit des Evangeliums und des Gesetzes in ihrem gegenseitigen Verhältnis unter der Voraussetzung ihrer erfassten Wahrheit zur reden, bedeutet davon zu reden, »daß das Evangelium sowohl wie das Gesetz – oder also: der Inhalt und die Form des Evangeliums in unsere, der Sünder Hände gegeben sind« (15). Unsere Sünde, wie sie durch Gottes Offenbarung in Evangelium und Gesetz zutage tritt, besteht darin, »daß wir für uns selbst zwar nicht eintreten können, wohl aber eintreten wollen. Die Sünde besteht in der Eigenmächtigkeit … und insofern in der Gottlosigkeit, als Gott wesentlich gnädig ist, eben unsere Eigenmächtigkeit aber, unsere Abwehr der Gnade und unsere Selbstbehauptung gegenüber Gott unsere Gottesferne bezeugt und bedeutet.« (16) Trotz der Verkehrtheit unserer Sünde legt Gott seine Gabe dennoch in unsere Hände und »sie ist und bleibt trotzdem, trotz der mehr als fragwürdigen Reinheit unserer Hände, seine Gabe.« (Ebd.) Was das negativ und positiv bedeutet, expliziert Barth wie folgt: Negativ bedeutet die Tatsache, dass Gottes in unsere, der Sünder Hand gelegte Gabe seine Gabe bleibt, dass sie die Verkehrtheit unserer Sünde und unseres sündigen Begehrens in der Wurzel aufdeckt. Das geschieht wesentlich im Aufdecken dessen, dass der Mensch Gott selbst zum Anlass und Vorwand der Sünde macht, indem er Gott in den Dienst seiner Selbstrechtfertigung stellt. »Eben dieses unser Begehren, dieses unser Eifern – um Gott? nein, mit Hilfe und zur Ehre Gottes um unsere eigene Gottlosigkeit – hat Christus ans Kreuz gebracht und bringt mitten im Christentum (Hebr. 6,6) immer wieder ans Kreuz.« (20) Ihrem abgründigsten Unwesen nach ist die Sünde gegen die Form des Gesetzes Hass der Gnade, welche der Inhalt des Evangeliums ist. Welche Kraft soll unter diesen Bedingungen die von uns verschmähte und verachtete, ja gehasste Gnade haben? »Darauf ist zu antworten: Gott ist Gott. Kraft, die Kraft der Auferstehung (Phil. 3,10) hat auf alle Fälle gerade und erst die von uns verschmähte und verachtete, ja gehasste Gnade, der bis auf diesen Tag in die Hände der Sünder gegebene, der gekreuzigte, gestorbene und begrabene Christus.« (26 f) Er und er allein steht für den Sieg des Evangeliums, der Sieg der Gnade Gottes über die wirkliche Sünde, über die Sünde unseres Missbrauchs des Gesetzes, über die Sünde unseres Unglaubens ist.8 8 Unter drei Gesichtspunkten ist dieser unbegreifliche und unerforschliche Sieg, dessen Ehre ganz die Ehre Gottes ist, näherhin zu betrachten: 1. »Die Gnade Gottes, Jesus Christus selbst, macht gerade das Gericht, in das uns das missbrauchte und doch gültige Gottesgesetz stellt, zu unserer Rechtfertigung. Er offenbart sich als Heiland durch das Gesetz auch in dieser Gestalt. Er macht lebendig durch das Evangelium, indem er durch das Gesetz tötet. Jetzt wird diese Reihenfolge: ›Gesetz und Evangelium‹ legitim und sinnvoll! Er erweckt nämlich unsere durch die Form des

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Der dreieinige Gott und die Differenzgestalt seiner Offenbarung

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Nach dem Urteil Werner Elerts, das sich vergleichbar bei anderen findet, stellt Karl Barths Umkehr der Wendung »Gesetz und Evangelium« und die These, das Gesetz sei die notwendige Form des Evangeliums und seines Gnadengehalts, eine dogmatisch grundstürzende Verkehrung dar, welche mit dem Hinweis auf die Nähe zum Gesetzesverständnis Calvins zwar zu erklären, nicht aber zu entschuldigen sei. Wahre und lutherische Lehre sei in Alternative hierzu diejenige eines realdialektischen Gegensatzes von Gesetz und Evangelium. »Redet das Gesetz, so schweigt das Evangelium; redet das Evangelium, so muss das Gesetz verstummen.«9 Dass der Offenbarungsbegriff für Aufbau und Organisation der lutherischen Dogmatik, wie Elert sie in seinem Werk »Der christliche Glaube« von 1940 vorgelegt hat10, keine bzw. nur eine sehr eingeschränkte Funktion hat, ergibt sich konsequent aus diesem Gegensatz. Formal zeigt sich Sekundärstellung des Offenbarungsbegriffs bereits daran, dass er in den die Gesamtkonzeption strukturierenden Abschnitts- und Kapitelüberschriften im signifikanten Unterschied zur Dogmatik von Karl Barth, aber etwa auch von Paul Althaus nicht auftaucht. Der Sachgrund für diese Reserve liegt in der strikten Zurückweisung jeden Versuchs, »den Gegensatz von Gesetz und Evangelium in dem übergeordneten Begriff der Offenbarung aufzulösen« (191). Nicht dass die Dogmatik nach Elert auf den Offenbarungsbegriff verzichten sollte oder könnte: indes ist dieser »ohne weiteren Zusatz … ein ganz formaler Begriff, der mit den verschiedensten Inhalten gefüllt sein kann« (169). Wird er in seiner Formalität belassen und entsprechend in Gebrauch genommen, nivelliert er Inhalte nicht nur, sondern verstellt von vorneherein jede Einsicht in die ihnen eigene Bestimmtheit. Dem gilt Elerts entschiedener Widerspruch: »Die Art der Verbindlichkeit der Offenbarung richtet sich immer nach ihrem jeweiligen Inhalt.« (Ebd.) Theologisch angemessene Verwendung kann der Offenbarungsbegriff also nur dann finden, wenn er von Anbeginn inhaltlich verwendet wird. Wird dies bedacht, dann verliert er nach Evangeliums, also durch das Gesetz um unseres Unglaubens willen verurteilte und in die Hölle verstoßene Existenz wie sie ist, in ihrer ganzen Nacktheit und Hässlichkeit, also mit Inbegriff unseres Unglaubens durch den Inhalt des Evangeliums, also durch sich selbst zum Leben des Glaubens an ihn als den, der uns rechtfertigt.« (27) 2. »Die Gnade Gottes, Jesus Christus selbst macht uns frei von jenem ›Gesetz der Sünde und des Todes‹ (Röm. 8,2). Sind wir, wie das siegreiche Evangelium uns sagt, in ihm gerechtfertigt ohne uns und gegen uns, gegen unseren Ungehorsam und Unglauben, dann heißt es doch, dass dieses Gesetz uns unseres Ungehorsams und Unglaubens wegen nicht verdammen kann.« (28 f) 3. »Die Gnade Gottes, Jesus Christus selbst gibt uns, was wir brauchen, damit unsere in ihm vollbrachte Rechtfertigung und Befreiung auch in uns selbst Wirklichkeit sei: den Heiligen Geist der Kraft, der Liebe und der Zucht (2. Tim. 1,7).« (30) 9 W. Elert, Gesetz und Evangelium, 132; 161 ff findet sich der auch anderwärts geführte Nachweis Elerts, dass die Annahme, Luther habe einen usus tertius legis gelehrt, auf einer Fälschung beruhe. 10 Ders., Der christliche Glaube. Grundlinien der lutherischen Dogmatik, Berlin 1940. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf.

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Elert zwangsläufig seine Stellung als zumindest momentan inhaltsindifferenter univoker Oberbegriff. Denn seine inhaltliche Wahrnehmung nötigt zur Anerkennung nicht nur seiner internen Differenziertheit, sondern seiner Zwiespältigkeit. Der inhaltlich verwendete Offenbarungsbegriff enthält einen Widerspruch, der die Identität des Begriffs selbst betrifft und sich daher begrifflich nicht bzw. nur dann beheben lässt, wenn begriffen ist, dass er auf unvordenkliche Weise behoben ist.11 Die Offenbarungsinhalte, von denen die Dogmatik zu handeln hat, lassen sich, so Elert, im Sinne des Neuen Testaments in zwei Hauptkategorien mit jeweils zwei Unterkategorien, wie es heißt, differenzieren. »Der erste Unterschied besteht darin, dass die einen auf Gott, die anderen auf den Menschen Bezug haben.« (170) Der zweite Unterschied hinwiederum betrifft die interne Differenzierung des solchermaßen Unterschiedenen: »An Gott wird Zorn und Gnade, am Menschen Sünde und Glaube offenbar. Diese vier Unterkategorien entsprechen einander paarweise. Dem Offenbarwerden des Zornes Gottes entspricht das Offenbarwerden der Sünde des Menschen, dem Offenbarwerden seiner Gnade das Offenbarwerden des Glaubens. Das führt unmittelbar zurück auf das Verhältnis von Evangelium und Gesetz. Das Offenbarwerden der Gnade Gottes geschah durch Christus, der den demonstrativen Inhalt des Evangeliums bildet, auf der andern Seite dient sein Gesetz dazu, daß die Sünde offenbar werde. Damit wird aber zugleich der Zorn Gottes über die Sünde offenbar. Das geschieht teils durch das geschriebene Gesetz, also durch Worte 11 Der Widerspruch, der an dem inhaltlich bestimmten Offenbarungsbegriff in der Weise eines Zusammenhangs nichtsynthetisierbarer Differenz zutage tritt, ist gemäß Elert derjenige von Gesetz und Evangelium. Eine inhaltlich orientierte dogmatische Argumentation hat sich nach seinem Urteil daher primär an der mit der Gesetz-Evangeliums-Thematik gegebenen Zwiespältigkeit auszurichten und den Offenbarungsbegriff als Funktion der ihn bestimmenden Inhalte zu begreifen. Hingegen ist »der Versuchung einer einfachen Koordination von Gesetz und Evangelium unter Überordnung des Offenbarungsbegriffes entgegenzutreten« (162), weil ein Nachgeben an dieser Stelle eine Formalisierung und inhaltliche Entleerung, ja Fehlbestimmung der dogmatischen Argumentation unvermeidlich mit sich führen und nicht zuletzt eine Verkennung dessen zur Folge haben müsste, was dogmatisch Offenbarung heißt. Hält man sich an den biblischen Befund, dann wird nach Elert unzweifelhaft deutlich, »daß der Begriff der Offenbarung selbst dann, wenn darunter ausschließlich ein Offenbarwerden Gottes verstanden wird, den Gegensatz von Evangelium und Gesetz nicht aufheben und nicht einmal überbrücken kann. Es ist nur sinnvoll, beide darunter zusammenzufassen, wenn man dadurch die ganze Schärfe des Gegensatzes ausdrücken, nicht aber, wenn man ihn dadurch verschleiern will. Seine Schärfe kann dadurch fühlbar werden, daß man sowohl das Gesetz wie das Evangelium als Offenbarwerden desselben Gottes versteht, daß man also seinen Ursprung in einer zwiespältigen Selbsterschließung Gottes erblickt. Aber daß die eine Offenbarung so und die andere anders gilt, ist nicht darin begründet, daß beiden das formale Merkmal des Geoffenbartseins anhaftet, sondern nur darin, daß die eine das Gesetz Gottes und die andere sein Evangelium ist. Die Frage, ob das Merkmal des Geoffenbartseins die Geltung des Gesetzes und seines Evangeliums erhöht, ist also selbstverständlich zu verneinen.« (169) Noch einmal deshalb: »Offenbarung ohne weiteren Zusatz ist ein ganz formaler Begriff, der mit den verschiedensten Inhalten gefüllt sein kann. Die Art der Verbindlichkeit der Offenbarung richtet sich immer nach ihrem jeweiligen Inhalt.« (Ebd.)

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Gottes …, teils durch seine Werke …, teils durch Bezeugung ›in den Herzen‹ und ›Gewissen‹ … So oder so stehen alle Menschen unter dem Gesetz Gottes, das über alle, auch über die Unwissenden, verhängt ist …, folglich auch unter seinem Zorn, und damit sind sie alle als Sünder und vor Gott als unentschuldbar offenbar geworden.« (170 f) Der neutestamentliche Offenbarungsbegriff ratifiziert also den Gegensatz von Gesetz und Evangelium, statt ihn in sich aufzulösen. »An Gott werden ebenso wie am Menschen zwei Sachverhalte offenbar, die einander widersprechen, an Gott Zorn und Gnade, am Menschen Sünde und Glaube. In beider Hinsicht muß demnach von einer zweifachen Offenbarung gesprochen werden.« (171) Die Zweifachheit oder besser : Zwiespältigkeit der Offenbarung Gottes lässt sich nach Elert »nicht etwa dadurch auflösen, dass man ihre Geltung auf zwei verschiedene Abschnitte der Weltgeschichte verteilt« (ebd.) oder vergleichbare äußerliche Aufteilungen vornimmt. Sie ist nur in einer theologischen Dialektik wahrzunehmen, die das Bewusstsein des Paradoxalen, das sich rein begrifflich nicht beheben lässt, in sich enthält. Das ist deshalb der Fall, weil in der Offenbarung der Gegensatz von Gesetz und Evangelium bestätigt und aufgehoben zugleich ist. Bestätigt, weil das Evangelium die Gültigkeit des Gesetzes nicht negiert, sondern voraussetzt; aufgehoben, weil das Evangelium das in seiner Gültigkeit bestätigte Gesetz erledigt. Mit Elert zu reden: »das Evangeliums gilt uns, oder jetzt deutlicher : es nötigt uns zum Glauben, weil uns das Gesetz Gottes gilt. Erst so wird die Paradoxie ganz fühlbar : gerade das Evangelium bestätigt die Geltung des Gesetzes – desselben Gesetzes, dessen Geltung vom Evangelium aufgehoben wird.« (172) Elert fährt fort: »Das Verhältnis von Gesetz und Evangelium ist demnach in doppeltem Sinn dialektisch. Einmal, weil wir auf beide den Begriff der ›Offenbarung Gottes‹ anwenden können und müssen, obwohl diese Anwendung auf beide in sich widerspruchsvoll ist. Sodann, weil beide unzweifelhaft gelten, obwohl die Geltung des einen die des anderen aufhebt und umgekehrt.« (Ebd.) Einen sinnvollen Zusammenhang vermag dieser begrifflich nicht zu synthetisierende Widerspruch nur darzustellen, insofern er auf den zurückgeführt und von dem her erfasst wird, »auf dessen absoluter Autorität sowohl die Geltung des Gesetzes wie die des Evangeliums und folglich auch der Widerspruch der Geltung beider beruht« (173 f): auf Gott, wie er im Gekreuzigten und Auferstandenen in der Kraft seines Geistes offenbar ist. »Das dialektische Verhältnis von Gesetz und Evangelium, d. h. der in der Form von Rede und Gegenrede zwischen ihnen obwaltende Widerstreit ist … in der Person Christi, in seinem Leben, Sterben und … Auferstehen zum Ausdruck gekommen. Das Offenbarwerden Christi ist Offenbarwerden der Geltung des Gesetzes und der Geltung des Evangeliums. Nur hier, nur in der Person Christi kann deshalb auch die Lösung des Widerspruchs erfolgen. ›Gott war in Christo‹, lautet der Demonstrativ des Evangeliums. Deshalb kann er nicht nur wie jeder andere die Stimme des Gesetzes vernehmbar machen, sondern wie kein anderer zum Schweigen bringen. Er allein kann hier Schweigen gebieten,

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weil er im Unterschied von allen andern das Gesetz vollkommen erfüllte und vollkommen erlitt. Nur bei ihm ist daher die Aufhebung der Todesordnung des Gesetzes kein Aufstand gegen Gott, der sie verhängte. Er hebt sie auch nicht für sich auf – er selbst hat sie ja vollkommen erlitten –, sondern für die andern. Indem der Bericht von ihm dieses ›Für euch‹ hinzufügt, wird der Demonstrativ des Evangeliums zum Adhortativ … Für alle, die den Adhortativ glaubend vernehmen, ist daher das Offenbarwerden Christi das Offenbarwerden der Gnade Gottes und die Verhüllung seines Zornes. Jene paradoxe Tatsache, daß Gottes Zorn sowohl geoffenbart wie verhüllt ist, kann demnach nur im Glauben an Christus, in dem sie offenbar geworden ist, vernommen und verstanden werden.« (175 f) Damit sind die argumentativen Grundlinien der Elert’schen Dogmatik im Wesentlichen skizziert. Sie lassen sich, wie unter einigen Aspekten ergänzend gezeigt werden soll, in allen Teilbereichen des Werkes identifizieren und verifizieren. Elerts Eingangserwägungen über »Das Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes« zielt darauf, die Grenzen aller denkbaren und tatsächlichen Selbstverständnisse des Menschen im Hinblick auf eine mögliche Gottesbeziehung zu ermitteln. Die Erörterungen enden in einer Aporie, die mehr und anderes ist als eine gedankliche Schwierigkeit, nämlich theologische Ausweglosigkeit schlechthin. Menschliches Selbstverständnis hat es in jeder seiner Formen mehr oder minder bewusst mit Gott, aber immer nur mit dem verborgenen Gott zu tun, den man nicht lieben, sondern nur hassen kann. Es waltet das Gesetz schicksalhaften Verhängnisses, welches zugrunde richtet. Evangelische Anknüpfungsmöglichkeiten bieten sich nicht. Es ist im Gegenteil so, dass vom Evangelium wenn überhaupt, nur im Modus strikter Entgegensetzung gegen das Gesetz die Rede sein kann. »Auch die Dogmatik kann diesen Zusammenstoß nicht abschwächen.« (138) Sie hat ihn im Gegenteil als einen Zusammenstoß Gottes mit Gott im Menschen geltend zu machen. Ist doch die Verborgenheit Gottes »paradoxerweise Inhalt seiner eigenen Offenbarung« (190), wie sie im Gesetz statthat, durch welches der Mensch in seinem Menschsein ausweglos vor Gott behaftet ist. Die Abskondität des im Daseinsgesetz des Menschen offenbaren verborgenen Gottes »ist Unerkennbarkeit im furchtbarsten Sinne des Wortes. Das Erkennen im tieferen Sinne ist immer auf ein anderes Du gerichtet. Es ist immer liebendes Erkennen … Wenn wir das Du eines andern erkennen, … – dann wird unser Auge hell und unser Herz froh. Richten wir aber unser Erkennenwollen auf diesen Gott, dann wird unser Auge dunkel und unser Herz erstarrt. Wir erkennen hier keine Verwandtschaft mit uns, keine Liebe, kein Erbarmen, sondern von allem nur das Gegenteil.« (190 f) Und weiter : »Der Deus absconditus ist keine Hypothese, weder eine Illusion noch Zerstörung einer Illusion. Er ist der absolute Gegensatz zu allem, was wir von uns selbst wissen, haben, denken, sind, wollen, sollen und können. Er ist der absolut Fremde, zu dem es keine Brücke, keinen Weg, keine Verständigungsmöglichkeit gibt. Wir wissen nur, daß er uns entgegensteht. Ihm gegenüber sind

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Der dreieinige Gott und die Differenzgestalt seiner Offenbarung

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wir absolut einsam. Es ist der, welcher uns töten wird. – Das ist es, was durch das Gesetz ›geoffenbart‹ wird. Es war hier noch einmal mit aller Schärfe auszusprechen, um jeden Versuch, den Gegensatz von Gesetz und Evangelium in dem übergeordneten Begriff der Offenbarung aufzulösen, unmöglich zu machen.« (191) Der Gegensatz von Gesetz und Evangelium ist abgründiger als derjenige von Tod und Leben und in seiner Alternativität so unvergleichlich wie derjenige von Hölle und Himmel. Vom Daseinsgesetz des Menschen her lässt sich die Ankunft des Evangeliums in Jesus Christus daher mitnichten plausibel machen. Die historisch-kritische Unvermitteltheit von Elerts Erörterungen zur Geschichtlichkeit Jesu Christi bestätigen dies auf signifikante Weise, sofern sie ihren unvermittelten Einsatz systematisch dadurch als sachgemäß zu erweisen suchen, dass sie die Zufälligkeit der Erscheinung Christi in der vermittlungslosen Unmittelbarkeit ihrer historischen Kontingenz als offenbarungstheologisch notwendig und wesentlich herausstellen. Durch die historische Zufälligkeit, in der Christi Person begegnet, erhält sie »eine Dringlichkeit, die eine Vernunftwahrheit niemals haben kann. Über Wahrheiten, wie Lessing sie im Auge hat, kann man, wie es heute heißt, ein ›Gespräch führen‹. Man kann sie sich allmählich aneignen. Man kann sie auch wieder vergessen. Das alles gibt es bei der persönlichen Begegnung nicht.« (195) Um eine persönliche Begegnung, die aus keinem vorgefassten Welt- und Selbstverständnis zu deduzieren ist, sondern sich kontingent ereignet, handelt es sich nicht nur bei der Geschichte, von der das apostolische Christuszeugnis berichtet, welches historisch zu hintergehen Elert für theologisch unmöglich hält, sondern ebenso bei jenem Geschehen, durch welches sich Christus, ohne dass dadurch das Praeteritum seiner irdischen Existenz nach Weise abstrakter Vergleichzeitigung übersprungen werden sollte, in der Kraft des göttlichen Geistes heute ereignet. Wie immer das Verhältnis von damals und heute geschichtstheologisch-christologisch-pneumatologisch präzise zu fassen ist: in beiden Fällen handelt es sich um ein Ereignis kontingenten Betroffenwerdens. Auch was die Lehre von der Heiligen Schrift anbelangt, so geht es letztlich darum, dass der Leser und Hörer des Worts betroffen sei: »Um die Heilige Schrift zu verstehen«, sagt Elert, »muss man … nicht nur ermitteln, was gemeint ist, sondern auch, wer gemeint ist, nämlich kein anderer als der Leser und Exeget selber. Die Bereitschaft, sich selbst gemeint zu wissen, ist der Glaube … Mit andern Worten: Die Schrift wird nur als Wort Gottes richtig verstanden, wenn der Exeget bereit ist, sich selber dem hier redenden Herrn auszuliefern, d. h. aus dem, was er verstehen will, das Urteil Gottes über sich selbst zu empfangen.« (238) Von »Gott selbst«, näherhin von der Dreifaltigkeit sowie vom Wesen und Wirken Gottes handelt Elert im dritten Abschnitt seiner Dogmatik. Dabei kann es sich nach seinem Dafürhalten nicht darum handeln, ein Ansichsein Gottes zu bedenken, das nicht als solches immer schon Für-uns- bzw. Fürmich-Sein wäre. Aus der Betroffenheitssituation kann und darf sich die

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Theologie auch und gerade in der Gotteslehre nicht entfernen. Denn auch und gerade von der Wirklichkeit des trinitarischen Wesens und Wirkens Gottes kann nur in der Gestalt von Gesetz und Evangelium die Rede sein, »d. h. so, daß der Mensch auf Tod und Leben davon betroffen wird. Glaube ist nicht ein Urteil über Gott, sondern Empfangen des Urteils Gottes über den Menschen. Dieses Urteil wird aber nur als Gottes Urteil empfangen, weil hier ›Gott selbst‹ urteilt. Es kann nicht unter Vorbehalten empfangen werden, auch nicht unter dem Vorbehalt, dass ›Gott an sich‹ möglicherweise ein anderer ist als der in seinem Urteil offenbare Gott.« (277) Was Elert im Folgenden über Gott, den Schöpfer und Erhalter, Gott, den in Jesus Christus wirksamen Versöhner, und über Gott, den Heiligen Geist, sowie den pneumatologischen Prozess des Existenzwandels zu sagen weiß, sagt er unter der Voraussetzung dieses Grundsatzes. Wie der Offenbarungsbegriff ist auch die Lehre von der Trinität, die ihm sein theologisches Format gibt, nach Elerts Urteil unverzichtbar. Aber beide werden lediglich formal und damit zuletzt gegen ihren eigentümlichen Sinn gebraucht, wenn sie nicht auf die Gesetz-Evangeliums-Thematik konzentriert werden, die ihre inhaltliche Bestimmtheit ausmacht. Der als der dreieinige offenbare Gott ist als Deus absconditus und Deus revelatus offenbar. Sein Wirken in der Geschichte erscheint – und man wird wohl sagen müssen: ist – ein gänzlich anderes im Lichte des Gesetzes und im Lichte des Evangeliums. Im Lichte des Gesetzes gilt: »Der Gott, der mich und alle für etwas verantwortlich macht, was wir gar nicht leisten oder nicht vermeiden können, weil wir keine andere Freiheit als die zum Widerspruch gegen ihn haben, ist für uns der verborgene Gott. Weil er der Herr der Geschichte ist und weil es vor seinem Gesetz kein Entrinnen gibt, darum vollzieht sich in der Geschichte das Verhängnis des Schuldigwerdenmüssens aller.« (341) Im Lichte des Evangeliums hingegen tritt in der Unheilsgeschichte unvermittelt das Heil zutage, um durch den Glauben in einer Betroffenheit empfangen zu werden, die nur mit derjenigen, die Verzweiflung wirkt, verglichen werden kann und zugleich von unvergleichlich anderer Art ist als diese, nämlich nichts als reine Freude, welche kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat. Elerts Lehre von den letzten Dingen im siebten und letzten Abschnitt seiner Dogmatik findet die eschatologische Erfüllung entsprechend in einer Vollendung, in der Hören und Sehen definitiv vergangen sind. Die Organisationsprinzipien der Elertschen Dogmatik sind mit der Offenbarungs- und Trinitätslehre sowie der Gesetz- und Evangeliumsthematik gegeben. Wie sich die zwiespältige Offenbarung des dreieinigen Gottes so wahrnehmen lässt, dass kein Dualismus sein trinitarisches Wesen zersetzt, ist die entscheidende Frage, die sich mit Elerts Systementwurf verbindet. In dessen christozentrischer Mitte tritt das Problem am deutlichsten zutage: Warum der durch das Gesetz zugrundegerichtete Gekreuzigte der Auferstandene ist, weiß keiner zu sagen – es sei denn der Auferstandene selbst und derjenige, dem Gottes Heiliger Geist ebenso unvorhersehbare wie unerhörte

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Ostergewissheit erschließt: »Glauben wir dem Evangelium, so empfangen wir die Erlösung vom Gesetz – ohne dass damit das Gesetz als Gottes Wille und Offenbarung bestritten werden darf. Wir wissen nur, dass der Widerstreit die Einheit des göttlichen Du im Verhältnis zu uns nicht aufhebt. Wir bekennen das im Glauben an Gottes Heiligkeit, die den Widerstreit von Zorn und Gnade in sich begreift wie auch begrenzt … Wir können aber gerade aus diesem Grunde auch nicht sagen, durch das Versöhnungswerk seines Sohnes sei die Spannung von Heiligkeit und Liebe gelöst. Eine andere Liebe als heilige Liebe ist in Gott nicht vorstellbar. Wir müssen es daher bei dem Glauben bewenden lassen, dass die Liebe, die ihn zur Sendung des Sohnes, zum Empfang der Sühne aus seinem Opfergang, zur Versöhnung mit der Welt bewegte, eben diese heilige Liebe gewesen ist.« (426 f)

1.2. Ur- und Heilsoffenbarung bei Paul Althaus Auch nach Paul Althaus ist die Offenbarung Gottes für den Menschen wenngleich möglicherweise nicht zwiespältig, so doch zwiefach und jedenfalls nicht einfach: sie geschieht als Uroffenbarung und als Heilsoffenbarung. Die Notwendigkeit dieser insonderheit in Auseinandersetzung mit Karl Barth (aber auch mit Karl Heim) seit jeher vertretenen Annahme hat Althaus in dem 1929/ 32 (19362) in zwei Teilen erschienenen »Grundriß der Dogmatik« und sodann in dem ebenfalls zweiteiligen Werk »Die christliche Wahrheit«12 als der ausgereiften Form seiner Dogmatik von 1947/48 detailliert begründet. Dabei legt er Wert auf die Feststellung, dass die Uroffenbarungslehre von einer »offenbarungslosen natürlichen Theologie« (I, 45), der Althaus mit massiver Kritik begegnet, strikt zu unterscheiden sei. Der theologische Grund der Notwendigkeit christlicher Lehre von der Uroffenbarung sei wesentlich in der Rückbeziehung der Heilsoffenbarung auf diese zu finden. Als Botschaft von der Schuldvergebung ist das Evangelium seinem eigenen Wesen nach auf 12 P. Althaus, Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik. Zwei Bände (= I/II), Gütersloh 1947/8. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf. Ist Theologie insgesamt wissenschaftliche Selbstbesinnung des christlichen Glaubens, wie sie durch dessen Geschichtsbezogenheit, Geistigkeit und Kirchlichkeit veranlasst ist, so hat die systematische Theologie ihre besondere Aufgabe darin, »die christliche Wahrheit in ihrer uns heute betreffenden Gültigkeit begründend darzulegen. Die Aufgabe gliedert sich in zwei Teile, eine Grundlegung und eine Entfaltung. 1. Die christliche Wahrheit erhebt den Anspruch, durch Gottes Selbstdarbietung oder ›Offenbarung‹ erschlossen zu sein. So ist zunächst nach dieser Offenbarung zu fragen, nach ihrer Wirklichkeit, ihrem Verhältnis zu den Religionen, zu den Welt- und Lebensanschauungen der Menschheit, zu der Welt des Wissens; nach der Weise, in der sie uns erreicht und betrifft, nämlich durch das apostolische Zeugnis und die Kirche. Das ist der Gegenstand der Prinzipienlehre oder der Prolegomena der Dogmatik. 2. Daraufhin ist dann im zweiten Teil der systematischen Theologie der Inhalt der in der Offenbarung erschlossenen Wahrheit darzulegen, und zwar sofern sie unser Leben bestimmt (Dogmatik im engeren Sinne) und beansprucht (Ethik …).« (I, 18 f)

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vorgegebene Wahrheit bezogen, die sie bestätigt, an der sie sich bewährt und die sie erfüllt. »Das Evangelium ist also durch und durch ›Anknüpfung‹ – zwar nicht einfach an die Religion des Menschen, an seine ›natürliche Theologie‹, aber an die in ihr trotz allem wirksame Ur-Offenbarung.« (I, 51)13 Die ursprüngliche Selbstbezeugung Gottes, wie er sie gegen den nach seinem Urteil »engen christomonistischen Offenbarungsgedanken« (I, 67) namentlich Karl Barths14 und in Aufnahme Brunnerscher Tendenzen15 lehrt, findet Althaus in der Existenz des Menschen (vgl. I, 73 – 85), im geschichtlichen Leben (vgl. I, 85 – 91), in Bezug auf das theoretische Denken (vgl. I, 91 – 95) und die Wahrheitbeziehung des Geistes (vgl. I, 95 – 98) sowie in der Natur (vgl. I, 99 – 107). In der schlechthinnigen Gewirktheit und unbedingten Beanspruchung unseres Daseins, in der Wahrnehmung menschlicher Verantwortung und der Ahnung übermenschlicher Führung, in dem Bedürfnis theoretischer und praktischer Vernunft, einen fundierenden Grund ihrer selbst zu erkennen, im geistigen Bewusstsein verbindlicher Wahrheit etc., schließlich in dem geheimnisvollen Dasein extrahumaner Natur und ihrer Ordnung bezeugt sich ein Ursprüngliches, das die Theologie im Lichte des Evangeliums als Grundoffenbarung Gottes zu deuten und mit der Einsicht zu verbinden hat: Religion ist anthropologisch unvermeidbar, weil zur conditio humana unveräußerlich hinzugehörend. Zu differenzieren ist diese Einsicht auf zweifache Weise: Religion transzendiert die Sphäre des bloß Humanen und lässt sich daher nicht rein humanistisch, sondern nur theologisch recht begreifen; Religion im eigentlichen Sinne ist dort gegeben, wo das religiöse Verhältnis als solches bewusst und explizit wird. Mit Althaus zu reden: »Re13 Hinzuzufügen ist, dass die Vorsilbe Ur- bzw. das Beiwort »ursprünglich« nicht im historischen, sondern im prinzipiellen Sinn verstanden werden wollen. »Sie sagen von der gemeinten Offenbarung nicht, daß sie ihren Ort am Anfange der menschlichen Geschichte hatte, daß sie nur an das erste Geschlecht der Menschen geschah, sondern, daß sie von der Heils-Offenbarung Gottes schon vorausgesetzt wird, daß sie ihr zugrunde liegt, daß diese sich auf sie wesentlich zurückbezieht. Nicht von einem Praeteritum ist die Rede, sondern von einem Präsens, das aber dem Perfectum praesens der Heils-Offenbarung wesentlich immer schon voraufgeht. Wir suchen die Ur-Offenbarung nicht am Anfange der Geschichte der Religion, sondern überall ›hinter‹ ihr, in diesem Sinne natürlich auch am Anfange. Die Frage nach dem Anfange als historische ist kein theologisches Thema. Die Dogmatik hat nicht die historische Geschichte der Menschheit zu erzählen oder zu konstruieren, sondern die Existenz des Menschen und der Menschheit vor Gott zu verstehen. Sie hat es immer mit dem gegenwärtigen Menschen zu tun, mit dem vergangenen, sofern er mit mir, dem gegenwärtigen, einer und derselbe ist.« (I, 50) 14 »Der eigentliche Grund für das Außerachtlassen der allgemeinen Offenbarung ist nicht eine theologische Nötigung, sondern eine bestimmte philosophisch-weltanschauliche Haltung – also eine Art natürlicher Theologie negativen Inhalts –, nämlich das Ja zu dem modernen Relativismus und Skeptizismus, der keine Begegnung mit dem Unbedingten in der Wirklichkeit unseres Lebens mehr kennt.« (I, 67) 15 »Barths Absage an die Ur-Offenbarung und die in ihr begründete Erkenntnis Gottes ist nicht von allen seinen Freunden und Schülern mitgemacht und festgehalten worden. Vielmehr war es zuletzt diese Frage, die den Kreis von ›Zwischen den Zeiten‹, die Gruppe der ›dialektischen Theologie‹ sprengte. Emil Brunner ist mit seiner Schrift ›Natur und Gnade‹, 1934, 2. Aufl. 1935 in aller Form gegen Barth und für die Doppelheit der Offenbarung eingetreten.« (I, 71)

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ligion ist das bewußte Verhältnis des Menschen zu dem ihm sich bezeugenden Gott: der Mensch anerkennt die Wirklichkeit Gottes in Beugung und Hingabe und sucht bei ihm die Heilung der ihm gegenüber erfahrenen, sonst unaufhebbaren Daseins-Not.« (I, 11 f; bei A. gesperrt) Die Daseinsnot menschlicher Existenz ist keineswegs die abstrakte Negation von deren Würde, sondern der erfahrene Widerspruch zu ihr, der sich in seiner Tiefe nur im Bewußtsein der Menschenwürde und damit der geschöpflichen Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit erfassen lässt. Die Uroffenbarung offenbart indes nicht nur den Menschen im Widerspruch, sondern lässt auch Gott selbst widersprüchlich erscheinen. Das uroffenbarungstheologisch zu bedenkende religiöse Wissen von Gott erweist sich so an sich selbst als jenes Nichtwissen, das es zugleich ist. Der in der Offenbarung sich bezeugende Gott ist der verborgene, der deus absconditus. »Die Erfahrung und Not der Verborgenheit Gottes setzt seine Selbstbezeugung voraus. Sie entsteht an ihr. Denn diese und nichts anderes setzt den Widerspruch unseres Daseins, durch den Gottes Wille über uns fraglich wird und verborgen bleibt. Die Dogmatik kann also nicht mit der Verborgenheit Gottes einsetzen, sondern muß, gerade wenn sie als das letzte Wort über die Existenz des Menschen ohne Christus das von der heillosen Verborgenheit Gottes zu sagen hat, mit der Selbstbezeugung Gottes beginnen. Nur weil wir um Gott wissen, erleiden wir die Not seiner Verborgenheit. Weil er sich uns nicht unbezeugt gelassen hat, bedrängt uns die Frage, auf die wir keine Antwort bekommen. Nur als der Deus revelatus – im Sinne unseres Begriffes der Selbstbezeugung – ist Gott für uns der Deus absconditus, nämlich der, dessen Wille über uns verborgen ist.« (I, 111) Die Uroffenbarungslehre endet sonach mit der Wahrnehmung einer manifesten Aporie, deren Erkenntnis ihre theologische Bestimmung ist. Heilsam kann diese Erkenntnis eo ipso nicht sein. Heil kann nur von einer zweiten, auf die erste zwar rückbezogenen, aber gänzlich anderen Offenbarung kommen: von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Die Heilsoffenbarung Gottes, welche sein Wort an Israel, das die Uroffenbarung vollendet und zugleich über sie hinausweist, vorbereitet (vgl. I, 113 – 120), ist in der »Gottes-Vollmacht Jesu zur Versöhnung und Erlösung der Menschheit« (121) inbegriffen, welche das Evangelium zum Inhalt hat und geistesmächtig in seiner Wahrheit bewährt. Historische Wirklichkeit und Gegenwärtigkeit der Geschichte Jesu lassen sich dabei nicht trennen, sondern bilden einen differenzierten Zusammenhang, wobei es für die Christologie von Althaus durchaus kennzeichnend ist, dass er die Frage nach der Gegenwärtigkeit der Geschichte Jesu für uns derjenigen nach ihrer historischen Tatsächlichkeit vorangehen lässt. Indes wird doch darauf insistiert, dass die vergangene einmalige Geschichte Jesu, wie sie kraft des Heiligen Geistes in der kirchlichen Verkündigung des Evangeliums wirksam ist, in Form eines eindeutigen Bildes seines Personlebens historisch fassbar ist und von sich auf das Osterkerygma der Gemeinde verweist. Im vierten und umfangreichsten Teil

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

der materialen Dogmatik von Althaus, die Jesus Christus als Versöhner und dem Anbruch der neuen Schöpfung gewidmet ist, wird dies im Einzelnen begründet und entfaltet.16 Darauf kann hier nicht detailliert eingegangen werden. Näher in Betracht gezogen werden soll nur mehr die Gesamtanlage der Althaus’schen Materialdogmatik sowie das Problem, welche Entsprechung die Uroffenbarungslehre in ihr gefunden hat. Zum ersten: Als begrifflich bestimmte kritische Darstellung der in Gottes Offenbarung dem Glauben sich erschließenden Erkenntnis durch die Prolegomena nach Ursprung, Inhalt sowie theologischer und eschatologischer Grenze fundamentaltheologisch gekennzeichnet (vgl. I, 285 – 310), ist die Dogmatik in ihrem Durchführungsteil darauf angelegt, Gottes gnädiges Handeln mit der Menschheit zur Gemeinschaft mit ihm in seinem Reiche im Dienste aktueller kirchlicher Verkündigung im einzelnen darzulegen. Der Inhalt der materialen Dogmatik gliedert sich nach Maßgabe dieses Grundsatzes, der ihr in verknappter Form voransteht, »nach den Hauptmomenten der Geschichte Gottes mit der Menschheit, zwischen denen er sich spannt« (I, 308). Gehandelt wird von Welt und Mensch als Kreatur Gottes, von menschlicher Sünde und Gottes Gericht, von Jesus Christus als Versöhner und dem Anbruch der neuen Schöpfung sowie von den letzten Dingen. Zu bedenken ist dabei die doppelte Spannung, welche durch die Geschichte Gottes mit der Menschheit geht: »Die ursprüngliche der Schöpfung auf die Vollendung, die durch die Sünde erst entstandene der Schöpfung auf die Erlösung. Beide finden ihre Lösung in Christus, dem Gekommenen und dem Kommenden; 16 Methodisch muss die Christologie, wie Althaus namentlich gegen Emil Brunners »Mittler« von 1937 einwendet, zunächst den Weg »von unten nach oben« gehen, um erst dann »von oben nach unten« fortzuschreiten. Auch kann sie den Grund des Glaubens an Jesus Christus nicht in der Weise des Rückschlusses von dessen Wirkung im Menschen erreichen, sondern nur im Blick auf dessen personale Vollmacht. Aus diesem Grund folgt die Soteriologie bei Althaus erst auf die Christologie im engeren Sinn, sosehr Christi Werk mit seiner Person untrennbar verbunden ist. Inhalt der Soteriologie ist die staurologisch konzentrierte Versöhnungslehre, welche die Lehre von der Erlösung impliziert, sowie die Lehre von Höllen- und Himmelfahrt bzw. Erhöhung Jesu Christi. Der erhöhte Jesus Christus ist kraft des göttlichen Geistes heilsgegenwärtig in seiner Kirche. Die diesbezüglichen Paragraphen beinhalten die Pneumatologie als Lehre vom Heiligen Geist, die Ekklesiologie, in der vom Wesen der Kirche, vom kirchlichen Amt, von Kirche als Gemeinde, von Kirchentum und Kirche gehandelt wird und sodann von Verkündigung, Schlüsselamt, Wort und Sakrament, Taufe und Abendmahl. Erörterungen über die Wirklichkeit des Heils im Glauben mit den Themen von Rechtfertigung, Erwählung und Heilsgewissheit, Prädestination, Sinngebung der Schicksale, Glaube als neues Leben und dessen Bedeutung schließen sich an. Argumentationsleitend ist der Rechtfertigungsbegriff in diesem Zusammenhang insofern, als in ihm »Gesetz und Evangelium in ihrer Einheit und in ihrem Widerstreit so wie in keinem anderen Ausdrucke für die Sache eng und hart zusammen(treten)« (II, 403). Es gilt: »a) Das Evangelium setzt die Gültigkeit des Gesetzes voraus und bestätigt sie.« (Ebd.; bei A. gesperrt.) »b) Zugleich durchbricht das Evangelium das Gesetz als Ordnung des Verhältnisses Gottes und des Menschen.« (I, 404; bei A. gesperrt.) Da aber auch der Glaube, der seinem Wesen nach Rechtfertigungsglaube ist, in der Dialektik von Gesetz und Evangelium seinen Grund und sein Wesen hat, kann deren rechtes Verständnis als das Zentralproblem Althausscher Theologie identifiziert werden.

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Der dreieinige Gott und die Differenzgestalt seiner Offenbarung

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beide im Reiche Gottes, das nicht nur Erlösung, sondern auch Vollendung durch neue Schöpfung ist – Vollendung, bezogen nicht allein auf den Anfang der Erlösung im Christenleben, sondern auch auf die ursprüngliche Schöpfung, den Urstand.« (I, 310)17 Nach Maßgabe der Gesamtanlage der Althausschen Materialdogmatik wird das Gesetz-Evangelium-Thema somit in eine heilsgeschichtliche Perspektive gerückt und damit temporalisiert und, wenn man so will, eschatologisiert.18 Strukturell wird es fernerhin dadurch differenziert, dass Althaus den – wohlgemerkt nicht schon vollendeten, sondern auf Vollendung hin angelegten – sog. Urstand mit dem Begriff des Gebotes assoziiert, auf welchen die soteriologisch bestimmte Paränese zurückkommt, wohingegen das mit Christus zu Ende gekommene Gesetz – mit dem Gebot materialiter identisch, aber formaliter gegensätzlich zu ihm – auf den status corruptionis des gefallenen Sünders bezogen wird. Zum zweiten: Analog zur inneren Verfasstheit der Uroffenbarungslehre in ihrem differenzierten Zusammenhang mit der Lehre von der Heilsoffenbarung stehen bei Althaus Schöpfungs- und Sündenlehre in einem untrennbaren Beziehungszusammenhang, der seinerseits in einem Unterscheidungen erfordernden und Trennungen verbietenden Bezug steht zur Christologie und zur Pneumatologie. Was den Beziehungszusammenhang von Schöpfungs17 Umfangen ist das solchermaßen spannungsvoll zu entwickelnde Ganze der Dogmatik von der Lehre von Gott als dem »Subjekt allen in der Dogmatik auszusagenden Handelns« (I, 308). Auffällig ist, dass Althaus die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes als »Krönung der Gotteslehre« (I, 309), wie er sagt, dem Schluss seiner Dogmatik vorbehält, wohingegen er am Anfang von der Gottheit Gottes noch nicht explizit trinitarisch handelt. Der Stoff der Lehre von der Gottheit Gottes, wie Althaus sie im ersten Teil seiner materialen Dogmatik entwickelt, ist nach Maßgabe des differenzierten Zusammenhangs von Seinsweise und Seinsgehalt Gottes gegliedert. »Bei der Weise zu sein kommen in Betracht die Begriffe der Freiheit und der Herrschaft Gottes. Mit ihnen ist Gottes Personhaftigkeit, Einzigkeit, Beständigkeit gegeben, dazu seine Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart, Ewigkeit. Bei dem Gehalt des Seins Gottes ist von seiner Liebe und seiner Gerechtigkeit zu sprechen. Beides, Seinsweise und Seinsgehalt Gottes wird dann zusammengefasst in den Begriffen der Heiligkeit, Herrlichkeit, Seligkeit Gottes.« (II, 3) Sie bezeichnen nach Althaus »weder nur die Weise Gottes zu sein noch nur den Gehalt seines Seins …, sondern beides miteinander« (II, 33 f). Ich belasse es bei diesem Zitat und dem Hinweis, dass das zentrale Problem der sog. speziellen Gotteslehre von Althaus neben der Plausiblität ihrer Gliederung bzw. der Kriterien, die sie bestimmen, in ihrem nur verhältnismäßig vage bestimmten Verhältnis zur Trinitätslehre (vgl. II, 511 – 524) begründet liegt. 18 Die Eschatologie von Althaus beinhaltet persönliche Vollendung einerseits und die Weltvollendung andererseits. Vereint werden beide Gedankengruppen durch christologische Konzentration: »Jesus Christus, der Erhöhte, ist der Jüngste Tag; ihm begegnen, zu ihm entrückt werden heißt, in den Jüngsten Tag, an das Ende der Geschichte, in die Welt der Auferstehung versetzt werden. So können wir zusammendenken, was in der Lehre vom Zwischenzustande auseinanderfiel und doch zusammengehört: das Eingehen der Toten zu Jesus und die Auferweckung der ganzen Menschheit am Ende der Welt hinein in die erneuerte Welt; das Gericht über die Einzelnen und das Menschheitsgericht; kurz: das Jenseits des Todes und den Jüngsten Tag.« (II, 509 f) In seinem Werk über »Die letzten Dinge«, das seit seiner vierten Auflage von 1933 neben dem Aspekt individueller Verewigung auch einen endgeschichtlichen enthält, hat Althaus dies im einzelnen entfaltet.

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

und Sündenlehre anbelangt, so tritt seine Verfassung insonderheit an der Imagolehre bzw. an dem Problem zutage, wie über die Gottebenbildlichkeit des sündigen Menschen zu urteilen sei. Althaus spricht unter Verweis auf die Doppelheit des biblischen Sprachgebrauchs vom Menschen als Ebenbild Gottes im zweifachen Sinne wesenhafter Bestimmung des Menschen für Gott und der Erfüllung dieser Bestimmung an ihm. Damit verbindet sich eine entsprechende hamartiologische Differenzierung: »Unverloren und unverlierbar ist die wesensmäßige Bestimmung des Menschen für Gott, in der er verfaßt ist, das Sein vor Gott als personhafte und verantwortliche Willentlichkeit. Verloren ist die Freiheit für Gott als Kraft der Hingabe an ihn, verloren das Sein für Gott als Erfüllung der Bestimmung.« (II, 100) Vermöge seiner personhaften und verantwortlichen Willigkeit ist der Mensch auch als gefallener Sünder Gottes Geschöpf, dem die Schuld seiner Sünde zuzurechnen ist, wobei zu gelten hat, dass die Sünde als radikale Personsünde zugleich Menschheitssünde, also eine nicht nur individuelle, sondern menschheitlichuniverselle Wirklichkeit ist. Das Unwesen dieser Wirklichkeit, in welche auf ihre Weise auch die extrahumane Kreatur verstrickt ist und deren bodenlose Abgründigkeit auf eine übermenschliche Macht des Bösen verweist (vgl. II, 152 – 161), besteht im Widerspruch gegen Gott, der immer auch Widerspruch gegen die geschöpfliche Bestimmung des Menschen ist. Der sündige Mensch hat dabei nicht nur als in sich widersprüchlich, sondern als Widerspruch in sich zu gelten, mit all den widrigen Folgen, die dieser Widerspruch für Selbst und Welt zeitigt. Die verheerendste Folge der Sünde, die nichts anderes ist als die Hölle selbst, lässt sich dabei so umschreiben: Dem gottwidrigen Menschen ist Gott zuwider und zwar nicht nur scheinbar, sondern in einer vom widrigen Wesen der Sünde und ihrem falschen Schein selbst hervorgerufenen Tatsächlichkeit. »Sünde und Gottes Gericht« ist entsprechend die Hamartiologie von Althaus überschrieben; auf einen ersten Abschnitt »Der Mensch wider Gott« folgt ein zweiter : »Gott wider den Menschen«. »Gott antwortet der Auflehnung des Menschen gegen ihn mit seinem Widerstande. Der Mensch steht wider Gott. Gottes Antwort ist, daß er wider den Menschen steht. Der Mensch versagt sich dem Anspruch Gottes, der in dem Angebote seiner Liebe liegt. Gott hält dennoch an seinem Anspruch fest. Wird er nicht in der freien Hingabe des Menschen verwirklicht und erfüllt, so muss der Anspruch an und auf den Menschen sich nun wider ihn geltend machen. Das ewige Ja der Liebe Gottes zum Menschen muss dessen Nein gegenüber zum Nein Gottes wider des Menschen Nein werden.« (II, 162)

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1.3. Die anthitetische Zweigestalt der Offenbarung bei Emanuel Hirsch Auch das Offenbarungsverständnis von Emanuel Hirsch ist nicht einsinnig, sondern gänzlich durch die Antithetik von Gesetz und Evangelium bestimmt. Sein »Leitfaden zur christlichen Lehre«19 ist, wie er selbst sagt, jenem Paradox eines Zusammenhangs nicht synthetisierbarer Differenz auf der Spur, den christliche Dogmatik denkend zu verantworten hat, ohne ihn doch lehrhaft begreifen zu können. Formal bestätigt sich das darin, dass die Dogmatik des Leitfadens20 in zwei Teile zerfällt. Der erste ist dem Selbstverständnis insbesondere des abendländischen Menschen an der Grenze der christlichen Wahrheit, der zweite der im Glauben an das Evangelium empfangenen Erkenntnis der christlichen Wahrheit gewidmet. Bevor auf die Inhalte beider Teile näher einzugehen ist, sei zunächst das Problem ihrer Zuordnung erörtert, weil in diesem Zusammenhang sich am besten erkennen lässt, wie Hir-

19 Den mit diesem Titel versehenen, 1938 erstmals erschienen Text hat Hirsch zur Vorbereitung seines Kollegvortrags zwischen Oktober 1938 und Februar 1940 mit Erläuterungen und zwischen Februar 1940 und September 1945 mit präzise datierten Ergänzungen versehen. Im Verein mit den Erläuterungen und Ergänzungen ist der Leitfaden zur christlichen Lehre in der Werkausgabe von Hirsch (III/1, 1 und 2) in der Bearbeitung von Hayo Gerdes unter dem Titel »Christliche Rechenschaft« in zwei Bänden wieder abgedruckt worden (Berlin/SchleswigHolstein 1978). Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf. 20 Insgesamt enthält der Leitfaden zur christlichen Lehre vier Lehrkreise: Prolegomena, Dogmatik I, Dogmatik II, Ethik. Ein erster Lehrkreis dient als dogmatische Propädeutik der Einleitung in die christliche Lehre. Näherhin enthalten die Prolegomena drei Lehrstücke: das erste bestimmt die Aufgabe der systematischen Theologie, das zweite behandelt die Bibel, das dritte das Bekenntnis. Bemerkenswert ist, dass z. B. die Trinitätslehre und die Lehre vom Gottmenschen in die Prolegomena verwiesen werden. Hirsch begründet das mit der Absicht, das eigenverantwortete Denken des Systematikers nach Möglichkeit von der Belastung mit geschichtlichem Stoff zu befreien, damit es an Stilreinheit und Strenge gewinnt. »Kritische Rückbeziehungen auf überlieferte Lehrformungen innerhalb der eigentlichen dogmatischen Darlegungen haben nur noch den Sinn der Verdeutlichung des Eigengedachten.« (I, 41) Das nach Hirschens Bekunden Eigengedachte seiner Dogmatik wird im zweiten und dritten Lehrkreis entfaltet. Im zweiten Lehrkreis kommt das Selbstverständnis des abendländischen Menschen an der Grenze der christlichen Wahrheit zur Darstellung; Dogmatik I bearbeitet als sog. philosophische Dogmatik die ihr gestellte Aufgabe so, »daß sie aus zugleich christlich vertiefter und christlicher begrenzter Humanität heraus die grundlegenden Aussagen über das menschliche Gottesverhältnis entwickelt« (I, 40). Das geschieht in drei Stücken: 1. die Wahrheit; 2. Gott; 3. der Mensch. In einem dritten Lehrkreis (Dogmatik II) wird die im Glauben an das Evangelium empfangene Erkenntnis der christlichen Wahrheit thematisch und zwar erneut in drei Stücken: 1. das Wort; 2. der Glaube; 3. die christliche Gemeinschaft. Der vierte Lehrkreis schließlich bringt als Ethik und Geschichtslehre die Wirklichkeitsgestalt des christlichen Lebens als eines wahrhaft menschlichen Lebens zur Darstellung. Er gibt den Fragenkreis von Wiedergeburt und Bekehrung an die Dogmatik zurück, um sich »unter Preisgabe der sogenannten christlichen Moral zu einer christlich verantworteten und begrenzten, in der Grundlage aber human gültigen Lehre von Gemeinschaft und Geschichte« (I, 41) auszuweiten. Auch dies geschieht in drei Stücken: 1. die Gemeinschaft und der Einzelne; 2. die Geschichtsmächte; 3. die Daseinsgestalten.

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schens Offenbarungstheologie von der Gesetz-Evangeliums-Thematik strukturiert ist. Die entscheidende oder, wie er auch sagen kann, letzte Offenbarung ist nach Hirsch die der Gottes- und Selbsterkenntnis des Menschen zum Schicksal werdende Begegnung mit dem Menschen Jesus und dem Sein Gottes in ihm. Diese Offenbarung ereignet sich unbedingt, aber nicht voraussetzungslos. Sie setzt vielmehr voraus, »daß Gott im menschlichen Leben als solchem allenthalben gegenwärtig offenbar ist, aber mit einer Rätselhaftigkeit und Widersprüchlichkeit, die im Menschen die Frage nach ganzer, vollkommener Offenbarung wachruft … Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich das Verhältnis des Humanen und des Christlichen so verstehen, daß das Humane wahrhaftig bleibt, wenn es gläubig im Christlichen die Wahrheit erkennt, und daß das Christliche dem Humanen sich bietet nicht als der Pflicht begründende Anspruch eines fremden Gottes, sondern als Erlösung aus Selbstentfremdung und Gefangenschaft zu dem hin, dazu es angelegt ist.« (II, 9) Hirsch verdeutlich dies durch die formelle Unterscheidung zwischen einer das Gewissen vertiefenden und es verwandelnden Offenbarung: »die erste hellt mir das Gottesverhältnis auf, in dem ich schon bin, die andre gibt mir ein irgendwie gegensätzlich zu dem bisherigen bestimmtes Gottesverhältnis. Es fragt sich, ob diese Unterscheidung einer inhaltlichen Bestimmung fähig ist, vermöge der die Aussage, die Begegnung des Gewissens mit dem Menschen Jesus sei die entscheidende Offenbarung und als solche dem Gläubigen die regierende Mitte aller Offenbarung, sinnhaft wird.« (II, 10) Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, welche zugleich als die inhaltliche Bestimmung der formellen Differenzierung einer das Gewissen vertiefenden und es verwandelnden Offenbarung zu gelten hat. Um deutlich zu machen, inwiefern der differenzierte Zusammenhang von Gesetz und Evangelium der Schlüssel zum rechten Verständnis des Verhältnisses von vertiefender und verwandelnder Offenbarung ist, grenzt sich Hirsch zunächst vom alten Lehrschema ab, welches zwischen natürlicher und übernatürlicher, vernünftiger und übervernünftiger bzw. allgemeiner und besonderer Offenbarung unterscheidet. Dem wird im Anschluss an Kierkegaard entgegengehalten, »daß Offenbarung immer ein durch Gott bestimmtes menschliches Sein in uns setzt« (II, 14). »Wir können in dem Sein mit Gott, das wir schon haben, durch Offenbarung vertieft werden …, oder durch Offenbarung verwandelt werden, was dann eine das Menschsein betreffende Entgegensetzung in sich schließt.« (Ebd.) Das Maß, an dem der christliche Glaube Vertiefung und Verwandlung unterscheidet, ist dasjenige von Gesetz und Evangelium. Das ist deshalb der Fall, weil es für einen klar sich verstehenden christlichen Glauben eigentümlich ist, »Gottes Sich-offenbaren als in antithetischer Zweigestalt geschehend gegenwärtig zu haben. In der rätselhaften und widersprüchlichen Gottesbeziehung, die jeder Mensch in seinem geschichtlichen Dasein erfährt, indem er es nach dem darin an ihm waltenden

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Der dreieinige Gott und die Differenzgestalt seiner Offenbarung

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Gesetz des Lebens und der darin ihm gewährten Bestimmung vor Gott im Gewissen durchlebt, erkennt christlicher Glaube Gottes Gesetzesoffenbarung. Ihr stellt er die dem Gewissen in der Begegnung mit dem Menschen Jesus sich schenkende Gewißheit Gottes als des, der die mir ewig das Leben tragende, mich zu ihrem Kinde grundlos nehmende Liebe ist, gegenüber als Gottes dem Menschen unter dem Gesetz vom Gesetz freimachende Evangeliumsoffenbarung.« (II, 16) Damit ist der Sachgrund für die Unterscheidung von Dogmatik I und Dogmatik II in Hirschens System im wesentlichen benannt. Was nach traditioneller Nomenklatur Gesetzesoffenbarung heißt, beschreibt Dogmatik I als menschliches Gottesverhältnis nach allen seinen lebendigen inneren Beziehungen und zwar unter Konzentration auf das Selbstverständnis des Menschen der abendländischen Moderne. Dass es sich dabei um ein Offenbarungskapitel handelt, ist Hirsch ebenso wenig zweifelhaft wie die Tatsache, dass die feste Bestimmung von Gesetzesoffenbarung in Bezug auf das in Dogmatik I Behandelte erst mit der im Glauben verstandenen Evangeliumsoffenbarung entsteht21, welche Dogmatik II bedenkt. Kann die Gesetzesoffenbarung ihre Tiefenwirkung also nur in Zusammenhang der Evangeliumsoffenbarung recht und heilsam erzielen, so bleibt ihr gleichwohl ihre Unterschiedenheit von dieser erhalten, sofern sie das Humane nicht verwandelt, sondern, wie gesagt, vertieft in sich selbst. Die von der Gesetzesoffenbarung geförderte Vertiefung des Humanen in sich selbst erreicht ihr Äußerstes in der erschlossenen Einsicht menschlicher Selbstbezogenheit, ja Selbstverschlossenheit, durch welche der Mensch sich selbst ganz und gar fraglich wird bis hin zur Verzweiflung an sich selbst. Um es am Wahrheitsbewusstsein des Menschen als dem Gewissenszentrum seines Selbstverständnisses zu verdeutlichen: »Das menschliche Wahrheitsbewusstsein, wo es sich selbst bis ins Letzte versteht, hat sein Verhältnis zur Wahrheit allein in der Antinomie, daß es das Absolute zugleich als seinen Grund und seine Grenze weiß.« (I, 167) Und weiter : »Jeder Versuch, empirisch oder spekulativ, kritisch oder anerkennend, einen Grund aufzuweisen, in dem 21 Sie bringt, wie gesagt wird, das menschliche Gottesverhältnis gewissermaßen »zum Stehen, indem sie eine es in seinem Sinn begrenzende letzte Deutung ausspricht« (II, 17). Hinzugefügt wird: »Luther hat einen zwiefachen Brauch des Gesetzes unterschieden, den ›bürgerlichen‹ und den ›heiligen‹ … Der ›bürgerliche‹ Brauch führt auf das, was hier das das menschliche Miteinandersein bestimmende, an der geschichtlichen Wirklichkeit mächtige Gesetz des Lebens genannt ist; der ›heilige‹ Brauch geht auf das, was hier als die eigentliche Gesetzesoffenbarung nach ihrer Wahrheit und Unwahrheit geschildert ist. Der sogenannte dritte Brauch des Gesetzes, den Melanchthon und Calvin unsrer Theologie beschert haben, ist entweder eine bloße Erinnerung daran, daß der erste Brauch des Gesetzes wie jeden Menschen, so auch den Christen trifft, oder aber ein Mißverständnis, durch das das Evangelium unter das Gesetz gefangen gelegt, d. h. seines Sinnes beraubt wird.« (II, 17 f) Für die Zuordnung von ersten und zweiten Gebrauch des Gesetzes ist für Hirsch entscheidend, dass in, mit und unter der endlichen Wahrnehmung des Lebenssinns ein unendlicher und unerschöpflicher Sinn aufgeht, wie er in der Begegnung mit dem Heiligen erlebt wird: »Das unendliche Gerufensein zu Ehre, durch und durch, im Gewissen, und das unendliche Gefordertsein zur Liebe.« (II, 19)

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der antinomische Zusammenhang unseres Wahrheitsbewusstseins mit dem Absoluten durchschaut und beherrscht werden kann, verfällt als an Form und Bewegung des Denkens teilhabend seinerseits der Antinomie. So gewiss nun aber das menschliche Wahrheitsbewusstsein seine Tiefe darin hat, Selbstverständnis des ganzen Menschen in seinem Verhältnis zur Wahrheit zu sein, so gewiss drückt diese Antinomie das Verhältnis nicht bloß des Denkens, sondern des ganzen menschlichen Wesens und Lebens zum Absoluten aus. Sie ist also Erkenntnis des den Inhalt und die Richtung allen lebendigen Menschseins bedingenden Grundgesetzes, das Verhältnis zum Absoluten als Widerspruch im Lebensgrunde zu besitzen. Eine unbefangene Analyse der Grundlagen des abendländischen Wahrheitsbewusstseins endet in der Aufdeckung, daß das menschliche Denken und Leben am Verhältnis zu Gott seinen es zugleich tragenden und verzehrenden Grund hat, in dem ihm Wahrheitsmacht und Daseinserfüllung in unvollendbarer Bewegung zweideutig schweben.« (Ebd.)22 Der durch äußerste Selbsterkenntnis, wie die Gesetzesoffenbarung sie bewirkt, in sich vertiefte Mensch nimmt Gott als Grund und Abgrund seiner selbst und sich selbst in offenbarer Verborgenheit als sich gegeben und entzogen zugleich wahr. Von dieser Antinomik, die es wirksam werden lässt, kann das Gesetz nicht befreien, sondern nur die Offenbarung des Evangeliums, deren unaufhebbaren Unterschied zur Gesetzesoffenbarung Hirsch mit Nachdruck betont. »Die Doppelheit von Evangeliumsoffenbarung und Gesetzesoffenbarung ist ein so unerhörtes Paradoxon, dass immer wieder der Versuch gemacht wird, die Zurückführung auf eine Seite vorzunehmen. Dies 22 Hirsch verbindet diese Feststellung mit Merksätzen, die für seine eigene Stellung in der Geistesgeschichte des Abendlandes höchst charakteristisch sind. Zum einen wird betont, dass es die kantisch-idealistische Philosophie gewesen sei, die das Verhältnis zum Absoluten als das entscheidende Fragmal menschlichen Wahrheitsbewusstseins aufgedeckt habe. Ihr weiß sich Hirsch begrifflich verpflichtet, auch wenn seine Analyse nach eigenem Bekunden sachlich auf dem Boden der dialektischen Kritik Kierkegaards an der kantisch-idealistischen Philosophie steht. Mit dieser Kritik verbindet sich eine Absage an Hegels Begriff des absoluten Geistes und dessen Versuch, die Antinomie menschlichen Wahrheitsbewusstseins spekulativ zu meistern. Aber auch eine positivistisch-materialistische Absage an das Grundproblem menschlichen Daseins kommt für Hirsch nicht in Frage. Gegenüber dem Positivismus und dem Materialismus hat die kantisch-idealistische Philosophie den bleibenden Vorzug, eine Einsicht in das antinomische Grundgesetz menschlichen Denkens nicht von vorneherein zu verstellen. Hirsch legt in diesem Zusammenhang Wert auf die Feststellung, dass sich seine Idealismuskritik grundlegend »von den theologischen Kindereien (unterscheidet), die 1918 – 33 gegen den deutschen Idealismus so gern ins Feld geführt wurden: dieser theologische Kinderkreuzzug hat das Denken nur in die Sklaverei Afrikas, d. h. des Nihilismus geführt.« (I, 169) Die größte geistesgeschichtliche Nähe empfindet Hirsch zweifellos zu Kierkegaard, dem er mit der These folgt, die Antinomie sei die einzige Möglichkeit, vom Absoluten vernünftige Aussagen menschlichen Wahrheitsbewusstseins zu machen. Das Absolute ist ein Grenzbegriff, zu dem wir uns als dem Letzten unserer Erkenntnis im Widerspruch dergestalt verhalten, als uns dieses Letzte zugleich als stets erkannt und nicht erkannt gelten muss. »Der Idealismus verleugnet, wenigstens als System, die eine Seite des Widerspruchs, der agnostische Positivismus die andere.« (I, 170)

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kann dann aber nur die Gesetzesoffenbarung sein.« (II, 20) Eine solche Reduktion ist heillos und zwar auch und gerade dort, wo das Evangelium als Umweg zur Erfüllung des Gesetzes und als bloße Bedingung von deren Realisierungsmöglichkeit verstanden wird. Dem wird entgegengehalten, dass die Evangeliumsoffenbarung die Wahrheit der Gesetzesoffenbarung gerade darin bestätigt, dass sie ihr als ganzer die Macht nimmt. »Sie bestätigt die an der Heiligkeit Gottes aufgehende Wahrheit der Selbsterkenntnis, aber sie verneint, daß Gott Zornes- und Verderbensmacht sei nach seinem wahren letzten Wesen, und sie verneint, daß wir die Scheidung von ihm durch unser uns Heiligen im Tun des Gesetzes überwinden sollen.« (Ebd.) Ist das der Fall, »dann kann die Evangeliumsoffenbarung nicht dem Kreise menschlich-geschichtlichen Lebens zugehören« (ebd.). Sie ist nicht lediglich vertiefende, sondern verwandelnde Offenbarung, und als verwandelnde Offenbarung nicht lediglich eine Idee, sondern eine Wirklichkeitsmacht, welche der Wirklichkeitsmacht des Gesetzes mächtig ist. »Von dem allen her ist das ›Doppelte‹ der Evangeliumsoffenbarung zu interpretieren: a) Sie hat den einfachen Inhalt, dass Gott der Vater ist, der uns in sich umsonst hinschenkender Liebe an seinem Leben und seiner Wahrheit Teil haben lässt, und dies, im Kontrast zur Selbsterkenntnis, die bestätigt wird, und im Gegensatz zum Teufelskreis, der durchbrochen wird, ist das Ganze. b) Sie ist verknüpft mit der Begegnung mit Jesus: Er ist der, in dem diese göttliche Vaterliebe für uns da ist; mit ihm ergreift uns das das Gewissen verwandelnde, unser menschliches Sein vor Gott uns in die Gnade stellende Licht der neuen Gotteserkenntnis.« (II, 21) Einen Beweis, dass dem so ist, kann und will Hirsch nicht geben. »Wenn man fragt, wie willst du alle diese Behauptungen beweisen?, so antworte ich: gar nicht. Ich will eine Wirklichkeit vernehmlich machen, die dem Glauben aufgeht, und damit gut. Es muß geschehen. Ich kann nur deutlich den inneren Zusammenhang klarmachen, den mein Verständnis von Gott, Mensch, Welt und mir selbst in mir hat, wenn ich an das Evangelium glaube.« (II, 21) Dieser innere Zusammenhang ist, wie eingangs gesagt wurde, ein Zusammenhang nicht synthetisierbarer Differenz, deren Antithetik begrifflichlehrhaft nicht zu beheben, sondern als von Gott behoben nur in der Gewissensgewissheit des Glaubens einen einigen Sinn ergibt. Das menschliche Leben als widersprüchliches Verhältnis zum Absoluten ist Leben im Widerspruch zu sich selbst. Dieses wird durch das Gesetz offenbar, wobei gilt, dass zwischen Schöpfung und Sünde theologisch wohl zu unterscheiden, aber faktisch nicht zu trennen ist, weil der Mensch, wie er sich vorfindet, das Verhältnis beider realiter nicht als Differenz festhält und festzuhalten in der Lage ist. In Bezug auf den Menschen zwischen Geschöpf und Sünde beständig und heilsam zu differenzieren, vermag nur das Evangelium, welches den Sünder aus Gnade um Christi willen durch Glauben rechtfertigt und einen Prozess der Heiligung eröffnet, der zwar die Dialektik von Gesetz und Evangelium grundsätzlich keineswegs hinter sich lässt, ihrem Vollzug aber einen

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

eindeutigen, eben evangelischen Richtungssinn gibt. »Gericht ist das den Menschen im sich Vernehmen mit der Gewalt des ausschließenden Nein erschütternde göttliche Wort, das ihm die Entzweiung mit Gott in der Schuld zum Lebensstande macht: es vollzieht sich mit der Gesetzesoffenbarung. Gnade ist das den Menschen im sich Vernehmen vor Gott mit der Vollmacht des annehmenden Ja aufrichtende göttliche Wort, das ihm die Geborgenheit bei Gott in der Vergebung zum Lebensgrunde macht: sie schenkt sich mit der Evangeliumsoffenbarung. Echte Versöhnung kann nun darinnen dem Herzen und Gewissen nicht anders gegenwärtig sein als so, dass es in der nie vollendbaren Bewegung von der Gnade Gottes durch das Gericht Gottes hindurch zur Gnade Gottes sich dennoch ganz mit Gott versöhnt findet: denn das Evangelium gibt die Freiheit vom Gesetz zugleich mit der Vertiefung in die vom Gesetz erwirkt werdende Durchsichtigkeit des Menschseins vor Gott … Und tatsächlich wird mit jener Bewegung trotz ihrer Unvollendbarkeit das Nein, das die Gottes- und Selbsterkenntnis unter dem Gerichte hat, insofern mit in den von der Gnade gewährten Versöhnungsglauben hineingenommen, als die Gnade das Gericht gleichsam von rückwärts her als heimliche Güte des mich in sich bergenden Gottes enthüllt und es damit in seinem Sinn aus einer todbringenden zu einer dem Leben den Weg bereitenden Macht verwandelt.« (II, 35 f)

2. Gericht und Gnade als Selbstmitteilung Gottes Fallbeispiele aus dem Kontext der Dialektischen Theologie 2.1. Der Mensch im Widerspruch und der Zuspruch des Evangeliums bei Emil Brunner Wie Karl Barth ist Emil Brunner erklärter Offenbarungstheologe. Seine Dogmatik, die in den Jahren 1946 – 1960 in drei Bänden erschienen ist,23 versteht sich durchweg als Lehre von der Selbstmitteilung Gottes. Nachdem in den Prolegomena Grund und Aufgabe der Dogmatik bestimmt wurden, bedenkt ein erster Teil in zwei Abschnitten über das Wesen Gottes und seine Eigenschaften sowie über den Willen Gottes den Grund der göttlichen Selbstmitteilung. Die geschichtliche Verwirklichung der göttlichen Selbstmitteilung wird in einem zweiten Teil schöpfungstheologisch-christologisch entfaltet. Ein dritter Teil begreift in ekklesiologisch-soteriologischer Hinsicht die Selbstmitteilung Gottes als seine Selbstvergegenwärtigung durch den 23 E. Brunner, Dogmatik I. Die christliche Lehre von Gott, Zürich 41972 (= I); Dogmatik II. Die christliche Lehre von Schöpfung und Erlösung, Zürich 31972 (= II); Dogmatik III. Die Lehre von der Kirche, vom Glauben und von der Vollendung, Zürich/Stuttgart 21964 (= III). Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf.

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Gericht und Gnade als Selbstmitteilung Gottes

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Heiligen Geist. Beschlossen wird das Werk mit einem vierten Teil zur eschatologischen Vollendung der göttlichen Selbstmitteilung in der Ewigkeit. Brunner folgt mit diesem Aufriss, wie er selbst sagt, »unter Verzicht auf alle Eigenheiten, im großen ganzen der Ordnung der Loci thelogici, die seit Petrus Lombardus das Gerüst der christlichen Dogmatik bildet und die auch, im wesentlichen, vom Meister reformierter Theologie, von Calvin, übernommen wurde. Sie hat sich mir immer wieder als in der Sache begründet erwiesen.« (I,8) Gott wird nur erkannt und kann nur erkannt werden, wo er sich selbst und von sich aus zu erkennen gibt. Offenbarung als Selbstmitteilung und Selbstenthüllung Gottes ist Voraussetzung aller Gotteserkenntnis. Dabei ist die Offenbarung Gottes nach Brunner in sich different, also eins und vielfältig zugleich. »Es ist beides wichtig: zu wissen, daß Gott sich schon von Anfang an in seiner Schöpfung geoffenbart hat, daß wir das aber erst und einzig durch seine Offenbarung in Jesus Christus recht zu erkennen vermögen. Es ist wichtig, zu wissen, daß wir Menschen von allem Anfang an in und zu diesem Bilde geschaffen sind und daß durch keine Sünde diese ursprüngliche Bestimmung des Menschenwesens ausgetilgt werden kann. Aber ebenso wichtig ist das andere: daß wir nur in Jesus Christus diese unsere ursprüngliche Bestimmung erkennen und daß nur durch ihn dieses Bild in uns verwirklicht wird, jetzt unvollkommen, dann aber vollkommen.« (I, 31) Es ist nach Brunner kennzeichnend für die göttliche Offenbarung in Jesus Christus, dass es sich bei ihr nicht, jedenfalls nicht primär um Lehrmitteilung oder Mitteilung von Sachverhalten, sondern um persönliche Selbstmitteilung handelt. Nicht »etwas« wird in der Christusoffenbarung mitgeteilt, sondern das göttliche Du teilt sich auf personale Weise selbst mit. Im Wort Gottes, das Jesus Christus in Person ist, offenbart sich Gott als er selbst. »Gott selbst ist jetzt da, nicht mehr nur ein Wort von ihm.« (I, 33) In der personhaften Selbstvergegenwärtigung Gottes in Jesus Christus ist das alttestamentliche Verheißungswort in Erfüllung gegangen, indem es personale Gestalt annahm und eben dadurch ein personales Gottesverhältnis ermöglichte. »Die Beziehung ist jetzt ebenso personal geworden wie der, dem sie zugewendet ist, eine Person ist. Es geht jetzt nicht mehr um ein Wortverhältnis, sondern um ein Personverhältnis, nicht mehr um ein ›es Glauben‹, sondern um ein ihm Vertrauen, zu ihm Kommen, mit ihm Verbundensein, sich ihm Hingeben. Offenbarung und Glaube hat jetzt den Charakter der Person-begegnung, der Person-gemeinschaft.« (I, 36) Weil es in ihm um ein personales Geschehen geht, kann über das Ereignis der Offenbarung nach Brunner recht eigentlich nur im Modus der Erzählung gelehrt bzw. so gelehrt werden, dass die Doktrin aus der narrativ präsenten Offenbarungsgeschichte hervorgeht. »Das Wort Gottes verkünden, das heißt im Neuen Testament in erster Linie von Jesus, von seinem Leben und Reden, von seinem Leiden, Sterben und Auferstehen berichten. Solange das Bewusstsein für diesen Sachverhalt lebendig ist, ist der Begriff ›Wort Gottes‹ nicht in Gefahr, intellektualistisch-orthodox mißver-

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standen zu werden. Umgekehrt, wo die Lehre die biblische Erzählung verdrängt, da ist das orthodox-intellektualistische Missverständnis bereits geschehen.« (I, 45 f) Missverstanden wäre das Tatwort des Offenbarungsgeschehens nach Brunner indes ebenso, wenn die Geschichte dieses Geschehens in erster Linie in Faktizitäten und historisch zu vergegenständlichenden Tatsachen gesucht würde; Geschichte bedeutet für Brunner primär nicht Historie, sondern die Geschichtlichkeit des Personalen, in welchem sich ein Du einem Ich erschließt, um ihm Antwort und Verantwortlichkeit zu ermöglichen.24 Ansprechbarkeit lautet demgemäß ein zentrales Stichwort von Brunners offenbarungstheologischer Anthropologie. Was es bedeutet, ist nun in Bezug auf den zweiten Teil von Brunners Dogmatik zu erörtern, welcher der geschichtlichen Verwirklichung der göttlichen Selbstmitteilung gewidmet ist und Schöpfungslehre, Sündenlehre und Christologie umfasst. Wie für die Dogmatik insgesamt, so ist auch für Brunners Lehre von der Schöpfung die Offenbarungslehre grundlegend. Da aber Jesus Christus die vollendete Offenbarungsgestalt Gottes ist, hat die Schöpfungslehre sich primär am Neuen Testament und erst sekundär an der alttestamentlichen Genesis zu orientieren. »In Jesus Christus begegnen wir dem, der uns als der unbedingte Herr, darum als der Schöpfer aller Dinge anredet: Ich, dein Herr, der Schöpfer.« (II, 19) Damit ist nach Brunner »nicht gesagt, dass die Erkenntnis meines Geschaffenseins der des Geschaffenseins der Welt vorangehe. Mein Herr – das ist der Schöpfer schlechthin, nicht nur der Schöpfer meiner Existenz. Indem ich in Jesus Christus meinem Herrn begegne, begegne ich dem, der aller Welt Herr ist. Indem er sich mir als ein ›mein‹ Herr offenbart, offenbart er sich als der, der alles bedingt und von nichts bedingt ist.« (Ebd.) Insonderheit durch die Lehre von der creatio ex nihilo wird das unbedingte Herrsein des Schöpfergottes unterstrichen. Die Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts macht zugleich deutlich, dass die von Gott geschaffene Welt samt aller Kreatur als bedingtes Sein vom Sein Gottes grundverschieden ist. »Alle Unterschiede innerhalb des geschaffenen Seins, lebendig und tot, frei und unfrei, menschlich und nichtmenschlich, sind geringfügig im Vergleich zu dem Unterschied zwischen dem ungeschaffenen Sein Gottes und dem geschaffenen Sein, zwischen Gott und Welt. Jene Unterschiede sind relativ, diese absolut. Und doch ist diese Kreatur als Werk des Schöpfers, der sich in ihr verherrlichen und mitteilen will, nicht ohne Ähnlichkeit mit dem göttlichen Sein.« (II, 32) Diese – unbeschadet anzunehmender Grundverschiedenheit – 24 In seinem Werk »Wahrheit als Begegnung« von 1938 hat Brunner dies im einzelnen entfaltet und das christliche Wahrheitsverständnis im Verhältnis zum philosophisch-wissenschaftlichen näher zu bestimmen gesucht. Der christliche Wahrheitsbegriff steht danach im Gegensatz sowohl zum naturalistisch-positivistischen als auch zum idealistisch-spekulativen, weil er weder ein durch Vergegenständlichung Fassbares, noch ein zeitloses Wesen zum Inhalt hat, sondern ein geschichtliches Personereignis. Wahrheit ist nur im Modus geschichtlicher Personbegegnung und lässt sich daher nur personal-geschichtlich erfassen. Wahrheit ereignet sich als Begegnung.

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gegebene Ähnlichkeit göttlichen und kreatürlichen Seins namhaft zu machen, ist der festzuhaltende Sinn der Lehre von der »analogia entis« und ihr bleibendes Eigenrecht gegenüber einer »analogia fidei«. »Das Prinzip der analogia entis ist, nachweisbar, die stets in Anspruch genommene Voraussetzung auch derjenigen Theologie, die dies und die das Analogieprinzip selbst leugnet und die darum, weil sie dies leugnen will, die biblisch bezeugte Schöpfungsoffenbarung leugnen muss. Die analogia fidei kann nicht die analogia entis ersetzen, weil sie diese in jedem Punkt voraus-setzt.« (II, 35) Es sei ein Grundschaden der Theologie Karl Barths, dies übersehen bzw. konsequent ignoriert zu haben. In dem ihm eigenen chirurgischen Temperament habe er mit dem Krebsgeschwür einer von der Offenbarungstheologie abgehobenen und isolierten »theologia naturalis« »auch noch viel gesundes Gewebe (herausgeschnitten), um nur ja sicher zu gehen« (II, 55). Barth verkenne, dass auch derjenige Gebrauch, den seine analogia-fidei-Lehre vom Analogieprinzip mache, die Gleichnisfähigkeit des geschaffenen für das ungeschaffene Sein in Anspruch nehme. »Wir können von einem ›Wort‹ Gottes, von einem ›Denken‹ oder ›Wollen‹ Gottes nur darum reden, weil das göttliche Reden – bei aller Unähnlichkeit – eben doch dem menschlichen Reden ähnlich ist, eben so wie das göttliche Personsein dem menschlichen Personsein – bei aller Unähnlichkeit – ähnlich ist, so dass wir beide Male das selbe Wort, ›Reden‹, ›Person‹, gebrauchen dürfen.« (Ebd.) Brunners Lehre von den Schöpfungsordnungen und von der natürlichen Schöpfungserkenntnis in ihrem Verhältnis zur Offenbarungserkenntnis unterstreicht dies. Auch unter hamartiologischen Bedingungen bleibt die »cognitio Dei naturalis« ein vorausgesetztes Implikat der Schöpfungserkenntnis. Man kann, wie es heißt, »die durch die Sünde bewirkte Verdunkelung der Erkenntnis sowohl überschätzen als auch unterschätzen. Es ist ein unberechtigter Pessimismus, wenn man behauptet, der sündige Mensch könne als solcher überhaupt nichts recht erkennen. Ein solcher Sündenpessimismus entspricht weder dem biblischen Zeugnis noch der Erfahrung. Ebenso ist es ein unberechtigter Optimismus, wenn man in Sachen der Erkenntnis die Bedeutung der Sünde überhaupt ignoriert oder leugnet. Eine undifferenzierte generalisierende Aussage ist im einen wie im anderen Fall unrichtig.« (II, 38) Richtig hingegen ist, dass die Offenbarungserkenntnis die sog. natürliche Schöpfungserkenntnis einerseits voraussetzt, andererseits in sich aufhebt, ohne welche Aufhebung die Schöpfungserkenntnis allerdings als lediglich formal und abstrakt beurteilt werden müsste. Brunners Imago-Lehre versucht dies näherhin zu verdeutlichen. Die Grundannahme ist folgende: Auch unter, wenn man so will, postlapsarischen Bedingungen bleibt der Sünder Gottes Kreatur und als solche mit einer strukturell-formalen Gottebenbildlichkeit ausgestattet. Diesen strukturellformalen Imago-Begriff, wie er im alttestamentlichen Zeugnis überwiege und im Neuen Testament explizit in 1Kor 11,7 und Jak 3,9 begegne, steht der inhaltlich-materiale gegenüber, wie er im Neuen Testament bestimmend sei

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und in Röm 8,29; 2. Kor 3,18, Eph 4,24 und Kol 3,10 ausdrücklich werde. Der strukturell-formale Imago-Begriff soll als Bezeichnung für etwas gelten, »was den Menschen immer, unverlierbar auszeichnet, was vom Gegensatz SündeGlaube nicht betroffen ist« (II, 89). Damit will Brunner nicht eine in sich bestehende Vernunftnatur des Menschen assoziiert wissen, sondern allein die in der unverlierbaren kreatürlichen Gottesbeziehung gründende Verantwortlichkeit des Menschen, sein verantwortliches Personsein als solches. Zu ergänzen ist, »daß das Bestehen einer bloß formalen Verantwortlichkeit ohne gleichzeitige materiale Erfüllung durch die Gottesliebe als Folge des Sündenfalls aufgefaßt wird« (II, 91). Die Rede von einem postlapsarischen ImagoRest lehnt Brunner infolgedessen als bloße Verlegenheitslösung ab, welche mit einer rein quantitativen Größe rechne und der qualitativen Unterscheidung von formaler und materialer Imago nicht gerecht werde. Dies sei nur dann der Fall, wenn die Imago als eine Relationsstruktur erfasst und aus der menschlichen Gottesbeziehung bzw. der Beziehung Gottes zum Menschen heraus begriffen werde. Es fällt uns schwer, sagt Brunner, »Struktur und Relation in eins zu setzen. Und doch ist eben dies gerade das Einzigartige des Menschseins, daß seine Struktur eine Relation ist: Verantwortliches Sein, responsorische Aktualität. Das biblische Zeugnis aber ist in diesem Punkte unerbittlich konsequent; es kennt keinen anderen Menschen als den, der ›vor Gott‹ steht, auch dann, wenn er ein Gottloser ist. Daß der Mensch, seine Freiheit mißbrauchend und seine Verantwortlichkeit leugnend, Gott den Rücken kehrt, bedeutet keineswegs, daß er dann nicht mehr ›vor Gott‹ steht. Im Gegenteil, er steht dann vor Gott als Sünder, er steht dann verkehrt vor Gott und darum ›unter dem Zorn Gottes‹.« (II, 72) In diesem Sinne hebt »der Verlust der Imago im materiellen Sinn nicht die Verantwortlichkeit, also nicht das vor Gott Stehen und also auch nicht das Menschsein auf … Nur Menschen können Sünder sein; zum Sündersein ist durchaus das erforderlich, was den Menschen vor dem Tier auszeichnet. Der Verlust der Imago im materialen Sinne setzt die Imago im formalen Sinne voraus. Sünder sein ist der negative Modus des Verantwortlichseins.« (Ebd.) Damit ist zugleich gesagt, dass die Differenz von formaler und materialer Gottebenbildlichkeit ein hamartiologisches Datum ist, das von Gott aus nicht besteht. »Die formale Freiheit, von der materialen Freiheit, vom Sein in Gottes Liebe, losgelöst, ist bereits eine Folge der Sünde. Der Mensch sollte von seiner Freiheit nicht anders wissen als in der Gestalt der freien Gottesliebe. Daß er von ihr als Wahlfreiheit weiß, ist bereits Wirkung der Sünde, der Loslösung von der Gebundenheit Gottes.« (II, 73) Kurzum: Die Scheidung formaler und materialer Imago besteht theologisch nicht zu Recht. »Aber sie besteht – zu Unrecht.« (Ebd.) Die Sündenlehre Brunners bestätigt diesen Sachverhalt, der recht eigentlich kein Sachverhalt, sondern eine Elementarwirklichkeit personaler Gott-Mensch-Beziehung ist. Brunners Hamartiologie ist, wenn man so will, Theorie der mit der Differenz von formaler und materialer Imago gesetzten Scheidung Gottes und des Menschen.

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Als hamartiologischer Grundsatz gilt: Sünde ist Personsünde. Als solche wird sie in ihrer abgründigen, die Gottesbeziehung verkehrenden Verkehrtheit erst in der personalen Christusbegegnung und nicht schon unter prächristologisch-alttestamentlichen Bedingungen erkannt, welche lediglich die Zurechenbarkeit der Sünde als Schuld gewährleisten. Eben darauf ist – wie seine Lehre von der formalen Imago – auch Brunners Gesetzeslehre abgestellt (vgl. II, 231 – 248 sowie 131 – 133). Die Scheidung des Gesetzes vom Evangelium ist heillos, weil im vom Evangelium geschiedenen Gesetz der Wille Gottes wesentlich als richtender Unwille begegnet. Die Gesetzeslehre ist sonach eine Funktion der Hamartiologie, in der die Schöpfungslehre nur mehr im Modus des Vergehens vorhanden ist. Dass die Schöpfung auch im Modus des Vergehens noch als vergangene sich präsentiert, wie dies der vom usus elenchticus zu unterscheidende usus politicus legis voraussetzt, ist zwar wahr und theologisch festzuhalten, ohne deshalb einen beständigen soteriologischen Anhalt zu gewähren. Denn der usus politicus legis bringt nichts anderes zur Geltung als die Formalität der formalen Imago Dei, welche zwar die Zurechnungsfähigkeit menschlicher Sünde als Schuld, nicht aber ein reales Heilsvermögen des sündigen Menschen bezeichnet. Heilsames Schuldbewusstsein, welches Sündenerkenntnis zum Sündenbekenntnis werden lässt, kann entsprechend nur das Evangelium eröffnen, welches, indem es die Realität materialer Imago als die wahre Bestimmung des Menschengeschöpfes erschließt, zugleich die Einsicht in die Verkehrtheit einer bloß formalen Imago und deren Überwindung bewirkt.25 25 Was die Durchführung der Sündenlehre in der Dogmatik Brunners betrifft, seien nur noch die einzelnen Momente benannt, die seine Hamartiologie bestimmen: Sünde als Rebellion, als personhafter Akt der Abwendung von Gott, als Totalakt, als universelle Größe, als peccatum originale, als Dämonie. Zu den Tatsünden bemerkt Brunner, dass der Sünder zwar grundsätzlich fähig sei, »jede Einzelsünde zu vermeiden. Was er aber nicht kann: kein Sünder sein. Das Sündersein zieht nicht mit Notwendigkeit die einzelnen Sünden hinter sich her ; jede einzelne Sünde ist an sich vermeidbar. Wird sie doch getan, so vermehrt sich der sündige Zwang. Wird sie vermieden, so erweitert sich die moralische Freiheit. Nie aber wird der sündige Zwang der absoluten Unfreiheit, nie wird die moralische Freiheit zur Freiheit, kein Sünder zu sein. Der Bereich einer justitia civilis wird denn auch in der Bibel ausdrücklich auch dem sündigen Menschen ausgespart. Es gibt diese Freiheit; sie darf nicht um das non posse non peccare willen geleugnet werden. Die Sünde hat nicht jede, sie hat aber die zentrale Freiheit vernichtet, die Freiheit, Gott so zu antworten, wie er es haben will. Darum ist vor Gott jeder ein Sünder und alles, was einer tut, sagt oder denkt, sündig.« (II, 124 f) Die Folgen der Sünde sind Implikat ihrer Verkehrtheit. »Dem ›verkehrten‹ Menschen ist Gott ›verkehrt‹ gegenwärtig.« (II, 130) Der sündige Mensch existiert im Widerspruch. Was aber die Übel und den Tod anbelangt, so sind sie nach Brunner auf eine undurchschaubare zwar, aber gleichwohl nicht zu leugnende Weise mit der Sünde verbunden. Ist es, fragt Brunner, eingedenk göttlicher Providenz »unerlaubt zu denken, daß der Schöpfer eine solche Welt geschaffen habe, wie sie einem sündigen Menschen entspricht? Ist nicht eine Welt, in der es, von Anbeginn an, seit es in ihr lebende Wesen gab, auch den Kampf ums Dasein mit seinen Leiden und seiner ›Grausamkeit‹ gibt, ein zum sündigen Wesen passender Schauplatz? Wir wagen nicht zu behaupten, es sei so. Noch weniger haben wir Grund zu sagen, es sei nicht so. Diese Spekulation ist gewiss nichts, was als kirchliche Lehre gelten kann; ist sie deswegen etwas, was wir nicht denken dürfen?« (II, 145) Brunners Lehre von

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Das Wesen des wirklichen Menschen ist nicht nur widersprüchlich, sondern Widerspruch gegen Gott. Die Aufhebung dieses Widerspruchs, der zugleich einen Widerspruch zwischen dem wirklichen und dem wahren Menschsein darstellt, ist – wie schon sein angemessenes Begreifen – nur vom Evangelium her möglich, welches Jesus Christus in Person ist. Im Anschluss an seine Lehre von Gottes Vorsehung, Welterhaltung und Weltregierung sowie an zwischengeschaltete Passagen u. a. zu Geschichte und Heilsgeschichte, die je auf ihre Weise die mit dem differenzierten Zusammenhang formaler und materialer Imago gegebenen Folgeprobleme bedenken, entwickelt Brunner seine Christologie auf der Basis jenes doppelten Zeugnisses, auf welcher der Christusglaube nach seinem Urteil gründet: »ein Bild des Lebens Jesu, ungewiß in manchen Einzelheiten, deutlich in der Hauptsache, und ein Bestand an Lehren über Jesus, den Christus, von Jesus selbst anhebend bis zur vollen Christologie des Neuen Testamentes und deren weiterer Interpretation der Kirche. Dieses doppelte Zeugnis ist der objektive Grund des Glaubens. Ohne dieses Zeugnis wird kein Mensch ein Christ, und zwar ohne dieses doppelte Zeugnis. Es ist beides gleich falsch, sich nur an das Lebensbild, den sog. historischen Jesus, halten zu wollen, als auch das entgegengesetzte, die Christuslehre allein als entscheidend gelten zu lassen.« (II, 271) Die innere Einheit des doppelten Zeugnisses, auf welchem der Christusglaube gründet, gilt Brunner als ausgemacht: »Der Jesus des Neuen Testaments ist kein anderer als der Christus des Glaubens. Das geschichtliche Bild Jesu stimmt mit dem Apostelzeugnis vom Christus zusammen. Nicht der, der diesem Anspruch Jesu zustimmt und gehorsam ist, sondern der, der ihm widerspricht, muss Gründe angeben, und seine Gründe sind niemals wissenschaftliche, sondern lediglich weltanschauliche.« (II, 274 f) Als Kriterium rechter Christuserkenntnis fungiert dabei das Bewusstsein der Sündenschuld. »An diesem Punkt entscheidet sich der Christusglaube. Nur dieses eine ist, letztlich, maßgebend dafür, ob man an ihn glaubt oder nicht glaubt: ob man sich als Sünder weiß, der der Vergebung der Sünden bedarf, oder ob man selbst mit seiner Sünde fertig zu werden glaubt. Wer an Jesus den Christus nicht glaubt, tut es darum, weil er letzten Endes ohne einen Erlöser auskommt, weil sich selbst genug ist. Wer aber erkennt, dass er ein Sünder ist, der eines Erlösers bedarf, der anerkennt den Anspruch Jesu, dieser Erlöser zu sein.« (II, 275) Indem er sich selbst verkennt, verstellt sich der Unglaube die Erkenntnis Christi, durch welchen der Glaube zur rechten Selbsterkenntnis geführt wird. »Jesus kann als die Personoffenbarung Gottes nur darum mit voller persönlicher Gewißheit erkannt werden, weil er nicht nur Gottes wahres Sein enthüllt, sondern zugleich die Wirklichkeit und Wahrheit des menschlichen Seins. Christuserkenntnis ist zugleich Selbsterkenntnis. Jesus offenbart nicht nur, den Engelmächten und vom Satan gehört in diesen – problematischen – Zusammenhang (vgl. ferner das Werk von 1937: Der Mensch im Widerspruch).

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was Gott ist und will, sondern er offenbart zugleich, dass wir Sünder sind, dass wir mit unserem Ursprung und unserem gottgeschaffenen Wesen im Widerspruch stehen. Jesus offenbart in seiner Person beides, den wahren Gott und den wahren Menschen; und indem er den wahren Menschen offenbart, deckt er unsere unwahre Wirklichkeit, unser Sein-in-der-Unwahrheit, unser Sündersein auf. Jesus offenbart das wahre Menschsein als Sein in der Liebe Gottes. Darum erkennen wir ihn als den wahren Menschen, als den Menschen, der so ist, wie wir sein sollten. Die Liebe Gottes, die sich immer als Liebe zum Menschen manifestiert, ist das, was Jesu Leben formt. Aber diese Liebe, die das Prinzip, die Kraft ist, die sein menschliches Leben formt und bestimmt, schenkt er uns in göttlicher Vollmacht. Darin offenbart er sich als der, der aus dem Geheimnis Gottes zu uns kommt und uns das Geheimnis Gottes auftut. Er offenbart Gottes Liebe als schenkende Liebe, als un-bedingte, unbegründete Liebe, als Agape. Daß Gott diese Liebe ist, das ist der Kern der Gottesoffenbarung, die in der Person Jesu stattfindet – eine Erkenntnis, die ausserhalb der Bibel völlig unbekannt ist, und die einem Plato oder Aristoteles als wahrer Unsinn hätte erscheinen müssen. Darum aber, weil Jesus, indem er Gott offenbart, uns uns selbst offenbart, uns uns selbst so erkennen lässt, wie wir uns von uns aus nie erkennen könnten, macht er uns seine Offenbarung Gottes zur eigenen Gewißheit. Durch ihn ist unsere Selbsterkenntnis und unsere Gotteserkenntis eins.« (II, 276 f) Die Durchführung der Christologie ratifiziert diese Einsicht, wobei Brunner entgegen der traditionellen Abfolge mit der Lehre vom munus triplex Jesu Christi als der ratio cognoscendi seiner Wirklichkeit beginnt, um sodann das Persongeheimnis des Erlösers als die ratio essendi seines Wirkens zu thematisieren. Ob er damit der Komplexität der christologisch-trinitätstheologischen Traditionsbestände genügt, kann hier nicht geprüft werden.

2.2. Verzweifelte Selbstsorge und gläubige Heilsgewissheit bei Rudolf Bultmann Gottes Wort richtet und rettet, und es tut das eine, indem es das andere tut. Entsprechend ist das Wesen des Glaubens durch Gericht und Gnade zugleich bestimmt: »Was Gnade ist, kann nur der Mensch wissen, der sich als Sünder weiß. Als Sünder weiß er sich nur, sofern er vor Gott steht; er kann also auch von Sünde nur wissen, wenn er von Gnade weiß. Der Blick auf Gottes Gericht und Gottes Gnade in einem macht das Wesen des Glaubens aus. Es gibt keine Gnade als für den Sünder, keine Gnade als im Gericht. Und wie der Mensch nur sinnvoll von Sünde reden kann, wenn er sich vor Gott sieht, so auch von Gnade nur als von Gnade für den Sünder. Es gibt keinen Standpunkt auf einer einmal erreichten Einsicht, in einer einmal errungenen Haltung. Denn immer bleibt der Mensch ein Sünder und immer ist er ein Gerechtfertigter in Gottes Ur-

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teil.«26 Von dieser paradoxen, weil unpositionellen Position aus hat Rudolf Bultmann im Jahre 1924 die liberale Theologie insonderheit im Blick auf ihre Geschichtsauffassung sowie ihre Beurteilung der praktischen Stellung des Menschen in der Welt scharf kritisiert und die namentlich von Barth und Gogarten getragene jüngste theologische Bewegung freudig begrüßt. Bereits damals war die Antwort im Grundsatz formuliert, die er jahrs darauf in entfalteter Form auf die Frage gab: »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?« Von Gott als ihrem Grund redet die Theologie, »indem sie redet vom Menschen, wie er vor Gott gestellt ist, also vom Glauben aus« (GV I, 25). Theologisch von Gott zu reden, heißt, seinem Wort zu entsprechen, welches den Menschen tötet und lebendig macht, indem es ihn in seiner Selbstbezogenheit zugrunde richtet, um ihn durch alleinige Beziehung auf Gott, welche der Glaube ist, aufzurichten und zu recht zu bringen. Alle andere Rede von Gott ist nicht nur Irrtum und Wahn, sondern Sünde, mittels derer der Mensch seines Grundes habhaft und mächtig zu werden gedenkt. Um in Gott entsprechender Weise von Gott zu reden, muss der Mensch mit reuigem Gewissen die Nichtigkeit seiner selbst bekennen und zum Glaubenszeugen werden der alles bestimmenden Wirklichkeit Gottes, die nicht nur aus dem Nichts ins Sein zu rufen, sondern von den tiefsten Tiefen der Hölle in die Höhe des Himmels zu erheben vermag. Die Glaubensrede ist ein je Doppeltes in einem: Sie ist Rede von Gott als dem ganz Anderen, mit dem konfrontiert der Mensch sich als Sünder bekennen muss, der – in verzweifelter Selbstsorge begriffen – sich an Gottes Stelle zu setzen bestrebt ist; und sie ist genötigt, von Gott als demjenigen zu sprechen, der den Sünder rechtfertigt und ihm damit eine entsprechende Annahme seiner selbst als Sünder ermöglicht. Worauf beruht der Glaube und seine Nötigung von Gott zu reden? Auf der im Glauben statthabenden Bejahung des Tuns Gottes an uns, in der Antwort auf sein an uns gerichtetes Wort: »Denn wenn es sich im Glauben um die Erfassung unserer Existenz handelt, und wenn unsere Existenz in Gott gründet, d. h. außerhalb Gottes nicht vorhanden ist, so bedeutet die Erfassung unserer Existenz ja die Erfassung Gottes.« (GV I, 36) Doch lässt sich das Tun Gottes, welches den Glauben begründet und die Möglichkeit erschließt, von Gott und von uns selbst zu reden, nicht objektiv und abgesehen von der Betroffenheitssituation und der mit ihr verbundenen Entschiedenheit verobjektivieren. Es tritt als ein Ereignis völlig zufällig und völlig kontingent an uns heran, als Botschaft des Glaubens, die den Anspruch erhebt, geglaubt zu werden (vgl. GV I, 37). Damit ist bündig umschrieben, wie Bultmann den Ansatz der Dialektischen Theologie in der Weise existenzialer Interpretation zur Geltung zu bringen sucht. Die Bedeutung der »dialektischen Theologie« für die neutestamentliche Wissenschaft, die er als universitärer Lehrer hauptsächlich vertrat, hat er in 26 R. Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Erster Band (= GV I), Tübingen 21954, 1 – 25, hier : 23.

