Gert Ledigs gewaltsamer Stil: Gewalt und Trauma in der literarischen Darstellung 9783110657128, 9783110651973

This work examines Gert Ledig’s depiction of the Second World War as a fundamentally traumatic event both on the front l

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Gert Ledigs gewaltsamer Stil: Gewalt und Trauma in der literarischen Darstellung
 9783110657128, 9783110651973

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einführung
2. Unangemessenheit des Leibes
3. Identitäten: Eigen- und Fremdbilder
4. Verkehrte Welt und Apokalyptik
5. Formen der Dienstentziehung
6. Traumata und Traumatisierungen
7. Gewaltsamer Stil
8. Traumabewältigung durch Schreiben
9. Rezeptionsgeschichte
10. Fazit
11. Literaturverzeichnis
Register

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Florian Hoppe Gert Ledigs gewaltsamer Stil

Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte

Band 158

Florian Hoppe

Gert Ledigs gewaltsamer Stil Gewalt und Trauma in der literarischen Darstellung

Diese Arbeit hat der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg als Dissertation vorgelegen. Erstgutachter: Prof. Dr. Hans-Peter Ecker, Otto-Friedrich-Universität Bamberg Zweitgutachterin: Prof. Dr. Andrea Bartl, Otto-Friedrich-Universität Bamberg Tag der mündlichen Prüfung: 08.05.2019

ISBN 978-3-11-065197-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065712-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065793-7 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2019956300 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Danksagung

VII

 . . .

Einführung 1 Trauma und Literatur Forschungsüberblick Ziele der Arbeit 12

 . . .

Unangemessenheit des Leibes 15 Unmöglichkeit einer sinnhaften Erfahrung Unzulänglichkeit der sinnlichen Erfahrung Ästhetisierte Darstellung und Erhabenheit

 . . . . . .

Identitäten: Eigen- und Fremdbilder 43 Grundlagen 43 44 Militärische Identitäten Zivile Identitäten 61 Zivilisationsverlust vs. Menschlichkeit 68 Geschlechteridentität Fremd- und Feindbilder 72

 . .

Verkehrte Welt und Apokalyptik 82 83 Groteske und entfremdete Welt Chaos und fehlende Sinnstiftung 94

 . . .

108 Formen der Dienstentziehung Grundlagen 108 Fahnenflucht 111 Selbstverstümmelung und Suizid

 . .

Traumata und Traumatisierungen 133 Grundlagen 135 Unsagbarkeit vs. Drang zum Sprechen: Traumata in der Literatur 138 Zivile Traumata 141 Literarische Annäherungen an den Bombenkrieg 144 Traumata in Gert Ledigs Romanen 151

. . .

1 2

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66

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VI

Inhalt

 . . . . . .

Gewaltsamer Stil 167 167 Begriff und Grundlagen Das „Vor-Augen-Führen“ 168 Lakonie und grausame Pointen 172 Gehetzter Stil 174 Aufhebung der Ordnung und Orientierung Wirkung 179

 . . .

184 Traumabewältigung durch Schreiben Grundlagen 184 187 Literarische Beispiele Ledigs Romane als Traumabewältigung

 . . . .

Rezeptionsgeschichte 196 Allgemein 196 Rezeption bei der Erstveröffentlichung 196 Wiederentdeckung: Die Debatte um Luftkrieg und 206 Literatur Rezeption bei der Wiederveröffentlichung 219



Fazit

 . .

Literaturverzeichnis 241 241 Primärliteratur Sekundärliteratur 242

Register

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Danksagung Dieses Buch wäre nicht denkbar ohne zahlreiche Unterstützung. Daher sei an dieser Stelle jenen von Herzen gedankt, die einen unschätzbaren Beitrag zu seiner Fertigstellung geleistet haben. An erster Stelle ist hier mein Doktorvater Prof. Dr. Hans-Peter Ecker zu nennen, der mein Promotionsvorhaben von Anfang gefördert und mit viel Wohlwollen und Geduld begleitet hat. Seine Ratschläge und Anregungen haben mir immer neue Perspektiven eröffnet und waren ein großer Gewinn für diese Arbeit. Dasselbe gilt auch für Prof. Dr. Andrea Bartl, die als zweite Betreuerin ebenfalls entscheidenden Anteil am Erfolg des Unterfangens hatte. Dr. Roja Dehdarian hat mit viel Geduld jede meiner Fragen rund um das Promotionsverfahren beantwortet, wofür ihr herzlich gedankt sei. Dr. Brigitte Egger hat mit einer Promotionsstelle bei der Enzyklopädie der Neuzeit nicht nur das berufliche Umfeld geschaffen, in dem ich diese Arbeit überhaupt erst beginnen konnte, sondern hat es mir auch ermöglicht, viel von ihr zu lernen, wovon dieses Buch immens profitiert hat. Thomas Stichler hat über Jahre hinweg nach der Lektüre von Rohfassungen wertvolle Rückmeldung zur Arbeit gegeben und dabei zum Glück nicht mit ebenso berechtigter wie konstruktiver Kritik hinterm Berg gehalten. Jun.-Prof. Dr. EvaMaria Roelevink und Dr. Elise Wintz haben sich um diese Arbeit verdient gemacht, indem sie auf der Zielgeraden unabhängig voneinander maßgebliche Impulse für ihren überfälligen Abschluss gegeben haben. Cordula Huberts scharfem Auge sind anschließend kein Fehler und keine Ungereimtheit entgangen (wenn sich jetzt noch derlei findet, so ist das allein meine Schuld, da ich es nicht lassen konnte, danach doch noch mehrfach an den Text zu gehen). Meinen De GruyterKolleg*innen Dr. Manuela Gerlof, Dr. Marcus Böhm, Susanne Rade und Anett Rehner sei für die Aufnahme in die „Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte“ und die ebenso professionelle wie sympathische Unterstützung bei der Drucklegung gedankt. Der größte Dank aber gebührt meiner Familie, die mich jahrelang unterstützt, bestärkt und aufgebaut hat und die immer wieder auch auf mich verzichten musste: meinen Kindern Emilia und Jonathan, meinen Eltern und meinen Brüdern, vor allem aber meiner Frau Sabine Hoppe, die während der ganzen Zeit sowohl mein größter Rückhalt und meine nicht versiegende Kraftquelle als auch meine kritischste Leserin und inspirierendste Diskussionspartnerin war – ihr ist dieses Buch in Liebe gewidmet.

https://doi.org/10.1515/9783110657128-001

1 Einführung 1.1 Trauma und Literatur Krieg stellt eine Extremsituation für alle Beteiligten dar. Die ihm inhärente Gewalt ist nicht nur in der Regel direkt gegen das menschliche Leben gerichtet, sondern führt auch zu einer massiven psychischen Belastung – nicht nur bei denen, die diese Gewalt erfahren und überleben, sondern auch bei jenen, die sich gezwungen sehen, sie gegen andere Menschen anzuwenden. Dasselbe gilt für die Zeugen. Nicht selten wirkt diese Gewalterfahrung traumatisch und zeitigt somit langfristige Folgen selbst dann, wenn die Betroffenen physisch unversehrt davonkommen oder nicht Ziel, sondern Agent oder „nur“ Beobachter der Gewalt sind. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Forschung zu diesem Thema gewaltige Fortschritte gemacht, und mit der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS; häufig auch engl. posttraumatic stress disorder, PTSD) ist ein klar diagnostizierbares Krankheitsbild etabliert und behandelbar. Dieses ist zwar nicht auf kriegerische Auslöser beschränkt, doch zählen zu den potentiell traumatischen Ereignissen – neben Unfällen, Naturkatastrophen und schweren Krankheiten – vor allem Situationen intentioneller zwischenmenschlicher Gewalt. Besondere Aufmerksamkeit haben vor allem zwei schwere Formen der Traumatisierung erhalten, die beide im Zusammenhang mit großen kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts stehen: das sogenannte HolocaustSyndrom bei Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden¹ und die Traumatisierungen US-amerikanischer Soldaten, die im Vietnamkrieg gekämpft haben. In der deutschen Öffentlichkeit erfährt die Thematik im Zusammenhang mit Soldaten, die aus Afghanistan heimkehren, inzwischen größere Aufmerksamkeit.² Immer noch wenig erforscht sind dagegen die Traumatisierungen deutscher Soldaten und Zivilisten im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Relevant ist die Thematik aber nicht nur für die Medizin/Psychologie und die Zeitgeschichte, sondern aufgrund der Rolle, die (Erinnerungs‐)Literatur innerhalb

 Auch Überlebensschuldsyndrom oder KZ-Syndrom.  Zur literarischen Behandlung, gerade auch der Kriegstraumata, vgl. Wolting, Monika: Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankriegs in der deutschen Gegenwartsliteratur. Heidelberg, 2019. Breitenwirksam thematisierten in den vergangenen Jahren mehrere Folgen von „Tatort“ Afghanistanheimkehrer sowie ihre Unfähigkeit, das Erlebte zu verarbeiten, und ihre Probleme bei der Integration in eine zivile Gesellschaft: „Heimatfront“ (2011), „Fette Hunde“ (2012) und „Taxi nach Leipzig“ (2016). https://doi.org/10.1515/9783110657128-002

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1 Einführung

der Erinnerungskultur spielt, auch für die Literaturwissenschaft – nicht zuletzt, da literarische Texte es vermögen, Deutungsangebote für die traumatischen Erfahrungen bereitzustellen, die trotz ihrer Subjektivität gesellschaftlich anschlussfähig sein können. Bei der Betrachtung dieser Texte sind verschiedene Fragen in den Blick zu nehmen: Welche Erzählformen stehen zur Verfügung, um Ereignisse darzustellen, die sich tendenziell der Narration entziehen, auch und gerade, weil es Teil ihrer Folgen ist, dass die Beteiligten sie nicht vollständig verarbeiten konnten und mithin keine Worte dafür finden? Wie lassen sich die Aspekte des Krieges, die eine Traumatisierung nach sich ziehen können, adäquat literarisch darstellen? Welche Rolle spielt eine möglichst „authentische“ Wiedergabe – sowohl für die literarische Qualität als auch für die Rezeption? Welche Funktion kann Erinnerungsliteratur innerhalb der Therapie von Traumatisierungen spielen? Und schließlich: Wie werden entsprechende Texte von der Gesellschaft rezipiert? Ein besondere Ebene kommt hinzu, wenn man Texte untersucht, die die Leiden deutscher Soldaten und Zivilisten im Zweiten Weltkrieg thematisieren. Hier stellt sich zusätzlich die Frage, wie man diese darstellen kann, ohne gleichzeitig das Leid, das das nationalsozialistische Deutschland mit dem Weltkrieg und der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden und anderer Bevölkerungsgruppen verursacht hat, zu relativieren. Dies wurde besonders offensichtlich, als Ende der 1990er Jahre in der Debatte um W.G. Sebalds Thesen zu „Luftkrieg und Literatur“ entsprechende Erzähltabus postuliert wurden. Blickt man auf die deutsche Nachkriegsliteratur, so stößt man an der Schnittstelle dieser Fragestellungen schnell auf Gert Ledig und seine drei Romane Die Stalinorgel (zuerst 1955), Vergeltung (zuerst 1956) und Faustrecht (zuerst 1957). Denn wie keinem Zweiten ist es Ledig gelungen, die extreme Gewaltförmigkeit des technisierten, totalen Krieges und ihre Auswirkungen auf das Individuum in Worte zu fassen. Darzustellen, zu welchen literarischen Mitteln Ledig hierfür gegriffen hat, und die oben genannten Fragen für sein Werk zu beantworten, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit.

1.2 Forschungsüberblick Bevor Ausrichtung und Ziel der Arbeit genauer dargestellt werden, soll zunächst ein Überblick über die vorliegende Literatur zu Gert Ledig und seinen Romanen gegeben werden. Daraus wird dann hergeleitet, welche Forschungslücke in der vorliegenden Arbeit geschlossen werden soll. Betrachtet seien hierbei zunächst Überblicksdarstellungen zum Kriegsroman des Zweiten Weltkriegs, anschließend Monographien und Aufsätze, die sich ausschließlich oder zumindest primär mit

1.2 Forschungsüberblick

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Ledig beschäftigen. Trotz des frühen Erfolgs und des Medienechos rund um die Wiederentdeckung im Zuge der von W.G. Sebald angestoßenen Debatte um Luftkrieg und Literatur ist die Zahl dieser Arbeiten überschaubar. In den vergangenen Jahrzehnten sind mehrere Monographien erschienen, die unter verschiedenen Blickwinkeln versucht haben, das große Korpus der deutschsprachigen Literatur zum Zweiten Weltkrieg zu katalogisieren, zu kategorisieren und letztlich auch in Teilen zu kanonisieren. Es sei hier hingewiesen auf Bernd Zabels Darstellung und Deutung des zweiten Weltkrieges in der westdeutschen Literatur 1945 – 1960 von 1978, Jochen Pfeifers Der deutsche Kriegsroman 1945 – 1960. Ein Versuch zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte von 1981 und Thomas Krafts Studie Fahnenflucht und Kriegsneurose. Gegenbilder zur Ideologie des Kampfes in der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg von 1994. Daneben soll Susanne Vees-Gulanis Trauma and Guilt. Literature of Wartime Bombing in Germany aus dem Jahr 2003 in den Blick genommen werden, das neben deutschen Texten auch anderssprachige Werke untersucht. Bernd Zabel ist für die angestellte Untersuchung von Ledigs Romanen unergiebig, da er sie komplett ausklammert. Bei Jochen Pfeifer finden sich viele Pauschalaussagen, die der Bandbreite der untersuchten Romane nicht gerecht werden und teils auch inkonsistent sind. So zählt er Ledig zunächst zum Hemingway’schen Epigonentum, führt Die Stalinorgel dann aber wegen der gekonnten Verbindung von Stil und Inhalt als gutes Beispiel für den „Roman der Härte“ an und rechnet den Roman schließlich unter die beste deutsche Literatur über den Zweiten Weltkrieg.³ Vergeltung sieht er allerdings nur noch als Aufguss des Erstlings ohne Neuerungen.⁴ Die Stalinorgel findet auch bei Thomas Kraft immer wieder Erwähnung, häufig kommt aber auch er nicht über pauschale Aussagen hinaus, die nur selten belegt werden. So wird die Einschätzung, dass sich zuweilen „die Beschreibung des Blutbads […] verselbständigt und die Motive der Figuren im Dunkeln bleiben“⁵, nicht mit Beispielen untermauert. Häufiger noch kommt es vor, dass zwar Themen besprochen werden, die bei Ledig behandelt werden, aber kein Bezug auf sein Werk stattfindet. Dies ist etwa der Fall, wenn beschrieben wird, wie Romane die Unmöglichkeit persönlichen Heldentums demaskieren, weil die Individualität

 Pfeifer, Jochen: Der deutsche Kriegsroman 1945 – 1960. Ein Versuch zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte. Königstein/Ts. 1981, 23, 81, 178.  Ebd., 8.  Kraft, Thomas: Fahnenflucht und Kriegsneurose. Gegenbilder zur Ideologie des Kampfes in der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg.Würzburg 1994, 80. Ähnlich auch ebd., 116, wo Kraft von „exzessiven Ausschreitungen“ in Ledigs Erstling spricht, aber offen lässt, welche Passagen er damit meint.

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1 Einführung

des Einzelnen hinter der technischen Funktionalität des Soldaten völlig in den Hintergrund trat.⁶ Auch bei der Diskussion der nur selten beschriebenen Folgen von Desertion fehlt der Hinweis auf die entsprechende Passagen bei Ledig (s.u. 5.2).⁷ Susanne Vees-Gulani untersucht verschiedene Romane, die sich mit den alliierten Luftangriffen auf die deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg beschäftigen – darunter Vergeltung –, auf Symptome und Charakteristika einer posttraumatischen Belastungsstörung bei den Figuren. Daneben betont sie, dass es die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen befördert, diese in narrative Strukturen zu fassen – sei es als Augenzeugenbericht, sei es in literarischer Form. In Vergeltung identifiziert sie verschiedene Verhaltensweisen bei den Figuren, die auf ein Trauma hinweisen (so den Verlust der Zeitwahrnehmung und der ordnenden Funktion von Zeit sowie die stark reduzierte Relevanz ethischer und moralischer Standards).⁸ Daneben weist sie auf persönliche Erlebnisse Ledigs hin, die vermutlich den Hintergrund für einzelne Passagen des Romans bilden.⁹ Sie legt damit eine Grundlage für die in der vorliegenden Arbeit angestellten Überlegungen zur Traumabewältigung durch Schreiben bei Ledig und anderen Autoren (s.u. 8.). W.G. Sebalds Beschäftigung mit den literarischen Repräsentationen des Zweiten Weltkriegs sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt¹⁰, da seine Auseinandersetzung mit Gert Ledig später in einem eigenen Kapitel behandelt wird (s.u. 9.3). Fruchtbarer als die kurzen Passagen zu Ledig in den genannten einschlägigen Monographien ist die Beschäftigung mit den Aufsätzen, die in den Jahren nach der Wiederentdeckung Ledigs erschienen sind und sich mit unterschiedlichen Aspekten seines Werkes befassen. Ursula Heukenkamp befasst sich in ihrem Aufsatz zur „Gestörten Erinnerung“ mit den Versuchen, von den Erfahrungen des Bombenkriegs zu erzählen – sei es in autobiographischer Form, als Augenzeugenbericht oder literarisch. Im Zentrum

 Ebd., 92 f. Hier hätte sich der Verweis auf Ledigs Figuren angeboten, die fast nie Namen tragen, sondern in der Regel auf ihre Dienstgrade oder Funktionsbezeichnungen reduziert sind (s.u. 3.2).  Ebd., 112. Später (126) erwähnt Kraft die Verhandlung in einem Satz und spricht von der „Farce einer Gerichtsverhandlung“. Im Kontext von Selbstverstümmelung und Krankheitssimulation geht Kraft dagegen ausführlicher auf Ledig ein: ebd., 113 f.  Vees-Gulani, Susanne: Trauma and Guilt. Literature of Wartime Bombing in Germany. Berlin/ New York 2003, 88 f.  Ebd., 90 – 92.  Sebald, Winfried G.: Luftkrieg und Literatur. Frankfurt am Main 2001.

1.2 Forschungsüberblick

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ihres Interesses steht dabei der sprachliche Ausdruck, den die Überlebenden finden bzw. nicht finden und auch nicht finden konnten, „weil der gesamte Erfahrungskomplex zu keiner Zeit einen Ort in der Gesellschaft besaß“¹¹, unter anderem weil er bereits während des Krieges aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen wurde: Der Krieg fand an der Front statt, nicht in der Heimat; zuständig für die Aufräumarbeiten waren zivile Institutionen, die Toten waren zivile Opfer. Obwohl diese traditionelle Dichotomie offensichtlich aufgehoben war, hielt sie sich bis weit in die 1950er Jahre. Die Folge ist für Heukenkamp eine in der Regel stereotype, mit sprachlichen Klischees beladene Beschreibung des Bombenkriegs, die auf die subjektive Erfahrung reduziert ist und größere historische Zusammenhänge wie nicht zuletzt die Schuldfrage ausblendet. Vergeltung wird in diesem Kontext von ihr dennoch kaum in sprachlicher Hinsicht behandelt, sondern vor allem für seine weitere Kontextualisierung hervorgehoben, da der Roman „der einzige Versuch“ sei, „den Toten des Bombenkriegs einen Platz unter den Opfern von Krieg und Gewalt zuzuweisen“, und durch die anschauliche Darstellung des menschlichen Leidens einen Vorgeschmack auf kommende Konflikte biete.¹² Jan-Pieter Barbian bietet in seinem Beitrag zur Festschrift zum 65. Geburtstag von Hubert Orłowski einen gelungenen knappen Überblick über Ledigs Vita, Die Stalinorgel und Vergeltung sowie ihre Rezeptionsgeschichte. Einführend betont er in diesem Kontext vor allem die Bedeutung der „Zeitzeugenschaft von Schriftstellern, Journalisten, Fotografen und Filmregisseuren“ angesichts einer „mangelhafte[n] Verinnerlichung von Kriegserfahrungen“ und dem „Versagen der politischen Mechanismen zur Prävention von Kriegen“¹³ seit 1945. Dieser wichtige Ansatz bleibt jedoch im Laufe des Aufsatzes weitgehend uneingelöst zugunsten einer sehr grundlegenden Behandlung von Ledigs Leben und Werk. Andreas Hensel bricht in seinem Aufsatz Tabentes Populi. Grausige Bilder des Krieges in Lucans ‚Pharsalia‘ und Gert Ledigs ‚Vergeltung‘ ¹⁴ eine Lanze für die Verwendung des Lucan’schen Werkes zum römischen Bürgerkrieg der Jahre  Heukenkamp, Ursula: Gestörte Erinnerung. Erzählungen vom Luftkrieg. In: Heukenkamp, Ursula (Hg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945 – 1961). Amsterdam 2001, 471.  Ebd., 487.  Barbian, Jan-Pieter: Geschichte(n) mit tödlichem Ausgang. Der Zweite Weltkrieg in den Romanen von Gert F. Ledig. In: Bialek, Edward; Durzak, Manfred; Zybura, Marek (Hg.): Literatur im Zeugenstand. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hubert Orłowski. Frankfurt am Main 2002, 354.  Hensel, Andreas: Tabentes populi. Grausige Bilder des Krieges in Lucans „Pharsalia“ und Gert Ledigs „Vergeltung“. In: Festschrift für Hans-Joachim Glücklich, hg. vom Landesverband Rheinland-Pfalz im Deutschen Altphilologenverband. Speyer 2005, 55 – 69.

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1 Einführung

49 – 47 v. Chr. im schulischen Lateinunterricht. Beiden Texten attestiert er wegen ihrer schonungslosen Darstellung der Kriegsgewalt ein großes Potential, gerade jugendlichen Lesern brutale Kriegsrealitäten zu verdeutlichen und zu verinnerlichen. Texte, die stärker klassischen ästhetischen Vorstellungen folgen und in ihrer Darstellung weniger drastisch und unmittelbar sind, hält er dafür nicht geeignet. Hensels Fokus liegt dabei vor allem auf den Pharsalia, er empfiehlt aber Vergeltung als weiterführenden Vergleichstext. Er begründet dies mit textgestalterischen Parallelen wie der „Aufsplitterung des Erzählkontinuums in Erzählfragmente“, der sprachlichen Beschleunigung durch Parataxe, der Schilderungen verschiedener Todesarten im Krieg und der Unmöglichkeit religiöser Sinnstiftung in der Extremsituation.¹⁵ Auf der Grundlage von Walter Benjamins Überlegungen zum technisierten modernen Krieg¹⁶ beschäftigt sich Andreas Hoeschen mit den Möglichkeiten der Erfahrbarkeit eines solchen Krieges für den Einzelnen und mithin mit den Möglichkeiten, ihn wiederum für Dritte literarisch präzise und unverfremdet erfahrbar zu machen.¹⁷ Als Gegenstand dient ihm hierzu neben Texten Ernst Jüngers auch Vergeltung. Wo Jünger den Krieg als für den Einzelnen durchaus erbauliches Naturschauspiel zeichne, verliere er unter Ledigs klinischem Blick seinen erhabenen Charakter; dasselbe gelte für die physische Zerstörungskraft der technischen Kriegsmittel: Hoeschen kontrastiert die zwar verdreckten, aber unversehrten Landsergesichter und -körper Jüngers mit der Phänomenologie der Verstümmelung und Vernichtung des menschlichen Körpers, die Ledigs Romane bieten. Er leistet damit einen maßgeblichen Beitrag zur Ausleuchtung jenes Aspekts von Ledigs Werk, der im späteren Verlauf der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Adorno „Unangemessenheit des Leibes“ genannt wird (s.u. 2.): die Unmöglichkeit einen sinnhaften, sinnlichen Erfahrung des Krieges, die wiederum eine Grundvoraussetzung für seine mit Sinn behaftete literarische Repräsentation ist. Gabriele Hundrieser löst Ledigs Romane aus der Sebald-Diskussion und bettet sie ein in den größeren Kontext mehrerer Debatten um die vermeintlich mangelnde literarische Repräsentation deutscher Leiden im und nach dem

 Ebd., 65 f.  Benjamin, Walter: Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift „Krieg und Krieger“. Herausgegeben von Ernst Jünger. In: Benjamin, Walter: Kritiken und Rezensionen. Gesammelte Schriften, Bd. 3. Unter Mitw. von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser), 1981, 238 – 250.  Hoeschen, Andreas: Attitüden der Präzision oder genaue Beschreibung? Zur Literarisierung technischer Destruktivität bei Ernst Jünger und Gert Ledig. In: Frank, Gustav; Palfreyman, Rachel (Hg.): Modern Times? German Literature and Arts beyond Political Chronologies. Kontinuitäten der Kultur: 1925 – 1955. Bielefeld 2005, 167– 184.

1.2 Forschungsüberblick

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Zweiten Weltkrieg (so z. B. in der Folge des Erscheinens sowohl von Grass’ Novelle Im Krebsgang als auch von Jörg Friedrichs Der Brand im Jahr 2002).¹⁸ Ledigs Romane sieht sie dabei als besonders eklatantes Beispiel dieser Leerstelle, die „Leerstelle der Leerstelle“ also. Ihr Interesse gilt dabei den Gründen für Ledigs Verschwinden in der literarischen Versenkung. Weder Sebalds biographische Erklärung vom rastlosen Einzelgänger Ledig, der nicht in der Gruppe 47 war, noch sozialhistorische Ansätze über Ledigs DDR-Sympathie können sie restlos überzeugen, wenn sie diesen Faktoren auch einen nicht bezweifelbaren Beitrag zuschreibt. Da Die Stalinorgel unbestreitbar auch 1955 ein Erfolg war, fragt Hundrieser danach, was anschließend zur Verdammung von Vergeltung und damit von Ledig führte. Sie kommt zu dem Schluss, dass der Roman traditionelle Elemente der Kriegserzählung „in einer Form radikalisiert, die ihn deutlich aus der Konvention heraushebt“.¹⁹ In Verbindung mit einer subjektivierten Kriegsgewalt, die nicht mehr teleologisch eingebunden werde, führte dies für Hundrieser zur Ablehnung des Romans. Für die Beschäftigung mit Ledigs gewaltsamem Stil (s.u. 7) bildet der Aufsatz somit eine zentrale Grundlage. Colette Lawson²⁰ untersucht die Zusammenhänge zwischen Sebald und Ledig und argumentiert dafür, dass Vergeltung Sebalds Thesen zu Luftkrieg und Literatur nicht widerlege, sondern vielmehr stütze. Denn der Roman sei ein exzellentes Beispiel für die literarische Umsetzung dessen, was Sebald „Naturgeschichte“ der Zerstörung²¹ nennt: ein Narrativ des Krieges, dessen Subjekt nicht die Menschen sind, sondern der Krieg selbst, ein Narrativ, das ganz nah an den Vorgängen ist, dabei aber nüchtern und unbeteiligt bleibt und seinen Gegenstand nur sinnlich, aber nicht rational-erklärend erfasst. Anschließend stellt Lawson Parallelen zwischen Vergeltung und Sebalds eigenem Versuch eines solchen Narrativs in Luftkrieg und Literatur her (z. B. den Ordnungs- und Orientierungsverlust der Menschen im Bombenkrieg, eine Kritik blinden Fortschrittsglaubens oder eine strikte Verweigerung einer Sinnstiftung etwa im Sinne der christlichen Heilslehre). Gerade Letzteres habe aber in einer Nachkriegszeit, die sich an die

 Hundrieser, Gabriele: Die Leerstelle der Leerstelle? Das Phänomen Gert Ledig, die Ästhetik der Gewalt und die Literaturgeschichtsschreibung. In: Weimarer Beiträge 49.3 (2003), 361– 379.  Ebd., 367.  Lawson, Colette: The Natural History of Destruction. W.G. Sebald, Gert Ledig, and the Allied Bombings. In: Taberner, Stuart; Berger, Karina (Hg.): Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic. Rochester, NY 2009, 29 – 41.  Sebald,Winfried G.: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte – Versuch über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung mit Anmerkungen zu Kasack, Nossack und Kluge. In: Orbis Litterarum 37 (1982), 345 – 366.

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1 Einführung

Idee einer deutschen Wiedergeburt in der Stunde Null klammerte, zur Ablehnung Ledigs geführt und stütze so Sebalds Thesen. Im Zentrum von Anja Wiedens Aufsatz Sexuelle Gewalt während des Luftkriegs: Eine neue Perspektive auf weibliches Leiden in Gert Ledigs ‚Die Vergeltung‘ steht die Vergewaltigung der jungen Maria Weinert unter den Trümmern eines Hauses.²² Sie hebt hervor, wie sehr sich Ledigs Darstellung einer Vergewaltigung durch einen deutschen Mann vom Nachkriegsdiskurs der sexuellen Gewalt durch Besatzungssoldaten abhebt. In seiner nüchternen, distanzierten Schilderung unterscheide sich der Roman zudem von Nachkriegsmemoiren, die in der Regel eine sympathisierende Perspektive auf das Opfer einnehmen. Gleichzeitig weise Ledig die Gewalt gegenüber deutschen Frauen während des Krieges als zweifach aus: Neben die Angst vor dem Bomben tritt jene vor sexueller Gewalt infolge des moralischen Verfalls. Florian Radvan hat nicht nur das ausgezeichnete Nachwort zur Wiederveröffentlichung von Die Stalinorgel verfasst,²³ sondern sich auch in einem Aufsatz intensiver mit dem Roman beschäftigt. Er untersucht dort die „religiöse Bildlichkeit und transtextuelle Bezüge“²⁴, indem er die zahlreichen Verweise des Romans auf das Alte und das Neue Testament anhand der Genette’schen Terminologie zur Transtextualität in den Blick nimmt. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Diskussion des religiösen Bedeutungsrahmens der titelgebenden Vergeltung sowie die ausführliche Darstellung der Parallelen des Handlungsstranges um den amerikanischen Soldaten Strenehen zur Passionsgeschichte, die nicht nur über Zitate und Motive präsent ist, sondern auch als Erzählmuster „palimpsestartig […] durchschimmert“²⁵. Daneben sei außerdem darauf hingewiesen, dass Radvan auch die apokalyptische Bildlichkeit im Roman betrachtet und sich vor dem Hintergrund der Glaubenszweifel diverser Figuren in Vergeltung intensiv mit dem Theodizee-Problem beschäftigt. Der Aufsatz ist somit für die Beschäftigung mit allen religiösen sowie theologischen Aspekten von Ledigs Werk unverzichtbar.

 Wieden, Anja: Sexuelle Gewalt während des Luftkriegs: Eine neue Perspektive auf weibliches Leiden in Gert Ledigs Die Vergeltung. In: Neophilologus 102.4 (2018), 497– 513.  Radvan, Florian: Nachwort. In: Ledig, Gert: Die Stalinorgel. Frankfurt am Main 2000, 203 – 229.  Radvan, Florian: Religiöse Bildlichkeit und Bezüge in Gert Ledigs Luftkriegsroman „Vergeltung“. In: Wilms, Wilfried; Rasch, William (Hg.): Bombs away! Representing the Air War over Europe and Japan. Amsterdam 2006, 165 – 179.  Ebd., 173.

1.2 Forschungsüberblick

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Dominic Berlemann betrachtet in Zweitcodierung Reputation – Luftkriegsliteratur Ledigs Vergeltung und die Rezeption des Romans vor systemtheoretischem Hintergrund, genauer gesagt unter Anwendung der für das Literatursystem zentralen „Mediencodes interessant/langweilig sowie (literarisch) wertvoll/wertlos“.²⁶ Er konstatiert, dass die Vielzahl von Rezensionen beim Erscheinen durchaus dafür spricht, dass der Roman von der Kritik als interessant wahrgenommen wurde, in der Regel dann aber für literarisch wertlos erklärt und somit nicht kanonisiert wurde. Für die Wiederveröffentlichung stellt Berlemann wiederum großes Interesse der Kritik fest, das aber nun mit einhellig positiver literarischer Wertung einherging. Verändert hatte sich dafür laut Berlemann aber nicht der zugrunde liegende Code, sondern „die Art und Weise der Programmierung der Zweitcodierung, die einer fast vollständigen Umwertung der ursprünglich angesetzten Werte und Normen gleichkommt.“²⁷ Ein veränderter Erwartungshorizont der Rezensenten führte nun zur positiven Wertung genau jener Aspekte des Romans, die zuvor für seine Verrisse gesorgt hatten – die filmische Montage, die Weigerung, die Schrecken des Krieges zu verharmlosen oder auszublenden, sowie der Verzicht auf teleologische Abfederung der Gewalt. Die Rezeption der 1950er Jahre wertete Vergeltung als sensationsheischende Kolportageliteratur, die Rezensionen der Wiederveröffentlichung 1999 sahen in dem Roman ein authentisches Stück Erinnerungskultur. Georg Streim widmet seinen Aufsatz Der Bombenkrieg als Sensation und Dokumentation ²⁸ diesem Widerspruch und untersucht dafür die beiden Rezeptionsphasen vor dem weiteren Hintergrund der Debatte um die literarische Repräsentation des Luftkriegs, die sich 1997/98 im deutschsprachigen Feuilleton entspann.²⁹ In diesem Kontext setzt er sich vor allem kritisch mit Sebalds Thesen sowie mit Volker Hages Reaktion im Spiegel auseinander. Bezüglich Ledig dekonstruiert Streim die Überlegungen, dass Vergeltung bei der Erstveröffentlichung aufgrund eines Erzähltabus zum Bombenkrieg bei der Kritik durchgefallen sei. Vielmehr verortet er die Gründe hierfür im Bereich der „Ästhetik bzw. [bei] den sich verändernden ästhetischen

 Berlemann, Dominic: Zweitcodierung ,Reputation‘ – Luftkriegsliteratur. In: Werber, Niels (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Berlin/ New York 2011, 461.  Ebd., 466.  Streim, Gregor: Der Bombenkrieg als Sensation und Dokumentation. Gert Ledigs Roman „Vergeltung“ und die Debatte um W.G. Sebalds „Luftkrieg und Literatur“. In: Preußer, Heinz-Peter (Hg.): Krieg in den Medien. Amsterdam 2005, 293 – 312.  Die Debatte wurde durch W.G. Sebalds Zürcher Poetikvorlesungen über Luftkrieg und Literatur angestoßen. Die Vorlesungen sind 1999 um Sebalds Auseinandersetzung mit der Debatte ergänzt unter dem Titel Luftkrieg und Literatur erschienen.

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1 Einführung

Codierungen des Dokumentarischen“³⁰. Die veränderte Rezeption bei der Wiederveröffentlichung begründet er so mit „Vergleiche[n] mit ästhetisch avancierten Autoren – wie John Dos Passos, Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Joseph Heller, Kurt Vonnegut, John Hawkes, Thomas Pynchon oder Claude Simon“ –, die Ledigs Stil in positiverem Licht erscheinen lassen; außerdem führt er an, dass Ledig mit seinem quasi filmischen Schreiben heutige Authentizitätsparadigmen vorweggenommen habe, die primär auf filmischen Darstellungen gründeten. Auch Lars Koch sieht „die ästhetische Verfasstheit“ von Vergeltung als entscheidenden Faktor bei der Ablehnung des Romans bei der Erstveröffentlichung, denn Ledig „sprengt […] alle Wahrnehmungs- bzw. Schreibkonventionen in der literarischen Repräsentation des alliierten Luftkriegs gegen Nazi-Deutschland.“³¹ Dies manifestiert sich für Koch vor allem in Ledigs parataktischem, performativem und auf Authentizität zielenden Stil und der konsequenten Weigerung, die gezeigte Gewalt teleologisch aufzulösen (u. a. durch die für Koch ins Groteske verschobene und damit jeder Sinnstiftung beraubte religiöse Bildlichkeit). Hinzu kommt für Koch eine Figurenzeichnung, die die Menschen objektiviere und den Krieg und seine Gewalt zum eigentlichen Subjekt der Erzählung mache.³² Diese – nicht zuletzt auch ganz konkret physische – Fragmentierung des Einzelnen sieht Koch in der Textstruktur des Romans gespiegelt. Ähnlich wie Streim befasst sich auch Raimund Kemper mit den Bedingungen einer authentischen literarischen Wiedergabe der Kriegserfahrung.³³ Er ist dabei zunächst bemüht, Die Stalinorgel gegen die in seinen Augen ungerechtfertigte Kritik der 1950er Jahre zu verteidigen und im Gegenzug alle Schriftsteller (unter anderem Alfred Andersch, Gerd Gaiser und Ernst Jünger) und Publizisten anzugreifen, die nach 1945 weiterhin kriegerisches Heldentum predigten, anstatt sich gegen den Krieg zu engagieren. Anschließend setzt er sich mit der Reduktion der Figuren auf ihre militärische Funktion und ihre Perspektiv- und Orientierungslosigkeit auseinander, bevor er dann sinnlose Befehle der Kommandoebene und  Streim (2005), 304.  Koch, Lars: Fragmentiertes Dasein im Bombenhagel. Zu Gert Ledigs Luftkriegsroman „Vergeltung“. In: Wende, Waltraud Wara; Koch, Lars (Hg.): Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen. Würzburg 2005, 190 – 204.  Ebd., 193 – 195.  Kemper, Raimund: „Die Angst muß dir selbst im Genick sitzen, du mußt das genau kennen. Sonst bist du bloß ein Berichterstatter, kein Schriftsteller.“ Zu den Romanen von Gert Ledig: Die Stalinorgel (1955) und Vergeltung (1956). In: Beutin, Heidi; Beutin, Wolfgang; Bleicher-Nagelsmann, Heinrich; Malterer, Holger (Hg.): Dann gibt es nur eins! Von der Notwendigkeit, den Frieden zu gestalten. Beiträge der Konferenz anläßlich des 60. Todestages von Wolfgang Borchert. Frankfurt am Main 2008, 119 – 149.

1.2 Forschungsüberblick

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die Militärgerichtsbarkeit der Wehrmacht am Beispiel des hingerichteten Rittmeisters in Die Stalinorgel kritisch kommentiert. Im letzten Drittel seines Aufsatzes widmet sich Kemper der Ablehnung, die Vergeltung in den 1950er Jahren erfuhr, und formuliert in seiner Kritik der Kritik eine deutliche Anklage gegen gesellschaftliche Verdrängungsmechanismen der Nachkriegszeit. So treffend er zuvor Ledigs Romane analysiert, entfernt er sich damit gleichwohl wieder von einer ästhetisch begründeten Ablehnung und nähert sich wieder eher der Sebald’schen Tabuthese an. Neben den genannten Aufsätzen sind in den vergangenen Jahren außerdem zwei Dissertationen zu Gert Ledig vorgelegt worden: im Jahr 2008 Angelika Brauchles Gert Ledig und die Sprache der Gewalt. Untersuchung über die Darstellung von Gewalt in literarischer Form anhand der Kriegs- und Nachkriegsromane von Gert Ledig und 2014 André Sven Maertens’ Möglichkeiten kriegskritischen Schreibens in ‚Die Stalinorgel‘ von Gert Ledig. Der Titel nennt bereits das Ziel von Brauchles Arbeit: „herauszuarbeiten, welche Sprache Ledig gefunden hat, von den Ereignissen des Krieges zu erzählen und die unbeschreiblichen und unvorstellbaren Greuel zu beschreiben und den nachfolgenden Generationen vorstellbar zu machen“.³⁴ Hierfür betrachtet sie unter anderem die Darstellung der Kriegsgewalt und „Inszenierung des Chaos“³⁵ und untersucht die religiöse Bildlichkeit in Ledigs Romanen; eine tatsächliche Analyse der Mittel, mit denen Ledig die Gewaltförmigkeit der Situation auf seine Sprache überträgt, findet aber nicht statt (zum „gewaltsamen Stil“ Ledigs s.u. 7.). Auch bleiben Folgen der Kriegsgewalt wie Traumata, aber auch erinnerungskulturelle Prozesse weitgehend ausgeklammert. André Sven Maertens legt mit seiner Dissertation³⁶ eine grundlegende, aber doch an der Oberfläche bleibende Erzähltextanalyse von Ledigs Erstling vor. Er vergleicht den Roman zwar intensiv mit anderen Romanen, öffnet aber die Perspektive nur selten über die unmittelbare Textebene hinaus; historische Zusammenhänge werden nur in der Einführung und am Schluss kurz diskutiert. Verdienstvoll ist die ausführliche Synopse des Plots, die jenen hilft, die den Roman nicht gelesen haben. Es bleibt hier anzumerken, dass die Arbeit von der Einbeziehung und der stärkeren Einbindung auch der beiden anderen Romane Ledigs deutlich profitiert hätte.

 Brauchle, Angelika: Gert Ledig und die Sprache der Gewalt. Untersuchung über die Darstellung von Gewalt in literarischer Form anhand der Kriegs- und Nachkriegsromane von Gert Ledig. Diss. Bonn 2008 (elektronische Ressource), 5.  Ebd., 100.  Maertens, André Sven: Möglichkeiten kriegskritischen Schreibens in „Die Stalinorgel“ von Gert Ledig. Diss. Freiburg, 2014 (elektronische Ressource).

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1 Einführung

1.3 Ziele der Arbeit Ein zentraler Aspekt des Ledig’schen Werkes ist bislang ein Desiderat geblieben: seine Darstellung des traumatischen Charakters des Zweiten Weltkriegs. Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, diese Lücke zu schließen. Für das Verständnis von Ledigs Romanen und ihrer Rezeption ist es unerlässlich, die verschiedenen Facetten dieses Themas in den Blick zu nehmen. Es gilt zu untersuchen, mit welchen Mitteln Ledig sowohl die Extremsituation selbst als auch die Reaktionen der Menschen darauf darstellt. Darüber hinaus muss aber auch betrachtet werden, wie die beschriebenen Traumata sich auf die literarische Produktion und Rezeption ausgewirkt haben, d. h., inwiefern Schreiben ein Weg zur Bewältigung von Traumata bzw. gestörter oder fehlerhafter (auch gesellschaftlicher) Erinnerung sein konnte und wie die Beschreibung des Krieges als zutiefst traumatische Situation die Aufnahme von Ledigs Romanen durch Kritik und Publikum beeinflusst hat. Ein grundlegender Begriff hierfür ist Authentizität: Zum einen hatte Ledig den Anspruch, den Krieg möglichst authentisch, d. h. wirklichkeitsnah, darzustellen, zum anderen ist es für Erinnerungsliteratur unumgänglich, dass ihre Rezipienten sie als authentisch wahrnehmen und ihnen bei allem literarischen Charakter zuschreiben: So war es! Ein fundamentaler Aspekt der vorliegenden Arbeit ist es daher stets, zu untersuchen, wie Ledig diesen doppelten Anspruch umzusetzen versucht. Im Folgenden wird dazu zunächst untersucht, wie es Ledig gelingt, die entfesselte Gewalt des modernen Krieges zu beschreiben und dabei auch zu erfassen, wie sich dieser Krieg jeglicher sinnhaften Erfahrung und damit auch der sinnvollen Beschreibung entzog (Kapitel 2). Im Fokus stehen dabei sowohl sprachliche wie formale Mittel (z. B. Ledigs Nähe zu Techniken des Films) als auch Ledigs Bemühen um radikale Authentizität und sein Verzicht auf Ästhetisierung der Kriegsgewalt und -technik einerseits und jegliche Teleologie bzw. metaphysische Abschwächung oder Rechtfertigung seiner Gewaltdarstellung andererseits. Anschließend folgt ein Abschnitt, der sich mit den Auswirkungen der Extremsituation auf Identitätskonstruktionen (und damit eine Grundlage von individueller wie kollektiver Erinnerung) befasst (Kapitel 3). Einführend werden dazu die Folgen des Krieges auf individuelle Selbstbilder behandelt, wobei zu zeigen ist, dass Ledig den Krieg als jeder Individualität diametral entgegengesetzt zeichnet. Dann soll die Dichotomie soldatischer und ziviler Identitäten in den Blick genommen werden. Hierbei wird einerseits darauf abgehoben, wie traditionelle soldatische Selbstbilder von Ehre und Heldentum an der technisierten Kriegsgewalt zerbrachen, andererseits darauf, wie im totalen Krieg die hergebrachte Trennung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten endgültig verwischt wurde. Diese Identitätskonstruktionen sind hier wichtig, weil sie, wenn

1.3 Ziele der Arbeit

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sie nicht dekonstruiert werden, dabei helfen, die extreme Kriegsgewalt und den Zivilisationsbruch mit Sinn zu versehen und somit zu legitimieren; fallen diese ,Fangnetze‘ weg, wird es ungleich schwerer, die Situation zu verkraften und zu verarbeiten. Neben den Selbstbildern werden außerdem Wahrnehmungen des Anderen untersucht: Dies umfasst den Verlust an Menschlichkeit im Umgang mit anderen Menschen im Krieg sowie auch veränderte Geschlechterrollen und -verhältnisse nach dem Krieg, vor allem jedoch Alteritätsvorstellungen und Feindbildkonstruktionen bezüglich des Kriegsgegners. Auf der Grundlage dieser Abschnitte folgt ein Kapitel, das sich mit Vorstellungen von verkehrter Welt, Chaos und Apokalyptik bei Ledig befasst (Kapitel 4). Dies ist geboten, da Ledig den Krieg als Situation beschreibt, die einen kompletten Gegenentwurf zu Zivilisation und Ordnung darstellt. Darüber hinaus ist die Auseinandersetzung mit apokalyptischen Vorstellungen hinsichtlich Ledigs Teleologieverzichts wichtig. Untersucht werden soll in diesem Abschnitt, wie und mit welcher Absicht Ledig Elemente verkehrter/entfremdeter Welten (groteske Körperlichkeit, Bilder und Metaphorik, aber auch Gelächter) einsetzt und mit diesen Mitteln apokalyptischen Deutungen seiner Romane eine klare Absage erteilt. Ist der Krieg derart als lebens- bzw. menschenfeindliche Situation umrissen, gilt es im Anschluss, die Reaktionen der Menschen, die ihr ausgesetzt sind – hier vor allem der Soldaten –, zu untersuchen. Dies ist vor allem der Drang, sich dieser Situation zu entziehen. Hierzu hat der Soldat zwei Möglichkeiten: die (Fahnen‐) Flucht oder die Selbstverstümmelung (mit dem Suizid als extremster Ausprägung und letztem verzweifelten Aufbäumen des Individuums). Bezüglich beider Punkte werden zunächst die historischen Hintergründe (Motive, Frequenz, Umsetzung, Sanktionen etc.) dargestellt, bevor untersucht wird, wie Ledig diese Möglichkeiten, sich des Krieges zu entziehen, in seinen Romanen behandelt (Kapitel 5). Nachfolgend soll der Blick dann auf die Literarisierung von traumatischen Situationen und Traumata gerichtet werden (Kapitel 6). Hierzu wird zunächst ein kurzer Überblick über die psychologischen Grundlagen geboten, um sodann darzustellen, wie diese Kategorien Eingang in die Literatur gefunden haben. Handelte der vorangehende Abschnitt ausschließlich von soldatischen Erfahrungen und militärischen literarischen Figuren, stehen hier primär Zivilisten im Fokus, vor allem solche, die im Zweiten Weltkrieg den Bombenkrieg miterlebten. Während die Soldaten in der Extremsituation zumindest die Handlungsoptionen Kampf oder Flucht besaßen, waren die Menschen den Bomben weitgehend ausgeliefert. Dies spielt im Kontext von Ledigs Romanen eine entscheidenden Rolle. In diesem Zusammenhang werden auch entsprechende Romane anderer Autoren betrachtet: Werke von Thomas Bernhard, Dieter Forte, Hans Erich Nossack, Alexander Kluge und Kurt Vonnegut. Anhand von Ledigs Romanen wird schließlich in einem eigenen Kapitel untersucht, wie es Ledig mittels seines be-

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1 Einführung

sonderen Stils, der hier „gewaltsamer Stil“ genannt werden soll, gelingt, den traumatischen Charakter der beschriebenen Situationen auf seine Texte zu übertragen bzw. diesen die traumatisierenden Charakteristika einzuschreiben (Kapitel 7). Ledig und den genannten anderen Autoren ist gemein, dass sie Bombardements am Boden (mehr oder weniger direkt) miterlebten.³⁷ Man kann davon ausgehen, dass die Romane, die aus diesen Erfahrungen entstanden sind, nicht zuletzt eine therapeutische Auseinandersetzung mit dem Erlebten darstellen. Es ist daher zu untersuchen, wie die theoretischen Grundlagen für ein solches Unterfangen aussehen, bevor dann die einzelnen Fälle in den Blick genommen werden – wieder zunächst andere Autoren, bevor dann eine ausführlich Betrachtung Ledigs folgt (Kapitel 8). Anschließend wird die Rezeption von Ledigs Romanen eingehend behandelt (Kapitel 9). Diese Untersuchung basiert auf Buchbesprechungen als überlieferten Rezeptionszeugnissen. Es werden Kritiken betrachtet, die anlässlich der Erst- oder Wiederveröffentlichung der Romane erschienen sind; sie werden auf die in den vorangehenden Kapiteln untersuchten Aspekte des Werks hin beleuchtet, verglichen und auf die Legitimität ihrer Urteile untersucht. Es sollen dabei übergeordnete Muster aufgedeckt werden, die auf gesellschaftlich akzeptierte bzw. sanktionierte Lesarten einzelner Vorgänge und Ereignisse schließen lassen. Ein Bindeglied zwischen den beiden Rezeptionszyklen bildet die Darstellung der Debatte um Luftkrieg und Literatur, die zur Wiederentdeckung Ledigs und seiner Romane führte. Neben dieser grundlegenden Bedeutung für Ledigs Werk zeigt sie gut, wie Gedächtnis und Erinnerungskultur gesellschaftlich verhandelt werden. Es sei an dieser Stelle weiter darauf hingewiesen, dass die Rezeption in der vorliegenden Arbeit für die Zeit vor 1990 stets nur die BRD, nicht aber die DDR umfasst. Da die dortige Literaturkritik in ihren Lesarten der hier relevanten Vorgänge und Ereignisse maßgeblich von jener der BRD abwich, würde die Betrachtung beider deutschen Staaten hier den gebotenen Rahmen deutlich sprengen. Aufgrund der wesentlich umfangreicheren Rezeption Ledigs in Westdeutschland wurde der Fokus daher auf die BRD gelegt. Eine Untersuchung von Ledigs Werk im Kontext der DDR-Rezeption und der DDR-Erinnerungskultur bleibt somit ein Desiderat; angesichts Ledigs großer Affinität zur DDR wäre eine entsprechende Arbeit wünschenswert und vielversprechend.

 Es soll in dieser Arbeit nicht der Versuch unternommen werden, Ledigs Vita nachzuzeichnen. Es sei hierfür auf die biographische Skizze bei Angelika Brauchle verwiesen, die wiederum eine „Lebensbeschreibung“, die 1954 für den Claassen-Verlag verfasste, und Briefe Ledigs herangezogen hat; Brauchle (2008), 22– 28.

2 Unangemessenheit des Leibes 2.1 Unmöglichkeit einer sinnhaften Erfahrung 2.1.1 Darstellbarkeit des modernen Krieges Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs war davon auszugehen, dass ein weiterer globaler Konflikt noch stärker von der zunehmenden Technisierung und ihren Folgen geprägt sein würde. Es fiel nicht schwer, wie Walter Benjamin vorauszusehen, dass „Millionen Menschenkörper von Gas und Eisen zerstückt und zerfressen“¹ würden und ein mit modernsten Mitteln geführter Krieg den letzten an Unmenschlichkeit noch bei weitem übertreffen würde. Dies bezieht sich nicht nur auf die begangenen Grausamkeiten und Verbrechen, sondern vor allem auch auf das, was Adorno „die Unangemessenheit des Leibes an die Materialschlacht“² nannte. Die technischen Mittel des Krieges hatten sich derart entwickelt, dass der Kampf für das kämpfende Subjekt kaum noch wirklich erfahrbar war. Denn neben dem Körper waren auch die menschliche Wahrnehmung und Psyche nicht auf diesen modernen Krieg ausgelegt: Der Zweite Krieg aber ist der Erfahrung schon so völlig entzogen wie der Gang einer Maschine den Regungen des Körpers, der erst in Krankheitszuständen jenem sich anähnelt. Sowenig der Krieg Kontinuität, Geschichte, das „epische“ Element enthält, sondern gewissermaßen in jeder Phase von vorn anfängt, sowenig wird er ein stetiges und unbewußt aufbewahrtes Erinnerungsbild hinterlassen. Überall, mit jeder Explosion, hat er den Reizschutz durchbrochen, unter dem Erfahrung, die Dauer zwischen heilsamem Vergessen und heilsamem Erinnern sich bildet. Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen.³

Mit seiner Diagnose der „Unangemessenheit des Leibes an die Materialschlacht“ formuliert Adorno gleichzeitig eine Problematik des modernen Krieges: Die rasende Entwicklung der Mittel zur Kriegsführung hatte den Menschen hinter sich gelassen, der Krieg war für ihn eigentlich kaum noch erfahr- und reflektierbar. Dies resultierte auch aus der ebenfalls bereits von Benjamin prognostizierten „klaffende[n] Diskrepanz zwischen den riesenhaften Mitteln der Technik auf der einen, ihrer winzigen moralischen Erhellung auf der anderen Seite.“⁴  Benjamin (1981), 249.  Adorno, Theodor W.: Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Ndr. der Erstausg. 1951). Frankfurt am Main 2004, 88.  Ebd., 88 f.  Benjamin (1981), 238. https://doi.org/10.1515/9783110657128-003

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2 Unangemessenheit des Leibes

Die Unmöglichkeit, den Zustand Krieg in seinen modernen Ausmaßen und Gewaltexzessen als Individuum noch zu erfassen und sinnvoll zu verarbeiten, d. h. mit Sinn versehen zu können, führte zu einer Absurdität der Situation, der das menschliche Denken nicht länger gewachsen war.⁵ Kern des Kriegserlebnisses wurde es somit, dass „die Erfahrung des Krieges selbst […] aus einer Nicht-Erfahrbarkeit, aus einer Art Traumatologie“ hervorging.⁶ Dies bezog sich nicht nur auf die konkrete Kriegshandlung, sondern auch auf das Geschehen in seiner Totalität, da sich der moderne Krieg in seiner Gesamtheit nur noch dem Historiker in der Retrospektive zeigte. Dies gilt für all seine Ausprägungen gleichermaßen, denn auch im Bombenkrieg gab es keine Position, die vollständige Übersicht erlaubte: Selbst die Bomber-Crews sahen in der Regel ihre Ziele nicht genau, sondern nur die Explosionen und den Schein der Feuer.⁷ Dass das Erlebte nicht mehr verarbeitet werden konnte, da es eigentlich nicht ,richtig‘ erfahren wurde, stellte die Schriftsteller vor große Probleme, da sie von den Materialschlachten der Weltkriege nicht mehr erzählen konnten, „wie noch von den Schlachten des Artilleriegenerals Bonaparte erzählt werden konnte“;⁸ denn Realität ist nur erzählbar, solange sie auch erfahren werden kann.⁹ In der Frage nach der literarischen Erfassung der Gewaltexzesse des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust gipfelte somit die Schwierigkeit, die im Rahmen des ästhetischen Diskurses seit jeher mit der Darstellung und Rechtfertigung des Schrecklichen, Bösen, Gewalttätigen in der Literatur und der Kunst im Allgemeinen verbunden ist.¹⁰ Zwar ist Gewalt schon grundsätzlich ein literarischer Topos, auch und gerade da ein gesellschaftlicher Konsens über sie vor allem anhand ihrer literarischen

 Vgl. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt am Main, 2003, 756, und Nieraad, Jürgen: Gewalt und Gewaltverherrlichung in der Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Heitmeyer, Wilhelm; Hagan, John (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002, 1283.  Lenger, Hans-Joachim: Unsichtbarkeit. Zur An-Ästhetik des Krieges. In: jour fixe initiative berlin (Hg.): Krieg. Münster 2009, 53.  Vgl. Jaeger, Stephan: Infinite Closures: Narrative(s) of Bombing in Historiography and Literature on the Borderline between Fact and Fiction. In: Wilms, Wilfried; Rasch, William (Hg.): Bombs away! Representing the Air War over Europe and Japan. Amsterdam 2006, 67.  Adorno (2004), 88.  Nieraad, Jürgen: Die Spur der Gewalt. Zur Geschichte des Schrecklichen in der Literatur und ihrer Theorie. Lüneburg 1994, 167.  Vgl. Nieraad (1994) und Wertheimer, Jürgen (Hg.): Ästhetik der Gewalt. Ihre Darstellung in Literatur und Kunst. Frankfurt am Main, 1986.

2.1 Unmöglichkeit einer sinnhaften Erfahrung

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Repräsentationen zustande kommt.¹¹ Dennoch ist die ästhetische Wiedergabe und mithin Re-Produktion von Gewalt stets auch problematisch, da sie ihren Gegenstand nicht adäquat wiedergeben kann: Immer ist sie mit zu viel Distanz, Dämonisierung,Verklärung oder gar Voyeurismus verbunden.¹² Gerade die letzten beiden Punkte gelten für Texte über den Krieg, denn diese „leben von der Suggestion einer furchtbaren Wirklichkeit, die sie wie in einem Experiment vor Augen führen – als Versuch, die Grenzen des Erträglichen beim Leser zu erproben.“¹³ Literarisch wiedergegebene Gewalt musste folglich – nicht zuletzt aus Gründen der Theodizee – lange mit Sinn versehen werden, um legitimiert zu sein. Erst im 18./19. Jahrhundert kam es zur Ausrichtung auf die Nation statt auf die christliche Heilsgewissheit: Die Nation als übergeordnete Sinn- und somit Legitimationsinstanz stilisierte Gewaltanwendung und -erfahrung zu einem Opfer für das Vaterland. Den Materialschlachten des 20. Jahrhunderts und den Vernichtungslagern konnte und kann dagegen kein Sinn mehr zugewiesen werden.¹⁴ Die Literatur stand somit vor einem Rechtfertigungsproblem, dem nur mit der Haltung des „Nie wieder!“ adäquat begegnet werden konnte. Jürgen Nieraad identifiziert für das 20. Jahrhundert zwei grundlegende Positionen hinsichtlich der Gewaltdarstellung in der Literatur: eine kritisch-ablehnende und eine apologetische. Sodann differenziert er diese weiter in eine kritische Darstellung mit moralischer Implikation (der Ledig zuzurechnen ist), eine beschwichtigende Zeichnung, die Darstellung von „Gewalt als Eigenwert aus radikalästhetischer bzw. vitalistischer Perspektive“ sowie schließlich eine Gewaltimagination, die (voyeuristische) Bedürfnisse der Leser befriedigt.¹⁵ Gerade die erste Ausprägung biete die Möglichkeit, neue Ausdrucksmittel zu entwickeln, und fordere diese geradezu, denn die herkömmlichen Erzählformen mit ihrem chronologischen Aufbau, der psychologischen Ausleuchtung der Figuren und der Ausrichtung auf eine (zumindest finale) Teleologie seien der Darstellung von Ereignissen, die sämtliche Ordnung und Sinnstiftung negierten, nicht mehr angemessen gewesen.¹⁶ Ledig ging zwar 1955 mit Die Stalinorgel bereits teilweise neue Wege, hing dort jedoch eher noch traditionellen Erzählkonventionen an

 Vgl. Wertheimer (1986), 10, und Wertheimer, Jürgen: Ästhetik der Gewalt? Literarische Darstellung und emotionale Effekte. In: Dietrich, Julia; Müller-Koch, Uta (Hg.): Ethik und Ästhetik der Gewalt. Paderborn 2006, 19.  Vgl. Wertheimer (1986), 11.  Alt, Peter-André: Ästhetik des Bösen. München 2010, 479.  Vgl. Nieraad (1994), 139 – 141.  Nieraad (2002), 1281.  Vgl. Nieraad (1994), 146 f. Zu den verschiedenen Methoden, mit denen die Schriftsteller nach dem Krieg versuchten, sich dem Kriegserlebnis literarisch zu nähern, vgl. Pfeifer (1981), 55 – 90.

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(anders als etwa Alexander Kluge 1964 mit Schlachtbeschreibung), von denen er sich in Vergeltung stärker löste. Jochen Pfeifer hat bemerkt, dass der Roman nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr die richtige Form für das Kriegserlebnis war: „Der Zweite Weltkrieg scheint zu bizarr, zu widerspenstig gewesen zu sein, als daß man davon in durchgehendem Erzählfluß eine einsinnige Geschichte erzählen konnte.“¹⁷ Eine ähnliche Meinung hatte zuvor bereits Reinhard Baumgart vertreten, als er postulierte, dass sich der Krieg in seiner Extensität und seinem Wesen nicht in mehr literarischer Breite einfangen lasse. Er machte dies an Plivier fest. Am besten werde der Krieg für ihn dort abgebildet, wo man ihn nicht erklärt, sondern wo er in seiner Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit (vermeintlich) ungeordnet präsentiert wird – wie in Kluges Schlachtbeschreibung. ¹⁸ Baumgart konnte Ledigs Ansatz dagegen nur wenig abgewinnen und attestierte ihm „penetrante Kurzsichtigkeit“¹⁹. Auch der konsequente Verzicht auf Sinngebung schien ihm nicht adäquat. Dieses Verdikt verkennt jedoch, dass Ledig in seinen Texten eine neue, effektvolle Herangehensweise an die Darstellung des eigentlich nicht mehr Darstellbaren suchte – und fand.