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einem gleichnamigen Beitrag von 1928 noch einmal eigens thematisiert (vgl. GV I, 114 – 133). Erneut wird betont, dass mit der Bezeichnung »dialektische Theologie« nicht ein theologisches System gemeint sein kann, »das bestimmte dogmatische Sätze enthält, die für die neutestamentliche Wissenschaft relevant wären, etwa Sätze über Sünde und Gnade, über Offenbarung und Christus, die aus einem dogmatischen Prinzip abgeleitet wären. Solche Sätze würden die neutestamentliche Wissenschaft nichts angehen, sofern diese nichts weiter will, als verstehen, was das Neue Testament sagt.« (GV I, 114) Auch wird durch die Wendung »dialektische Theologie« keine Forschungsmethode bezeichnet. Worum es in einer existenzial interpretierten dialektischen Theologie ausschließlich gehen kann, ist das Verständnis des Wortes, welches besagt, dass der wirkliche Gott wirklichen Sündern, also dir und mir, wirklich gnädig ist: »blicke ich auf mich, so sehe ich nie etwas anderes als Sünde; Gnade sehe ich nur, wenn ich auf Gott blicke, aber nicht wenn ich einen richtigen Gottesgedanken denke, sondern wenn ich mich vor und unter Gottes Gnadentat stelle.« (GV I, 117) Konkretes Ereignis, das mir aktuell begegnet, ist Gottes Gnadentat in der Geschichte Jesu, die nur dann recht verstanden wird, wenn ihre Historizität nicht zu einem vorliegenden Geschehen vergegenständlicht, sondern als eschatologisches Ereignis wahrgenommen wird. Der neutestamentliche Text »ist nicht ›Quelle‹ für Gewesenes, sondern redet, indem er von meiner Existenz redet, von mir, und ich begegne ihm nicht betrachtend und konstatierend, sondern in echter Frage- und Lernbereitschaft, und er kann mir zur Autorität werden.« (GV I, 124) Bereits in diesem Zusammenhang spricht Bultmann von einem Vorverständnis, das der Exeget unbeschadet der Forderung der Vorurteilslosigkeit seiner Exegese mitbringen muss, um den neutestamentlichen Text angemessen zu verstehen.27 Um zu fragen, was im Neuen Testament Of27 »Ist voraussetzungslose Exegese möglich?«, lautete die Überschrift eines Aufsatzes, der 1947 erschien und lange Jahre zur Standardliteratur neutestamentlicher Proseminare gehörte. Dass Exegese vorurteilslos sein müsse und ihre Erkenntnisse nicht axiomatisch voraussetzen dürfe, versteht sich nach Bultmann von selbst. Trotz der berechtigten Forderung ihrer Vorurteilslosigkeit könne es eine schlechterdings voraussetzungslose Exegese dennoch nicht geben, weil jeder Exeget »mit bestimmten Fragen bzw. einer bestimmten Fragestellung an den Text herangeht und eine gewisse Vorstellung von der Sache hat, um die es sich im Text handelt« (GV III, 142 – 150, hier : 142). Eine zwar unabdingbare, aber eher noch äußerliche Voraussetzung stellt die historische Methode dar, welche die weitere Voraussetzung einschließt, »daß die Geschichte eine Einheit ist im Sinne eines geschlossenen Wirkungs-Zusammenhangs, in dem die einzelnen Ereignisse durch die Folge von Ursache und Wirkung verknüpft sind« (GV III, 144). Indes gehört die Übersetzung des Textes in die Gegenwart ebenfalls zu den Aufgaben der historischen Wissenschaft, und damit ist das hermeneutische Problem unausweichlich gestellt. »Zum historischen Verständnis gehört das sachliche Verständnis« (GV III, 146). Ein sachliches Verständnis aber ist möglich nur, wenn ein Verhältnis des Interpreten zur Sache vorausgesetzt werden kann, welche in den Texten direkt oder indirekt zur Sprache kommt. Dieses Verhältnis ist nach Bultmann durch den Lebenszusammenhang begründet, in dem der Interpret steht. Das damit gegebene Sachverständnis nennt Bultmann Vorverständnis. Ohne solches Vorverständnis gibt es kein angemessenes Sachverständnis und zwar gerade in der geschichtlichen Wissen-

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

fenbarung heißt, muss ich vorher schon ein Wissen um Offenbarung haben. Dieses Wissen kann recht eigentlich in nichts anderem bestehen als in der Gewissheit der Ungesichtertheit menschlicher Existenz, deren im Dienste der Selbstbehauptung gestellte Sicherung nach neutestamentlichem Zeugnis Sünde ist. In dem Bewußtsein der Sorge des Daseins nehme ich die Wahrheit des Neuen Testaments wahr, wenn ich erfasse, dass ich durch das neutestamentliche Zeugnis in meiner verkehrten Sorge um mich selbst identifiziert und zugleich von ihr aus Gnade befreit bin. Damit ist die spezifische Weise, in welcher Bultmann die traditionelle Gesetz-Evangelium-Thematik strukturell rezipiert, und zugleich das Problem des Vorverständnisses bzw. des Anknüpfungspunktes seiner Wort-GottesTheologie angezeigt. Gottes Wort, welches im Dass des Gekommenseins des

schaft nicht, für deren Verstehen die Trennung von Subjekt und Objekt nicht gelte, welche für die beobachtende Naturwissenschaft Gültigkeit habe. Für die Exegese biblischer Schriften ergeben sich hieraus folgende Konsequenzen: »1) Die Exegese der biblischen Schriften muß wie jede Interpretation eines Textes vorurteilslos sein. 2) Die Exegese ist aber nicht voraussetzungslos, weil sie als historische Interpretation die Methode historisch-kritischer Forschung voraussetzt. 3) Vorausgesetzt ist ferner der Lebenszusammenhang des Exegeten mit der Sache, um die es in der Bibel geht, und damit ein Vorverständnis. 4) Das Vorverständnis ist kein abgeschlossenes, sondern ein offenes, so daß es zu einer existentiellen Begegnung mit dem Text kommen kann und zu seiner existentiellen Entscheidung. 5) Das Verständnis des Textes ist nie ein definitives, sondern bleibt offen, weil der Sinn der Schrift sich in jeder Zukunft neu erschließt.« (GV III, 149) Eine Erläuterung dieser Grundsätze und namentlich eine Erläuterung dessen, was Bultmann Vorverständnis nennt, lässt sich dem Aufsatz von 1950 über »Das Problem der Hermeneutik« (GV II, 211 – 235) entnehmen. Dort heißt es: »Voraussetzungslosigkeit hinsichtlich der Ergebnisse ist wie für alle wissenschaftliche Forschung, so auch für die Interpretation selbstverständlich und unabdinglich gefordert. Sonst aber verkennt jene Forderung das Wesen echten Verstehens schlechterdings. Denn diese setzt gerade die äußerste Lebendigkeit des verstehenden Subjekts, die möglichst reiche Entfaltung seiner Individualität voraus.« (GV II, 230) Zuvor schon war zu lesen: »Voraussetzung jeder verstehenden Interpretation ist das vorgängige Lebensverhältnis zu der Sache, die im Text direkt oder indirekt zu Worte kommt und die das Woraufhin der Befragung leitet. Ohne ein solches Lebensverhältnis, in dem Text und Interpret verbunden sind, seien Befragen und Verstehen nicht möglich, ein Befragen auch gar nicht motiviert. Damit ist auch gesagt, dass jede Interpretation notwendig von einem gewissen Vorverständnis der in Rede oder in Frage stehenden Sache getragen ist.« (GV II, 227) Dieses Vorverständnis ist mit der Fraglichkeit menschlichen Daseins gegeben, welche die Frage nach Gott in sich enthält. Eben dieses mehr oder minder explizite Wissen um Gott und um uns selbst, ist das Vorverständnis, ohne welches es ein geschichtliches Verstehen nicht gibt. Dieses Vorverständnis zu klären und in der Weise sachgemäßer Ausgelegtheit menschlicher Existenz ins allgemeine Bewusstsein zu heben, ist eine unaufgebbare Aufgabe der Philosophie und namentlich der existenzialen Analyse des menschlichen Seins, an welcher sich die Theologie Bultmanns in Kritik und Konstruktion gewiesen wusste. Das Programm der Entmythologisierung ist im wesentlichen nichts anderes als die Kehrseite dessen, was mit der existenzialen Interpretation biblischer Texte beabsichtigt war : »eine den gegenwärtigen Menschen auf sich selbst ansprechende Auslegung der neutestamentlichen Botschaft von Gottes Heilstat in Jesus Christus.« (R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung hg. von E. Jüngel, München 1985, Einleitung, 7)

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Gericht und Gnade als Selbstmitteilung Gottes

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gekreuzigten Jesus von Nazareth in eschatologischer Faktizität28 geschieht, ereignet sich je und je neu in seinem richtenden Anspruch und gnädigem Zuspruch, indem es dem Menschen ein neues Selbstverständnis vor Gott im Glauben erschließt. Verstanden werden kann die Neuheit gläubigen Selbstverständnisses, welches das Wort Gottes erschließt, nur, wenn dieses auf ein Vorverständnis des Menschen bezogen ist, an welches an anknüpft. Mit Bultmanns Beitrag über »Das Problem der ›natürlichen Theologie‹« (GV I, 294 – 312) zu reden: »ist im Glauben ein alles frühere Verstehen verwerfendes und ersetzendes Verstehen gegeben, so erhält eben jenes frühere Verstehen ein Vorverständnis. Es müsste denn sein, dass durch Offenbarung und Glaube der alte Mensch völlig vernichtet würde und ein neuer ohne Kontinuität an seine Stelle träte. … Aber gerade dieses bestreitet der Glaube, wenn er das Offenbarungsgeschehen als Vergebung der Sünde bezeichnet, denn in der Annahme der Vergebung übernimmt der Mensch seine Vergangenheit; die Vergebung setzt gerade die Kontinuität des Gläubigen als des neuen mit dem alten Menschen voraus. Er, der Mensch, ist es, der glaubt: simul peccator, simul iustus. Der Sünder ist der gerechtfertigte.« (GV I, 296) Dasselbe lässt sich auch so sagen: »Die Offenbarung kann nur in Frage stellen, was schon in Frage steht. Sie aktualisiert die Fragwürdigkeit, in der die menschliche Existenz mit ihrem 28 Sein Verständnis eschatologischer Geschichtlichkeit hat Bultmann im Neuen Testament bei Paulus und insbesondere im Johannesevangelium vorgefunden, dessen Eschatologie ein 1928 in der Zeitschrift »Zwischen den Zeiten« erschienener Aufsatz gewidmet ist (GV I, 134 – 152). Offenbarung, so das Johannesevangelium, ist krisis. Im Augenblick des eschatologischen Jetzt vollzieht sich die Entscheidung zwischen Tod und Leben. »Es ist die Stunde, die kommt und im Angesprochensein da ist.« (GV I, 144) Das eschatologische Jetzt stellt sich ein im Augenblick der Verkündigung, die den Menschen in seiner Situation betrifft. Sie, die Verkündigung, ist die echte und einzige theologische Form der Vergegenwärtigung des geschichtlichen Faktums Jesus, das in ihr jene eschatologische Bedeutung hat, ohne welche sie theologisch bedeutungslos wäre. Als historisches Faktum ist die Geschichte Jesu zweideutig. »Man kann im Aorist von ihm reden, d. h. als von einem Präteritum, und man kann im Perfektum von ihm reden, d. h. als von einer Gegenwart. Dadurch daß Jesus gekommen ist, ist er da. Aber dies perfektische Präsens seines Da-Seins wird vom Unglauben zum Präteritum des Vergangenseins, des Vorhandenseins in der Vergangenheit, gemacht.« (GV I, 146) Im evangelischen Glaubenskerygma hingegen ist die Geschichte Jesu als eschatologisch vollendetes Perfekt da. Als das, was er ist, nämlich der Herr und Grund des Glaubens, ist Jesus gegenwärtig allein in seinem Wort, das auf gehorsames Gehör aus ist, in welchem sich geschichtliches Verstehen ereignet. So sei es bei Johannes bezeugt, und auf dieses Zeugnis hin ist nach Bultmann das ganze Neue Testament ausgerichtet und auszulegen. Man vergleiche hierzu den Beitrag in den »New Testament Studies« von 1954 »Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament« (GV III, 91 – 106). Er endet mit der Feststellung: »Das Paradox von Geschichte und Eschatologie besteht darin, daß sich das eschatologische Geschehen in der Geschichte ereignet hat und sich überall in der Predigt wieder ereignet. Das heißt: Eschatologie in ihrem echten christlichen Verständnis ist nicht das zukünftige Ende der Geschichte, sondern die Geschichte ist von der Eschatologie verschlungen. Von nun kann die Geschichte nicht länger als Heilsgeschichte, sondern nur als Profangeschichte verstanden werden. Aber die Dialektik des menschlichen Seins als geschichtlicher Existenz ist ans Licht gebracht, und infolgedessen kann die Geschichte des Menschen als Person nicht länger als Funktion der Weltgeschichte verstanden werden, sondern liegt jenseits der Weltgeschichte.« (GV III, 106)

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

natürlichen Selbstverständnis immer schon steht, eine Fragwürdigkeit, die nicht eine dogmatische Etikettierung dieser Existenz bedeutet, sondern als die Unheimlichkeit des Existierens in ihr lebendig ist. Die von einer ›natürlichen Theologie‹ zu leistende Arbeit wäre eben die, aufzudecken, inwiefern die ungläubige Existenz und ihr Selbstverständnis von ihrer Fragwürdigkeit beherrscht und bewegt wird, die als solche erst dem gläubigen Daseinsverständnis sichtbar geworden ist.« (GV I, 297 f) Nur unter Voraussetzung dieses Vorverständnisses lässt sich der Ruf zum Glauben als Ruf zur Preisgabe bisherigen Selbstverständnisses verstehen. »Im Unterschied von diesem Unglauben, der in der ausdrücklichen Abweisung der Verkündigung besteht, kann die Existenz, die noch nicht von der Verkündigung getroffen ist, ja die Existenz überhaupt, sofern sie abgesehen von der Tatsache der Verkündigung ins Auge gefasst wird, als vorgläubig bezeichnet werden …« (GV I, 298). Die vorgläubige Existenz ist durch ihre Fraglichkeit gekennzeichnet, die einerseits auf die Antwort der Offenbarung hin angelegt ist, andererseits dazu neigt, sich in der Sorge um sich selbst entweder zu verzehren oder zu hochmütiger Hybris aufzuspreizen. Realisiert ist diese Neigung im Unglauben. »Ist der Glaube das Hören der Forderung Gottes in dem, durch das in ihn gesprochene richtende und vergebende Wort Gottes und durch den begegnenden Nächsten, konstituierten Augenblick, so ist der Unglaube der Ungehorsam gegen die Forderung des Augenblicks. Auch der Unglaube als das Sichverstehen des geschichtlich existierenden Daseins kennt den Augenblick. Sein Ungehorsam besteht entweder darin, daß er ihn verleugnet, oder darin, daß er ihn sich zu eigen macht. Er verleugnet ihn, indem sich der Mensch je im Jetzt an sich festhält in naivem Egoismus und in weltanschaulicher Selbstrechtfertigung. Er macht ihn sich zu eigen, wenn er ihn in der todbereiten Übernahme des Da versteht als den Ur-Augenblick, in dem das Dasein verstehend sich selbst konstituiert. Indem er also die Urbewegung des seine Freiheit gründenden Daseins wiederholend sie als die einzige Bewegung des Daseins versteht, in der es seine Eigentlichkeit gewinnt.« (GV I, 304) Anders als der Unglaube nimmt der Glaube das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders, wie es in Jesus Christus ereignet ist, wahr, um es wahr sein zu lassen für sich. Dabei ist er »in seinem eigenen Sinne als das Dasein umgestaltend nicht wahrnehmbar, er ist als das Ergreifen Gottes und als rechtfertigender Glaube kein Phänomen des Daseins« (GV I, 311). Gleichwohl sind der Glaube und der ihn fundierende Grund durchweg daseinsbezogen. Diese Daseinsbezogenheit lässt sich nur als stetige Überwindung des Unglaubens recht beschreiben. Die Entfaltung des Glaubensverstehens kann daher nach Bultmann nur in ständiger Auseinandersetzung mit dem natürlichen Daseinsverständnis theologisch expliziert werden. »Mit anderen Worten: Die natürliche Theologie ist ein ständiger Bestandteil der dogmatischen Arbeit selbst, wie es an Paulus und Luther deutlich ist.« (GV I, 311 f) »Da es kein anderes Dasein gibt, als dieses in seiner Freiheit sich konstituierende, sind die formalen Strukturen des Daseins, die in der ontologischen Analyse aufge-

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wiesen werden, ›neutral‹, d. h. sie gelten für alles Dasein. Sie gelten also auch für das Dasein, an das sich die Verkündigung wendet, für das ungläubige Dasein wie für das gläubige, das nur in ständiger Überwindung des Unglaubens glaubt. Sofern also die Theologie, indem sie die philosophische Daseinsanalyse benutzt, selbst die Bewegung des Philosophierens vollzieht, muß sie eine Bewegung des Unglaubens bewußt vollziehen. Und nur, wenn sie weiß, was sie tut, und sich nicht einbildet, sie könnte je auf irgend eine Weise etwas anderes sein als eine Bewegung des Unglaubens, die nur gerechtfertigt sein kann, wenn sie also solche glaubt, hat sie ihr Recht.« (GV I, 312)29 Ich belasse es bei der gegebenen Skizze argumentativer Grundstrukturen Bultmannscher Theologie, wie sie im Hinblick auf einige frühe, im ersten Band von »Glauben und Verstehen« gesammelten Aufsätze angefertigt wurde, um abschließend noch einen expliziten Bezug auf die Gesetz-Evangelium-Thematik herzustellen. Bultmann selbst bietet hierzu Anlass, etwa in dem Beitrag über »Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben« (GV I, 313 – 336) Sosehr ihm diese Bedeutung zeitlebens unverrückbar feststand, so sehr war er zugleich davon überzeugt, dass eine echte geschichtliche Frage an das Alte Testament stets nur diejenige sein konnte, »welche Grundmöglichkeit menschlichen Daseinsverständnisses in ihm ihren Ausdruck finde« (GV I, 318). In diesen Zusammenhang gehört die Bemerkung: »Zeiten, die noch ein echt geschichtliches Verhältnis zum Alten Testament hatten, haben das in ihm zu Wort kommende Daseinsverständnis dem christlichen gegenübergestellt in der Antithese: Gesetz und Evangelium. So erscheint für Luther wie für Paulus das Alte Testament als ganzes unter dem Begriff des Gesetzes, d. h. als Ausdruck des fordernden Gotteswillens. Steht der Mensch des Alten Testaments unter der Forderung, so der des Neuen unter der Gnade Gottes, die ihn als 29 Dies betont auch der Beitrag »Anknüpfung und Widerspruch« von 1946 (vgl. GV II, 117 – 132). Gottes Offenbarung, wie der Glaube sie wahrnimmt, knüpft in der Weise konstruktiven Widerspruchs an die vorgläubige Existenz des Menschen an. Damit unterscheidet sich Bultmann von der These, die schlichtweg behauptet, es gäbe keinerlei Anknüpfung, sondern nur den Widerspruch der Offenbarung zur menschlichen Existenz. Diese Auffassung beinhaltet zwar ein Wahrheitsmoment, da Gottes Handeln am Menschen durch sein Wort in der Tat keinen Anknüpfungspunkt im Menschen oder im menschlichen Geistesleben findet, an dem sich Gott akommodieren müsste. In diesem Sinne ist Gottes Handeln in der Tat Widerspruch gegen den Menschen und zwar gerade auch gegen den Menschen in seiner Religion, in der er sich gegenüber der bedrängenden Welt zu sichern und zu behaupten versucht, um seine Sorgen und Ängste zu beschwichtigen. Doch bedeutet dieser Widerspruch in paradoxer Weise zugleich Anknüpfung. »Die den Menschen, der selbst sein will und der sein Selbst verloren hat, bewegende Frage nach seiner Eigentlichkeit ist der Anknüpfungspunkt für Gottes Wort. Und sofern die Frage nach seiner Eigentlichkeit eben den Menschen bedrängt, der sich in den Widerspruch zu Gott gesetzt hat, und sofern ihm also Gottes Wort als Widerspruch begegnet, lässt sich sagen: der Widerspruch des Menschen gegen Gott ist der Anknüpfungspunkt für den Widerspruch Gottes gegen ihn. Die Sünde des Menschen ist der Anknüpfungspunkt für das widersprechende Wort von der Gnade.« (GV VII, 120) Kurz gesagt: Der Mensch in seiner Existenz oder besser: der in seiner Existenz ganz und gar verkehrte Mensch bietet den Anknüpfungspunkt des Evangeliums.

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

Sünder annimmt. Das Sein unter dem Gesetz, unter der Forderung, ist dabei als die Voraussetzung für das Sein unter der Gnade verstanden. Nur wer sich durch Gottes Forderung begrenzt weiß, wer sich die Augen dafür öffnen läßt, daß er dieser Forderung nicht genügt und nie genügen kann, nur der kann die Predigt des Evangeliums verstehen. Sofern das Alte Testament das Gesetz ist und die Forderung Gottes verkörpert, zwingt es den sündigen Menschen in ein Sein, von dem aus ihm das Wort von der Gnade Gottes verständlich wird. Deshalb steht auch die im Alten Testament verkörperte Forderung Gottes beständig über dem Menschen, um das Verständnis des Evangeliums zu sichern, und ist nicht, seit es das Evangelium gibt, erledigt.« (GV I, 319) Bultmanns tpyisierender Befund, dessen geschichtliche Solidität und Haltbarkeit hier nicht zur Debatte steht, zeigt, dass sein Gesetz-EvangeliumVerständnis völlig analog ist zur Grundstruktur seiner sonstigen Argumentationen. Sie lassen sich daher unschwer in diese einzeichnen: »Der sachliche Zusammenhang zwischen Gesetz und Evangelium bedeutet, daß das Evangelium nur gepredigt werden kann, wenn der Mensch unter dem Gesetz steht. Gewiß ist Christus des Gesetzes Ende; aber gerade deshalb, damit er als des Gesetzes Ende verstanden werden kann – sonst würde er überhaupt nicht verstanden –, muss auch jeder, der von Christus hört, vom Gesetz gehört haben. Ja, noch mehr : Er muss es immer wieder hören. Denn wohl ist der Glaubende ein für allemal frei vom Gesetz und steht unter dem Geist. Aber der Glaube als stets neuergriffene Möglichkeit christlichen Seins ist stets nur in der Überwindung des alten Seins unter dem Gesetz wirklich. Ja, noch mehr : die Freiheit vom Gesetz bedeutet nicht, daß der Mensch aus der göttlichen Forderung entlassen wäre, dass er nicht mehr unter dem ›Du sollst‹ stünde, sondern daß dieses ›Du sollst‹ begründet ist durch ein ›Du kannst‹, ›Du bist‹. Vom Gesetz ist der Mensch befreit als einem Gesetz, dessen Erfüllung ihn erst der Gnade versichern soll, aber nicht, sofern es gerade durch die Gnade neu begründet wird.« (GV I, 319 f) Bultmann schließt mit dem Hinweis: »Wenn allein Jesus Christus, als Gottes eschatologische Tat der Vergebung, Gottes Wort an die Menschen ist, so kann man sagen, dass alle die Worte, die dazu dienen, dieses Wort verständlich zu machen, indem sie den Menschen in die Situation bringen, in der er es verstehen kann, und in dem sich das darin gegebene Daseinsverständnis entfalten, in vermittelter Weise Gottes Wort sind.« (GV I, 335)

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Die evangelische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium

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3. Die evangelische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Das Fallbeispiel der Dogmatik christlichen Glaubens von Gerhard Ebeling Das in Gesetz und Evangelium wirksame Wort Gottes an den Menschen, dessen auf keinen ständigen Begriff zu bringende differenzierte Einheit die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch Glauben schafft, ist sowohl nach Elert, Althaus und Hirsch, als auch nach Brunner und Bultmann Grund und Kriterium der Dogmatik sowie Mitte und Grenze biblischen Zeugnisses und evangelischer Verkündigung. Unbeschadet aller sonstigen Unterschiede stimmen die Genannten mit dem V. Artikel der Konkordienformel in der Überzeugung überein, dass zwischen Gesetz und Evangelium zwar nicht zu scheiden, wohl aber recht zu unterscheiden sei, damit beide »nicht miteinander vermischet, oder aus dem Evangelio ein Gesetz gemacht, dardurch der Verdienst Christi verdunkelt, und die betrübten Gewissen ihres Trosts beraubet« (BSLK 951, 10 – 13) werden. Ohne von deren Wirklichkeit einfachhin getrennt werden zu können, gehören weder vorhergehende, noch gegenwärtige noch auch nachfolgende Werke des Menschen konstitutiv zum Rechtfertigungsgeschehen, welches das Evangelium wirksam zuspricht. So hatte es in der Formula Concordiae geheißen. In den modernen Versuchen, die Unbedingtheit der göttlichen Heilsoffenbarung in Jesus Christus und ihre Unableitbarkeit aus allen menschlichen Selbstätigkeitsweisen zur Geltung zu bringen, wirkt dieses Motiv kontinuierlich fort. Dabei wiederholen sich, wie unschwer zu erkennen ist, strukturell auch alle sonstigen Grundprobleme, die bereits die Väter der Konkordienformel beschäftigt hatten. Dass ein Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium zu machen und weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin eine Indifferenz beider behauptet werden dürfe, war klar und stand fest. Doch wie und von woher, so war zu fragen, lässt sich dieser Unterschied begreifen und jener Bestimmung zuführen, die ihm nach Maßgabe reformatorischer Rechtfertigungseinsicht gemäß ist? Das Gesetz ist, so wird man im Sinne der Konkordienformel zu antworten haben, zwar seinem formalen Begriff nach vom Evangelium unterschieden, aber von sich aus nicht in der Lage, diesen Unterschied heilsam zu bestimmen und in Wirklichkeit festzuhalten. Als heilloser droht dem Gesetz sein Unterschied zum Evangelium zwangsläufig zu vergehen und auf Indifferenz hinauszulaufen. Heilsam zu bestimmen und wirklich festzuhalten vermag den Unterschied von Gesetz und Evangelium nur das Evangelium. Kurzum : »Die Nicht-Unterscheidung von Gesetz und Evangelium … dient allein dem Tod bringenden Gesetz. Ihre Unterscheidung dagegen dient al-

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

lein dem Leben schaffenden Evangelium.«30 Oder noch kürzer : »Evangelium ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.«31 Dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium evangelisch begründet und nur vom Evangelium her heilsam zu begründen ist, scheint für die Möglichkeit einer Umkehrung der Wendung von »Gesetz und Evangelium« in diejenige von »Evangelium und Gesetz« zu sprechen. Weshalb diese Umkehr trotz der gegebenen Einsicht in den evangelischen Grund der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gleichwohl weder bei Elert, Althaus und Hirsch, noch bei Brunner und Bultmann vollzogen wurde, ist eine Frage, die sich nur aus den jeweiligen Gesamtsystemen heraus beantworten lässt. Auf deren skizzenhafte Darstellung ist deshalb an dieser Stelle zurückzuverweisen. Zu ergänzen ist lediglich, was zu beweisen hauptsächlicher Sinn und Zweck der einzelnen Systemdarstellungen war, dass nämlich das moderne Rezeptionsinteresse an der traditionellen Gesetz-Evangelium-Thematik weniger mit deren materialdogmatischen Gehalt, als vielmehr mit der Systemorganisationsfunktion zu tun hat, die man ihr jeweils zudachte. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und die ihr impliziten Differenzierungen sind offenbar nach Einschätzung nicht weniger und nicht unbedeutender Systematiker des 20. Jahrhunderts differenziert genug, um den dogmatischen Gesamtzusammenhang christlicher Lehre zu strukturieren. Als ein weiteres Beispiel für diese Einschätzung soll abschließend Gerhard Ebelings Dogmatik des christlichen Glaubens angeführt werden.32 Die strukturierende Funktion der Gesetz-Evangelium-Thematik kündigt sich in der Ebelingschen Dogmatik bereits in den grundlegenden Erörterungen zum Glauben in seinem Verhältnis zu Leben, Religion und Denken im ersten Kapitel an. Wie auf das Gesetz, so ist das Evangelium auf Leben, Religion und Denken konstitutiv bezogen, ohne doch aus diesen ableitbar oder in sie überführbar zu sein. Die Lehre von Gott und der ihm entsprechenden Rede bestätigt die Weite des Rezeptionshorizonts und die fundamentaltheologische Bedeutung der Thematik. »Wie die Besinnung auf den Offenbarungsbegriff in der Fundamentalunterscheidung zwischen dem Deus absconditus und dem Deus revelatus gipfelte, so mündet die Besinnung auf den Begriff des Wortes Gottes in die Fundamentalunterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Wie dort, so ist auch hier der Gegensatz in Gott bzw. in Gottes Wort selbst hineingenommen. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium kommt nur dann rein zur Geltung, wenn zum einen der Begriff des Gesetzes die Weite gewinnt, die das, was alle Menschen angeht, umschließt; und wenn ferner das 30 O. Bayer, Gesetz und Evangelium, in: M. Brecht/R. Schwarz (Hg.), Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch, Stuttgart 1980, 155 – 173, hier : 158. 31 L. Mohaupt, Gesetz und Evangelium nach Artikel V der Konkordienformel, in: W. Lohff/L.W. Spitz (Hg.), Widerspruch, Dialog und Einigung. Studien zur Konkordienformel der Lutherischen Reformation, Stuttgart 1977, 197 – 222, hier : 206 und 219. 32 G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Drei Bände (= I, II, III), Tübingen 1979. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Die evangelische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium

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Evangelium in der Konzentration auf die Erscheinung Jesu Christi als etwas erfaßt wird, was nur in Beziehung zu der universalen Weite, aber auch zu der tötenden Macht des Gesetzes Sprache gewinnt. Dann kommt in der Entfaltung der Lehre vom Worte Gottes im Sinne der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium das Leben selbst zur Sprache, aber nicht in der ihm von Natur eigenen Bewegungsrichtung vom Leben zum Tode hin, sondern in der Gott gemäßen Umkehrung zu der Bewegung vom Tode zum Leben.« (I, 261) Was damit gesagt ist, sei im folgenden zunächst unter schöpfungstheologischhamartiologischem, sodann unter rechtfertigungstheologischem Aspekt erörtert. Zum ersten: Um Abstraktionen zu vermeiden, darf die Schöpfungslehre nach Ebeling nicht absehen von der konkreten Situiertheit des Menschen vor Gott, welche sein Verhältnis zur Welt entscheidend bestimmt. Das zentrale und alles umgreifende schöpfungstheologische Thema sei daher nicht, »wie dies oder das in der Welt und wie die Welt im ganzen entsteht und vergeht, sondern wie der Mensch das Zusammensein mit der Welt besteht und in welches Licht damit Entstehen und Vergehen überhaupt rücken« (I, 305 f). Von der Gott-Mensch-Beziehung kann dabei auch nicht momentan abgesehen werden, da jede Veränderung des Menschen in seinem Verhältnis zu Gott eine Veränderung des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt nach sich zieht: »Diese Veränderung geht nicht bloß in anderer Deutung der Welt auf, sondern zieht eine andere Wirkung der Welt auf den Menschen nach sich und infolgedessen ein anderes Wirken des Menschen auf die Welt. Sie zeigt sich ihm anders, sie spricht zu ihm anders und zwar so tiefgreifend anders, dass sich dies auf das gesamte Sprachgeschehen erstreckt, das sich in der Grundsituation des Menschen vollzieht als Widersprechen, Versprechen und Entsprechen.« (I, 307) Gibt es demnach kein theologisch neutrales Weltverhältnis des Menschen, so muss der Weltbegriff der Schöpfungslehre, soll er konkret sein, in stetigem Bezug auf die konkrete Situiertheit des Menschen begriffen werden. Die konkrete Situiertheit des Menschen vor Gott in der Welt aber ist nicht nur durch Zweideutigkeit, sondern durch Widersprüchlichkeit bestimmt. Ausdrücklich spricht sich Ebeling gegen die Annahme einer schöpfungstheologisch in Anschlag zu bringenden widerspruchsfreien Urstandsituation im Sinne des traditionellen status integritatis aus. Die konkrete Stellung des Menschen in der Welt ist nicht nur virtuell zweideutig, sondern faktisch eindeutig durch Verkehrung der Gottesbeziehung mitsamt der solcher Verkehrung im Modus der Widersprüchlichkeit entsprechenden Verkehrung des menschlichen Weltverhältnisses bestimmt. Nachgerade die Differenz von Schöpfung und Erhaltung, ohne die eine konkrete Schöpfungslehre allenfalls einen scheinbaren Moment lang, in Wirklichkeit überhaupt nicht auszukommen vermag, schärft nach Ebeling schon formaliter ein, was dann ebenso materialiter gilt, dass sich nämlich das Schöpfungsthema nicht abschirmen lässt »gegen die wirkliche Situation des Menschen, der sich zur Schöpfung in

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

einem gestörten Verhältnis befindet, weil von seiner Seite her das Zusammensein mit dem Schöpfer zerstört ist« (I, 315). »Inwiefern bedarf die Schöpfung der Erhaltung?«, fragt Ebeling: »Läge es nur an ihrer Hinfälligkeit, also daran, dass sie in sich selbst keinen Bestand hat, so wäre zu fragen, ob nicht ihr Gehaltensein durch Gott eins ist mit dem, dass sie durch Gott ins Sein gerufen ist. Zu einem gesonderten Problem wird dagegen die Erhaltung offensichtlich im Gefolge der Sünde.« (I, 316) Mag es einen Augenblick den Anschein haben, als lasse sich die Schöpfungslehre unter Absehung von der Hamartiologie und damit unter Absehung von der Thematik ihrer Erhaltung trotz der Sünde entwickeln, so verflüchtigt sich dieser Schein, sobald der Mensch und seine Welt konkret in Betracht kommen. Ebelings schöpfungstheologische Anthropologie ist methodisch-inhaltlich folgerichtig durch die Vorausnahme der Lehre von der Sünde vor diejenige von der Gottebenbildlichkeit bestimmt. Während die – schöpfungstheologisch nach Ebeling vergleichsweise abstrakte – Kosmologie das hamartiologische Problem noch nicht mit Entschiedenheit wahrnimmt, sondern in einer gewissen Schwebe belässt, muss die damit verbundene Abstraktion wegen zu leistender Wahrnehmung konkreter Situiertheit des Menschen in der Welt coram Deo aufgehoben werden mit der Folge, dass Schöpfungslehre und Sündenlehre sich in bezug auf das schöpfungstheologische Thema »Mensch« nicht länger trennen lassen. Anthropologisches Primärthema der Schöpfungslehre ist mithin das sündig verkehrte Menschengeschöpf, nicht ein supralapsarischer imago-Dei-Begriff: »das Verständnis für das, was imago Dei bedeutet, kann nur dann erwachsen, wenn einen die Erfahrung von Sünde bereits berührt hat. Deshalb hat die Lehre von der imago Dei ihren Ort sinnvollerweise am Ende des ersten Teils der Dogmatik, beim Übergang von der Lehre von der Schöpfung zur Lehre von der Versöhnung. Der Begriff der imago Dei versieht ohnehin die Funktion einer Brücke, welche die Schöpfung mit der Eschatologie verbindet und deren tragender Pfeiler die Christologie ist.« (I, 346) Dass der Begriff der imago Dei nur unter einem auf die Hamartiologie bezogenen soteriologischen Aspekt angemessen bestimmt werden kann, findet Ebeling durch die traditionelle reformatorische Lehre bestätigt, derzufolge die Gottebenbildlichkeit des Menschen »überhaupt nicht in bestimmten Potenzen und Kräften des Menschen – natürlicher oder übernatürlicher Art – loziert wird, sondern im Grunde mit dem gleichgesetzt wird, was zwischen Gott und Mensch in Wort und Glaube geschieht« (I, 413). Das Evangelium der Rechtfertigung des vom Gesetz gerichteten Sünders ist Mitte und Grenze auch und gerade der Ebeling’schen Schöpfungstheologie. »An dem Thema der Sünde hängt das ganze Gewicht dessen, was die Sache des Glaubens von allem unterscheidet, was den Menschen sonst erfüllt und bewegt. Ist es mit der Sünde nichts, so ist es mit allem nichts, wovon die Dogmatik handelt. Und zwar muß man mit aller Entschiedenheit sagen: Dann ist nicht etwa nur alles überflüssig, was im zweiten und dritten Teil der Dogmatik

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Die evangelische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium

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soteriologisch auf die Überwindung der Sünde und ihrer Folgen abzielt. Dann ist vielmehr auch alles hinfällig, was im ersten Teil der Dogmatik über Gott und über die Schöpfung gesagt war. Denn wenn der Mensch nicht Sünder ist – wohlgemerkt: dieser Mensch, der wir selbst sind –, dann ist Gott nicht Gott und die Welt nicht seine Schöpfung. Das klingt überspitzt, ist aber eine sehr schlichte Feststellung: kann man Gott mit dem Menschen, wie er ist, zusammendenken ohne das Urteil, dass der Mensch Sünder ist, dann ist Gott etwas Nichtiges oder bestenfalls – sollte man richtiger sagen: schlimmstenfalls? – in der Tat ein Geschöpf des Menschen.« (I, 362 f) Bleibt hinzuzufügen, dass sich das Übel der Welt nach Ebeling erst im Dunkeln der Sünde als eigentliches Übel darstellt, wohingegen es als natürliches Übel im unzerstörten, von der Sünde nicht verkehrten Zusammensein mit Gott keineswegs als etwas wahrgenommen werden müsste und wahrgenommen werden würde, »was von Gott und dem wahren Leben zu trennen vermag« (I, 369).33 Zum zweiten: Zur Begründung für das von ihm gewählte Verfahren, die Dogmatik mit der Trinitätslehre zu beschließen, statt mit dieser den methodischen Anfang zu machen, verweist Ebeling vor allem auf die Situiertheit des Menschen (einschließlich des christlichen Dogmatikers), die durch zwei Fundamentalunterscheidungen bestimmt sei, von der her überhaupt erst der wahre Sinn der trinitarischen Unterscheidung erfasst werden könne. »Es handelt sich einerseits um die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf, andererseits um die von Sünde und Gnade.« (III, 53) Die Sache, um die es der Dogmatik in Form und Inhalt zu tun ist, kompliziert sich in Anbetracht dessen weiter dadurch, dass die Fundamentalunterscheidungen von Schöpfer und Geschöpf einerseits und Sünde und Gnade andererseits, von denen her der Sinn der trinitarischen Unterscheidung zu fassen ist, ineinander verschränkt sind. »In zugespitzter Formulierung könnte man den Sachverhalt folgender33 Gott ist nicht Gott und die Welt nicht seine Schöpfung, wenn der Mensch nicht Sünder ist – ob diese steile These von nachgerade Elertschem Format haltbar und von der traditionellen GesetzEvangeliums-Lehre gedeckt ist, darf bezweifelt werden. »Daß die christliche Glaubenserfahrung in jedem individuellen Fall Sünden- und Versöhnungserfahrung ist, bedeutet gerade nicht, daß die unter solchen Umständen erschlossene Einsicht in den ontologischen Sachverhalt des Schöpferseins Gottes und der Geschöpflichkeit der Welt auf die Wirklichkeit der Sünde als einen ontologischen Sachverhalt einschließt, so daß der Glaube sagen könnte ›wenn der Mensch nicht Sünder ist … dann ist Gott nicht Gott und die Welt nicht seine Schöpfung‹ (I, 362). Die Sünde kann deshalb in gar keinem Sinne Bedingung des Gottseins Gottes und der Geschöpflichkeit der Welt sein, weil diese beiden Sachverhalte ontologischen Charakter haben und insofern Bedingungen allen möglichen menschlichen Handelns sind, die Sünde hingegen als Tat des Menschen ontischen und d. h.: ontologisch bedingten Charakter hat. Am Insistieren auf dieser logischen Differenz hängt die Möglichkeit, die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf zu denken. Diese Differenz wird nicht nur verfehlt, wenn man von Gott zu gering, d. h. ihn als Urheber des ontischen Sachverhalts der Sünde denkt, sondern auch, wenn man vom Menschen zu groß denkt, d. h. im Sünder als Urheber der Sünde zugleich den Urheber eines ontologischen Sachverhaltes sieht. Ebeling zeigt, wie man von der Sünde logisch – und d. h. dann auch theologisch – zu groß denken kann.« (W. Härle/E. Herms, Deutschsprachige protestantische Dogmatik nach 1945. II. Teil, in: VuF 28 [1983], 1 – 87, hier : 21)

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Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums

maßen bestimmen: Es handelt sich um die Fundamentalunterscheidung zwischen zwei Fundamentalunterscheidungen. Die eine – die von Schöpfer und Geschöpf – hat den Charakter einer von Gott gesetzten und gewollten Unterscheidung, die von Gott her gesehen keinen Widerspruch in sich schließt, obwohl der menschliche Verstand darin nach Widersprüchen sucht, weil der menschliche Wille dagegen Widerspruch erhebt. So ist die Sünde als der eine Ansatzpunkt jener anderen Fundamentalunterscheidung ihrem Wesen nach Bestreitung der ersten Fundamentalunterscheidung, der von Schöpfer und Geschöpf. Man möchte meinen: deren Aufhebung. Aber das träfe nicht damit überein, wie sich Gott dazu verhält. Er setzt der Sünde die Gnade entgegen, weil er sein Geschöpf nicht preisgibt und die wahre Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf als Inbegriff des Heils zum Inhalt des Versöhnungswerkes macht.« (III, 54) Hält man sich an diese Grundsätze, wird man Ebeling eine tendenzielle Indifferenzierung von Schöpfungs- und Sündenlehre trotz problematischer Zuspitzungen nicht unbedacht unterstellen dürfen. Man wird vielmehr sorgsam zu prüfen haben, wie die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gnaden- und rechtfertigungstheologisch differenziert wird, um besagter Indifferenzierungsgefahr zu entgehen. Auszugehen ist von der These, dass die vom Glaubensevangelium und nur vom Glaubensevangelium her sich erschließende Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sich »auf das Verständnis des Gesetzes selbst unterscheidend« (III, 280) auswirkt. Diese Auswirkung besteht darin, dass sich die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium am Gesetz in derjenigen von usus politicus und usus elenchticus legis reflektiert. »Die Unterscheidung der zwei usus legis ist der Widerschein des Evangeliums am Phänomen des Gesetzes.« (III, 289) Im usus elenchticus, das ist wahr, tritt das eigentliche Wesen des Gesetzes zutage, dessen Funktion die mortificatio ist. Aber von der mortificatio des Gesetzes muss, sofern es sich dabei um Tötung handelt, welche das Gesetz als Gesetz wirkt, differenziert – nämlich im Sinne der Unterscheidung von usus politicus und usus elenchticus legis – die Rede sein. Wie vom Evangelium entsprechend nur in der Weise der vom Evangelium bestimmten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium die Rede sein kann, so vom Gesetz nur in der von seinem Unterschied zum Evangelium bestimmten Weise der Unterscheidung von usus politicus und usus elenchticus legis. Es gehört zur Klarheit, welche die Sache der Theologie erfordert, um deren Logik es in der Lehre von Gesetz und Evangelium nach Ebeling geht, dass nicht nur der Unterschied von Gesetz und Evangelium, sondern in Bezug auf das Gesetz selbst »eine Unterscheidung erkennbar wird in Hinsicht auf das, was Gott durch das Gesetz bewirkt. Es dient seinem Willen nach zu beidem: zur Erhaltung des Lebens unter den Bedingungen der Sünde, die doch die Zerstörung wahren Lebens ist, sowie zur Erkenntnis des Lebens in seinem innersten Zerstörtsein, um für das wahre Leben bereit zu machen, das durch das Evangelium als das Wort des Lebens eröffnet wird. Es liegt letztlich an diesem

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Die evangelische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium

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Widerspruch der Sünde gegen den Schöpfer und damit gegen sein eigenes Geschöpfsein, dass das Problem der Fundamentalunterscheidung in der dogmatischen Besinnung ein solches Gewicht erhält. Und zwar notwendig in doppelter Hinsicht: als die Unterscheidung dessen, was dazu bestimmt ist, geschieden zu werden – Gott will sein Geschöpf von der Sünde frei machen –, sowie als die Unterscheidung dessen, was dazu bestimmt ist, aufeinander bezogen und so vereint zu sein – Gott will, dass sein Geschöpf vor seinem Angesicht und bei ihm das Leben habe. Der eine Aspekt der Fundamentalunterscheidung, der auf die rechte Beziehung zueinander aus ist, wäre überhaupt kein Problem, wenn er nicht durch den anderen Aspekt der Fundamentalunterscheidung gestört und in Frage gestellt wäre, der durch die Sünde bestimmt ist. Freilich gäbe auch dieser Aspekt nichts zu reden und käme gar nicht in den Blick, wenn nicht als Einspruch gegen das Nein des Menschen zu Gott Gottes Ja zum Menschen laut würde. Erst dadurch besteht überhaupt für das theologische Denken Anlaß, den Gesichtspunkt der Fundamentalunterscheidung in diesen unterschiedlichen Aspekten und deshalb in ihrer Bezogenheit aufeinander zu bedenken.« (III, 289) In der Lehre von Gesetz und Evangelium, sagt Gerhard Ebeling, geht es »gewissermaßen um die Logik der Sache der Theologie« (III, 289). »Dabei ist das Evangelium der Schlüssel zum Ganzen – in aristotelischer Begrifflichkeit könnte man sagen: die forma –, während dem Gesetz in diesem Unterscheidungsgeschehen, als das sich das Heilsgeschehen theologisch darstellt, die Rolle der materia zufällt, die ihre Bestimmung durch das Evangelium erhält.« (III, 289 f) Die gebotenen theologiegeschichtlichen Fallstudien haben, so denke ich, zur Genüge erwiesen, dass die moderne Rezeption der traditionellen Gesetz-Evangeliums-Thematik im wesentlichen vom Interesse an der den dogmatischen Stoff strukturierenden Logizität systematischer Theologie motiviert war. Eine andere – der Diskussion anheim zu stellende – Frage ist es, ob bzw. inwiefern Kategorien der klassischen Metaphysik in der Lage sind, die der Theologie eigentümliche Logizität zu erfassen und angemessen wiederzugeben. Doch handelt es sich auch hierbei um ein Problem, das der traditionellen Gesetz-Evangeliums-Thematik nicht fremd, sondern beizeiten mit ihr verbunden war.34

34 Vgl. etwa W. Sparn, Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1976.

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»Si quis aliud evangelium evangelizaverit, anathema sit.« (AC VII, 48) Häresie nach reformatorischem Verständnis* Er sei erstaunt, mit welcher Schnelligkeit sie sich von dem, der sie durch Christi Gnade berufen, abgewendet und einem anderen Evangelium zugewendet hätten, lässt Paulus die Adressaten seines Briefes an die Galater unmittelbar nach Anschrift und Friedensgruß wissen. Es gebe aber kein anderes Evangelium, sondern nur einige Leute, welche die Gemeinde verwirren und das Evangelium Christi verfälschen wollten (vgl. Gal 1,6 f). »Wer euch aber«, so der Apostel, »ein anderes Evangelium verkündigt, als wir euch verkündigt haben, der sei verflucht, auch wenn wir selbst es wären oder ein Engel vom Himmel. Was ich euch gesagt habe, das sage ich noch einmal: Wer euch ein anderes Evangelium verkündigt, als ihr angenommen habt, der sei verflucht (anathema esto).« (Gal 1,8 f) In der Vulgata wird letzterer Satz mit der Wendung wiedergegeben: »Si quis vobis evangelizaverit praeter id quod accepistis, anathema sit.« (Gal 1,9) Daran schließt die Apologia Confessionis Augustanae – Melanchthons schriftliche Verteidigung des Augsburger Bekenntnisses von 1530 gegen die Einwände der altgläubigen Konfutatoren, seit 1580 fester Bestandteil des Konkordienbuches als des wichtigsten Corpus Doctrinae des Luthertums – paraphrasierend an, wenn in AC VII in Übereinstimmung mit Conf VIII1 und unter Bestätigung von CA VIII2 gesagt wird, dass zwar die durch unwürdige Diener (»per malos ministros«) rein und stiftungsgemäß administrierten Heilsmedien wirksam seien, weil die Amtsträger nicht ihre eigene Person vertreten, sondern gemäß Lk 10,16 (»Qui vos audit, me audit.«) in Stellvertretung Christi (»vice Christi«) handeln, dass aber von Irrlehrern (»impii * Vortrag anlässlich des ökumenisch-ekklesiologischen Studientags des Ostkirchlichen Instituts der Bayerisch-Deutschen Augustinerprovinz an der Universität Würzburg am 8. Februar 2003 1 »Octavus vero articulus confessiones de ministris ecclesiae malis et hypocritis, quod eorum malitia sacramentis et verbo non obsit, acceptatur cum sancta et Romana ecclesia laudanturque principes hoc loco Donatistas et veteres Origenistas damnantes, qui negabant licitum esse uti ministerio malorum in ecclesia.« (Die Confutatio der Confessio Augustana vom 3. August 1530. Bearbeitet von H. Immenkötter, Münster 21981, 97 f). 2 »Quamquam ecclesia proprie sit congregatio sanctorum et vere credentium, tamen, cum in hac vita multi hypocritae et mali admixti sint, licet uti sacramentis, quae per malos administrantur, iuxta vocem Christi: Sedent scribae et pharisaei in cathedra Moysis etc. Et sacramenta et verbum propter ordinationem et mandatum Christi sunt efficacia, etiamsi per malos exhibeantur. Damnant Donatistas et similes, qui negabant licere uti ministerio malorum in ecclesia et sentiebant ministerium malorum inutile et inefficax esse.« (BSLK 62)

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Häresie nach reformatorischem Verständnis

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doctores«) dezidiert Abstand zu nehmen sei, »quia hi iam non funguntur persona Christi, sed sunt antichristi. Et Christus ait: Cavete a pseudoprophetis. Et Paulus : Si quis aliud evangelium evangelizaverit, anathema sit.« (AC VII, 48) Mit dem Wort Christi und seines Apostels, dass falsche Propheten (vgl. Mt 7,15) und Verkünder eines verkehrten Evangeliums zu meiden seien, verbindet sich die erneute, unter Verweis auf Kirchengleichnisse des Herrn (»in collationibus de ecclesia«; vgl. Mt 13,24 – 30.36 – 43.47 – 50) vorgetragene Mahnung, keine schismatischen Trennungen in Reaktion auf private Verfehlungen und heimliche Sünden von Gemeindegliedern und Amtsträgern herbeizuführen, wie das – »scelerate« (AC VII,49) – die Donatisten getan hätten. In diesen Zusammenhang gehört auch die scharfe Verurteilung derer, die deswegen Spaltungen erregten, weil sie nicht dulden wollten, dass Priester Besitz und Eigentum haben. Ihnen wird die gottgewollte weltliche Ordnung entgegengehalten, die Christen wie Luft und Licht, Speise und Trank benutzen (»uti«) dürfen. »Nam ut haec rerum natura et hi siderum certi motus vere sunt ordinatio Dei et conservantur a Deo, ita legitimae politiae vere sunt ordinatio Dei et retinentur ac defenduntur a Deo, adversus diabolum.« (AC VII,50) Den Hintergrund der Argumentation bildet die reformatorische, u. a. in CA XXVIII begegnende Verhältnisbestimmung von »potestas ecclesiastica« und »potestas civilis«, die zwar nicht zu trennen, wohl aber präzise zu unterscheiden seien. Ich nehme dies zum Anlass, die Häresiethematik zunächst (1.) in der Perspektive der später so genannten lutherischen Zwei-Reiche- oder besser : Zwei-Regimenten-Lehre zu erörtern, wobei weniger vom Spezialproblem theologischer Legitimität kirchlichen Besitzes und Eigentums, sondern vielmehr von der unter reformatorischen Gesichtspunkten schlechterdings zentralen Problematik zu handeln ist, in welchem Verhältnis kirchliche und weltliche Vollmacht, insbesondere kirchliches Exkommunikations- und weltliches Strafrecht zueinander stehen. Es geht dabei um den Grundsatz, dass die Konstatierung von Häresie keine zivilen Rechtsnachteile für Leib und Leben des Häretikers zur Folge haben darf, ohne dessen Wahrung die im Namen der Orthodoxie erfolgende antihäretische Negation zwangsläufig entartet und die Realisierungsbedingungen von Rechtgläubigkeit schon im Ansatz zerstört werden. Unter dieser Voraussetzung wird sodann der Unterschied von Häresie und Orthodoxie theologisch bestimmt. Dabei geht es zum einen (2.) um eine knappe Aufnahme des altkirchlichen Befunds und zum anderen (3.) um eine Skizze des Damnationsverständnisses der Wittenberger Bekenntnistradition, wohingegen reformierte Eigentümlichkeiten unberücksichtigt bleiben. Am Beispiel Karl Barths und Friedrich Schleiermachers werden sodann (4.) neuzeitliche Häresiologiemodelle evangelischer Theologie vorgestellt, wobei der reformatorischen Selbstabgrenzung vom römischen Katholizismus besondere Aufmerksamkeit zugewendet wird. Einige Erwägungen zum Thema von Mitte und Grenze evangelischen Glaubens stehen am Schluss (5.).

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Häresie nach reformatorischem Verständnis

1. »Haereticos comburi est contra voluntatem spiritus« (DH 14,83; vgl. WA 1,624 f; 7,139,15 ff) Sollen Häretiker3 geduldet werden? Die Antwort, welche Thomas von Aquin auf diese Frage erteilt, ist differenziert und eindeutig zugleich; was die Häretiker selbst und für ihren Teil an der Angelegenheit betrifft, so haben sie es 3 Zum Häresiebegriff insgesamt vgl. vor allem den einschlägigen Artikel in TRE 14. Die häufig beschriebene Pluralisierung des Wahrheitsverständnisses (vgl. etwa P.L. Berger, The Heretical Imperative. Contemporary Possibilities of Religious Affirmation, 1979; deutsch: Frankfurt a. Main 1980), wie sie weitgehend auch für die aktuelle Gegenwart der Theologie und der christlichen Kirchen bestimmend geworden ist, hat den überkommenen Häresiebegriff der Dogmatik grundlegend in Frage gestellt bzw. derart unterlaufen, daß er »aufs Feld der Ethik« (D. Korsch, Art. Häresie, in: Wörterbuch des Christentums, Gütersloh/Zürich 1988, 453 f, hier : 453) wanderte. Ein Beleg hierfür ist die gelegentlich und namentlich in ökumenischen Kontexten begegnende Rede von praktischer Häresie (vgl. W. Huber, Art. Häresie III. Systematisch-theologisch, in: TRE 14, 341 – 348, hier : 345). Eine spezifische Differenz zur sogenannten dogmatischen Häresie hat man nach üblichem Verständnis darin zu suchen, »daß als Häresie nicht das beurteilt und verurteilt wird, was ein Christ glaubt und bekennt, sondern was er tut bzw. was er unterläßt« (R. Slenczka, Die Lehre trennt – aber verbindet das Dienen? Zum Thema: Dogmatische und ethische Häresie, in: KuD 19 [1973], 125 – 149, hier : 128). Nun wird man in der Tat nicht bestreiten können, daß das Problem praktischen Tuns und Lassens auch häresiologisch keineswegs irrelevant ist. Indes verliert der Begriff der Häresie jeden präzisen Sinn und degeneriert zum Schlagwort, wenn er unmittelbar »auf Verhaltensweisen als solche bezogen wird, auch wenn diese aus Gründen des Glaubens als verwerflich zu bezeichnen sind« (W. Huber, a.a.O., 346 f). Statt das moralisch-sittlich zu beanstandende Handeln als solches mit dem Häresiebegriff zu belegen, sollte dieser daher prinzipiell nur in Bezug »auf mögliche Begründung und Interpretation bestimmter Handlungsweisen im Horizont des christlichen Glaubens« (ebd.) Verwendung finden. Mag es in dieser Beziehung durchaus sinnvoll sein, von ethischer Häresie zu sprechen, so kann dieser Begriff, sofern auch er einen Theoriezusammenhang zur Voraussetzung hat, gleichwohl nicht im strengen Sinne eine Alternative zu dem der dogmatischen Häresie begründen, wie sie für den klassischen Sprachgebrauch kennzeichnend ist. Für den Häresiebegriff der römisch-katholische Kirche ist Kanon 751 des Codex Iuris Canonici von 1983 einschlägig, wo zu lesen steht: »Dicitur haeresis, pertinax, post receptum baptismum, alicuius veritatis fide divina et catholica credendae denegatio, aut de eadem pertinax dubitatio.« (»Häresie nennt man die nach Empfang der Taufe erfolgte beharrliche Leugnung einer kraft göttlichen und katholischen Glaubens zu glaubenden Wahrheit oder einen beharrlichen Zweifel an einer solchen Glaubenswahrheit.« Einer genaueren Erörterung wert wäre die Frage, warum im neuen CIC die im alten begegnende Wendung »nomen retinens christianum« einfach weggelassen wurde. Vgl. hierzu und zum Häresiebegriff insgesamt W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. III, Göttingen 1993, 448 – 452.) An dieser Bestimmung, die mit der Kennzeichnung der Häresie zugleich die Bedingungen festlegt, unter welchen allein jemand als Häretiker bezeichnet und verurteilt werden darf, sind mehrere Aspekte bemerkenswert: Häretiker kann – zum ersten – im Unterschied zum Heiden nur ein Getaufter sein. Dies bestätigt sich daran, dass der Häretiker – zum zweiten – anders als der Apostat, für den – um nochmals CIC 751 zu zitieren – »die Ablehnung des christlichen Glaubens im ganzen« (»apostasia, fidei christianae ex toto repudiatio«) charakteristisch ist, seinen verkehrten Widerspruch gegen den christlichen Glauben unter Berufung auf diesen bzw. unter Beanspruchung der Zugehörigkeit zu ihm vornimmt. Drittens gilt, dass die Leugnung bzw. Bezweiflung der Glaubenswahrheit hartnäckig und beharrlich und nicht lediglich in der Weise eines beiläufigen Irrtums erfolgen muss, um dem

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»Haereticos comburi est contra voluntatem spiritus«

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verdient, nicht nur von der Kirche durch den Bann ausgeschieden, sondern auch durch den Tod aus der Welt entfernt zu werden (STh II-II, q. 11, a.3: »meruerunt non solum ab Ecclesia per excommunicationem separari, sed etiam per mortem a mundo excludi«). Letzteres wird mit dem Hinweis begründet, daß die Entstellung des Glaubens gewiss kein geringeres Vergehen darstelle als die Fälschung von Geld: werde der Geldfälscher von der Obrigkeit daher rechtens mit der Todesstrafe belegt, so sei dies im Falle eines der Häresie Überführten nur billig; schädige jener doch nur das irdische Leben, wohingegen dieser die Seele zugrunde richte und ewiges Verderben bewirke. In Anbetracht dessen wertet es Thomas als ein Zeichen barmherziger Liebe, wenn die Kirche ihresteils einen erklärten Sektierer nicht sogleich verdamme, sondern ihn zunächst zum Zwecke der Bekehrung ermahne, um erst bei gegebener Hartnäckigkeit aus Sorge um das Heil der Rechtgläubigen zur Exkommunikation zu schreiten und den vom Bannspruch Betroffenen dem weltlichen Gericht zu überantworten, damit er der gerechten Strafe leiblichen Todes zugeführt werde. Im Übrigen (vgl. STh II-II, q. 11, a.4) gilt die Regel, dass die Kirche rückkehrwilligen Häretikern nicht nur das Bußsakrament, sondern auch den Erhalt ihres Lebens gewährt, sofern es sich bei der verschuldeten Häresie um eine einmalige Abirrung handelt. Erst bei wiederholtem häretischen Rückfall ist die Befreiung von der Verurteilung zum leiblichen Tod nicht mehr möglich; indes bleibt der seelenrettende Vollzug kirchlicher Buße auch in diesem Falle unbenommen. Die skizzierte Lehre des Thomas von Aquin setzt die Ausbildung eines juridikablen Häresiebegriffs, wie er für das Mittelalter kennzeichnend ist, als bereits gegeben voraus. U.a. dem Decretum Gratiani als der wichtigsten Sammlung mittelalterlichen Kirchenrechts lässt sich entnehmen, dass hartnäckige Ketzer notfalls mit weltlichen Strafmitteln bekämpft werden müssen, da sie sich eines Verbrechens gegen die christliche Weltordnung schuldig gemacht haben, welche zu schützen gottgebotene Aufgabe der Obrigkeit sei. Indes bleiben bei aller grundsätzlichen Bereitschaft zur Rechtfertigung von Verdikt der Häresie zu verfallen. Diesem Aspekt korrespondiert – zum vierten –, dass als Gegenstand häretischer Bestreitung nicht eine theologische Schulmeinung, sondern nur eine gewisse Wahrheit von absoluter und allgemeiner Verbindlichkeit in Frage kommt. Nimmt man die beiden letztgenannten Aspekte nicht lediglich als additive Gesichtspunkte, sondern in ihrer sachlichen Zusammengehörigkeit wahr, dann wird man sagen müssen, dass, wie zum objektiven Inhalt der Glaubenswahrheit die Subjektivität des Glaubenden unveräußerlich hinzugehört, auch der Sachverhalt der Häresie als einer denegatio und dubitatio der fides quae ohne eine zum entschiedenen Unglauben tendierende Verkehrung der fides qua nicht zu erfassen ist. In der Konsequenz dessen stellt sich nicht nur die Frage, ob der Begriff der dubitatio zur Bestimmung des Häresiebegriffs wirklich angemessen ist, sofern sich Zweifel aus der Lebenswirklichkeit aktuellen Glaubens niemals verbannen lassen; es scheint sich darüber hinaus die Häresieproblematik insgesamt in außerordentlicher Weise zu komplizieren, als es in ihr offenbar nicht mehr bloß um Feststellung erkennbarer Abweichungen von einem Lehrbestand festumschriebener Satzwahrheiten, sondern auch um ein Urteil über die innere Verfassung dessen zu gehen hat, der von der fides quae creditur abweicht.

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Häresie nach reformatorischem Verständnis

Zwangsmaßnahmen bei Gratian wie in der Dekretistik überhaupt »stets die aus der Konfrontation mit den patristischen Canones rührenden Skrupel spürbar, die an einer exzessiven Auslegung des Rechtes auf Verfolgung von Ketzern hinderten«4. Caritas und potestas sollten als die beiden – ja auch für Thomas bestimmenden – Grundprinzipien kirchlicher Vollmacht stets zugleich zur Geltung gebracht werden. Warum schließlich in der Konfrontation der mittelalterlichen Kirche mit Ketzerei die potestas mehr und mehr überwog, ist eine Frage für sich, die hier nicht zur Erörterung ansteht und das um so weniger, als auch bei Empfehlung mildester Anwendung des Ketzerrechts die Legitimität von weltlichen Strafmaßnahmen einschließlich der Todesstrafe unter mittelalterlichen Bedingungen von der offiziellen Theologie niemals in Abrede gestellt worden ist. Um sich des theologischen Neuansatzes zu versichern, welchen demgegenüber die Reformation zumindest in theoretischer Hinsicht darstellt, genügt es, an CA XXVIII zu erinnern oder sich z. B. Luthers Devise aus der Obrigkeitsschrift von 1523 vor Augen zu halten: »Ketzerey ist eyn geystlich ding, das kan man mitt keynem eyßen hawen, mitt keynem fewr verbrennen, mitt keynem wasser ertrencken.« (WA 11, 268, 27 f) Dass dieser Satz – dessen praktische Konsequenzen freilich auch im Einflussbereich der Wittenberger Reformation nur bedingt realisiert wurden – zur damaligen Zeit alles andere als selbstverständlich war, zeigt am deutlichsten die Tatsache, dass die den »Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute« von 1518 (vgl. WA 1, 624 f; ferner WA 7, 139,14 ff) entnommene Wendung »Haereticos comburi est contra voluntatem Spiritus« (»Daß Häretiker verbrannt werden ist gegen den Willen des Geistes«) in der Bannandrohungsbulle »Exsurge Domine« vom 15. Juni 1520 ausdrücklich zu den 41 aufgelisteten Irrtümern Martin Luthers gezählt wird (vgl. DH 1483), von denen es abschließend heißt, dass sie »samt und sonders ganz und gar« (DH 1492) zu verurteilen, zu missbilligen und zu verwerfen seien. Dieses Verdikt lässt erahnen, wie eigentümlich die reformatorische Forderung ersatzloser Abschaffung des sog. Großen Bannes, der als unstatthafte Vermengung von potestas ecclesiastica und potestas civilis kritisiert wurde, in ihrer Zeit empfunden werden musste: denn »mochte man zu dem das ganze Mittelalter beherrschenden Problem ›Staat und Kirche‹ als Kurialist und Imperialist, als Welfe oder Ghibelline Stellung nehmen, mochte zwischen Monarchen und Päpsten wegen dieser oder jener Rechtskompetenz ein heftiger Streit entbrennen, so stand doch die Frage außerhalb jeglicher Diskussion, daß beide Gewalten gegen Ketzer, Schismatiker und Apostaten zusammengehen müssen«5. Das änderte sich mit der Reformation, auch wenn nicht 4 H. G. Walther, Häresie und päpstliche Politik: Ketzerbegriff und Ketzergesetzgebung in der Übergangsphase von der Dekretistik zur Dekretalistik, in: W. Lourdaux/D. Verhelst (Hg.), The Concept of Heresy in the Middle Ages (11th–13th c.), Löwen 1976, 104 – 143, hier : 142. 5 K. Völker, Toleranz und Intoleranz im Zeitalter der Reformation, Leipzig 1912, 3.

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Zum altkirchlichen Häresiebegriff und seinem Kontext

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verschwiegen werden darf, dass Luther seit den Bauernkriegen öffentliche Lehre der Ketzerei unter bestimmten Umständen als strafwürdig verboten wissen wollte und die obrigkeitliche Todesstrafe für hartnäckige Anhänger insonderheit der anabaptistischen Bewegung für rechtens erklären konnte.6

2. Zum altkirchlichen Häresiebegriff und seinem Kontext Mit der geforderten Streichung des Großen Bannes war das Exkommunikationsrecht zu einer dem Prinzip nach innerkirchlichen Angelegenheit erklärt, dessen Vollzug keine zivilen Rechtsnachteile zur Folge haben sollte. Nichtsdestoweniger wäre es ein Irrtum zu meinen, die Unterscheidung von Häresie und Orthodoxie hätte dadurch für reformatorische Theologie an ekklesiologischem Gewicht verloren; richtig ist vielmehr das Gegenteil. Bevor darauf näher einzugehen ist, bedarf es zunächst einiger Bemerkungen zur kirchengeschichtlichen Genese der erwähnten Unterscheidung. Folgt man der klassischen Theorie der Häresie, dann stellt sich deren Entstehung in etwa so dar : »Ursprünglich bewahrte die Kirche unbefleckt und in unverkürzter Reinheit die Lehre Christi und die apostolische Tradition.« »Häresien sind Ableger, Sprößlinge, wenn auch entartete, der Orthodoxie.«7 Gegen diesen »Grundsatz der Priorität der Orthodoxie vor der Häresie«8, der jahrhundertelang als selbstverständlich vorausgesetzt wurde und vielfach bis heute das Bild von der Geschichte der Kirche bestimmt, hatte W. Bauer9 in einem aufsehenerregenden, 1934 in Erstauflage erschienenen Buch über »Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum« den Vorwurf der Geschichtsverfälschung in dogmatischem Interesse erhoben. Im Gegensatz zu dem unhistorischen Geschichtsbild der Dogmatik, welche dem Urchristentum die mythische Funktion gründenden Ursprungs zuerkenne, um in ihm das Wesen alles Christlichen entdecken zu können, versucht Bauer zu zeigen, dass das Christentum keineswegs von Anfang an mit dem universalen Anspruch der Rechtgläubigkeit versehen ist, sondern sich historisch betrachtet als eine 6 Vgl. im Einzelnen meinen Beitrag: Sine vi, sed verbo? Toleranz und Intoleranz im Umkreis der Wittenberger Reformation, in: KuD 41 (1995), 136 – 157. 7 J. Blank, Zum Problem »Häresie und Orthodoxie« im Urchristentum, in: G. Dautzenberg u. a. (Hg.), Zur Geschichte des Urchristentums, Freiburg/Basel/Wien 1979, 142 – 160, hier : 143 f. Bei B. gesperrt. 8 A.a.O., 144. 9 W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, Tübingen 1934. Zusammengefaßt wiedergegeben sind die Ergebnisse Bauers bei J.B. Blank, a.a.O. 152 f. Zu den Häresiemodellen von A. v. Harnack (Lehrbuch der Dogmengeschichte I. Die Entstehung des kirchlichen Dogmas, Darmstadt 1964 [Neudruck der Ausgabe Tübingen 41909]. Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Darmstadt 1985 [Neudruck der Ausgabe Leipzig 21924]) und M. Werner (Die Entstehung des christlichen Dogmas problemgeschichtlich dargestellt, Bern/Leipzig 1941) sowie zu der an Bauer anschließenden Diskussion vgl. a.a.O. 149 ff, 154 ff.

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Häresie nach reformatorischem Verständnis

Häresie der Alten Welt unter anderen darstellt. Mit den Worten Martin Werners zu reden: Die spätere »Großkirche ist die erfolgreichste Häresie«10. Man wird nicht bestreiten können, dass sich der Sachverhalt in historischer Außenperspektive so darstellen läßt. Das gilt um so mehr, als der Häresiebegriff nach hellenistischem Verständnis keineswegs einfach pejorativ verwendet wird oder als durchweg negativ besetzter Bedeutungsträger fungiert. Hairesis heißt nach Maßgabe schulmäßiger Definitionen etwa stoischen Kontexts zunächst allgemein die auf vollzogener Wahl basierende Zustimmung zu einem Lebensgestaltungskonzept, näherhin der Anschluss an eine philosophische Schulmeinung und die durch sie geprägte Gruppe, deren Grundsätze die Stoa bezeichnenderweise dogmata nennt. Häresie und Orthodoxie umschreiben also im Sinne ihrer vorchristlich-griechischen Ursprungsbedeutung keineswegs zwangsläufige Gegensätze, zumal da unter stoischen Bedingungen die Pluralität der – häretischen – Schulen keine notwendige Alternative zur Einheit der Wahrheit darstellen muss. Wenn schließlich Philo und Flavius Josephus als gebildete Repräsentanten griechischsprachigen Judentums den Häresiebegriff auf die jüdischen Religionsparteien und ihre Meinungen anwenden, dann geschieht das primär im Interesse, Gruppierungen wie die Sadduzäer, die Pharisäer, die Essener oder die Therapeuten in eine Analogie zu hellenistischen Philosophenschulen zu stellen, um sie auf diese Weise für die Zeitgenossen interessant zu machen. Eine genuine Verketzerungsabsicht ist mit dieser Begriffsverwendung also ebensowenig verbunden wie im Zusammenhang stoischen Sprachgebrauchs. Das änderte sich erst, als der pharisäische Rabbinismus die politisch-religiöse Führung des Judentums übernommen hatte und einen Alleinanspruch auf dessen authentische Repräsentation erhob. In einer historischen Außenperspektive, wie sie von der vorchristlichen Terminologiegeschichte des Häresiebegriffs mitbestimmt ist, mag es also durchaus naheliegen, das Urchristentum als eine häretische Bewegung und Gruppierung in Betracht zu ziehen, wie dies bei Bauer der Fall ist. Problematisch an seiner Sicht bleibt dann allerdings, dass er, wie bereits der Titel seiner Schrift zeigt, die überkommenen Kontrastkategorien von Rechtgläubigkeit und Ketzerei für die Geschichte des ältesten Christentums grundsätzlich beibehält, um sich darauf zu beschränken, ihr traditionelles Folgeverhältnis umzukehren. Dem steht entgegen, dass die griechische Ursprungsbedeutung des Häresiebegriffs mit der Konnotation des Ketzerischen keineswegs genuin verbunden ist. 10 M. Werner, a.a.O., 138. Für Werner ist es eine feststehende Tatsache, »daß die werdende frühkatholische Großkirche, gemessen an dem Maßstab, an dem sie die Abkehr der verurteilten Häresie von der ursprünglichen apostolischen Lehre glaubt feststellen zu können, selber ebenfalls nichts anderes ist als eine Häresie neben andern Häresien. Diese Großkirche ist die erfolgreichste Häresie.« (Ebd.; zur »konsequent-eschatologischen« Auffassung des Urchristentums, in welcher Werner im Anschluß an A. Schweitzer den dogmengeschichtlichen Ansatzpunkt seines Werkes findet, und zu seiner Auseinandersetzung mit den Konzeptionen Harnacks, Seebergs, Loofs und Koehlers vgl. a.a.O., 3 – 79)

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Zum altkirchlichen Häresiebegriff und seinem Kontext

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Weitere Differenzierungen werden fällig, wenn man nicht in historischdistanzierter Außenperspektive verharrt, sondern die Innenperspektive einzunehmen und in den Blick zu bekommen versucht, wie sich das Häresieproblem unter dem Aspekt der ältesten christlichen Zeugnisse, also etwa in der Sicht der paulinischen Theologie darstellt. Als erstes fällt auf, dass Paulus im Unterschied zum vor- und außerchristlichen Gebrauch den Häresiebegriff negativ verwendet. Man vergleiche hierzu vor allem das in den Problemkontext rechter Feier des Herrenmahls gehörende Wort 1. Kor 11,18 f und im Zusammenhang damit Gal 5,20. Mannigfaltigkeit der verschiedenen Personen und ihrer individuellen Gaben ist nicht nur erlaubt, sondern nach Paulus ausdrücklich erwünscht. Gleichwohl »verneint derselbe Paulus ebenso strikt alle schismata, das sind persönlich, nicht sachlich motivierte Spaltungen in der Gemeinde, und alle haireseis, das sind lehrmäßig begründete Gruppenbildungen, ohne daß zunächst an falsche Lehre gedacht ist«11. Trotz verbleibender Präzisierungsbedürfnisse deutet sich in dieser Sachverhaltsbeschreibung, wie L. Goppelt sie gegeben hat, ein Doppeltes an, nämlich zum einen, dass für Paulus Schisma und Häresie eng und in eindeutig negativem Sinne verbunden sind, und zum andern, dass bei Häresie nicht nur und auch nicht primär an falsche Lehre im Sinne der Abweichung von festgefügter kirchlicher Lehreinheit zu denken ist. Letztere Einsicht ist ohne direkten Bezug auf Goppelt, aber in expliziter Auseinandersetzung mit W. Bauer von M. Elze herausgestellt worden: Sein wesentliches Interesse gilt dem Aufweis, »daß und wie überhaupt erst in der Mitte des 2. Jahrhunderts die Bedingung dafür entstand, Einheit der Kirche im Sinne von Lehreinheit zu postulieren, und daß erst im Zusammenhang damit Pluralität der Lehre als untragbar und als Häresie angesehen wurde …«12. Elze kommt zu folgendem Schluss: Während die Vorstellung der Einheit der Kirche im Sinne der Lehreinheit letztlich erst bei Irenäus fertig ausgebildet ist, bestimmt sich in der Anfangszeit des Christentums dessen Identität primär nicht durch das Mittel der Lehre, sondern durch die gottesdienstlichen Medien von Wort und Sakrament – oder anders und mit Elzes Worten gesagt: durch »die gemeinschaftliche Teilhabe am Leib Christi im Blick auf dessen bevorstehende Wiederkunft«13. In diesen Sachzusammenhang gehöre, wie insbesondere 1. Kor 11,19 belege, auch die älteste christliche Rede von Häresie: »In 1. Kor 11 handelt Paulus bekanntlich von den Formen der Abendmahlsfeier der Gemeinde in Korinth. Er bemängelt besonders, daß jeder für sich mit dem Mahl beginnt, sobald er in der Gemeindeversammlung eingetroffen ist, daß also keine Mahlgemeinschaft zustande kommt. Eben darauf bezieht sich die Aus11 L. Goppelt, Kirche und Häresie nach Paulus, in: F. Hübner (Hg.), Beiträge zur historischen und systematischen Theologie. Gedenkschrift für W. Elert, Berlin 1955, 9 – 23, hier : 13. 12 M. Elze, Häresie und Einheit der Kirche im 2. Jahrhundert, in: ZThK 71 (1974), 389 – 409, hier : 390. 13 A.a.O., 408.

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sage über die hairesis. Sie sind ein Verstoß gegen die Feier der Eucharistie, ein Verstoß gegen die Mahlgemeinschaft, gegen den im Mahl vergegenwärtigten Leib Christi.«14

3. Damnamus. Zur Verwerfung von Irrlehre in der lutherischen Bekenntnistradition Dass es die eschatologisch qualifizierte Einheit der Gemeinde im eucharistisch präsenten Leibe Christi ist, auf welche der Häresiebegriff nach Maßgabe seiner ältesten christlichen Verwendung primär zu beziehen ist, findet bei Luther und in der Wittenberger Bekenntnistradition vielfältige sachliche Bestätigung. An CA VII und den dort entwickelten Kriterien kirchlicher Einheit ließe sich dies unschwer zeigen. Im gegebenen Zusammenhang muss der Hinweis genügen, dass der reformatorische Anspruch, Kirche der reinen Lehre zu sein, nicht auf der Annahme einer nach dem Gesetz des Buchstabens festgeschriebenen Lehreinheit gründet, sondern in dem göttlichen Wort des Evangeliums von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade, welches Jesus Christus in Person ist. Dass dieses Evangelium in Predigt und sakramentalem Geschehen gottesdienstlich rein und lauter zum öffentlichen Ausdruck komme, dafür Sorge zu tragen, ist die wesentliche theologische Dienstfunktion bekennender Lehre, durch welche Funktion nachgerade auch Sinn, Vollmacht und Grenzen kirchlicher Theorie und Praxis der Verwerfung von Häresie bestimmt sind. Um H.-W. Gensichens klassische Studie über »Die Verwerfung von Irrlehre bei Luther und im Luthertum des 16. Jahrhunderts« zu zitieren: »Wenn reine Lehre nichts anderes bedeutet als sachgemäße Ausrichtung der Evangeliumspredigt, so ist nicht mehr der Widerspruch gegen ein von der Kirche festgestelltes Dogma, sondern die Abweichung vom Sola gratia und Sola fide das Kriterium der Irrlehre. Dieser Gesichtspunkt ist auch maßgebend für die Beurteilung der Leugnung altkirchlicher Dogmen. Die Verwerfung falscher Lehre gibt dann nur der Scheidung Ausdruck, die durch das Evangelium selbst gegeben ist.«15 Da ich zum Problem der Damnationen eine eigene Studie vorgelegt habe16, 14 A.a.O., 393. Dass man bei der historisch-kritischen Feststellung des exegetischen Befunds die dogmatisch-konstruktiven Anteile vonseiten des jeweiligen Exegeten nicht außer acht lassen darf, zeigt in exemplarischer Weise das Beispiel von H. Schlier, von dem der Häresieartikel im ThWNT 1, 179 – 184, stammt. Zur Entwicklung in der Alten Kirche, wie sie Schlier kontinuierlich und konsequent aus dem frühen Christentum hervorgehen lässt, vgl. a.a.O., 182 f. Hierzu ferner : H.D. Betz, Art. Häresie I. Neues Testament, in: TRE 14, 313 – 318 sowie A. Schindler, Art. Häresie II. kirchengeschichtlich, in: TRE 14, 318 – 341, bes. 320 ff. 15 H.-W. Gensichen, Damnamus. Die Verwerfung von Irrlehre bei Luther und im Luthertum des 16. Jahrhunderts, Berlin 1955, 63 f. 16 G. Wenz, Damnamus? Die Verwerfungssätze in den Bekenntnisschriften der evangelisch-lu-

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Zur Verwerfung von Irrlehre in der lutherischen Bekenntnistradition

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sei zum theologischen Status der Verwerfungssätze der Wittenberger Bekenntnistradition unter Bezug auf die Vorrede des Konkordienbuches lediglich bemerkt, dass zwar die theologische Notwendigkeit der »condemnationes, Aussetzung und Vorwerfung falscher unreiner Lehre« (BSLK 755,18 f) uneingeschränkt behauptet wird, auch hinsichtlich der aus theologischen und politischen Gründen lange umstrittenen Anathemata in FC VII (vgl. BSLK 755, Anm. 3 sowie CA X); zugleich aber wird klargestellt, dass hiermit nicht »die Personen, so aus Einfalt irren und die Wahrheit des göttlichen Worts nicht lästern, vielweniger aber ganze Kirchen in- oder außerhalb des Heiligen Reichs Deutscher Nation gemeint, sondern daß allein damit die falschen und vorführischen Lehren und derselben halsstarrige Lehrer und Lästerer, die wir in unsern Landen, Kirchen und Schulen keinesweges zu gedulden gedenken, eigentlich vorworfen werden, dieweil dieselbe dem ausgedrücktem Wort Gottes zuwider und neben solchem nicht bestehen können, auf daß fromme Herzen für derselben gewarnet werden möchten« (BSLK 756,3 – 16; vgl. BSLK 756, Anm. 1 und 2). Damit wird die von den Gnesiolutheranern vielfach geforderte bestimmte »Personalkondemnation« in Schranken gewiesen und deutlich gemacht, dass sich das »Damnamus« primär gegen Irrlehren und nicht in erster Linie gegen Personen oder gar ganze Kirchen richtet. »So ist es grundsätzlich auch möglich, daß Theologumena verdammt werden, ohne daß ihr Urheber verdammt wird.«17 Erst jener, der eine das Evangelium in seiner Mitte verkehrende Lehre »halsstarrig« (vgl. CIC 751: »pertinax«), d. h. auch nach mehrfacher Ermahnung und Zurechtweisung hartnäckig in der Öffentlichkeit vertritt, ist qua persona durch den Bann aus der Kirche auszuschließen. Sachlich ähnlich argumentieren neben der Konkordienformel auch die anderen Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche.18 Zwar ertherischen Kirche als Problem des ökumenischen Dialogs zwischen der evangelisch-lutherischen und der römisch-katholischen Kirche, in: K. Lehmann (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend? II. Materialien zu den Lehrverurteilungen und zur Theologie der Rechtfertigung, Freiburg/Göttingen 1989, 68 – 127. 17 E. Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 21946, 290. 18 Von den 21 Lehrartikeln der CA sind 12 ohne, 9 mit Verwerfungen verbunden. (Zur Vorgeschichte der Verwerfungen vgl. W. Maurer, Historischer Kommentar zur Confessio Augustana, I. Einleitung und Ordnungsfragen, Gütersloh 1976, 61 – 70 sowie H.-W. Gensichen, a.a.O., 65 ff »Die Verwerfungen der Confessio Augustana und ihre gegenwärtige Bedeutung« behandelt eine gleichnamige Stellungnahme des Ökumenischen Studienausschusses der VELKD, in: R. Kolb [Hg.], Confessio Augustana – den Glauben bekennen. 450-Jahr-Feier des Augsburger Bekenntnisses: Berichte – Referate – Aussprachen, Gütersloh 1980, 174 – 181. Vgl. ferner E. Schlink, a.a.O., 282 sowie 287 ff) Art. I verwirft alle Häresien, welche die rechte Lehre von Gott und der Trinität bestreiten, und nennt in diesem Zusammenhang die Manichäer, Arianer und andere altkirchliche Irrlehrer, außerdem die »Mahometisten«. In Art. II werden die Pelagianer, in Art. VIII die Donatisten, in Art. XII die Novatianer verdammt. Die Art. V, IX, XII und XVII sprechen Damnationen gegen die Täufer aus. Art. X belegt die Gegner der lutherischen Abendmahlslehre mit einem »improbant«. Von besonderem Interesse für die Auseinandersetzung mit den Altgläubigen sind zwei Verwerfungssätze im Rahmen der Erbsünden- bzw.

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klärt etwa Apol VII den Irrlehrer schonungslos zum Widerchristen, den man »nicht annehmen oder hören« dürfe (BSLK 246,21). Aber nicht jeder Vertreter irriger Lehrmeinungen sei eo ipso ein zu verwerfender Irrlehrer ; unterschieden werden müsse in diesem Zusammenhang vielmehr zwischen »inutiles opiniones« (Apol VII,20) und »perniciosus error« (Apol VII,21). Denn »wiewohl nu in dem Haufen, welcher auf den rechten Grund, das ist, Christum und den Glauben gebauet ist, viel schwache sein, welche auf solchen Grund Stroh und Heu bauen, das ist, etliche menschliche Gedanken und Opinion, mit welchen sie doch den Grund, Christum, nicht umstoßen noch verwerfen, derhalben sie dennoch Christen sind und werden ihnen solche Feihl vergeben, werden auch etwa erleucht und besser unterricht: also sehen wir in den Vätern, Bußlehre: CA II verdammt zusammen mit den Pelagianern jene, »qui vitium originis negant esse peccatum et, ut extenuent gloriam meriti et beneficiorum Christi, disputant hominem propriis viribus rationis coram Deo iustificari posse« (BSLK 53,14 – 20). CA XII verwirft diejenigen, »qui non docent remissionem peccatorum per fidem contingere, sed iubent nos mereri gratiam per satisfactiones nostras« (BSLK 67,20 – 24). Insgesamt ist auffällig, dass, abgesehen von den Anabaptisten, »keine zeitgenössischen Gegner namentlich oder gruppenmäßig genannt«, vielmehr alle ausdrücklichen Verwerfungsurteile »gegen alte, von der gesamten Christenheit längst verurteilte Ketzereien« (W. Maurer, Die Geltung des lutherischen Bekenntnisses im ökumenischen Zeialter, in: Publica doctrina heute, Berlin/Hamburg 1969 [Fuldaer Hefte Nr. 19], 94 – 112, hier : 110) gerichtet werden. Aktuelle Bezüge werden nur spärlich und indirekt bezeichnet. »Die Zwinglianer sind die ›secus docentes‹ (CA 10), die Lehrer der Werkgerechtigkeit bleiben anonym (CA 12, § 10), die ethischen Perfektionisten im Mönchtum (CA 16, § 4) und anderswo (CA 12, § 8) ebenso. Das Bekenntnis hat offenbar nicht die Absicht, gegenwärtige Irrlehrer durch öffentliche Verdammung zu brandmarken. Es wählt ihnen gegenüber mit Vorliebe zurückhaltende Ausdrücke, von denen reicere (CA 12, § 10) der stärkste, admonere (unterrichten, lehren; CA 15, § 2 f) der schwächste ist, während Vokabeln wie improbare (CA 10, § 2) oder dem Glauben an Christus (dem Evangelium) entgegen sein (CA 15, § 3) mehr oder weniger in der Mitte liegen dürften.« (W. Maurer, Historischer Kommentar I, 63) Was das Verhältnis zu Rom angeht, so wird man nicht bestreiten können, dass die Verwerfungsurteile in CA II (vgl. BSLK 53, Anm. 2) und CA XII (vgl. BSLK 67, Anm. 4; vgl. die Fassung des späteren Verwerfungsurteils von CA XII in Na) gegen Theologumena der mittelalterlichen Kirche gerichtet sind. Näher identifiziert werden sie indes nicht, geschweige denn als Lehren der Gesamtkirche ausgegeben. Dasselbe gilt für die Verwerfung des ethischen Perfektionismus (zur Textgeschichte von CA XVI und CA XVIII,1 und 2 vgl. Maurer, a.a.O., 114 – 117). Schließlich findet sich von einer Verwerfung des Papstes als des Antichristen, wie sie Luther in seinem Bekenntnis von 1528 ausgesprochen hatte, in der CA nichts; sie wird denn auch bis zu den ASm »offiziell nirgends wiederholt« (a.a.O., 61). Im übrigen verdient es bemerkt zu werden, dass das Konkordienbuch mehr antireformierte Damnationen enthält als Verwerfungen, welche gegen die römisch-katholische Kirchenlehre gerichtet sind. Noch in Bezug auf das von Franz Buddeus angeregte und von seinem Schwiegersohn Johann Georg Walch (1693 – 1775) zur Ausführung gebrachte Monumentalwerk über die Religionsstreitigkeiten innerhalb und außerhalb der evangelisch-lutherischen Kirche lässt sich feststellen, »daß für die lutherisch-römisch-katholischen Auseinandersetzungen knapp weniger Umfang als für die lutherisch-reformierten Streitigkeiten verwandt wird« (D. Blaufuß, Nachwort zu J.G. Walch, Historische und theologische Einleitung in die Religionsstreitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Bd. V/2, Stuttgart/Bad Cannstatt 1985 [Neudruck der Ausgabe Jena 1733 – 1739], 1502).

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Die Häresiologien Karl Barths und Friedrich Schleiermachers

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daß sie auch beiweilen Stroh und Hau auf den Grund gebauet haben, doch haben sie damit den Grund nicht umstoßen wollen.« (BSLK 239,2 – 13) Zum verdammlichen Irrlehrer werde erst, wer unbelehrbar den rechten Grund aller Lehre umstößt, »das Erkenntnis Christi und den Glauben« (BSLK 239,14). Eben dies aber ist nach Apol bei den Widersachern der Fall: »Denn sie verwerfen und verdammen den hohen, größten Artikel, da wir sagen, daß wir allein durch den Glauben, ohne alle Werke Vergebung der Sunde durch Christum erlangen … Wer nu den Glauben nicht nötig achtet, der hat Christum bereit verloren.« (BSLK 239,14 – 20) Dem kirchlichen Verwerfungsurteil geht also gewissermaßen die Selbstverwerfung des Ketzers bereits voraus. Das kirchliche Urteil begründet somit eigentlich keinen Sachverhalt, sondern deklariert ihn nur öffentlich.19 Das Ziel eines evangelisch-lutherischen Verwerfungsurteils ergibt sich sonach allein aus dem Zusammenhang dessen, was über Mitte und Grenze evangelischlutherischen Bekenntnisses überhaupt, nämlich über aller Lehre Hinordnung und Bindung an die viva vox evangelii, die bedingungslose Zusage der Gnadentat Gottes in Jesus Christus für den Menschen zu sagen ist. Kurzum: Evangelische Lehre ist kein doktrinärer Selbstzweck, sondern in Affirmation und Negation ganz auf jene doctrina hingeordnet, welche das Evangelium ist; der Zusage des Evangeliums in Wort und Sakrament durch Wahrung und Verteidigung ihrer Unbedingtheit sich dienlich zu erweisen, dies und nichts anderes ist die Funktion, in welcher Lehre ihren Sinn erfüllt und jenen Konsens befördert, der nach CA VII zur Einheit der Kirche nötig, aber auch hinreichend ist.

4. Die Häresiologien Karl Barths und Friedrich Schleiermachers Gründet die Einheit der Kirche in der Einigkeit rechter Evangeliumsverkündigung und stiftungsgemäßer Sakramentsverwaltung, dann ist – wie sich am Lehrverwerfungsverständnis der evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften bestätigt – häretische Trennung nicht bereits dort gegeben, wo doktrinelle Differenzen statthaben, sondern erst dann, wenn eine Doktrin jenen Glaubenskonsens destruiert, der die Voraussetzung gemeinsamen gottesdienstlichen Lebens der Glieder am Leibe Christi darstellt. In dieser Perspektive betrachtet erscheinen etwa die im 5. Jahrhundert im Anschluss an die christologischen Konzile von Ephesus (431) und Chalcedon (451) entstandenen ersten Kirchenspaltungen als durchaus »vermeidbar«, »wenn eine intensive Fühlungnahme der sich verketzernden Parteien stattgefunden hätte«20. 19 Vgl. C. Link, Art. Bann V, in: TRE 5, 182 – 190, hier : 187. 20 A. Grillmeier S.J., Häresie und Wahrheit. Eine häresiologische Studie als Beitrag zu einem ökumenischen Problem heute, in: H. Wolter S.J., Testimonium veritatis. Philosophische und

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Vergleichbares mag für die große Kirchenspaltung des 11. Jahrhunderts gelten. Erst wenn man die kirchlichen Trennungen ins Auge faßt, welche die abendländische Christenheit im 16. Jahrhundert betrafen und die konfessionelle Landschaft bis heute entscheidend prägen, scheint sich nach verbreitetem Urteil die Angelegenheit anders darzustellen und der aufgerissene Gegensatz ein kaum überbrückbarer zu sein. Nicht von ungefähr hat Karl Barth die Vermutung geäußert, »daß die Häresie doch erst durch die Reformation und seit der Reformation zu einem allgemein und grundsätzlich empfundenen Problem geworden ist. Es war formell nichts Neues und sachlich doch etwas ganz Neues in der Art, wie die evangelische Kirche eines Luthers und Calvins das Papsttum und wie umgekehrt der Katholizismus des 16. und 17. Jahrhunderts nun gerade diese ›Ketzerei‹ gesehen haben. Was ›Andersglaube‹ ist, das hat sich damals und so erst damals der Kirche eingeprägt.«21 Auch noch in der Perspektive des 20. Jahrhunderts, die Barth spätestens von dem Zeitpunkt an als seine eigene erkannte und anerkannte, zu welchem er die kontrastierende Gegenüberstellung eines klassischen Reformationszeitalters und einer dekadenten Neuzeit und Gegenwartsmoderne als Ergebnis einer »romantisierenden Geschichtsphilosophie« (KD I/1, 25) durchschaut hat, ist der Tatbestand der Häresie für ihn im Wesentlichen identisch mit dem Gegensatz von reformatorischem Christentum und römischem Katholizismus. Namentlich auf den Gegensatz von reformatorischem Christentum und römischem Katholizismus ist daher auch die Grundsatzdefinition zu beziehen, die Barth dem Häresiebegriff zuteil werden läßt: »Wir verstehen unter Häresie eine solche Gestalt des christlichen Glaubens, der wir zwar formell (weil auch sie sich auf Jesus Christus, auf seine Kirche, auf die Taufe, auf die Heilige Schrift, auf gemeinsame christliche Bekenntnisformeln usw. bezieht) ihre Eigenschaft als Gestalt des christlichen Glaubens nicht abstreiten können, ohne doch in der Lage zu sein, zu verstehen, was wir damit tun, wenn wir sie als solche anerkennen, weil wir ihren Inhalt (die in ihr stattfindende Interpretation dieser gemeinsamen Voraussetzungen) nur als Widerspruch gegen den Glauben verstehen können.« (KD I/1, 31)22 Ist Häresie sonach das paradoxe Faktum, in Bezug auf welches der Glaube nicht nur und nicht primär mit theologische Studien zu kirchlichen Fragen der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1971, 81 – 100, hier : 99. Eine detaillierte theologiegeschichtliche Analyse der nestorianischen, der monophysitischen und der orthodoxen Position führt nach Grillmeier »zu einem für die Gesamtlage des Christentums nicht unbedeutenden Ergebnis: die Christenheit war sich im Glauben an Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes mehr eins, als sie selber wußte. Die Vergabe des Titels des ›Häretikers‹ an die heute von uns Getrennten war unberechtigt und voreilig.« (A.a.O., 100) 21 K. Barth, Kirchliche Dogmatik (= KD). Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Erster Halbband, Zürich 111985, 34. 22 Zu Barths Häresiebegriff vgl. auch KD I/2, 891 ff, bes. 902 ff, wo als die eigentliche formale Aufgabe der Dogmatik die Warnung vor allen vorhäretischen Abweichungen bestimmt wird. Vgl. dazu auch die Bemerkung zur Genese der dogmatischen Prolegomena aus dem Geist der Häresiebekämpfung KD I/1, 34.

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dem Unglauben streitet, sondern im Widerstreit liegt mit sich selbst, will heißen: mit einer Glaubensgestalt, die beansprucht, Glauben zu sein, und diesen Anspruch der Form nach auch berechtigt erhebt, obwohl sie materialiter und dem Glaubensgehalt nach nur als Andersglaube, als verkehrter Glaube gelten kann (KD I/1, 30: »Der Andersglaube ist der Glaube, in dem wir den Unglauben sich zum Worte melden hören.«), so ergibt sich zwangsläufig, dass Häresie im Unterschied zum reinen Unglauben und zur Apostasie für den Glauben eine höchst »belangvolle Größe« (KD I/1, 31) ist und sein muss, sofern in ihr dem Glauben die Gestalt seines verkehrten Widerscheins begegnet.23 Dieser Sachverhalt ist es, der Barth das evangelische Verhältnis zum 23 Interessant ist ein Vergleich der Sichts Barths mit derjenigen Karl Rahners (vgl. bes. K. Rahner, Was ist Häresie?, in: ders., Schriften zur Theologie. Bd. V: Neuere Schriften Einsiedeln/Zürich/ Köln 21964, 527 – 576). Nach Rahner findet sich »das eigentliche Wesen der Häresie« (527) nur im Christentum, weil hier das Bewußtsein einer heilsentscheidenden Geschichtsoffenbarung Gottes ein Wahrheitsethos und Wahrheitspathos von unvergleichlicher Radikalität begründet, für welches der »Grundsatz von der wesentlichen Heilsbedeutung der Wahrheitserkenntnis als solcher« (532) charakteristisch ist. Mag äußerlicher Irrtum auch toleriert werden, so ist es dem Christentum schlechterdings unerträglich, den Irrtum zu dulden, der in seiner eigenen Mitte aufsteht, um diese zu verkehren. Was den Häretiker selbst betrifft, so nimmt er nach Rahner »(wenn auch thematisch zunächst nur in Konfrontation mit einer bestimmten Wahrheit, an der als Material er seine Haltung vollzieht) eine Haltung ein, die (auch wenn er das noch nicht weiß und merkt) in ihrem endgültigen und voll ausgereiften Vollzug zur Leugnung der ganzen Offenbarungswahrheit führen muß. Aber auch umgekehrt: insofern er wesentliche Wahrheiten der christlichen Offenbarung festhält, ist in ihm auch der gegenläufige Prozeß im Gang; er ist in einer Bewegung auf das Ganze des Christentums hin begriffen. So ist seine Situation zweideutig.« (551). Diese Zweideutigkeit, die nachgerade für das Verhältnis von Häresie und Apostasie bestimmend ist, ist nach Rahner »für die Reflexion grundsätzlich unüberwindbar« (553): »Nie kann man mit absoluter Sicherheit sagen, ob der Häretiker trotz seiner Häresie in der Wahrheit ist wegen seiner christlichen Wahrheiten, an denen er festhält, oder ob er trotz dieser Wahrheiten wirklich im Irrtum ist wegen seiner häretischen Sätze, an denen er festhält.« (554) Diese Einsicht bietet Rahner den Ansatzpunkt seiner Erörterung über den Gestaltwandel der Häresie in der neuzeitlichen Welt pluraler Wirklichkeiten. Kennzeichnend für die modernitätsspezifische Häresie ist ihr kryptogamer Charakter. »Die Häresie hat wesentlich die Tendenz, unthematisch zu bleiben und darin besteht ihre eigentümliche und außerordentliche Bedrohlichkeit.« (561) Auch in der Kirche gibt es nach Rahners Urteil in und mit deren Rechtgläubigkeit diese kryptogame Häresie. »Die Zugehörigkeit zur Kirche und das ausdrückliche Bekenntnis zu ihrer Lehre sind kein absoluter und mechanisch wirkender Schutz vor der Häresie. Jeder ist individuell von seinem eigenen, unvertretbaren Gewissen auch in der Kirche von Gott danach gefragt, ob er nicht vielleicht unter dem Schein (der nicht andere nur, sondern auch einen selbst täuschen kann) der Rechtgläubigkeit im Grunde unthematisch ein Häretiker in der kryptogamen Art der Häresie sei.« (565) Letzterer Satz verweist bereits auf die Instanz, welcher der Kampf gegen die kryptogame Häresie vor allem aufgetragen ist: es ist dies nach Rahner primär nicht das Lehramt, sondern, wie gesagt, das Gewissen des Einzelnen. Wichtig ist dieser Hinweis nicht zuletzt deshalb, weil er das Häresieproblem auf das subjektive Verhältnis zur Wahrheit konzentriert, ohne welches von dessen Objektivität gar nicht die Rede sein kann. Dass der Häresiebegriff die Subjektivität des Häretikers ebensowenig außer Betracht lassen darf wie der Begriff der Wahrheit ohne Berücksichtigung ihrer subjektiven Gewissheit auskommt, ist eine nicht zu unterschätzende Einsicht, die in der traditionellen Häresiedefinition durch das Moment der Hartnäckigkeit des Leugnens und Zweifelns zwar angesprochen, nicht aber hinreichend zur Geltung gebracht ist.

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römischen Katholizismus als ein in hohem Maße ernstes und streitbares erscheinen lässt. Einen vergleichbaren Ernst und eine entsprechende Streitbarkeit evangelischen Christentums hält Barth für nötig und theologisch geboten nur mehr in Bezug auf den protestantischen Modernismus, in welchem er neben dem römischen Katholizismus die zweite paradigmatische Gestalt der Häresie zu entdecken meint, hinsichtlich derer evangelischer Glaube in Konflikt mit sich selbst bzw. mit seinem verkehrten Widerschein steht. Während die Häresie des römischen Katholizismus in der Gestalt eines hierarchisch verfassten und durch festgelegte Lehrautorität dogmatisch definierten Gemeinwesens auftrete, wird nach Barth der protestantische Modernismus – seinem Wesen bzw. Unwesen gemäß – beispielhaft durch einen Einzelnen repräsentiert, durch F.D.E. Schleiermacher. Als Klassiker, wenn auch nicht Inaugurator des Modernismus habe er »in seiner Lehre von der christlichen Frömmigkeit als dem Sein der Kirche dieser Häresie eine die Zeit vor ihm ebenso erfüllende wie die Zeit nach ihm weissagende formale Begründung gegeben« (KD I/1, 35). Kurzum: Wie der römische Katholizismus nach Barth als Inbegriff einer reaktionär-restaurativen Häresie zu gelten hat, in welcher das Allgemeine die Belange des Einzelnen dominiert, so wird in Schleiermacher die von allem Gemeinverbindlichen emanzipierte, solipsistische Individualgestalt des häretischen Modernismus repräsentativ vorstellig. Auf indirekte Weise kann man in jener Gegenüberstellung noch des Kontrastes gewahr werden, welchen der zum Häresiarchen Stilisierte als bestimmend erklärt hatte für das Verhältnis von Protestantismus und Katholizismus, welches die kirchliche Situation im Abendland seit der Reformation entscheidend prägt: »Sofern die Reformation«, heißt es im 24. Paragraphen von Schleiermachers zusammenhängender Darstellung des christlichen Glaubens nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, die abgekürzt die »Glaubenslehre« genannt zu werden pflegt, »nicht nur Reinigung und Rückkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen war, sondern eine eigentümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft aus ihr hervorgegangen ist, kann man den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, daß ersterer das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältnis zur Kirche.«24 Zum rechten Verständnis dieser Formel ist vorauszusetzen, dass Schleiermacher zum einen seinen konfessionstypologischen Versuch »nur für einen vorläufigen« (139) und zum anderen den entwickelten prinzipiellen Begriff der 24 F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aufgrund der zweiten Auflage und kritischer Prüfung des Textes neu hg. von M. Redeker, Berlin 1960, 137. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zum Gegensatz zwischen abendländischer und morgenländischer Kirche vgl. a.a.O., 134 f (§ 23.1). Ferner : M. Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, Tübingen 1989.

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Die Häresiologien Karl Barths und Friedrich Schleiermachers

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inneren Einheit der evangelischen Kirche weder als ein unmittelbar verifizierbares empirisches Datum noch als einen Lehrbegriff von durchgängiger Bestimmtheit ausgeben will. Dass der protestantische Lehrbegriff von einer solchen durchgängigen Bestimmtheit »sehr weit entfernt« ist, beweisen nach Schleiermacher die verschiedenen reformatorischen Bekenntnisschriften, in denen »nicht immer dasselbe in denselben Buchstaben gefaßt ist« und die fernerhin als die »einzigen amtlichen und vielleicht allgemein anerkannten Darstellungen doch immer nur einzelne Teile des Lehrbegriffs zum Gegenstand haben« (143). Schleiermacher wertet dieses Phänomen nicht lediglich als Resultat eines historischen Zufalls, er sieht in ihm vielmehr eine geschichtliche Bestätigung des bezeichneten Prinzips der inneren Einheit der evangelischen Kirche selbst, welches Lehruniformität nicht nur nicht fordert, sondern im Gegenteil ausschließt, sofern dank und aus Anlass seiner Christus- und Gottunmittelbarkeit jeder Einzelne im Ausbilden einer eigenen Lehr- und Glaubensüberzeugung begriffen sein darf und begriffen sein soll. Dass solche theologische Individualitätskultur Gemeinsamkeit nicht auflöst, sondern eine die Einzelnen verbindende gemeinsame Eigentümlichkeit heraufführt, wie sie für den Protestantismus charakteristisch sein soll, dessen war Schleiermacher gewiss; ja, es war ihm diese Gewissheit ein Implikat jenes unmittelbaren Selbstbewusstseins, welches für ihn der Inbegriff gläubigen Wesens ist. Die dem Protestantismusbegriff eigene Grenzmarke wäre für ihn deshalb nicht nur dort überschritten, wo der Einzelne nur als Funktionsmoment eines kollektiv Allgemeinen oder als bloßer Teil eines Ganzen in Betracht gezogen wird, sondern auch im Falle eines Individualismus, welcher sich in atomistisch-solipsistischer Weise missversteht und darauf angelegt ist, »durch Auflösung der Gemeinschaft das christliche Prinzip aufzugeben« (140). Würde dieser Fall nicht nur vereinzelt eintreten, sondern für die Realität des Protestantismus bestimmend, dann hätte der Häresievorwurf, wie er von römisch-katholischer Seite erhoben wird, sein gutes theologisches Recht. Im Übrigen attestiert Schleiermacher dem römischen Katholizismus, dass er seinerseits der Gefahr, durch Vernachlässigung der Beziehung auf Christus zugunsten der Kirche unchristlich zu werden, allenfalls in einzelnen Repräsentanten, aber nicht insgesamt erlegen sei. Sein protestantischer Vorbehalt dem aufgestellten Prinzip der inneren Einheit der katholischen Kirche gegenüber verbindet sich daher für ihn mit dem Vorbehalt gegenüber einem antikatholischen Vorwurf der Häresie. Zwar kann sich nach ihm »eine zu jetziger Zeit innerhalb der abendländischen Kirche aufzustellende Glaubenslehre … zu dem Gegensatz zwischen dem Römisch-Katholischen und dem Protestantischen nicht gleichgültig verhalten, sondern muß einem von beiden Gliedern angehören« (134; § 23); nichtsdestoweniger glaubt sich Schleiermacher als Protestant hinsichtlich des römischen Katholizismus zu der Annahme berechtigt, »daß anderes dort Einheimische und uns ebenso Fremde doch von der Art ist, daß wir es neben dem Unsrigen glauben bestehen

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lassen zu dürfen, also anders als das Unsrige gestaltet, aber ebenso christlich« (137). Unabhängig von seiner generellen Reserve gegenüber den Ausdrücken orthodox und heterodox (vgl. 145 f) subsumiert Schleiermacher den römischen Katholizismus also ausdrücklich nicht unter den Begriff der Häresie. Dessen Konstruktion ist entsprechend nicht vom protestantischen Gegensatz zum Katholizismus geprägt, sondern ergibt sich im Vollzuge der Wahrnehmung der Grenzen, welche mit der Bestimmung des – die Differenz von Protestantismus und Katholizismus umgreifenden – Wesens des Christentums gesetzt sind. Besteht, wie Schleiermacher dies voraussetzt, das eigentümliche Wesen des Christentums darin, dass alle Frömmigkeit auf die durch Jesus geschehene Erlösung bezogen ist, so folgt daraus für den Begriff der Häresie, deren Ketzerei aus dem Zusammenhang kirchlicher Glaubenslehre auszuscheiden ist, dass sie im Schein des Christentums und unter dem Anspruch christlicher Lehre diesen Bezug mit der Tendenz, ihn aufzulösen, verkehrt. Dies kann nach Schleiermacher im Prinzip auf vierfache Weise geschehen, nämlich auf doketische, nazoräisch-ebionitische, manichäische und pelagianische, wobei hinsichtlich des grundsätzlichen Verhältnisses zum Wesen des Christentums »Manichäisches mit Doketischem zusammen(gehört), und so auch wieder Pelagianisches mit Ebionitischem« (133). Wie dies im Einzelnen zu verstehen ist, wird in § 22 der Glaubenslehre ausgeführt und muss hier nicht referiert werden. Ich begnüge mich mit der abschließenden Feststellung, dass der durch die Konstruktion seiner vier sog. natürlichen Erscheinungsgestalten vollständig bestimmte Begriff der Häresie nach Schleiermacher im Wesentlichen die Funktion der Grenzmarkierung (vgl. 132) hat. Dabei geht es, wie unschwer zu sehen ist, recht eigentlich nicht um eine äußere Grenzziehung und eine klare Bestimmung dessen, was jenseits der Grenze liegt; genau betrachtet überlässt Schleiermacher das Häretische, wo es um die Frage seiner inhaltlichen Ausgestaltung gehen müsste, getrost dem Unbestimmten. Klar bestimmt werden soll sonach offenbar weniger das, was dem Christentum äußerlich ist, sondern die innere Grenze, welche mit dem Begriff, den das Christentum von sich selbst hat, gesetzt ist.

5. Mitte und Grenze reformatorischen Christentums25 Evangelische Theologie und Kirche hat das Problem der Häresie als die notwendige, weil von ihrem Begriff her erforderte Aufgabe der Selbstbegrenzung durch Vollzug reflexer Unterscheidungen wahrzunehmen. Zum Wissen 25 Breit ausgeführt habe ich das im Folgenden lediglich skizzenhaft Dargestellte in: G. Wenz, Theologie der Bekennntisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bd., Berlin/New York 1996/98.

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Mitte und Grenze reformatorischen Christentums

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evangelischen Glaubens um sich selbst gehört – um an bereits Gesagtes zu erinnern – zum einen die Einsicht, dass er niemals durch Zwangsmittel der Gewalt zu bewirken, zu erhalten oder zu verteidigen ist. Die rechte Unterscheidung zwischen potestas ecclesiastica und potestas civilis ist für den Glauben mithin nach Maßgabe seines eigenen Begriffs obligat, wohingegen eine häretische Verkehrung des Glaubens immer dann vorliegt, wenn unter Berufung auf ihn das zivile Gemeinwesen zur Kirche gemacht und die Kirche mit Mitteln äußerer Macht regiert wird bzw. regiert werden soll. Das Wissen evangelischen Glaubens um sich selbst enthält aber nicht nur die für die Gestaltung seiner Außenbezüge fundamentale Einsicht in den kategorialen Unterschied von weltlicher Macht, deren rechtlich geordnete Gestalt als gottgewollt anzuerkennen ist, und jener geistlichen Vollmacht, mit welcher Gott seine Kirche regieren will; es enthält auch und vor allem das für das Selbstverhältnis des Glaubens elementar bestimmende Bewusstsein, vom Konstitutions- und Erhaltungsgrund seiner selbst unterschieden zu sein. So wahr der Glaube er selbst und sich eigen und niemals Funktion einer Fremdbestimmung ist, so wahr ist er reine Gabe. Kurzum: der Glaube ist sich als er selbst schlechthin gegeben, und er weiß dies nach Weise der Einsicht, die er in sich selbst nimmt, mit Gewissheit. Eben diese Gewissheit, welche die intellektuelle Grundanschauung des Glaubens ausmacht, ist charakteristisches Kennzeichen jedweder Form gläubiger Intellektualität und Reflexivität. Alle Vollzüge und Äußerungsformen evangelischen Glaubens finden deshalb an dieser ihr Maß. Vermessen und in sich widrig wäre es hingegen, wollte sich der Glaube jemals als Konstitutions- und Erhaltungsgrund seiner selbst behaupten. In solch autarker Selbstbehauptung wäre nichts anderes als Selbstvergottung am Werke, und unter dem Schein des Christlichen würde der Antichrist sein teufliches Unwesen treiben. Der rechte Glaube hingegen weiß um den Unterschied von Gott und Mensch und wahrt ihn, ja er ist an sich selbst das wahrhafte Innesein des Unterschieds von Gott und Mensch, wobei hinzuzufügen ist, dass es eines vonseiten Gottes erschlossenen Beziehungszusammenhangs bedarf, um menschlicherseits diesen unvergleichlichen Unterschied in rechter Weise zu erkennen. Der Glaube ist die Wahrnehmungsgestalt dieses Beziehungszusammenhangs; und indem er dieses Beziehungszusammenhangs und damit Gottes als der unbedingten Voraussetzung seiner selbst gewahr wird, wird er des unvergleichlichen Unterschieds der Wirklichkeit Gottes und des Wirkens des Menschens, zwischen opus Dei und opera hominum gewahr. Steht dieses fest, so gilt zugleich der Grundsatz: Rechte christliche Zeugenschaft gibt es und kann es nur unter der Bedingung der Gewissheit geben, dass der bezeugte Gott, wie er in der Kraft seines Heiligen Geistes in Jesus Christus offenbar ist, sich selbst zu bezeugen und zur Gewissheit zu bringen vermag. Gottes unbedingte Wahrheit ist der Selbstbewährung fähig: Diese Prämisse macht das Zeugnis des Glaubens keineswegs überflüssig, sie ist im Gegenteil die Bedingung seiner Möglichkeit. Das Bekenntnis evangelisch-lu-

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therischer Kirche, wie es in den Schriften des Konkordienbuchs dokumentiert ist, entspricht diesem Grundsatz und bestätigt ihn in reflexer Weise nicht nur durch die Unterscheidung seiner selbst als »norma normata« von der kanonischen »norma normans«, sondern auch dadurch, dass es gelten will nur unter der Bedingung bedingungsloser Wahrung der Unbedingtheit des Evangeliums, welches Wort und Sakrament, wie sie in der Heiligen Schrift beurkundet sind, zu verkünden haben. Nach Maßgabe des Selbstverständnisses evangelisch-lutherischen Bekenntnisses ist es demnach ausgeschlossen, den Bekenntnisbuchstaben unmittelbar mit dem Worte Gottes gleichzusetzen bzw. zum Identitätsgaranten christlicher Wahrheit zu erklären. Mehr noch: Das Bekenntnis evangelischer Kirche schließt auch die Behauptung differenzlos-indifferenter Einheit kirchlicher Zeugengestalten und des durch diese Zeugengestalten bezeugten Gehalts prinzipiell aus. Ein Monopolanspruch auf die authentische Wahrnehmung christlicher Wahrheit kann infolgedessen von keiner kirchlichen Zeugengestalt erhoben werden, sei diese von einem Einzelnen oder von einer Gruppe repräsentiert. Vielmehr liegt, wo ein solch exklusiver Monopolanspruch erhoben wird, nach evangelischem Urteil eine Verirrung vor. Das gilt nachgerade deshalb, weil in dem für den Glauben erschlossenen Bewusstsein der Unterschiedenheit Gottes und des Menschen die Anerkennung unaufhebbarer, weil in Gott gründender wechselseitiger Unterschiedenheit von Menschen als Menschen und mithin die Anerkennung einer irreduziblen Subjektpluralität mitgesetzt ist, welche es theologisch als inakzeptabel, ja als häretisch erscheinen lassen muss, einem einzelnen Kirchenglied bzw. einer Gruppe von Kirchengliedern von Amts wegen oder aus welchen Gründen auch immer die ausschließliche Kompetenz authentischer Wahrnehmung bzw. Vergewisserung christlicher Wahrheit zuzudenken. Die häretische Gefahr, welche dem Christentum von solchen Monopolisierungstendenzen her droht, pauschal mit dem römischen Katholizismus in Verbindung zu bringen oder gar gleichzusetzen, wie das auf seine Weise Karl Barth getan hat (vgl. KD I/1, 33: »Wir stehen vor dem Faktum der Häresie. Konkret: wir stehen vor dem Faktum des römischen Katholizismus in der Gestalt, die er sich im 16. Jahrhundert im Kampf gegen die Reformation gegeben hat.«), sollte sich evangelische Theologie heutzutage nicht nur nicht erlauben, sondern verboten sein lassen. Man wird evangelischerseits lediglich klarzustellen haben, dass eine Monopolisierung authentischer Wahrnehmung und Vergewisserung christlicher Wahrheit in Form etwa amtlicher Kompetenzansprüche auf Identitäts- bzw. Kontinuitätsgarantierung des Christentums niemals Ziel einer Lehre sein darf, mit der es unter evangelischen Bedingungen ökumenisches Einverständnis geben kann. Ist der Rahmen, innerhalb dessen sich evangelische Theologie und Kirche ihrem Bekenntnis entsprechend zu bewegen haben, in dieser Hinsicht abgesteckt, so muss, um – sektiererische – Einseitigkeit zu vermeiden und zu einem gerundeten Ergebnis zu gelangen, schließlich auch noch jene häretische

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Gefährdung bedacht werden, welche dem evangelischen Glauben nach Barths Urteil von einem protestantischen Modernismus Schleiermacherscher Prägung her droht. Auch wenn es berechtigte Zweifel gibt, ob dieses Urteil theologiegeschichtlich zurecht besteht, so trifft es doch zweifellos zu, dass evangelischer Glaube unbeschadet seiner prinzipiellen Individualität einen solipsistischen Atomismus des christlichen Subjekts ebenso prinzipiell ausschließt wie eine Herabsetzung des Individuums zu einem bloßen Funktionsmoment kollektiver Allgemeinheit. Individualität und Sozialität evangelischen Glaubens gehören gleichursprünglich und auf paritätische Weise zusammen. Dies ist unter dem Aspekt notwendig geforderter Anerkennung von Subjektpluralität bereits angesprochen worden und daher zunächst nur durch den Hinweis zu vertiefen, dass die Anerkennung des Nächsten in seiner unvergleichlichen Andersheit für den Glaubenden insofern mit dem Vollzug seiner Selbstanerkennung übereinkommt, als die Selbstbezogenheit des Glaubens mit einer Selbstentzogenheit elementar verbunden ist, da der Glaubende seinen Grund nicht bei sich selbst, sondern allein bei Gott sucht und findet, in welchem das Geheimnis, das der Mensch sich selbst ist, heilsam offenbar ist. Auch wenn die göttliche Offenbarung des Geheimnisses des Menschseins des Menschen, wie sie in Jesus Christus kraft des Heiligen Geistes statthat, für den Glaubenden die Rätsel seines Lebens und seiner Welt keineswegs einfachhin löst, so ist er doch durch sie erlöst von einer durch Nichtigkeitsangst getriebenen verzweifelten Sorge ums Eigene, welche Freiheit die Bedingung der Möglichkeit von Fürsorge und Nächstenliebe ist. Dabei wird der Glaubende, gerade weil er durch ursprüngliche Einsicht in seine Selbstverfassung um das innerweltlich nicht zu behebende Ungleichmaß von Gottesverhältnis und eigenem Verhalten weiß, dem Nächsten die Unterscheidung zwischen verborgenem Inneren und sichtbarem Äußeren nicht schuldig bleiben, ohne welche Unterscheidung Nächstenliebe niemals die Form der Feindesliebe wird annehmen können. Ist damit in dieser Hinsicht das Wichtigste gesagt und zugleich ein zumindest skizzenhafter Bezug hergestellt zur anfänglich zitierten Rede von ethischer Häresie, so muss das über Individualität und Sozialität evangelischen Glaubens Ausgeführte noch dahingehend ergänzt werden, dass der Glaube unbeschadet der ihm erschlossenen Gottunmittelbarkeit an sich selbst keine vermittlungslose Größe darstellt, sondern eine Größe vermittelter Unmittelbarkeit. Kann doch vom Glauben nach evangelischer Lehre ohne Bezug auf Wort und Sakrament nicht sinnvoll die Rede sein. Der Umgang mit diesen ist deshalb aus Glaubensgründen zu pflegen. Dies zu leugnen und den christlichen Glauben ablösen zu wollen von den Gestalten seiner Vermittlung, ist daher ebenso Häresie wie dezidierte theologische Unkirchlichkeit bzw. Antikirchlichkeit. Eben weil der Glaube von einer Voraussetzung lebt, die er nicht selbst erzeugt hat, nämlich von der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie im Heiligen Geist erschienen ist, kann er sich von den im Offenbarungsereignis mitgesetzten Repräsentationsgestalten dieser Voraus-

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setzung – dem eingesetzten Wort, dessen Urkunde die Heilige Schrift ist, und den gestifteten Sakramenten – nicht dergestalt emanzipieren wollen, dass er sie als für das Glaubensleben unnötig oder am Ende gar schädlich erklärt. Ein Spiritualismus dieser Art ist unevangelisch.26 Weil Gott den seligmachenden Glauben nicht unmittelbar, sondern in der Kraft seines Heiligen Geistes durch das Evangelium in Wort und Sakrament wirkt, sind unter Verweis auf Röm 10,17 diejenigen zu verwerfen, »die das Wort und die Sakrament verachten« (BSLK 59,6 f). Das Anathem von CA V gilt entsprechend solchen, die das verbum externum für überflüssig erachten (CA V,4: »qui sentiunt spiritum sanctum contingere hominibus sine verbo externo per ipsorum praeperationes et opera«) und lehren, »daß wir ohn das leiblich Wort des Evangelii den heiligen Geist durch eigene Bereitung, Gedanken und Werk erlangen« (BSLK 58,12 – 15). Bindung an das verbum externum im Sinne des verbum audibile et visibile von Wort und Sakrament, wie es die Heilige Schrift kanonisch beurkundet, ist daher für evangelische Zeugenschaft obligat, wohingegen fehlende Schriftgemäßheit als Häresieindiz zu gelten hat.

26 Es ist infolgedessen evangelische Bekenntnispflicht, die äußeren Bedingungen der Möglichkeit des Glaubens in bindender Verantwortung vor dem kanonischen Glaubenszeugnis apostolischer Tradition präsent zu halten. Dazu hinwiederum bedarf es der Bewahrung und Erneuerung jenes geschichtlichen Konsenses, der nach CA VII für die Einheit der Kirche sowie für die Erklärung und Praktizierung von Kirchengemeinschaft hinreichend, aber auch notwendig ist.

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Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis Ein Beitrag zur Strukturdebatte der EKD* In der Alten Kirche ist ein Papagei berühmt geworden. Er pflegte auf dem Marktplatz zu Antiochia mit krächzender Stimme das Trishagion aufzusagen. Allerdings brachte der seltsame Vogel das Dreimalheilig mit theopaschitischen Zusätzen und damit auf häretische Weise zu Gehör. Doch darauf kommt es hier nicht an. Denn zum rechten Bekenner wäre der antiochenische Papagei auch dann nicht geworden, wenn seine Auslassungen als orthodox und dogmatisch einwandfrei zu gelten hätten: »Denn was der Bekenntnispapagei aufzusagen hat, ist eben ein Papageienbekenntnis, mehr nicht. Der Papagei hat etwas aufzusagen; aber er hat nichts zu sagen.«1 Warum erwähne ich diese Episode? Um die Grundthese meines Vortrags vorweg vor einem Missverständnis zu bewahren! Diese Grundthese lautet: Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis ist Bekenntnisgemeinschaft, näherhin: Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis ist Bekenntnisgemeinschaft im Sinne der Confessio Augustana. Ist damit einer buchstäblichen, gleichsam papageienartigen Wiederholung von Lehrformeln des 16. Jahrhunderts das Wort geredet? Mitnichten! Gesagt allerdings ist, dass für ein evangelisches Verständnis von Kirchengemeinschaft die kontinuitätsbewahrende und -fördernde Bindung an ein gemeinsames und explizites Bekenntnis wesentlich ist. Konfessionslose Kirchengemeinschaft kann es aus evangelischer Sicht nicht geben. »Konfession ist«, um den Braunschweiger Landesbischof Friedrich Weber zu zitieren, »kein Synonym für Abschottung.« Im Gegenteil: »Elementare verbindende Aussagen über den Glauben werden gerade dann wichtig, wenn das Erscheinungsbild der Kirche sich immer weiter differenziert. Nach innen und nach außen muss erkennbar sein, was sie im Kern zusammenhält.«2 Ich will diese Annahme in drei systematischen Gedankensequenzen skizzieren, die sich thetisch wie folgt zusammenfassen lassen: 1. Kirche im ekklesiologischen Sinne des Begriffs ist Gottesdienstgemeinschaft. 2. Zum Wesen jeder Gottesdienstgemeinde gehört unveräußerlich ein universal* Vortrag bei einem öffentlichen Seminar am 24. Juni 2005 in den Augustana-Sälen bei St. Anna in Augsburg aus Anlass des 475jährigen Jubiläums der Confessio Augustana. 1 E. Jüngel, Bekennen und Bekenntnis, in: S. Herrmann/O. Söhngen (Hg.), Theologie in Geschichte und Kunst. FS W. Elliger, Witten 1968, 94 – 105, hier : 94. 2 Texte aus der VELKD 111/2002 (Braucht die evangelische Kirche eine neue Struktur? Stellungnahmen und Diskussionsbeiträge aus der VELKD [Teil 1]), 32 – 35, hier : 32.

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Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis

kirchlicher Bezug. Er verwirklicht sich in der Gemeinschaft von Gemeinden. Kirchengemeinschaft ist communio ecclesiarum, Gemeinschaft von Gottesdienstgemeinden. 3. Kriterium von Kirchengemeinschaft als Gemeinschaft von Gottesdienstgemeinden ist der Konsens hinsichtlich rechter Evangeliumsverkündigung und stiftungsgemäßer Sakramentsverwaltung als wesentlicher Kennzeichen von Kirche. Im gemeinsamen Bekenntnis findet besagter Konsens seine Ausdrucksgestalt. Quod erat demonstrandum: Kirchengemeinschaft ist Bekenntnisgemeinschaft. Ich ergänze diese systematische Gedankenfolge durch drei weitere, ausführlicher zu entfaltende Thesen, die mehr oder minder direkt auf die aktuelle Diskussionslage auf dem Hintergrund der EKD-Strukturdebatte bezogen sind, die zu berücksichtigen mir eigens aufgetragen wurde. 4. Konfessionelle Differenzen führten bekanntlich dazu, dass die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchentümer sich separierten mit der Folge, dass etwa zwischen Lutheranern und Reformierten über Jahrhunderte hinweg keine Abendmahlsgemeinschaft und keine Kirchengemeinschaft bestand. Erst mit der Leuenberger Konkordie konnten die lutherischen, reformierten, unierten und sonstigen Signatarkirchen auf der Basis eines gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums erklären, dass die konfessionellen Differenzen des 16. Jahrhunderts keine aktuelle kirchentrennende Wirkung mehr haben. 5. Die Evangelische Kirche in Deutschland versteht sich als eine Kirchengemeinschaft im Sinne der Leuenberger Konkordie. So wurde es vor geraumer Zeit in einem Votum der EKD-Kammer für Theologie zum Thema »Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis«3 eigens bestätigt. Was das genau bedeutet, ist die entscheidende theologische Frage der aktuellen Strukturreformdebatte. Dazu will ich eine Problemanzeige vortragen und einen Vorschlag unterbreiten, welcher weniger auf Originalität denn auf Plausibilität Anspruch erhebt und der Sache nach bereits in der grundlegenden Eingangsthese inbegriffen ist: Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis ist Bekennntisgemeinschaft im Sinne der Confessio Augustana. Kurzum: Ich plädiere für eine Evangelische Kirche in Deutschland in der Bekenntnistradition der Confessio Augustana, in deren Überlieferungszusammenhang überkommene binnenreformatorische Konfessionsdifferenzen ebenso zu erklären wie zu überwinden sind. Die Augustana ist ein evangelisches Bekenntnis, das die aus der Reformation hervorgegangenen Konfes-

3 Vgl. Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis. Ein Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen. Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD Texte 69). Einen ausführlichen Kommentar hierzu habe ich in epd-Dokumentation 15/2002 vorgelegt: Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis. Eine Stellungnahme zum Votum der Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen. Wiederabgedruckt in: ÖR 51(2002), 353 – 366.

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Zum ekklesiologischen Begriff der Kirche

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sionen zu integrieren vermag. Die aktuelle Strukturreformdebatte4 sollte unter dieser Prämisse geführt werden. Dazu unter 6. einige Anmerkungen.

1. Zum ekklesiologischen Begriff der Kirche Was ist Kirche? Nach Martin Luther ein blindes und undeutliches (vgl. WA 50, 625, 5) Wort, das einer ekklesiologischen Klärung bedarf. Der VII. Artikel der Confessio Augustana bietet eine solche Begriffsklärung in bündigster Form: »Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.« (CAVII,1). Auf deutsch: Die Kirche ist »die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden« (BSLK 61,4 – 7). Prototypische Gestalt der una, sancta, catholica et apostolica ecclesia, der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche ist diesen Wendungen zufolge die konkrete, um Wort und Sakrament versammelte Gottesdienstgemeinde. In ihr subsistiert die Kirche Jesu Christi nicht nur, sie ist (est) Kirche im eigentlichen und vollen Sinne des Begriffs, wie er durch die Etymologie des deutschen Lehnworts Kirche nahegelegt ist. Kirche ist die Gemeinschaft der dem kyrios durch Teilhabe an Wort und Sakrament Zugehörigen. Das ekklesiologische Wesen der Kirche ist geistvermitteltes Sein in Christus. Durch die Medien von Wort und Sakrament gewährt der Heilige Geist Anteil an der Beziehung des auferstandenen Gekreuzigten zu seinem göttlichen Vater, womit das menschliche Verhältnis zu Gott, Selbst und Welt von Grund auf zurechtgebracht wird. Als gerechtfertigter Sünder mit Gott selbst versöhnt und verbunden sind die Gläubigen zugleich untereinander zusammengeschlossen, wobei Individualität und Sozialität in gleichursprünglicher Weise in Geltung stehen.

4 Zum Verlauf der Strukturdebatte vgl. u. a. die Dokumentation in Texte aus der VELKD 111/2002, 119/2003, 126/2004: Braucht die evangelische Kirche eine neue Struktur? Wenn EKD und VELKD, wie es in einem Entwurf vom 22. September 2004 heißt, einen Vertrag bezüglich der Grundsätze und aktuellen Ausgestaltung ihres Zusammenwirkens »in Bindung an ihre Bekenntnisgrundlagen« schließen wollen, dann ist als erstes die Frage zu klären, um welche Bekenntnisgrundlagen es sich dabei im Falle der EKD (Texte aus der VELKD 126/2004, 33: »weltweit nahezu einmaliges Modell«) handelt. Ich plädiere im Interesse einer Klärung dieser Frage dafür, den Schlusssatz der Präambel der gegenwärtigen Fassung der Grundordnung der EKD etwa wie folgt zu ergänzen: »…, die in der Confessio Augustana ihre gemeinsame Grundlage haben.«

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Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis

2. Kirchengemeinschaft als communio ecclesiarum Kirche ist Gottesdienstgemeinschaft. Das ist wahr ; aber es ist wahr nur dann, wenn man zugleich mitbedenkt, dass jede Gottesdienstgemeinde mit einem universalkirchlichen Bezug unveräußerlich verbunden ist. Die Kirche als congregatio sanctorum ist zugleich Gemeinschaft »aller Glaubigen« (BSLK 61,4 f). Dabei enthält der universalkirchliche Bezug, der jeder Gottesdienstgemeinde ihrem Wesen nach eigen ist, sowohl einen räumlichen als auch einen zeitlichen Aspekt. Kirchengemeinschaft als communio sanctorum ist zum einen eine die Schranken der Zeit transzendierende Größe. Wir stehen als evangelische Christen bei aller gegebenen chronologischen und möglichen kritischen Distanz in einer Gemeinschaft mit den Christenmenschen aller Zeiten von den apostolischen Ursprüngen der Christenheit an. Nichts ist ekklesiologisch verfehlter als die Behauptung, die evangelische Kirche habe im 16. Jahrhundert ihren Anfang genommen. Analoges gilt zum anderen in räumlicher Hinsicht: Kirche und Kirchengemeinschaft übersteigen die Grenzen des Raumes ebenso wie diejenigen der Zeit. Gottesdienstgemeinde und weltweite Ökumene – damit ist der ekklesiologische Spannungsbogen umschrieben, innerhalb dessen sich Kirchenverfassungen produktiv zu gestalten haben. Ohne Zweifel bedarf es übergemeindlicher Organisationsformen etwa auf regionaler und nationaler Ebene. Gleichwohl sind Deutschland, ja selbst Bayern ekklesiologische Ordnungsgrößen von allenfalls sekundärer Relevanz, deren aus pragmatischen Gründen durchaus anzunehmende Bedeutung nicht vergessen machen darf, dass Kirche und Kirchengemeinschaft wesentlich einen ökumenischen, will heißen: weltweiten Charakter haben. Jeder landeskirchliche oder nationalkirchliche Provinzialismus ist ekklesiologisch in hohem Maße kontraproduktiv.

3. Communio und Konsens Die Kirche ist ihrem Wesen nach eine. Kriterium kirchlicher Einheit und entsprechender Kirchengemeinschaft im Sinne von communio ecclesiarum ist der Konsens hinsichtlich rechter Evangeliumsverkündigung und stiftungsgemäßer Sakramentsverwaltung. Er ist für die Verwirklichung kirchlicher Gemeinschaft ebenso notwendig wie hinreichend. Um erneut CA VII zu zitieren: »Et ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum.« (CAVII,2) »Dann dies ist gnug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakrament dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden.« (BSLK 61,8 – 12) Gleichförmige Zeremonien oder

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Communio und Konsens

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sonstige Gewohnheitsgebräuche traditionellen Herkommens sind hingegen zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche nicht notwendig. Kirchengemeinschaft ist Konsensgemeinschaft, die im gemeinsamen Verständnis des Evangeliums besteht. Was damit präzise gesagt ist, dürfte eine der interessantesten Fragen evangelischer Ekklesiologie im Kontext der Ökumene sein. Denn der Dissens beginnt ja in der Regel beim Verständnis von Konsens. Hält man sich an den Gesamtduktus der Augustana, dann wird man um die Feststellung nicht umhin können, dass sie sich selbst für die Explikationsgestalt jenes Konsenses hielt, den sie in ihrem VII. Artikel zur notwendigen und hinreichenden Grundlage von Kirchengemeinschaft erklärte.5 Damit ist nicht gesagt, dass die Bedingung kirchlicher Gemeinschaft nach CAVII Lehreinheit im Sinne doktrinärer Übereinstimmung in einer (in Corpora Doctrinae dokumentierten) Summe von Satzwahrheiten sei, wie das eine – auch nach gnesiolutherischem Urteil missratene – Formulierung in den Schwabacher Artikeln nahe legt (BSLK 61,23 f: »Solche Kirch ist nit ander dann die Glaubigen an Christo, welche obgenannte Artikel und Stuck halten«). Gleichwohl darf man die Bedeutung von expliziter Lehre für Kirchengemeinschaft nicht marginalisieren, da diese für die verantwortliche Wahrnehmung jener unverzichtbar ist. Denn der Konsens bezüglich rechter Wortverkündigung und stiftungsgemäßer Sakramentsverwaltung, der nach CA VII die Möglichkeitsbedingung kirchlicher Gemeinschaft ist, lässt sich nur im Medium von Lehre artikulieren. Auch das EKD-Votum zu Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis, von dem bereits die Rede war, sagt bemerkenswerterweise ausdrücklich, dass diese nur dann verantwortlich gestaltet werden kann, »wenn die Kirchen ihr Verständnis des Evangeliums auch im Medium der Lehre gemeinsam darlegen und entfalten. Sie geben damit Rechenschaft über den Grund ihrer Gemeinschaft im Evangelium und arbeiten in Lehrgesprächen an der unerlässlichen Weiterbildung der Lehre in den beteiligten Kirchen.«6 Ohne gemeinsames Bekenntnis, das um seiner inhaltlichen Bestimmtheit willen auf das Medium der Lehre angewiesen ist, kann von begründeter Kircheneinheit und damit von einer Gemeinschaft von Kirchen im Sinne einer Kirchengemeinschaft, die theologisch als Kirche zu beurteilen ist, nicht die Rede sein. Die Confessio Augustana, so will mir scheinen, bietet sich – wenn es nach mir geht: zusammen mit Luthers Katechismen – sowohl unter historischen als 5 Darauf weist u. a. die Tatsache hin, dass das Verbum consentire von CA VII,2 auf die Wendung »Ecclesiae magno consensu apud nos docent« von CA I,1 zurückverweist. Wer im Gegensatz zu dem Lehrkonsens steht, den die CA artikuliert, erfüllt auch die Bedingungen nicht, welche nach CA VII die Voraussetzung von Kirchengemeinschaft bilden. Weil sich rechte Verkündigung und reine Lehre wohl unterscheiden, nicht aber trennen lassen, verfügen die nach Maßgabe der Augustana verfassten Kirchen über Lehrordnungen, Erklärungen zur Lehrverpflichtung und Handhabung der Lehrgewalt sowie über kirchengesetzliche Bestimmungen bezüglich des Verfahrens bei Lehrbeanstandungen. 6 Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis, a.a.O., 9 (II.1).

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Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis

auch unter sachlichen Gründen als ein gemeinsames Lehrbekenntnis reformatorischer Kirchen förmlich an. Zum einen vermag sie als inhaltliches Integral der Leuenberger Kirchengemeinschaft zu fungieren, deren theoretische Grundlage – die Konkordie, von der sogleich zu reden sein wird – sie ohnehin, namentlich durch ihren VII. Artikel entscheidend bestimmt. Zum andern enthält sie ein die denominationelle Sphäre Leuenberger Kirchengemeinschaft transzendierendes gesamtökumenisches Potential, da sie auf die Reform der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche ausgerichtet war und ausgerichtet ist.

4. Kirchengemeinschaft im Sinne der Leuenberger Konkordie Kann es Kirchengemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen geben? Das erwähnte Votum der EKD zum Thema »Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis« bejaht diese Frage. Es teilt die traditionelle Gleichung von Kirchengemeinschaft und Bekenntnisgemeinschaft nicht nur nicht, sondern rechnet explizit mit der Möglichkeit und Tatsächlichkeit einer Kirchengemeinschaft bekenntnisdifferenter Kirchen. Als eine Kirchengemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen werden namentlich die Leuenberger Kirchengemeinschaft und analog zu ihr die EKD qualifiziert. Die VELKD gilt demgegenüber als eine Kirchengemeinschaft von bekenntnisgleichen Kirchen bzw., was dasselbe ist, Kirchen gleichen Bekenntnisstandes. Obwohl sich dieser Sprachgebrauch in bestimmter Weise auf die Leuenberger Konkordie berufen kann7, wird man doch auch und gerade in deren Perspektive einige Differenzierungen vorzunehmen haben. Denn zwar bedeutet Kirchengemeinschaft nach den ausdrücklichen Worten der Konkordie, »daß Kirchen verschiedenen Bekenntnisstandes aufgrund der gewonnenen Übereinstim7 Gemäß der Leuenberger Konkordie kann und soll es Kirchengemeinschaft und damit auch Bekenntnisgemeinschaft von Kirchen mit verschiedenem Bekenntnisstand geben. Das ist u. a. deshalb möglich, weil die Selbstunterscheidung von ihrem Grund und die Differenzierung zwischen der »norma normans« Heiliger Schrift als der kanonischen Urkunde des Glaubens und der Funktion des Bekenntnisses als »norma normata« zum gemeinsamen Zeugnis reformatorischer Kirchen gehört. Indes darf dies nicht gegen die ekklesiologische Relevanz kirchlicher Lehre ausgespielt werden. Konfessionelle Lehrunterschiede sind entsprechend auch und gerade dann ernstzunehmen, wenn ihre kirchentrennende Bedeutung verneint werden kann. Das Verhältnis, das zwischen dem Begriff einer Kirchengemeinschaft von Kirchen mit verschiedenen und solchen von gemeinsamem Bekenntnisstand waltet, muss daher ein spannungsvolles sein und zwar gerade dann, wenn die konkreten kirchlichen Beziehungen durch wechselseitige Anerkennung bestimmt sind. Solche lebendige Spannung schulden die Kirchen sowohl sich selbst als auch ihrem Verhältnis zueinander. Ein wesentlicher Ausdruck solcher Spannung sind fortgesetzte Lehrgespräche. Es versteht sich von selbst, dass sie auch innerhalb einer Gemeinschaft von Kirchen zu führen sind, die sich aufgrund ihres einheitlichen Bekenntnisstandes als konfessionsverwandt wahrnehmen.

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Kirchengemeinschaft im Sinne der Leuenberger Konkordie

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mung im Verständnis des Evangeliums einander Gemeinschaft an Wort und Sakrament gewähren und eine möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt erstreben« (LK IV, 29). Doch ist damit noch keineswegs klar, was mit Kirchengemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen im Sinne der Leuenberger Konkordie genau gemeint ist.8 Um lediglich dieses anzuführen: Die Leuenberger Kirchengemeinschaft hebt bekanntlich die verpflichtende Bekenntnisbindung der ihr zustimmenden Kirchen nicht auf, sondern bestätigt und bekräftigt sie. Das geschieht unter der Voraussetzung, dass die in den reformatorischen Bekenntnissen ausgesprochenen Lehrverurteilungen, ohne dass diese deshalb als ungemäß bezeichnet werden müssten, auf der Basis des erreichten gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums und bei gegebener Zustimmung zu den in Abschnitt III der Konkordie formulierten Übereinstimmungen den gegenwärtigen Stand der Lehre der Partnerkirche nicht betreffen und daher keine kirchentrennende Bedeutung haben. Daraus folgt, dass die Bekenntnisverschiedenheit der Signatarkirchen nach erfolgter Verständigung, welche die Erklärung der Kirchengemeinschaft ermöglichte, nicht mehr dieselbe ist wie zuvor. Im Unterschied zu einer trennenden Verschiedenheit kann sie als eine 8 Kirchengemeinschaft im Sinne der Leuenberger Konkordie ist, so denke ich, primär die Gemeinschaft konfessionsverschiedener Kirchen zum Zwecke gemeinsamen Bekennens und Handelns. Eine organisatorische Einheit der Kirchen der Leuenberger Gemeinschaft ist zwar nicht ausgeschlossen, durch die Konkordie aber auch nicht unmittelbar angestrebt. Ihre Funktion ist gemäß Art. 37 nicht die eines Unionsbekenntnisses. Darauf hat die Generalsynode der VELKD aus Anlass ihrer Zustimmung im Herbst 1974 ausdrücklich hingewiesen. Entsprechend wurde vermerkt: »Da die LK das Bekenntnis der Kirchen nicht verändert, kann niemand, der sich dem Bekenntnis seiner Kirche verpflichtet weiß, durch die LK in seiner Bindung an das Bekenntnis persönlich beeinträchtigt sein.« (Lutherische Generalsynode 1974, 733) Unter direktem Bezug auf die Leuenberger Konkordie sind damit die Konditionen benannt, unter denen diese vor einem guten Vierteljahrhundert lutherischerseits unterzeichnet wurde. Darauf hat der Leitende Bischof der VELKD nachdrücklich hingewiesen: »Bei der Zustimmung der lutherischen Kirchen zur Leuenberger Konkordie hat es eine entscheidende Rolle gespielt, dass die Konkordie kein Unionsbekenntnis darstellt, sondern die in eine Kirchengemeinschaft eintretenden Partner jeweils auf die bei ihnen geltenden Bekenntnisse verweist … Die VELKD hat zuletzt beim Beitritt der lutherischen Kirche Dänemarks versichert, dass eben dieses Verständnis für Leuenberg maßgeblich ist. Wenn die lutherischen Kirchen sich auf eine Strukturveränderung einlassen, kann dafür nicht ein ganz anderes Verständnis der Leuenberger Konkordie die Grundlage bilden. Hier muss die lutherische Kirche um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen auf einer Klärung bestehen.« (H.-C. Knuth, Gefahr der Gigantomanie – Die konfessionellen Zusammenschlüsse, die es in der EKD gibt, sind notwendig, in: epd-Dokumentation 28/2002, 39 – 41, hier : 41. Vgl. fernerhin: Ders., Die Gestalt der Kirche ergibt sich aus ihrem Auftrag – Zur Struktur evangelischer Kirchen in Deutschland, in: a.a.O., 64 – 71, hier : 70: »Die Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie durch die EKD ist wohl so zu verstehen, dass sich die EKD selbst in der Perspektive Leuenbergs versteht, und nicht so, dass Leuenberg in Zukunft nach dem Muster eines bestimmten Verständnisses von EKD zu interpretieren sei. Dies liegt auch schon deshalb nahe, weil die EKD nach Art. 1 ihrer Grundordnung ja eine Gemeinschaft lutherischer, reformierter und unierter Gliedkirchen ist, die Bekenntnisgrundlage ihrer Gliedkirchen achtet und voraussetzt, dass diese ihr Bekenntnis in Lehre, Leben und Ordnung der Kirche wirksam werden lassen.«)

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Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis

versöhnte Verschiedenheit beschrieben werden, die der Einigkeit dienlich ist, statt sie aufzuheben. Der Bekenntnisstand der Signatarkirchen kann daher in gewisser Hinsicht durchaus als einiger beschrieben werden. Wenn er zugleich ein unterschiedener zu nennen ist, dann nicht deshalb, um die konfessorische Einigkeit erneut einzuschränken oder gar in Abrede zu stellen, sondern um einem Verständnis Leuenberger Kirchengemeinschaft im Sinne einer konfessionelle Traditionen und ihre Verbindlichkeit gleichschaltenden Vereinheitlichung zu wehren. Die Leuenberger Konkordie ist kein Unionsbekenntnis und will kein Unionsbekenntnis sein9, welches evangelische Einheit unter Abstraktion von differenten und ehemals trennenden Konfessionstraditionen herzustellen sucht. Sie ist nicht auf Homogenität angelegt, sondern auf eine differenzierte Sicht des Verhältnisses der Signatarkirchen zueinander und damit auch ihres Verhältnisses zu den Kirchen außerhalb der Leuenberger Kirchengemeinschaft. Es gilt die Maxime, dass evangelischer Einheit nicht durch Egalisierung von Unterschieden, sondern durch deren kommunikative Wahrnehmung gedient ist. Der gemeinsame Bezug auf die Confessio Augustana – welcher der Leuenberger Konkordie jenes inhaltliche Format zu verleihen vermag, das sie für sich genommen nicht hat – kann, so mein ceterum censeo, einer solch kommunikativen Wahrnehmung evangelischer Einheit in hohem Maße dienlich sein. Er kann zugleich ein Bewusstsein für den nicht nur begriffsgeschichtlichterminologisch äußerst relevanten Sachverhalt verschaffen, dass zwischen Konfession im Sinne von Bekenntnis und Konfession im Sinne von kirchlicher Denomination zwar nicht einfach zu trennen, wohl aber zu unterscheiden ist. Die Confessio Augustana ist, wenn man so will, ein konfessionsintegrierendes und konfessionstranszendierendes Bekenntnis.

5. Die Evangelische Kirche in Deutschland als eine Bekenntnisgemeinschaft verschiedenkonfessioneller Kirchen Nach Maßgabe der dargelegten Interpretation ist die Leuenberger Kirchengemeinschaft keine Unterschiede gleichschaltende und damit zu konfessioneller Indifferenz tendierende bzw. sich durch externe Gegensätze bestimmende Union. Sie ist eine Vereinigung von Kirchen unterschiedlicher Bekenntnistradition, deren Verschiedenheit, ohne aufzuhören, ihren trennenden Charakter verloren und daher im Sinne versöhnter Verschiedenheit gemeinsame ekklesiale Gestalt angenommen hat, die zu gemeinsamem Zeugnis bestimmt ist und damit auch eine konfessorisch-konfessionelle Gemeinsamkeit 9 Vgl. Texte aus der VELKD 111/2002, 71 – 77: Die Leuenberger Konkordie ist kein Unionsbekenntnis. Interview mit Prof. Dr. Eilert Herms.

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Die EKD als eine Bekenntnisgemeinschaft

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impliziert. Damit ist es ausgeschlossen, die Bekenntnisfrage zu neutralisieren oder sie zu einem lediglich kirchenrechtlichen Problem ohne ekklesiologische Relevanz im strikt theologischen Sinne herabzusetzen. Unter dieser Voraussetzung wäre zu prüfen, was im Einzelnen gemeint ist, wenn, wie im erwähnten Votum der Fall, gesagt wird, die EKD sei als Kirchengemeinschaft zwar kirchenrechtlich nicht eine Kirche, wie ihre Gliedkirchen es sind, da sie z. B. in Lehrfragen nicht deren Kompetenzen besitze, sie müsse aber gleichwohl Kirche nicht erst werden, weil sie es unter der entwickelten Prämisse, dass Kirchengemeinschaft Kirche ist, im theologischen Sinne schon sei. Ich kann in diese Prüfung hier nicht eintreten, belasse es vielmehr bei der Bemerkung, dass für das Selbstverständnis der EKD als Kirchengemeinschaft im Sinne der Leuenberger Konkordie die Bekenntnisfrage ekklesiologisch entscheidend ist. Die EKD ist eine unierte Kirche, hat 2002 der amtierende pfälzische Kirchenpräsident bemerkt.10 Wenn sich ihre Gliedkirchen im Bekenntnis der Confessio Augustana vereint wissen, dann – aber auch nur dann – kann man das gegebenenfalls11 so sagen. Auch für die von E. v. Vietinghoff initiierte12 EKD-Strukturreformdebatte ist theologisch gesehen das Bekenntnisproblem entscheidend, wobei der Streit nicht darum geht, ob Bekenntnisbindung ekklesiologische Bedeutung zu10 Vgl. epd-Wochenspiegel 32/2002, 3. 11 Zur fälligen Diskussion der Konditionen und Modalitäten vgl. F.-O. Scharbau, Zur wieder aufgelebten Strukturdebatte in der EKD. Does form follow function? Einheit der Kirche – Katholizität und Konfessionalität, in: Texte aus der VELKD 111/2002, 51 – 70, bes. 64 ff. Dass eine EKD Augsburgischen Bekenntnisses eine traditionelle Konfessionsunterschiede nivellierende Unionskirche ebenso wenig sein dürfte und sein müsste wie eine lutherische Denomination unter Ausschluss reformierter und unierter Traditionen, hat Scharbau überzeugend deutlich gemacht. Zutreffend ist auch sein Hinweis, dass das Konzept einer EKD A.B. primär »eine theologische Aufgabe und erst in zweiter Linie, durchaus nicht minder qualifiziert, eine strukturelle Gestaltungsaufgabe« (66) ist. Ich füge lediglich hinzu, dass man den – ekklesiologisch durchaus schätzenswerten – Unionsbegriff nicht kampflos Unionismusprogrammen überlassen sollte, die zu konfessioneller Indifferenz tendieren. 12 Vgl. bes. E. v. Vietinghoff, Reform ist nötig – Reform ist möglich, in: epd-Dokumentation 6a/ 2002; wieder abgedruckt 28/2002, 55 – 63 sowie 10 – 16: ders., »Reform ist nötig – Reform ist möglich«. Ein Zwischenresümee nach sechs Monaten Debatte; hiernach wird zitiert. Der auf Eigeninitiative seines Autors – Präsident des Kirchenamtes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und Mitglied des Rates der EKD – entstandene Text wurde zu Beginn des im Gang befindlichen Prozesses an die leitenden Geistlichen und Juristen der EKD-Gliedkirchen und die gliedkirchlichen Zusammenschlüsse sowie an die Mitglieder des EKD-Rates versandt mit dem Ziel, eine Strukturreform der EKD anzuregen. Im praktischen Kern geht es um die Forderung, die konfessionellen Kirchenbünde aufzuheben und die EKD das einzige Dach der 24 evangelischen Landeskirchen in Deutschland sein zu lassen. Um es mit Vietinghoffs eigenen Worten zu sagen: »Nur was Kirchengemeinden und Kirchenkreise als erste Ebene kirchlichen Lebens nicht leisten können, soll die Landeskirche als zweite Ebene leisten; was diese nicht leisten kann, soll die EKD als Gemeinschaft aller 24 Gliedkirchen leisten. Weitere Zwischenebenen können und müssen entfallen, weil sie zu viele Kräfte intern binden, das Außenbild diffus machen, die Transparenz der Entscheidungen schmälern und ein zielstrebiges und auch zeitnahes Handeln erschweren.« (10) Zum gegenwärtigen Stand der Entwicklung vgl. etwa VELKD Informationen 2005/113 (2. 5. 2005), 8 f.

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Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis

kommt, was von allen Seiten bejaht wird, sondern worin diese genau besteht und wodurch ihr struktureller Ausdruck zu verleihen ist.13 Auf den Bekenntnisaspekt will ich mich deshalb beschränken und alle anderen Fragen beiseite lassen wie etwa die, ob nicht eine Reform der z. T. mehr als eigentümlichen landeskirchlichen Landschaft (»24 faktisch in vielerlei Hinsicht … völlig inkommensurable Größen«14) zumindest ebenso dringlich wäre wie eine EKD-Reform.15 Nach ursprünglicher Vorstellung E. v. Vietinghoffs soll es künftig unter 13 Differenzierungsbedürftig, so scheint mit, ist E. v. Vietinghoffs Kurzcharakteristik der soziokulturellen Rahmenbedingungen gegenwärtigen kirchlichen Handelns in Deutschland: »Die ›Grenzen‹ verlaufen zwischen Christentum (und anderen Konfessionen) einerseits sowie den Konfessionslosen andererseits und innerhalb der christlichen Ökumene zwischen römischkatholischem Katholizismus, Orthodoxie und reformatorischen Kirchen. Die unter den reformatorischen Kirchen gepflegten weiteren Differenzierungen haben dagegen in Deutschland in der Lebenswirklichkeit längst an profilbildender und zukunftsorientierter Prägekraft verloren (sie werden von den Kirchen selbst auch nur selektiv ernst genommen, wie jeder Umzug zwischen den Landeskirchen zeigt, der die Umziehenden ohne ihr Zutun, ihre Zustimmung, ja meistens ohne ihr Wissen von einem Bekenntnisstand in den anderen versetzt).« (56) Zu den Reformvorschlägen selbst und dem projektierten Verfahrensplan ihrer Realisierung vgl. 57 ff sowie die kritische Replik von H.-C. Knuth, Die Gestalt der Kirche ergibt sich aus ihrem Auftrag, a.a.O., 64 – 71. Knuth weist darauf hin, dass Fusionen oder fusionsähnliche Strukturierungsmaßnahmen nicht notwendig effektivitätssteigernd sind; im Übrigen hätten die konfessionellen Zusammenschlüsse eine die EKD faktisch stärkende Bündelungsfunktion. Theologisch zentral sind die anschließenden Bemerkungen zur kirchlichen Bedeutung der Bekenntnisbindung und die ekklesiologische Bewertung der Leuenberger Kirchengemeinschaft. 14 E. V. Vietinghoff, a.a.O., 57. 15 »Die geografischen Zuschnitte der 24 Gliedkirchen sind nur in der Minderzahl der Fälle zeitgemäß; mehrheitlich sind sie nur bei inniger Liebe zu Geschichte nachvollziehbar. Ihre Größen reichen von rd. 60.000 Kirchengliedern bis zu knapp 3,2 Mio. Kirchengliedern. 14 Landeskirchen haben eine Million und weniger Kirchenglieder; 10 Landeskirchen haben sogar weniger als 500.000 Kirchenglieder. Diese überkommenen landeskirchlichen Zuschnitte beruhen in ihren Grundzügen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf Entscheidungen des Wiener Kongresses vor bald 200 Jahren. Diese damals rein staatlichen Entscheidungen sind inzwischen freilich in Essentialia landeskirchlichen Selbstverständnisses mutiert. Veränderungen im Zuschnitt der Landeskirchen sind daher kaum zu erwarten.« (E. v. Vietinghoff, a.a.O., 56 f) Dieser Schluss mutet im Kontext einer Reformschrift eigentümlich resigniert an. Falls rein staatliche Entscheidungen tatsächlich zu Essentialia kirchlichen Selbstverständnisses mutiert sein sollten, ist das ein ekklesiologisch unhaltbarer Zustand und ein Armutszeugnis reformatorischen Christentums. In diesem Zusammenhang ist auch Bischof Knuths berechtigte Mahnung zu hören, »dass die Bekenntnisgebundenheit auf einer völlig anderen Ebene anzusiedeln ist als die landsmannschaftliche Prägung einer Landeskirche« (H.-C. Knuth, a.a.O., 68). Zutreffend ist auch, dass die Bekenntnisbindung territoriale Grenzen transzendiert und folgerichtig zu einer spezifischen »Verbundenheit mit anderen Kirchen gleichen Bekenntnisstandes« (ebd.) führt. »Insofern bilden die bekenntnisgleichen Gemeinschaften den inneren Kern der Einheit der Christenheit. Es macht den spezifischen Beitrag der Kirche für die Weltgesellschaft aus, dass die Kirche nicht Interessensausgleich an den regionalen Grenzen und Egoismen entlang betreibt, sondern dass sie von tiefster Gemeinschaft ausgeht, die quer zu Regionen, Nationen und Interessen steht. Die Begrenztheit von Landeskirchen, die sich an vergangenen Grenzziehungen orientieren, wird nicht wirklich überwunden, wenn die Begrenztheit einer territorial großräumigeren nationalen Kirche an deren Stelle tritt.« (A.a.O., 70)

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Die EKD als eine Bekenntnisgemeinschaft

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Verzicht auf die konfessionellen Bünde eine EKD mit je einem lutherischen, reformierten und unierten Konvent geben. Demgegenüber wurde vom Leitenden Bischof der VELKD, Hans Christoph Knuth, aber etwa auch vom früheren Hannoverschen Landesbischof Horst Hirschler wiederholt geltend gemacht, eine Auflösung der VELKD wäre in internationaler Hinsicht –über 65 Millionen Gläubige sind weltweit Mitglied einer lutherischen Kirche – kontraproduktiv und in nationaler Hinsicht nur dann vertretbar, wenn die Confessio Augustana als Bekenntnisgrundlage für die EKD insgesamt fungierte. Beide kritischen Hinweise sind nach meinem Urteil in hohem Maße bemerkenswert und sachlich schwer von der Hand zu weisen. Was ersteren Aspekt anbelangt, so ist das deutsche Luthertum ähnlich wie das deutsche Reformiertentum zwar einerseits der EKD und der Leuenberger Kirchengemeinschaft verbunden; es hat aber andererseits auch internationale Verbindlichkeiten, die mit Blick nicht nur auf den Lutherischen Weltbund zu berücksichtigen sind. Was hinwiederum die Augustana und ihre Stellung in der nationalen und internationalen Konfessionslandschaft betrifft, so ist bekannt, dass sie keineswegs nur in lutherischen Kirchen in Geltung steht, sondern mit gutem Grund ein gemeinreformatorisches Bekenntnis genannt werden kann. Das hat übrigens auch Präsident Vietinghoff sinngemäß vermerkt. Daher verstand ich nicht und verstehe bis heute nicht recht, warum er nach Meldung des epd-Basisdienstes vom 12. 6. 2002 dem diesbezüglichen Vorschlag Knuths, Hirschlers und anderer, eine, wie es hieß, scharfe Absage erteilte mit der Begründung, der Eindruck der Vormundschaft eines Bekenntnisses müsse vermieden werden. Wieso, frage ich, müssen sich evangelische Kirchen von der Confessio Augustana zwangsläufig bevormundet fühlen? Der Eindruck einseitiger Bevormundung könnte allenfalls durch das von einem bestimmten Sprachgebrauch zwar nahegelegte, gleichwohl sachlich irreführende Missverständnis hervorgerufen sein, eine Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses sei notwendig eine lutherische Denomination unter Ausschluss reformierter, unierter oder sonstiger Kirchen. Dann freilich müsste man dem Reformierten Moderamen dringend empfehlen, den Vorschlag Knuths und Hirschlers aus Gründen konfessioneller Parität schleunigst mit dem Gegenvorschlag einer Gesamt-EKD Helvetischen Bekenntnisses zu quittieren. Doch dazu besteht kein Grund. Denn die Confessio Augustana, welche die überwiegende Zahl evangelischer Landeskirchen in Deutschland ohnehin schon zu ihrem Bekenntnisstand rechnet, kann aus guten historischen und inhaltlichen Gründen den Anspruch erheben, ein gesamtreformatorisches Bekenntnis zu sein. Ja, sie ist bis zum heutigen Tage ein vorzügliches Dokument, zwischen evangelischem Bekenntnis und denominationeller Konfession lutherischer, reformierter und etwa unierter Provenienz zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden. Darauf aber kommt es unter den Bedingungen nachgerade der Leuenberger Kirchengemeinschaft an. Sie ist nach Maßgabe der Leuenberger Konkordie

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Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis

eine evangelische Bekenntnisgemeinschaft verschiedener aus der Reformation hervorgegangener Konfessionen. Als bekenntnisbestimmender Basistext dieser Gemeinschaft und dann auch der EKD empfiehlt sich, so denke ich, aus Gründen sowohl der Form als auch des Inhalts weniger die Konkordie selbst, als vielmehr die Augustana, und das umso mehr, als an ihr und ihrer Auslegungsgeschichte die genuine Einheit und interne Komplexität der Reformation samt ihren kirchlichen Folgen beispielhaft zutage treten.16

6. EKD A.B.? Bemerkungen zur aktuellen Strukturreformdebatte Der gemeinsame Bezug auf das Augsburgische Bekenntnis einschließlich seiner strittigen Auslegungsgeschichte bietet neben den erwähnten Vorzügen den denkbar besten Grund, die bereits erreichte Leuenberger Kirchengemeinschaft in einer über ihre Grenzen hinausweisenden ökumenischen Offenheit zu vertiefen, statt protestantische Identität wesentlich durch Außenabgrenzung zu erstreben. Um ökumenische Aufgeschlossenheit ohne Gefahr des Selbstverlustes realisieren zu können, ist die Einsicht in hohem Maße bedeutsam, dass protestantische Identität ohne Bewusstsein eigener Differenziertheit nicht zu haben ist. Die Stärke des Protestantismus liegt im differenzierten Umgang mit seiner internen Komplexität begründet, wie sein reflexiv auf die Antagonismen des konfessionalistischen Zeitalters bezogener Begriff dies auf eine auch terminologiegeschichtlich aufzuzeigende Weise 16 Die 1997 im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche der Union von Rudolf Mau herausgegebenen »Evangelischen Bekenntnisse« – so der Titel des Sammelbandes – können davon einen schönen Eindruck vermitteln. Am Anfang der Edition steht im Verein mit den altkirchlichen Symbolen selbstverständlich die Confessio Augustana, deren nach Maßgabe der lateinischen Version wiedergegebene Fassung von 1530/31 die »veränderte« von 1540 synoptisch beigeordnet wird. Dabei wird in Erinnerung gebracht, dass die lateinische »Variata« einst jene Augustana-Interpretation darstellte, welche im 16. Jahrhundert die Gesamtheit protestantischer Landeskirchen geraume Zeit miteinander verband und die Grundlage bildete sowohl für das Religionsgespräch mit den Katholiken als auch für die reichsrechtliche Anerkennung der »Augsburger Konfessionsverwandten« durch den Religionsfrieden von 1555. Noch die Autoren der Konkordienformel als einem charakteristischen Dokument der in Abgrenzung zu Rom und Genf erfolgten Konfessionalisierung der Wittenberger Reformation, dem bemerkenswerterweise in der Bekenntnissammlung der EKU auch ein Platz eingeräumt wird, wollten, wie mit Recht gesagt wird, »ihr Werk nicht als ein neues Bekenntnis verstanden wissen …, sondern als eine erläuternde und klärende Wiederholung der Confessio Augustana von 1530« (R. Mau [Hg.], Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere Theologische Erklärungen. Teilband 1 und 2. Im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche der Union, Bielefeld 1997, Band 2, 209). Man muss an der alles andere als papageienartigen Repetitio Confessionis Augustanae der Väter der Formula Concordiae nicht vorbehaltlos Gefallen finden, um auch sie noch als einen Beleg für die These zu werten, dass sich Einheit und innere Differenziertheit des Protestantismus historisch und sachlich am besten unter Bezug auf das Augsburgische Bekenntnis begreifen lassen.

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EKD A.B.? Bemerkungen zur aktuellen Strukturreformdebatte

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belegt. Während ein seiner differenzierten Herkunftsgeschichte uneingedenker Protestantismus geneigt sein wird, geschichtliche Selbstvergessenheit dadurch zu kompensieren, dass er sein gegenwärtiges Wesen primär durch äußere Gegensätze – namentlich durch Antikatholizismus – zu bestimmen sucht, um auf diese Weise interne Unterschiede um so besser nivellieren zu können, wird ein seiner Genese und damit recht eigentlich seiner selbst bewusster Protestantismus seine Identität gerade im Vollzug von Selbstunterscheidungsleistungen und im differenzierten Umgang mit Differenzen zu verwirklichen bestrebt sein. Dazu kann ihm die Confessio Augustana eine elementare Hilfe sein. Der Bezug auf sie wird dem Protestantismus gemeinsames Bekennen von inhaltlicher Bestimmtheit ermöglichen und ihn zugleich daran hindern, sich im Sinne eines bestimmten Unionsverständnisses unmittelbar als denominationelle Konfessionskirche zu etablieren. Besteht darin Einigkeit, dann kann über die Fragen institutioneller Strukturen ruhig und unter pragmatischen Gesichtspunkten verhandelt werden. Das gilt für die VELKD ebenso wie etwa für die ehemalige EKU bzw. UEK, wobei, wie Dr. Hermann Barth, Vizepräsident des EKD-Kirchenamtes in Hannover, mit Recht betont hat, allein die lutherischen Landeskirchen selbst darüber zu befinden haben, ob sie die VELKD zur besseren Erfüllung ihrer Aufgaben als »notwendig und hilfreich erachten«.17 Ich persönlich würde diese Frage nicht verneinen, hätte aber, wie gesagt, auch keine Vorbehalte gegen das Modell einer EKD Augsburgischen Bekenntnisses mit je einem reformierten, unierten und – warum nicht – lutherischen Kirchenkonvent.18 Die entscheidende Frage wäre dann, mit welchen kirchenrechtlichen Kompetenzen die jeweiligen Kirchenkonvente ausgestattet sind, wohingegen sonstige Gestaltungsfragen eher organisationstechnischer Natur sein dürften. Ohne auf Fragen dieser Art näher einzugehen, sei zu den denkbaren Formen einer kirchenverfassungsrechtlichen Zuordnung der nach 1945 entstandenen gliedkirchlichen Zusammenschlüsse von EKD, VELKD und EKU/ AKf bzw. UEK abschließend lediglich Folgendes bemerkt19 : Als erstes ist aus Gründen zu vermeidender Selbstüberhebung zu bedenken, dass die gegen17 H. Barth, Welches Bekenntnis braucht die Kirche? – Thesen zum Verhältnis von Kirche und Bekenntnis, in: epd-Dokumentation 28/2002, 30 – 38, hier : 30. 18 Insoweit stimme ich mit C. Markschies überein: Ob die spezifische orientierende Kraft des lutherischen Bekenntnisses über das gemeindliche und landeskirchliche Leben hinaus »besser in den bisherigen Parallelstrukturen von EKD, VELKD, UEK und Reformiertem Bund zur Geltung gebracht werden kann oder in einer institutionell starken lutherischen Klasse der EKDSynode, einer lutherischen Klasse der Kirchenkonferenz, des Kirchenamtes und des Rates, ist eine pragmatische Frage, keine Frage von Bekenntnisrang oder von sonderlich hoher theologischer Dignität« (Chr. Markschies, Historische Entwicklung der konfessionellen Bünde und die möglichen Folgen von Strukturveränderungen, in: epd-Dokumentation 28/2002, 17 – 29, hier : 27). 19 Vgl. ferner : V. Weymann, Zur »Landschaft« der evangelischen Landeskirchen in Deutschland – und ihrer Zusammenschlüsse in EKD, Akf EKU, VELKD. Unter Berücksichtigung jüngster Entwicklungen bzw. Vorschläge, in: Texte aus der VELKD 111/2002, 36 – 50.

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Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis

wärtige Evangelische Kirche in Deutschland keineswegs alle (nicht einmal alle in der Leuenberger Kirchengemeinschaft vereinten) Christen umfasst, die mit Grund Anspruch darauf erheben können, evangelisch zu heißen, sondern nur die landeskirchlich organisierten. Die evangelische Freikirchen und ihre Mitglieder gehören bekanntlich der EKD nicht an. Weil man davon ausgehen kann, dass der Plan der Gründung einer evangelischen Gesamtkirche aus Landes- und Freikirchen, ob er nun wünschbar ist oder nicht, in jedem Fall bis auf weiteres als illusionär zu beurteilen ist, wird sich auch nach einer Komplexitätsreduktion im Zuge einer eventuellen Strukturreform der EKD an der hohen Komplexität der protestantischen Konfessionslandschaft grundsätzlich nur bedingt etwas ändern. Auch unter diesem Aspekt wird man noch einmal im Ernst und in aller Ruhe zu prüfen haben, ob sich das Modell vertraglich geregelter Zusammenarbeit rechtlich selbständiger gliedkirchlicher Zusammenschlüsse tatsächlich so überlebt hat, wie die Kritiker dies annehmen. Diesbezüglich kann man Zweifel äußern, ohne sich deshalb schon dem Verdacht der Reaktion auszusetzen. Doch selbst wenn man anders urteilt und für eine organisatorische Zentralisierung zugunsten der EKD gegenüber den anderen gliedkirchlichen Zusammenschlüssen votiert, dürfte weder vom Subsidiaritätsprinzip abgerückt noch eine Lösung verfolgt werden, welche die ekklesiologisch konstitutive Bedeutung der Bekenntnisbindung der Kirche nicht hinreichend zur Geltung bringt. Von daher sollten, um es zu wiederholen, die in der EKD vereinten Kirchen ernsthaft prüfen, ob sie sich nicht insgesamt als Kirchen auf der Bekenntnisgrundlage der Confessio Augustana verstehen können und verstehen wollen; diese Erwägung liegt um so näher, als es die ekklesiologischen Grundsätze von CA VII waren und sind, welche die Leuenberger Konkordie prägen und ihr ein eigentümliches Profil geben.

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II. Orthodoxer Glaube und ostkirchliche Tradition

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Den Griechen ein Grieche? Die Confessio Augustana Graeca von 1559 und der Briefwechsel der Leitung der Württembergischen Kirche mit Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573 – 1581 im Kontext der Konkordienformel von 1577* 1. Die Reformation als Ereignis der westlichen Kirchengeschichte Die herrlichen Rosse von San Marco in Venedig kennt jeder ; nicht alle aber wissen, dass es sich hierbei um schandbar erworbenes konstantinopolitanisches Beutegut handelt. Im Verlauf des Vierten Kreuzzuges, der sich ursprünglich gegen Ägypten richten sollte, leitete der betagte venezianische Doge Enrico Dandolo aus Gründen politisch-ökonomischen Kalküls die von ihm befehligte Streitmacht gegen Byzanz, das im Juli 1203 eingenommen wurde. Als die dortigen Verhältnisse nicht wunschgemäße Gestalt annahmen und Dandolo und die Kreuzfahrer sich um den Lohn ihrer Kriegsmühen bedroht fühlten, stürmten sie die Stadt Konstantins am 13. April 1204 ein weiteres Mal. Was folgte, war schiere Barbarei. Wahllos wurde geplündert, gebrandschatzt, geschändet und gemordet. Die Greueltaten, die Christen an Christen verübten, spotten jeder Beschreibung. Zwar sah sich Venedig durch den byzantinischen Triumph in den Rang einer Weltmacht erhoben. Nichtsdestoweniger ist und bleibt das Jahr 1204 ein Datum der Schande in der Geschichte nicht nur der Serenissima, sondern der westlichen Christenheit überhaupt. Die kirchenpolitischen Folgen des schrecklichen Ereignisses waren fatal. Das Schisma zwischen Ost- und Westkirche wurde irreversibel verfestigt. Zwar wird dessen Ursprung in der Regel mit den gegenseitigen Bannflüchen zwischen den Kirchen von Rom und Konstantinopel im Jahre 1054 assoziiert, wobei redlicherweise zu ergänzen ist, dass der Prozess der Entfremdung von Ost und West bereits seit langem im Gange war und im 11. Jahrhundert lediglich eine Beschleunigung erfuhr, die zur schließlichen Streiteskalation führte.1 Doch so einschneidend die Vorkommnisses des sog. Morgenländi* Expertengespräch des Zentrums für Ökumenische Forschung der Ludwig-Maximilians-Universität München im Münchener Vikariat der Griechisch-Orthodoxen Metropolie am 23./ 24. April 2004. 1 Vgl. im Einzelnen etwa: A. Bayer, Spaltung der Christenheit. Das sogenannte Morgenländische

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schen Schismas von 1054 auch sein mochten: für jedermann offenkundig wurde der Bruch erst 150 Jahre später, 12042. In den darauffolgenden 250 Jahren erfolgte Einheitsbemühungen scheiterten an der definitiv gewordenen Zerrüttung der Beziehungen. Auch die römischen Reformkonzilien von Basel, Ferrara und Florenz konnten daran nichts ändern und das umso weniger, als das von Papst Eugen IV. abgeschlossene »Unionsdekret mit den Griechen« durch den Fall Konstantinopels 1453 unwirksam wurde. Durch die osmanische Vereinnahmung von Byzanz/Konstantinopel hörte Ostrom auf, eine machtpolitisch relevante Größe der Kirchengeschichte zu sein. Das führte in der Folgezeit zu einem fast völligen Abbruch der bereits vorher eher marginalen Beziehungen zwischen östlicher und westlicher Christenheit und zu einer weitgehenden Isolation beider gegeneinander. Diese Lage blieb bis ins 16. Jahrhundert und weit darüber hinaus erhalten. Profanhistorisch betrachtet spielte sich die Reformation daher mehr oder weniger ausschließlich im Kontext der westlichen Christenheit ab. Als Luther dreißig Jahre nach der türkischen Eroberung Konstantinopels geboren wurde, waren in Eisleben und anderwärts in deutschen Landen die Verhältnisse innerhalb der östlichen Christenheit kein Thema. Fragt man daher, welche Auswirkungen das Schisma zwischen Ost- und Westkirche auf die Reformation hatte, so muss nach der Antwort nicht lange gesucht werden: das Schisma isolierte die reformatorische Bewegung von den ostkirchlichen Verhältnissen und umgekehrt; die Wittenberger ebenso wie die Genfer Reformation sind im Wesentlichen Ereignisse der westlichen Kirchengeschichte. Zwar kann – um den Initiator der Reformation als Beispiel zu nehmen – Martin Luther gelegentlich auf außerwestliche Kirchentümer Bezug nehmen, etwa wenn er in der Resolution zur 13. These der Leipziger Disputation mit Eck von 1519 feststellt: »Ego autem hoc spectavi, quod rhomana ecclesia nunquam fuit, nec est nec erit unquam, super omnes totius orbis ecclesias, licet super plurimas sit; nec enim fuit unquam super Graeciae, Aphricae, Asiae ecclesias, nec earum episcopos confirmavit, sicut modo nostros confirmat, ut satis probant historiae. Deinde sunt sine dubio Christiani in oriente, cum Christi regnum sit orbis terrarum iuxta ps. II. et tamen Episcopi eorum non instituuntur, non confirmantur e Rhoma, nec est necessarium.« (WA 2, 225, 35 – 226, 2) Ähnliches steht in Luthers Großem Bekenntnis von 1528 zu lesen, wo es heißt: »Dem nach gleube ich, das eine heilige Christliche kirche sey auff erden, das ist die gemeyne und zal odder versamlunge aller Christen ynn aller welt, die einige braud Christi und sein geistlicher leib … Und dieselbige Christenheit ist nicht allein unter der Römischen kirchen odder Bapst, sonSchisma von 1054, Köln/Weimar/Wien 2002. Zum kirchenrechtlichen und historiographischen Begriff des Schismas und dessen theologischer Beurteilung vgl. W.A. Löhr, Art. Schisma, in: TRE 30, 129 – 135. 2 Zu den Vorkommnissen dieses Jahres und ihrer Vorgeschichte vgl. im Einzelnen G. Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, München 1065, 342 – 359.

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2. Die Confessio Augustana Graeca

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dern ynn aller welt, … das also unter Bapst, Türcken, Persen, Tattern und allenthalben die Christenheit zurstrawet ist leiblich, aber versamlet geistlich ynn einem Euangelio und glauben unter ein heubt, das Jhesus Christus ist …« (WA 26, 506, 30 – 40) Die Perspektive des Reformators ist also durchaus ökumenisch, nämlich auf den gesamten bewohnten Erdkreis ausgerichtet und keineswegs auf die westliche Christenheit beschränkt. Dennoch nimmt Luther auf die außerwestlichen Verhältnisse in einem dezidiert westlichen Interesse, nämlich in antirömischer bzw. antipapistischer Absicht Bezug, ohne zu weitergehenden Differenzierungen fortzuschreiten. Pauschalierende Urteile konnten unter diesen Voraussetzungen nicht ausbleiben mit der Folge, dass West- und Ostrom gelegentlich in einen Topf geworfen wurden: »Also haben die zwo Kirchen, Rom und Constantinopel, gehaddert umb den nichtigen Primat, mit eitel, faulen, lamen, vergeblichen zoten, bis sie zuletzt der Teuffel alle beide gefressen hat, Die zu Constantinopel durch den Türcken und Mahomet, die zu Rom durch das Bapstum und seine lesterlichen Decreten.« (WA 50, 578, 31 – 579, 3) Dieses 1539 in der Schrift »Von den Konziliis und Kirchen« getroffene Urteil über den Fall Konstantinopels ist aus großer Distanz gefällt und ganz von den Auseinandersetzungen innerhalb der westlichen Christenheit diktiert; differenziert wird man es nicht nennen können.

2. Die Confessio Augustana Graeca und Melanchthons Schreiben an Joasaph II. Weitaus weniger distanziert, sondern im Gegenteil von dem erkennbaren Bemühen um Annäherung bestimmt sind im Vergleich zu Luthers Verdikt die Worte, die 20 Jahre später im September 1559 von Wittenberg aus in einem Schreiben Philipp Melanchthons an die Adresse des »Allerheiligsten Patriarchen der Gemeinde Christi in Konstantinopel« gerichtet wurden (vgl. CR IX, 922 – 924). Die Byzantiner werden darin gebeten, nicht den Verleumdungen zu glauben, welche die römischen Feinde der reformatorischen Bewegung andichten, sondern sich einen vorurteilslosen Eindruck von der Wahrheit zu verschaffen, die man unter den Anhängern Luthers bekennt. Ein gewisser Demetrios wird dabei als Zeuge dafür angerufen, dass die Wittenberger Reformation in Theorie und Praxis als orthodox zu gelten habe. Wer war dieser Mann? Ernst Benz hat darauf in seinem Werk »Wittenberg und Byzanz. Zur Begegnung und Auseinandersetzung der Reformation und der östlich-orthodoxen Kirche«3 eine detaillierte Antwort gegeben. Im gegebenen Zusammenhang genügt der Hinweis, dass es sich bei dem Raitzen, d. h. Serben, 3 Marburg 1949, hier bes. 59 – 93. Vgl. ferner die Angaben bei G. Kretschmar, Die Confessio Augustana graeca, in: Kirche im Osten. Studien zur osteuropäischen Kirchengeschichte und Kirchenkunde. Hg. v. R. Stupperich, Bd. 20 (1977), 11 – 39, hier : 11 f Anm. 2.

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Den Griechen ein Grieche?

Demetrios um einen Diakon des Patriarchen von Konstantinopel handelte, der die religiöse und kirchliche Lage in Wittenberg und Deutschland erkunden sollte. Fast ein halbes Jahr weilte er im Hause Melanchthons als dessen persönlicher Gast. Bei seiner Abreise wurde er vom Praeceptor Germaniae mit einer wichtigen Mission an den Patriarchen beauftragt. Zum Zwecke theologischer Verständigung sollte er ihm eine griechische Fassung der Confessio Augustana4 als des wichtigsten reformatorischen Bekenntnisses übergeben. Um nur einige für Genese und Wirkungsgeschichte des Augsburgischen Bekenntnisses wichtige Daten in Erinnerung zu rufen: Ursprünglich als Verteidigungsschrift kursächsischer Kirchenreform geplant und in der Form der sog. Torgauer Artikel thematisch auf den Umfang der späteren Artikel XXIIXXVIII beschränkt entwickelte sich die Augustana im Frühjahr 1530 zu einem umfassenden Bekenntnis des Glaubens, dem zwar keineswegs alle, wohl aber sehr gewichtige Repräsentanten fürstlicher und städtischer Reformation ihre Zustimmung erteilten. Am 25. Juni 1530 wurde die Confessio Augustana vor Kaiser und Reich im bischöflichen Palais zu Augsburg auf Deutsch verlesen und in deutscher und lateinischer Version Karl V. übergeben. Für alles Weitere darf ich auf meine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch verweisen.5 Vermerkt sei nur mehr, dass die Augustana nach 1530 einen z. T. erheblichen geschichtlichen Funktionswandel erfahren hat und im Übrigen auch fortgeschrieben wurde. Was ersteren Aspekt betrifft, so genügt es, auf den Augsburger Religionsfrieden zu verweisen, dessen Jubiläum im nächsten Jahr zu begehen sein wird. War die Augustana 1530 in der Absicht 4 Eine Kopie des nur noch in wenigen Exemplaren bekannten ursprünglichen Drucks der Confessio Augustana Graeca von 1559, der bei Johannes Oporinus in Basel erfolgt ist, hat mir dankenswerterweise Herr Kollege Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Theodor Nikolaou zur Verfügung gestellt. Ein Nachdruck erschien 1584 in Wittenberg zusammen mit dem Briefwechsel zwischen der Leitung der Württembergischen Kirche und Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den »Acta et Scripta Theologorum Wirtembergensium, et Patriarchae Constantinopolitani D. Hieremiae … Graece et Latine ab iisdem theologis edita. Witebergae. In Officina Haeredum Johannis Cratonis, Anno M.D.LXXXIIII« (5 – 53). Der Titel des Erstdrucks nennt als den Urheber der Übersetzung einen gewissen Paulus Dolscius aus Plauen in Sachsen. Schon im 16. Jahrhundert begegnet allerdings auch die später von Ernst Benz (a.a.O., 94 – 128) erneut vertretene Auffassung, nicht Dolscius, sondern Melanchthon sei der Autor der Übersetzung von 1559. Demgegenüber hat Georg Kretschmar deutlich zu machen versucht, »daß die Grundlage der CA graeca tatsächlich eine von Paulus Dolscius aufgrund der Invariata gefertigte Übersetzung war. Dieser Text ist aber nun, nachdem er bereits gesetzt war, vor der endgültigen Drucklegung noch einmal überarbeitet worden. Hierfür wird man dann allerdings Melanchthon ins Spiel bringen müssen; nur er hatte die Freiheit und die Autorität zu solch tiefen Eingriffen in den Text des Augsburger Bekenntnisses.« (G. Kretschmar, a.a.O., 21). Darauf wird zurückzukommen sein. Zu der lateinischen Version, die Martin Crusius in den »Acta et scripta« der CA Graeca beigegeben hat, vgl. D. Wendebourg, Reformation und Orthodoxie. Der ökumenische Briefwechsel zwischen der Leitung der Württembergischen Kirche und Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573 – 1581, Göttingen 1986. 157 f Anm. 15. 5 G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bd., Berlin/New York 1996/98, hier : Bd. 1, 351 – 498.

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2. Die Confessio Augustana Graeca

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eines innerkirchlichen Ausgleichs konzipiert worden, so ist sie 1555 zum Dokument einer Religionspartei geworden, welcher anzugehören die Bedingung dafür war, paritätisch zu den sog. Altgläubigen in den Genuss des Religionsfriedens zu gelangen. Die Frage der authentischen Gestalt des Augsburgischen Bekenntnisses erhielt u. a. von daher ihre politische Brisanz. Die sog. Editio princeps der CA, in deren Gestalt die lateinische Rezension der Augustana als Normaltext in die alte Ausgabe des Konkordienbuches von 1580 einging, erschien im Frühjahr 1531; die deutsche Version folgte im Herbst desselben Jahres. Namentlich der deutsche Text von 1531 weist gegenüber dem Original von 1530 eine Reihe von Umarbeitungen auf, ohne dass diese als eigentliche Veränderungen des Lehrgehalts aufgefasst werden können. Beachtenswerte Erweiterungen enthält unter den Drucken der CA erst die deutsche Oktavausgabe von 1533, die bereits eine Art von Vorarbeit für die stark veränderte lateinische Quartausgabe von 1540 darstellt, welche als Confessio Augustana variata (vgl. CR 26, 351 – 416 App.) in die Geschichte eingegangen ist. Die Textvariationen, welcher der Variata ihren Namen gegeben haben, sind teils formaler Art, teils bestehen sie in Erweiterungen, die sich um reicheren Schriftbeweis sowie um stärkere kontroverstheologische Präzision und schärfere Abgrenzung gegenüber Rom bemühen. Am bedeutsamsten und folgereichsten erwies sich bekanntlich die Umformulierung des Abendmahlartikels in CA X (vgl. BSLK 65, 45 f). Von besonderer Relevanz sind ferner die Modifikationen der Artikel IV, V und XX, in denen nach Maßgabe der Rechtfertigungslehre der Melanchthonischen Loci von 1535 die Notwendigkeit von Buße und guten Werken herausgestellt wird mit der Konsequenz, dass sich später aufseiten der Gnesiolutheraner Synergismusverdacht einstellen konnte wie übrigens ebenso in Bezug auf den veränderten Artikel XVIII zur Willensfreiheit. Indes führte die Ausgabe der CA von 1540 im reformatorischen Lager keineswegs von Anfang an zu Streit. Es war im Gegenteil so, dass die Variata ursprünglich als offizielle, amtlich verwendete Neuausgabe des Bekenntnisses im Auftrag des Schmalkaldischen Bundes gelten durfte. Erst in den nachfolgenden Lehrstreitigkeiten im binnenreformatorischen und auch im binnenlutherischen Raum änderte sich die Lage. Melanchthon und seine Schüler gerieten in den Verdacht sowohl des Kryptokatholizismus als auch des Kryptocalvinismus. Die Gnesiolutheraner wollten infolgedessen nur mehr die Confessio Augustana invariata gelten lassen, die schließlich auch in das Konkordienbuch als dem wichtigsten Corpus Doctrinae des Luthertums aufgenommen wurde. Um auf die bislang nur kurz erwähnte griechische Fassung der CA zurückzukommen, so bildete die Grundlage der Übersetzung primär die Editio princeps und zwar zumeist in ihrer lateinischen Version. Allerdings kann gelegentlich auch die Variata Verwendung finden, wobei in aller Regel die Ausgabe von 1540 bevorzugt wird. Das ist vor allem im Kontext der Lehre der Fall, auf die im Folgenden die Aufmerksamkeit ausschließlich konzentriert werden soll, weil sie nach reformatorischem Urteil den articulus stantis et

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Den Griechen ein Grieche?

cadentis ecclesiae thematisiert: der Rechtfertigungslehre. Die Artikel IV, V und VI der CA Graeca sind ganz oder weitgehend, die Artikel XII und XX immerhin zum Teil von der Variata von 1540 her konzipiert.6 Das hat sicher auch hermeneutische Gründe; Melanchthon konnte Anlass zu der Meinung haben, die in der Variata entwickelte Rechtfertigungslehre sei für griechisches Denken anschlussfähiger als die einschlägigen Passagen der Editio princeps, welche ganz vom Konstitutionsgeschehen der Rechtfertigung her entwickelt sind, wohingegen die Version von 1540 explizit auf Genese und Realisierung des Rechtfertigungsglaubens reflektiert. Um durch den Verweis auf Melanchthon und die konstantinopolitanischen Griechen keine Missverständnisse bezüglich der Entstehung der Confessio Augustana Graeca hervorzurufen, muss zunächst allerdings festgehalten werden, dass ersterer nicht deren Primärautor war und letzere nicht als deren Primäradressaten gelten können. Der ursprüngliche Übersetzer war vielmehr aller Wahrscheinlichkeit nach7 der Tübinger Philologe Paulus Dolscius (Döltsch), der sein Werk in der humanistisch-pädagogischen Absicht, die Kenntnis des Griechischen an einem klassischen Text der Reformation zu befördern, für gebildete Leser seines engeren und weiteren Umkreises konzipierte und dabei jedenfalls den Patriarchen von Konstantinopel in keiner Weise im Sinn hatte. Er und damit die östliche Christenheit kamen als Adressaten erst sekundär in Betracht, wobei der erwähnte Diakon Demetrios als Mediator fungierte und die Bearbeitung der Vorlage des Dolcius durch Melanchthon gesprächsweise nicht unwesentlich mitgestaltet haben dürfte. Wie immer der Bearbeitungsvorgang im Einzelnen vonstatten gegangen sein mag, durch den Adressatenwechsel hatte sich der Sitz im Leben des Textes 6 Vgl. im Einzelnen D. Wendebourg, a.a.O., 155 – 162, hier : 157 Anm. 15. 7 Zu den Gründen dieser Annahme vgl. im Einzelnen G. Kretschmar, a.a.O., 18 ff, hier : 20 f: »Die CA graeca schließt sich … in ihrem Aufriß offenkundig der Invariata an, etwa dort, wo Melanchthon später die Reihenfolge der Artikel verändert hat. Aber auch die Übersetzung der einzelnen Artikel folgt in der Regel der Invariata, bisweilen selbst dort, wo der Wortlaut der beiden Fassungen eine unterschiedliche theologische Position widerspiegelt wie in Art. 10 (de coena domini). Wäre Melanchthon ohne Einschränkungen als Urheber dieser Übersetzung der Confessio Augustana ins Griechische anzusehen, würde ein derartiges Vorgehen in einem sehr seltsamen Lichte erscheinen. Eine detaillierte Analyse könnte aber nun zeigen, daß der aufgrund der Editio princeps von 1531 übersetzte Text auf weite Strecken hin nach der Variata überarbeitet ist, in der Regel durch Einschübe oder Auslassungen. Art. 4 und 5 (von der Rechtfertigung und vom Predigtamt) haben sogar die Fassung der Variata zur Grundlage. Gerade hier und in den überarbeiteten Partien finden sich dann immer wieder die Paraphrasierungen und Ergänzungen, von denen Benz völlig überzeugend den Eindruck gewonnen hat, daß sie dazu bestimmt seien, Sachverhalte der abendländischen, lateinischen Tradition für griechische Empfänger zu verdeutlichen.« Diese und andere Beobachtungen haben G. Kretschmar zu der bereits erwähnten – durch D. Wendebourg, a.a.O., 156 Anm. 4 bestätigten – Vermutung geführt, Dolscius sei zwar der Urheber der Übersetzung, Melanchthon habe diese aber vor der endgültigen Drucklegung noch einmal gründlich nach Maßgabe seiner theologischen Überzeugungen und unter Berücksichtigung der geplanten konstantinopolitanischen Mission des Demetrios überarbeitet. Kretschmar kann die Confessio Augustana in diesem Sinne eine »Variatissima« (a.a.O., 22) nennen.

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2. Die Confessio Augustana Graeca

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grundlegend geändert mit der Folge, dass die Dolciusübersetzung den veränderten Ansprüchen nicht mehr genügen konnte. Die Neugestaltung der rechtfertigungstheologischen Artikel auf der Basis der Variata, die im Abendmahlsartikel bemerkenswerterweise nicht verwendet wird, sowie die Reformulierung einzelner termini technici der lateinischen Theologensprache dürfte hierdurch motiviert sein, auch wenn sich in letzterer Hinsicht nicht mit Sicherheit nachweisen lässt, welche griechischen Begriffsbildungen schon von Dolscius und welche erst von Melanchthon stammen. Klar ist in jedem Fall, dass der Übersetzungsvorgang in den Dienst eines um Sachverständigung bemühten hermeneutischen Verfahrens gestellt ist. Exemplarisch zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Umschreibung der Begriffe und Wortgruppen um satisfactio und meritum8 sowie auf den reformatorischen Zentralterminus der iustificatio, der einerseits mit den einschlägigen neutestamentlichen Äquivalenten, andererseits mit einem eigens erfundenen Kunstwort wiedergegeben wird: dikaiopoiia. Offenbar glaubte Melanchthon, auf den dieses »auffälligste (Wort) der ganzen CA Graeca«9 zurückgehen dürfte, in diesem Fall der bezeichneten Sache nur durch eine direkte Nachbildung des sie genuin bezeichnenden Wortes entsprechen zu können. Auch wenn man zu dem Gesamtresultat gelangen mag, es sei nicht gelungen, eine CA-Version herzustellen, »die Griechen die Lehre des Augsburgischen Bekenntnisses verständlich gemacht hätte«10, so wird man doch den erstmals gemachten Anfang und die Intention Melanchthons zu würdigen haben, den Griechen in theologicis ein Grieche zu sein. Diese Absicht ent8 Vgl. G. Kretschmar, a.a.O., 24 ff sowie D. Wendebourg, a.a.O., 159 f. 9 D. Wendebourg, a.a.O., 161. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bemerkung von G. Kretschmar, wonach es Melanchthon spätestens bei seiner Überarbeitung der Dolscius-Übersetzung klar geworden sein muss, »daß ›iustificatio‹ ein Begriff speziell der lateinischen Theologie ist, der nicht einfach und selbstverständlich als gemeinchristlich gelten kann« (G. Kretschmar, a.a.O., 28). Insbesondere fehlte der östlichen Christenheit die abendländische Theorie und Praxis der sakramentalen Buße als Verstehenshorizont der Rechtfertigungslehre, was die Confessio Augustana Graeca nolens volens dazu veranlaßte, die traditionelle rechtfertigungstheologische Thematik spirituell und im Sinne einer Anleitung zum rechten geistlichen Leben zu akzentuieren. Daraus erhellt, »wie sehr die Aufgabe einer Vermittlung der reformatorischen Gewissheiten in Tradition und Sprache der Griechen – wie jede echte Vermittlungsaufgabe – nicht nur Verstehensprobleme im engeren Sinne des Wortes aufwirft, sondern eine neue Klärung der Sache selbst fordert. Es ist für einen abendländischen Theologen leicht, auf dem Hintergrund der ihm vertrauten Verstehenskategorien die Neuakzentuierung der Rechtfertigungslehre in der CA graeca eine Verkürzung zu nennen. Aber es wäre doch auch zu prüfen, ob es nicht ebenfalls eine Verkürzung der Perspektive nach entgegengesetzter Richtung wäre, wenn eine Umsetzung des ›articulus stantis et cadentis ecclesiae‹ in Spiritualität von vornherein als unangemessen erscheinen sollte. In diesem Zusammenhang wäre dann das Gewicht der Aussagen über das Wirken des Hl. Geistes im Christen, die aus der Variata in die CA graeca übernommen wurden, im Ganzen des griechischen Textes zu prüfen. Und weiter wäre zu fragen, wie sich diese Einführung des Heiligen Geistes zur Trinitätstheologie verhält, bei Melanchthon und im Blick auf die griechischen Adressaten der Übersetzung.« (A.a.O., 31; zu den rechtfertigungstheologischen Darlegungen der CA Graeca vgl. ferner E. Benz, a.a.O., 118 – 121.) 10 D. Wendeboug, a.a.O., 162.

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Den Griechen ein Grieche?

sprach nicht nur Melanchthons irenischer Natur, sondern auch seinem stark am Erbe der Väter orientierten theologischen Konzept. Sein Schreiben an Patriarch Joasaph II. von Konstantinopel, das er 1559 zusammen mit der CA Graeca durch Demetrius in den Pharan gebracht haben wollte, ist ein eindrucksvoller Beleg hierfür. Zentralmotiv des im Jahr vor Melanchthons Tod verfassten Schreibens ist das Bewusstsein der nahen Endzeit. Dieses ist, wie Ernst Benz zurecht konstatiert hat, »die eigentliche Grundlage der ökumenischen Bestrebungen der Reformation und ist dabei viel maßgeblicher als alles angebliche Bedürfnis nach ›Propaganda‹«11. In Anbetracht zu erwartender und bereits manifest gewordener eschatologischer Drangsale gereicht es Melanchthon zum Trost, von Demetrios erfahren zu haben, dass Gott noch immer auf wunderbare Weise eine nicht kleine Gemeinde in Thrakien und Kleinasien und Griechenland hält, so wie er einst die drei Männer in der chaldäischen Feuerflamme erhalten hat. Selbiger Demetrios, dem Melanchthon die trostreiche Nachricht über einen Rest Israels im Türkenland verdankt, wird nun zugleich als Zeuge dafür angerufen, dass es in den reformatorischen Gemeinden mit rechten orthodoxen Dingen zugeht. Demetrios wird, schreibt Melanchthon dem Patriarchen, »berichten können, dass wir die heiligen Schriften, die prophetischen sowohl wie die apostolischen und die dogmatischen Kanones der heiligen Synoden und die Lehre eurer Väter : des Athanasios, des Basileios, des Gregorios, des Epiphanios, des Theodoret, des Eirenaios und derer, die mit ihnen übereinstimmen, in frommer Weise bewahren. Die alten Frechheiten aber des Samosates und der Manichäer und der Mohammedaner und aller Verfluchten, welche die heilige Kirche verwirft, verabscheuen wir ausdrücklich und lehren, daß die Frömmigkeit im wahren Glauben und im Gehorsam bestehe gegen die uns verordneten Gesetze Gottes, nicht aber im Gehorsam gegen den Aberglauben und die selbstgemachten Gottesdienste, welche die ungebildeten Mönche der Lateiner erfunden haben ohne Gottes Gebot.«12 Dass dem so sei, davon möge sich der Patriarch auf der Basis der Berichte des Demetrios vorurteilsfrei überzeugen lassen. Die dem Schreiben als Anlage beigefügte Confessio Augustana Graeca sollte auf ihre Weise unterstreichen, dass zwischen der Kirche des Ostens und der Reformation grundsätzlicher Konsens auf der Basis des Zeugnisses Alten und Neuen Testaments, der Kanones der altkirchlichen Synoden, der patristischen Tradition und der Absage an die häretischen Bestreiter der Lehrüberlieferungen der Väter bestehe.

11 , E. Benz, a.a.O., 66. 12 CR IX, 923 in der deutschen Wiedergabe von E. Benz, ebd.

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Der Briefwechsel der Württemberger mit Jeremias II., FC I und II

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3. Der Briefwechsel der Württemberger mit Jeremias II. im Kontext von FC I und II Die Wittenberger Sendung von 1559 erreichte ihr Ziel aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Eine Antwort jedenfalls blieb aus. Sie erfolgte erst gut anderthalb Jahrzehnte später, nachdem die Confessio Augustana Graeca ein zweites Mal an den Bosporus geschickt wurde, diesmal nicht von Wittenberg aus, sondern aus der Universitätsstadt Tübingen, einem damaligen geistigen Zentrum des Luthertums. Als Bote fungierte ein junger evangelischer Prediger an der kaiserlichen Gesandtschaft in Konstantinopel namens Stephan Gerlach. Vorausgegangen war ein Briefwechsel zwischen Martin Crusius (1526 – 1607) und Jakob Andreae (1528 – 1590) einerseits und Patriarch Jeremias II. (1536 – 1595) andererseits. Bei Martin Crusius (Kraus) handelt es sich um einen nahe Bamberg geborenen, seit 1559 als Sprachlehrer und Homerkommentator in Tübingen wirkenden Gräzisten. Jakob Andreae war kein Geringerer als der Hauptverfasser der Konkordienformel und der wichtigste Redaktor des Konkordienwerkes von 1580, mit dem die Einigung des zerstrittenen Luthertums bewirkt werden sollte und jedenfalls z. T. auch tatsächlich bewirkt wurde. Der 1572 zum Patriarchen von Konstantinopel gewählte Jeremias hatte sein Amt bis zu seinem Tode inne, allerdings unterbrochen durch zweimalige Absetzung bzw. politische Verbannung. Auf die slawischen orthodoxen Kirchen übte er großen Einfluss aus; mit seiner Zustimmung wurde 1589 das Moskauer Patriarchat errichtet. Nachdem Jeremias II. die Confessio Augustana Graeca mit Schreiben vom 16. September 1574 empfangen hatte, entsprach er der von Crusius und Andreä geäußerten Bitte, die Confessio Augustana Graeca wohlwollend auf ihre Rechtgläubigkeit hin zu überprüfen. Im vierten Jahr seines Patriarchats richtete er am 15. Mai 1576 ein erstes theologisches Schreiben an die Tübinger Professoren, indem er ausführlich Konsens und Dissens mit den evangelischen Glaubensartikeln erläuterte, um schließlich die sieben ökumenischen Konzile und die von der Gesamtgemeinde rezipierte Schriftinterpretation der Väter als die wahrheitsverbürgende Autorität seiner Lehre zu benennen. Der Dissens betrifft vornehmlich folgende Themen: 1. das filioque, das von Jeremias nicht nur formal als unstatthafter Zusatz zu einem sakrosankten Konzilstext, sondern auch inhaltlich als trinitätstheologisch unangemessen abgelehnt wird; 2. die Willensproblematik, in Bezug auf die der Patriarch die Befürchtung äußert, die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung sola gratia, sola fide und per solum Christum verkenne, dass das Heil nicht willenlos, sondern willentlich, nicht ohne tätige Mitwirkung, sondern auf synergistische Weise empfangen werde; 3. die Heiligenfrage, die auf die Frage der Fürbitte der Heiligen, ihrer Anrufung und Fürbitte sowie ihrer möglichen Mittlerfunktion fokussiert wird; 4. die Bilderverehrung; 5. das Mönchtum; 6.

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Den Griechen ein Grieche?

die Auseinandersetzung um Begriff und Zahl der Sakramente und schließlich 7. das Verhältnis von Schrift und Tradition. Vor allem diese Kontroversthemen wurden in den folgenden Briefwechsel verhandelt. Am 18. Juni 1577 replizierten die Tübinger13 auf das Schreiben des Patriarchen vom Mai des vorangegangenen Jahres. Es folgte im Mai 1579 ein weiteres Lehrschreiben des Patriarchen, das am Johannistag 1580 von Tübingen aus beantwortet wurde. Mit seinem dritten Brief vom 6. Juni 1581 setzte Jeremias der theologischen Korrespondenz ein Ende: »Wir bitten Euch, uns weiter keine Mühe mehr zu machen und nichts mehr über diese selben Dinge zu schreiben und zu schicken. Da ihr ja die Leuchten und Lehrer der Kirche bald so, bald anders behandelt. Ihr ehrt und haltet sie hoch mit Worten, mit Taten aber verwerft ihr sie. Unsere Waffen bezeichnet ihr als unbrauchbar ; dabei sind es ihre heiligen, göttlichen Worte, mit denen auch wir euch zu schreiben und zu widersprechen vermochten. So habt für euren Teil uns der Sorgen entbunden. Geht nun euren Weg! Schreibt uns nicht mehr über Dogmen, sondern allein um der Freundschaft willen (philias de mones heneka; amicitiae tantum causa), wenn ihr das wollt. Lebt wohl!« (Acta et Scripta, 370)14 Bevor am rechtfertigungstheologischen Themenkreis der inhaltliche Verlauf der Korrespondenz exemplifiziert werden soll,15 sei zunächst stichwort13 Unterzeichnet haben Martin Crusius und – in Vertretung des abwesenden Andreae – Lucas Osiander, der Sohn von Andreas Osiander. Zu den Unterzeichnern des zweiten (und dritten) Tübinger Antwortschreibens, zu denen neben den Genannten u. a. J. Heerbrand zählte, vgl. E. Benz, a.a.O., 95 f. 14 Die Tübinger brachten 1584 den gesamten Briefwechsel einschließlich ihrer Antwort auf das dritte Sendschreiben des Patriarchen in den Anm. 3 erwähnten »Acta et Scripta« an die Öffentlichkeit. (Zu den sonstigen Inhalten vgl. E. Benz, a.a.O., 94 – 96.) Zu dessen im selben Jahr in Basel erschienener Darstellung in der »Turcograecia« von Martin Crusius vgl. D. Wendebourg, a.a.O., 359 – 370. In deutscher Übersetzung ist der Briefwechsel in weiten Teilen wiedergegeben in: Wort und Mysterium. Der Briefwechsel über Glauben und Kirche 1573 bis 1581 zwischen den Tübinger Theologen und dem Patriarchen von Konstantinopel. Hg. v. Außenamt der EKD, Witten 1958. Dort (11 – 27) finden sich auch knappe einführende Hinweise zu den Etappen des evangelisch-orthodoxen Gesprächs im 16. Jahrhundert im Zusammenhang der Weltereignisse, zur ökumenischen Bedeutung des Briefwechsels im Zusammenhang mit den hochbyzantinischen orthodoxen Denkmälern des 14. und 15. Jahrhunderts sowie zu seiner Publikation und wissenschaftlichen Bearbeitung. Eine englische Übersetzung bietet G. Mastrantonis, Augsburg and Constantinople. The Correspondence between the Tübingen Theologians and Patriarch Jeremiah II of Constantinople on the Augsburg Confession, Brookline/Mass. 1983. Zum Hintergrund und geschichtlichen Verlauf des Briefwechsels vgl. D. Wendebourg, a.a.O., 18 – 151. Bei den nach Stil und Methode je nach Absender sehr unterschiedlich gestalteten Schreiben handelt es sich von Seiten des Patriarchen im Wesentlichen um Zitatkompilationen, von Seiten der Tübinger um mehr oder minder systematische Abhandlungen (vgl. a.a.O., 151 ff). Zum autoritativen Status der Lehrschreiben des Patriarchen innerhalb der Orthodoxie vgl. a.a.O., 398 ff. 15 Zu den sonstigen Streitfragen vgl. D. Wendebourg, a.a.O., 207 – 346. Sie betreffen, wie erwähnt, vor allem den Ausgang des Heiligen Geistes (a.a.O., 212 – 223), das Verhältnis zu den Heiligen und den Umgang mit kirchlichen Bildern (a.a.O., 253 – 265), das Mönchtum (a.a.O., 266 – 272) sowie das weite Feld der Theorie und Praxis der Sakramente (a.a.O., 272 – 334) und der Traditionsproblematik (a.a.O., 334 – 346).

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Der Briefwechsel der Württemberger mit Jeremias II., FC I und II

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artig die Fluchtlinie markiert, auf die hin die Argumentationslinien der Tübinger konvergieren. Dies hat am Beispiel der Konkordienformel zu geschehen, als deren Vater Andreae gilt und durch deren im Mai/Juni 1577 – also exakt zum Zeitpunkt der ersten Replik vom Neckar an den Bosporus – erfolgten Abschluss die theologische Position auch der übrigen Tübinger bestimmt ist. Die Entstehungsgeschichte der Formula Concordiae, deren einzelne Stationen im zweiten Band meiner erwähnten Einführung ins Konkordienbuch detailliert beschrieben ist16, gehört in den Zusammenhang der Konfessionalisierung der westlichen Christenheit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der einerseits der tridentinische Katholizismus Gestalt annahm, andererseits die Reformationskirchen zu jenen konfessionellen Formationen sich ausdifferenzierten, die seither die denominationelle Landschaft bestimmen. Das vorkonkordistische Luthertum wurde nach dem Tod des Reformators bekanntlich durch eine Reihe von Streitigkeiten erschüttert, deren weitgehende Beilegung die wesentliche Leistung des Konkordienwerkes von 1577/80 ist. Zwei Lager bildeten sich seit den schwierigen Interimszeiten der späten 1540er Jahren innerhalb der Wittenberger Reformation aus: auf der einen Seite standen die sog. Gnesiolutheraner, die von ihren Gegnern als Flacianer apostrophiert wurden, auf der anderen die Philippisten, die sich im Wesentlichen aus Melanchthonschülern rekrutierten. Zwar waren die Lager von Anfang an nicht einheitlich, so dass sich künftige Friktionen ahnen ließen. Gleichwohl sind im Blick auf die seit Interimszeiten anhebenden Auseinandersetzungen Frontverläufe durchaus erkennbar : neben Auseinandersetzungen um Abendmahlslehre, Christologie und Prädestination handelt es sich dabei um die sog. majoristischen, antinomistischen, synergistischen und ossiandrischen Streitigkeiten. Weil beide für den rechtfertigungstheologischen Diskurs zwischen Tübingen und Konstantinopel von besonderer Bedeutung sind, seien hier die majoristischen und synergistischen Auseinandersetzungen und ihre Lösung in der Konkordienformel paradigmatisch in Betracht gezogen. Ist der majoristische wie übrigens auch der antinomistische Streit primär am Realisierungszusammenhang der Rechtfertigung orientiert, so betrifft die Synergismuskontroverse vor allem die Konstitutionsbedingungen. Vorauszuschicken ist, dass Melanchthon seine ursprüngliche Lehre strenger göttlicher Alleinwirksamkeit im Laufe der Zeit dahingehend abgewandelt hatte, dass er von drei bei der Bekehrung des Menschen zusammenwirkenden »causae« sprach, nämlich vom Wort, vom Heiligen Geist und von dem die eigene Schwachheit tätig bekämpfenden Willen. Als der Melanchthon-Schüler Johannes Pfeffinger im Jahre 1555 diese Auffassung, deren wesentlicher Gehalt im Leipziger Interim Aufnahme gefunden hatte, nicht nur verteidigte, sondern in der Absicht, ein ursächliches Mitwirken des Menschen bei der Entscheidung seines Heils bzw. seines Unheils zu gewährleisten, weiter verschärfte, trat 16 Vgl. G. Wenz, a.a.O., Bd. 2, 467 – 539.

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ihm neben Amsdorff, Schnepf und Flacius anfangs auch Viktorin Strigel entgegen. Strigel war einer der ersten Professoren an der Universität Jena, die 1548 im ernestinischen Sachsen als Ersatz für die infolge der Schmalkaldischen Niederlage mit Kurwürde und Kurkreis an die Albertiner verloren gegangene Universität Wittenberg gegründet worden war. Als 1556/57 auch Flacius eine Professur in Jena erhielt, kam es zwischen beiden bald zu heftigen Kontroversen, zumal Strigel sich dem von Flacius und seinen Anhängern erarbeiteten und zur gesetzlichen Lehrnorm im Herzogtum Sachsen erhobenen Weimarer Konfutationsbuch von 1559 widersetzte und dafür mehrere Monate inhaftiert wurde. Auch die vom Herzog im August 1560 anberaumte Weimarer Disputation führte zu keinem Ausgleich, wohl aber zum beginnenden Niedergang des theologischen Sterns von Flacius. Während Strigel die These vertrat, die geschöpfliche Substanz des Menschen als eines vernunftund willensbegabten Lebewesens sei durch die Erbsünde gleich einem mit Zwiebelsaft bestrichenen Magneten geschwächt, aber nicht gänzlich verdorben, steigerte Flacius seine Auffassung von der gänzlichen Verderbnis des postlapsarischen Menschen zu der Annahme, durch Adams Fall sei die Erbsünde die Substanz der menschlichen Natur geworden. Zwar unterschied er dabei zwischen substantia materialis als möglicher Bezugsgröße des Guten und der forma substantialis als Trägerin des Bösen und bestritt überdies der Erbsünde eine eigene Subsistenz. Doch konnten ihn solche Differenzierungen nicht mehr vom Verdacht heterodoxer Übertreibung der Orthodoxie befreien. Seither wurde er – und zwar nicht nur unter den Philippisten, sondern auch von wesentlichen Teilen des gnesiolutherischen Lagers – als Ketzer betrachtet. Die Konkordienformel versuchte einen Mittelweg zwischen Strigel und Flacius einzuschlagen und die Einseitigkeiten beider zu vermeiden, wobei trotz antiflacianischer Verdikte durchaus die gnesiolutherische Perspektive dominiert. In diesem Sinne grenzt sich FC I (»Von der Erbsünde«) in schroff antipelagianischer Absicht gegenüber allen Positionen ab, die dem postlapsarischen Menschen Restbestände eines soteriologischen Eigenvermögens zudenken. Das peccatum originale verderbe nicht nur einen Teil des Menschen, sondern dessen ganze Natur und bewirke manifeste Feindschaft wider Gott. Wenn gleichwohl gegen mögliche manichäische Implikationen des Flacianismus gesagt wird, die Erbsünde vertilge nicht die menschliche Wesensnatur, dann geschieht dies ausschließlich in der Absicht, den Menschen auf seine kreatürliche Bestimmung zu verpflichten und die Zurechnung seiner Sünde als Schuld zu gewährleisten. Um die Fatalisierung der Sünde zu einem gleichsam naturhaften Geschick zu verhindern, muss auch unter postlapsarischen Bedingungen zwischen kreatürlichem Wesen des Menschen und der alles andere als unwesentlichen Verkehrtheit seiner Sünde unterschieden werden. Ob diese Unterscheidung mittels der Differenzierung von substantia und accidens angemessen geleistet werden kann, ist nach Urteil der Väter der Konkordienformel primär eine terminologische, den modus loquendi betreffende, sachlich hingegen zweitrangige Frage.

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Der Briefwechsel der Württemberger mit Jeremias II., FC I und II

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Sachlich entscheidend hingegen ist der Hinweis in Ep I,10, demzufolge zwischen der kreatürlichen Wesensnatur des Menschen und dem Unwesen der Erbsünde, welcher er schuldhaft verfallen ist, niemand heilsam scheiden kann als Gott allein, dessen in der Kraft des Heiligen Geistes manifeste Offenbarung in Jesus Christus die Voraussetzung für beider erkenntliche Unterscheidung ist. Damit ist erneut klargestellt, dass dem postlapsarischen Menschen sowohl ontologisch als auch gnoseologisch jedes Vermögen fehlt, sein Heil selbsttätig zu besorgen. Dieser Sachverhalt wird durch die Willenslehre in FC II »Vom freien Willen oder menschlichen Kräften« voll bestätigt. Sie ist auf das kontroverse Thema konzentriert, was Verstand und Wille des gefallenen und unwiedergeborenen Menschen in dessen conversio und regeneratio zu leisten vermögen, wenn Gottes Wort gepredigt und die Gnade Gottes angeboten wird. Vorausgesetzt ist dabei, dass der postlapsarische Mensch zwar ein gewisses, in seiner Indifferenz sittlich uneindeutiges Willensvermögen besitzt, sich von Tieren zu unterscheiden und in einer Menschenwelt bewegen zu können, dass er aber schlechterdings unfähig ist, durch Verstandes- und Willenstätigkeit Gottes Gnade zu erwirken. Kann er in sie zumindest durch eigenes Vermögen einwilligen und ihrer Zusage von sich aus zustimmen? Die Antwort von FC II auf diese Frage fällt differenziert aus: Zwar zwingt Gottes Gnade nicht auf naturkausale Weise und wirkt auf den Menschen daher nicht wie ein Keil auf den Klotz. Der Empfang der Gnade vollzieht sich durchaus im Modus der Freiheit und destruiert nicht das Aufnahmevermögen des Menschen, sondern erfüllt es. Eine capacitas passiva bezüglich der Gnade ist FC II daher durchaus zu attestieren bereit; aber dabei handelt es sich recht eigentlich nicht um eine Fassungskraft des Menschen, weil das Gnadengeschehen »tanquam in subjecto patiente« (vgl. BSLK 910, 16) wirksam ist. Der die Gnade im reinen Empfangen des Glaubens hinnehmende Mensch verhält sich zu ihr pure passive, nämlich so, dass er sie sich dankbar gefallen lässt. Jeder Reflex auf ein dem Gnadengeschehen vorgegebenes soteriologisches Eigenvermögen ist damit obsolet. Der Glaube weiß, dass Gott beides wirkt: velle et perficere, Wollen und Vollbringen. Unter diesem Aspekt kann der postlapsarische Mensch samt seinem Willen und Verstand nicht anders in Betracht kommen denn als »subjectum convertendum«, als ein »Subjekt«, das durch das Evangelium aus seiner Verkehrtheit bekehrt und aus seiner Unfreiheit zur Freiheit der Kinder Gottes zu befreien ist. Damit ist die Perspektive benannt, in welcher die Tübinger mit dem konstantinopolitanischen Patriarchen Jeremias brieflich über das Rechtfertigungsereignis und seine Prämissen diskutieren. Während Jeremias II. in seinem ausführlichen Kommentar zu den einzelnen Artikeln der Confessio Augustana Graeca vom 15. Mai 1576 CA II und XIX hamartiologisch ohne Vorbehalte akzeptierte, ließ er gleichwohl bereits in sündentheologischer Hinsicht keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Mensch vermöge seines Willens die Sünde grundsätzlich meiden und das

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geforderte Gute mit Gottes Hilfe selbsttätig tun könne. Andernfalls werde die Sünde, so der Patriarch zu CA XIX, fatalisiert, und zu einem Naturdatum erklärt, das Schicksal sei, ohne als Schuld zugerechnet werden zu können. Nicht weil er von Natur aus nicht anders könne, sondern weil er das Gute nicht wolle und das dem Guten widerstrebende Böse wähle, sündige der Sünder. Analoges ergibt sich in soteriologischer Hinsicht: Gott zwingt den Menschen nicht zum Heil, sondern er beruft Willige in sein Reich. Die Unwilligen aber sind, so sie Gott sich selbst überlässt, an ihrer Heillosigkeit selbst schuld, weil sie diese durch ihre Unwilligkeit Gott gegenüber bewirkt haben. Die Ausführungen über den freien Willen im Zusammenhang des Kommentars zu CA XVIII bekräftigen diese Auffassung. Obwohl Gnade, so wird unter Berufung auf den heiligen Chrysostomos gesagt, rettet die Gnade Willige und nicht nach Weise einer gratia irresistibilis. Zwar stehe alles bei Gott, doch nicht so, dass darüber der freie Wille des Menschen Schaden leide. »Bei uns also steht es und bei Ihm! Wir müssen zuerst das Gute wählen, und dann bringt Gott das Seine hinzu. Er kommt unsern Entscheidungen nicht zuvor, damit unser freier Wille nicht verletzt wird. Wenn wir aber unsere Wahl getroffen haben, dann bringt Gott uns seine große Hilfe.« (Acta et Scripta 114) Wenn Paulus Phil 2,13 sage, dass Gott Wollen und Vollbringen wirke, meine er nicht, dass Gott das Wollen recht eigentlich schaffe, sondern helfend unterstütze und befördere. Der Satz, dass Gott in uns das Wollen wirke, stelle also den freien Willen des Menschen nicht in Abrede, sondern setze ihn voraus. Dies gefiel den Tübingern nicht: Zwar lehnen auch sie jede Form der Fatalisierung der Sünde und der Naturalisierung des Heilsgeschehens ab. Dennoch bekräftigen sie die Annahme, dass der postlapsarische Mensch, also der Mensch wie er sich faktisch vorfindet, ausnahmslos nicht über den Willen verfügt, das göttliche Gut zu wählen, sondern der Güte Gottes und damit zugleich der kreatürlichen Bestimmung seiner selbst und seiner Welt willentlich widerstrebt. Als konstitutives Datum des Heilsgeschehens scheidet das liberum arbitrium somit aus, ja es ist im Gegenteil so, dass das soteriologische Insistieren auf der Wahlfreiheit des Menschen als ein Unheilsdatum qualifiziert wird. Was der Apostel zu den Philippern sagt, will nach Urteil der Tübinger durchaus stricte dictu verstanden sein: »Nicht nur das Gute vollbringen, sondern auch das Gute wollen, ist Gottes Wirkung in uns.« (Acta et scripta 164) Es ist mithin nicht so, dass die Menschen, denen Gottes Gnade in Jesus Christus begegnet, zuerst das Gute wählen, und dann Gott ihnen das Seine hinzufügt. Kraft seines Geistes wirkt Gott vielmehr alles in allem, wenngleich nicht auf naturhafte Weise, sondern im Modus göttlicher Freiheit, welche den Menschen aus der Unfreiheit und Sklaverei seiner Sünde zu sich und seiner Bestimmung befreit. Diese Befreiung von sich aus zu leisten, ist der Mensch auch nicht ansatzweise in der Lage. Der Ansatz bei der unmittelbaren Selbstbestimmung des Menschen in Form eines selbstverständlich vorausgesetzten liberum arbitrium indifferenter Wahlfreiheit ist vielmehr bereits in sich ein Indiz für den abgründigen Fall des Menschen.