2.1.2 Ledigs Darstellung des Krieges In Ledigs Prosa finden die Zerstörung der Welt und die Unmöglichkeit einer kohärenten, sinnvollen Wahrnehmung dieses Prozesses ihre Entsprechung in der Auflösung traditioneller narrativer Strukturen und Muster.²⁰ Stilistisch äußert sich dies in extremer Verknappung. Sie umfasst neben der dominierenden Parataxe vor allem einen maximal distanzierten Erzähler, der das Geschehen emotionslos und nüchtern berichtet und sich ansonsten jeglicher Vermittlung, aber auch Teleologie verweigert. Auf formaler Ebene überträgt Ledig die Fragmentierung der Perzeption auf die Struktur des Textes und orientiert sich hierbei vielfach an filmischen Techniken. In Verbindung mit der eher lokalen denn temporalen Ordnung entsteht so ein synoptischer Blick auf das Kriegsgeschehen, der nicht auf den Fortgang der Ereignisse und ihre Entwicklung, sondern auf ihre Gleichzeitigkeit gerichtet ist. Der Verzicht auf die Einordnung der sowohl zeitlich als auch räumlich stark konzentrierten Handlung in größere Zusammenhänge ver Pfeifer (1981), 71; vgl. auch ebd., 55.  Vgl. Baumgart, Reinhard: Unmenschlichkeit beschreiben. Weltkrieg und Faschismus in der Literatur. In: Merkur 19.1 (1965), 39.  Vgl. ebd., 40.  Vgl. Streim (2005), 307– 309.

2.1 Unmöglichkeit einer sinnhaften Erfahrung

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stärkt die Wirkung dieser Technik zusätzlich. Überbaut werden diese erzählerischen Elemente von einem Streben nach radikaler Mimesis und Authentizität, die den Krieg in seiner Essenz einzufangen versuchen, um so ein Mahnmal gegen ihn zu setzen.

2.1.2.1 Sprachliche Aspekte Um der Wucht des Kriegsthemas gerecht zu werden, reduziert Ledig seine Sprache radikal und verzichtet auf jegliches Ornament. Die Syntax in Die Stalinorgel und Vergeltung ist größtenteils parataktisch und berichtet das Geschehen knapp und hart. Die Beschreibung ist klar und präzise und selbst bei brutalsten Vorgängen nüchtern und emotionslos: „Fast schmerzlos verlor er dreißig Zähne. Ein Explosivgeschoss zerriß ihm die Brust. Es fetzte seine Lunge aus den Rippen. Die Wunde klaffte vom rechten Schlüsselbein bis zur linken Brustwarze. Zwei Liter Blut brachen hervor“ (Vergeltung, 28; in der Folge: V 28). Angesichts der Gewalt des Krieges kann die Sprache bei Ledig keine im strengen Sinne poetische oder ästhetische Qualität mehr besitzen, sondern sie ist nur noch neutrales Medium. Ledig nutzt dieses Medium jedoch nicht nur, um die Gewalt der Ereignisse zu transportieren, sondern auch dazu, die Gewalterfahrung bis zu einem gewissen Grad auf die Leser zu übertragen. Die Folge ist ein „gewaltsamer Stil“, der später gesondert betrachtet wird (s.u. 7.). Der Erzähler tritt ganz in den Hintergrund und lässt die furchtbaren Ereignisse für sich sprechen.²¹ „It is the empathetic distance from the scene in Ledig that enables the ‚truth‘ of the violence and the state to which the world has been brought to emerge from behind the smokescreen.“²² Den Romanen fehlt somit eine Distanz schaffende Vermittlungsebene. Es wird stattdessen eine ungefilterte Gegenwart reproduziert, die die Leser fast performativ am Geschehen teilhaben lässt.²³ Denn so distanziert der Erzähler ist, so nah ist der Leser der Handlung durch die extreme Nähe der Beschreibung, die mit mikroskopischem Blick jedes kleinste Detail wahrnimmt und keinen Aspekt des Schreckens verschweigt. Auch dies ist Teil des später zu analysierenden „gewaltsamen Stils“. Die synoptische, allwissende Erzählposition beschränkt sich allerdings in erster Linie auf Äußerlichkeiten und das faktische Geschehen. Eine Psychologisierung der Figuren findet kaum statt, sodass auch keine Entwicklung bei ihnen verfolgt werden kann. Wie zu zeigen ist, liegt dies daran, dass der Krieg für Ledig

 Vgl. Kraft (1994), 80.  Lawson (2009), 35.  Vgl. Koch (2005), 193.

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2 Unangemessenheit des Leibes

Identitäten und Individualität massiv beschädigt. So gewinnt kaum eine Figur Profil; stattdessen dominieren Typen mit reduzierten Rumpf-Identitäten (s.u. 3.). An die Stelle einer reflektierten Omniszienz tritt somit eine Omnivision paralleler Ereignisse. Ledigs Erzähler hat keine Entwicklungen im Blick, sondern lokale Parallelität und Gleichzeitigkeit, was sich ganz deutlich in der formalen Gestaltung der Romane abbildet.

2.1.2.2 Formale Aspekte: Nähe zu Techniken der Films Ledig orientiert sich stark an visuellen oder audio-visuellen Medien, sodass Die Stalinorgel und Vergeltung keine Romane im herkömmlichen Sinne mehr sind. Sie weisen keine strenge Chronologie, keine Figurenpsychologisierung und keine klare Haupthandlung auf.²⁴ Diese Erzähltechnik war keineswegs neu, sondern schloss nach der künstlerischen Repression des Dritten Reiches wieder an die literarische und cineastische Moderne an.²⁵ Besonders augenfällig sind die filmischen Anleihen in der Organisation der einzelnen Handlungsstränge, die durch harte, schnelle Schnitte aufgebrochen und parallel montiert werden. Doch auch innerhalb der einzelnen Passagen finden sich immer wieder Stellen, die an kinematographische Stilmittel erinnern. In Die Stalinorgel überwiegen dabei stilistische Techniken, während in Vergeltung strukturelle Anleihen dominieren.²⁶ Eine Technik, die Ledig aus dem Medium Film in seine Prosa übernimmt, ist die Slow Motion bzw. Zeitlupe mit stark gedehnter Erzählzeit. Dies erlaubt einen Blick auf Mikroprozesse, der Vorgänge des beschleunigten technisierten Krieges erfasst, die eigentlich außerhalb der menschlichen Wahrnehmung liegen. In Vergeltung ist dies etwa bei Strenehens Vision seines Auftreffens auf dem Boden der Fall, nachdem er aus einem abstürzenden Flugzeug gesprungen ist (V 50), beim Einsturz eines Hauses (V 45) oder auch beim Tod der beiden russischen Zwangsarbeiter Chikin und Rastjewa: „Etwas pfiff –: Die beiden zerriß es auf der Stelle. Das Fleisch löste sich von ihren Knochen. Rastjewas Arm schnellte durch  Vgl. Berlemann (2011), 463.  Vgl. ebd., 462; Santiáñez, Nil: Aerial bombing and catastrophic modernism. In: Neohelicon 45.1 (2018), 229 – 248.  Wie deutlich und gelungen diese Anleihen sind, demonstrieren die häufigen Vergleiche von Ledigs Prosa mit Steven Spielbergs Film Saving Private Ryan – u. a. Hundrieser (2003), 369 –, der erst über vierzig Jahre nach Ledigs Romanen die Möglichkeiten des Mediums zu einer entsprechenden Darstellung des Kriegsgeschehens nutzte, vor allem in der langen Sequenz der amerikanischen Landung in Frankreich. Dass der Film in der Folge 1999 die Oscars für die beste Regie, den besten Schnitt, die beste Kamera, den besten Ton und den Toneffektschnitt erhielt, illustriert, dass diese naturalistische Repräsentation der Kampfhandlungen keineswegs kritisch gesehen wurde, sondern auf große Anerkennung stieß.

2.1 Unmöglichkeit einer sinnhaften Erfahrung

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die Luft. Der abgekaute Riemen platzte. […] Nicht einmal ihr Blut sickerte in die Erde, weil es zerstob“ (V 82). Zwar wendet Ledig dieses Mittel, das auch zu seinem „gewaltsamen Stil“ zu rechnen ist, in erster Linie in Vergeltung an, doch findet sich auch in Die Stalinorgel eine entsprechende Stelle: In diesem Augenblick tropfte aus dem Stahlrohr des Flammenwerfers eine ölige Flüssigkeit. Ein harmloser Funke zuckte auf. Plötzlich spritzte glühendheiße Lohe in sein Gesicht. Sein Kopf brannte wie Zunder. Die Mine begann zu glühen. Eine gewaltige Detonation: den Gefreiten gab es nicht mehr. Eine Druckwelle fauchte in das Loch. Eine Welle von Luft schlug gegen Erdwände, gegen Beton, Stichflammen rasten auf andere Minen zu. Im Nu verkohlten Papier, Uniformstoffe, Fleisch. Der entzündete Sprengstoff hob den Betonklotz an, warf das Gerippe des Mastes in die Luft. Der Leutnant in dem Panzer hörte im Kopfhörer noch einmal die fremde Stimme. Dann begann sich der Turm mit ihm zu drehen. Das Gehäuse aus Stahl zerbarst. Die Stimme, die zum letzten Mal ‚Acht Uhr und zehn Minuten‘ sagte, hörte er nicht mehr. (SO 108)

In Die Stalinorgel verwendet Ledig außerdem Rückblicke, so etwa als der Major sich in der Trauer über den Tod seiner Familie daran erinnert, wie er nach dem Ersten Weltkrieg nicht in der Lage war, einer Frau zu sagen, dass ihr Sohn gefallen ist. Kunstvoller ist die Rückschau auf Sostschenkos Kindheit und Jugend (SO 70 – 73), die nicht einfach in den Text eingeschoben, sondern in Form von Rückblenden gestaltet ist, wobei die Erinnerung des Russen immer wieder durch das angeregt wird, was sich an der Front vor seinen Augen abspielt: Er stieg in den Graben, trat auf ein Brett. Vor ihm eine umgestürzte Kiste mit aufgesprungenem Deckel. Munitionsgurte quollen heraus… … Auf dem nassen Bahnsteig. Vor ihm lag sein Koffer. Die Wäsche quoll heraus. Viele fremde Menschen. Alle sahen ihn an, wie er neben dem Koffer stand. Jemand lachte. Keiner half ihm […] Sostschenko folgte den Windungen des Grabens, zwischen hohen feuchten Erdwänden… … Die hohen kahlen Mauern im Keller des Waisenhauses. Der Gang hatte viele Ecken. Von den gekalkten Wänden tropfte Wasser. Er mußte allein durch düstere Gänge laufen. […] Überall, wo er durch den Graben gelaufen war, bewegten sich grüne Helme. Kleine grüne Töpfe zogen vorbei wie auf dem Schießstand… … An einer Schnur zogen runde Scheiben vorbei. Grüne Scheiben mit einem schwarzen Kreis in der Mitte. Eine Drehorgel quiekte. Der Kadett Sostschenko schoß mit einem Luftgewehr auf Scheiben. (SO 71– 73)

Hier wird nicht einfach zurückgeschaut, sondern der Szenenwechsel ist durch die korrespondierenden Motive stets als Überblendung gestaltet, wobei die Vergangenheitspassagen durch Kursivierung markiert sind. Ledig folgt auch mit dieser

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Hervorhebung der Filmtechnik, in der Rückblenden optisch abgehoben werden – im Farbfilm etwa, indem sie in Schwarzweiß gehalten sind. Er überträgt somit eine ursprünglich primär visuelle Technik in seinen Text. In Vergeltung greift er allerdings kaum darauf zurück, obwohl viele der eingeschobenen Lebensläufe quasi Rückblicke darstellen und ebenfalls kursiv gesetzt sind. Eine Ausnahme bildet die Erzählung der Gräfin Baudin vom Tod ihres Sohnes. Diese ist als zwölftes Intermezzo eingebaut, findet aber gleichzeitig auch in der Handlung statt. Das folgende Kapitel beginnt daher mit der unmittelbaren Reaktion der Frau, die die Geschichte hört: „‚Woher wissen Sie das?‘, fragte die Frau mit dem Metallzahn. ‚Ein Kamerad hat es mir erzählt!‘ Die Schwester schwieg.“ (V 177– 179) Ledig beschritt mit seinem Montageprinzip keine neuen Wege in der Kriegsliteratur, hatte doch etwa schon Edlef Köppen in Heeresbericht (1930) damit gearbeitet. Aber anders als Köppen baut Ledig keine Originaldokumente in seinen Text ein, sondern strukturiert die einzelnen Plots in Form einer Parallelmontage mit schnellen, harten Schnitten.²⁷ Er verfährt vor allem in Vergeltung so, doch versucht er sich auch bereits im siebten Kapitel von Die Stalinorgel daran: Hier springt die Erzählung in schneller Frequenz zwischen verschiedenen Orten an der Front hin und her, wobei eine deutsche Funkdurchsage der Zeit als Bindeglied für Szenenwechsel fungiert, die an filmische Match Cuts²⁸ erinnern (SO 102– 108). Während die übrigen Kapitel des Romans eher konventionell erzählt sind, ist die Montage hier fast ausgeprägter als in Vergeltung. Allerdings verhindern die Match Cuts über die Zeitansage tatsächliche Parallelität. In Vergeltung hingegen bleibt der Leser zeitlich weitgehend orientierungslos, sodass über die rasche Folge der Textbausteine, die Ledig nun konsequent durchhält, ein Eindruck von Gleichzeitigkeit entsteht: „Die Darstellung oszilliert in schnellen, harten Schnitten zwischen den verschiedenen Erzählfragmenten hin und her und bringt so die Parallelität bzw. das chaotische Nebeneinander der sich überschlagenden Ereignisse zum Ausdruck.“²⁹ Daneben überführt Ledig auf diese Weise aber auch den fragmentierten und fragmentierenden Charakter des Krieges in das Medium des Textes. Die „Auf-

 Vgl. Kemper (2008), 128. Eine Weiterentwicklung dieses Montageprinzips ist in Alexander Kluges Erzählung Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 und ihrer Verbindung von Erzählfragmenten und Dokumenten (deren Faktizität gleichwohl bewusst offen bleibt) zu sehen.  Match Cuts erzeugen Kontinuität zwischen (zeitlich und/oder räumlich) unterschiedlichen Handlungsebenen, indem sie z. B. ähnliche Formen oder Bewegungen parallel verwenden. Die vergleichbaren Eindrücke werden vom Zuseher in der direkten Aufeinanderfolge als zusammengehörig begriffen. So wird häufig ein vermeintlicher Zusammenhang hergestellt, der eigentlich nicht besteht.  Hundrieser (2003), 369.

2.1 Unmöglichkeit einer sinnhaften Erfahrung

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splitterung des Erzählkontinuums in Handlungsfragmente“³⁰ entspricht der Struktur des Krieges und der durch ihn radikal unterbrochenen oder abgebrochenen Biographien.³¹ „Die Handlung zerfällt unter dem Druck des Themas regelrecht zu einem komplexen Geschehenszusammenhang, dessen einziges erzählendes Subjekt der Krieg selbst zu sein scheint“³², wodurch Die Stalinorgel und gerade Vergeltung durch den ständigen Perspektivwechsel ohne erzählerisches Zentrum bleiben. So fangen die Romane erschreckend genau jene Situation ein, die „sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt [hat], zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen.“³³ Ähnlich wie zuvor schon Remarque illustriert Ledig mit dieser Schnitttechnik die fehlende Kontinuität des Geschehens, die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, mithin die Unvereinbarkeit der Perspektiven und die Unmöglichkeit des synoptischen Blicks auf das Geschehen als „ein Chaos von isolierten Erfahrungen“.³⁴ Denn die Struktur des Textes ist nicht nur ihrem Thema geschuldet, sondern eben auch der Unmöglichkeit der sinnhaften Erfahrung: „Es liegt zwar nahe, die narrative Verfasstheit des Textes auf die Wucht der Ereignisse zurückzuführen, ist aber unzutreffend. Nicht die Ereignisse an sich, sondern die verfügbaren Wahrnehmungsmuster verursachen das Chaos der Erzählung.“³⁵ Da zwischen den einzelnen Handlungssträngen unklar bleibt, was gleichzeitig geschieht und was nicht, verliert auch die temporale Kontinuität der Erzählung an Bedeutung.³⁶ In der Folge sind die Romane eher räumlich denn chronologisch strukturiert,³⁷ wobei der Raum jeweils durch die Bewegung der Figuren aufgespannt wird: In Die Stalinorgel etabliert der Weg des Melders gleich zu Beginn einen horizontalen Rahmen, zu dem später auch die Ortswechsel des Feldwebels und des Majors beitragen. In Vergeltung dagegen erstreckt sich zwischen den amerikanischen Bombern über der Stadt und den Menschen in den Kellern eine vertikale Handlungsebene, die gleichwohl nur von Strenehen am Fallschirm komplett durchmessen wird. Die räumliche Ordnung der Texte greift

 Hensel (2005), 65.  Vgl. Koch (2005), 196.  Hundrieser (2003), 369. Vgl. zur Gewalt als eigentlichem Subjekt des Krieges auch Ahrens, Jörn: Macht der Gewalt. Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Prosa Gert Ledigs. In: literatur für leser 24.3 (2001), 165 – 178.  Adorno (2004), 89.  Nieraad (1994), 169.  Heukenkamp (2001), 472.  Vgl. Koch (2005), 196.  Dass bei Vergeltung die erzählte Zeit durch die Zeitangaben am Anfang und am Ende klar festgelegt ist, ändert daran nichts, da der Leser dazwischen weitgehend ohne zeitliche Orientierung bleibt.

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damit auch die jeweilige Richtung der Gewalt auf: der eher horizontal sich bewegenden Artilleriegeschosse und Panzer einerseits und der vertikalen Achse der Bomben bzw. des Flugabwehrfeuers andererseits.

2.1.2.3 Fehlende Makroperspektive/Teleologie Die narrative Omnivision Ledigs ist klar auf den eng gesteckten Raum der Erzählung konzentriert und blickt weder darüber hinaus auf größere Zusammenhänge, noch bietet sie Deutungsangebote an. Die Verdichtung auf den Augenblick und den Mikroprozess sowie die Konzentration auf die gleichzeitigen Ereignisse an einem Ort greift in Vergeltung das Muster der alliierten area bombings auf und etabliert so eine geschlossene Todeszone als Handlungsrahmen, deren Außenwelt keine Rolle mehr spielt und nicht mehr denkbar scheint.³⁸ Die Verschachtelung der Narration führt auf diese Weise zu einer „Omnipräsenz des Bombenfeuers“.³⁹ Darüber steht der unbeteiligt wirkende Erzähler mit seinem synoptischen Blick auf die der menschlichen Wahrnehmung eigentlich inkommensurable Erfahrung Krieg.⁴⁰ Ledig macht dem Leser keine Illusionen über die Grausamkeit und Unmenschlichkeit des modernen Krieges. Sein Interesse gilt aber nicht dem Krieg als einem Konflikt zwischen Nationen, sondern den Konflikten des Individuums im technisierten Kampfgeschehen. Durch diese Mikroskopierung gelingt es ihm, sein Hauptanliegen zu verfolgen: die Auswirkungen des hoch entwickelten Krieges auf den einzelnen Menschen darzustellen. „Das Erzählen selbst fungiert [dabei] im Sinne eines Mediums, das die unerträgliche Wirklichkeit in ihrem Extremcharakter literarisch erfahrbar macht, ohne ihre einzelnen Phänomene systematisch – politisch, geschichtsphilosophisch oder moralisch – zu bewältigen.“⁴¹ Ledig versucht sich somit gar nicht erst an einer Erhellung durch Reflexion oder größere Zusammenhänge, sondern lässt stattdessen den Krieg und seine Wahrnehmung auf ihren Kern reduziert und unkommentiert für sich selbst sprechen. Dieser Verzicht auf jegliche Teleologie greift wiederum die Unmöglichkeit einer sinnhaften Erfahrung des Krieges auf, zumal auch den Figuren der Überblick über ihre unmittelbare Umgebung verwehrt ist. So ist die Welt in Die Stalinorgel auf einen Kilometer Frontbreite zusammengeschrumpft (SO 14), und

 Vgl. Koch (2005), 197.  Vedder, Ulrike: Luftkrieg und Vertreibung. Zu ihrer Übertragung und Literatisierung in der Gegenwartsliteratur. In: Caduff, Corina (Hg.): Chiffre 2000. Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München 2005, 69.  Vgl. ebd.  Alt (2010), 478.

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niemand weiß, wie stark der Feind ist (SO 32). Der Stab weiß nicht, wie die Situation beim Major ist, der seinerseits mit der Riegelstellung nur über den Melder verbunden ist. In dieselbe Richtung weist der Glaube des Feldwebels, im herrschenden Chaos könne niemand beweisen, dass er sich abgesetzt hat (SO 91). Die fehlende sinnhafte Erhellung geht also mit Ledigs Verzicht konform, seine Erzählung moralisch-teleologisch anzulegen und so das Geschilderte abzumildern, etwa durch mythische Verklärung, wie es viele seiner Zeitgenossen taten (vgl. etwa Nossacks Der Untergang oder Kasacks Die Stadt hinter dem Strom). Zwar durchsetzt er vor allem Vergeltung mit zahlreichen christlichen und eschatologischen Motiven, bietet damit aber keinen sinnstiftenden Ansatz. Vielmehr destruiert er diese Möglichkeit im Laufe des Romans konsequent im Zuge seiner Zeichnung des Krieges als einer negativ verkehrten Welt (vgl. hierzu ausführlich 4.1). Ledigs Darstellung extremer Gewalt ist somit nicht metaphysisch überbaut und beinhaltet letztlich keine Bestätigung oder Wiederherstellung der Ordnung. So widerspricht Ledig der klassischen Vorstellung von Literatur und Ästhetik.⁴²

2.1.2.4 Radikale Mimesis/Authentizität Diese Absage an eine „schöne“ Literatur ist auf den Begriff „gefährliche Literatur“ zurückzuführen, den Ledig selbst für seine Texte prägte. Diese sah er in ihrem Kern pädagogisch motiviert: Wenn in einer Küche ein Kruzifix hängt, darunter ein Sofa steht und auf dem Sofa ein Ehebruch stattfindet, so verschweigt die ungefährliche Literatur entweder den Geschlechtsakt oder das Kruzifix. Die gefährliche Literatur aber zeigt beides zusammen. Man erzieht Menschen nicht dadurch zu korrektem Aussehen, indem man den Spiegel verhängt, sondern indem man sie mit Spiegeln umgibt. Deshalb ist die Methode der gefährlichen Literatur eine Darstellung der unangenehmen Tatsachen mit erzieherischer Wirkung.⁴³

In dieser kurzen Definition scheint wiederum Ledigs Abneigung gegen Verschleierung von Fakten auf. Damit verbunden ist das Bestreben, den Lesern die „unangenehmen Tatsachen“ vor Augen zu führen, mithin ein möglichst authentisches Bild des Krieges zu zeichnen. Dies erklärt Ledigs Bemühungen um radikale Mimesis in Die Stalinorgel und Vergeltung. ⁴⁴ Ledig selbst unterstrich noch bei

 Vgl. Nieraad (2002), 1277.  Ledig, Gert: Die gefährliche Literatur. In: Panorama-Zeitschrift für Literatur und Kunst 1, April 1957. Ein Echo dieses Ansatzes findet sich in Faustrecht in Robs Ablehnung von Dichtung und ihren hohen Idealen (FR 61), aber auch in einem Bild vom lieben Gott, auf dem auch ein Schlachtfeld zu sehen ist, von dem sie die Verwundeten mit Bauchschüssen wegtragen (FR 50 f.).  Vgl. Koch (2005), 190.

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der Wiederveröffentlichung von Vergeltung den Stellenwert der authentischen Erfahrung und Wiedergabe: „Die Angst muß dir selbst im Genick sitzen, du mußt das genau kennen. […] Sonst bist du bloß ein Berichterstatter, kein Schriftsteller.“⁴⁵ Damit steht er zunächst in einer Reihe mit vielen Kriegsromanen nach 1945, da häufig ein emphatischer Anspruch auf die „Wahrheit“ der Darstellung erhoben [wurde], obwohl die Verfasser nicht beanspruchten, historisch nachprüfbare Ereignisse zu schildern. Die Frage, wie ein Wahrheitsanspruch mit fiktionaler Gestaltung vereinbar ist, scheint die zeitgenössischen Leser und Rezensenten weit weniger interessiert zu haben als die, ob der Verfasser denn wirklich „dabeigewesen“ war.⁴⁶

Gerade die Verfasser anspruchsvollerer Literatur (Böll, Schmidt, Andersch etc.) hatten aber kein Interesse an einer genauen Zeichnung des Krieges: Sie waren literarisch versierte Intellektuelle, für die Nationalsozialismus und Krieg vor allem eine Bedrohung ihrer Identität und ihres Lebensplans als Schriftsteller dargestellt hatten. Diese Schriftsteller hatten den Krieg nie als „normalen“ Alltag akzeptiert, und sie suchten ihn in ihren Kriegsbüchern auch nicht als solchen dokumentarisch aufzuzeichnen; in erster Linie ging es ihnen darum, ihre innere Distanz zum Kriegsalltag auszudrücken.⁴⁷

Ledig dagegen versucht nicht nur, seine eigene Ablehnung des Krieges zu formulieren, sondern er will zur allgemeinen Ablehnung des Krieges – eines jeden Krieges – erziehen. Dies sucht er über eine authentische Wiedergabe des traumatischen Kriegserlebnisses im Zweiten Weltkrieg zu erreichen. Neben den pädagogischen Aspekt tritt somit gleichzeitig auch eine erinnerungskulturelle Komponente, insofern Ledig den Krieg so zu reproduzieren versucht, wie er ihn wahrgenommen hat, gerade weil – wie der folgende Abschnitt zeigen wird – diese Perzeption fragmentiert war und sein musste. Damit die Texte als Erinnerungsliteratur fungieren können, ist die Authentizität bzw. der Realismus der Erzählung eine zwingende Prämisse. Denn nur, wenn der Autor eine angemessene Repräsentationsform für die seinem Text und Thema zugrunde liegende Erfahrung findet, kann der Leser die Authentizität der Erzählung und somit der darin aufgehobenen Erinnerung bestätigen. Dies wiederum ist die Basis für eine Vergesellschaftung, d. h. für eine gesellschaftliche Verifikation und Annahme dieser Erinnerungen sowie im konkreten Fall Ledigs in  Hage, Volker (1999): „Die Angst muß im Genick sitzen“. In: Der Spiegel vom 4.1.1999, 164.  Baron, Ulrich; Müller, Hans-Harald: Die „Perspektive des kleinen Mannes“ in der Kriegsliteratur der Nachkriegszeiten. In: Wette, Wolfram (Hg.): Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. München 1992, 354.  Ebd., 355.

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einem zweiten Schritt für das Erreichen des erzieherischen Zieles: der Ablehnung jeglichen Krieges als eines widernatürlichen sowie durch und durch menschenfeindlichen Zustands. Auch wenn hier der Stellenwert der Authentizität und des Realismus hervorgehoben wird, stand dieser Ansatz in deutlichem Widerspruch zu Adorno: In scharfer Kontradiktion zu Theodor W. Adorno, der in den fünfziger Jahren mimetischrealistisches Erzählen im apodiktischen Gestus der Ideologiekritik unter Generalanklage gestellt hatte, nähert sich Ledig der Problemstellung einer wirklichkeitsadäquaten Repräsentation des Kriegsgrauens in einer collageartigen Erzählhaltung von unten, die […] ganz nahe an das durch das Chaos des Geschehens irrende Figurenensemble des Textes herantritt und so fokussiert unter teststrategisch gewollter Aussparung jeglicher Psychologie und Charakterentwicklung das Leid ihrer zerschundenen Seelen und zerstörten Körper mit größter, nahezu schmerzhafter Eindringlichkeit darstellt.⁴⁸

Doch auch nach der Wiederveröffentlichung wurden Ledigs Romane für ihre radikale Mimesis kritisiert, etwa von Rainer Leschke, für den Authentizität nicht nur kein Ausweis literarischer Qualität ist, sondern vielmehr deren Substitut – und somit bedeutungslos.⁴⁹ Angesichts der Bedeutung, die Erinnerungsliteratur von ihren Adressaten zugesprochen werden muss, bildet Authentizität jedoch ein zentrales Element der Narration und dient keinesfalls als „Supplement mangelnder literarischer Leistungen“ der kompensatorischen „Aufwertung“, wie Leschke die „realistische Grundierung von Kriegsnarrationen“ kritisiert hat.⁵⁰ Zur Bestimmung des Wertes von Ledigs Romanen als Erinnerungsliteratur wird im Laufe der folgenden Untersuchung immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln nach der Authentizität bzw. der Stimmigkeit der Texte zu fragen sein, sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene. Zur Abgrenzung von W.G. Sebald, bei dem der Begriff der Authentizität im Zusammenhang mit der literarischen Repräsentation des Bombenkriegs ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, sei hier kurz erläutert, was im Folgenden damit gemeint ist. Für Sebald ist Authentizität nicht an Augenzeugenschaft geknüpft, sondern ergibt sich daraus, wie das Material (Text und Bild) organisiert und verbunden wird, sodass das Ergebnis „eine Reflexion der Vermitteltheit der eigenen Erfahrung beinhaltet.“⁵¹ Er definiert zwei Aspekte von Authentizität innerhalb eines

 Koch (2005), 193.  Vgl. Leschke, Rainer: Kriegerische Opfer. Von den Verlusten der Kriegserzählung. In: Koch, Lars; Vogel, Marianne (Hg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg 2007, 99 – 118.  Ebd., 98.  Streim (2005), 302.

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fiktionalen Textes. Zum einen ist dies die Einflechtung tatsächlicher Zeitdokumente: „Authentizität wird hier verstanden als ‚Fundstück‘, als Element der Wirklichkeit, das die Fiktionalität des Literarischen durchbricht und dabei jene Sichtbarkeit des Wirklichen herstellt, die durch andere Strategien verdeckt würde.“⁵² Zum anderen betrifft dies die sprachliche Repräsentation. Ein gelungenes Beispiel authentischer literarischer Umsetzung des Bombenkriegs ist für Sebald etwa Alexanders Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945, „weil er in der Verschränkung von subjektiver Erfahrung und historischer Analyse die Grenzen des Erfahrbaren“ zeigt.⁵³ Dies lässt sich ähnlich auch für Ledigs Texte konstatieren, wobei der synoptische Blick des Erzählers dort nicht aus dem größeren Blickwinkel entsteht, sondern aus einer Vielzahl subjektiver Erfahrungen. Es wird später auf Sebalds Kritik an den unmittelbaren Zeugnissen von Betroffenen der Bombennächte einzugehen zu sein; er traute diesen nicht, da ihre Beschreibungen der Normalsprache verhaftet blieben und selten über stereotype Darstellungen hinausgingen (s.u. 9.3).⁵⁴ Allerdings muss auch angemerkt werden, dass gerade bei Traumata das Erlebte oft nicht sprachlich zugänglich – da noch nicht Teil der festen Erinnerung – ist (s.u. 6. und 7.). Wenn im Folgenden im Zusammenhang mit Ledig von der Authentizität seiner Darstellung die Rede ist, so bezieht sich dies im weiteren Sinne auf diese zweite Ebene, da die erste mangels eingebundener dokumentarischer Elemente in seinen Texten keine Rolle spielt. So bleibt die sprachliche bzw. formale Ebene, auf der die Repräsentation stattfindet. Ist von einem literarischen Text die Rede, der wie bei Ledig auf persönlicher Erfahrung des Verfassers basiert, so kann der Fokus – gerade wenn es sich wie bei den Bombenangriffen nicht um ein rein individuelles Erlebnis handelt – nicht auf tatsächlicher, umfassender Authentizität im Sinne eines Berichts liegen. Stattdessen wird die literarische Form zu einem gesellschaftlichen Deutungs- und Versprachlichungsangebot. Wenn also Dieter Forte über Vergeltung sagt „Ich kann schwören, so war es. Das ist meine

 Volkening, Heide: Erschütterung der Erfahrung. Zum Stellenwert des Authentischen bei W.G. Sebald und Alexander Kluge. In: Koch, Lars; Vogel, Marianne (Hg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg 2007, 154. Sebald illustriert dies am Beispiel von Hubert Fichtes Detlevs Imitationen Grünspan, worin der Bericht des Pathologen Siegfried Gräff über Leichen der Hamburger Bombennächte 1943 – 1945 auftaucht; vgl. Sebald (2001), 65 f., und Fichte, Hubert: Detlevs Imitationen „Grünspan“. Reinbek bei Hamburg 1971, 33 – 56.  Volkening (2007), 152.  Vgl. Sebald (2001), 31– 33.

2.2 Unzulänglichkeit der sinnlichen Erfahrung

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Kindheitserinnerung, so war es“,⁵⁵ so bedeutet dies nicht, dass Forte es genau so erlebte, sondern dass der Roman Situationen beschreibt, wie sie sich damals häufig ereigneten, also dass diese so dargestellt sind, wie sie von den Betroffenen erfahren wurden, die sich dann darin wiedererkennen können. Handlungen und Emotionen der Romanfiguren entsprechen dem, was Forte selbst erlebte; auf diese Weise bildet der Roman für ihn eine angemessene Repräsentation des Geschehens. In diesem Sinne soll der Begriff der Authentizität im Folgenden gebraucht werden. Die Wirklichkeit, der sich Ledig durch seine authentische Darstellung nähern will, ist eine Situation, die das menschliche Individuum komplett negiert und in der stattdessen der Krieg selbst zum Subjekt erhoben wird, während die Menschen zu Objekten degradiert werden. „Die Brutalität der Darstellung ist dabei kein zynischer Selbstzweck, sondern das adäquate Spiegelbild der Wirklichkeit.“⁵⁶ So liefert Ledig „eine Art von Phänomenologie des Krieges“⁵⁷, der für seine Teilnehmer nicht mehr sinnhaft erfahrbar ist, da ihre Wahrnehmung einerseits auf einen Ausschnitt dieser Wirklichkeit beschränkt ist. Andererseits sind sie mit einem (dem menschlichen) Sensorium ausgestattet, das dem technisch beschleunigten Kriegsgeschehen nicht gewachsen ist.

2.2 Unzulänglichkeit der sinnlichen Erfahrung 2.2.1 Wahrnehmung des Krieges Ist eine sinnhafte Erhellung der Ereignisse nicht mehr möglich, beschränkt sich der Erfahrungsrahmen des Krieges auf die rein sinnliche Wahrnehmung, so auch in Ledigs Darstellung.⁵⁸ Die größte Bedeutung kommt dabei im modernen Krieg dem Hörsinn zu, da die Entfernung zwischen den Feinden so groß ist, dass gegnerische Aktionen erst sichtbar werden, wenn sie ihre Wirkung entfalten, d. h. wenn es für eine Reaktion bereits zu spät ist. Die Geräusche des Schlachtfelds – z. B. der heranfliegenden Granaten – richtig zu „lesen“ und zu unterscheiden, war nicht nur im Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs überlebenswichtig, sondern auch in vergleichbaren Situationen des Zweiten Weltkriegs, nicht zuletzt im

 Hage, Volker: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche. Frankfurt am Main 2003, 160.  Barbian (2002), 359 f.  Ahrens (2001), 165.  Vgl. Lawson (2009), 35.

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2 Unangemessenheit des Leibes

Bombenkrieg.⁵⁹ Auch hier kündigten sich die Gefahren ausschließlich akustisch an, und alle anderen sinnlichen Reize (z. B. die sichtbare Explosion, die Erschütterung und/oder die Druckwelle, der Pulvergeruch, die Explosionshitze) setzten erst nach dem Einschlag ein und konnten im Überlebenskampf keine Rolle mehr spielen. Vor allem Kinder lernten, die verschiedenen Bomben anhand ihrer Geräusche zu unterscheiden.⁶⁰ Die sinnlichen Eindrücke boten aber nicht nur Orientierung, sondern waren gleichzeitig auch Quelle immenser Belastung, so etwa der Lärm der fallenden Bomben in den Städten.⁶¹ Dieser Effekt wurde auch gezielt zur psychologischen Kriegsführung eingesetzt, wie etwa bei den sogenannten Jericho-Sirenen der deutschen Sturzkampfflugzeuge Ju 87 oder dem sowjetischen Mehrfachraketenwerfer Katjuscha (vor allem in der Ausführung BM-13), der Stalinorgel.⁶² Gerade Letztere besaß große Wirkung auf die deutschen Soldaten: Die überirdische […] Botschaft der ,Stalin-Orgel‘ tut sich schon von weither kund durch ein spezielles Pfeifen und Heulen und Brausen, das sich im Näherkommen verstärkt. Und der Landser erschrickt, sobald er hört, was da auf ihn zufliegt, ihn ergreift ein Schauder.⁶³

Die herausgehobene Stellung der akustischen Eindrücke spiegelt sich auch in der Literatur zu den Weltkriegen. Jörg Theis hat etwa die besondere Rolle von Geräuschen in Jüngers In Stahlgewittern betont und dort vor allem die weite Band-

 Ulrich, Bernd: Der Krieg – ein rücksichtsloses Geräusch. Der Lärm des Zweiten Weltkriegs. In: Paul, Gerhard; Schock, Ralph (Hg.): Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute. Göttingen 2014, 239 – 245 (mit expliziter Erwähnung von Die Stalinorgel und der dortigen Beschreibung der Geräuschkulisse; ebd., 243). Vgl. auch Friedrich, Jörg: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 – 1945. Frankfurt am Main/Zürich/Wien 2003, 495.  Vgl. Stargardt, Nicholas: The German War. A Nation under Arms, 1939 – 45. London 2015, 348. So konnte es im Luftschutzkeller überlebenswichtig sein, anhand der Geräusche die Situation an der Oberfläche einzuschätzen und den Keller ggf. rechtzeitig zu verlassen.  Vgl. Süß, Dietmar: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England. München 2011, 375. Süß hat auch die Auswirkung der Luftschutzsirenen auf das Leben der Menschen in deutschen und englischen Städten hervorgehoben. Süß, Dietmar: Warnsignale des Todes. Fliegeralarm und Luftschutzsirenen. In: Paul, Gerhard; Schock, Ralph (Hg.): Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute. Göttingen 2014, 233 – 237. „Die Geräuschkulisse und die dröhnenden Signale gehörten […] zu einer übergreifenden Luftkriegserfahrung, die in der Kombination mit anderen Formen der Gewalterfahrung massiv in die Alltagsroutinen eingriffen“; ebd., 237. Die Zunahme der Warntöne demonstriert danach den allmählichen Zusammenbruch des Reiches im Laufe des Krieges, ihr Verstummen im Mai 1945 schließlich dessen Ende.  Vgl. Ulrich (2014), 242.  Kemper (2008), 141.

2.2 Unzulänglichkeit der sinnlichen Erfahrung

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breite entsprechender Verben zu ihrer Beschreibung hervorgehoben.⁶⁴ In Die Stalinorgel und Vergeltung findet sich ein vergleichbar weites Spektrum, dem die Omnipräsenz akustischer Reize korrespondiert. Dabei dominiert der Lärm der Waffen, was hier anhand der entsprechenden Begrifflichkeiten ausschließlich aus den ersten beiden Kapiteln beider Romane demonstriert sei: Herangurgeln, Kettengerassel, Umzwitschern, Pfeifen der Luft, Dröhnen, Brüllen, Kreischen, Donnern, Orgeln, Geprassel, Zischen, Rattern, Krachen, Knallen, Summen, Hämmern und Rumpeln (Die Stalinorgel) bzw. Geheul, Zischen, Prasseln, Dröhnen, Krachen, Fauchen, Klirren, Gongschläge, Zwitschern, Brummen, Summen, schwere Schläge, Heultöne, Pfeifen und Brüllen (Vergeltung). Anhand dieser Sammlung wird der nur schwer erträgliche Umgebungslärm deutlich; es überwiegen extrem laute (wie Dröhnen und Donnern) und dissonante Geräusche (etwa Kreischen und Heulen). Eindrucksvoll kommen diese beiden Aspekte im Lärm der titelgebenden Waffe von Die Stalinorgel zusammen: Zunächst klang in der Ferne das Brüllen eines gereizten Tieres. Dumpf und stöhnend, ein Geräusch, das sich mit nichts vergleichen ließ. Es drang über einige Werst hinweg wie ein Ruf. Zwei-, dreimal brüllte es auf. Dann das Kreischen einer verstimmten Orgel. […] Dann brach es herein. Unzählige Blitze zerrissen den Wald. Fast ein halbes Hundert Geschosse zerplatzte an den Stämmen oder auf der Erde. Ein ohrenbetäubendes Donnern. (SO 21)

Das Kriegsgeschehen ist so zunächst akustisch präsent, alle anderen Sinne stehen gegenüber dem Hören im Hintergrund: „Die Luft war voll Brüllen“ (V 40). Für die Menschen, die in Vergeltung im Luftschutzkeller oder im Bunker Schutz suchen, erlauben daneben überhaupt nur die Erschütterungen durch die einschlagenden Bomben einen Rückschluss auf die Ereignisse außerhalb ihres Refugiums. Aber nicht nur die Kriegstechnik trägt zur ständigen, nur schwer erträglichen Geräuschkulisse bei. Neben diesem unmittelbaren Kriegslärm wird auch die Auswirkung der Waffen auf die Menschen hörbar, denn selbst dort, wo es den Figuren gelingt, die Augen vor den Verletzungen zu verschließen, bleiben die Schmerzenslaute der Verwundeten ein konstanter Hintergrund. Tierisches Schreien, Stöhnen, Wimmern, Schluchzen, Toben und Weinen machen es unmöglich, die Folgen der mörderischen Technik auszublenden.⁶⁵ Wehklagen

 Vgl. Theis, Jörg: Der „Tanzplatz des Todes“. Geräusche des Krieges und zerstörte Körper in Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“. In: Koch, Lars; Vogel, Marianne (Hg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg 2007, 119 – 131.  Gleichzeitig entlarvt diese Omnipräsenz menschlicher Agonie auch den schmerzlosen Tod durch Brustschuss, der den Hinterbliebenen der Gefallenen in der Heimat weisgemacht werden

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2 Unangemessenheit des Leibes

und Agonie wirken so ebenfalls äußerst belastend auf die Glücklichen, die (noch) nicht verletzt sind. Daher gibt das tierische Schreien der tödlich Verwundeten nur deshalb „zum Abtransport Anlaß“ (SO 16), um psychologischen Druck von den Unversehrten zu nehmen. Bei allen negativen Aspekten der überfordernden Geräuschkulisse wird jedoch auch bei Ledig unterstrichen, wie unverzichtbar der Hörsinn im Kriegsgeschehen ist: „Erschrocken dachte der Leutnant [nach einem Granateneinschlag]: Ich höre nichts. Das ist genauso, als wäre ich blind“ (V 41, auch 45). Hier klingt der enorme Stellenwert der akustischen Wahrnehmung für das Überleben an. Ebenfalls sehr präsent, wenngleich nicht so dominant wie die Akustik, sind die optischen Eindrücke. Analog zum Lärm überwiegt diesbezüglich der sichtbare Aspekt der Granaten und Projektile, sodass immer wieder auf die Leuchtspuren der Geschosse, das Feuer und die Explosionen hingewiesen wird. Exemplarisch seien hier wiederum die entsprechenden Eindrücke der ersten zwei Kapitel der beiden Romane gesammelt wiedergegeben: Blitze, Leuchtspurmunition, Leuchtschirme, Feuerwerk, rötlicher Schein, glühende Splitter, Funkenregen, Explosionen (Die Stalinorgel) bzw. Flammen, Feuerwoge, Blitze (Vergeltung). In der Beschreibung dieser Elemente wird nicht nur das Ausmaß dieser Reize deutlich, sondern auch die Annihilationsdrohung, die in Begriffen wie Explosion oder Blitz mitschwingt. Ähnlich wie bei den Geräuschen finden daher auch diese optischen Wahrnehmungen der Kriegstechnik eine Entsprechung in den überall sichtbaren Verletzungen der Menschen. Ledig spart die Verwundungen nicht aus, sondern schildert sie detailliert und unerbittlich (s.u. 7.). Den Protagonisten mag es vereinzelt gelingen, ihre Augen davor zu verschließen (SO 19); den Lesern wird diese Möglichkeit verweigert. Ledig konzentriert sich mit Hören und Sehen zwar auf jene beiden Sinne, die das Kriegserlebnis am stärksten empfangen, verzichtet aber nicht komplett auf die Perzeption durch die anderen Sinne. Olfaktorisch und gustatorisch wird in Die Stalinorgel und Vergeltung jedoch weniger das Kriegsgeschehen wahrgenommen als in erster Linie der zivilisatorische Rückschritt des Individuums in der Extremsituation (s.u. 3.4). Zwar riecht es vereinzelt nach Pulver (z. B. SO 53) oder die Figuren schmecken Asche auf der Zunge, doch dominieren schlechte menschliche Gerüche: Schweiß und Unrat (z. B. SO 45), Mundgeruch (SO 107) oder Verwesungsgeruch (SO 164). Gerade Letzteres ist als Teil dessen zu sehen, was Thomas

sollte, als Märchen, nicht zuletzt, weil Ledig diese Formel dem Schreien der Verwundeten direkt gegenüberstellt (SO 19).

2.2 Unzulänglichkeit der sinnlichen Erfahrung

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Bernhard den „eigentümliche[n] Geruch des totalen Krieges“ nennt, wobei dort auch der „Geruch von verbranntem Tier- und Menschenfleisch“ hinzukommt.⁶⁶ Taktil werden von den Figuren zwar auch die Einschläge der Granaten und Bomben wahrgenommen, im Vordergrund stehen diesbezüglich jedoch primär das Temperatur- (vor allem durch Hitze) und Schmerzempfinden. Besonders darin, d. h. in der thermischen oder mechanischen Schädigung des Körpers, manifestiert sich die Unangemessenheit des Leibes ganz konkret und unübersehbar, da hier das Missverhältnis zwischen der eingesetzten Technik und der Leidensfähigkeit der ihr ausgesetzten Menschen ganz offen zutage tritt. Dies wird im folgenden Kapitel genauer betrachtet. Festzuhalten ist, dass das Geschehen bei Ledig mangels sinnhafter Erhellung in eine Flut unablässig aufeinander folgender Sinneseindrücke zerfällt, die aber nicht mehr miteinander in Verbindung gebracht oder auch nur hinterfragt werden. Sie werden vom Erzähler als reine Fakten berichtet, eine Verknüpfung und Weiterverfolgung findet nicht statt. Dieser sinnlichen Überforderung korrespondiert der Zerfall des zeitlichen Kontinuums in unübersichtliche Gleichzeitigkeit (s.u. 4.2).

2.2.2 Unangemessenheit des Leibes und Schmerz Trotz aller Dominanz akustischer und visueller Reize darf nicht übersehen werden, dass das primäre Ziel der Kriegstechnik eine taktile Wirkung ist, die zunächst keinen psychologischen Effekt hat, sondern ganz direkt auf die körperliche Integrität gerichtet ist: Kernzweck der eingesetzten Waffen ist (neben der Zerstörung von Dingen/Gebäuden) die (tödliche) Verletzung des menschlichen Körpers, sei es mechanisch durch Projektile oder Splitter, sei es durch Hitze oder Feuer. Tritt bei einem Treffer der Tod nicht unmittelbar ein, wird der zentrale Gehalt des Krieges somit ganz direkt, wortwörtlich am eigenen Körper, in Form von Schmerz erfahren. Dies kann als Konstante kriegerischer Auseinandersetzungen betrachtet werden und war keine Entwicklung erst des 20. Jahrhunderts. Neu war jedoch das massive Missverhältnis zwischen der angewendeten Technik und der

 Bernhard, Thomas: Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg 2004, 26, 29. Die Erfahrbarkeit dieser Sinnesebene ist in der heutigen Zeit, da die Weltkriege vor allem visuell vermittelt werden, eine besondere Herausforderung und zugleich eine große Chance, neue Zugänge zu dieser Zeit zu schaffen. Am Millitärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden war für die Besucher 2014 im Rahmen einer Ausstellung der Geruch des Ersten Weltkriegs zu riechen: eine Mischung aus dem erwähnten verbrannten Fleisch sowie Gerüchen von Schlamm, Erde und faulem Wasser, die kaum einen Besucher unbeeindruckt ließ.

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2 Unangemessenheit des Leibes

menschlichen Physis (und Psyche) sowie – durch den totalen Krieg – die Erweiterung des Objekts dieser Gewalt von den Soldaten auf die Menschen an der sogenannten Heimatfront: „Die Körperlichkeit der Gewalterfahrung war eines der wesentlichen Kennzeichen des neuen ,Gesellschaftszustandes‘, der die Friedensvon der Kriegszeit fundamental unterschied, nicht nur für die Soldaten, sondern auch für die Zivilbevölkerung und insbesondere für Frauen.“⁶⁷ Dieser primäre Aspekt des Kriegsgeschehens kann zwar eigentlich vorausgesetzt werden, doch wird er gerade dort, wo vom Krieg berichtet wird, häufig ausgespart: Man mag viele Seiten einer historischen oder kriegswissenschaftlichen Darstellung eines bestimmten Feldzuges lesen oder zahlreiche Nachrichten aus einem aktuellen Kriegsgeschehen hören, ohne dabei dem Eingeständnis zu begegnen, daß es der Zweck des beschriebenen Unternehmens sei, Menschen zu verbrennen, in die Luft zu sprengen, zu beschießen und zu zerfetzen oder die Gestalt und die Substanz von Dingen zu vernichten, in denen wir die Vergegenständlichungen unserer selbst erblicken.⁶⁸

Für die erzählende Literatur gilt dies genauso, wenn nicht sogar in noch größerem Maße. Gerade in Texten, die den Krieg als großes Abenteuer oder als Mittel zur Bildung des Charakters (als „Stahlbad“) darstellen (s.u. 3.2), wird dieser Aspekt häufig unterschlagen. So kommt es etwa im Werk Ernst Jüngers auch nach schwerstem Beschuss kaum zu Schilderungen körperlicher Deformationen, vor allem nicht entstellter Gesichter.⁶⁹ Dabei konnte sich nach dem Ersten Weltkrieg durch die Massen heimkehrender Invaliden niemand mehr Illusionen über die Wirkung der eingesetzten Kriegsmittel machen. Mit dem Bombenkrieg erreichte dieses Vernichtungspotential auch die sogenannte Heimatfront, wo der menschliche Körper den Waffen ebenfalls kaum etwas entgegenzusetzen hatte: „Die zutage geförderten Organismen sind keine Toten, sondern Zustände. […] Die Zerstörung ersinnt […] Spottgeburten der Entleibung. Hitze, Luftdruck und Trümmerfall durchtrennen nicht, wie die Kugel oder der Hieb, die Gefäße, sie verschrotten.“⁷⁰ Die massive Schädigung der menschlichen Physis bis hin zur völligen Vernichtung des Leibes beschränkte sich auch

 Süß (2011), 572.  Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frankfurt am Main 1992, 97.  Vgl. Hoeschen (2005), 176: Fänden sich solche – in erster Linie in In Stahlgewittern – doch, sind sie meist „so verwest, daß sie sich als Naturobjekte einer schauerlichen Landschaft darbieten und als ‚Memento mori‘-Embleme der Barock-Tradition gelesen werden können.“  Friedrich (2003), 512 f.

2.2 Unzulänglichkeit der sinnlichen Erfahrung

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nicht länger auf die Soldaten, sondern konnte nun alle Bevölkerungsgruppen treffen. Ledig rückt diese zentrale Komponente des Krieges ganz bewusst in den Mittelpunkt seiner Romane. Der Erzähler in Die Stalinorgel und Vergeltung blendet Verletzung, Schmerz und Tod nicht aus, sondern nimmt sie ganz genau in den Blick. Beispielhaft sei hier zunächst auf die Einstiegsszene von Die Stalinorgel verwiesen, in der Ledig detailliert Verstümmelung und Tod eines deutschen Obergefreiten durch Stalinorgelbeschuss beschreibt, bis hin zur kompletten Desintegration des Körpers (SO 7 f.). Ledig legt hier die Tonlage der folgenden Darstellung unmissverständlich fest und macht deutlich, dass er den Lesern die Natur des Krieges und seiner Maschinerie keinesfalls euphemistisch schildern wird. Bereits der Tod des Obergefreiten zeigt, dass die Technik im modernen Krieg das Leben nicht etwa sauber beendet, sondern im Gegenteil den Körper aufreißt, verstümmelt, zerteilt, vernichtet. Die ersten anderthalb Seiten von Vergeltung erfüllen dieselbe Funktion, denn auch dort werden Menschen zerquetscht, zerrissen und verbrannt. Die beiden Passagen bilden somit die Expositionen der Romane, indem sie Blickwinkel und Ton der Darstellung festlegen. In der Folge lösen die Erzählungen ein, was die einführenden Szenen versprechen. Immer wieder zwingt Ledig die Leser schonungslos, den gewaltsamen Toden seiner Figuren beizuwohnen, die nur selten so einfach und schmerzlos sind wie beim russischen Soldaten Solowjeff in Die Stalinorgel (SO 69). Stattdessen öffnen Geschosse und Splitter den Menschen die Körper, sodass Blut und Gedärme hervorbrechen, werden Körperteile abgerissen, kommen Menschen qualvoll in Feuer und Explosionen um, werden unter Trümmern begraben und zerquetscht. Dass Ledig häufig Verben mit dem Präfix „zer-“ einsetzt, hebt das Ausmaß der körperlichen Versehrung hervor.⁷¹ Die Trennung und Fragmentierung schwingt hier schon in der Vorsilbe mit und unterstreicht, dass der menschliche Körper der extremen Kriegsgewalt nicht standhalten kann. Diese Unangemessenheit des Leibes äußert sich neben der mangelnden Widerstandskraft der Körpers gegen die mechanischen und thermischen Einflüsse auch in seiner Langsamkeit: „Er [Sostschenko] selbst wurde zur Puppe. Eingezwängt in einen Leib, der unendlich schwerfällig reagierte“ (SO 62). In der technisch beschleunigten Umgebung ist der Körper sowohl motorisch als auch in seiner Reaktionszeit zu langsam, um das Überleben sichern zu können. Diese Problematik ist auch bereits im Primat des akustischen Eindrucks zu erkennen: Wenn die Gefahr sichtbar wird, ist es bereits zu spät für eine Reaktion.

 Vgl. Brauchle (2008), 103.

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2 Unangemessenheit des Leibes

Die Offenlegung des Destruktivpotentials und des Missverhältnisses zwischen Technik und Mensch kommt aber nicht nur darin zum Ausdruck, dass Ledig sie schonungslos vor Augen führt.Wo die Verletzungen nicht (sofort) tödlich sind, werden sie für die Betroffenen in erster Linie als Schmerz erfahren. Auch diese Tatsache rückt Ledig in den Fokus. Dass Wimmern, Stöhnen und andere Schmerzenslaute in Die Stalinorgel und Vergeltung ständig präsent sind, ist bereits hinsichtlich der sinnlichen Wahrnehmung des Krieges angesprochen worden. Anders als diese akustische Perzeption fremden Schmerzes ist die Beschreibung des eigentlichen Gefühls schwierig. Scarry hat darauf hingewiesen, dass eine sprachliche Erfassung von Schmerz an sich kaum möglich ist, da es sich dabei um eine weitgehend außersprachliche Erfahrung handelt.⁷² Soll Schmerz kommuniziert werden, tritt neben Kategorien wie pochend, brennend oder drückend, wie sie auch die Medizin verwendet, schnell eine „als ob“-Struktur mit einer faktisch nicht vorliegenden Agentenschaft, z. B. „als ob einen ein Hammer träfe“.⁷³ Gert Ledigs Darstellung von Schmerz entspricht sehr genau dieser Einordung. So finden sich häufig brennender Schmerz (z. B. „Der Kopf brannte fiebrig“, SO 134; „in Sostschenkos Hüfte brannte der Schmerz“, SO 150) oder vergleichende Konstruktionen („Sein Schädel war wie zerschlagen“, SO 134; „Der Schmerz durchfuhr seinen Körper wie ein Degenstich“, V 54). Häufig jedoch versucht Ledig gar nicht erst, die Schmerzen selbst zu beschreiben, sondern schildert stattdessen die Reaktion der Menschen auf den Schmerz („Der Schmerz nahm ihm den Atem“, V 109; „Von Schmerz gepeinigt, wälzte er sich als schwarzer Klumpen in zäher Masse“, V 127; „Im Schmerz verkrampften sich seine Muskeln“, V 156) und transportiert so jenen Aspekt, der ihn in erster Linie interessiert – die Intensität der Empfindung – besser als es eine Beschreibung könnte, die nur zu kurz greifen kann: Der sprachliche Ausdruck wahrgenommener Gewalt und erlittenen Schmerzes macht sich bei Ledig den Ereignissen gleich, paßt sich den Empfindungen der Personen an, identifiziert sich minutiös mit dem Ablauf des Geschehens, indem er die Oberfläche der Vorgänge kameraartig, in farbigen Bildern, in visuellen wie akustischen Eruptionen registriert. Die situativ gewaltförmige Dynamik teilt sich distanzlos mit, als Sprache der Gewalt.⁷⁴

 Vgl. Scarry (1992), 11– 23. Hierzu gehört auch, dass Schmerzenslaute – wie in Ledigs Romanen – nicht sprachlich sind: „Der körperliche Schmerz ist nicht nur resistent gegen Sprache, er zerstört sie, er versetzt uns in einen Zustand zurück, in dem Laute und Schreie vorherrschen, deren wir uns bedienten, bevor wir sprechen lernten.“ Ebd., 13.  Ebd., 28 f.  Schnell, Ralf: Sprache der Gewalt – Gewalt der Sprache. In: Weninger, Robert (Hg.): Gewalt und kulturelles Gedächtnis. Repräsentationsformen von Gewalt in Literatur und Film seit 1945. Tübingen 2005, 49.

2.2 Unzulänglichkeit der sinnlichen Erfahrung

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Teils kommuniziert Ledig den Schmerz seiner Figuren auch nur indirekt über die Schilderung dessen, was sie erleiden müssen. Dies ist etwa beim Melder der Fall, der nach seinem Überlaufen bei den Russen massiver Gewalt ausgesetzt ist: „Sie schlugen auf ihn ein. Traten ihm in den Magen. Die Knie bluteten. Die Zunge fuhr über den Gaumen. Die Zähne lagen, blutige Brocken, am Boden. Sie traten ihm in die Hoden, bis er zusammenbrach. Im Fallen wimmerte er um Gnade. Die Stimmbänder versagten“ (SO 134). Ledig beschreibt so Körper im Schmerz, ohne diesen Aspekt direkt anzusprechen. Indirekt wird auch emotionaler Schmerz vermittelt, vor allem in den Lebensbeschreibungen zwischen den Kapiteln, so etwa in Nikolai Petrowitschs Monolog: „Meine Frau Lisaweta wird tot sein. Die kleine Lisaweta wird auch tot sein. Der kleine Andrej Nikolajewitsch wird auch tot sein; mein Junge. Ich träume in den Nächten von Brot. Immer wieder von trockenem Brot. Brot“ (V 57). Der scheinbare Lakonismus der Wiederholungen repräsentiert hier den intermittierenden Rhythmus einer Mnemotechnik des Leidens. Es ist die Unmittelbarkeit einer Sprache erlittenen Schmerzes, die auf diese Weise zum Ausdruck kommt.⁷⁵ Ähnliches lässt sich auch für die Erzählung der Gräfin vom Tod ihres Sohnes konstatieren, auch sie „spricht nicht über den Schmerz, sondern sie spricht den Schmerz“⁷⁶, wenn sie ebenfalls scheinbar lakonisch schließt: „Das war mein Sohn“ (V 178). In der Weigerung, die physischen Folgen des Krieges zu verschweigen, ist eine Umsetzung von Ledigs Bekenntnis zur „gefährlichen Literatur“ zu sehen. Der schonungslosen Darstellung des Leidens und des elenden, blutigen Sterbens im Krieg liegt zweifellos die Hoffnung auf eine erzieherische Wirkung zugrunde. Ledigs Ziel ist es, den Menschen vor Augen zu führen, was der Krieg jenseits jeglicher romantischen Verklärung bedeutet, was seine Kernerfahrungen sind: Tod, Verletzung und Schmerz. In einer Situation, die vom Einzelnen nicht mehr sinnhaft erhellt werden kann und die nur noch aus einer Flut nicht zu bewältigender sinnlicher Reize besteht, wird der Körper ganz unmittelbar zum Medium, mit dem Welt und Umwelt erfahren werden, denen er aber zugleich nicht länger gewachsen ist. Weder Reaktionszeit noch Bewegung sind schnell genug, um sich in Sicherheit zu bringen, und der Leib kann der mechanischen und thermischen Gewalteinwirkung nicht standhalten. So realisiert sich über die ganz konkrete Unangemessenheit des Leibes der zentrale Gehalt des Krieges: Primäres Ziel der eingesetzten Mittel ist es, Menschen zu verletzen, zu verstümmeln, zu töten –

 Ebd., 50.  Ebd.

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2 Unangemessenheit des Leibes

Ledig lässt darüber keinen Zweifel aufkommen. Folglich gibt es bei ihm auch kein rauschhaftes oder gar erotisiertes Töten, auch wenn er den Krieg eher als sinnliche denn als sinnhafte Erfahrung beschreibt. Ledig will den Krieg nicht in seiner Totalität erfahrbar machen; er stellt vielmehr die Nicht-Erfahrbarkeit in den Vordergrund.