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Der Briefwechsel der Württemberger mit Jeremias, FC III und IV

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Denn auf einem indifferenten Wahlvermögen dem Guten gegenüber zu insistieren, ist bereits Wille zum Bösen. Von daher muss, um es zu wiederholen, das liberum arbitrium aus dem Begründungszusammenhang der Soteriologie ausgeschieden werden. Das betreiben die Tübinger konsequent mit der Folge, dass ihnen der Sünder trotz pyhsischen Lebens als ein geistlich Toter gilt. Wie ein toter Körper nichts will und nichts tut, sondern nur üblen Geruch verbreitet, so kann der geistlich erstorbene Mensch, wenn er nicht von Gott auferweckt und wiedergeboren wird, nichts Gutes wählen und nicht Gutes tun. Der status controversiae zwischen Konstantinopel und Tübingen in der Sünden- und Willensfrage ist damit bestimmt. Er wird in der weiteren Korrespondenz nur mehr bestätigt, ohne dass wirklich neue Argumente erkennbar würden.

4. Der Briefwechsel der Württemberger mit Jeremias II. im Kontext von FC III und IV Kann von einem verbleibenden soteriologischen Eigenvermögen des sündig in sich verkehrten Menschen und von einer soteriologischen Basisfunktion eines menschlichen liberum arbitrium nach Urteil der Tübinger in keiner Weise die Rede sein, so verbleibt in zweiter Hinsicht zu bedenken, was der Wille der Wiedergeborenen in geistlichen Dingen vermag. Diese Frage betrifft, wenn man so will, den Realisierungszusammenhang der Rechtfertigungslehre und dabei insbesondere das Problem der guten Werke. Binnenlutherisch wurde dieser Themenkreis u. a. im sog. majoristischen Streit kontrovers verhandelt. Der majoristische Streit verdankt seinen Namen einem seiner Hauptprotagonisten, dem Melanchthonschüler und entschiedenen Philippisten Georg Major, seit 1544 Theologieprofessor in Wittenberg. Wie sein Lehrer intensiv an der Autorität der altkirchlichen Väter und an der humanistischen Forderung sittlichen Christentums orientiert lehrte er die Notwendigkeit guter Werke zur Seligkeit. Damit wollte er keinem meritorischen Rechtfertigungsverständnis Vorschub leisten, sondern lediglich betonen, dass die Früchte des Glaubens für dessen Bewahrung unerlässlich seien. Gleichwohl bezichtigten ihn die Gnesiolutheraner der Preisgabe der ursprünglichen Einsicht der Reformation. Um jeden noch so subtilen Pelagianismus gänzlich auszumerzen, verstieg sich Nikolaus Amsdorff gar zu der – zum Titel eines Traktats (1559) erhobenen – Aussage, »dass diese Propositio ›gute Werke sind zur Seligkeit schädlich‹ eine rechte, wahre, christliche Propositio sei, durch die Heiligen Paulum und Lutherum gelehrt und gepredigt«. Nicht weniger deutlich, doch differenzierter äußerte sich Flacius. Abermals ist die Konkordienformel um Vermittlung bemüht, wobei erneut die gnesiolutherische Tendenz gegenüber dem Philippismus dominiert. Die

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Den Griechen ein Grieche?

dezidiert antisynergistische Perspektive bezüglich der Prämissen des Rechtfertigungsgeschehens wird in Bezug auf dessen Folgezusammenhang beibehalten. »Trahit Deus, sed volentem trahit«. (BSLK 908,2) Dieser Satz wird in FC II zwar als nicht falsch, aber als in hohem Maße erläuterungsbedürftig bezeichnet. Nicht anders stellt sich die Angelegenheit im Kontext der Lehre von der Gerechtigkeit des Glaubens und von den guten Werken dar, wie FC III und IV sie entwickeln. Zwar wirkt der bekehrte Wille am Heiligungswerk Gottes mit, aber die Mitwirkung hängt ausschließlich an der wirksamen Wirklichkeit des Heiligen Geistes, in welchem sie die Bedingung ihrer Möglichkeit, ihren alleinigen Konstitutions- und Erhaltungsgrund findet. Weder Anfang noch Vollzug der Bekehrung sind daher in das Vermögen des Menschen gestellt. Das sola gratia steht nicht nur hinsichtlich der dem Rechtfertigungsgeschehen vorhergehenden, sondern auch hinsichtlich der ihm nachfolgenden Werke in Geltung. Dessen ist der Rechtfertigungsglaube gewärtig und gewiss; er wird deshalb auch sich selbst nicht als Werk wissen, sondern jenseits aller Selbstsicherheit ganz aus dem Vertrauen auf Gott leben, auf welches sich zu verlassen sein Wesen ausmacht. Es gilt der rechtfertigungstheologische Heilsgrundsatz: »absque ullo respectu praecedentium, praesentium aut consequentium nostrorum operum« (Ep III, 4). Was die nachfolgenden Glaubenswerke betrifft, so haben sie nach FC IV das sola gratia des Rechtfertigungsartikels nicht nur zur anfänglichen, sondern zur durchgängigen Voraussetzung. Hingegen dürfen die guten Werke, sosehr sie gottgeboten und insofern nötig sind, weder zum Konstitutions- noch zum Erhaltungsgrund des Glaubens erklärt werden. Weisen wohl schuldig gebliebene Werke auf schwindenden oder gar fehlenden Glauben hin, so können sie umgekehrt niemals die Gewissheit des Glaubens begründen. In der Konsequenz dessen gelangt die Konkordienformel zu der These, dass der Glaube ohne Werke rechtfertige. Damit ist zwar nicht deren Überflüssigkeit behauptet, aber entschieden in Abrede gestellt, dass Werke das Rechtfertigungsgeschehen begr ünden oder auch nur mitbegründen können. Wo Werke in dieser Absicht erbracht werden, sind sie nicht nur unnütz, sondern schädlich. Nützlich und förderlich und damit ihrem Begriff als gute Werke entsprechend sind sie hingegen nur, wenn sie die im Rechtfertigungsglauben mit Gott vers öhnte Person in Dankbarkeit gegenüber der göttlichen Gnade und in der Freiwilligkeit dankbarer Spontaneität vollbringen. Erst wenn die Person des Menschen in der Exzentrizität des Glaubens ihres verlässlichen Gründens in Gott innewird und durch das Rechtfertigungsevangelium Jesu Christi in der Kraft des göttlichen Geistes von der Verkehrtheit der Sünde freikommt, um zu sich selbst und zu seiner gottgegebenen Bestimmung zu gelangen, kurzum : nur wenn die Person des Menschen vor Gott gerechtfertigt ist, sind auch menschliche Werke richtig. Aus diesem Kontext heraus will schließlich auch die Damnation verstanden sein, derzufolge die Lehre zu verwerfen sei, »daß gute Werk nötig sein zur Seligkeit. Item, daß niemand jemals ohne

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Der Briefwechsel der Württemberger mit Jeremias, FC III und IV

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gute Werk sei selig worden. Item, daß es unmuglich sei, ohne gute Werk selig werden.« (BSLK 789, 17 – 21) So scharf drücken sich die Tübinger gegenüber dem Patriarchen nicht aus. Dieser hatte zu Art. IV–VI und entsprechend auch zu Art. XX der Confessio Augustana Graeca vermerkt, dass die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders aus Glauben nur dann ihre Richtigkeit habe, wenn unter diesem der lebendige, durch gute Werke bezeugte Glaube verstanden werde. Denn die Gnade werde dem nicht zuteil, der die nötige Bemühung missen lässt. Beide – menschlicher Eifer und göttliche Begnadung – wirken miteinander und durchdringen sich gegenseitig. Zur Rechtfertigung vor Gott bedürfe es daher der vorhergehenden Buße ebenso wie der nachfolgenden Werke heiligender Liebe. Wer diese zu erbringen sich weigere, habe seinen himmlischen Lohn dahin. Zwar sollen wir unser Vertrauen keineswegs völlig auf unsere Gerechtigkeit setzen, da diese unvollkommen und der Gnade Gottes bedürftig sei, um ganz und integer zu werden. Gleichwohl müssen wir bestrebt sein, der uns durch Gottes Gnade zukommenden Hilfe entgegenzueilen und Fortschritte zu erzielen auf dem Wege der Heiligung. Ohne Werke tätiger Liebe kann von wahrem Glauben und wahrer Gerechtigkeit vor Gott nicht die Rede sein, auch wenn die Vergebung der Sünde uns anfänglich und bis auf Weiteres gratis und nicht unter Ansehung von Verdienst und Würdigkeit zugesprochen wird. In ihrer Antwort vom 18. Juni 1577, die genau eine Woche vor Publikation der Konkordienformel am 50. Jahrestag des Übergabe des Augsburgischen Bekenntnisses erfolgte, pflichten die Tübinger Jeremias II. bei, dass Buße sowie gute Werke zu tun zweifellos geboten sei und dass ein toter Glaube im Sinne bloßer Historienkenntnis nicht gerecht mache. Dies treffe nur für jenen Glauben zu, der durch die Liebe tätig sei. Dennoch erklären sie, »daß unsere guten Werke nicht mit dem Artikel von der Rechtfertigung durch Gott vermischt werden dürfen, wo es darum geht, wodurch und weshalb wir mit Gott versöhnt und zu Kindern und Erben Gottes gezählt werden. Warum? Weil wir dafür halten, dass je größerer Wert hier unseren Werken und Verdiensten beigelegt wird, desto geringer die Ehre der Tat Christi wird.« (Acta et scripta, 166) Gerechtigkeit vor Gott und ewiges Heil verdanken wir allein der Gnade Gottes, wie sie in der Kraft des Heiligen Geistes in Jesus Christus, dem auferstandenen Gekreuzigten, offenbar ist. Die Rechtfertigung geschieht somit strictissime gratis, allein durch den Glauben und ohne alle Werke des Gesetzes, wobei unter Gesetz nicht nur das zeremoniale und zivile Gesetz, sondern die lex naturalis des Dekalogs zu verstehen ist. Weil aber die Früchte des Glaubens, die aus der in reiner Gnade empfangenen Rechtfertigung folgen sollen und tatsächlich folgen, unter irdischen Bedingungen stets unvollkommen sind und nie zur Vollkommenheit heranreifen, kann die Gerechtigkeit vor Gott nicht nur anfänglich, sondern auch fernerhin nicht durch sie bedingt sein. Gewissheit des Heils kann der Glaube nur haben, wenn er sich ganz und gar und in all seinem Beginnen nicht auf gerechte

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Menschenwerke, sondern auf die Gerechtigkeit Christi verlässt. Deshalb hat es nach Tübinger Urteil seine Richtigkeit zu sagen, dass gute Werke weder der Bedingung- noch auch der Erhaltungsgrund der Gerechtigkeit sind, die vor Gott gilt. Wenn demgegenüber der Patriarch im Mai 1579 zu bedenken gibt, dass von untätigem Glauben und glaubenslosen Werken zu reden gleichermaßen unsinnig und mit dem Christentum unvereinbar sei, so widersprechen die Tübinger dem zwar nicht einfachhin. Auch sind sie zu bekennen gerne bereit, dass diejenigen nicht Kinder Gottes heißen, die keine guten Werke tun. Ja selbst als empirisches Erkenntnismittel der Rechtfertigung sind sie die Werke des Glaubens unter gewissen Vorbehalten zu würdigen bereit. Gleichwohl bleibt es dabei, dass das Rechtfertigungsgeschehen als solches von Anfang bis Ende und in einer die Gesamtexistenz des Menschen umspannenden Weise allein durch Gnade und keinesfalls durch Menschenwerk bedingt wird. Wollen wir durch die Erfüllung des Gesetzes gerechtfertigt werden, wäre unser Heil dahin. Denn sind wir nach unserem natürlichen Vermögen als gefallene Menschen überhaupt nicht in der Lage, heilsame Werke zu tun, so können wir auch als Begnadete das Gesetz Gottes nur auf anfängliche und niemals vollkommene Weise erfüllen. Unser einziges Heil ist und bleibt daher Christus allein, der das Erlösungswerk nicht nur zum Teil, sondern ganz und gar vollbracht hat. Diese Vollgenügsamkeit der Gerechtigkeit Christi, auf die sich zu verlassen die Heilsgewissheit des Glaubens ausmacht, darf nicht durch falsches Vertrauen auf zwar gebotene, aber stets insuffiziente Werke des Gesetzes in Frage gestellt und in Zweifel gezogen werden. »Dem Mittler Christus allein und niemand anders gebührt die Ehre. Er selbst spricht durch den Propheten Jesaia: Ich, Ich tilge deine Übertretungen um Meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht. Niemand von uns ist jener Ich (Oudeis hemon esti … ho ego; nemo nostrum est, ille ego), der durch den Propheten spricht. Christus allein ist jener Mittler, der die Sünden abwäscht.« (Acta et scripta, 309)

5. Orthodoxie-Dialog zwischen Philippismus und Gnesioluthertum Die Reformation bezweckte nicht die Spaltung der abendländischen Christenheit und die Gründung von denominationellen Kirchentümern. Ihre genuine Absicht war vielmehr auf die Reform der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche gerichtet, die sich nach Urteil der Reformatoren nicht auf den Westen beschränken lässt, sondern selbstverständlich auch den christlichen Osten umfasst. »Melanchthon ist wohl noch wie Luther in der Überzeugung gestorben, Glied der einen katholischen Kirche Christi auf

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5. Orthodoxie-Dialog zwischen Philippismus und Gnesioluthertum

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Erden zu sein, auch wenn er dafür Vorsorge trug, daß die Wahrheit Gottes in dieser stets angefochtenen Kirche nicht unterginge. Gerade sein ›Corpus Doctrinae Christianae‹ von 1560 kann für beide Seiten dieser ihn tragenden Gewißheit herangezogen werden.«17 Die siebzehn Jahre nach Melanchthons Tod vereinbarte Konkordienformel ist im Vergleich dazu eindeutig ein Dokument des entstehenden konfessionellen Zeitalters; ihre Autoren hatten als Männer der zweiten reformatorischen Generation bereits ein ausgeprägtes »lutherisches« – von Genf und Rom gleichermaßen abgegrenztes – Konfessionsbewusstsein. Hält man sich vor Augen, dass zu den Württemberger Dialogpartnern des konstantinopolitanischen Patriarchen Protagonisten der Konkordienformel zählten, wird die von lutherischer Seite bestehende enge Verbindung zwischen der konkordistischen Bewegung und dem Tübinger Dialog mit Konstantinopel unschwer erkennbar. Die erfolgte Untersuchung der inhaltlichen Argumentationsverläufe von Württemberger Seite in Zusammenhang des rechtfertigungstheologischen Disputs mit dem Patriarchen bestätigte dies in wünschenswerter Deutlichkeit. Der Geist der Formula Concordiae ist in den Württemberger Darlegungen omnipräsent. Sie sind bei aller ökumenischen Orientierung vom Prozess der Konfessionalisierung durchweg mitgeprägt. Die Verwendung des Briefwechsels in der Polemik der westlichen Kirchen gegeneinander18 ist ein weiteres Indiz für diesen Sachverhalt. Nach ihrem Bekanntwerden über den Kreis der Eingeweihten hinaus wurde die Korrespondenz sowohl Gegenstand kontroverstheologischer Auseinandersetzungen im binnenreformatorischen Bereich, nämlich zwischen Wittenberg und Zürich/Genf, als auch zwischen lutherischer Reformation und römisch-katholischer Gegenreformation. Die Funktionalisierung des Briefwechsels zugunsten konfessionell-konfessionalistischer Zwecke bestimmte indes nicht nur den Umgang Außenstehender mit ihm. Auch von Seiten der Tübinger Autoren selbst wurde er von Anfang an in den Dienst der Auseinandersetzung mit Rom gestellt. Inwieweit der Briefwechsel zudem ein Moment des Prozesses binnenreformatorischer, ja binnenlutherischer Konfessionalisierung darstellt, ist einer ausführlichen Schlusserörterung wert. Dass die sog. philippistischen Streitigkeiten zwischen den Melanchthonianern einerseits und den sog. Gnesiolutheranern andererseits19 von Württemberger Seite den Hintergrund des theologischen Disputs zwischen den Tübingern und dem Patriarchen bildeten, steht nach meinem Urteil zumindest in Bezug auf den rechtfertigungstheologischen Themenkreis außer Zweifel. Das wird auch von D. Wendebourg eingeräumt. Allerdings 17 G. Kretschmar, a.a.O., 32. 18 Vgl. D. Wendebourg, a.a.O., 347 – 398. 19 Vgl. im Einzelnen meine Studie: Zum Streit zwischen Philippisten und Gnesiolutheranern, in: G. Wenz, Lutherische Identität. Studien zum Erbe der Wittenberger Reformation. Bd. 2, Hannover 2002, 147 – 174.

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formuliert sie diesbezüglich eher zurückhaltend, wenn sie zu den philippistischen Streitigkeiten bemerkt: »Den Austausch mit dem Patriarchen auch auf diesem Hintergrund zu sehen, hätte für die Württemberger schon deshalb nahegelegen, weil einschlägige Aussagen und Termini der philippistischen Debatte der griechischen Theologie entnommen waren: So hatte Melanchthon für seine Position auf denselben Chrysostomos verwiesen, den auch Jeremias zum Thema ›freier Wille‹ in vorderster Linie heranzog, und der Begriff ›Synergismus‹, der zum Reiz- und Schimpfwort des innerreformatorischen Streits geworden war, ließ die griechische Patristik unmittelbar anklingen. Indessen ist festzustellen, daß die Tübinger zwar die Lösungen voraussetzen, mit denen die Konkordienformel schließlich jene Streitigkeit beendete; Rückgriffe auf die Debatten selbst aber finden sich bei ihnen nicht. Vielmehr steht ganz der Gegensatz zur römischen Theologie im Vordergrund.«20 Letzteres ist zweifellos richtig. Prüfungs- oder doch erläuterungsbedürftig scheint mir hingegen die Behauptung, Rückgriffe auf die binnenlutherischen Debatten fänden sich bei den Tübingern trotz der inhaltlichen Orientierung an den Lösungen der Konkordienformel nicht. Zutreffend ist, dass explizite Rückgriffe, welche die philippistischen Streitigkeiten eigens erwähnen, nicht vorgenommen werden. Mit impliziten Reflexen hierauf hat man gleichwohl zu rechnen, wenn anders, wie Wendebourg mit Recht vermerkt, die Formula Concordiae den Orientierungsmaßstab der Tübinger Argumentationen abgibt. Im Übrigen wäre es reizvoll, durch detaillierte Textvergleiche im Einzelnen zu untersuchen, ob sich nicht doch auch, anders als Wendebourg dies vermutet, literarische Abhängigkeiten der Briefe der Tübinger von den konkordistischen Vorarbeiten namentlich Andreaes nachweisen lassen. Wie auch immer : Der enge inhaltliche Zusammenhang zwischen den Tübinger Argumentationen gegenüber dem Patriarchen und dem konkordistischen Schiedsverfahren innerlutherischer Streitbelegung ist evident. Die Tübinger Korrespondenz ist, um es zu wiederholen, fraglos von einem engagierten ökumenischen Interesse und dem Bewusstsein motiviert, der einen, die Grenzen der Zeit und des Raumes transzendierenden, weltumspannenden Kirche anzugehören; sie hat aber ihren konkreten Sitz im Leben zugleich im Prozess der Konfessionalisierung der westlichen Christenheit, der im 16. Jahrhundert zur Etablierung separater Kirchentümer mit u. a. präzise definierter Lehridentität führte. Der Weg zu einem Corpus Doctrinae des Luthertums mit mehr oder minder definitivem Verbindlichkeitsanspruch ist der Tübinger Korrespondenz mit Jeremias II. förmlich eingezeichnet. Daher rührt, wie mir scheint, auch das Tübinger Bemühen um verhältnismäßig strenge Systematik, zu welchen das Kompilationsverfahren des Patriarchen in einem eigentümlichen Missverhältnis steht. Dass man zuletzt zu keinem beidseitig befriedigenden Einverständnis gelangte, ist 20 D. Wendebourg, a.a.O., 230.

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5. Orthodoxie-Dialog zwischen Philippismus und Gnesioluthertum

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gewiss nicht nur durch inhaltliche Divergenzen, sondern auch durch Stilgegensätze bedingt. Wie hätte ein Briefwechsel zwischen Melanchthon und Patriarch Joasaph ausgesehen, wenn er denn zustandegekommen wäre und die Demetriosmission von 1559 Erfolg gehabt hätte? Wir wissen es nicht und können es nicht wissen. Gewiss aber ist, dass sich der Prozess der Konfessionalisierung nach dem Tod des Praeceptor Germaniae nicht zuletzt im Binnenbereich der Wittenberger Reformation, für die Melanchthon mittlerweile selbst zum Problem geworden war, erheblich beschleunigte. Die Korrespondenz der Tübinger mit Patriarch Jeremias in den Jahren 1573 bis 1581 belegt diese Entwicklung auf ihre Weise. Ohne Berücksichtigung des neben Rom und Genf auch die Wittenberger Reformation erfassenden Konfessionalisierungsprozesses lässt sie sich nicht angemessen verstehen. Gleichwohl wäre es falsch, die Tübinger einfachhin zu Funktionären des Konfessionalismus zu erklären. Dagegen spricht bereits die Tatsache, dass sie, obwohl seit geraumer Zeit um die Sammlung der Lutheraner in Abgrenzung gegenüber den Philippisten bemüht, für ihren »Dialog mit Konstantinopel auf die CA graeca von 1559 zurückgriffen, deren Zusammenhang mit Melanchthon ihnen nicht unbekannt geblieben sein konnte und deren Abweichungen von der ursprünglichen Fassung des Bekenntnisses ja offen zutage lagen. Die Tübinger haben daraus auch kein Geheimnis gemacht, sondern … die CA graeca von 1559 in den ›Acta et Scripta‹ wieder mit abgedruckt und ihr sogar eine lateinische Übersetzung beigefügt, die sich an die Fassung des textus receptus der CA anlehnt, aber auch die Abweichungen getreulich festhält. Falls es Diskussionen über die Authentizität dieser Übertragung gegeben haben sollte, haben sie keine Spuren hinterlassen.«21 Zur Begründung für diesen bemerkenswerten Sachverhalt reicht nach G. Kretschmars Vermutung nicht bereits die Tatsache aus, »daß die Übersetzung von 1559 eben vorlag – worauf die Tübinger durchaus verweisen. Sicher hat es dabei eine wichtige Rolle gespielt, dass Martin Crusius die CA graeca von 1559 offenbar hoch schätzte, er war ja überhaupt die treibende Kraft bei diesem Unternehmen. Ausschlaggebend war es aber wohl doch, dass auch die Väter der Konkordienformel in ähnlicher Weise von der Einheit und Identität des reformatorischen Bekenntnisses und ›unserer Kirchen‹ überzeugt waren wie der alte Melanchthon.«22 Das wird man so annehmen dür21 G. Kretschmar, a.a.O., 36 f. 22 A.a.O., 37. Vgl. ferner D. Wendebourg, La Confessio Augustana Graeca. Mensaje reformador en presentacin griega?, in: Dilogo Ecumnico 16 (1981), 25 – 44. Einen knappen Überblick über »Das erste ökumenische Gespräch zwischen der evangelisch-lutherischen und der griechischen Kirche (1574 – 1581)« hat Wendebourg unter dem Obertitel »Reformation und Orthodoxie« gegeben in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 30 (1983), 403 – 423. Zu sonstigen Begegnungen zwischen ökumenischem Patriarchat und Protestantismus vgl. V.T. Stavrides, A Concise History of the Ecumenical Patriarchate, in: The Greek Orthodox Theological Review 45 (2000), 57 – 140 (153), hier : 80 ff.

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fen. Dennoch verbleibt zwischen der Confessio Augustana Graeca in der Melanchthonischen Redaktionsgestalt von 1559 und ihrer späteren Verwendung im Tübinger Dialog mit Konstantinopel eine unaufgehobene Spannung. Diese lässt sich zwar nicht an ihrem äußerlichen Bestand ablesen, der buchstäblich unberührt blieb, aber sie ergibt sich aus dem kirchenhistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Wandel der Jahre zwischen Melanchthons Tod und dem Abschluss des Konkordienwerkes. Dieser Wandel betraf auf indirekte Weise auch Funktion und Bedeutung der CA Graeca, selbst wenn für die zwischen Philippisten und Gnesiolutheranern hauptsächlich umstrittenen Fragen und für die diesbezüglich in der Konkordienformel festgeschriebenen Lösungen die Differenzen zwischen dem Augsburger Bekenntnis von 1530/31 und dessen griechischer Version von 1559 nicht erheblich waren. Hat die Confessio Augustana Graeca eine Relevanz, die über ihre Verwendung im 16. Jahrhundert hinausreicht und von aktueller Wichtigkeit ist? Ich denke, das ist der Fall und zwar gerade dann, wenn man sich die Spannung zu Bewusstsein bringt, welche dem Dokument vom Reformationsjahrhundert her innewohnt. Spannend für den gegenwärtigen Dialog der christlichen Kirchen wird die CA Graeca nämlich dann, wenn man sie – und zwar zugleich und in einem Verstehensvorgang – sowohl als einen Bekenntnistext konfessioneller Selbstverständigung als auch als ein Zeugnis ökumenischer Aufgeschlossenheit liest. Eine dementsprechende Relektüre kann zu einem Exempel gegenwärtiger ökumenischer Hermeneutik werden, sofern für diese grundsätzlich beides zu gelten hat: Ökumenische Übereinkunft lässt sich ohne konfessionelle Selbstverständigung oder unter Abstraktion von dieser nicht herstellen; umgekehrt gehört es zum Wesen konfessioneller Selbstverständigung, diese in ökumenischer Offenheit und in dem Bewusstsein zu vollziehen, dass Christus alle Christen zu einem gemeinsamen Bekenntnis berufen hat.23

23 Nach Abschluss vorliegenden Manuskripts, das in historischer Hinsicht keinerlei Anspruch auf Originalität erhebt, sondern lediglich den aktuellen Forschungsstand wiederzugeben beabsichtigt, wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass Herr Kollege Reinhard Flogaus, Berlin, eine kritische Edition der Confessio Augustana Graeca plant. Das Editionsvorhaben und die mit ihm verbundenen Forschungen werden, wie zu vermuten steht, Bewegung in die Diskussion bringen und möglicherweise zu Modifikationen bisheriger Sichtweisen Anlass geben. Herr Flogaus war so freundlich, mir auf Anfrage u. a. folgendes mitzuteilen: »Grundlage der Übersetzung ist die lateinische Oktavausgabe vom Herbst 1531 (Ed. 2), die ja ebenso wie der zugehörige Apologietext bis 1540 der fast ausschließlich benutzte und verbreitete Wortlaut war, sowie die deutsche Editio princeps vom Oktober 1531. In geringem Umfang ist darüber hinaus auch die lateinische Variata von 1540 (Ed. 3) benutzt worden. Die Verwendung der späteren lateinischen Fassung ist – anders als Wendebourg meinte – in Art. 21 nicht belegbar. Auch die forensische Formulierung der RFL in Art. 20 (vgl. Wendebourg 161, Anm. 41) … basiert auf der deutschen Fassung, wobei die Verdoppelung des Verbs, das Ausdrücken eines Wortes in der Vorlage durch zwei Begriffe nach Art eines Hendiadyoin, an unzähligen Stellen in der CAG

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vorkommt und ganz allgemein ein Charakteristikum der damaligen Übersetzungen ist, auch beispielsweise der Übertragung lateinischer Passagen ins Deutsche.« Im Übrigen meint Flogaus keine Spuren einer Überarbeitung einer ersten Übersetzung durch Melanchthon feststellen zu können; er hält vielmehr die alleinige Verfasserschaft von Dolscius für ausgemacht, wofür Crusius selbst der beste Zeuge sei. »Die bei Wendebourg genannten Belege (156) ließen sich noch um ein Vielfaches vermehren. Die einzige Stelle, die zu der irrigen Vermutung Anlaß gegeben hat (TG 364 [=264]) ist nicht eine Formulierung von Crusius selbst, sondern ein Zitat aus Martin Mylius’ Melanchthonbiographie von 1582. Die Randglosse von Crusius bestätigt ebenso wie v. a. TG 496 die alleinige Autorschaft des Dolscius. Aufgrund der Äußerung von Mylius – der m. E. auch nur sagen wollte, daß Melanchthon der eigentliche Autor der CA ist – hat sich Dolscius 1587 bei seinem Freund Matthäus Dresser beschwert. Dessen Antwort findet sich in der zweiten Auflage seiner Gymnasmata auf S. 272 – 274 (erneut abgedruckt 1730 von Reineccius, Exercitatio historica, 287 f).« Auf meine Frage, ob der griechische Text des ursprünglichen Drucks der CA Graeca von 1559, der bei Johannes Oporinus in Basel erfolgte, völlig identisch sei mit dem Nachdruck, der 1584 in Wittenberg zusammen mit dem Briefwechsel zwischen der Leitung der Württembergischen Kirche und Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den »Acta et Scripta theologorum Wirttembergensium« publiziert wurde, antwortete Flogaus: »Es gibt einige Abweichungen der Tübinger Fassung vom Urtext, diese sind jedoch sämtlich entweder Fehlerkorrekturen, stilistische Verbesserungen oder selbst orthographische Versehen. Inhaltlich sind sie nicht relevant. Deutlich abweichend vom griechischen Text von 1559 bzw. 1584 ist hingegen Crusius’ lateinischer Text, da dieser aus den verschiedenen vorliegenden lateinischen Fassungen zusammengesetzt ist und keine größeren eigenen erneuten Rückübersetzungen ins Lateinische enthält.« Ich danke Herrn Kollegen Flogaus sehr für seine freundlichen Hinweise.

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Orthodoxie im Gespräch. Zentralthemen ihrer bilateralen Ökumenedialoge auf Weltebene* 1. Das Mysterium der Kirche Ökumenische Gespräche zwischen christlichen Kirchen sind häufig auf ekklesiologische Probleme konzentriert. Dies liegt insofern in der Natur der Sache, als die Trennung der Kirchen ihren Grund zumeist in abweichenden * Zitiert werden die einschlägigen Texte gemäß der Sammlung interkonfessioneller Lehrgespräche auf Weltebene »Dokumente wachsender Übereinstimmung« (3 Bd., hg. u. eingel. von H. Meyer/D. Papandreou/H.J. Urban/L. Vischer, Paderborn/Frankfurt a. M. 1983, 1992 u. 2003) und der dort verwendeten Kennzeichnungen. – Als Kirchen der Orthodoxie werden im Folgenden jene Ostkirchen verstanden, welche die sieben ersten ökumenischen Konzile als solche anerkannt haben. Davon zu unterscheiden sind jene orientalischen Kirchentümer, welche die christologischen Definitionen des Konzils von Chalcedon nicht rezipiert und außerhalb der Kirchengemeinschaft von Byzanz ihr Eigenleben geführt haben. Auch sie erheben selbstverständlich den Anspruch auf Rechtgläubigkeit und wollen als orthodoxe Kirchen gelten. Dies ist bei allen terminologischen Differenzierungen (chalcedonische, non- oder vorchalcedonische Orthodoxie etc.) zu berücksichtigen. Aus naheliegenden Gründen sind die christologischen Aspekte der Dialoge zwischen den ostkirchlichen Orthodoxien von besonderem Interesse. Auf sie wird im dritten Teil nachfolgender Ausführungen eigens Bezug genommen. – Nach Maßgabe des panorthodoxen Beschlusses von Rhodos 1964 pflegt jede autokephale orthodoxe Kirche selbständig, in eigener Verantwortung und im eigenen Namen bilaterale Gespräche. Gesamtorthodoxe Repräsentanz wurde dadurch in der Regel nicht verhindert; sie darf als orthodoxerseits gewünscht gelten. Dennoch gab und gibt es in Einzelfällen nicht unerhebliche Probleme in Bezug auf Repräsentativität, Geltung und Akzeptanz bestimmter Dialogdokumente. Unter der Beamtenschaft Davids, die im 8. Kapitel des 2. Samuelbuches benannt wird, befand sich ein Mann namens Benaja. Er war, wie es heißt, Sohn des Jojadan und Befehlshaber einer Söldnertruppe des biblischen Königs, die nach Maßgabe der Übersetzung Luthers aus Krethi und Plethi bestand (vgl. 2. Sam 8,18; 1. Chron 18,17; 1. Kön 1,38 u. ö.). Gemeint sind wahrscheinlich Kreter und Philister, die möglicherweise zur davidischen Leibwache gehört haben. Nach Friedrich Kluges ethymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache (Berlin/New York 211975, 404) wurde die Wendung »(i)n luth. Kreisen seit 1710 … ein geflügeltes Wort für ›gemischte Gesellschaft‹«. Erst später bekam sie einen abwertenden Sinn und wurde gleichbedeutend mit der mittelalterlichen Rede von Hinz und Kunz. Hinz und Kunz waren die Kurzformen der einstmals sehr häufigen Vornamen Heinrich und Konrad und konnten damit für alle möglichen Leute und für jedermann stehen. – Nachfolgender Text wurde als Tischvorlage eines Blockseminars des Münchener Zentrums für ökumenische Forschung (ZöF) konzipiert, das vom 6.–13. September 2009 in der »Orthodox Academy of Crete (OAC)« in Kolympari bei Chania stattfand. Philister waren nicht unter den Seminarteilnehmern. Die anwesenden Kreter aber bestätigten die Annahme, dass der pejorative Sinn der Rede von Krethi und Plethi zumindest in Bezug auf die Krethi nur sekundär sein kann. Mit Hinz und Kunz jedenfalls hatten unsere orthodoxen Gastgeber schlechterdings nichts gemein. Im Gegenteil: Sie bereicherten die konfessionell gemischte Seminargesellschaft mit Beiträgen einer rundum verständigungsorientierten Ökumene. Ihnen

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Das Mysterium der Kirche

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Ekklesiologien oder in theologischen Kontroversen hat, die ekklesiologische Divergenzen zur notwendigen Folge haben. Auch wenn weitgehendes ökumenisches Einverständnis herrscht, dass die Kirche Jesu Christi die Gemeinschaft derjenigen ist, die im Glauben durch Wort und Sakrament kraft des Hl. Geistes Anteil haben an dem in Jesus Christus väterlich offenbaren Gott, um zu einer die Grenzen der Völkerschaften und Nationen, des Raumes und der Zeit transzendierenden Einheit verbunden zu werden, so macht es doch einen nicht unerheblichen Unterschied, wie das Verhältnis des Grundes dieser Einheit zu ihrer sichtbaren Gestalt oder die Bedingungen bestimmt werden, unter denen Kirchengemeinschaft möglich und faktisch zu realisieren ist. Innerhalb der orthodoxen und der römisch-katholischen Ekklesiologie1 seien die nachfolgenden Ausführungen gewidmet. – Die Orthodoxe Akademie von Kreta wurde vom ehemaligen Metropoliten von Kissamos und Selinon Irineos und von Dr. Alexandros Papaderos, dem ersten Generaldirektor, gegründet und hat 1968 trotz der damals in Griechenland herrschenden Militärdiktatur und in kritischer Spannung zu ihr die Arbeit aufgenommen. Die Akademie pflegt bis heute die theologische und spirituelle Tradition der Orthodoxie, unterstützt ökumenische Dialoge auf nationaler und internationaler Ebene, ist darüber hinaus aber auch in diakonischen, sozialpolitischen und in einer Reihe anderer Bereiche von hoher gesellschaftlicher Relevanz innerhalb Kretas und über Kreta hinaus aktiv. – Hinzugefügt sei, dass unter Verweis auf die neutestamentliche Pfingstgeschichte (Apg 2,11: »Kreter und Araber«) sowie auf den Inselaufenthalt des Apostels Paulus und des Titus (vgl. Apg 27,1 – 13; Tit 1,5) Kreta gerne sich und nicht Makedonien als das ursprüngliche Eingangstor betrachtet, durch welches das Christentum nach Europa kam. Tatsache ist, dass die christliche Tradition sehr zeitig zu den Kretern und durch ihre Vermittlung in den umliegenden mediterranen Raum gelangte. Unbeschadet ihrer Zugehörigkeit zur Jurisdiktion des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel und trotz fehlender Autokephalie hat die kretische Orthodoxe Kirche aktuell einen quasi halbautonomen Status. 1 Offiziell eröffnet wurde der bilaterale orthodox/römisch-katholische Ökumenedialog im Jahr 1980. Einen wichtigen Anstoß hierfür gab das Treffen von Papst Paul VI. und dem Patriarchen von Konstantinopel, Athenagoras I., in Jerusalem im Januar 1964 (vgl. hierzu sowie zur Vor- und Nachgeschichte: Tomos Agapis. Dokumentation zum Dialog der Liebe zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Ökumenischen Patriarchat 1958 – 1976, hg. im Auftrag des Stiftungsfonds PRO ORIENTE, Wien 1978). Am 7. Dezember 1965 wurde in Rom und Konstantinopel gleichzeitig die »Auslöschung« der Anathemata von 1054 im Sinne einer purificatio memoriae proklamiert. – Zur Vorgeschichte der bilateralen Dialoge vgl. G. Martzelos, Der theologische Dialog zwischen der Orthodoxen und der Römisch-Katholischen Kirche: Chronik – Bewertung – Aussichten, in: Orthodoxes Forum 21 (2007), 189 – 212. Belastend für den Dialog war von Anfang an das Problem der Unia und im Zusammenhang damit das Problem der Teilnahme Unierter als Mitglieder der römisch-katholischen Vertretung. Dieses Problem ist nach wie vor virulent. – Zum Thema Orthodoxie und WCC vgl. etwa D. Heller/B. Rudolph (Hg.), Die Orthodoxen im Ökumenischen Rat der Kirchen. Dokumente, Hintergründe, Kommentare und Visionen, Frankfurt 2004 sowie A. Basdekis (Hg.), Orthodoxe Kirche und Ökumenische Bewegung. Dokumente – Erklärungen – Berichte 1900 – 2006, Frankfurt a.M. 2006; A. Kallis, Zeitenwende. Abschied vom Jahrtausend der Spaltungen, Münster 2000; ders. (Hg.), Dialog der Wahrheit. Perspetkiven für die Einheit zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche, Freiburg (u. a.) 1981; J. Oeldemann, Orthodoxe Kirchen im ökumenischen Dialog. Positionen, Probleme, Perspektiven, Paderborn 2004; D. Papandreou, Dialog als Leitmotiv. Die Orthodoxie an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, Genf 2000; ders., Orthodoxie und Ökumene. Gesammelte Aufsätze (hg. W. Schneemelcher), Stuttgart 1986. – Aus der Arbeit der Gemischten Internationalen Kommission für den Theolo-

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Orthodoxie im Gespräch

wird in diesem Zusammenhang beispielsweise dem kirchlichen Amt, namentlich dem Bischofsamt eine Bedeutung zuerkannt, die es in dieser Weise in den reformatorischen Kirchen nicht hat, selbst wenn auch im Blick auf diese mit unterschiedlichen Urteilen und Einschätzungsschwankungen zu rechnen ist. Am Anglikanismus2 und seiner Geschichte ließe sich dies exemplarisch belegen. gischen Dialog zwischen der Römisch-katholischen und der Orthodoxen Kirche gingen u. a. Dokumente über »Das Geheimnis der Kirche und der Eucharistie im Licht des Geheimnisses der Heiligen Dreifaltigkeit« (München 1982), »Glaube, Sakramente und Einheit der Kirche« (Bari 1987) sowie »Das Weihesakrament in der sakramentalen Struktur der Kirche, insbesondere die Bedeutung der Apostolischen Sukzession für die Heiligung und die Einheit des Volkes Gottes« (Valamo, 1988) hervor. Von besonderer Bedeutung waren die Erklärungen zum sog. Uniatismus, insbesondere diejenige von Balamand 1993. Zuletzt wurde ein Text über »Kirchliche und kanonische Konsequenzen der sakramentalen Natur der Kirche« (Ravenna, 2007) erstellt. Im Vorfeld kam es zu innerorthodoxen Differenzen. Das Moskauer Patriarchat verweigerte die Anerkennung der seit 1996 unter der Jurisdiktion des Patriarchats von Konstantinopel stehenden estnischen apostolischen Kirche, die an dem Dialogtreffen in Ravenna teilnahm (vgl. im Einzelnen G. Martzelos, Einheit und Katholizität der Kirche im theologischen Dialog zwischen der Orthodoxen und der Römisch-katholischen Kirche. Auf der Basis der Dokumente von München (1980), Bari (1987), Neu Valamo (1988) und Ravenna (2007), in: Orthodoxes Forum 23 (2009), 39 – 51. Ders., Die Wiederaufnahme des theologischen Dialoges der Orthodoxen mit der römisch-katholischen Kirche. Das Dokument von Ravenna (druckfertig; bisher unveröffentlicht). Neben einem Kurzkommentar zum Fehlen der Vertreter Moskaus enthält der letztgenannte Artikel eine scharfe Kritik an der vonseiten Papst Benedikts XVI. erfolgten Streichung des Titels »Patriarch des Westens« aus dem pontifikalischen Kalender des Jahres 2006. Orthodoxerseits befürchtet man, der Papst habe damit seinen Anspruch auf universalkirchlichen Jurisdiktionsprimat unterstreichen wollen. Vgl. dazu bereits die Kritik in dem erwähnten Beitrag OF 21 (2007), 189 – 212, hier : 203: »Dieser Akt ist aus orthodoxer Sicht untragbar, da dieser einerseits die historische und kanonische Institution der Pentarchie ohne Zweifel verletzt, und andererseits auf ekklesiologischer Ebene absolut nicht mit den drei gemeinsam beschlossenen Texten bzw. Dokumenten und besonders mit dem beschlossenenen und unterschriebenen Text von Neu Valamo übereinstimmt.« 2 Wie der orthodox/römisch-katholische Dialog konzentrierte sich auch derjenige zwischen Orthodoxie und Anglikanismus primär auf Fragen der Ekklesiologie. Die »Dublin-Erklärung« von 1984 (A-O/4) beginnt mit Ausführungen zum Mysterium der Kirche, die bemerkenswerte Thesen zu Wesen und Attributen der Kirche, zum kirchlichen Amt und seinen Rangfolgen sowie zur Frage von Zeugnis, Evangelisierung und Diakonie enthalten. Besondere Erwähnung verdienen die Erörterungen zu Communio und Interkommunion. Der Dialog umfasste aber neben ekklesiologischen Fragen auch solche der Trinitätslehre oder des Verhältnisses von Hl. Schrift und kirchlicher Tradition. – Fragen von Schrift und Tradition behandelt im Verein mit Ekklesiologieproblemen auch der orthodox-lutherische Dialog, namentlich in dem Dokument von Kreta 1987 (L-O/2), aber bereits ebenso in demjenigen von Allentown/PA 1985 über die göttliche Offenbarung (L-O/1). »Kanon und Inspiration der Hl. Schrift« ist Gegenstand des Textes von Bad Segeberg 1989 (L-O/3). Ferner wurde von den orthodoxen Konzilen sowie über die Autorität der Kirche und in der Kirche gehandelt, wie das einschlägige Papier von Sandbjerg 1993 belegt (L-O/ 4). In ihm und in Dokumenten von Limassol 1995, Sigtuna 1998 und Damaskus 2000 (L-O/5 ff), welche im Kontext der Soteriologie u. a. das Thema der Rechtfertigung erörtern, werden des weiteren Beziehungen zum altkirchlichen Dogma und zum Mysterium der Trinität und Inkarnation hergestellt, die im orthodox-reformierten Dialog besonders ausführlich und eindringlich expliziert wurden. Ihm soll daher im Folgenden besondere Aufmerksamkeit zugewendet werden.

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1.1. Eucharistische Communio-Ekklesiologie Obwohl die orthodoxe und die römisch-katholische Kirche sehr viele ekklesiologische Berührungspunkte haben, gibt es doch auch Differenzen und Streitigkeiten zu registrieren, die das dogmatische Kirchenverständnis betreffen und nicht lediglich durch kirchenpolitische Konstellationen oder außertheologische Faktoren bestimmt sind. Grundlegend für den bilateralen Dialog zwischen beiden Kirchen sind die Grundsätze einer sog. eucharistischen Communio-Ekklesiologie. Im eucharistischen Gottesdienst der versammelten Gemeinde vergewissert sich die Kirche ihres Grundes in dem in Jesus Christus offenbaren dreieinigen Gott und realisiert so ihr Wesen, um ein Zeichen des kommenden Reiches Gottes für Menschheit und Welt zu sein. Ist sonach jede Eucharistiegemeinschaft Kirche im vollen und eigentlichen Sinne des Begriffs, so weiß sie sich zugleich ihrem Wesen nach mit der Universalkirche unveräußerlich verbunden. Die Ortsgemeinde ist ganz Kirche, aber nicht die ganze Kirche. Denn Kirche ist keine auf die Grenzen der einzelnen Kongregation beschränkte Größe, sondern eine Gemeinschaft von Gemeinschaften: ecclesia est communio ecclesiarum. Dieser lateinische Grundsatz wird auch unter den griechischen Überlieferungsbedingungen der Ostkirche vorbehaltlos anerkannt, deren traditionelles Koinonia-Verständnis er reflektiert. Die Reformationskirchen stehen dazu nicht im Widerspruch, sie haben im Gegenteil auf ihre Weise das altkirchliche Verständnis der Kirche als koinonia erneuert. Wenn im VII. Artikel der Confessio Augustana, der Magna Carta reformatorischer Ekklesiologie, gesagt wird, die Kirche sei congregatio sanctorum, dann ist das gemäß der dem Apostolicum eingefügten Wendung »communio sanctorum« und nicht im Sinne eines falsch verstandenen Kongregationalismus zu deuten, der die Einzelgemeinde von der Gesamtkirche isoliert. Dass die Einzelgemeinde in einem universalkirchlichen Zusammenhang steht, der zu ihrer Bestimmung gehört und mit allen räumlichen Grenzen auch alle Schranken der Zeit transzendiert, wird reformatorischerseits ausdrücklich gelehrt. Fraglich ist unter den Bedingungen reformatorischer Ekklesiologie lediglich die Identifikation der Lokalgemeinde mit dem Diözesanverband.3 Läge es im Sinne einer eucharistischen Communio-Ekklesiologie nicht näher, den Begriff der Lokalkirche direkt mit der realiter um Wort und Sakrament versammelten Gottesdienstgemeinde zu verbinden?

3 Unter Lokalkirche wird im orthodox/römisch-katholischen Dialog nicht primär die gottesdienstliche Eucharistiegemeinde verstanden, sondern die um den Bischof versammelte kirchliche Gemeinschaft (vgl. etwa O-RK I/6,11).

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1.2. Ortskirche, Universalkirche und episkopales Amt Die terminologische Verwendung des Begriffs der Ortskirche, wie er in orthodoxer und römisch-katholischer Tradition die Regel ist, ist wesentlich durch die ekklesiologische Bedeutung bedingt, die in beiden Traditionen mit dem Episkopenamt verbunden ist, welche im Unterschied zu dem presbyteralen Amt der Leitung der Gottesdienstgemeinde als die Vollgestalt des ordinationsgebundenen Amtes zu gelten hat. Der Bischof ist kraft des Amtscharismas, das er aus der Nachfolge im Dienst der Apostel bezieht, der authentische Zeuge der apostolischen Tradition, ohne dessen Einheitsdienst die Identität und Kontinuität der christlichen Wahrheit nicht zu gewährleisten ist. So besagt es sowohl die orthodoxe als auch die römisch-katholische Lehre. Vorausgesetzt ist dabei, dass der Begriff des Apostels mit demjenigen der Zwölf synonym zu verwenden ist, was lukanischem Sprachgebrauch, aber keineswegs dem Sprachgebrauch der gesamten neutestamentlichen Tradition entspricht. Vorausgesetzt ist ferner eine spezifische Ausdifferenzierung kirchlicher Ämter und insbesondere die klare Unterscheidung von Presbyterat und Episkopat, wie sie für die Frühzeit des Christentums noch nicht in Anschlag gebracht werden kann. Als eine von weiteren Voraussetzungen hat die Annahme zu gelten, dass Bischöfe nach Maßgabe des Begriffs, der ihr Amt bestimmt, durch eine ununterbrochene Kette von Handauflegungen mit den »Zwölf Aposteln« verbunden sind, deren Autorität sie repräsentieren.4 All 4 Platz und Rolle des geweihten Dienstamtes, das »in der Kirche den Dienst Christi selbst gegenwärtig setzt« (O-RK I/9,2), ohne ihn zu ersetzen (vgl. O-RK I/9,5), werden im orthodoxen/ römisch-katholischen Dialog mehr oder minder problemlos von den zwölf Aposteln her begriffen. Der Dienst der Zwölf ist gemäß ihrer Funktion als geschichtlicher Ursprungszeugen der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zwar »einzigartig und unersetzbar« (O-RK I/9,20); aber die Apostel »bleiben zugleich die Fundamente der Kirche in ihrer Fortdauer durch die Jahrhunderte, so dass die Sendung, die sie vom Herrn empfangen haben, immer sichtbar und wirksam bleibt, und zwar in der Erwartung der Wiederkehr des Herrn« (O-RK I/9,21; zur eschatologischen Perspektive vgl. schon O-RK I/9,14). Als Nachfolger der Apostel im eigentlichen Sinne gelten die Bischöfe. Die Bischofsweihe vermittelt entsprechend die Fülle des Priestertums. »Im Vorsitz der eucharistischen Versammlung findet die Rolle des Bischofs ihre Vollendung; die Priester bilden das Kollegium, das ihn bei dieser Weihung umgibt. Sie üben die Verantwortlichkeiten aus, die der Bischof ihnen anvertraut, indem sie die Sakramente feiern, das Wort Gottes lehren und die Gemeinde in tiefer und ungebrochener Gemeinschaft mit ihm leiten. Der Diakon ist dem Dienst des Bischofs und des Priesters zugeordnet und dient als Bindeglied zwischen ihnen und der Versammlung der Gläubigen. – Der Priester, der vom Bischof geweiht und von ihm abhängig ist, wird zur Erfüllung bestimmter Aufgaben gesendet; er wird vor allem seiner Pfarrgemeinde gesandt, um deren Hirt zu sein: Er steht der Eucharistie vor, welche auf dem (vom Bischof konsekrierten) Altar gefeiert wird, er ist Verwalter der Sakramente für die Gemeinde; er verkündet das Evangelium und hält Unterricht, er hat die Aufgabe, die Charismen des Volkes (laos) Gottes in Einheit zu wahren; er erscheint als der ordentliche Leiter der örtlichen Eucharistiegemeinde; die ganze Diözese ist dann eine Gemeinschaft von Eucharistiegemeinden. – Der Diakonat wird zum Dienst des Bischofs und des Priesters in der Liturgie, der Evangelisation und der Diakonie der Caritas ausgeübt.« (O-RK I/9, 41 – 43) Hinzugefügt sei, dass die Ordination von

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diese Prämissen sind historisch in hohem Maße problemhaltig. Man wird aber davon auszugehen haben, dass der Sinn des Gedankens einer successio apostolica und anderer Vorstellungen, die sich mit dem Bischofsamt und seiner Herkunft verbinden, weniger in einer historischen These als in einem mit historischen Bezügen versehenen dogmatischen Theorem bestehen, dessen Pointe darin liegt, die Amtsperson des Bischofs, der den Vorsitz der Frauen dezidiert abgewiesen wird: »unsere Kirchen bleiben der geschichtlichen und theologischen Überlieferung treu, indem sie nur Männer zum Priesteramt ordinieren.« (O-RK I/9,32) – O-RK I/6,10 erklärt den Bischof »in seiner Kirche zum Garanten der Apostolizität«. Als apostolischer Diener der Einheit ist er als geweihte Amtsperson gleichsam Wirkzeichen der Einheit, freilich nicht getrennt, sondern in Verbindung mit seiner Gemeinde. (Vgl. etwa O-RK I/7,36: »So hat die Einheit des Glaubens im Inneren einer Ortskirche und zwischen den Ortskirchen als Garanten und Richter den Bischof, der in Gemeinschaft mit seinem Volk Zeuge der Überlieferung ist. Sie ist von der Einheit des sakramentalen Lebens unabtrennbar. Die Gemeinschaft im Glauben und die Gemeinschaft in den Sakramenten sind nicht zwei unterschiedliche Wirklichkeiten. Sie sind zwei Seiten einer einzigen Wirklichkeit, die der Heilige Geist bei den Gläubigen voranbringt, wachsen lässt und beschützt.«) Zum Verhältnis von Episkopat und Presbyterat vgl. etwa folgende Formulierung: »Eine der wesentlichen Aufgaben der Priester ist es, die Gemeinden mit der Eucharistiefeier des Bischofs zu verbinden und sie mit dem apostolischen Glauben zu ernähren, für den der Bischof Zeuge und Bürge ist.« (O-RK I/6,10) – Die Ausführungen zur Apostolischen Sukzession bekräftigen, was zum Bischofsamt in seinem Verhältnis zum Apostolat der Zwölf gesagt wurde. Der Zusammenhang von Bischofsamt und Gemeinde wird erneut hervorgehoben, ohne präzise bestimmt zu werden. Nur sehr kurz wird abschließend das Problem der Gemeinschaft der Bischöfe und ihre strukturelle Gestaltung sowie das Primatsthema angesprochen. Dieses wurde nach kirchenpolitisch und insbesondere durch das Uniatismusproblem bedingten Verzögerungen Gegenstand des sog. Ravenna-Dokuments von 2007, das als Ergebnis des Dokuments von Valamo 1988 festhält: »Durch das Studium des Weihesakraments innerhalb der sakramentalen Struktur der Kirche wies die Kommission klar die Rolle der apostolischen Sukzession als Garant der Koinonia der ganzen Kirche und ihrer Kontinuität mit den Aposteln zu jeder Zeit und an jedem Ort auf.« (Art. 2) Deutlicher noch als im Valamodokument wird im Dokument von Ravenna die in der göttlichen Stiftung ihres Amtes begründete Autorität der Bischöfe hervorgehoben; um den entscheidenden, mit evangelischer Amtslehre gewiss inkompatiblen Satz hervorzuheben: »Christus, der seine Autorität von Gott dem Vater erhalten hat, teilte sie nach seiner Auferstehung durch den Heiligen Geist den Aposteln mit (vgl. Joh 20,22). Durch die Apostel wurde sie den Bischöfen, ihren Nachfolgern, übermittelt und durch sie (sic! G.W.) der gesamten (sic! G.W.) Kirche.« (Art. 12) Betont hervorgehoben wird des weiteren zurecht, dass die bischöfliche Autorität nicht privater Natur, ohne physischen und moralischen Zwang auszuüben und von derjenigen der Führer von Nationen und der Großen der Welt radikal verschieden sei. – Unbeschadet, dass jeder Bischof an sich selbst als Apostelnachfolger zu gelten hat, wird die Gemeinschaft der Bischöfe als unveräußerlich zum episkopalen Amt gehörig hervorgehoben. Aktualisiert werden episkopale Autorität und Konziliarität in dreifacher Hinsicht, nämlich bezüglich der lokalen (Ortskirchen), der regionalen (communio unter mehreren Ortskirchen) und der universalen Ebene. In letzterer Hinsicht wird u. a. von den Ökumenischen Konzilen und von der Stellung des Bischofs von Rom gehandelt, ohne zu einem abschließenden Urteil zu gelangen. Art. 45 gibt die entscheidenden Fragen vor, die künftige Dialoge zu behandeln haben: »Was ist die besondere Funktion des Bischofs des ›ersten Sitzes‹ in einer Ekklesiologie der koinonia und im Hinblick darauf, was wir über Konziliarität und Autorität in diesem Text gesagt haben? Wie sollte die Lehre des ersten und des zweiten Vatikanischen Konzils über den universalen Primat verstanden und gelebt werden angesichts der kirchlichen Praxis des ersten Jahrtausends?«

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Orthodoxie im Gespräch

eucharistischen Feier einnimmt, auch wenn er von seinen Presbytern vertreten wird, zu einem wirksamen Zeichen kirchlicher Einheit zu erklären. Während im ökumenischen Diskurs üblicherweise nur von einer spezifischen Weise der Einheitsgewährleistung die Rede ist, wird im orthodox/römisch-katholischen Dialog ausdrücklich von einer bischöflichen Garantie von Apostolizität und kirchlicher Einheit gesprochen. Man wird freilich reformatorischerseits anzuerkennen haben, dass diese Rede nicht vom Gesamtkontext isoliert werden darf, in dem sie auftritt. Der Bischof ist, was er ist, innerhalb und nicht außerhalb seiner Gemeinde. Er ist, wo er seiner Gemeinde gegenübersteht, in allem der Autorität Jesu Christi und der in ihm offenbaren göttlichen Trinität unterstellt. Zugleich ist er in seinem Dienst, sowenig sich dieser einer wie auch immer gearteten Delegation durch die Gemeinde oder durch andere Amtsträger verdankt, in die weltumspannende und zugleich die Zeiten übergreifende Gemeinschaft der Bischöfe eingebunden. Die bischöfliche Autorität ist also keineswegs absolut, sondern durch vielfältige Bezüge kommunialer und inhaltlicher Art relativiert. Dennoch soll das Bischofsamt als authentische und autoritative Gewähr, ja als Garantie kirchlicher Einheit gelten. Es bedürfte einer eigenen Untersuchung, das zugleich konstruktive und kritische Verhältnis reformatorischer Ekklesiologie zur orthodoxen und römisch-katholischen Lehre vom Bischofsamt zu analysieren. Dazu wäre zu klären, wie die Reformationskirchen das Verhältnis von Priestertum aller getauften Gläubigen und ordinationsgebundenem Amt sowie die Gliederungsformen dieses Amtes bestimmen. Erst dann könnte mit Aussicht auf Verständigungserfolg über das Theorem der apostolischen Amtsnachfolge und die Beziehung zwischen einer episkopalen und einer möglichen presbyteralen Form der successio apostolica nachgedacht werden. Des weiteren müsste der Problemhorizont bedacht werden, der den Hintergrund der Ämterthematik bildet und von dem sich diese nicht ablösen lässt. Genannt sei als Beispiel nur der Themenkreis von Schrift und Tradition.

1.3. Die Stellung des Bischofs von Rom Orthodoxe und römisch-katholische Ekklesiologie konvergieren weithin im Bezug auf die lehrautoritative und zentrale kirchenleitende Stellung, die sie dem Bischofsamt und der Gemeinschaft der Bischöfe zuerkennen. Auch stimmen sie grundsätzlich in der Auffassung überein, dass das bischöfliche Amt primär nicht auf rechtlicher Basis fundiert und in jurisdiktioneller Weise wahrzunehmen sei, wenngleich sich in dieser Hinsicht bereits tendenzielle Divergenzen zu erkennen geben. Manifest werden sie spätestens dort, wo es um die Position des Bischofs von Rom in der Gemeinschaft der Bischöfe geht. Denn gerade jenes bischöfliche Amt, das nach römisch-katholischer Doktrin als oberste Instanz der Gewähr bzw. Garantie kirchlicher Einheit fungieren

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Das Mysterium der Kirche

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soll, bietet nach orthodoxer Lehre einen wesentlichen Stein ekklesiologischen Anstoßes sowie eine Ursache und einen dauerhaften Grund bestehender Kirchenspaltung.5 Seit dem ersten Jahrhundert der Kirchengeschichte haben sich im Verein mit dem Institut des sog. monarchischen Episkopats Unterscheidungen von Mutterkirchen und Tochterkirchen, Metropolien und Provinzdiözesen etc. herausgebildet, mit der sich kirchliche Rangordnungen verbinden konnten, ohne dass deshalb die geistliche Parität der Bischöfe prinzipiell in Abrede gestellt worden wäre. In konziliaren Kanones hat dieser Sachverhalt kirchenrechtlichen Ausdruck gefunden. Zu nennen sind vor allem die Kanones 6 und 7 von Nizäa I (325), Kanon 3 von Konstantinopel I (381), Kanon 28 von Chalkedon (451) sowie die Kanones 3, 4 und 5 von Sardica 443 und der 1. Kanon des Hagia-Sophia-Konzils (879/80). »Selbst wenn diese Kanones nicht immer im Osten und Westen im gleichen Sinn ausgelegt wurden, gehören sie doch«, wie in O-RK I/9, 52 gesagt wird, »zum Erbgut der Kirche. Sie haben den Bischöfen, die bestimmte Metropolitansitze oder größere Kirchen innehatten, in der Organisation des synodalen Lebens der Kirche einen bevorzugten Platz eingeräumt. So hat sich die Pentarchie gebildet: Rom, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem, auch wenn im Laufe der Geschichte außerhalb der Pentarchie andere Erzbischöfe, Metropoliten, Primate und Patriarchen aufgetreten sind.« Dabei soll nach Maßgabe des 34. der sog. Apostelkanones gelten, dass »der erste der Bischöfe nur in Übereinstimmung mit den übrigen Bischöfen«, die Gemeinschaft der Bischöfe hinwiederum »nicht ohne die Zustimmung des ersten Bischofs« (O-RK I/9, 53) entscheidet. Was damit präzise gesagt ist, wird zwischen orthodoxer und römisch-katholischer Kirche in Bezug auf den Primat des Bischofs von Rom kontrovers diskutiert.

1.4. Das Uniatismusproblem Ist mit der Primatsfrage, die seit dem I. und II. Vatikanischen Konzil besonders virulent wurde, eines der zentralen, wenn nicht das zentrale dogmatische Kontroversthema im bilateralen Dialog von Orthodoxie und römischem Katholizismus benannt, so hat in praktischer Hinsicht, die mit Theoriefragen nicht nur äußerlich verbunden ist, der sog. Uniatismus erhebliche Probleme bereitet und Anlass zu heftigen Streitigkeiten gegeben. Durch die Umbrüche 5 Zu Primat und Konziliarität vgl. besonders das sog. Ravennapapier der Internationalen gemischten Kommission für den Dialog zwischen der Römisch-katholischen und der Orthodoxen Kirche über »Kirchliche und kanonische Konsequenzen der sakramentalen Natur der Kirche: kirchliche Communio, Konziliarität und Autorität«. Es gilt der Grundsatz: »Primat und Konziliarität sind wechselseitig voneinander abhängig. Deshalb muss der Primat auf den verschiedenen Ebenen des Lebens der Kirche, lokal, regional und universal, immer im Kontext der Konziliarität betrachtet werden und dementsprechend die Konziliarität im Kontext des Primats.« (Abs. 43)

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Orthodoxie im Gespräch

in Osteuropa vor zwei Jahrzehnten haben sich die bestehenden Probleme dramatisch zugespitzt und zu einer Reihe von Streiteskalationen geführt. In Anbetracht der zum Teil sehr aufgeheizten Stimmung kann man nicht nachdrücklich genug die gemeinsame Dankbarkeit hervorheben, die Orthodoxe und Katholiken für die Rückkehr weiter Gebiete zur Religionsfreiheit Gott gegenüber empfinden (vgl. O-RK I/10,4). Orthodoxie und römischer Katholizismus anerkennen und begrüßen wie der Protestantismus aus eigener Überzeugung heraus die Prinzipien der Religions- und Gewissensfreiheit sowie der Nichtidentifikation von Staat und Kirche. Sie lehnen es dezidiert ab, geistliche Anliegen mit Mitteln des Zwangs oder gar der Gewalt zur Durchsetzung zu bringen (vgl. O-RK I/10, 7a). Unter dieser Generalprämisse sind die Ausführungen über den Uniatismus zu würdigen (vgl. O-RK I/11), die dem Grundsatz folgen, dass dieser als Weg zur Einheit überholt sei und im Widerspruch zur gemeinsamen Tradition der Kirchen stehe (vgl. O-RK I/10,6b).6 Die Kirche in ihrem Wesen und ihren Eigenschaften ist zentrales Thema bilateraler Ökumenedialoge der Orthodoxie. Doch wäre das Mysterium der Kirche nicht, was es ist, ohne das Geheimnis des offenbaren dreieinigen Gottes, in dem es gründet. Die Offenbarung des trinitarischen Geheimnisses Gottes des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes, welche in der Einheit des 6 Das schwerwiegendste Problem im Dialog zwischen der Orthodoxen und der Römisch-katholischen Kirche stellt, wie erwähnt, nach wie vor der sog. Uniatismus dar, über dessen Bewertung man trotz der gemeinsamen Ablehnung von Prosyletismus keineswegs einig ist. Dies belegen u. a. die unterschiedlichen Reaktionen auf den Text von Balamand/Libanon 1993. Orthodoxerseits wird die Existenz der östlichen katholischen Kirchen in der Regel als eine ekklesiologische »Fehlbildung« eingeschätzt. Diese Beurteilung hängt aufs engste mit dem orthodoxen Prinzip des sog. Kanonischen Territoriums zusammen. Allerdings hat dieses Prinzip auch innerhalb der Orthodoxie zu Konflikten geführt, wie etwa die Auseinandersetzungen um eine »Orthodoxe Kirche in Amerika« und die Tatsache zeigen, dass in vielen Regionen der Welt orthodoxe Paralleljurisdiktionen bestehen. Sein Verhältnis zu den Prinzipien der Religions- und Gewissensfreiheit sowie der Nichtidentifikation von Staat und Kirche wäre einer eigenen Diskussion wert, die ekklesiologische, kirchenrechtliche und staatskirchenrechtliche Aspekte zu berücksichtigen hätte. Dass in diesen und verwandten Problemzusammenhängen binnenorthodox noch einige Unklarheiten bestehen, zeigt das Schicksal der mehrfach erwähnten Erklärung von Balamand. Das Dokument umfasst zwei Teile: 1. Ekklesiologische Grundsätze; 2. Regeln für die Praxis. Ekklesiologische Grundlage des Verständigungsversuchs ist die wechselseitige Anerkennung als Schwesterkirche (O-RK I/11,14)) sowie die beidseitige Anerkennung der Grundsätze der Religions- und Gewissensfreiheit (O-RK I/11,15). Was die Existenz katholischer Ostkirchen nach jeweiligem ekklesiologischen Selbstverständnis für den römischen Katholizismus einerseits und für die Orthodoxie andererseits bedeutet, ist in den Artikeln 16 f angedeutet. Daraus ergeben sich die Artikel 19 – 34 explizierten Praxisregeln. Jeder Prosyletismus und jeder Expansionswille der Katholiken zum Schaden der Orthodoxen wird für die Zukunft ausgeschlossen, ohne dass das Recht und die Pflicht der Römisch-Katholischen Kirche in Abrede gestellt wird, in angemessener Weise für die ihr verbundenen katholischen Ostkirchen Sorge zu tragen (vgl. dazu auch die Gemeinsame Erklärung von Papst Johannes Paul II. und dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. vom 29. Juni 1995). In Reaktion auf den kirchenpolitischen Kurs der römischen Kurie in der Uniertenfrage distanzierte man sich orthodoxerseits im Jahr 2000 vom Text von Balamand, dessen binnenorthodoxe Rezeptionsfähigkeit schon vorher in Frage stand.

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Das Mysterium der Trinität

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göttlichen Wesens Schöpfung, Versöhnung und Vollendung wirken, wird, wie häufig gesagt wird, »in der Kirche und durch die Kirche als Christi Leib verwirklicht« (L-O/1,4). Diese Verwirklichung ist ein Werk des Geistes, den der Vater durch den inkarnierten Sohn auf sein Volk ausgießt, um die Offenbarung zum Abschluss zu führen und zu vollenden. Auch von einer kirchlichen Fortsetzung des göttlichen Heilswerkes für die Menschen kann in diesem Sinne die Rede sein. Ist die Kirche ihrer Bestimmung nach auf das eschatologische Gottesreich ausgerichtet, dessen Kommen sie unter den Völkern wirksam bezeichnet, so realisiert sich ihr aktuelles Wesen in der Gemeinschaft mit Jesus Christus und dem in ihm offenbaren dreieinigen Gott. Vor allem in der Feier des eucharistischen Gottesdienstes wird dies manifest. Im Sakrament des Hl. Mahles, das ohne das Wort der Verkündigung nicht stiftungsgemäß gefeiert werden kann, bringt die Kirche zum Ausdruck, worin sie gründet.7 Ihr Mysterium ist selbst sakramentaler Natur, sofern es im Geheimnis des dreieinigen Gottes und im Ursakrament der Inkarnation begründet ist. Das trinitarisch-christologische Dogma der Alten Kirche hat sonach als die Basis jeder Ekklesiologie zu gelten, die rechtens mit dem Anspruch auf Orthodoxie versehen werden kann.

2. Das Mysterium der Trinität Die sieben ökumenischen Konzile der Alten Kirche8, zu denen Bischöfe aus allen Teilen des Imperium Romanum versammelt waren, repräsentieren nach dem Verständnis der orthodoxen Kirchen in ihren Lehrentscheidungen, den sog. Horoi, die Summe der biblischen Wahrheit und den Inbegriff kirchlicher Tradition; auf ihre Weise partizipieren auch die Kanones, die verschiedene 7 Zu verbleibenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Orthodoxie und römischem Katholizismus bezüglich der Taufe sowie des Verhältnisses der Initiationssakramente zueinander vgl. ORK I/7, 50. Der von reformatorischer Seite gegebene Diskussionsbedarf in Bezug auf das Verhältnis, in dem das Mysterium der Kirche und die Einzelsakramente stehen, dürfte durch folgende Formulierungen noch nicht gedeckt sein: »Die Kirche als der Leib Christi ist das mysterion par excellence, in dem die verschiedenen mysteria/Sakramente ihren Ort und ihre Existenz finden und durch den die Glaubenden teilhaben an den Früchten des ganzen Erlösungswerks Christi.« (L-O/7,2) Nach L-O/7,8 konvergieren Lutheraner und Orthodoxe »in ihrer Lehre über die Kirche als Leib Christi, d. h. als göttliche und menschliche Wirklichkeit« (L-O/7,8). Auch diese Formulierung ist präzisierungsbedürftig. 8 Nach Art. 39 des sog. Ravennapapiers der Internationalen gemischten Kommission für den Dialog zwischen der Römisch-Katholischen und der Orthodoxen Kirche machte der Bruch zwischen Ost und West »das Abhalten von Ökumenischen Konzilen im strengen Sinn des Wortes unmöglich«. Ob diese Feststellung tatsächlich dem Selbstverständnis der beteiligten Kirchen entspricht, bedürfte einer eingehenden Prüfung, welche u. a. die Anmerkung zu berücksichtigen hätte, mit welcher der Ravennatext versehen ist. Sie besagt tendenziell, dass die am Dialog beteiligten Kirchen ihr ekklesiologisches Selbstverständnis auch gesprächsweise nicht zur Disposition zu stellen gewillt sind.

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Orthodoxie im Gespräch

Aspekte des kirchlichen Lebens regeln, an der Autorität der Horoi, wenngleich nicht alle in gleichem Maße. In den sieben ökumenischen Konzilen hat die Kirche nach orthodoxem Urteil die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht, definitiv bezeugt und sich in einer Weise formiert, die für alle Zeiten verbindlich ist. Näherhin handelt es sich um folgende Konzile: Nikaia (325), Konstantinopel (381), Ephesos (431), Chalcedon (451), Konstantinopel II (553), Konstantinopel III (680/81), Nikaia II (787). Bestrebungen, eine hierarchische Rangordnung oder Abstufung der Geltung mit der Reihe der altkirchlichen Konzile zu verbinden, steht die Orthodoxie ablehnend gegenüber, weil eine solche Tendenz ihrer Auffassung nach »der Einheit des Glaubens als einem Ganzen widerspricht« (A-O/4, 105) Die Ablehnung einer Rangfolge unter den sieben ökumenischen Konzilen in den Orthodoxen Kirchen schließt indes die Möglichkeit nicht aus, den vier ersten grundlegende Bedeutung zuzuerkennen. Unter dieser Voraussetzung enthält folgende lutherisch-orthodoxe Übereinkunft ihr besonderes Gewicht: »Orthodoxe und Lutheraner sind sich einig in der Lehre von Gott, der Heiligen Dreieinigkeit, wie sie auf den ökumenischen Konzilen von Nikaia und Konstantinopel formuliert wurde, und in der Lehre von der Person Christi, wie sie von den vier ersten ökumenischen Konzilen formuliert wurde.« (L-O/5,5a) 2.1. Das offenbare Geheimnis des dreieinigen Gottes Das trinitarische Dogma der Alten Kirche, wie es im nizänokonstantinopolitanischen Symbol definiert wurde, lehrt ein Wesen der Gottheit und drei göttliche Hypostasen bzw. Personen. Trotz untersagter Trennung von Wesen und Hypostasen Gottes haben sich mit ihrer Unterscheidung nicht selten systematische Aufteilungen von erheblicher Tragweite verbunden. So wurde die Lehre von Gott häufig in eine allgemeine und eine spezielle zergliedert: erstere handelte von Dasein, Wesen und Eigenschaften Gottes, letztere von der besonderen Weise, in welcher das göttliche Wesen in drei Hypostasen subsistiert. Die allgemeine Gotteslehre betrachtete Gott absolut und ohne Berücksichtigung der göttlichen Personen, die spezielle Gotteslehre im Hinblick auf die trinitarischen Hypostasen in ihrer jeweiligen Singularität. Unter dem einen Aspekt wurde in der Regel die wesentliche Einheit, unter dem anderen die hypostatische Differenz erörtert. Mit der methodischen Aufteilung assoziierten sich vielfach Erwägungen zur Frage der Gotteserkenntnis. Zwar würden Dasein und namentlich das eine Wesen Gottes samt seinen Attributen erst durch Offenbarung vollkommen gewiss, doch seien sie auf die eine oder andere Weise bereits im natürlichen Bewusstsein des Menschen vernunftgemäß mitgesetzt; die göttliche Trinität hingegen könne allein offenbarungstheologisch erkannt und zur Einsicht gebracht werden. Statt auf Sinn und Problematik der skizzierten theologischen Gliederung

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Das Mysterium der Trinität

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näher einzugehen, sei eingangs lediglich benannt, was im orthodoxen Kontext als Grundsatz ökumenischer Verständigungen zur Trinitätslehre gelten darf. Einheit Gottes und göttliche Trinität sind auf differenzierte Weise identisch zu denken. Die Wendungen »Dreiheit in der Einheit und Einheit in der Dreiheit« (R-O/2, 12) stehen in einem Korrespondenzverhältnis der Simultaneität und der Parität. Es gibt in Gott nur eine Dreiheit in der Einheit und eine Einheit in der Dreiheit. Anderes zu sagen, wäre theologisch abstrakt und abwegig. Der Zugang zur trinitarischen Gotteslehre, wie sie für das Christentum kennzeichnend ist, führt sonach »weder von den drei Personen zu dem einen Wesen Gottes noch von dem einen Wesen Gottes zu den drei Personen« (R-O/3, 7), da Trinität und Einheit Gottes gleichermaßen in Geltung stehen. Damit sind zugleich, wie es heißt, »falsche polarisierte Ansichten der Lehre von der Heiligen Trinität« zurechtgewiesen, »nach denen die lateinische Theologie sich von der Einheit Gottes auf die drei Personen von Vater, Sohn und Heiligem Geist zubewegt, während die griechische Theologie von den drei Personen von Vater, Sohn und Heiligem Geist auf die Einheit Gottes zugeht« (ebd.).

2.2. Zum doxologischen Charakter des altkirchlichen Dogmas Nach Maßgabe des Grundsatzes »Trinität in Einheit und Einheit in Trinität« (ebd.) sind die Begrifflichkeiten von Hypostase, Wesen oder Natur einer Bestimmung zuzuführen, die ihrer theologischen Funktion gemäß ist. Sie sind nicht von vorgefassten philosophischen Meinungen her, sondern konsequent aus der Selbstoffenbarung Gottes heraus zu denken, der sich als Vater, Sohn und Heiliger Geist in seiner Einheit erschließt. Von Gott wissen wir nur durch Gott und in der Gewissheit des Glaubens, »dass wir durch Christus und in dem einen Geist Zugang zum Vater haben« (R-O/3, 1). Von daher, so die heuristische Grundannahme, öffnet sich ein Weg »zu einer ökumenischen Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Traditionen in Ost und West« (ebd.). In seiner Selbstoffenbarung, wie sie im Gottmenschen Jesus Christus vollendete Gestalt angenommen hat, ist der eine Gott als Vater, Sohn und Hl. Geist auf unbegreifliche Weise manifest.9 Der Vater gibt sich durch den Sohn im Geist in jener Unbegreiflichkeit seines Wesens zu erkennen, welche die aus dem Zeugnis der Schrift hervorgegangene Lehre über die göttliche Dreiheit in der Einheit und der Einheit in der Dreiheit auf den Begriff zu bringen sucht. 9 »Die Offenbarung Gottes, auch in der Heiligen Schrift, geht über jeden verbalen Ausdruck hinaus. Sie bleibt allen Geschöpfen verborgen, besonders dem sündigen Menschen … Der wahre Sinn der Schrift kann nur durch den Heiligen Geist offenbart werden, in der lebendigen Erfahrung des Heils, wie dies durch das christliche Leben in der Kirche zur Erfüllung kommt. Diese katholische Heilserfahrung in der Kirche ist zugleich der einzige authentische Ausdruck für das wahre Verständnis des Wortes Gottes.« (L-O/2,7. L-O/2,10 ff finden sich Ausführungen zur kriteriologischen Funktion der Hl. Schrift.)

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Gott ist als Geheimnis offenbar. Die Offenbarung Gottes hebt sein Mysterium nicht etwa auf, sondern erschließt es als solches. Dem hat die Trinitätslehre zu entsprechen. Weder darf sie das offenbare Geheimnis Gottes durch spekulative Deduktionen oder durch welche Begriffsanstrengungen auch immer rational auflösen, noch sich selbst zum Glaubensgegenstand erklären. Die Trinitätslehre ist die auf ihren Grund ausgerichtete Reflexionsgestalt des Glaubens, nicht der Glaubensgrund selbst, der gerade in seiner Offenbarung für den trinitarischen Glauben unergründliches Geheimnis ist und bleibt. Als primärer Ort der Trinitätstheologie kommen entsprechend Liturgie und Doxologie in Betracht. Allgemeiner gesagt: »Dogmen sind keine abstrakten Vorstellungen, die in und für sich allein bestehen, sondern offenbarte und heilbringende Wahrheiten und Wirklichkeiten, die die Menschheit mit Gott in Gemeinschaft (communio) bringen soll(en).« (A-O/4,53) Das religiöse Verhältnis, dessen wesentlicher Sitz im Leben der Gottesdienst der Kirche ist, lässt sich nicht durch theoretische und praktische Vernunft substituieren. Dogmen sind daher nicht vom Frömmigkeitsleben abgehobene Lehrsätze, sondern doktrineller Ausdruck gläubiger Gottesverehrung und gemeinschaftlichen Bekenntnisses des Glaubens. Die Kirchenväter sind für die Richtigkeit dieser Feststellung beispielgebend. Sie benützen geläufige Begrifflichkeiten der Zeit und geben ihnen eine der Offenbarung und dem Offenbarungsglauben gemäße Bedeutung, damit sie über sich hinaus auf den unbegreiflichen Grund alles Begreifens verweisen. Was für philosophische zutrifft, gilt entsprechend auch für theologische Termini: »Die Wirklichkeit des Glaubens an die Trinität ist wichtiger als die spezifische theologische Terminologie.« (R-O/2, 21) Entsprechendes gilt für das Geheimnis der Inkarnation. Es dient der Unterstreichung des doxologischen Charakters des altkirchlichen Dogmas und jeder Theologie in seiner Nachfolge, wenn Orthodoxe und Lutheraner in bemerkenswerter Eintracht gemeinsam erklären, »dass es keine Ähnlichkeit oder Analogie im Sein (analogia entis) zwischen Gott und Schöpfung gibt, obgleich das Geschaffene von Gott abhängt. Deshalb schrieb der hl. Gregor der Theologe: ›Es ist unmöglich, Gott auszudrücken, und noch unmöglicher, ihn zu begreifen‹ (Oratio Theologica 2,4; PG 36,29).« (L-O/ 3,14)10 10 Die Erklärung fährt fort: »Diejenigen, die Gottes Herrlichkeit erfahren haben, die in sich selbst weder in Worten ausgedrückt noch in Gedanken begriffen werden kann, sind doch inspiriert, Ausdrücke und Gedanken der allgemeinen Sprache zu verwenden, um andere zu der gleichen Erfahrung zu leiten.« (L-O/3,15) Vgl. ferner A-O/4,36: »Die trinitarische Lehre setzt eine Teilhabe an der Gnade der Heiligen Dreieinigkeit voraus. Die Lehre ›ein Gott in drei Personen …‹ ist keine abstrakte philosophische Formel. Sie hat ihren Ursprung in der persönlichen und gemeinschaftlichen Erfahrung der Gnade des dreieinigen Gottes, die uns durch Jesus Christus vermittelt worden ist und es immer noch wird. Dabei ist diese Erfahrung nicht nur als eine rein subjektive zu verstehen. Sie wurzelt in der historischen Tatsache der Inkarnation und der Selbstoffenbarung Gottes in Christus. Die Lehre ist ein Versuch, diese Offenbarung derart

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2.3. Die Monarchie Gottes und die drei göttlichen Personen Vater, Sohn und Hl. Geist sind gemäß neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses Eigennamen, die in einzigartiger Weise drei wirkliche und voneinander unterschiedene Hypostasen bezeichnen. Obwohl sie ein und desselben göttlichen Wesens sind, lassen sich die Hypostasen nicht auswechseln oder vertauschen. »So ist die Person des Vaters immer der vom Sohn und vom Geist unterschiedene Vater; die Person des Sohnes ist immer der vom Vater und vom Geist unterschiedene Sohn; und die Person des Heiligen Geistes ist immer der vom Vater und vom Sohn unterschiedene Geist.« (R-O/2, 6) Ist der hypostatische Unterschied zwischen Vater, Sohn und Geist demnach nicht etwa nur scheinhaft, sondern wirklich gegeben, so widerspricht er gleichwohl nicht der Einheit der konsubstantialen Personen, die ohne Vermischung, aber auch ohne Abstufung zu bekennen ist. Nicht als ob die göttliche Wesenseinheit als viertes neben oder über den drei göttlichen Personen oder einer von ihnen vorbehalten sei. Die ganze ungeteilte Gottheit wohnt vielmehr ganz und ungeteilt in jeder Person: »Jede Person ist selbst Herr und Gott.« (R-O/2, 6) Sie ist dies aber nicht für sich allein, sondern in wesenseiniger Gemeinschaft mit den anderen trinitarischen Hypostasen. Denn wie die Gottheit in jeder Person ganz und ungeteilt wohnt, so wohnt jede Person in der jeweils anderen. Die göttlichen Hypostasen durchdringen sich wechselseitig in perichoretischer Weise, ohne sich deshalb zu vermischen, aber auch ohne sich irgendetwas vorzuenthalten. Auch der göttliche Ursprung oder die Monarchie Gottes ist nicht zu trennen von der Dreiheit. Sowenig sich die Monas von der Trias, sowenig lässt sich die Trias von der Monas separieren. Einheit und Verschiedenheit Gottes sind als identisch und different zu denken. Die drei Hypostasen sind einerseits als ein prosopon zu verkünden, ohne dass andererseits die speziellen Beziehungen unterschlagen werden dürfen, durch welche die göttlichen Personen miteinander verbunden sind. Der Vater ist, indem er ist, was er ist, nicht der Sohn und der Hl. Geist, welche ihrerseits als die Hypostase, die sie sind, von den auszudrücken, dass sie sowohl vor Missverständnissen bewahrt als auch anderen Menschen zugänglich ist. Die Ausformulierung der Lehre gründet sich auf die Schrift und auf eine Tradition umsichtigster theologischer Reflexion, und sie sollte in keinem Fall als eine eigenständige intellektuelle Übung betrachtet werden. Denn letztlich, wie auch schon Gregor von Nazianz sagte, ist es unmöglich, Gott auszudrücken, und noch unmöglicher, ihn zu erfassen. Daher sollte die Lehrformel in keiner Weise vom Mysterium Gottes ablenken, das in der Kirche von den Aposteln an durch die Väter tradiert worden ist. Es ist nicht die Lehre von der Trinität, sondern der eine Gott in drei Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist, der Gegenstand des christlichen Glaubens und Gottesdienstes ist. Auch wenn wir manchmal von Gott dem Vater, Gott dem Sohn oder Gott dem Heiligen Geist unabhängig voneinander sprechen, so ist dabei immer vorausgesetzt, dass eine Person nie von den anderen abgetrennt ist, sondern dass alle und eine jede die Gnade und die Herrlichkeit der einen Gottheit in Einheit offenbart.«

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Orthodoxie im Gespräch

jeweils anderen realiter unterschieden sind. Dadurch ist eine Ordnung der göttlichen Personen in der Dreieinigkeit gesetzt, die Unterschiede ihrer Reihenfolge und ihrer ewigen Beziehungen untereinander mit sich bringt. Doch wird dadurch die Gleichheit unter den drei Personen in keiner Weise beeinträchtigt. Dass der Vater in Ewigkeit den Sohn zeugt und den Geist von sich ausgehen lässt, heißt nicht, dass ihm als der Quelle der Gottheit die göttliche Monarchie ausschließlich zukomme. Diese kann nicht auf eine Person begrenzt werden. Denn wie der Vater nicht wirklich ist, was er ist, ohne den Sohn und den Geist, so sind auch göttlicher Ursprung und göttliche Monarchie nicht von der Dreiheit der trinitarischen Personen zu trennen.

2.4. Das sog. Filioque-Problem Bedenkt man recht, was über die Selbstoffenbarung Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist (vgl. R-O/2, 5), die drei göttlichen Personen (vgl. R-O/2, 6 f), ihre ewigen Beziehungen und die Ordnung in Gott (vgl. R-O/2, 8 ff) sowie über ihre Perichorese oder gegenseitige Einwohnung etc. (R-O/2, 13 ff) zu lehren ist, dann scheint sich auch eine einvernehmliche Lösung in der traditionellen Kontroverse um die Frage abzuzeichnen, ob der Heilige Geist seinen innertrinitarischen Ausgang beim Vater oder beim Vater und beim Sohne nimmt. Als eine Verständigungsformel bietet sich etwa folgender Satz an: »Der Heilige Geist geht vom Vater aus, aber wegen der Einheit der Gottheit, in welcher jede Person vollkommen und ganz Gott ist, geht er vom Vater durch den Sohn aus, denn der Geist gehört zum Wesen des Vaters und des Sohnes und ist von ihm untrennbar.« (R-O/2,13) Im Übrigen soll die Regel gelten: »Das NizänoKonstantinopolitanische Bekenntnis sollte grundsätzlich in seiner ursprünglichen Fassung von 381 n. Chr. verwendet werden.« (R-O/2, 23) Auf die später hinzugekommene filioque-Klausel wäre demnach konsequenter Verzicht zu tun (vgl. A-O/4, 44). Als sachliche Begründung wird orthodoxerseits u. a. angeführt, dass der Sohn nicht Ursache oder auch nur Mitursache des Hl. Geistes sein könne, wie die filioque-Formel dies zumindest nahelege. Probleme blieben nach orthodoxer Auffassung selbst dann, wenn zwischen zwei Bedeutungen von Ursprung (processio) unterschieden und zwischen einer Verursachung der Existenz des Geistes im Sinne von ekporeusis, die dem Vater vorbehalten, und einem Erstrahlen des Geistes aus dem Vater und dem Sohne im Sinne von ekphansis unterschieden würde. Ob die Kontroverse als behoben gelten kann, wenn die westliche Tradition auf den Begriff der causa im Kontext der Filioque-Debatte generell verzichtet und die ohnehin nur gelegentlich gebrauchte Rede von einer Verursachung des Geistes durch den Sohn aufgibt, bedarf genauerer Erörterungen.11 11 Vgl. im Einzelnen A-O/4,44 – 46: »44. Bei einer weiteren Erörterung des Filioque bekräftigten sowohl Anglikaner als auch Orthodoxe die 1976 in Moskau erreichte Übereinstimmung, dass

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Das Mysterium der Inkarnation

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3. Das Mysterium der Inkarnation Die Erkenntnis des dreieinigen Gottes ist durch die Gnadengabe seiner Selbstoffenbarung in Jesus Christus12 erschlossen und für die menschliche Vernunft als solche oder für sich genommen nicht erschwinglich. Die aus der diese Klausel nicht in das Nizäno-Konstantinopolitanische Bekenntnis (gewöhnlich Nizänum genannt) einbezogen werden sollte. Einige anglikanische Kirchen haben bereits einen Beschluss im Sinne der Empfehlung gefasst, andere erwägen ihn erst. 45. Die Orthodoxen erklärten, aus theologischer Sicht sei die Filioque-Lehre nicht annehmbar, auch wenn sie, wie Augustinus gemeint hat, orthodox interpretiert werden könne. Nach orthodoxem Verständnis kann der Sohn nicht Ursache oder Mit-Ursache des Heiligen Geistes sein. Nichtsdestoweniger findet man bei gewissen Kirchenvätern wie z. B. bei Maximus dem Bekenner (7. Jh.) – wie Anastasius Bibliothecarius (9. Jh.) darlegt – die Auffassung, dass das Filioque, so wie es in der frühen lateinischen Theologie verwandt worden sei, auch auf eine orthodoxe Art und Weise verstanden werden könne. Nach dieser Lesart sollte ein Unterschied gemacht werden zwischen zwei Bedeutungen von Ursprung (processio): Bei der ersten verursacht der Vater die Existenz des Geistes …, bei der zweiten strahlt der Geist aus dem Vater und dem Sohn hervor …. Diese zweite Bedeutung von Ursprung müsse deutlich von der späteren westlichen Verwendung von Filioque abgesetzt werden, die keinen solchen Unterschied gemacht, sondern causa existentiae und communicatio essentiae … unterschiedslos nebeneinander verwandt habe. Einige orthodoxe Theologen betrachten zwar die Lehre vom Filioque als für die Orthodoxe Kirche unannehmbar, sehen aber im Filioque – unter Bezugnahme auf Professor Bolotov (1854 – 1900) und geistverwandte Nachfolger – ein Theologumenon im Westen. 46. Von anglikanischer Seite wurde darauf verwiesen, dass das Filioque nicht als ein Dogma gesehen werden dürfe, das alle Christen annehmen müssten. Man hob jedoch hervor, dass folgende Punkte für ein richtiges Verständnis der Intention des Filioque wesentlich seien: a) Obwohl die westliche Tradition vom Sohn manchmal als von der Ursache (causa) des Geistes gesprochen hat, stieß diese Fonnulierung nicht auf allgemeine Zustimmung und wird nicht mehr gebraucht. b) Die westliche Tradition war immer der Auffassung, daß der Vater die einzige ›Quelle der Gottheit‹ (fons deitatis) … ist, wenn sie gleichzeitig den Sohn mit dem Vater als ›Prinzip‹ (principium) des Geistes verband. c) Wenn die westliche Tradition vom Vater und Sohn als ›einem Prinzip‹ gesprochen hat, dann wollte sie damit nicht implizieren, daß der Geist von irgendeiner undifferenzierten göttlichen essentia … – im Gegensatz zu den Personen … des Vaters und des Sohnes – ausgeht. Die anglikanischen Mitglieder der Kommission wollten festgehalten wissen, daß sie in diesem Zusammenhang keinesfalls für die Verwendung des Begriffs causa eintreten möchten.« Nach O-RK I/6,6 geht der Geist vom Vater als der einzigen Quelle in der Dreifaltigkeit aus. Er ist aber auch der Geist des Sohnes, der für uns der Geist der Sohnschaft geworden ist, welche er durch den Sohn wirkt. Eine andere mögliche, von beiden Seiten akzeptierte Wendung lautet: »Der Heilige Geist, den Christus vom Vater sendet …« (L-O/6,3) 12 Lediglich anmerkungsweise sei auf den engen Zusammenhang von Christologie und Ikonologie in orthodoxer Tradition verwiesen. Vgl. etwa A-O/4,79 f: »Durch die Inkarnation wurde die menschliche Natur, Leib wie Seele, hineingenommen in das Leben des Wortes Gottes. Und in der erneuerten Schöpfung, die die Inkarnation bewirkt hat, wird die gesamte materielle Welt geheiligt und die zersetzende Gegenüberstellung von Geist und Materie aufgehoben. – In der orthodoxen Tradition sind die Darstellung und Verwendung von Ikonen christologisch gegründet. Die Ikone wird als wichtiges Mittel verstanden, durch das wir das Geheimnis der Inkarnation bekennen und uns ihm nähern.« Ferner : A-O/4,84: »Durch die Inkarnation des Logos, der das Bild des Vaters ist (2 Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3), wird das Bild Gottes in jedem Menschen wiederhergestellt und die materielle Welt selbst geheiligt und wieder befähigt, die

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griechischen Philosophie übernommenen Begriff von ousia, hypostasis oder physis müssen daher modifiziert und transformiert werden, um trinitätstheologisch bedeutsam zu sein. So ist dem Begriff des Wesens »unter dem Einfluss der göttlichen Offenbarung eine personale Bedeutung gegeben« (RO/3, 4) und zugleich erkannt worden, dass hypostatische Beziehungen konstitutiv und wesentlich für das Personsein von Personen sind.

3.1. Göttliche Offenbarung und Menschwerdung Gottes Analog zur Trinitätstheologie muss die philosophische Rede von Hypostase und Wesen, Person und Natur etc. auch im christologischen Kontext einem Bedeutungswandel in offenbarungstheologischer Perspektive unterzogen werden. Hält man sich an diese Devise, dann können gegebenenfalls langwährende konfessionelle Kontroversen behoben bzw. als bloßer Streit um Begriffe durchschaut werden. Der Dialog zwischen der sog. chalkedonischen und der sog. vor- bzw. nonchalkedonischen Orthodoxie gibt dafür einen Beleg. Im Bewusstsein, dass die Begriffe physis und hypostasis unter bestimmten Verstehensbestimmungen austauschbar gebraucht werden konnten und gebraucht werden können (vgl. O-OO/2, 6: »der Begriff hypostasis kann ebensogut auf die sich von der Natur unterscheidende Person angewendet werden wie auf die die Natur innehabende Person, da eine Hypostase eigentlich nie ohne eine Natur erscheint.«), sind Orthodoxe einig, dass die unter den Orientalen gebräuchliche Rede von der »einen Natur des Fleisch gewordenen Logos« beibehalten werden kann, wenn anerkannt wird, dass die hypostatische Union einen synthetischen Akt darstellt, in dem die ungeschaffene göttliche Natur mit ihrem wesensgemäßen Willen und ihrer wesensgemäßen Energie sich mit der geschaffenen Menschennatur mit eigenem Willen und eigener Energie verbunden hat. Gemeinsam kann bekannt werden: »Wenn wir von der einen und zusammengefügten (synthetos) Hypostase unseres Herrn Jesus Christus sprechen, meinen wir damit nicht, dass sich in Ihm eine göttliche und eine menschliche Hypostase vereinigen. Wir meinen damit vielmehr, dass die eine und ewige Hypostase der zweiten Person der Trinität unsere geschaffene Menschennatur angenommen hat in einem Akt, der diese mit Seiner ureigenen ungeschaffenen göttlichen Natur vereinigte, um als göttliche Schönheit zu vermitteln. Ikonen werden als ein Instrument verwandt, die Herrlichkeit Gottes auszudrücken – soweit dies überhaupt möglich ist –, die im Angesicht Jesu Christi (2 Kor 4,6) und in dem ›seiner Freunde‹, der Heiligen, erkennbar ist. Ikonen sind gemalte Worte und haben die Heilsgeschichte oder deren Manifestation in besonderen Personen zum Inhalt. Ikonen sind immer als ein sichtbares Evangelium, als ein Zeugnis für die großen, uns von Gott im fleischgewordenen Wort gegebenen Dinge verstanden worden. Das Konzil von 860 merkte an, daß alles das, was mit in Silben geschriebenen Wörtern ausgedrückt wird, auch in der Sprache der Farben verkündet wird. Aus dieser Sicht heraus besteht zwischen Ikonen und Schrift eine innere Beziehung; beide gibt es in der Kirche, und beide verkünden dieselben Wahrheiten.«

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Ganzes ein wahrhaft gott-menschliches Wesen zu bilden, ungetrennt und unvermischt eins, wobei sich die Natur lediglich in der Betrachtung (theoria) voneinander unterscheiden.« (O-OO/2, 5) Gilt dieses Bekenntnis, dann ist ein differenzierter Konsens erreicht, in dem kirchentrennende Gegensätze überwunden sind und gemeinsam erklärt werden kann: »Diejenigen unter uns, die von zwei Naturen in Christus sprechen, leugnen dadurch nicht deren ungetrennte und ungesonderte Einigung; und diejenigen unter uns, die von einer in Christus geeinten gott-menschlichen Natur sprechen, leugnen dadurch nicht die fortwährende dynamische Gegenwart des Göttlichen und Menschlichen in Christus, unverwandelt und unvermischt.« (O-OO/2,9) 3.2. Trinitätslehre und Christologie Wie das trinitarische Mysterium des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes, die hypostatisch differenziert und wesenseins sind, unbegreiflich und unaussprechlich ist, so kann auch das Geheimnis der Inkarnation des Logos, wie er in Jesus Christus manifest ist, weder begriffen noch adäquat ausgesprochen werden. Das hinderte die chalkedonische und vorchalkedonische Theologie nicht, folgende gemeinsame christologische Erklärung abzugeben, die ihrer inhaltlichen Dichte wegen in drei Punkten wörtlich wiedergegeben werden soll: »Das wunderbare Mysterium des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ist wahrhaftig groß: ein einziger wahrer Gott, eine Ousia (Wesen) in drei Hypostasen oder drei Personen. Der Name des Herrn unseres Gottes sei ewig gepriesen. – Und groß ist auch das unaussprechliche Mysterium der Fleischwerdung unseres Herrn Jesus Christus für uns und um unseres Heiles willen. Der Logos, der mit dem Vater und dem Heiligen Geist seiner Gottheit nach ewig wesensgleich ist, ist in den letzten Tagen durch den Heiligen Geist und aus der Jungfrau Maria, der Gottesgebärerin (Theotokos), Fleisch und somit Mensch geworden – seiner Menschheit nach mit uns wesensgleich, doch ohne Sünde. Er ist zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch, vollkommen seiner Gottheit und vollkommen seiner Menschheit nach. Da Derjenige, Den sie unter ihrem Herzen trug, zugleich ganz Gott und ganz Mensch war, nennen wir die Heilige Jungfrau Maria Theotokos.« – Es folgt der bereits zitierte Artikel 5. – »Die Hypostase des Logos – vor der Inkarnation – ist natürlich keine zusammengefügte, auch nicht mit ihrer göttlichen Natur. Die Hypostase des fleischgewordenen Logos, die die gleiche ist, sich aber der Natur nach unterscheidet, ist ebensowenig zusammengefügt. Die eine und einzige gottmenschliche Person (prosopon) Jesu Christi ist eine ewige Hypostase, die in der Inkarnation die Menschennatur angenommen hat. Diese Hypostase nennen wir aus dem Grunde zusammengefügt, weil die Naturen, die sich (in ihr) vereinigen, eine zusammengefügte Einheit bilden. … – Es ist diese Hypostase der Zweiten Person der Trinität, die, von aller Ewigkeit her durch den Vater gezeugt, in den letzten Tagen ein menschliches Wesen und aus der

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Heiligen Jungfrau Maria geboren wurde. Darin liegt das Mysterium der hypostatischen Union, das wir in demütiger Verehrung bekennen. Es ist die wahre Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen, mit all den Eigenschaften und Funktionen der unerschaffenen göttlichen Natur, einschließlich des natürlichen Willens und der natürlichen Energie, ungetrennt und unvermischt eins mit der geschaffenen menschlichen Natur und all ihren Eigenschaften und Funktionen, einschließlich des natürlichen Willens und der natürlichen Energie. Das fleischgewordene Wort (Logos) ist das Subjekt allen ›Wollens‹ und Tuns Jesu Christi. – Wir sind uns darin einig, die Häresien des Nestorius und des Eutyches zu verurteilen. Weder trennen noch sondern wir in Christus Seine menschliche Natur von Seiner göttlichen Natur, noch denken wir, daß jene von dieser absorbiert wurde und somit zu existieren aufgehört hätte.« (O-OO/2,3 – 8)13 13 Die Erklärung wurde später in Teilen komprimiert und mit praktischen Konsequenzen versehen: »1) Beide Familien sind sich einig, daß die Irrlehre des Eutyches zu verurteilen ist. Beide Familien bekennen, daß der Logos, die zweite Person der Heiligen Trinität, einzig gezeugt durch den Vater vor allen Zeiten und wesensgleich mit Ihm, Fleisch angenommen hat und aus der Jungfrau Maria, der Gottesgebärerin, geboren wurde; völlig wesensgleich mit uns, vollkommener Mensch mit Seele, Leib und Verstand …; gekreuzigt, gestorben und begraben, und am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren zu Seinem Himmlischen Vater, wo Er als Herr der ganzen Schöpfung zur Rechten des Vaters sitzt. Beim Herabkommen des Heiligen Geistes an Pfingsten tat Er die Kirche als Seinen Leib kund. Wir erwarten Seine Wiederkunft in der Fülle Seiner Herrlichkeit, gemäß den Schriften. 2) Beide Familien verurteilen die Irrlehre des Nestorius und den Krypto-Nestorianismus des Theodoret von Cyr. Sie sind sich einig, daß es nicht genügt, zu sagen, Christus sei mit Seinem Vater und uns wesensgleich, Seiner Natur nach sowohl Gott als auch Mensch; es muß unbedingt auch gesagt werden, daß der Logos, welcher Seiner Natur nach Gott ist, durch Seine Inkarnation in der Fülle der Zeiten Seiner Natur nach (auch) Mensch wurde. 3) Beide Familien sind sich einig, daß die Hypostase des Logos zusammengefügt … wurde, indem Seine göttliche ungeschaffene Natur mit ihrem natürlichen Willen und ihrer natürlichen Energie – welche Er mit Seinem Vater und dem Heiligen Geist gemeinsam hat –, mit der geschaffenen menschlichen Natur verbunden wurde, welche Er in Seiner Inkarnation annahm und sich zu eigen machte – mit ihrem natürlichen Willen und ihrer natürlichen Energie. 4) Beide Familien sind sich einig, daß die (beiden) Naturen mit ihren je eigenen Energien und Willen in hypostatischer und natürlicher Weise miteinander verbunden sind, und zwar unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungesondert, daß sie nur in Gedanken voneinander unterschieden werden können …. 5) Beide Familien sind sich einig, daß Derjenige, Der will und handelt, stets die eine Hypostase des Fleisch gewordenen Logos ist. 6) Beide Familien sind sich einig, daß all jene Konzilsinterpretationen zu verwerfen sind, welche nicht genau mit dem Horos des Dritten Ökumenischen Konzils und dem Brief des Cyrill von Alexandrien an Johannes von Antiochien (433) übereinstimmen. 7) Die Orthodoxen sind sich einig, daß die Orientalisch-Orthodoxen ihre traditionelle Cyrillische Terminologie der ›einen Natur des Fleisch gewordenen Logos‹ … weiterhin beibehalten, nachdem sie die doppelte Konsubstantialität des Logos anerkennen, die Eutyches abgelehnt hatte. Die Orthodoxen werden ebenfalls diese Terminologie verwenden. – Die Orientalisch-Orthodoxen sind sich einig, daß die Orthodoxen gerechtfertigten Gebrauch der Zwei-Naturen-Lehre machen, nachdem sie anerkennen, daß die Unterscheidung ›nur in Gedanken‹ vorgenommen wird …. Cyrill interpretierte diesen Gebrauch richtig in seinem Brief an Johannes von Antiochien und seinen Briefen an Acacius von Melitene (PG 77, 184 – 201), an Eulogius (PG 77,224 – 228) und an Succensus (PG 77,228 – 245). 8) Beide Familien nehmen die ersten drei Ökumenischen Konzile

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Trinitätstheologisches und christologisches Dogma gehören dogmengeschichtlich und sachlich aufs Engste zusammen. »Unser gemeinsamer Glaube an den einen Gott, die Heilige Trinität des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, ist unverbrüchlich mit unserem Glauben an Jesus Christus, der uns das Geheimnis der Heiligen Trinität offenbart, verbunden.« (R-O/4, 1) Offenbarer des dreieinigen Gottes ist Jesus Christus in der differenzierten Einheit seiner gottmenschlichen Person. Als Mensch und konkrete historische Person führt der inkarnierte Sohn vor Augen, »dass Gott die menschliche Natur nicht grundsätzlich fremd ist. Vielmehr wird offenbar, was in der ursprünglichen Natur des Logos verborgen war. Durch die Inkarnation wird die Lebendigkeit Gottes unter den Bedingungen der menschlichen Existenz offenkundig. Gott unterstellt sich der menschlichen Verfassung und Natur in allen ihren Hinsichten und Dimensionen.« (R-O/4,2) Dazu gehört, dass die Inkarnation zu einer bestimmten Zeit stattfand, Aspekte chronologischer Bemessbarkeit beinhaltet und einen Moment in der temporalen Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst. Trotz ihrer zeitlichen Bestimmtheit ist die Inkarnation zugleich ein Geschehen von Ewigkeitsbedeutung. Denn sie gehört »unablöslich zum Dasein und zum Leben Gottes« (R-O/4,3), der durch die Menschwerdung des Logos bzw. durch den menschgewordenen Logos in der Kraft seines Hl. Geistes die Schöpfung vollenden, von allen Übeln erlösen und von der Schuld der Sünde versöhnend befreien will. Zwar ist die Inkarnation einerseits selbst eine Station im ökonomischen Gang von der Schöpfung über die Erlösung und Versöhnung, für die sie steht, hin zur eschatologischen Vollendung. Andererseits aber markiert und gewährleistet sie den Richtungssinn der heilsgeschichtlichen Entwicklung, indem sie die vom Sünder nicht nur nicht erkannte, sondern verkannte Väterlichkeit Gottes in der Kraft des göttlichen Geistes als Grund und Ziel alles dessen offenbart, was ist. Erschlossen ist die Offenbarung des göttlichen Vaters im gottmenschlichen Sohn durch den Hl. Geist, der lebendigen Anteil gibt an der Einheit Gottes und des Menschen, die Jesus Christus in Person ist. Ohne Pneumatologie können Schöpfungstheologie und Christologie nicht adäquat bedacht werden. Jesus an, die unser gemeinsames Erbe sind. Bezüglich der vier späteren Konzile der Orthodoxen Kirche vertreten die Orthodoxen den Standpunkt, daß die oben erwähnten sieben Punkte ebenso die Lehre der vier späteren Konzile der Orthodoxen Kirche sind, wohingegen die Orientalisch-Orthodoxen diesen Standpunkt der Orthodoxen als deren eigene Interpretation betrachten. So verstanden antworten die Orientalisch-Orthodoxen in positiver Weise auf diese Frage. – Bezüglich der Lehre des Siebten Ökumenischen Konzils der Orthodoxen Kirche sind sich die Orientalisch-Orthodoxen einig, daß die Theologie und Praxis der Ikonenverehrung, wie sie dieses Konzil lehrte, grundsätzlich mit der Lehre und Praxis der Orientalisch-Orthodoxen, wie sie seit eh und je und schon lange vor der Einberufung dieses Konzils gehandhabt wurden, übereinstimmen, so daß diesbezüglich keine Meinungsverschiedenheiten bestehen.« (O-OO/ 3,1 – 8) Man wird nicht sagen können, dass diese Erklärungen schon völlig ausgereift sind. Darin haben ihre konservativen Kritiker von beiden Seiten recht. Doch weisen sie in die richtige Richtung, in der die allfällige Verständigung zu suchen und zu finden ist.