2.3 Ästhetisierte Darstellung und Erhabenheit Die Überforderung der sinnlichen Wahrnehmung führt nicht nur beim Schmerz als in seinem Kern außersprachlichem Phänomen zu Problemen bei der Beschreibung. Da die Perzeption von der Masse und der Wucht der Eindrücke überfordert ist und diese kaum noch sinnhaft einordnen kann, kommt es – ähnlich wie beim Schmerz – zum Rückgriff auf Muster und Bilder, die anderen Bereichen entlehnt sind. Bei der Erfassung des Kriegsgeschehens stammen diese in vielen Fällen aus dem Bereich der Naturerscheinungen. Eine Folge der Unangemessenheit des Leibes ist damit häufig eine unangemessene ästhetisierte Darstellung der Kriegsgewalt, die teils aber auch an Wahrnehmungsmuster des Erhabenen erinnert.⁷⁷ Ledig bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme, findet aber gleichwohl Gegenentwürfe zur Ästhetisierung der Darstellung, die diese unterlaufen und somit relativieren. Der Bezug zu Wahrnehmungsmustern des Erhabenen liegt nahe, da diese ebenfalls eine Überforderung der Perzeption und der sinnhaften Einordnung implizieren. Für Kant scheitert die Einbildungskraft „bei der Betrachtung überwältigender Naturerscheinungen daran, diese als Ganze in die Anschauung aufzunehmen“, was sich in Form der „paradoxen Gefühlsmischung des ‚angenehmen Grausens‘“ äußert.⁷⁸ Danach ist das Erhabene (als Naturschauspiel) das, was den Menschen physisch und psychisch zu überwältigen, d. h. sowohl seine sinnliche Wahrnehmung als auch seine körperlichen Grenzen zu sprengen droht. Bewältigt wird diese Situation, indem das Subjekt „der Naturerscheinung, die den Bestand seiner Leiblichkeit bedroht, seine unzerstörbare sittliche Persönlichkeit entgegenstellt.“⁷⁹

 Zur Problematik erhabener Darstellungen von Kriegsgewalt vgl. Stadler, Ulrich: Zur Ästhetik des Erhabenen. Gewaltdarstellungen in der Natur. In: Hugger, Paul; Stadler, Ulrich (Hg.): Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart. Zürich 1995, 62– 79.  Vgl. Lehner, Michael: Art. Erhabenheit. In: Jaeger, Friedrich (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3. Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 441.  Nieraad (1994), 78.

2.3 Ästhetisierte Darstellung und Erhabenheit

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Eine entscheidende Größe für eine ästhetisierte oder erhabene Perzeption ist darüber hinaus die Distanz. Während der Krieg unmittelbar kaum erfahrbar ist, weil Distanz und verlässliche Wahrnehmung fehlen, konnte das Geschehen (z. B. die Bombenangriffe) aus sicherer Entfernung durchaus ein ästhetisches und geradezu erhabenes Schauspiel bieten,⁸⁰ denn „allein in der Distanz, die das Ich in Sicherheit versetzt hält, kann sich jener Schock des ,Erhabenen‘ zutragen“⁸¹. Doch wenn auch Kant selbst in seiner Theorie des Erhabenen den Krieg als etwas potentiell Erhabenes nennt, ist den Betroffenen die nötige Distanz kaum möglich: „Bereits die Sicherheit, die das Ich angesichts eines ‚Kriegstheaters‘ zu wahren hätte, um es als ‚erhaben‘ wahrzunehmen, erinnert eher an die Distanz, die den Feldherrnhügel vom Geschehen trennte und ein Sehen erst erlaubte.“⁸² So erklärt es sich, dass der Krieg aus der Entfernung als erhaben oder auch schön wahrgenommen werden konnte, etwa wenn Ernst Jünger Fliegerstaffeln bewundert oder gar bei Burgunder und Erdbeeren im Anblick des brennenden Paris schwelgt.⁸³ Dennoch werden die Wahrnehmungsmuster des Erhabenen dem menschengemachten Destruktivprozess nicht gerecht, da sie ihn unangemessen ästhetisieren und überhöhen. Zudem ist es im Zweiten Weltkrieg kaum noch möglich, dem Geschehen „seine unzerstörbare sittliche Persönlichkeit“ entgegenzustellen, da die Kriegssituation diese negiert (s.u. 3.), oder das Erlebte in ein sinnvolles, vernünftiges Ganzes zu integrieren. Eine Sonderrolle hinsichtlich der Wahrnehmung des Krieges als unangemessen ästhetisch oder gar erhaben nahmen die Besatzungen der Bomber ein: Einerseits befanden sie sich in sicherer Entfernung vom Geschehen am Boden, sodass sie es durchaus ästhetisch wahrnehmen konnten; andererseits waren sie dennoch durch Flak und Jagdbomber gefährdet, was zu einer Mischung aus Ehrfurcht, Faszination und Angst führte.⁸⁴ Eine Erzählerposition, die eine ästhetisierende oder erhabene Wahrnehmung des Kriegsgeschehens ermöglicht, ist in der Literatur zwangsläufig selten, da sie große Distanz zu den Ereignissen voraussetzt. Eine Ausnahme bildet der Erzähler in Nossacks Der Untergang, der „außerhalb der Stadt auf einem Hügel plaziert [ist], von wo er, wie einst Plinius der Jüngere, der den Ausbruch des Vesuvs und die Verschüttung Pompejis erlebte, ohne von Affekten überwältigt zu werden, den

 Vgl. Süß (2011), 389.  Lenger (2009), 53.  Ebd., 54.  Vgl. Jünger, Ernst: Strahlungen, Bd. 2: Das zweite Pariser Tagebuch. München 1965, 124, 147 f. und 264 f.  Vgl. Dines, Peter John; Knoch, Peter: Erfahrungen im Bomberkrieg. In: Wette Wolfram (Hg): Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. München, 1992, 217.

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2 Unangemessenheit des Leibes

Gesamtblick hat.“⁸⁵ So überrascht es nicht, dass auch Nossacks Erzähler, obwohl er sich des zerstörerischen und tödlichen Charakters der Hamburger Bombennacht bewusst ist, auf das Bild des Gewitters zurückgreift, „um den Gesamteindruck eines großen Naturereignisses und einer elementaren Katastrophe abzurunden.“⁸⁶ Eine vergleichbare Erzählerposition findet sich bei Ledig nicht, da seine Figuren meist unmittelbar am Geschehen teilhaben und somit nie ausreichend Distanz dazu gewinnen. Auch die Bombercrew am Anfang von Vergeltung hat keine Zeit für entsprechende Wahrnehmungen. Zwar nehmen sie das feindliche Feuer im ersten Moment ästhetisch ansprechend wahr, doch wird dieser Eindruck sofort revidiert und die wahre Natur der Erscheinungen in Erinnerung gebracht: „Unter ihnen entfaltete sich ein Springbrunnen. Er bestand aus Leuchtspurgeschossen und fiel wieder in sich zusammen“ (V 14). Für schönfärberische Perzeption ist hier kein Raum: „Zwischen der Maschine und der Erde hing eine Dunstschicht. Mündungsfeuer blitzte hindurch. Es blinkte wie Scheinwerfer. Aber das Licht war tödlich“ (V 20). Doch auch die Ereignisse am Boden werden bei Ledig immer wieder in die Nähe von Naturereignissen wie Gewitter, Donner, Hagel oder Regen gerückt, z. B.: „die Explosivgeschosse entluden sich über den Schienen wie ein Gewitter“, SO 42 (ähnlich auch SO 54). Hierbei überwiegen meteorologische und astronomische Phänomene („Sternschnuppe“, „Komet“; SO 48), die das Beschriebene zwar nicht zwangsläufig ästhetisieren, aber dennoch eine Darstellung unterstreichen, in denen der anthropogene Charakter der Ereignisse nicht mehr ohne Weiteres erkennbar ist. Die Agentenschaft scheint vom Menschen auf die Natur überzugehen. Teils ruft Ledig aber auch Naturbilder ab, die eine andere Wahrnehmung suggerieren: Dies können einerseits Perzeptionen sein, die die Umgebung der Figuren fast idyllisch scheinen lassen: „Als er am Boden lag, sah er die Höhe aus einer anderen Perspektive. In welligen Tälern spiegelte sich das Licht. Die Granattrichter bildeten malerische Vulkane. Es gab sanfte Hänge und kleine Schluchten“ (SO 180 f.). Andererseits finden sich entsprechende Vergleiche und Metaphern, die mit ihrem bedrohlichen Charakter eine erhabene Wahrnehmung andeuten: „Die Höhe war ein ausbrechender Vulkan“ (SO 42). Dennoch kommt es bei Ledig nicht wie bei Ernst Jünger zur „Anschauung der technischen Destruktionsmacht in der Erlebnisform eines kontemplativ zugänglichen Naturschauspiels“,⁸⁷ denn immer wieder unterläuft Ledig bewusst die  Heukenkamp (2001), 483.  Ebd. Der Rückgriff auf Naturerscheinungen passt sich auch in Nossacks generelles Vorgehen ein, die Ereignisse mythisch zu überhöhen und höheren Mächten zuzuschreiben.  Hoeschen (2005), 175.

2.3 Ästhetisierte Darstellung und Erhabenheit

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entsprechenden Wahrnehmungsmuster. Die unmittelbare Relativierung eines ästhetischen Eindrucks durch Hinweis auf die dem Phänomen innewohnende Annihilationsdrohung ist bereits angesprochen worden. Hinzu kommt Ledigs Weigerung, die Auswirkungen der Kriegstechnik auszublenden, womit er über die andauernde Beschreibung des Sterbens, der Verwundungen und des Schmerzes den tödlichen Kerngehalt des Krieges omnipräsent hält, um einen Gegenpol zu idyllischen oder ästhetisierten Perzeptionen zu bieten. In diesen Kontext gehört auch eine antiidyllische Bildsprache, die die Kriegsumgebung als „Mondlandschaft“ oder als „Friedhof“ schildert (z. B. SO 11). Erhabenen Wahrnehmungsmustern setzt Ledig eine Darstellung der Gewalt unterhalb der Wahrnehmungsgrenze entgegen, in Opposition zur „fragmentarisierten Schockwahrnehmung der Romangestalten. […] In der mikroprozessualen Auflösung verliert die technische Gewalt ihre erhabene Gestalt. Charakteristisch ist nicht der geballte Eindruck, den sie erzeugt. Ihre Macht wächst ihr vielmehr daraus zu, daß sie sich dem korrigierenden Eingriff entzieht.“⁸⁸ Indem Ledig Ereignisse, deren Teilelemente sich eigentlich der menschlichen Wahrnehmung entziehen, aufbricht und in ihrer Kleinstruktur beschreibt, unterläuft er eine erhabene Wahrnehmung, da er die Bestandteile des Geschehens sichtbar macht. Beispiele hierfür sind jene Passagen, in denen Ledig mit dem filmischen Mittel der Slow Motion arbeitet (s.o. 2.1). Als Bestandteile von Ledigs „gefährlicher Literatur“ und dem „gewaltsamen Stil“ stehen diese Möglichkeiten, sich der ästhetisierten oder erhabenen Wahrnehmung der sinnlich überfordernden Kriegsrealität zu entziehen, nur seinen Lesern, nicht aber seinen Figuren zur Verfügung. Die defizitäre Perzeption der Letzteren unterstreicht nicht nur die Unmöglichkeit einer sinnhaften Kriegserfahrung, sondern auch die Tatsache, dass sich die anthropogene Natur der Gewalt im technisierten Krieg oft dem Blick entzieht. Auf diese Weise die Unangemessenheit des Leibes zu demonstrieren und gleichzeitig die verharmlosenden Wahrnehmungsmuster aufzubrechen und zu unterlaufen, zielt ebenso wie der Fokus auf die Unzulänglichkeit der sinnlichen Erfahrung und die Widerstandskraft des Körpers auf die erzieherische Wirkung von Ledigs Literatur. Angesichts der westdeutschen Wiederbewaffnung und der weit verbreiteten Angst vor einem Dritten Weltkrieg durch den Ost-West-Konflikt konnte dieser didaktische Effekt um die Mitte der 1950er Jahre nur darin bestehen, den Menschen jegliche eventuellen Illusionen über die Natur des Krieges zu nehmen. Daher präsentiert Ledig den modernen Krieg als Situation, die in ihrer ganzen Anlage unmenschlich, also dem Menschlichen entgegengesetzt, ist – zunächst, weil die

 Ebd., 182.

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2 Unangemessenheit des Leibes

„riesenhaften Mittel der Technik“, die Benjamin bereits nach dem Ersten Weltkrieg angesprochen hatte, primär dazu dienen, Leben zu vernichten, sodann, weil der menschliche Körper der technisch verstärkten und beschleunigten Gewalt nicht gewachsen ist.

3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder 3.1 Grundlagen Eine ähnliche Unangemessenheit (wie jene des Leibes) ist freilich neben der rein physischen Sphäre auch für metaphysische Definitionen des Einzelnen und für die menschliche Psyche zu konstatieren. Denn zweifellos hat die beschriebene Extremsituation nicht nur Folgen für die körperliche Verfasstheit, sondern sie verändert auch das Selbstverständnis, da eine Erfahrung wie der Zweite Weltkrieg selbstverständlich Einfluss darauf hat, wie das Individuum sich selbst, aber auch andere wahrnimmt; dies gilt für Frontsoldaten gleichermaßen wie für Zivilisten in den Städten, wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen. Weiter gefasst lässt sich diesbezüglich von Aspekten der Identität sprechen. Im Folgenden muss der Begriff jedoch im Plural verwendet werden, da die Vorstellung einer singulären eindimensionalen Identität heute nicht mehr haltbar ist und zudem verschiedene Identitäten untersucht werden sollen. Gerade im Zusammenhang von (gestörter) Erinnerung spielen Identitäten eine zentrale Rolle. Der enge Konnex von Erinnerung und Identität gilt inzwischen als Allgemeinplatz.¹ Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass im Folgenden nur individuelle, keine sog. kollektiven Identitäten untersucht werden sollen. Hinsichtlich der Romane Gert Ledigs spielen neben der grundlegenden Individualität des Einzelnen auch verschiedene soziale Identitäten eine Rolle. Für den militärischen Bereich ist danach zu fragen, welche Auswirkungen die extreme Kriegsgewalt auf das Selbstbild der Soldaten hat. Es wird zu zeigen sein, dass Ledig im Rahmen seiner Kritik am Krieg gezielt traditionell positiv besetzte Aspekte des Soldatenlebens entwertet bzw. deren gesellschaftliche Entwertung thematisiert. So demonstriert er nicht nur die Unmöglichkeit persönlichen Heldentums, sondern entlarvt auch romantische Vorstellungen vom Soldatenleben als gesellschaftlichen Mythos: Hierbei ist ebenso an den vorgeblich schmerzlosen Tod durch Brustschuss wie an das Motiv vielfältiger amouröser Abenteuer der Landser zu denken. Gerade weil sich der Krieg so massiv auf die soldatischen Identitäten auswirkt, muss dann – anhand von Faustrecht – auch diskutiert werden, welche Folgen dies zeitigt, wenn die Soldaten nach Kriegsende heimkehren. Für die Zivilisten wird untersucht, welchen Einfluss es auf ihre Identitäten hat, dass sie im totalen Krieg bzw. im Bombenkrieg ihre sichere Position einbü Vgl. Erll, Astrid; Gymnich, Marion; Nünning, Ansgar (Hg.): Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier 2003, iii. https://doi.org/10.1515/9783110657128-004

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

ßen. Zwar zählen sie nicht zu den Kombattanten, werden aber gleichwohl zum Ziel kriegerischer Handlungen. Es kommt hier zu einer extremen Asymmetrie im Gewaltverhältnis, die für den Einzelnen nicht ohne Folgen bleiben kann. Neben dem Selbstverständnis des Einzelnen rückt auch der Umgang mit anderen Menschen in den Fokus: Dies betrifft zunächst das im weitesten Sinne zivilisierte menschliche Verhalten, aber auch Geschlechterrollen und das Verhältnis der Geschlechter. Darüber hinaus umfasst der Blick auf den Anderen auch Fremd- und Feindbilder, die für Soldaten und Zivilisten gemeinsam betrachtet werden, da im totalen Krieg gewissermaßen beide Feindkontakt haben.

3.2 Militärische Identitäten 3.2.1 Individualität Als Individualität soll hier gelten, was das Individuum als unteilbare kleinste soziale Einheit ausmacht, was es von anderen abgrenzt bzw. wie es sich selbst gegenüber anderen definiert oder von diesen definiert wird.² „Individualität meint einerseits das Bewusstsein des Menschen von seiner Besonderheit und das Bedürfnis, diese Einzigartigkeit auch zum Ausdruck zu bringen, und andererseits die von ihm selbst und den anderen objektiv festgestellte Besonderheit und Einzigartigkeit.“³ Dieses Bewusstsein des Individuums von seiner Besonderheit zielt „nicht auf Gleichheit […], sondern auf individuelle Freiheit.“⁴ Die so verstandene Individualität wird gegen gesellschaftliche Erwartungen und sozialen Druck verteidigt. Die Loslösung aus sozialen Kontexten bedeutet aber auch einen Verlust an Sicherheit und Struktur: „Das kann man […] in dem Sinne verstehen, dass gemeinschaftliche Beziehungen, die dem Individuum Orientierung geben und es emotional tragen, an Kraft verlieren.“⁵ Solche sozialen Kontexte aufzubrechen

 Siehe zur individuellen Identität Gymnich, Marion: Individuelle Identität und Erinnerung aus der Sicht von Identitätstheorie und Gedächtnisforschung sowie als Gegenstand literarischer Inszenierung. In: Erll, Astrid; Gymnich, Marion; Nünning, Ansgar (Hg.): Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier 2003, 29 – 48.  Abels, Heinz: Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt. Wiesbaden 2006, 43. Hervorhebungen im Original.  Ebd.  Ebd., 184.

3.2 Militärische Identitäten

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oder zumindest zu lockern, ist jedoch nicht in allen Fällen gleich oder leicht, sondern selbstverständlich vom jeweiligen Zusammenhang abhängig. Das Militär bildet bereits in seiner grundlegenden Struktur eine Umgebung, die ausgeprägter Individualität entgegensteht. Der Einzelne wird durch seinen Dienstgrad und seine Ausbildung in einen klar definierten Funktionszusammenhang integriert. Hinzu kommt eine relativ starre Hierarchie mit festen Befehlsketten. Freies Handeln und individuelle Entfaltung sind in diesem Kontext kaum möglich, nicht zuletzt deshalb, weil im Gefecht nicht nur der militärische Erfolg, sondern auch das Überleben aller vom Funktionieren dieser Organisation abhängt. Letzteres erklärt zumindest zum Teil die drakonischen Maßnahmen, die Armeen ergreifen, wenn Einzelne aus den etablierten Strukturen auszubrechen oder sie zu untergraben suchen.⁶ Im Krieg wird die individuelle Identität auf ein ,Kriegs-Ich‘ konzentriert, dem maßgebliche Aspekte einer kompletten Identität abgehen und das kein Bündel verschiedener Identitäten mehr darstellt. „Wer dem Krieg ausgesetzt ist – gleichgültig in welcher Position –, ist herausgeworfen aus dem Bestand einer Menschen verbindenden kulturellen Welt. Er ist vollkommen reduziert auf die dichotomische Beziehung zwischen sich und der existentiellen Bedrohung durch die Kriegsgewalt.“⁷ Die Reduktion der Persönlichkeit ist also nicht nur der Vergesellschaftung des Einzelnen innerhalb der Institution Militär geschuldet, sondern ist auch eine Folge der ständigen Annihilationsdrohung des modernen Krieges und mithin Teil der Überlebensstrategie des Individuums. In einer militaristisch geprägten Gesellschaft wird diese Konzentration der Identität auch in die Friedenszeit übernommen. In diesem Fall vermittelt das Militär als gesellschaftlich dominante Institution seine Strukturen an das zivile Leben. So hatten etwa „die Diskurse der Weimarer Republik und der Nazizeit […] ein militarisiertes Bild der deutschen Männer geprägt, deren öffentliche Identität auf ihrer Rolle als Soldaten aufbaute.“⁸ Nicht zuletzt hierauf rekurriert Ledig, wenn er die deutschen Soldaten in Die Stalinorgel und Vergeltung quasi ausschließlich über ihre Dienstgrade identifiziert. In Ledigs Kriegsbeschreibung wird diese Reduktion des Einzelnen in der Kriegssituation besonders deutlich: Der Soldat ist in einem schmalen, extrem gefährlichen Frontabschnitt gefangen. Sein Überleben und das seiner Kameraden

 Das exzessive Unrechtssystem der Wehrmachtsjustiz ist damit allein freilich nicht zu erklären (s.u. 5.).  Ahrens (2001), 173.  Poiger, Uta G.: Krise der Männlichkeit. Remaskulinisierung in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften. In: Naumann, Klaus (Hg.): Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, 237.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

sind von seinem Funktionieren innerhalb des Systems abhängig; jede Abweichung wird scharf sanktioniert. „Die Frontlinie stellt unter diesen Umständen eine schmale Zone der Angst und des Todes zwischen zwei festgefügten sozialen Organisationen dar, die darum konkurrieren, den Soldaten zu versklaven.“⁹ Die Soldaten haben ihren Status als selbstbestimmte Individuen aufgegeben und verhalten sich nur noch fremdbestimmt. Ihre Handlungen sind keine eigenen Aktionen, sondern immer nur Reaktionen: auf Befehle, die sich ständig verändernde Kriegssituation, den tödlichen Zufall. Auch deswegen gab es nach 1945 „in Deutschland kein positives Kriegserlebnis mehr. Die Situation wurde als Entfremdung vom eigenen Leben erfahren.“¹⁰ Viele deutsche Soldaten empfanden den „Krieg als Hin- und Hergeschobenwerden, bei dem man erwartet, daß es irgendwann einmal zu Ende ist; man kann auch sagen: als Entfremdungsvorgang, herausgeschnitten aus dem ‚eigentlichen‘, dem persönlichen Leben.“¹¹ In der ersten Kriegshälfte nahmen jedoch gerade junge Soldaten die ihnen angebotenen militärischen Identitäten und Mentalitäten bereitwillig auf. „Das lag auch daran, dass in der Existenz dieser jungen Leute das zivile Leben noch kaum Platz gegriffen hatte. Die meisten hatten Lehre oder Schule gerade hinter sich gebracht, oft auch die vielfältigen Sozialisations- und Erziehungsinstanzen des ‚Dritten Reichs‘.“¹² Neben die Zurückdrängung des Individuums trat als weiteres depersonalisierendes Moment seit dem Ersten Weltkrieg das Primat der Technik. „Als […] eigentliches Subjekt [des Krieges] erwies sich nicht der feldgraue Held, sondern die große militärische Maschinerie. […] Das Einzelsubjekt erscheint jetzt unübersehbar als das Erfaßte, Eingezogene, Uniformierte, Eingesetzte, Verfügbare – Subjekt im ursprünglichen Sinne von Unterworfenem.“¹³ In Die Stalinorgel demonstriert eine Verlustmeldung dieses Verhältnis, in dem die Soldaten tatsächlich eher als ,menschlicher Faktor‘ oder gar ‚Menschenmaterial‘ denn als Individuen aufscheinen. An erster Stelle steht das eigentliche Material, dann erst folgen die menschlichen Verluste: „Abgang: 1 Maschinengewehr, Nummer nicht mehr festzustellen; 2 Traggurte; 1 Reservelauf; 1 Unteroffizier; 7 Mann“ (SO 25).

 Shay, Jonathan: Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Hamburg 1998, 75.  Schörken, Rolf: Jugend 1945. Politisches Denken und Lebensgeschichte. Frankfurt am Main 2005, 52.  Ebd., 57.  Hartmann, Christian: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42. München 2009, 98.  Sloterdijk (2003), 777.

3.2 Militärische Identitäten

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Ledig markiert dieses System, das das Individuum auf ein Minimum reduziert, indem er genau diese individuelle Verknappung programmatisch werden lässt: Fast alle deutschen Soldaten werden nur mit ihrem Dienstgrad bzw. ihrer Funktion bezeichnet („der Melder“, „der Rittmeister“, „der Major“ etc.), während die namentliche Nennung die Ausnahme bleibt – zumindest bei den deutschen Soldaten (zur Darstellung der russischen und amerikanischen Soldaten s.u. 3.6). Eigennamen der deutschen Figuren fallen überhaupt fast nur in der direkten Rede der Figuren, z. B. wenn der gefangene deutsche Hauptmann auf die Entfernung mit seinen Soldaten spricht (SO 116 – 119) oder bei der Wiedergabe ihrer Gedanken, etwa wenn der Melder über den gefallenen Gefreiten Schute nachdenkt (SO 126 – 130). Mit dieser Konzentration auf militärische Funktionen geht auch eine Reduktion der persönlichen Wesenszüge einher: Die meisten Figuren erhalten kaum Tiefe; es handelt sich in der Regel nur um Typen. Psychologisch durchkomponierte Charaktere, die sich entwickeln, kommen nicht vor. Selbst die Figuren, die große Teile der Handlung tragen, wie Strenehen, der Melder oder der Major, bilden hiervon keine Ausnahmen. Auch sie erhalten kaum individuelle Züge¹⁴ und in ihren Handlungen sind sie ebenfalls die meiste Zeit getrieben, fremdgesteuert bzw. dem Zufall ausgeliefert. Ledig unterstreicht so die Natur des Krieges, den Einzelnen von sich selbst zu entfremden und in seiner Persönlichkeit einzuschränken, die auch Kurt Vonnegut in Slaughterhouse-Five betont: „One of the main effects of war, after all, is that people are discouraged from being characters.“¹⁵ Ledig rekurriert so darauf, dass der Krieg die Subjektivität des Einzelnen zerstört: Seine „Geschichten spiegeln das; ohne Hauptperson, ohne Identifikationsfigur treiben sie ihr Personal durch die Kriegswirren.“¹⁶ Auf diese Weise zeigt Ledig den Krieg als eine Situation, die dem menschlichen Leben nicht nur ganz konkret entgegengesetzt ist, weil es ihr Ziel ist, dieses zu beenden, sondern weil sie auch die (Über‐)Lebenden ihrer menschlichen Züge beraubt. Indem er seine Figuren (meist) namenlos lässt, verschmilzt er sie „mit den militärischen Dienstgraden, die sie tragen, zu einer seelenlos anmutenden Einheit. Solche Anonymisierung drückt die Gewalt der Gefechte aus, die den Menschen vernichten und auslöschen.“¹⁷ Der damit zusammenhängende Identi-

 So erfährt man vom Major nur, dass er Frau und Kind hatte, und von Strenehen, dass sein Vater gerne mal ein Bier trank (V 50). Selbst bei diesen Figuren erwähnt Ledig also nur triviale Dinge, die nicht geeignet sind, sie gegen andere abzugrenzen oder tiefer zu gestalten, selbst wenn der Tod von Frau und Kind beim Major zu einer schweren Krise führt.  Vonnegut, Kurt: Slaughterhouse-Five. London 1991, 119.  Ahrens (2001), 177.  Alt (2010), 467.

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tätsverlust findet sich – ähnlich wie bei Céline oder Malaparte – auch „in der Metonymie des menschlichen Leibes zum Tier-Körper als Sinnbild für die von der Kriegsgewalt ausgehende Dehumanisierung“¹⁸, etwa im Vergleich mit Lemuren (z. B. SO 13). Damit ist auch der Hinweis auf einen Mangel an zivilisiertem Verhalten bzw. auf einen Zivilisationsverlust im Krieg verbunden, der später gesondert betrachtet wird. Daneben sind die biomorphen Bilder und Metaphern auch Teil von Ledigs Darstellung des Krieges als einer (negativen) verkehrten Welt (s.u. 4.). Die Konzentration auf „leere“ Typen schreibt der Erzählung darüber hinaus Parabelcharakter ein und versucht sie aus dem Konkreten ins Allgemeingültige zu verschieben. Unterstützt wird dies durch Ledigs kühl berichtende, geradezu unbeteiligt wirkende Sprache. Frei von jeglichen Affekten wird hier der Krieg an sich wie im Laborexperiment vorgeführt und in all seiner Grausamkeit präsentiert. Indem er die Menschlichkeit seiner Figuren auf ein Minimum reduziert, enthüllt Ledig die Unmenschlichkeit der Situation. Dass die alliierten Soldaten jedoch prinzipiell nicht namenlos sind, konterkariert diese Maßnahme bis zu einem gewissen Grad, worauf noch gesondert einzugehen sein wird. Ledig unterstreicht also mit der Reduktion seiner Figuren die Anlage des Krieges als einer Situation, in der das Individuum insofern maximal exponiert ist, als es über keinerlei Rückzugsmöglichkeiten verfügt – weder vor den Destruktivkräften, die nach seiner Vernichtung trachten, noch aus dem starren sozialen Rahmen des Militärs, der die individuelle Identität mit einer festen Funktionszuweisung überschreibt. Die ständige Annihilationsdrohung in Verbindung mit fehlender Privatheit führt zu einer Krise des Individuums, die – wie im Falle des Majors – bis zur psychischen Reaktion und zum (versuchten) Suizid führen kann, wenn auch die letzten Aspekte von Individualität negiert werden. So bewirkt der Tod von Frau und Kind die Identitätskrise des Majors, da seine Rückbindung ins Privatleben nun abgeschnitten ist. Dabei kann er sich selbst an seine Frau gar nicht mehr richtig erinnern: „Von Anna wußte er noch: sie hatte schwarzes Haar. An ihr Gesicht konnte er sich nicht erinnern“ (SO 27). Die Problematik seiner Gedächtnisstörung ist ihm wohl bewusst: „Warum kann ich mich nicht an sie erinnern? Irgend etwas stimmt hier nicht. Man vergißt nicht einen Menschen, neben dem man zwanzig Jahre gelebt hat“ (SO 32). Die mangelnde Erinnerung verdeutlicht die Krise eines maßgeblichen Konstituens der Identität, denn auch die Gedanken an das Kind sind primär mit einem Photo verbunden, nicht mit konkreten mentalen Bildern (SO 26). Indem der Major nicht länger Vater und Ehemann ist, ent-

 Ebd., 472. Vgl. auch Ahrens (2001), 170.

3.2 Militärische Identitäten

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fällt der familiäre Faktor seiner Identität. Gleichzeitig kommt es zur Krise seiner militärischen Identität, da er als Soldat im totalen Krieg den Tod seiner Familie an der Heimatfront nicht verhindern konnte. Dies hat eine psychische Reaktion zur Folge: Abstumpfung, deplatziertes Kichern, Rachegedanken: „Ich muß mir Genugtuung verschaffen“ (SO 30); „Ich habe diesen Feldzug nicht gewollt. Ich bin Privatmann. Man hat mein Kind ermordet. Meine Rolle als Schutzengel ist ausgespielt…“ (SO 31). Innerhalb dieser wenigen knappen Sätze wird ihm bewusst, dass seine maßgebliche private Identität mit seiner Familie gestorben ist und dass er in der Rolle als Kopf und Beschützer dieser Familie versagt hat bzw. in der gegebenen Situation versagen musste. Schließlich ist ihm auch sein eigenes Gesicht fremd (SO 36), bis die Identitätskrise ihn in den versuchten Suizid treibt (SO 167– 169). Dass es im Krieg keinen unzerstörbaren Rest des Individuums gibt, zeigt wiederum die völlige physische Vernichtung des Obergefreiten am Anfang des Romans: Ganz konkret wird hier das dem Begriff nach eigentlich unteilbare Individuum immer weiter zerteilt, zerkleinert und verteilt, bis nichts mehr von ihm übrig bleibt. Selbst in der Fragmentierung dominiert dabei der militärische Aspekt: Die Überreste des Obergefreiten sind zunächst „Uniformfetzen“, dann erst „Fleisch und Blut“ (SO 8). Auch die Begleiter einer Feldküche werden durch Artilleriegeschosse wortwörtlich „in alle Winde verstreut“ (SO 21). In abgeschwächter Form findet sich diese ständige (Zer‐)Teilung des Individuums auch in den häufig erwähnten abgerissenen Gliedmaßen sowie in den amputierten Figuren wie etwa dem Leutnant (V 10 f.) und dem jungen Mann im Bunker (V 127) in Vergeltung. Als einzig verbliebene Möglichkeit für individuelle Handlungsoptionen und somit zur Rückkehr zur selbstbestimmten Persönlichkeit schildert Ledig die Flucht aus der Situation – sei es als Deserteur, Selbstverstümmler oder Selbstmörder (hierzu ausführlich 5.). Die entsprechenden Figuren zeigen, dass nicht einmal die reduzierte Rumpf-Identität der Situation gewachsen ist und dass nur der bedingungslose Rückzug durch ein letztes Aufbäumen des Ichs dem Individuum seine Individualität und Würde zurückzugeben vermag. Die Krise des Individuums offenbart sich auch in der Unmöglichkeit jeglicher Zukunftsplanung bzw. in der Überzeugung, dass die Zukunft ‚verbaut‘ bzw. perspektivlos ist. Sostschenko merkt nur beiläufig an, dass sich seine Zukunft in 30 Minuten entscheidet (SO 62); pessimistischer ist die Sicht bei Sonja: „Das Leben lag vor ihr wie eine trostlose Straße, die bei einer Schutthalde endet…“ (SO 124). In eine ähnliche Richtung weist Edels Gemälde Vergitterte Zukunft in Faustrecht (FR 40).

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3.2.2 Soldatische Identität und Selbstbilder 3.2.2.1 Krieg Unter der Gewalt des Krieges litt nicht nur die individuelle Identität, sondern auch soldatische Selbstbilder befanden sich in der Krise. Die zunehmende Technisierung und die Dominanz des Zufalls in der Entscheidung über Leben und Tod drängten mit dem Individuum auch dessen Potential zu persönlichem Heldentum sowie weitere positive Mystifikationen des Soldatenlebens – militärische Auszeichnungen, schmerzlosen Tod, lustiges Soldatenleben – zurück. Das Heldentum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatte sich auf die Nation gerichtet, auf deren Wohl wahrhaft heroische Taten bezogen sein mussten; in Deutschland war dies besonders ausgeprägt der Fall, da die Nation erst 1866 – 1871 auf den Schlachtfeldern erkämpft worden war. In Verbindung mit dem Rekurs auf das Mittelalter im Zuge von dessen romantischer Verklärung (primär des Nibelungenliedes) war neben die heldenhaften Taten auch der entsprechende Tod getreten: Die ritterlichen Helden „wussten nicht nur heroisch zu leben, sondern auch so zu sterben.“¹⁹ Der Krieg wurde somit zur ‚Heldenschmiede‘; durch die Nation als übergeordnete Instanz wurde das gegebene Leben zum mit Sinn aufgeladenen, heroischen Opfer.²⁰ Nach den Erfahrungen der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs war dieses Heldenbild eigentlich überholt, nicht zuletzt angesichts der Millionen von Toten: „Der Heldentod wurde dadurch alltäglich und verlor damit als Entscheidungskriterium zwischen den einzelnen Soldaten an Prägnanz.“²¹ Daneben büßten traditionelle Bilder männlicher Stärke ihre Bedeutung ein. So fiel auch „die Illusion von ehrbarer Mannhaftigkeit und Ruhm in der Schlacht […] den Verwüstungen des Krieges zum Opfer. In erschreckend hoher Zahl brachen die Männer zusammen, die in Schützengräben die Schrecken des Krieges erlebt hatten.“²² Dennoch betrieben die Nationalsozialisten wieder einen massiven völkischen Heldenkult. So blieb der Krieg trotz der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zwischen 1918 und 1939 erstaunlich positiv konnotiert: Diese Sicht „wurde durch das Massensterben in den Materialschlachten seltsamerweise nicht gebrochen, sondern offenbar bei vielen ‚im Stahlbad geläuterten Helden‘ noch verstärkt, wie die

 Frevert, Ute: Vom heroischen Menschen zum „Helden des Alltags“. In: Merkur 63.9/10 (2009), 805.  Vgl. Wertheimer (2006), 11 f.  Warburg, Jens: Soldatische Subjekte und Desertion. In: jour fixe initiative berlin (Hg.): Krieg. Münster 2009, 141.  Herman, Judith Lewis: Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. 2. Aufl. Paderborn 2006, 34.

3.2 Militärische Identitäten

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literarische Verarbeitung des Kriegserlebnisses bei den Frontsoldaten zeigte.“²³ Die Nationalisten stilisierten außerdem bereits in der Militärnostalgie der späten Weimarer Republik die „Front“ zu „jener Linie, wo man noch wußte, ‚wer man ist‘“²⁴. Der Krieg wurde so wieder Mittel der Identitätsfindung, Vater aller Dinge und Heldenschmiede: „Soldaten scheinen heldisch, klar, hart, tapfer, groß im Ertragen, Gehorchen, Dienen, Durchhalten; mit einem Wort, männlich.“²⁵ Allerdings verlor der Mythos des kämpferischen Heroen im Verlauf des Krieges erneut seinen Glanz: Die große Heldenidee konnte dem massenhaften Sterben auf den Schlachtfeldern ein weiteres Mal nicht gerecht werden, zumal mit fortschreitender Kriegsdauer immer klarer wurde, dass der Krieg mit einer Niederlage bzw. für den Einzelnen mit einiger Wahrscheinlichkeit mit einem gänzlich unheroischen Tod enden würde:²⁶ „Die Gewalt des Krieges hatte Selbstbilder demontiert, noch bevor mit der totalen Niederlage dem ‚Dritten Reich‘ ein Ende gesetzt war.“²⁷ Neben die Reduktion des Einzelnen auf eine militärische Rumpf-Identität trat so außerdem eine Abwertung dieser – gerade in Deutschland lange Zeit überaus positiv bewerteten – militärischen Identität. Begründet lag dies vor allem in der Dominanz von Fernwaffen wie der Artillerie. Diese standen persönlichem Heldentum in zweifacher Hinsicht entgegen, indem sie zum einen jene, die sie bedienten, wenig exponierten, und gleichzeitig ihre Opfer relativ zufällig fanden. Wie bereits im Ersten Weltkrieg wartete im Artilleriefeuer „ein zufälliger Flächentod – ein statistisches und fatalistisches Verhältnis des Kämpfers zur Granate, die ihn entweder verfehlt oder in Materie verwandelt.“²⁸ Persönliche Stärken und Fähigkeiten spielten durch die Willkür der Fernwaffen nur noch eine untergeordnete Rolle: „Durch die Beliebigkeit der Todesumstände wurde der

 Behrenbeck, Sabine: Heldenkult und Opfermythos. Mechanismen der Kriegsbegeisterung 1918 – 1945. In: van der Linden, Marcel; Mergner, Gottfried (Hg.): Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien. Berlin 1991, 143.  Sloterdijk (2003), 749.  Ebd. Eine Untersuchung von Feldpost und Tagebüchern deutscher Soldaten des Zweiten Weltkriegs hat ergeben, dass viele dem Krieg diese charakter- und identitätsbildende Funktion zuwiesen; vgl. Knoch, Peter: Gewalt wird zur Routine. In: Wette, Wolfram (Hg.): Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. München 1992, 319.  Vgl. Frevert (2009), 809.  Goltermann, Svenja: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München 2009, 85. Allerdings muss angemerkt werden, dass ohnehin „trotz vielfältiger Bemühungen des NS-Regimes durch Propaganda, Kult und Terror zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bei der Bevölkerung kaum Kriegsbegeisterung zu beobachten“ gewesen war. Die Kriegsstimmung setzte erst mit den militärischen Erfolgen des Jahres 1940 ein. Vgl. Behrenbeck (1991), 157 f.  Sloterdijk (2003), 756.

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Heldentod quasi zum Unfall, der jeden Soldaten treffen konnte.“²⁹ Vor diesem Hintergrund musste auch der symbolische Tausch des für das Vaterland gegebenen Lebens gegen persönliche Ehre bzw. individuelles Heldentum an Bedeutung verlieren, da dem Tod im Felde große Teile seines heroischen Charakters genommen waren. Das Tauschelement verlor mit dem Abschied vom Heldenkult bzw. der kaum noch vorhandenen Möglichkeit, sich als Held hervorzutun, seinen gesellschaftlichen Nutzwert. Denn ein individuell erworbener Status, etwa durch „Heldentaten“ im Krieg, muss sozial anerkannt werden, sonst kann er keinen Bestand haben.³⁰ Die Witwe in Vergeltung spricht dies offen an: „Mein Mann hat tapfer und treu seine Pflicht getan. Er ist ein toter Held. Dafür kann er sich nichts kaufen“ (V 83). Bei Ledigs soldatischen Figuren ist dieser Gesinnungswandel offensichtlich. „Heldentum fordert den Mut, sich zu exponieren, der Gefahr ins Gesicht zu sehen. […] Es geht um Selbstbehauptung, selbstsicheres Auftreten, die Freude an der erfolgreichen Handlung – genauer gesagt: der erfolgreichen Aggression.“³¹ In Die Stalinorgel ist genau dies jedoch nicht der Fall: Die Soldaten dort wünschen gerade nicht, sich zu exponieren, weil sie ohnehin ständig in Gefahr sind. Nach Möglichkeit vermeiden sie jedes auffällige Verhalten und tun alles dafür, um in Deckung zu bleiben. Die Selbstbehauptung besteht hier geradezu in der Verweigerung der Teilhabe am Geschehen. Vor der heroischen Tat steht die Selbsterhaltung: „Der bloße Kampf ums Überleben ist keine Heldentat, sondern eine Notwendigkeit.“³² Bei Ledig ist der Soldat kein Held mehr, „der sich eigene und kollektive Träume erfüllen kann“,³³ sondern nur noch ein auf seine nackte Existenz zurückgeworfener Mensch, dessen primäres Ziel das pure Überleben ist. Ein Beispiel hierfür ist der Melder, der – nach dem Scheitern seiner Bemühungen, abgelöst zu werden – schließlich desertiert und lieber in russische Gefangenschaft geht, als weiter sein Leben zwischen Front und Kommandostand aufs Spiel zu setzen. Ganz deutlich wird dieser Gedanke bereits am Anfang des Romans in Bezug auf den Hauptmann formuliert: „Er hatte die Überzeugung gewonnen, es sei besser, kein Held zu sein und dafür am Leben zu bleiben“ (SO 9). Und auch die Soldaten im Panzervernichtungstrupp hoffen, der Moment des tödlichen Heldenmuts „werde nie für sie kommen“ (SO 12). Wo der Einzelne sich dennoch exponiert, geschieht dies nicht aus heroischem Antrieb: „Der Junge trat

    

Warburg (2009), 141. Vgl. Abels (2006), 350. Bolz, Norbert: Der antiheroische Effekt. In: Merkur 63.9/10 (2009), 766. Reichholf, Josef H.: Zur Soziobiologie des Heroischen. In: Merkur 63.9/10 (2009), 835. Sloterdijk (2003), 406.

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aus der Finsternis ins Licht. Die Uniform enthüllte die Magerkeit seines Körpers. Er kam nicht aus Heldentum, sondern aus Gewohnheit“ (V 46). Ledig offenbart so eine Umgebung, in der persönliches Heldentum für den Einzelnen gegenüber dem puren Überleben in den Hintergrund tritt. Die genannten Faktoren, die dazu beitragen – das Regiment des Zufalls und der Fernwaffen – kommen ebenfalls zur Sprache: „Das Leben der beiden [des Hauptmanns und eines verwundeten Soldaten] hing in diesem Moment nur vom Zufall ab. […] Daß der Russe die Handgranate über den Grabenrand warf, war Zufall. Alles, was dann kam, war nur Folge dieses Zufalls“ (SO 109). Auch das Überleben des Melders hängt meist nicht von ihm selbst ab: „Wenn er hier in eine MG-Garbe hineinlief, war es Zufall“ (SO 11). Der Tod des Gerichtsoffiziers ist ebenfalls nur „eine[r] verirrte[n] Kugel“ zuzuschreiben (SO 148). Wo der Mensch nicht mehr heroisch in Erscheinung treten kann oder will, kommt es stattdessen zu „Heldentaten des Materials“³⁴. Hinsichtlich des Zweiten Weltkriegs ist dabei etwa an die Hoffnungen zu denken, die Teile der deutschen Bevölkerung in der zweiten Kriegshälfte in die von der Propaganda angekündigten Vergeltungswaffen setzten.³⁵ In Bezug auf Ledigs Romane kann zwar bestenfalls zynisch von Heldentaten des Materials gesprochen werden, da sich dort keinerlei Ästhetisierung oder Überhöhung der Kriegstechnik findet, doch ist der Begriff insofern bis zu einem gewissen Grad legitim, als Ledig der Technik dennoch eine übergeordnete aktive Rolle zuschreibt. Dies manifestiert sich hier in den biomorphen Bildern und Metaphern, die der Autor zur Beschreibung der unbelebten Materie verwendet (vgl hierzu ausführlich 4.), so etwa bei der Beschreibung eines Stalinorgelbeschusses: „Zunächst klang in der Ferne das Brüllen eines gereizten Tieres“ (SO 20). Immer wieder besetzt Ledig Waffen und Geschosse mit animalischen Attributen, gleichermaßen vergleicht er ihre Akustik oder auch ihre Bewegung mit Vorbildern aus der Tierwelt. Diese Animierung wird zudem dadurch unterstützt, dass die Werkzeuge nie als solche kenntlich werden, denn Ledig verzichtet mit Ausnahme der amerikanischen Bomberbesatzung in Vergeltung stets auf den menschlichen Faktor. Die Waffen treten meist nur in Form von Bewegung und Wirkung (d. h. den Verwundungen und Verstümmelungen der Kameraden³⁶) in Erscheinung. Die Menschen, die auslösend dahinter stehen, bleiben dagegen meist unsichtbar wie im Fall der Stalinorgelgeschosse. Ganz direkt formuliert Ledig die Rolle des Menschen in Vergeltung: „Technik zerschlug die Technik. Sie verbog Masten, zerriß Maschinen,

 Ebd., 778.  Vgl. Friedrich (2003), 480 – 484.  Vgl. Theis (2007), 128.

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öffnete Trichter, wälzte Mauern um, und das Leben war nur Abfall“ (V 44). Die große Bedeutung, die bei Ledig der Kriegstechnik zukommt, spiegelt auch der Titel Die Stalinorgel wider, der die Parabelnatur des Textes unterstreicht.³⁷ Der Mensch ist angesichts des Aktionsradius dieser Waffe kaum noch als Akteur erkennbar. „Das Böse erscheint hier nicht in der individuell zurechenbaren Form einer causa finalis, sondern in den entindividualisierten Gewaltmanifestationen anonymisierter, technisch produzierter Vernichtungswaffen.“³⁸ Der eigentliche Feind des Soldaten sind somit die Umstände, denen er ausgesetzt ist, nicht der Gegner. Damit ist ganz deutlich auch Kritik an einer zunehmend gigantischen und inhumanen Technik verbunden, wie der Vergleich der automatisierten Bomberflotten mit unmittelbareren Tötungsmethoden zeigt: „Die Erfindung der Guillotine war dagegen primitiv“ (V 12). Denn „während die Guillotine den Tod von Menschen noch geradezu überschaubar und individuell herbeiführte, trafen die Bomber ziel- und wahllos Massen von Menschen und vernichteten zudem deren gesamtes Eigentum.“³⁹ Ledig demaskiert nicht nur den Bedeutungsverlust des persönlichen Heldentums durch die Krise des Individuums bei gleichzeitiger Dominanz der Kriegsmaschinerie, sondern er entlarvt auch weitere lange Zeit positiv konnotierte Aspekte des Soldatenlebens, die von der Idee heroischer Männlichkeit und Stärke kaum zu trennen sind, als Mythen: den schmerzlosen Tod durch Brustschuss, den Wert militärischer Auszeichnungen, die Beschützerfunktion des Soldaten und das „lustige“ Soldatenleben im Sinne sexueller Ausschweifungen. So offenbart Ledig den schönen Heldentod als Mär, die in erster Linie auf die Heimat gerichtet ist. Ein schmerzloser Tod durch Brustschuss findet sich bei allem Sterben in Die Stalinorgel und Vergeltung nicht. „Der Tod ist keine heilige geheimnisvolle Sache, kein Heldentod, sondern ein physikalischer Vorgang; der Mensch wird ‚verheizt‘“⁴⁰; das Sterben ist blutig und schmutzig bis hin zur völligen Desintegration des Körpers, etwa beim Obergefreiten im Prolog von Die Stalinorgel. Immer wieder werden „tierisches Schreien“ (SO 16) oder „Stöhnen und Wimmern“ (SO 19) erwähnt. Konterkariert wird dies, indem Ledig auf den schmerzlosen Brustschuss als den „üblichen Inhalt“ der Briefe an die Angehö-

 Einen Titel mit vergleichbaren Implikationen hatte Ledig zunächst auch für Vergeltung im Sinn: Fliegende Festung, was sich auf Flying Fortress, den Beinamen der amerikanischen B-17Bomber bezogen hätte; auch hier wäre der Kriegstechnik also schon durch den Titel übergeordnete Bedeutung zugekommen.  Alt (2010), 468.  Barbian (2002), 364.  Schonauer, Franz: Im Sperriegel vor Leningrad. Das Kriegsbuch eines jungen Autors. In: FAZ vom 21. 5.1955.

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rigen der Gefallenen hinweist (SO 19). Dass der entsprechende Passus mit fortschreitendem Verlauf des Krieges auch in der Heimat als Floskel durchschaut wurde, zeigt die Biographie Hans Cheovskis in Vergeltung: „1942. Rudolf auf dem Feld der Ehre gefallen. […] Es war ein Brustschuß, und wir müssen uns trösten, daß er nicht gelitten hat. […] 1944. Walter gefallen. Angeblich nicht gelitten“ (V 118). Auch von Ehre ist beim Tod des zweiten Sohnes keine Rede mehr. Wenn das persönliche Heldentum im Krieg nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, muss damit folgerichtig auch ein Bedeutungsverlust der militärischen Ehrenzeichen einhergehen. Ledig demonstriert dies vor allem in Vergeltung: Dort werden Eiserne Kreuze wie Alltagsgegenstände gegen Zigaretten getauscht (V 112 f.), was belegt, dass das Symbol des militärischen Heldentums entwertet ist. Dieser Wertverlust deckt sich mit den reinen Verleihungszahlen, die ebenfalls auf eine inflationäre Vergabepraxis hinweisen: Das Eiserne Kreuz II. Klasse wurde im Zweiten Weltkrieg etwa 3.000.000 Mal verliehen.⁴¹ Der Leutnant in Vergeltung gibt offen zu, von den Kreuzen genug zu haben (V 125), gesteht aber auch ein, dass sie ihren Nutzen noch nicht komplett verloren haben – und zwar als „Rauschgift für den Soldaten. […] Es soll Leute geben, die das brauchen. Der Zweck heiligt die Mittel“ (V 134). Auch hier drängt sich der Eindruck auf, dass die Auszeichnung sich eher auf die Heimat als auf den Einzelnen richtet, wenn ein verwundeter Soldat flüstert: „‚Schreiben Sie […] meiner Mutter, daß ich das EK habe‘“ (V 160). In der Beziehung zur Heimat verstärkt außerdem der Alltag des totalen Krieges die Identitätskrise der deutschen Soldaten. Angesichts der ständigen Luftangriffe auf die deutschen Städte können sie sich nicht mehr als Verteidiger ihrer Heimat bzw. als Beschützer ihrer Familien fühlen. Noch bevor Vergeltung diesen Aspekt des totalen Krieges schonungslos offenlegt, zeigt er sich – wie bereits angesprochen – an der Figur des Majors in Die Stalinorgel: Während er an der Front kämpft, sterben seine Frau und sein Kind in der Heimat bei einem Bombenangriff, was ihn in eine schwere Krise stürzt. Zudem verteidigen die deutschen Soldaten nicht ihre Heimat, sondern führen einen (verbrecherischen) Angriffskrieg. Die russischen Soldaten dagegen kämpfen tatsächlich zum Schutze ihres Landes. Bei Ledig kommt dieser Punkt jedoch nur knapp zur Sprache, wenn der russische Leutnant Trupikow sich über den Sinn des deutschen Feldzugs wundert: Die deutsche „Heimat hat genug Höhen wie diese. Ich habe sie gesehen: grüne Bäume, Flüsse, saubere Dörfer. Auf ihren Straßen gibt es weder Unrat noch

 Dies war jedoch keine neue Entwicklung, denn im Ersten Weltkrieg gab es sogar rund 5.000.000 Verleihungen. Das Eiserne Kreuz I. Klasse wurde 1939 – 1945 dagegen deutlich häufiger verliehen (ca. 300.000 Mal) als 1914– 1918 (ca. 218.000 Mal).

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Schlamm. Auf ihren Feldern stehen die Ähren wie Soldaten. Aber sie beneiden uns um die versumpften Wälder, um die ausgedörrten Steppen, um ein paar Holzhütten …“ (SO 170).⁴² Nur bedingt in den Kontext des militärischen Heldentums gehört das vermeintlich „lustige Soldatenleben“ im Sinne sexueller Abenteuer, dem Ledig ebenfalls (zumindest indirekt) eine Absage erteilt. Angedeutet wird dies nur im Brief der Frau des Gefreiten Schute, die ihrem Mann – nur leicht verschlüsselt, aber für ihn dennoch nicht erkennbar – diesbezüglich alle Freiheiten lässt (wohl weil sie zu Hause selbst ein Verhältnis hat; SO 129). Die Frontrealität sieht in Die Stalinorgel indes anders aus: Von sexuellen Ausschweifungen ist bei Ledig nicht die Rede, und er verzichtet auch konsequent auf jeglichen entsprechenden Jargon der Landser. Hierin grenzt sich Ledig wiederum bewusst von der Trivialliteratur und den Romanheften zum Zweiten Weltkrieg ab.⁴³ Die Soldaten bei Ledig sind zu sehr mit dem Überlebenskampf beschäftigt, um Abenteuer dieser Art zu suchen. Außerdem klingt immer wieder die immense Bedeutung ihrer Ehen an – so bei Schute und beim Melder, der die Zerstörung eines Photos von seiner Familie als großen Verlust empfindet (SO 133), vor allem jedoch beim Major. Ledigs Soldaten machen sich über die Unmöglichkeit ‚heldischer Existenz‘ und die Destruktion der traditionellen Mythen keine Illusionen. Nur noch Einzelne in der Heimat hängen diesen Mystifikationen weiterhin an, wie primär Vergeltung zeigt. Zu denken ist hierbei an den Jungen im Bunker („Jetzt würde er die Geschichte eines Helden hören. Mehr bedurfte es für ihn nicht“,V 171), der sich in pseudomännlichen Posen gefällt (V 155), oder an den Ingenieur („Der Krieg braucht Männer“, V 138). Am klarsten formuliert der Arzt, der den Krieg noch als „Vater aller Dinge“ sieht, eine entsprechende Einstellung: „Er [der Krieg] kris-

 Von den deutschen Soldaten wird dieser Aspekt nicht thematisiert, was die DDR-Kritik offen bemängelte. So kritisierte Günther Deicke die neutrale Stellung, die Ledig bezieht, indem er zwar den Krieg, nicht aber dessen faschistischen Charakter darstelle (vgl. Deicke, Günther: Drei westdeutsche Kriegsromane. In: Neue deutsche Literatur 6 (1955), 138 – 142). Diese Loslösung aus dem ideologischen Rahmen, die deutsche Landser und Rotarmisten fast auf die gleiche Stufe stellt und kaum Unterschiede zwischen faschistischen Eroberern und sowjetischen Landesverteidigern macht, konnte im Osten Deutschlands keine Anerkennung finden.  Vgl. Nutz, Walter: Der Krieg als Abenteuer und Idylle. Landser-Hefte und triviale Kriegsromane. In: Wagener, Hans (Hg.): Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Stuttgart 1977, 271– 273. Unter anderem dieser Verzicht wurde bei der Erstveröffentlichung von der Kritik positiv hervorgehoben. Die verengte Sicht, die nur Heldentode kennt, unterstreicht die Tendenz der Trivialliteratur, Krieg als Abenteuer darzustellen. Vgl. ebd., 278, und Wagener, Hans: Soldaten zwischen Gehorsam und Gewissen. Kriegsromane und -tagebücher. In: Wagener, Hans (Hg.): Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Stuttgart 1977, 261.

3.2 Militärische Identitäten

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tallisiert meine Werte. Für mich ist er Bewährung und Erlebnis, Mittel der Politik oder Erfordernis der Lage. Mut überwindet meine Furcht. Ich finde den Anblick eines Schlachtfeldes im Morgengrauen erhebend“ (V 197). Er verkörpert damit jene identitätsstiftende, ästhetisierende Sicht des Krieges, die Nationalisten und Militaristen zwischen den Weltkriegen zu reaktivieren suchten und die sich etwa bei Ernst Jünger findet. Der Fähnrich, ein Freund des Arztes, kann am Anblick eines Schlachtfeldes dagegen nichts Erhabenes oder Erhebendes erkennen: „Das ist Scheiße. […] ich sah immer nur das Schlachtfeld“ (V 196). Ledig dekonstruiert somit gezielt typische Bilder und Mythen vom kriegerischen Heldentum, indem er die schmutzige und blutige Realität in den Vordergrund rückt. Unterstützt wird dies durch den Verzicht auf soldatischen Jargon sowie auf die Würdigung des Durchhaltens und der Kameradschaft: „,Die Kameraden sind gefallen‘, antwortete Hai. ‚Trau niemandem, und du lebst länger‘“ (FR 145), um dem Krieg nichts Positives zuzuschreiben und ihn so als unhaltbaren Zustand herauszuarbeiten. Dass alle Mythen zerstört sind, beweist auch der letzte Dialog in Die Stalinorgel zwischen Major und Unteroffizier: Nach ein paar Schritten sagte der Unteroffizier: „Sie müssen nicht glauben, daß ich froh bin, wegzukommen. Es [der Vortrag einer Leichenpredigt durch einen Feldgeistlichen, in der Gottes undurchschaubarer, aber weiser Ratschluss und die Auferstehung der Toten angesprochen werden] plätschert einem so wohltuend in den Ohren. Ist mal was anderes. Außerdem … heimlich hoffen wir, daß es wahr ist.“ „Ja“, sagte der Major. „Nicht auszudenken, wenn wir auch noch darum betrogen würden.“ (SO 201)

Ledig schildert den Krieg somit als eine Situation, die den Einzelnen nicht nur in seiner körperlichen Unversehrtheit bedroht, sondern ihm in vielen Fällen auch seine individuelle Identität raubt. Ledig hebt sich mit dieser Darstellung nicht nur deutlich von zeitgenössischer Trivialliteratur und Romanheften ab, die das Kriegserlebnis verklären – u. a. indem der Soldatentod dort stets ein sauberer Heldentod ist⁴⁴ –, sondern auch von anspruchsvolleren Werken der Nachkriegsliteratur, in denen sich – wie Thomas Kraft nachgewiesen hat – vielfach noch traditionelle Ideologien des Kampfes und Verherrlichungen des ritterlich-heldenhaften Soldaten finden lassen.⁴⁵ Kraft widerspricht damit der These Jochen Pfeifers, dass die deutsche Nachkriegsliteratur sämtlich kriegskritisch gewesen sei. Relikte eines ritterlichen Heldentums spielen etwa in Gerd Gaisers Die sterbende Jagd oder auch in Peter Bamms Die unsichtbare Flagge eine große Rolle: Vor allem Gaiser „strebt […] die Fortschreibung eines

 Nutz (1977), 271– 273.  Vgl. Kraft (1994).

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

militärischen Mythos an, eines ruhmreichen, ritterlichen Kampfes Mann gegen Mann“⁴⁶. Auch bei Bamm finde sich ein Festhalten an ritterlichen Idealen des Kampfes, die der Erzähler – in extremer apologetischer Schwarz-Weiß-Malerei – jedoch nur der von ihm hochgeschätzten Armee zuschreibt, nicht aber den ihm verhassten „Anderen“, d. h. den Nationalsozialisten.⁴⁷ Beide Texte waren bereits Anfang der 1950er Jahre erschienen und Ledig sicherlich bekannt. In Vergeltung finden sich Passagen, die sich als implizite Kommentare zu Bamms und Gaisers Konstrukten von Ritterlichkeit im Zweiten Weltkrieg lesen lassen. Diesbezüglich ist an den deutschen Jagdflieger zu denken, der in Vergeltung auf Strenehen schießt, als dieser wehrlos am Fallschirm hängt, und sich somit keineswegs ehrenhaft-ritterlich verhält (V 66). Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass Ledig gerade einen Arzt als Verfechter der NSIdeologie auftreten lässt und somit betont, dass sich auch jener Berufsstand, den Bamm als besonders dem humanistischen Gedanken verpflichtet und verbunden darstellt, nicht selten bereitwillig in Dienst des Regimes gestellt und seine Überzeugungen geteilt hat. Ledigs Kritik an heroischen Mythen ist aber in erster Linie auch außerhalb der literarischen Sphäre als Kritik an der neuen Militarisierung Deutschlands zu verstehen, denn mit der Wiederbewaffnung wurden auch alte Männlichkeitsbilder reaktiviert, mit denen „westdeutsche Politiker eine positive Tradition des mutigen und gehorsamen Soldaten wiederbeleben“ wollten.⁴⁸ Dem stellt Ledig seine Sicht auf den Gehalt der militärischen Mythen und Traditionen entgegen und bezieht somit in der gesellschaftlichen Debatte der 1950er Jahre um die Wiederbewaffnung klar Position.

3.2.2.2 Nachkrieg In Faustrecht variiert Ledig seine Destruktion von Gesten des Heldentums und der Männlichkeit. Statt der schmutzigen Kriegsrealität nimmt er hier jene Soldaten in den Blick, die in das zivile Leben des Friedens zurückkehren. Der Titel deutet jedoch bereits an, dass er diesen Frieden für trügerisch hält, denn der Begriff „Faustrecht“ verweist auf eine Gesellschaft, in der allein das Recht des Stärkeren gilt. Hierzu passt Wolfgang Ferchls Beobachtung, dass Ledig seinen dritten Roman mit zahlreichen Westernmotiven unterlegt und sich auch im Plot an diesem

 Ebd., 74– 78, hier 75.  Vgl. Kraft (1994), 75 f.  Poiger (2001), 236.

3.2 Militärische Identitäten

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Genre orientiert.⁴⁹ Nachkriegsdeutschland rückt so in den Status eines rechtsfreien Raums bzw. eines Übergangskonstrukts, ähnlich den amerikanischen territories, in denen viele Western spielen. Anklänge an das Western-Schema erscheinen – neben der „coolness“ des Helden „Rob“ […] – im Motiv der „love affair“ des Helden mit dem leichten, gefallenen Mädchen, im Motiv der Kameraderie und Kumpanei der drei Freunde, in der Kneipenszene (Saloon), wo Robert Kontakt zum verschwundenen Hai aufnimmt, in der ausführlichen, retardierenden Hinführung zum „shoot down“ sowie im Überfall selbst, im tragischen Ende des „unschuldigen“ Freundes (Edel) und seinem Verscharrtwerden sowie dem schlußendlichen Gehen des „lonesome hero“ ins Licht.⁵⁰

Ledig bricht die normale Rollenverteilung jedoch auf: Seine Protagonisten sind eher die bad guys, denn Rob und Edel sind genaugenommen Gesetzlose, outlaws, während der Amerikaner Davis, der Vertreter des Gesetzes, nur eine Nebenfigur ist. Olga und Kat sind als ambivalente Prostituierte zwischen den Fronten ebenfalls klassisches Westernpersonal. Der Westernsubtext bot sich an, da gerade dieses Genre zur Entstehungszeit des Romans (neben dem Rock ’n’ Roll) in West-Deutschland besonders populär war: „In dieser Zeit beginnt er [der Western] […], das jugendliche Publikum anzuziehen und ihm seine harten Männlichkeitsideale vorzuführen, aber auch seine Freiheitsphantasien, die sich über die weiten Panorama-Landschaften legen.“⁵¹ Im Western bietet das weite Land große Möglichkeiten, weil es noch nicht zivilisatorisch definiert ist. „Die Zwänge der Zivilisation, die einengenden Vorschriften von Sitte, Recht und Gesetz haben hier (noch) keine Geltung.“⁵² Ledig dreht diese Konstellation durch seine Titelwahl ins Negative: Wo diese Werte nicht gelten, herrscht Faustrecht, das Recht des Stärkeren; d. h., der Zivilisationsverlust des Krieges konnte noch nicht ausgeglichen, die Ordnung noch nicht wiederhergestellt werden. Wiederum im Gegensatz zum klassischen Western kann der Protagonist nicht zur Etablierung dieser Ordnung beitragen: Während der „Westerner“ am Ende weiterzieht, weil er sich in der Bewahrung der Ordnung selbst obsolet gemacht hat, geht Rob fort, weil er sich in den neuen Strukturen nicht zurechtfindet, zu diesen nichts beitragen kann und darin funktionslos bleiben muss.

 Ferchl, Wolfgang: Zwischen „Schlüsselroman“, Kolportage und Artistik. Studien zur gesellschaftskritisch-realistischen Romanliteratur der 50er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland in ihrem sozialgeschichtlichen und poetologischen Kontext. Amsterdam 1991, 184 f.  Ebd.  Früchtl, Josef: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne. Frankfurt am Main 2004, 26.  Ebd., 38.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

Vor der Westernfolie stellt Ledig auf diese Weise dar, dass die heimkehrenden Männer weiterhin Soldaten sind, auch wenn der Krieg vorbei ist. Nach Jahren einer reduzierten Kriegsidentität ist es ihnen nicht ohne Weiteres möglich, diese Persönlichkeit hinter sich zu lassen und zu ihrer zivilen Identität zurückzukehren (zumal – wie oben angesprochen – viele der jungen Soldaten bei Kriegseintritt noch gar nicht darüber verfügt hatten). Auch wenn Faustrecht von der Kritik als „Gaunerstück“ angegriffen wurde, beweist Ledig auch in der entsprechenden Anlage des Romans ein Gespür für unangenehme Wahrheiten. Jonathan Shay hat angemerkt, dass viele Veteranen nach dem Krieg vor dem Problem stünden, dass sich die Kompetenzen, die sie in ihrer militärischen Profession erworben haben (z. B. die Ausübung effektiver, ggf. tödlicher Gewalt, die Verwendung schwerer Waffen, die Fähigkeit, positive wie negative Affekte konsequent zu unterdrücken), im zivilen Leben kaum vonnöten sind,⁵³ womit sich die beschriebene Identitätskrise selbstverständlich fortsetzt. So rutschen sie nicht selten in kriminelle Karrieren ab, wo sie ihre Fähigkeiten profitabel einsetzen können.⁵⁴ Die Aussage, dass der Krieg für Hai eben noch nicht vorbei sei (FR 37), ist damit nicht nationalistisch zu verstehen. Hai kämpft nicht nur weiter gegen die Amerikaner, weil er sie als Besatzer versteht, sondern weil er nichts anderes kann: „Uns ist jahrelang befohlen worden, immer irgend jemanden zu töten: Mir fiel es zum Schluß gar nicht mehr auf“ (FR 194). Bei Rob sieht es vermutlich nicht anders aus. Dass auch er massive Probleme hat, in ein ziviles Leben zurückzukehren, wird an den Schwierigkeiten deutlich, die er in seinem Verhältnis zu Olga hat. Allerdings gibt es bei ihm auch Hinweise auf eine Traumatisierung, die ihm zwischenmenschliche Beziehungen erschwert (s.u. 6.). In der emotionalen Kälte wird die Coolness des Westerners ganz wörtlich realisiert und somit ihrer ursprünglich positiven Konnotation beraubt. Wolfgang Ferchl hat darauf hingewiesen, dass in der Brechung der Coolness und der Western-Schablone eine Kritik an der amerikanischen Kultur und ihrem Potential, die deutschen Probleme der Nachkriegszeit zu lösen, gesehen werden kann. Geht man davon aus, dass die „Haltung zu Amerika […] ein Indikator für die Verwestlichung Deutschlands“⁵⁵ sei, so muss man diese Kritik auf die gesamte Westausrichtung der BRD zur Entstehungszeit des Romans ausweiten. Wichtig ist in dieser Hinsicht, „daß der Western […] essentiell den Gründungsmythos der Vereinigten Staaten von Amerika formt und eine herausgehobene kulturelle In Vgl. Shay, Jonathan: Odysseus in America. Combat Trauma and the Trials of Homecoming. New York 2002, 20 f.  Vgl. ebd., 26.  Diner, Dan: Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Ein historischer Essay. Frankfurt am Main 1993, 119.

3.3 Zivile Identitäten

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stanz für die US-amerikanische Identitätsstiftung bildet.“⁵⁶ Ledig deutet somit die Dysfunktionalität dieses Mythos für den neuen deutschen Staat an.

3.3 Zivile Identitäten Der totale Krieg hatte nicht nur Auswirkungen auf die individuelle Identität der Soldaten und auf die Sicht auf militärisches Heldentum, sondern beeinflusste auch zivile Identitäten. Denn die Trennung zwischen Front und Heimat hatte in der Folge keinen Bestand mehr: „Im August 1939 erklärte das Oberkommando der Wehrmacht angesichts der Reichweite der gegnerischen Luftwaffe das gesamte Reichsgebiet zum Kriegsgebiet.“⁵⁷ Somit verlor auch die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten an Bedeutung.⁵⁸ Der Bombenkrieg verband so das Volk mit dem Krieg und demonstrierte ihm spätestens in der Schlussphase der Kämpfe schmerzhaft, welchem Vorhaben man bei Goebbels’ Sportpalastrede im Februar 1943 frenetisch zugestimmt hatte. Im Gegensatz zu den Frontsoldaten befanden sich die Menschen in den deutschen Städten allerdings in einem deutlich asymmetrischen Gewaltverhältnis, da sie den Bomben nichts entgegensetzen konnten. „Die Volkskrieger waren wehrlos, führten keine Waffen und waren höchstens verwundert, daß die Luftwaffe gegen die Bomberschwärme nichts ausrichtete.“⁵⁹ Dem Regime waren dieses Missverhältnis und die damit verbundenen Probleme durchaus bewusst. Um ihnen zumindest zum Teil entgegenzuwirken, wurden die Zivilisten nun ebenfalls als Kämpfer bezeichnet, wobei ihre Aufgabe vor allem im Luftschutz gesehen wurde. In Analogie dazu wurden die zivilen Toten ebenfalls „Gefallene“ genannt und mit militärischen Ehren bedacht.⁶⁰ De facto war diese Gleichsetzung aber nur unter Vorbehalt gültig, auch deshalb, weil man die Heimatfront in erster Linie als weiblich abqualifizierte und damit als weniger stabil und leidensfähig ansah.⁶¹ Dennoch gab es seitens der Führung den  Früchtl (2004), 24.  Kramer, Nicole: „Kämpfende Mütter“ und „gefallene Heldinnen“ – Frauen im Luftschutz. In: Süß, Dietmar (Hg.): Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung. München 2007, 86.  Vgl. Friedrich (2003), 407.  Ebd., 408. Vgl. auch ebd., 495.  Vgl. Echternkamp, Jörg: Im Kampf an der inneren und äußeren Front. Grundzüge der deutschen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 – 1945, Teilband 1: Politisierung, Vernichtung, Überleben. Hg. von Jörg Echternkamp. München 2004, 68; Kramer (2007), 95 f.; Friedrich (2003), 409.  Süß (2011), 371.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

Versuch, nun auch für die Zivilbevölkerung den symbolischen Tausch des Lebens gegen Ehre bzw. den Dank des Vaterlandes zu etablieren. Ledig hat diese neuen zivilen Identitäten in Vergeltung allerdings nicht dargestellt. Sie finden sich aber etwa in Alexander Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 in den Figuren der beiden Turmbeobachterinnen Frau Arnold und Frau Zack, die unter Einsatz ihres Lebens Höhe, Anzahl und Ziele der anfliegenden Bomber an eine zentrale Stelle durchgeben.⁶² Wie in Die Stalinorgel kommt es auch in Vergeltung zu einer Reduktion der Individualität. Wieder bleiben die meisten (deutschen) Figuren – zumindest innerhalb der eigentlichen Erzählung – namenlos und werden nur über stereotype militärische (etwa „der Leutnant“, „der Funker“) oder zivile (z. B. „der Priester“, „der Ingenieur“) Funktionsbezeichnungen identifiziert, teils gar nur über eine Zuweisung des Geschlechts und des ungefähren Alters („der Junge“, „das Mädchen“); auch treten erneut eher Typen denn Charaktere auf. Abermals ist dies nicht zuletzt der Selbsterhaltung geschuldet, denn inmitten „von brennenden Städten und Kampfgeheul ist Identität keine Größe mehr, der besondere Würde zukäme. Wichtiger ist jetzt die bloße Selbsterhaltung, und die ist auch identitätslos möglich.“⁶³ Wie schon in Ledigs Erstling halten teilweise jedoch nicht einmal die Rumpfidentitäten des Krieges der Extremsituation stand. Besonders deutlich wird dies an der Figur des Priesters, dessen festes Bekenntnis zum Glauben durch seine religiöse Verzweiflung im Angesicht des Todes konterkariert wird (V 85 f.). Auch in den Fällen, in denen die Restidentität sich auf familiäre Bindungen konzentriert, wird gerade dies vom Kriegsgeschehen ad absurdum geführt, da die Familien auseinandergerissen werden: so etwa bei der Mutter des toten Primus, aber auch beim Vater, der auf dem Weg zu Frau und Kind am Bahnhof ist, wobei dieser jedoch schon von den Bomben getroffen wurde. Er tritt primär als Vater und durch die Sorge um sein Kind in Erscheinung, selbst seine Frau rückt dabei in den Hintergrund: „Wenn es mich trifft, kann ich meinem Kind nicht helfen. Es war merkwürdig, aber er dachte nicht an seine Frau“ (V 64). Die personelle Vereinfachung und Verknappung, die Ledig hier vornimmt, orientiert sich dabei an den historischen Tatsachen: Die Gewöhnung an Gewalt und Tod hatte zu einer engen Begrenzung der Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen auf die eigene Person und die nächsten Angehörigen geführt. Das Gefühl, gegen das, was im Himmel ausgelöst wurde, nichts, aber auch gar nichts, tun zu

 Vgl. Kluge, Alexander: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. In: Kluge, Alexander: Unheimlichkeit der Zeit. Frankfurt am Main 1978, 44– 48.  Ahrens (2001), 176.

3.3 Zivile Identitäten

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können, schränkte die Handlunsspielräume [sic] weiter ein. Nur der Versuch, mit eigenen, sehr begrenzten Möglichkeiten […] das eigene Leben und das der nächsten Angehörigen zu retten, schien noch möglich.⁶⁴

Nur vereinzelt treten Figuren auf, die eine Charakterisierung erfahren: So hat Jürgen Egyptien bemerkt, dass der Arzt und der junge Fähnrich in Vergeltung „bewußt im Sinne des Nationalsozialismus handeln.“⁶⁵ Neben dem Nationalsozialismus an sich kritisiert Ledig gerade mit der Figur des Arztes jene Menschen, die diesen nicht durchschauten. So gibt der Arzt in seiner Biographie an, dass sein Vater Konsul war, er eine gute Erziehung genossen, mehrere Sprache und Klavier spielen gelernt habe; außerdem habe er bereits früh mit Intellektuellen verkehrt (V 189). Dass „das soziale und geistige Milieu seiner Herkunft ihm ideale Voraussetzungen geboten hat, gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie mental immun zu sein“, hindert ihn aber nicht an „seiner rassistischen Weltanschauung und seiner Verherrlichung des Krieges“.⁶⁶ Ledig erinnert somit daran, dass das Regime Unterstützung aus allen sozialen und intellektuellen Hintergründen erhielt und dass eine aufgeklärte Erziehung keineswegs vor der Übernahme menschenverachtender Ideologie schützt(e). Daneben wird der Nationalsozialismus „in den Typen verurteilt, die er hervorgebracht hat“.⁶⁷ Ähnliches gilt für den Gerichtsoffizier in Die Stalinorgel. Ledig weicht damit von den festen Rollenverteilungen ab, die Jochen Pfeifer für den deutschen Kriegsroman der ersten Nachkriegsjahre beschrieben hat. Danach war die Darstellung verschiedener Menschen- und Berufsgruppen stark von Stereotypen geprägt: Mitglieder der NSDAP sind rohe und brutale Menschen,⁶⁸ Ärzte und Krankenschwestern sind Muster an Menschlichkeit und Selbstlosigkeit,⁶⁹ und die deutschen Landser bestechen außer durch ihre Leidensfähigkeit durch Kameradschaftsgeist, Mut und Humor.⁷⁰ Diese Zuschrei-

 Bönitz, Wolfgang: Feindliche Bomberverbände im Anflug. Zivilbevölkerung im Luftkrieg. Berlin 2003, 210.  Egyptien, Jürgen: Figurenkonzeptionen im Kriegsroman. Die Darstellung von Anhängern, Mitläufern und Gegnern des Nationalsozialismus in Gert Ledigs „Vergeltung“, Michael Horbachs „Die verratenen Söhne“, Harry Thürks „Die Stunde der toten Augen“ und Manfred Gregors „Die Brücke“. In: Egyptien, Jürgen (Hg.): Der Zweite Weltkrieg in erzählenden Texten zwischen 1945 und 1965. München 2007, 118. Dass der Arzt am 30. Januar, dem Datum von Hitlers Machtergreifung, geboren ist, ist als weiterer Hinweis auf seine nationalsozialistische Gesinnung zu lesen.  Ebd., 122.  Wagener (1977), 259.  Vgl. Pfeifer (1981), 134 f.  Ebd., 133 f.  Ebd., 96 f.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

bungen sind für Ledigs Romane nicht gültig, wie neben dem Arzt auch die Charakterisierung der deutschen Soldaten beweist, die eben nicht durch die genannten Züge hervortreten, sondern im Gegenteil durch ihre Rückbesinnung auf ihre individuelle Identität, und sei es nur durch die Selbstbehauptung durch Selbsterhaltung in Form von Desertion.⁷¹ Ledig unterstreicht mit seiner Minimierung individueller Identitäten in Vergeltung, dass sich Soldaten und Zivilisten im totalen Krieg in einer ähnlich menschenfeindlichen Situation befinden, nicht zuletzt, da beide Gruppen gleichermaßen einer Kriegsmaschinerie ausgesetzt sind, die danach trachtet, sie in all ihren individuellen Aspekten zu vernichten. Denn ebenso wie die Granaten an der Front entmenschlichen auch die Bomben zu Hause die zivilen Toten, indem die Leichen meist kaum mehr als Menschen zu erkennen sind.⁷² Der Mensch ist somit im Tode nicht mehr Individuum, sondern nur noch verarbeitete Materie. Die Überreste wurden bei größeren Opferzahlen bzw., wenn eine Identifizierung nicht mehr möglich war, zudem in anonymen Massengräbern bestattet, die eine „bittere Projektionsfläche für die Überlebens- und Bewährungsrhetorik der nationalsozialistischen Totenliturgie“ bildeten.⁷³ Konnten die entstellten Körper nicht mehr klar identifiziert werden, war die Vernichtung des Individuums vollständig. Zwar trägt Ledig der Anonymisierung, die dem totalen Krieg auch an der Heimatfront innewohnt, Rechnung, indem er sein Figureninventar weitgehend namenlos lässt, gleichzeitig jedoch hebt er die Figuren durch die eingeschobenen Biographien wieder in den Stand von Individuen mit eigenständiger Identität, denn die „Biographie des Individuums stellt […] einen wichtigen Parameter im Aushandeln der Identität dar.“⁷⁴ Indem die Figuren wieder einen Namen und eine Geschichte erhalten, wird ihre Anonymität aufgehoben. Gleichwohl darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei einigen dieser Zwischenrufe gewissermaßen um Grabreden handelt, die sich die Figuren selbst halten – so beim Mädchen (V 13) und bei Alfred Rainer (V 43) – und damit die Leser direkt ansprechen. Daher sind diese Passagen zurückblickend im Präteritum verfasst. Andere bilden durch idyllische Schilderungen ein starkes Gegengewicht zur eigentlichen Handlung, indem sie den Frieden und sein Glück beschreiben (so bei Strenehen, V 163). Eine dritte Gruppe allerdings schildert die Grausamkeit des Krieges auch über die beschriebene Handlung hinaus, wie die Erzählung der

 Gleichwohl finden sich auch bei Ledig Identitätsstereotypen, so etwa in Person des gierigen Müllers, womit er ein seit dem Mittelalter gängiges Berufsgruppenklischee aufgreift.Vgl. Popplow, Marcus: Technik im Mittelalter. München 2010, 88.  Vgl. Friedrich (2003), 513.  Süß (2011), 447. Vgl. auch Echternkamp (2004), 66.  Gymnich (2003), 34.

3.3 Zivile Identitäten

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Gräfin von ihrem Sohn, der im Eismeer gestorben ist (V 177 f.), jene der Milchfrau über ihren im Ersten Weltkrieg schwer verwundeten Ehemann (V 133) oder der Bericht des Fähnrichs über die Erschießung der russischen Gefangenen (V 106). In diesen Zwischenrufen wird die Erzählperspektive stets durchbrochen, da die Figuren selbst zu Wort kommen und nicht der distanzierte Erzähler. Ledig re-individualisiert seine Figuren auf diese Weise und gibt ihnen die menschlichen Züge sowie mit ihrem Namen „die letzte wiederherstellbare Würde“⁷⁵ zurück, die ihnen der Krieg zuvor konsequent genommen hat. Er betont so den diachronen Charakter der sich wandelnden individuellen Identität, die sich in erster Linie auch aus persönlichen Erinnerungen speist.⁷⁶ Die Momente privaten Glücks und die Formierung der persönlichen Identität aus Erinnerungen in den Biographien können aber nicht überdecken, dass der Krieg den Menschen auf den jeweiligen Moment, das Jetzt, konzentriert, während Vergangenheit und Zukunft nebensächlich werden. Letztere ist ebenfalls konstitutiver Teil der persönlichen Identität, indem der Einzelne sich auf der Grundlage des bereits Erlebten Gedanken oder Pläne für die Zukunft macht.⁷⁷ Aber auch dieser Blick nach vorn wird in der Extremsituation bedeutungslos: „Es gab keine Bilder der Vergangenheit, keine Gedanken an die Zukunft. Es gab nur einen Körper, der durch die Luft flog“ (V 50). So plant die Gräfin Baudin ebenfalls nicht mehr in die Zukunft: „Um mich ist es nicht schade. Mein Mann lebt nicht mehr. Unser Junge ist vermißt“ (V 170). Ähnlich wie beim Major in Die Stalinorgel führt der Verlust des familiären Umfelds hier zu einer Krise der individuellen Identität. Wie schon in Die Stalinorgel unterstreicht Ledig mit seiner auf ein Minimum reduzierten Figurenzeichnung auch in Vergeltung den Labor- bzw. Beispielcharakter der Erzählung. Dies lässt sich gut an der Gruppe im Luftschutzkeller demonstrieren: Indem Ledig die Menschen bewusst konturlos lässt und allgemein hält sowie gleichzeitig die Gruppe so zusammensetzt, dass sie der Demographie der Städte gegen Kriegsende entspricht (vor allem Frauen aller Altersgruppen und wenige ältere Männer), steht der beschriebene Keller samt Besetzung exemplarisch für alle Luftschutzkeller und somit für das Land und seine Gesellschaft als Ganzes.

 Friedrich (2003), 433.  Wegen der großen Abhängigkeit der Identität von der persönlichen Erinnerung ist Gedächtnisverlust auch meist gleichbedeutend mit Identitätsverlust oder -krise. Vgl. Gymnich (2003), 35.  Ebd., 35 f.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

3.4 Zivilisationsverlust vs. Menschlichkeit Mit dem beschriebenen Verlust der individuellen Identität und der verbreiteten Dysfunktionalität der verbleibenden Rumpfidentität wird der Einzelne bei Ledig nicht nur von sich selbst bzw. von dem, was ihn ausmacht, entfremdet, sondern auch von dem, was ihn ganz allgemein als Menschen kennzeichnet. Diese Entwicklung ist dem Krieg inhärent: „Indem seine Regel das Töten ist, macht er aus seinen Akteuren Agenten einer Dehumanisierung, die zwar aus einer Gesellschaft der Menschen kommen mögen, sie vielleicht zu verteidigen glauben, die aber als Regel des Krieges die Regeln des Menschlichen außer Kraft gesetzt haben.“⁷⁸ Die Degradation des Individuums im Krieg geht somit zwangsläufig mit einem Rückgang von Menschlichkeit und Zivilisation einher. Ledig charakterisiert die Kriegssituation sowohl auf sprachlicher wie auch auf inhaltlicher Ebene als klaren Gegenpol zu diesen Werten, die dort weitgehend untergraben und ausgelöscht werden. Sprachlich manifestiert sich der Zivilisationsverlust vor allem in Ledigs häufiger Verwendung bio- und technomorpher Bildlichkeit. Die humane Degradation spiegelt sich im Vergleich mit der Tierwelt sowie mit unbelebter Technik. So gleichen die Figuren Lemuren oder handeln wie Maschinen, um den zivilisatorischen Abstieg zu markieren. Ausführlich werden die entsprechenden Bilder, Vergleiche und Metaphern im Abschnitt zu Ledigs Anlage des Krieges als einer negativen verkehrten Welt untersucht (s.u. 4.). Inhaltlich wird der Rückgang zivilisierten Verhaltens deutlicher. Offensichtlich wird etwa ein Schamverlust im Umgang mit Fäkalien (etwa SO 13, V 153). In erster Linie aber begegnet der Leser inhumanen Handlungen in der menschlichen Interaktion, wie etwa der Vergewaltigung des Mädchens,⁷⁹ der Demütigung des jungen Vaters durch eine Gruppe von Feldjägern oder der unterlassenen Hilfeleistung für eine alte Frau durch das Mädchen (V 15 – 17). Außer Frage steht dabei, dass Ledig diesen Zivilisationsverlust als generell typisch für Kriege an sich sieht und nicht exklusiv mit der gegebenen Situation des Zweiten Weltkriegs bzw. als Folge des unmenschlichen NSRegimes identifiziert. Gerade letztere Lesart bietet sich durch den weitgehenden Verzicht auf größere politische Zusammenhänge und die Ursachen des Krieges nicht an. Zudem schreibt er mit der Vergewaltigung ein Verbrechen, das nach dem Krieg vor allem mit russischen Besatzungssoldaten in Verbindung gebracht

 Ahrens (2001), 166.  Vgl. hierzu Wieden (2018), die bemerkt, dass Maria Weinert aus dem übrigen Personal hervorsticht, da sie doppelt objektifiziert wird – zum einen als „Materie“, die es für die alliierten Bomber zu zerstören gilt, zum anderen als Sexualobjekt in der Vergewaltigung.

3.4 Zivilisationsverlust vs. Menschlichkeit

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wurde,⁸⁰ einem Deutschen zu und kritisiert so indirekt auch Fremdbilder und die Relativierung der eigenen Schuld, waren die Vergewaltigungen doch ein „Symbol des deutschen Opferstatus“⁸¹. Nur selten blitzt Menschlichkeit auf, etwa wenn der Unteroffizier in Die Stalinorgel ohne Rücksicht auf seine eigene Sicherheit den tödlich verwundeten Pionier Meller erschießt, um ihm weitere Leiden zu ersparen, und sich zudem Zeit für eine Ehrenbezeugung nimmt (SO 18 f.). Weitere Beispiele sind etwa die Barmherzigkeit der Menschen im Bunker gegenüber dem sterbenden Strenehen (V 194 f.), obwohl sie nur kurz zuvor noch nach Vergeltung und Lynchen der „Terrorflieger“ gerufen hatten (V 161, 174), oder die Skrupel eines deutschen Soldaten, den verletzten Sostschenko zu töten (SO 75). Zwar demonstrieren diese Szenen, dass Ledig bei aller Verurteilung des Krieges an die Menschen glaubt, doch bilden solche Passagen die Ausnahmen und verdeutlichen somit gleichzeitig, dass Humanität in Ledigs Romanen primär denen gewährt wird, für die ohnehin jede Hilfe zu spät kommt. Die aggressive, angespannte Atmosphäre im Luftschutzkeller illustriert ebenfalls, wie die Extremsituation die Menschen in ihrer Zivilität verändert. Ledig orientiert sich hier wiederum eng an den tatsächlichen Zuständen in den Kellern und Bunkern: Wenige dort zugebrachte Tage machen den da Wohnhaften stumpf, roh und gleichgültig. Nach anfänglicher Überreizung werden Männer brummig und einsilbig, vergreifen sich an fremden Gegenständen, achten nicht auf Frauen und Kinder. Jeder Ordnungs- und Reinlichkeitssinn schwindet. Früher gepflegte Menschen waschen, kämmen, rasieren sich tagelang nicht, die Kleidung verlumpt. Mütter vernachlässigen ihre Kinder, Männer kehren sich brachial gegen schutzsuchende Frauen.⁸²

In den vergleichsweise sicheren Schutzräumen war der Rückgang an zivilisiertem Umgang freilich dennoch nicht annähernd so virulent wie auf den Straßen, wo die Menschen wesentlich direkter um ihr Leben kämpfen mussten. In der Todesangst artete besonders der Zustrom zu den Bunkern häufig in ein solches Gedränge aus, dass Menschen erdrückt oder zu Tode getrampelt wurden, wie Jörg Friedrich beschreibt.⁸³ Ähnliche Szenen finden sich in Thomas Bernhards autobiographi-

 Heineman, Elizabeth: Die Stunde der Frauen. Erinnnerungen an Deutschlands „Krisenjahre“ und westdeutsche nationale Identität. In: Naumann, Klaus (Hg.): Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, 159. Anja Wieden hat darauf hingewiesen, dass Ledig damit damit im allgemeinen Nachkriegsdiskurs allein steht; vgl. Wieden (2018).  Ebd., 160.  Friedrich (2003), 405.  Ebd., 399 f.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

scher Erzählung Die Ursache, die unter anderem Luftangriffe behandelt, die der Autor in seiner Jugend in Salzburg selbst erlebt hat (s.u. 6.).⁸⁴ Ledig verzichtet zwar auf entsprechende Passagen, doch wird anhand der angesprochenen Stellen deutlich, dass er den Krieg in klarer Opposition zu Werten wie Menschlichkeit und Zivilisation sieht. Der Mensch im Krieg fällt in Ledigs Augen auf eine niedere Entwicklungsstufe zurück, auch in Momenten, in denen er nicht um sein nacktes Überleben kämpft.

3.5 Geschlechteridentität Die beschriebenen Auswirkungen des Kriegserlebnisses auf die individuellen Identitäten konnten für das Verhältnis der Geschlechter nach dem Krieg nicht ohne Folgen bleiben.⁸⁵ Der „Zweite Weltkrieg war total in jeder Hinsicht: durch Bombenkrieg, Terror,Völkermord, Partisanenkrieg, die allesamt dazu beigetragen haben, mit dem Gegensatz von Front und Heimat auch den Unterschied der Geschlechterrollen einzuebnen“.⁸⁶ Nachdem die Männer als Verlierer aus einem verbrecherischen Krieg, der zu einer Krise der traditionellen Bilder von Stärke und Männlichkeit geführt hatte, heimgekehrt waren und die Frauen – die Personifikationen des zu schützenden Heimatlandes – sich während des Krieges im Luftschutz und danach im Wiederaufbau bewährt hatten,⁸⁷ konnte man nicht an den bisherigen Geschlechterrollen festhalten: „Neue Abhängigkeiten hatten sich eingestellt, die zugleich auch eine Verkehrung der überkommenen Rollen zum Vorschein brachten.“⁸⁸ Das ohnehin angekratzte Selbstbild der Männer musste darunter weiter leiden.

 Bernhard (2004), 31.  Melchert, Monika: Mann und Frau nach dem Krieg. Wie die Heimkehr der Männer die Geschlechterverhältnisse veränderte. In: Heukenkamp, Ursula (Hg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945 – 1961). Amsterdam 2001, 275 – 281.  Koselleck, Reinhart: Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewusstsein. In: Wette, Wolfram (Hg.): Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. München 1992, 328. Zum Wandel der Geschlechterrollen und vor allem zur Rolle der Frauen in der Kriegsgesellschaft vgl. Echternkamp (2004), 37– 44.  Im Kontrast dazu kamen gerade die Soldaten, die im Heimaturlaub waren – anders als die Frauen –, mit dem Bombenkrieg oft nicht klar, denn die soldatischen Instinkte und Reflexe – etwa den vermeintlichen Schutz eines Kellers nicht zu verlassen – halfen hier nicht, sondern wurden vielmehr zur Gefahr (wenn z. B. ein Keller sich durch die Hitze der Feuer langsam in einen Ofen verwandelte und ein Ausstieg nicht mehr möglich war); vgl. Friedrich (2003), 412.  Goltermann (2009), 133.

3.5 Geschlechteridentität

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Während die Männer besiegt aus dem Krieg zurückgekehrt waren, „waren viele Frauen durch den Krieg selbstbewußter in Denken und Handeln geworden, weil sie eben einen größeren Einblick in die Arbeit des Mannes erhalten hatten.“⁸⁹ Hinzu kam „das weitverbreitete Gefühl, daß die Männer als Verteidiger und Versorger der deutschen Frauen und Kinder versagt hätten.“⁹⁰ Dies ist in erster Linie vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Bombenkrieg vor allem eine Erfahrung dieser beiden Bevölkerungsgruppen war. In Faustrecht verkörpert die Gruppe um Rob und Olga die neue Rollenverteilung: Die Männer sind nicht länger die Ernährer, sondern gebrochene Heimkehrer, die im Falle von Rob und Edel zudem nicht von den Amerikanern entdeckt werden dürfen. Womit die beiden ihren Unterhalt bestreiten, bleibt unklar; unter anderem werden sie von Olga mit Lebensmitteln versorgt. Diese neue Abhängigkeit bekommt eine besondere Note, da Olga als Prostituierte nicht nur keinem ehrenhaften Beruf nachgeht, sondern überdies ein „Ami-Liebchen“ ist. Diese Tatsache belastet die Beziehung von Rob und Olga ebenso wie die Anzeichen einer Traumatisierung des Mannes (s.u. 6.). Stellenweise dringt aber auch die Sehnsucht der Männer nach den alten Rollenmustern durch: Wenn Rob Olga bei der Hausarbeit zusieht, hat er „das Gefühl, etwas sei jetzt in Ordnung“ (FR 11). Hai kann sich dagegen leichter mit den neuen Verhältnissen arrangieren: „Wir haben vier Jahre gekämpft, jetzt kämpft sie [Olga] für uns. Das ist der Lauf der Dinge“ (FR 45). Das weitaus größere Problem für die Beziehungen der Figuren stellt jedoch zweifellos die Prostitution der beiden jungen Frauen dar. Edel verachtet die Frauen, die sich den „Feinden“ an den Hals werfen. So spricht er von Olga und Katt fast immer nur abfällig als „Huren“ und „Nutten“, auch in der direkten Ansprache (z. B. FR 90). Es ist zu vermuten, dass hinter dieser Haltung das Gefühl steckt, von denen, für die die Männer gekämpft zu haben glauben, verraten worden zu sein. Denn auch an anderen Stellen thematisiert Ledig Untreue von Frauen in der Heimat, während ihre Männer an der Front sind. Relativ offen ist dies in den Briefen der Frau des Gefreiten Schute in Die Stalinorgel angesprochen (SO 128 – 130).⁹¹ In Faustrecht wird an einer Stelle zumindest angedeutet, dass ein Mädchen nicht auf seinen Freund gewartet hat, der im Krieg war (FR 80). Dass die Frauen

 Schneider, Franka: „Einigkeit im Unglück“. Berliner Eheberatungsstellen zwischen Ehekrise und Wiederaufbau. In: Naumann, Klaus (Hg.): Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, 210.  Poiger (2001), 228.  Die Enttäuschung und das Gefühl des Verrats waren in solchen Fällen besonders groß, da die Rückkehr zu Ehefrau und Familie bei den Soldaten in Krieg und Gefangenschaft mit großen Zukunftshoffnungen verbunden war. Vgl. hierzu Goltermann (2009), 130 f.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

sich nun mit den Besatzern einlassen, wurde in der Nachkriegszeit tatsächlich als Potenzierung dieses Verrats an den deutschen Männern und der deutschen Ehre verstanden, wie auch ein zeitgenössisches anonymes Plakat aus München belegt: „Ihr zieht uns alle, Ihr wisst es genau / in den Schmutz; auch die Ehre der deutschen Frau! / 6 Jahre brauchten sie, um den deutschen Soldaten zu besiegen! / Eine deutsche Frau ist in 5 Minuten zu kriegen!“⁹² Später formuliert der Autor der Zeilen noch den Wunsch, die geschmähten Frauen mögen den Russen in die Hände fallen, das (i. e. eine Vergewaltigung) würde sie ,lehren‘. Das „Ami-Liebchen“ stand somit in der Sicht der Zeitgenossen für den moralischen Verfall Deutschlands (der nach dieser Sicht nicht etwa unter dem NS-Regime, sondern erst nach dem Krieg stattgefunden hat): „Nach dem herrschenden Diskurs der Besatzungszeit prostituierte sich eine Fraternisiererin nicht nur, sie beleidigte auch alle, die gelitten oder sich geopfert hatten.“⁹³ Die abwertende Sicht auf die „Besatzungsmaid“⁹⁴ ist in Faustrecht allerdings nicht nur Männern zu eigen, sondern wird auch von Frauen geteilt, wenn auch weniger offensiv: So macht sich im Beisein von Olga u. a. eine Witwe über jene Frauen lustig, die sich mit den Amerikanern einlassen (FR 178 – 180). Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass auch Olga selbst ihre Nachkriegsidentität kritisch sieht: „Dafür bin ich auch nur ein Tier“ (FR 70). Diese Spannungen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Liebe zwischen Rob und Olga nicht primär deren Beschäftigung im Wege steht, sondern seine Gefühlskälte und Unfähigkeit zu Nähe. Das Verhältnis der beiden ist von Robs Distanziertheit sowie einer gestörten Kommunikation geprägt, die dieser Problematik entspringt. Nicht einmal einfache Gespräche über unverfängliche Themen wie Musik sind den beiden noch möglich (FR 96 f.). Selbst Olgas Bekenntnis, dass sie es nicht ertrüge, wenn Rob etwas passierte, kann von diesem positiv verarbeitet werden (FR 100).

 Bauer, Richard: Ruinen-Jahre. Bilder aus dem zerstörten München 1945 – 1949. München 1983, 29.  Heineman (2001), 165.Vgl. auch Fehrenbach, Heide: „Ami-Liebchen“ und „Mischlingskinder“. Rasse, Geschlecht und Kultur in der deutsch-amerikanischen Begegnung. In: Naumann, Klaus (Hg.): Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, 186.  Christian Ferber bezeichnet Olga in seiner Rezension zu Faustrecht (Kaum mehr als pure Kolportage. Gert Ledigs dritter Roman. In: Die Welt vom 2.11.1957) als „Besatzungsmaid im betrüblichsten Sinne“. Diese Begriffsverwendung belegt auch, wie weit es noch zum Deutungswandel ist, für den exemplarisch Richard von Weizsäckers Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes steht, den 8. Mai als Tag der Befreiung anzusehen. In Faustrecht, aber auch in den Rezensionen dazu sind die Amerikaner in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre noch vor allem Besatzer und nicht Befreier.

3.5 Geschlechteridentität

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Zurückzuführen sind diese Schwierigkeiten in den Geschlechterbeziehungen letztlich ebenfalls auf den Krieg. Ledigs Darstellung von Rob lässt aus heutiger Sicht auf eine Traumatisierung in Folge seiner Kriegserlebnisse schließen (s.u. 6.). Seine Beziehungsunfähigkeit kann dann als Folge bzw. als Symptom dieser posttraumatischen Belastungsstörung gedeutet werden. Es ist verschiedentlich auf dieses Charakteristikum einer Traumatisierung hingewiesen worden. So erschüttern „traumatische Ereignisse […] zwischenmenschliche Beziehungen in den Grundfesten. Sie zersetzen die Bindungen an Familie, Freunde, Partner und Nachbarn, sie zerstören das Selbstbild, das im Verhältnis zu anderen entsteht und aufrechterhalten wird.“⁹⁵ Judith Herman spricht mit diesem Befund ganz konkret auch Kriegsteilnehmer an, denn es „berichteten viele Vietnamveteranen häufig über Schwierigkeiten im Umgang mit Frauen und Freundinnen oder allgemein mit emotionaler Nähe zu anderen Menschen.“⁹⁶ Jonathan Shay vertritt diese Meinung ebenfalls und sieht in diesem Phänomen eine Begleiterscheinung der Abschottung gegen Kummer und Trauer: „Apparently the human heart works this way: Shut down the pain of grief and you lose the ability for joy as well.“⁹⁷ Allerdings spricht er nicht nur von Schwierigkeiten im Umgang mit Frauen, sondern er hat sogar geradezu feindliche Haltungen der Männer zum anderen Geschlecht beobachtet: „One of the ugliest characteristics of some psychologically injured Vietnam combat veterans we work with is their hostility and habitual disrespect toward women.“⁹⁸ Diese Beschreibung trifft auf Edels Aggressivität in Bezug auf Katt und Olga sehr genau zu. Sowohl Robs als auch Edels Verhalten gegenüber Olga können so auf das Kriegserlebnis zurückgeführt werden. Ledigs Darstellung dysfunktionaler Geschlechterbeziehungen spiegelt somit gesellschaftliche Prozesse, die in den Nachkriegsjahren unter dem Begriff der „Ehekrise“ firmierten, und zeigt literarisch, dass sich darüber „Kriegserfahrungen plastisch schildern und Kriegsfolgen konkret darstellen“⁹⁹ lassen. Er zeichnet nach, dass das Verhältnis von Männern und Frauen nach dem Krieg beschädigt war und dass exklusiv der Krieg und die jeweils unterschiedlichen Gewalterfahrungen die Beziehungen sowie die Kommunikation belasteten. Mit dem Fokus auf sog. „Ami-Liebchen“ beleuchtet er darüber hinaus ein weiteres Moment, das Männer und Frauen nach dem Krieg einander entfremdete. Bei dieser Konstella-

    

Herman (2006), 77. Ebd., 93. Shay (2002), 89. Ebd., 65. Franka Schneider (2001), 213.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

tion kann es im Roman für Rob und Olga keine Zukunft geben, sodass Olgas Entscheidung für Davis letztlich nicht überrascht.

3.6 Fremd- und Feindbilder 3.6.1 Grundlagen Fragen der Identität betreffen nicht nur Selbst-, sondern auch die Fremdbilder der Beteiligten. Im gleichen Maß, wie der Krieg die Eigensicht beeinflusst, verändert er auch Fremdbilder oder kreiert solche ganz bewusst in der Form von konkreten Feindbildern (denn im Krieg stehen sich keine Gegner, sondern Feinde gegenüber¹⁰⁰). Letztere werden in der Regel von der politischen oder militärischen Führung mithilfe von Propaganda generiert und „verzerren die Wirklichkeit. Sie dienen weniger der Information über den Anderen als vielmehr der Motivation der eigenen Seite in der Vorbereitung und Begleitung eines kriegerischen Konfliktes.“¹⁰¹ Wenn der Feind als genauso menschlich und ehrenhaft gesehen wird, wie man sich selbst empfindet, würde es Soldaten offensichtlich schwerfallen, diesen zu töten. Daher wird er propagandistisch konsequent entmenschlicht und erniedrigt, so „daß es gleichgültig ist, ob er lebt oder stirbt.“¹⁰² Kriegsgegner werden in der Regel mit Stigmata belegt, um sie als minderwertig zu kennzeichnen und so die Tötungshemmschwelle der eigenen Soldaten zu senken. Diese negative Kennzeichnung erfüllt eine symbolische Funktion, und mit der Abwertung sind auch gewisse Erwartungen an die Identität des Anderen verbunden: Er definiert sich nicht selbst, sondern ist vorgezeichnet.¹⁰³ Unterstützt wird diese Fremdbestimmung des Feindes im technisierten Krieg nicht zuletzt durch die fehlende unmittelbare Kommunikation mit dem Gegner. Während Schwerter und Speere Waffen sind, deren Aktionsradius auch der Reichweite der Stimme entspricht, fehlt im modernen Krieg mit dem direkten Kontakt häufig die Möglichkeit, die menschliche Natur des Feindes zu erkennen.¹⁰⁴ An der Ostfront wurde den deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg „bei jeder Gelegenheit vermittelt, dass sie ‚gegen eine feindliche Rasse und einen

 Sofsky, Wolfgang: Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt am Main, 2002, 116.  Wette,Wolfram: Die Wehrmacht. Feindbilder – Vernichtungskrieg – Legenden. Frankfurt am Main 2002, 15.  Shay (1998), 151.  Vgl. Abels (2006), 355.  Shay (1998), 156.

3.6 Fremd- und Feindbilder

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Kulturträger minderer Art‘ zu kämpfen hatten, und man bemühte sich, ein ‚gesundes Gefühl des Hasses‘ bei den eigenen Soldaten hervorzurufen, damit diese im Kampf ‚keine Gefühlsduselei und Gnade‘ zeigten.“¹⁰⁵ Rassistische Russlandbilder existierten in Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg; die Nationalsozialisten mussten daran nur noch anschließen, indem sie „natürliche Unterschiede zwischen der germanischen und der slawischen Rasse“ propagierten.¹⁰⁶ Nach dem Beginn des „Unternehmens Barbarossa“, des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, bedeutete dies, dass die russischen Soldaten nicht nach den Regeln des Völkerrechts behandelt werden mussten, da es sich ja um „Untermenschen“ handelte.¹⁰⁷ So hatte die Feindbild-Propaganda bei den Soldaten im Osten „die sehr konkrete Aufgabe, […] Skrupel bezüglich der Legitimität dieses Krieges zu mildern und das eigene Selbstwertgefühl zu steigern.“¹⁰⁸ Die Soldaten der westlichen Alliierten wurden dagegen nicht im gleichen Maße rassistisch entmenschlicht, da etwa die Briten auch zur germanischen Rasse gerechnet wurden.

3.6.2 Darstellung bei Ledig Betrachtet man die Fremd- und Feindbilder in den Romanen Ledigs, so fällt auf, dass sie den zur ihrer Entstehungszeit gängigen, mitunter nach wie vor sehr negativen Typisierungen relativ neutrale Darstellungen gegenüberstellen und dass der Autor darum bemüht ist, die alliierten Soldaten zu re-humanisieren. Er erreicht dies zum einen direkt über die Charakterzeichnung, zum anderen, indem er seine Figuren entsprechende Erkenntnisse gewinnen lässt. Dennoch ruft Ledig gerade auf diese Weise, aber auch durch die Darstellung von durch Deutsche verübten Verbrechen an Russen und Amerikanern die entsprechenden Fremdund Feindbilder auf und erinnert so an ihre weite Verbreitung und Akzeptenz sowie an die damit verbundene Menschenverachtung während des Zweiten

 Neitzel, Sönke; Welzer, Harald: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt am Main 2011, 134. Peter Knoch hat anhand von Feldpost und Tagebüchern im Vergleich zum Ersten Weltkrieg im Zweiten Weltkrieg eine deutliche Abnahme der Empathie deutscher Soldaten gegenüber russischen Soldaten und Zivilisten festgestellt. Es ist also davon auszugehen, dass die Indoktrination zumindest teilweise erfolgreich war; vgl. Knoch (1992).  Vgl. Wette (2002), 23 ff., hier 25.  Vgl. ebd., 26.  Wette, Wolfram: Das Rußlandbild in der NS-Propaganda. Ein Problemaufriß. In: Volkmann, Hans-Erich (Hg.): Das Rußlandbild im Dritten Reich, 2., unveränderte Aufl. Köln/Weimar/Wien 1994, 73.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

Weltkriegs. Dies muss auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass manche dieser Stereotypen mit dem Ende des NS-Regimes keineswegs umgehend relativiert wurden oder verschwanden, sondern weiterhin gepflegt wurden.

3.6.2.1 Relativierung negativer Stereotypen Augenfällig ist, dass Ledig in seinen Romanen die Gegner der deutschen Soldaten in der Regel positiver darstellt als diese selbst und dass die Figuren, die noch am ehesten Profil gewinnen, Alliierte sind (in Die Stalinorgel Sostschenko und in Vergeltung Strenehen). Seine Charakterzeichnung bildet somit einen Gegenentwurf zur Propaganda des Krieges. Negative Zuweisungen werden konterkariert, indem in Die Stalinorgel Figuren beider Seiten häufig zu der Erkenntnis kommen, dass der Gegner auch ein Mensch – und vor allem ein Mensch in derselben verzweifelten Situation – ist. So entdeckt ein russischer Überläufer in seinen deutschen Feinden außer anderen Gesichtszügen keine Unterschiede zu sich selbst (SO 45 f.). Auch der deutsche Hauptmann stellt fest, dass sich die Russen abgesehen von ihren Uniformen nicht von den Deutschen unterscheiden, und er erkennt sogar ihre Disziplin an, mithin ein Sinnbild deutscher Tugend (SO 110). Nur vereinzelt halten Figuren noch an Stereotypen fest, wenn sie dem Gegner direkt gegenüberstehen, so der russische Leutnant Trupikow („Es hat keinen Zweck mit ihnen zu verhandeln. Sie sind wie Tiere. Man muß sie töten, oder man wird getötet“, SO 163), aber vor allem der deutsche Arzt in Vergeltung, der Strenehen misshandelt. Bezeichnet er den Amerikaner als „Lemuren“ und als „Affen“, verdeutlicht er damit, dass er sein Gegenüber auf einer niedrigeren Zivilisationsstufe sieht. Damit schießt er allerdings über die gängige NS-Propaganda hinaus, die in der Regel nicht so weit ging, ‚westliche‘ Gegner rassistisch herabzustufen.¹⁰⁹ Eine unübersehbare Unterscheidung zwischen deutschen und alliierten Soldaten trifft Ledig auch, indem er die Deutschen in der Erzählerrede konsequent nur über ihren Dienstgrad bzw. ihre Funktion identifiziert, während Russen und Amerikaner meist bei ihrem Namen genannt werden. Da sowohl die Deutschen als auch ihre Gegner von Ledig ansonsten als relativ ähnlich und vergleichbar ausweglosen Situationen ausgesetzt beschrieben werden, kann man allerdings nicht davon ausgehen, dass der Autor über die Namen seine Sympathien markiert. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass Ledig in der weitgehenden Reduktion der deutschen Figuren auf militärische Zuordnungen Kritik an der militaristischen Kultur Deutschlands in der Tradition Preußens übt, aber auch das menschen-

 Vgl. Wette (1994), 56.

3.6 Fremd- und Feindbilder

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verachtende NS-Regime anprangert, dessen Ideologie die völlige Aufgabe des Individuums für die Volksgemeinschaft forderte. Zu einer Relativierung von Stereotypen kommt es auch, indem bei einzelnen Figuren durchaus ein Bewusstsein für die propagandistische Fremdbildsteuerung vorhanden ist, was ihnen eine Reflexion der Manipulation erlaubt. So gibt der Hauptmann gegenüber Trupikow zu, dass die deutsche Führung propagandistische Mittel benutze, um bei den Soldaten Angst vor einer Gefangennahme durch die Russen zu schüren (SO 113). Auf diese Weise betont er einen zweiten Aspekt der Dämonisierung des Gegners: Während die Hemmschwelle zum Töten gesenkt wird, wird gleichzeitig jene angehoben, die Waffen niederzulegen. Obwohl ein Gefühl für die Außensteuerung durch die Propaganda vorhanden ist, fällt es etwa Trupikow schwer, sich von den Stereotypen zu lösen. Dennoch bringt er es letztlich nicht über sich, den Hauptmann zu erschießen, und auch einen verletzten deutschen Soldaten tötet er nicht: „Er wollte kein Tier sein“ (SO 173 f.). Trotz einzelner positiver Charakteristika stellt Ledig die russischen und amerikanischen Soldaten keineswegs ausschließlich wohlwollend dar. Zwar hebt er die deutschen Soldaten nicht gegenüber ihren Feinden hervor, sondern stellt beide Seiten als gleichwertig dar, doch entfernt er sich dabei nicht allzu weit von den Stereotypen der zeitgenössischen deutschen Kriegsromane (gerade der trivialen Sorte), wo negativ konnotierte Fremdbilder vorherrschten: Russische Soldaten sind in der Regel hart und grausam, ihre Gesichtszüge weichen von der mitteleuropäischen Physiognomie ab: „dunkelhäutig, schlitzäugig, große Ohren, flache Stirn“¹¹⁰. Diesem Bild entspricht in etwa der russische Überläufer in Die Stalinorgel (vgl. SO 44), und betrachtet man den Umgang der Russen mit dem Melder (SO 133 ff.) oder auch das Verhalten Trupikows, darf man auch von Härte und Grausamkeit sprechen. Jochen Pfeifer hat darüber hinaus zu Recht bemerkt, dass das Ürräh-Geschrei der russischen Soldaten und die Hinrichtung von deutschen Soldaten durch Genickschuss in Die Stalinorgel Klischees darstellen.¹¹¹ Die gängige Zeichnung der deutschen Nachkriegsliteratur stellt die Amerikaner tendenziell als naiv und nicht besonders intelligent dar.¹¹² Auch hiervon entfernt sich Ledig nicht sehr weit: Zwar sind seine amerikanischen Figuren relativ positiv gezeichnet und gewinnen wie im Fall von Strenehen genug Profil, um zur Identifikation zu dienen, doch kann ihnen eine gewisse intellektuelle Schlichtheit nicht abgesprochen werden (vgl. auch Davis in Faustrecht).

 Vgl. Nutz (1977), 268 – 270, hier 268.  Vgl. Pfeifer (1981), 105.  Nutz (1977), 270.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

Bestand haben die alten Feindbilder auch bei den Kriegsheimkehrern in Faustrecht. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass viele von ihnen noch nicht im Frieden angekommen sind: „Für Hai ist eben der Krieg noch nicht zu Ende“ (FR 37). Auch Edel bezeichnet die Amerikaner nach wie vor als „Feinde“ (FR 35). Prinzipiell sehen die Hauptfiguren des Romans die Amerikaner nicht als Befreier, sondern als Besatzer. Rob, Edel und Hai stehen damit für beträchtliche Teile der deutschen Bevölkerung, denn von „einer gleichsam besinnungslosen Identifikation mit dem Sieger konnte in der unmittelbaren Nachkriegszeit jedenfalls nicht die Rede sein. […] Allein schon die Wirklichkeit des Bombenkrieges der Alliierten – unter dieser Chiffre wurden fast ausschließlich Engländer und Amerikaner gefaßt – bestärkte ein ohnehin bestehendes Ressentiment den ‚Angelsachsen‘ gegenüber.“¹¹³ Dieser Punkt kommt auch in Faustrecht zur Sprache: „‚Ihre Hygiene ist vorbildlich.‘ Edel sagte: ‚Deswegen verbrannten sie auch unsere Säuglinge mit Phosphor‘“ (FR 22). Hierin wird ein Rückbezug zu Vergeltung hergestellt, worin die Handlung gewissermaßen die Grundlage für die in Faustrecht beschriebene Situation bildet, denn das „Flächenbombardement einer durchschnittlichen Stadt, das Ledig beschreibt, bedeutet die erste Stufe der Besatzung, wie sie der moderne, maschinale Krieg ermöglicht. Vor der Eroberung kommt die Enteignung der Welt.“¹¹⁴ Ledig stellt die vor allem in der Trivialliteratur gängigen Fremdbilder seiner Zeit zwar nicht komplett auf den Kopf,¹¹⁵ relativiert sie aber über die gleichwertige Darstellung der deutschen und der alliierten Soldaten sowie über die Andeutung, dass sich die meisten Stereotypen Auge in Auge mit dem Gegner als nicht haltbar erweisen. Mit seinem Hinweis darauf, dass auch die Russen Menschen sind und dass die Hinwendung zu den USA in den 1950er Jahren eine noch recht neue Entwicklung war und man die Amerikaner nach dem Krieg zunächst keineswegs durchweg freundlich begrüßte, kommentiert Ledig gleichwohl nicht nur literarische, sondern auch gesellschaftliche Fremdbilder. Daraus ist also nicht nur eine Aussage über die Qualität literarischer Bilder von Russen und Amerikanern ablesbar, sondern auch Ledigs ablehnende Haltung zur Westausrichtung der Bundesrepublik, die auch der Westernsubtext in Faustrecht andeutet. In Die Stalinorgel demonstriert Ledig darüber hinaus, wie die Kriegssituation selbst neue Feindbilder schafft. Diese finden sich nicht immer zwingend nur beim Gegner, sondern oft genug in den eigenen Reihen. So richtet sich der Hass des  Diner (1993), 121.  Ahrens (2001), 175.  Zu Russlandbildern in der anspruchsvollen deutschen Nachkriegsliteratur vgl. Muratova, Gyuzel: „Warum haben wir aufeinander geschossen?“ Studien zum Rußlandbild in der deutschen Prosaliteratur von Stalingrad bis zur neuen Ostpolitik der BRD (1943 – 1975). Diss. Duisburg 2005.

3.6 Fremd- und Feindbilder

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Melders nicht etwa auf die Russen, sondern auf den Feldwebel, der seine Ablösung verhindert: „Wenn der Feldwebel dennoch den Melder sinnlos herausschickte, so nahm sich dieser jedesmal vor, dem Feldwebel diesen Weg zu vergelten. Einen Feind konnte er nie mit Überlegung töten, aber den Feldwebel würde er beim nächsten Sturmangriff in den Rücken schießen. Er haßte ihn“ (SO 11). Ähnlich ist die Situation bei den Soldaten des Panzervernichtungstrupps, die allen Ersatzleuten für die Kompanie heimlich den Tod wünschen, da diese ihre Ablösung verhindern (SO 14). Der Todeswunsch für den Anderen konstituiert hier ganz klar ein Feindbild, denn „Feindschaft will den anderen aus dem Weg schaffen. […] auf die Vernichtung des Feindes richten sich die intensivsten Wünsche und Vorstellungen.“¹¹⁶ Die Feindbilder lösen sich in den geschilderten Fällen von ideologischer Indoktrination und richten sich auf diejenigen Menschen, die die größte Gefahr für das eigene Leben darzustellen scheinen: Dies sind nicht die weitgehend gesichtslosen Gegner, sondern im Gegenteil die Kameraden. Gerade beim Melder demonstriert Ledig auf diese Weise, wie eine als ungerecht empfundene Behandlung Feindbilder verschiebt und so die immens wichtige moralische Bindung zwischen den Soldaten untergräbt (was letztlich Traumatisierungen begünstigt; s.u. 6.).

3.6.2.2 Deutsche Verbrechen Ledigs Darstellung der alliierten Soldaten dient aber nicht nur der Auseinandersetzung mit damals teils überkommenen, teils noch aktuellen Feindbildern, sondern ruft außerdem deutsche Kriegsverbrechen in Erinnerung. Ledig beleuchtet so eine weitere Facette eines schmutzigen, unehrenhaften Krieges; vor allem jedoch bezieht er hierin explizit Stellung gegen die deutsche Rolle in diesem Krieg. Zum Ausdruck kommt darin die Menschenverachtung der nationalsozialistischen Ideologie, die weite Teile der Bevölkerung übernahmen und die sich u. a. in der Duldung von Millionen von Zwangsarbeitern (vom Schicksal der jüdischen Mitbürger ganz zu schweigen) und der Lynchjustiz an alliierten Piloten manifestierte. In Die Stalinorgel werden deutsche Verbrechen an zwei Stellen angesprochen: Zum einen macht Ledig durch einen gehenkten russischen Soldaten deutlich, dass die Deutschen häufig keine Gefangenen machten: „Sein Vorgänger war Kommissar gewesen,¹¹⁷ er war nur ein gewöhnlicher Soldat. Wenn man sie

 Sofsky (2002), 116.  Dies evoziert unwillkürlich die Umsetzung des verbrecherischen Kommissarbefehls, auch wenn er nicht direkt angesprochen wird.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

truppweise im Wald fing, wurden sie erschossen, Einzelgänger wurden gehenkt“ (SO 38). Zum anderen wird auf den verbrecherischen Charakter der „Operation Barbarossa“ angespielt, wenn Trupikow sich verwundert zeigt, dass die Deutschen mit ihrem schönen Land den Russen ihre unwirtlichen Weiten neiden (SO 170). Weiter geht Ledig jedoch nicht; seine relative Gleichstellung der beiden Seiten lässt weitgehend unerwähnt, dass die russischen Soldaten sich gegen einen Aggressor von außen wehren, wohingegen die deutschen Soldaten einen unrechten Angriffskrieg führen.¹¹⁸ Weitaus mehr Raum nehmen die deutschen Verbrechen in Vergeltung ein. Die Ermordung russischer Gefangener etwa wird hier in der Biographie des Fähnrichs noch einmal aufgegriffen, wenn dieser beschreibt, wie seine militärische Karriere mit der Erschießung von vierzig Russen begonnen habe (V 106). Umfangreich befasst sich der Roman mit den Zwangsarbeitern im Reichsgebiet und der Lynchjustiz an alliierten Piloten. „Mit dem Porträt von Nikolai Petrowitsch erinnert Ledig an die zahlreichen russischen Zwangsarbeiter, die bei völliger Entrechtung und schlechtester Ernährung im Deutschen Reich ausgebeutet wurden.“¹¹⁹ Für 1944 ist die Anwesenheit einer großen Anzahl russischer und ukrainischer Zwangsarbeiter in München (dem vermuteten Ort der Handlung von Vergeltung) belegt, die vornehmlich in der Rüstungsindustrie – hauptsächlich bei BMW – und bei Aufräumarbeiten eingesetzt und kaum besser behandelt wurden als KZ-Häftlinge. Ihre Unterkünfte befanden sich Ingrid Permooser zufolge über die ganze Stadt verteilt, sodass sie fester Bestandteil des Stadtbildes und jedermann bekannt waren.¹²⁰ In den Nürnberger Prozessen wurde gerade das hohe Maß an Zwangsarbeit im Dritten Reich als Ausdruck der weitgehenden Übereinstimmung zwischen Volk und Regime betrachtet.¹²¹ Da sie in der Regel wesentlich schlechter vor den Bombenangriffen geschützt waren als die deutsche Bevölkerung, machten die ausländischen Arbeiter einen nicht unbedeutenden Anteil der Luftkriegsopfer aus.¹²² Gleichzeitig bildeten die Angriffe aber auch eine perfide Art der Entlastung: „Für die Ostarbeiter lockerte sich im Bombardement die scharfe Aufsicht. Sie gingen ihrer Wege, denn die

 Vor allem in der DDR ist Ledig dafür kritisiert worden, dass er den faschistischen Charakter des Krieges in Die Stalinorgel ausblende.  Barbian (2002), 363.  Permooser, Irmtraud: Der Luftkrieg über München 1942– 1945. Bomben auf die Hauptstadt der Bewegung. Oberhaching 1996, 240 f.  Ebd., 244.  Laut Permooser ist sowohl für München als auch für das gesamte Reichsgebiet von etwa 10 % auszugehen; Permooser (1996), 248; vgl. auch Echternkamp (2004), 66; und Bönitz (2003), 142– 144.