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Christus ist nicht, was er ist, ohne den Hl. Geist. Seine Wirksamkeit als des Dritten im göttlichen Bunde ist von Beginn der Logosinkarnation an bis hin zur Auferstehung des Gekreuzigten und zur Pfingstsendung erkenntlich (vgl. R-O/4,7).

3.3. Christologie und Soteriologie Wie Trinitätstheologie und Christologie gehören Christologie und Soteriologie untrennbar zusammen. »Die ontologische Basis unserer Rettung ist die hypostatische oder personale Einheit von Wort und Fleisch bzw. von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus.« (R-O/4, 5) Nach Maßgabe der Lehre von der communicatio idiomatum kann der mit dem Logos personal vereinte Mensch Jesus mit vollem Recht Gott genannt werden. Dementsprechend kann soteriologisch von theosis als dem Ziel des vom inkarnierten Logos durch den Hl. Geist bewirkten göttlichen Heiles die Rede sein. Wie indes die Gottheit Jesu Christi seine wirkliche und wahre kreatürliche Menschheit, mit der sie hypostatisch vereint ist, nicht aufhebt, so läuft die Vergottung des Glaubenden nicht auf die Beseitigung von dessen Menschsein hinaus, das vielmehr als vollendetes erhalten bleibt bzw. seiner Wesensbestimmung zugeführt wird (vgl. R-O/4, 4 f). Was für das menschliche Wesen gilt, trifft entsprechend für seinen Willen und seine Energie zu. Sie werden durch Konformität mit Gott nicht destruiert, sondern im Gegenteil dazu geführt, zu sein, was sie an sich selbst sind, ohne es aus sich heraus sein zu können und von sich aus tatsächlich zu sein. Die soteriologische Problematik von Synergie und menschlicher Mitwirkung am Heil ist von hier aus anzugehen. Im Heilsgeschehen kommt der göttlichen Gnade, die universal wirksam ist, absolute Priorität zu (vgl. L-O/6,5). Doch zwingt die Gnade nicht auf naturkausale Weise, weil sie aus Freiheit kommt und auf Freiheit hinzielt. Die Lehre von einem Gnadendeterminismus ist daher abzulehnen, ohne dass deshalb ein soteriologisches Eigenvermögen des faktischen Menschen behauptet werden müsste, sich selbst zum Heil zu bestimmen. Zu sagen ist vielmehr, »dass Gottes Gnade unseren menschlichen Willen dazu befähigt, sich dem göttlichen Willen zu fügen« (L-O/6, 5). Genau das verstehen Orthodoxe nach eigenem Bekunden unter Synergie der göttlichen Gnade und des menschlichen Willens bei der Aneignung des göttlichen Lebens ist Christus, wobei hinzugefügt wird: »Das Verständnis der Synergie im Heil wird gefördert durch die Tatsache, dass der menschliche Wille in der einen Person Christi nicht aufgegeben wurde, als nach den christologischen Entscheidungen der ökumenischen Konzile die menschliche Natur in Christus mit der göttlichen Natur verbunden wurde.« (L-O/6,5) Der menschliche Wille, dessen Vollkommenheit in der völligen Konformität mit dem Willen Gottes besteht, ist freier Wille, aber in der Weise eines liberum arbitrium,

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eines arbiträren Wahlwillens gerade nicht angemessen zu erfassen. Von dieser christologischen Einsicht her lässt sich sowohl der überkommene Streit um die Willensfreiheit beheben als auch ein Verständnis der orthodoxen Lehre von theosis bzw. menschlicher Angleichung an Gott entwickeln, das mit reformatorischen Grundsätzen kompatibel ist.

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse* »Halt an, mein Augustin: Eh du wirst Gott ergründen, / wird man das gantze Meer in einem Grüblein finden.« (Angelus Silesius)1

1. Prolog Die Filioquefrage und das Problem, ob der Heilige Geist in Ewigkeit »von Gott dem Vater«, »von Gottvater allein«, »vom Vater durch den Sohn« oder aber »vom Vater und vom Sohn« ausgeht2, gehören nicht zu den Themen, die im * Der Text ist im Verlauf des WS 2009/10 anlässlich eines Ökumenischen Oberseminars zur Filioquethematik entstanden, das von Athanasios Vletsis (orth.), Birgitta Kleinschwärzer-Meister und Bertram Stubenrauch (röm.-kath.) sowie vom Autor (evang.-luth.) im Rahmen des Münchener Zentrums für Ökumenische Forschung angeboten wurde. Die Spuren allmählicher Genese wurden einschließlich gelegentlicher Wiederholungen nicht getilgt; der Text will als »work in progress« gelesen werden. Dass die Darstellungsperspektive trotz intendierter Verständigung »westlich« ist, kann und soll nicht geleugnet werden. Den Anstoß zum gemeinsamen Seminar gab die Studie von A. Vletsis in: US 64 (2009), 8 – 28: Die immanente Trinität ist die »doxologische Trinität«. Die Entsprechung von »theologia« und »oikonomia« als Voraussetzung einer Annäherung der Trinitätsmodelle von Ost und West; vgl. ders., Filioque: Ein unendlicher Streitfall? Aporien einer Pneumatologie in Bewegung, in: K. Nikolakopoulos u. a. (Hg.), Orthodoxe Theologie in Ost und West, FS T. Nikolaou, Frankfurt 2002, 353 – 371. 1 Zur Legende von Augustinus und dem Knaben, der mit einem Muschelgehäuse das Meer ausschöpfen und in einer kleinen Sandgrube fassen will, vgl. den Exkurs bei R. Kany, Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu »De trinitate«, Tübingen 2007, 306 – 310. In Erzählvarianten kann an die Stelle des Knaben ein Engel oder das Jesuskind, an die Stelle Augustins ein anderer Kirchenlehrer treten, der die göttliche Trinität begreifen will und bei diesem Versuch ihrer Unbegreiflichkeit gewahr wird. Die Legende ist in der Augustinikonographie zahlreich belegt, obwohl sie weder bei Augustin selbst noch in den frühen Augustinviten zu lesen ist. Wahrscheinlich ist sie ursprünglich nicht mit Augustins Person verbunden, sondern erst innerhalb des Dominikanerordens auf ihn übertragen und explizit auf sein Werk »De trinitate« bezogen worden. In der Dichtung begegnet die Legende neben Angelus Silesius bei Hans Sachs, Lope de Vega oder in Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung »Des Knaben Wunderhorn«. Besondere Beliebtheit erfreute sie sich in Mönchskreisen, die der auf Rationalität bedachten Schultheologie mit genereller Skepsis begegneten. Mit dezidiert antischolastischer Pointe wurde sie auch im ostkirchlichen Bereich rezipiert. 2 Minutiös und in einer bisher unübertroffenen Klarheit rekonstruiert hat die Entstehungsbedingungen und die Geschichte des Filioqueproblems samt seinen aktuellen Wahrnehmungsformen B. Oberdorfer, Filioque. Geschichte und Theologie eines ökumenischen Problems, Göttingen 2001. Vgl. ferner bes.: M.-H. Gamillscheg, Die Kontroverse um das Filioque. Möglichkeiten einer Problemlösung aufgrund der Forschungen und Gespräche der letzten hundert Jahre, Würzburg 1996; P. Gemeinhardt, Die Filioque-Kontroverse zwischen Ost- und Westkirche

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Prolog

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Zentrum der Aufmerksamkeit evangelischen Christentums stehen. Dies war zur Reformationszeit nicht anders. Luther, Melanchthon und auch Calvin übernahmen in problemloser Selbstverständlichkeit die westliche Tradition vom »doppelten« Hervorgang des Geistes und rezipierten das Nizänokonstantinopolitanum mit filioquistischem Zusatz. Systematische Begründungen erfolgten nicht oder allenfalls insoweit, als sie sich aus dem Zusammenhang der ursprünglichen Einsicht der Reformation von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch Glauben ergaben. Denn das in der Schrift beurkundete kanonische Rechtfertigungsevangelium Jesu Christi fungiert reformatorischerseits als Regulativ und Kriterium der Gesamtdogmatik einschließlich der Trinitätslehre. Erst als es in Form des Briefwechsels Tübinger Lutheraner mit Patriarich Jeremias II. zu einer konkreten Begegnung mit der griechischen Kirche kam, wurde man reformatorischerseits auf die hohe Bedeutung der Filioquefrage für die Orthodoxie aufmerksam.3 Der briefliche Diskurs um sie konzentrierte sich erstens auf das Problem der Verbindlichkeit des genuinen Wortlauts des nizänokonstantinopolitanischen Symbols im Horizont normativer Tradition und sakrosankter Texte, zweitens auf die diversen Theorieaspekte der innertrinitarischen Verhältnisse und schließlich auf die Frage der noetischen und ontologischen Beziehung von Gottes immanentem Sein und seinem Wirken nach außen, also auf die Frage des Verhältnisses von immanenter und ökonomischer Trinitätslehre, wie man später sagen wird.4 Nachfolgende Erwägungen beschränken sich auf die beiden letztgenannten Themenaspekte: denn wie auch immer über die Legitimität eines förmlichen Zusatzes in einen aus im Frühmittelalter, Berlin 2002; R.M. Haddad, The stations of the filioque, in: Saint Vladimir’s theological quarterly 46 (2002), H. 2/3., 209 – 268; M. Haudel, Die Selbsterschließung des dreieinigen Gottes. Grundlage eines ökumenischen Offenbarungs-, Gottes- und Kirchenverständnisses, Göttingen 2006; Chr. Henning, Die evangelische Lehre vom Heiligen Geist und seiner Person. Studien zur Architektur protestantischer Pneumatologie im 20. Jahrhundert, Gütersloh 2000; L. Lies, Derzeitige ökumenische Bemühungen um das »Filioque«, in: ZKTh 122 (2000), 317 – 353; A. Stirnemann/G. Wilflinger (Hg.), Vom Heiligen Geist. Der gemeinsame trinitarische Glaube und das Problem des Filioque, Innsbruck/Wien 1999. 3 Vgl. D. Wendebourg, Reformation und Orthodoxie. Der ökumenische Briefwechsel zwischen der Leitung der Württembergischen Kirche und Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573 – 1581, Göttingen 1986. G. Wenz, Den Griechen ein Grieche? Die Confessio Augustana Graeca von 1559 und der Briefwechsel der Leitung der Württembergischen Kirche mit Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573 – 1581 im Kontext der Konkordienformel von 1577, in: T. Nikolaou (Hg.), Das Schisma zwischen Ost- und Westkirche. 950 bzw. 800 Jahre danach (1054 und 1204), Münster 2004, 115 – 142. 4 Ausdrücklich die Rede von immanenter und ökonomischer Trinität ist nach Hinweisen bei Johann August Urlsperger »erst in den Jahren 1837 bis 1841 in der Diskussion zwischen August Detlev Christian Twesten, Friedrich Lücke und Carl Immanuel Nitzsch« (R. Stolina, ›Ökonomische‹ und ›immanente‹ Trinität? Zur Problematik einer trinitätstheologischen Denkfigur, in: ZThK 105 (2008), 170 – 216, hier : 172). Ferner etwa: M. Böhnke, Die Wahrheit der ökonomischen Trinität. Versuch über das Axiom der Identität von ökonomischer und immanenter Trinität in ökumenischer Absicht, in: Theologie und Glaube 96 (2006), 262 – 289.

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

verschiedenen Gründen und in unterschiedlicher Weise als sakrosankt erachteten, in liturgischem Gebrauch stehenden Text zu urteilen ist über das sachliche Recht des Filioque kann nur aus Gründen befunden werden, die unmittelbar den Sinngehalt der Trinitätslehre selbst betreffen. Erörterungsziel ist es, die vielfach zum kontroverstheologischen Schlagwort und Markenzeichen des Streits zwischen Ost- und Westkirche herabgesetzte Filioquethematik zu reproblematisieren, um auf diese Weise ein Motiv ihrer sachlichen Wahrnehmung und der ökumenischen Verständigung zu gewinnen5. Zu einer verständigungsorientierten Wahrnehmung der Filioquethematik gehört als erstes die Einsicht, dass der Streit um sie nicht am Anfang trinitarischen Denkens, sondern erst im Zusammenhang seiner fortgeschrittenen Entwicklung entstand. Virulent und zum Gegenstand intensiver Kontroversen wurde die Frage des innertrinitarischen Hervorgangs des Hl. Geistes recht eigentlich erst in karolingischer Zeit. Zwar begegnet die Filioqueformel bereits im ausgehenden 6. Jahrhundert, und Ansätze zu ihr lassen sich in Spanien schon früher entdecken, um dann in den Auseinandersetzungen mit dem dortigen christologischen Adoptianismus mehr und mehr bedeutsam zu werden.6 Doch erst im Frankenreich Pippins und vor allem Karls des Großen, der die Einfügung des Filioque ins nizänokonstantinopolitanische Bekenntnis forcierte, wurde die processio spiritus sancti a patre et filio mit jener zugespitzten Bestimmtheit ausgesprochen, welche die Voraussetzung der späteren Streiteskalation war. Dabei spielten theologieexterne Faktoren eine nicht unerhebliche Rolle, die auf die eine oder andere Weise mit dem sog. Zwei-Kaiser-Problem und Rivalitäten zwischen dem Reich der Franken und demjenigen von Byzanz verbunden waren. All dies ist einschließlich der relativ bedeckten Haltung Roms, wo man trotz sachlicher Anerkennung des Filioque anders als in Spanien und im Frankenreich dessen förmliche Aufnahme ins Nizänokonstantinopolitanum erst 5 Während man im Westen in der Regel zurückhaltender urteilt, wird das Filioque in der Orthodoxie nicht selten als die »ausschlaggebende Ursache der Trennung zwischen dem Osten und dem Abendland« (V. Lossky, Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche, Graz 1961, 72) bezeichnet. Vladimir Lossky spricht gar von der »einzige(n) … Ursache« (ebd.). Zum Filioqueproblem in der neueren orthodoxen Theologie vgl. im Einzelnen B. Oberdorfer, a.a.O., 419 ff. 6 Schon die 3. Synode von Toledo 589 sagt, dass der Hl. Geist vom Vater und vom Sohn hervorgeht (DH 470: a Patre et a Filio procedere). Spätere Toledaner Synoden aus der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts bekrüftigen diese Aussage (DH 485: procedentem ex Patre et Filio profitemur. DH 490: de Patre Filioque procedentem utriusque esse Spiritum). Das Glaubensbekenntnis der 11. Synode von Toledo 672 – 676 schließlich bekundet, dass der Hl. Geist als wesenseiner Gott weder ungezeugt sei wie Gottvater, noch gezeugt wie Gottsohn, sondern hervorgehend von beiden und beider Geist (DH 527: non tamen genitum vel creatum, sed ab utrisque procedentem). Zur Begründung wird ergänzt: »Nec enim de Patre procedit in Filium, vel de Filio procedit ad sanctificandam creaturam, sed simul ab utrisque processisse monstratur ; quia caritas sive sanctitas amborum esse agnoscitur.« (Ebd.; vgl. ferner DH 568: »Spiritum vero Sanctum ex Patre Filioque absque aliquo initio procedentem.« DH 800: »pariter ab utroque«) Ersten Eingang in die überlieferte Fassung des Nizänokonstantinopolitanum fand der filioque-Zusatz im 7. und 8. Jahrhundert.

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zu Beginn des 11. Jahrhunderts vollzog, in der Forschung gut aufgearbeitet7 und hier nicht weiter zu thematisieren. Festgehalten sei nur, dass es im Laufe des Frühmittelalters zur sukzessiven Formierung pro- bzw. antifilioquistischer Traditionen kam. So konnte das Filioque, ohne der alleinige oder auch nur der wichtigste Grund der Kirchenspaltung zu sein, zu deren Kürzel und zur Trennmarke zwischen östlicher und westlicher Theologie werden, die sich infolge der Vorkommnisse von 1054 und mehr noch infolge des Skandals von 1204 zunehmend entfremdeten. Der status controversiae in der Frage des innertrinitarischen Hervorgangs des Hl. Geistes nahm unter diesen Bedingungen die Form einer intransigenten Alternative an, die offenbar nur noch die Option zuließ, entweder die theologische Notwendigkeit oder die theologische Unmöglichkeit des Filioque zu behaupten. Um das Dilemma eines Gegensatzes von scheinbar vermittlungsloser Unmittelbarkeit zu beheben, müssen die Sachgründe seines Zustandekommens offengelegt werden. Im Falle der Frage des innertrinitarischen Hervorgangs des Hl. Geistes ist das sachliche Fundament des Streits durch die Trinitätstheologie der drei großen Kappadozier einerseits und diejenige Augustins andererseits gelegt. Doch soll, bevor hierauf im Kontext der Genese des trinitarischen Dogmas der Alten Kirche genauer einzugehen ist, eine thematische Bestandsaufnahme anhand eines schulmäßig entwickelten Trinitätskonzepts vorgenommen werden. Gewählt sei der Konfessionszugehörigkeit des Autors entsprechend ein Beispiel aus der Dogmatik altlutherischer Orthodoxie. Nach Johann Friedrich Königs »Theologia positiva acroamatica« von 16648, einem repräsentativen und maßgeblichen Werk der Dogmatik altlutherischer Orthodoxie, wird Gott, der Grund, Inbegriff und objektive Zweck der Theologie, zum einen durch das natürliche Licht der Vernunft, zum anderen durch das Licht der Gnade erkannt: »illa cognitio naturalis, haec supernaturalis et revelata dicitur« (§ 4). Die natürliche Gotteserkenntnis vermag zwar zu der Einsicht in die Existenz eines höchsten Wesens zu führen (§ 18: »aliquod supremum Numen«), aber diese Einsicht bleibt nach König zu unbestimmt, um hinreichend verlässlich und definitiv heilsam zu sein. Heilwirkende Erkenntnis Gottes, und das heißt: Erkenntnis des trinitarischen Gottes in seiner Dreieinigkeit erschließt nur die cognitio Dei revelata, wie sie aus dem in der Hl. Schrift beurkundeten und in der Kraft des Hl. Geistes Glaubensgewissheit schaffenden Wort Gottes geschöpft ist, welches Jesus Christus in Person ist. Von der geoffenbarten Gotteserkenntnis nimmt nach König die Lehre sowohl vom Wesen als auch von den Werken Gottes ihren Ausgang. Das Wesen 7 Vgl. neben den Monographien von B. Oberdorfer und P. Gemeinhardt insbesondere A. Bayer, Spaltung der Christenheit. Das sog. Morgenländische Schisma von 1054, Köln 2004. 8 J.F. König, Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664). Hg. u. übers. v. A. Stegmann, Tübingen 2006. Die nachfolgenden Paragraphenverweise im Text beziehen sich auf die Pars Prima des Werkes. Vgl. ferner : C. H. Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung, Teil II, Gütersloh 1966.

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Gottes kann absolut und relativ in Betracht gezogen werden, also entweder an sich und ohne Berücksichtigung der drei göttlichen Personen oder mit Blick auf sie. Beide Betrachtungsweisen sind nach Maßgabe des Grundsatzes »unitas in trinitate, trinitas in unitate« nicht zu trennen, sondern nur diskursiv voneinander zu unterscheiden. »Consideratio essentiae divinae absoluta expeditur contemplatione conceptus quidditativi absoluti, et eorum, quae istum in ordine ad nostrum concipiendi modum sequntur.« (§ 33) Die consideratio dei relativa hinwiederum ist auf das göttliche Wesen in seinen drei unterschiedlichen Personen bezogen und auf deren innere Beziehungen ausgerichtet. Dabei wird die jeweilige trinitarische Person einerseits vom gemeinsamen göttlichen Wesen und andererseits von den jeweils anderen Hypostasen der Trinität unterschieden, wobei ersteres »non re, sed ratione cum fundamento in re« (§ 86) geschieht, letzteres »re ipsa, omni operatione intellectus humani cessante« (ebd.). Die Menschenvernunft hat es sonach erkenntlich mit einem offenbaren göttlichen Geheimnis zu tun, welches alles menschliche Verstandesvermögen übersteigt, ohne doch ins Irrationale zu führen. Aus der wirklichen Unterschiedenheit der trinitarischen Personen ergibt sich nach König ihre Seins- und Tätigkeitsordnung, wobei erstere aus der unterschiedlichen Teilhabe am zahlenmäßg einen und selben Wesen der Gottheit heraus erfolgt. So hat der Vater im Unterschied zu den beiden anderen göttlichen Hypostasen das eine göttliche Wesen, das die Gottheit des dreieinigen Gottes ist, »a seipso, tanquam fons et principium SS. Trinitatis« (§ 88). Darum ist er die »erste«, nicht gezeugte, noch aus irgendetwas hervorgehende Person der Trinität. Der Sohn dagegen ist die zweite, aus dem Vater ewig gezeugte, der Hl. Geist die dritte gehauchte göttliche Person. Die sich aus der realen Unterschiedenheit der trinitarischen Personen ergebende Tätigkeitsordnung, der ordo in operando, ist in der Hl. Schrift durch präpositionale Bestimmungen wie »aus«, »durch« oder »in« (vgl. Röm 11,36) angezeigt, aufgrund derer gesagt werden kann, alles sei a seu ex Patre (1. Kor 8,6), per Filium (Joh 1,3; 1. Kor 8,6; Hebr 1,2) und in Spiritu Sancto (2. Thess 2,13). Allerdings könne auch ein Tausch dieser Präpositionen stattfinden (vgl. 2. Kor 13,13; Apk 1,4 f), so dass ein dia dem Vater (1. Kor 1,9; Röm 6,4; Hebr 2,10), ein ek (Joh 16,15), en (Kol 1,14.16), eis (Kol 1,20) dem Sohn und ein en dem Vater und dem Sohn (Jud 1) zugewiesen werde. Daraus erhelle, dass die göttlichen Personen trotz ihrer wirklichen und wahrhaften Unterschiedenheit wesensgleich und in ihrem einigen Wesen weder dividierbar noch multiplizierbar seien; vielmehr habe infolge göttlicher Wesenseinheit ein einzigartiges gegenseitiges Einanderdurchdringen und Ineinander (perichoresis seu enhyparxis) statt, wodurch eine Person per modum consubstantialitatis gleichsam in der anderen ist: »est in alia« (§ 92 unter Verweis auf Joh 14,10; 17,21). Weitere Folgen der göttlichen Wesenseinheit sind die aequalitas personarum, dergemäß es unangemessen ist, Gottvater Gott katexochen zu nennen, die vollkommenste Gemeinsamkeit aller Wesensvollkommenheiten sowie die Selbigkeit der nach außen gerichteten Werke und Handlungsweisen,

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so dass die göttlichen Personen der Hl. Trinität dasselbe auf dieselbe Weise tun, wenngleich nicht in derselben Ordnung. Das Personsein des Vaters ist nach König durch seine hypostatische Eigenheit und seine personspezifischen Werke, also durch die proprietates ad intra und die proprietates ad extra bestimmt. Bei Letzteren handelt es sich um Schöpfung, Bewahrung und Lenkung, bei Ersteren in Bezug auf den Sohn um die generatio, die ewige Zeugung und um die missio, die zeitliche Sendung des Sohnes, in Bezug auf den Hl. Geist um die spiratio, die Hauchung und die missio, als die spezifische Geistsendung in der Zeit. Die proprietas characteristica ad extra des Sohnes ist die Erlösung des Menschengeschlechts, seine personale Eigenheit nach innen seine ewige Zeugung (gennesis), die eine doppelte Relation umfasst, nämlich die Beziehung auf die erste und auf die dritte Person der Gottheit. Auf die erste ist die zweite Person der Gottheit binnentrinitarisch durch Gezeugtsein bzw. generatio passiva bezogen, deren Folge die passive Sendung des Sohnes ins Fleisch ist, die mit der Fleischwerdung nicht unmittelbar gleichgesetzt werden darf, von der sie sich vielmehr unterscheidet wie etwas Vorangehendes von etwas Folgendem (§ 125: prius a posteriori). Was schließlich den Bezug der personalen Eigenheit des Sohnes zur dritten trinitarischen Person betrifft, so wird er durch sein spiratio activa genanntes opus ad intra hergestellt. Vater und Sohn bringen, so wird in Aufnahme und Bestätigung der westlichen Tradition gelehrt, durch Mitteilung des an Zahl einen und selben Wesens die dritte Person der Gottheit in einem unteilbaren und ewigen Akt auf unaussprechliche Weise hervor, woraus die Sendung des Hl. Geistes in der Zeit folgt. Sein opus ad extra, das seine personale Eigenheit nach außen bestimmt, ist die Heiligung. Nach innen besteht die personale Eigenheit des Hl. Geistes in der passiven Hauchung, also im Gehauchtsein, womit zugleich die pneumatologische Relation zu den beiden anderen Personen der Gottheit umschrieben ist. Diese Beziehung ist nur eine, weil die aktive Hauchung des Vaters und des Sohnes nur eine einzige ist. Die Stellung des Filioquethemas in der klassischen Dogmatik des konfessionellen Luthertums ist damit skizziert.9 9 Ob die Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands gut beraten war, sich auf die These einer gleichwesentlichen Beteiligung des Sohnes am ewigen Hervorgang des Hl. Geistes nach Maßgabe des anselmisch-florentinischen Modells festzulegen, ist von B. Oberdorfer, a.a.O., 545 – 553 mit Gründen bezweifelt worden. A.a.O., 525 ff finden sich informative Mitteilungen zu anderen kirchlichen Stellungnahmen aus neuerer Zeit wie zur Empfehlung der anglikanischen Lambeth-Konferenz von 1978 und der vatikanischen »Klarstellung« von 1995. Zu ökumenischen Memoranden wie dem »Bericht« von Klingenthal vgl. a.a.O., 511 ff. Der Bericht der Klingenthaler Konferenz findet sich in: L. Vischer (Hg.), Geist Gottes – Geist Christi. Ökumenische Überlegungen zur Filioque-Kontroverse, Frankfurt 1981 (Beih. z. ÖR 39), 9 – 23. Der Band enthält ferner Texte zu den historischen Aspekten der Thematik, zu den Entwicklungen in den verschiedenen Traditionen sowie zur aktuellen Debatte über das Hervorgehen des Geistes. Zum altkatholisch-orthodoxen Diskurs vgl. B. Oberdorfer, a.a.O., 296 ff.

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2. Biblische Grundlagen und geschichtliche Entwicklung christlicher Trinitätstheologie Weder die neutestamentlichen noch gar die alttestamentlichen Schriften enthalten eine explizite Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit. Doch nötigten die Aussagen, die das Neue Testament über das Verhältnis von Jesus Christus zu Gott und seinem Geist auf dem Hintergrund jüdischer Messianologie und zeitgenössischer Logosvorstellungen machte, zu Reflexionen, in deren folgerichtiger Konsequenz es zur Entstehung der Trinitätslehre kommen musste. Den direkten Ausgangspunkt trinitarischer Lehrformeln bot zumeist der biblische Taufbefehl Mt 28,19 und die Bezugnahme auf den »Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« im Konstitutionsakt des Christseins. Als innerer Bestimmungsgrund trinitarischer Reflexionen darf insbesondere die eigentümliche Personbeziehung gelten, die nach neutestamentlichem Zeugnis Jesus und Gott zur Vater-Sohn-Einheit verbindet. Damit die personale Relationseinheit gedanklich erfasst werde, die das Verhältnis des irdischen Jesus zu seinem göttlichen Vater prägte, um nach seinem Kreuzestod in österlicher Vollendung in Erscheinung zu treten, mussten theologische Erwägungen angestellt werden mit dem Ziel, die personale Beziehung zwischen Jesus und Gott als eine Relation zu verstehen, die in der Gottheit Gottes selbst ihren Grund hat. Wäre das Jesus-Gott-Verhältnis doch nur äußerlich wahrgenommen, wenn es nicht auf ein innergöttliches, zur Gottheit Gottes unveräußerlich gehörendes Verhältnis zurückgeführt würde, ohne dass Art, Modus und Reichweite einer solchen Rückführung bereits als geklärt gelten dürften. Schon im zweiten Klemensbrief wird gefordert, man müsse »über Christus so denken wie über Gott« (1,1). Doch bedurfte diese Aussage weiterer gedanklicher Differenzierung, um Fehlbestimmungen abzuwehren. Weder durfte das Verhältnis Jesu Christi zu Gott noch dasjenige, in dem Jesus als Christus zu sich selbst steht, als vermittlungslos unmittelbares in Anschlag gebracht werden, sollte den biblischen Befunden Rechnung getragen werden. Dem christologisch-theologischen Realisierungszusammenhang, welchen das Neue Testament bezeugt, ließ sich gedanklich nur durch ein in sich differenziertes Relationsgefüge Geltung verschaffen, das sowohl die Differenziertheit der Personeinheit Jesu Christi als auch die Differenziertheit der Zugehörigkeit der Person Jesu Christi zur Gottheit des einen Gottes angemessen zum Ausdruck brachte. Das christologisch-trinitarische Dogma der Alten Kirche ist das Ergebnis des langdauernden und mit erheblichem Streit verbundenen Bemühens, die skizzierte Aufgabe zu bewältigen. Dass dabei pneumatologische Aspekte nicht unberücksichtigt bleiben dürfen, war zeitig klar, obzwar die theologische Diskussion um die Stellung des Geistes erst verhältnismäßig spät zu klaren Ergebnissen führte. Die Dogmatisierung der Gottheit des von Vater und Sohn

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unterschiedenen und zugleich wesentlich mit ihnen vereinten Geistes konnte gegen den anhaltenden Widerstand der sog. Pneumatomachen erst 381 durchgesetzt werden. Auch dieser Entwicklung wird man ihr biblisches Recht nicht bestreiten können. Sowohl die johanneischen Parakletensprüche, die Identifikation Gottes als Geist in Joh 4,23 f oder die paulinischen Aussagen in 1. Kor 2,10 – 16 und 2. Kor 3,17a als auch die neutestamentlichen Zeugnisse von der pfingstlichen Geistsendung und der Gemeinde als dem pneumatischen Leib Christi erforderten es, sich gedankliche Klarheit über den theologischen Status des Geistes und sein Verhältnis zur Vater-Sohn-Beziehung zu verschaffen. Wie die Erscheinungen des auferstandenen Gekreuzigten die wesentliche Zugehörigkeit Jesu Christi zur Gottheit Gottes offenbar werden ließen, so veranlassten die Wirkungen des Heiligen Geistes, die Anteil gaben an der österlich manifesten Vater-Sohn-Gemeinschaft, mit innerer Notwendigkeit, die Wirklichkeit des Geistes theologisch zu begründen und die pneumatologisch eröffnete Beziehung auf ein innergöttliches Verhältnis zurückzuführen. Selbst der Tatsache, dass die pneumatologische Dimension der Trinitätslehre erst nach Wahrnehmung der christologischen entsprechende Reflexionsgestalt annahm, wird man ein theologisches Wahrheitsmoment nicht gänzlich bestreiten können, insofern der Geist zwar einerseits über die bloße Kenntnisnahme der irdischen Erscheinung Jesu himmelweit hinausführt und insofern als Möglichkeitsbedingung der Christologie fungiert, aber doch andererseits nicht mehr und nichts anderes als dasjenige erschließt, was im auferstandenen Gekreuzigten erschlossen ist. Es ist der Mittler selbst, welchen der Geist vermittelt, um Anteil zu geben an der in ihm offenbaren Vater-SohnGemeinschaft. Ohne den göttlichen Geist wäre der gekreuzigte Jesus nicht, was er ist, nämlich der erhöhte Christus. Doch behält sich der Geist nichts vor, was er nicht mit dem auferstandenen Gekreuzigten verbände, welcher alles, was er mit dem Vater gemeinsam hat, im Geist und durch ihn den Seinen zu geben bereit und gewillt ist. Es war Origenes (185 – 254; PG 11 – 17), der das durch die österliche Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten und das pfingstliche Christuszeugnis des Geistes geschichtlich erschlossene Gottesverhältnis des Neuen Bundes erstmals in spekulativer Reflexion konsequent als im innergöttlichen Sein begründet zu denken unternommen hat.10 Dieses Unternehmen war zweifellos dem hellenistischen Zeitgeist geschuldet, in dessen Kontext sich die 10 Das Verhältnis von Vater, Sohn und Geist wurde von Origenes als ein Beziehungszusammenhang dreier ewiger Hypostasen des einen Gottes aufgefasst. Näher bestimmt wurde dieser Zusammenhang namentlich durch präpositionale Wendungen: das mit dem Vater verbundene ek und hypo verweisen auf Ursprung und wirkende Ursache, die Wirklichkeit des Sohnes wird durch dia mit Genitiv medial und instrumental bestimmt, und die Sphäre des Geistes ist durch ein pneumatologisches en gekennzeichnet. Im Übrigen bleibt in der Trinitätslehre des Origenes sowohl in terminologischer als auch in sachlicher Hinsicht Vieles offen und klärungsbedürftig. (Vgl. etwa: P. Widdicombe, The Fatherhood of God from Origen to Athanasius, Oxford 1994.)

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christliche Verkündigung zu bewähren hatte. Es darf indes keineswegs einfachhin als dessen Produkt denunziert werden, sofern es in der Konsequenz eines um gedankliche Begründung seiner Aussagen bemühten christlichen Zeugnisses lag. Nicht um die Perspektive des christlichen Glaubens abzustreifen, sondern aus dessen Horizont heraus hat Origenes seine Trinitätslehre als Grundlagentheorie des Christentums entworfen. Ziel war es, das Erschließungsgeschehen christlichen Glaubens als Offenbarung Gottes selbst, nämlich als Selbstvergegenwärtigung des Vaters durch Christus im Heiligen Geist in der Weise dezidiert christlicher Gnosis zu erfassen. Das geschah nicht zuletzt in der Absicht, Gnosisgestalten abzuwehren, welche die Glaubensperspektive hinter sich zu lassen bestrebt waren. Diese Zielsetzung wurde von allen namhaften Theologen der Zeit im Grundsatz geteilt, auch von denen, die in spekulativer Hinsicht zurückhaltender waren als Origenes. Zum Streit kam es erst, als Arius unter Berufung auf die origenistische Lehre einer präkosmischen Stufenwelt immaterieller Geister dem Logos eine der Gottheit Gottes gegenüber graduell untergeordnete Stellung zuwies. Zwar lässt sich nicht behaupten, dass die Trinitätslehre des Origenes gegen den Schluss, den Arius aus ihr zog, hinreichend abgesichert war. Ebensowenig aber trifft es zu, dass sein trinitätstheologischer Gedanke einer ewigen Zeugung des Sohnes, mit der er die innertrinitarische Differenz bei strikter Wahrung der Einheit Gottes zum Ausdruck bringen wollte, subordinatianische Konsequenzen förmlich erzwang. Die durch den Begriff der »ewigen Zeugung« benannte Abkunftsbezeichnung, vermöge derer Origenes das innergöttliche Sein des Logos nach Maßgabe der biblisch bezeugten Vater-Sohn-Relation bestimmte, konnte durchaus im Sinne der späteren Orthodoxie gedeutet werden, die dann bekanntlich auch das hypostatische Sein des Geistes in der Trinität ursprungsbezüglich zu begründen suchte. Während Origenes sachlich gewillt war, die Zeugung des Sohnes als innergöttlichen Prozess von der Erschaffung einer in sich gestuften präkosmischen Geisterwelt abzusetzen, deutete der 336 verstorbene alexandrinische Presbyter Arius Zeugung als Schöpfungsvollzug und subordinierte auf diese Weise den geschaffenen Logos dem Schöpfergott, dem er im Interesse strikter Monotheismuswahrung die alleinige Gottheit vorbehielt. Die Bedeutung Jesu Christi als des inkarnierten Logos war damit als zweitrangig qualifiziert, die vorbehaltlose Selbsterschließung der Gottheit Gottes in ihm fraglich geworden. Zwar verehrten die Arianer Jesus Christus als ein vollkommenes Geschöpf, dessen Vollkommenheit als in keiner Weise steigerungsfähig und daher als durchaus singulär zu gelten hatte, nicht aber als wahren Gott von wahrem Gott, weil für Arius göttliches Zeugen und göttliches Erschaffen kategorial nicht zu unterscheiden waren. Nicht zuletzt wegen ihrer soteriologisch ruinösen Folgen wurde die arianische Lehre auf dem Konzil von Nizäa 325 einmütig verworfen. Damit war entschieden, dass die Zeugung des Sohnes von geschöpflichem Entstehen

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kategorisch zu differenzieren und strikt als ein innergöttliches Abkunftsverhältnis zu bestimmen sei. Christus ist Gott aus Gott. Offen blieb, wie das Verhältnis von Einheit und Differenz des ungezeugten Vaters und des gezeugten Sohnes genau bestimmt werden sollte. Denn durch die Abweisung der arianischen Gleichsetzung von göttlichem Zeugen und göttlichem Erschaffen und durch die strikte Betonung der Wesenseinheit von Vater und Sohn war noch nicht geklärt, wie die innergöttlichen Differenzierungen unter Wahrung der wesentlichen Einheit Gottes und der vollen Gottheit der differenten »Größen« zu denken sei. Hier waren weitere Theorieanstrengungen erforderlich, bis sich mit der begrifflichen Ausdifferenzierung des Zusammenhangs von Wesen und Hypostasen und der Benennung der hypostasenkonstituierenden Merkmale die endgültige Struktur der orthodoxen Trinitätslehre abzeichnete. Neben Athanasius von Alexandrien (um 295 – 373; PG 25 – 28) haben die erforderliche Präzisierungsleistung namentlich die drei großen Kappadozier Basilius von Caesarea, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa unter bewusster Bindung an den neutestamentlichen Sprachgebrauch erbracht.11 Ba11 Zur Frage »Gibt es eine einheitliche ›kappadozische Trinitätstheologie‹?« vgl. die vorläufigen Erwägungen zur Einheit und Differenz neunizänischer Theologie von Chr. Markschies, in: W. Härle/R. Preul (Hg.), Trinität, Marburg 1988, 51 – 94; vgl. ders., »… et tamen non tres Dii, sed unus Deus …« Zum Stand der Erforschung der altkirchlichen Trinitätstheologie, in: a.a.O., 155 – 189. Zur Bezeichnung der Hervorbringungs- bzw. Abkunftsbeziehung, durch welche der innertrinitarische Unterschied von Vater und Sohn bestimmt sein sollte, hatte sich seit Origenes der biblische Terminus »Zeugung« eingebürgert. Daran schloss das Nizänum von 325 an (vgl. DH 125 f), wobei es in antiarianischer Absicht die Zeugung des Sohnes aus dem Vater als ewige verstand und dezidiert vom Werden der Geschöpfe unterschied. Als ungeschaffener Einziggeborener aus dem Vater gezeugt ist der Sohn aus dem Wesen des Vaters und diesem wesensgleich. Wie die Stellung des Hl. Geistes zu denken sei, blieb einstweilen unerörtert. Einen ersten Schritt zur Lösung des pneumatologischen Problems erbrachte die fortschreitende Differenzierung der Begriffe ousia und hypostasis, die im Nizänum noch identifiziert wurden. Athanasius hat diese Differenzierung zwar nicht ausdrücklich vorgenommen, aber akzeptiert, um im Übrigen die Unaussprechlichkeit des göttlichen Geheimnisses zu betonen und die innergöttliche Dreiheit mit dem im Taufbefehl genannten Namen von Vater, Sohn und Hl. Geist lediglich zu umschreiben. Auch die drei großen Kappadozier teilten die apophatische Tendenz des Athanasius, ohne sich freilich dessen begriffliche Zurückhaltung aufzuerlegen. Durch Basilius von Caesarea wurde die Unterscheidung von Wesen und Hypostase sowie die Wendung mia ousia – treis hypostaseis terminologisch etabliert. Als hypostatische Eigenschaft wurde dem Vater die ewige Zeugung oder Vaterschaft, dem Sohn das ewige Gezeugtsein oder die Sohnschaft zugedacht, wohingegen die hypostatische Seinsweise des Geistes bei entschiedener Betonung seiner gleichwesentlichen Gottheit als unsagbar bezeichnet wurde. Erst bei Gregor von Nazianz findet sich für die personkonstituierende Eigenschaft der Geisthypostase der Begriff der ekporeusis, des Hervorgangs. Er ist aus Joh 15,26 abgeleitet, wo Christus spricht: »Wenn aber der Paraklet kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater (para tou patros), der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht (para tou patros ekporeuetai), dann wird er Zeugnis für mich ablegen.« Gregor der Theologe war es zugleich, der den Terminus schesis als Oberbegriff für die mit Ungezeugtsein, Gezeugtsein und Hervorgegangensein bezeichneten hypostatischen Unterscheidungsmerkmale einführte, ohne damit allerdings weitreichende systematische Ansprüche zu verbinden.

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silius (ca. 329 – 379; PG 29 – 32) entwickelte die nötigen Differenzierungen zum Zwecke einer begriffsklaren Unterscheidung des einen Wesens Gottes von den drei göttlichen Hypostasen, deren Eigenschaftsmerkmale bei jeweils vollwesentlicher Gottheit er im Anschluss an die geoffenbarten göttlichen Namen als Vaterschaft, Sohnschaft und Heiligung bestimmte, wobei ihm namentlich die Weise des Existierens des Geistes als ein unaussprechliches Geheimnis galt. Gregor von Nazianz (gest. 390; PG 35 – 38) formulierte mit Ungezeugtsein des Vaters, Gezeugtsein des Sohnes und Hervorgang (ekporeusis) des Geistes (vgl. Joh. 15,26) die klassisch werdende Begrifflichkeit für die eigenschaftskonstitutiven Merkmale der göttlichen Hypostasen, deren Beziehung untereinander er allgemein schesis nennen konnte, ohne deshalb die jeweils konkrete und in ihrer göttlichen Unvergleichlichkeit singuläre Eigenbestimmtheit der Hypostasen einem generalisierenden Relationsbegriff subsumieren zu wollen. Gregor von Nyssa (331/40 – ca. 395; PG 44 – 46) schließlich präzisierte die mit der Behauptung von Sohneszeugung und Geisthervorgang gegebene Annahme zweier innergöttlicher Hervorbringungen, welche das Verhältnis von Sohn und Geist zu indifferenzieren drohte, durch die Bezeichnung des Sohnes als des Einziggezeugten und den Hinweis, dass der Hervorgang des Geistes aus dem Vater durch den Sohn erfolge. Der Gedanke einer mediatisierenden Koprinzipialität des Sohnes beim innergöttlichen Hervorgang des Geistes, wie ihn die lateinische Lehre später mit dem »Filioque« assoziierte, ist beim Nyssener damit allerdings nicht verbunden. Innergöttliche Ursächlichkeit eignet allein dem Vater, wohingegen Sohn und Geist innergöttlich verursacht, nicht aber verursachend sind. Das beiden eigene innergöttliche Verursachtsein, das sie von der Hypostase des Vaters hypostatisch unterscheidet, begründet gleichwohl ein jeweiliges Eigensein des Sohnes und des Geistes, sofern die innergöttliche Verursachung von ersterem unmittelbar durch Zeugung, diejenige von letzterem aber durch eine väterliche Hervorbringung geschieht, die durch den Sohn als dem, wie es heißt, unmittelbar aus dem Ersten Stammenden vermittelt ist. An der Frage, worin die Mittlerschaft des Sohnes beim innergöttlichen Hervorgang des Geistes aus dem Vater genau besteht, konnte sich, wie angedeutet, der nachmalige Streit um das Filioqueproblem entzünden. Warum dieser Streit Dimensionen angenommen hat, die über Konflikte bezüglich eines dogmatischen Spezialthemas weit hinausreichen, lässt sich nur aus der weiteren Entwicklung ostkirchlicher und westkirchlicher Tradition und ihren Auswirkungen auf die Rezeption der altkirchlichen Trinitätslehre erklären, noch nicht aus den trinitätstheologischen Bestimmungen der drei großen Kappadozier, welche die begriffliche Basis für die Entscheidungen der Ökumenischen Synode von 381 erschlossen.12 12 Auch Gregor von Nyssa, der philosophisch Gebildetste unter den drei großen Kappadoziern, wollte das Geheimnis der Hl. Trinität nicht spekulativ aufheben, sondern apophatischer Theologe bleiben. Aus antipneumatomachischen Gründen sah er sich dennoch veranlasst, die

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Biblische Grundlagen und geschichtliche Entwicklung

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Ungeachtet der schwierigen historischen Probleme, welche das Nizänokonstantinopolitanische Bekenntnis aufgibt, dessen Text erst durch die Akten des Konzils von Chalcedon 451 bezeugt ist, besteht kein durchschlagender Grund, es dem Konzil von Konstantinopel abzusprechen. Was sein Verhältnis zum Nizänum angeht, so betrifft der hauptsächliche Unterschied den dritten Artikel. Im Übrigen stellt das Symbol eine Ergänzung des Textes von 325 dar. Das nizänische Bekenntnis zur Homousie von Vater und Sohn wird aufgenommen und durch das Zeugnis vom Heiligen Geist erweitert, »der Herr (kyrios) ist und lebendig macht, der aus dem Vater hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohne (zusammen) angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten«. Zwar fehlt ein ausdrückliches Bekenntnis zur Homousie und Gottheit des Heiligen Geistes. Doch implizit ist es gegeben. Dies belegt der »Tomos« zur Trinitätslehre, der zwar im Wortlaut nicht erhalten, aber inhaltlich aus dem offiziellen Sendschreiben der erneut in Konstantinopel tagenden Nachfolgesynode von 382 erschließbar ist. Er lehrt im Anschluss an die nizänische Konzilsentscheidung den Glauben einer Gottheit, einer Macht und einer Wesenheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, die drei ganz vollkommene Hypostasen oder Personen (prosopa) von gleicher Ehre, Würde und gleichewiger Herrschaft sind. Der erste der Kanones vom 9. Juli 381 unterstreicht diese Aussage, indem er die Anathematisierung der Häresien der Eunomianer bzw. der Anhomöer, der Arianer bzw. Eudoxianer, der Semiarianer oder Pneumatomachen, der Sabellianer, der Marcellianer, der Photinianer und der Apollinaristen bekräftigt (vgl. DH 151). Unterscheidung von Sohn und Geist dadurch zu präzisieren, dass er die Monogenese des Sohnes betont herausstellte und den ewigen Hervorgang des Geistes von der ewigen Zeugung des Einziggeborenen als unverwechselbar abhob, indem er ihn »durch den Sohn« geschehen sein ließ. Damit sollte nicht in Abrede gestellt werden, dass allein dem Vater innergöttliche Ursächlichkeit eignet. Sohn und Geist sind beide als von der ersten trinitarischen Person verursacht zu bestimmen. Gleichwohl sind sie untereinander nicht ununterschieden, insofern sie sich hypostatisch dadurch differenzieren, dass der Sohn unmittelbar, der Geist aber auf vermittelte Weise, nämlich durch den Sohn vom Vater hervorgebracht wird. Wie die Hl. Schrift bezeugt: Der Geist ist aus dem Vater (1. Kor 2,12: to pneuma to ek tou theou) und Geist Christi (Röm 8,9: pneuma Christou). Wie man die mediatorische Funktion des Sohnes beim Hervorgang des Geistes im Sinne Gregors von Nyssa genau zu verstehen hat, ist in der Forschung umstritten (vgl. W. Jaeger, Gregor v. Nyssas Lehre vom Heiligen Geist, Leiden 1966). Umstritten ist auch, ob das Fehlen der Wendung »durch den Sohn« im Nizänokonstantinopolitanum als bewusster Ausschluss einer Beteiligung des Sohnes am Hervorgang und Seinsempfang des Geistes zu deuten ist. Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, nehmen die Auseinandersetzungen um die Filioquethematik sowohl unterschiedliche Gestalt als auch unterschiedlichen Gehalt an. Verständigungen dürften sich am ehesten dann erreichen lassen, wenn man Alternativen nach Möglichkeit vermeidet. Muss auf der Textbasis des nizänokonstantinopolitanischen Symbols ostkirchlicherseits vom Hervorgang des Hl. Geistes gelehrt werden, dass er vom Vater allein in dem Sinne verursacht ist, dass jede Mitwirkung des Sohnes ausgeschlossen ist? Geht der Geist vom Vater ohne den Sohn aus? Ist umgekehrt für die westkirchliche Seite die Annahme zwingend, das Filioque sei eine schlechterdings notwendige und unter allen Umständen unverzichtbare Klarstellung des trinitarischen Dogmas?

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

3. Das Filioque als Implikat westlicher Trinitätskonzeptionen Mit dem Bekenntis des Konzils von Konstantinopel 381 war nicht nur der sog. arianische Streit beendet, der in Wirklichkeit aus einer Vielzahl von Streitigkeiten bestand, sondern auch ein Abschluss trinitarischer Lehrbildung erreicht, der bis in die Neuzeit in den Kirchen sowohl des Ostens als auch des Westens verbindliche Grundlage der Theologie blieb. Erst die Antitrinitarier des 16. Jahrhunderts beschränkten sich nicht auf Modifikationen in der Auslegung, sondern starteten einen Frontalangriff auf das altkirchliche Dogma und die autoritative Trinitätslehre der Kirche. Einige von ihnen zahlten dafür mit ihrem Leben, um dann allerdings in der Moderne auch unter Theologen zahlreiche Anhänger zu finden. Bis ins 16. Jahrhundert blieb das trinitarische Dogma der Alten Kirche jedenfalls insofern unumstritten, als man im Westen wie im Osten Wert darauf legte, auf der unverrückten Basis der Konzilien von Nizäa und Konstantinopel zu stehen; die Reformation machte hierin keine Ausnahme. Der seit langem im Gange befindliche Filioquestreit änderte an dieser Selbsteinschätzung nichts, weil man nicht nur auf der einen, der östlichen, sondern auch auf der anderen, der westlichen Seite überzeugt war, in sachlicher Übereinstimmung mit dem altkirchlichen Trinitätsdogma zu stehen. Historisch geurteilt ist diese Annahme nicht einfach unplausibel, da von einem dezidierten Ausschluss der Beteiligung des Sohnes am Hervorgang des Geistes in Bezug auf das Nizänokonstantinopolitanum schwerlich die Rede sein kann. Das Filioque scheint nicht deshalb zu fehlen, weil es ausgeschlossen werden sollte, sondern weil offenbar weder seine Affirmation noch seine Negation im Horizont der Konzilsväter lag. Am Inhalt des Nizänokonstantinopolitanum hat der Streit um das Filioque abgesehen von der Frage, ob ein späterer Zusatz zu einem als sakrosankt erachteten Text legitim sein kann, wenn überhaupt, dann nur einen sehr bedingten Anhalt. Dies legt die Vermutung nahe, der Filioquestreit sei im Wesentlichen durch außertheologische Faktoren verursacht worden. Völlig abwegig ist diese Vermutung, wie bereits angezeigt, nicht. Doch darf die Bedeutung theologischer Gründe nicht übersehen werden, die sich allerdings nicht auf ein Detailproblem beschränken lassen, sondern die Gesamtentwicklungen betreffen, welche die Theologien in Ost und West ab einem gewissen, nur schwer präzise bestimmbaren Zeitpunkt genommen haben. Die Entfremdung trat nicht auf einen Schlag, sondern allmählich ein, um dann seit dem Unheilsjahr 1204 bis auf Weiteres definitiv zu werden. Für die Begriffsbildung im lateinischen Westen hat Tertullian auch in trinitätstheologischer Hinsicht Grundlegendes geleistet. Die Gottheit Gottes und das Vater, Sohn und Hl. Geist gemeinsame Gottsein kennzeichnete er mit dem Begriff der Substanz als der Wesensgrundlage eines Seienden, auf dem einzelne Wesensmerkmale und Eigenschaften aufbauen können. Den Begriff der

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Das Filioque als Implikat westlicher Trinitätskonzeptionen

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Person hinwiederum, der ein Singuläres mit konkret unterscheidbaren Eigentümlichkeiten bezeichnet, wendete er auf die göttlichen Hypostasen an.13 Novatian, Hilarius von Poitiers und Ambrosius schlossen sich an diese Terminologie an, wohingegen die neuplatonische Trinitätslehre von Marius Victorinus die Formel »una substantia, tres subsistentiae« bevorzugte. Sowohl im Osten als auch im Westen waren die trinitätstheologischen Terminologien geraume Zeit noch relativ flexibel. Eine klar konturierte Basis, auf der die lateinische Theologie des Westens ihre Trinitätskonzeptionen aufbauen konnte, bildete erst Augustinus (354 – 430; PL 32 – 46)14 aus. Indem 13 Zum Gebrauch des Personbegriffs in der gegenwärtigen Trinitätstheologie vgl. H. Hoping, Deus Trinitas. Zur Hermeneutik trinitarischer Gottesrede, in: M. Strieth (Hg.), Monotheismus Israesl und christlicher Trinitätsglaube, Freiburg/Basel/Wien 2008, 128 – 154, bes. 136 ff. 14 Eine kritische Bilanz der Forschung, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu Augustins Trinitätslehre geleistet wurde, bietet R. Kany (Augustins Trinitätsdenken; vgl. Anm. 1). Er geht u. a. sehr ausführlich auf die Textgeschichte, Entstehungschronologie sowie auf Quellen, Einflüsse und Gegner des Werkes »De trinitate« ein. (Zu Augustins Trinitätslehre außerhalb von »De trinitate« vgl. 395 – 310.) Mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit lässt sich sagen, »dass ›De trinitate‹ um 399 begonnen und zwischen 420 und 424 beendet worden ist« (46). Die griechische Patristik (Irenäus, Sextussentenzen, Origenes, Eusebius von Caesarea, Athanasius, Markell, Basilius von Caesarea, Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa, Didymus) ist ebenso präsent wie die lateinische (Tertullian, Novatian, Hilarius von Poitiers, Marius Victorinus, Gregor von Elvira, Ambroisaster, Ambrosius). Unter dem paganen Schrifttum, das für Augustins Trinitätsdenken einflussreich wurde, ragen die Texte der Neuplatoniker Plotin und Porphyrios hervor, deren Ternare bzw. Triaden von Augustin allerdings keineswegs unkritisch rezipiert wurden. (Näheres zur philosophie- und geistesgeschichtlichen Einordnung von »De trinitate«, zu den hermeneutischen, sprachphilosophischen und erkenntnistheoretischen Implikationen des Werkes, seiner trinitarischen Ontologie und Logik sowie der Theorie des selbstreflexiven menschlichen Geistes findet sich bei Kany, 247 – 294; Augustins Trinitätslehre in dogmengeschichtlicher Sicht [F.C. Baur, A. v. Harnack und Nachfolger, katholische Darstellungen] ist 311 – 330 behandelt.) Der entscheidende Wert der Untersuchung von Kany besteht darin, einen umfassenden Überblick über die Gesamtdarstellungen von Augustins Trinitätslehre (131 – 180) sowie zu Studien zu geben, die einzelne ihrer Aspekte behandeln (181 – 246). Von besonderem systematischen Interesse sind die Forschungen zur Augustinischen Verwendung der Begriffe substantia, essentia, subsistentia, hypostasis, persona sowie relatio im Kontext der Auseinandersetzung mit der sog. neunizänischen Trinitätslehre (Kany, 198 – 210). Dass der Relationsbegriff bei Augustin »nicht aus einer genaueren kategorientheoretischen oder ontologischen Reflexion heraus entwickelt«, sondern nur eingeführt wurde, »um ein sonst schwer widerlegbares Argument für die Substanzverschiedenheit von Gott dem Vater und dem Sohn unschädlich zu machen« (Kany, 201: »Fast könnte man meinen, die Einführung des Relationsbegriffs sei einem Griff in die argumentative Trickkiste des gelernten Rhetorikprofessors geschuldet.« [Ebd.]), ist trotz der großen Wirkungsgeschichte der sog. relationalen Trinitätslehre nicht leicht von der Hand zu weisen. Sehr lehrreich und erhellend sind Kanys Ausführungen zur Augustinischen Pneumatologie und zum filioque-Problem (216 – 227). Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang vor allem das Verhältnis des griechischen Begriffs ekporeusis zum lateinischen processio bei Augustin sowie seine These, dass der Geist zwar nicht allein bei der zeitlichen Sendung, sondern innergöttlich vom Vater und vom Sohne, vom Vater aber principialiter ausgehe. Angesichts der in diesen Fragen in hohem Maße widersprüchlichen Augustininterpretation ist Zurückhaltung geboten, um keine Pauschalurteile zu produzieren. Dies betrifft auch den häufig vorgebrachten Vorwurf, Augustin habe die von den griechischen Vätern gewiesene heilsgeschichtliche Sicht verlassen,

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

er die Relationskategorie anders als Aristoteles nicht dem Veränderlichen an einem Gegenstand zurechnete, sondern mit einem Status zwischen Substanz und Akzidenzien versah, eröffnete er die Möglichkeit, beziehungsweise Hypostasenunterschiede in Gott zu denken, die von nichtakzidenteller Art sind, ohne doch die wesentliche Einheit Gottes zu gefährden. Die wesensgleichen trinitarischen Hypostasen bestimmen sich wechselseitig und sind die Person, welche sie an sich selbst sind, durch die Beziehung zu den beiden jeweils anderen göttlichen Personen, mit denen sie eines Wesens sind, ohne sie doch unmittelbar selbst zu sein. Die Vaterschaft des Vaters ist durch Relation zum Sohn, welchen er ewig zeugt, und durch den Geist, den er ewig haucht, die Sohnschaft des Sohnes durch das väterliche Gezeugtsein von Ewigkeit her sowie durch die conspiratio des Geistes bestimmt, dessen hypostatische Subsistenz wiederum durch Hervorgang bzw. Gehauchtsein gegeben ist. Weil nach Augustin für das Sein des Geistes nicht nur die Relation zum Vater, sondern auch diejenige zum Sohn konstitutiv ist, muss der Geist gemäß seinem Urteil nicht nur vom Vater, sondern vom Vater und vom Sohn zugleich, wenn auch nicht gleichermaßen seinen Ausgang nehmen. Der Hervorgang des Geistes geschieht zwar aus Vater und Sohn, jedoch unter Voraussetzung und in Bestätigung dessen, was für die Vater-Sohn-Relation gilt. Vom Vater geht der Geist als von demjenigen aus, der als der Ungezeugte den eingeborenen Sohn ewig gezeugt, vom Sohn als von demjenigen, der als vom Vater gezeugt in diesem seinen ewigen Grund hat. Die Prinzipialität des Sohnes beim Hervorgang des Geistes ist daher nicht von der gleichen Unmittelbarkeit wie die des Vaters, sondern eine mediatorische Mitprinzipialität, die der göttlichen

»die von den Personen und nicht von der Einheit des trinitarischen Gottes ausgehe« (225): »Die vermeintliche Opposition griechischer und lateinischer Trinitätslehre ist jedenfalls ein Klischee, das ein angemessenes Verständnis von Augustins De trinitate verhindert.« (330; zur Wirkungsgeschichte des Werkes in den Kirchen des Ostens und Westens vgl. 331 ff) Wie nachhaltig die traditionelle Theorie vom Gegensatz östlicher und westlicher Trinitätslehre trotz ihrer Fragwürdigkeit auf die Augustindeutung eingewirkt hat, hat Kany am Beispiel modernern Augustinkritik bei Karl Barth, Karl Rahner, Hans Urs von Balthasar, Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg belegt (vgl. 364 – 381). Inwiefern Kanys Metakritik und eigene Deutung von Krise und Neubeginn des Trinitätsdenkens in Augustins »De trinitate« eine Lösung zu bieten vermag, steht hier nicht zur Debatte. Kany zufolge ist die von Augustin vollzogene Kopernikanische Wende trinitarischen Denkens durch die Einsicht vermittelt, dass der dreieinige Gott als absoluter Grund alles dessen, was ist, nicht wie innerweltliche Sachverhalte, sondern nur modo interiore, also auf eine Weise begriffen werden kann, die ihn als Bedingung der Möglichkeit nicht nur von Sein, sondern auch von Bewusstsein und Selbstbewusstsein wahrzunehmen vermöge. Ursprünglich verbunden ist diese Einsicht nach Kany mit der Augustinischen Entdeckung, dass Selbstbewusstsein strukturell se nosse und se cogitare in einem, also präreflexive Selbstpräsenz im Sinne unmittelbaren Vertrautseins mit sich und reflexive Differenzeinheit sei. Entsprechend müsse es auf keinen notwendigen Widerspruch hinauslaufen, in Gott als dem transzendentalen Grund menschlicher Subjektivität, unmittelbare Wesensidentität und hypostatische Differenz als eins und mithin den absolut Einen trinitarisch zu denken.

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Wesenseinheit geschuldet ist, ohne deshalb den Vater als Quelle der Gottheit zu negieren. Ziel der gesamten trinitätstheologischen Begriffsanstrengungen Augustins war es, den relational begründeten Selbst- und Gegenüberstand der göttlichen Hypostasen mit der Einheit ihres Wesens dergestalt zusammenzudenken, dass die Einzigkeit des einen Gottes und seine hypostatische Dreiheit in der dreieinigkeitstheologisch gebotenen Weise zugleich in Geltung stehen. Man wird annehmen dürfen, dass Augustins Trinitätslehre das Gefühl für die Unbegreiflichkeit seines Gegenstandes nicht abging. Die in Anschlag gebrachten Trinitätsanalogien aus der kreatürlichen Sphäre stehen zu dieser Annahme nicht in Widerspruch und zwar einschließlich derjenigen, die auf den menschlichen Geist in der selbstreferentiellen Beziehung von mens, notitia und amor oder von memoria, intellectus und voluntas bezogen sind. Weder ist der menschliche Geist von sich aus in der Lage, den dreieinigen Gott zu erkennen, noch ist seine strukturelle Selbstreferentialität das Muster, nach dem die Trinitätslehre zu entwickeln ist. Als innerer Bestimmungsgrund des zur Gottebenbildlichkeit bestimmten Menschen kann der menschliche Geist selbst unter prälapsarischen Bedingungen nur als ein Abbild des trinitarischen Urbilds gelten, das von diesem her zu begreifen ist, statt mit dem Anspruch einer Fundierung der Trinitätstheologie versehen werden zu können. In der scholastischen Theologie des westlichen Mittelalters zeichnet sich eine Tendenz zur fortschreitenden Formalisierung des trinitätstheologischen Ansatzes von Augustin ab. Deutlich erkennbar wird dies bereits bei Anselm von Canterbury (1033/4 – 1109), besonders in seinem »Monologion«. Speziell der Filioquethematik ist Anselms Schrift »De processione Spiritus Sancti«15 gewidmet, in der er den Hervorgang des Geistes aus Vater und Sohn zu einem Gegenstand notwendiger Vernunfteinsicht erklärt. Für die Argumentation grundlegend ist das trinitätstheologische Axiom vom Gegenüberstand der göttlichen Hypostasen in Ursprungsrelationen. Untereinander und von dem ihnen gemeinsamen Wesen sind die Personen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes durch die Relationalität unterschieden, die ihnen in je spezifischer Weise eignet. Ursprungsverhältnisse bestimmen ihre hypostatische Subsistenz, also dasjenige, was sie dasjenige sein lässt, was sie sind. Das Sein der göttlichen Personen ist »esse in et de aliquo«. Jede ist Gott von Gott, aber sie ist es je für sich. Dies ist deshalb der Fall, weil die Ursprungsverhältnisse, in denen sie zueinander stehen, je bestimmte sind. Nun gibt es aber traditionsgemäß nur zwei kategoriale Bestimmtheitsweisen der innergöttlichen Ursprungsverhältnisse, nasci und procedere. Vater und

15 Anselm von Canterbury, Opera omnia. Hg. v. F. Schmitt OSB, Tomus I, Vol. II, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, 175 – 219.

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Sohn sind, wenn man so will, zeugungsmäßig, Vater und Geist ausgangsmäßig unterschieden. Sohn und Geist aber könnten nicht unterschieden werden, »ubi non obviat aliqua relationis oppositio«16, wenn nicht auch zwischen ihnen eine Relation von Art des »esse in aliquo«, also ein »deo de deo«-Verhältnis bestünde. Würde der Sohn »de spiritu« sein, dann wäre der Geist entweder der Zeuger, also der Vater des Sohnes, oder dessen Haucher und Sender mit der Folge, dass der Sohn als Geist des Geistes gelten müsste. Beides ist nach Anselm erkenntlich absurd. So verbleibt nach seinem Urteil vernünftigerweise nur die Möglichkeit, dass der Hl. Geist wie vom Vater, so auch vom Sohn ist, nämlich hervorgehend, womit die Denknotwendigkeit des Filioque feststehe. Erörterungsbedürftig bleibt, ob Anselm seinen »Beweis« tatsächlich sola ratione und im streng apriorischen Sinn zu geben suchte. In der an ihn anschließenden hochscholastischen Trinitätstheologie ist dieser Anspruch jedenfalls aufgegeben worden, so sehr man ansonsten am Anselmschen Axiom vom Gegenüberstand der göttlichen Personen in einsinnigen Ursprungsverhältnissen festhielt. Entsprechendes gilt für die einschlägigen kirchenamtlichen Lehrentscheidungen. Die Konstitution über die höchste Dreifaltigkeit und den katholischen Glauben des 2. Konzils von Lyon 1274 belegt alle mit dem Anathem, die leugnen, dass der Hl. Geist von Ewigkeit her aus dem Vater und dem Sohn hervorgehe, oder behaupten, der Hl. Geist gehe aus dem Vater und dem Sohne als aus zwei Prinzipien und nicht als aus einem hervor. Affirmativ heißt dies, dass der Geist zwar aus dem Vater und dem Sohn, aber nicht als aus zwei, sondern als aus einem Prinzip (DH 850: »tanquam ex uno principio«) hervorgeht, dass nicht etwa mit zwei Hauchungen, sondern mit nur einer zu rechnen ist. Entsprechend dekretiert die sog. Unionserklärung »Laetuntur caeli« des Konzils von Florenz 1439, »quod Spiritus Sanctus ex Patre et Filio aeternaliter est, et essentiam suam suumque esse subsistens habet ex Patre simul et Filio, et ex utroque aeternaliter tamquam ab uno principio et unica spiratione procedit« (DH 1300). Damit sei, so wird hinzugefügt, der Tendenz nach nichts anderes zum Ausdruck gebracht als dasjenige, was der überkommenen Väterformel inbegriffen sei, wonach der Geist aus dem Vater durch den Sohn (ex Patre per Filium) hervorgehe. Denn dadurch sei angezeigt, »Filium quoque esse secundum Graecos quidem causam, secundum Latinos vero principium subsistentiae Spiritus Sancti, sicut et Patrem« (DH 1301). Die Mitkausalität und Koprinzipialität des Sohnes beim ewigen Hervorgang des Geistes wird also definitiv gelehrt. Zugleich wird gesagt, dass der Sohn eben dies, dass der Geist aus ihm hervorgeht, vom Vater her hat, von welchem er von Ewigkeit her gezeugt ist. Alles, was des Vaters ist, ist außer dem Vatersein dem Sohn als das Seine gegeben. Darin ist das »Filioque« im Entscheidenden gegründet, dessen Beifügung zum Bekenntnis als »licite ac rationaliter« (DH 1302) geschehen zu 16 A.a.O., 181.

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qualifizieren sei. Zu vermerken ist, dass im Florentiner Dekret für die Jakobiten von 1442 »Cantate Domino« ausdrücklich auf das grundlegende Axiom der Trinitätstheologie Anselms zurückgegriffen wird, wonach in Gott alles eins sei, »ubi non obviat relationis oppositio« (DH 1330), wo sich keine Gegensätzlichkeit der Beziehung entgegenstellt. Wichtiger noch als Anselms Einfluss auf die trinitätstheologische Lehrentwicklung der lateinischen Kirche war zweifellos diejenige des Thomas von Aquin (1224/5 – 1274). Weil er auch im Hinblick auf die Trinitätslehre im Westen normative Bedeutung gewonnen hat, sei seine systematische Position als paradigmatisches Fallbeispiel ausgereifter scholastischer Trinitätstheologie im okzidentalen Mittelalter ausgewählt. Die trinitätstheologischen Überlegungen des Aquinaten (vgl. STh I q. XXVII-XLIII; ScG IV, II-XXVI) basieren auf einer Erörterung der innergöttlichen Hervorgänge (processiones), wobei zunächst das Geheimnis der göttlichen Zeugung und damit Vaterschaft und Sohnschaft Gottes bedacht werden. Gegen Photinus, Sabellius und Arius wird als klares Schriftzeugnis de generatione divina geltend gemacht, dass Vater und Sohn ein Gott sind und dass sie eine Wesenheit oder Natur besitzen, obwohl sie als Personen verschieden sind. Der Sohn ist dem Vater mithin in allem gleichgestellt und gleichewig wie er, weder geschaffen, noch gemacht, wohl aber gezeugt und in seinem Gezeugtsein personal unterschieden von seinem väterlichen Zeuger, aus dem er in der Weise der generatio hervorgeht. Die rationes contra generationem et processionem divinam, also die Vernunftgründe, die gegen die göttliche Zeugung und den innergöttlichen Hervorgang des Sohnes aus dem Vater zu sprechen scheinen, sind nach Thomas im Wesentlichen ein Reflex der Abwehr, welchen die Annahme, dass sich zwei Dinge dem Zugrundeliegenden nach unterscheiden und dennoch einer Wesenheit sind (ScG IV, cap. X: ut aliqua duo suppositio distinquantur et tamen eorum sit una essentia), in einer von den geschöpflichen Eigenschaften ausgehenden menschlichen Vernunft hervorrufen muss. Eine Wesenseinheit verschiedener Personen bzw. eine personale Verschiedenheit bei gegebener Einheit des Wesens lässt sich in der irdischen Welt nicht in Erfahrung bringen und muss einer auf natürliche Einsicht beschränkten Vernunft daher als irrational erscheinen. In seiner Auseinandersetzung mit dieser Auffassung behauptet Thomas nicht die rationale Zugänglichkeit des Geheimnisses der Trinität; er bestreitet aber die Behauptung einer Irrationalität des trinitarischen Gedankens, dessen begriffliche Denkbarkeit er unter der Voraussetzung der unausdenkbaren Selbsterschließung des Geheimnisses Gottes in seiner Unbegreiflichkeit, wie sie in der Offenbarung statthat und im Glauben wahrgenommen wird, dezidiert gegen die Argumente des Unglaubens verteidigt. Die Denkbarkeit des trinitarischen Geheimnisses – wenn auch nicht der reale Begriff von dessen intelligibler Wirklichkeit selbst – ist nach Thomas insonderheit der rational gewonnenen Erkenntnis der in Erkennen und Wollen wirksamen Geistigkeit Gottes implizit, welcher die göttliche Liebe und das göttliche Leben entsprechen.

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

Gott ist reiner und in seiner Reinheit sich selbst erkennender und wollender Geist. Dieser Grundsatz ist das Fundament der Verteidigung der Denkbarkeit des trinitarischen Geheimnisses gegen die Argumente der Gegner, die dessen Irrationalität und Unvernünftigkeit behaupten. Denke man, so Thomas, die innergöttliche processio des Sohnes aus dem Vater analog zum Hervorgang der Vorstellung des Erkannten im Intellekt, so sei deren Denkbarkeit einsichtig. Dementsprechend und in der Konsequenz angenommener Plausibilität dieser Analogie kann der Aquinate den Sohn mit der intentio intellecta, mit dem im Erkennen hervorgebrachten Begriff Gottes von sich selbst assoziieren und ihn gemäß biblischer Tradition den Logos, die Weisheit oder das Wort Gottes nennen. Dabei ist stets vorausgesetzt, dass in Gottes Geist anders als im sinnlich beschränkten Geist des Menschen Erkennender, Erkannter und Erkenntnis wesentlich eins und dasselbe sind. Der Hervorgang des Sohnes, welcher der göttliche Logos ist, darf also nicht als bloßes Folge- oder als Subordinationsverhältnis gedacht werden: Er ist eine innergöttliche processio, welche die Wesenseinigkeit Gottes nicht aufhebt, sondern bestätigt. Als Gedanke Gottes gehört der Logos dem göttlichen Denken gleichewig an. In seinem Wort entspricht Gott wesentlich sich selbst. Das Anderssein, welches der Sohn im Verhältnis zum Vater und der Vater im Verhältnis zum Sohn ist, ist Anderssein als ein Anderssein, in dem Gott sein Wesen und Sein selbst ist. Es ist wesenseiniges Anderssein. Der Unterschied zwischen Vater und Sohn, wie er in ihrem Verhältnis zueinander begriffen ist, ist kein Unterschied des Wesens, sondern, wie Thomas sagt, der innergöttlichen Relation. Um dieses recht zu verstehen, muss zunächst erneut klargestellt werden, dass in Gott anders als in allem anderen, welches durch die Differenz von einem und anderem bestimmt ist, mit dem Unterschied von Substanz und Akzidenz nicht zu rechnen ist. Während in Bezug auf alles Seiende zwischen Selbststandwesen und außerwesentlicher Bestimmung eines Selbststandwesens zu unterscheiden ist, ist Gott sein Wesen und subsistiert als das Sein selbst in und durch sich. Ein akzidentielles Verständnis der Relation, die nach Aristoteles als bloßes Zwischen zweier Substanzen oder Selbststandwesen die ontologisch dürftigste Art von Sein darstellt, kommt also trinitätstheologisch nicht in Frage. Vielmehr hat man die innergöttlichen Verhältnisse – im gegebenen Fall dasjenige zwischen dem zeugenden Vater und dem gezeugten Sohn des Vaters – als subsistierende Relationen zu denken. Als subsistierende Relationen sind die göttlichen Personen unbeschadet ihrer Wesenseinigkeit personal verschieden, wobei, um beim göttlichen VaterSohn-Verhältnis zu bleiben, der Vater vom Sohn durch dessen Zeugung, der Sohn vom Vater durch sein Gezeugtsein unterschieden ist. Diese Unterschiedenheit ist keine pluralitas essentialis, auch keine pluralitas accidentalis, sondern eine reale pluralitas personalis, gemäß der jede göttliche Person als eine subsistierende Relation aufzufassen ist. Eigentümlichkeiten, durch welche sich eine göttliche Person von der anderen innergöttlich unterscheidet,

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Das Filioque als Implikat westlicher Trinitätskonzeptionen

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sind, wie gesagt, im personalen Verhältnis von Vater und Sohn die generatio des ungezeugten Vaters, die dessen Vaterschaft ausmacht, und das die Sohnschaft des Sohnes bestimmende ewige Gezeugtsein. Geht aus der göttlichen actio der generatio der Sohn hervor, so aus derjenigen der spiratio der Geist. Auch diesen Hervorgang versucht Thomas unter Bezug auf die Geistigkeit Gottes als eines erkennenden und wollenden Wesens zu plaubilisieren, wobei die spiratio des Geistes namentlich mit der liebenden Hinwendung Gottes zum im Logos erkannten Anderen seiner selbst assoziiert wird, wie sie im göttlichen Willen und Wollen statthat. Ist der Sohn der Logos Gottes als der Begriff göttlicher Selbsterkenntnis, so ist der Heilige Geist der Wille, in welchem Gott sich selbst und sein Anderes in der Logizität seines Logos will. Bevor Thomas dies im Einzelnen ausführt, setzt er in Fortführung seiner beschriebenen Methode erneut damit ein, den biblischen Befund in pneumatologischer Absicht zu erheben. Demgemäß ist zusammen mit Vater und Sohn auch der Heilige Geist nicht lediglich als höchstes Geschöpf, sondern als wahrer Gott zu bekennen, der – als subsistierende Relation von Vater und Sohn personal unterschieden – der Gottheit Gottes gleichwesentlich wie diese zugehört. Um diese Glaubenswahrheit gegen widerstreitende Argumente zu verteidigen und die Denkbarkeit der wesentlichen Gottheit der trinitarischen Person des Heiligen Geistes nachzuweisen, bringt Thomas ihn mit dem göttlichen Willen in Verbindung, mit welchem der in Erkenntnis begriffene Gott sich selbst und das andere will, das er nicht unmittelbar selbst ist. Dabei setzt der Aquinate mit der westlichen Tradition voraus, dass der gleich dem göttlichen Willen aus Gott hervorgehende Heilige Geist nicht nur vom Vater, sondern vom Vater und vom Sohne ausgeht. Unterschieden ist der Heilige Geist dabei von beiden nicht wesentlich und substantiell, sondern durch einen relativen Gegensatz dem Ursprung nach, durch eine oppositio relativa secundum origenem. Als subsistierende Relation ist der Heilige Geist diejenige trintiarische Person, die aus dem den Sohn zeugenden Vater und aus dem vom Vater gezeugten Sohn hervorgeht. In ihrem Sein von einem anderen her kommen Sohn und Geist überein. Wäre demnach einzig der Vater Prinzip des Hervorgehens des Heiligen Geistes, dann gäbe es keinen von der Zeugung des Sohnes verschiedenen Hervorgang des Heiligen Geistes und damit keinen personalen Unterschied zwischen Sohn und Geist; ein solcher ist nach dem Urteil des Thomas nur dann gewahrt, wenn der Geist als vom Vater und vom Sohn hervorgehend gedacht wird. Im Logos erkennt, im Heiligen Geist will Gott sich selbst in seiner personal differenzierten Wesenseinheit. Wenn auch in sich selbst vollkommen, selbstsuffizient und keinerlei Ergänzung bedürftig, ist der trinitarische Gott in seinem Erkennen und Wollen doch gleichwohl offen für anderes und eine gottunterschiedene Welt. In ihrer personalen Differenziertheit ist das einige Wesen Gottes, welcher das Sein selbst ist, daher aufgeschlossen für Seiendes im Allgemeinen und Einzelseiendes im Besonderen. In dieser Hinsicht kom-

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

men unbeschadet der göttlichen Einheit und Ungeteiltheit des Welterschließungsgeschehens, wie es im Wesen Gottes gründet, Gott der Vater in eigentümlicher Weise als allmächtige Wirklichkeit in Betracht, welche das Sein ursprünglich aus dem Nichts hervorzurufen vermag, Gott der Sohn als Logos, in dem alle Kreatur in vollkommener Weise vorherbegriffen ist und Gott der Heilige Geist als derjenige, durch dessen Liebeswillen allem Sein sein Sein ermöglicht, gewährt und erhalten wird. In ihrer Vaterschaft ist die erste Person der Gottheit innergöttliches generatives Prinzip von Sohn und Geist und zugleich in der freien Allmacht seiner Liebe realer Möglichkeitsgrund allen außergöttlichen Seins. In seiner Sohnschaft ist die zweite Person der Gottheit der ewige Logos, in dem Gott den Begriff seiner selbst und zugleich den Vorbegriff alles von ihm unterschiedenen Anderen und damit den Vorbegriff der Logizität der Welt hat, dessen vernünftige Strukturiertheit im Sohn vorhergewusst wird und als vorhergewusste in ihm immateriell präexistiert. Dieser logische – im Begriff, den Gott im Logos von sich selbst hat, inbegriffene – Vorbegriff umfasst dabei nicht nur die Kreatur im Allgemeinen, sondern alle kreatürlichen Einzeldinge, deren Bestimmung im Logos begründet liegt, was die Voraussetzung nicht nur ihrer Verstehbarkeit, sondern im Falle vernunftbegabter Entitäten auch die Bedingung der Möglichkeit ihres rechten Selbstverständnisses ist. In der subsistierenden göttlichen Person des Heiligen Geistes schließlich ist der reale Seinsgrund des Geschaffenen gegeben, vermöge dessen sich der Begriff des Seienden bestimmungsgemäß zu realisieren vermag und tatsächlich und in re realisiert. Dass sich die Vernunft des Seins seiend verwirklicht, um nicht nur idealiter, sondern realiter als je und je existenter Begriff zu sein, ist dem Heiligen Geist zu verdanken, in und durch dessen Person der wesenseine Gott will, dass das im Logos Vorbegriffene durch Gottes väterliche Allmacht tatsächlich werde, um als Seiendes zu sein und zur Vollendung in Gott geführt zu werden. Thomas beschließt seine Trinitätslehre mit der zusammenfassenden Feststellung, dass in der einen göttlichen Natur drei Personen subsistieren, welche einzig relational voneinander unterschieden sind. Der Vater unterscheidet sich vom Sohn durch die Relation der paternitas und durch innascibilitas. Der Sohn unterscheidet sich vom Vater durch die Relation der filiatio. Der Vater und der Sohn wiederum unterscheiden sich vom Heiligen Geist durch die sog. Hauchung, die spiratio. Der Heilige Geist aber unterscheidet sich vom Vater und vom Sohn durch die processio amoris, qua ab utroque procedit. Nur per relationem originis als subsistierende Ursprungsrelationen voneinander verschieden kommen die göttlichen Personen in derselben Wesenseinheit überein. Die traditionellen Gehalte der klassischen Trinitätslehre sind damit entfaltet. Bleibt zum Erkenntnisweg nur noch Folgendes hinzuzufügen: Kann der menschliche Geist seiner kreatürlichen Bestimmung gemäß nach Thomas zwar als Ebenbild des Göttlichen und damit als vestigium trinitatis begriffen werden, so heißt das doch nicht, dass die Trinitätslehre ein Abbild menschlicher Geistigkeit sei. In Wahrheit verhält es sich vielmehr so, dass der Geist

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des Menschen in demjenigen Gottes sein Urbild hat, dem er bestenfalls auf analoge Weise zu entsprechen vermag.17

4. Ostkirchlicher Antifilioquismus Im Zusammenhang des ersten west-östlichen Schismas, dem er den Namen gegeben hat, schrieb Patriarch Photios (ca. 810 – 893/4) eine ausführliche theologische Widerlegung des Filioque, dessen häretischen Charakter er entschieden behauptete. Er wendete sich damit gegen die üblich gewordene karolingische Liturgiepraxis und deren von Rom anerkannte dogmatische Begründung. Die wahrscheinlich erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt entstandene Schrift (PG 102, 279 – 400) trägt den Titel: »Des Patriarchen Photios Logos über die Mystagogia des Heiligen Geistes und dass, ebenso wie gesagt wird, dass der Sohn allein aus dem Vater gezeugt wird, so auch gelehrt wird, dass der Heilige Geist aus der alleinigen und selben Ursache (aition) hervorgeht; es wird aber gesagt, dass er des Sohnes sei, weil er homoousios und di’ autou gesandt ist.« Damit ist der Inhalt der Schrift präzise wiedergegeben, wie Photios ihn der Sache nach entsprechend vorher schon in einer Enzyklika an die Patriarchen des Ostens von 867 vertreten hatte (vgl. PG 102, 721 – 741)18. Die photianische Position blieb über die Jahrhunderte hinweg bestimmend für die ostkirchliche Haltung zum Filioque. Jeremias II. etwa hat in seinem eingangs erwähnten Dialog mit den Württembergern im Wesentlichen Argumentationen des Photios wiederholt; zusammengefasst sind dessen grundlegende Syllogismen in der Epitome am Ende der Mystagogia (vgl. PG 102, 392 – 400). Biblisch-offenbarungstheologische Basis der Argumentation des Photios ist das Herrenwort Joh 15,26 von dem vom Vater ausgehenden Geist, das im Sinne eines exklusiven ek monou tou patros gedeutet wird. Joh 15,26, Gal 4,6 und vergleichbare Schriftstellen widersprächen diesem Verständnis nicht, sondern seien mit ihm konform wie alle Bestimmungen der Konzilien, der Väter und der obersten Hirten. Schließlich ließen sich auch überzeugende antifilioquistische Vernunftargumente anführen. Indem das Filioque die Monarchie als personale Eigenschaft des Vaters verletze, die nur unter Voraussetzung seiner Alleinursächlichkeit bewahrt werden könne, werde sowohl die trinitarische Ordnung der hypostatischen Unterschiedenheiten als auch die Wesenseinheit Gottes infrage gestellt. Diesen Schaden könne weder die Differenzierung zwischen einer ursprungslosen (Vater) und einer vermittel17 Literaturhinweise zu Thomas im Allgemeinen und zu seiner Trinitätslehre im Besonderen finden sich bei O. H. Pesch, Art. Thomas von Aquino/Thomismus/Neuthomismus, in: TRE 3,433 – 474, bes. 450 ff. 18 Vgl. R. Haugh, Photius and the Carolingians. The Trinitarian Controversy, Belmont/Mass. 1975.

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ten (Sohn) Ursächlichkeit noch die Rückführung des Hervorgangs des Geistes auf das Vater und Sohn gemeinsame Wesen heilen, weil im ersten Fall der Begriff der einen Ursache bikausal zersetzt, im zweiten die absurde Annahme folgerichtig wäre, der Geist sei seinem Vater und Sohn gleichem Wesen nach an der Begründung seines eigenen Seins ursächlich beteiligt. Gilt die photianische Regel, dass in der Trinität genau einer Person zugeschrieben werden muss, was nicht von allen drei Personen gemeinsam ausgesagt werden kann, dann ist die Behauptung, Vater und Sohn hätten den Hervorgang des Geistes ihrem gemeinsamen Wesen nach bewirkt ebenso abwegig wie die Annahme einer Bikausalität der Geistverursachung. Diese hat vielmehr als von der Person des Vaters allein gewirkt zu gelten. Das Filioque ist daher nach Urteil des Photios abzulehnen, weil die ihm implizite These einer Koprinzipialität des Sohnes beim Hervorgang des Geistes nicht nur dem autoritativen Offenbarungszeugnis und dem Zeugnis der kirchlichen Tradition widerspreche, sondern auch zu vernunftwidrigen Konsequenzen führe. Es ist schwer zu entscheiden, in welchem Verhältnis apophatische, rationale und jene Anteile der Theologie des Photios zueinander stehen, die das Zeugnis der Schrift und insbesondere das Herrenwort Joh 15,26 im Sinne eines instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnisses auslegen. Letztere scheinen auf den ersten Blick grundlegend. Die Position des Photios weiß sich durch sakrosankte Autorität begründet und verifiziert. Dennoch belässt es der Patriarch nicht beim autoritativen Zitat, sondern ist um rationale Argumentation innerhalb der durch die kirchliche Autorität gesetzten Grenzen bemüht. Der photianische Apophatismus bleibt dadurch im Grundsatz unberührt. Gottes inwendiges Sein ist im Prinzip unbegreiflich und auch durch die wenigen Hinweise göttlich sanktionierter Autoritäten nicht zu begreifen. Auch ein Blick in die Heilsgeschichte göttlicher Ökonomie kann einen Begriff innergöttlichen Seins und Wesens nicht erschließen. Einen möglichen Rückschluss von der zeitlichen Sendung des Geistes durch den inkarnierten Logos auf dessen ewigen Hervorgang auf den Sohn hält Photios für nicht nur nicht erlaubt, sondern für verboten. In welchem Verhältnis dieses Verbot zum photianischen Verständnis des chalcedonischen Dogmas steht, wäre ebenso einer eigenen Erörterung wert wie die grundsätzliche Frage der Beziehung der Trinitätslehre zur Lehre von der personalen Einheit göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus. Einstweilen genügt die Feststellung, dass der harte Kern des photianischen Antifilioquismus in dem Vorwurf besteht, das Filioque überhebe sich in haltloser Spekulation über das, was auf der Basis der Schrift und der kirchlichen Tradition über die Gottheit mit autoritativer Gewissheit gesagt werden könne und dürfe. Die Wirkungsgeschichte der photianischen Mystagogie war enorm. Eine Unzahl von Streitschriften schlossen sich an. Väterbelegsammlungen wurden angefertigt, um die eigene Tradition zu verteidigen und die Gegenseite zu widerlegen. Während sich im Westen der Filioquismus definitiv durchsetzte, nahm in der ostkirchlichen Theologie der Antifilioquismus festes Format an.

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Auch wenn sich Argumentationsvarianten konstatieren lassen, blieb im Wesentlichen die Position des Photios maßgeblich. Der Hl. Geist geht gemäß orthodoxer Lehrtradition in seinem ewigen Sein von dem einen Vater aus und zwar von dem einen Vater allein. Dem Vater und ihm allein kommt unter den göttlichen Hpyostasen der Trinität, deren unaufhebbare Eigentümlichkeit mit Nachdruck betont wird, die göttliche Monarchie im Sinne von Alleinursächlichkeit zu. Gott der Vater ist in seiner hypostatischen Einzigartigkeit alleiniges Prinzip (arche), alleinige Quelle (pege), alleinige Ursache (aitia) des Gottseins. Von ihm und nicht vom gemeinsamen Wesen her erhalten die beiden anderen göttlichen Hypostasen ihr Sein, ohne dass dadurch ihre wesentliche Gottheit beschränkt werden sollte. Es ist im Gegenteil so, dass der Vater durch ewige Zeugung und ewigen Ausgang Sohn und Geist ungeteilten Anteil gibt an seiner überströmenden göttlichen Fülle. Gleichwohl ist er es und er allein, der die beiden anderen göttlichen Hypostasen je unterschiedlich »hervorbringt« und ihnen das göttliche Wesen gibt, das er mit ihnen gemeinsam hat. Die göttliche ousia teilen die göttlichen Hypostasen auf ungeteilte Weise miteinander. Sie ist ihnen gemeinsam. Die erste Person der Trinität darf also auch nach ostkirchlicher Tradition nicht als einsam gedacht werden, worauf seine hypostatische Bestimmtheit als Vater eindeutig verweist. Nichtsdestoweniger und unbeschadet dessen gehört es zur Eigenschaft der Person des Vaters, die ihm unveräußerlich eigen ist, alleiniger Ursprung der Gottheit zu sein. Diese ihm eigene Eigenschaft kann weder den beiden anderen Hypostasen noch auch der göttlichen Natur zugeschrieben werden, die allen drei Hypostasen der Gottheit gemeinsam ist. Die jeweils eigene Eigenschaft jeder der drei Hypostasen ist weder dem gemeinsamen Wesen noch den beiden jeweils anderen Hypostasen eigen. Eigenschaft der ersten Person der Trinität ist es, sein Sein ursprungslos aus sich selbst zu haben, hypostatische Eigenschaft des Sohnes, ewig gezeugt zu sein, diejenige des Geistes durch ekporeusis aus dem Vater hervorzugehen und zwar aus dem Vater allein. Würde doch die Behauptung, der Hl. Geist nehme seinen ewigen Ausgang vom gemeinsamen göttlichen Wesen oder vom Vater und vom Sohn die hypostatische Ordnung destruieren, gemäß der jeder göttlichen Person ein von den jeweils Anderen unvergleichlich unterschiedenes Eigensein zukommt. Der Vater, der sein Sein ursprungslos in sich hat, ist die alleinige und einzige Ursache des ewigen Seins des Sohnes und des Hl. Geistes. Beide gründen nur in ihm, wenngleich in jener verschiedenen Weise, wie sie durch die Begriffe Zeugung und Ausgang gezeichnet ist. Zwar haben sie ihr göttliches Wesen mit dem Vater gemein, ohne deshalb an seiner hypostatischen Eigenschaft ursprungslosen Gründens teilzuhaben, die allein und ungeteilt ihm eigen ist. Keiner der beiden von ihm unterschiedenen trinitarischen Personen überträgt oder übermittelt der Vater die ihm und ihm allein eigene hypostatische Eigenschaft, ursprungslose arche und aitia des Gottseins zu sein, weder dem Geist noch auch dem Sohn. Weil dies nach Maßgabe ostkirchlicher Trini-

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tätslehre so ist und so sein muss, kann ihrem Urteil zufolge der Sohn unmöglich zusammen mit dem Vater die Seinsursache des Hl. Geistes sein. Eine solche Annahme würde die Ordnung der Trinität grundstürzend durcheinander bringen, indem sie die Monarchie der ersten trinitarischen Person entweder durch Einführung zweier Ursachen, Quellen bzw. Prinzipien in die Hl. Trinität oder durch ihre abstrakte Aufhebung in das göttliche Wesen in Abrede stellt mit Folgen, die so oder so desaströs und der rechten Lehre zuwider sind. Es muss daher dabei bleiben, dass der Hl. Geist vom einen Vater seinen ewigen Ausgang nimmt und in ihm allein gründet. Ohne das Nizänokonstantinopolitanische Glaubensbekenntnis durch einen förmlichen Zusatz ergänzen zu wollen, hält daher die ostkirchliche Tradition die Aussage, dass der Hl. Geist vom Vater allein ausgeht, in aller Regel für eine theologisch unverzichtbare Verdeutlichung seines ursprünglichen Sinns. Behielt im Osten im Anschluss an Photios eindeutig eine dezidiert antifilioquistische Theologie die Oberhand, so fehlte es doch unbeschadet dessen und trotz unmissverständlicher Ablehnung des Filioquismus nicht gänzlich an Zeichen des Verständnisses für das Motiv, welches sich in ihm, wenngleich nach ostkirchlichem Urteil auf gründlich verfehlte Weise, zur Wirkung brachte. Dass der Hl. Geist seine ewige Existenz vom Vater des Sohnes erhalten hat, kann und darf auch unter den Bedingungen der Trinitätslehre des Ostens gesagt werden. Ist es doch der ewige Zeuger des Sohnes, der den Geist hervorbringt. Weil dies der Fall ist und der eine Vater derjenige ist, der den einen Sohn von Ewigkeit zeugt, muss ein impliziter Bezug des ewig gezeugten Sohnes zum Ausgang des Hl. Geistes nicht in Abrede gestellt werden. Es lassen sich im Gegenteil nicht wenige ostkirchliche Zeugnisse beibringen, die einen solchen impliziten Bezug ausdrücklich anerkennen und trinitätstheologisch konstruktiv zur Geltung bringen, ohne deshalb die Grundsatzkritik am Filioque aufzugeben. Als ein hervorrragendes Beispiel hierfür darf im späten 13. Jahrhundert der Patriarch Gregor von Zypern (1241 – 1290) gelten, der die ewige Beziehung zwischen dem Geist und dem Sohn auf der Grundlage der Sendung des Geistes durch den Sohn in die Welt einer genaueren Bestimmung zuzuführen suchte. Nach Gregor korrespondiert dem Ausgang des Geistes vom Vater dessen Ausstrahlung durch den Sohn. Diese Korrespondenz ist deshalb in Anschlag zu bringen, weil der Ausgang des Hl. Geistes vom Vater mit der väterlichen Zeugung des Sohnes trotz des unvergleichlichen Unterschieds beider Akte untrennbar verbunden ist. Zeugung des Sohnes und Ausgang des Geistes sind zwar so verschieden, wie die zweite und dritte Person der Trinität verschieden sind. Aber sie sind in ihrer Verschiedenheit doch untrennbar vereint: von einander hypostatisch unterschieden existieren Sohn und Geist doch ewig miteinander und ineinander, wie denn auch der väterliche Akt, in dem beide gründen, zwar doppelt, aber doch in untrennbarer Einigkeit vollzogen wird. Weil die beiden Akte der ewigen Zeugung des Sohnes und des ewigen Ausgangs des Hl. Geistes, obwohl von Ewigkeit different und niemals indiffe-

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renziert, in ihrer Doppelheit weder Doppelungen generieren (so als seien Sohn und Geist Doubletten, denen unvergleichliche Einmaligkeit abgeht, oder bloße Modi), noch parallel laufen, so als hätten die jeweiligen Aktfolgen ihr Wesen nicht gemein: weil also ewige Zeugung und ewiger Ausgang in ihrer Unterschiedenheit ewig ungeschieden sind, kann das eine für das andere nicht unbedeutsam sein. Der vom Vater ausgehende Geist ist daher, um nur von ihm zu reden, zugleich derjenige, der vom Sohn in Ewigkeit ausstrahlt und ihn in der Herrlichkeit erstrahlen lässt, die ihm eigen ist. Ruhendes Wohnen im Sohn und Dynamik des Geistes bieten einen differenzierten Zusammenhang, den Gregor von Zypern mit dem Begriff der Ausstrahlung ebenso verdeutlichen kann wie etwa mit dem der Manifestation. Die Ausstrahlung des Geistes und seine Manifestation geschieht im und durch den Sohn. Ja, Gregor kann sogar sagen, dass die sohnbestimmte Ausstrahlung und Manifestation des Geistes für dessen Sein vollendete Erfüllung bedeutet, die ohne diese nicht gegeben wäre (vgl. z. B. PG 142, col. 242B). Dennoch will er festhalten, dass die Ausstrahlung des Geistes durch den Sohn vermittelt ist durch den Vater, in dem der Geist allein den ursprungslosen Grund seines Seins hat. Aufgrund seines Ausgangs vom Vater allein erstrahlt der Geist durch den Sohn, dessen ewige Zeugung den ewigen Hervorgang des Geistes begleitet und mit ihm bei grundsätzlicher Unterschiedenheit untrennbar verbunden ist, was ein indirektes und vermitteltes Beteiligtsein des Sohnes am Ausgang des Geistes erschließt, ohne die Alleinursächlichkeit des Vaters in Zweifel zu ziehen. Der Ausgang des Geistes erfolgt nicht vom Sohn her und in diesem Sinne durch ihn, wohl aber mittels desselben und zwar deshalb, weil der Sohn seinerseits, wenngleich nicht in Form des Ausgangs, sondern der Zeugung, allein in Gottvater gründet, dem und nur dem er sein Sohnsein verdankt. Das Beispiel Gregor von Zyperns zeigt, dass die Stellung des Sohnes in Beziehung zum Ausgang des Hl. Geistes in der ostkirchlichen Trinitätstheologie keineswegs unbestimmt blieb. Zahllose weitere Belege für diesen Sachverhalt ließen sich beibringen. Er wird nicht zuletzt durch einen weiteren Gregor, den großen Gregorios Palamas (1296/7 – 1359; PG 150 f) bestätigt, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wirkte und nachhaltigsten Einfluss auf die weitere Entwicklung orthodoxer Theologie ausübte. Noch zu seinen Lebzeiten wurde seine Lehre offiziell als mit der theologischen Überlieferung übereinstimmend anerkannt. Gegen den anhaltenden Widerstand namhafter Theologen wie Barlaam, Gregorios Akyndinos und Nikephoros Gregoras gab er durch die Realunterscheidung von Wesen und Wirksamkeit Gottes dem sog. Hesychianismus seine theologische Grundlage. Indem er mit dem göttlichen Wesen die wesenseinen trinitarischen Hypostasen ebenfalls ganz der göttlichen Transzendenz in ihrer Unerkennbarkeit anheimstellte und den Weltbezug Gottes allein durch göttliche Energien vermittelt sein ließ, radikalisierte er auf seine Weise den überkommenen ostkirchlichen Grundsatz, wonach das Wesen Gottes unvordenklich und allem Begreifen jenseitig sei. Man hat Pa-

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lamas und dem Palamismus westlicherseits vorgeworfen, die heilsgeschichtliche Ökonomie trinitätstheologisch funktionslos werden zu lassen. In der Tat kann man fragen, wie es unter palamitischen Bedingungen überhaupt noch trinitätstheologische Erkenntnis geben soll, wenn mitsamt dem Wesen der Gottheit auch die göttlichen Hypostasen einer absoluten Begriffsjenseitigkeit zugewiesen werden. Doch wird man sehen müssen, dass die Evidenz der Schau, welche das sog. Taborlicht erschließt, einleuchtend macht, warum und auf welche Weise Palamas die Unterscheidung zwischen einer erkennbar-zugänglichen und einer unerkennbar-unzugänglichen Seite Gottes trifft, die als Trennung zu verstehen ein Missverständnis wäre.19 So entschieden er das Geheimnis des göttlichen Seins und mit ihm die Freiheit des heilsgeschichtlichen Handelns Gottes sowie die unvordenkliche Faktizität seiner Offenbarung in Jesus Christus einschärft, so deutlich hebt sich sein theologisches Verfahren doch von einem irrationalen Dezisionismus ab. Der Einwand, wie ihn ein westlicher Spätscholastiker formulierte, »dass Palamas durch einen undurchlässsigen Trennungsstrich zwischen Natur und Übernatur seine theologische Kernthese der kritischen Nachprüfung grundsätzlich entzog(en)«20 habe, zielt zu kurz und trifft den palamitischen Ansatz nicht. Dies wird u. a. durch die Deutlichkeit bewiesen, mit der Palamas die ewige Beziehung zwischen Sohn und Geist als Grundlage der zeitlichen Sendung des Geistes durch den Sohn zum Ausdruck brachte. Obwohl er mindestens ebenso kompromisslos wie Gregor von Zypern auf der göttlichen Monarchie und dem Grundsatz insistierte, dass der Geist vom Vater allein seinen ewigen Ausgang nimmt, unterstrich er doch beinahe noch nachdrücklicher als dieser das innige Zusammensein des ewigen Sohnes und des ewigen Geistes, wie es in der Simultaneität und untrennbaren Einigkeit der Vorgänge von Zeugung und Ausgang fundiert ist. Prinzip, Quelle und Urgrund des Gottseins sowohl des Sohnes als auch des Geistes ist allein der Vater. Doch sowenig dessen hypostatische Monarchie mit Monopersonalität gleichzusetzen ist, sosehr gibt der Vater dem Sohn ungeteilten Anteil am göttlichen Wesen, um ihn den Sohn des Vaters sein zu lassen, dessen ewige Zeugung alles andere als belanglos ist für den ewigen Ausgang des Geistes. Orientiert man sich an dem Gedanken, wonach der Ausgang des Geistes, obwohl vom Vater allein verursacht, mit dem Sein des Sohnes insofern untrennbar zusammenhängt, als er mit dessen Zeugung simultan und in innigster, wenngleich nicht differenzloser Einigkeit verbunden ist, könnte sich der Eindruck einstellen, die ostkirchliche Position, wie sie sich bei Gregor von Zypern, aber auch bei Palamas identifizieren lässt, sei von der westkirchlichen jedenfalls dann soweit nicht entfernt, wenn man sich an die differenzierte und 19 Vgl. A. Aldenhoven, Die Unterscheidung zwischen einer erkennbar-zugänglichen und einer unerkennbar-unzugänglichen Seite in Gott und die Trinitätslehre, in: IKZ 72 (1982), 214 – 232. 20 G. Podalsky, Art. Gregorios Palamas, in: TRE 14, 200 – 206, hier : 204. 205 f finden sich zahlreiche Quellen- und Literaturhinweis zu Palamas.