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Deutschen waren mit sich selbst beschäftigt.“¹²³ Dies deckt sich in etwa mit der Darstellung in Vergeltung, wo sich die russischen Zwangsarbeiter während des Angriffs frei in der Stadt bewegen. Die schlechte Behandlung der zur Arbeit Gezwungenen verdeutlicht auch das Schicksal des beiläufig erwähnten französischen Kriegsgefangenen Jean Pierre, der während des Angriffs nicht etwa von den Bomben oder Trümmern erschlagen wird, sondern „von einem Gewehrkolben“ (V 11). Der Handlungsstrang um Strenehen und die an ihm beinahe verübte Lynchjustiz ist ebenfalls in Analogie zu den historischen Zuständen angelegt. Insgesamt ist von ca. 350 Lynchmorden an alliierten Fliegern auszugehen, wobei es ab 1944 zu einer Häufung kam,¹²⁴ was an der zunehmenden Verrohung und Radikalisierung der Bevölkerung gegen Kriegsende lag. Zudem hielt ab diesem Zeitpunkt auch die Führung, die die abgeschossenen Flieger zunächst noch nach den Regeln des Kriegsrechts behandelt sehen wollte, nicht mehr ihre schützende Hand über die Bomberbesatzungen. Ingrid Permooser bemerkt, dass höchste Stellen des Regimes „die Selbstjustiz durch die Bevölkerung als Akt der Selbstwehr legalisiert und den lokalen Polizeibehörden bzw. der Wehrmacht das Einschreiten verboten“ hätten.¹²⁵ Ferner stellt sie fest, dass es in München tatsächlich zu Fällen von Lynchjustiz kam – so etwa im Juni 1944 –, allerdings nicht bei den Juli-Angriffen, die wohl die Vorlage für Vergeltung bildeten.¹²⁶ Auch Wolfgang Bönitz weist darauf hin, dass bei Übergriffen auf die abgesprungenen Besatzungen vom Regime Straffreiheit verheißen wurde.¹²⁷ Er erwähnt außerdem, dass viele Piloten Teile der Bombenlast bereits über See abwarfen oder gleich neutrale Länder anflogen, um so ihr Leben zu retten.¹²⁸ Er belegt damit indirekt das Verhalten Strenehens, der seine Bomben bewusst über dem Friedhof abwirft, in der Hoffnung, dort niemanden zu treffen. Es muss angemerkt werden, dass Ledig letztlich keinen Lynchmord konkret beschreibt, wenngleich im Bunker zuvor nach Selbstjustiz gerufen wird (V 174). Als die Menschen dort Strenehen jedoch persönlich gegenüberstehen, bringen sie es ebenso wenig über sich wie zuvor der Monteur (V 90 f., 99 f.).Wiederum wird bei Ledig somit nicht von Angesicht zu Angesicht getötet, erneut setzt sich bei di-

 Friedrich (2003), 485.  Vgl. Grimm, Barbara: Lynchmorde an alliierten Fliegern im Zweiten Weltkrieg. In: Süß, Dietmar (Hg.): Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung. München 2007, 71– 84.  Permooser (1996), 237. Hier ist konkret von Martin Bormann die Rede.  Ebd., 237– 239.  Bönitz (2003), 153.  Ebd., 163. Vgl. auch Friedrich (2003), 488 f.

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3 Identitäten: Eigen- und Fremdbilder

rekter Konfrontation Menschlichkeit gegenüber Ideologie durch. Auch die Strenehen-Handlung unterstreicht somit Ledigs Glauben an die Menschen. Dennoch rührte Ledig Mitte der 1950er Jahre mit den Passagen um Petrowitsch und Strenehen an unliebsame Tatsachen und verdrängte Vergangenheiten, erinnert er doch an die Akzeptanz der nationalsozialistischen Ideologie in der Bevölkerung und deren Teilhabe an den Kriegsverbrechen; nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist die Ablehnung des Romans bei seiner Erstveröffentlichung zu betrachten. Ein deutsches Verbrechen stellt auch der Überfall in Faustrecht dar. Dieser beruht ebenfalls auf historischen Vorbildern. Angriffe auf Kraftwagen mit über die Straße gespannten Tauen oder Ketten häuften sich in Deutschland bereits in den späten 1930er Jahren.¹²⁹ Ein ähnliches Vorgehen ist für Überfälle auf amerikanische Fahrzeuge in der unmittelbaren Nachkriegszeit belegt.¹³⁰ Ledig betont hier noch einmal, dass die Amerikaner zunächst keineswegs als Befreier, sondern als Besatzer gesehen wurden,¹³¹ und hinterfragt somit gesellschaftliche Tendenzen zur Entstehungszeit des Romans. Es wurde bereits angesprochen, dass er so deutlich macht, wie die alten Fremd- und Feindbilder hinsichtlich der Besatzungstruppen weiterhin vorherrschten.¹³² Sie manifestieren sich im Überfall, und es ist davon auszugehen, dass die Beteiligten von der Bevölkerung dafür nicht verurteilt würden: „Auf der Ebene meist unbewußter ,Wir‘-Identifikationen blieben alte Muster in unsicherer Form noch längere Zeit verbreitet. Viele Menschen, auch jüngere, empfanden eine Art Genugtuung, wenn ein Deutscher es ‚denen‘ – d. h. den Siegermächten – ‚einmal richtig gezeigt‘ hatte“.¹³³ Es wird so offensichtlich, dass die klare Westausrichtung der BRD der 1950er Jahre keineswegs alternativlos war. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Ledig die Alliierten den Deutschen gleichwertig zeichnet. Russen und Amerikaner werden – im Gegensatz zu

 Vgl. Heiber, Helmut; Heiber, Beatrice: Die Rückseite des Hakenkreuzes. Absonderliches aus den Akten des „Dritten Reiches“. 4. Aufl. München 2001, 210.  In der Dokumentation Trümmerleben. Besatzer und Besiegte (gesendet am 21.4. 2005 von 22.30 – 23.15 Uhr bei Südwest 3) gibt der GI Gerald Schwartz, der nach dem Krieg in Deutschland stationiert war, an, dass aus diesem Grund alle amerikanischen Jeeps in der Front mit Drahtschneidern versehen waren.  Zu einer weitreichenden Revision solcher Abneigungen dürfte es erst 1948/49 mit der BerlinBlockade und der Luftbrücke gekommen sein.  Die US-Amerikaner können hier sicher stellvertretend für die westlichen Besatzungstruppen gesehen werden. Dass keine Briten oder Franzosen auftreten, ist mit der Lage Münchens in der amerikanischen Besatzungszone zu erklären.  Schörken (1995), 185. Er bezieht sich hier unter anderem auf den „stillen Beifall, den Görings Selbstmord fand“.

3.6 Fremd- und Feindbilder

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den Deutschen – in der Erzählerrede meist mit Namen benannt. Die am stärksten ausgearbeiteten Figuren sind Sostschenko und Strenehen, wobei Letzterer besonders wohlwollend dargestellt ist, da der Passionsprätext dieses Handlungsstrangs¹³⁴ (s.u. 4.) ihm die Rolle eines Heilsbringers und Erlösers zuschreibt. Ledig entlastet ihn, indem er Strenehen versuchen lässt, seine Bomben möglichst in leeres Gelände abzuwerfen. Dem Beispielcharakter der Erzählungen zum Trotz wird somit zwischen Gut und Böse, zwischen Angreifern und Verteidigern gewertet und das unmenschliche Regime angeprangert. Ledigs Darstellung unterscheidet sich gerade mit dem wertneutralen Bild der russischen Soldaten sowohl von alten Feindbildern (die im Falle der Russen in den 1950er Jahren nach wie vor aktuell waren) als auch von Tendenzen der zeitgenössischen westdeutschen (Trivial‐)Literatur. Das Bild der Amerikaner betreffend weicht Ledig dagegen weniger von den allgemeinen Mustern ab: In der deutschen Nachkriegsliteratur herrschte noch länger ein negatives Bild vor, wobei primär Kritik an der amerikanischen Kultur und am Kapitalismus geübt wurde, aber auch Zukunftsängste formuliert wurden.¹³⁵ Ledigs (wenngleich über die dysfunktionale Westernfolie nur unterschwellig formulierte) Amerikakritik richtet sich dabei weniger gegen die USA selbst als vielmehr gegen die deutsche Verwestlichung. Die Darstellung deutscher Verbrechen an Alliierten verfolgt dagegen einen distinktiv erinnerungskulturellen Ansatz, indem sie gegenüber dem deutschen Publikum der 1950er Jahre unliebsame Aspekte der Vergangenheit anmahnt, die den ideologischen Pakt zwischen Regime und Volk verdeutlichen.

 Vgl. Radvan (2006).  Vgl. Wettberg, Gabriela: Das Amerika-Bild und seine negativen Konstanten in der deutschen Nachkriegsliteratur. Heidelberg 1986.

4 Verkehrte Welt und Apokalyptik Den Charakteristika einer Situation, die der normalen Lebenswelt diametral entgegengesetzt ist (Unangemessenheit des Leibes, Aufhebung gängiger Vorstellungen von Identität und Individualität; s.o. 2. und 3.), entspricht in Ledigs Romanen, wie diese den Krieg durch den Einsatz von Merkmalen grotesker Literatur eindeutig als – freilich ausschließlich negative – verkehrte bzw. entfremdete Welt darstellen und so ein verbreitetes Motiv der Kriegsliteratur aufgreifen.¹ Ist hier vom „Grotesken“ die Rede, so wird Bezug genommen auf Bachtins „karnevalesk verkehrte Welt unter Betonung des Materiellen und Körperlichen“², deren Kennzeichen Ledig jedoch dazu dienen, eine „Verbildlichung der als unsere erkennbaren, aber in ihrer Ordnung zerbrochenen – im Sinne Wolfgang Kaysers bedrohlich verfremdeten – Welt“³ zu konstituieren. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem Momente (nur scheinbar) grotesker Körperlichkeit: primär durch Gewalteinwirkung geöffnete oder aufgerissene Körper, aber auch groteske, d. h. übertriebene oder entstellte, Organe bzw. Extremitäten sowie eine groteske Metaphorik, die sich primär aus der Vermischung prinzipiell separater Sphären (z. B. Menschen- und Tierwelt⁴) speist. Mit diesen Aspekten ist das Lachen verbunden, das ebenfalls auf seine Funktion in Ledigs Romanen untersucht werden soll. In der entfremdeten, negativ verkehrten Welt kann dies nicht mehr das befreiende karnevalistische Gelächter Bachtins sein, sondern bestenfalls das zynische Lachen, vor allem aber jenes der Verzweiflung. Im Kontext dieser grotesken Gegenwelt, die in ihrer Absage an jegliche Ordnung und Sinnstiftung deutliche Züge von Absurdität trägt, ist dann gleichermaßen auf Ledigs Verwendung apokalyptischer und – im ursprünglichen Wortsinne – infernalischer Bilder einzugehen sowie darauf, dass bzw. wie sich Ledig vor allem in Vergeltung einer apokalyptischen Lesart dezidiert verweigert.

 Daemmrich, Horst S.: Krieg aus der Sicht der Themengeschichte. In: Schneider, Thomas F. (Hg.): Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des ‚modernen‘ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, Bd. 1. Osnabrück 1999, 6.  Rosen, Elisheva: Art. Grotesk. In: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2. Stuttgart/Weimar, 2001, 876.  Ebd.  Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main 1995, 357. https://doi.org/10.1515/9783110657128-005

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4.1 Groteske und entfremdete Welt 4.1.1 Groteske Körper Durch den ganzen Roman zieht sich ein mächtiger Strom des grotesken Körpers, des zerstückelten Körpers, einzelner grotesker Organe […], ein Strom von Därmen und Innereien, aufgerissenen Mündern, Verschlingendem und Verschluckendem, von Essen und Trinken, Sich-Entleeren, Urin und Kot, Tod, Geburt, Jugend, Alter etc.⁵

Auf diese Weise charakterisiert Bachtin Rabelais’ Gargantua und Pantagruel. Man muss aus dieser Aufzählung nur die wenigen positiven Aspekte wie Essen und Trinken sowie Geburt entfernen⁶, damit sie auch für Die Stalinorgel und Vergeltung ihre Gültigkeit hat. Die Beispiele für die groteske Körperlichkeit in den beiden Romanen sind vielfältig, es sei hier jeweils nur auf einige Stellen hingewiesen. Zwar beschreibt Ledig regelmäßig, wie seine Figuren (auch unfreiwillig) urinieren und mit Fäkalien hantieren, doch steht vor allem der weit geöffnete oder auch zerstückelte Körper als groteskes Motiv im Vordergrund. Als Resultat tödlicher Kriegstechnik ist er quasi omnipräsent, so z. B. in der völligen Vernichtung des Körpers des Obergefreiten zu Beginn von Die Stalinorgel, aber auch im Tod des amerikanischen Turmschützen in Vergeltung: Der MG-Kolben glitt dem Turmschützen aus der Schulter, zerschlug ihm den Kiefer. Fast schmerzlos verlor er dreißig Zähne. Ein Explosivgeschoß zerriß ihm die Brust. Es fetzte seine Lunge aus den Rippen. Die Wunde klaffte vom rechten Schlüsselbein bis zur rechten Brustwarze. Zwei Liter Blut brachen hervor. Auf Strenehen […] platschte es herunter. (V 28)

So wie hier die Lunge reißt es den Menschen an zahlreichen anderen Stellen die Därme aus dem Körper. Teilweise erreichen die Verletzungen solche Ausmaße, dass nicht einmal mehr von einem Körper gesprochen werden kann: „Eine Sekunde später gähnte dort, wo sie gestanden hatten, ein Trichter. Nicht einmal ihr Blut sickerte in die Erde, weil es zerstob“ (V 82). Das groteske Organ ist bei Ledig nicht das übermäßig große Organ, sondern im Gegenteil der maximal reduzierte – d. h. der nicht mehr vorhandene – Körperteil. Neben diversen abgetrennten oder verstümmelten Extremitäten fallen diesbezüglich vor allem zwei Figuren mit klassischen grotesken Organen ins Auge: der entmannte russische Soldat in Die Stalinorgel (SO 123) und der Lade-

 Ebd., 362.  Die eigentlich positiv konnotierte Jugend bleibt hier außen vor, da gerade sie es ist, die in Ledigs Romanen „auf dem Altar des Vaterlandes“ (V 174) geopfert wird.

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schütze in Vergeltung, dem die Nase abgetrennt wird.⁷ So unversehrt, dass sie noch eindeutig identifizierbar ist, beendet Letztere den Disput zwischen dem Ladeschützen und seinem Geschützführer, ob jener seine Nase verloren hat oder nicht: „Der Ladeschütze antwortete vorwurfsvoll: ‚Dort liegt sie doch!‘ Mit der Hand wies er auf den Beton. Ein Stück Fleisch lag auf der Plattform. Es war seine Nase“ (V 69). Ähnlich grotesk wirkt auch ein abgetrennter Fuß, der scheinbar unversehrt in einem Graben liegt: „Ein menschlicher Fuß ohne Bein, nackt, wächsern wie das Schaustück eines Pedikürsalons“⁸ (SO 177). Erst der Vergleich betont die vermeintliche Makellosigkeit des Fußes, der doppelt grotesk wirkt: durch den Kontrast zum Umfeld und durch den Hinweis, dass es sich um einen Fuß „ohne Bein“ handelt, als wäre er mit dem dazugehörigen Bein wieder komplett, anstatt auch dann Teil eines Toten zu sein. Die Bilder zerfetzter Leiber besitzen neben der reinen Körperlichkeit noch einen weiteren grotesken Aspekt. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass im Körper, der auf so massive Weise verletzt wird, ganz eindeutig ein Bild für die Krise des Individuums im Krieg zu sehen ist, indem der geschundene Leib unmittelbar demonstriert, wie eine moderne Kriegsmaschinerie die Grenzen zwischen Individuum und Umwelt aufhebt (s. o. 3.). Hierin ist darüber hinaus auch ein groteskes Motiv zu sehen, stellt es doch – wiederum ganz konkret – eine „Vermischung von Körper und Außenwelt“⁹ dar. Es ist jedoch zu bemerken, dass die extreme Körperlichkeit in Die Stalinorgel und Vergeltung genau genommen keineswegs in dem Sinne grotesk ist, dass sie hyperbolisch wäre; sie ist vielmehr Ledigs naturalistischer Darstellung geschuldet, die den Blick nicht von den Folgen der Kriegsgewalt abwendet. Ihr nur scheinbar grotesker Charakter entsteht aus dem Kontrast zur zuvor veröffentlichten deutschen Kriegsliteratur: Ledig „ist der erste Chronist eines Grauens, das die deutsche Kriegsliteratur so noch nicht gespiegelt hat.“¹⁰ Auch wenn die Kritik seine authentische und naturalistische Darstellung zumindest in Die Stalinorgel

 Zur vom Körper separierten Nase als klassischem grotesken Motiv sei hier exemplarisch auf Gogols Erzählung Die Nase verwiesen.  Eine ganz ähnliche Passage findet sich in den Aufzeichnungen Victor Klemperers zur Zerstörung Dresdens: „Einmal lag ein Arm da mit einer bleichen, nicht unschönen Hand, wie man so ein Stück in Friseurschaufenstern aus Wachs geformt sieht.“ Klemperer, Victor: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 – 1945, Bd. 8. Berlin 1999, 37. Und Thomas Bernhard beschreibt in Die Ursache, wie er nach einem Luftangriff auf Salzburg auf etwas trat, was er zunächst für eine Puppenhand hielt, bis er merkte, dass es sich um eine abgerissene Kinderhand handelte. Bernhard (2004), 28.  Bachtin (1995), 352.  O.A.: Rußlandkrieg. Zwei Tage Grauen. In: Der Spiegel, H. 2. März 1955.

4.1 Groteske und entfremdete Welt

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äußerst positiv hervorhebt, zeigen Vergleiche mit der bildenden Kunst doch auch, dass man der Gewaltdarstellung eine gewisse groteske Qualität zuschreibt, behandle Ledig doch „Todesarten, die man beim Höllenbreughel interessant und bei George Grosz geschmacklos findet.“¹¹ Dies gilt dann umso mehr für jene Todesarten, die von der Kritik bei der Erstveröffentlichung in den 1950er Jahren als übertrieben und unrealistisch abgelehnt wurden, wie etwa jene des Truppführers in Vergeltung, der in den heißen Asphalt stürzt: Von Schmerz gepeinigt, wälzte er sich als schwarzer Klumpen in zäher Masse. Er schrie nicht, kämpfte nicht. Seine Bewegungen dirigierte die Hitze. Sie krümmte ihn zusammen, warf seinen Kopf hoch. Sie breitete seine Glieder auseinander, als umarme er die Erde. Er glich keinem Menschen mehr, er glich einem Krebs. Er starb nicht nach einer Todesart, die bereits erfunden war. Er wurde gegrillt. (V 127 f.)

Auch in dieser Szene ist die Darstellung nur scheinbar grotesk und übertrieben, wenngleich Ledig mit der „Vermengung menschlicher und tierischer Züge“¹² eine klassische Form der Groteske aufgreift. Dass die Hitze der Brände und Phosphorbrandsätze den Straßenbelag so sehr aufweichen konnte, dass Menschen darin stecken blieben, ist vielfach belegt. Jörg Friedrich etwa hat darauf hingewiesen, dass dies Flüchtenden häufig widerfuhr. Allerdings war seiner Darstellung nach nicht der heiße Teer tödlich, sondern die Menschen wurden „von herabfallenden Brandpartikeln entzündet.“¹³ Ähnlich äußert sich Wolfgang Bönitz, der feststellt, dass die Steckengebliebenen Gefahr liefen, „durch die Feuerstürme, die eine Hitze von mehreren Hundert Grad entwickelten, elend zu verbrennen, ohnmächtig zu werden oder von herabfallenden Gebäudeteilen erschlagen zu werden.“¹⁴ Es gibt aber auch Stimmen, die Ledigs Schilderung noch näher kommen. So berichtet W.G. Sebald in seiner Beschreibung des Hamburger Feuersturms: „Die aus ihren Unterständen Geflohenen sanken unter großen Verrenkungen in den aufgelösten, dicke Blasen werfenden Asphalt.“¹⁵ Und auch Ernst Jünger vermerkt in seinem zweiten Pariser Tagebuch Ähnliches: „Bei den Phosphorangriffen soll der Asphalt zu brennen beginnen, so daß die Fliehenden in ihn einsinken und zu

 Noé, Walter: Spielt Gott auf der Stalinorgel? In: Frankfurter Hefte 10.4 (1955), 298; zu Pieter Brueghel d.J. als groteskem Maler vgl. Kayser,Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg/Hamburg 1957, Kap. II.1.  Bachtin (1995), 357.  Friedrich (2003), 18.  Bönitz (2003), 121.  Sebald (2001), 37.

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Kohle verglüht werden.“¹⁶ Der Pathologe Siegfried Gräff schließlich nennt in seinem Bericht über Untersuchungen von Opfern des Hamburger Feuersturms brennenden Straßenbelag als eine Hitzequelle, die für Hyperthermie mitverantwortlich sein konnte.¹⁷ In Letzterer vermutet er die Haupttodesursache im Freien.¹⁸ Tatsächlich groteske Momente erreicht Ledig, indem er aus der direkten Gegenüberstellung heterogener Elemente ein bizarres Spannungsverhältnis schafft, das nicht mehr durch ein befreiendes Lachen aufgelöst werden kann, so etwa beim Kontrast zwischen brutalem, schmutzigem Sterben und beschönigenden Todesnachrichten sowie ihrer formelhaften Rede von „Brustschuß und schmerzlosem Tod“ (SO 19) oder – noch gesteigert – beim Tod des Sohnes der Gräfin Baudin in Vergeltung (V 177 f.): Nachdem dieser über Bord gegangen ist, wird auf den nachfolgenden Schiffen zwar die Freiwache an Deck beordert, wie in solchen Fällen üblich, nicht jedoch, um das Opfer zu bergen, sondern um ihm in Paradeformation grüßend die letzte Ehre zu erweisen. Aus dem Kontrast der Weigerung, ihn zu retten, um den Konvoi nicht zu gefährden, und des Ehrenerweises für den noch Lebenden (der gleichwohl zum Tode verurteilt ist) entsteht hier eine groteske Spannung, die unaufgelöst bleibt. Ähnliches gilt für den Kampf der Fliehenden in Emga um einen Platz in einem Zug, der nirgendwo hinfahren wird (SO 137 f.), oder den grotesk anmutenden Versuch des Gerichtsoffiziers, sein gewohntes Procedere als Staatsanwalt aus Friedenszeiten auf die Kriegssituation zu übertragen. Bezeichnenderweise wird diese Situation gerade dadurch gelöst, dass der Gerichtsoffizier selbst Opfer des Krieges wird, bevor das Urteil vollzogen werden kann („Die Kugel hatte den Unterkiefer wegrasiert“, SO 148), und – zur „blutigen Fratze“ entstellt (SO 148) – stirbt. Die Auflösung der Situation gelingt somit nur durch ein weiteres groteskes Moment. In der Figur des Obergefreiten im Prolog von Die Stalinorgel werden nicht nur auf drastischste Weise die Grenzen zwischen Individuum und Umwelt aufgehoben; sie verweist auch bereits ganz am Anfang ihrer Vernichtung auf den

 Jünger, Ernst: Sämtliche Werke, Bd. 3. Tagebücher III. Stuttgart 1979, 114.  Vgl. Gräff, Siegfried: Tod im Luftangriff. Ergebnisse pathologisch-anatomischer Untersuchungen anläßlich der Angriffe auf Hamburg in den Jahren 1943 – 45. 2., erw. Ausgabe. Hamburg 1955, 114 f.  Vgl. ebd., 205. Ein Steckenbleiben im geschmolzenen Teer erwähnt Gräff nicht. Allerdings bemerkt er, dass er nur sehr wenige Opfer untersuchen konnte, die sich zum Todeszeitpunkt auf der Straße befanden, und dass bei diesen die Todesursache in der Regel nicht mehr eindeutig feststellbar war (vgl. ebd., 110 – 113). Der Bombenkrieg schuf diese Todesarten, die man vorher nicht kannte, vgl. Friedrich (2002), 387: „Über hundert Belegschaften wurden hier [in den Kellern Dresdens] von Heißluft gedämpft und geröstet.“

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grotesken Charakter des Krieges als einer verkehrten Welt, wenn es heißt, dass der Obergefreite mit dem „Kopf nach unten, an einem kahlen Gestell, das früher mal ein Baum gewesen war, hängengeblieben“ war (SO 7). So wie die komplette Auflösung des Körpers hier schon zu Beginn des Romans die folgende Körperlichkeit und Drastik einführt, so deutet diese Invertierung (als „einfachste Form der Anamorphose“¹⁹) des Obergefreiten auf die Verkehrung der Welt im Krieg hin.²⁰

4.1.2 Groteske Bilder und Metaphorik Neben Bilder extremer Körperlichkeit und vereinzelte tatsächlich groteske Szenen tritt eine entsprechende Metaphorik bzw. Bildsprache, die den Eindruck einer Gegenwelt oder verkehrten Welt unterstreicht. Sie bedient sich vor allem der Morphologie, die in der biomorphen Form (Vermischung Mensch–Tier) „eine der ältesten Varianten des Grotesken“²¹ darstellt und in der technomorphen Ausprägung (Vermischung Mensch–Technik bzw. „Eigenleben technischer Gerätschaften“²²) als eine moderne Weiterentwicklung der Vermischung menschlicher und anorganischer Elemente gesehen werden kann. Auch wenn es bei Ledig nicht zu tatsächlichen Vermischungen und daraus resultierenden Chimären kommt und durch die naturalistische Darstellung nicht dazu kommen kann, so ist doch die Häufung bio- und technomorpher Vergleiche und Metaphern auffällig. Biomorphe Bildlichkeit tritt nur sehr vereinzelt auf. Ledig baut dabei nicht so sehr auf Vermischung, sondern illustriert eher die Degradation des Menschen im Krieg. Er versieht die Menschen nicht mit einzelnen Charakteristika oder Zügen (eine Ausnahme bildet der Truppführer in Vergeltung, der in seinem Todeskampf im heißen Teer „einem Krebs“ gleicht; V 128), sondern betont, wie sie sich im Ganzen einer animalischen Ebene annähern. Dies kann ganz allgemein geschehen – Strenehen ist nach einer Weile nur noch ein „Tier, das aufrecht lief“ (V 179) –, häufiger sind jedoch Vergleiche, die konkret in die Richtung von Halbaffen weisen: „Sie glichen Lemuren“ (SO 13) oder „Er glich einem scheuen Höhlentier“ (SO 135). Diese Vergleiche sind im selben Kontext zu sehen wie der bereits zuvor angesprochene Verlust an Individualität; beides weist darauf hin, dass der Mensch im Krieg entscheidende Teile seiner Persönlichkeit bzw. hier konkret seiner „Menschlichkeit“ einbüßt. Hierin wird ein Zivilisationsverlust angepran   

Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln 2001, 245. Zur Invertierung als stilbildendem Element der Groteske vgl. ebd., Kap. II.1. Bachtin (1995), 357. Georgi, Oliver: Das Groteske in Literatur und Werbung. Stuttgart 2003, 21.

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gert, ohne damit Vorstellungen einer scala naturae mit dem Menschen als Krone der Schöpfung zu verbinden. Ohne konkrete biomorphe Bildlichkeit weist auch der Vergleich von Teilen des Kriegsschauplatzes – sei es der Front, sei es eines Lazaretts – mit einem Schlachthaus (z. B. SO 121) oder einer Schlachtbank (z. B. SO 19) in diese Richtung. Diese Begriffe, die auf ein Schicksal deuten, das für gewöhnlich nur Tiere ereilt, spielen ebenfalls auf diese Degradation bzw. Dehumanisierung an. Daneben werten sie aber auch deutlich den Umgang der – militärischen wie politischen – Führung, indem sie die Assoziation „Menschenmaterial“ wecken. Bezüglich der biomorphen Vermischung ist auch an Hai aus Faustrecht zu denken, wenngleich sich die Vermischung hier – neben dem Namen – darauf beschränkt, dass Ledig ihn über seinen Charakter als raubtierähnlich skizziert. Dies wird nicht zuletzt von Hai selbst auf den Krieg zurückgeführt: „Uns ist jahrelang befohlen worden, immer irgendjemanden zu töten. Mir fiel es zum Schluß gar nicht mehr auf“ (FR 194). Das ,Raubtier‘ Hai rekurriert also ebenfalls auf den Zivilisationsverlust durch den Extremzustand Krieg. Gegenüber den biomorphen überwiegen die technomorphen Bilder deutlich. Zu Vermischungen von Mensch und Technik kommt es dabei nicht; nur an einer Stelle weist ein entsprechender Vergleich darauf hin, dass die Handlungen eines Menschen im Sturmangriff nicht nach den normalen menschlichen Maßstäben zu betrachten sind: „Ein Mensch, der dreihundert Meter unter MG-Feuer und detonierenden Handgranaten über freies Feld läuft, dann durch ein Labyrinth fremder Gräben um sein Leben rennt und zuletzt mit einer gezogenen Handgranate, die in drei Sekunden explodieren wird, vor einem feindlichen Unterstand steht, ist nur eine Maschine“(SO 109).²³ Dieser Vergleich ist, ähnlich wie jene mit den Lemuren, im Kontext eines Verlusts an Zivilisation und Menschlichkeit zu sehen. Wesentlich häufiger sind die umgekehrten technomorphen Bilder und Metaphern, die der Kriegstechnik eine unangemessene Lebendigkeit zuschreiben.²⁴ Hierbei arbeitet Ledig stark mit einer Vermischung der anorganischen und der organischen Ebene, indem er der Technologie an zahlreichen Stellen tierische Züge und Charakteristika verleiht. Teilweise bezieht sich dies nur auf die Geräuschkulisse, wenn etwa eine Stichflamme „faucht“, die Geschütze „bellen“ (SO 161) oder wenn es heißt: „Die Kugeln summten wie Bienen durch die Zweige“ (SO 44) bzw. „Stahlmantelgeschosse umzwitscherten ihn wie Vögel“ (SO 15); zuweilen

 Vgl. auch den Mann in Vergeltung, der zu seiner Frau und seinem Kind am Bahnhof will und sich nicht von diesem Weg abbringen lässt: „Der Mann lief wie eine Maschine“ (V 48).  Wolfgang Kayser zählt „alles, was als Gerät ein eigenes, gefährliches Leben entfaltet“, zu „den kennzeichnenden Motiven der Groteske“; vgl. Kayser (1957), 197.

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geht Ledig dabei auch über die rein akustische Eben hinaus: „Eine verirrte Gewehrkugel schwirrte matt durch die Wipfel und klopfte gegen einen Stamm“ (SO 38). Zum Teil sind die Bilder aber auch umfassender und bewegen sich vom Vergleich weg zur Metapher, so etwa, wenn die amerikanischen Bomber in Vergeltung zu „Heuschreckenschwärme[n] mit menschlichem Verstand“²⁵ und die begleitenden Jäger zu „Insekten über den Geschwadern“ werden (V 32). Dasselbe gilt, wenn Ledig von Splittern als „Vögel[n] aus der Urwelt“ (V 157) spricht. Grotesk ist diese Belebung auch vor dem Hintergrund, dass das primäre Ziel dieser Technologie die Auslöschung von Leben ist; in gewissem Sinne wird so der meist unsichtbare, da weit vom Geschehen befindliche Angreifer substituiert. Vor allem jedoch ist in der Zunahme an Leben der anorganischen Materie bei gleichzeitiger Abnahme der Menschlichkeit beim Menschen (wodurch sich beide einander auf einer animalischen Ebene annähern) eine zumindest angedeutete Inversion zu sehen, die ebenfalls den Charakter des Krieges als einer Gegenwelt betont. Den Szenen, die Charakteristika grotesker Literatur aufweisen, und den biound technomorphen Bildern und Metaphern ist gemeinsam, dass sie keinerlei Ambivalenz aufweisen. Es fehlt ihnen das positiv konnotierte befreiende Element, das der verkehrten Welt bei Bachtin innewohnt. Es handelt sich somit nicht um einen kalkulierten, gesteuerten Bruch der Ordnung, der diese im Endeffekt bestätigt, sondern vielmehr um ihre komplette Aufhebung. So kann für die scheinbar grotesken Elemente bei Ledig gelten, was Bachtin bei fehlender Ambivalenz und mangelnder satirischer Stoßrichtung attestiert: „Die groteske Welt, in der bloß das Nichtseinsollende übertrieben würde, wäre quantitativ groß, dabei aber qualitativ arm, traurig, jeglicher Farbe beraubt und ganz und gar nicht heiter.“²⁶ Dies ist hier ganz und gar Programm; die vermeintliche Übertreibung der Körperlichkeit bzw. des zerfetzten Körpers dient eben diesem Zweck. Die Verkehrung der Welt besteht damit weniger in der Inversion, sondern in der Aufhebung der Ordnung, im kompletten Zivilisationsbruch und in der Dehumanisierung der Menschen bei gleichzeitiger „Animation“ der Tötungsinstrumente. Es handelt sich somit eher um die entfremdete Welt im Sinne Wolfgang Kaysers: In dieser ist keine Orientierung mehr möglich, da die „Kategorien unserer Weltorientierung versagen“.²⁷ Daher ist die solcherart verwandelte Welt für die Menschen nicht mehr bewohnbar bzw. sie vermögen sich nicht mehr darin aufzu Genau genommen liegt hier sogar eine biotechnomorphe Vermischung vor, da menschliche, tierische und unbelebte Ebene in einem Bild verschmelzen.  Bachtin (1995), 349.  Kayser (1957), 199.

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halten. Bei Ledig äußert sich dies in doppelter Hinsicht: Auf der Figurenebene zeigt es sich in den zahlreichen Fluchtbewegungen, auf die später noch einzugehen sein wird (s.u. 5.), auf der Leserebene im Unwohlsein, das Ledigs ‚gewaltsamer Stil‘ auslöst und das verhindert, dass sich der Leser in der beschriebenen Welt heimisch zu fühlen vermag. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Verwandlung der Welt bei Ledig nicht nach und nach innerhalb der Handlung stattfindet, sondern bereits davor als gegeben steht; sowohl Die Stalinorgel als auch Vergeltung setzen mitten in der bereits entfremdeten Welt ein. Dennoch ist sowohl bei den Figuren als auch beim Leser, der noch unvermittelter in diese Welt geworfen ist als die Charaktere, der Normalzustand der geordneten Welt als Folie präsent. Für die Figuren ist dies die tatsächliche Ordnung vor der Extremsituation Krieg;²⁸ für den Leser sind es dagegen eine Erinnerungskultur und eine Kriegsliteratur (zu beiden Weltkriegen), die die extreme Körperlichkeit des Sterbens im (Bomben‐) Krieg vielfach ausblendeten oder gar verdrängten. Auch vor diesem Hintergrund mussten den Lesern Ledigs detaillierte Schilderungen – gerade in den 1950er Jahren – grotesk anmuten. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Ledig trotz der zahlreichen und vor allem nur scheinbar grotesken Motive keine Grotesken verfasst hat, sondern auch in diesen Szenen seiner naturalistischen Darstellung treu bleibt. Somit bestätigt sich, dass „das Groteske nur in der Aufnahme erfahren wird“ und es „durchaus denkbar [ist], daß als grotesk aufgenommen wird, was gar keine Rechtfertigung dafür in der Organisation des Werkes besitzt.“²⁹ Der scheinbar groteske Charakter resultiert bzw. resultierte zumindest bei der Erstveröffentlichung der Romane aus einer falschen Erwartungshaltung der Leser. Ähnlich wie man etwa im Märchen gewisse groteske Elemente wie z. B. sprechende Tiere erwartet,³⁰ ist bei der Beschreibung von Kriegshandlungen von einer extremen Körperlichkeit auszugehen. Da der relativ unblutige Umgang vieler früherer Kriegsromane mit dem Sterben diese Voraussetzbarkeit untergraben hat, wirkt die Körperlichkeit von Die Stalinorgel und Vergeltung dennoch – gerade in ihrem „Realismus“ – grotesk, ähnlich dem Kontrast des elenden, schmutzigen Sterbens mit den Nachrichten vom schmerzlosen Heldentod der Gefallenen. Dennoch evozieren die scheinbar grotesken Momente in Verbindung mit der bio- und technomorphen Bild- und Metaphernsprache eine Gegenwelt des Krie Dies bezieht sich allein auf die ganz allgemeine Opposition Frieden vs. Krieg und soll hinsichtlich der deutschen Figuren keineswegs andeuten, die Welt in Deutschland wäre in den sechs Jahren vor Kriegsbeginn „in Ordnung“ gewesen.  Kayser (1957), 194.  Cramer, Thomas: Das Groteske bei E.T.A. Hoffmann. München 1966, 20.

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ges, die dem zivilisierten Normalzustand entgegensteht. In den Fällen der extremsten Zerstörung des menschlichen Körpers führen sie durch die Auflösung der ganz konkreten Grenzen des Individuums den bereits zuvor skizzierten Identitätsverlust auf eine grotesk anmutende Spitze. Dies ist jedoch nur eine – eben nicht wirklich groteske – Folge von Ledigs genauem Blick auf die Unangemessenheit des menschlichen Leibes in der Extremsituation Krieg und seiner Weigerung, diese auszublenden oder zu verschweigen.

4.1.3 Lachen Das Lachen bzw. Gelächter ist untrennbar mit den grotesken Aspekten der Romane verbunden. Ebenso wenig wie die grotesken Elemente bei Ledig ambivalent sind, sondern eindeutig eine negative, entfremdete Welt konstruieren, ist das Lachen in den Romanen das befreiende, die Furcht überwindende Lachen, das Bachtin beschreibt.³¹ Stattdessen dominieren bei Ledig verschiedene Formen negativ konnotierten Gelächters: ein schadenfrohes Lachen, das teilweise dem Lachen von Überlebenden nahekommt, das Lachen der Verzweiflung und ein Gelächter, das schon dem Wahnsinn nahesteht. Das schadenfrohe Lachen überwiegt vor allem in der ersten Hälfte von Vergeltung. Es kommt primär von der Witwe im Luftschutzkeller (V 39, 59), aber auch von den Soldaten, die den Vater auf dem Weg zum Bahnhof aufhalten (V 77). So reagiert jene auf den Tod des alten Mannes mit Gekicher. Neben reiner Schadenfreude ist hier ansatzweise auch das Lachen des Überlebenden erkennbar. „Der Schrecken über den Anblick des Todes löst sich in Befriedigung auf, denn man ist selbst nicht der Tote.“³² Dieses Lachen ist damit Ausdruck einer kurzfristigen Überlegenheit gegenüber dem Tod: „Im ungewollten Akt solchen Lachens erfährt der Lachende […] einen kreatürlichen Triumph über den Tod, über dessen fortdauernden Terror gegenüber dem denkenden Subjekt.“³³ Kurzfristig ist dieser Triumph bei Ledig insofern, als das Überleben dort stets nur für den Moment gesichert ist, keineswegs jedoch nachhaltig. Die Protagonisten mögen in einem Moment überlebt haben, aber die Bedrohung dauert an. Sowohl Die Stalinorgel als auch Vergeltung bilden nur einen lokalen und temporären Ausschnitt

 Bachtin (1995), 140 f.  Canetti, Elias: Masse und Macht. 30. Aufl. Frankfurt am Main 2006, 267.  von Matt, Peter: Ernst und Gelächter. Der Aufstand der Literatur gegen den Ernst der Letzten Dinge. In: von Matt, Peter (Hg.): Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur. München 2007, 68.

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der Extremsituation ab, die sich anschließend fortsetzt: „Nach der siebzigsten Minute wurde weitergebombt“ (V 199). Angesichts dieser kontinuierlichen Lebensgefahr kann bei den Überlebenden kein Triumphgefühl aufkommen, da der Tod weiterhin jederzeit zuzuschlagen droht. Häufiger tritt das verzweifelte Lachen auf. Stefan Busch hat betont, „daß Lachen in seelisch katastrophalen Situationen eine mögliche Verhaltensweise von Menschen ist.“³⁴ Da Humor und Verzweiflung sich ausschließen, stellt dieses Lachen kein Arrangement mit der Situation dar (wie es beim Witz oder beim Galgenhumor der Fall wäre), sondern ist nur eine rein körperliche Reaktion auf die Überwältigung durch das „Mißverhältnis von Erwartung und Realität“.³⁵ Nicht mehr in der Lage – etwa durch Humor –, Distanz zur Situation zu gewinnen, wird der Mensch auf seine Körperlichkeit reduziert, die sich dann in verzweifeltem Weinen oder Lachen manifestiert. Busch führt das verzweifelte Lachen – wie jedes Lachen – auf das Gewahrwerden eines Missverhältnisses zurück, aufgrund dessen jedoch der Verstand eine „Entwertung des Subjekts in seiner Würde, in seinem metaphysischen oder philosophischen Glauben und darauf errichteten Selbstverständnis, möglicherweise in seiner Existenzberechtigung“ registriert.³⁶ Anders als das verzweifelte Weinen sorgt das entsprechende Lachen für eine gewisse Distanzierung von der Situation, indem der Lachende sich selbst auch aus einer Beobachterposition betrachtet und bewertet; außerdem demonstriert es – und sei es nur durch die Zurschaustellung von Trotz und Hohn – eine gewisse Weigerung, sich der Situation zu unterwerfen. Es ist jedoch nicht mit Galgenhumor zu verwechseln, der die ausweglose Situation bereits annimmt; vielmehr ist es Ausdruck der Hilflosigkeit gegenüber einer unbeantwortbaren Lage, in der eigentlich kein sinnvoller Ausdruck möglich ist.³⁷ Durch die Rückführung auf eine reine Körperlichkeit ist das verzweifelte Lachen in Analogie zur übrigen Reduktion der Ledig’schen Charaktere zur sehen. Prominent tritt es etwa beim deutschen Major in Die Stalinorgel auf, als dieser über den Tod seiner Frau und seines Kindes durch die Bombardierung ihres Hauses nachdenkt („Er kicherte vor sich hin“; SO 27). Durch die Auslöschung seiner Familie wird seine Individualität weiter reduziert, da mit den Aspekten „Gatte“ und „Vater“ maßgebliche Teile seiner Identität nun gleichsam vernichtet sind. Seine Persönlichkeit wird somit zusätzlich auf die Kriegsfunktion „Major“

 Busch, Stefan: Verlorenes Lachen. Blasphemisches Gelächter in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Tübingen 2004, 23.  Ebd., 24.  Ebd., 24– 26.  Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. München 1950, 148 f.

4.1 Groteske und entfremdete Welt

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konzentriert; weitere – individuelle, ihn als Person und Mensch auszeichnende – Parameter spielen kaum noch eine Rolle. Diese von ihm erkannte Entwertung seines Selbstverständnisses durch die an sich unbeantwortbare und auch nicht zu lösende Situation führt zum verzweifelten Lachen. In Vergeltung ist es vor allem Strenehen, der verzweifelt lacht. Auch bei ihm entspringt dieses Verhalten einem bewusstgewordenen Verlust an Selbstwert in einer ausweglosen Situation, da er von den Deutschen nicht mehr wie ein Mensch behandelt wird, obwohl er zuvor die Bomben auf freies Gelände abgeworfen hat und sie so schonte. Diese Herabsetzung zeigt sich für Strenehen selbst deutlich in der Weigerung der Deutschen, ihn in das schützende Gebäude zu lassen (V 109, 114). Anschließend wandelt sich das Gelächter jedoch zunehmend: Je stärker das Bewusstsein des erschöpften Amerikaners getrübt ist, desto mehr spiegelt Strenehens deplatziertes Gelächter seine wachsende Entfernung von der Wirklichkeit. Schon in der Folge ist sein Lachen bzw. Kichern nicht mehr unmittelbare Reaktion auf die Bedrohlichkeit seiner Situation, sondern weist bereits auf eine beeinträchtigte Wahrnehmung hin (V 130 f., 167). Die Misshandlung durch den Arzt nimmt er bereits nicht mehr richtig wahr; sein Kichern und Lachen während der Quälereien (V 187) kann nicht mehr als verzweifeltes Lachen gelten, sondern scheint eher Folge der andauernden Extremsituation zu sein. Obwohl es nicht direkt zum Lachen gehört, sei an dieser Stelle auch kurz auf das Grinsen eingegangen, zu dem der Wundstarrkrampf Edel Noths Gesicht in Faustrecht verzieht (FR 187, 197). Zwar ist es kein verzweifeltes Lachen wie die zuvor beschriebenen emotionalen Reaktionen, doch fallen diverse Parallelen auf: So kann sich Edel nicht dagegen wehren; es entspringt einer (mangels verfügbarer Medikamente) lebensbedrohlichen Situation, in der es eigentlich fehl am Platz ist. Gleichzeitig rückt es durch seine Masken- bzw. Fratzenhaftigkeit in die Nähe der Groteske.³⁸ In eine ähnliche Richtung weist auch Edels Begräbnis: Indem Rob und Hai ihn mit dem Gesicht nach unten begraben,³⁹ ist wiederum eine Invertierung angedeutet – die verkehrte Welt des Krieges findet in Edel ein spätes Sinnbild. Die genannten Beispiele für Lachen in Ledigs Romanen zeigen deutlich, dass damit ähnlich wie über die (häufig nur scheinbar) grotesken Momente sowie die entsprechende Metaphorik und Bildlichkeit der Eindruck einer negativen bzw. entfremdeten verkehrten Welt evoziert wird. Dies erreicht Ledig, indem er auch dem Lachen seiner Figuren jegliche Ambivalenz sowie das befreiende Moment  So wird dieses Grinsen medizinisch als lat. Risus sardonicus, „Sardonisches Grinsen“ bezeichnet.  Dieses „Eselsbegräbnis“ sollte in Mittelalter und Neuzeit eigentlich verhindern, dass der Tote als Wiedergänger zurückkehrt; dies könnte auf einen schlechtes Gewissen bei Rob hindeuten, aber auch auf den Wunsch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

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nimmt. Es handelt sich nicht um Gelächter, das einer Situation Herr wird, sondern um eines, das der Ausweglosigkeit und Unbeherrschbarkeit der Lage Ausdruck verleiht. Gleichzeitig unterstreicht es – wie im Falle des verzweifelten Lachens – die Reduktion des Individuums in der Kriegssituation – eines Individuums, das realisiert, dass seine Situation unbeantwortbar, degradierend und existenzbedrohend zugleich ist.

4.2 Chaos und fehlende Sinnstiftung Die Verkehrung der Welt in den Ledig’schen Romanen manifestiert sich aber nicht nur in der Verwendung von Aspekten des (scheinbar) Grotesken und in der Art, wie der Autor das Lachen seiner Figuren einsetzt, sondern auch darin, wie alle Elemente, die potentiell ordnungs- oder sinnstiftend sind, von Ledig konsequent destruiert bzw. in Chaos und Unordnung überführt werden.⁴⁰ Ganz eindeutig und unmittelbar ist dies etwa beim Tod des Truppführers in Vergeltung der Fall (V 127 f.): Dieser stürzt nicht einfach in den heißen Teer, sondern prallt zuvor mit dem Kopf gegen eine Verkehrstafel, was seinen Sturz überhaupt erst ausgelöst hat. Das Schild wird somit in seiner ordnenden Funktion ad absurdum geführt, indem es entgegen seiner eigentlichen Intention zum Chaos beiträgt: „Der absurde Augenblick markiert die Bruchstelle, das Zerreißen der Kontinuität alter Symbole – ohne daß schon ein neues Symbol bereitstünde, das wieder Sinn stiften könnte. Der absurde Augenblick ist ein Moment der Verlorenheit und der Suche.“⁴¹ Vergleichbar mit dieser Szene ist auch das Ende des Handlungsstrangs um das Ehepaar Cheovski, dessen Flucht durch den Keller von einem Fahrrad gestoppt wird (V 186). In beiden Fällen verhindern die Requisiten gerade das, was sie ursprünglich ermöglichen sollen – Orientierung bzw. Bewegung. Sie stehen damit in der Nähe von Figuren bei Kafka, die in ihrer Funktion ad absurdum geführt sind, wie etwa dem Schutzmann in Gibs auf oder auch dem Türhüter in Vor dem Gesetz. Systeme, die prinzipiell Sinn bzw. Ordnung stiften sollen, in Die Stalinorgel und Vergeltung aber konsequent außer Kraft gesetzt sind, sind unter anderem – wie im Folgenden noch näher gezeigt werden soll – die Zeit und religiöse bzw. christliche Deutungsmuster. Ergänzt wird dieser Ordnungsverlust durch die Herrschaft des Zufalls, der die Handlung der Romane bestimmt und insofern ein  Vgl. hierzu auch Hundrieser (2003), 367.  Linse, Ulrich: Das wahre Zeugnis. Eine psychohistorische Deutung des Ersten Weltkriegs. In: Vondung, Klaus (Hg.): Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen 1980, 98.

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ordnungsfeindliches Element darstellt, als die Figuren ihr Schicksal nicht durch ihr eigenes Handeln beeinflussen können. Dass die Kategorie Zeit weitgehend außer Kraft gesetzt ist, zeigt sich sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der stilistischen Ebene der Romane. So ist den Lesern durch den relativ konsequenten Verzicht auf temporale Angaben eine zeitliche Orientierung kaum möglich; dazu kommt, dass gerade in Vergeltung die Erzählzeit die erzählte Zeit häufig deutlich übertrifft, etwa indem die Narration wie in Zeitlupe Ereignisse unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle einfängt. Diese Aspekte sollen im Kontext der Gewaltförmigkeit von Ledigs Stil genauer betrachtet werden. Auf der inhaltlichen Ebene spiegelt sich der Bedeutungsverlust der Zeit vor allem im Funktionsverlust der Uhren.Wiederholt werden sie auf ihr Ticken reduziert (z. B. SO 31, 48;V 26, 52, 167); der Ablauf der Zeit wird so zwar registriert, aber nicht mehr mit einer Bedeutung versehen. Die unterteilende und ordnende Funktion der Zeit muss vor der Gleichförmigkeit der Ereignisse kapitulieren: „Zwei Stunden, zwei Tage, zwei Wochen“ (SO 21). Ausnahmen hiervon gibt es vor allem noch in Die Stalinorgel, z. B. das gesamte siebte Kapitel (samt dem Schluss des vorhergehenden Kapitels, der eine Art Prolog dazu bildet), in dem „von 8.01 Uhr bis 8.10 Uhr die Zeit im Klartext“ (SO 102) gesendet wird, oder die Vorbereitung des russischen Angriffs (SO 60 – 63); in Vergeltung ist der Verzicht dagegen konsequenter. Die Funktion der Uhren wird so auf den bloßen akustischen Reiz reduziert, der aber keinen orientierenden Zusammenhang mehr zu stiften vermag. Dennoch besteht bei den Figuren ein deutliches Bedürfnis nach zeitlicher Ordnung. So fragt der Feldwebel bei seiner angeblichen Verlegung, die seiner Exekution vorausgeht, ausdrücklich nach seiner Uhr (SO 195). Dass damit gerade die Figur nach zeitlicher Orientierung verlangt, der keine (Lebens‐)Zeit mehr bleibt, ist als eine der grausamen Pointen zu sehen, die Ledigs gewaltsamen Stil ausmachen (vgl. hierzu unten 7.). In Vergeltung ist der Ordnungsverlust der Zeit wesentlich stärker ausgearbeitet. Zwar ist die erzählte Zeit mit den 69 Minuten zwischen 13.01 Uhr und 14.10 Uhr genau festgelegt, doch ist der Ablauf dieser Spanne weder für die Figuren noch für die Leser genau zu verfolgen. Vor allem im Luftschutzkeller sowie später unter den Trümmern des Hauses sind der Wunsch nach zeitlicher Orientierung und deren Unmöglichkeit ständig präsent. So wird die veränderte Zeitwahrnehmung in der Extremsituation des Luftangriffs thematisiert (V 36); die verstrichene Zeit zu schätzen ist nicht mehr möglich.⁴² Wie sehr ihre Lage die Menschen belastet, beweist unter anderem der Streit darüber, wie viel Zeit man im

 In Die Stalinorgel wird ein derart beeinträchtigtes Zeitgefühl nur selten angesprochen, eine Ausnahme bildet der gefangene Hauptmann im Unterstand (SO 109).

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Keller verbracht habe (V 83). Die diesbezüglichen Vermutungen, die mehrfach mehrere Stunden umfassen (z. B. V 84), belegen, wie stark die Zeitwahrnehmung beeinträchtigt ist.⁴³ Jörg Friedrich hat auf diese Trübung des Zeitgefühls ebenfalls hingewiesen: „Die Angriffsregie ist minutiös. Sie fußt auf dem Aufbau der Tempi. Die Frequenz der Abwürfe pro Minute, die Fusionsspanne der Feuer, die Bombenzündereinstellung auf Sekundenbruchteil. Dies Uhrwerk der Vernichtung kostet den Gegner den Zeitsinn. Seine innere Uhr geht zu schnell.“⁴⁴ Wie stark das Zeitempfinden der Figuren an die Rhythmen des Krieges gebunden ist und nicht mehr dem eigenen Gefühl unterliegt, zeigt sich auch in Vergeltung: Strenehens zeitliche Orientierung in der Luft folgt der Frequenz, mit der die deutsche Flugabwehr feuert (V 60). In eine ähnliche Richtung weist die Angabe, dass der Priester „[v]iermal sechzig Sekunden“ zum Schreien hat, bevor er verbrennt – die genaue Zeitangabe ist hier nicht mit Ordnung oder Orientierung verbunden, sondern fungiert nur als Countdown der Vernichtung. Alle Versuche der Menschen, dem Chaos des Krieges Ordnungen des normalen Lebens aufzuzwingen, sind zum Scheitern verurteilt. Deutlich wird dies etwa an der Episode der Gerichtsverhandlung in Die Stalinorgel (SO 138 – 149). Der Versuch des Gerichtsoffiziers, sein gewohntes Vorgehen und die üblichen Mechanismen auf die Ausnahmesituation zu übertragen, erscheint den anderen Beteiligten naiv; dennoch müssen sie ihm folgen. Der Spott des Majors entgeht dem Oberst. Die Farce einer Verhandlung (vgl. hierzu auch unten 5.) wird jedoch nicht durch eine ordnende Gewalt beendet, sondern zufällig in Form einer verirrten Kugel, die den Oberst tötet. Diese Szene mag die Herrschaft des Zufalls in Vergeltung und Die Stalinorgel illustrieren, die den chaotischen, der Ordnung entgegengesetzten Charakter der Welt, die Ledig beschreibt, verdeutlicht. Dies bezieht sich vor allem auf das Überleben der Menschen, das von den eigenen Handlungen völlig losgelöst ist und komplett dem Zufall unterliegt: „Das Leben der beiden hing in diesem Moment nur vom Zufall ab. […] Daß der Russe die Handgranate über den Grabenrand warf, war Zufall. Alles, was dann kam, war nur Folge dieses Zufalls“ (SO 109). Vor allem in Die Stalinorgel wird diese Thematik immer wieder angesprochen: „Wenn er hier in eine MG-Garbe hineinlief, war das Zufall“ (SO 11). Auch diese Dominanz des Zufalls ist als typisches Thema von Kriegsliteratur identifiziert worden.⁴⁵ Die Präsenz und Dominanz eines Zufalls, der über Leben und Tod entscheidet, ist gleichbedeutend mit der weitgehenden Absenz jeglichen Einflusses der

 Ähnliches gilt für das Mädchen, das später glaubt, schon seit Tagen verschüttet zu sein (V 99).  Friedrich (2003), 498 f.  Daemmrich (1999), 10.

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Menschen auf ihr Schicksal. Es ist bereits angesprochen worden, dass die Extremsituation Krieg die Menschen bei Ledig häufig auf eine Funktion reduziert und ihre Individualität stark einschränkt. Damit ist verbunden, dass sie dieser Situation nicht entfliehen können (zumindest nicht ohne das Risiko einzugehen, dass diese Flucht sanktioniert wird). Zusätzlich können Ledigs Figuren keinen maßgeblichen Beitrag zu ihrem Überleben leisten; es bleibt allein dem Zufall überlassen. Es verstärkt sich somit der Eindruck eines Geworfenseins in eine Situation, die nicht aus eigener Kraft verlassen oder überlebt werden kann. Die Vorstellung einer freien Bestimmung des eigenen Handelns verlangt ein deutbares Ordnungssystem. Der Entwurf völlig unvorhersehbarer Zufälle, unerwarteter Glücks- und Unglücksfälle oder eines Tricks des Schicksals stellt nicht nur die Entscheidungsfreiheit, sondern auch die vollkommene Entfaltung aller menschlichen Anlagen in Frage. Der Zufall widerspricht außerdem der Kontinuität der Ereignisse, der Anlage kausaler Beziehungen und der Auffassung jeder inneren oder äußeren Notwendigkeit.⁴⁶

Mit der Dominanz des Zufalls geht aber zugleich die Abwertung christlicher Deutungsmuster und Sinnstiftungsangebote einher.⁴⁷ Eine solche Abwertung findet sich in Die Stalinorgel zwar auch schon, ist aber vor allem in Vergeltung präsent. Florian Radvan hat unter Bezug auf Genettes Transtextualitätstheorie darauf hingewiesen, wie stark Ledig in seinem zweiten Roman biblische Motive und Versatzstücke inter- und hypertextuell integriert.⁴⁸ Sie werden entwertet, indem sie konsequent mit dem Grauen des Krieges kontrastiert werden. So findet das biblische (nicht gekennzeichnete) Zitat, mit dem der Roman beginnt – „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ (Die Segnung der Kinder, vgl. Mt 19,13 – 15, Mk 10,13 – 16, Lk 18,15 – 17) –, seine unmittelbare Entsprechung in den toten Kindern, die gegen eine Mauer geschleudert werden. Vergleichbar damit ist die Szene, in der der Mann im Keller die Arme ausbreitet und zu den anderen Menschen spricht, „als verkünde er eine Botschaft“ (V 39), denn es ist keineswegs eine frohe Botschaft: „Wir sind verschüttet.“ Ebenfalls in diesem Kontext zu sehen: Der Mann der Milchfrau hat seinen ersten epileptischen Anfall am 24. Dezember, einem wichtigen Datum der christlichen Heilsgeschichte; auch darin zeigt sich die Abwertung der entsprechenden Sinnstiftungsangebote.⁴⁹

 Daemmrich, Horst S.; Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur. Tübingen 1987, 345.  Ledigs Zweifel am Sinnstiftungspotential der Religion klingt auch in seinem programmatischen Text Die gefährliche Literatur an; Ledig (1957, Literatur).  Vgl. Radvan (2006); zu Genettes Terminologie vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main 2008.  Vgl. Koch (2005), 196.

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So finden sich in Vergeltung wiederholt alt- und neutestamentarische Bezüge und Elemente, die aber durch ihre absolute Inadäquatheit in der gegebenen Situation nicht offensichtlicher entwertet werden könnten; dem korrespondiert die Zerstörung religiöser Symbole und Gebäude sowie besonders deutlich der Tod des Priesters samt dessen religiöser Verzweiflung.⁵⁰ Ein deutlicher Kontrast zwischen religiösem Motiv und damit bezeichnetem Schrecken findet sich auch in der Vergewaltigungsszene, wo es heißt: „Der Altar des Vaterlandes bestand nicht aus Stein, sondern aus Geröll. Das Mädchen hatte auf ihm sein Unschuld und einen Liter Blut verloren“ (V 174). Hierin ist auch eine deutliche Spitze gegen die vorherrschende Memorialkultur zum Ersten Weltkrieg zu sehen, wurden doch die Denkmäler zu Ehren des unbekannten Soldaten als „Altar des Vaterlandes“ bezeichnet. Auch in Die Stalinorgel finden sich solche christlichen Prätexte, die das Potential der Religion zur Sinnstiftung in Frage stellen. Der Friede, den der Melder in einer Kirche findet und „den er immer gesucht hatte“ (SO 52), ist nur ein Traum. Die Bemerkung des Unteroffiziers „Eine [sic] feste Burg ist unser Gott“ wird dadurch konterkariert, dass die Brustwehr des Unterstands – quasi die „gute Wehr“ des Kirchenliedes – aus übereinandergeschichteten Leichen besteht (SO 68). Wie wenig die biblischen Ordnungsschemata dem Grabenkrieg gerecht werden können, demonstriert auch die sarkastische Frage der inhaftierten Männer bei den Feldjägern, ob der Feldwebel wohl das achte Gebot übertreten habe (SO 97). In einem Umfeld, in dem ohne Unterbrechung gemordet und Gottes Name missbraucht wird, muss die Frage nach dem falschen Zeugnis wie Hohn wirken. Diesen Passagen steht aber der Epilog gegenüber, in dem der Feldgeistliche dafür wirbt, auf Gottes Ratschluss zu vertrauen⁵¹ und weiter zu glauben (SO 200 f.). Die affirmierenden Reaktionen des Majors und des Unteroffiziers bezeugen, dass der Glaube in das Sinnstiftungspotential der Religion bzw. einer christlichen Heilsgeschichte zwar angekratzt, aber nach wie vor vorhanden ist. In Vergeltung verliert dagegen auch ein Priester seinen Glauben. Angesichts des sicheren Todes betet er nicht mehr, denn er „dachte: Es hört mich doch keiner“ (V 86). Wenig später hofft er dennoch auf einen Beweis für Gottes Existenz, indem dieser aus den Flammen zu ihm spräche. In dieser Szene klingt mit dem Feuer als einem zentralen göttlichen Symbol auch das biblische Motiv des bren-

 Vgl. ebd., 200 f.  Hiermit wird gleichzeitig der Bogen zum Beginn des Romans geschlagen, wo es zum Tod des Obergefreiten heißt: „So war nach unerforschlichem Ratschluß alles ins beste Gleis gebracht“ (SO 8). Was dort zunächst kalt und zynisch klingt, wird durch den Epilog in ein versöhnlicheres Licht gestellt.

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nenden Dornbuschs (2 Mose 3,2– 4) an, das allerdings sofort konterkariert wird, da der Priester statt einer väterlichen Stimme nur das Knattern des Holzes hört, das ihn gleich verbrennen wird. Die Verzweiflung des Priesters – die hier nicht nur der Ausweglosigkeit der Situation entspringt, sondern auch eine starke religiöse Komponente aufweist, indem sie „den Verlust des Vertrauens in Gottes Güte und seinen universalen Heilswillen“⁵² umfasst (sie geht somit ungleich tiefer als die Verzweiflung des Soldaten in Die Stalinorgel, der sich selbst verstümmelt; s.u. 5.) – wird außerdem mit seinem weiteren Lebenslauf kontrastiert, der in seiner Betonung des Glaubens in direktem Widerspruch zur vorhergehenden Szene steht. Ein ähnlicher Vertrauensverlust und somit ganz direkt auch das Theodizee-Problem klingen im Bunker an: „[U]nd eine Stimme rief: ‚Wenn meine Tochter eines normalen Todes gestorben wäre, würde ich auch noch an Gott glauben!‘“ (V 162)⁵³ Radvan betont, „dass die Art und Weise, wie die Prätexte hier aufgegriffen und in den Roman integriert werden, indikativ ist für den Verlust eines theologischen Ordnungsparadigmas.“⁵⁴ Dies wird u. a. auch durch die Zerstörung religiöser Architektur (z. B. einer Kapelle; V 160 f.) und ihres Inventars deutlich: Die Holzkreuze auf dem Friedhof waren bereits verbrannt. […] Bomben rissen in einer Kirche Christus vom Kreuz […], irgendwo einer Frau die gefalteten Hände auseinander […]. Das Bildnis einer Madonna wurde aus dem Rahmen gefetzt, die Handschrift eines Heiligen verweht und das Bein eines Lebendigen angesengt. (V 198)⁵⁵

Diese Szene verdeutlicht, dass die Religion bzw. der christliche Glaube den Menschen keinen Zufluchtsort bietet: Das Gebet rettet nicht, und die Vernichtung der Bildnisse Christi bzw. der Mutter Gottes sowie der Zeugnisse des Heiligen sind symbolisch im Sinne eines Bedeutungsverlust des Glaubens zu lesen.