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komplexe Fassung hält, die diese dem Filioque gegeben hat. Danach sind Vater und Sohn, obwohl hypostatisch unterschieden, im Akt der Geisthauchung ununterschieden. Denkbar wurde die Ununterschiedenheit des Aktes der Hauchung des Geistes durch Vater und Sohn bei Bewahrung der hypostatischen Unterschiedenheit durch die interne Differenzierung, welche der aristotelische Substanzbegriff anbot. Unter dem Gesichtspunkt der prima substantia kommen die göttlichen Hypostasen als konkrete Subsistenzen in Betracht, unter denjenigen der substantia secunda das göttliche Wesen, welches zwar im Falle der Gottheit Gottes keinen abstrakten Allgemeinbegriff darstellt, dennoch aber die Möglichkeit eröffnet, die unterschiedenen göttlichen Hypostasen als wesentlich ununterschieden zu denken. Die auf das Problem des Hervorgangs des Geistes bezogene thomasische Differenzierung von principium quo und principium quod konnte daran anschließen. »Das Wesen ist nicht prinzipiierendes suppositum, wohl aber ist es ›Prinzip, aus dem‹ Vater und Sohn gemeinsam den Geist hervorbringen. Die göttliche Mon-archie ist im Sinne des ›principium quo‹ auszulegen. Von einer väterlichen Monarchie kann dennoch gesprochen werden, da im Vater bei der Zeugung des Sohnes principium quod und principium quo zusammenfallen; bei der Hervorbringung des Geistes gilt dies nicht mehr.«21 Während bei der väterlichen Zeugung des Sohnes prima und secunda substantia koinzidieren, gilt das bei der Hauchung des Geistes nicht, so dass sie als von Vater und Sohn gemeinsam in einem Akt bewirkt ausgesagt werden kann, ohne dadurch die hypostatische Differenz von Vater und Sohn und die Monarchie des Vaters durch Auflösung eines identischen Ursachenbegriffs zu gefährden; denn die Mitprinzipialität des Sohnes bei der Geistsendung bedeutet keine Bikausalität. Subtilität und Ausgleichwilligkeit wird man dieser scholastischen Argumentation nicht absprechen können. Tatsächlich fanden sich einige ostkirchliche Theologen, die sie sich gefallen ließen, wie es denn immer wieder durchaus namhafte Repräsentanten der Orthodoxie gab, die ohne Bewusstsein der Heterodoxie das Filioque unter dogmatischen Kautelen zu rezipieren bereit waren. Gleichwohl kam eine bleibende Verständigung zwischen Ost und West oder gar eine Union auf Dauer bekanntlich nicht zustande. Die Gründe hierfür ließen sich etwa am Beispiel des Metropoliten von Ephesos Markos Eugenikos (1391/2 – 1444/45) erläutern, der durch seinen Protest gegen die Union von Ferrara und Florenz 1438/39 bekannt geworden ist. Er nahm am Konzil als Vertreter des Patriarchen von Antiochia teil und verweigerte die Unterschrift unter die Unionsurkunde. Später widersetzte er sich der Union, wofür er gefangen gesetzt wurde. Die Gründe für den Protest von Markos Eugenikos gegen den Filioquismus sind im Wesentlichen dieselben, die schon bei Photios begegnen. Den Westen sieht er trinitätstheologisch wie ehedem vor die ruinöse Alternative entweder einer innergöttlichen Diarchie oder einer Vermischung der Hypostasen von Vater und Sohn gestellt. Im Übrigen wei21 B. Oberdorfer, a.a.O., 247.

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gerte sich Markos Eugenikos, das göttliche Wesen anders als in hypostatischer Konkretion zu denken, weil nach seinem Urteil ein von den trinitarischen Personen abgehobenes göttliches Wesen auf eine Abstraktion und auf einen spekulativen Begriff der Gottheit hinausläuft, der weder dem religiösen Heilsanliegen noch den Grundsätzen einer apophatischen, das Geheimnis Gottes wahrenden Theologie gerecht wird. Das Filioque war im ursprünglichen Wortlaut des nizänokonstantinopolitanischen Bekenntnisses nicht enthalten. Es stellte einen späteren westkirchlichen Zusatz dar. Ein solcher Zusatz in einem sakrosankten Text gilt der Ostkirche unter Berufung auf eine entsprechende Festlegung des Konzils von Ephesus 431 (vgl. DH 265) als unstatthaft. Als unorthodox disqualifiziert ist demnach nicht nur die Darlegung eines anderen Glaubens als des nizänischen, sondern jeder Versuch, den nizänischen Glauben anders darzulegen als es dem definierten Wortlaut des Glaubensbekenntnisses entspricht. Alterius fidei expositio und ipsius fidei altera expositio sind, wie auf dem Florentiner Konzil orthodoxerseits ausgeführt wurde, gleichermaßen verboten. Ist die Einfügung eines Zusatzes zum nizänokonstantinopolitanischen Konzil eo ipso verboten, so tritt ihre Illegitimität nach ostkirchlichem Urteil des Weiteren u. a. dadurch zutage, dass sie einseitig im Westen erfolgte und vom Papst unter Missbrauch seiner Autorität im Sinne kirchlicher Alleinherrschaft ohne Rücksprache mit den Patriarchen und ohne ökumenisches Bischofskonzil abgesegnet wurde. Das Traditionsargument gegen das Filioque verbindet sich auf diese Weise mit einem kritischen Argument gegen die westliche Ekklesiologie und Amtstheologie, die das Traditions- durch das Autoritätsprinzip zu ersetzen drohe. Sind die bisher erwähnten Argumentationsmomente des ostkirchlichen Antifilioquismus ohne in ihrer Bedeutung unterschätzt werden zu dürfen eher formaler Natur, so wird die Kritik des Filioque inhaltlich vor allem damit begründet, dass es die binnentrinitarische Ordnung der Hypostasen zerstöre. Schon die »Mystagogia« des Patriarchen Photios hatte geltend gemacht, dass Filioque verwirre und verkehre die hypostatischen Verhältnisse in Gott, da es die personkonstituierenden Merkmale von Vater und Sohn vermische. Alles, was nicht der wesensgleichen Dreiheit Gottes gemeinsam ist, komme allein einer der drei göttlichen Hypostasen zu; weil aber das Hervorbringen des Geistes nicht allen drei Personen gemeinsam ist, weil sonst der Geist selbst Ursache seines Seins sein müsste, kommt es nur der Person Gottes des Vaters zu. Indem das Filioque diesem Grundsatz widerspreche und entgegengesetzt sei, da es dem Sohn Anteil gebe am hpyostatischen Sein des Vaters als Urgrund, Prinzip und arche, verkenne es die Monarchie des Vaters, subordiniere den Geist dem Sohn und löse die trinitarische Ordnung auf mit Konsequenzen, die an häretischer Absurdität nicht zu überbieten seien. Würde nämlich die dritte Hypostase in ihrer personalen Eigenheit nicht allein aus der ersten, sondern auch aus der zweiten hervorgehen, so könnte aus ihr auch etwas Viertes folgen, womit die Trinität in eine Quaternität und tendenziell in eine ins Nichts verlaufende unendliche Iteration aufgelöst würde.

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Ähnliche Vorhaltungen wie diejenigen des Patriarchen Photios begegnen in der Theologie der Ostkirche wiederholt. Soll die trinitarische Ordnung gewahrt werden, muss an der Monarchie des Vaters und im Verein mit ihr am Hervorgang des Geistes allein aus ihm kompromisslos festgehalten werden. Den Sohn als eine weitere Ursache der Geisthauchung zu behaupten, laufe zwangsläufig auf eine Zersetzung der Trinitätstheologie hinaus und missachte das Herrenwort Joh 15,26, wonach der Paraklet, den Jesus Christus seiner Verheißung gemäß senden wird (Futur), vom Vater ausgeht (Präsens). Man kann fragen, ob der erwähnte Spruch aus dem Johannesevangelium exegetisch die weitreichenden Schlüsse erlaubt, welche die ostkirchliche Tradition dogmatisch aus ihm gezogen hat. Doch führt diese Frage nur bedingt weiter. Denn selbst, wenn man sie, wofür gute Gründe sprechen, verneint, ist damit die orthodoxe Position keineswegs widerlegt. Zwar kommt für ihre Begründung Joh 15,26 seit alters eine Schlüsselfunktion zu. Doch zeigt bereits Photios, dass die ostkirchliche Trinitätstheologie keineswegs auf einer einzelnen Bibelstelle basiert. Ihre Grundlegung erfolgt in einer ungleich umfassenderen Perspektive, die mit einer bloßen dicta-probantia-Methode ebensowenig zu erfassen ist wie unter der Voraussetzung eines lediglich instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnisses. Der argumentative Aufwand, den bereits Photios im Interesse der Widerlegung des Filioquismus betrieb, und mehr noch die eindrucksvollen Versuche, die Gregor von Zypern, Gregorios Palamas und viele andere ostkirchliche Theologen unternommen haben, die Stellung des Sohnes in Beziehung zum Ausgang des Hl. Geistes zu klären, ohne die Monarchie der ersten trinitarischen Person zur Disposition zu stellen, zeigen zur Genüge, dass der orthodoxen Trinitätstheologie mit Autoritarismusvorwürfen oder dem Vorhalt formaler Bindung an Traditionsvorgaben, die lediglich reproduziert statt durchdacht werden, nicht zu begegnen ist. Einen konstruktiven Zugang zum Grundanliegen orthodoxer Trinitätstheologie einschließlich ihres Antifilioquismus gewinnt man, wie es scheint, nur, wenn man ihren apophatischen Ansatz und die spezifische Art und Weise ernst nimmt, in der sie das Verhältnis von göttlicher Heilsökonomie und Binnenwirklichkeit Gottes erfasst. Die Annahme, dass beider Zusammenhang ostkirchlicherseits geleugnet werde, ist abwegig und in ihren impliziten Voraussetzungen und Konsequenzen zu absurd, um ernsthaft erwogen zu werden. Wohl bestreitet orthodoxe Lehre, dass aus der göttlichen Heilsökonomie nach Maßgabe eines Analogieverfahrens unmittelbare Gedankenschlüsse auf das innertrinitarische Leben Gottes gezogen werden können. Doch ebensowenig leitet sie ihre theologischen Schlüsse von vorgefassten trinitarischen Begriffen ab, ohne auf deren heilsökonomische Genese zu reflektieren, wie sie den Erkenntnisprozess der Alten Kirche bestimmt. Dass eine solche Reflexion stattfindet, wird durch den notorischen Antifilioquismus der Ostkirche nicht widerlegt. Dass es einen konstruktiven Zusammenhang zwischen der zeitlichen Sendung des Geistes durch den Sohn und der ewigen Beziehung zwi-

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schen Sohn und Geist gibt, bestreitet ostkirchliche Theologie nicht nur nicht, sondern behauptet sie. »Die ewige Beziehung des Sohnes zum Geist (ist) die Grundlage der Sendung des Geistes durch den Sohn in uns.«22 Vergleichbares gilt für den differenzierten Zusammenhang der göttlichen Trinität, wie sie an sich selbst ist, und der Heilsökonomie Gottes. Diese findet in jener die grundlegende Bedingung ihrer Möglichkeit, weil ihre Realität nur auf Gott zurückgeführt werden kann, womit die Unvordenklichkeit der Offenbarung und des offenbaren Geheimnisses Gottes nicht etwa behoben, sondern im Gegenteil gedanklich bestätigt wird. Gottes ewige Gottheit und seine Heilsökonomie in der Zeit sind kategorial unterschieden, aber nicht zu trennen. Ist in Bezug auf diesen Grundsatz Einvernehmen zwischen ost- und westkirchlicher Theologie zu erzielen, dann muss der Kontext der Filioquekontroverse ausgeweitet und die Debatte zugleich konzentriert werden auf das Problem des Verhältnisses dessen, was man seit geraumer Zeit immanente und ökonomische Trinität nennt. Entscheidend wird dabei die Frage sein, was man unter ökonomischer Trinität eigentlich zu verstehen gedenket. Inwiefern ist die göttliche Heilsökonomie trinitarisch strukturiert? Man kann diese Frage im Sinne einer heilsgeschichtlichen Abfolge, die von der Schöpfung über die Versöhnung zur Vollendung reicht, oder unter Konzentration auf den auferstandenen Gekreuzigten Jesus Christus zu geben versuchen. Beide Antworten schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander, sofern die innere Einheit der Heilsgeschichte ohne Christozentrik nicht zu erfassen ist, wohingegen diese ohne die implizite Voraussetzung heilsgeschichtlicher Grundlagen und Folgen nicht verständlich wird. Dennoch ist es nicht leicht, das Verhältnis beider Antworten genau zu bestimmen und präzise zu sagen, was unter ökonomischer Trinität zu verstehen ist.

5. Immanente und ökonomische Trinität Das trinitarische Dogma der Alten Kirche stellt, indem es verbindliche Aussagen über die göttliche Dreieinigkeit resp. den dreieinigen Gott macht, vor die Aufgabe, die Einheit Gottes und den Unterschied, der unbeschadet ihrer wesentlichen Einheit zwischen den göttlichen Hypostasen waltet, gedanklich gleichermaßen zu achten. Diese Aufgabe wurde anfangs dadurch erschwert, dass die griechischen Begriffe ousia und hypostasis promiscue gebraucht und bald zur Bezeichnung der wesentlichen Einheit Gottes, bald der unterschiedenen Personen des göttlichen Wesens verwendet wurden, wie das noch im nizänischen Glaubensbekenntnis der Fall war. Erst die großen kappadozi22 D. Staniloae, Der Ausgang des Heiligen Geistes vom Vater und seine Beziehung zum Sohn als Grundlage unserer Vergöttlichung und Kindschaft, in: L. Vischer (Hg.), a.a.O., 153 – 163, hier : 159.

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schen Theologen behielten den Ausdruck ousia als Terminus für die Einheit des göttlichen Wesens, hypostasis als Bezeichnung der drei Personen Gottes vor. Im lateinischen Abendland gab man ousia in der Regel durch essentia wieder, gebrauchte aber auch substantia als Bezeichnung der Einheit des göttlichen Wesens, was eigentlich dem griechischen hypostasis entsprach. Zur Bezeichnung der trinitarischen Hypostasen wählte man den persona-Begriff, der einen Anhalt am griechischen Terminus prosopon hatte, welcher trotz der modalistischen Assoziationen, die sich mit ihm verbinden konnten, noch längere Zeit neben dem Hypostasenbegriff als Bezeichnung der trinitas in der göttlichen unitas in Gebrauch war.23 Konkret unterschieden wurden die drei göttlichen Personen, deren Wesen als Einheit zu denken war, durch Eigentümlichkeiten, die ihr differenziertes Verhältnis zueinander bestimmten, nämlich Ungezeugtsein als Proprietas des Vaters, Gezeugtsein als diejenige des Sohnes sowie Ausgang als Eigentümlichkeit des Hl. Geistes. Nicht nur sollten Wesenseinheit und jene Differenz, die durch den Hypostasenbegriff im Unterschied zum Wesensbegriff gesetzt war, als identisch und different zugleich gedacht werden. Zu denken aufgegeben war auch, die ihre Indifferenzierung ausschließende Unterscheidung der trinitarischen Personen durch Eigentümlichkeiten, die ihnen nicht gemeinsam sind, mit der Gemeinsamkeit ihres einen Wesens zu vereinen. Dazu reicht es nicht hin, die Gedankenformel einer Identität von Identität und Differenz aufzustellen, weil diese nur den durch die Differenz von Wesen Gottes und göttlichen Hypostasen gesetzten Unterschied in sich aufzuheben, nicht aber der Tatsache Rechnung zu tragen vermag, dass die hypostatische Differenz als eine in sich differenzierte zu denken ist, die durch die von den Eigentümlichkeiten der Hypostasen, also durch ewiges Ungezeugtsein, ewiges Gezeugtsein und ewigen Ausgang charakterisierte Sequenz bestimmt sind. Die Identität von Identität und Differenz, die im Zusammenhang von Unitas Gottes und göttlicher Trinität statthat, ist mit einem zwar nicht zeitlichen, aber ewigen Ursprungs- und Folgezusammenhang zusammenzudenken, der die göttlichen Hypostasen in ihrem Verhältnis zueinander kennzeichnet. Trifft dies zu, dann genügt es nicht, den Gedanken der unitas in trinitate und demjenigen der trinitas in unitate als unmittelbare Identität von Einheit und Verschiedenheit zu denken, es muss vielmehr zugleich und in Differenzeinheit mit diesem Gedanken der Gedanke einer Differenz von Einheit und Verschiedenheit gedacht werden, der die Sequenz in sich bewahrt, die zwischen den göttlichen Hypostasen waltet und ihren konstitutiven Unterschied voneinander ausmacht, welcher unbeschadet nicht nur, sondern in ihrer wesenhaften Einheit besteht. Fragt man, warum sich diese trinitäts23 Vgl. in diesem Zusammenhang den Vorschlag von B. Stubenrauch, im Deutschen »zugunsten des biblischen, trinitarischen Monotheismus statt von drei göttlichen Personen nur von einer einzigen zu reden und die innere Differenzierung von Gott mit dem Begriff Persönlichkeiten auszudrücken« (B. Stubenrauch, Dreifaltigkeit, Regensburg 2002, 115).

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theologische Notwendigkeit einstellt, dann kann die Antwort nur in dem Hinweis bestehen, dass ohne Reflex auf die göttliche Ökonomie vom dreieinigen Gott nicht angemessen die Rede sein kann. Dass die Trinitätslehre von Anbeginn mit einem heilsgeschichtlichen Reflex verbunden war und ohne diesen Reflex überhaupt nicht entstanden wäre, ist traditionsgeschichtlich evident und sachlich insofern offenkundig, als die Rede von Vater, Sohn und Geist ihren Ursprung und dauerhaften Bezugspunkt erkenntlich in heilsökonomischen Zusammenhängen hat. Auch wird man schwerlich leugnen können, dass in diesem Zusammenhang der Erscheinung Jesu Christi als des auferstandenen Gekreuzigten eine besondere Stellung zukommt, unter Absehung von welcher die heilsgeschichtliche Ordnung von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung sich nicht erschließen würde, wie sie von Vater, Sohn und Geist in gemeinsamer, aber doch je eigentümlicher Weise bestimmt wird. Der Entwicklungsgang der Theologie, welche die Heilsgeschichte bedenkt, enthält zweifellos einen Fortschritt von der Protologie hin zur Eschatologie, der in der göttlichen Ökonomie selbst ihren Grund hat. Aber dieser Fortschritt lässt sich herkunftsbewusst und zielorientiert nur wahrnehmen, wenn alle Aufmerksamkeit ungeteilt auf den Anfänger und Vollender des christlichen Glaubens gerichtet wird. Christozentrik und Wahrnehmung der Weite des heilsgeschichtlichen Horizonts schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich im Gegenteil wechselseitig. Der Kanon des Alten und des Neuen Testaments, dessen Genese den pneumatologischen Prozess reflektiert, welcher die christliche Kirche konstituiert, gibt einen Beleg davon und weist zugleich der christlichen Trinitätslehre die Richtung, die sie zu nehmen hatte und die auch ihre diversen Auslegungen beizubehalten haben, sollen sie als konstruktiv angesehen werden. Die neutestamentlichen Zeugen hatten nicht die Absicht, in abstrakte Gedankenspekulationen über die Absolutheit des göttlichen Wesens und seine Binnenverfassung einzutreten; sie wollten vielmehr demjenigen, was ihrem Glauben in Jesus Christus als dem Messias der Juden und Christus der Heiden offenbar geworden war, im Zusammenhang der Überlieferungen des jüdischen Monotheismus konkreten Ausdruck geben. Ohne die monotheistische Voraussetzung zu verstellen, sollte das in Jesus Christus bereitete Heil für Menschheit und Welt dergestalt bezeugt werden, dass es als von Gott in der Kraft seines Geistes selbst erschlossen erkennbar war. Die gesamte Entwicklungsgeschichte der kirchlichen Dreieinigkeitslehre samt ihrem Resultat ist entscheidend von diesem Faktor bestimmt. Dass er auch in der westlichen Filioquethese und der mit ihr verbundenen Theorie fortwirkt, wird man schwerlich generell in Abrede stellen können. Unter den Motiven, die innerhalb der westlichen Tradition zur Affirmation des Filioque und zur Annahme geführt haben, die Lehre vom innertrinitarischen Ausgang des Hl. Geistes vom Vater und vom Sohn sei nicht nur möglich und legitim, sondern grundlegend, ja unverzichtbar, lässt sich ein Beweggrund als entscheidend identifizieren, nämlich der christologischen Be-

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stimmtheit der göttlichen Heilsgeschichte einschließlich ihrer pneumatologischen Implikationen und Konsequenzen angemessenen Ausdruck zu verschaffen. Mehr oder minder eindeutig vorausgesetzt wurde dabei, dass die Ökonomie des Heils in Gott selbst und in der Gottheit Gottes ihren Grund hat. Was die Lehre von der immanenten Trinität thematisiert, nämlich die innere Wirklichkeit des dreieinigen Gottes, sollte daher nicht unter Absehung von ökonomischen Äußerungsformen, sondern unter Konzentration auf sie und unter dem Gesichtspunkt der in Gott gegründeten Bedingung ihrer Möglichkeit in Betracht gezogen werden. Die im Glauben angenommene Offenbarung musste, wenn sie denn als Selbstmitteilung Gottes verstanden werden sollte, in ihrer Faktizität auf die Wirklichkeit Gottes selbst zurückgeführt werden. Zwischen der von der Schöpfung über die Versöhnung hin zur Vollendung verlaufenden Heilsgeschichte, die im Sinne ökonomischer Offenbarungstrinität strukturiert wurde, und der immanenten Wesenstrinität als der dreieinigen Binnenverfassung Gottes wurde ein Entsprechungszusammenhang in Anschlag gebracht. Es ergab sich der Grundsatz, dass Gott so, wie er sich durch das offenbare Geschehen seiner Heilsökonomie zeigt, auch in sich selber ist. Demgemäß sollte auch die christologische Bestimmtheit des Geistes, wie sie ökonomisch außer Frage stand, einen immanenten Grund finden, der ihr entsprach. Seine äußere Sendung durch Jesus Christus wurde insofern mit dem inneren Hervorgang des Geistes aus dem Sohn verbunden, woraus sich schlüssig das Filioque ergab. Die kompakte Rekonstruktion der Motivgeschichte des westlichen Filioquismus bedarf allerdings einer Reihe von Differenzierungen, ohne welche sie und ihr Ergebnis zwangsläufig missverstanden müssten. Dass der Vater auch unter den Bedingungen des Filioque principium sine principio bleibt, wurde niemals bestritten, sondern im Gegenteil entschieden behauptet. Principialiter, also dem genuinen Ursprung nach, geht der Geist, sofern mit diesem Begriff nicht Gott überhaupt wie etwa in Joh 4,24, sondern eine göttliche Hypostase gemeint ist, vom Vater und, wenn man so will, aus seiner Alleinigkeit hervor. Weil jedoch der Vater sein Sein als prinzipiierendes Prinzip von Ewigkeit her in Relation zum Sohn als den von ihm Gezeugten gesetzt hat, dem er alles, was sein ist, zu- und übereignet, geht der Geist auch von Letzterem aus, um auf diese Weise das Wirkzeichen der Liebe zu sein, die Vater und Sohn sich gegenseitig schenken, um durch gemeinsame Geistsendung Menschheit und Welt heilsamen Anteil an ihr zu geben. Was aber den innertrinitarischen Hervorgang des Hl. Geistes betrifft, den Vater und Sohn gemeinsam, doch ohne Aufgabe ihrer hypostatischen Verschiedenheit, wie sie im Vater-Sohn-Verhältnis begründet ist, hauchen, so handelt es sich hierbei um einen und einen in sich einzigen Prozess, der simultan statthat und weder zeitlich noch sonstwie zertrennt werden darf. So hatte es Augustin gelehrt, und so ist es unbeschadet aller Fortentwicklungen und Modifikationen augustinischer Trinitätslehre in der westlichen Tradition auch fernerhin gelehrt worden.

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Begründet wurde die unter Gesichtspunkten mathematischer Logik unsinnig anmutende These eines unbeschadet seiner Doppelheit einzigen Hervorgangs des Hl. Geistes mit dem offenbaren Geheimnis der Liebe, mit der sich Vater und Sohn innertrinitarisch um ihrer selbst, aber auch um jener Liebe willen lieben, die Menschheit und Welt geschenkweise zugute kommen soll und tatsächlich zugute gekommen ist. Diese Begründung erfolgte bei Augustin, aber selbst bei Anselm nicht unter den Prämissen einer vom biblischen Zeugnis abgehobenen Metaphysik, sondern in konkreter gedanklicher Bezugnahme auf die Schrift und auf das in ihr bekundete Evangelium. Damit ist erneut angezeigt, worauf es der westlichen Tradition im Entscheidenden ankommt, dass sich nämlich die heilsgeschichtliche Offenbarung Gottes von seinem inneren Leben zwar unterscheiden, nicht aber trennen lässt. Ökonomische und immanente Trinitätslehre stehen in einem differenzierten Zusammenhang, der Separierungen ebenso wenig erlaubt wie indifferenzierende Gleichschaltungen. Der Geist selbst wird dafür als Zeuge aufgerufen: Als dritter im göttlichen Bunde erschließt er die unvordenkliche und unaussprechliche Liebesgemeinschaft von Vater und Sohn, für die er in Person steht, ja die er an sich selbst ist, nicht damit sie aufhöre, Geheimnis zu sein, sondern damit sie als Geheimnis offenbar werde, um im Glauben wahrgenommen zu werden. Nach einer von Karl Rahner geprägten Ultrakurzformel westlicher Trinitätstheologie ist die sog. ökonomische Trinität die immanente und umgekehrt.24 Diese Formel hat ihre Richtigkeit, sofern sie besagt, dass Gott an sich selbst kein Anderer ist als in seiner heilsgeschichtlichen Offenbarung. Indes dürfen nötige Differenzierungen nicht gleichschaltend unterschlagen werden. Sie sind unter mehrfachen Aspekten geltend zu machen: Was das Verhältnis von ökonomischer und immanenter Trinität betrifft, so muss klargestellt werden, dass der in seiner Offenbarung sich entsprechende Gott selbst als der Grund dieser Entsprechung fungiert. Für die ökonomische Erkenntnis bedeutet dies, dass sie allein in Gott und nirgend sonst die Bedingung ihrer Möglichkeit findet. Gott wird nur aus Gott und aus seiner Offenbarung heraus erkannt. Die Theologie hat also, gerade wenn sie mit einer Entsprechung zwischen göttlicher Ökonomie und Immanenz Gottes rechnet, die unergründliche Faktizität der Offenbarung ebenso zu achten, wie das unvordenkliche Geheimnis Gottes, das sich in ihr erschließt. Durch die christologische Konzentration, die unbeschadet der Differenziertheit göttlicher 24 K. Rahner, Art. Trinität, in: SM IV, Sp. 1005 – 1021; ders., Art. Trinitätstheologie, in: SM IV, Sp. 1022 – 1031; ders., Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: MySal 2, 317 – 401. Zur Rezeption der These Rahners vgl. J. Wohlmuth, Trinität – Versuch eines Ansatzes, in: M. Strieth (Hg.), a.a.O., 33 – 69, bes. 37 ff. Entscheidend ist das Problem des erkenntnislogischen Status des »ist«: »Läge nur eine analoge Proportionalität der beiden syntaktischen Glieder vor, wäre Modalismus die notwendige Folge.« (41) Zur Bedeutung der chalcedonischen Christologie und seiner Interpretation der hypostatischen Union für Rahners Trinitätstheologie vgl. 43 ff.

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Immanente und ökonomische Trinität

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Heilsgeschichte für jede Form christlicher Theologie obligat ist, wird diese Notwendigkeit nicht außer Kraft gesetzt, sondern im Gegenteil bestätigt. Die Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus beseitigt nicht etwa das göttliche Geheimnis, sondern lässt es am Ort der Schöpfung, deren Ursprungsbestimmung durch Übel und Sünde verstellt ist, in der Kraft des Geistes als unergründliches Geheimnis erlösender und versöhnender Liebe offenbar werden. Die Gewissheit des Glaubens, welcher sich auf die Offenbarung des dreieinigen Gottes verlässt, ist daher mit einem Wissen um die Unergründlichkeit von deren Faktizität und mit dem beständigen Bewusstsein göttlichen Geheimnisses verbunden. Dieses Bewusstsein reflektiert sich u. a. in der dem Glauben nicht äußerlichen, sondern internen Differenzeinheit von protologischer Erinnerung und eschatologischer Erwartung, ohne welche aktuelle Glaubensgewissheit der Gegenwart des in Jesus Christus erschlossenen Geistes Gottes nicht zu denken ist. Die Trinitätslehre ist der Begriff der Unbegreiflichkeit des offenbaren Geheimnisses Gottes. Nur wenn man ihre Bestimmung im Auge behält, das Geheimnis Gottes in seiner Offenbarung und damit den unergründlichen Grund des Glaubens gedanklich zu erschließen, kann man ihren Gehalt verstehen. Ansonsten ergeben sich nur Ungereimtheiten und innere Widersprüche. Sie enden nur dann nicht in ausweglosen Aporien, wenn man die Trinitätslehre, statt sie an den Gesetzen der Verstandeslogik oder an den Regeln spekulativer Vernunft zu bemessen, dasjenige sein lässt, was sie ihrer Intention nach sein will: Denken des unvordenklichen und unausdenklichen Grundes alles Denkens, wie er in der Offenbarung Gottes manifest ist. Als Begriff des unbegreiflichen Ursprungs, Inbegriffs und Ziel allen Begreifens folgt die Trinitätslehre einer Logik, die alle Endlichkeitsschranken von Verstand und Vernunft transzendiert, ohne deshalb unverständlich oder vernunftwidrig zu sein.25 Gemäß kirchlicher Trinitätslehre findet der christliche Glaube offenbare Ursache, Mittel und Ziel im wesenseinen Gott, der in drei Hypostasen subsistiert, die als einige Gottheit zu ehren sind. Eine andere Person ist Gott der Vater, eine andere der Sohn, eine andere der Hl. Geist. Doch sind nicht drei Götter, sondern ein Gott. Jede Person ist ganz Gott und doch ist keine je für sich der ganze Gott, weil sie wesenseinig verbunden sind und sich unbeschadet ihrer unaufhebbaren und eindeutig bestimmten hypostatischen Differenz wechselseitig perichoretisch durchdringen. Obwohl der Vater nicht der Sohn und der Geist, der Sohn nicht der Vater und der Geist und der Geist nicht der Vater und der Sohn ist, sind Vater, Sohn und Geist doch eines Wesens und 25 Die Offenbarung Gottes beseitigt sein Geheimnis nicht, sondern erschließt es als Geheimnis. Gottes Offenbarung ist von der Lösung eines Rätsels ebenso kategorial unterschieden wie von Irrationalität oder einer Suprarationalität, welche die Vernunft dem Diktat einer Autorität unterwirft, die ihr äußerlich ist. Im offenbaren Geheimnis Gottes erschließt sich der Vernunft der unvordenkliche Grund ihrer eigenen Bestimmung, die zu realisieren ihr von Gott her aufgetragen ist.

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ein Gott, sodass zu sagen ist: unter diesen drei Personen ist keine die erste und keine die letzte, obwohl doch Gott Vater die erste, Gott Sohn die zweite, und der Hl. Geist die dritte trinitarische Person nicht nur genannt werden muss, sondern tatsächlich ist. Wie lässt sich die trinitätstheologische Sequenz von Vater, Sohn und Geist, in welcher der hypostatische Unterschied der göttlichen Personen seine konkrete Gestalt hat, zusammendenken mit der wesentlichen Einheit Gottes, der einer ist und einziger Gott allein? Da nach Maßgabe ihrer hypostatischen Eigentümlichkeit der göttliche Sohn und der göttliche Geist qua generatio und processio in Gottvater ihren ewigen Ursprung haben, scheint es nahezuliegen, den Begriff des Vaters unmittelbar mit demjenigen der Einheit des göttlichen Wesens gleichzusetzen, wie dies in einigen ostkirchlichen Rezeptionsgestalten der nizänokonstantinopolitanischen Trinitätslehre der Fall zu sein scheint. Gleichwohl ist eine solche unmittelbare Gleichsetzung ebenso problematisch wie der gelegentlich im Westen begegnende Versuch, die Einheit Gottes unter abstraktem Verweis auf ein von den trinitarischen Personen abgehobenes göttliches Wesen begründen zu wollen. Beide Tendenzen laufen der inneren Logik der Trinitätslehre zuwider, wonach die ungeteilte Gottheit in verschiedenen göttlichen Personen zu denken ist, die in einem eindeutig gerichteten Sequenzverhältnis zueinander stehen. Auf ihren Gegensatz wird sich daher der Filioquestreit nicht zurückführen lassen, außer man wollte ihn als sinnlose Auseinandersetzung um Positionen verstehen, die sich trinitätstheologisch gleichermaßen als abwegig zu erkennen geben. Gesetzt, dies ist nicht der Fall, und der Streit hat einen erkennbaren Wert, dann wird man den Streitwert mit genau jener Frage in Verbindung zu bringen haben, die schon bisher als die trinitätstheologisch entscheidende zutage trat: Wie verhalten sich Offenbarungstheologie und Trinitätstheologie, wie ökonomische und immanente Trinitätslehre zueinander? Ist die immanente Trinitätslehre der ökonomischen vorgeordnet, als deren Explikation funktional zugeordnet oder dergestalt beigeordnet, dass beide einen differenzierten, aber untrennbaren Zusammenhang wechselseitiger Begründung darstellen, der sich auch durch den Verweis auf eine primär noetische bzw. ontologische Perspektive nicht einseitig auflösen lässt? Dass Aussagen über das innertrinitarische Sein Gottes an sich selbst nicht unter Absehung von der Offenbarung Gottes epistemologisch zu vergewissern sind, dürfte unstrittig sein. Doch was hat man unter Offenbarung Gottes zu verstehen? Gottes Selbstmitteilung oder lediglich eine Information in Bezug auf supranaturale und suprarationale Sachverhalte? In letzterem Fall kann die Offenbarung durchaus als instruktiv gelten, ohne doch das Wesen Gottes zu erschließen. Wird hingegen die Offenbarung als göttliche Selbstoffenbarung gedacht, muss sie als Wesenserschließung verstanden werden. Wird, so ist weiter zu fragen, durch ein Verständnis von Offenbarung als Wesenserschließung Gottes zwangsläufig das Geheimnis des göttlichen Seins angetastet oder gar die Freiheit göttlichen Offenbarungshandelns negiert? Ebenso drängt

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sich die gegenläufige Frage auf: Werden Aussagen über die immanente Trinität nicht soteriologisch, ja insgesamt funktionslos, wenn sie nicht von der göttlichen Ökonomie her entwickelt und auf diese hingeordnet werden? Was das Offenbarungsverständnis betrifft, so wird man annehmen dürfen, dass es sich auch unter ostkirchlichen Bedingungen nicht lediglich instruktionstheoretisch fassen lässt. Zwar werden Schriftzitate mit einer wesentlichen trinitätstheologischen Begründungsfunktion versehen, was freilich keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal ostkirchlicher Argumentation darstellt, weil es sich in der Theologie des Westens nicht anders verhält. Aber selbst eine Stelle wie Joh 15,26 wird, so zentral ihre Bedeutung zu veranschlagen ist, nicht abgelöst vom Gesamtzeugnis der Schrift, sondern in einen Argumentationszusammenhang integriert, welcher das Offenbarungsgeschehen überhaupt im Blick hat. Photios, den sich viele orthodoxe Theologen gerade in der Behandlung der Filioquefrage zum Vorbild genommen haben, gibt dafür ein eindeutiges Beispiel. Er belässt es nicht beim Zitat von dicta probantia der Schrift, überantwortet das Offenbarungsgeschehen auch keineswegs schierer Irrationalität, sondern versucht es unter erheblichen Begriffsanstrengungen und rationalem Gedankenaufwand zu verstehen, ohne deshalb seinen Geheimnischarakter zu leugnen. Von daher scheint es nicht angemessen zu sein, die ostkirchliche Tradition auf ein Verständnis von Offenbarung im bloßen Sinne worthafter Information festzulegen, so zweifellos dieses Offenbarungsverständnis in Teilen von ihr anzutreffen ist und gelegentlich auch vorherrscht. Stellt man sich in den Umkreis der Stärke orthodoxer Theologie, dann wird man davon auszugehen haben, dass sie Offenbarung durchaus als Selbsterschließung Gottes zu verstehen bereit ist und einen Entsprechungszusammenhang zwischen der göttlichen Heilsökonomie, wie sie in der Person Jesu Christi inbegriffen ist, und der immanenten Wirklichkeit des dreieinigen Gottes keineswegs generell leugnet. Dass Gott, wie das altkirchliche Dogma definiert, ein Wesen in drei Personen ist, wird durch seine geschichtliche Offenbarung von innen heraus erkannt und gibt nicht lediglich eine Kenntnis wieder, die durch äußere Informationen gewonnen und durch schiere Autorität beglaubigt ist. Trifft dies zu und sei es auch nur unter Einschränkungen, dann wird man der ostkirchlichen Tradition nicht pauschal eine generelle Bestreitung jeden Entsprechungszusammenhangs zwischen heilsgeschichtlicher Ökonomie und immanenter Trinität unterstellen und ihren Antifilioquismus entsprechend deuten dürfen. Bekanntlich anerkannte man im Osten nicht nur, dass der Hl. Geist in der Schrift der Geist Christi heißt und von ihm gesendet wird. Auch eine terminologische Entsprechung zwischen ökonomischer Sendung und innertrinitarischem Ausgang konnte akzeptiert werden, wobei die Einsicht zu Hilfe kam, dass im Neuen Testament wie etwa in Joh 14,26 die Begriffe »senden« und »ausgehen« in Bezug auf den Vater gelegentlich vertauscht werden können. Eine analoge Entsprechung wollte man aus der zugegebenen terminologischen gleichwohl nicht folgen lassen, was

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

möglicherweise weniger mit dem Entsprechungsgedanken als solchen als mit seiner Fassung im Sinne einer auf rationale Schlussfolgerungen angelegten Analogie zu tun hat. Findet diese Vermutung an der ostkirchlichen Überlieferung auch nur ansatzweise einen Anhalt, dann ließe sich in der verständigungsorientierten Absicht, die Alternative zwischen der Affirmation des Filioque in der Westkirche und dem ostkirchlichen Antifilioquismus zu überwinden, trinitätstheologisch folgende hermeneutische Devise ausgehen: Soll die Trinitätslehre, die ja als Lehre konzipiert ist, nicht lediglich unbedacht reproduziert, zum traditionellen Formelgut herabgesetzt oder unter Verzicht auf ihr Verständnis der schieren Irrationalität preisgegeben werden, dann wird man auf ihre gedankliche Erschließung nicht verzichten können. Diese gedankliche Erschließung kann allerdings nicht aus einer Verstandeslogik und einem Vernunftverständnis heraus erfolgen, welche das offenbare Geheimnis Gottes, das die Trinitätslehre zu denken beansprucht, zu beseitigen bestrebt ist, um die eigene Einsicht an deren Stelle zu setzen. Denn seinem Gehalt entsprechend ist der Gedanke des trinitarischen Gottes nur in Gestalt eines Denkens möglich, das offen ist für die Unvordenklichkeit seines Grundes, statt sich diesen in selbstverkehrter Weise zu verstellen. Die Trinitätslehre ist der Begriff der Unbegreiflichkeit Gottes, die gerade darin offenbar ist, dass sie sich zu begreifen gibt. Gott ist nicht verschlossen in sich selbst, sondern aufgeschlossen, um sich als Geheimnis zu offenbaren. Eben dies bedenkt die Trinitätslehre, und zwar nicht im Allgemeinen, sondern unter konkretem Bezug auf die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie im Geiste manifest ist. Ein ihr entsprechendes Denken wird sonach nicht mit dem Anspruch verbunden sein, den Glauben und das religiöse Gottesverhältnis, in welchem der Glaubende steht, theoretisch substituieren oder gnostisch überbieten zu wollen. Es wird vielmehr, wenn es denn ein theologisches, auf Gott ausgerichtetes Denken ist, der Unergründlichkeit des göttlichen Geheimnisses eingedenk sein und bleiben, zugleich aber den Glauben nicht vernunftloser Irrationalität anheimgeben, sondern ihn auf das ausgerichtet sein lassen, worauf er seinem Wesen nach ausgerichtet ist: auf Gott als den Inbegriff aller Wahrheit und den unausdenklichen Grund dessen, was vernünftigerweise Vernunft zu nennen ist. Die Trinitätslehre zielt auf die Vernunft des Glaubens und zugleich auf den Glauben der Vernunft, ohne den diese nicht zu sein und zu bestehen vermag. Gott ist durch Jesus Christus in der Kraft des göttlichen Geistes als Geheimnis offenbar ; aber er ist als das Geheimnis offenbar, das er selbst ist. Der offenbare Gott ist Gott, wie er an sich selbst ist. Die Annahme hinter oder jenseits seiner Offenbarung stünde noch eine andere Wirklichkeit Gottes, liefe auf einen Widerspruch zur Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus hinaus, wie sie in der Kraft des HI. Geistes geschieht. Hat Gott in seiner Offenbarung nicht nur etwas von sich, sondern sich selbst als das Geheimnis offenbart, das er in seiner Gottheit ist, dann muss die in der Offenbarung erschlossene

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Immanente und ökonomische Trinität

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Wirklichkeit der ökonomischen Trinität auf differenzierte Weise eins sein mit der Realität, welche die sog. immanente Trinitätslehre zu bedenken hat. Das binnentrinitarische Leben Gottes bildet die Voraussetzung seiner Ökonomie und die Bedingung ihrer möglichen Erkenntnis. Doch gibt sich Gott in seiner ökonomischen Selbstoffenbarung nicht als ein anderer zu erkennen als der, welcher er in Wirklichkeit ist, sondern wirklich in seiner ewigen Eigenrealität. Die Gewissheit des Glaubens weiß darum. Sie weiß aber auch, dass all ihr Begreifen die Unbegreiflichkeit Gottes nicht auflöst, sondern bestätigt, damit zur Gewissheit gelange, was den Gehalt der christlichen Trinitätslehre als den Begriff der Unbegreiflichkeit Gottes im Tiefsten ausmacht: Gott ist nichts als reine Liebe. Das Sein Gottes, wie es in sich selber ist, ist kein anderes als das offenbare Sein Gottes. Gottes Gottheit transzendiert zwar seine Offenbarung, aber nicht um sich in einer der Offenbarung jenseitigen Transzendenz zu verschließen, sondern um sich als der unergründliche Grund der Offenbarung zu erweisen. Gilt sonach »die Regel, dass Gott in seiner Ewigkeit kein anderer ist als der, der sich uns in seiner Offenbarung erschließt« (K. Barth, KD I/I, 507), muss dann nicht auch gelten, dass die Erschließung des Geistes Gottes in Jesus Christus eine wie auch immer geartete Mitbeteiligung des Sohnes beim ewigen Hervorgang des Geistes zur unbestreitbaren Voraussetzung hat (vgl. KD 1/2, 273)? Der trinitarische Anlass, dem altkirchlichen Symbol den Filioquezusatz beizufügen, ergab sich für die westliche Theologie, als im Gefolge arianischer Irrlehren die Formel »aus dem Vater« exklusiv, nämlich im Sinne von »nicht aus dem Sohn« interpretiert wurde mit dem Ziel, die Gottheit Jesu Christi und die offenbare Selbsterschließung Gottes in ihm nicht nur in pneumatologischer Hinsicht zu problematisieren und in Frage zu stellen. Auch wenn bei der Hinzufügung des Filioque zum altkirchlichen Bekenntnis außertheologische Faktoren im Spiele waren, so wird man ihren Sachgrund doch im Kontext der gekennzeichneten historischen Situation zu würdigen haben. Eine entsprechende Würdigung darf auch vonseiten ostkirchlicher Theologie erwartet werden. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob dem berechtigten Motiv, aus dem heraus sich der Filioquezusatz ergab, allein in der Form Rechnung zu tragen ist, in welcher das Filioque in der westlichen Tradition kirchen- und theologiegeschichtlich wirksam geworden ist, nämlich in Form der Lehre, dass der Hl. Geist sein ewiges hypostatisches Sein durch Ausgang vom Vater und Sohn empfängt, die ihn in einer gemeinsamen Handlung aus sich hervorgehen lassen, welche ihnen aequaliter zukommt und die actualiter als eine einige und einzige zu gelten hat. Zweifel, ob dies notwendig der Fall sein muss, sind seit geraumer Zeit auch innerhalb der westlichen Trinitätstheologie artikuliert worden. Sie betreffen nicht den konstitutiven Zusammenhang von immanenter Trinität und der in der Christusoffenbarung inbegriffenen und erschlossenen Heilsökonomie, der vielmehr in aller Regel betont hervorgehoben und grundsätzlicher gefasst wird als vormals.

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

Hat Gott sich in Jesus Christus in der Kraft seines Hl. Geistes wirklich offenbart, dann ist er an sich selbst von Ewigkeit her kein anderer als derjenige, der sich in seinem inkarnierten Sohn erschlossen hat, um seinen ihrer Sünde verfallenen und im Übel vergehenden Geschöpfen das Heil der Versöhnung und Vollendung zu bereiten. Die ökonomische und immanente Trinität stehen nicht nur nicht in Widerspruch zueinander, sondern in einem durch den offenbaren Gott selbst begründeten und erschlossenen Entsprechungsverhältnis. Mit der Annahme eines solchen Verhältnisses ist allerdings die Differenziertheit des Zusammenhangs von ökonomischer Trinität im Sinne der wirksamen Wirklichkeit Gottes des Vaters als des Schöpfers, Gottes des Sohnes als des Erlösers und Versöhners und Gottes des Hl. Geistes als des Vollenders, und der immanenten Trinität als der Wesenseinheit Gottes in drei göttlichen Hypostasen keineswegs bestritten. Ebensowenig führt die christologische Konzentration der ökonomischen Trinitätslehre, wie sie für neuere westliche Ansätze zumeist kennzeichnend ist, eine Bestreitung der Komplexität der von der Protologie zur Eschatologie verlaufenden Heilsgeschichte mit sich. Die Zweifel am traditionellen Filioquismus sind im Gegenteil eine Konsequenz des Interesses, der Komplexität der heilsgeschichtlichen Zusammenhänge und der Differenziertheit des Verhältnisses Rechnung zu tragen, in welchem sie zur Dreieinigkeit Gottes stehen, welche die immanente Trinitätslehre bedenkt. Die innerwestliche Filioquismuskritik, die sich seit geraumer Zeit registrieren lässt, ist vor allem auf die Formalisierung der innertrinitarischen Relationen durch Monopolisierung bzw. Generalisierung der Kategorie der Ursprungsrelation bezogen, welche einer angemessenen Würdigung sowohl der Gegenseitigkeit der hypostatischen Beziehungen in Gott als auch der Einzigartigkeit der göttlichen Hypostasen je in ihrem personalen Beziehungszusammenhang im Wege stehe und so die Trinitätslehre um genau jene Konkretion bringe, die ihr unter ökonomischen Aspekten zukomme. Namentlich das Anselm’sche Axiom, wonach in Gott alles eins und eines sei, »ubi non obviat relationis oppositio«, drohe das göttliche Wesen zu einer abstrakten Einheit zu erklären und einen modalistischen Schein zu erzeugen, in dem sich genau jenes zu verflüchtigen drohe, worauf der Grundsatz eigentlich abzielt : der konkrete Gegenüberstand der göttlichen Hypostasen. Auch wenn diese Einwände selbst noch genauerer Klärung bedürfen, so können sie doch sowohl für die westliche als auch für die östliche Theologie einen Anlass bieten, gemeinsam die Rahmenbedingungen zu überprüfen, innerhalb deren der Streit zwischen Filioquismus und Antifilioquismus traditionellerweise stattfindet. Zu solcher Überprüfung gehört es, den konstitutiven Zusammenhang des trinitarischen mit dem christologischen Dogma der Alten Kirche in Betracht zu ziehen. Beide Dogmen bilden historisch und sachlich eine differenzierte Einheit. Ihre Wahrnehmung kann eine Horizonterweiterung bewirken, die über den engen Rahmen traditioneller Kontroversen hinauswiest und

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Trinitarisches und christologisches Dogma

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vielleicht auch den überkommenen Gegensatz der Dioskurenpaarung von Filioquismus und Antifilioquismus zu beheben vermag.

6. Trinitarisches und christologisches Dogma Ein origineller Denker war er nicht und wollte er nicht sein. Tätig wurde er vorwiegend als Kompilator. Gerade deshalb gilt Johannes von Damaskus (ca. 670 – 750; PG 94 – 96) als einer der großen Kirchenlehrer, der den Ertrag der patristischen Tradition und der altkirchlichen Dogmatik summarisch und in definitorischer Prägnanz zusammengefasst hat. Spätestens seit dem 4. Laterankonzil genießt sein dreiteiliges Hauptwerk »Pege gnoseos« auch im Westen das Ansehen einer die Lehrentwicklung der Alten Kirche in sich beschließenden klassischen Dogmatik.26 Das dritte Buch der »Quelle der Erkenntnis«, Ekdosis, gelegentlich auch Ekthesis genannt, ist in wesentlichen Teilen der Trinitätslehre und der Christologie gewidmet (vgl. PG 94, 792 ff). Nachdem er unbeschadet gegebener Gottesbeweise die Unbegreifbarkeit des dreieinigen Gottes zum Inbegriff theologischen Denkens erklärt hat, erörtert der Damaszener anhand der terminologischen Korrelate von ousia und hypostasis im ersten Teil seiner Ekdosis (vgl. bes. I,8) das Geheimnis der Trinität, das in Jesus Christus erschlossen ist. Die Gottheit Gottes, seine Wesenheit, sein Wille, seine Wirksamkeit usf. sind unteilbar und ungeteilt eins. Dieses eine göttliche Wesen aber subsistiert in drei vollkommenen Hypostasen, die ohne Trennung unterschieden und ohne Vermischung vereint sind: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Der Vater ist das Prinzip (arche) und die Ursache (aitia) von allem und allein ohne jedes Prinzip (anaitios) und ungezeugt (agennetos). Er ist der Zeuger des Sohnes, der zeugungsweise, und der Hervorbringer des Heiligen Geistes, der ausgangsweise von ihm ausgeht. Der Sohn ist aus dem Vater gezeugt »vor aller Zeit«, mit welcher Wendung angezeigt ist, dass die Zeugung des Logos zeit- und anfangslos und mit der Erschaffung kreatürlichen Seins nicht zu vergleichen ist. Nie gab es eine Zeit, da der Vater ohne Sohn war, sondern mit dem Vater war von Ewigkeit her der Sohn, der aus ihm gezeugt ist. Wie der Sohn nicht Sohn wäre ohne den Vater, so ist der Vater nicht Vater ohne den Sohn. Vater und Sohn stehen in einem gleichwesentlichen Beziehungsverhältnis zueinander. Anfangs- und endlos zeugt der immerseiende Gott seinen vollkommenen Logos. Ohne Trennung und Scheidung aus dem Vater gezeugt, dessen Gottheit er gleichwesentlich zugehört und in welchem er immerdar bleibt, besitzt der Sohn eine eigene Subsistenz. Wie der Sohn geht auch der Heilige Geist aus dem Vater hervor, jedoch, wie erwähnt, nicht nach Weise der Zeugnung, sondern nach Weise des Ausgangs. Dass ein Unterschied zwischen Zeugung und 26 Vgl. E.M. Buytaert, Damascenus latinus, in: Franciscan Studies 13 (1953), 37 – 70.

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

Ausgang besteht, wird nach Auffassung des Damaszeners durch die Lehre der Heiligen Schrift verbürgt, auch wenn die Art dieser Unterscheidung verborgen bleibt. Deutlich ist, dass sie einen hypostatischen Unterschied, nicht jedoch einen Unterschied des Wesens oder der Würde begründet. Es gilt der trinitätstheologische Grundsatz: ein Wesen, drei Hypostasen. Was das Verhältnis der drei göttlichen Hypostasen zum göttlichen Wesen anbelangt, so hat jede Vorstellung an eine Zusammensetzung vorweg und definitiv auszuscheiden. Das eine Wesen besteht nicht aus (unvollkommenen), sondern in drei vollkommenen Hypostasen. Die Hypostasendreiheit hinwiederum löst die Einheit göttlichen Wesens nicht tritheistisch auf, sondern ist aus sich heraus wirksam nur in der ewigen Identität der einen göttlichen Wirklichkeit. Bei der wahrnehmbaren Wirksamkeit der drei Hypostasen, wie sie die göttliche Ökonomie bestimmt, handelt es sich mithin ungeteilt um eine und dieselbe. Nur vermöge ihrer innertrinitarischen Internbeziehungen unterscheiden sich die göttlichen Hypostasen voneinander : So wahr jede von ihnen nicht weniger Einheit mit der je anderen als mit sich selbst besitzt, so wahr ist der Vater durch Ungezeugtsein, der Sohn durch Gezeugtsein und der Heilige Geist durch Ausgang in seiner Subsistenz eigentümlich bestimmt und von den anderen Hypostasen charakteristisch unterschieden. Doch wird durch solchen Unterschied die wesentliche Einheit Gottes nicht aufgelöst: ohne sich zu vermischen inhärieren die Hypostasen einander, um sich perichoretisch zu durchdringen. Kurzum: Der dreieinige Gott ist in der Unterschiedenheit eins und in der Einheit unterschieden. Johannes von Damaskus markiert nicht nur in der Rezeptionsgeschichte des trinitarischen, sondern auch in derjenigen des christologischen Dogmas einen integrativen Abschluss orthodoxer Lehrbildung in vormittelalterlicher Zeit. Die kirchliche Theorie von der Vereinigung zweier Naturen in der einen Person des Gottmenschen erwuchs aus den der Menschennatur entsprechenden und sie zugleich unvergleichlich transzendierenden Funktionen und Prädikaten, welche das neutestamentliche Zeugnis mit Jesus Christus verband. Diesem Zeugnis konnte weder auf ebionitische, noch auf doketische Weise angemessen entsprochen werden. Den Ebioniten galt Jesus Christus lediglich als ein – wenngleich mit höchsten Geistesgaben Gottes ausgestatteter – Mensch; der Doketismus stellte ihn als ein göttliches Wesen vor, das menschliche Natur nur zum Schein angenommen habe. Beide Extreme musste die Kirchenlehre strikt vermeiden. Hätte doch Jesus Christus sein Heilswerk weder ohne Gleichartigkeit seiner Natur mit der menschlichen noch ohne seine wahrhafte Gottheit, noch ohne Verbindung von Menschheit und Gottheit in seiner Person realisieren können. In diesem Sinne bekennt das Konzil von Chalcedon Jesus Christus als denjenigen, welcher als einer und derselbe vollkommen ist in der Gottheit und vollkommen in der Menschheit, der Gottheit nach Gott dem Vater wesensgleich, der Menschheit nach uns wesensgleich. Vereinigt und vereint in einer Person (prosopon) bzw. einer Hypostase (hypostasis) werden die beiden Naturen in ihrer Verschiedenheit nicht

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Trinitarisches und christologisches Dogma

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aufgehoben, sondern in ihrer je eigenen Eigentümlichkeit bewahrt, ohne dass dadurch die personale Identität und Selbigkeit Jesu Christi Schaden litte. Jesus Christus ist nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern wird als ein und derselbe in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt. Die verschlungenen Wege, auf denen das christologische Dogma von Chalcedon zustande kam, sind hier ebensowenig zu verfolgen wie die Entwicklungsstadien der daran anschließenden Streitigkeiten. Zu diesen sei lediglich vermerkt, dass manche Gegensätze durch den bereits aus der Trinitätslehre bekannten unterschiedlichen Gebrauch der Begriffe physis (ousia), hypostasis bzw. prosopon entstanden sind und sich bei entsprechender Berücksichtigung terminologischer Differenzen sachlich auflösen lassen. Das gedankliche Problem, welches die chalcedonische Definition aufgibt, ist mit diesem Hinweis indes nicht gelöst und zwar umso weniger, je mehr man es mit dem vorausgehenden trinitarischen verbindet. Spricht das trinitarische Dogma von drei göttlichen Hypostasen bzw. Personen in einem Wesen Gottes, so sollen nach Maßgabe des Konzils von Chalcedon in der Person des Gottmenschen göttliche und menschliche Natur bei Wahrung ihrer Verschiedenheit ungetrennt vereint sein. Während im trinitätstheologischen Zusammenhang der Ausdruck physis bzw. natura als Bezeichnung der einen göttlichen ousia in der Regel vermieden wurde, setzt das Chalcedonense den Natur- mit dem Wesensbegriff gleich und identifiziert zudem den Begriff der einen Person des Gottmenschen mit dem der zweiten göttlichen Hypostase, die in Jesus Christus und als Jesus Christus menschliche Natur angenommen und Mensch geworden ist. Es ergibt sich ein hochkomplexer Beziehungszusammenhang von Verhältnissen, die sich zugleich identisch und different zueinander verhalten und nicht nur in verschiedener Hinsicht den Gedanken einer differenzierten Einheit von Einheit und Verschiedenheit, sondern im Verein mit ihm auch Sequenzen zu denken aufgeben, ohne welche weder die kirchliche Trinitätslehre noch die kirchliche Christologie recht zu verstehen sind. Bestand die Hauptschwierigkeit der Trinitätslehre darin, drei Personen bei unaufhebbarer Unterschiedenheit in einem Wesen vereint zu denken, so diejenige der Christologie in der Annahme einer unter strikter Vermeidung ihrer Indifferenzierung statthabenden Vereinigung zweier Wesenheiten in einer identischen Person. Was die chalcedonische Christologie anbelangt, so wurde das von ihr aufgegebene Problem durch die Fortbestimmung nicht erleichtert, die sie in späteren Konzilien erhielt. Danach sind in der Person Jesu Christi mit den zwei Naturen auch zwei Willen und zwei Energien als dergestalt vereint zu denken, dass ihre Trennung ebenso zu vermeiden ist wie die Beseitigung ihres Unterschieds. So sei der Wille des Menschseins Jesu Christi zwar ganz eins mit dem göttlichen, ohne deshalb aufzuhören, ein eigener menschlicher Wille zu sein. Entsprechendes gelte für Verstand und Wissen des wahren Menschen Jesus Christus, welche mit dem Logos völlig konform zu denken seien, aber

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gleichwohl menschlicher Verstand und menschliches Wissen blieben. Die Annahme einer Zweipersönlichkeit des Gottmenschen wurde trotz bzw. unbeschadet dessen dezidiert abgewiesen. Christus sei nicht einer und zugleich ein anderer, sondern eine Person, auch wenn in dieser untereinander wesenhaft Verschiedenes als Verschiedenes zusammenbesteht. Auch dürfe die personale Einheit Jesu Christi nicht als ein Drittes jenseits der in ihr vereinten göttlichen und menschlichen Natur gedacht werden; die eine Person Jesu Christi sei vielmehr als von Anbeginn und ganz und gar durch den Logos personiert zu denken, ohne dadurch in ihrem wahren und wirklichen Menschsein beeinträchtigt zu werden und eines eigenen menschlichen Willens samt der sonstigen Eigentümlichkeit menschlicher Natur zu entbehren. Das vollkommene Menschsein Jesu Christi bestehe im Gegenteil darin, dass dieser als Mensch zwar anders, aber keine andere Person ist und sein will als diejenige, die er als inkarnierter Logos zu sein bestimmt ist. Durch die Annahme, keine Persönlichkeit zu sein und sein zu wollen, die das Personsein selbst konstituiert, um unmittelbar in sich zu subsistieren, soll der Mensch Jesus Christus nicht etwa zu einer unpersönlichen und daher menschlich unvollkommenen Größe herabgesetzt werden, weil er im Gegenteil in der Person des göttlichen Logos, der ihn personiert, die vollkommene Erfüllung seines Menschseins als Menschsein findet. Man mag fragen, ob die Enhypostasielehre bzw. die dogmatische These einer anhypostatischen Menschennatur Jesu Christi vereinbar ist mit dem Gedanken eines seiner selbst bewussten Ich, ohne welchen weder menschliche Willensvollzüge noch Tätigkeiten des menschlichen Verstandes sinnvoll zu denken sind. Von der kirchlichen Lehre her ist diese Frage zu bejahen und zugleich zu behaupten, dass das Ich des Menschen überhaupt nur dann zu rechter Wahrnehmung seiner selbst und zu seiner Bestimmung gelangt, wenn es sich als in Gott bzw. im göttlichen Logos gründend wahrnimmt und weiß. Ob und wie sich diese Behauptung von den begrifflichen Grunddaten des christologischen Dogmas her lehrmäßig begründen lässt, bleibt freilich ein Problem, dessen Lösungsansätze sich am ehesten anhand der Lehre von der Mitteilung der Eigenschaften zwischen der Person und den beiden Naturen Jesu Christi finden lassen, deren traditionelle Bestimmungen Johannes von Damaskus in systematischer Form zusammengefasst hat. Gemäß dem Begriff der Perichorese, der von der Christologie her auch in der Trinitätslehre Eingang fand, sind die zwei Naturen in Jesus Christus kraft ihrer personalen Einigung und Einheit dergestalt ineinander, dass die göttliche die menschliche Natur ganz durchdringt und die menschliche von der göttlichen ganz durchdrungen wird. Auch die trinitarischen Personen wohnen einander inne und gehen trotz ihrer unaufhebbaren Verschiedenheit von Ewigkeit zu Ewigkeit nicht auseinander, so dass ihre Bewegung eine gemeinsame und ihre Tätigkeit stetig vereint und wesentlich identisch ist. Ohne in ihrem Ineinandersein sich zu vermischen oder untereinander zu verschmelzen, inhärieren sie doch einander und hängen gegenseitig so zusam-

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Trinitarisches und christologisches Dogma

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men, dass unbeschadet ihrer Unterschiedenheit von einer Trennung der göttlichen Hypostasen in keiner Weise die Rede sein kann. In ihrer Unterschiedenheit ungetrennt durchdringen sie einander so, dass sie in ihrer personalen Differenz wesenhaft eins sind. Sind die göttlichen Personen der Trinität in ihrer hypostatischen Unterschiedenheit eines Wesens und ein Gott, so sind in Jesus Christus Gottheit und Menschheit als wesentlich unterschieden personal dergestalt eins, dass wie in der Trinität eine Perichorese statthat, mit dem Unterschied freilich, dass die Durchdringung keine wechselseitige ist, weil das Ineinander ganz vom Gottsein des Gottmenschen bewirkt, von seinem Menschsein hingegen mere passive empfangen wird. Entsprechend dieser Perichorese können nach Johannes von Damaskus der Person Jesu Christi, der als ein und derselbe göttliche und menschliche Natur vereint, die Eigentümlichkeiten beider beigelegt werden und zwar gleichermaßen, ob die Person nur nach der einen oder anderen oder nach beiden benannt wird. So kann gesagt werden, der Mensch Jesus Christus sei Weltschöpfer, der Sohn Gottes gestorben bzw. der Gottmensch habe das Seiende ins Sein und Leben gerufen sowie den Tod des Kreuzes, Nichtigkeit und Hölle erlitten. Zwar können, wenn von einer der beiden Naturen Jesu Christi die Rede ist, dieser nicht die Eigentümlichkeiten der jeweils anderen zugeschrieben werden. Es kann also nicht gesagt werden, Jesus Christus habe gemäß seiner göttlichen Natur gelitten und gemäß seiner menschlichen die Welt erschaffen. Abstrahiert man aber von der Abstraktheit, die eine christologische Rede kennzeichnet, welche nicht auf die Personeinheit Jesu Christi konzentriert ist, und richtet sich konsequent an dieser aus, dann nimmt die Lehre von der Mitteilung der Eigenschaften zwischen der Person und den beiden Naturen konkrete Gestalt an. Im Mittelalter wurde die christologische Lehre von Idiomenkommunikation im Wesentlichen in der Form behandelt und variiert, die von Johannes von Damaskus tradiert worden war. Erst in der Reformation kam es zu einer wichtigen Fortbildung mit einer pointierten Zuspitzung vor allem auf lutherischer Seite. Hätte allein die menschliche Natur und Jesus Christus bloß als Mensch für uns gelitten, so wäre er ein schlechter Heiland, ja selbst eines Heilandes bedürftig, sagt Luther. Zwar bestreitet der Reformator nicht, dass von einem Leiden und Sterben der göttlichen Natur abgesehen von der Person Jesu Christi nicht die Rede sein kann. Aber von Jesu Christi Person abzusehen, ist für ihn Indiz einer abstrakten Theologie, die konkret und heilsförderlich nur dann werden kann, wenn sie auf die unvergleichliche personale Einheit dessen ausgerichtet wird, in dem Gottheit und Menschheit selbig geworden sind. Es ist daher nicht nur eine Redefigur, sondern Ausdruck einer wahren, aber unausdenklichen und unaussprechlichen Realität, wenn das Kreuz als Tod des Sohnes Gottes, ja Gottes selbst benannt wird, der Sünde und Übel auf sich genommen hat, um Menschheit und Welt mit sich zu versöhnen und zu erlösen aus allem Bösen.

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Die lutherische Lehre von der Mitteilung der Eigenschaften zwischen der Person und den beiden Naturen Jesu Christi ist ganz durch die Theologie von Kreuz und Auferstehung geprägt. Kreuz und Auferstehung markieren das innere Zentrum der Christologie, deren äußerer Grund durch das Inkarnationsgeschehen bestimmt ist. Die Inkarnation ist unbestrittene Voraussetzung von Ostern, aber sie erschließt sich als solche nur von dorther. Dass der auferstandene Gekreuzigte die Mitte lutherischer Christologie und Theologie darstellt, bestätigt sich auch im Zusammenhang der Abendmahlslehre, die Anlass binnenreformatorischen Streits und den Anstoß dafür gegeben hat, die christologische Lehre der communicatio idiomatum so auszugestalten, wie dies in der Konkordienformel von 1577 und der anschließenden Dogmatik der altlutherischen Orthodoxie der Fall ist. Reales Implikat der wirklichen und nicht nur scheinbar bestehenden unio personalis von Gott und Mensch in Jesus Christus ist die tatsächliche und wahre communio naturarum, die freilich in ihrer Faktizität als unvordenklich und plane ineffabilis zu gelten hat und nur auf die Offenbarung des Geheimnisses Gottes selbst zurückzuführen ist, der sich in ihr frei und ungezwungen nicht nur als der unergründliche Grund aller Wirklichkeit, sondern auch und insbesondere in der Unbegreiflichkeit seiner die göttliche Gerechtigkeit versöhnenden Liebe erschließt. Infolge der offenbaren Faktizität der Gemeinschaft göttlicher und menschlicher Natur in der Person Jesu Christi kann realiter und nicht etwa nur in Form einer bloßen Redefigur nach Weise der sog. proportiones personales das konkrete Substantiv der einen vom konkreten Substantiv der anderen Natur ausgesagt werden: Gott ist in Jesus Christus Mensch, der Mensch Jesus Christus ist Gott. Zugleich hat vermöge der in der unio personalis gründenden Gemeinschaft der Naturen eine reale Mitteilung der Eigenschaften und Wirkungen statt, in deren Realität und Vollzug sie in Jesus Christus ihr Wesen haben: die sog. communicatio idiomatum. Aus ihr ergeben sich die sog. propositiones idiomaticae, bei denen es sich ebenso wie bei den sog. propositiones personales nicht lediglich um figürliche Reden, sondern um den Ausdruck realer Verhältnisse handelt. Zwei Arten und zwei Unterarten, also vier genera von propositiones idiomaticae kommen in Betracht. Ist die Person des Gottmenschen das Subjekt, von dem Eigenschaften sei es der göttlichen, sei es der menschlichen Natur prädiziert werden, handelt es sich um das sog. genus idiomaticum (z. B. Jesus Christus ist von Ewigkeit aus Gott bzw. in der Zeit aus Maria geboren). Das sog. genus apotelesmaticum liegt vor, wenn entweder der göttlichen oder der menschlichen Natur als Subjekt Eigentümlichkeit der Person des Gottmenschen als Prädikate beigelegt werden (z. B. der vom Menschen Jesus erlittene Tod hat gottmenschliche Versöhnung bewirkt). Werden im genus idiomaticum und im genus apostelesmaticum der aus der communicatio idiomaticum sich ergebenden propositiones Person und Natur nach ihren Eigenschaften ins Verhältnis von Subjekt und Prädikat gesetzt, so bleiben als logisch denkbare

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Trinitarisches und christologisches Dogma

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Möglichkeiten die beiden Fälle, in denen sich die beiden Naturen wie Subjekt und Prädikat zueinander verhalten. Im sog. genus auchematicum oder maiestaticum geht es um die Frage, ob und gegebenenfalls inwiefern von der menschlichen Natur in Jesus Christus als Subjekt Eigenschaften der göttlichen Natur prädiziert werden können. Diesbezüglich kam es zum Konflikt zwischen Lutheranern und Reformierten. Letztere verneinten unter Berufung auf die Tradition, was erstere nicht nur aus abendmahlstheologischen Gründen dezidiert behaupteten, dass nämlich der menschlichen Natur Jesu Christi als Subjekt Prädikate der göttlichen zukommen. Die lutherische Behauptung ging nicht dahin, der Menschheit abstrakt, also unter Absehung von der Person Jesu Christi und ihrer unvergleichlich singulären Stellung göttliche Eigenschaften und Wirkungen beizulegen. Nicht abgesehen von ihrer personalen Vereinigung mit der göttlichen, wie sie in Jesus Christus offenbar ist, sollten der menschlichen Natur göttliche Prädikate zukommen, wohl aber in ihr und vermöge ihrer. In der Person des Gottmenschen hat nach lutherischer Auffassung kraft der personalen unio göttlicher und menschlicher Natur, die ihn auszeichnet und charakterisiert, eine wirkliche Mitteilung göttlicher Eigentümlichkeit bzw. göttlichen Eigentums an sein Menschsein statt, so dass der Mensch Jesus realiter am Gottsein Gottes teilhat und an göttlichen Hoheitseigenschaften wie dem Vermögen zur Ubiquität tatsächlich partizipiert. Damit ist nicht weniger gesagt, als dass in der Person Jesu Christi sich die Gottheit dergestalt in der Menschheit als ihrem anderen expliziert, dass dem Menschsein Jesu als Menschsein göttliche Eigenschaften zu eigen sind. Diese dem Menschsein Jesu eigenen Eigenschaften sind zwar göttlich zugeeignet; aber als empfangene sind sie dem Menschen Jesus als ihm selbst eigen. Die christologische Spitzenaussage, derzufolge Jesus Christus als Mensch vermöge der unio göttlicher und menschlicher Natur in seiner Person realen Anteil hat an den Eigenschaften Gottes, mochten sich weder Reformierte noch die sog. Altgläubigen gefallen lassen. Bald wurde der Vorwurf des neuen Dogmas der lutherischen Christologie und damit der häretischen Abweichung von der überkommenen verbindlichen Lehre erhoben. Die Lutheraner selbst versuchten ihre Auffassung u. a. dadurch zu verteidigen, dass sie zwischen Wesenseigentum und geliehenem Eigentum unterschieden und die menschliche Natur nur leihweise an den göttlichen Eigenschaften Anteil haben ließen. Differenziert wurde ferner zwischen göttlichen Attributen, die sich der menschlichen Natur Jesu Christi kraft der unio von Gottheit und Menschheit in seiner Person unmittelbar und solchen, die sich ihr nur mittelbar mitgeteilt haben. Erstere wurden die tätigen, letztere die ruhenden Eigenschaften Gottes genannt. Doch konnte man mit Distinktion dieser Art nicht nur die Gegner nicht überzeugen, es musste zugleich der Eindruck entstehen, die Spitze, auf welche die Christologie eben erst getrieben wurde, solle sogleich wieder abgebrochen werden. In der Tat ist zu fragen, ob der Ansatz, den die lutherische Christologie im Zusammenhang des genus maiestaticum der Idiomenkom-

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munikation genommen hatte, innerhalb eines durch Begriffe der Natur, des Wesens und der Hypostase bestimmten christologischen Kategoriensystems konsequent zur Durchführung zu bringen war. Hätte es nicht in der Konsequenz dieses Ansatzes gelegen, nun auch noch ein logisch folgerichtiges viertes Genus der Idiomenkommunikation konstruktiv in Angriff zu nehmen und der göttlichen Natur Prädikate zuzusprechen, die der menschlichen Natur Jesu Christi eigentümlich sind? Müssen unter den Bedingungen lutherischer Christologie nicht von der göttlichen Natur in Jesus Christus als Subjekt auch Eigenschaften der menschlichen Natur dergestalt prädiziert werden, dass von einem Leiden und Sterben der Gottheit im Gottmenschen nicht nur die Rede sein kann, sondern die Rede sein muss? Die Dogmatiker der altlutherischen Orthdoxie wagten es nicht, diese Frage zu bejahen, sie verneinten sie vielmehr einstimmig mit dem traditionellen Hinweis, dass die göttliche Natur stets aktiv und nie passiv, in ihrer wesentlichen Vollkommenheit allein gebend und in keiner Weise empfangend und dergestalt vollkommenes Subjekt sei, dass alle mit ihr zu verbindenen Prädikate immer nur die ihr unmittelbar eigenen sein können. Ein genus tapeinotikon der Idiomenkommunikation lehnte man daher ab, weil man dadurch den traditionellen Rahmen der Christologie gesprengt und die Gefahr vor allem des Theopaschitismus heraufbeschworen sah. Diese Gefahr ist in der Tat nicht geringzuschätzen; nicht minder geringzuschätzen freilich ist die Gefahr einer Verharmlosung des Inkarnations- und Versöhnungsgeschehens, die dann manifest ist, wenn die Theologie die Gottheit Gottes als im Innersten ihres Wesens vom Geschehen der Menschwerdung und namentlich der Passion Jesu Christi unbetroffen sein lässt. Das österliche Heil, welches der Pfingstgeist erschließt, wäre dann um seine Tiefe und um seine heilsame Wirkung gebracht, am Ort abgründiger Trostlosigkeit und Verzweiflung Trost zu spenden und eine Glaubensgewissheit zu begründen, die weder Tod noch Teufel von Gottes Liebe zu scheiden vermag. Der Mangel an innerer Konsistenz und Konsequenz altlutherischer Christologie ergibt sich im Wesentlichen daraus, dass sie trotz ihrer Konzentration auf den auferstandenen Gekreuzigten und Gottes Selbstoffenbarung in ihm, wie der göttliche Geist sie auf Glauben hin erschließt, ihren Ausgang nicht von dort, sondern von der Vorstellung der Inkarnation nimmt, die einschließlich ihrer vom trinitarisch-christologischen Dogma der Alten Kirche definierten Implikationen und Prämissen als mehr oder minder unmittelbar gegebenes Datum vorausgesetzt wird, ohne genauer auf die konkreten Vermittlungszusammenhänge zu reflektieren, die zu dieser Voraussetzung geführt haben und in sie eingegangen sind. Nicht dass geleugnet werden sollte, dass das Inkarnationsgeschehen die Voraussetzung der Geschichte des Lebens und Sterbens Jesu Christi und seiner Auferstehung und himmlischen Erhöhung darstellt. Aber als solche erschließt sie sich nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, sondern nur vermittels jenes Ereignisses, für die sie als Voraussetzung in Anschlag gebracht wird.

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Trinitarisches und christologisches Dogma

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Ohne die österlich manifeste Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten könnte dieser nicht nur nicht als der inkarnierte Logos bezeugt werden, in welchem sich Gott in der Kraft seines Geistes als Vater offenbart, es wäre es auch nicht, womit der Christologie und mit ihr der Trinitätslehre ihr offenbarer Grund entzogen wäre. Zwar lässt sich die österliche Offenbarung nicht ohne die Wirklichkeit des dreieinigen Gottes denken, dessen Geheimnis die Bedingung ihrer Möglichkeit ist. Aber als unbegreiflicher Grund seiner Offenbarung im auferstandenen Gekreuzigten ist der dreieinige Gott nur im auferstandenen Gekreuzigten offenbar, unter Absehung von dem weder von der Logosinkarnation noch überhaupt vom trinitarischen Leben Gottes recht die Rede sein kann. Das altkirchliche Dogma versteht sich deshalb nicht unmittelbar, sondern nur aus dem Vermittlungszusammenhang heraus, den es reflektiert und der sich im Mittler kraft des Hl. Geistes als von Gott selbst vermittelt erschließt. Wird der Vermittlungszusammenhang nicht hinreichend bedacht, in dem das Dogma der Alten Kirche steht, dann ergeben sich Widersprüchlichkeiten, die es von innen heraus zu zersetzen drohen. In der lutherischen Christologie werden sie besonders in der sog. Ständelehre erkennbar, mit deren Hilfe die von der Lehre von der Idiomenkommunikation nicht bewältigte Aporie, Niedrigkeit und Hoheit der Person Jesu Christi in einem zu denken, eigentlich hätte behoben werden sollen. Treten im auferstandenen Gekreuzigten Niedrigkeit und Hoheit in einem einigen, aber gleichwohl differenzierten und mit einem eindeutigen Richtungssinn versehenen Zusammenhang zutage, der inbegriffen ist in der Person dessen, der österlich erscheint und in dem Gott selbst sich in der Kraft seines Geistes offenbart, so werden nach der traditionellen Ständelehre dem status exinanitionis und dem status exaltationes gesonderte Vollzugsmomente der Geschichte Jesu Christi zugeteilt, jedoch so, dass im Stand der Erniedrigung derjenige der Erhöhung und umgekehrt präsent bleiben soll. Kam als Subjekt der Erniedrigung zunächst der Logos in seiner göttlichen Hoheit in Betracht, so wandelte sich gemäß inkarnationstheologischer Logik die Perspektive, sofern nach erfolgter unitio und unio personalis die Person des Gottmenschen als des inkarnierten Logos, näherhin seiner menschlichen Natur als Bezugspunkt christologischer Rede von exinanitio und exaltatio in Betracht kam. Zwar soll nach lutherischer Lehre vom genus maiestaticum der Idiomenkommunikation nicht nur die Person des Gottmenschen, sondern auch seine menschliche Natur seit dem Augenblick der Logosinkarnation, der durchaus als zeitlicher Anfang gedacht wurde, an den Eigenschaften göttlicher Hoheit Anteil haben; doch offen zutage getreten sind diese erst im Verlaufe der mit Ostern anhebenden Ereignisse, an deren Ende Jesus Christus zum Himmel gefahren und zur Rechten Gottes erhöht wurde, um am Ende der Tage wiederzukommen in Herrlichkeit. Zuvor jedoch, von seiner Empfängnis bis hin zum Kreuzestod und seiner Grablegung sei Jesus Christus im Modus der Erniedrigung in Erscheinung getreten, wobei binnenlutherisch umstritten

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

blieb, ob er seine Hoheit, die ihm seit der Logosinkarnation und der in ihr gründenden unio personalis auch gemäß seinem Menschsein zukam, lediglich verborgen hielt, wie die Tübinger, oder sich ihrer, wie die Gießener Theologen meinten, dergestalt entäußert hat, dass er von wenigen Ausnahmen wie förmliche Wundertaten abgesehen keinen Gebrauch von ihr machte. Lediglich vermerkt sei der Streit, ob die Höllenfahrt Jesu Christi dem status exinanitionis oder dem status exaltationis zuzuweisen sei. Denn so wichtig dieser Streit ist, sein Ergebnis löst, wie immer man es ausfallen lässt, nicht das Grundproblem, welches die Ständelehre der altlutherischen Dogmatik mit der Lehre von der Idiomenkommunikation gemeinsam hat. Dieses Problem lässt sich nur einer Lösung zuführen, wenn die Christologie bei jenem Urdatum ansetzt, bei dem sie und im Zusammenhang mit ihr die Trinitätslehre nicht nur ihren historischen Ausgang genommen hat, sondern der ihr Beginnen durchgängig und prinzipiell zu bestimmen hat, nämlich bei den österlichen Erscheinungen, in denen sich der im Kreuz Erniedrigte als der erhöhte Sohn des in ihm in der Kraft seines Geistes offenbaren Vaters erweist. Mag den ersten Zeugen anfangs auch noch nicht hinreichend bewusst geworden sein, wie ihnen geschah, so liegt, was das altkirchliche Dogma zum Inhalt hat, doch in der Konsequenz dieses Geschehens, welches sie in einer Weise ergriffen hatte, die alles Begreifen transzendiert, weil es in der Unbegreiflichkeit des offenbaren Liebesgeheimnisses Gottes seinen unergründlichen Grund hat. Diesen Grund folgerichtig bis dahin zu bedenken, dass er als Grund des Denkens selbst sich zu erkennen gibt, ist das eigentliche Ziel des Dogmas der Alten Kirche und aller Dogmatik.

7. Der auferstandene Gekreuzigte als Offenbarer des dreieinigen Gottes Vom lutherischen Dichterpfarrer Johann Rist (1607 – 1667), einem wichtigen Vertreter der deutschen Barockpoesie im Anschluss an Martin Opitz, stammt die zweite Strophe des im Übrigen von einem katholischen Autor verfassten Liedes »O Traurigkeit, o Herzeleid«. Sie erinnert an die Grablegung Jesu Christi und lautet in ihrer Ursprungsversion: »O große Not! Gott selbst liegt tot. / Am Kreuz ist er gestorben; / hat dadurch das Himmelreich / uns aus Lieb erworben.« Hegel hat den Satz »Gott selbst liegt tot« als prononcierten Ausdruck der Theologie Luthers und der Wittenberger Reformation wiederholt zitiert und als Inbegriff seiner spekulativen Versöhnungslehre geltend gemacht. Im aktuellen Evangelischen Gesangbuch (80,2) ist er in der Lesart »Gott Sohn liegt tot« wiedergegeben, die bald schon als weniger anstößig bevorzugt wurde. Sie verweist auf christologisch-trinitätstheologische Differenzierungsbedürftigkeit der Ursprungsfassung, die aber nicht als dogma-

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tisch falsch beurteilt werden muss, wie gelehrte Liedkommentare aus der Zeit der altlutherischen Orthodoxie eigens bekunden.27 Schon bei Tertullian findet sich das Wort vom deus crucifixus, und kein Geringerer als Athanasius hat die Rede vom gekreuzigten Gott und vom Tode Gottes verteidigt. Die Erinnerung an die Tatsache, dass sie ursprünglich in einen christologisch-theologischen und nicht etwa in einen atheistischen Kontext gehört, soll zum Anlass der abschließenden These genommen werden, dass die theologia crucis, näherhin der auferstandene Gekreuzigte Jesus von Nazareth sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht Ansatzpunkt und Grundlage der Ausbildung des altkirchlichen Dogmas bildet. Ostern ist das Urdatum des Christentums. An Ostern erscheint der gekreuzigte Jesus von Nazareth kraft seiner Auferweckung durch den Geist Gottes als der Auferstandene, um in personaler Einheit mit seinem Menschsein als Messias, Christus, Sohn Gottes in seinem göttlichen Wesen vorstellig zu werden. Der Erhöhte ist der Erniedrigte, anders wohl, aber kein anderer, sondern identisch mit Jesus, der auf Erden gelehrt und gelitten hat, um am Kreuz zu sterben. Der am Kreuz gestorbene Mensch Jesus ist Gottes Sohn und als der österliche Herr in der Selbigkeit seiner gottmenschlichen Person eines Wesens mit der Gottheit Gottes. Die Identitätsaussage, derzufolge der österliche Christus Jesus ist und kein anderer, beseitigt nicht den Unterschied von Mensch und Gott, sondern hebt ihn dergestalt in sich auf, dass er bewahrt, seiner Bestimmung zugeführt und zugleich in jener Gegensätzlichkeit negiert wird, die unter postlapsarischen Bedingungen alternativlos mit ihm verbunden ist. Der auferstandene gekreuzigte Jesus von Nazareth ist in Person wahrer Mensch und wahrer Gott. Das christologische Dogma von der personalen Einheit Gottes und des Menschen, wie es sich vom auferstandenen Gekreuzigten her erschließt und in ihm beschlossen ist, bedarf der Explikation durch das trinitarische Dogma, das es zur impliziten Voraussetzung hat. Denn die personale Einheit Gottes und des Menschen, wie sie im auferstandenen Gekreuzigten gegeben und in seiner österlichen Selbsterschließung offenbar geworden ist, kann ohne Wahrnehmung trinitarischer Bezüge nicht erfasst und theologisch als die Wirklichkeit begriffen werden, die im unbegreiflichen Geheimnis Gottes 27 Vgl. insgesamt E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit von Theismus und Atheismus, Tübingen 21977, 84 f. Was es heißt, dass Gott nach Karl Barth in trinitarischer Lebendigkeit »ungetrennt Anfang, Fortsetzung und Ende und so in seinem Wesen zugleich das Alles ist« (KD II/1,693), hat Jüngel in seiner Paraphrase »Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth« (Tübingen 1965) zu explizieren versucht. Der Ansatz seiner eigenen Trinitätslehre tritt darin bereits erkennbar zutage. Grundlegend für ihn ist ferner der 1968 veröffentlichte Text »Vom Tod des lebendigen Gottes. Ein Plakat« (ZThK 65 [1968], 93 – 116; wiederabgedruckt in: ders., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, München 1972, 21988, 32000, 105 – 125). Vgl. R. Dvorak, Gott ist Liebe. Eine Studie zur Grundlegung der Trinitätslehre bei Eberhard Jüngel, Würzburg 1999. Ferner : E. Paulus, Liebe – das Geheimnis der Welt. Formale und materiale Aspekte der Theologie Eberhard Jüngels, Würzburg 1990.

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

selbst ihren Grund hat. Der gekreuzigte Jesus ist zwar als er selbst, nicht aber von sich aus auferstanden, sondern vom Geist dessen erweckt worden, dem er als seinem Vater vertraute. Wie das Selbstverhältnis Jesu nicht zu denken ist ohne sein Gottesverhältnis, so steht die österlich offenbare Person des auferstandenen Gekreuzigten in ihrer gottmenschlichen Einheit in einem konstitutiven Verhältnis zu Gott dem Vater, mit dem sie in Unterschiedenheit eins ist. Der österlich offenbare Sohn ist nicht, was er ist, ohne den göttlichen Vater. Doch ist auch der Vater, was er ist, nicht ohne den Sohn, mit dem er sich vielmehr unbeschadet seiner Unterschiedenheit von ihm an Ostern ganz und gar und ohne jeden Vorbehalt identifiziert hat, um in ihm das zu sein, was er an sich selbst und nichtsdestoweniger durch den Sohn ist. Wie Auferweckung und Auferstehung des Gekreuzigten einen differenzierten Zusammenhang bilden, der in der Person des österlich erscheinenden Gottmenschen offenbar ist, so sind Vater und Sohn in ihrer personalen Unterschiedenheit wesentlich eins. Weil aber das wesenseinige Personverhältnis von Vater und Sohn, welches sich an Ostern offenbart, nicht verschlossen, sondern in sich selbst und als es selbst vollkommen aufgeschlossen ist für das, was es nicht unmittelbar selbst ist, kann es nicht als bloß binitarisches, sondern muss als trinitarisches und als ein Verhältnis aufgefasst werden, das nicht nur auf den Hl. Geist als Dritten im göttlichen Bunde bezogen, sondern von diesem zugleich mit konstituiert ist. Wie die österliche Wirklichkeit des auferstandenen Gekreuzigten nicht real wäre ohne den Geist, der es begründet und erschließt, so wären Vater und Sohn, was sie in ihrem Verhältnis zueinander sind, nicht ohne den Geist, der als von ihnen unterschiedene Hypostase gleichwesentlich und in unveräußerlicher Innigkeit zur Gottheit Gottes gehört. Im auferstandenen Gekreuzigten ist der dreieinige Gott als jenes Geheimnis offenbar, welches die gottmenschliche Personwirklichkeit Jesu Christi begründet, in der die Heilsgeschichte Gottes mit Menschheit und Welt inbegriffen ist. Die ökonomische Trinität ist die immanente und umgekehrt, wurde gesagt. Dieser Satz hat insofern, aber auch nur insofern seine Richtigkeit, als Gottes Gottheit und seine Ökonomie im auferstandenen Gekreuzigten koinzidieren, der als das offenbare Geheimnis Gottes zu gelten hat und von dem alle Aussagen über Gottes Heilsgeschichte und sein trinitarisches Wesen ihren Ausgang zu nehmen haben, weil er ihren Erschließungsgrund und ihr Sinnziel darstellt. Um die Zentralaspekte göttlicher Ökonomie ins Auge zu fassen, welche die Tradition in der Regel mit den Begriffen der Schöpfung, der Versöhnung und der Vollendung beschrieben hat, so kann die christliche Schöpfungslehre als die Lehre vom göttlichen Konstitutions- und Erhaltungsgrund sowie vom Bestimmungsziel etc. alles Seienden nicht unter Absehung von der Offenbarung in Jesus Christus entfaltet werden. Als der inkarnierte Logos, als welcher der Irdische an Ostern vorstellig wird, ist Jesus Christus der Mittler der Schöpfung, welche Gott der Vater in der Kraft seines Hl. Geistes ins Werk setzt.

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Am Kreuz des Irdischen hinwiederum, wie es im Lichte Osterns erscheint, werden Übel und Sünde in ihrem gottwidrigen Unwesen auf abgründige Weise erkenntlich. Dass gleichwohl nicht das Gericht des gerechten Gottes über den in sich widrigen Ungeist des Bösen das letzte Wort des Schöpfers über seine Kreatur ist, erschließt sich an Ostern am auferstandenen Gekreuzigten selbst, welcher in der Einheit seiner gottmenschlichen Person und seines gottmenschlichen Wirkens, wie der Hl. Geist sie bezeugt, als Gott der Versöhner und Erlöser zu bekennen ist, in welchem das Heil für Menschheit und Welt gründet, welches als Evangelium in Wort und Sakrament auf Glauben hin zu verkünden die vorrangige Bestimmung der Kirche ist. Sie entspricht dieser Bestimmung in der Gewissheit der Zukunft dessen, der gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Auch das eschatologische Lehrstück kommt ohne Christozentrik nicht aus, welche allerdings von Christomonismus jedweder Art kategorial abzuheben ist. Ist doch Jesus Christus, der auferstandene Gekreuzigte, Sohn und Offenbarer Gottes als die gottmenschliche Person, deren personale Wirklichkeit und Wirksamkeit nur aus einem trinitarischen Zusammenhang heraus und nur unter Voraussetzung dieses Zusammenhangs verstanden werden kann. Dies wird in der nötigen Klarheit spätestens dann deutlich, wenn die gebotene Christozentrik inhaltlich bestimmt wird. Dass der irdische Jesus nicht sein wollte wie Gott, sondern sich selbst im Unterschied zum alten Adam konsequent von Gott unterschied, ist evident und wird in seiner Evidenz durch Ostern nicht etwa problematisiert, sondern definitiv bestätigt und zur Erscheinung gebracht. Wahrer Mensch und vollkommenes Geschöpf, in dem der göttliche Schöpferlogos selbst inkarniert ist, ist Jesus nicht anders als in gänzlicher Selbstunterscheidung von seinem göttlichen Vater, in welchem allein er seine Sohnschaft begründet weiß. Die elementare Bedeutung dieses Grundsachverhalts nötigt zu komplexen christologischen und theologischen Überlegungen, welche Individualität und Personsein des Irdischen, wie er sich an Ostern zeigt, ebenso betreffen wie das Verhältnis von Gottheit und Menschheit in ihm. Als der logospersonierte Mensch, der als Mensch mit der zweiten Hypostase der Gottheit personal identisch ist, kann der Irdische nur als derjenige gedacht werden, der sich selbst von seinem göttlichen Vater, in dem sein Sein gründet, kategorisch und zwar dergestalt unterscheidet, dass er nicht etwa als Mensch unmittelbar der Logos sein wollte, sondern Mensch nicht anders denn auf logosvermittelte Weise. Als der gottentsprechende Mensch ist der irdische Jesus mit dem Logos personal identisch und als die Person des inkarnierten Logos der gottentsprechende Mensch und kreatürliches Vorbild nicht nur, sondern Urbild des Geschöpfs, das als Geschöpf ganz im Schöpferlogos Gottes selbst gründet, weil es sich gänzlich von Gott dem Vater, auf den es sich verlässt, differenziert. Fasst man die Sendung und Botschaft des irdischen Jesus in ihrer konkreten Ausrichtung auf die eschatologische Zukunft des Gottesreiches ins Auge, dann tritt der Gehalt der skizzierten Aussagen noch bestimmter zu-

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tage. In der Perspektive der Glaubenden steht die Schöpfungsanamnese, zu der die österliche Erinnerung des Irdischen als des wahren Geschöpfs und inkarnierten Logos Anlass gibt, unter dem Vorzeichen der Vergangenheit. Zwar ist, was der im österlichen Lichte erscheinende Irdische dem Glauben vorstellig macht, die ursprüngliche Bestimmung des Menschen in Gottes guter Schöpfung. Aber diese Bestimmung wird als verfehlte und damit prinzipiell vergangene vergegenwärtigt. Die Botschaft Jesu bestätigt dies formal durch ihre eschatologische Ausrichtung insofern, als die verkündete Zukünftigkeit der Gottesherrschaft auch als Indiz ihres faktischen Ausstehens im alten Äon zu werten ist. Inhaltlich hinwiederum erhält die eschatologische Reich-Gottes-Verkündigung Jesu dadurch ihr eigentümliches Profil, dass sie das Kommen Gottes und seiner Herrschaft gerade denen zusagt, welche der Güte und Gerechtigkeit des Schöpfergottes durch die Schuld ihrer Sünde entgegenstehen. In der Hinwendung zu den Sündern liegt zugleich die Problematik der Sendung Jesu begründet, die ihn ans Kreuz brachte, welche das Gericht Gottes über die Sünde, im Lichte Osterns aber zugleich das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders offenbart, welches des auferstandene Gekreuzigte in Person ist. Wäre Jesus Christus nur geschöpfliches Vorbild, könnte er nicht der Grund des Heils für das Menschengeschöpf sein. Dieses ist er nur als derjenige, der für unsere Sünden gestorben ist, um unserer Gerechtigkeit wegen aufzuerstehen. Jesus musste vergehen und in seiner irdischen Erscheinung selbst zur Vergangenheit werden, um das Heil zu bewirken, das an Ostern offenbar und zwar dergestalt offenbar geworden ist, dass dem Gekreuzigten und mit ihm allen, die an ihn glauben, ein ewiges Gedächtnis gestiftet ist bei Gott. Jesus lebt – mit ihm auch ich und zwar trotz meiner faktischen Verfehlung und der vollzogenen Verkehrung meiner Gottesbeziehung, meiner Selbstbeziehung und meiner Verfehlung zu Mitmensch und Welt. Zutreffend ist all dies freilich nur, weil der Tod Jesu Gottes Gottheit nicht unberührt lässt. Dem vor allem hat die Trinitätslehre nachzudenken.28 Gott der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erde ist gerecht. Die ursprüngliche Einsicht jüdischer Religion und Theologie besagt genau dies. Ob und wie sich die göttliche Gerechtigkeit mit der vorbehaltlosen Gnadenliebe Gottes verträgt, von welcher das Evangelium kündet und auf welches sich der christliche Glaube bekennend verlässt, ist die entscheidende inhaltliche Frage bezüglich des Verhältnisses von Toramonotheismus und trinitarischem Gottesverständnis. Als theologisch begründet kann der christliche Glaube an 28 Einfältig ist eine christliche Theologie, »welche die Dreifaltigkeit Gottes nicht mit der Zweifaltigkeit der Heiligen Schrift zusammenzudenken vermag« (M. Oeming, Vestigia trinitatis? Verortungen der Trinität im Alten Testament!, in: Glauben und Lernen. Zeitschrift für theologische Urteilsbildung 17 (2002), 41 – 54, hier : 54); als undifferenziert hat ein trinitätstheologisches Denken zu gelten, welches des Zwiespalts nicht gewahr wird, der den traditionellen Begriff der Gerechtigkeit Gottes von dem seiner bedingungslosen Liebe scheidet.

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das Evangelium der Gnadenliebe Gottes nur gelten, wenn der am Schandpfahl des Kreuzes gestorbene Jesus als österlicher Herr und Sohn Gottes unveräußerlich und wesentlich zur Gottheit Gottes hinzugehört. Die Trinitätslehre hat dem dadurch Rechnung zu tragen, dass sie den auferstandenen gekreuzigten Jesus Christus als die vollendete Logosinkarnationsgestalt bekundet und den hypostatischen Charakter der zweiten Person entsprechend fasst, was für das Verständnis der Pneumatologie und damit der dritten göttlichen Person nicht folgenlos bleiben kann. Hängt die christliche Hoffnung doch daran, dass die eschatologische Vollendung, welche der Geist verbürgt, mit der Zukunft dessen, der gekommen ist, die verlorenen Söhne und Töchter Gottes zu retten, koinzidieren wird, damit die Väterlichkeit Gottes und seine göttliche Liebe eins und alles sei. Die Trinitätslehre führt begrifflich an die Grenzen des Aussagbaren. Dies kommt nicht von ungefähr. Haben ihre Aussagen doch die Unbegreiflichkeit der offenbaren Liebe Gottes zum Inhalt. Gehört mithin die Einsicht in die Unverfügbarkeit der Gotteserkenntnis in Jesus Christus, die alle Grenzen menschlichen Erkennens transzendiert, zur spezifischen Rationalität christlicher Theologie, dann wird man das Geltendmachen ihres apophatischen Charakters solange nicht als irrational disqualifizieren dürfen, als kein abstrakter Gegensatz von Offenbarungstheologie und Denken oder ein Ersatz der Vernunft durch bloß formale Autorität intendiert wird. Aus dieser allgemeinen Feststellung lässt sich eine konkrete hermeneutische Devise folgern: Trinitätstheologie ist angemessen nur zu betreiben, wenn das Begreifen von der Unbegreiflichkeit des zu Begreifenden einen Begriff hat, der ihm nicht äußerlich, sondern intern ist. Dass es sich so verhalten muss, darauf können nicht zuletzt die begrifflichen Grenzen traditioneller trinitätstheologischer Terminologie hinweisen. Um nur ein Beispiel zu geben: Das griechische Wort arche, das trinitätstheologisch von erheblicher Relevanz ist, bedeutet alltagssprachlich wie das lateinische principium, mit dem es in der Regel übersetzt wird, Anfang und Herrschaft. Bezeichnet wird also ein Primat sowohl der Zeit als auch des Ranges, der Macht etc. Eine Verknüpfung beider Bedeutungskomponenten zeichnet sich darin ab, dass zeitlicher und politischer Primat als zwei Weisen von Vorrangigkeit begriffen werden, die generalisiert jedwede Art von Priorität und damit alles bezeichnen kann, was als Grund eines Begründeten fungiert. Dabei schließt ein kausatives Verständnis von arche ein finales nicht aus. Als Urgrund aller Dinge gedacht ist arche zugleich deren Zweck und Ziel. Die theologische Verwendung des Begriffs in der griechischen Philosophie, namentlich bei Aristoteles, bestätigt dies in vielfältiger Weise. Vergleichbares gilt für den neutestamentlichen Sprachgebrauch, wo arche ebenfalls im Sinne sowohl von Anfang als auch von Macht und Herrschaft verwendet wird, um unmittelbar zu Beginn des Prologs des Johannesevangeliums mit dem Logos in Verbindung gebracht zu werden, der im Anfang, der allem zeitlichen Beginnen vorangeht und mit demjenigen, wovon Gen 1,1 spricht, eins ist, bei

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

Gott und Gott war. Was dieser Befund für den trinitätstheologischen Begriff göttlicher Monarchia bedeutet, wäre genau zu bedenken. Generell muss die Bedeutungsvielfalt in Rechnung gestellt werden, die der trinitätstheologischen Begrifflichkeit in den unterschiedlichen historischen und systematischen Kontexten ihrer Verwendung eignet. Dies gilt für das griechische und lateinische ebenso wie für das im Deutschen üblich gewordene Vokabular. Begriffe wie beispielsweise Grund, Ursprung, Ursache etc. lassen sich nicht leicht präzise bestimmen und ins Verhältnis zueinander setzen; ihre Bedeutung erschließt sich erst aus einem umgreifenden Sinnzusammenhang. Was den Begriff des Grundes anbelangt, so zeigen Wendungen wie Grund und Boden, dass sein philosophisch-theologischer Gebrauch den alltagssprachlichen nicht außer Kraft gesetzt hat. Formal bezeichnet der Begriff dasjenige, worauf etwas gründet, in seiner logischen Bedeutung den Bestimmungsfaktor, der die Gültigkeit eines anderen notwendig macht. Der logische Geltungsgrund kann auch mit dem Ursprungsbegriff assoziiert werden, der allgemein auf das Entstehen von etwas verweist. Ähnliches lässt sich zum Ursachenbegriff sagen, der auf alles Anwendung finden kann, was als Realgrund eines anderen anerkannt werden muss. Wie sich Realgründe zu anderen Sorten und Klassen von Gründen verhalten, bleibt dabei ebenso offen wie das Verhältnis von Folgen und Wirkungen, die aus Gründen und Ursachen mit Notwendigkeit hervorgehen. Überdies ist philosophisch strittig, ob der Grundsatz der Kausalität, nach Maßgabe dessen Gegebenheiten nach Grund und Folge, Ursache und Wirkung verknüpft werden, aposteriorischer oder apriorischer Natur ist. Regeln eigener Art müssen fernerhin gelten, wenn Begriffe wie Grund, Ursprung und Ursache metaphysisch und theologisch im Sinne von erster Ursache, von selbstverursachtem Ursprung oder von alles gründendem Grund Verwendung finden sollen. Man hat in diesem Zusammenhang erwogen, zwischen Prinzip und Ursache zu differenzieren: Während die Ursache von ihrer Wirkung wesentlich unterschieden sei, gelte dies für das Prinzip nicht notwendig; dieses könne vielmehr nicht nur als sein Prinzipiat umgreifend, sondern zugleich als von seinem Prinzipiat mitprinzipiiert gedacht werden. Ursprungsverhältnisse ließen sich so mit Verhältnissen wechselseitiger Begründung zusammen denken, was trinitätstheologisch nicht unbedeutsam wäre. Wie auch immer : Trinitätstheologisches Denken scheint ohne Begriff von den Grenzen der gebrauchten Begrifflichkeit nicht möglich zu sein. Dies dürfte sich im Falle der Filioquefrage nicht anders verhalten. Oft wird das Filioque nur als Chiffre zur Typisierung von Alternativen gebraucht, die argumentativ nicht mehr dargelegt werden müssen, weil sie als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Ein solches Verfahren ist hermeneutisch kontraproduktiv und geht häufig mit einer historischen und systematischen Entdifferenzierung einher. Differenziert man in systematischer und historischer Hinsicht, dann stellt sich die Angelegenheit ungleich komplexer dar, was die Aussicht auf Verständigung erhöht. Stimmt man darin

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überein, dass der trinitarische Gott Grund und Ziel der in Jesus Christus beschlossenen Heilsgeschichte ist, ohne welche von ihm nicht im christlichen Sinne die Rede sein könnte, dann ist damit nicht gesagt, dass die Offenbarung das Geheimnis Gottes beseitigt. Das Gegenteil ist der Fall. Dies muss trinitätstheologisch erkenntlich bleiben, und zwar in Form einer Affirmation der Offenbarung und nicht etwa in Gestalt ihrer Problematisierung. Was folgt daraus für die Filioquefrage? Auch wenn die ostkirchliche Theologie einen konkreten Rückschluss von der zeitlichen Sendung des Geistes durch den Sohn auf einen ewigen Hervorgang aus ihm ablehnt, stellt doch auch sie die innertrinitarische Bedeutung nicht in Abrede, die dem Sohn beim ewigen Hervorgang des Geistes aus dem Vater zukommt. Allerdings schärft sie ein, dass diese Bedeutung von derjenigen, die im gegebenen Zusammenhang dem Vater zukommt, strikt zu unterscheiden ist. Die dem Sohn beim Hervorgang des Geistes aus dem Vater eigene Relevanz müsste deshalb mit nichtkausativen Kategorien zum Ausdruck gebracht werden. Dies könnte zugleich dazu verhelfen, die trinitätstheologische Fixierung auf Abkunftsverhältnisse und auf den Gedanken zu überwinden, der Unterschied der trinitarischen Personen könne allein durch den Gegenüberstand in Ursprungsrelation oder nach Maßgabe eines Prozessionenmodells gewährleistet werden. Der Gesichtspunkt wechselseitiger Anerkennung, wie er die Beziehung zwischen den Hypostasen der Dreieinigkeit kennzeichnet, ließe sich unter dieser Voraussetzung besser zur Geltung bringen und mit ihm der Aspekt, dass Vater, Sohn und Geist sich in ihrem jeweiligen hypostatischen Eigensein nicht unmittelbar selbst, sondern mittels ihres Gegenseitigkeitsverhältnisses konstituieren, also unbeschadet, ja gerade in ihrer Gottheit, die ihnen als ihnen selbst zukommt, aufeinander angewiesen sind. Eine andere Hypostase ist der Vater, eine andere der Sohn, eine andere der Hl. Geist. Ebenso trifft zu, dass keine trinitarische Person ohne die jeweils andere ist, was sie ist. Das gilt auch für Gott den Vater. Auch er ist, was er ist, nicht ohne Sohn und Geist. Nichtsdestoweniger muss bei allem Ebenmaß, welches die Ordnung der hypostatischen Verhältnisse in der göttlichen Trinität bestimmt, ein Moment der Asymmetrie erhalten bleiben, wie es traditionell unter dem Aspekt der Abkünftigkeit und der Ursprungsrelationalität in Betracht gezogen wird. Dieses Moment, das es zugleich verbietet, das Personsein der göttlichen Personen und ihre Personalität mit einem allgemeinen Hypostasebegriff gleichzusetzen, ist weder mit Dissymmetrie noch mit dem Fehlen von Ebenmaß zu assoziieren, sondern ein trinitarischer Binnenreflex des göttlichen Außenbezugs und der Geschichte Gottes mit Menschheit und Welt. Diese Geschichte hat in der Schöpfung ihr Prinzip, welches mit der innertrinitarischen Prinzipialität der ersten Person der Gottheit in Verbindung zu bringen nachgerade naheliegt, wenn man, wie im Westen, auf Entsprechungsverhältnisse zwischen ökonomischer und immanenter Trinität gesteigerten Wert legt. Doch das Filioque sollte die innertrinitarische Prin-

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

zipialität des Vaters auch in Bezug auf den Geist trotz der Gleichordnung, die durch die Formel syntaktisch vollzogen wird, bekanntlich nicht in Abrede gestellt. Es wurde im Gegenteil ausdrücklich betont, dass der Geist, obzwar von Vater und Sohn gemeinsam, doch »principialiter a Patre« hervorgeht. Von daher ist zu erwägen, ob das westliche Anliegen nicht ebenso gut oder vielleicht sogar besser als durch die syntaktisch problematisch parallelisierende Filioqueformel durch die Wendung »per filium« zu gewährleisten ist. Die Vorstellung einer wie auch immer gearteten subordinatianischen Abfolge oder eines hierarchisch gestuften Abkunftsverhältnisses müsste dabei allerdings ausgeschlossen werden. Ob es dazu der Annahme der Mitprinzipialität des Sohnes beim ewigen Ausgang des Geistes bedarf, hängt von den Voraussetzungen ab, unter denen argumentiert wird. Traditionell impliziert das Filioque eine Mitprinzipialität des Sohnes beim Hervorgang des Geistes, wohingegen die Formel per filium nach griechischem Verständnis innergöttliche Ursächlichkeit allein dem Vater zueignet, wohingegen Sohn und Geist als Verursachte bestimmt werden mit dem Unterschied freilich, dass der Sohn unmittelbar, der Geist hingegen mittelbar und zwar durch Vermittlung des Sohnes aus dem Vater hervorgeht. Es käme darauf an, die Mittlerfunktion des Sohnes beim Hervorgang des Geistes aus dem Vater genauer zu fassen und die di’-hyiou-Formel, die fester Bestandteil griechischer Trinitätstheologie ist, entsprechend fortzubilden. Dies ist möglich nur, wenn Abkunftsverhältnisse und Verhältnisse gleichursprünglicher Beziehung als Differenzeinheit gedacht werden. So wie das Sohnsein des Sohnes von Ewigkeit her vom Vater, so ist dessen Vatersein von Ewigkeit her durch den Sohn bestimmt. Ohne je aufzuhören, absolut selbstbestimmt zu sein, ist die Selbstbestimmung der göttlichen Hypostasen doch nie vermittlungslos-unvermittelt, sondern stets vermittelte Selbstbestimmung. In der Geisthypostase wird dies eigens manifest. Die Person des Geistes steht in ihrer Eigenständigkeit aber zugleich dafür ein, dass auf den Gedanken innergöttlicher Abkunftsverhältnisse, wie er in der Relation der Namen »Vater« und »Sohn« bereits inbegriffen ist, nicht verzichtet werden kann, ohne dass diese primär oder gar ausschließlich als Ursprungsverhältnisse zu fassen wären. Der Geist steht gegen jede Indifferenzierung von Vater und Sohn und ist daher auch nicht lediglich das Liebesverhältnis beider oder ihr »Wir« in Person. Er steht aber zugleich dafür ein, dass Gott der Vater göttlicher Vater ebensowenig ohne den Sohn ist wie Gott der Sohn göttlicher Sohn ohne den Vater, von dem er in Ewigkeit gezeugt ist. Wie aber der Sohn nicht ohne den Vater ist, was er ist, und der Vater nicht ohne den Sohn, so ist der Geist nicht nur der Geist des Vaters, sondern auch der Geist des Sohnes, und er ist der Geist des Vaters nur, indem er zugleich derjenige des Sohnes ist und umgekehrt. Das Prinzipiat des Vaters als der ersten Person der Gottheit bleibt davon unberührt, wenn unter Prinzip nicht lediglich eine Ursache verstanden wird, deren Wirkung im Sinne einer graduell gestuften Abfolge sekundär ist, sondern ein Grund, dem

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das Begründete dergestalt innig verbunden ist, dass von ihm Rückwirkungen ausgehen können, die dem Grund nicht äußerlich, sondern für ihn selbst konstitutiv sind. Mag der Gedanke eines Selbst und Welt begründenden Absoluten auch sohnlos und ohne Bezug auf den Geist als dritte trinitarische Person gedacht werden können, so bleibt dieser Gedanke doch zu abstrakt und zu unbestimmt, um Grundlage christlicher Gotteslehre sein zu können. Aber selbst in jener konkreten Gestalt, in welcher der Gottesgedanke dem Christentum durch die jüdische Tradition vorgegeben ist, nämlich in Form des Toramonotheismus, kann er nicht unmittelbare Basis christlichen Offenbarungsglaubens sein. Wohl setzt der christliche Glaube die frühjüdische Religionsgeschichte und Theologie voraus und bleibt konstitutiv und dauerhaft auf sie bezogen, wie denn auch der Gott Jesu kein anderer war und ist als der Gott Israels. Doch indem Jesus den einen Gott universaler Gerechtigkeit nicht nur als Vater ansprach und verkündete, sondern dabei Gottes Väterlichkeit auch und insbesondere denen zusagte, die als manifest gottlos und gottwidrig zu gelten hatten, provozierte er einen religiösen Konflikt, dessen theologische Dimension nicht ausgeblendet werden darf, weil er die Gottheit Gottes selbst betrifft. Indem er sich an Ostern mit dem nicht nur im Namen menschlicher, sondern göttlicher Gerechtigkeit – und man wird hinzufügen müssen: unter den gegebenen Bedingungen zurecht – hingerichteten Sünderfreund Jesus identifizierte, der Sohn Gottes nicht sein wollte ohne seine verlorenen Menschenbrüder und -schwestern, ist der eine und allmächtige Gott universaler Gerechtigkeit, wie er sich in der Tora erschloss, zwar kein anderer, aber so anders geworden, dass sein uranfängliches Sein und Wesen von Anbeginn und damit als es selbst gar nicht mehr anders gedacht werden kann als unter Bezug auf den Sohn, der als der aus Gott in Ewigkeit hervorgegangene Andere Gottes dessen Eigensein in einer Rückwirkung, die als nicht nur zeitlich, sondern ewig gültig zu qualifizieren ist, dergestalt bestimmt, dass vom Gottsein Gottes nicht ohne den um unserer Sünde willen gekreuzigten und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckten Sohn angemessen die Rede sein kann; denn Gott ist das, was er von Ewigkeit ist, nämlich göttlicher Vater, nicht ohne den Sohn, der sein göttliches Sohnsein seinerseits ganz Gott dem Vater verdankt. Beides wird vom Geist als göttlichen Offenheit in Person erschlossen und zwar so, dass die Sequenz, die das Verhältnis von Vater und Sohn bestimmt, gleichermaßen zur Geltung kommt wie die Parität ihrer wesensgleichen Beziehung. Zu begreifen ist dies weder durch menschliche Theorieanstrengung noch durch Verzicht auf sie, sondern nur im Geist, in dessen Wirken das Christentum einschließlich christlichen Denkens sein Wesen hat. Der Geist verweist das Denken auf die Faktizität des offenbaren Geheimnisses Gottes im auferstandenen Gekreuzigten, ohne sie theoretisch zu beheben, aber auch ohne sie zum kontingenten Faktum herabzusetzen, das auf bloße Autorität hin zu glauben ist. Er erschließt sie vielmehr als eine Voraussetzung, die allen Setzungen zuvorkommt und nur als sich selbst voraus-

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

setzende Voraussetzung gedacht werden kann, die in niemand anderem als in Gott selbst ihren Grund hat, in dem sowohl Denken und Sein als auch das unausdenkliche Faktum Grund finden, dass im auferstandenen Gekreuzigten Gottes Gerechtigkeit und Gottes Liebe zum Heil von Menschheit und Welt überein gekommen sind. Nemo contra Deum nisi Deus ipse. Das Geheimnis dieser in Jesus Christus offenbaren Wahrheit zu bedenken, ist die wesentliche Bestimmung christlicher Trinitätslehre. Diese hat nicht den Status einer abstrakten ontologischen Theorie, sondern die konkrete Funktion, die Voraussetzung, die dem religiösen Grundverhältnis des Christentums, nämlich dem Glauben an Jesus Christus, implizit ist, als Voraussetzung zu explizieren. Unter den Bedingungen dieser Funktionsbestimmung dürfte eine Behebung des traditionellen Gegensatzes von Filioquismus und Antifilioquismus am ehesten zu erwarten sein.

8. Epilog Karl Barth hat das Filioquethema zu den »Doktorfragen der alten Dogmatik« gerechnet, »deren dogmatischer Gehalt schwer zu erkennen ist«29. Er könne sich nicht erinnern, jemals etwas darüber gehört und gelesen zu haben, was ihm plausibel geworden wäre30. Es ist nicht auszuschließen, dass vorliegende Studie zur Befestigung dieses auch ihrem Autor nicht fernliegenden Eindrucks beigetragen hat. Der Vorhang zu und alle Fragen offen? Eine Befriedung des Filioquekonflikts, so viel jedenfalls dürfte klar geworden sein, lässt sich nicht durch Fixierung auf Alternativen von vermeintlicher Selbstverständlichkeit erzielen, sondern nur durch konsequente Erweiterung des Fragehorizonts und der mit ihr verbundenen thematischen Reproblematisierung. Möglicherweise lässt sich die fällige Horizonterweiterung u. a. dadurch forcieren, dass man die Filioque- um eine trintitätstheologische Spirituquedebatte ergänzt, weil erst mit der Pneumatologie jener »Ort« erreicht ist, welcher der Theologie als ihr konkreter »Sitz im Leben« zugewiesen ist. Ohne den Geist, der von der Selbstoffenbarung Gottes im auferstandenen Gekreuzigten ausgeht, um sie für den Glauben zu begründen, gibt es keine christliche Theologie und am allerwenigsten eine Trinitätstheologie, die geistreich genug ist, um das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders fundieren zu können. Nicht dass der Geist als der Dritte im göttlichen Bunde zur ersten Person der Gottheit erklärt oder mit dem göttlichen Wesen unmittelbar gleichgesetzt werden sollte. Einen ursprünglichen Hervorgang von Vater und Sohn aus dem Geist zu lehren, würde die Aporien der Filioquede29 K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf (1927), hg. v. G. Sauter, Bd. 1, Zürich 1982, 283 – 289, hier : 284 f. 30 Ders., Unterricht in der christlichen Religion (1924), Bd. 1: Prolegomena, hg. v. H. Reiffen, Zürich 1985, 158 f.

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batte definitiv ausweglos machen. Der Sinn der zunächst unsinnig erscheinenden »spirituque«-Formel könnte allenfalls in der Anzeige eines Problems und in dem Hinweis bestehen, dass der Akt der Hauchung in einer Wirklichkeit gründet, die als geistlos zu denken nicht nur eo ipso unmöglich ist, sondern die als derart begeisternd gedacht werden muss, dass sie selbst der Geistwidrigkeit des Bösen und dem widerlichen Unwesen der Sünde durch versöhnende Liebe auf gerechte Weise Herr zu werden vermag. Vonseiten evangelischer Universitätstheologen in Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten wiederholt vorgeschlagen worden, auf den Filioquezusatz im Bekenntnis zu verzichten bzw. ihn so zu modifizieren oder zu interpretieren, dass die Einzigartigkeit des Ausgangs des Geistes vom Vater und dessen Alleinursächlichkeit im Hinblick auf ihn nicht in Zweifel geraten. Zwar behalte der Filioquismus gegenüber einem trinitarischen Monopatrismus, der jede Beteiligung des Sohnes am Ausgang des Geistes vom Vater leugne, ein momentanes Recht; doch sei die Rede vom doppelten Ausgang des Hl. Geistes aus Vater und Sohn zu undifferenziert, um die indirekte, durch seine Selbstunterscheidung vom Vater und damit über die Vaterschaft des Vaters vermittelte Beteiligung des Sohnes an der ewigen Geisthauchung zum Ausdruck zu bringen. Jürgen Moltmann hat vorgeschlagen, die aus kanonischen Gründen naheliegende »Weglassung« der dem Nizänokonstantinopolitanum nachträglich eingefügten Filioqueformel mit einer Interpretation des Bekenntnistextes im Sinne der Wendung zu verbinden: »Der Heilige Geist, der vom Vater des Sohnes ausgeht und vom Vater und dem Sohn die Gestalt empfängt«31. Wolfhart Pannenberg, ein weiterer namhafter Filioquekritiker in der zeitgenössischen evangelischen Universitätstheologie Deutschlands, hat Moltmanns Reformulierungsvorschlag im Grundsatz begrüßt, ihn aber um den Gesichtspunkt ergänzt, »dass der Sohn auch schon der erste Empfänger 31 J. Moltmann, Dogmatische Vorschläge zur Lösung des Filioque-Streites, in: L. Vischer (Hg.), Geist Gottes – Geist Christi. Ökumenische Überlegungen zur Filioque-Kontroverse, Frankfurt/ Main 1981 (Beiheft ÖR 39), 144 – 152, hier : 149. Bei M. gesperrt. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf (= Moltmann). Zur Frage »Ist der Filioque-Zusatz im Nicaenum notwendig oder überflüssig?« hat sich Moltmann im Anschluss an die Klingenthalkonferenzen 1978/79 geäußert in: J. Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, 320 – 324; vgl. 84 ff. Er verneint die Notwendigkeit des Filioque und plädiert unter Bezug auf D. Staniloae dafür, sie durch Vorstellungen der »Manifestation« des Geistes durch den Sohn, sein Ruhen im und seiner Erstrahlung aus dem Sohn zu ersetzen. Vgl. schon ders., Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, Gütersloh (1980) 31994, 194 ff, wo Moltmann sich vor allem mit den berühmten Thesen über das Filioque von Boris Bolotov aus dem Jahr 1898 (Revue Internationale de Thologie 24 [1898], 681 – 712) auseinandersetzt. Dieser sehe trotz und unbeschadet seines Festhaltens am Ausgang des Geistes allein vom Vater »den Sohn so nahe am Vater, dass der Sohn zur logischen ›Voraussetzung‹ und zur sachlichen ›Bedingung‹ für den Ausgang des Geistes aus dem Vater wird« (196). Zu Staniloae vgl. im Einzelnen dessen Orthodoxe Dogmatik Bd. I, Zürich u. a. 1984, 280 ff: Die Dreiheit der Personen als Voraussetzung dafür, dass diese Personen in ihrer Gemeinschaft doch voneinander unterschieden werden können. Der Widerspruch des Filioque hierzu.

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des Geistes und erst so Mittler der Geistsendung an die Glaubenden ist«32. Es genüge nicht zu sagen, dass der vom Vater des Sohnes ausgehende Geist vom Vater und vom Sohn seine Gestalt empfange, da »der Geist dem biblischen Zeugnisse zufolge auch vom Sohn empfangen wird und den Gehorsam des Sohnes gegen den Vater vermittelt« (Pannenberg, 346 Anm. 184). Dezidiert vorausgesetzt wird sowohl von Moltmann als auch von Pannenberg, dass »die göttliche Trinität in der Heilsökonomie nicht anders erscheinen (kann), als sie in sich selbst ist« (Moltmann, 145). »Eine Begründung der Trinitätslehre muss daher ausgehen von der Art und Weise, wie Vater, Sohn und Geist im Offenbarungsgeschehen in Erscheinung treten und sich zueinander verhalten.« (Pannenberg, 325) Hält man sich an diesen Grundsatz, dann müssen die Beziehungen der, wenn man so will, ökonomischen Trinität in der Zeit in innertrinitarischen Verhältnissen von Ewigkeit her begründet sein. »D. h., man kann die Beziehung des Sohnes zum Heiligen Geist nicht auf die Sendung des Heiligen Geistes durch Christus in der Zeit beschränken. Es muss vielmehr eine innertrinitarische Voraussetzung für die zeitliche Sendung des Geistes durch Christus, den Sohn Gottes, geben. Sonst müsste man einen Widerspruch in Gott selbst annehmen.« (Moltmann, 145) Zu vermeiden ist ein solcher theologischer Selbstwiderspruch nur, wenn man einen Entsprechungszusammenhang zwischen göttlicher Heilsökonomie und immanenter Trinität in Anschlag bringt. Begrifflich fassen lässt er sich allerdings nicht nach Maßgabe allgemeiner Analogie oder durch den Gebrauch anderweitiger generalisierender Verfahren. So singulär die Person Jesu Christi ist, in dessen Geschichte die göttliche Heilsökonomie beschlossen und erfüllt ist, so unvergleichlich ist das innertrinitarische Leben Gottes. »Im Leben der immanenten Trinität ist alles einmalig. Nur weil alles in Gott selbst einmalig ist, kann es in den Wegen und Werken Gottes als ursprünglich für anderes erkannt werden.« (Moltmann, 151) Daraus ergibt sich für Moltmann der Schluss, zu dem auf seine Weise auch Pannenberg gelangt, »dass in der Trinitätslehre keine subsummierenden Oberbegriffe verwendet werden dürfen« (ebd.). Seit der Hochscholastik hat sich in der westlichen Theologie bei der Darstellung der christlichen Gotteslehre ein Verfahren durchgesetzt, »das mit der Frage nach dem Dasein des einen Gottes beginnt, dann das Wesen und die Eigenschaften des einen Gottes behandelt, um erst im Anschluss daran die Trinitätslehre vorzutragen« (Pannenberg, 305). Aus diesem Verfahren ergab sich die Gefahr einer Sekundärstellung und einer tendenziellen Marginalisierung des trinitarischen gegenüber dem vorhergehenden Gedanken der Einheit und Einfachheit des göttlichen Wesens mit den entsprechenden uni32 W. Pannenberg, Systematische Theologie. Band I, Göttingen 1988, 346 Anm. 184. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf (= Pannenberg). Eine strukturelle Gesamtskizze der Pannenbergschen Trinitätstheologie habe ich zu geben versucht in: G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, bes. 71 ff.

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tarischen Tendenzen modalistischer bzw. subordinatianischer Provenienz, wie sie nach Urteil von Moltmann und Pannenberg in der westkirchlichen Trinitätslehre bis hin zu Karl Barth und Karl Rahner zu beobachten seien. »Dies kann nur geändert werden, wenn der unerlässliche Gedanke der Einheit Gottes trinitarisch ausgedrückt und nicht länger durch das gottheitliche Wesen … besetzt wird. Die Einheit Gottes liegt in der Dreieinigkeit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Sie geht ihr weder voran noch folgt sie ihr.« (Moltmann, 151) Das Problem einer subsumierenden Verwendung von Allgemeinbegriffen in der Trinitätslehre beschränkt sich nicht auf den Begriff des göttlichen Wesens, sondern betrifft ebenso denjenigen der trinitarischen Hypostasen oder Personen. Indem der Hypostase- bzw. Personbegriff sowohl auf Gottvater als auch auf Gottsohn und den Hl. Geist Anwendung findet, wird der Anschein erweckt, diese »seien homogen und gleich« (Moltmann, 150 f). »Der Oberbegriff Hypostasis, Person oder Seinsweise verwischt die konkreten Differenzen zwischen dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Diese sind verschieden, nicht nur hinsichtlich ihrer Relationen zueinander, sondern auch hinsichtlich ihrer Personalität, wenn anders die Person in ihren Relationen und nicht abgesehen von ihnen zu begreifen ist. Wollte man konkret bleiben, dann müsste man für den Vater, den Sohn und den Geist einen je anderen Personbegriff verwenden.« (Moltmann, 151) Es ist fester Bestandteil kirchlicher Trinitätslehre, dass Gott der Vater die erste Person der Trinität zu nennen ist, der in einer je eigentümliche Personbeziehung zum Sohn und zum Geist steht, was es nach Moltmann verbietet, die ewige Zeugung des Sohnes durch den Vater und den ewigen Ausgang des Geistes von ihm unter dem Oberbegriff der processio zu subsumieren. Eine solche Subsumption abstrahiere von der Konkretheit der innertrinitarischen Personbeziehungen. Diese Gefahr sei auch bei der Filioqueformel gegeben, sofern sie einerseits hypostatische Differenzen zu verwischen drohe, indem sie den Ausgang des Hl. Geistes Vater und Sohn nach Art einer Parataxe (»und«) zuerkenne, ohne zu sagen, »was denn im Hl. Geist vom Vater und was vom Sohn kommt« (Moltmann, 150), und sofern sie andererseits leicht den Eindruck erwecke, der Hl. Geist habe im Vater und im Sohn einen doppelten Ursprung seiner Existenz. Um beide Abwege zu vermeiden und um in Abstraktion von der Abstraktheit subsumierender Allgemeinbegriffe zur nötigen Konkretion trinitätstheologischer Rede zu finden, schlägt Moltmann im Sinne seiner bereits zitierten Ersatz- bzw. Interpretationsformel des filioque vor, zwischen der Existenz und der Gestalt des Hl. Geistes zu unterscheiden, wobei er Existenz mit den Begriffen hypostasis bzw. persona im Sinne von modus subsistentiae (tropos hyparxeos), Gestalt mit eidos, prosopon bzw. persona im Sinne von facies assoziiert.33 Diese Unter33 »Der westliche Begriff der persona enthält … beide Hinsichten in sich, die mit hypostasis als tropos hyparxeos und mit hypostasis als prosopon bezeichnet sind. Das erste drückt die Bezie-

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scheidung ermögliche es, die göttliche Existenz des Hl. Geistes allein auf den Vater zurückzuführen und zugleich anzuerkennen, dass der Hl. Geist seine Gestalt vom Vater und vom Sohn empfange. Das hypostatische Hervorgehen des Geistes aus dem Vater ist von seiner relationalen Gestalt im Blick auf den Vater und den Sohn nicht zu trennen, wohl aber deutlich zu unterscheiden.« (Moltmann, 148) Die Unterscheidung von Existenz und Gestalt, hypostasis und prosopon, wie sie im lateinischen Personbegriff nach seinem Urteil sowohl gegeben als auch behoben sei, ermöglicht es Moltmann, das Sein des Hl. Geistes in seiner Subsistenz in Übereinstimmung mit der ostkirchlichen Tradition ursächlich allein auf den Vater als die erste Hypostase der Gottheit zurückzuführen. Das Sein, in dem der Hl. Geist sein göttliches Wesen hat, geht ursprünglich vom Vater als der ersten trinitarischen Person und nach Maßgabe ontologischer Logik von ihm allein aus. Indes soll sich das exklusive »allein« nur auf den die Existenz des Hl. Geistes ursprünglichen Akt der Hervorbringung beziehen, den die erste Person der Gottheit als subsistierende ursprungslose Ursache und Quelle der Gottheit monarchisch übt. In seiner ihm eigentümlichen Väterlichkeit ist Gott der Vater im ewigen Vorgang der Existenzgründung des Hl. Geistes allerdings noch ebensowenig im Blick wie die konkrete Geistgestalt. Diese kommt erst mit der Relationalität in Betracht, die das Vatersein des Vaters und mit ihm das Geistsein des Geistes gestaltmäßig bestimmt. So wie Gott der Vater nicht nur und auch nicht zuerst wegen seiner monarchischen All- und Alleinursächlichkeit Vater zu nennen ist, sondern in und wegen seiner Beziehung zum Sohn, den er ewig gezeugt hat und ohne dessen ewige Zeugung und Sohnschaft sein Vatersein nicht ist, was es ist, so ist auch die Hauchung des Geistes, sofern sie Hauchung des Vaters als Vater ist und nicht nur die bloße Existenz des Geistes, sondern seine konkrete Gestalt hervorbringt, nicht sohnlos, sondern nur unter Beteiligung des Sohnes zu denken, von dessen göttlichem Vater der Geist ausgeht, um vom Vater und vom Sohn jene Gestalt zu erlangen, in der sich sein Sein wesensmäßig erfüllt. Der Hl. Geist geht in seiner Existenz vom Vater des Sohnes aus, um vom Vater und vom Sohn seine Gestalt zu erlangen. Man kann fragen, ob Moltmanns Unterscheidung von Existenz und Gestalt zusammen mit dem Hl. Geist nicht auch für die beiden anderen trinitarischen Personen in Anschlag zu bringen ist. Diese Frage ist unter der Voraussetzung zu bejahen, dass von ihr nicht genau jener generalisierende Gebrauch in Form subsumierender Allgemeinbegriffe gemacht wird, den zu verhindern ihr ursprüngliches Anliegen ist. Richtig ist, dass die erste Person der Gottheit als in sich gründender und alles fundierender Grund in ihrer ursprungslosen Ursprünglichkeit allein nicht das ist, als was sie zu gelten hat: Gott der ewige Vater. Gott der Vater ist zwar von Ewigkeit her göttlicher Monarch, in dessen archia allein die Gottheit hung der Hypostase zur Gottheit Gottes aus, das andere die Beziehung der Hypostase zu den anderen Hypostasen.« (Moltmann, Vorschläge, 148)

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Grund und Wesen hat und ohne den nichts ist, was ist. Aber seine Väterlichkeit erschöpft sich nicht in seiner Monarchie, die im Vatersein Gottes, welches ohne den Sohn und den Geist nicht zu denken ist, ebenso bewahrt wie behoben und zu jener göttlichen Erfüllung gelangt ist, die ihr von Ewigkeit her trinitarisch eignet. Im Denken der klassischen Metaphysik verweist das Wort »Gott« auf die Letztbegründungsinstanz alles Wirklichen. Was Gott zu nennen ist, wird als Einheitsgrund von Selbst und Welt geltend gemacht, der unverursacht alles, was ist, ursprünglich konstituiert und erhält sowie Sinn und Ziel des Seins des Seienden ausmacht. Wie variantenreich die metaphysische Philosophie sich im Einzelnen ontotheologisch ausgeprägt hat, in ihren Grundkonstanten ist sie auf die eine oder andere Weise in die christliche Theologie eingegangen, um dort vor allem, wenngleich keineswegs nur in der Schöpfungslehre virulent zu werden. Auch die christliche Trinitätslehre hat die Ontotheologie der klassischen Metaphysik zur impliziten Voraussetzung, deren Gottesbegriff aus Gründen, die nicht unverständlich sind, als Bestimmungsmoment der trinitarischen Rede nachgerade von der ersten Person erkennbar ist, mit der zugleich das Werk der Schöpfung in besonderer Weise in Verbindung gebracht wird. Die Kennzeichnung der allschöpferischen ersten Person der Trinität als Quelle der Gottheit, Urursache bzw. All-Ein-Ursächlichkeit, sich selbst voraussetzende Voraussetzung alles Seins und Wesens etc. ist ein Indiz hierfür. Bestimmungen metaphysisch-ontotheologischer Herkunft waren zwar trinitätstheologisch kaum je gänzlich unumstritten. Ihr unzweifelhaftes Recht liegt aber darin begründet, den universalen Anspruch geltend zu machen, der sich mit der christlichen Rede vom dreieinigen Gott verbindet. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass der ontotheologische Begriff des einen und universalen Gottes für das Christentum erst im Zusammenhang mit den religiös-theologischen Überlieferungen Israels jenes Profil und jene Kontur gewinnt, die ihn zu einer impliziten Voraussetzung von solch unveräußerlicher Bedeutung macht, dass der Bezug christlicher Trinitätslehre zum jüdischen Toramonotheismus als ihr eigentliches Schlüsselthema anzusehen ist. Weil der Gott, den Jesus als seinen Vater anredet und den das Christentum als Vater des im auferstandenen Gekreuzigten in der Kraft des Geistes offenbaren Sohnes bekennt, kein anderer ist als der Gott Israels, gehört der jüdische Toramonotheismus konstitutiv zur trinitarischen Gotteslehre, ohne sie von Grund auf erschließen zu können. Dies ist möglich nur, wenn der eine und allmächtige Schöpfergott universaler Gerechtigkeit als Gott reiner Liebe offenbar ist, was unter Absehung von der österlichen Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten und ohne die Sendung des Geistes nicht möglich ist. Es ist die Mission des Geistes, der, mit Moltmann zu reden, in Ewigkeit vom Vater des Sohnes ausgeht und vom Vater und vom Sohn seine ihm eigentümliche Persongestalt empfängt, die göttliche Liebe so zu offenbaren, dass sie sich nicht nur in Gott manifestiert, sondern auch an der Stelle dessen, was Gott nicht unmittelbar selbst ist, ja, was ihm zuwider ist. Die Geistwirklichkeit und

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Filioque. Kontexte einer Kontroverse

-wirksamkeit hat dabei den Charakter einer konstruktiven und produktiven schöpferischen Macht, über die hinaus kraftvolleres nicht zu denken ist. Erweist sie ihre Vollkommenheit doch gerade in ihrem geistigen Vermögen, nicht nur des Geistlosen, sondern auch des Geistwidrigen mächtig zu werden, wie es in der Bosheit der Sünde sein abgründig-schuldhaftes Unwesen treibt. Der vom Vater des Sohnes ausgehende Geist, dessen Sendung es ist, Heil am Ort der Heillosigkeit und des Unheils zu wirken, wirkt zwar anders, aber nicht weniger gründlich und wirksam als Vater und Sohn. Auch sein binnentrinitarischer Status muss daher als dergestalt dynamisch gedacht werden, dass eine konstitutive Rückwirkung der dritten göttlichen Person auf die zweite und mittels derer auf die erste Person nicht ausgeschlossen ist. Zwar folgt der Geist Vater und Sohn, aber er begründet zugleich ihr personales Wesen dergestalt, dass ohne ihn weder vom Sohn des Vaters noch vom Vater des Sohns wahrhaft und realitätsentsprechend die Rede sein kann. Der Geist ist nicht nur Empfänger, sondern auch Geber und zwar sowohl in der Heilsökonomie als auch im innertrinitarischen Zusammenhang. Zurecht hat Pannenberg geltend gemacht, dass der Sohn Sender des Geistes nicht ist, ohne dessen Empfänger zu sein. Zwar bilden Verschiedenheit und Einheit von Vater und Sohn nach Maßgabe göttlicher Heilsökonomie und innertrinitarischer Logik die Voraussetzung für das Verständnis des Geistes als der dritten Person im göttlichen Bunde. Der Gottheit Gottes wesenseinig zugehörig sowie Vater und Sohn und ihrer Gemeinschaft untrennbar verbunden ist der Hl. Geist als von den beiden ersten Hypostasen unterschieden gleichwohl die dritte Person in der göttlichen Dreieinigkeit. Als solche ist er indes nicht nur eine Folgegestalt, sondern von konstitutiver Bedeutung sowohl in heilsökonomischer Hinsicht als auch im innertrinitarischen Begründungszusammenhang. Der am Kreuz im Namen der göttlichen Gerechtigkeit gerichtete Sünderfreund, der die Nähe und Liebe nachgerade denen verkündete, die gottlos, ja gottwidrig und gottfeind waren, wäre nicht der Sohn des Vaters, hätte ihn nicht der Geist auferweckt, der nach biblischem Zeugnis »in erster Instanz« (Pannenberg, 342) als österliches Wirksubjekt zu gelten hat. Zwar geht das Sein des Sohnes in bestimmter Hinsicht demjenigen des Geistes voraus; doch ist die göttliche Sohnschaft des Sohnes realiter ebensowenig ohne den Geist zu denken wie dessen Persongestalt ohne den Sohn. Ja, auch für die erste Person der Gottheit, aus deren Ursprungslosigkeit seine ewige Existenz ursprünglich hervorgeht, ist der Hl. Geist von unveräußerlicher Relevanz, sofern diese als Gottvater, als Vater des Sohnes und damit in jener Väterlichkeit, die den Inbegriff des göttlichen Liebeswesens ausmacht, ohne ihn nicht gedacht werden könnte und auch nicht wäre, was sie ist. Der Geist geht vom Vater des Sohnes aus; aber dieser Ausgang kann als dasjenige, was er ist, nur begriffen werden unter Annahme einer Rückwirkung, die vom Geist ausgeht. Diese Rückwirkung destruiert zwar keineswegs die innertrinitarische Ordnung, wie sie sich in der Rede von der ersten, zweiten und dritten Person der Gottheit Ausdruck

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verleiht. Aber sie hebt diese Ordnung dergestalt in sich auf, dass ihr sinnwidriges Verständnis im Sinne einer äußerlichen, abzählbaren Reihenfolge etc. bestimmt negiert, ihr rechter Sinn bewahrt und zur Erfüllung gebracht wird. Im Geist ist das Liebeswesen des dreieinigen Gottes erfüllt und offenbar, dass der eine Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, unbeschadet seiner universalen Gerechtigkeit nichts ist als jene reine Liebe, wie sie im auferstandenen Gekreuzigten als das Gnadenevangelium in Person in einer von Bosheit und Übel gezeichneten Welt erschienen ist. Keine geschöpfliche Analogie vermag dieses offenbare Geheimnis zu fassen; Analogien können es gegebenenfalls explizieren, nicht aber begründen. Begründet ist es allein in Gott, um allein im Geiste Gottes erschlossen zu sein, der den Sohn als den Sohn des Vaters und den Vater als den Vater des Sohns uns zugute, ja, allein um unseretwillen verherrlicht, damit gerettet werde, was verloren ist. »Mit der Muschel schöpft das Büblein / Aus dem Meer in ein Sandgrüblein; / Augustinus stillestand …«34 Gottes Liebe ist unergründlich und nicht auszuschöpfen. Die Trinitätslehre hat einen Begriff davon, ja sie ist der Begriff der unbegreiflichen Liebe Gottes.

34 Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. Achim von Arnim und Clemens Brentano, München 1957, 745: Augustinus und der Engel.

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III. Kirchliche Katholizität und römischer Katholizismus

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Die große Gottesidee »Kirche« Joseph Ratzinger über Katholizismus, Orthodoxie und Reformation 1. Münchener Ekklesiologiekonzept 1951: Kirche als institutionell formiertes sacramentum corporis Christi Im Sommer 1951 legte Joseph Ratzinger der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Preisarbeit vor, die als Dissertation angenommen und im Frühjahr 1954 unter dem Titel »Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche« veröffentlicht wurde. Dass die Ergebnisse der historischen Studie systematische Grundlinien erkennen lassen, die Ratzingers Ekklesiologie nachhaltig bestimmen sollten, hat der Autor selbst in einem Vorwort zur 1992 erfolgten Neuauflage des Werkes1 in wünschenswerter Deutlichkeit bestätigt. Während die Wendung »Haus Gottes« thematisch eher am Rande steht, da es sich bei ihr lediglich um ein bildliches Verdeutlichungsmittel der Sache handle, die in anderen Begriffen greifbarer werde, wird Augustins Volk-Gottes-Begriff als ekklesiologisch zentral und sachlich höchst gewichtig eingeschätzt. Allerdings zeigt sich, dass der Sinngehalt dieses Begriffs nur dann angemessen zu erfassen ist, wenn er in Zusammenhang mit dem Corpus-Christi-Gedanken gebracht und von diesem her begründet wird. Kirche, so Ratzingers zentrale These, ist Volk Gottes »nur im und durch den Leib Christi« (XIV). Mit dieser These wurde rückblickend der Anspruch verbunden, nicht nur eine Tendenz katholischer Zwischenkriegsekklesiologie, sondern antizipativ auch eine bestimmte Auslegungstendenz der Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils korrigiert zu haben.2 Was Augustin betrifft, so ist die Kirche als 1 J. Ratzinger, Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche, St. Ottilien 1992. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. In einem ersten Abschnitt der Monographie werden die Grundlagen von Augustins Kirchenverständnis thematisiert, wie sie in seinem frühen ekklesiologischen Denken bis zum Jahr 391 und im Kirchenbegriff der afrikanischen Tradition namentlich bei Tertullian, Cyprian und Optatus von Mileve gegeben sind. Ein zweiter Abschnitt entfaltet sodann die Ekklesiologie des reifen Augustin in Frontstellung gegen die Häretiker und Schismatiker des gnostischen Manichäismus und des Donatismus einerseits sowie gegen das römische Heidentum andererseits. 2 Aktuelle Bezüge werden auch im Vorwort zur 1992 erschienenen Neuauflage von Ratzingers 1959 erstmals publizierter Münchener Habilitationsschrift über »Die Geschichtstheologie des Heiligen Bonaventura« hergestellt. Sie betreffen vor allem die sog. Befreiungstheologie. Diese stehe nicht nur in Gefahr, unter Berufung auf den Volk-Gottes-Begriff die Volkskirche in einen Gegensatz zur sakramental-hierarchisch verfassten Kirche zu bringen, sie pflege in Teilen zugleich

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Joseph Ratzinger über Katholizismus, Orthodoxie und Reformation

Volk Gottes nach Ratzinger unzweifelhaft eine sakramentale Größe, deren eigentümliches Sein weder nach Weise eines empirischen Realismus noch abstrakt idealistisch, also im Sinne einer civitas platonica zu erfassen sei. Zwar mag es anfangs gelegentlich so scheinen, als trenne Augustin die ecclesia sancta als die Schar der wahrhaft Heiligen und zur ewigen Herrlichkeit Prädestinierten von der Realgestalt der weltumspannenden ecclesia catholica ab. Doch in Wahrheit habe er den doppelten Kirchenbegriff niemals vertreten, den ihm die Donatisten zu seiner Zeit und liberal-protestantische Theologen in der Neuzeit gerne unterstellten. Denn obgleich die Sünder ihr als der wahren Kirche der Heiligen nicht wirklich bzw. nur in der Gliedschaft jenes Schein zugehören, der dem mundus sensibilis im Unterschied zum mundus intelligibilis eigentümlich ist, kann es doch nach Augustin »nicht Sache der Kirche (sein), diese Sünder auszustoßen, weil es nicht ihre Sache ist, den Fleischesleib abzulegen, sondern die Sache des Herrn, der sie auferwecken und zu ihrer wahren Heilsgestalt formen wird« (146). Im weiteren Entwicklungsgang der augustinischen Ekklesiologie verschafft sich diese Einsicht nach Ratzinger dadurch immer klarere Geltung, dass die Einheit des Volkes Gottes, welches die Kirche ist, konsequent vom Leib-Christi-Mysterium und nicht primär von der Verfasstheit der einzelnen Kirchenglieder und ihrer Gemeinschaft her begründet wird. Ihrem Ursprungssinn gemäß besagt die Formel »communio sanctorum« sakramentale Gemeinschaft des Leibes Christi, um erst von daher auch die eine christliche Utopie innerweltlicher Vollendung, die an Geschichtsspekulationen und Endzeitvorstellungen Joachims von Fiore erinnere, deren differenzierte Kritik ein zentrales Anliegen Bonaventuras darstelle. Zwar habe Bonaventura das Anliegen Joachims keineswegs pauschal verdammt. »Er war freilich unerbittlich in der Ablehnung von Bestrebungen, die Christus und Geist, christologisch-sakramental geordnete Kirche und pneumatologisch-prophetische Kirche der neuen Armen zu teilen versuchten und dabei in Anspruch nahmen, Utopie durch ihre Lebensform selbst vergegenwärtigen zu können« (J. Ratzinger, Die Geschichtstheologie des Heiligen Bonaventura, St. Ottilien 1992, Vorwort zur Neuauflage). Neben Augustins Werk »De civitate Dei« stellen die »Collationes in Hexaemeron« des Bonaventura einen zweiten Höhepunkt christlichen Geschichtsdenkens dar. Ratzinger erarbeitet die Geschichtsschemata der »Vorträge zum Sechstagewerk« und die eschatologische Stellung, die Franziskus und sein Orden in ihnen einnimmt, in offenbarungstheologischer Perspektive. Dabei zeigt sich, dass Bonaventuras endzeitlicher Offenbarungsbegriff eine Synthese mystischer, kosmisch-hierarchischer und geschichtlicher Ordnungskomponenten darstellt, die sich vor allem in zweifacher Hinsicht signifikant von den Gedanken Joachims bzw. der vorbonaventuranischen franziskanischen Joachiten unterscheidet: Die Begrenzung der Erscheinung Jesu Christi auf das zweite Zeitalter wird abgelehnt, die trinitarische Schematik der Geschichtseinteilung entsprechend problematisiert. Jenseits der Alternative zirkulärer und linearer Darstellungen der Zeit und des Geschichtsverlaufs erfasse Bonaventura den Fortgang göttlicher Ökonomie als einen Aufstieg, der sich spiralisch entwickle. Dabei bleibe die Mittelstellung Jesu Christi im Kreis der von Gott zu Gott verlaufenden Weltgeschichte ebenso gewahrt wie die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der geschichtlichen Ereignisse, für welche die irdische Erscheinung des Logos in der Geschichte einen Tatsachenbeleg biete. Die strikte Ablehnung der philosophischen Annahme einer Ewigkeit der Welt, in welcher sich der Gang der Dinge mit Schicksalsnotwendigkeit vollziehe, gehört in diesen Zusammenhang.

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Kirche als institutionell formiertes sacramentum corporis Christi

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Volk-Gottes-Gemeinschaft derer zu bezeichnen, die durch ihre eucharistische Christusteilhabe dazu bestimmt sind, in heiligmäßiger Liebe zusammenzuleben. Dieses ekklesiologische Verständnis der Alten Kirche ist nach Ratzinger bei Augustin vorausgesetzt und inhaltlich voll erhalten geblieben. Dabei gilt folgender Grundsatz: Mit Christus, dessen Leib sie eucharistisch empfängt, sakramental vereint, ist die Kirche selbst Leib Christi und Glied am Leibe Christi mithin nur derjenige, welcher in die Eucharistiegemeinschaft der Kirche eingegliedert ist. »Die Vereinigung des Menschen mit Christus ereignet sich also nicht einfach zwischen dem Glaubenden und Gott, der Weg zum Geiste Christi ereignet sich niemals direkt, sondern immer nur durch das Eingehen in den Leib Christi, in die Kirche. Dies ist also nun die eigentliche Art, wie der Mensch eins wird mit Christus: Indem er eins wird mit der Kirche.« (210) In der Erkenntnis dieses Sachverhalts liegt nach Ratzinger »zugleich ein ganz tiefer Unterschied des augustinischen Glaubensbegriffs gegenüber dem lutherischen« (ebd., Anm. 63), bei dem eine innere Einbeziehung des strengen Ich-Du-Verhältnisses des Menschen zu seinem Gott in das Wir der Kirche angeblich nicht nur fehlt, sondern förmlich ausgeschlossen wird. Die These, die in Ratzingers Oeuvre wiederholt und in mancherlei Variationen begegnet, ist hier lediglich zur Kenntnis zu geben und nicht zu kommentieren. Offen bleiben soll auch die Frage, ob Augustins historische Beurteilung von Ketzertaufe und Donatisteneucharistie nicht weitaus schwierigere Probleme beinhaltet, als Ratzinger dies zugestehen möchte (vgl. 157 f, Anm. 78). In der kirchlichen Feier der Eucharistie ist der Leib Christi wirklich gegenwärtig und die Kirche selbst wahrhafter Leib Christi, durch welchen die Kirchenglieder vereint und zum Volke Gottes zusammengeschlossen werden. Nicht nach Weise mystischer Innerlichkeit, sondern sakramental im Sinne realer Präsenz des Bezeichneten im Zeichen muss der den Volk-Gottes-Begriff fundierende ekklesiologische Leib-Christi-Begriff daher nach Ratzinger verstanden werden. Damit ist ein Motiv benannt, das wie ein roter Faden seine Lehre von der Kirche fernerhin durchzieht. Mit leidenschaftlicher Emphase hat Ratzinger seither immer wieder den leibhaften Zusammenhang betont, der die Kirche mit dem Corpus Christi verbindet und sie zum Sakrament des Seins Gottes in der Welt und zum Realsubjekt der christlichen Tradition und des christlichen Glaubens in Raum und Zeit werden lässt. In den CredoFormeln der Symbole spricht sich demgemäß kein individuelles Glaubens-Ich, auch kein Kollektiv, sondern das Ich der Kirche aus, welches dem Glauben der einzelnen Glaubenden vorhergeht und ihn allererst ermöglicht. Die Subjektivität der Kirche ist weder empirisch zu fassen noch eine bloße Idee, sondern eine sakramentale Größe, die, so die Grundannahme, den Gegensatz von Empirismus und Idealismus prinzipiell hinter sich lässt. Sie liegt der Communio der Gläubigen als ihre Basis zugrunde, bedingt die elementare Wir-Struktur des Glaubens und verhält sich zu den Gläubigen wie ein Leib zu seinen Gliedern oder wie eine Mutter zur Schar ihrer Kinder.

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Joseph Ratzinger über Katholizismus, Orthodoxie und Reformation

Als das im Ursakrament Jesu Christi fundierte Grundsakrament ist die Kirche zugleich die Basis aller Einzelsakramente: Sie ist das Sakrament der Sakramente, da diese Vollzugsweisen der Sakramentalität der Kirche sind. Wie man dies sakraments- und eucharistietheologisch präzise zu verstehen ist, ist eine schwierige Frage, die durch den Hinweis nicht leichter wird, demzufolge die Kirche, indem sie den Leib Christi eucharistisch empfängt, auf sakramentale Weise selbst dieser Leib sei. Klar ist zumindest, dass die Kirche durch ihr Haupt Christus in der ihr eigentümlichen Subjektivität allererst konstituiert wird. Sie konstituiert sich keinesfalls selbst, sondern weiß sich von ihrem Herrn schlechterdings abhängig und durch ihn sich selbst ganz gegeben. Ihr Ureigenstes findet sie nicht in sich, sondern in Christus, der den einzigen Grund und Inhalt ihres Selbstbewusstseins ausmacht. Das kirchliche Selbstbewusstsein kann daher an sich selbst weder theoretisch noch praktisch, sondern nur im Vollzug jenes religiösen Geschehens erfasst werden, das seinen Inbegriff ausmacht: in der gottesdienstlichen Feier, in welcher zu Christus und mit ihm zu Gott gebetet wird. Der Gottesdienst ist der Ort, in dem das kirchliche Wesen real in Erscheinung tritt, und ohne diese Erscheinung kann vom Wesen der Kirche realiter nicht die Rede sein. Diesen systematischen Befund findet Ratzinger durch Augustins Ekklesiologie historisch bestätigt. Nach Maßgabe des Bischofs von Hippo Regius sei die Kirche zwar nicht in der Weise sichtbar, dass sich ihr wahres Wesen aus dem faktischen Sein ihrer Glieder unverborgen erkennen lasse. Denn als wahrnehmbare Erscheinung bleibe die Kirche ein corpus permixtum, das eine trennungsscharfe Abgrenzung von sündig und heilig empirisch nicht ermögliche. Gleichwohl ist das wahre Wesen der Kirche nicht einfach unsichtbar und ihr Begriff keine bloß ideale Größe. Denn was die Kirche ihrem Begriff und ihrem Wesen nach ist, wird im Zusammenhang der Eucharistie offenkundig: die communio sanctorum sakramentaler Christusgemeinschaft. An ihrem sakramentalen Charakter hat sich daher auch die konkrete Verfassungsgestalt der Kirche auszurichten. Jede Ablösung des Kirchenrechts von der Sakramentalität der Kirche lehnt Ratzinger ab. Die Verfassung der Kirche, so wird unter Bezug namentlich auf Augustins civitas-Dei-Konzept betont, ist von kategorial anderer Art als die Ordnungen dieser Welt. Das gilt nicht nur im Hinblick auf das heidnische Rom, das sich im Kaiserkult selbst vergötterte, sondern auch im Hinblick auf jede Form einer civitas terrena, von der sich die civitas Dei und ihr populus wesentlich durch ihren sakramentalen Charakter unterscheiden, wie er sich in der eucharistischen Feier des Gottesdienstes manifestiere. Gleichwohl werde auch der civitas Dei eine eigene Ordnung von Gott her eingestiftet. Diese Ordnung sei selbst sakramentaler und von rechtlicher Natur nur insofern, als das Recht in der Form eines Moments konstitutiv zur Sakramentalität der Kirche gehöre. Mit dem Begriff des sakramentalen Rechts, nach dessen Maßgabe die Kirche verfasst sei, ist der Punkt der ekklesiologischen Argumentation erreicht, der im ökumenischen Dialog aus naheliegenden Gründen eine Zen-

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Kirche als institutionell formiertes sacramentum corporis Christi

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tralstellung einnimmt. Insofern das Sakrament der Eucharistie, wie Ratzinger an der Alten Kirche und ihrer Verfassungsstruktur zu verdeutlichen sucht, zugleich die rechtliche Einung der Kirche als sakramentale Christus-Körperschaft besagt, ist das Institut der apostolischen Amtssukzession im Eucharistiesakrament wesentlich mitgesetzt, um – selbst sakramentaler Natur – die Rechtseinheit der im Eucharistiesakrament ihrer eigenen Sakramentalität gewahren Kirche zu gewährleisten. Das als Leib Christi bestehende Gottesvolk findet sonach in der sakramentalen Struktur der bischöflichen successio apostolica das rechtliche Prinzip seiner Einheit, »wobei wieder eine Doppelforderung zu beachten ist: Die der Einheit mit dem römischen Sukzessionsträger und die der Katholizität der Gesamtkommunikationsgemeinschaft.« (319) Dabei merkt Ratzinger an, dass bei Augustin zwar, »der ganzen Lage entsprechend, die Forderung nach Einheit mit der ganzen catholica stärker in den Vordergrund (tritt) als die Einheit mit Rom. Doch genügen«, wie es weiter heißt, »die Vorgänge im pelagianischen Streit …, um die Aussage zu rechtfertigen, dass der Standpunkt Optats … auch für Augustin verpflichtend blieb« (ebd., Anm. 20). Auch für ihn ist die Einheit der katholischen Kirche und ihrer Bischöfe in der Gemeinschaft mit der cathedra Petri in Rom begründet. Ist die Kirche ihrem Wesen nach sakramental und gemäß ihrem sakramentalen Wesen zugleich rechtlich verfasst, so dass der Begriff der Kirche als Leib Christi mit demjenigen einer juristisch-hierarchischen Körperschaft tendenziell koinzidiert, so ist die körperschaftliche Verfassung der Kirche und die gestufte Ordnung ihrer Hierarchie gleichwohl von der Rechtsgemeinschaft des Staates und seinen Rangordnungen elementar unterschieden, sofern sich das Recht des Staats im Modus notfalls zwingender Macht, das Recht der Kirche aber als göttlich-sakramentales Recht bestimmungsgemäß in der ohnmächtigen Form der Liebe Geltung zu verschaffen sucht. Zusammenfassend ist zu sagen, dass eine Emanzipation der Rechtsgestalt der Kirche von ihrer sakramentalen Form ekklesiologisch zwar unter keinen Umständen akzeptiert werden kann, weil das im und durch den Leib Christi begründete und vereinte Gottesvolk anderes ist als eine weltliche Bürgerschaft oder ein Staat. Nichtsdestoweniger sind das Recht der Kirche und ihre hierarchisch gestufte Ordnung ein konstitutives Moment ihrer Sakramentalität, deren Konkretheit die abstrakte Alternative des Empirischen und des Idealistischen transzendieren und in sich aufheben soll. »Als Gemeinschaft vom Sakrament her ist sie konkret, aber ihre Konkretheit ist nicht die des Empirischen, sondern eben die des Sakramentalen, das als Zeichen des Bundes stets mehr als bloßes Faktum, als bloßes Ding ist. Als Sakrament ist die Kirche nie ohne institutionelle Form, aber sie geht auch nie in der faßbaren juridischen Struktur auf. Um das Wesen der augustinischen Konzeption von Civitas Dei zu begreifen, muss man den Unterschied von idealistisch und pneumatologisch, von sakramental und empirisch verstehen. Nur dann nähert man sich der besonderen Art von Wirklichkeit, die hier beschrieben werden will.« (XVII)

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2. Grazer Ökumenismusprogramm 1976: Kirchentrennung unter der Voraussetzung struktureller Einheit und struktureller Differenz Bestimmend für Ratzingers Ökumenismusverständnis ist die Unterscheidung zweier geschichtlicher Grundtypen von Kirchenspaltung in der Christenheit und zweier entsprechender Einheitsmodelle. »Der erste Typ ist bei den altkirchlichen Spaltungen zwischen chalkedonischen und nicht-chalkedonischen Kirchen anzutreffen, er gilt aber grundsätzlich auch noch für den Riss zwischen Ost und West, obgleich hier ekklesiologische Differenzen von einer vorher nicht gekannten Radikalität ins Spiel kommen. Der zweite Typ liegt bei den Spaltungen vor, die sich im Gefolge der Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts ausgebildet haben.«3 Im ersteren Fall handelt es sich um Kirchenspaltungen unter der Voraussetzung struktureller Einheit, in letzterem um solche unter der Voraussetzung struktureller Differenz. Programmatisch ausgeführt wird diese Typologie in einem 1976 in Graz gehaltenen und in der »Theologischen Prinzipienlehre« von 1982 unverändert abgedruckten Vortrag. Was den ersten Typ der Kirchenspaltung anbelangt, so soll weder die das Christusbekenntnis betreffende Differenz zwischen chalcedonischen und nichtchalcedonischen Kirchen noch auch die Spaltung zwischen Rom und Konstantinopel, welche die Trennung von Ostkirche und Westkirche nach sich zog, die strukturelle Einheit der Kirche und ihres Glaubens zerstört haben. Das ekklesiale Grundgefüge sei vielmehr unzerstört erhalten geblieben. Das ist nach Ratzingers Urteil deshalb der Fall, weil der Gehalt der Kontroversen die Gestalt der Kirche und das mit der strukturellen Formgestalt der Kirche, wie sie im nizänischen Konzil grundgelegt sei, gegebene Modell kirchlicher Einheit nicht verletzt habe. Charakterisiert wird die strukturelle Formgestalt kirchlicher Einheit durch den Hinweis, »daß die Bischöfe kraft ihrer sakramentalen Weihe und der damit übernommenen kirchlichen Überlieferung die Einheit mit dem Ursprung verkörpern; das heißt es gehört zu dieser Struktur tragend jenes Grundmoment, das schon seit dem 2. Jahrhundert in den Begriff der Successio apostolica, der apostolischen Nachfolge gefasst wurde.« (204) Wesentlich das unumstrittene Festhalten an diesem Grundmoment ist es,

3 J. Kard. Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 1982, 203. Die nachfolgenden Seitenverweise verweisen auf diesen Sammelband. Nicht nur in seinem Grazer Text, auch anderwärts hat Joseph Ratzinger die Thematik von traditio und successio apostolica zur Kernfrage im katholisch-reformatorischen Disput erklärt. Dabei sind für ihn apostolische Überlieferungen und apostolische Amtssukzession untrennbar verbunden, sofern das Weihesakrament als sakramentaler Ausdruck des Prinzips Überlieferung zu gelten hat. Entsprechend besagt es die Überschrift, die ein im selben Jahr wie der Grazer Vortrag erstmals erschienener Aufsatz in der Theologischen Prinzipienlehre gefunden hat (vgl. 251 – 263).

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welches nach Ratzinger die Basis kirchlicher Einheit trotz inhaltlicher Differenzen in förmlicher Fundamentalität gewährleistet.4 Sind es die Bischöfe, welche kraft ihres Amtes die Einheit der zum sacramentum corporis Christi bestimmten Kirche mit ihrem Ursprung verkörpern, so verbleibt als zentrales Problem, wie im Gefüge bischöflich geleiteter Kirchen kirchliche Einheit strukturell so gewährleistet werden kann, dass die Pluralität der Bischöfe diese nicht gefährdet. Just mit dieser Frage ist der systematische Ort der Primatsthematik und zugleich jener Streitpunkt markiert, der zwischen Orthodoxie und römischem Katholizismus bis heute der relevanteste ist, auch wenn er sich von anderen Differenzen wie etwa der Filioque-Kontroverse nicht isolieren lässt.5 Ratzinger ist bestrebt, den Streit 4 Man kann fragen, ob die Stringenz der Argumentation nicht von der mehr oder minder latenten Tendenz abhängig ist, Differenzen, die den Lehrgehalt betreffen, zugunsten der Einheit kirchlicher Formgestalt unterzubestimmen. Zwar will Ratzinger die für die ekklesiale Einheitsstruktur elementare Formgestalt episkopaler Sukzession im apostolischen Amt im Zusammenhang mit dem Gehalt kirchlicher Überlieferung begriffen wissen. Die Bischöfe sollen die Einheit mit dem Ursprung nicht lediglich der Form, sondern auch dem Inhalt nach, nämlich, wie zitiert, »kraft ihrer sakramentalen Weihe und der damit übernommenen kirchlichen Überlieferung« (204) verkörpern. Doch bleibt die Frage, wie man sich den Zusammenhang der kirchlichen Formgestalt bischöflicher successio apostolica mit dem Gehalt kirchlicher Überlieferung präzise zu denken hat. Abweisen lässt sich diese Frage nur unter der Voraussetzung der Annahme einer unmittelbaren Koinzidenz von Gestalt und Gehalt der apostolischen Tradition der Kirche. Mit dieser Annahme wäre aber die Möglichkeit preisgegeben, von einer durch inhaltliche, also den Gehalt der kirchlichen Überlieferung betreffende Differenzen im wesentlichen nicht tangierten strukturellen Einheit kirchlicher Gestalt zu sprechen, wie dies für Ratzingers Argumentation grundlegend ist. Ihre Stringenz bleibt daher nur erhalten, wenn man der Gestalt kirchlicher Einheit in Form bischöflicher Autorität eine zumindest momentan prioritäre Funktion zuerkennt, den authentischen Gehalt der Überlieferung autoritativ zu bestimmen, statt umgekehrt die Formgestalt bischöflicher successio apostolica primär und gegebenenfalls auch kritisch vom Gehalt der apostolischen Überlieferung bestimmt sein zu lassen. Der Notwendigkeit, hier in der einen oder anderen Weise zu optieren, kann man sich nicht oder nur um den Preis einer petitio principii entziehen, welche die Unterscheidung von Gehalt und Gestalt zugleich einführt und entzieht. 5 Nach Maßgabe der orthodoxen Vorstellung paritätischer Pentarchie gibt es in der Kirche und unter den fünf Patriarchen (von Rom, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien, Jerusalem) keinen Jurisdiktionsprimat, sondern nur einen primatus honoris des Bischofs von Rom, welcher Ehrenprimat zudem nicht iure divino, sondern durch geschichtlich gewordenes Gewohnheitsrecht besteht. Nach Kanon 28 des Vierten Ökumenischen Konzils hat der Bischof von Konstantinopel nicht mindere Ehrenrechte als der römische Bischof, dem lediglich der Status eines primus inter pares zuerkannt wird. Zu vergleichen sind in diesem Zusammenhang fernerhin die Kanones 6 und 7 des Ersten, Kanon 3 des Zweiten Ökumenischen Konzils sowie Kanon 36 des Quinisextum. Die Idee einer papalen plenitudo potestatis trug nicht unerheblich zur Entfremdung von Ost- und Westkirche bei. Diese zeichnet sich bereits unverkennbar in den 60er Jahren des 9. Jahrhunderts aus Anlass der Übernahme des Patriarchenamtes durch Photius sowie in der Problematik der Bulgarenmission ab, um 1054 und definitiv im Schreckensjahr 1204 zum manifesten Schisma zu führen. Gegen die im 4. Laterankonzil getroffene Feststellung, derzufolge die römische Kirche auf Anordnung des Herrn als Mutter und Lehrerin aller Christgläubigen den Vorrang der ordentlichen Vollmacht über alle anderen innehat (DH 811: quae disponente Domino super omnes alias ordinariae potestatis obtinet prinicpatum), richtet sich der orthodoxe

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auf niederer Flamme zu halten, obschon er registriert, dass zumindest Teile der Orthodoxie im päpstlichen Primatsanspruch, wie er sich im römischen Katholizismus ausgebildet hat, eine »Zerstörung der ekklesialen Struktur als solcher« erblicken, »in deren Folge etwas anderes und Neues an die Stelle der altchristlichen Form tritt« (ebd.). Um dieser Annahme zu begegnen, welche seiner bisher entwickelten These widerstrebt, die Trennung orthodoxer Ostkirche und katholischer Westkirche habe die kirchliche Einheitsstruktur nicht zerstört, bemüht sich Ratzinger, dem Eindruck einer einseitigen Verrechtlichung des apostolisch-sakramentalen Gefüges der Kirche im römischen Katholizismus zu wehren. Die systematische Grundfigur, mit der argumentiert wird, lässt sich folgendermaßen charakterisieren: zwischen sakramentaler und rechtlicher Gestalt der Kirche ist zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden, wobei es die Sakramentalität der Kirche ist, auf welcher ihre Rechtsförmigkeit basiert. Die flexible Handhabung dieser Argumentationsfigur erlaubt es Ratzinger, Stärken und mögliche Schwächen des orthodoxen und des römisch-katholischen Modells kirchlicher Einheit abzuwägen und vermeintliche Gegensätze als Scheinalternativen zu entlarven. So sei es einerseits ein Missverständnis, wenn orthodoxerseits angenommen werde, die römische Papstlehre einschließlich der Lehre von Infallibilität und universalkirchlichem Jurisdiktionsprimat räume dem Bischof von Rom eine Rechtsstellung über der sakramentalen Ordnung der Kirche und die Kompetenz eines absoluten Souveräns ein, dessen Wille neues Recht und neue kirchliche Verbindlichkeiten zu setzen vermag nach reinem Belieben. Auf der anderen Seite gibt Ratzinger zu bedenken, dass der prinzipiell richtige Grundsatz nicht alle ekklesialen Probleme zu lösen vermöge, demzufolge der überkommene und einzig in der Übereinstimmung aller durch das Bischofskollegium geleiteten Ortskirchen authentisch ausgelegte Glaube die maßgebliche Instanz kirchlicher Verbindlichkeit sei. Weil die Orthodoxie die Unterscheidung zwischen sakramentaler und rechtlicher Gestalt traditionellerweise un- oder doch unterentwickelt gelassen habe, habe sie sich in der Regel »der christlichen Wirklichkeit der Häretiker gegenüber theologisch etwas hilflos« (205) erwiesen, in welchem Zusammenhang »auch die allmählich entwickelte Unterscheidung von Ökonomie und Akribie« (ebd.) nicht recht weiter helfe. Ratzinger hält daher eine »gewisse« (ebd.) Differenzierung zwischen sakramentaler und rechtlicher Gestaltung der Kirche für ekklesiologisch zwingend geboten, wenngleich es eine Ablösung kirchlicher Rechtsform von ihrer sakramentalen Ursprungsstruktur auch nach seiner Auffassung nicht geben darf. Auf eine solche Emanzipation ziele die römische Papstlehre mitnichten, in deren Anschluss an die Petrusworte des Neuen Testaments Ratzinger Widerstand bis heute. Das gilt umso mehr für die Papstdogmen des I. Vatikanischen Konzils, die unmissverständlich deutlich machten, was nach römischem Urteil von der Idee eines pastoralen Papstprimats der Ehre ohne rechtlichen Vorrang zu halten ist.

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vielmehr die »Überlieferung vom Ursprung her festgehalten (sieht), für die es eine andere eindeutige und konkrete Antwort nirgendwo gibt« (206). »Die Anwendungen dieses Wortes«, so fährt er fort, »sind freilich vielfach weithin über das Erbe des Anfangs hinaus gewuchert, so daß sie für den ersten Blick die sakramentale Grundstruktur überdecken mögen. Aber im wirklichen Leben der Kirche und in dem gültigen Kern ihrer Verfassung blieb das sakramentale Gefüge immer lebendig und war gerade in seiner Einheit mit dem Petrusamt das Tragende. Ein näheres Aufeinander-zugehen und Aufeinanderhinsehen kann hier die letzte Einheit ummöglich verkennen, die in allem Streit nie angetastet wurde. Mag der Westen am Osten das Fehlen des Petrusamtes beanstanden – er muss dennoch zugestehen, dass in der Kirche des Ostens Gehalt und Gestalt der Väterkirche ungebrochen lebendig sind. Mag der Osten am Westen die Existenz des Petrusamtes und seinen Anspruch kritisieren, auch für ihn muss sichtbar bleiben, dass darob in Rom nicht eine andere Kirche als im ersten Jahrtausend besteht – in der Zeit, in der man gemeinsam Eucharistie feierte und eine Kirche war.« (Ebd.) Der Ton ist also bei allen Unterschieden auf Ausgleich gestimmt. Differenzen werden zwar nicht verschwiegen, aber nirgendwo zu Prinzipiengegensätzen erklärt, die kirchentrennende Bedeutung haben.6 6 Als ein bemerkenswertes Beispiel selbstkritischen Ausgleichswillens von römisch-katholischer Seite der Orthodoxie gegenüber deutet Ratzinger u. a. die für die gesamte Amtstheologie höchst relevante Revision des mittelalterlichen Weiheritus, wie er in der Konstitution Pius’ XII. (Sacramentum ordinis) aus dem Jahre 1947 erfolgte. Dort wurde klar und unmissverständlich deutlich gemacht, dass das eigentliche sakramentale Zeichen der Weihe die Handauflegung und nicht die Übergabe des Kelchs mit Wein und der Patene mit Brot sei, welche unter dem Einfluss germanischer Rechtsformen von dem im Florentinum 1439 beschlossenen Dekret für die Armenier zum zentralen Akt der Spendung des Weihesakraments erklärt worden war. Diese Revision ist nach Ratzinger nicht nur speziell amtstheologisch, sondern auch ekklesiologisch allgemein in hohem Maße bedeutsam, »weil ausdrücklich eine Korrektur westlicher Traditionsgestalt am Maß der Universalkirche vollzogen, die Problematik partikulärer mittelalterlicher Entwicklung erkannt und die Maßstäblichkeit der alten Kirche angenommen wird« (252). Die Tragweite der Revision erschließt sich nach Ratzinger, »wenn man auf die Worte achtet, die 1439 und die 1947 als die wesentlichen erklärt wurden. Der Text von 1439 sagt, das entscheidende sakramentale Wort laute: ›Empfange die Vollmacht, das Opfer in der Kirche darzubringen für die Lebenden und für die Verstorbenen im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes‹ (DS 1326). Der Text von 1947 erklärt demgegenüber, der altchristlichen Tradition folgend, das eigentlich sakramentale Wort sei die Präfatio, also das dem Hochgebet der Messe nachgebildete Weihegebet, das zugleich Züge der Epiklese an sich trägt; als die zentralen Worte hebt Pius XII. daraus bei der Bischofsweihe hervor : ›Sende aus auf ihn, wir bitten dich, o Herr, den Heiligen Geist, durch den er (= der Ordinand) gestärkt werden möge, das Werk deines Dienstes getreulich auszuüben mit Hilfe deiner siebenförmigen Gabe‹ (DS 3860).« (253) Für Ratzinger ist an diesem Sachverhalt dreierlei wichtig: »a) Während der mittelalterliche Text eine sogenannte indikativische Sakramentsformel vorlegt, die Weihe durch den Indikativ einer Vollmachtsübertragung geschehen lässt, vollzieht sich nach dem Text von 1947 die Weihe in deprekatorischer Form: in der Weise der Bitte, des Gebetes. So wird auch in der äußeren Form sichtbar, dass der wahre Spender der Vollmacht der Heilige Geist ist, den das sakramentale Gebet herbeiruft, nicht der menschliche Konsekrator. b) Der mittelalterliche Ritus ist dem Vorgang der Investitur in ein weltliches Amt nachgebildet. Sein Leitwort heißt potestas. Der Inhaber einer

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In diesen Zusammenhang gehört auch der beinahe sprichwörtlich gewordene Satz, wonach Rom vom Osten nicht mehr an Primatslehre fordern müsse, als auch im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt wurde. Zwar könne, wer auf dem Boden der katholischen Theologie stehe, die Primatslehre gewiss nicht einfach »als null und nichtig erklären, gerade auch dann nicht, wenn er die Einwendungen zu verstehen versucht und offenen Blicks die wechselnden Gewichte des geschichtlich Feststellbaren würdigt. Aber er kann andererseits unmöglich die Primatsgestalt des 19. und 20. Jahrhunderts für die einzig mögliche und allen Christen notwendige ansehen.« (209) Als Basis theologisch grundsätzlich möglicher, wenngleich spirituell noch nicht hinreichend vorbereiteter Einigung fasst Ratzinger einen differenzierten Konsens ins Auge dergestalt, »daß einerseits der Osten darauf verzichtet, die westliche Entwicklung des zweiten Jahrtausends als häretisch zu bekämpfen und die katholische Kirche in der Gestalt als rechtmäßig und rechtgläubig akzeptiert, die sie in dieser Entwicklung gefunden hat, während umgekehrt der Westen die Kirche des Ostens in der Gestalt, die sie sich bewahrt hat, als rechtgläubig und rechtmäßig anerkennt.« (Ebd.) Es gilt die Regel, dass nicht die kirchliche Einheit begründungspflichtig ist, sondern die Kirchentrennung, welche nur bei einem kontradiktorischen Gegensatz und bei einer Differenz im ganz Grundsätzlichen zu rechtfertigen ist. In der Konsequenz sei auf Maximalforderungen beiderseits zu verzichten. »Die westliche Maximalforderung an den Osten wäre es, eine Anerkennung für den Primat des römischen Bischofs in dem vollen Umfang zu verlangen, wie er 1870 definiert wurde, und sich damit auch einer Primatspraxis einzuordnen, wie sie von den Unierten angenommen worden ist. Die östliche Maximalforderung wäre es, die Primatslehre von 1870 als völligen Irrtum zu erklären und damit auch alle darauf beruhenden verbindlichen Aussagen aufzulösen, von der Streichung des Filioque im Credo angefangen bis hin zu den marianischen Dogmen des 19. und 20. Jahrhunderts.« (207) An seiner Maxime, auf Maximalforderungen im Geiste ökumenischer Verständigung zu verzichten, hält Ratzinger auch hinsichtlich des Verhältnisses von Katholizismus und Reformation fest: »Die Maximalforderung der katholischen Kirche an den Protestantismus wäre es, die protestantischen kirchlichen Ämter als schlechthin nichtig anzusehen und schlicht die KonVollmacht übereignet einem anderen wiederum eine Vollmacht. Der Ritus, den Pius der XII. vor Augen hat, stellt eine Rückkehr zur altkirchlichen Form dar. Er ist pneumatologisch bestimmt sowohl von der Geste her (denn Handauflegung bedeutet Geistübertragung, Geistbitte) wie auch vom Wort her : Die Präfatio ist Bitte um den Heiligen Geist. Demgemäss ist das Leitwort nun ministerium bzw. munus: Dienst und Gabe; dementsprechend ist in den Worten der Priesterweihe auch vom Auftrag des Beispiels und von der Ordnung der Sitten die Rede. c) Schließlich kann man auch feststellen, dass in dem Text Pius’ XII. die Bischofsweihe als Vollgestalt des Weihesakraments wieder stärker in den Vordergrund tritt, während Florenz den Bischof nur als Spender der Priesterweihe erwähnt. In diesem Punkt ist freilich ein entscheidender Schritt erst auf dem Vaticanum II erfolgt.« (Ebd.)

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version zum Katholizismus zu verlangen; die Maximalforderung der Protestanten an die katholische Kirche wäre es, durch uneingeschränkte Anerkennung aller ihrer Ämter ihren Amtsbegriff und ihr Verständnis von Kirche zu übernehmen und damit sachlich auf die apostolisch-sakramentale Struktur zu verzichten, das heißt umgekehrt also zum Protestantismus zu konvertieren und die Vielgestalt unterschiedlichster Gemeinschaftsbildungen als die geschichtliche Gestalt der Kirche anzunehmen.« (207 f) Scheint die Verhältnisbestimmung von Katholizismus und Orthodoxie einerseits und Katholizismus und Protestantismus andererseits zumindest hinsichtlich der Abwehr beiderseitiger Maximalforderungen als analog, so zeigt sich doch bereits unter diesem Gesichtspunkt eine signifikante Asymmetrie, insofern die protestantische Maximalforderung nach Ratzingers Urteil im Unterschied zu den drei anderen vom derzeitigen christlichen Durchschnittsbewusstsein nicht nur nicht abgelehnt, sondern evidentermaßen favorisiert und zur eigentlichen Lösung des ökumenischen Problems erklärt werde. Wer die protestantische Maximalforderung ablehne, sehe sich daher zugleich zum Kampf gegen den Zeitgeist herausgefordert, der – so Ratzingers Annahme – mit dem Protestantismus im Prinzip konvergiert. Das protestantische Prinzip, dessen geschichtlicher Ursprung in der Reformation des 16. Jahrhunderts gegeben, aber in Ansätzen bis auf spezifische, von ihm als historisch und systematisch unhaltbar erachtete Rezeptionsgestalten des Augustinismus zurückzuführen sei, ist nach Ratzinger durch einen grundstürzenden Wandel des Kirchenbegriffs bestimmt. Dieser »zieht sich einerseits in die Gemeinde zurück und verweist andererseits auf die nur Gott bekannte Gemeinschaft der Glaubenden zu allen Zeiten. Die großkirchliche Gemeinschaft als solche aber ist nicht mehr Träger eines positiv bedeutsamen theologischen Gehalts.« (207) Damit sei dem Gedanken realer Kircheneinheit das ekklesiologische Fundament entzogen. Ratzinger lässt denn auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass nach seiner Einschätzung das Modell der Kircheneinheit, welches der Protestantismus im Prinzip und im prinzipiellen Verein mit einem modernistischen Zeitgeist verfolge, das gerade Gegenteil dessen sei, was zu sein es beansprucht. Denn es laufe in seiner Konsequenz nicht auf kirchliche Einheit, sondern auf den endgültigen Verzicht auf diese hinaus. Wo nämlich die Formenvielfalt unterschiedlichster Gemeinschaftsbildungen als die geschichtliche Gestalt der una sancta betrachtet werde, da werde keine wirkliche Union erstrebt, »sondern ihre Unmöglichkeit zu einzigen gemeinsamen Dogma erhoben« (208). Für Ratzinger ergibt sich hieraus, dass die Differenz zwischen Katholizismus und Protestantismus anders als diejenige zwischen Katholizismus und Orthodoxie als eine Kirchentrennung unter der Bedingung eines strukturellen Prinzipiengegensatzes beurteilt werden muss. Auch wenn dieser Gegensatz geschichtlich nicht immer in prinzipieller Eindeutigkeit auftrete, sei er doch grundsätzlich vorhanden und auch geschichtlich identifizierbar. Als Beispiel wird die Organisationsform reformatorischer Kirchen angeführt. Diese werde

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bereits in der Wittenberger Reformation des 16. Jahrhunderts »aus dem politischen Bereich entliehen, weil sie als geistlich belangvolle Größe ohnedies nicht existiert. So gibt es zwar dort, wo die Bekenntnisschriften ernst genommen werden, eine beträchtliche inhaltliche Gemeinschaft mit der alten Kirche, aber ihre kirchliche Verankerung und damit die verbindliche Vollmacht, die das Mit- oder auch das Gegeneinander trägt, bleibt undeutlich, obgleich in der kirchlichen Entwicklung der reformatorischen Gemeinschaft vieles von den tatsächlichen Notwendigkeiten her wieder nachgewachsen ist, was vom Prinzip her seinen Grund verloren hatte.« (207) Mit dem Hinweis auf die Bekenntnisschriften der Wittenberger Reformation, denen er eine beträchtliche inhaltliche Übereinstimmung mit der Alten Kirche attestiert, ist der Orientierungspunkt bezeichnet, von dem her Ratzinger mögliche Fortschritte ökumenischer Verständigung in Richtung auf kirchliche Gemeinschaft zwischen Katholizismus und Protestantismus am ehesten erwartet. Insbesondere der Confessio Augustana wird zuerkannt »mit innerer Überzeugung als Suche nach evangelischer Katholizität konzipiert« (212) zu sein. Den 1980 im Zusammenhang mit dem 450jährigen Jubiläum der Augustana verfolgten Bemühungen um eine Anerkennung der CA als eines katholischen Bekenntnisses begegnete er daher mit grundsätzlicher Aufgeschlossenheit. Allerdings sei ein solcher Akt der Bestätigung der Katholizität der Kirchen Augsburgischen Bekenntnisses nur als konkrete geistliche Entscheidung7 und in der Weise eines neuen geschichtlichen Schritts auf beiden Seiten sinnvoll, der über einen bloß historisch-kirchenpolitischen Ausgleich hinauszuführen habe. Ein solcher Schritt müsste bedeuten, dass die katholische Kirche in den der CA verpflichteten Kirchen eine eigene Verwirklichungsform ekklesialer Katholizität annähme und die Kirchen Augsburgischer Konfession ihr Bekenntnis, das von seinem historisch-buchstäblichen 7 Über die Voraussetzungen und Implikationen einer solchen Entscheidung hat sich Ratzinger in einem eigenen Text zur Frage einer möglichen Anerkennung der Confessio Augustana, der 1978 erstmals erschien, ausführlich und unter Bezugnahme auf seinen Grazer Vortrag geäußert (vgl. 230 – 240). Namentlich vier Probleme seien im Zusammenhang der Anerkennungsfrage zu klären: 1. Die Stellung der CA im Ganzen der lutherischen Bekenntnisschriften. 2. Ihre Autorität und gegenwärtige Geltung (235: »Die katholische ›Anerkennung‹ der CA setzt ihre evangelische ›Anerkennung‹ voraus, nämlich Anerkennung dessen, dass hier Kirche als Kirche lehrt und lehren kann.«) 3. Die Frage der inhaltlichen Vereinbarkeit der CA mit dem katholischen Glauben. 4. Die theoretische und praktische Bedeutung des Begriffs der Anerkennung selbst. In jeder Hinsicht entscheidend sei dabei die Frage, welche Stellung die CA der Kirche für den Glauben zuweise und mit welchen strukturellen Formen verbindlichen kirchlichen Lehrens sie rechnet. Ohne Entscheid über das Formalprinzip des Glaubens und den Zusammenhang von Schrift, Überlieferung und kirchlicher Amtsautorität entbehre die Anerkennung materialer Übereinstimmung in Glaubensinhalten der nötigen ekklesialen Basis. An der Problematik der Geltung kirchlicher Traditionen wird dies exemplifiziert. Dabei merkt Ratzinger an, dass Luther in dieser Hinsicht scharfsinniger und klarer war als Melanchthon: »Er erkannte, dass die Umstufung von traditio zu (ab-)usus nur einseitig als bloßer Streit um Gebräuche angesehen werden konnte, aus der Perspektive des Ganzen her aber gerade als Streit im Prinzip und um das Prinzip gewertet werden musste.« (237)

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Der Milleniumsdisput der Kardinäle

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Bestand her für vielfältige Auslegung offen sei, in der Weise zu verstehen und zu leben beschließe, die ursprünglich intendiert war : »in der Einheit mit dem altkirchlichen Dogma und mit seiner kirchlichen Grundform.« (213) Dass zu dieser Grundform das bischöfliche Amt apostolischer Nachfolge, welches kraft sakramentaler Weihe die Einheit mit dem Ursprung verkörpert, in strukturell grundlegender Weise hinzugehört, steht für Ratzinger außer Frage. Die bischöfliche successio apostolica und die mit ihr verbundenen Prärogativen kirchlicher Gewähr ursprünglicher und kontinuierlicher Identität bilden das bestimmende Maß ekklesialer Gemeinschaft und fungieren als Kriterium, eine Kirchentrennung unter der Voraussetzung struktureller Einheit, wie sie im Falle von Orthodoxie und römischem Katholizismus, und eine Kirchentrennung unter der Voraussetzung struktureller Differenz zu unterscheiden, wie sie im Falle von römischem Katholizismus und Reformation gegeben sei. Selbst wenn von reformatorischer Seite die apostolische Sukzession im Bischofsamt als zum bene esse der Kirche gehörig akzeptiert werde, sei dieser Gegensatz noch nicht behoben. Denn es komme darauf an, die Struktur der auf der episkopalen Amtssukzession gegründeten Kirche als ekklesiologisch unabdingbar zu erkennen und zu bekennen.

3. Der Milleniumsdisput der Kardinäle: Gottesdienstgemeinde, bischöflich verfasste Einzelkirche und universalkirchliche Einheit Luther hat den neutestamentlichen ekklesia-Begriff gerne mit dem deutschen Wort Gemeinde wiedergegeben, um zum Ausdruck zu bringen, dass Kirche im prototypischen Sinne des Begriffs die Schar der um Wort und Sakrament Versammelten bedeutet. Die Confessio Augustana bestätigt dieses Kirchenverständnis, wenn sie in ihrem VII. Artikel das Wesen der Kirche mit den Worten umschreibt, diese sei »congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta« (CA VII,2). Diese Wendung erinnert an die dem Apostolikum eingefügte Formel von der Kirche als »communio sanctorum«, die ihrem Ursprungssinne nach, wie erwähnt, Teilhabe am Heiligen sowie an den Heilsmitteln und erst sekundär Gemeinschaft der Heiligen bedeutet. Auch nach CAVII ist, wie der Wortlaut des zitierten Satzes unschwer erkennen lässt, Kirche die Gemeinschaft derer, die an Wort und Sakrament partizipieren, um in der Kraft des Heiligen Geistes am Sohnesverhältnis Jesu Christi mit seinem göttlichen Vater teilzuhaben und untereinander zusammengeschlossen zu werden zur Gemeinschaft des Glaubens, der in der Liebe tätig ist. Dabei unterstreicht die Augustana durch die Wahl des Begriffes »congregatio« den konkreten Versammlungscharakter von Kirche.

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Joseph Ratzinger über Katholizismus, Orthodoxie und Reformation

Die versammelte Gottesdienstgemeinde ist Kirche im ursprünglichen Sinne des Wortes ecclesia. Sie ist ganz Kirche, wenngleich nicht die ganze Kirche. Denn sie ist als Gottesdienstgemeinde ihrem Wesen nach mit einem universalkirchlichen Bezug unveräußerlich verbunden. Das belegt CA VII nicht nur durch den Hinweis, dass die kirchliche congregatio sanctorum »Versammlung aller Glaubigen« (BSLK 61,4 f) ist, sondern auch durch den Eingangssatz, »quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit« (CA VII,1), »daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben« (BSLK 61,2 – 4). So wahr jede Gottesdienstgemeinde Kirche im Vollsinne ist, so konstitutiv für ihr Wesen ist doch zugleich ihr universalkirchlicher Bezug, ohne den sie nicht wäre, was sie ist. Dieser Bezug hat nicht nur eine räumliche, die Grenzen der Territorien, Völker und Nationen transzendierende Komponente, sondern auch, wie CA VII,1 eigens betont, eine zeitliche. Der kontinuierliche Zusammenhang mit den apostolischen Ursprüngen gehört elementar zum Kirchesein der Kirche, deren Gemeinschaft mit den Grenzen des Raumes auch die Schranken der Zeit transzendiert.8 Ist es nach evangelischem Verständnis ekklesiologisch geboten, den Begriff der Ortkirche mit der versammelten Gottesdienstgemeinde zu assoziieren, so wird er im katholischen Sprachgebrauch zumeist mit der Diözese verbunden. Ortkirche ist demnach die um einen Bischof gereihte Schar von Gemeinden, wobei der Bischof nicht mehr, wie ursprünglich, als unmittelbarer Leiter der einzelnen ortsgemeindlichen Gottesdienstfeier, sondern als Episkope mit übergemeindlicher Aufsicht seines Amtes waltet, dem Presbyter und Diakone dienend zugeordnet sind. Wie immer die im II. Vatikanum wiederholt begegnende Rede von ecclesia particularis, localis et universalis terminologisch präzise zu bestimmen ist, fest steht, dass nach üblicher katholischer Diktion der Ortskirchenbegriff primär nicht die örtliche Gottesdienstgemeinde, sondern die Gemeinden einer bischöflichen Diözese bezeichnet.9 8 Im dritten, der Ekklesiologie gewidmeten Band meiner Beiträge zum Studium der Systematischen Theologie (G. Wenz, Kirche. Perspektiven reformatorischer Ekklesiologie in ökumenischer Absicht, Göttingen 2005) habe ich die Implikationen dieses Sachverhalts im Einzelnen aufgewiesen und zu zeigen versucht, dass und in welcher Weise nach evangelischer Lehre nicht nur mit einer apostolischen Sukzession der Gesamtkirche, sondern auch mit einem besonderen Einheitsdienst des ordinationsgebundenen Amtes in der Nachfolge der Apostel zu rechnen ist. Dabei liegt es auch unter evangelischen Bedingungen durchaus nahe, das Bischofsamt zur prototypischen Gestalt ordinationsgebundenen Amtes zu erklären, sofern der episkopos ursprünglich der Leiter der versammelten Gottesdienstgemeinde war. Die Notwendigkeit der Institution eines übergemeindlichen Dienstes der Episkope wird damit nicht bestritten. 9 Dieser Sprachgebrauch besagt nach Joseph Ratzinger einen Vorrang des Theologischen vor dem Geographischen, wobei das Theologische im Zusammenhang mit der Realität der successio apostolica zu sehen ist, für welche der Bischof steht. Dazu ist zu bemerken, dass nach evangelischem Verständnis das Geographische ekklesiologisch nur insofern bedeutsam ist, als die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gottesdienstversammlung sich äußerlich am Kriterum räumlicher Nähe bemisst. Insofern wird auch eine diözesane Bischofskirche auf geographische Bezüge schwerlich verzichten können. Was aber den Bischof selbst betrifft, so lautet die im gegebenen Zusammenhang entscheidende Frage, wie das Verhältnis von episkopos und presbyteros genau

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Der Milleniumsdisput der Kardinäle

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Den ekklesiologisch gebotenen Sachgrund hierfür findet Ratzinger in dem universalkirchlichen Bezug, der jeder Gottesdienstgemeinde unveräußerlich zugehört und ohne deren institutionelle Gestalt, wie sie im Bischofsamt gegeben ist, keine Gottesdienstgemeinde wesensgemäß zu existieren vermag. Dass der gottesdienstlichen Mahlgemeinschaft des Herrn die Gemeinschaft der eucharistischen Gottesdienstgemeinden unveräußerlich zugehört, dass mithin »die Einheit mit allen anderen ›Gemeinden‹ nicht etwas ist, was nachträglich zur Eucharistie hinzukommt oder auch nicht hinzukommt, sondern ein inneres Konstitutiv der Eucharistiefeier selbst« (308) ist, wird von Ratzinger mit Recht betont, aber weder auf orthodoxer noch auf evangelischer Seite ernsthaft bestritten.10 Schwieriger wird die Angelegenheit erst an der Stelle, wo Ratzinger die successio apostolica zum äußeren Zeichen für die Unverfügbarkeit und Gesamtkirchlichkeit der Eucharistie erklärt. »Die Bindung jeder Eucharistiefeier an einen Träger dieser Successio«, so heißt es, »ist die notwendige Bindung ans Sakrament der Einheit (an die Einheit und an das Sakrament!), die Selbstübersteigung der Gemeinde, die nur vom Ganzen her und im Ganzen Kirche sein kann. So bedeutet diese ›Amtsbindung‹ der Euzu bestimmen ist. Statt seine Reflexionen hierauf zu konzentrieren, gibt Ratzinger kund, wie er die Vorliebe reformatorischer Ekklesiologie für den Gemeindebegriff beurteilt. Die terminologische Verschiebung von Kirche zu Gemeinde und die fast völlige Eliminierung des Wortes »Kirche« aus der Bibelübersetzung Luthers (vgl. 323) zeige »den inneren Vorgang der reformatorischen Transposition der Glaubensstruktur so bündig, wie er vielleicht sonst nirgends ansichtig wird. Kirche zieht sich auf Gemeinde zurück, das heißt die Kirche als Successio, als Einheit verbindlicher Überlieferung in sakramental-personal strukturierter Form verliert für Luther ihren theologischen Gehalt. Sie wird bestenfalls zum Apparat, zur Organisation, schlimmstenfalls zum Antichrist, zur organisierten und sakral drapierten Verhinderung des ›Evangeliums‹ (womit nicht etwa die vier Evangelien oder die Bibel schlechthin, sondern die Botschaft von der Rechtfertigung als Mitte der Schrift gemeint ist). Theologisch, evangeliumsgemäß valent ist nur die sich versammelnde, sich unter das Wort stellende jeweilige Gemeinde.« (306 f) Die Reduktion von Kirche auf Gemeinde, wie sie sich in Luthers Bibelübersetzung terminologisch reflektiere, folgt nach Ratzinger einem inneren Prinzip reformatorischer Ekklesiologie, welche in einer Gesamtkirche mit institutionell konkreter Verfassung keine geistliche Größe von erhaltenswerter Bedeutung zu erkennen vermochte. Insofern sei es nur konsequent gewesen, durch die landeskirchliche Organisation der reformatorischen Gemeinschaften, wie sie im Reich üblich wurde, den universalkirchlichen Zusammenhang als konkrete Realität strukturell abzubrechen. 10 Obwohl jede eucharistische Gottesdienstgemeinde ganz Kirche ist, da »der Leib des Herrn je nur ganz und das Wort Gottes … je nur ganz« (265) ist, gilt »zugleich, daß die Einzelversammlung, die Einzelgemeinde doch nur Kirche bleibt, indem sie es im Ganzen, in der Einheit mit den anderen ist. Denn der Leib des Herrn, der in jeder Gemeinde ganz ist, ist doch in der ganzen Kirche nur einer und dasselbe gilt für das Wort Gottes: Man kann es nur haben, indem man es mit den anderen hat. Wo das Kirchesein der Gemeinde zur Abschließung gegen das Ganze wird, zerfällt es zugleich.« (Ebd.) An anderer Stelle drückt Ratzinger dasselbe so aus: »Das Einssein mit den anderen ist die innere Grundlage der Eucharistie, ohne die sie nicht zustande kommt. Eucharistie feiern heißt in die Einheit der Gesamtkirche – nämlich des einen Herrn und seines einen Leibes – hineintreten. Daher gehört zur Eucharistie nicht nur die Anamnese der ganzen heiligen Geschichte, sondern diejenige der ganzen Gemeinde der Heiligen, der verstorbenen und aller jetzt lebenden Glaubenden auf dem Erdenrund.« (308)

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charistie nicht einen Amtsformalismus, sie ist einfach der innerlich notwendige Ausdruck dafür, daß der Herr nur einer und daher nur in der Einheit ist; sie ist der Ausdruck dafür, daß die Kirche nur durch das erhörungsgewisse Gebet um die Gabe des Geistes, das heißt durch das Sakrament, das ihr selbst Unverfügbare empfangen, Eucharistie werden und so Kirche sein kann.« (309) Damit ist nach Ratzinger zugleich der eigentliche Grund benannt, weshalb vom bischöflichen Charakter der Eucharistie und der Ortskirche auszugehen sei, wie dies in orthodoxer11 und römisch-katholischer Ekklesiologie gemeinsam vorausgesetzt werde. Die innere Stringenz dieser Argumentation ist unbestreitbar. Doch bleibt zu fragen, wie und in welcher Weise die Bischöfe kraft ihrer durch episkopale Ordination vermittelten successio apostolica für die Unverfügbarkeit, Einheit und Katholizität der kirchlichen Eucharistiegemeinschaft einstehen können: nach Ratzinger als äußere Zeichen sakramentaler Art zur Bezeichnung dessen, was den inneren Sinngehalts des sacramentum unitatis der Eucharistie ausmacht. Doch gehören, so wird man hinzufügen dürfen, gewiss auch die Vielen, die das sacramentum unitatis empfangen, diesem als äußeres Zeichen in sakramental unverzichtbarer Weise an. Wird dies bejaht, so kompliziert sich das Problem und der Bischof wird seinen Einheitsdienst nicht solipsistisch, sondern als Dienst an der Einheit der Vielen wahrzunehmen haben, die in ihrer Vielheit nur dann einig zu sein vermögen, wenn sie sich, wie der bischöfliche Diener ihrer Einheit, vom einen Herrn, mit dem sie eucharistische Gemeinschaft haben, unterschieden wissen. Die Identität des einen Herrn, der sich in der Kraft des göttlichen Geistes im Zeichen von Brot und Wein selbst als der auferstandene Gekreuzigte vergegenwärtigt, transzendiert die Differenz von Bischof und Gemeinde, und diese Selbigkeit ist es zugleich, die den bischöflichen Einheitsdienst als Dienst an der Einheit der Vielen ermöglicht und die Vielen dazu bringt, als Verschiedene eins zu sein, weil Verschiedenheit ihren trennenden Charakter verloren hat. Hat der bischöfliche Einheitsdienst als Dienst am einen Herrn der Einheit der Vielen zu dienen, dann kann das für die Form, in der er sich gestaltet, nicht folgenlos bleiben. Die Verbindlichkeit des bischöflichen Dienstes kann nicht 11 Eher am Rande wird darauf verwiesen, dass in der Orthodoxie auch Bestrebungen zu erkennen sind, dem reformatorischen Gemeindeprinzip auf spezifische Weise Geltung zu verschaffen. So habe etwa Nicolaj Afanasieff »in Entgegensetzung zu dem verrechtlichten Kirchenbegriff des Westens und seiner juridischen Einheitsidee nachdrücklich eine eucharistische Ekklesiologie entwickelt …, die zugleich Ekklesiologie der Ortskirche, der Gemeinde ist: Kirche werde von der Eucharistie gebaut. Wo Eucharistie sei, das heißt am jeweiligen Ort, in der Eucharistie feiernden Gemeinschaft an einem Ort, da sei mit dem ganzen Geheimnis dieses Sakraments der ganze Herr und so auch die ganze Kirche gegeben. Einer Gemeinschaft, die Eucharistie feiere, fehle nichts: Sie hat den Herrn ganz, sie hat so im Sakrament die Kirche ganz und ist die Kirche ganz. Die Kirche ist in der eucharistischen Gemeinschaft, also in der jeweiligen örtlichen Versammlung, ganz da, und die ›Gesamtkirche‹ kann dem kein Mehr hinzufügen: Mehr als die eucharistische Gemeinschaft gibt es nicht. Die Einheit der Gesamtkirche ist in solcher Sicht pleromatische Steigerung, aber keine Ergänzung, keine Vermehrung der Ekklesialität.« (307 f)

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in erster Linie in formaler Autorität bestehen und primär nicht in Form eines Rechtstitels wahrgenommen werden; es ist vielmehr die inhaltliche Glaubwürdigkeit, welche den bischöflichen Dienst überzeugend macht. Die mittelalterliche Entwicklung im lateinischen Westen, das gesteht Ratzinger zu, habe in dieser Hinsicht zum Teil eher kontraproduktiv gewirkt. Sakramentale Bestimmung und jurisdiktionelle Funktion des bischöflichen Amtes traten immer weiter auseinander mit der Folge nicht unerheblicher Abstraktionen, die Ratzinger am Sakramentsbegriff und namentlich an der Trennung von »sacrificium« und »sacramentum« in der eucharistischen Feier einerseits und an der Verrechtlichung der Kirche im Sinne eines juridischen Ordnungsgefüges andererseits demonstriert (vgl. 267 ff). Gegen die »Trennung von Amt als Recht und Amt als Ritus« (269) habe Luther protestiert; und hätte sein Protest sich nur dagegen gerichtet, könnte ihm ein katholisches Recht nach Ratzingers Urteil nicht abgesprochen werden. Doch habe der Reformator im Zuge seines Protestes die Ganzheit des altkirchlichen Erbes nicht nur nicht zu wahren gewusst, sondern in nicht unerheblichen Teilen preisgegeben, indem er den apostolischen Dienst der Bischöfe und die hierarchische Verfassung der Kirche überhaupt zur Disposition und damit deren Katholizität und Einheit grundsätzlich in Frage gestellt habe. Wie nach Ratzinger das Leben vom kirchlichen Ganzen her und auf das kirchliche Ganze hin zu den »Konstruktionsprinzipien« (325) jeder Gottesdienstgemeinde zu rechnen ist, so gilt dies auch auf der Ebene der Ortskirche, unter der nach üblichem römisch-katholischem Sprachgebrauch vor allem die Bischofskirche als die nach Maßgabe des II. Vatikanischen Konzils »unterste terminologisch und theologisch klar ausgeformte Größe« (312) zu verstehen ist. Auch die Bischofskirche ist Kirche nur, sofern sie vom Ganzen her und auf das Ganze hin geordnet ist. In diesen Zusammenhang gehört der vielzitierte Satz des II. Vatikanums, demzufolge die eine Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche verwirklicht ist, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird (vgl. LG 8). Die subsistitFormel, deren subtile Nuancierung im Deutschen nur schwer wiederzugeben ist, differenziert nach Ratzinger zwar einerseits »die bedingungslose Gleichung der ersten konziliaren Entwürfe, das volle Gleichheitszeichen zwischen Kirche Jesu Christi und römisch-katholischer Kirche« (243); sie nimmt aber andererseits nichts von der Konkretheit des Kirchenbegriffs weg: »die Kirche ist da, wo die Nachfolger des Apostels Petrus und der übrigen Apostel die Kontinuität mit dem Ursprung sichtbar verkörpern.« (Ebd.) Diese Verkörperung bewerkstelligt der einzelne Bischof dabei nicht isoliert und auf atomistische Weise, sondern in der Gemeinschaft der Bischöfe, die ihrerseits zur Gemeinschaft mit dem Papst bestimmt ist, der als Nachfolger Petri im Verein mit den Bischöfen die Kirche zu leiten hat. Wie ein Priester nicht allein Priester ist, sondern im Presbyterium seines Bischofs, in das er durch die Priesterweihe eingeführt wird, so ist auch ein Bischof, der durch bischöfliche Handauflegung in die successio apostolica eingereiht und damit zu dem wird, was er

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ist, Bischof nicht je für sich, sondern in der Gemeinschaft der Bischöfe, die in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom stehen. Außerhalb dieser Gemeinschaftszusammenhänge entspricht ein Bischof nicht seinem Begriff, und die formale Legitimität seiner apostolischen Sukzession wäre ohne materialen Sinngehalt und mithin haltlos.12 Die una, sancta, catholica et apostolica ecclesia, welche das Glaubensbekenntnis bezeugt, ist, um es zu wiederholen, gemäß der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils Lumen Gentium (LG 8) in der katholischen Kirche verwirklicht (subsistit), die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird. Nach Maßgabe von LG 23 (vgl. auch LG 26; CD 11) hinwiederum besteht (existit) die eine und einzige katholische Kirche in und aus einzelnen Ortskirchen, die von ihren jeweiligen Bischöfen in Gemeinschaft mit dem Bischofskollegium und dem Papst geleitet werden. LG 26 ergänzt, dass in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften (in omnibus legitimis fidelium congregationibus localibus) die eine und einzige katholische Kirche, in der die Kirche Jesu Christi subsistiert, wahrhaft anwesend ist (vere adest). In der Verbundenheit mit ihren Hirten können besagte Ortsgemeinden im Neuen Testament daher selbst Kirche heißen. Kirche ist Gemeinschaft von Kirchen: jeder Ortskirche eignet ein universalkirchlicher Bezug und zwar derart unveräußerlich, dass ohne ihn vom Kirchesein der Ortskirche nicht die Rede sein kann. Keine Ortskirche ist, was sie ist, je für sich. Der universalkirchliche Bezug gehört konstitutitiv zu ihrem 12 Nach Ratzinger gibt es »keine Trennbarkeit des materialen und des formalen Aspekts (Nachfolge im Wort, Nachfolge in der Handauflegung), sondern ihre innere Einheit ist das Zeichen der Einheit der Kirche selbst: Die Handauflegung findet in der Kirche statt und lebt von ihr. Sie ist nicht ohne sie – eine Handauflegung, die nicht Eintreten in den Lebens- und Überlieferungszusammenhang der Kirche ist, ist keine kirchliche Handauflegung.« (259) Bestrebungen innerhalb der in Teilen des Protestantismus im 19. Jahrhundert einsetzenden hochkirchlichen Bewegung, sich die apostolische Sukzession gewissermaßen auf klandestine Weise zu verschaffen, steht Ratzinger daher äußerst kritisch gegenüber. Die Sinngebung der Handauflegung werde durch apokryphe Formen ihrer Erteilung nicht nur nicht voll erfasst, sondern eher verdunkelt. Wo »hochkirchliche« Weihen ohne ekklesiale Konsequenzen gespendet und empfangen werden, da werde die Handauflegung in ihrem tiefsten Wesen verkannt: »Sie drückt dann (unbeschadet der am Anfang stehenden positiven Beweggründe) einerseits liturgische Romantik, andererseits kanonistischen Tutiorismus aus. Man will eine formal gesicherte Legitimität und neigt einem archaisierenden liturgischen Typus (oft auch ebenso einem archaisierenden dogmatischen Typus) zu, vollzieht dies Ganze aber doch, ohne eine über den Ritus hinausgehende Korrektur des kirchlichen Zusammenhangs zu wagen. Wo aber dies geschieht, wird in der Tat das Sakrament auf einen liturgisch-rechtlichen Formalismus verengt. Der sichere Ritus und die sichere Genealogie erscheinen als selbstwirksame Gewährleistung der Sakramentalität und der Apostolizität. Die notwendige Konsequenz ist, daß man von anderer Seite diesen Formalismus ironisiert und ihm die vom Ritus unabhängige Richtigkeit des Wortes gegenüberstellt. In Wahrheit ist die Handauflegung mit dem Gebet um den Heiligen Geist nicht ein von der Kirche isolierbarer Ritus, durch den man sich gleichsam seinen privaten Kanal zu den Aposteln an der Gesamtkirche vorbei graben könnte; sie ist vielmehr Ausdruck der Kontinuität der Kirche, die in der Gemeinschaft der Bischöfe der Raum der Überlieferung, des einen Evangeliums Jesu Christi ist.« (258)

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Wesen. Die Gesamtkirche, welche die ecclesia catholica als communio ecclesiarum ausmacht, kann daher nicht im Sinne einer additivien Summierung lediglich aneinandergereihter Ortskirchen verstanden werden. Umgekehrt ist die Universalkirche keine abgehobene Größe unabhängig von den Ortskirchen. Denn die eine und einzige katholische Kirche existiert ihrem realen Wesen nach in und aus vielen Kirchen. Analog dazu kann das päpstliche Amt des Bischofs von Rom seinen Einheitsdienst nicht in einer vom Leitungsdienst der einzelnen Bischöfe abgehobenen Weise verrichten, sondern nur in der Gemeinschaft mit den kollegial verbundenen Bischöfen. Der Dienst des Papstes wäre demnach primär Dienst an der Gemeinschaft der vielen Bischöfe, die zur Einheit der Vielen zu führen ihm spezifisch aufgetragen ist. Wie die einzelnen Ortskirchen so sind auch die Bischöfe als ihre Leiter ihrem Wesen nach zu jener communio bestimmt, deren einige Gemeinschaft die Universalkirche ist, deren Einheit zu dienen als die gemeinschaftliche Aufgabe der Bischöfe im Verein mit dem Bischof von Rom zu gelten hat. Dieser üblichen Lesart der einschlägigen Bestimmungen des II. Vatikanischen Konzils schien ein Schreiben der römischen Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als Communio aus dem Jahre 199213 mit der These zu widersprechen, die Universalkirche sei »im eigentlichen ihres Geheimnisses eine jeder einzelnen Teilkirche ontologisch und zeitlich vorausliegende Wirklichkeit« (Nr. 9). Zwar hielt das Dokument an dem Gedanken einer gegenseitigen Innerlichkeit (mutua interioritas) von Universalkirche und Einzelkirchen fest und bestätigte insoweit die Annahme von deren Gleichursprünglichkeit, die Reduktionen nach einer Seite hin ausschließt. Nichtsdesoweniger wurde die These eines ontologischen und zeitlichen Vorgangs der Universalkirche vor den Einzelkirchen affirmiert und durch den Hinweis auf ein gegebenes Ursprungsverhältnis der einen und einzigen Kirche gegenüber den vielen Kirchen bekräftigt. Diese verhalten sich zu jener wie Töchter zu ihrer Mutter. Aus der in Gottes ewigem Heilsratschluss ontologisch gegründeten und an Pfingsten gezeitigten Universalkirche seien die verschiedenen Ortskirchen auf vermittelte Weise als konkrete Verwirklichungsgestalten allererst hervorgegangen. Diese These blieb auch innerhalb römisch-katholischer Theologie nicht unwidersprochen. Exemplarisch genannt sei hier lediglich der Beitrag von Walter Kasper in der Festschrift für den Hildesheimer Bischof Josef Homeyer14, da dieser einen Disput mit J. Ratzinger zur Folge hatte15, der allgemeines 13 Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als Communio, 1992 (vgl. HerKorr 46 [1992], 319 – 323). 14 W. Kasper, Zur Theologie und Praxis des bischöflichen Amtes, in: W. Schreer/G. Steins (Hg.), Auf neue Art Kirche sein. Wirklichkeiten – Herausforderungen – Wendungen. FS J. Homeyer, München 1999, 32 – 48. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf. Der Text nimmt seinen Ausgang beim geistlichen und pastoralen Entwurf einer Theologie des Bischofsamts, wie ihn Thomas von Aquin vorgestellt hat (33 – 38). Sodann wird die Konzeption des

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Aufsehen erregte. Kaspers Widerspruch richtet sich nicht gegen die Behauptung, wonach nicht nur die eine Kirche in und aus vielen Kirchen, sondern auch die vielen Kirchen in und aus der einen Kirche bestehen. Diese Annahme findet vielmehr seine vorbehaltlose Zustimmung. Kritisiert wird lediglich die These eines zeitlichen und ontologischen Ursprungsverhältnisses zwischen Universalkirche und Ortskirche. Diese seien im Heilswillen Gottes unauflöslich vereint und durch den göttlichen Geist Jesu Christi zugleich gezeitigt worden dergestalt, dass im Sinne der lukanischen Konzeption die Jerusalemer Gemeinde an Pfingsten »Universal- und Ortskirche in einem« (44) gewesen sei. Ganz abgesehen davon, dass neben der Jerusalemer Gemeinde historisch geurteilt von Anfang an mehrere Gemeinden existiert haben dürften, ist daher prinzipiell nicht von einem zeitlichen und ontologischen Vorrang der Universalkirche vor den Einzelkirchen, sondern von der Gleichursprünglichkeit beider und von der Simultaneität ihres gemeinsamen Entstehens auszugehen. Konsensfähig sei die These »Ecclesiae in et ex Ecclesia« nur im Verein mit der anderen, die sie ergänzt, ja ihre ureigene innerliche Bestimmung ausmacht: »Ecclesia in et ex Ecclesiis«. Ohne die zweite sei die erste These nicht nur unvollständig, sondern problematisch und zwar vollends dann, »wenn die eine universale Kirche unter der Hand mit der römischen Kirche, de facto mit Papst und Kurie, identifiziert wird. Geschieht dies, dann kann man das Schreiben der Glaubenskongregation nicht als Hilfe zur Klärung der Communio-Ekklesiologie, sondern muß es als deren Verabschiedung und als Versuch einer theologischen Restauration des römischen Zentralismus verstehen. Dieser Prozess scheint in der Tat im Gange zu sein.« (Ebd.) Auf diese Kritik replizierte Joseph Ratzinger im Zusammenhang eines Referats zur Ekklesiologie von Lumen Gentium, das gekürzt und leicht verändert im Feuilleton der FAZ vom 22. Dezember 200016 unter dem Titel »Die II. Vatikanischen Konzils kommentiert (38 – 44) und zwar in Bezug auf die Einsetzung des Bischofsamtes durch Jesus Christus, auf das Verhältnis von Bischofsamt und Petrusamt sowie auf dasjenige von Universalkirche und Partikular- bzw. Ortskirche. Letzteres Verhältnis habe das Schreiben der Glaubenskongregation in einer Weise bestimmt, die im Vergleich zur Bestimmung des II. Vatikanum »praktisch mehr oder weniger eine Umkehrung bedeutet« (43). Die abschließenden Reflexionen zur Praxis des bischöflichen Amtes (44 – 48) sind auf diesen Sachverhalt bezogen. Sie behandeln den theologischen und juristischen Status der Bischofssynode und der Bischofskonferenzen, die Frage der Ernennung der Bischöfe durch Rom und die Mitwirkung der jeweiligen Ortskirchen sowie die pastorale Eigenverantwortung des Bischofs bei der Leitung seiner Ortskirche. 15 Der Disput der Kardinäle ist dargestellt und präzise analysiert in dem gleichnamigen Beitrag von M. Kehl SJ, in: StdZ 128 (2003), 219 – 232. In erweiterter Form: Zum jüngsten Disput um das Verhältnis von Univeralkirche und Ortskirchen, in: P. Walter/K. Krämer/G. Augustin (Hg.), Kirche in ökumenischer Perspektive. FS W. Kasper, Freiburg/Basel/Wien 2003, 81 – 113. Ferner: K. McDonell › O.S.B., The Ratzinger/Kasper Debate: The Universal Church and Local Churches, in: Theological Studies 63 (2002), 227 – 250. 16 Der Text setzt sich mit Recht und möglichen Grenzen des Versuchs auseinander, die Kirchenkonstitution »Lumen Gentium« im Begriff einer Communio-Ekklesiologie zusammenzufassen. In diesem Rahmen verteidigt Ratzinger den Brief der Glaubenskongregation vom 28. Juni 1992

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große Gottesidee ›Kirche‹ ist keine Schwärmerei« abgedruckt wurde. Darin wird die These vom zeitlichen und ontologischen Primat der Universalkirche vor den Ortskirchen mit einem geschichtstheologischen und einem dogmatischen Argument verteidigt, wobei das eine Argument nach Ratzingers Urteil von dem anderen zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen ist. Geschichttheologisch wird die Annahme bekräftigt, dass die Kirche am Pfingsttag sich dergestalt öffentlich zeitigte, dass von einer temporalen Präzedenz der Universalkirche vor den Ortskirchen nicht nur die Rede sein könne, sondern die Rede sein müsse. Begründet wird der zeitliche Vorrang der Universalkirche mit einem erneuten Verweis auf den lukanischen Bericht von der pfingstlichen Geburt der Kirche aus dem Heiligen Geist, dessen Historizität dahingestellt bleiben könne, dessen theologischer Gehalt aber eindeutig den zeitlichen Vorrang der allumfassenden, in allen Sprachen sprechenden Universalkirche belege. Dieser zeitliche Vorrang hinwiederum sei ontologisch im präexistenten Mysterium der Gesamtkirche begründet, die Gott in Jesus Christus und von Ewigkeit her vor aller kreatürlichen Zeit um der Versöhnung und Erlösung von Menschheit und Welt willen erwählt habe mit der Folge, dass der innere Anfang der Kirche in der Zeit als universalkirchlich bestimmt zu gelten habe, wie immer es um die äußeren historischen Verhältnisse im einzelnen bestellt gewesen sein mag. »Vielleicht braucht man«, so Ratzinger, »die Frage nach der temporalen Präzedenz der Universalkirche, die Lukas in seinem Bericht eindeutig darstellt, nicht überzubewerten. Wichtig bleibt doch, dass die Kirche in den Zwölfen vom einen Geist von Anfang an für alle Völker geboren wird und daher auch vom ersten Augenblick an darauf ausgerichtet ist, sich in allen Kulturen auszudrücken und eben so das eine Volk Gottes zu sein: Nicht eine Ortsgemeinde erweitert sich langsam, sondern der Sauerteig ist immer dem Ganzen zugeordnet und trägt daher Universalität vom ersten Augenblick an in sich.«17 Erscheint Ratzinger die Kritik an der These, die Gesamtkirche sei in ihrem Wesensmysterium eine den einzelnen Kirchen ontologisch und zeitlich vorausgehende Wirklichkeit, unter den gegebenen Prämissen als theologisch schwer oder gar nicht verständlich, so wird sie ihm begreiflich erst unter der falschen Voraussetzung einer Identifikation der Universalkirche mit Papst und Kurie. Der Verdacht, die Glaubenskongregation habe einer solchen Identifikation das Wort gesprochen, wird schroff zurückgewiesen. Betrachte man die Kirche als evangelisch-sakramentale, vom Evangelium und von der Sakramentalität Jesu Christi herkommende und auf sie hingeordnete Größe und nicht verkehrterweise als eine geschlossene Realität in sich selber, so gegen seine Kritiker. Das betrifft insbesondere den Satz, die Gesamtkirche sei in ihrem wesentlichen Mysterium eine den einzelnen Teilkirchen ontologisch und zeitlich vorangehende Wirklichkeit. Der Widerstand gegen diese Aussage gilt ihm als theologisch nicht nur schwer verständlich, sondern als unverständlich und lediglich durch Vorurteile bedingt. 17 FAZ 2000/Nr. 298.