 Fonk, Peter: Art.Verzweiflung. In: Kasper,Walter u. a. (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10. Freiburg 2009, 751.  Die Theodizee-Frage war vor allem für die deutschen Theologen ein Problem, wenn die Luftangriffe als göttliche Strafe gedeutet wurden: Sollten sie nicht als Sanktion für deutsche Verbrechen gelten, sondern für den totalen Krieg, in dem alle Seiten Schuld auf sich geladen hatten, blieb die Frage offen, warum die Strafe dann nur Deutschland traf; vgl. Süß (2011), 312 f. Süß erwähnt, dass gerade die Gläubigen in ihren Kriegsgebeten immer wieder Bewahrung vor den Luftangriffen erbaten bzw. nicht verstanden, warum ihnen diese von Gott nicht gewährt wurde; ebd., 288.  Radvan (2006), 179.  In der Münchner Frauenkirche stürzte während des Angriffs vom 22.11.1944 tatsächlich das große Kruzifix herab, als die Kirche einen Volltreffer erhielt. Vgl. Bauer, Richard: Fliegeralarm. Luftangriffe auf München 1940 – 1945. München 1987, 125 f.

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In denselben Kontext gehört auch die Auseinandersetzung mit den Motiven von Inferno und Apokalypse. Sowohl in Die Stalinorgel als auch in Vergeltung fallen beide Begriffe ausgesprochen häufig. Dabei überwiegen Inferno bzw. Hölle im Debütroman, während im Nachfolger die Beschäftigung mit dem Thema der Apokalypse stärker ist.⁵⁶ So ist in Die Stalinorgel vom „Inferno einer Schlachtbank“ (SO 19) die Rede, und zum Major heißt es: „Er hatte in die Hölle gewollt. Und hier war sie. Angetan mit allem, was ein krankhaftes Gehirn sich ausdenken konnte“ (SO 164). Diese Stellen charakterisieren den Krieg in Verbindung mit den bereits erwähnten religiösen Motiven und Prätexten als einen im wahrsten Wortsinne gottverlassenen Zustand und tragen so zum Bild einer verkehrten, entfremdeten Welt bei. Besondere Bedeutung erlangen diese Passagen vor dem Hintergrund, dass Inferno der Arbeitstitel war, unter dem Ledig den Roman ab 1953 zahlreichen Verlage anbot. In der knappen Inhaltsbeschreibung für den Claassen-Verlag, der das Buch schließlich 1955 veröffentlichen sollte (nachdem Dutzende andere Verlage es abgelehnt hatten⁵⁷), fallen die Begriffe Hölle bzw. Inferno daher auch mehrfach.⁵⁸ Dem Briefwechsel zwischen Autor und Lektor kann man entnehmen, dass auch noch andere Titel (Nicht auszudenken, wenn… oder russisch Da Prawda [etwa „Und das ist die Wahrheit“]) angedacht wurden, bevor man sich auf Die Stalinorgel einigte.⁵⁹ Es greift allerdings sicherlich zu kurz, diesen Titelwechsel darauf zu beschränken, dass „eine apokalyptische Metaphorik verhindert“ werden sollte (was zudem zwei disparate Begriffe vermischt) und der Kriegsschauplatz auf die Ostfront festgelegt wird.⁶⁰ Nach Genette ist ein Titel „bereits ein Schlüssel zu einem Sinn“,⁶¹ und so ist „Die Stalinorgel“ mit anderen Konnotationen verbunden als „Inferno“. Zwar handelt es sich bei beiden

 Es ist hier aber darauf hinzuweisen, dass dennoch in Vergeltung die Todesarten überwiegen, die – mittelalterlichen Vorstellungen folgend – gemeinhin mit „höllischen“ Qualen verbunden werden: das Verbrenne, Rösten und Schmoren von Menschenfleisch.  Mitte der 1950er Jahre ist die Hochzeit des Kriegsromans eigentlich schon vorbei, sodass Ledig Probleme hat, überhaupt einen Verlag den Roman zu finden. Die junge Republik war schon weiter und hatte für den Moment die Vergangenheit hinter sich gelassen. Der Blick richtete sich nach dem Wiederaufbau, im beginnenden Wirtschaftswunder, nach vorne und nicht zurück. Außerdem haftete der Kriegsliteratur – vielfach auch zu Recht – der Makel der Trivialität an. Jochen Pfeifer hat nachgewiesen, dass die Vorliebe des Publikums für Kriegsromane, die im Jahrzehnt nach dem Krieg vorherrschte, bereits Ende der fünfziger Jahre stark abflaute: Pfeifer (1981), 49.  Vgl. Brauchle (2008), 67.  Vgl. ebd., 67 f.  Ebd., 68.  Eco, Umberto: Nachschrift zum „Namen der Rose“. München 1984, 10.

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um „thematische Titel“,⁶² allerdings um ganz unterschiedliche Varianten. „Inferno“ hätte als symbolisch-metaphorischer Titel den Gegenweltaspekt unterstrichen und den Charakter der „Kampfschrift“ gegen den Krieg deutlicher hervorgehoben. „Die Stalinorgel“ ist zunächst wörtlich zu lesen, da er mit einem tatsächlichen Objekt des Romans verbunden ist. Er kann außerdem stellvertretend für die gesamte Kriegsmaschinerie stehen, wobei der Aspekt des Zivilisations- und Ordnungsverlusts sowie der Degradation der Menschen in der Extremsituation ausgespart bleibt. Außerdem steht er in Kontrast zu Ledigs relativ neutralem Blick auf Russen und Deutsche, indem er explizit eine russische Waffe herausgreift. Gleichzeitig muss man davon ausgehen, dass „Die Stalinorgel“ als etwas, mit dem 1955 sehr viele Menschen eine sehr klare Vorstellung verbanden, die „Verführungsfunktion“⁶³ wesentlich besser wahrnimmt als der diffuse Titel „Inferno“ (den der Claassen-Lektor als „zu nichtssagend“ ablehnt⁶⁴), obwohl dieser dem Werk eher gerecht geworden wäre. So kann man davon ausgehen, dass der Titelwechsel dem Absatz und Erfolg des Buches bei der Erstveröffentlichung durchaus zuträglich war. Der neue Titel „bildete sozusagen ein verkaufsförderndes Symbol“.⁶⁵ Das bestimmende religiöse Motiv in Vergeltung ist neben der Passion Jesu, die als Prätext der Handlung um Strenehen fungiert,⁶⁶ die Apokalypse, auch wenn der Begriff selbst nicht fällt. Im Laufe des Romans baut Ledig jedoch konsequent eine apokalyptische Stimmung auf; zum Teil ist dies schon im Thema angelegt, da den Lesern bei der Beschreibung des Bombenkriegs apokalyptische Bilder wie Feuer, das vom Himmel fällt (vgl. etwa Offb 8,7), sofort in den Sinn kommen. Dies wird durch verwandte Motive unterstützt, z. B. wenn die anfliegenden Bomber als „Heuschreckenschwärme“ bezeichnet werden – diese können nicht nur mit den zehn biblischen Plagen in Verbindung gebracht werden (2 Mos 10,12– 15), sondern auch mit der Offenbarung des Johannes: Dort erscheinen Heuschrecken, nachdem der fünfte Engel seine Posaune geblasen hat. Sie suchen jene Menschen heim, die nicht das Siegel Gottes tragen, und quälen sie (Offb 9,3 – 11). Unterstrichen wird die apokalyptische Lesart bei Ledig außerdem durch den Titel, der durch seine biblischen Konnotationen von Strafe und Talion, aber auch gerechtem Lohn für

 Vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main 2001, 82– 86.  Ebd., 93.  Vgl. Brauchle (2008), 67.  Kemper (2008), 140.  Vgl. Radvan (2006).

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gute Taten⁶⁷ ebenfalls im Sinne eines Gerichts bzw. des Jüngsten Gerichts gelesen werden kann. Ähnliches gilt für die Unterlegung der Strenehen-Handlung mit dem Prätext der Passion Christi, die ebenfalls eine eschatologische Deutungsebene zulässt, zumal die direkte Gegenüberstellung der Passionsmotive mit dem alttestamentarischen Talionsgedanken – „Auge um Auge! Zahn um Zahn!“ (V 100; vgl. u. a. 2 Mose 21,24 und 3 Mos 24,20) – die neutestamentarische Lesart des Titels betont, nach der Jesus Christus der Talion explizit widerspricht: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist […]: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, dem biete auch die andere dar“ (Vom Vergelten, Mt 5,38 – 39). Diese Deutung wird unterstrichen, indem die Menschen im Bunker, die anfangs eine Vergeltung der Luftangriffe im alttestamentarischen Sinne fordern (V 161) und der Lynchjustiz das Wort reden (V 174), den sterbenden Strenehen in eine Decke hüllen und für ihn beten (V 194 f.). Dies entspricht genau dem von Jesus gepredigten Umgang mit Feinden, der sich wiederum explizit gegen alttestamentarische Prinzipien richtet: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben‘ […] und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“ (Von der Feindesliebe, Mt 5,43 – 44). Mit den letzten Sätzen des Romans erteilt Ledig dieser Bedeutungszuschreibung jedoch eine klare Absage: „Nur das Jüngste Gericht. Das war sie [die Vergeltung] nicht“ (V 199). Mit diesen Sätzen verneint Ledig deutlich jede apokalyptische und damit auch christlich-eschatologische Lesart, die er zuvor durch den Aufbau einer entsprechenden Stimmung nahelegt.⁶⁸ So ist Vergeltung zwar nahezu leitmotivisch von Diskurselementen des Alten und Neuen Testaments durchsetzt, diese werden allerdings in derart grotesker Weise in die Kakophonie der Zerstörung verwoben, dass die Situationsinadäquatheit ihres Auftretens die mit ihnen verbundene Sinnofferte nur umso drastischer entwertet.⁶⁹

Ausgehend davon, wie Ledig in seinen beiden ersten Romanen konsequent Systeme von Ordnung und Möglichkeiten zur Orientierung destruiert und gleichzeitig Chaos und Zufall als bestimmende Elemente des Krieges etabliert, ist diese Negation nur folgerichtig. Er widerspricht damit dezidiert „den frühen Verständ-

 Vgl. Schwienhorst-Schönberger, Ludger: Art. Vergeltung II. Biblisch-theologisch. In: Kasper, Walter u. a. (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10. Freiburg 2009, Sp. 654– 656.  Im Zusammenhang mit Ledigs gewaltsamem Stil, der vor allem in Vergeltung auf dem Einsatz grausamer oder tödlicher Pointen beruht, kann in diesen letzten Sätzen eine finale Spitze gesehen werden, die alle vorhergehenden an Plötzlichkeit und Frappanz überbietet (s.u. 7.).  Koch (2005), 200.

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nismustern, die sich gleich nach dem Ende des Dritten Reiches herausbildeten, das, was geschehen sei, […] sei Strafgericht, nämlich die Strafe Gottes für den Hochmut des Menschen, der selbstherrlich und gottvergessen gelebt habe, sei aber auch Katharsis, die dem Menschen zur Besserung diene“⁷⁰. Der Begriff „Vergeltung“ weist jedoch direkt darauf hin, dass den Bomben bereits etwas vorausging, dass sie zuvor geschehenes Unrecht sühnen und vergelten sollten. Betrachtet man nur den Bombenkrieg, so drängt sich geradezu die Tatsache auf, dass es die Deutschen waren, die diesen begannen.⁷¹ Die Technik, die zwischen 1941 und 1945 die deutschen Städte zerstörte, war von der deutschen Luftwaffe in Rotterdam, Warschau und Coventry zuerst eingesetzt worden. Gerade aus diesen Angriffen lernte die britische Royal Air Force viel – z. B. das Flächenbombardement mit einer Mischung aus Spreng- und Brandbomben – und nutzte sie auch immer wieder als Rechtfertigung für die eigenen Angriffe.⁷² Das Phänomen des Feuersturms entstammt ebenfalls der deutschen Seite, Göring stellte sich 1940 so die Zerstörung Londons vor.⁷³ Der Titel Vergeltung evoziert aber neben der Tatsache, dass die Bomben keineswegs unprovozierte Terrorakte waren, noch mehr. Da der Begriff im Dritten Reich häufig verwendet wurde, um Verbrechen gegen die ausländische Zivilbevölkerung zu verschleiern, erinnert er ebenfalls an diese deutschen Verbrechen. In diesem Zusammenhang ist etwa an die Auslöschung des tschechischen Dorfes Lidice als Reaktion auf das Attentat auf Reinhard Heydrich zu denken, und auch Christopher R. Browning erwähnt eine regelmäßige derartige Verwendung des Wortes in seinem Bericht Ganz normale Männer. ⁷⁴  Schörken (2005), 177 f. Es hierzu allerdings anzumerken, dass solche Zuschreibungen teils auch durch die Alliierten unterstützt wurden, wenn man etwa den – sicherlich zynischen – Codenamen betrachtet, den die schweren Angriffe auf Hamburg bei der Royal Air Force hatte: Operation Gomorrha.  Schon während des Krieges suchte die Bevölkerung angesichts der Luftangriffe Zuflucht in biblischer Bildlichkeit, wobei dabei interessanterweise Bilder dominierten, die auf die Strafe für vorangegangene Sünden – mithin Vergeltung – hinweisen, nicht zuletzt und nicht ohne Ironie mit Anklängen an Sodom und Gomorrha, die für die „Operation Gomorrha“ Pate gestanden hatten; vgl. Stargardt (2015), 369 f.  Vgl. Bönitz (2003), 31 ff., und Friedrich (2003), 63 f.  Vgl. Bönitz (2003), 29. Allerdings ist hier anzumerken, dass auch Göring nicht der Erste mit solchen Ideen ist, sondern bereits in den 1920er Jahren amerikanische Militärstrategen diese Möglichkeit für die Zerstörung der primär aus Papier und Holz gebauten japanischen Städte sahen.  Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Erw. Neuausg. Reinbek bei Hamburg 1999, 31, 139, 153, 197, 210. Reichte es nicht aus, Erschießungen als „Vergeltung“ etwas für bei Partisanenangriffen getötete deutsche Soldaten zu deklarieren, wurde auch an die Situation in Deutschland erinnert: „Auch wenn die

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Auch die ab 1944 eingesetzten V-Waffen sind in diesem Kontext zu nennen. Geht man davon aus, dass sich Ledig für Vergeltung wirklich an den schweren JuliAngriffen des Jahres 1944 auf München orientiert, so ist diese Verbindung zusätzlich interessant, da diese gemeinhin als Reaktion auf die V1 gewertet werden.⁷⁵ Die Bezeichnung der auch von der Bevölkerung bejubelten Raketen als Vergeltungswaffen zeigt gleichzeitig, dass Vergeltung bis 1945 den Deutschen vorbehalten war und sich hinter dem Begriff nicht selten Angriffe auf die Zivilbevölkerung anderer Länder verbargen. In der Ablehnung einer apokalyptischen Lesart kann man auch den Hauptgrund dafür sehen, dass die Kritik der 1950er Jahre in Vergeltung einen metaphysischen Ausblick vermisste, da Ledig mit seinem Romanschluss den Ordnungs- und Orientierungsanspruch der christlichen Religion bzw. Theologie klar verneint. Durch ihren eschatologischen Aspekt würde eine Charakterisierung als apokalyptische Handlung außerdem einen positiven Horizont eröffnen: „Apokalypse ist der Versuch, eine als tödliche Bedrohung erlebte historische Situation durch die Prognose der Zukunft, d. h. durch die Polarisierung von Untergang und Rettung, zu bewältigen.“⁷⁶ Außerdem betont Ledig durch diese Verneinung die Verantwortlichkeit und den Anteil der Menschen am Geschehen: Apokalyptische Vorstellungen, nach denen katastrophische Ereignisse „nicht nur von menschlichen Tugenden und Lastern bestimmt [sind], sondern zugleich von kosmischen d. h. göttlichen Mächten“⁷⁷, lehnt er ab. Indem er solche Lesarten ausschließt, verweigert er sich dezidiert Deutungen des Krieges als des (apokalyptischen) Weltgerichts, wie sie vor allem im Ersten Weltkrieg populär waren – in Deutschland ebenso wie bei anderen Mächten damit verbunden, sich im Bündnis mit Gott, d. h. als eine der guten Mächte, zu sehen, während die „Kriegsgegner […] mit den Mächten des Bösen identifiziert“ wurden.⁷⁸

Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 101 die antisemitische Doktrin des NS-Regimes vielleicht nicht bewußt übernommen hatten, so akzeptierten sie anscheinend doch zumindest, daß die Juden zum allgemeinen Feindbild gehörten. An diese Vorstellung von den Juden als ‚Volksfeinden‘ knüpfte Major Trapp in seiner Rede am frühen Morgen des 13. Juli an: Bei der Erschießung jüdischer Frauen und Kinder sollten seine Männer am besten daran denken, daß zur gleichen Zeit deutsche Frauen und Kinder durch feindliche Bomben umkämen.“ Ebd., 107 f.  Friedrich (2003), 487.  Sparn, Walter: Art. Apokalyptik. In: Jaeger, Friedrich (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2005, 492.  Ebd.  Vgl.Vondung, Klaus: Geschichte als Weltgericht. Genesis und Degradation einer Symbolik. In: Vondung, Klaus (Hg.): Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen 1980, 78. Teils wurde bereits nach den Angriffen

4.2 Chaos und fehlende Sinnstiftung

105

Vergleichbare Deutungen finden sich aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang mit den Bombenangriffen auf die deutschen Städte⁷⁹, so etwa in Hans Erich Nossacks Der Untergang (1948): Zwar fehlt dort die negative Sicht des Kriegsgegners; dafür wird aber gerade daraus eine fatalistische Position entwickelt: „Eine viel tiefere Einsicht in die Dinge verbot uns, an einen Feind zu denken, der dies alles verursacht haben sollte; auch er war uns höchstens ein Werkzeug unerkennbarer Mächte, die uns zu vernichten wünschten.“⁸⁰ Wie die Angriffe bewertet werden, wird auch schon vorher deutlich: „Gegen halb zwei war das Gericht zu Ende.“⁸¹ Der Schluss von Vergeltung lässt sich fast als direkte Antwort auf diesen Satz lesen, aber auch auf die Deutung des Luftkriegs durch Gerd Gaisers Die sterbende Jagd, wo ebenfalls mit höheren Mächten argumentiert wird: „The overwhelming enemy airpower is understood in mythical and biblical terms, as an act of divine retribution against which human resistance is impossible, with the Allies ravaging and visiting the vengeance of a wrathful God on the German homeland.“⁸² In diesem Sinne werden auch die Auswirkungen der Bomben am Boden mit deutlichen Anleihen an die Offenbarung des Johannes beschrieben: „Die Nacht der getroffenen Stadt, in welche das Feuer aus einem röhrenden Himmel herunterfloß und die Seelen sich krümmten in Feuerstürmen, die Menschen wegschmolzen wie Staub, der auf heißer Platte funkt und vergeht; und der Engel des Herrn barg sein Angesicht, der das Unheil nicht wenden durfte.“⁸³ Indem Ledig die Verantwortung der Menschen für das Geschehen unterstreicht, rückt statt einer theologischen Lesart des Titels eine rein juristische Deutung von Vergeltung in den Fokus. Obwohl der Begriff ursprünglich auch für die Beziehungen zwischen Menschen eine Entlohnung oder eine Gegenleistung umfasste, so überwiegt heute doch der negative Aspekt im Sinne einer Strafe oder Rache. Mit beiden Kontexten ist der Gedanke von wiederhergestellter Gerechtigkeit untrennbar verbunden. Mit dem Titel Vergeltung geht somit eine deutliche

auf Hamburg 1943 die Meinung vertreten, dass es sich dabei um Vergeltung für die Deportationen und die Behandlung der Juden gehandelt habe; vgl. Süß (2011), 110 f.  Vgl. hierzu auch Heukenkamp (2001).  Nossack, Hans Erich: Der Untergang. Frankfurt am Main 1976, 42.  Ebd., 20.  Smith, Stuart: „Das war nicht mehr wie vor Ilion“. Servicemen, Civilians and the Air War in Gerd Gaiser’s „Die sterbende Jagd“. In: Wilms, Wilfried; Rasch, William (Hg.): Bombs away! Representing the Air War over Europe and Japan. Amsterdam 2006, 201; im Zuge dieser Lesart wird bei Gaiser nicht nur die Niederlage im Luftkrieg übelmeinenden Göttern zugeschrieben, sondern auch Hitler: „Gott hat ihn uns geschickt und er muß uns verderben“; Gaiser, Gerd: Die sterbende Jagd. München 1953, 228.  Ebd., 31 f.

106

4 Verkehrte Welt und Apokalyptik

Wertung einher, die die Luftangriffe als reziproke Antwort auf zuvor geschehenes Unrecht wertet, wobei unter anderem an die deutschen Luftangriffe zu denken ist, vor allem jedoch an den Holocaust. Stärker als bei Die Stalinorgel kann man hier von einem großen Einfluss des Titels auf die Rezeption ausgehen, da nicht zuletzt seine Wahl für den Aufbau und die Destruktion einer apokalyptischen Lesart eine Rolle spielt. Ganz anders wäre die Wirkung sicherlich gewesen, wenn es bei einem der Arbeitstitel geblieben wäre: Zunächst legte Ledig das Manuskript dem ClaassenVerlag unter dem Titel Terror vor, woraufhin ihn sein Lektor darauf hinwies, dass dies keinesfalls so bleiben könne, da es sich nicht um Terror-, sondern um Vergeltungsangriffe gehandelt habe.⁸⁴ Betrachtet man die Rezensionen zu Vergeltung, fällt allerdings auf, dass viele der Rezensenten die Luftangriffe als genau das bezeichnen: Terror. Dieser Titel hätte daher wohl wesentlich positivere Reaktionen zur Folge gehabt. Ähnliches gilt für einen anderen Arbeitstitel: Fliegende Festung. ⁸⁵ Durch die Lehnübersetzung von „Flying Fortress“, des Beinamens der amerikanischen B-17-Bomber, hätte der Titel – wie Die Stalinorgel – ein bekanntes Symbol des Krieges in den Vordergrund gerückt, ohne damit explizite Wertungen zu verbinden – abgesehen davon, dass wiederum eine Waffe der Alliierten als Symbol für den Krieg gewählt worden wäre. Sowohl die ‚infernalische‘ Darstellung der Ostfront in Die Stalinorgel als auch die explizite Ablehnung apokalyptischer Lesarten in Vergeltung tragen zu Ledigs Zeichnung einer negativen verkehrten Welt bei, in der hergebrachte Ordnungsmuster und Sinnstiftungsangebote keine Gültigkeit mehr besitzen. Beide Aspekte machen deutlich, dass es sich beim Krieg um einen gottverlassenen Zustand handelt, in dem das theologische Ordnungsparadigma keine Gültigkeit mehr besitzt und keinerlei Orientierung zu geben vermag. Die christlichen Bilder und Motive sowie ihre letztliche Abwertung in Vergeltung unterstreichen somit die zuvor erläuterte Herrschaft von Chaos und Zufall, indem sie die Vorstellung einer ordnenden, übergeordneten Macht verneinen. Zusammen mit den beschriebenen  Brauchle (2008), 98. Diese Lesart war dabei keineswegs neu, sondern hatte bereits während des Krieges vorgeherrscht, gesteuert nicht zuletzt durch das Regime selbst. Zwar gab man so zu, dass die Angriffe deutsche Vorläufer hatten; dennoch war der Begriff „Bombenterror“ für die Nationalsozialisten problematisch, da er NS-Dogmen von deutscher Stärke untergrub und stattdessen Schwäche und Demoralisierung betonte. Goebbels lag daher auch stets daran, keine konkreten Opferzahlen zu verbreiten, sondern stattdessen akribisch zerstörte Kult- und Kulturstätten aufzuzählen; vgl. Stargardt (2015), 360. Auch die kath. Kirche deutete die Angriffe bereits im Sommer 1943 als Folge von sündhaftem Verhalten; gleichzeitig prangerte sie die Rufe nach Vergeltung als unchristlich bzw. zuweilen als alttestamentarisches und somit jüdisches Konzept an; vgl. ebd., 352 f.  Brauchle (2008), 25.

4.2 Chaos und fehlende Sinnstiftung

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Groteskenmotiven und den negativ konnotierten Spielarten des Lachens runden sie das Bild der verkehrten Welt ab, in der bisherige Sicherheiten keine Orientierung mehr ermöglichen.

5 Formen der Dienstentziehung 5.1 Grundlagen Durch den beschriebenen Mangel an Teleologie ist der Einzelne nicht nur massiven technischen Destruktivkräften ausgesetzt, die darauf zielen, sein Leben auszulöschen; anders als in vorangegangenen Kriegen fehlen ihm zudem gesellschaftliche Konventionen und Konstruktionen, die es ihm ermöglichen, den Zustand Krieg für sich zu legitimieren und mit Sinn zu versehen: Wehrdienstentziehung ist der Ausfluß eines Dilemmas der modernen Massenheere der Neuzeit: Das Militär braucht die Kampfkraft und Bereitschaft der Soldaten, Freiheit, Gesundheit und Leben zu riskieren, ohne auch nur annähernd ein Äquivalent dafür anbieten zu können, außer in Form von Mythen wie „Ehre“, „Vaterland“, „Heldentum“ oder „Verteidigung der Freiheit“.¹

Es ist darauf hingewiesen worden, dass Ledig genau diese Mythen konsequent destruiert: Der Krieg ist bei ihm kein Abenteuer; er bringt keine Helden hervor und ist auch kein ,Stahlbad‘, aus dem die Überlebenden gestärkt hervorgehen. So ist es nicht überraschend, dass Ledig in seinen Romanen an zahlreichen Stellen Formen der Wehrdienstentziehung thematisiert, deren Ziel es ist, dieser Situation zu entfliehen. Zu den bereits genannten Momenten, die die Situation des modernen Krieges so lebensfeindlich machen bzw. ihrer mythenbildenden Kraft berauben, kommt im Hinblick auf Desertionen schließlich hinzu, dass das Individuum im modernen Krieg quasi über keine Handlungsoptionen verfügt. Ähnlich einem in die Enge getriebenen Tier bleibt ihm nur die Wahl zwischen Kampf oder Flucht.² Ersteres bedeutet dabei Töten, um zu überleben; Letzteres kann einerseits ganz konkret Desertion meinen, umfasst aber auch die Möglichkeit, sich den Kampfhandlungen durch selbstbeigebrachte und/oder simulierte Verletzungen bzw. Krankheiten zu entziehen. Beide Varianten stellen einen letzten Akt individueller Selbstbehauptung in einer Situation dar, die das Individuum negiert. „Auf diese  Knippschild, Dieter: Deserteure im Zweiten Weltkrieg: Der Stand der Debatte. In: Bröckling, Ulrich; Sikora, Michael (Hg.): Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit. Göttingen 1998, 225 f.  Damit besteht eine fight-or-flight-Option, d. h. die Möglichkeit, noch zu handeln. Im Zusammenhang mit den Traumata, die bei der Zivilbevölkerung durch den Luftkrieg ausgelöst werden, wird zu zeigen sein, dass diese Option nicht besteht: Die no-fight-no-flight-Situation ist wesentlich belastender für die Betroffenen; vgl. Huber, Michaela: Trauma und die Folgen. 3. Aufl. Paderborn 2007, 41– 44. https://doi.org/10.1515/9783110657128-006

5.1 Grundlagen

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eine Geste, das eigene Leben zu retten, findet sich Subjektivität im Krieg daher reduziert.“³ Die Motive des Einzelnen können dabei von reinem Überlebenswillen bis zu politischer Überzeugung reichen.⁴ In der Regel nimmt der Deserteur dabei wissentlich das Risiko eines Todesurteils durch die Militärjustiz in Kauf. Betrachtet man die Statistiken zu Fahnenflucht und entsprechenden Urteilen der Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg, so fällt auf, dass sie für fast alle Länder ähnlich sind und nur Deutschland durch eine besonders hohe Zahl an Desertionen sowie an verhängten und tatsächlich vollstreckten Todesurteilen hervorsticht: Da – vor allem für die letzten Kriegsmonate – keine genauen Zahlen vorliegen, kann das gesamte Ausmaß nur geschätzt werden: Es scheint heute realistisch, von etwa 35.000 Verurteilungen wegen Fahnenflucht auszugehen, bei denen ca. 22.750 Todesurteile verhängt wurden, von denen wiederum etwa 15.000 vollstreckt wurden.⁵ Zum Vergleich seien hier nur die USA angeführt, die zwischen 1941 und 1946 insgesamt 763 Todesurteile aussprachen, von denen 146 vollstreckt wurden: Nur ein einziges bestrafte „Fahnenflucht in der Absicht, sich gefährlichem Dienst zu entziehen (desertion with intent to avoid hazardous duty)“.⁶ Wenn man nun einbezieht, dass zu den 35.000 Verurteilungen noch eine große Zahl erfolgreicher, d. h. nicht geahndeter und somit auch nicht statistisch erfasster, Desertionen kommt (vor allem in der Endphase des Krieges), so ist „von weit über 100.000 Fällen auszugehen“.⁷ Nicht ganz so häufig, aber immer noch zahlreich waren die Versuche, sich dem Dienst – zumindest zeitweise – durch simulierte oder selbst beigebrachte Verletzungen oder Krankheiten zu entziehen. Genaue Zahlen liegen auch diesbezüglich nicht vor; Schätzungen anhand der bekannten Urteile aus den ersten drei Kriegsjahren ergeben jedoch, dass bis Kriegsende „insgesamt etwa 6.200 Soldaten wegen Selbstverstümmelung mit dem Tode bestraft wurden“.⁸ Es ist in diesen Fällen ebenfalls davon auszugehen, dass Todesurteile in etwa zwei Dritteln der Fälle ausgesprochen wurden, sodass für die Wehrmacht von etwa 10.000

 Ahrens (2001), 170.  Koch, Magnus: Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg; Lebenswege und Entscheidungen. Paderborn u. a. 2008, 398.  Messerschmidt, Manfred; Wüllner, Fritz: Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende. Baden-Baden 1987, 91.  Ebd., 29 f.  Messerschmidt, Manfred: Deserteure im Zweiten Weltkrieg. In: Wette,Wolfram (Hg.): Deserteure der Wehrmacht. Feiglinge – Opfer – Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels. Essen 1995, 61 f.  Seidler, Franz: Prostitution, Homosexualität, Selbstverstümmelung. Probleme der deutschen Sanitätsführung 1939 – 1945. Neckargemünd 1977, 235.

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5 Formen der Dienstentziehung

Verurteilungen und einer vermutlich erheblichen Dunkelziffer erfolgreicher Versuche auszugehen ist.⁹ Diese Zahlen machen deutlich, dass Versuche, sich dem Dienst zu entziehen, innerhalb der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg nicht etwa Ausnahmen darstellten, sondern regelmäßig vorkamen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie auch in den einschlägigen Romanen eine prominente Rolle einnehmen, nicht zuletzt bei Ledig. Die Art der Darstellung variiert dabei ebenso wie der Grad der Auseinandersetzung mit der Thematik: Dies kann so weit gehen, dass sie das Hauptthema eines Textes bilden, wie etwa im Falle von Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit (1952). Grundlegend ist der Umgang der deutschen Schriftsteller mit diesem Motiv von Thomas Kraft untersucht worden, der sich in seiner Arbeit zu Fahnenflucht und Kriegsneurose zwar auch kurz mit Die Stalinorgel befasst, Ledig aber insgesamt kaum Beachtung schenkt. Gerade die Desertionen, die bestimmende Handlungselemente des Romans darstellen, betrachtet Kraft nur am Rande.¹⁰ Ledig beschreibt ausführlich Versuche, sich dem Kriegsdienst zu entziehen, und schildert mit einem Feldgericht sowie einer Exekution auch die Folgen, die aus ihnen erwachsen können. Neben den Versuchen, vor der Kriegsgewalt zu fliehen, erfasst er somit auch den Aspekt der institutionalisierten Gewalt, die von der eigenen Führung ausgehend auf den einzelnen Soldaten einwirkt. Im Folgenden soll das Hauptinteresse den Faktoren und Gründen gelten, die zu Desertion und Selbstverstümmelung führten. Ihre literarische Verarbeitung in Ledigs Romanen lässt Rückschlüsse darauf zu, wie dieser den gesamten Komplex der Dienstentziehung sah und beurteilte. Es soll gezeigt werden, dass er auch in dieser Hinsicht seiner authentischen Darstellungsweise treu bliebt, indem er seine Figuren in erster Linie aus persönlichen Gründen desertieren lässt; ferner gelingt es ihm auf diese Weise, die Deserteure rückblickend weder zu glorifizieren noch zu verurteilen. Dieselbe wirklichkeitsgetreue Wiedergabe wird auch für die potentiellen Folgen der Dienstentziehung nachzuweisen sein. Beide Aspekte zusammen sollen demonstrieren, wie Ledig Mitte der 1950er Jahre ein Thema aufgriff, das zu diesem Zeitpunkt im gesellschaftlichen Diskurs noch äußerst sensibel war. In Vergeltung und Faustrecht gibt es kein inhaltliches Element, das den Desertionen in Die Stalinorgel genau entspricht. Zwar sind Fluchtbewegungen für  Seidler zufolge war nur in 20 % der Verdachtsfälle eine Klärung möglich, ob die fragliche Verletzung tatsächlich selbst beigebracht war. Die Dunkelziffer könnte also durchaus bei 50.000 Fällen oder noch wesentlich höher liegen, wenn man annimmt, dass in vielen Fällen erst gar kein Verdacht aufkam; vgl. ebd., 255.  Kraft (1994), 80 f., 126 – 129.

5.2 Fahnenflucht

111

mehr oder minder alle Figuren in Vergeltung charakteristisch, allerdings ist ihre Ausgangslage von jener der Soldaten zu unterscheiden: Während Letztere sich in einer fight-or-flight-Situation befinden, können die Zivilpersonen in der Stadt die Gefahrenzone nicht verlassen, auch nicht durch Zuflucht im Luftschutzkeller bzw. -bunker. Da sie gleichzeitig auch keine Möglichkeit haben, den Angreifern etwas entgegenzusetzen, fehlen ihnen Handlungsoptionen: No fight, no flight. Diese Situation wirkt häufig traumatisierend¹¹ (s.u. 6.); unter diesem Aspekt sollen auch die Fluchtbewegungen der Stadtbevölkerung in Vergeltung untersucht werden.

5.2 Fahnenflucht 5.2.1 Hintergründe Wie oben gezeigt, ist für die Wehrmacht im Laufe des Zweiten Weltkriegs von einer sechsstelligen Zahl an Deserteuren auszugehen.¹² Das nationalsozialistische Regime brandmarkte diese Fahnenflüchtigen als „Feiglinge“, „minderwertige Wehrmachts-“ bzw. „Volksschädlinge“ oder auch als „treulose Schwächlinge“.¹³ Diese „ideologische Verfemung“¹⁴ konnte sich in der deutschen Gesellschaft auch über den Krieg hinaus halten;¹⁵ ein Wandel in der Einstellung zu den Deserteuren hin zu einer unvoreingenommenen oder gar anerkennenden Sicht ist erst seit etwa 1980 zu beobachten.¹⁶ Zunehmend setzte sich nun die Meinung durch, dass es sich bei den hingerichteten Deserteuren um Opfer einer Unrechtsjustiz han Huber (2007), 43 f.  Messerschmidt (1995), 61 f. Nicht eingerechnet ist hierbei vermutlich die kampflose Übergabe ganzer Einheiten gegen Ende des Krieges.  Messerschmidt/Wüllner (1987), 92 f.  Wette,Wolfram: Wehrmacht-Deserteure im Wandel der öffentlichen Meinung (1980 – 1995). In: Wette, Wolfram (Hg.): Deserteure der Wehrmacht. Feiglinge – Opfer – Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels. Essen 1995, 14.  Ullrich, Volker: „Ich habe mich ausgestoßen…“ Das Los von Zehntausenden deutscher Deserteure im Zweiten Weltkrieg. In: Wette, Wolfram (Hg.): Deserteure der Wehrmacht. Feiglinge – Opfer – Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels. Essen 1995, 116 – 118. Das Thema Desertion wurde tendenziell totgeschwiegen. Die Betroffenen bzw. ihre Familien hatten kaum eine Chance,Versorgungs- oder Entschädigungsansprüche geltend zu machen, teils weil die Deserteure nach wie vor moralisch verurteilt wurden, teils weil die ehemaligen Wehrmachtrichter weiter in Amt und Würden waren und auch die Geschichtsschreibung zur Wehrmachtsjustiz primär selbst besorgten.  Zu den Grundzügen dieses Wandels und der gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema vgl. Wette, Wolfram (Hg.): Deserteure der Wehrmacht. Feiglinge – Opfer – Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels. Essen 1995.

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5 Formen der Dienstentziehung

delte und dass in der Desertion durchaus ein Aspekt des (passiven) Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime zu sehen ist.¹⁷ Einen Ausgangspunkt dieser Entwicklung bildete bereits die Filbinger-Affäre, die zumindest die Täter in den Blick rückte, wenn auch noch nicht die Opfer.¹⁸ Grundlegend für diesen Wandel waren zum einen die zahlreichen Initiativen zur Errichtung von Denkmälern für die Fahnenflüchtigen¹⁹ sowie zum anderen die wissenschaftliche Aufarbeitung der Desertionen und auch der Wehrmachtsjustiz. In Bezug auf diesen Punkt sind hier vor allem die Arbeiten von Manfred Messerschmidt und Fritz Wüllner hervorzuheben, die den revisionistischen und verharmlosenden Ansatz der älteren Geschichtsschreibung zur Wehrmachtsjustiz offenlegten, die primär von ehemaligen Wehrmachtrichtern (wie z. B. Erich Schwinge) betrieben wurde und versuchte, die Wehrmachtsjustiz als Opposition zum nationalsozialistischen Regime darzustellen.²⁰ So gilt heute als gesichert, dass die Wehrmachtsjustiz (und u. a. auch Schwinge) die an sich schon strengen rechtlichen Grundlagen noch wesentlich restriktiver auslegte als Adolf Hitler selbst, der zwar schon in Mein Kampf ein striktes Vorgehen gegen Deserteure verlangte („Es muß der Deserteur wissen, daß seine Desertion gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben.“), 1940 aber mildernde Umstände wie „jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung, schwierige häusliche Verhältnisse oder andere unehrenhafte Beweggründe“ benannte, bei denen er eine Zuchthausstrafe für ausreichend erachtete.²¹ Die neueren Forschungen haben neben der Entlarvung der Wehrmachtsjustiz als eines aktiven Teils des Unrechtsregimes auch dazu beigetragen, dass die Motivlage der Fahnenflüchtigen wesentlich differenzierter betrachtet wird. Zwar trug Angst um das eigene Leben selbstverständlich dazu bei, den Weg der Desertion zu wählen, doch sind auch weitere Gründe zu nennen: „In vielen Fällen spielten Familienprobleme eine Rolle oder Auswirkungen des Bombenkrieges in der Heimat.“²² In Befragungen wurden außerdem neben der Angst vor Bestrafung

 Vgl. van Roon, Ger: Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick. 4., neubearbeitete Aufl. München 1990, 25 f.  Ullrich (1995), 118 f.  Soergel, Fritz: Zur Geschichte der lokalen Deserteurs-Initiativen in Deutschland. In: Wette, Wolfram (Hg.): Deserteure der Wehrmacht. Feiglinge – Opfer – Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels. Essen 1995, 42– 56.  Vgl. grundlegend Messerschmidt/Wüllner (1987).  Ebd., 92.  Messerschmidt (1995), 62.

5.2 Fahnenflucht

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und allgemeiner Kriegsmüdigkeit häufig auch „politische Motive“ genannt.²³ Auffallend selten kamen religiöse Motive zur Sprache; eine Ursache hierfür war häufig eine schon wesentlich frühere Verweigerung, so etwa bei den Zeugen Jehovas, die vielfach hingerichtet wurden, weil sie von vornherein den Eid auf Adolf Hitler nicht ablegten.²⁴ Die lange bestehenden Dichotomie von feigen und verbrecherischen Deserteuren einerseits sowie mutigen und anständigen, nicht desertierenden Soldaten andererseits kann also als widerlegt gelten.

5.2.2 Literarische Behandlung Eine wirkliche Auseinandersetzung damit, wie sich die deutschen Schriftsteller nach 1945 des Themas Fahnenflucht angenommen haben, ist erst ab den 1990er Jahren zu beobachten. Diese Beschäftigung fällt somit zeitlich mit der allgemeinen gesellschaftlichen Neubewertung der deutschen Deserteure zusammen, die sich in zahlreichen Veröffentlichungen, aber auch Denkmals-Initiativen manifestierte.²⁵ Norbert Haase sieht die große Leistung der Literatur diesbezüglich darin, die Desertionen überhaupt zum Thema gemacht zu haben, da ihrer Tabuisierung zunächst nur literarisch habe entgegengewirkt werden können. Er weist in diesem Kontext vor allem auf Mitglieder der Gruppe 47 wie Andersch und Kolbenhoff hin, die die Erfahrung des Krieges aus der Perspektive einer prinzipiellen Gegnerschaft zur politischen oder militärischen Führung schilderten. Die vielfältige Beschäftigung der Literaten mit dem Thema beweise, dass die Deserteure im kollektiven Gedächtnis zwar durchaus vorhanden waren, aber massiven Verdrängungsprozessen zum Opfer gefallen sind. Dafür spricht etwa die Rezeption der Texte Anderschs: Flucht aus Etrurien blieb trotz eines Seriendruckes in der FAZ relativ unbeachtet,²⁶ und auch Die Kirschen der Freiheit verkaufte sich selbst

 Koch (2008), 398. Hierbei ist etwa an Sozialdemokraten oder Kommunisten zu denken; vgl. Messerschmidt/Wüllner (1987), 93.  Van Roon (1987), 25; Messerschmidt/Wüllner (1987), 33: „[M]an muß wissen, daß in den westlichen Demokratien, wo Bibelforscher [d. h. Zeugen Jehovas] ebenfalls den Waffendienst verweigert haben, kein Einziger zum Tode verurteilt worden ist.“  Vgl. grundlegend Wette (1995, Deserteure) und Haase, Norbert; Paul, Gerhard (Hg.): Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt am Main 1995.  Haase, Norbert: Die Wehrmachtsdeserteure und die deutsche Nachkriegsliteratur. In: Wette, Wolfram (Hg.): Deserteure der Wehrmacht. Feiglinge – Opfer – Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels. Essen 1995, 95 – 98.

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5 Formen der Dienstentziehung

angesichts zahlreicher Besprechungen kaum. Meist wurden Manuskripte, die Fahnenflucht zum Thema hatten, von vornherein abgelehnt.²⁷ Die grundlegende Arbeit zur Behandlung der Desertionen in der deutschen Nachkriegsliteratur hat Thomas Kraft mit seiner Dissertation zu Fahnenflucht und Kriegsneurose vorgelegt.²⁸ Er wendet sich darin vor allem gegen Jochen Pfeifers und Bernd Zabels Untersuchungen der deutschen Literatur zum Zweiten Weltkrieg,²⁹ die konstatiert haben, dass das Kriegserlebnis von deutschen Autoren nach 1945 ideologiefrei gezeichnet und auch bewertet worden sei (Pfeifer) sowie dass der Zweite – anders als der Erste – Weltkrieg in der Literatur kein mythenbildendes Potential mehr besessen habe (Zabel). Kraft kommt dagegen zu dem Ergebnis, dass vor allem die Trivialliteratur „revanchistische Parolen, stereotype Vorurteile, ‚heile‘ Bilder der Gewalt und des Kampfes“ reproduziert habe. Daneben entdeckt er aber auch außerhalb trivialer Texte „literarische Romantizismen, eine ästhetisierende Verniedlichung der Akte und Instrumente des Kampfes“. Zwar blieben militärische Mythen und Heldenbilder nicht unberührt, doch wurde gleichzeitig das neue Heldenbild des pflichtbewussten Landsers eingeführt, womit „das grundsätzliche militärische Selbstwertgefühl und eine damit verbundene Geringschätzung ‚unsoldatischen‘ Verhaltens“ nicht angekratzt wurden. Als unsoldatisch habe in diesem Kontext auch Wehrdienstentziehung jeder Art zu gelten. Demgegenüber identifiziert Kraft aber auch eine Gruppe von meist autobiographischen Texten, die in deutliche Opposition dazu traten. Sie weichen häufig von traditionellen ästhetischen Strukturen ab und propagieren offensiv „unsoldatisches“ Verhalten. „Die Texte legen pazifistische Motive dar; die Entscheidung gegen den Krieg müsse gefällt sein, bevor man in ihn involviert werde. Freiheit avanciert zum zentralen Wert, Flucht wird hier als radikale Konzentration auf die eigene Selbstbestimmung verstanden, außerhalb juristischer Ansprüche“.³⁰ Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an Anderschs Kirschen der Freiheit oder Otl Aichers innenseiten des krieges. Über diese verschiedenen Darstellungs- und Wertungsweisen bildet die Literatur für Kraft damit einen Zugang zur „politische[n] Grundstimmung der Zeit“.³¹ Auch Kraft hebt den erinnerungskulturellen Wert der Literatur zum Zweiten Weltkrieg hervor, die nicht nur hin-

 Frese, Hans: Bremsklötze am Siegeswagen der Nation. Erinnerungen eines Deserteurs an Militärgefängnisse, Zuchthäuser und Moorlager in den Jahren 1941– 1945, hg. und mit ergänzenden Beiträgen von Fietje Ausländer und Norbert Haase. Bremen 1989, 8.  Kraft (1994).  Pfeifer (1981); Zabel (1978).  Kraft (1994), 154.  Ebd., 155.

5.2 Fahnenflucht

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sichtlich des Krieges selbst fruchtbar gemacht werden kann, sondern gerade auch im Hinblick auf die gesellschaftspolitischen Hintergründe ihrer Entstehungszeit.³²

5.2.3 Behandlung bei Ledig Gert Ledig beschreibt in Die Stalinorgel gleich mehrere Fälle von Desertion sowie ein Gerichtsverfahren im Feld gegen einen vermeintlichen Deserteur. Umso erstaunlicher ist es, dass Kraft dem Roman kaum Beachtung schenkt, obwohl dieser auch die möglichen Sanktionen der Fahnenflucht schildert und Ledig gerade bei deren Darstellung seine neutrale Position aufgibt und durchaus ideologiekritisch verfährt. Kraft hebt zwar Ledigs nüchterne Sachlichkeit hervor, kann aber in dem Text nicht mehr als „Abschreckung vor der Grausamkeit des Krieges“ entdecken.³³ Die Desertion des Melders liegt vor allem darin begründet, dass der Major sich weigert, ihn ablösen zu lassen (SO 34– 36); er ist am Ende seiner physischen wie psychischen Kräfte und gibt mehrmals an, nicht mehr zu können bzw. wahnsinnig zu werden. Beim Major nimmt er auch den russischen Passierschein mit, der den Entschluss in ihm reifen lässt, sich den Russen zu ergeben. Die Fahnenflucht vollzieht er relativ spontan, er spurtet einfach los und überquert das Niemandsland zwischen den Linien (SO 131 f.). Nach einem Verhör, das von Gewalt und Misshandlungen geprägt ist (SO 133 f.), flieht er ebenso unvermittelt wieder zurück hinter die deutschen Linien (SO 182– 187). Die Desertion des Melders wie auch seine Rückkehr sind primär durch das von ihm als ungerecht empfundene Verhalten seiner Vorgesetzten und durch seinen Selbsterhaltungstrieb motiviert. Es finden sich keine Hinweise auf eine ideologische oder politische Motivation wie etwa Abneigung gegen das NS-Regime oder die Weigerung, sich an einem ungerechten Krieg zu beteiligen. Volker Ulrich hat darauf hingewiesen, dass solche Beweggründe ohnehin in der Regel nicht ausreichend waren, um einen Soldaten zur Desertion zu bewegen; vielmehr waren dafür meist Schlüsselerlebnisse im Krieg entscheidend wie etwa auch „ungerechte oder schikanöse Behandlung durch Vorgesetzte“.³⁴ Auch eine längere Planung lässt sich im Falle des Melders nicht feststellen. Es überwiegen die Angst und der Wunsch zu leben. Auch der Gedanke an seine Familie („seine beiden Kinder, die die Hände nach ihm ausstreckten“; SO 131) spielt dabei eine Rolle.

 Ebd., 152– 156.  Ebd., 81.  Ullrich (1995), 110.

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5 Formen der Dienstentziehung

Ähnlich stellt sich die unerlaubte Entfernung des Feldwebels dar³⁵; dieser nimmt zunächst einen russischen Überläufer zum Vorwand, um die vorderste Front zumindest für einige Zeit zu verlassen, setzt aber auch nach dessen Tod seinen Weg zum Bataillon fort (SO 46 – 49). Das Vorgehen wird endgültig zur unerlaubten Entfernung, als der Major anfängt, daran zu zweifeln, dass der Feldwebel rechtmäßig beim Bataillon und nicht bei seiner Kompanie ist (SO 79 – 82). Daraufhin plant der Feldwebel, sich im Durcheinander bis zum Tross nach Emga durchzuschlagen, wird aber bald von der Feldgendarmerie aufgegriffen. Die Konsequenzen, die ihm hieraus höchstwahrscheinlich erwachsen, sind ihm sofort bewusst, auch wenn der Leutnant der Feldgendarme ihm die Möglichkeit in Aussicht stellt, dass er vielleicht Glück habe: „Komisch, dachte der Feldwebel, die tun so, als könnten sie mich für die Geschichte einsperren“ (SO 95). Hier klingt nicht etwa die Option an, für sein Vergehen nicht bestraft zu werden, sondern vielmehr die große Gewissheit, dass das Verlassen der Stellung während eines Angriffs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als unerlaubte Entfernung gewertet werden würde, was wiederum das Verdikt der Wehrkraftzersetzung sowie der Untergrabung der Manneszucht und somit voraussichtlich die Todesstrafe nach sich ziehen würde (nach §5 Kriegssonderstrafrechtsverordnung).³⁶ Ähnlich sicher hinsichtlich des ihm bevorstehenden Urteils ist auch der Degradierte, der den Feldwebel im provisorischen Gefängnis angreift, auch wenn nicht bekannt ist, was er sich zu Schulden hat kommen lassen (SO 98). Familiäre Gründe – die Sorge um seine Mutter – führt auch der Junge an, als er vom Feldwebel gefragt wird, warum er sich beim Angriff versteckt habe: „Sie ist allein und hat nur mich.Verstehn Sie das?“ (SO 100) Auch in diesem Fall wird kein Zweifel daran gelassen, welches Urteil ihn wahrscheinlich erwartet: „Sie kommen bestimmt nicht mehr zu ihrer Mutter!“ (SO 100) Der Junge ist insofern hervorzuheben, als er deutliche Anzeichen einer Traumatisierung durch den Krieg aufweist. Hierauf wird zu einem späteren Punkt noch gesondert einzugehen sein (s.u. 6.). Ledig orientiert sich mit der Motivlage der Figuren an den faktischen historischen Zuständen, indem sie sich meist aus persönlichen Gründen oder schlicht aus Angst bzw. Selbsterhaltungstrieb dem Dienst entziehen, denn die meisten Desertionen waren persönlich motiviert, nicht politisch oder ethisch.³⁷ Dennoch

 Die „unerlaubte Entfernung“ von der Truppe unterscheidet sich von der Desertion darin, dass Erstere nicht auf Dauer angelegt ist; vgl. Knippschild (1995), 226 f.  Vgl. Messerschmidt/Wüllner (1987), 133.  Haase, Norbert: Die Zeit der Kirschblüten… Zur aktuellen Denkmalsdebatte und zur Geschichte der Desertion im Zweiten Weltkrieg. In: Ausländer, Fietje (Hg.): Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus. Bremen 1990, 142.

5.2 Fahnenflucht

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kann aber in den geschilderten Fällen nicht von einer Flucht in die Freiheit gesprochen werden, denn es ist jeweils nur ein verzweifelter Versuch, den Wahnsinn des Krieges zu überleben – sei es in russischer Gefangenschaft, sei es zumindest für eine gewisse Zeit beim Tross. Es handelt sich also um Kurzschlussreaktionen, denen keine besondere Planung vorangeht, die nicht einmal eine Flucht ins Leben darstellen, sondern nur ins (kurzfristige) Überleben, das gleichwohl den Blick in die Zukunft öffnet: „Ihr Leben wollen sie retten, weil darin eine Perspektive für ein Leben nach dem Krieg beschlossen liegt und somit eine Rückkehr in den Subjekt-Status“³⁸, den der Krieg ihnen genommen hat. Es ist hier darauf hinzuweisen, dass die Bereitschaft, in – besonders die russische – Gefangenschaft zu gehen, um zu überleben, historisch sicherlich eine Ausnahme darstellte. Sönke Neitzel und Harald Welzer haben in ihrer Auswertung der abgehörten Gespräche deutscher Kriegsgefangener darauf hingewiesen, dass ein Abweichen vom Ideal des tapferen, pflichtbewussten Soldaten – etwa Desertion – fast durchgängig negativ gesehen wurde und dass gerade das Überlaufen für die allermeisten Soldaten unvorstellbar war.³⁹ An der Ostfront kam hierzu noch die Propaganda der militärischen Führung, die ein überaus schlechtes Bild vom Gegner zeichnete. Die ablehnende Haltung gegen das Überlaufen zeigt sich in Die Stalinorgel, als eine eingeschlossene deutsche Kompanie sich zwischen Durchbruch und Gefangenschaft entscheiden muss: Vom kriegsmüden Major abgesehen, wählen die Soldaten einstimmig den Durchbruch (SO 166 – 169). Dass diese Entscheidung nicht nur in der Ideologie des Kampfes begründet liegt, deutet bereits zuvor der Hauptmann der Kompanie an, der sich in russischer Hand befindet: „Meine Kompanie besteht aus einfachen Leuten. Jede Führung benutzt … propagandistische Mittel. Sie verstehen mich? Es ist nicht leicht für die Männer.“ Der Hauptmann vermied es, den anderen anzusehen. Er starrte angestrengt in Flamme des Talglichts. „Sie meinen – Furcht vor Gefangenschaft?“ „Ja. Vielleicht machen die Leute sich falsche Vorstellungen.“ (SO 113)

Auf diese Weise relativiert Ledig das Beharren der Kompanie auf den Durchbruch: Es wird angedeutet, dass die Männer sich so entscheiden, weil sie darin eine bessere Option sehen als in der Gefangenschaft, die nach der Propaganda noch wahrscheinlicher direkt in den Tod führt. Da Ledig darauf verzichtet, seinen Deserteuren ideologische, politische oder ethische Motive zuzuschreiben, verwehrt er sich auch in dieser Beziehung Sinn-

 Ahrens (2001), 170.  Neitzel/Welzer (2011), 337– 339.

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5 Formen der Dienstentziehung

stiftungsangeboten. Die Soldaten, die sich dem Dienst entziehen, werden ebenfalls auf ihre nackte Existenz reduziert; höhere Ideale sind in der Extremsituation bedeutungslos. Dies erklärt bis zu einem gewissen Grad die positive Aufnahme des Romans bei seiner Erstveröffentlichung trotz der intensiven Behandlung des gesellschaftlich heiklen Themas Fahnenflucht. Ledigs Darstellung der Deserteure verhindert keine Interpretation im Sinne der damaligen gesellschaftlichen Meinung, die – nach wie vor stark von der nationalsozialistischen Kriminalisierung geprägt – die Fahnenflucht weiterhin verurteilte und die Deserteure als Feiglinge und Verräter totschwieg. Eine genauere Betrachtung der Reaktionen der Kritik auf die entsprechenden Passagen des Romans zeigt dies sehr deutlich. Wenn konstatiert wird, dass die Deserteure „das Unheldische, die Kette der Fehlleistungen“ repräsentieren,⁴⁰ findet darin eine Haltung Ausdruck, die noch stark von einer „Ideologie des Kampfes“⁴¹, wenn nicht gar von NS-Ideologie beeinflusst ist. Ledig unterstützt eine solche Lesart zwar nicht, lässt sie in der Anlage der Beweggründe für die Wehrdienstentziehung aber durchaus zu. Ledigs Reduktion der Motive der Deserteure in Die Stalinorgel auf den reinen Überlebenswillen hatte aber auch Folgen für die Rezeption bei der Wiederveröffentlichung, nun jedoch mit umgekehrtem Effekt: Sorgte sie bei der Erstveröffentlichung noch für eine positive Aufnahme, weil keine politische Aussage damit verbunden war, wirkt sich dies nun negativ aus. Die öffentliche Meinung hat sich seit den 1980er Jahren stark gewandelt, sodass Desertion heute kein Tabuthema mehr ist, sondern verstärkt im Kontext des Widerstands gegen das Regime betrachtet wird.⁴² Da die Deserteure bei Ledig jedoch weder ideologisch oder politisch motiviert handeln noch aus pazifistischen Gründen, fällt eine Anknüpfung an diesen aktuellen Erinnerungsrahmen schwer. Im Feldgericht und in der Erschießung des Feldwebels gipfelt Ledigs Behandlung des Themas in Die Stalinorgel. Die Gewaltdarstellung gewinnt hier eine zusätzliche Facette, indem die institutionelle Gewalt, die das Militär auf seine Soldaten ausübt, nun einen Höhepunkt erreicht. Darüber hinaus verlässt Ledig zu einem gewissen Grad die neutrale Position, die er sonst einnimmt, indem die dargestellte Gewalt nicht mehr anonym ist: Er beschreibt mit der Wehrmachtsjustiz eine Institution, die sich – wie bereits erläutert – von den vergleichbaren Einrichtungen der anderen Kriegsteilnehmer deutlich abhob. Die Darstellung des Verfahrens (SO 138 – 149) lässt einige Charakteristika aufscheinen, die zeigen, wie  Schonauer (1955).  Kraft (1994), 3.  Und zwar nicht erst seit der Bundestag 2002 die Urteile der Militärgerichte aufgehoben und so die Deserteure rehabilitiert hat. Dies schloss jedoch die Urteile wegen Kriegsverrats aus; diese wurden erst 2009 aufgehoben.

5.2 Fahnenflucht

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sehr die Militärrichter dazu tendierten, die NS-Ideologie und deren ohnehin nicht rechtsstaatlichen Grundlagen noch strenger zu Ungunsten der Angeklagten auszulegen. Kraft spricht in diesem Sinne von einer „Farce einer Gerichtsverhandlung“, wobei Ledig, wie zu zeigen sein wird, in seiner Darstellung nicht übertreibt, sondern historisch sehr akkurat arbeitet. Der Gerichtsoffizier ist an Wahrheitsfindung offensichtlich nicht interessiert; als Bürokrat kümmert er sich nur um Vorschriften und Befehle. „Was zwischen den Zeilen stand, ging ihn nichts an“ (SO 139). Dass es bei seinem Urteil nur darum geht, ein abschreckendes Exempel zu statuieren, ohne dass die Führung einen konkreten Fall im Auge hätte (SO 189), ist ihm wohl dennoch bewusst, aber er beruhigt sich durch den ,Befehlsnotstand‘ (SO 139).⁴³ Einzelfälle und strafmildernde Umstände spielen für ihn ebenfalls keine Rolle: „Mitleid? Davon stand nichts in den Vorschriften“ (SO 143). Ledig zeichnet somit das stimmige Bild eines „Furchtbaren Juristen“, eines jener „gesichtslosen Schatten, […] Sekretäre der Macht, die alles zu begründen vermögen.“⁴⁴ Auch den Anwesenden ist das Naturell des Richters bewusst, so dem Rittmeister, der auch ein Verfahren gegen sich fürchtet, weil er Fahrzeuge in Brand gesteckt hat: „Diese Gerechtigkeit da vor ihm lechzte nach solchen Fällen. Sie wusste nichts von Angst. Nichts von gewissen Erniedrigungen“ (SO 145). Der Junge erhält zwar im Rittmeister pro forma einen Verteidiger; diesem wird aber praktisch untersagt einzugreifen. Dies deckt sich mit den Untersuchungen von Messerschmidt und Wüllner: Zwar durfte der Angeklagte prinzipiell einen Verteidiger wählen, wenn die Todesstrafe drohte; wenn es der Bewegungskrieg erforderte, konnte davon aber abgesehen werden. Messerschmidt und Wüllner verweisen darauf, dass selbst ehemalige Wehrmachtrichter wie Erich Schwinge bemerkt haben, dass in den meisten Prozessen kein Verteidiger zugegen war bzw. häufig kein Verteidiger bestellt wurde, obwohl dies angezeigt war; außerdem dominierte zumeist der Jurist als Fachmann gegenüber den Laienbeisitzern den Prozess.⁴⁵ Die fehlende Rechtsstaatlichkeit der NS-Justiz klingt in Ledigs Darstellung also ebenso an wie die völkische Rassenideologie, wenn der Oberst den Jungen beschimpft: „Wissen Sie, was Sie sind? Ein widerliches Produkt Ihrer Mutter!“ (SO

 Vgl. Kemper (2008), 136.  Stolleis, Michael: Furchtbare Juristen. In: François, Etienne; Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. 2., durchgesehene Aufl. München 2002, 537. Dass Ledig dieses Thema besonders beschäftigte, nicht zuletzt wohl auch wegen seiner eigenen Erfahrung mit der Militärjustiz, sollte sich 1958 an seinem Stück Der Staatsanwalt zeigen, das sich bereits vor Wolfgang Staudtkes Film Rosen für den Staatsanwalt (1959) kritisch damit auseinandersetzt, wie viele NS-Juristen nach dem Krieg weiter in ihren Berufen tätig waren und Karriere machten.  Messerschmidt/Wüllner (1987), 41, 44.