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Joseph Ratzinger über Katholizismus, Orthodoxie und Reformation

erhelle, dass der Primat der Universalkirche mit dem Primat des Petrus und seiner Nachfolger nicht unmittelbar gleichzusetzen sei, sondern dem Petrusdienst als die Bedingung seiner möglichen Realisierung vorangehe. Letztgenannter Hinweis trug zu einer Annäherung der kontroversen Positionen zumindest insoweit bei, als er die Befürchtung mit Gründen zu entkräften suchte, die Formel von der ontologischen und temporalen Präzedenz der Gesamtkirche laufe auf eine Restauration universalkirchlicher Konzeptionen von der Art hinaus, welche alle Autorität letztlich vom Papst ableiten. Für Kasper bot dies die Gelegenheit, den Disput von einem denkbaren Grundsatzstreit zu einer Schulkontroverse auf der Basis gemeinsamer Prinzipien herabzustufen. In diesem Sinne ist sein Beitrag zum Verhältnis von Universalkirche und Ostkirche abgefasst, der im Jahr 2000 in den »Stimmen der Zeit« erschienen ist; er trägt den Untertitel: »Freundschaftliche Auseinandersetzung mit der Kritik von Joseph Kardinal Ratzinger«18. Zunächst wird erläutert, warum angesichts des historischen Befunds und einer Entwicklung, die im I. Vatikanum gipfelte, die These vom historischen und ontologischen Primat der Universalkirche Probleme machte und zu Missverständnisses führte, ja in bestimmter Weise führen musste. Sodann wird die Diskussion dieser These noch einmal aufgegriffen und nach erfolgter Bestätigung der gemeinsamen ekklesiologischen Grundlagen zu einer theologischen Schulauseinandersetzung erklärt. Verstehe man die Lehre von der Präexistenz der Kirche, auf welche es Ratzinger bei seiner Verteidigung der umstrittenen These vom Primat der Gesamtkirche wesentlich ankomme, dahingehend, dass die Kirche im ewigen Heilsgeheimnis Gottes gründe und daher keine zufällige 18 W. Kasper, Das Verhältnis von Universalkirche und Ortskirche. Freundschaftliche Auseinandersetzung mit der Kritik von Joseph Kardinal Ratzinger, in: StdZ 218 (2000), 795 – 804. Der nachfolgende Seitenverweis im Text bezieht sich hierauf. Als ein schlimmes Missverständnis und eine Karikatur seiner Auffassung weist Kasper eingangs die Annahme zurück, er sei der Meinung, »daß es nur noch Gemeinden als empirische Größen gebe und der theologische Tiefensinn der Kirche verlorengehe« (797). Beabsichtigt sei keineswegs die »soziologische Reduktion der Kirche auf Einzelgemeinden« (ebd.). Festgehalten werden solle allerdings das vom II. Vatikanum eindeutig vertretene Lehrprinzip, dass eine Ortskirche nicht Departement der Gesamtkirche und der Ortsbischof nicht Delegat des Papstes sei. Recht und Sinngehalt dieses Lehrprinzips werden sodann in historischer und systematischer Perspektive gegenüber möglichen Bestreitungen verteidigt. Unter historischem Gesichtspunkt wird insbesondere darauf verwiesen, dass mit der für alle christlichen Kirchen maßgebenden Ekklesiologie des 1. Jahrtausends »ein einseitig ortskirchlicher ebensowenig wie ein einseitig universalistischer Ansatz vereinbar« (798) sei. Dieser Sachverhalt erweise sich in Anbetracht der im Grazer Vortrag von 1976 geprägten »Ratzinger-Formel« (vgl. ebd.), wonach Rom vom Osten nicht mehr an Primatslehre fordern müsse als im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt wurde, als in hohem Maße bedeutsam. Die Bedeutung der Formel hinwiederum erhelle unmittelbar daraus, dass sich im Verlauf des 2. Jahrtausends ein Papalismus durchsetzen konnte, der alle Autorität in der Kirche von derjenigen des Papstes abgeleitet habe. »Das Erste Vatikanische Konzil (1869/70) mit seiner Lehre vom Jurisdiktionsprimat des Papstes und der Codex Iuris Canonici (CIC) von 1917 schienen diese Entwicklung entgültig zu besiegeln« (799), bis das Zweite Vatikanum »versuchte, die altkirchliche Konzeption wieder zur Geltung und mit dem Ersten Vatikanischen Konzil in Einklang zu bringen« (ebd.).

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Der Milleniumsdisput der Kardinäle

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Geschichtstatsache sei, dann sei diese Annahme theologisch nicht nur nicht strittig, sondern unaufgebbar. »Es fragt sich aber, was sie für unsere Frage nach dem ontologischen Primat der universalen Kirche konkret austrägt. Denn wer sagt, dass die Präexistenz nur von der universalen Kirche und nicht von der konkreten Kirche ›in und aus‹ Ortskirchen verstanden werden kann? Warum soll die eine Kirche nicht als Kirche ›in und aus‹ Ortskirchen präexistieren? Die These von der Präexistenz der Kirche beweist deshalb nichts für die These vom Primat der universalen Kirche. Die Präexistenz der Kirche kann genausogut die von mir und von vielen anderen vertretene These von der Simultaneität universaler und partikulare Kirchen begründen.« (801 f) Der Disput der Kardinäle fand 2001 sein vorläufiges Ende mit einer erneuten Entgegnung Ratzingers und einer weiteren Kurzantwort Kaspers. Erschienen sind beide Texte in der Zeitschrift »America«, letzterer in Form eines Leserbriefs. An Ratzingers Beitrag ist zum einen das Zugeständnis bemerkenswert, er hätte statt von ontologischem Vorrang der Universalkirche möglicherweise besser von deren teleologischem Vorrang und demgemäß von ihrer zielursächlich bestimmten Präexistenz im Willen Gottes sprechen sollen. Ausdrückliche Erwähnung verdient ferner die dezidierte Feststellung: »The church of Rome is a local church and not the universal church – a local church with a peculiar, universal responsibility, but still a local church. And the assertion of the inner precedence of God’s idea of the one church, the one bride, over all ist empirical realizations in particular churches has nothing whatsoever to do with the problem of centralism.«19 Auf letzteren Satz ist der Leserbrief von Walter Kasper unmittelbar mit der Bemerkung bezogen, dass auch er die Annahme eines inneren Vorrangs der Einheit der Kirche vor ihrer wesentlichen Vielfalt teile. Die »thesis of the priority of inner unity«20 sei sowohl aus philosophischen als auch aus theologischen Gründen überzeugend, da »unity as a transcendental determination of being makes variety and multiplicity possible to begin with«. Für die Annahme eines Vorrangs der Universalkirche vor den Einzelkirchen trage diese Einsicht aber argumentativ nichts aus, jedenfalls dann nicht, wenn man mit der Universalkirche analog zu den real existierenden Einzelkirchen Assoziationen empirischer Art verbindet. Kasper hält daher an seiner ekklesiologischen Zentralthese einer Gleichursprünglichkeit und Simultaneität von Universalkirche und Einzelkirche fest.

19 J. Ratzinger, The Local Church and the Universal Church, in: America 185 (2001), 7 – 11, hier : 10. 20 W. Kasper, in: America 185 (2001), 28 f.

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4. Pius IX., Johannes XXIII. und Benedikt XVI. Nicht in abgehobener Distanz zu den Unreinen und Toraverächtern, sondern in der Gemeinschaft der Verlorenen und der Sünder verwirklichte Jesus seine sündlose Heiligkeit. Dadurch zog er den Fluch des Gesetzes auf sich, und der Sündlose wurde selbst, wie Paulus sagt, zur Sünde gemacht. Gott aber hat den Gekreuzigten auferweckt und im Kreuz des Auferstandenen das Wirkzeichen göttlicher Gnade aufgerichtet. Gottes Gnade in Jesus Christus für die sündige Menschheit und die verlorene Kreatur kraft des Heiligen Geistes in Wort und Sakrament zu bezeugen, ist die Bestimmung der Kirche, deren Geheimnis gerade darin besteht, »in ihrer paradoxalen Struktur aus Heiligkeit und Unheiligkeit … die Gestalt der Gnade in dieser Welt«21 zu sein. In der Konsequenz dieser Einsicht in das kirchliche Mysterium habe sich das Zweite Vatikanische Konzil dazu durchgerungen, »nicht mehr bloß von der heiligen, sondern von der sündigen Kirche zu sprechen« (282). Für das Verständnis der Katholizität und Einheit der apostolischen Kirche kann der paradoxale Gnadenbegriff ihrer Heiligkeit nicht folgenlos bleiben. Die ekklesiologischen Grundelemente, von denen her sich die Wesensattribute der Kirche erschließen, sind Vergebung, Bekehrung, Buße und eucharistische Gemeinschaft. Als Inhalt der Einheit der katholischen Kirche haben »zunächst Wort und Sakrament zu gelten – die Kirche ist eins durch das eine Wort und das eine Brot« (288). Im einen Wort und im einen Brot, das Jesus Christus in der personalen Einheit seines göttlichen und menschlichen Seins und in der Gemeinschaft des dreieinigen Gottes selbst ist, ist das Wesen der Kirche beschlossen, um als plurale Gemeinschaft in Einigkeit manifest zu sein. Der Einigkeit pluraler Gemeinschaft im einen Wort und Sakrament Jesu Christi zu dienen, ist nach Ratzinger die Bestimmung der bischöflichen Verfassung der Kirche. Sie steht nicht im Vordergrund seines Kirchenverständnisses, sondern »scheint im Hintergrund als ein Mittel dieser Einheit auf. Sie ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern gehört der Ordnung der Mittel zu; ihre Stellung ist durch das Wörtchen ›um-zu‹ zu umschreiben: Sie dient der Verwirklichung der Einheit der Ortskirchen in sich und unter sich« (ebd.). Einheit am Ort und Einheit der vielen Ortskirchen untereinander bedingen sich wechselseitig. Der Einheit der ecclesia als einer communio ecclesiarum zu dienen, ist die Bestimmung der bischöflichen Struktur der Kirche, wobei die Notwendigkeit der Einheit aller Bischöfe untereinander im Dienst des Bischofs von Rom das geordnete Mittel seiner Realisierung findet. Auch die papale Verfassung der Kirche darf nach Ratzinger ekklesiologisch nicht in den Vordergrund gerückt werden, ja sie stellt im Vergleich zur bi21 J. Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. Sonderausgabe, München 1968, 284. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Pius IX., Johannes XXIII. und Benedikt XVI.

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schöflichen Kirchenstruktur, die selbst bereits der – dem einen Wort und dem einen Sakrament nachgeordneten – Ordnung der Mittel zuzurechnen war, erneut eine nachgeordnete Ordnung dar. Sie gehört, wie ausdrücklich gesagt wird, »nicht zu den primären Elementen des Kirchenbegriffs« und kann »schon gar nicht als sein eigentlicher Konstruktionspunkt gelten« (ebd.). Die päpstliche Stellung des Bischofs von Rom ist ein nachgeordnetes Dienstmittel kirchlicher Einheit und nicht diese Einheit selbst. Rom hat der Katholizität der Kirche zu dienen und nicht umgekehrt: der römische Katholizismus ist eine Funktion der katholischen Kirche. So unveräußerlich die päpstliche Stellung des Bischofs von Rom zur sichtbaren Einheit der Kirche gehört, so eindeutig gilt doch auch hier, dass die Kirche nicht von ihrer Organisation, sondern die kirchliche Organisation von der Bestimmung der Kirche her zu denken ist. Es ist, wie ich meine, eine müßige Frage, ob Joseph Ratzinger diesem – unter dem direkten Eindruck des II. Vatikanischen Konzils formulierten – Ansatz als Bischof und Präfekt der Glaubenskongregation beibehalten hat und als Papst Benedikt XVI. fortführen wird. Denn dieser Ansatz erlaubt unbeschadet der Grundsätzlichkeit seiner Anlage ein großes Maß an Gestaltungsflexibilität. Zwar ist der Argumentationsrahmen im Wesentlichen klar abgesteckt: doch innerhalb dieser Rahmenbedingungen können je nach Bedarf sehr unterschiedliche Akzentsetzungen vorgenommen werden. Die gegebenen Prämissen ermöglichen es, wenn man so will, sowohl Pius IX. als auch Johannes XXIII. und selbstverständlich Johannes Paul II. selig zu sprechen. Dass die beiden erstgenannten Päpste gleichzeitig zur Ehre der Altäre erhoben wurden, ist in diesem Sinne ein durchaus paradigmatischer Vorgang und ein signifikantes Beispiel für die von Ratzinger immer wieder eingeschärfte Devise, wonach das I. Vatikanum nicht gegen das II. und das II. nicht gegen das I. ausgelegt werden dürfe. Man wird davon auszugehen haben, dass diese hermeneutische Anweisung auch für die »Ratzingerformel« gilt, wonach Rom vom Osten nicht mehr an Primatslehre fordern muss, als auch im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt wurde. Der Versuch, den einstigen Theologieprofessor gegen den römischen Präfekten und Nachfolger Johannes Paul II. auszuspielen, ist an sich durchaus reizvoll; gelingen wird er dennoch nicht und zwar aus Gründen, die weniger mit der Person Ratzingers als mit der internen Systematik des römischen Katholizismus selbst zu tun habe.22 22 Die innere Spannung der römisch-katholischen Position und ihrer Systematik äußert sich exemplarisch in der Weise, in der das Verhältnis zur Orthodoxie bestimmt wird. Zutreffender gesagt: Die zu konstatierende Asymmetrie in der Beziehung von Katholizismus und Orthodoxie ist ein Reflex von Spannungen nicht nur äußerer, sondern jeweils interner Art. Orthodoxie und Katholizismus teilen, so Ratzinger in Übereinstimmung mit dem II. Vatikanischen Konzil, dasselbe Kirchenverständnis: Beide haben nicht nur dieselben altkirchlichen Symbole und dieselben Sakramente, sondern auch dieselbe bischöfliche Verfassung. Hingegen sind die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchliche Gemeinschaften nicht Kirchen im eigentlichen Sinne römisch-katholischer Ekklesiologie, wenngleich sie nicht einfach NichtKirche sind. Als Maßstab fungiert auch hier vor allem die Institution des Bischofsamts in

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Joseph Ratzinger über Katholizismus, Orthodoxie und Reformation

Papst Johannes XXIII. soll einst Seminaristen gegenüber geäußert haben, er möchte von der ihm nach römischer Lehre potentiell zukommenden Unfehlbarkeit aktuell unter keinen Umständen Gebrauch machen: »Ich werde nie ex cathedra sprechen.« Otto Hermann Pesch, dessen Porträt Roncallis ich dieses Zitat entnehme23, fügt kommentierend hinzu: »Dies Wort der Erfahrung, dass doktrinäre Verkündigung keine Probleme löst, sondern neue schafft, ins Ohr all derjenigen, die heute wieder – zum Zwecke der ›Klärung‹ – von neuen Dogmen träumen, sei es von der Corredemptrix Maria, sei es vom Verbot der ›künstlichen‹ Empfängnisverhütung, sei es vom Verbot der Frauenordination.« (131) Im selben Artikel liest man allerdings auch, dass Johannes XXIII. dem Widerstand, auf den seine Idee eines II. Vatikanischen Konzils bis in die Kurie hinein traf, »durch eine lupenrein auf dem Boden des Ersten Vatikanums bleibende Inanspruchnahme seiner päpstlichen Vollgewalt« (126) begegnete. »Man kann also«, bemerkt O. H. Pesch, »paradoxerweise sagen: Johannes XXIII. hat das Konzil durchgesetzt, weil er als Papst hemmungslos von seinem Amt Gebrauch machte und allen ›konziliaristischen‹ Neigungen von einer Teilung der Vollmacht abhold war.« (Ebd.) Wer es zu fassen vermag, der fasse es!

apostolischer Sukzession. Die hinsichtlich der Orthodoxie gegebene, hinsichtlich der Reformationskirchen nicht gegebene Einigkeit darüber, dass das bischöfliche Amt in der Nachfolge der Apostel um der sichtbaren Einheit der Kirche willen notwendig ist, ist das Kriterium gemeinsamen Kirchenverständnisses, das nach Ratzingers Urteil, wie es sich u. a. in der Erklärung »Dominus Jesus« niedergeschlagen hat, auch durch die Differenzen in der Frage des Petrusdienstes und seiner Gestaltung nicht aufgelöst wird. Ob man das von orthodoxer Seite ähnlich sieht, darf indes bezweifelt werden: zwar anerkennt man orthodoxerseits Rom als ersten apostolischen Sitz, dem, wie schon Ignatius von Antiochien sagt, ein »Vorrang der Liebe« gebührt. Doch hält man unbeschadet dessen die Dogmen des I. Vatikanischen Konzils von Unfehlbarkeit und universalem Jurisdiktionsprimat des Papstes für unvereinbar mit dem eigenen Communioverständnis. In der Beziehung zwischen römischem Katholizismus und Orthodoxie zeigt sich daher eine eigentümliche Asymmetrie. Bei der Beziehung beider handelt es sich recht eigentlich nicht um ein einziges Verhältnis, sondern um zwei Verhältnisse, sofern der römische Katholizismus sein Verhältnis zur Orthodoxie erheblich anders bestimmt als die Orthodoxie ihr Verhältnis zum römischen Katholizismus. An der Papstthematik tritt dies paradigmatisch zutage. Hält die Orthodoxie die päpstliche Stellung, welche der Bischof von Rom nach römisch-katholischer Lehre inne zu haben beansprucht, für nicht vereinbar mit ihrem Koinonia-Verständnis, geht der römische Katholizismus von der prinzipiellen Vereinbarkeit seines Verständnisses von kirchlicher Communio mit demjenigen der Orthodoxie aus, obwohl nach römisch-katholischer Lehre die Gemeinschaft der Bischöfe mit dem Bischof von Rom, die im orthodoxen Falle nicht gegeben ist, zugleich als wesentlich zum Kirchesein der Kirche gehörend beurteilt wird. 23 O.H. Pesch, Papst Johannes XXIII. Lebenswege zum II Vatikanischen Konzil, in: Chr. Möller u. a. (Hg.), Wegbereiter der Ökumene im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, 109 – 132, hier : 131. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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»Es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei« (ASm III) Von der Katholizität evangelischer Ekklesiologie* Mit der ganzen Christenheit auf Erden bekennen sich die Reformationskirchen zur »una, sancta, catholica et apostolica ecclesia«, deren Wesen in einem Zusatz zum Apostolikum mit der Wendung »communio santorum« umschrieben wird. Ihrem ursprünglichen Sinn gemäß bezeichnet die aus dem Griechischen herkommende und ins Lateinische übertragene Formel primär nicht die Gemeinschaft der »sancti«, sondern die Teilhabe an den »sancta«. Kirche ist sonach die Gemeinschaft derer, die im Glauben an Wort und Sakrament teilhaben und mittels dieser Teilhabe in der Kraft des Heiligen Geistes an Jesus Christus und an dem in ihm offenbaren Gott partizipieren, um vermöge dieser Partizipation und in deren Folge sich in den Werken der Liebe zu üben und Hoffnung zu hegen auf die Wiederkunft des Herrn. In expliziter Aufnahme der altkirchlichen Symbole wird dieses Kirchenverständnis von den reformatorischen Bekenntnissen inhaltlich voll rezipiert. So heißt es im VII. Artikel der Confessio Augustana: »Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.« (CA VII, 2) Die Kirche ist die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente stiftungsgemäß gereicht werden. Im gottesdienstlichen Vollzug der Wortverkündigung und Sakramentsdarreichung erschließen sich Grund und Wesen der Kirche. Der Gottesdienst der versammelten Gemeinde ist daher fundierende Basis und zentraler Bestimmungsgrund evangelischer Ekklesiologie.

1. Congregatio sanctorum Dies wird in CAVII durch den Begriff »congregatio« eigens unterstrichen und entsprechend auch von Luther vorausgesetzt, wenn er in seinem Großen Katechismus zur ekklesiologischen Wendung »communio sanctorum« folgendes ausführt: »Wenn man’s deutlich geben sollt’, mußt man’s auf deutsche Art gar anders reden. Denn das Wort ›Ecclesia‹ heißet eigentlich auf Deutsch ein ›Versammlunge‹. Wir sind aber gewohnet des Wörtleins ›Kirche‹, welchs die * Beitrag zu einer Vortragsreihe zum Thema »Katholizität« im Wintersemester 2005/06 an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.

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Von der Katholizität evangelischer Ekklesiologie

Einfältigen nicht von einem versammleten Haufen, sondern von dem geweiheten Haus oder Gebäu verstehen, wiewohl das Haus nicht sollt‹ eine Kirche heißen ohn allein darümb, daß der Haufe darin zusammenkömmpt. Denn wir, die zusammenkommen, machen und nehmen uns ein sonderlichen Raum und geben dem Haus nach dem Haufen ein Namen. Also heißet das Wortlin ›Kirche‹ eigentlich nicht anders denn ›ein gemeine Sammlung‹ und ist von Art nicht deutsch, sondern griechisch (wie auch das Wort ›Ecclesia‹). Denn sie heißen’s auf ihre Sprach ›Kyria‹ … Darümb sollt’s auf recht Deutsch und unser Muttersprach heißen ›ein christliche Gemeine oder Sammlung‹ oder aufs allerbeste und klärste ›ein heilige Christenheit‹.« (BSLK 656, 3 – 26) Mehrere Aspekte dieser inhaltsreichen Passage verdienen es, eigens vermerkt und hervorgehoben zu werden. Das Lehnwort Kirche, das umgangssprachlich sowohl den christlichen Gottesdienst und das seiner Durchführung gewidmete Gebäude als auch die verfasste Sozialgestalt christlichen Glaubens im Sinne einer Institution und ihrer repräsentativen Organe bedeuten kann, stammt wahrscheinlich von einer Adjektivableitung des griechischen Substantivs »kyrios«. Der Kirchenbegriff bezeichnet gemäß dieser Etymologie die Zugehörigkeit zum Herrn Jesus Christus als der personalen Offenbarungsgestalt des dreieinigen Gottes. Vermittelt wird diese Zugehörigkeit durch Wort und Sakrament als Medien des Heils, in welchen der Heilige Geist Gottes wirksam ist, um sich eine Kirche zu schaffen und sie zu erhalten bis ans Ende der Tage. Prototypische Gestalt dieser Kirche ist der gottesdienstliche Vollzug von Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung. In der im Glauben um Wort und Sakrament versammelten Gottesdienstgemeinde ist der »kyrios« real präsent und wirksam. Die Gottesdienstgemeinde ist daher die ekklesiologische Primärform von Kirche. Nichtsdestoweniger und unbeschadet dessen ist jede Gottesdienstgemeinde ihrem Wesen nach mit einem universalkirchlichen Bezug unveräußerlich verbunden. Das deutet Luther durch den Verweis auf die gesamte heilige Christenheit und Melanchthon in CAVII durch die Bemerkung an, die Kirche sei die Versammlung aller Gläubigen an allen Orten und zu allen Zeiten, wie es denn gleich zu Beginn des Artikels heißt, »quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit« (CA VII,1). Dies gilt es wahrzunehmen, um eklatante Missverständnisse evangelischer Ekklesiologie bereits im Ansatz zu vermeiden.

2. Gottesdienstgemeinde und Universalkirche So wahr jede im Glauben um Wort und Sakrament versammelte Gottesdienstgemeinde ganz Kirche ist, sowenig ist sie nach reformatorischem Verständnis die ganze Kirche. Denn jede Gottesdienstgemeinde ist, wie gesagt, ihrem Wesen nach mit einem univeralkirchlichen Bezug unveräußerlich verbunden und ohne diesen Bezug nicht, was sie ist. Dieser Bezug beinhaltet

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Gottesdienstgemeinde und Universalkirche

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sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Komponente. In räumlichsynchroner Hinsicht gilt, dass jede Ortsgemeinde mit allen anderen Lokalgemeinden an verschiedenen Orten wesentlich vereint ist. Ethnische Schranken und territoriale Grenzen der Nationen usf. können und dürfen die Gemeinde Jesu Christi nicht spalten und ihre kirchliche Einheit nicht aufheben. Denn die Kirche ist gemäß ihrem ekklesiologischen Begriff, wie er nach reformatorischer Lehre zweifelsfrei in Geltung steht, eine allumfassend-katholische und daher ökumenische, auf den ganzen Erdkreis bezogene Größe. Zwar wird man nicht leugnen können, dass es in der Geschichte reformatorischer Kirche zu territorialen und nationalen Verengungen und Beschränktheiten kam. Aber sie entsprechen evangelischer Ekklesiologie nicht nur nicht, sondern widersprechen ihr. Ist die Kirche nach Maßgabe evangelischer Ekklesiologie ihrem Wesen nach eine die Grenzen des Raumes transzendierende und darin katholische Größe, so hat sich ihre Katholizität auch unter zeitlichen Gesichtspunkten zu bewähren. Der diachrone Zusammenhang mit der Christenheit aller Zeiten gehört konstitutiv zum ekklesiologischen Selbstverständnis evangelischer Kirchen. Nichts würde diesem Selbstverständnis elementarer widersprechen als die Annahme, die Reformationskirchen hätten im 16. Jahrhundert ihren Anfang genommen. Nach Maßgabe ihres ekklesiologischen Begriffs weiß sich die evangelische Kirche in Kontinuität zu den apostolischen Ursprüngen, wie sie sich denn auch zusammen mit der Einheit, Heiligkeit und Katholizität vorbehaltlos zum kirchlichen Wesenattribut der Apostolizität bekennt. Damit ist die Schwere und gravierende Bedeutung der Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts nicht geleugnet. Aber diese betrifft nicht nur die denominationelle Gestalt der Reformationskirchen, sondern auch die katholische Kirche in ihrer tridentinisch-römischen Form. Wie es ekklesiologisch unangemessen wäre, den Anspruch auf Orthodoxie allein der seit Beginn des zweiten christlichen Jahrtausends vom Westen getrennten Ostkirche vorzubehalten, so darf das kirchliche Wesensattribut der Katholizität nicht in ungeprüfter Selbstverständlichkeit allein mit dem römischen Katholizismus assoziiert und den Reformationskirchen abgesprochen werden. Orthodox, katholisch und evangelisch: das sind in erster Linie nicht Denominationsbezeichnungen, sondern Wesensbestimmungen und elementare Charakteristika, die für das Kirchesein von Kirche überhaupt bestimmend sind. Nach reformatorischer Lehre, so wurde gesagt, ist die prototypische Gestalt von Kirche die gottesdienstliche Ortsgemeinde. Dies scheint auf einen ekkklesiologischen Fundamentalgegensatz insofern zu verweisen, als nach römisch-katholischer und in der Regel auch nach orthodoxer Auffassung der Begriff der Orts- oder Einzelkirche der bischöflichen Diözese vorbehalten ist. Doch muss diese terminologische Differenz nicht notwendig einen sachlichen Gegensatz enthalten. Denn einerseits ist, wie mehrfach betont, nach reformatorischem Verständnis jede Gottesdienstgemeinde mit einem universalkirchlichen Bezug wesentlich versehen. Andererseits wird man die Auffas-

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Von der Katholizität evangelischer Ekklesiologie

sung, die Diözese sei die ortskirchliche Mustergestalt, nicht in dem Sinne verstehen dürfen, als seien die jeweiligen Gottesdienstgemeinden nur abgeleitete Modi der Diözesankirche. Diese Folgerung würde nachgerade einer eucharistischen Communio-Ekklesiologie widersprechen, wie sie seit dem II. Vatikanischen Konzil für das römisch-katholische Kirchenverständnis bestimmend ist und von der Orthodoxie seit langem vertreten wurde. Demnach besteht die bischöfliche Diözesankirche nicht anders denn in und aus Gottesdienstgemeinden.

3. Presbyterat und Episkopat Von dieser Einsicht her erschließen sich nicht zuletzt in amtstheologischer Hinsicht wichtige ökumenische Verständigungsmöglichkeiten. Nach Urteil insbesondere der Wittenberger Reformation ist das Presbyteramt im Sinne des Pfarramts die zentrale Formgestalt des ordinationsgebundenen Amtes. Das ist durch die Tatsache bedingt, dass die Reformatoren ihre Amtslehre von der liturgischen Leitungsrolle her entworfen haben, welche dem Amtsträger in der gottesdienstlichen Feier zukommt. Sein primärer Beruf, zu dem er berufen ist, besteht darin, öffentlich zu lehren bzw. zu predigen und die Sakramente zu reichen. Entsprechend heißt es in CA XIV, »quod nemo debeat in ecclesia publice docere et sacramenta administrare nisi rite vocatus« (BSLK 69,2 – 5). Insofern aber jede Gottesdienstgemeinde universalkirchlich ausgerichtet ist, liegt es in der Logik reformatorischer Amtstheologie, neben dem presbyteralen Gemeindepfarramt auch eine Gliederungsform des einen ordinationsgebundenen Amtes auszubilden, dem die übergemeindliche Aufsicht der Episkope zukommt. Gegen die bischöfliche Verfassung der Kirche hatten die Reformatoren daher keineswegs grundsätzliche Bedenken. Es ist sogar so, dass man das reichsrechtliche Institut der Fürstbischöfe unter der Bedingung beizubehalten bereit war, dass jede Vermischung fürstlicher und bischöflicher Befugnisse verhindert und klar zwischen dem weltlichen und geistlichen Regiment unterschieden würde. Wie auch immer : von einem grundsätzlichen Vorbehalt gegen die bischöfliche Verfassung der Kirche in der Reformation kann keine Rede sein. Vielmehr war man der Überzeugung, dass die amtliche Institution einer übergemeindlichen Episkope ekklesiologisch unverzichtbar sei. Aus diesem Sachverhalt ergeben sich erkenntlich amtstheologische Verständigungsmöglichkeiten und das umso mehr, als die römisch-katholische und orthodoxe Annahme, im Bischofsamt begegne die Vollgestalt des kirchlichen Amtes, ernsthaft nicht meinen kann, das Presbyteramt sei lediglich eine Delegationsform des Bischofsamtes. Wie die Diözese ekklesiologisch nur in und aus Gottesdienstgemeinden existiert, so kann ein Bischof nur im Verein und in Gemeinschaft mit den Presbytern seines episkopalen Amtes walten. Nimmt man hinzu, dass der Episkope in der Alten Kirche ursprünglich nichts anderes

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Sukzession im apostolischen Amt

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war als Leiter einer Gottesdienstgemeinde, so dass auch unter terminologischen Gesichtspunkten ein enger und untrennbarer Zusammenhang zwischen Pfarramt und Bischofsamt besteht, so wird man mit Recht und gutem Grund die These vertreten dürfen, dass sich sowohl in der ekklesiologischen Zuordnung von Gottesdienstgemeinde und Diözese oder analog strukturierten episkopalen Zuständigkeitsbereichen als auch in der Verhältnisbestimmung von Presbyterat und Episkopat im ökumenischen Dialog ein differenzierter Konsens durchaus erreichen lässt.

4. Sukzession im apostolischen Amt Dieser differenzierte Konsens wird für traditionelle Kontroversen um die sog. apostolische Amtssukzession nicht folgenlos bleiben. Grundlegend für deren Beilegung ist die Einsicht, dass den Ordinierten eine spezifische Sorge für die Einheit der Gemeinden und die Katholizität der Kirche aufgetragen ist. Es ist die eigentümliche Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes, der Allgemeinheit aller Christen und ihrer einigen Gemeinschaft zu dienen, »ut unum sint«: damit alle eins seien. Von diesem Dienst an der Einheit und Katholizität der Kirche her, zu welchem das ordinationsgebundene Amt durch Ordination ordnungsgemäß berufen ist, lässt sich unschwer ein evangelisches Verständnis des Zeichens einer kontinuierlichen Kette von ordinatorischen Handauflegungen erschließen, wie es für die Vorstellung einer apostolischen Amtssukzession charakteristisch ist. Grundlegend ist naturgemäß der Gedanke einer apostolischen Nachfolge der Gesamtkirche, welcher die Amtssukzession zu dienen hat und auf die sie hingeordnet ist. Entscheidend ist ferner, dass man die Sukzession nicht im Sinne einer förmlichen Kettensequenz, sondern im Kontext eines durch inhaltlich bestimmte Verantwortung gekennzeichneten Dienstauftrags versteht. Unter dieser Voraussetzung kann auch evangelischerseits die Theorie und Praxis apostolischer Amtssukzession als ein ekklesiologisch bedeutsames Zeichen gewertet werden, dessen dogmatischer Wort durch den berechtigten Hinweis nicht unterminiert wird, die Annahme einer von den gegenwärtigen Amtsträgern bis zu den Aposteln zurückreichenden Kette sukzessiver Handauflegungen sei fiktiv und historisch falsifiziert. Ja, von evangelischer Seite kann sogar unterstrichen werden, dass die übliche Form der Sukzession im Amt die bischöfliche Handauflegung zu sein hat. Dass die Ordinationskompetenz primär bei einem Ordinierten mit übergemeindlicher Episkopefunktion liegt, hat elementar mit dem universalkirchlichen Bezug jeder Gottesdienstgemeinde und mit der Sorge um den universalkirchlichen Zusammenhang zu tun, der einem Bischof in spezifischer Weise aufgetragen ist. Auch bei derzeitigen Ordinationen in der evangelischen Kirche ist unbeschadet von gemeindlichen und pfarrerlichen Mit-

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Von der Katholizität evangelischer Ekklesiologie

wirkungsrechten das Beisein eines mit episkopalen Dienstaufgaben Betrauten agendarisch vorgesehen. Eröffnet sich unter dieser Perspektive ein weites Feld ökumenischer Verständigung, so muss evangelischerseits gleichwohl darauf insistiert werden, dass Ausnahmen von dem episkopalen Ordinationsvorbehalt theoretisch denkbar und praktisch möglich sind. Eine solche Ausnahme, welche die amtstheologische Regel nicht aufhebt, sondern bestätigt, lag in dem reformationsgeschichtlich gegebenen Falle der Weigerung von Bischöfen vor, Anhänger der Reformation zu ordinieren. In dieser Situation sahen sich die Reformatoren befugt, sog. presbyterale Ordinationen vorzunehmen, weil andernfalls den evangelischen Gemeinden das Recht auf eine ordnungsgemäße öffentliche Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung entzogen worden wäre, was unter Sachgesichtspunkten schwerer wiegt als das Abweichen von der amtstheologischen Regel. Dieses Verfahren als prinzipiell unstatthaft und im Ergebnis als illegitim oder ungültig zu erklären, wäre unevangelisch. Diese Einschätzung hängt sachlich damit zusammen, dass nach evangelischem Urteil dem bischöflichen Amt unbeschadet seiner ekklesiologisch elementaren Bedeutung ein, wenn man so will, Kompetenzmonopol auf Wahrheitsgewährleistung ebenso wenig zukommt wie das schätzenswerte Zeichen der apostolischen Amtssukzession die Identität und Kontinuität der christlichen Wahrheit durch die Zeiten zu garantieren vermag. Anderes zu behaupten, stünde in einem Widerspruch zu Grundeinsichten der Reformation, denenzufolge der Gehalt des Evangeliums mit keiner Gestalt kirchlichen Amtes ununterscheidbar gleichgesetzt werden kann und darf. Man wird anzunehmen haben, dass eine solche Gleichsetzung auch nicht im Sinne orthodoxer und katholischer Lehre ist. Dann aber steht einer Verständigung über die schwierigen Fragen der Amtstheologie im Allgemeinen und der apostolischen Amtssukzession im Besonderen nichts Prinzipielles im Wege. Das ordinationsgebundene Amt in seinen Gestalten und insbesondere in seiner episkopalen Form ist seinem Wesen nach dazu bestimmt, der Einheit und Katholizität der Kirche in apostolischer Nachfolge zu dienen. Dieser Dienst kann aber nur geleistet werden, wenn mit dem kirchlichen Amt nicht der Anspruch verbunden wird, an sich selbst Garant der Einheit und Katholizität der Kirche zu sein. Zwar ist das kirchliche Amt auch nach evangelischer Lehre dazu bestimmt, »in persona Christi« zu handeln. Aber die amtliche Christusrepräsentation ist ihrem Wesen nach das gerade Gegenteil von Ersatz und schließt die Tatsache nicht aus, sondern ein, dass jeder getaufte Gläubige je auf seine Weise dazu bestimmt ist, ein Christusrepräsentant zu sein. Die Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes lässt sich von der Allgemeinheit des Priestertums aller nicht ablösen. Vielmehr waltet zwischen dem ordinationsgebundenen Amt und dem gemeinsamen Priestertum aller Christen ein wechselseitiger Begründungszusammenhang. Der Einheit und Katholizität der Kirche kann nur im Verein von ordinierten und nichtordi-

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Allgemeines Priestertum

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nierten Christen gedient werden. Es besteht daher auch kein Grund, Nichtordinierten ein prinzipielles Recht auf Mitwirkung bei der Leitung der Kirche zu bestreiten. Ein solches Mitwirkungsrecht liegt in der Konsequenz der reformatorischen Lehre vom allgemeinen Priestertum, die allerdings der Differenzierung bedarf, um nicht missverstanden zu werden.

5. Allgemeines Priestertum Die vielfach zur dogmatischen Formel erstarrte Wendung »allgemeines Priestertum« ist für sich genommen unklar und daher theologisch erläuterungsbedürftig. Näherer Bestimmung bedarf vor allem der Begriff des Priestertums, dessen Verwendung terminologiegeschichtlich nicht eindeutig ist. Der Begriff kann zum einen vom griechischen »hierateuma« hergeleitet und sazerdotal verstanden werden. Zum anderen liegt dem Priesterbegriff etymologisch das neutestamentliche Wort »presbyteros« zugrunde, das ein christliches Amt bezeichnet, welches ursprünglich in keiner Beziehung zum Priesterdienst Israels stand. Ein solcher Bezug typologischer Art wird erst im Laufe der Zeit hergestellt mit der Folge, dass der Priesterbegriff presbyterale und sazerdotale Bedeutungskomponenten vereint, die nur noch schwer zu unterscheiden sind. Differenzierungen aber sind unverzichtbar, wenn der Priesterbegriff unter evangelischen Bedingungen Verwendung finden soll. Im sazerdotalen Sinne ist er prinzipiell nur dann verwendbar, wenn die namentlich in der Messfrage virulente Opferthematik einem Verständnis zugeführt wird, das mit Grundeinsichten der Reformation vereinbar ist. Dabei ist davon auszugehen, dass mit dem Kreuzestod Jesu Christi der alttestamentliche Opferdienst und ein ihm direkt vergleichbares »sacerdotium« ein für allemal ein Ende gefunden haben. Dies war für Luther der wesentliche Grund, das zweideutige und missverständliche Wort »Priestertum« als christliche Amtsbezeichnung generell zu vermeiden. »Presbyteroi« bzw. »presbyteri« sind nach seiner Nomenklatur die ordinierten Diener der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung zu nennen. Dabei besteht, wie u. a. die Augustana bestätigt, zwischen Presbytern und Episkopen kein grundsätzlicher Unterschied und das umso weniger, als die Episkopen in frühchristlicher Zeit Vorsitzende der örtlichen Gottesdienstgemeinde waren. Gleichwohl werden Sinn und ekklesiologische Notwendigkeit der Ausbildung von Dienstämtern mit übergemeindlicher Aufsichtsfunktion und eine entsprechende Differenzierung zwischen presbyteralem (Pfarr-)Amt und episkopalem (Bischofs-)Amt nicht in Abrede gestellt. Dass jeder einzelne Christ kraft seiner Taufe und ohne jene Berufung, wie sie in der Ordination erfolgt, ein presbyterales oder episkopales Dienstamt hat, ist weder von Luther noch von Melanchthon noch von sonstigen Repräsentanten der Wittenberger Reformation behauptet worden. Eine solche Be-

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hauptung mit der Rede vom allgemeinen Priestertum zu verbinden, wäre daher erkenntlich falsch. Nach reformatorischem Verständnis bezeichnet die Wendung, in deren Hintergrund der auf Ex 19,6 bezogene neutestamentliche Gedanke einer Teilhabe aller Christen am königlichen Priestertum Christi steht (vgl. 1. Petr 2,9; Apk 1,6; 5,10), eine Würde und einen Auftrag, welcher der Kirche als ganzer zukommt. Alle, die Christus im Glauben verbunden sind, haben kraft ihrer Taufe am königlichen Priestertum ihres Herrn teil. Damit ist die Gnadenstandsparität aller Christen und ihre Gleichheit vor Gott eindeutig ausgesprochen, nicht aber gesagt, dass jeder einzelne Christ je für sich ein Presbyter oder Episkope sei. Es ist im Gegenteil so, dass es einer besonderen Berufung bedarf, um das presbyterale oder episkopale Dienstamt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung sowie der der öffentlichen Evangeliumsverkündigung zugeordneten Kirchenleitung wahrzunehmen. Ausdrücklich wird daher in CA XIV gelehrt, »quod nemo debeat in ecclesia publice docere aut sacramenta administrare nisi rite vocatus«. Niemand soll in der Kirche öffentlich lehren oder predigen oder die Sakramente reichen ohne ordentliche Berufung, also ohne Ordination. Das allgemeine Priestertum ist damit keineswegs aufgegeben. Es ist vielmehr so, dass der spezifische Dienst an der Allgemeinheit des Priestertums aller die Besonderheit des ordinationsgebundenen Dienstamtes ausmacht. Wie die Einsetzung von Aposteln, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern nach neutestamentlichem Zeugnis nicht der Herrschaft der einen über die anderen, sondern dem Werk der Auferbauung des Leibes Christi zu dienen hat, so besteht der spezifische Dienstauftrag der zum Leitungsamt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung Berufenen darin, in besonderer Weise für die Allgemeinheit des Priestertums aller und damit für die Einheit und Katholizität der Kirche Sorge zu tragen.

6. Kirche als Bekenntnisgemeinschaft Das Amt steht in apostolischer Nachfolge im Dienst von Einheit und Katholizität der Kirche, sofern es der reinen Wortverkündigung und der stiftungsgemäßen Sakramentsverwaltung dient, durch welche der eine Herr seine Kirche schafft und erhält. Von daher verstehen sich die beiden Sätze von CA VII, die »De unitate ecclesiae« handeln: »Et ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum. Nec necesse est ubique similis esse traditiones humanas seu ritus aut ceremonias ab hominibus institutas; sicut inquit Paulus: Una fides, unum baptisma, unus Deus et pater omnium etc.« (CA VII, 2 – 4 ; BSLK 61, 6 – 14) Zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche ist es sowohl nötig als auch hinreichend, dass sachlich begründete Übereinstimmung in Bezug auf rechte Evangeliumspredigt und stiftungsgemäße Sakramentsverwaltung besteht.

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Kirche als Bekenntnisgemeinschaft

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Eine darüber hinausgehende Gleichförmigkeit in sonstigen Traditionsbeständen und Zeremonien ist für die Einheit der weltweiten und zeitumgreifenden katholischen Kirche nicht erforderlich. Damit ist die ekklesiologische Bedeutung des Amtes in keiner Weise eingeschränkt oder gar in Abrede gestellt. Gesagt ist allerdings, dass der Gehalt des Evangeliums mit der Gestalt des Amtes in keiner seiner Formen derart eins ist, dass zwischen beiden nicht mehr unterschieden oder gegebenenfalls amtskritisch auf das Evangelium rekuriert werden könnte. Aus diesem Grund ist es primär nicht die amtliche Verfassungsstruktur, welche die Einheit und Katholizität der Kirche gewährleistet, sondern deren inhaltliche Bestimmtheit durch das Wort und die Sakramente, welche von Jesus Christus Zeugnis geben, damit dieser in der Kraft des göttlichen Geistes sich selbst als der auferstandene Gekreuzigte bezeuge. Primärer Bestimmungsfaktor kirchlicher Einheit und Katholizität ist demgemäß nach evangelischer Lehre das gemeinsame Bekenntnis im Sinne eines Sachkonsenses bezüglich rechter Evangeliumsverkündigung und stiftungsgemäßer Sakramentsverwaltung. Kircheneinheit ist primär Bekenntniseinheit und erst von dorther und in einer der Bekenntniseinheit zugeordneten Weise institutionell verfasste und amtlich strukturierte Ordnungs- und Rechtseinheit. Eben dies wird bestätigt, wenn es im VII. Artikel von Melanchthons Apologia Confessiones Augustanae über die katholische Kirche heißt: »Et catholicam ecclesiam dicit, ne intelligamus, ecclesiam esse politiam externam certarum gentium, sed magis homines sparsos per totum orbem, qui de evangelio consentiunt et habent eundem Christum, eundem spiritum sacntum et eadem sacramenta, sive habeant easdem traditiones humanas sive dissimiles.« (AC VII, 10) Die katholische Kirche umfasst die über den gesamten Erdkreis verstreuten und, wie man hinzufügen darf, in der Weltgeschichte vertretenen Menschen, die im einen Evangelium übereinstimmen, denselben Christus, denselben Geist und dieselben Heilsmittel haben, mögen sie sich in anderer Hinsicht noch so sehr unterscheiden. Nichts anderes meint Luther, wenn er in seinem Großen Katechismus das Bekenntnis zur Kirche als der Gemeinschaft der Heiligen im dritten Artikel des Apostolikum mit den Worten zusammenfasst: »Ich gläube, dass da sei ein heiliges Häuflein und Gemeine auf Erden eiteler Heiligen unter einem Häupt, Christo, durch den heiligen Geist zusammenberufen, in einem Glauben, Sinne und Verstand, mit mancherlei Gaben, doch einträchtig in der Liebe, ohn Rotten und Spaltung. Derselbigen bin ich auch ein Stück und Gelied, aller Güter, so sie hat, teilhaftig und Mitgenosse, durch den heiligen Geist dahingebracht und eingeleibet dadurch, dass ich Gottes Wort gehört habe und noch höre, welchs ist der Anfang hineinzukommen. Denn vorhin, ehe wir dazu kommen sind, sind wir gar des Teufels gewesen, als die von Gott und von Christo nichts gewußt haben. So bleibt der heilige Geist bei der heiligen Gemeine oder Christenheit bis auf den jüngsten Tag, dadurch er uns holet, und brauchet sie dazu, das Wort zu fuhren und treiben, dadurch

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er die Heiligung machet und mehret, dass sie täglich zunehme und stark werden im Glauben und seinen Früchten, so er schaffet.« (BSLK 657, 26 – 658, 2)

7. Evangelische Katholizität Summa summarum: Worin besteht die Katholizität der Kirche nach Auffassung evangelischer Ekklesiologie? In der gläubigen Verbundenheit von Menschen im Geiste Jesu Christi, welcher nicht unmittelbar wirkt, sondern mittels Wort und Sakrament, in denen er sich äußert, um ins Innere des Herzens zu dringen und die Gewissensgewissheit des Glaubens zu erschließen. Der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung zu dienen, ist Auftrag des Amtes, in welches durch Ordination berufen wird. Als Institut des Dienstes an Wort und Sakrament (vgl. CA V, 1: »institutum est ministerium docendi evangelii et porrigendi sacramenta«) ist es göttlich gesetzt und ekklesiologisch unverzichtbar. Aber die amtliche Gestalt steht wie die gesamte Verfassungsstruktur der Kirche, sofern sie geistlich begründet ist, im alleinigen Dienst desjenigen Gehalts, welcher das Wesen der Kirche begründet und von den Gestalten des Amtes zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden ist. Die zum amtlichen Hirtendienst Berufenen haben keinen anderen Auftrag, als der Stimme des einen Hirten Gehör zu verschaffen, der sich in Wort und Sakrament selbst zur Sprache zu bringen verheißen hat. Dabei gilt gemäß CA XXVIII der Grundsatz: »sine vi humana, sed verbo«. Nicht die Macht formaler Autorität, sondern allein die Ohnmacht des Wortes und der sakramentalen Zeichenvollzüge, wie sie in der Heiligen Schrift kanonisch bezeugt sind, hat das Vermögen, im Innersten zu überzeugen. Man muss kein Theologe sein, um dies zu verstehen und für richtig zu befinden. Entsprechendes gilt für die ekklesiologische Einsicht ins wahre Wesen der Kirche und ihrer Katholizität. Wie Luther unter Bezug auf Joh 10,3 in den Schmalkaldischen Artikeln sagt: »es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ›die Schäflin, die ihres Hirten Stimme hören‹.« (ASm III; BSLK 459,20 – 22)

8. Neuprotestantischer Epilog Als »eine wissenschaftliche Arbeit, die ihre Aufgabe scharf ins Auge fasst und dieselbe zu lösen versucht, sie auch fast durchweg gelöst hat«, wurde vom Gutachter die dogmatische Examensschrift beurteilt, die der dreiundzwanzigjährige Ernst Troeltsch 1888 zum Thema der Einheit und Katholizität der Kirche verfasst hat. In der Tat verdient der Scharfsinn und die souveräne Argumentationskraft des jugendlichen Kandidaten ungeteilte Bewunderung.

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Neuprotestantischer Epilog

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Der verbleibende Vorbehalt des Gutachters, der Troeltsch um eine glatte Eins brachte und zu dem Ergebnis »vorzüglich nahe« führte, wurde vom Korrektor mit dem Hinweis begründet: »Über Katholizität ist der Verf. nicht im Reinen, er bringt Richtiges, aber die Hauptsache, dass die Katholizität das Ziel der Kirche auch ist, fehlt, und das thut dieser Arbeit einigen Eintrag.« In dem Text, dessen Inhalt ebenso wie die Angaben zur Zensur den »Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft VIII« (Augsburg 1994, 142 – 152, hier : 152) zu entnehmen ist, legt der bayerische Examinand eingangs unter Berufung auf Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Albrecht Ritschl, aber auch auf die Erlanger Theologen des konfessionellen Neuluthertums Johann Christian Konrad Hofmann und Franz Hermann Reinhold Frank dar, dass die Einheit der Kirche auf ihrem Bezug zum Weltzweck Gottes und ihrer ausschließlichen Bedingtheit durch Christus beruht, der ihren Lebensgrund und ihr Lebensziel darstellt. Ausdrücklich abgelehnt wird die u. a. von Theodor Kliefoth vertretene These, die Einheit der Kirche sei auf »doctrina« im Sinne eines dogmatischen Bekenntnisstandes zu begründen, wie er in der Augustana und in den anderen Texten des Konkordienbuches vorliege. Kirchlicher Einheitsgrund sei nicht die Lehre, sondern allein das Evangelium Jesu Christi und der Glaube an ihn. Ist der Grund kirchlicher Einheit sonach eine unsichtbare Größe und auf rein göttliche Kausalität zurückzuführen, so hat das Wesensattribut der Katholizität im Vergleich mit demjenigen der Einheit nur den ekklesiologischen Status eines Postulats, das sichtbar zu realisieren ein Werk von Menschen sei. Als Menschenwerk sei die Katholizität der Kirche nicht nur sehr viel weniger wert als das Gotteswerk kirchlicher Einheit, sie lasse sich eben deshalb unter irdischen Bedingungen auch nicht in der geforderten Weise adäquat verwirklichen, sondern nur in Gestalt mannigfaltiger Kirchen, denen Allgemeinheit faktisch abgehe. Alle Versuche, die kirchliche Katholizität etwa durch Verweis auf gegebenen und kirchenrechtsgesetzlich festgeschriebenen Bekenntniskonsens oder gar auf die förmliche Autorität kirchlichen Lehramts als objektiv vorhanden zu behaupten, weist Troeltsch als undurchführbar und unangemessen zurück. Selbst der gemeinschaftliche Gebrauch des Herrengebets, der nach seinem Urteil noch am ehesten als Kennzeichen äußerer Einigkeit der Kirche gelten könnte, sei nur bedingt in der Lage, deren Katholizität zu begründen, weil er keine Norm zur Ausscheidung von Häresie biete. Als diese fungiere nach evangelischem Verständnis nur die Heilige Schrift, welche bezeichnenderweise keine dem Wesensattribut der Einheit der Kirche vergleichbaren Begriff kirchlicher Katholizität enthalte. In der Konsequenz seiner exegetischen und dogmatischen Reflexionen gelangt Troeltsch zu dem Ergebnis, dass das Faktum einer Mannigfaltigkeit von Kirchen durch Bezug auf die Katholizität der einzelnen Kirche nicht nur nicht aufzuheben sei, dass vielmehr die kirchliche Pluralität notwendigerweise um so mannigfaltiger werde, je feiner und individueller sich die menschliche Kultur ausbilde. Die Fluchtlinie der konfessionstypologisch strukturierten

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kirchengeschichtlichen Entwicklung ist damit bezeichnet: während die griechisch-katholische Mutterkirche als Produkt der Kombination von antiker Kultur und Christentum in, wie es heißt, mystisch-pantomimischem Kultus und Sakramentsmagie aufgehe, begegne in Recht und Ethos der römischkatholischen die den religiösen Naturtrieb definitiv transzendierende väterliche Strenge des Lateinischen, bis schließlich die Reformation germanischer Sitte gemäß den gesetzlichen Charakter der Antike gänzlich ausscheide, um die Reinheit des Evangeliums heraufzuführen sowie den je individuellen Glaubens an den überweltlichen Gottessohn und das unmittelbare Hereingreifen der höheren himmlischen Welt in die Irdische. Dass der junge Troeltsch über die Katholizität der Kirche noch nicht im Reinen sei, hatte der Korrektor einst vermerkt. Dieses Votum hat seine Richtigkeit. Indes gilt dies nicht nur in Blick auf den damaligen Examenskandidaten, sondern auch noch in Bezug auf den aktuellen ökumenischen Dialog. Zwar hat dieser über traditionelle Frontstellungen hinausgeführt sowie manche Missverständnisse und Vor- oder Fehlurteile zu beseitigen verholfen. Nur noch wenige evangelische Theologen wird es gegenwärtig geben, die der von Adolf von Harnack inspirierten kirchengeschichtlichkonfessionstypologischen Epocheneinteilung kritiklos zu folgen bereit sind, wonach das genuine Christentum nach langen Phasen der Verfremdung durch eine griechische und eine lateinische Form katholischen Christentums in der Reformation germanischer Sitte gemäß erneuert wurde, um im neuzeitlichen Protestantismus seiner postkatholischen Realisierung zugeführt zu werden. Gleichwohl lassen sich signifikante Problemkonstellationen, wie sie bereits der junge Troeltsch reflektierte, um in seiner Weise ekklesiologische Position zu beziehen, unschwer auch in Bezug auf die gegenwärtige kirchlich-theologische Situation evangelischen Christentums identifizieren. Nicht hinreichend geklärt ist im Protestantismus u. a. die Frage, welcher Stellenwert dem Bekenntnis und seiner expliziten Lehrform für Einheit und Katholizität der Kirche zukommt. Was ist die Bedingung der Möglichkeit kirchlicher Gemeinschaft und ihrer förmlichen Erklärung? Hierauf wird innerhalb der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen auch heutzutage theologisch in durchaus unterschiedlicher Weise geantwortet. Dies macht die ökumenische Aufgabe nicht einfacher. Man wird freilich auch von der Vorstellung Abschied nehmen müssen, Orthodoxie und römischer Katholizismus seien im Unterschied zum Protestantismus lehrmäßig und faktisch erratische Blöcke von unerschütterter und unerschütterlicher innerer Geschlossenheit, was weder in der Praxis noch auch in der Theorie der Fall ist. Im römischen Katholizismus tritt dies offen zutage. Zu fragen wird sein, ob und inwieweit sich seine innere Pluralität und Differenziertheit künftig lehramtlich steuern lässt und welche theologische und faktische Bedeutung der hierarchischen Verfasstheit der Kirche einschließlich des Papstamts für kirchliche Einheit und Katholizität nach Maßgabe römisch-katholischer Ekklesiologie zukommt.

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Neuprotestantischer Epilog

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Die Orthodoxie hat bekanntlich den päpstlichen Anspruch des Bischofs von Rom auf universalkirchlichen Jurisdiktionsprimat und virtuelle Infallibilitätskompetenz stets abgelehnt, und sie tut dies bis heute in der nötigen Deutlichkeit. Weniger deutlich ist, wie sie sich zum Faktum konfessionelldenominationeller Verfassung neuzeitlichen Christentums und zum erkennbaren Trend wachsender Differenzierung und Pluralisierung in den eigenen Reihen theoretisch und praktisch zu verhalten gedenkt. Doch ist es nicht meine, sondern Aufgabe anderer, hierauf eine Antwort zu versuchen. Meine Aufgabe war es, ansatzweise von der Katholizität evangelischer Ekklesiologie zu handeln, über deren Grundzüge nach Auffassung Luthers bereits ein Kind von sieben Jahren Bescheid wissen sollte und Bescheid wissen kann. Dies schließt nicht aus, dass mit dem ökumenischen Thema der Katholizität auch dreiundzwanzigjährige Kandidaten der evangelischen Theologie und weit mehr als doppelt so alte evangelische Theologieprofessoren noch ihre erheblichen Schwierigkeiten haben. Auf das Prädikat der Examensarbeit des ebenso hochbegabten wie wohlvorbereiteten Troeltsch’ will und kann ich im übrigen mit meinen Ausführungen keinen Anspruch erheben. Es würde mir vollauf genügen, befriedigend oder doch immerhin ausreichend informiert zu haben.

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Skizze des Entwurfs einer Gemeinsamen Erklärung zur Lehre vom Herrenmahl* 1. Kirche als eucharistische Koinonia: biblische Grundlegung 1.1 Das Mahl des Herrn wurde von den getauften Gliedern der urchristlichen Gemeinde von Anbeginn regelmäßig gefeiert. »Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens.« (Apg 2,46) Vollzogen wurde die Feier des Herrenmahls in der Erinnerung an Leben und Sterben Jesu Christi und in der österlichen Gewissheit, dass der auferstandene Gekreuzigte selbst als lebendiges Subjekt seines Gedächtnisses fungiert, um den Getauften durch das Sakrament des Altars in, mit und unter Brot und Wein in der Kraft des göttlichen Geistes Anteil zu geben an seiner heilsamen Gegenwart und an seinem Sohnesverhältnis zu Gott, dem allmächtigen Vater. Durch solche Teilhabe, wie sie das Hl. Mahl auf Glauben hin wirksam vermittelt, ist die christliche Gemeinde, was zu sein sie bestimmt ist: Kirche als Leib Jesu Christi. Wie der Apostel sagt: »Ist der Kelch des Segens, über den wir den Segen sprechen, nicht Teilhabe am Blut Christi? Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe am Leib Christi? Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot.« (1. Kor 10,16) Dieser – die ersten Koinonia-Belege in christlichen Zeugnissen integrierende – Text ist kennzeichnend für das paulinische Verständnis von Koinonia insgesamt, wie es im eucharistischen Zusammenhang in prototypischer und paradigmatischer Weise zum Ausdruck kommt: Indem wir im Herrenmahl Anteil gewinnen an Leib und Blut, will heißen: an der durch den Hl. Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit der Gottheit Gottes zugehörigen Person und Geschichte des auferstandenen Gekreuzigten, werden wir untereinander zu einer auf den dreieinigen Gott * Die Textvorlage wurde zu Beginn der vierten Dialogphase der Gemeinsamen Internationalen Kommission von Lutherischem Weltbund und Päpstlichem Rat für die Einheit der Christen konzipiert und nach Sitzungsdiskussionen mehrfach revidiert und ergänzt, bis sich die weitere Kommissionsarbeit unter Zurückstellung der Herrenmahlsthematik ausschließlich dem Thema der Apostolizität der Kirche widmete (vgl. The Apostolicity of the Church. Study Document of the Lutheran-Catholic Commission on Unity. The Lutheran World Federation. Pontifical Council for Promoting Christian Unity, Geneve 2007. Die Apostolizität der Kirche. Studiendokument der Lutherisch/Römisch-Katholischen Kommission für die Einheit, Paderborn/Frankfurt a. M. 2009). Zum Desiderat einer GE Herrenmahl vgl. fernerhin: H. Meyer, »… genuinam atque integram substantiam Mysterii eucharistici non servasse …«? Plädoyer für eine gemeinsame Erklärung zum Verständnis des Herrenmahls, in: P. Walter u. a. (Hg.), Kirche in ökumenischer Perspektive. Kardinal Walter Kasper zum 70. Geburtstag, Freiburg/Basel/Wien 2003, 405 – 416.

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Kirche als eucharistische Koinonia: biblische Grundlegung

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gegründeten personalen Gemeinschaft wechselseitiger Teilhabe und Teilgabe zusammengeschlossen, zur Glaubens- und Liebesgemeinschaft der Kirche des Herrn. 1.2 Während die urchristliche Herrenmahlsfeier anfangs eingebettet war in eine gemeinsame Sättigungsmahlzeit, bahnte sich bereits bei Paulus (vgl. 1. Kor 11) die Trennung beider Handlungen an, wobei das vom Herrenmahl gelöste Sättigungsmahl als Agapemahl fortlebte. In ihren wesentlichen Zügen grundgelegt ist die urchristliche Abendmahlspraxis nach dem Zeugnis des Neuen Testaments im Letzten Mahl Jesu am Abend vor seinem Tod. Vorbereitet und präfiguriert fand man sie in den häufigen Mahlgemeinschaften, die der Herr zu seinem irdischen Lebzeiten sowohl mit seinen Jüngern als auch mit »Zöllnern und Sündern« hielt. Ihre Verifikation und eschatologische Bestätigung erhielt die urchristliche Praxis der Mahlfeier zum Gedächtnis des Herrn schließlich durch Mahlerscheinungen des auferstandenen Gekreuzigten, von denen die Begegnung des österlichen Christus mit den beiden Emmausjüngern ein besonders eindrucksvolles Beispiel gibt (vgl. Lk 24, 13 – 35; ferner : 36 – 43 sowie Joh 21,1 – 14). 1.3 Die neutestamentlichen Texte vom Letzten Mahl (vgl. Mk 14,22 – 25 par Mt 26, 26 – 29; Lk 22,15 – 20 sowie 1. Kor 11,23 – 26; vgl. auch Joh 6), das Jesus »in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde« (1. Kor 11,23), mit Jüngern hielt, weichen im Wortlaut voneinander ab, zeigen Spuren späterer liturgischer und theologischer Bearbeitung und stellen vor schwierige historische Fragen. Die Grundbestände der Mahlbehandlung lassen sich indes relativ zuverlässig erfassen: Jesus nimmt das Brot, spricht das Dankgebet darüber, bricht es und gibt es seinen Jüngern verbunden mit einem Spendewort zu essen (Mt; Mk; Lk); direkt danach (Mt; Mk) oder nach Abschluss der eigentlichen Mahlzeit (Lk; 1. Kor) nimmt er den Kelch, spricht ein Dankgebet darüber (Mt; Mk), gibt ihn seinen Jüngern zum Trinken, abermals verbunden mit einer Spendeformel. Ein eschatologisches Logion (Mk 14,25; Lk 22,16.18) schließt an, welches den Ausblick auf das endgültige Kommen des Reiches Gottes eröffnet und aller Wahrscheinlichkeit nach von Jesus im Rahmen seines Letzten Mahles mit den Jüngern gesprochen worden ist. 1.4 Der historische Ursprungssinn und der besondere theologische Charakter des Letzten Mahles Jesu werden verschieden gedeutet, je nachdem ob man den traditionellen Bezugsrahmen im normalen jüdischen Festmahl, im Passahmahl oder in kultischen Gemeinschaftsmahlzeiten jüdischer Sondergruppen gegeben findet. Die uneinheitlichen Befunde erklären sich u. a. daraus, dass in den einschlägigen neutestamentlichen Texten sowohl der Ablauf des Letzten Mahles als auch die Spendeworte unterschiedlich überliefert werden. Sind bei Lukas und Paulus Brot- und Kelchwort jüdischem Brauch entsprechend durch die Mahlzeit voneinander getrennt, folgen sie bei Markus und Matthäus

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Skizze des Entwurfs einer Gemeinsamen Erklärung

während der Mahlzeit unmittelbar aufeinander. Unterschiede zeigen sich auch in der Tradierung der Spendeworte: Die größte Überlieferungsdichte ist beim Brotwort gegeben, dessen Grundbestand (»das ist mein Leib«) von allen Zeugen übereinstimmend tradiert wird, wobei es Paulus durch das ergänzende »für euch«, Lukas durch den Zusatz »der für euch hingegeben wird« soteriologisch interpretiert und auf Leiden und Sterben des Herrn bezieht. Schwieriger ist die Quellenlage beim Kelchwort: Paulus und Lukas identifizieren den Kelch mit dem Neuen Bund (»dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut« [1. Kor 11,25]), wobei Lukas hinzufügt: »das für euch vergossen wird« (Lk 22,20). Bei Markus und Matthäus heißt es unter Bezug auf den Kelch: »Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird« (Mk 14,21; Mt 26,28), wobei Matthäus ergänzt: »zur Vergebung der Sünde«. Welches die älteste Abendmahlsüberlieferung ist, konnte bislang nicht definitiv geklärt werden. Nach wie vor kontrovers behandelt wird schließlich auch die Frage, ob der explizite Wiederholungsbefehl, den nur Paulus (1. Kor 11,24 ff) und Lukas (Lk 22,19) bezeugen, auf den irdischen Jesus selbst zurückgeht. 1.5 Von den ungelösten historischen Fragen nach dem genauen Hergang des Letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern bleibt die Tatsache unberührt, dass die urchristliche Gemeinde das Mahl des Herrn wiederholt und nach Maßgabe einer in ihrer Wesensbestimmung begründeten Regel feierte, wobei sie ihre Mahlpraxis als geschichtliche Ausbildung eines vom irdischen Jesus inaugurierten Kernbestands nicht nur verstand, sondern auch mit Recht verstehen konnte, insofern die in dem urchristlichen Herrenmahlsverständnis implizite Behauptung gegebener Kontinuität zum Letzten Mahl Jesu trotz der bezeichneten offenen Fragen als begründet gelten kann. Indes ist der Kontinuitätszusammenhang zwischen dem Letzten Mahl des Irdischen und den Herrenmahlsfeiern der urchristlichen Gemeinde kein unmittelbarer, sondern ein durch Kreuz und Auferstehung vermittelter und transfinalisierter. Wird dies bedacht, dann lassen sich die durch die urchristliche Gemeinde in der österlichen Gewissheit himmlischer Verherrlichung des Gekreuzigten vollzogenen Gestaltungen der überlieferten Traditionsbestände in ihrer theologischen Notwendigkeit erkennen und in den für die Theologie des Herrenmahls bestimmenden Einsetzungsbegriff so integrieren, dass durch ihn beides zugleich zur Geltung gebracht wird: die abendmahlstheologische Unerlässlichkeit des durch äußerlich erkennbare und buchstäblich fassbare Traditionskontinuen vermittelten Erinnerungsbezugs zur Mahlpraxis des irdischen Jesus, wie sie im Letzten Mahl sich konzentriert und vollendet, und die durch den Geist des auferstandenen Gekreuzigten erschlossene und zur inneren Glaubensgewissheit gebrachte Tatsache, dass Jesus Christus als beständiger Herr des von ihm gestifteten Mahles wirken will und wirkt, um den Seinen heilsamen Anteil zu geben an der Herrlichkeit des Reiches Gottes, dessen Gegenwart in ihm manifest ist, um die ganze Menschheit und alle Welt in

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Die Gegenwart des Herrn in seinem Mahl

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bergender Liebe zu umfassen. Die Kirche ist die Wahrnehmungs- und Zeugnisgestalt dieser eschatologischen Wahrheit und sie feiert sie im eucharistischen Vollzug des Hl. Mahles, bis der Herr seine sakramentale Gegenwart durch universale Präsenz erfüllen und der dreieinige Gott alles in allem sein wird. 1.6 Im Vertrauen hierauf und im Bewusstsein, durch den testamentarischen Willen Jesu Christi, wie er in der Stiftung des Hl. Mahles erklärtermaßen und verbindlich zum Ausdruck kommt, zur Koinonia des ungeteilten Leibes Christi, welcher die Kirche ist, bestimmt zu sein, stellen wir gemeinsam fest: Es berührt den innersten Gehalt und die Integrität des Sakraments der Kommunion, wenn nicht alle, die durch die Taufe zu gläubigem Empfang des Herrenmahls geladen sind, kommunizierend daran teilnehmen können. Diesen Missstand um der Ehre Christi und der Glaubwürdigkeit seiner Kirche willen zu beheben, ist eine in hohem Maße dringliche Aufgabe des ökumenischen Dialogs. Sie zu erfüllen, steht in keines Menschen Macht, da die Einheit der Kirche, wie sie in der eucharistischen Gemeinschaft begründet und zur Darstellung gebracht wird, eine Gabe ist, die nur der Herr selbst geben kann, der als Haupt der Kirche deren Einheit in Person ist. Es ist aber das Gebot des Herrn, die in seiner Person gegebene Gabe der Einheit nicht zu verweigern, sondern in Empfang zu nehmen und daran mitzuwirken, dass sie auf Erden sichtbar und immer sichtbarer werde. Diesem Gebot wissen sich die nachfolgenden theologischen Verständigungsbemühen in dem gewissen Vertrauen verpflichtet, dass der in Jesus Christus in der Kraft seines Hl. Geistes offenbare Gott sein Werk, in dessen Dienst die Kirche steht, selbst verwirklichen und all sein Beginnen zur Vollendung bringen wird.

2. Die Gegenwart des Herrn in seinem Mahl 2.1 In der Feier seines Mahles ist der Herr als lebendige Person wahrhaft und wirklich gegenwärtig. In Brot und Wein schenkt sich der auferstandene Gekreuzigte in seinem für Menschheit und Welt dahingegebenen Leib und Blut, um in der Kraft des Heiligen Geistes den Glaubenden heilsamen Anteil zu geben an der Gemeinschaft des verherrlichten Sohnes mit dem göttlichen Vater. Wo dieses gemeinsam bekannt wird, begründen die in der Tradition unserer Kirchen gegebenen Unterschiede in den theologischen Aussagen über die Weise der Realpräsenz und hinsichtlich der Dauer der eucharistischen Gegenwart keinen kirchentrennenden Gegensatz. 2.2 Wenn Katholiken sagen, dass im stiftungsgemäßen Vollzug des Herrenmahls eine Wesensverwandlung (Transsubstantiation) im Sinne einer Umwandlung des ganzen Wesenbestandes des dargebrachten Brotes und Weines

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Skizze des Entwurfs einer Gemeinsamen Erklärung

in den Wesensbestand von Leib und Blut Christi bei unverändertem Weiterbestand der äußerlichen Erscheinungsformen von Brot und Wein statthat, dann wollen sie weder das sakramentale Geheimnis rationalistisch auflösen und alle anderen Weisen seiner Wahrnehmung definitiv ausschließen noch eine bestimmte philosophische Terminologie (Substanz – Akzidenz) zum Gegenstand des Glaubens machen oder ein apersonal-naturalistisches Missverständnis der eucharistischen Gegenwart Jesu Christi fördern. 2.3 Wenn Lutheraner unter Betonung des differenzierten Zusammenhangs von sakramentaler Vereinigung und personaler Einheit von Gottheit und Menschheit in Jesus Christus sagen, dass in dem gemäß der Einsetzung Jesu Christi vollzogenen Mahl der Herr in, mit und unter Brot und Wein als leibhafte Person präsent ist, so verwahren sie sich damit sowohl gegen einen den sakramentalen Sinngehalt ins bloß Zeichenhafte auflösenden Symbolismus als auch gegen einen Pseudorealismus, der das Gegebensein der eucharistischen Gabe von deren stiftungsgemäßer Hinordnung auf gläubigen Empfang ablöst. Wie unter der Voraussetzung der Transsubstantiationslehre, so ist auch unter lutherischen Verständnisbedingungen des eucharistischen Geheimnisses die Annahme einer räumlichen Einschließung Jesu Christi in den Elementen ebenso prinzipiell ausgeschlossen wie die Vorstellung eines physischen Essens und Trinkens des Leibes und Blutes Christi. 2.4 Die Überzeugung von der bleibenden Gegenwart Jesu Christi in den eucharistischen Elementen, welche der katholischen Sakramentspraxis die Reservation und Formen der Sakramentsverehrung außerhalb der Eucharistiefeier im engeren Sinne ermöglicht, ist mit der lutherischen Auffassung vereinbar, wenn die stiftungsgemäße Hinordnung der eucharistischen Gegenwart Jesu Christi auf gläubigen Empfang dadurch nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt wird. 2.5 Die ihrem Selbstverständnis nach nicht an der Frage zeitlicher Erstreckung der eucharistischen Gegenwart Jesu Christi orientierte lutherische Überzeugung, welche die von Christus verlässlich zugesagte Realpräsenz seines Leibes und Blutes nach Maßgabe der Weisung des Herrn, das gesegnete Brot zu essen und den gesegneten Kelch zu trinken, unauflöslich verbunden weiß mit dem tatsächlichen Vollzug der Kommunion, ist mit der katholischen Auffassung dann vereinbar, wenn die eucharistische Gegenwart Jesu Christi nicht ausschließlich auf den punktuellen Augenblick mündlichen Empfangs seines Leibes und Blutes beschränkt wird. 2.6 In praktischer Konsequenz dieser Einigkeit sollte katholischerseits beachtet werden, dass die Betonung der Ständigkeit der Gegenwart Jesu Christi unter den Gestalten von Brot und Wein, welche die Vorgegebenheit der sakramentalen Gabe verdeutlichen will, nicht Frömmigkeitsformen

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Kreuzesopfer und eucharistisches Opfer

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hervorruft oder nachträglich legitimiert, welche die Elemente unzulässig vom Mahlgeschehen trennen und ihre stiftungsgemäße Hinordnung auf den Akt leibhaften Zusichnehmens in Frage stellen (vgl. DH 1643: »ut sumatur«). Lutherischerseits sollte man sich an die vom Reformator selbst empfohlene Praxis halten, die eucharistischen Gaben nach Möglichkeit aufzubrauchen, weil diese Praxis Leichtsinn ebenso in Schranken weist, wie sie Skrupulanz schon im Ansatz unterbindet. Das schließt nicht aus, dass Formen der Verehrung konsekrierter und für die Sumption reservierter Elemente bzw. Formen der Adoration des in den Elementen seiner Verheißung gemäß auf Empfang hin sich vergegenwärtigenden Christus für den Fall anerkannt werden können, dass sie mit dem Stiftungssinn des Abendmahls vereinbar sind und nicht für durch göttliche Anordnung verpflichtend erklärt werden.

3. Kreuzesopfer und eucharistisches Opfer 3.1 Die personale Realpräsenz des gekreuzigten und auferstandenen Herrn in dem von ihm gestifteten Gemeinschaftsmahl seiner Kirche umfasst die Wirklichkeit seiner Heilstaten und namentlich seines stellvertretend für uns dargebrachten und erlittenen Opfers am Kreuz, welches durch Anamnese und Epiklese dem empfangenden Glauben unter den Gestalten des eucharistischen Brotes und Weines den verba institutionis entsprechend heilsam gegenwärtig wird, wohingegen dem Unglauben die schuldhafte Abweisung der Heilsgabe zum Verderben gereicht. Indem wir das eucharistische Brot und den eucharistischen Wein gläubig empfangen, erhalten wir heilsamen Anteil an dem einmaligen und vollgenügsamen Opfer Jesu Christi und an seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut, um in der Kraft des göttlichen Geistes hineingenommen zu werden in die liebende Selbsthingabe des Sohnes an Gott, dessen väterliche Liebe im Geist des Sohnes ganz hingegeben ist an Menschheit und Welt, damit gerettet werde, was verloren ist. Wo dieses gemeinsam bekannt wird, lässt sich die tiefgreifende Differenz um die Messe als Opfer beheben und der überkommene Gegensatz muss nicht länger als kirchentrennend behauptet werden. 3.2 Wenn Katholiken sagen, in der Messe werde Gott ein wahres und eigentliches Opfer dargebracht, so geschieht dies unter der Voraussetzung der Einzigkeit und Vollgenügsamkeit des Kreuzesopfers Jesu Christi, welche die Annahme einer Wiederholung ebenso ausschließt wie diejenige einer additiven Ergänzung, und in dem Bewusstsein, dass der verheißungsvolle Zuspruch der Versöhnung durch Christi Tod unter keinen Umständen in einen Anspruch auf menschliche Selbstrechtfertigung verkehrt werden darf.

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3.3 Wenn Lutheraner hinsichtlich der Eucharistie traditionellerweise lediglich von Lob- und Dankopfer sprechen, um das von der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden Gott dargebrachte Opfer unmissverständlich zu unterscheiden von dem perfekten Opfer der Versöhnung Gottes mit den Menschen im Kreuze Jesu Christi, so leugnen sie damit nicht, dass das Herrenmahl gemäß der Stiftung Christi memoriales Wirkzeichen unverbrüchlich fortbestehender Heilsrealität der Selbstdarbringung dessen ist, der am Kreuz zur Sühne unserer Sündenschuld und für unsere Erlösung von den Verderbensmächten dagingegeben wurde; vielmehr bezeugen sie: »Indem wir das (sc. eucharistische) Brot essen und den (sc. eucharistischen) Wein trinken, erhalten wir Anteil an dem einmaligen Opfer Jesu Christi, an seinem für uns alle dahingegebenen Leib und Blut.« (Zur Lehre und Praxis des Abendmahls. Beratungsergebnis der 4. Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft, Wien-Lainz, 9. 5. 1994, II A 1b, in: W. Hüffmeier/C.-R. Müller [Hg.], Wachsende Gemeinschaft in Zeugnis und Dienst. Reformatorische Kirchen in Europa, Frankfurt a.M. 1995, 75 – 88, hier : 79) 3.4 In Konsequenz dieser Einigkeit ergibt sich die beiderseitige Verpflichtung, das Verhältnis des Handelns Christi und des Tuns der Kirche im Abendmahl in theoretischer und praktischer Hinsicht so zum Ausdruck zu bringen, dass die Unbedingheit des Gnadenwirkens Jesu Christi und des dreieinigen Gottes in ihm klargestellt und deutlich wird, dass der Herr in seinem Mahl, zu dessen Wesen die Kommunion der Gemeinde unveräußerlich hinzugehört, sich in der Kraft des Heiligen Geistes von sich aus lebendig in Erinnerung bringt als jenes Opfer der Liebe, das Gott am Kreuz in der Weise eines erfüllten Perfekts selbst vollbracht und vollendet hat, auf dass die Glaubenden, welche sich dieses Gnadengeschenk in reinem Empfangen vorbehaltlosen Vertrauens gefallen lassen, hineingezogen werden in die göttliche Liebeswirklichkeit, um selbst durch Werke der barmherzigen Liebe tätig zu sein.

4. Der Empfang des Herrenmahl unter den Gestalten von Brot und Wein 4.1 Wir bekennen gemeinsam, dass zur stiftungsgemäßen Vollgestalt des Herrenmahls dem Wortlaut seiner durch die Heilige Schrift bezeugten Einsetzung gemäß der Empfang von Brot und Wein durch alle Kommunikanten gehört. 4.2 Wo aus theologisch verantwortbaren Gründen unter lediglich einer Gestalt kommuniziert wird, darf der Glaube auch nach lutherischer Auffassung der Gabe des ganzen Christus gewiss sein.

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Kirchengemeinschaft und eucharistische Gemeinschaft

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4.3 Die Gewissheit, dass der ganze Christus in jeder und in jedem Teil der beiden eucharistischen Gestalten gegenwärtig ist, darf auch nach katholischer Auffassung nicht die durch mögliche Ausnahmen zu bestätigende Regel aufheben, dass im eucharistischen Mahl unter beiderlei Gestalt kommuniziert werden soll.

5. Kirchengemeinschaft und eucharistische Gemeinschaft 5.1 Kirchengemeinschaft und Herrenmahlsgemeinschaft gehören zusammen; sie sind zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen. Denn die Gemeinschaft, welche die Kirche ist, gründet in der Gemeinschaft des Leibes und Blutes Jesu Christi, welche im Mahl des Herrn statthat, und zugleich findet die im Mahl des Herrn statthabende Gemeinschaft des Leibes und Blutes Jesu Christi in der Einigkeit der Kirchengemeinschaft ihren verbindlichen Ausdruck. Wo dieses gemeinsam bekannt wird, stellen die zwischen unseren Kirchen gegebenen Unterschiede in der Verhältnisbestimmung von Kirchengemeinschaft und Herrenmahlsgemeinschaft keine trennenden Gegensätze dar. 5.2 Wenn Katholiken die unauflösliche Bindung eucharistischer Gemeinschaft an die volle kirchliche Gemeinschaft betonen und diese zum sichtbaren Ausdruck jener erklären, dann leugnen sie nicht, dass das eucharistische Geschehen zugleich als beständiger Wirk- und Erhaltungsgrund der Kirchengemeinschaft fungiert. Das ermöglicht es ihnen, unbeschadet der untrennbaren Verbindung, die zwischen Kirchengemeinschaft und Herrenmahlsgemeinschaft obwaltet, zwischen dem eucharistischen Wirklichkeitsgrund kirchlicher Gemeinschaft und deren sichtbarer Ausdrucksgestalt zu unterscheiden. Dem entspricht, dass nach katholischer Lehre das Verhältnis der einen Kirche Jesu Christ zur römisch-katholischen Kirche, wie sie als societas externa sichtbar verfasst ist, nicht dasjenige undifferenzierter Identität ist. 5.3 Wenn Lutheraner betonen, dass zwischen dem eucharistischen Geschehen als beständigem Wirk- und Erhaltungsgrund der Kirchengemeinschaft und deren sichtbarer Ausdrucksgestalt zu unterscheiden sei, dann leugnen sie nicht, dass die eucharistische Gemeinschaft als Grund der Kirchengemeinschaft diese zur konsequenten Folge hat. Dabei schließt Kirchengemeinschaft die Notwendigkeit ihrer sichtbaren Gestalt bzw. Gestaltung ein, insofern die Einheit der Kirche wie deren Wesen insgesamt eine zwar nicht einfachhin empirisch manifeste, sondern immer auch verborgene, nicht aber eine unsichtbare, der erfahrbaren Realität schlechterdings entzogene Größe darstellt.

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6. Die Einheit der Kirche und die sichtbare Gestalt kirchlicher Einheit 6.1 Wie zwischen Kirchengemeinschaft und eucharistischer Gemeinschaft, so besteht auch zwischen der Einheit der Kirche und der sichtbaren Gestalt dieser Einheit ein differenzierter Zusammenhang. Weder darf die Einheit der Kirche von der Sichtbarkeit derselben abstrakt abgehoben, noch eine bestimmte empirisch identifizierbare Person oder Personengruppe unmittelbar mit der sichtbaren Einheit der Kirche identifiziert werden. Wo dieses gemeinsam bekannt wird, stellen die zwischen unseren Kirchen gegebenen Unterschiede in der Verhältnisbestimmung von Einheit der Kirche und sichtbarer Gestalt kirchlicher Einheit, welche die Unterschiede in der Bestimmung des Verhältnisses von Kirchengemeinschaft und eucharistischer Gemeinschaft im wesentlichen hervorrufen, keine trennenden Gegensätze dar, und die verbleibenden Differenzen müssen, auch wenn sie keine volle Kirchengemeinschaft ermöglichen, bestehende eucharistische Gemeinsamkeiten nicht in Frage stellen. 6.2 Nach katholischer Auffassung leiden die lutherischen Kirchen in Theorie und Praxis an einem Mangel an sichtbarer Gestalt kirchlicher Einheit, welcher für die Frage der Kirchengemeinschaft und ihres Zusammenhangs mit der Eucharistiegemeinschaft nicht folgenlos bleibt und vor allem amtstheologischer Natur ist. Trotz solcher Vorbehalte bezüglich des in lutherischen Kirchen ausgeübten ordinationsgebundenen Amtes im Allgemeinen und des eucharistischen Dienstamtes im Besonderen muss »eine am Sukzessionsbegriff orientierte Ekklesiologie, wie sie in der katholischen Kirche gilt, keineswegs Heil schaffende Gegenwart des Herrn im lutherischen Abendmahl leugnen« (Gemeinsame römisch-katholische/evangelisch-lutherische Kommission, Kirche und Rechtfertigung. Das Verständnis der Kirche im Lichte der Rechtfertigungslehre, Paderborn/Frankfurt a.M. 1994, Nr. 203). 6.3 Nach lutherischer Auffassung steht die römisch-katholische Kirche in Theorie und Praxis in Gefahr, die Stellung des ordinationsgebundenen Amtes im Allgemeinen und die des eucharistischen Dienstamtes im Besonderen dadurch fehlzubestimmen, dass sie dessen sichtbare und hierarchisch geordnete Gestalt zwar von der in Jesus Christus vorgegebenen Einheit der Kirche unterscheidet, zugleich aber die Möglichkeit einer gegebenenfalls amtskritischen Wahrnehmung dieser Unterscheidung tendenziell entzieht. Dennoch ist von lutherischer Theologie niemals geleugnet worden, dass in einer im Sinne römisch-katholischer Lehrtradition vollzogenen Herrenmahlsfeier mit der Heilspräsenz Jesu Christi zu rechnen ist.

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Möglichkeiten eucharistischer Gastfreundschaft

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7. Möglichkeiten eucharistischer Gastfreundschaft 7.1 Da trotz verbleibender amtstheologischer Differenzen, die im Zusammenhang stehen mit unterschiedlichen Bestimmungen des Verhältnisses von Einheit und Sichtbarkeit der Kirche sowie von Kirchengemeinschaft und Eucharistiegemeinschaft, entscheidende eucharistische Gemeinsamkeiten zwischen unseren Kirchen bestehen, sind in Wahrnehmung solcher Gemeinsamkeiten Schritte eucharistischer Gemeinschaft prinzipiell möglich und wünschbar. Auch wenn diese Schritte aufgrund der konstatierten ekklesiologischen Unterschiede uneinheitlich erfolgen, können sie gleichwohl Fortschritte unserer Kirchen aufeinander zu sein, wenn der Grundsatz gewahrt wird, dass Kirchengemeinschaft und Herrenmahlsgemeinschaft weder zu separieren, noch unmittelbar in eins zu setzen sind. 7.2 Ihre Unterscheidung zwischen dem in Wort und Zeichen sich vollziehenden eucharistischen Geschehen als beständigem Wirk- und Erhaltungsmedium der in der Taufe fundierten Kirchengemeinschaft und deren sichtbarer Erscheinungsgestalt ermöglicht es lutherischen Kirchen, katholische Mitchristen am Tisch des Herrn grundsätzlich willkommen zu heißen. Indes darf die Praxis der Einladung von Katholiken zur Teilnahme an einer nach Maßgabe lutherischer Konfession vollzogenen Herrenmahlsfeier weder die Aufforderung einer Mißachtung von deren eigener Kirchengemeinschaft beinhalten noch gar als Mißachtung der differenzierten Zusammengehörigkeit von Eucharistiegemeinschaft und Kirchengemeinschaft verstanden werden. Diese Maßregeln gelten analog für den Fall, dass ein lutherischer Christ an einer katholischen Eucharistiefeier teilnimmt, was unter lutherischen Bedingungen bei gegebenen verantwortbaren Gründen möglich und auch unter katholischen Voraussetzungen nicht prinzipiell ausgeschlossen ist. 7.3 Unbeschadet ihrer amtstheologisch akzentuierten Betonung der Sichtbarkeit kirchlicher Einheit, welcher die Hervorhebung engster Verbindung von Kirchen- und Eucharistiegemeinschaft entspricht, ist es katholischer Ekklesiologie nicht unmöglich, lutherischen Christen aufgrund von der in der einen Taufe grundgelegten Inkorporation in den einen Leib Christi sowie im Bewusstsein notwendiger Selbstunterscheidung der verfassten römisch-katholischen Kirche von der einen Kirche Jesu Christi, wie sie in der Eucharistiegemeinschaft wirksamen Ausdruck findet, in Ausnahmefällen Zugang zu einer nach Maßgabe katholischer Tradition vollzogenen Herrenmahlsfeier zu gewähren bzw. ihnen unter gewissen Umständen und Bedingungen diesen Zutritt sogar zu empfehlen, ohne damit einen wie auch immer gearteten Prosyletismus bezwecken zu wollen. Unter bestimmten Konditionen schließt katholische Lehre fernerhin die Möglichkeit nicht aus, dass ein katholischer Christ in einer evangelisch-lutherischen Kirche an der Eucharistie teilnimmt.

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8. Empfehlungen für die Praxis 8.1 Trotz bislang nicht behobener amtstheologischer Differenzen, denen Unterschiede im Verständnis des Verhältnisses der in Jesus Christus gegebenen Einheit der Kirche und der Sichtbarkeit ihrer spezifischen Verfassungsgestalt sowie damit zusammenhängende Unterschiede in der Verhältnisbestimmung von Kirchen- und Eucharistiegemeinschaft entsprechen, gibt es in Anbetracht der im Zusammenhang mit dem differenzierten Konsens in der Rechtfertigungslehre erreichten abendmahlstheologischen Gemeinsamkeiten gute theologische Gründe, die bereits geübte Praxis eucharistischer Gastfreundschaft zu vertiefen und zu erweitern. Im Einzelnen legen sich folgende Empfehlungen nahe: 8.2 Die lutherische Praxis, katholische Mitchristen am Tisch des Herrn grundsätzlich willkommen zu heißen, verdient katholischerseits Respekt, sofern sie lutherischer Glaubenseinsicht entspricht und eine Entfremdung von Katholiken ihrer eigenen Kirchengemeinschaft gegenüber ebenso zu vermeiden gewillt ist wie eine Auflösung des Zusammenhangs von Eucharistiegemeinschaft und Kirchengemeinschaft. Da der erzielte differenzierte Konsens in der Lehre vom Herrenmahl das katholische Urteil ermöglicht, dass in der lutherischen Kirche das Abendmahl nicht ungültig gespendet wird, steht ein katholischer Christ, der unter bestimmten Umständen an einer lutherischen Abendmahlsfeier teilnimmt, nicht im Widerspruch zu seiner Kirche. 8.3 Die katholische Praxis, lutherischen Mitchristen nur in Ausnahmefällen Zugang zur Eucharistiefeier zu gewähren, verdient lutherischerseits Respekt, sofern sie katholischer Glaubenseinsicht entspricht und Indifferentismus zu vermeiden sowie den untrennbaren Zusammenhang von Kirchen- und Eucharistiegemeinschaft zu wahren sucht. Da der erzielte differenzierte Konsens in der Lehre vom Herrenmahl das lutherische Urteil ermöglicht, dass in der katholischen Kirche das Abendmahl nicht stiftungswidrig gespendet wird, steht ein evangelisch-lutherischer Christ, der unter bestimmten Umständen an einer katholischen Abendmahlsfeier teilnimmt, nicht im Widerspruch zu seiner Kirche. 8.4 Bei der Bestimmung der Umstände, unter denen es möglich oder naheliegend ist, dass ein lutherischer Christ an einer katholischen bzw. ein katholischer an einer lutherischen Abendmahlsfeier teilnimmt, sind Aspekte ekklesiologischer Gesamtverantwortung ebenso in Betracht zu ziehen wie die Rücksicht auf den Gewissensentscheid des Einzelnen in seiner unvertretbaren Individualität. Dies macht es schwierig und in gewisser Hinsicht unmöglich, zu einer definitiven Bestimmung der besagten Umstände zu gelangen. Im Bewusstsein, dass jede denkbare Liste von Konditionen nur als offene Reihe

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Empfehlungen für die Praxis

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verstanden werden kann, sei daher wegen seiner besonderen Dringlichkeit lediglich der Fall der konfessionsverschiedenen Ehe zum exemplarischen Anlass einer spezifischen Empfehlung genommen: Die zwischen einem katholischen und einem evangelischen Partner geschlossene Ehe sollte aus internen Gründen, also aus Gründen, die der Faktizität der konfessionsverschiedenen Ehe selbst innewohnen, als ein Umstand gelten, unter dem in der Regel und nicht lediglich im Ausnahmefall die Teilnahme an der Kommunion in beiden Kirchen ermöglicht wird. Entsprechendes gilt unter der Voraussetzung vorhandener Kommunionsmündigkeit für die Kinder der beiden Ehepartner. 8.5 Im Übrigen ist in Erinnerung zu bringen, was bereits im Bericht der Evangelisch-lutherischen/Römisch-katholischen Studienkommission »Das Evangelium und die Kirche« (»Malta-Bericht«) von 1972 vorgeschlagen wurde: »Alle Schritte der Kirchen müssen von dem ernsten Bemühen bestimmt sein, der Einheit der Kirchen näherzukommen. In der Anomalie unserer heutigen kirchlichen Trennungen wird diese Einheit nicht auf einmal hergestellt werden können. Es gilt einen Weg sukzessiver Annäherung zu gehen, auf dem verschiedene Stadien möglich sind. Schon jetzt ist zu befürworten, dass die kirchlichen Autoritäten aufgrund der schon vorhandenen Gemeinsamkeiten in Glauben und Sakrament und als Zeichen und Antizipation der verheißenen und erhofften Einheit gelegentliche Akte der Interkommunion (etwa bei ökumenischen Anlässen, in der Mischehenseelsorge) ermöglichen. Die Unklarheit hinsichtlich einer gemeinsamen Lehre vom Amt bildet noch eine Schwierigkeit für wechselseitige Interkommunionsvereinbarungen. Jedoch darf die Verwirklichung eucharistischer Gemeinschaft nicht ausschließlich von der vollen Anerkennung des kirchlichen Amts abhängig gemacht werden.« (Nr. 73; vgl. ferner beispielsweise Nr. 72 f des Berichts der Gemeinsamen Römisch-katholischen/Evangelisch-lutherischen Kommission »Das Herrenmahl« von 1978.)

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Nachweis der Erstveröffentlichungen I. Evangelisches Bekenntnis und Wittenberger Reformation Reformationsjubiläum 2017. Historische Prolegomena (bisher unveröffentlicht) Theologia positiva acroamatica. Eine Erinnerung an das Dogmatikkompendium Johann Friedrich Königs von 1664 (bisher unveröffentlicht) »… der Unterscheid des Gesetzes und Evangelii als ein besonder herrlich Licht« (BSLK 790, 21 f.). Fallbeispiele zur Aufnahme des hermeneutischen Kriteriums der Wittenberger Reformation in der Dogmatik des 20. Jahrhunderts (veröffentlicht in: R. Rittner [Hg.], Was heißt hier lutherisch! Aktuelle Perspektiven aus Theologie und Kirche, Hannover 2004, 104 – 163) »Si quis aliud evangelium evangelizaverit, anathema sit.« (AC VII,48) Häresie nach reformatorischem Verständnis (veröffentlicht in: Ostkirchliche Studien 52 [2003], 154 – 176) Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis. Ein Beitrag zur Strukturdebatte der EKD (veröffentlicht in: Soll das Augsburger Bekenntnis Grundbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland werden? Ein Votum der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland. EKD-Texte 103, Hannover 2009, 19 – 30)

II. Orthodoxer Glaube und ostkirchliche Tradition Den Griechen ein Grieche? Die Confessio Augustana Graeca von 1559 und der Briefwechsel der Leitung der Württembergischen Kirche mit Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573 – 1581 im Kontext der Konkordienformel von 1577 (veröffentlicht in: Th. Nikolaou [Hg.], Das Schisma zwischen Ost- und Westkirche. 950 bzw. 800 Jahre danach [1054 und 1204], Münster 2004, 115 – 141) Orthodoxie im Gespräch. Zentralthemen ihrer bilateralen Ökumenedialoge auf Weltebene (bisher unveröffentlicht) Filioque. Kontexte einer Kontroverse (bisher unveröffentlicht)

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Nachweis der Erstveröffentlichungen

III. Kirchliche Katholizität und römischer Katholizismus Die große Gottesidee »Kirche«. Joseph Ratzinger über Katholizimus, Orthodoxie und Reformation (veröffentlicht in: MThZ 56 [2005], 449 – 471) »Es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei« (ASm III). Von der Katholizität evangelischer Ekklesiologie (veröffentlicht in: W. Müller, Katholizität – Eine ökumenische Chance, Zürich 2006, 99 – 116) Skizze des Entwurfs einer Gemeinsamen Erklärung zur Lehre vom Herrenmahl (veröffentlicht in: T. Karttunen [Ed.], Oppi ja maailmankuva. Prof. Eeva Martikaisen 60-vuotisjuhlakirja, Helsinki 2009, 155 – 168)

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Namensregister

Althaus, Paul 116f, 121, 127f, 130ff, 153f Ambrosius, Aurelius 255 Amsdorff, Nikolaus 211 Andreae, Jakob 205, 207 Anselm von Canterbury 257ff, 276, 282 Aristoteles 70f, 256, 260 Arius 250f, 259 Athanasius von Alexandrien 204, 251 Augustin 12, 16, 46, 255ff, 313ff Barth, Hermann 193 Barth, Karl 13, 37, 116, 119ff, 127f, 138, 141, 146, 161, 172ff, 178f, 281, 302, 305 Basilius von Caesarea 204, 251, 252 Bauer, Walter 165, 167 Benz, Ernst 199 Beza, Theodor 21 Brunner, Emil 117, 128, 138ff, 153f Bucer, Martin 21 Bullinger, Heinrich 21, 32 Bultmann, Rudolf 117, 146ff Calvin, Johannes 21, 32ff, 139 Crusius, Martin 205 Dandolo, Enrico 197 Dolscius (Döltsch), Paulus 202f Ebeling, Gerhard 117, 154ff Elert, Werner 116ff, 153f Elze, Martin 167 Eugen IV. 198 Farel, Wilhelm 21 Ferdinand I. 43, 50 Ferdinand II. 68

Flacius, Matthias 21, 208, 211 Frank, Franz Hermann Reinhold 349 Gensichen, Hans-Werner 168 Georg von Anhalt 21 Gerlach, Stephan 205 Gogarten, Friedrich 117, 146 Goppelt, Leonhardt 167 Gregor d. Gr. 232 Gregor von Nazianz 251f Gregor von Nyssa 251f Gregor von Zypern 266ff Gregorios Palamas 204, 267ff Hamm, Berndt 24f Harnack, Adolf von 350 Heim, Karl 127 Herzog Ulrich von Württemberg 7 Herzog Wilhelm von Baiern 7 Hieronymus von Prag 21 Hilarius von Poitiers 255 Hirsch, Emanuel 116f, 133ff, 153 Hirschler, Horst 191 Hofmann, Johann Christian Konrad 349 Homeyer, Josef 331 Hus, Jan 21 Irenäus 167, 204 Jeremias II. 18, 197, 205f, 209, 211, 213, 216f, 243, 263 Joasaph II. 199, 204, 217 Johannes XXIII. 336ff Johannes Chrysostomos 210, 216 Johannes Paul II. 337 Johannes von Damaskus 283f, 287 Jon, Franz du 21

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Namensregister

Josephus, Flavius 166 Karl d. Gr. 244 Karl V. 43f, 49, 54, 67f, 200 Kasper, Walter 331ff Kaufmann, Thomas 10 Kliefoth, Theodor 349 Knox, John 21, 32 Knuth, Hans Christoph 191 König, Johann Friedrich 70ff, 245ff Kretschmar, Georg 47 Laski, Jan 21 Lau, Franz 22 Luther, Martin 7f, 21f, 25, 32, 35, 47ff, 55ff, 71, 150f, 164f, 168, 183, 198f, 214, 287, 292, 339f, 345, 347f Lutz, Heinrich 55 MacCulloch, Diarmaid 10 Major, Gregor 211 Marius Victorinus 255 Markos Eugenikos 269f Marnix, Philipp 21 Melanchthon, Philipp 7, 21, 159f, 199ff, 207, 214ff, 340, 345, 347 Moeller, Bernd 22 Moltmann, Jürgen 303ff Müntzer, Thomas 59 Nipperdey, Thomas 17, 36 Novatian 255 Oekolampad, Johannes 21 Opitz, Martin 292 Origenes 249f Pannenberg, Wolfhart 304f, 308 Paulus 12f, 151, 160f, 167, 210, 336, 353f Pesch, Otto Hermann 338 Petrus Lombardus 139 Pfeffinger, Johannes 207 Philipp II. 49

Philo von Alexandrien 166 Photios 263ff, 270f, 279 Pius IX. 336f Rahner, Hugo 49 Rahner, Karl 276, 305 Ratzinger, Joseph / Papst Benedikt XVI. 18, 313ff Reinhard, Wolfgang 28f Rist, Johann 292 Ritschl, Albrecht 349 Sabellius 259 Schilling, Heinz 41ff Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 16, 37, 161, 171, 174ff, 349 Schnepf, Erhard 7, 208 Schulze, Winfried 53 Seckendorf, Veit Ludwig von 10 Seehofer, Arsacius 7f Servet, Michael 56 Sleidan, Johannes 21 Sparn, Walter 45 Strigel, Viktorin 208 Stubenrauch, Bertram 8 Tertullian 255, 293 Theodoret 204 Thomas von Aquin 70, 162ff, 259ff Tillich, Paul 16, 117 Troeltsch, Ernst 350f Vermigli, Petrus 21 Vletis, Athanasios 8 Weber, Max 35 Wendebourg, Dorothea 22f, 215f Werner, Martin 166 Wiedemann, Theodor 7 Wyclif, John 21 Zanchi, Hieronymus 21 Zwingli, Ulrich 21, 32f, 35

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525563625 — ISBN E-Book: 9783647563626