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5 Formen der Dienstentziehung

146) Auch hierin ist Ledig um Authentizität bemüht und bleibt nah an den historischen Fakten. Wie Messerschmidt und Wüllner gezeigt haben, spielten die Motive für die Fahnenflucht bei der Urteilsfindung der Wehrmachtsjustiz nur in den seltensten Fällen eine Rolle. Stattdessen wurde häufig formelhaft mit „Wehrkraftzersetzung“, „Erhaltung der Manneszucht“ und dem Verdikt des „minderwertigen Elements“ bzw. des „Wehrmachts-“ oder „Volksschädlings“ argumentiert, um ein Todesurteil zu rechtfertigen.⁴⁶ In der Beschimpfung des Obersts klingen diese Anklagen mit an. Da die Soldaten ihren Eid auf Hitler ablegten und dieser als Führer den Volkswillen formulierte, war die Fahnenflucht nicht nur Treuebruch gegenüber dem Führer, sondern auch gegen die Volksgemeinschaft. Der „Wehrmachtsschädling“ war somit auch ein „Volksschädling“, dessen Erschießung Deutschland von einem vermeintlich minderwertigen Subjekt befreite. So arbeiteten Ideologie und Wehrmachtsjustiz Hand in Hand.⁴⁷ Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Junge nicht wie anfangs vom Oberst angedeutet (SO 144) zu einer Strafkompanie abkommandiert,⁴⁸ sondern zum Tode verurteilt wird, auch wenn sich Hitler bei jugendlicher Unerfahrenheit gegen die Todesstrafe aussprach. Dass der Raum „wie eine Hinrichtungsstätte“ wirkt (SO 143), nimmt das kommende Urteil bereits vorweg. Ledig selbst kannte die Wehrmachtsjustiz und ihren Strafkatalog aus eigener Erfahrung: „Als einziger Überlebender eines Stoßtrupps, der (so Ledig) infolge der Gleichgültigkeit eines Majors aufgerieben wurde, geriet er in Streitigkeit mit Vorgesetzten – was ihm für die Verbreitung von Hetzreden den Aufenthalt in einer Strafkompanie einbrachte.“⁴⁹

 Vgl. ebd., 93 f.  Vgl. Haase (1990), 148 – 150.  Eine Versetzung in eine Strafeinheit oder ein Bewährungsbataillon stellte zwar zunächst eine mildere Strafe dar, es muss hier aber darauf hingewiesen werden, dass diese Versetzung de facto auf lange Sicht häufig ein Todesurteil bedeutete, da zum einen die Bewährungsbataillone an der Ostfront vor allem für besonders gefährliche Aufgaben wie Partisanenbekämpfung oder Stoßtrupps eingesetzt wurden, zum anderen weil Soldaten, die erst einmal im Strafsystem der Wehrmacht waren, dieses kaum wieder verlassen konnten – außer durch Selbstverstümmelung oder Desertion, was bei Misserfolg wiederum Strafverschärfung bis hin zur Todesstrafe nach sich zog. Vgl. hierzu Hennicke, Otto; Wüllner, Fritz: Über die barbarischen Vollstreckungs-Methoden von Wehrmacht und Justiz im Zweiten Weltkrieg. In: Wette, Wolfram (Hg.): Deserteure der Wehrmacht. Feiglinge – Opfer – Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels. Essen 1995, 74– 94. Eine literarische Ausnahme bildet Rolf Steiner, der Protagonist von Willi Heinrichs Das geduldige Fleisch, der aus einer Bewährungseinheit an die Front zurückkehrt, wenn auch degradiert; vgl. Heinrich, Willi: Das geduldige Fleisch. Stuttgart, 1955, 24.  Radvan (2000), 217.

5.2 Fahnenflucht

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Kraft geht nur kurz auf das Verfahren ein, wenn er erwähnt, dass in Die Stalinorgel die „Farce einer Gerichtsverhandlung“ dargestellt wird.⁵⁰ Auch wenn er den Roman nicht weiter behandelt, betont seine Feststellung doch, dass Ledig die Natur dieser Verfahren, die aller Rechtsstaatlichkeit entbehrten, genau einfängt. Zwar wirkt das Verfahren äußerst kurz, dies ist aber vor allem der Tatsache geschuldet, dass Ledig es aus der Sicht des Rittmeisters schildert, der zwischenzeitlich den Raum verlässt. Die Raffung des Geschehens sorgt nicht nur dafür, dass das Tempo der Erzählung hoch bleibt, sondern unterstreicht ein zentrales Merkmal der deutschen Militärjustiz: „Kriegsjustiz war Schnelljustiz.“⁵¹ Die Zusammensetzung des Gerichts aus drei Richtern – einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern – entspricht ebenso den Tatsachen, wie Entwürdigungen und Beschimpfungen der Angeklagten durch Wehrmachtrichter verbürgt sind.⁵² Durch Herabsetzung des Angeklagten wurde auch die Nähe der Wehrmachtsjustiz zur NS-Ideologie hervorgehoben: So wurde noch einmal unterstrichen, dass es sich bei den Deserteuren und „Wehrkraftzersetzern“ um minderwertige Subjekte und Volksschädlinge handle, derer sich die Volksgemeinschaft entledigen müsse.⁵³ Eine abschreckende oder gar humoristische Übertreibung kann bei Ledigs Darstellung nicht festgestellt werden, weshalb der Kritik, die das Verfahren als „gespenstisch unwirkliches Kriegsgericht“⁵⁴ bewertete bzw. „karikaturistische Züge“⁵⁵ entdecken wollte, deutlich widersprochen werden muss. Stattdessen ist festzuhalten, dass Ledig das Verfahren sehr authentisch wiedergibt, auch wenn er es stark strafft, um sein Erzähltempo nicht zu verlieren. Ein wenig anders verhält es sich mit der anschließenden Erschießung des Feldwebels durch den Rittmeister. Ledig weicht in der Darstellung deutlich vom üblichen Procedere ab. Für gewöhnlich wurde von mehreren Soldaten geschossen, von denen einige Platzpatronen in ihren Waffen hatte, auch wenn die Schützen den Unterschied in der Regel bemerkten: „Man hat denen gesagt, es hat ja nicht jeder eine scharfe Patrone, nur ein paar haben scharfe Munition. Also kann jeder sich sagen, ich hab ja mit Platzpatronen geschossen. Obwohl, wer Karabiner schießen kann, der merkt das am Rückschlag.“⁵⁶ Ledig hebelt diese psychologische Sicherung aus, indem der Rittmeister ein Ein-Mann-Erschie-

 Kraft (1994), 125.  Haase, Norbert: Deutsche Deserteure. Berlin 1987, 39.  Vgl. ebd., 39 f.  Messerschmidt/Wüllner (1987), 93 f.  Noé (1955), 299.  Baader, Karl-Ludwig: Auf Augenhöhe mit dem Tod. Späte Wiederentdeckung: Gert Ledigs Kriegsroman „Stalinorgel“. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 14.11. 2000.  Haase (1987), 50.

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5 Formen der Dienstentziehung

ßungskommando bilden muss. Zunächst potenziert er so den moralischen Druck, dem der Rittmeister schließlich ebenso wenig gewachsen ist wie dem institutionellen: Den Feldwebel nicht zu erschießen ist keine Option, aber er verliert den Verstand darüber: „‚Ein Bad‘, flüsterte er. ‚Ein Bad nehmen!‘ schrie er plötzlich und kehrte mit diesen Worten nie wieder in die Wirklichkeit zurück. Bis zu seinem Tode hieß es, er sei im Trommelfeuer irrsinnig geworden“ (SO 199). Hier zeigt sich auch, dass Traumatisierungen nicht auf die Opfer von Gewalt beschränkt sind, sondern durchaus auch bei den Tätern auftreten können.⁵⁷ Außerdem macht Ledig in dieser Darstellung klar, dass es sich in seiner Sicht um obrigkeitlich angeordneten Mord handelt,⁵⁸ indem er der eigentlichen Exekution den institutionellen Rahmen der historischen Erschießungen nimmt. Ledig vereinfacht an dieser Stelle also bewusst, um Kritik am Unrechtssystem der Wehrmachtsjustiz zu üben. Gleichzeitig greift er so ein System an, das vor allem auf Abschreckung gebaut war, um die sogenannte Manneszucht zu erhalten: „Das Wort ‚Manneszucht‘ ersetzte schon ein paar Jahre vor Kriegsbeginn in den Schriften der Rechtslehrer, die sich mit der Militärjustiz beschäftigten, den Disziplin-Begriff.“⁵⁹ Wer sich durch Desertion, unerlaubte Entfernung oder Selbstverstümmelung dem Dienst zu entziehen suchte, wurde als Gefahr für die Manneszucht gesehen und erfüllte somit auch den Tatbestand der Wehrkraftzersetzung. Um die Manneszucht zu erhalten, wurde massiv auf Abschreckung gesetzt: Todesurteile waren zu vollstrecken, wenn die Mannszucht es erfordert. Dies wird vor allem bei gespannter Kampflage, Auftreten von Zersetzungserscheinungen größeren Umfangs oder wegen der besonderen Gefährlichkeit oder Schimpflichkeit des Einzelfalles oder der asozialen schwer kriminellen Persönlichkeit des Verurteilten in Betracht kommen. In diesen klaren Fällen ist die Vorlage von Gnadengesuchen […] untunlich, da bei der damit verbundenen Verzögerung der Entscheidung ein gut Teil der abschreckenden Wirkung verloren geht.⁶⁰

Diese unmenschliche Abschreckungspraxis wird von Ledig ebenfalls deutlich angeprangert, indem er deutlich macht, dass es für die Erschießung des Feldwebels keine rechtliche Grundlage gibt. Der Major spricht es dem Rittmeister

 Vgl. hierzu Huber (2003), 40 f.  Diese Sicht wurde teils auch von den Mitgliedern der Erschießungskommandos geteilt; vgl. hierzu Goltermann (2009), 122.  Wüllner, Fritz; Ausländer, Fietje: Aussonderung und Ausmerzung im Dienste der „Manneszucht“. Militärjustiz unter dem Hakenkreuz. In: Ausländer, Fietje (Hg.): Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus. Bremen 1990, 86.  Anweisungen des Oberkommandos des Heeres vom 17.7.1944, zitiert nach Wüllner/Ausländer (1990), 87.

5.2 Fahnenflucht

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gegenüber offen an: „Die Armee wollte ein Exempel statuieren. […] Man wollte die Truppe durch ein abschreckendes Beispiel warnen“ (SO 189). An wem dieses Exempel statuiert wird, ist dabei nebensächlich, denn es kommt nur auf die Bekanntmachung an (SO 190). Neben der Menschenverachtung, die hier kritisiert wird, spielt diese Passage auch in den Bereich der reduzierten Identität hinein: Auch im Tod ist der Soldat im Krieg auf eine militärische Funktion beschränkt; durch seine Erschießung tritt der Feldwebel in einen neuen Funktionszusammenhang – er ist nun nicht länger Feldwebel, sondern exekutierter Deserteur. Auch wenn die NS-Ideologie nach dem Krieg offiziell keine Rolle mehr bei der Bewertung der Deserteure spielte, so hing Letzeren doch weiter das Verdikt der Feigheit an, das auch der Gerichtsoffizier ausspricht. Angesichts der Tatsache, dass sich die deutschen Landser, wie bereits gezeigt, nicht mehr über klassische militärische Werte wie Heldentum, Landesverteidigung oder Ähnliches identifizieren konnten, sondern nur mehr über ihre Kameradschaft und Pflichterfüllung, wog dieser Vorwurf natürlich schwer. Ledigs Darstellung unterstützt dieses Urteil zwar nicht, widerspricht ihm aber auch nicht dezidiert. Sein Verdienst liegt vielmehr darin, in seiner Beschreibung des Kriegsgerichts bereits einen Beitrag zur Erinnerungskultur geleistet zu haben. Während in der Gesellschaft der 1950er Jahre die Deserteure in der Regel noch sehr negativ gesehen wurden, relativiert Ledig mit seiner Darstellung das Bild einer sauberen Wehrmachtsjustiz und rückt diese im gleichen Maße an die NS-Ideologie heran, wie er sie von allen Prinzipien des Rechtsstaats entfernt. Gleichzeitig unterläuft er die gängigen Charakterisierungen für Deserteure, indem er den Soldaten, die sich dem Dienst auf die eine oder andere Weise entziehen, ausschließlich persönliche Gründe für ihr Handeln zuschreibt. Zwar widerspricht er somit einer negativ wertenden Lesart nicht explizit; der Tod des Gerichtsoffiziers und die Tatsache, dass der Rittmeister über die Erschießung wahnsinnig wird, weisen jedoch deutlich in diese Richtung, zumal Ledig die Soldaten durch die rein persönlichen Beweggründe bis zu einem gewissen Grad re-individualisiert. Die verschiedenen Möglichkeiten zur Dienstentziehung erscheinen so als einzige Möglichkeit, dem Krieg mit seiner Tendenz zur Negation des Individuums zu begegnen und ein Stück Individualität und Handlungsautonomie zurückzugewinnen. Damit vermeidet Ledig sowohl eine Deutung seiner Deserteure als ängstliche Verräter, wie sie bei der Erstveröffentlichung wahrscheinlich war, als auch eine heutzutage wahrscheinliche pauschale Glorifizierung, da der Entfernung von der Truppe eben keine politischen oder ideologischen Überlegungen zugrunde liegen. Er verweigert auf diese Weise die gängigen unzulässigen Simplifizierungen und bildet stattdessen die häufig wenig

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5 Formen der Dienstentziehung

beachtete Wirklichkeit ab: Die meisten Desertionen waren in der Tat persönlich motiviert, nicht politisch oder ethisch.⁶¹

5.3 Selbstverstümmelung und Suizid 5.3.1 Hintergründe Die Selbstverstümmelung unterscheidet sich von der Desertion bzw. unerlaubten Entfernung darin, dass man sich dem Dienst in diesem Fall durch eine vorgetäuschte oder selbst beigebrachte Krankheit bzw. Verletzung entzieht. Meistens war allerdings nur ein längerer Lazarett- bzw. Heimataufenthalt zur erreichen. Die meisten Selbstverstümmelungen wurden so von Soldaten vorgenommen, die nach einem Aufenthalt in der Heimat oder in einem Lazarett gerade erst wieder an die Front gekommen waren oder noch auf dem Weg dorthin waren.⁶² Selten war ein einzelnes Motiv ausschlaggebend: „Zwar schien die Sorge um das eigene Leben in der Mehrzahl der Fälle der entscheidende Beweggrund gewesen zu sein, aber bei der Ausführung der Tat flossen andere Ursachen mit ein: Strapazen und körperliche Beschwerden, kameradschaftliche Schwierigkeiten, mißliche häusliche Verhältnisse, Heimweh usw.“⁶³ Wer im Krieg der Selbstverstümmelung überführt wurde, dem drohte auf deutscher Seite ähnlich wie bei der Desertion eine Verurteilung wegen Wehrkraftzersetzung, in der Regel (außer in minder schweren Fällen) zum Tode.⁶⁴ Dies galt nicht nur für den Fall, dass man sich selbst dem Dienst entzog, sondern auch wenn man andere dienstuntauglich machte.⁶⁵ Kaschierte Hinweise zur Selbstverstümmelung erhielten die deutschen Soldaten auch vom Gegner, in Form von Broschüren, die massenhaft über besetzten Gebieten bzw. über der Front abgeworfen wurden, so z. B. 1943 in den Westgebieten die Sportvorschrift für die Marine oder im Winter 1941/42 ein Kleiner ballistischer Wegweiser an der Ostfront: Sie enthielten nicht nur Anleitungen, wie die Symptome einzelner Krankheiten herbeizuführen sind, sondern gaben auch Ratschläge, wie man dem Arzt gegenüber

 Haase (1990), 142.  Seidler (1977), 264; vgl. auch Messerschmidt/Wüllner (1987), 152 f.  Seidler (1977), 265.  Zu einigen Fallbeispielen, die auch illustrieren, wie schwer besondere Umstände geltend gemacht werden konnten, die eine Bewertung als minder schwer gerechtfertigt hätten, vgl. Messerschmidt/Wüllner (1987), 149 – 154.  Seidler (1977), 233.

5.3 Selbstverstümmelung und Suizid

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überzeugend auftritt oder wie man Rezepte fälscht.⁶⁶ Der praktische Nutzen der Broschüren darf allerdings bezweifelt werden, da die zuständigen Sanitätsoffiziere ebenfalls darüber verfügten. „Die häufigste Art vorgetäuschter Unfallverletzungen war der Knochenbruch. Er konnte nur mit Hilfe andere Personen erzielt werden. […] Zu den beliebtesten Hautverletzungen zählte die Herbeiführung von Entzündungen und Geschwüren durch Einspritzungen oder Verätzungen.“⁶⁷ Häufiger noch kamen selbst beigebrachte Nahschüsse vor, obwohl diese besonders leicht zu erkennen waren: Zum einen hatten sie charakteristische Wundränder, zum anderen waren es häufig relativ ungefährliche Durchschüsse des linken Arms, der linken Hand oder des linken Fußes. Allerdings kam solchen Verletzungen gerade während Kampfhandlungen nicht so große Aufmerksamkeit zu, sodass man auch in dieser Hinsicht von einer großen Zahl unentdeckter Versuche ausgehen kann. Außer dem großen Zeitaufwand, den eine Fixierung der Beweisstücke bedeutete⁶⁸ und der viele Ärzte abschreckte, profitierten viele Selbstverstümmler auch vom Mitgefühl der Ärzte. Eine solche Situation beschreibt etwa Peter Bamm in seinem Roman Die unsichtbare Flagge (s.u.).⁶⁹ Im Kontext der Selbstverstümmelung ist schließlich auch der Suizid zu erwähnen, der einen letzten und endgültigen Ausweg aus der Kriegssituation darstellte. Kraft erwähnt, dass Selbstmord ebenfalls unter Wehrkraftzersetzung fiel und entsprechend geahndet wurde: „[B]ei ‚erfolgreichem‘ Vollzug des Suizids wurden nachträglich die Ehrenrechte aberkannt und damit die Versorgungsansprüche der Hinterbliebenen gestrichen“.⁷⁰ Trotz dieser ähnlichen militärstrafrechtlichen Einordnung unterscheiden sich die persönlichen Prämissen jedoch deutlich, nicht zuletzt, weil die Selbstverstümmelung ja gerade darauf abzielt, den Krieg zu überleben. Der Selbstmord dagegen ist in der Regel Ausdruck der äußersten Verzweiflung, gleichzeitig aber auch extremstes Mittel des Einzelnen, um die Kontrolle über eine unkontrollierbare Situation (sowie verlorene Individualität) zurückzugewinnen.

 Ebd., 236 – 241.  Ebd., 248 f.  In unklaren Verdachtsfällen sollte die betroffene Stelle vom Arzt ausgeschnitten [!] und in Formalin fixiert werden, um sie zur Untersuchung ans Institut für wehrgerichtliche Medizin der Militärärztlichen Akademie in Berlin zu schicken; vgl. Seidler (1977), 256.  Bamm, Peter: Die unsichtbare Flagge. Ein Bericht. München 1952, 248 – 250.  Kraft (1994), 114. Den prominentesten Fall einer Dienstentziehung durch Selbstmord sehen Messerschmidt/Wüllner in Adolf Hitler, vgl. Messerschmidt/Wüllner (1987), 98.

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5 Formen der Dienstentziehung

5.3.2 Literarische Behandlung Da es sich bei der Selbstverstümmelung angesichts der angeführten Zahlen keineswegs um Einzelfälle, sondern vielmehr um ein relativ gängiges Phänomen handelte, überrascht es nicht, dass sich solche Handlungen immer wieder in den deutschen Romanen zum Zweiten Weltkrieg finden. Kraft setzt sich damit kurz auseinander und erwähnt, dass Suizide in Bamms Die unsichtbare Flagge und Wolfgang Otts Haie und kleine Fische beschrieben sind;⁷¹ bei Ersterem findet sich außerdem der versuchte Selbstmord eines jungen Soldaten, dem zuvor beide Unterarme amputiert werden mussten.⁷² Untersucht man die Auseinandersetzungen mit diesem Thema, so ist – wie bei der Beschäftigung mit der Behandlung der Deserteure in der Literatur – gerade in Bezug auf die „Antikriegsliteratur“ die Frage zentral, ob die Darstellung dieser Handlungen den kriegskritischen Ansatz stützt oder ob sich hier eine unterschwellige Affinität zur „Ideologie des Kampfes“ findet, die „moralisch-distanzierte Reflexion vermissen“ lässt. Eine genaue Untersuchung der Darstellung von Selbstverstümmelung und Suizid in der deutschen Nachkriegsliteratur liegt noch nicht vor und stellt sicherlich ein Desiderat dar; beispielhaft seien an dieser Stelle nur die betreffenden Passagen bei Peter Bamm erläutert: Bei Bamm beginnt die Schilderung einer Selbstverstümmelung mit einer kurzen Notiz, dass sich die Handdurchschüsse in seiner Division häufen, auch weil die Russen Flugblätter abwerfen, in denen Anleitungen gegeben werden, wie dabei vorzugehen ist, damit man den Sanitätsoffizieren nicht auffällt.⁷³ Es folgt die Beschreibung eines jungen Soldaten, der mit durchschossener Hand auf den Verbandsplatz kommt und dessen Wunde vom Erzähler sofort als Selbstverstümmelung identifiziert und auf eine Traumatisierung zurückgeführt wird: „Es war offensichtlich, daß er in seiner Verzweiflung über die Hölle, in die hineingeraten war, einen seelischen Kurzschluss bekommen hatte“.⁷⁴ Nach kurzer Verständigung mit seinem Team entscheidet man sich für eine – wegen der Eindeutigkeit der Verletzung – lebensrettende Operation: „Ich entfernte alle

 Kraft (1994), 114 f., 181 (Anm. 494).  Bamm (1952), 56.  Ebd., 248 f.; Bamms Erzähler betont hier, dass es jedoch kaum möglich sei, sich mit der eigenen Waffe so zu verletzen, dass es dem Gerichtsmediziner verborgen bleibt. Es sei hier noch einmal auf Seidler verwiesen, der feststellt, dass die Chancen bei guter Vorbereitung ansonsten relativ gut standen, nicht belangt zu werden, selbst wenn Verdachtsmomente aufkamen; vgl. Seidler (1977), 255.  Bamm (1952), 249.

5.3 Selbstverstümmelung und Suizid

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gerichtsmedizinischen Beweismittel auf die einzig zuverlässige Art, nämlich operativ. Es wurde eine ziemlich große Wunde.“⁷⁵ Die Selbstverstümmelung weist hier nicht direkt auf den Wahnsinn des Krieges hin, sondern dient dem Erzähler dazu – wie es der Grundtenor des Buches ist –, die guten, ritterlichen Soldaten bzw. hier insbesondere die Mediziner von den „Anderen“, den Nationalsozialisten, abzugrenzen. Die operative Entfernung der inkriminierenden Wunde stellt somit zwar einen Akt des Widerstands gegen das Regime dar, ist aber im Lichte dieser fragwürdigen Dichotomie zu sehen, die der Legende einer sauberen Wehrmacht und Wehrmachtsmedizin folgt. „Für den Sanitätsoffizier unter der ‚unsichtbaren Flagge‘ der Humanität konnte unbekümmert deutsches Heldentum beansprucht werden“; dieses wird dann wiederum mit dem Arztberuf legitimiert, da der Arzt im Krieg für Freund und Feind zum Skalpell greife.⁷⁶ Die Behandlung der selbst beigebrachten Wunde entspringt somit einer Haltung, die nicht nur humanistischen Idealen folgte, sondern durchaus auch alten Vorstellungen von Ritterlichkeit und Heldentum verhaftet war. Der beschriebene Selbstmord ist ebenfalls vor diesem Hintergrund zu sehen. Ein mit dem Erzähler befreundeter Major erschießt sich, nachdem er im Zuge einer anderen Ermittlung von einem Untergebenen wegen regimekritischer Äußerungen denunziert wurde. Er reagiert mit dem Suizid auf die bevorstehende Degradierung und Versetzung zu einer Strafeinheit.⁷⁷ Der Major wird als kühn und furchtlos beschrieben, ist dekorierter Veteran des Ersten Weltkriegs und hat sich auch im Zweiten Weltkrieg bereits „soldatische Meriten erworben“.⁷⁸ Er personifiziert die alten soldatischen Ideale, die der Erzähler vertritt. Im Gegensatz dazu stehen die „Anderen“, deren Mittel Denunziation und eine unmenschliche Justiz sind. Die Opposition von guten Soldaten und bösen Anderen wird so noch einmal verstärkt; gleichzeitig findet eine weitere Distanzierung vom unsoldatischen Verhalten und den Verbrechen des Regimes statt.

 Ebd., 250.  Bahr, Ehrhard: Defensive Kompensation. Peter Bamm: „Die unsichtbare Flagge“ (1952) und Heinz G. Konsalik: „Der Arzt von Stalingrad“ (1956). In: Wagener, Hans (Hg.): Von Böll bis Buchheim. Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Amsterdam 1997, 201.  Bamm (1952), 76 – 78.  Ebd., 77.

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5 Formen der Dienstentziehung

5.3.3 Behandlung bei Ledig Während Desertionen und ihre Folgen in Die Stalinorgel eine überaus prominente Rolle spielen, werden Selbstverstümmelungen von Ledig nur am Rande thematisiert. Dass eine schwerwiegende Verletzung eine Möglichkeit darstellt, das Kampfgebiet zu verlassen, ist den Figuren gleichwohl bewusst. Ein Verwundeter, dem offenbar mindestens die Hand, vielleicht auch Teile des Arms weggeschossen wurden, realisiert sofort, dass der Krieg für ihn zu Ende ist, sofern er nur noch von der unmittelbaren Front bis in die Etappe kommt: „Der Verwundete kicherte. Er sagte: ‚Wenn ich von hier wegkomme, hab’ ich’s geschafft!‘ Er erklärte befriedigt: ‚Für immer!‘“ ⁷⁹ (SO 56) Auch der Major denkt, nachdem er die Nachricht vom Tod seiner Frau und seines Kindes erhalten hat, kurz über die Vortäuschung einer Krankheit nach. Er verwirft den Gedanken jedoch sofort entrüstet, weil er sich für wirklich krank hält (SO 29). Der Melder versucht kurze Zeit später, gegenüber dem Major ebenfalls eine Krankheit geltend zu machen, die es ihm unmöglich mache, eine Nachricht über die Höhe in die Stellung zu bringen. Der Major durchschaut die Lüge jedoch und jagt ihn davon (SO 35 f.); Konsequenzen hat dieser Vorfall nicht. Obwohl die Möglichkeit, dem Wahnsinn der Front durch Selbstverstümmelung zu entkommen, offensichtlich bekannt ist, findet sich im Roman nur eine Stelle, an der ein Soldat diese selbst herbeizuführen versucht. Dies mag aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass für eine erfolgreiche Selbstverstümmelung genaue Vorbereitungen und Planungen notwendig waren, deren Schilderung sich in den kurzen zeitlichen Rahmen sowie in das Tempo und die häufigen Schauplatzwechsel des Romans nur schwerlich hätte einarbeiten lassen. So ist auch die beschriebene Selbstverstümmlung nicht direkt dargestellt, sondern als zeitlich geraffter Rückblick des Erzählers, der in direkter Opposition zu den Überlegungen des Hauptmanns steht, der einen Handel mit Gott über sein Leben erwägt (s.u.): Ein Gefreiter hatte, ohne einen Gedanken an Gott zu verschwenden, mit den Fingernägeln so lange in der Erde gekratzt, bis die Haut an den Fingerkuppen in Fetzen hing, dann hatte er ruhig zugesehen, wie sich Fliegen und Mücken auf das rohe Fleisch setzten und gewisse Stoffe in seinen Körper brachten, die er zur Ausführung seines Planes benötigte. Einige Tage später war er mit geschwollenen Händen mit Fieber und anderen schwer erkennbaren Krankheitssymptomen zum Verbandsplatz gekommen. Dieser Gefreite hatte den einfachsten Weg eingeschlagen. Mit einer Beziehung zu Gott hatte er sich nicht abplagen müssen. Er hatte bereits seit zwanzig Jahren keine Kirche betreten. Später verspürte er kein Bedürfnis mehr danach, und Gott begegnete ihm ein zweites Mal nicht. (SO 10)

 Anders als ein großer Teils des sonstigen Lachens im Roman, ist dieses Kichern wohl ausnahmsweise als Zeichen einer Erleichterung und Befreiung aufzufassen.

5.3 Selbstverstümmelung und Suizid

129

Die Stelle findet sich am Anfang des Romans, fast im direkten Anschluss an die erschütternde Einstiegsszene (SO 7 f.). Nachdem mit der einleitenden Vernichtung des Obergefreiten bzw. seiner Leiche das Ausmaß der technischen Zerstörungsgewalt unmittelbar verdeutlicht wurde, findet sich darauffolgend ein Beispiel dafür, wie weit der Mensch geht, um dieser Situation zu entkommen. Ledig macht deutlich, dass es sich hierbei nicht um eine unüberlegte Tat handelt, da von einem „Plan“ die Rede ist. Auch wenn der Rückblick nicht weitergeht, so wird doch der Erfolg der Aktion angedeutet, wenn es heißt, dass die Krankheitssymptome schwer erkennbar waren. Somit ist es wahrscheinlich, dass der Gefreite nicht mit einem Verfahren zu rechnen hat; zumindest für gewisse Zeit dürfte er damit der Front durch Lazarettaufenthalt entkommen. Darauf, dass er eine Zukunft hat und folglich auch kein Todesurteil gegen ihn ausgesprochen wird, weist auch „später“ am Ende der Passage hin. In dieser Szene klingt auch schon das durchgängige Motiv der Abwesenheit Gottes bzw. einer ordnenden Macht an: Der Gefreite denkt nicht an Gott, d. h. er setzt sein Vertrauen nicht in eine höhere Macht, sondern hilft sich selbst. Dem Hauptmann kommt dieser Gedanke nicht, er baut stattdessen auf einen Handel mit Gott. Für sein Leben bietet er diesem eine Hand bzw. einen oder gar beide Füße (SO 9): Auch er hofft also auf eine Verstümmelung, wenn sie nur sein Leben rette.⁸⁰ Der Erzähler offenbart diese Überlegungen zwar nicht als sinnlos, leitet die Episode des Gefreiten aber doch so ein, dass seine Position klar wird: „Nach zehnjähriger Tätigkeit als Studienrat konnte er [der Hauptmann] nicht wissen, daß man zur Erfüllung einer solchen Bitte Gott gar nicht benötigte“ (SO 10). Selbstmorde werden von Ledig ebenfalls thematisiert: In Die Stalinorgel trifft Major Schnitzer über mehrere Seiten hinweg Vorbereitungen dafür, sich zu erschießen, unterlässt es aber schließlich (SO 167– 169), während in Vergeltung der Soldat, der Dessy Cheovski rettet, sich erschießt, als er die Schmerzen, die seine Verbrennungen verursachen, nicht mehr erträgt (V 164 f.). Beide Situationen werden von den Figuren als aussichtslos wahrgenommen, unterscheiden sich aber grundsätzlich: Der Soldat erschießt sich, um seinem unmenschlichen Leiden ein Ende zu machen. Schnitzer bereitet seinen Tod in Ruhe vor, da er beide Handlungsoptionen, die er noch hat – Durchbruch oder russische Gefangenschaft –, ebenfalls als Selbstmord ansieht (SO 167). Grundlegend für den Selbstmordgedanken ist aber sicherlich die Identitätskrise, die die Nachricht vom Tod seiner Familie auslöst; gleichzeitig tröstet ihn, dass er niemanden trauernd zurücklässt,  Dass etwa eine amputierte Hand nicht zwingend eine Befreiung vom Kriegsdienst bedeutete, zeigt allerdings das Beispiel des Leutnants in Vergeltung, der in Afrika die linke Hand verliert und dennoch weiter im Dienst ist – wenn auch in der Heimat und obwohl er sich selbst als „Krüppel“ charakterisiert; vgl. V 10, 46 und 151.

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5 Formen der Dienstentziehung

und implizit wohl auch, dass sein Selbstmord kein juristisches Nachspiel für seine Familie haben kann. Sein Lebenswille kehrt erst zurück, als die Russen die gegenüberliegende Stellung räumen und er mit den Resten seiner Einheit abziehen kann. Nun wird von Ledig auch angedeutet, dass er vorher nicht er selbst gewesen war: „Er ging den Graben lang. Sah erst jetzt, wo er sich befand. Nahm es auf. Eben noch, im Würgegriff der Angst, war der Graben nur ein wüster Erdriß gewesen“ (SO 176). Auch wenn Ledig den Themen Selbstverstümmelung und Selbstmord nicht viel Raum einräumt und die solcherart handelnden Figuren (am ehesten noch mit Ausnahme Major Schnitzers) nicht klar herausarbeitet, so greift er sie doch bewusst auf, da sie in das komplette Bild gehören, das er vom Krieg zeichnen möchte. Die Verzweiflung der Menschen und ihre Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, um der lebensfeindlichen und unmenschlichen Situation zu entkommen, finden in dieser Darstellung eine weitere extreme Ausprägung. Zumindest der Gefreite, der sich selbst verstümmelt, ist – auch wenn er in seiner Psyche oder Persönlichkeit nicht differenziert gestaltet ist – parallel zu den klarer konturierten Deserteuren in Die Stalinorgel zu betrachten. Seine Verzweiflung erschließt sich aus der Tat an sich sowie den potentiellen gesundheitlichen, vor allem aber auch juristischen Folgen. Ebenso wie die Deserteure illustriert er somit eine Alternative zum blinden Gehorsam, die direkt gegen den Wahnsinn des Krieges gerichtet ist.⁸¹ Allerdings sei darauf hingewiesen, dass auch hieraus keine politische Aussage im Sinne einer Regimekritik oder ein pazifistischer Impetus abzuleiten sind. Der nonkonformistische Akt ist hier lediglich das Aufbäumen des Individuums gegen eine Umwelt, die es in allen Facetten seiner Individualität zu vernichten trachtet, womit sich diese Darstellung der Selbstverstümmelung in ihrer Intention deutlich von anderen Behandlungen des Themas abhebt.Während bei Bamm die Selbstverstümmelung primär dazu dient, die hohen Ideale des Erzählers zu unterstreichen, und somit automatisch in die Nähe einer „Ideologie des Kampfes“ rückt, bleibt Ledig konsequent in seiner Ablehnung aller Sinnstiftung innerhalb des Krieges. Wie die Desertionen sind auch die Verletzungen der eigenen Person bis hin zum Selbstmord letzte Versuche, individuell zu handeln, letztes menschliches Aufbäumen in einer ausweglosen Situation. Eine politische oder ideologische Aussage ist damit zu keiner Zeit verbunden. Ledig bleibt bei seiner Beschreibung der verschiedenen Varianten der Dienstentziehung seiner neutral berichtenden Position treu und ist um eine möglichst authentische Darstellung bemüht. Dies betrifft vor allem die Motive, die hinter den Handlungen aller Beteiligten stehen. Er klagt die Soldaten, die sich

 Vgl. Kraft (1994), 1, 31.

5.3 Selbstverstümmelung und Suizid

131

unerlaubt entfernen oder sich selbst Verletzungen beibringen, nicht an und bezichtigt sie nicht der Feigheit; stattdessen schildert er nüchtern Dienstentziehungen, die vor allem anderen ein radikaler Akt von Individualität in einer entindividualisierten Umwelt sind. In der eigenmächtigen Entscheidung, sich nicht länger oder zumindest zeitweise nicht an diesem Krieg zu beteiligen, gewinnen die Soldaten, die auf ihre militärische Funktion reduziert sind und über keinerlei Handlungsmöglichkeiten verfügen, ihre Individualität und (Handlungs‐) Autonomie wenigstens teilweise zurück. Ledig steht damit in deutlichem Gegensatz zur öffentlichen Meinung der 1950er Jahre (und noch lange darüber hinaus), die in den Deserteuren Feiglinge und Vaterlandsverräter sah. Gleichzeitig geht er aber auch nicht so weit, jene Soldaten, die den Krieg für sich beenden, pauschal zu glorifizieren. Sie sind bei Ledig keine Widerstandskämpfer und Regimekritiker; sie handeln nicht politisch oder ideologisch motiviert, sondern haben allein persönliche Beweggründe. Er hält sich damit eng an die historische Tatsache, dass die weitaus meisten Desertionen derart motiviert waren. Gleichzeitig vermeidet er so auch in dieser Hinsicht die Möglichkeit sinnstiftender Prinzipien innerhalb der verkehrten Welt des Krieges. Indem er dieses in den 1950er Jahren heikle Thema überhaupt aufgreift, leistet er bereits einen Beitrag zur Erinnerungskultur, zumal er gegen die verbreitete Meinung argumentiert. Später erschwert die neutrale Haltung eine positive Aufnahme bei der Wiederveröffentlichung, da er trotz aller Ablehnung einer Ideologie des Kampfes nicht dezidiert für die Deserteure Stellung bezieht bzw. sie nicht als Widerstandskämpfer und Regimekritiker zeichnet. Klarer ist die Haltung gegenüber der Wehrmachtsjustiz, selbst wenn Ledig auch diesbezüglich bei einer nüchtern-distanzierten Darstellung bleibt. Aber schon allein die klare Offenlegung ihrer unmenschlichen Vorgehensweise und ideologischen Indoktrinierung ist als klare Wertung zu sehen, zumal der Autor selbst Opfer dieser rechtsstaatsfernen Justiz war. Indem Ledig beschreibt, wie die Wehrmachtrichter die NS-Ideologie umsetzten, d. h. Todesurteile gegen vermeintliche „Wehrmachts-“ und damit „Volksschädlinge“ aussprachen, bzw. wie die Wehrmachtsjustiz unter dem Deckmantel der „Erhaltung der Manneszucht“ konsequent Abschreckungszwecken diente, leistet er auch hierbei Erinnerungsarbeit. Man muss sich vor Augen führen, dass zur Entstehungszeit von Die Stalinorgel die meisten Wehrmachtrichter wieder bzw. noch in Amt und Würden waren und selbst die Historiographie ihres Faches betrieben. Trotz der scheinbar neutralen Erzählerposition darf in der Darstellung des Prozesses und der Erschießung des Feldwebels also ein deutliches Plädoyer gegen die Wehrmachtjustiz gesehen werden, das für die 1950er Jahre keinesfalls als selbstverständlich gelten kann.

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5 Formen der Dienstentziehung

Wie sehr die Sondergerichte der NS-Zeit Ledig beschäftigten, zeigt auch sein kurzes Stück Der Staatsanwalt (1958), in dem ein „Staatsanwalt als faschistischer Blutrichter entlarvt“ (DS 55) wird.⁸² Schon bevor etwa Wolfgang Staudte mit seinem Film Rosen für den Staatsanwalt 1959 oder später dann Rolf Hochhuth am Beispiel des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger die „furchtbaren Juristen“ ebenfalls aufgriffen, kritisierte Ledig also, dass viele derjenigen, die für die Sonderjustiz der NS-Zeit verantwortlich zeichneten, nach dem Krieg weiterhin im Amt geblieben waren und vielfach keinerlei Bewusstsein für das begangene Unrecht besaßen.

 Wann genau in der Nachkriegszeit die Handlung spielt, geht aus dem Text nicht hervor; die Anlehnung an den Fall der 1957 ermordeten Rosemarie Nitribitt spricht aber für eine entsprechende Datierung.

6 Traumata und Traumatisierungen Everyone knows that war can wreck the body, but we repeatedly forget that it can wreck the soul as well.¹

Während den Soldaten in Die Stalinorgel durch die Handlungsoption fight or flight Fluchtmöglichkeiten zur Verfügung stehen, gibt diese Alternativen für die Zivilisten in Vergeltung – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – nicht. Die Extremsituation führt daher zu einer immensen psychischen Belastung, die zentrale Züge von Traumata bzw. Posttraumatischen Belastungsstörungen (engl. post-traumatic stress disorder, PTSD²) trägt, wie sie seit den 1980er Jahren von der Traumapsychologie diskutiert werden. Es muss darauf hingewiesen werden, dass es problematisch ist, eine Diagnose wie PTSD auf eine Zeit zu übertragen, in der sie noch nicht etabliert oder wie heute definiert war – dies gilt für historiographische Untersuchungen ebenso wie für literaturwissenschaftliche Betrachtungen, bei denen die behandelten Texte älteren Datums sind als die psychologische Kategorie.³ Es kann daher hier nicht darum gehen, einzelnen Figuren Traumatisierungen zuzuschreiben, sondern vor allem darum, sichtbar zu machen, wie es Ledig gelingt, den Krieg in einer Weise darzustellen, die man heute als traumatisch bezeichnen würde. Dass einzelne seiner Figuren Anzeichen einer massiven psychischen Belastung zeigen, soll dabei aber ebenso wenig verschwiegen werden wie die Tatsache, dass einzelne Figuren in Ledigs Romanen Reaktionen auf die Kriegsgewalt zeigen, die auf Traumatisierung hindeuten; eine Diagnose kann und soll damit aber nicht verbunden sein. Im Folgenden wird zunächst anhand von Texten zum Bombenkrieg nachgezeichnet, wie eines der Traumata des Zweiten Weltkriegs Eingang in die deutschsprachige Literatur gefunden hat, um anschließend Ledigs Romane unter diesem Aspekt zu betrachten. Grundlegend ist hierbei die Untersuchung der Mittel, mit denen sowohl traumatische Erfahrungen als auch die daraus resultierenden Traumatisierungen versprachlicht bzw. literarisiert werden können, und welche Probleme sich dabei ergeben. Im Zentrum der Betrachtung steht somit nicht die originäre psychologische Beschäftigung mit Traumata, sondern ein interdisziplinärer Grenzbereich zwi-

 Shay (2002), 33.  Jonathan Shay weist zu Recht darauf hin, dass disorder bzw. „Störung“ eigentlich kein treffender Begriff ist, und bevorzugt stattdessen den Terminus psychological injury, gerade bei Veteranen, da er ihre Traumatisierungen als Kriegsverletzungen klassifiziert. Vgl. Shay (2002), 4.  Vgl. Goltermann (2009), 20 f. https://doi.org/10.1515/9783110657128-007

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6 Traumata und Traumatisierungen

schen Psychologie und Literaturwissenschaft. Traumaforschung ist längst keine rein psychologische Kategorie mehr, sondern wird fächerübergreifend aus vielen Richtungen angegangen. Zu ihrer Bearbeitung zieht die Psychologie inzwischen zahlreiche andere Fächer und deren Kenntnisse heran: Je präziser die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung erkannt und definiert werden, desto mehr scheinen sich die Grenzen unseres Verstehens zu verlagern – so daß schließlich auf die Psychoanalyse, die medizinisch orientierte Psychiatrie, die Soziologie, die Geschichtsschreibung und schließlich sogar die Literatur rekurriert wird, um die PTSD zu erklären und zu heilen oder um zu erklären, warum herkömmliche Erklärungen und Heilmethoden nicht länger zutreffen.⁴

Das 20. Jahrhundert war von so massiven (kollektiven) Traumata – vor allem dem Holocaust⁵ – geprägt, dass der Begriff sich von einer individuellen Diagnose gelöst hat und in die Geschichtsschreibung⁶ oder auch – wie in der vorliegenden Arbeit – in die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit einschlägigen literarischen Werken Einzug halten musste. Im letzteren Fall werden die Methoden und Formen untersucht, mittels derer sich die Literatur dieser Traumata annimmt – hier konkret der Kampftraumata des Zweiten Weltkriegs und der zivilen Traumata des Bombenkriegs. Des Weiteren sei angemerkt, dass Traumatisierung nicht per se mit einer Opferrolle verbunden ist und dass es sich beim Begriff Trauma nicht um eine moralische Kategorie handelt.⁷ Gerade bei der Beschäftigung mit dem Bombenkrieg ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass keine Aufrechnung betrieben werden soll, wenn hier von Traumatisierungen der deutschen Zivilbevölkerung die Rede ist. Eine moralische Wertung oder gar Entlastung wird damit nicht verknüpft.

 Caruth, Cathy: Trauma als historische Erfahrung: Die Vergangenheit einholen. In: Baer, Ulrich (Hg.): „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Frankfurt am Main 2000, 84.  „Der Holocaust wird heute als zentrales Ereignis des 20. Jahrhunderts begriffen, und diese Entwicklung ist eng verbunden mit dem Aufstieg des Traumabegriffs in die Position einer wichtigen Deutungskategorie für die Analyse gesellschaftlicher und kultureller Prozesse.“ Kansteiner, Wulf: Menschheitstrauma, Holocausttrauma, kulturelles Trauma: Eine kritische Genealogie der philosophischen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Traumaforschung seit 1945. In: Jaeger, Friedrich; Rüsen, Jörn (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3:Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar 2004, 109.  Vgl. Weigel, Sigrid: Télescopage im Unbewussten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur. In: Bronfen, Elisabeth (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln 1999, 52.  Vgl. Vees-Gulani (2003), 20.

6.1 Grundlagen

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6.1 Grundlagen Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10-WHO) definiert die posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1) wie folgt: Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z. B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten..⁸

In ähnlicher Weise bezeichnet Michaela Huber „extrem stressreiche äußere Ereignisse“ als Ausgangspunkte von Traumata; diese könnten in dem Moment eine Traumatisierung auslösen, da das Gehirn neben der „Überflutung mit aversiven Reizen“, die mangels Erfahrungswerten im Umgang mit einer solchen Situation die gängigen Bewältigungsmechanismen überfordern, eine „Annihilationsdrohung“ wahrnehme und der Betroffene zugleich nicht in der Lage sei, der Situation durch Kampf oder Flucht zu entfliehen (no fight, no flight).⁹ „Traumatische Reaktionen treten auf, wenn Handeln keinen Sinn mehr hat. Ist weder Widerstand noch Flucht möglich, ist das Selbstverteidigungssystem des Menschen überfordert und bricht im Chaos zusammen.“¹⁰ Das Gehirn reagiert mit freeze und fragment: Es kommt zu einer „Entfremdung vom Geschehen“, einer Art innerer Lähmung (freeze), während das Erlebnis so aufgebrochen und unterdrückt wird, dass es nicht mehr in seiner Gesamtheit erfahren wird und sich so auch einer späteren

 https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2020/ block-f40-f48.htm (zuletzt aufgerufen am 1.10. 2019).  Huber, Michaela (Hg.): Wege der Traumabehandlung. 3. Aufl. Paderborn 2006, 38 – 43.  Herman (2006), 54.

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6 Traumata und Traumatisierungen

Erinnerung versperrt (fragment).¹¹ „Zum Zeitpunkt seines Geschehens wird das Ereignis nicht vollkommen ins Gedächtnis eingelassen […]. Das Geschehene wird stattdessen erst später wirklich erfahren, und zwar dadurch, daß die traumatisierte Person erneut von ihm in Besitz genommen wird.“¹² Wulf Kansteiner weist aber darauf hin, dass solche Erinnerungen „nur in seltenen Fällen […] in einem Zustand der Dissoziation erlebt [werden]. Anders ausgedrückt: Die meisten Patienten sind sich der bedrängenden Erinnerungen wohl bewusst, auch wenn sie in Bezug auf manche der fraglichen Ereignisse unter Amnesie leiden mögen.“¹³ „Trauma“ bezeichnet also nicht die Reaktion auf eine Extremsituation, sondern die Extremsituation selbst – ein Erlebnis, das mittels des normalen menschlichen Erfahrungs- und Referenzrahmens nicht verarbeitet werden kann. Durch diese grundlegende Definition werden aber Ereignisse wie der Tod einer nahestehenden Person nicht abgedeckt, sodass sie folgendermaßen ausgebaut werden kann: The traumatic event has to be of considerable severity posing a threat to one’s life or that of others, involve actual death or serious injury or threaten one’s personal integrity or that of others. It can be either experienced or witnessed by the individual. The severity of the stressor is linked with the likelihood of developing PTSD so that the intensity of the event and the physical proximity to it can be predictive of the arising of later symptoms.¹⁴

Besonders schwere Traumatisierungen sind bei Ereignissen zu erwarten, die u. a. lange andauern, sich häufig wiederholen, das Opfer mit gravierenden Verletzungen zurücklassen, von ihm kaum zu verstehen sind, an denen es sich mitschuldig fühlt, bei denen es zu starken Dissoziationen kommt und bei denen niemand dem Opfer danach beisteht oder später mit ihm darüber spricht.¹⁵ Risikofaktoren sind somit Länge und Ausmaß der Erfahrung, subjektives Bedrohungsgefühl, andere damit verbundene Traumata, mangelnde soziale Unterstützung und mangelnde Anerkennung des Traumas durch andere.¹⁶ Die allgemeine Definition deutet bereits an, dass die Bandbreite der Erlebnisse, die potentiell traumatisch sein können, groß ist und von direkter zwischenmenschlicher Gewalt (z. B. Folter, Vergewaltigung, Krieg) über Unfälle und Naturkatastrophen, aber auch die Beobachtung gewaltsamer Tode bis hin zur

 Huber (2007), 43 f.  Caruth (2000), 85 (Hervorhebung im Original); vgl. auch Caruth, Cathy: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History. Baltimore MD, 1996, 59.  Kansteiner (2004), 121.  Vees-Gulani (2003), 26.  Vgl. Huber (2007), 75 – 82; vgl. auch Herman (1996), 54.  Vgl. Huber (2007), 83 – 86.

6.1 Grundlagen

137

Konfrontation mit den Folgen eines solchen Ereignisses (etwa bei Helfern wie Feuerwehrleuten oder Ärzten) reichen können. Es sei angemerkt, dass die genannten Faktoren in einem militärischen Kontext nur bedingt gelten. Für Soldaten – insbesondere für Frontsoldaten im Krieg – stellt extreme Gewalt keine Erfahrung dar, die außerhalb ihres normalen Referenzrahmens liegt, sondern ist vielmehr ein mehr oder weniger alltägliches Erlebnis. Dessen ungeachtet kann es auch bei dieser Personengruppe zu Traumatisierungen kommen. Jonathan Shay hat in seiner Arbeit mit Vietnamveteranen grundlegende Ursachen hierfür identifiziert, die später im Kontext der Betrachtung von Ledigs Darstellung der traumatischen Kriegssituation in Die Stalinorgel näher erläutert werden. Shay weist auch darauf hin, dass es in Deutschland sehr lange gedauert habe, um die Idee der Kampftraumata zu akzeptieren, während man in den USA viel schneller damit war. Erst die Übersetzung seiner Studie Achilles in Vietnam habe ein Bewusstsein für die Materie geschaffen. Nach den beiden Weltkriegen habe man versucht, die Veteranen durch Arbeit wieder einzugliedern und jeden noch so Beschädigten einer sinnvollen Beschäftigung zuzuführen. ¹⁷ Dass es in Deutschland viel weniger diagnostizierte Fälle gab als etwa in den USA, lag am lange vorherrschenden Glauben der Wissenschaft (nicht nur der deutschen), dass keine Neurose ohne körperliche Verletzung möglich sei, sondern in diesen Fällen eine anlagebedingte Minderwertigkeit vorliege. In Deutschland war eine solche Lesart besonders gefährlich; „Elemente aus der Degenerationslehre der Jahrhundertwende und eugenische Denkmuster gingen, wie in anderen westeuropäischen Ländern auch, in diese Debatte erkennbar ein.“¹⁸ Die deutsche Psychologie der Kriegs- und Nachkriegszeit diagnostizierte daher nur wenige Fälle, da der Trauma-Begriff (und auch der Gegenstand) noch nicht bekannt war, sondern nur die Neurose als vermeintliche Flucht in die Krankheit. Diese hätte aber gerade bei Zivilisten im Bombenkrieg keinen Sinn, da sie keinen Schutz biete:¹⁹ „Zwar hatten die Psychiater, vornehmlich in der letzten Kriegsphase, Menschen mit psychischen Störungen nach Fliegerangriffen behandelt. Gemessen an der Bevölkerungszahl in den Städten, war die Zahl der Betroffenen aber äußerst gering.“²⁰ Psychiater der Zeit begründeten dies damit, dass man keine Zeit habe, krank zu sein, wenn man ums Überleben kämpft. Die nationalistische Ideologie und die Angst vor dem Ruch der Minderwertigkeit dürften aber eine ebenso große Rolle gespielt haben.

   

Vgl. Shay (2002), 59. Goltermann (2010), 173. Ebd., 167. Ebd., 196.

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6 Traumata und Traumatisierungen

6.2 Unsagbarkeit vs. Drang zum Sprechen: Traumata in der Literatur Bevor untersucht werden kann, wie Ledig in seinen Romanen die Traumata des Zweiten Weltkriegs darstellt bzw. wie es ihm gelingt, den Krieg als eine traumatische Situation zu zeichnen, muss man sich bewusst machen, wie schwierig die Übertragung einer traumatischen Erfahrung in eine kohärente Erzählung ist, die dem Erlebten möglichst gerecht wird und es weder verharmlost noch bruchstückhaft wiedergibt. Beim Versuch, sich traumatischen Ereignissen literarisch zu nähern, stellt sich vor allem das Problem, dass es in deren Natur liegt, sich der Artikulation zunächst zu entziehen. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, dass die Erfahrung nicht sprachlich mitteilbar wäre, wie es Elaine Scarry für Schmerzen beschreibt,²¹ sondern darin, dass das Erlebte noch nicht tatsächlich verarbeitet ist und daher dem eigenen Wissen und somit auch der Erzählung nicht (komplett) verfügbar ist. Zusätzlich erschüttert die Beschädigung des Erfahrungsrahmens das Vertrauen in gewohnte Bezugssysteme: „Was fehlt, sind nicht einfach entsprechende Worte, sondern das Vertrauen in Sprache, in den Sinn von Sprache und Kommunikation“.²² Beschädigt wird also auch die Beziehung zum Umfeld, deren Wiederherstellung für die Bewältigung des Traumas ebenso zentral ist wie die Rekonstruktion der Erinnerung. Dennoch besteht beim Betroffenen der Drang, über das Erlebte zu sprechen. „Der Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen, ist die zentrale Dialektik des psychischen Traumas. Menschen, die ein Trauma überlebt haben, erzählen davon oft so gefühlsbetont, widersprüchlich und bruchstückhaft, daß sie unglaubwürdig wirken.“²³ Dies gilt für die mündliche Erzählung (etwa im privaten Umfeld oder aber auch im Rahmen einer Therapie) ebenso wie für die literarische Beschäftigung. Da es so schwer ist, von traumatischen Erlebnissen zu sprechen, kann es nicht verwundern, dass die meisten Berichte etwa über den Bombenkrieg nicht den Erwartungen (z. B. der Nachgeborenen wie W.G. Sebald²⁴) gerecht wurden: Die vorhandenen Erzählversuche, ob literarisch oder biographisch, weisen symptomatische Ausdrucksschwierigkeiten auf wie die Häufigkeit von Zitaten aus wenigen, immer gleichen

 Vgl. Scarry (1992), 11– 23.  Kopf, Martina: Trauma und Literatur. Das Nicht-Erzählbare erzählen – Asia Djebar und Yvonne Vera. Frankfurt am Main 2005, 40 – 43, hier 42.  Herman (2006), 9; vgl. auch Sebald (2001), 32 f.  Vgl. ebd.

6.2 Unsagbarkeit vs. Drang zum Sprechen: Traumata in der Literatur

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Quellen, Metaphern und Vergleichen, die übermäßige Verwendung von apokalyptischem Vokabular bzw. Bildern wie ‚Inferno‘ oder ‚Hölle‘. Auch wiederholen sich Habitus und Positionierung der Erzähler, die Topographie, die Auslassungen und Leerstellen. Auffällig ist außerdem das Mißlingen eigenständiger Symbolbildung. Es fehlt am originalen Ausdruck, daher das Reden in einer geliehenen Sprache, in Klischees.²⁵

Besonders schwer wiegt diese Problematik bei jenen Menschen, deren Stärke gerade dieser originale Ausdruck ist; Schriftsteller, die Erlebnisse wie die Luftangriffe literarisch verarbeiten wollen, stoßen daher auf doppelte Widerstände: zunächst innere der eigenen traumatisierten Psyche, dann solche, die von außen, von der als Gesamtheit traumatisierten Gesellschaft auf sie wirken.²⁶ Dieser doppelte Widerstand sorgt gleichzeitig für einen gesteigerten Anspruch an das Ergebnis, indem die Leser gerade hier eine treffende Beschreibung, d. h. eine gelungene Versprachlichung, erwarten. Besonders gut lässt sich diese Haltung an Sebalds Essay Luftkrieg und Literatur ablesen: Nicht die eigene Generation, wohl aber die nachfolgende erhofft sich von der Literatur nicht nur eine Schilderung der Ereignisse, sondern auch ein Deutungs-, wenn nicht gar ein „Bewältigungs“Angebot. Die Versprachlichung eines Traumas ist jedoch nicht unproblematisch, da bei der Konvertierung einer nichtsprachlichen Erfahrung in eine sprachliche Form Verluste drohen: Denn „eine solche Umwandlung des Traumas in narrative Erinnerung, welche die Verbalisierung, Wiedergabe und Integration der Geschichte in das individuelle und kollektive Wissen um die Vergangenheit ermöglichen würde, kann dazu führen, daß die der traumatischen Erinnerung wesentliche Genauigkeit und starke Wirkung verloren gehen.“²⁷ Martina Kopf hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass dennoch „an jede Aufarbeitung die Anforderung größtmöglicher Realitätstreue herangetragen wird“.²⁸ Aus dem scheinbar unvereinbaren Gegensatz von Realitätstreue und Fiktionalisierung in Verbindung mit dem „Anteil an Nichtsagbarem und Nichtdarstellbarem, der einer der Fakten ist, die Gewalt schafft“, leitet sie im Umkehrschluss ab, „dass jede Darstellung von Gewalt und Trauma notwendigerweise bis zu einem gewissen Grad Fiktion ist.“²⁹ Die Suche nach einer adäquaten sprachlichen Form wird somit  Heukenkamp (2001), 470.  So ist es z. B. zu erklären, dass Autoren, die nicht aus Deutschland kommen (etwa Harry Mulisch), sich wesentlich unbefangener literarisch mit dem Bombenkrieg auseinandersetzen konnten, auch wenn sie auf Grundlage eigener Erfahrungen schrieben wie Kurt Vonnegut. Vgl. hierzu Vees-Gulani (2003), 161– 190.  Caruth (2000), 94.  Kopf (2005), 53. Hervorhebung im Original.  Ebd.

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6 Traumata und Traumatisierungen

zur Suche nach einem literarischen Ausdruck, der der Erzählung eben jene „ursprüngliche Nichterzählbarkeit“ einschreibt, um die Erfahrung möglichst authentisch wiederzugeben.³⁰ Unabhängig davon, ob ein Schriftsteller selbst die traumatische Erfahrung gemacht hat oder sich lediglich auf Berichte stützt, sperrt sich das Geschehen also der Erzählung. Gleichzeitig ist es zentral für die Überwindung des Traumas, dieses in eine sequenzierte sprachliche Form zu fassen (s.u. 8.): „Indem der Patient die Geschichte seines Traumas wahrheitsgetreu berichtet, legt er letztlich Zeugnis ab. […] Wenn die traumatische Erfahrung in Form einer Geschichte erzählt ist, gehört sie tatsächlich der Vergangenheit an.“³¹ Susanne Vees-Gulani hat daher die positive Wirkung literarischen Schaffens bzw. einer Literarisierung des Erlebten bestätigt.³² Gerade für Schriftsteller, die eigene belastende Erlebnisse verarbeiteten, sei der Schreibprozess primär von der Spannung zwischen dem Drang zur Versprachlichung einerseits und sprachlicher Barriere andererseits gekennzeichnet. Im Falle der Bombenangriffe auf die deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg kam zu diesem inneren Konflikt in den Nachkriegsjahren und -jahrzehnten ein gesellschaftlicher Druck von außen hinzu, diese Vergangenheit besser ruhen zu lassen.³³ Da das traumatische Erlebnis stark von der bisherigen Welterfahrung und -wahrnehmung abweicht, kann es nicht mit den traditionellen literarischen Mitteln wiedergegeben werden. Was Aleida Assmann hierzu in Bezug auf Kurt Vonneguts Slaughterhouse-Five feststellt, darf für alle Autoren in vergleichbarer Situation gelten: Das historische und biographische Trauma erfordert eine andere literarische Technik, ein radikales Experiment. Anders auch als die literarischen Techniken und Experimente des „Neuen“ und Avantgarde Romans [sic]. Vonnegut kann sich hier nicht einfach bestimmter literarischer Verfahren und Traditionen bedienen, er muß seine Form, das Trauma zu beschreiben, selbst erfinden.³⁴

Auch Vees-Gulani hat darauf hingewiesen, dass hergebrachte Textformen und -strukturen eine Erfahrung wie den Bombenkrieg nicht adäquat erfassen können.³⁵ Teil des inneren Dilemmas einer Versprachlichung dessen, was primär in

 Vgl. ebd., 45.  Herman (2006), 256 und 278.  Vgl. Vees-Gulani (2003), 30 – 37.  Ebd., 7.  Assmann, Aleida: Trauma des Krieges und Literatur. In: Bronfen, Elisabeth (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln 1999, 104.  Vees-Gulani (2003), 35.

6.3 Zivile Traumata

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Form nichtsprachlicher Empfindungen und Bilder präsent ist, ist also der Zwang zur Entwicklung neuer Ausdrucksmittel, die in der Lage sind, das traumatische Geschehen wiederzugeben und ihm auch gerecht zu werden.³⁶ Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass etwa die Wege, über die Schriftsteller sich den Luftangriffen genähert haben, häufig deutlich von traditionellen Erzählmustern und Vertextungsverfahren abweichen.

6.3 Zivile Traumata Dass der Bombenkrieg für die Bevölkerung am Boden eine traumatische Situation darstellte, steht heute außer Frage. Menschen, die einen Luftangriff erleben, vergessen ihn niemals, denn genau genommen bedeutet er eine doppelte potentielle Traumatisierung: zunächst durch die extreme Gewalt des Angriffs selbst, sodann – vorausgesetzt, sie überleben – durch den grauenhaften Anblick der Trümmer und Leichen(teile).³⁷ Zu den eigentlichen Angriffen, die nur selten die eigene Stadt trafen, kam in den deutschen Städten im Zweiten Weltkrieg durch den regelmäßigen Luftalarm außerdem die ständige Angst vor einem Angriff, da zunächst nie klar war, welche Stadt jeweils wirklich das Ziel der Bomber war: „Um Alltag und Arbeit nicht ständig zu unterbrechen, wird die Gefahr ertragen ohne Reaktion; sie gräbt sich inwendig ein. Dem Reflex zur Flucht kann man nicht stattgeben und lebt unter akuter Angst. Jahrelang reale Angst auszuhalten ist gewissermaßen der Schattenwurf der Vernichtung. Vernichtet wurden wenige, im Schatten standen aber viele die meiste Zeit.“³⁸ Wer in den Städten blieb und nicht aufs Land flüchtete bzw. flüchten konn³⁹ te, war den Bomben ausgesetzt: „Man ist ja auch so furchtbar im Krieg diesen Bomben ausgeliefert. Man kann sich überhaupt nicht wehren. Man ist völlig wehrlos. Man kriegt das Ding auf den Kopf oder nicht, hat Glück gehabt oder nicht. Und man weiß nicht, ob man die nächste Stunde noch überlebt oder die

 Vgl. ebd., 37.  Ebd., 3.  Friedrich (2003), 375.  „Die große Mehrzahl der Deutschen indes, immerhin rund 50 Millionen Menschen, hatte nie oder die meiste Zeit nicht unter den Bombardements zu leiden. Wenn eine Bombe auf ihre Stadt oder ihr Dorf fiel, dann eher zufällig. Die Luftangriffe galten ausgewählten Städten. Doch durch die Evakuierungen waren Millionen Menschen indirekt vom Bombenkrieg betroffen, ohne unmittelbar luftgeschädigt zu sein. Der Treck der Ausgebombten brachte den Luftkrieg aufs Land und ließ weite Teile der Volksgemeinschaft an den Erfahrungen der städtischen Heimatfront teilhaben – ob sie wollten oder nicht.“ Echternkamp (2004), 67.

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6 Traumata und Traumatisierungen

nächste Minute oder überhaupt ein ganzes Leben.“⁴⁰ Die Wahl fight or flight gab es somit zumeist nicht. Widerstand konnten Zivilisten nicht leisten, auch wenn sich die politische Führung bemühte, den zivilen Luftschutz zum Teil des Kampfes zu stilisieren. Fluchtmöglichkeiten bestanden kaum: Die Luftschutzkeller unter den Häusern boten nur bedingt Schutz, denn dort konnten die Menschen immer noch eingeschlossen werden („Das Trauma des Kellers war die Verschüttung.“⁴¹) oder – wenn sie sie nicht rechtzeitig verließen – der Hitze oder Brandgasen zum Opfer fallen.⁴² Vielfach, so belegte bereits 1944 eine deutsche psychiatrische Studie, „machten insbesondere die Verschütteten schockierende Erfahrungen: Zeitverlust, gestörte sinnliche Wahrnehmung, das beklemmende Gefühl der Todesangst, ‚psychogene Lähmung‘ oder akute Sprachstörungen – das war nur ein Teil der Symptome von, wie es hieß, ‚traumatisierenden‘ Erlebnissen.“⁴³ „Bunkerkoller“ und Hysterie galten während des Krieges vor allem als weibliche Krankheiten (Frauen bildeten einen Großteil der Bevölkerung in den Städten), und schon den nationalsozialistischen Psychologen war klar, dass die fehlende fight-Option für die Zivilisten ein Problem darstellte, ihre Position schwächte bzw. sie anfälliger für abnorme Erlebnisreaktionen machte.⁴⁴ Vor allem vor diesem Hintergrund sind die intensiven Bemühungen der nationalsozialistischen Führung zu sehen, dem zivilen Luftschutz den Status des Kampfes zuzuschreiben.⁴⁵ Häufig äußerte sich die Angst der Zivilisten somatisch in Form von Schmerzen des Bauches oder des Unterleibs, teils kam es auch zu einem Verstummen der Betroffenen.⁴⁶ „Vegetative Störungen waren keineswegs selten: Die Beine sackten weg, der Magen spielte verrückt, die Knie waren weich und die Glieder schmerzten, so sehr, dass der Gang aus dem Bunker ins Freie zur Qual werden konnte und nicht ohne die Hilfe anderer ging.“⁴⁷ Daneben war häufig die Zeitempfindung massiv gestört, wobei es zu Verzerrungen in beide Richtungen kam:

 Moser, Tilmann: Dämonische Figuren. Die Wiederkehr des Dritten Reiches in der Psychotherapie. Frankfurt am Main 1996, 175 (Aussage einer Patientin Mosers, die als kleines Mädchen die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs erlebte).  Friedrich (2003), 376.  Der weitaus größere Teil der Bombenkriegstoten starb an Hitze (Hyperthermie) oder Kohlenmonoxidvergiftung; vgl. hierzu ebd., 377 f. und 385 – 388, sowie Gräff (1955), 201.  Süß (2011), 383.  Ebd., 368 – 371.  Vgl. Friedrich (2003), 409, und Kramer (2007).  Vgl. Friedrich (2003), 496 f.  Süß (2011), 356.

6.3 Zivile Traumata

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Eine verstrichene Zeitspanne wurde teils als wesentlich länger, teils als wesentlich kürzer als in der Realität wahrgenommen.⁴⁸ Vor allem jedoch wurde das Geschehen durch eine emotionale Blockade verdrängt: „Wer hat den Bombenkrieg erlebt? Die Reduktion der Anteilnahme, verknüpft mit tüchtigem Zupacken, half ihn überstehen. Damit kam man später auch über die Erinnerung hinweg. […] Folgt man den klinischen Befunden der Nachkriegspsychotherapie, hat die Emotionslähmung den Bombenkrieg abgewehrt. Die Zivilperson hielt einem für unmöglich gehaltenen Leidensdruck stand. Es hat nicht den Anschein, daß die Betäubung später gewichen ist.“⁴⁹ Dieser sog. Emotionsstupor unterdrückte die Furcht und verhinderte sinnlose Fluchtbewegungen.⁵⁰ Wenn Jörg Friedrich vermutet, dass die Betäubung der Menschen durch die emotionale Lähmung, die in der Extremsituation des Bombenkriegs das Überleben sicherte, auch nach dem Krieg nicht nachließ,⁵¹ argumentiert er ähnlich wie W.G. Sebald, der 1997 die These aufstellte, der Bombenkrieg habe kaum Eingang in die deutsche Nachkriegsliteratur gefunden, und die Literaten hätten mithin vor dem Thema und somit vor den Nachgeborenen, die sich Erzählung und Deutung der kollektiven Erfahrung wünschten, versagt (s.u. 9.3).⁵² Im Zuge der Debatte, die Sebalds Theorie auslöste und in der vor allem versucht wurde, Sebald zu widerlegen, sowie in der Folgezeit machte sich vor allem Volker Hage um die Literatur zum Bombenkrieg verdient, indem er u. a. 2003 mit Hamburg 1943 eine Anthologie mit Texten zum Hamburger Feuersturm herausgab.⁵³ Daneben veröffentlichte er im selben Jahr einen Band, der Essays über die Literatur zum Bombenkrieg sowie Gespräche mit Schriftstellern, die sich mit dem Thema befasst hatten, enthält.⁵⁴ Für die vorliegende Arbeit ist jedoch vor allem zu erwähnen, dass Hage

 Friedrich (2003), 498 f.  Ebd., 504 f.  Vgl. Meyer, Joachim Ernst: Die abnormen Erlebnisreaktionen im Kriege bei Truppe und Zivilbevölkerung. In: Soziale und angewandte Psychiatrie. Bearbeitet von Max Müller u. a. Berlin/ Göttingen/Heidelberg 1961, 606.  Friedrich (2002), 505.  Sebald (2001).  Hage,Volker (Hg.): Hamburg 1943. Literarische Zeugnisse zum Feuersturm. Frankfurt am Main 2003. Darin Texte u. a. von Hans Erich Nossack, Wolfgang Borchert, Hubert Fichte, Ralph Giordano, Uwe Timm und Wolf Biermann.  U. a. Gespräche mit Dieter Forte, Walter Kempowski, Alexander Kluge, W.G. Sebald und Kurt Vonnegut. Darin auch ein Kapitel „Der Fall Gert Ledig“; vgl. Hage (2003, Zeugen), 44– 51.

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6 Traumata und Traumatisierungen

1998/99 (auf einen Hinweis Marcel Reich-Ranickis hin⁵⁵) die Wiederentdeckung Gert Ledigs massiv befördert hat. Eine ausführliche Betrachtung, wie sich die Traumata des Bombenkriegs in der deutschen Literatur niedergeschlagen haben, legte Susanne Vees-Gulani 2003 vor. Ausgehend von den Symptomen und Charakteristika posttraumatischer Belastungsstörungen untersucht sie, inwiefern sich diese selbst, aber auch Auseinandersetzungen mit der deutschen Schuld in der Nachkriegsliteratur zu den Luftangriffen auf die deutschen Städte wiederfinden. Neben Ledigs Vergeltung betrachtet sie unter anderem Werke von Nossack, Kluge und Sebald. Außerdem beschäftigt sie sich mit den Texten jüdischer (etwa Victor Klemperer und Werner Schmidt) und ausländischer Autoren (z. B. Kurt Vonnegut und Harry Mulisch), um ein möglichst vollständiges Bild zu zeichnen. Bevor der Fokus auf Ledig und seiner Darstellung liegt, sollen hier einige Beispiele dafür vorgestellt werden, wie die Traumata des Bombenkriegs nach 1945 Eingang in die Literatur gefunden haben, um zu zeigen, wie weit die Bandbreite der möglichen Herangehensweisen dabei ist.

6.4 Literarische Annäherungen an den Bombenkrieg 6.4.1 Thomas Bernhard – Die Ursache Die Luftangriffe auf Salzburg im Herbst 1944 stellen ein wichtiges Thema von Thomas Bernhards autobiographischem Roman Die Ursache. Eine Andeutung (1975) dar. Bernhard erlebte diese Angriffe als 13-jähriger Internatszögling. Der autobiographischen Form geschuldet, wird undistanziert aus der Innensicht des Ich-Erzählers berichtet. Den traumatischen Charakter der Ereignisse spricht Bernhard direkt an: „Das Geschehen […] ist ein entscheidendes, mich für mein ganzes Leben verletzendes Geschehen als Erlebnis gewesen.“⁵⁶ Doch ist der Text nicht nur Selbst-, sondern vor allem auch „Zeitdarstellung, indem exemplarisch die Deformation des Einzelnen durch den zerstörerischen Lauf der Geschichte vorgeführt wird“.⁵⁷ Daran, dass auch die anderen Salzburger durch die Bombardierungen traumatische Störungen davongetragen haben, deren Auslöser sie später verdrängen sollten, lässt Bernhard keine Zweifel:  Vgl. Reich-Ranicki, Marcel; Löffler, Sigrid; Karasek, Hellmuth: Literarisches Quartett vom 29.10.1999. In: Reichenberger, Stephan (Hg.): … und alle Fragen offen. Das Beste aus dem Literarischen Quartett. München 2000, 723.  Bernhard (2004), 29.  Schütte, Uwe: Thomas Bernhard. Köln/Weimar/Wien 2010, 57.

6.4 Literarische Annäherungen an den Bombenkrieg

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[U]nd kein Mensch weiß, wovon ich rede, wenn ich davon rede, wie überhaupt alle, wie es scheint, ihr Gedächtnis verloren haben, die vielen zerstörten Häuser und getöteten Menschen von damals betreffend, alles vergessen haben oder nichts mehr davon wissen wollen, wenn man sie darauf anspricht, […] es ist, als redete ich mit einer einzigen verletzenden, und zwar geistesverletzenden Ignoration.⁵⁸

Als traumatisch werden allerdings weniger die sichtbaren Auswirkungen der Bomben in Form zerstörter Gebäude beschrieben, als vor allem der Anblick der Getöteten. Während der zerstörte Dom noch ästhetisch aufgenommen wird, bewirkt der Anblick der Getöteten eine Veränderung der Wahrnehmung: Die Erfahrung spricht nun alle Sinne an und erhält darüber hinaus eine psychische Komponente.⁵⁹ Die Angriffe selbst werden kaum beschrieben, nicht einmal jener schlimmste auf Salzburg, den Bernhard nicht im Luftschutzstollen, sondern im Internat erlebte. Erwähnt wird lediglich „die Heftigkeit der Detonationen und ganze Fürchterlichkeit der Folgen dieser Detonationen“ sowie der Umstand, dass Bernhard „in tatsächlicher Todesangst zu überleben wünschte“.⁶⁰ Trotz des großen Raumes, den Bernhard den Angriffen zugesteht, sollte der Titel Die Ursache nicht auf sie bezogen werden; im Zentrum des Textes steht vielmehr der nahtlose Übergang des Internats von nationalsozialistischer zu katholischer Leitung, vom Führerbild zum Kruzifix an der Wand. „Diese Erfahrung liefert den biographischen Kontext für die in Werk und öffentlichen Äußerungen allgegenwärtige Formel, mit der Bernhard die politische und mentale Kontinuität brandmarkt, die die österreichische Nachkriegsgesellschaft bestimmte und in den 80er Jahren aufbrach.“⁶¹ Dass Bernhard von den Geschehnissen tatsächlich eine Traumatisierung davongetragen hat, klingt schließlich auch an, wenn er beschreibt, wie ihn die Angriffe noch später verfolgten: „Aber in Träumen war ich noch jahrelang sehr oft von Alarmsirenen aufgeweckt und aufgeschreckt worden, von den Schreien der Frauen und Kinder in den Stollen, von dem Brummen und Dröhnen der Flugzeuge in der Luft, von ungeheuerlichen, die ganze Erde erschütternden Detonationen und Explosionen. Und bis heute habe ich solche Träume.“⁶² Eine solche Intrusion setzt auch Ledig – wie zu zeigen sein wird – zur Markierung traumatisierter Fi Bernhard (2004), 34 f.  Pape, Walter: „Mich für mein ganzes Leben verletzendes Geschehen als Erlebnis“. Die Luftangriffe auf Salzburg (1944) in Thomas Bernhards „Die Ursache“ und Alexander Kluges „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945“. In: Wilms, Wilfried; Rasch, William (Hg.): Bombs away! Representing the Air War over Europe and Japan. Amsterdam 2006, 193 f.  Bernhard (2004), 55.  Schütte (2010), 58.  Bernhard (2004), 72.

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6 Traumata und Traumatisierungen

guren ein (FR 137 f.), nicht zuletzt, weil er selbst unter einem ähnlichen Traum litt, der als ein Impuls für sein literarisches Schaffen gesehen werden kann (s.u. 8.).

6.4.2 Dieter Forte – Das Haus auf meinen Schultern Traumata sind ein Thema, das sich auch durch den zweiten (Der Junge mit den blutigen Schuhen, 1995) und dritten Teil (In der Erinnerung, 1998) von Dieter Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern zieht. Zentrale Figur ist ein namenloser „Junge“, der zahlreiche Bombenangriffe auf Düsseldorf miterleben muss. Die Erlebnisse werden aus seiner Perspektive geschildert, sodass auch die Darstellung der Traumata auf seinen Blickwinkel verengt ist. Diese „Bindung an den erlebenden Jungen […] macht den Lesern die Schrecken etwas faßlicher. Aber es läßt auch merken, daß ein Roman hier an Grenzen kommt, ja versagt“, da seine Thematik offenbar „der bürgerlichen Epopöe unerreichbar“ ist.⁶³ Auch bei Forte wirken die Angriffe auf alle Sinne, die durch das Durcheinander zahlloser (zunächst vor allem akustischer, z. B. Sirenen, Bomben, Martinshörner, später auch optischer wie der Lichtzeichen der Bomber, der Feuer, aber auch der Dunkelheit im Keller) Reize zum Orientierungsverlust und teils zum Wahnsinn führen. Die Zeit wird nicht mehr richtig wahrgenommen und verliert daher ihren ordnenden Charakter.⁶⁴ Hinzu kommt die Sicherheit, mit der jeder weiß, „daß er getötet werden sollte, daß man ihn, ja genau ihn, zerfetzen, verbrennen und ersticken wollte“⁶⁵. Diese Reizüberflutung überträgt Forte bei den Angriffen in einen gehetzten, atemlosen Stil, der Sätze ineinander zieht und nur durch Kommata trennt, sich darauf beschränkt, Eindrücke zu reihen, und so Charakteristika der Beschleunigung und des Zeitverlusts auf die ästhetische Ebene des Textes zu verlagern (worin eine deutliche Parallele zu Ledigs Stil zu sehen ist): Ehe die Luft durch die Bomben zerplatzte, zerriß sie unter dem schmerzhaften Stöhnen der Sirenen, Voralarm, Vollalarm, Entwarnung, Voralarm, Vollalarm, Entwarnung gingen ineinander über, so daß manch einer die Orientierung verlor, wahnsinnig wurde, bei Vollalarm aus dem Keller wollte, bei Entwarnung in den Keller stürzte, und man mußte ihn fast totschlagen, damit er wieder zu Verstand kam, den eigentlich keiner mehr hatte, weil das neue Zeitsystem nicht mehr Tag und Nacht hieß, nicht mehr Morgen und Vormittag und Mittag

 Vormweg, Heinrich: Kindheit im Bombenhagel. In: Hof, Holger (Hg.): Vom Verdichten der Welt. Zum Werk von Dieter Forte. Frankfurt am Main 1998, 149.  Forte, Dieter: Das Haus auf meinen Schultern. Romantrilogie. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2004, 452– 454; vgl. Vees-Gulani (2003), 111 f.  Forte (2004), 455.

6.4 Literarische Annäherungen an den Bombenkrieg

147

und Nachmittag und Abend und später Abend und späte Nacht, sondern Voralarm, Vollalarm, Entwarnung, Voralarm, Vollalarm, Entwarnung, bis das alles in den Daueralarm überging.⁶⁶

Die Traumatisierungen, die das Geschehen hervorruft, konzentrieren sich primär auf den Protagonisten. Zwar nimmt er die anderen Überlebenden in ihrer emotionalen Abgestumpftheit und Orientierungslosigkeit wahr,⁶⁷ doch scheinen im Text – was der Erzählperspektive geschuldet ist – hauptsächlich seine eigenen Beeinträchtigungen auf. Als offensichtliches Merkmal verliert der Junge seine Sprache: Das nicht in Worte zu fassende Erlebnis blockiert seine Sprechfähigkeit. „During and after the constant attacks he also reveals an array of dissociative symptoms which are consistent with acute stress disorder.“⁶⁸ Dazu zählen hier die Wahrnehmung seiner Umgebung ohne Ton, unbewegt und „wie in Zeitlupe“. Die Zerstörungen und Gräuel, die er noch wahrnimmt, waren „das Todesbild, das der Junge nie mehr vergaß, das er sein Leben lang mit sich trug.“⁶⁹ So deutet Forte an, dass die Traumatisierung dauerhaft bleiben wird. Diese Lesart wird durch die im Laufe des zweiten und dritten Teils wiederkehrenden Träume von den Bombennächten, die den Jungen heimsuchen, unterstrichen.

6.4.3 Hans Erich Nossack – Der Untergang Wesentlich mehr Distanz zum Geschehen als bei Bernhard und Forte bringt der Ich-Erzähler in Hans Erich Nossacks Der Untergang (1948) auf. Dieser betont bereits ganz am Anfang der Erzählung, dass es ihm darum geht, „Rechenschaft abzulegen“, also einen Bericht über die Bombardierung Hamburgs („Operation Gomorrha“) zu verfassen, „da es der Vernunft niemals möglich sein wird, das, was damals geschah, als Wirklichkeit zu begreifen und dem Gedächtnis einzuordnen“.⁷⁰ Offen angesprochen wird in dieser Befürchtung der traumatische Aspekt einer gestörten Erinnerung, der entgegengewirkt werden muss. Nossack berichtet mit relativer Distanz aus der Sicht eines Zuschauers bzw. „Zuhörers“⁷¹,

 Vgl. ebd., 453 f. Vgl. auch die Fortsetzung der zitierten Passage, 454– 457.  Vgl. Vees-Gulani (2003), 114.  Ebd.  Forte (2003), 467 f.  Nossack (1976), 7 f.  Williams, Andrew: „Das stanniolene Rascheln der Weinblätter“. Hans Erich Nossack und der Luftkrieg. In: Wilms, Wilfried; Rasch, William (Hg.): Bombs away! Representing the Air War over Europe and Japan. Amsterdam 2006, 228.

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6 Traumata und Traumatisierungen

denn auch bei ihm wirkt der Angriff auf alle Sinne, der – obwohl durch die Zerstörung seines Hauses direkt betroffen – die Angriffe durch einen Zufall aus sicherer Entfernung miterlebt hat. Diese Perspektive stellt einen gewissen Schutzmechanismus dar: „It allows him to talk about the events despite the sensitivity of the topic while at the same time dissociating himself psychologically from the horror he encounters.“⁷² In der Folge kann der Ich-Erzähler – ähnlich wie bei Bernhard – zwar sein eigenes Innenleben schildern, nicht aber das der anderen. So bildet auch ganz konkret die Sorge, selbst „schauend und wissend durch Erleiden des Gesamtschicksals überwältigt zu werden“⁷³, einen der Erzählimpulse. Die Traumatisierungen der Hamburger zeigen sich vor allem, als Nossacks Erzähler erstaunt wahrnimmt, dass die Überlebenden stark abgestumpft erscheinen: [W]arum klagten und weinten sie nicht? Und warum diese Gleichgültigkeit im Tonfall, wenn sie von dem, was hinter ihnen lag, sprachen, diese leidenschaftslose Art der Rede, als berichteten sie von einem furchtbaren Begebnis aus vorgeschichtlicher Zeit, das heute nicht mehr möglich ist und dessen Erschütterungen nur noch durch unsere Träume nachklingen?⁷⁴

Vees-Gulani hat darauf hingewiesen, dass auch beim Erzähler selbst Symptome einer Traumatisierung festzustellen sind, so in erster Linie die Wahrnehmung der Zerstörung als einer unwirklichen Begebenheit, vergebliche Versuche, die Geschehnisse auszublenden, und ein gestörtes Zeitempfinden.⁷⁵ Letztlich komme dieser zu dem Schluss, dass sich zwischen jenen, die die Angriffe erlebt haben, und den anderen eine Kluft aufgetan hat, die nicht mehr zu überbrücken sei.⁷⁶ So bleibt die Schilderung der potentiell beeinträchtigten Psyche der Menschen nur am Rand von Nossacks Blickfeld: Er ist ein Chronist vor allem der Ruinen, weniger der Traumatisierungen ihrer Bewohner, obschon er auch „die eigene Verstörung“ bekennt und „nach einer angemessenen Sprache“ sucht.⁷⁷

     

Vees-Gulani (2003), 71. Nossack (1976), 7. Ebd., 28. Vees-Gulani (2003), 71– 74. Nossack (1976), 28 – 31. Heukenkamp (2001), 483.

6.4 Literarische Annäherungen an den Bombenkrieg

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6.4.4 Alexander Kluge – Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 Alexander Kluge wählt für seine Erzählung Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 (1978) eine gänzlich andere Perspektive als die bisher genannten Autoren. Statt sich auf einen Blickwinkel zu konzentrieren, montiert er seinen Text aus verschiedensten Versatzstücken, die von kurzen Erzählungen vom Geschehen am Boden über fiktive Interviews an Bord der Bomber zur Logistik eines solchen Unternehmens bis hin zu Fotos der Schäden an der Stadt oder Skizzen des Bombenaufbaus reichen. Auf diese Weise gelingt es ihm, ein Geschehen in seiner Gesamtheit und seinen größeren Zusammenhängen darzustellen, das für den Einzelnen nicht mehr zu erfassen und somit auch nicht zu verarbeiten ist. Er greift damit Vees-Gulanis These voraus, dass tradionelle Erzählformen nicht mehr in der Lage sind, ein solches Geschehen wiederzugeben.⁷⁸ Indem Kluge Einzelschicksale einbezieht, unterstreicht er die Dualität des Luftangriffs als sowohl individuelle wie auch kollektive Erfahrung. Die Traumatisierungen, die der Angriff bei den Menschen am Boden bewirkt, stellen nur ein Steinchen dieses Mosaiks dar. Die psychische Beeinträchtigung der Menschen durch die Bomben zeigt sich bei Kluge vor allem in ihren abnormen Reaktionen auf die Zerstörungen; abnorm insofern, als sie angesichts eines Geschehens, das so weit jenseits ihres Erfahrungsrahmens liegt, dass jede adäquate Reaktion unmöglich wird, wie mechanisch in gewohnte Tätigkeiten verfallen.⁷⁹ Dies ist etwa bei Frau Schrader, der Kassiererin eines getroffenen Kinos, der Fall: Die Verwüstung der rechten Seite des Theaters stand in keinem sinnvollen Zusammenhang zu dem vorgeführten Film. […] Für Frau Schrader, eine erfahrene Kino-Fachkraft, gab es jedoch keine denkbare Erschütterung, die die Einteilung des Nachmittags in vier feste Vorstellungen (mit Matinée und Spätvorstellung auch sechs) anrühren konnte.⁸⁰

Hier verdient das Wort „denkbar“ besondere Aufmerksamkeit; die Erfahrung befindet sich so weit außerhalb alles Vorstellbaren, dass die Kassiererin nicht angemessen reagieren kann, weil sie nicht imstande ist, das Erlebte gedanklich einzuordnen und zu verarbeiten. So versteht sich später auch ihr Umgang mit den Leichenteilen im Keller, die sie ohne größere Regung – um „wenigstens hier Ordnung [zu] schaffen“⁸¹ – in Waschkesseln sammelt.

   

Vees-Gulani (2003), 95. Vgl. Pape (2006), 186 f., und Vees-Gulani (2003), 96 – 99. Kluge (1978), 35. Ebd., 36.

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Eine objektiv ähnlich inadäquate Reaktion zeigt der 14-jährige Siegfried Pauli, der trotz der Zerstörung der Stadt und der Weigerung seiner Lehrerin nicht auf seinen Klavierunterricht verzichten will. „Pauli fand aber in seinem unzerstörten Willen eine Villa Ende des Spiegelsbergenwegs, in der ein Flügel stand, auf dem er das studierte Stück so lange abspielte, bis er ohne merkbares Stocken über die wackelige Stelle kurz vor Schluß kam. Er übte diese Stelle einzeln, immer nur die prekären Takte, 2 Stunden lang, bis die Villenbesitzer es nicht mehr hören wollten.“⁸² Hierin zeigt sich ebenfalls eine gewisse Loslösung vom Geschehen, auf das der Junge nicht anders reagieren kann, als ihm ein Festhalten am Gewohnten entgegenzusetzen. Diese Abwesenheit von Gefühl bzw. das Vorherrschen der Illusion, gar nicht betroffen zu sein, hat Kluge (zum Zeitpunkt des Angriffs 13 Jahre alt und auf dem Weg zum Klavierunterricht) auch für sich selbst beschrieben,⁸³ sodass er hier unter Umständen seine eigene Biographie in den Text einfließen ließ.

6.4.5 Kurt Vonnegut – Slaughterhouse-Five Hinsichtlich der Probleme bei der Literarisierung traumatischer Erfahrungen ist vor allem Kurt Vonneguts Roman Slaughterhouse-Five (1969) hervorzuheben. Vonnegut, der die Bombardierung Dresdens als Kriegsgefangener am Boden selbst erlebte, gab im Gespräch mit Volker Hage an, lange keinen Weg gefunden zu haben, das Geschehen in Worte zu fassen: „Ich habe lange überhaupt keine Worte gefunden. […] Das Thema war zu groß für mich – wie für jeden anderen. Ich habe einfach keinen Dreh gefunden. Das Erlebte war zu gewaltig. Erst Ende der sechziger Jahre habe ich eine Lösung gefunden: ‚Schlachthof 5‘ eben. Tatsächlich habe ich auch da den eigentlichen Luftangriff nicht beschrieben.“⁸⁴ Stattdessen thematisiert Vonnegut das Problem der Darstellbarkeit selbst in einer metafiktionalen Rahmenhandlung. Slaughterhouse-Five ist so nicht nur ein Roman über den Bombenangriff auf Dresden, sondern auch über die Schwierigkeit, sich einem solchen Thema literarisch zu nähern:

 Ebd., 94.  Vgl. Hage (2003, Zeugen), 202; und Vees-Gulani (2003), 95.  Hage (2003, Zeugen), 283.Vgl. auch Vonnegut, Kurt: A Man without a Country. New York 2007, 18: „I was a writer in 1968. I was a hack. I’d write anything to make money, you know. And what the hell, I’d seen this thing, I’d been through it, and so I was going to write a hack book about Dresden. You know, the kind that would be made into a movie and where Dean Martin and Frank Sinatra and the others would play us. I tried to write, but I just couldn’t get it right. I kept writing crap.“

6.5 Traumata in Gert Ledigs Romanen

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Vonneguts Gegenmuster zur Narration ist die Collage, ein räumliches Ordnungsprinzip, das Heterogenes in unerwartete Nachbarschaften bringt/zwingt. Als Verfahren hat die Collage nicht nur etwas Zufälliges, sondern auch etwas Gewalttätiges oder zeugt vom Einschlag der Gewalt, was sich in einer bestimmten Metaphorik der Rede niederschlägt: sie „zerbricht“ das Rückgrat der Erzählung, die zeitlich-chronologische Abfolge, sie „zerreißt“ Ereigniszusammenhänge und sortiert die Fragmente in freien Arrangements.⁸⁵

Ähnlich wie Forte mit dem „Jungen“ bedient er sich mit Billy Pilgrim einer Figur, hinter deren Erlebnissen jene des Autors klar erkennbar sind (auch wenn Letzterer später selbst in der Erzählung als kranker Gefangener auftritt, um diese Identifikation zu vermeiden, und tendenziell eher die Figur des Schriftstellers Kilgore Trout als Vonneguts Alter Ego gesehen werden kann). Durch die Rahmenhandlung, die überdies reale historische Begebenheiten wiedergibt, und die Einführung von Science-Fiction-Elementen wie des Handlungsstrangs um die Tralfamadorianer und der Brechung der zeitlichen Ebene durch Billys willkürliche Zeitreisen schafft Vonnegut wesentlich mehr Distanz zum Geschehen. Auch wenn der Bombenangriff selbst kaum geschildert wird, erforscht und beweist der Roman „nicht die Unmöglichkeit, sondern gerade die Möglichkeit des Sprechens über Dresden“⁸⁶. Sieht man in Sebalds Luftkrieg und Literatur (1999) nicht nur einen Essay, der eine Leerstelle in der deutschen Nachkriegsliteratur konstatiert, sondern gleichzeitig einen Versuch, die festgestellte Lücke zu schließen (vgl. hierzu ausführlich unten 8.3), so muss der Text, somit – trotz aller Unterschiede – zumindest in gewisser Hinsicht in die Nähe von Slaughterhouse-Five gestellt werden. Denn auch Sebald gelangt über die theoretische Reflexion der Frage, wie Literatur über die Bombenangriffe beschaffen sein müsse, zu seiner Narration – wenn man denn von einer solchen sprechen möchte.

6.5 Traumata in Gert Ledigs Romanen Ledigs Methode, die Traumata des Zweiten Weltkriegs in Worte zu fassen, setzt auf zwei Textschichten an. Zunächst finden sich auf der rein inhaltlichen Ebene immer wieder Passagen und Ereignisse, die die erläuterten Charakteristika eines Traumas aufweisen. Auf der stilistischen Ebene gelingt es ihm darüber hinaus, den Lesern die traumatische Natur des Krieges zu vermitteln, indem er seinem

 Assmann (1999, Trauma), 104.  Hölbling, Walter: Fiktionen vom Krieg im neueren amerikanischen Roman. Tübingen, 1987, 237.

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6 Traumata und Traumatisierungen

Text die Gewaltförmigkeit der Erlebnisse einschreibt und die Leser zwingt, die Erfahrungen der Figuren bis zu einem gewissen Grad zu teilen. Im Folgenden werden zunächst die inhaltlichen Elemente untersucht, die nach heutigem Verständnis eine traumatische Situation kennzeichnen; Ledigs „gewaltsamer Stil“ wird anschließend separat analysiert. Betrachtet man die inhaltliche Darstellung der Traumata bei Ledig, so ist festzustellen, dass er primär den traumatischen Charakter des Krieges hervorhebt und weniger die Folgen, d. h. die Traumatisierungen, die die Menschen davontragen. Lediglich in Faustrecht finden sich Spuren der mittelbaren Auswirkungen der Extremsituation. Es ist ferner klar zwischen der Beschreibung der Heimatfront in Vergeltung und jener der Front in Die Stalinorgel zu trennen, da für die jeweils Betroffenen verschiedene Maßstäbe angelegt werden müssen: Für die Soldaten an der russischen Front war die Erfahrung der Kriegsgewalt in gewissem Sinne Alltag und stand nicht jenseits ihres Referenzrahmens, wie dies bei den Zivilisten in der Heimat der Fall war. Es wird jedoch zu zeigen sein, dass durchaus auch jene Situation traumatische Züge tragen kann. Als Abweichung vom „Normalfall“ soll dies aber erst nach der Betrachtung von Vergeltung untersucht werden.

6.5.1 Vergeltung: Zivile Traumata Susanne Vees-Gulani konzentriert sich in ihrer Darstellung der Traumata in Vergeltung vor allem auf zwei Punkte: Zunächst geht sie intensiv darauf ein, dass bei Ledigs Figuren – ähnlich wie bei Nossacks Erzähler in Der Untergang – die Zeitwahrnehmung beeinträchtigt ist,⁸⁷ sodass die Zeit ihre Linearität und damit ihre Ordnungsfunktion verliert.⁸⁸ Im verschütteten Keller kann das Verstreichen der Zeit nicht mehr nachverfolgt werden, dabei besteht gerade hier das größte Bedürfnis nach Kenntnis der Uhrzeit.⁸⁹ Einzig die Leser haben noch einen gewissen Überblick, da der Erzähler hin und wieder die Uhrzeit nennt. Es wird aber zu zeigen sein, dass der Verlust der zeitlichen Orientierung durch Ledigs „gewaltsamen Stil“ auch vor den Lesern nicht komplett haltmacht. Ähnlich wie bei Vonnegut wird durch den Verlust der zeitlichen Orientierung (aber auch durch

 Dieses Phänomen hat auch Jörg Friedrich angesprochen, der eine Verschiebung der Zeitwahrnehmung in beide Richtungen beschreibt; vgl. Friedrich (2003), 498 f.  Vees-Gulani (2003), 88 f.  Die verstreichende Zeit zu kennen oder zumindest abschätzen zu können, war essentiell wichtig, um den Keller auch rechtzeitig wieder verlassen zu können, bevor ein Ausstieg eventuell nicht mehr möglich war und die Brände an der Oberfläche die anfängliche Kühle des Gemäuers aufhoben und die Kellerräume in Backöfen verwandelten.

6.5 Traumata in Gert Ledigs Romanen

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Ledigs Montageprinzip) „ablesbar, daß die Gewalt des Traumas das Kontinuum der Zeit zerschlägt, welches eine labile soziale Konstruktion ist.“⁹⁰ Gleichzeitig ist Ledig damit nah an der Realität, denn die „Zerstörung des Zeitempfindens stellt eine innere Überlebenstechnik dar“⁹¹, indem die Menschen sich auf das Jetzt konzentrieren, in dem das Überleben gesichert werden muss. Daneben betont Vees-Gulani, dass bei Ledig deutlich wird, wie angesichts des Verlusts jeglicher Ordnung und der ständigen Lebensbedrohung auch ethische und moralische Grundsätze außer Kraft gesetzt werden: Dies zeige besonders die Vergewaltigung unter den Trümmern,⁹² denn gerade das Mädchen demonstriere auch die Ambivalenz aller Figuren des Romans, da es selbst zuvor mit der alten Frau selbst einen Menschen geopfert hat und so nicht nur Opfer ist. Da Vees-Gulani sich vor allem auf die tatsächlichen Symptome von Traumatisierungen konzentriert, finden sich bei ihr kaum Hinweise darauf, dass Ledig den Krieg auch deutlich als traumatische Situation kennzeichnet. So lassen sich fast alle oben genannten Aspekte eines solchen Erlebnisses im Roman beobachten; extreme Gewalt sowie daraus resultierende physische Verwundungen und grausame Tode sind omnipräsent. Beispielhaft kann hierfür die Einstiegsszene betrachtet werden: „Neben der Mutter stand eine Frau und brannte wie eine Fackel. Sie schrie. Die Mutter blickte sie hilflos an, dann brannte sie selbst. Von den Beinen herauf über die Unterschenkel bis zum Leib. Das spürte sie noch, dann schrumpfte sie zusammen“ (V 10). Hier wird der Ton festgelegt, der im gesamten Roman herrscht, und Ledig kündigt es auch explizit an: „In diesen sechzig Minuten wurde zerrissen, zerquetscht, erstickt.“ Die Tode ereignen sich dabei stets im öffentlichen Raum, sodass es auch Zeugen gibt, für die diese Erfahrung potentiell traumatisch ist. So bekommen alle im Keller die Verschüttung von Fredi Rainer mit (V 38 f.). Auch der Tod des Primus ist öffentlich und verstört den Leutnant zutiefst (V 32). Die schwere Gewalterfahrung schafft so das Gefühl einer ständigen Annihilationsdrohung: Jeden Moment kann der Tod zuschlagen, eine Möglichkeit zur Gegenwehr oder zur Flucht existiert kaum oder gar nicht. Im Zusammenhang mit den Desertionen der Soldaten in Die Stalinorgel wurde schon darauf hingewiesen, dass die Handlungsoption fight or flight im zivilen Rahmen der Städte quasi nicht existierte, da es zum einen kaum sinnvolle bzw. wirksame Fluchtmöglichkeiten gab und zum anderen den Zivilisten ein konkreter Widerstand gegen die Angreifer nicht möglich war. Es ist auch bereits erwähnt worden, dass das NS-Regime gerade aus diesem Grund den zivilen Luftschutz

 Assmann (1999, Trauma), 106.  Shay (1998), 238.  Vees-Gulani (2003), 89.

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zum Teil des Kampfes stilisierte. Dies änderte jedoch nichts daran, dass die Menschen sich kaum schützen konnten. Außerhalb der Gebäude waren sie den Bomben schutzlos preisgegeben, wie der Tod der beiden Frauen in der Anfangsszene, aber auch der Tod des jungen Vaters (V 150) und des Priesters (V 85 f.) zeigen. Die Keller boten im Ernstfall ebenfalls nur wenig Schutz; die meisten Toten des Bombenkriegs waren dort zu beklagen. Auch in Vergeltung wird der Keller zur Todesfalle. Der Tod von Fredi Rainer deutet so bereits auf die Verschüttung des gesamten Kellers hin (V 38 f., 85). Einen wirkungsvollen Schutz boten nur die Bunker, die allerdings nur einen Bruchteil der Bevölkerung aufnehmen konnten. Die wenigen Plätze reservierten sich oftmals höhere Offizielle und Parteifunktionäre, u. a. indem sie die Bunker häufig bereits vor dem Luftalarm aufsuchten;⁹³ der in Vergeltung beschriebene Bunker nimmt nur 270 Menschen auf (V 146). Dort kommt – mit Ausnahme Strenehens – niemand ums Leben. Dieser relativ sichere Hafen im Chaos des Angriffs ist daher für Ledig auch nicht besonders interessant: Bevor Strenehen den Bunker erreicht, wird von dort fast nur vom Arzt und vom Jungen berichtet; es geht Ledig dabei aber nicht um den Bunker oder seine Insassen, sondern um die Zurschaustellung der Verherrlichung des Krieges. Arzt und Junge bilden damit einen Gegenpol zu den Soldaten, die den Krieg wirklich erlebt haben. Auch später dient der Bunker Ledig vor allem dazu, einen weiteren Rahmen aufzuspannen, wenn etwa der Ruf nach Vergeltung laut wird (V 161) oder die Frage der Theodizee aufkommt (V 162). Auch wenn der Bunker einigen hundert Menschen Schutz gewährt, sind doch die meisten Figuren des Romans den Bomben und ihren Folgen relativ schutzlos ausgeliefert. Nicht nur existieren kaum sichere Orte, sondern Tempo und Willkür der Gewalt lassen zudem auch keine Möglichkeit, auf konkrete Bedrohungen zu reagieren. Die Menschen sehen das Unheil nicht kommen und haben somit keine Chance, darauf zu reagieren. Eine Gegenwehr ist ebenfalls nicht möglich. Trotz der Flugabwehrgeschütze auf dem Dach des Hochbunkers bleiben die Zivilisten in der traumatischen Situation hilflos. In der Anfangsszene wird deutlich, dass es sich bei dem Angriff nicht um ein singuläres Ereignis handelt. Bereits an den zwei Tagen vor der Handlung hat es Angriffe gegeben: So sind die toten Kinder auf dem Friedhof „vorgestern in einem Keller erstickt“ (V 9). Auch am Tag dazwischen gab es keine Pause: „Vorgestern hatten die Bomben [auf dem Friedhof] ausgegraben. Gestern wieder eingegraben“

 Süß (2011), 328.

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(V 10). Auch für die Zukunft besteht keine Hoffnung: „Was dann noch übrigblieb, wartete auf morgen“⁹⁴ (V 11). Es sei hier darauf hingewiesen, dass in Vergeltung neben der potentiell traumatischen Erfahrung der direkten Kriegsgewalt auch noch andere gravierende „Verletzung[en] der Autonomie des Menschen auf der grundlegenden Ebene körperlicher Unversehrtheit“⁹⁵ beschrieben sind. Im Gegensatz zur relativ anonymen Gewalt der Bomben handelt es sich hierbei ausschließlich um direkte zwischenmenschliche Aggression infolge der Angriffe, mithin um unmittelbare Kriegsfolgen; zu denken ist an die Demütigungen des Vaters durch die jungen Soldaten (V 78, 102– 105) oder die Misshandlung Strenehens durch den Arzt (V 186 – 188). Vor allem ist jedoch die Vergewaltigung unter den Trümmern zu nennen. Dieser Handlungsstrang nimmt mehr Raum als die anderen genannten Passagen ein. Dass das Mädchen unter den Figuren des Romans eine herausgehobene Stellung einnimmt, wurde bereits erörtert. Zudem verdichtet sich der von Vees-Gulani angesprochene Verlust von Ethik und Moral in dieser Episode am stärksten: Während die jungen Soldaten betrunken aus der Dynamik ihrer Gruppe heraus handeln und der Arzt ideologisch verblendet ist, kann die massive sexuelle Gewalt gegen das Mädchen durch nichts erklärt oder entschuldigt werden. Hier passiert genau das, was Judith Herman als grundlegend für Traumata festhält: „Der Körper wird angegriffen, verletzt, geschändet.“⁹⁶ Ledig beschreibt auch weitere Aspekte, die Herman als typisch für Vergewaltigungen nennt und die zur Traumatisierung beitragen: Das Mädchen verliert die Kontrolle über seine Körperfunktionen („‚Ich habe mich besudelt‘, stöhnte sie. […] Die Luft roch nach Exkreten“; V 121 f.) und seine Meinung zählt für seinen Peiniger nicht. Trotz der Charakterisierung des Krieges als einer traumatischen Situation finden sich nur vereinzelt Anzeichen einer tatsächlichen psychischen Belastung der Figuren. Dies gilt vor allem für Dessy Cheovski. Dass sie bei Beginn des Angriffs nicht über ihre beiden im Krieg gefallenen Söhne sprechen will (V 26) – die Bilder der beiden hat sie verbrannt –, zeigt bereits eine gewisse Kommunikationsverweigerung an, vielleicht auch eine gestörte Erinnerung. Ähnlich wie beim Major in Die Stalinorgel wirkt hier der Verlust der nächsten Angehörigen

 Die Biographie von Alfred „Fredi“ Rainer datiert seinen Tod und damit den Angriff in Vergeltung auf den 2. Juli 1944 (V 43). Die ersten drei schweren Angriffe auf München im Juli 1944, die Ledig vermutlich als Vorlage für seinen Roman dienten, fanden tatsächlich an drei aufeinanderfolgenden Tagen statt: am 11., 12. und 13. des Monats; weitere Angriffe folgten am 16., 19., 21. und 31. Juli. Zur Größenordnung der beteiligten Bomber, der abgeworfenen Bomben sowie den Verlusten an Menschen und Gebäuden vgl. Bauer (1987), 94– 109.  Herman (2006), 79.  Ebd.

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traumatisch und führt bei der Betroffenen zu einer schweren Krise, ja zur Aufgabe des Lebenswillens. In ihrem Beharren darauf, in der brennenden Wohnung zu bleiben (V 92 f.), kann man somit durchaus eine Form des reaktiven Selbstmords⁹⁷ sehen. In der Biographie ihres Mannes wird jedoch angedeutet, dass sie bereits vor dem Krieg psychisch labil gewesen ist (V 118). Auch Strenehen zeigt im Laufe von Vergeltung immer mehr Anzeichen einer psychischen Reaktion auf die Extremsituation. Er ist der Gewalt ebenfalls hilflos ausgeliefert:⁹⁸ erst am Fallschirm, dann unbewaffnet (und quasi unbekleidet) durch die Stadt irrend, bis er schließlich dem Arzt in die Hände fällt. Dessen Misshandlungen nimmt er nicht mehr bewusst wahr. Wiederum zeigt sich, dass die gängigen Strukturen zerstört sind: Strenehen findet beim Arzt keine Hilfe, sondern erfährt nur weitere Gewalt und Demütigung.⁹⁹

6.5.2 Die Stalinorgel und Faustrecht: Kampftraumata Ähnlich wie in Vergeltung rückte Ledig auch schon in Die Stalinorgel vor allem die traumatische Situation als solche in den Vordergrund. Bei deren Analyse müssen nun jedoch auch andere Parameter betrachtet werden, da hier ausschließlich Soldaten betroffen sind, für die die Gewalterfahrung keineswegs außerhalb ihres normalen Erfahrungshorizontes steht. „Gewalt gehörte zu ihrem Referenzrahmen, das Töten zu ihrer Pflicht“.¹⁰⁰ Diese Alltäglichkeit der Gewalt geht gleichwohl nicht mit einer Gewöhnung daran einher. Dass es im Zweiten Weltkrieg kaum abnorme Reaktionen (Traumatisierungen) bei deutschen Soldaten gab, ist vor dem Hintergrund der bereits beschriebenen Mechanismen zur „Erhaltung der Manneszucht“ und zur Vermeidung von Wehrkraftzersetzung zu betrachten. So führt Kurt Kolle die verhältnismäßig wenigen entsprechenden Fälle darauf zurück, dass mit so harter Hand geherrscht wurde; stattdessen äußerten sich die Beschwerden eher physisch in Form von Bauch- oder Unterleibsschmerzen.¹⁰¹

 Zum reaktiven Selbstmord, der vor allem unter älteren Menschen häufiger vorkam, vgl. Meyer (1961), 599.  Wegen dieser Hilflosigkeit und seinen fehlenden Handlungsoptionen wird Strenehen hier, obschon zum Militär gehörig, unter den zivilen Traumata betrachtet.  Vgl. Lawson (2009), 38.  Neitzel/Welzer (2011), 93. Auch Jonathan Shay sieht in der Begegnung mit dem Tod und Lebensbedrohung eher den Normalfall als eine Ausnahme für Soldaten; vgl. Shay (1998), 228.  Kolle, Kurt: Bemerkungen zur deutschen Kriegspsychiatrie während des 1. und 2. Weltkrieges. In: Soziale und angewandte Psychiatrie. Bearbeitet von Max Müller u. a. Berlin u. a. 1961, 621 f. Ähnliches gilt auch für die russischen und die japanischen Truppen, in denen es ebenfalls le-

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Problematisch war für die Betroffenen in erster Linie die in der Wissenschaft der Zeit vorherrschende Meinung, die auch noch viele Jahre nach dem Krieg Bestand haben sollte, dass eine Neurose ohne körperliche Schädigung ihre Ursache außerhalb der Kriegssituation haben müsse.¹⁰² Wer abnorme Reaktionen ohne erkennbare physische Grundlage zeigte, geriet nach dieser Logik in den Ruch einer erblichen Labilität oder Geistesschwäche, was aufgrund der Herrenmenschenideologie nicht nur ein soziales Stigma bedeutete, sondern angesichts einer Wehrmachtsjustiz, die „Feiglinge“, „minderwertige Wehrmachts-“ und „Volksschädlinge“ sowie „treulose Schwächlinge“¹⁰³ im Sinne der „Erhaltung der Manneszucht“ unerbittlich bestrafte, lebensgefährlich sein konnte. Judith Herman hat im Zusammenhang mit der Alltäglichkeit der Gewalt für Soldaten auf die Befunde amerikanischer Psychologen nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen, dass nach 200 – 240 Tagen im Kampfeinsatz selbst beim stärksten und tapfersten Soldaten eine Grenze überschritten werde und es zum Zusammenbruch komme; in diesem Kontext entwickle sich eine extreme emotionale Abhängigkeit von den Kameraden und den direkten Vorgesetzten.¹⁰⁴ Ähnlich argumentiert auch Jonathan Shay, der die Abhängigkeit des modernen Soldaten von der Armee mit dem Verhältnis eines Kleinkindes zu seinen Eltern vergleicht.¹⁰⁵ Davon ausgehend entsprechen die Bindungen zu den Kameraden und dem Vorgesetzten jenen zu Geschwistern und Eltern, wobei die Widerstandskraft des Einzelnen stark vom Grad der Identifikation mit dieser Gruppe abhängt.¹⁰⁶ In der Verletzung dieses Gefüges – primär durch den Vater-Vorgesetzten – durch einen Verrat an dem, „was recht ist“, d. h. durch einen Bruch der moralischen Bindung, sieht Shay eine der Grundlagen für Traumatisierungen im militärischen Bereich: Erst dieser Treubruch führt für ihn zur dauerhaften Störung sozialer Kompetenzen.¹⁰⁷ Dieser Treubruch besteht vor allem in ungerechter Behandlung, z. B. durch unverhältnismäßig häufige Zuweisung gefährlicher Aufgaben, denn „Soldaten entwickeln schwere Zweifel an der fairen Verteilung der Risiken, wenn sie sehen, wie ihre Kommandeure sich selber vor bensgefährlich war, ein Verhalten zu zeigen, das als Kriegsunlust oder Feigheit ausgelegt werden konnte.  Goltermann (2009), 166.  Messerschmidt/Wüllner (1987), 92 f.  Vgl. Herman (2006), 40 f.  Shay (1998), 35. Auch Meyer spricht schon 1961 davon, dass der Soldat „wie das Kind ein externes Über-Ich“ habe. Neben dem Bund zwischen den Kameraden beruhe seine Widerstandskraft auf „der Stärke der positiven Übertragung auf den Vater-Vorgesetzten“; Meyer (1961), 608.  Vgl. ebd.  Shay (1998), 37 und 55.

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Gefahren schützen.“¹⁰⁸ Weitere Formen sind etwa die „inkonsequente, unvorhersehbare, launenhafte und gewaltsame Durchsetzung von Regeln“, die „Verletzung der eigenen moralischen Grundsätze“, die „Beteiligung an der Opferung oder Schikanierung anderer“ oder die „Teilnahme an unmoralischen, abstoßenden oder illegalen Praktiken.“¹⁰⁹ Neben diesem Verrat an dem, was recht ist, nennt Shay vier Faktoren, die inzwischen als konstitutiv für Kriegstraumata bei Soldaten gelten: „Konfrontation mit dem Kampf, Konfrontation mit mißbräuchlicher Gewaltanwendung, Entbehrungen und der Verlust an Willenskraft und Kontrollvermögen.“¹¹⁰ Die höchste Wahrscheinlichkeit einer Traumatisierung geht dabei mit der Erfahrung missbräuchlicher Gewalt einher, die zweithöchste mit den Entbehrungen, erst dann folgen der Kampf und schließlich der Willens- und Kontrollverlust. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass sich die genannten Faktoren in Die Stalinorgel (sowie teils auch bei den Soldaten in Vergeltung) alle in unterschiedlicher Ausprägung finden, wobei jedoch der Verrat an dem, was recht ist, deutlich dominiert. Thomas Kraft hat zwar bereits darauf hingewiesen, dass die „geschilderten exzessiven Ausschreitungen“ nur „durch die physischen Entbehrungen und die psychischen Belastungen des langen Krieges“ erklärbar seien,¹¹¹ geht aber – wie meist in Bezug auf Ledig – nicht über diese allgemeine Aussage hinaus.Welche Belastungen und Entbehrungen gemeint sind, bleibt dort unklar. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Krafts Fokus hauptsächlich auf verschiedenen Formen der Wehrdienstentziehung (Desertion, unerlaubte Entfernung, Selbstverstümmelung etc.) und des Widerstands gegen das Regime liegt. Tatsächliche psychische Reaktionen und ihre Repräsentation im deutschen Kriegsroman nach 1945 kommen kaum zur Sprache. Hinsichtlich des Kontrollverlustes sei hier darauf verwiesen, dass der Soldat im Krieg nur schwerlich als eigenbestimmtes Individuum gesehen werden kann, sondern mit stark reduzierter Identität in einen eng umrissenen militärischen Funktionszusammenhang eingepasst ist, dem er sich kaum entziehen kann, ohne drakonische Strafen fürchten zu müssen. Diese Fremdbestimmung, die dem Einzelnen die Kontrolle über sich selbst nimmt, ist in Die Stalinorgel omnipräsent. Als ein Beispiel für Willensverlust ist Major Schnitzer zu nennen: Nachdem er die

 Ebd., 44.  Ebd., 211.  Ebd., 176. Auch wenn Shay seine Untersuchungen auf seine Arbeit mit Vietnamveteranen stützt, schreibt er ihnen doch Allgemeingültigkeit zu: „Absolutely nothing I have to say here is distinctive to the Vietnam War. War itself does this,War itself creates situations that can wreck the mind.“ Shay (2002), 31.  Kraft (1994), 116.

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Nachricht vom Tod seiner Frau und seines Kindes erhalten hat, verliert er jeglichen Lebenswillen, woraus schließlich sein versuchter Suizid resultiert. Der traumatische Charakter des Telegramms ist offensichtlich: Der Major verliert nicht nur seine engsten Angehörigen auf äußerst gewalttätige Weise, sondern deren Tod wiegt umso schwerer, da es eigentlich sein Anspruch als Soldat ist, seine Familie in der Heimat zu schützen. Hinzu kommt, dass er sich kaum an seine Frau und sein Kind erinnern kann, was die existentielle Krise noch verschärft. Ledigs drastische Beschreibung der Kampfhandlungen und der immensen Gewalt, die den technisierten modernen Krieg prägt, ist im Zusammenhang mit der Unangemessenheit des menschlichen Leibes bereits erläutert worden. Mit dieser Gewalt geht eine ständige Annihilationsdrohung einher, wobei der Tod nicht selten die komplette Vernichtung des Körpers bedeutet, wie etwa im Falle des Obergefreiten am Beginn des Romans. Wer überlebt, sieht sich mit den Auswirkungen der eingesetzten Kriegstechnik konfrontiert. Die Belastung, die hieraus erwächst, dokumentiert der erschütterte Bericht des Verwundeten im deutschen Unterstand (SO 57) und eine Aussage des Melders: „‚Ich mußte mal aus dem Verwundetenloch heraus‘, erklärte der Melder. ‚Die Verwundeten machen mich verrückt!‘“ (SO 105) Ähnliche Reaktionen finden sich auch bei den Soldaten in Vergeltung angesichts toter Kameraden, etwa beim Leutnant der Kanoniere auf dem Dach, als er mit der Agonie des Primus konfrontiert wird (V 32, 42). Auch die Technik selbst hat in Die Stalinorgel Auswirkungen auf die Psyche: So geht der Angriff einer Stalinorgel „auf eine Kompanie nieder, die zur Ablösung nach vorne marschierte: achtzig Mann, im Lauf einer Woche hinter der Front mühselig aufgefrischt, geputzte Stiefel, geölte Waffen. Die vierzig Mann, die den Graben erreichten, waren verdreckt, blutbespritzt, demoralisiert“ (SO 21). An dieser Stelle zeigt sich auch, wie sehr die Stalinorgel die traumatischen Aspekte des Krieges verkörpert: Sie steht für eine technisierte, anonyme Kriegsgewalt, die plötzlich und zufällig zuschlägt, das Individuum vernichtet (die Männer einer Feldküche „wurden in alle Winde zerstreut“; SO 21) und den Überlebenden Willen und Hoffnung nimmt. Die Entbehrungen, die die Soldaten ertragen müssen, da es an der Front an vielem mangelt, sind in Ledigs Romanen nicht so präsent wie die anderen Faktoren. Sie finden sich eher in kleinen Hinweisen, die aber den Gesamteindruck bestätigen. So heißt es vom Kaffee beim Panzervernichtungstrupp, er verdiene diesen Namen nicht (SO 13). Auch die feste Nahrung scheint minderwertig: „Am Waldrand hielt eine Feldküche. […] Der Deckel des Kessels stand offen. Es dampfte und roch nach nichts“ (SO 37). Zuvor wird bereits „wäßrige Suppe“ (SO 21) erwähnt. Die Mängel erschöpfen sich aber nicht in der schlechten Verpflegung, sondern betreffen auch die militärische Ausrüstung: So meldet ein Funker beim

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Vorstoß der russischen Truppen auf Podrowa: „keine waffen, keine fahrzeuge, keine offiziere“ (SO 102). Dazu kommt später die Klage eines Majors, sein Bataillon sei nicht mehr einsatzfähig: „‚Brauche Verpflegung … Benötige Kartuschen … Dringend Ersatz … Bedaure, ohne panzerbrechende Waffen unmöglich‘“ (SO 140). Beim Mangel an Waffen und Ausrüstung ist die Grenze zum Verrat an dem, was recht ist, fließend, denn er kann auch als fehlende Fürsorge der kommandierenden Offiziere gelten, da unzulängliche oder fehlende Ausrüstung das Leben der Soldaten aufs Spiel setzt.¹¹² Für missbräuchliche Gewaltanwendung gibt es ebenfalls nur vereinzelt Hinwiese, wenn man vom Rittmeister absieht, der gezwungen wird, den Feldwebel zu erschießen. So verdeutlicht der Rückweg des Melders zur Front, dass die Deutschen keine Gefangenen machen: „Wenn man sie [russische Soldaten] truppweise im Walde fing, wurden sie erschossen, Einzelgänger wurden gehenkt“ (SO 38). Auch im biographischen Abriss von Viktor Lutz in Vergeltung findet sich ein solcher Hinweis auf deutsche Kriegsverbrechen: Lutz hat zu Beginn seiner militärischen Laufbahn eine Gruppe von Gefangenen erschossen; einen Gefangenen, den er zur Bestätigung der Erschießung am Leben gelassen hatte, musste er schließlich auch töten. Ein Problem stellt dies für die Armee nicht dar, im Gegenteil: „Das war der Beginn meiner Karriere“ (V 106). Allerdings desillusioniert ihn die eigene Tat und öffnet ihm die Augen für die wahre Natur des Krieges: „Vaterland, Heldentum, Tradition, Ehre sind Phrasen“ (V 106) – Leerformeln, die einen Mörder aus ihm gemacht haben. Auch Edel Noth quält sich in Faustrecht damit, dass er Gefangene erschossen hat; allerdings hatten diese zuerst geschossen, nachdem sie und ihre niedergelegten Waffen zunächst unbeachtet geblieben waren (FR 47). Es sind jedoch wohl keine Gewissensbisse, die Edel belasten, sondern vor allem die Tatsache, dass er nun auf einer nicht näher erläuterten Liste steht, die es ihm verwehrt, unter seinem richtigen Namen aufzutreten, ohne verhaftet zu werden. Das einzige Beispiel für missbräuchliche Gewaltanwendung, das Ledig ausführlich schildert, ist die Erschießung des Feldwebels durch den Rittmeister in Die Stalinorgel (SO 192– 199). Es wurde darauf hingewiesen, dass diese Erschießung vom üblichen Prozedere abweicht und in dieser Form ohne Urteil selbst gegen das Unrechtssystem der Wehrmachtsjustiz verstößt. Der Rittmeister befindet sich dabei in einer Situation besonderen Drucks: Zum einen hatte er bereits während der Verhandlung gegen den Jungen versucht, einen Freispruch für diesen zu er-

 Vgl. hierzu Shay (1998), 51– 53, der beschreibt, wie der Wechsel vom funktionierenden Gewehr M-14 zum defizitären M-16 im Vietnamkrieg von den amerikanischen Soldaten als Treuebruch empfunden wurde.

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wirken, und sich so gegen einen sanktionierten Mord gestellt, und zum anderen kann er den verbrecherischen Befehl des Majors nicht verweigern, ohne selbst in die Mühlen der Justiz zu geraten, weil er seine Stellung verlassen hat. Es kommt also auch hier zu einem Verrat an dem, was recht ist, da der Major seinen Befehl durch eine Erpressung durchsetzt. Die Verbindung dieser beiden Faktoren sowie die eigentliche Erschießung, die er trotz seiner Skrupel ausführt, zeitigen umgehend psychische Folgen: Mit Abscheu schleuderte er die Waffe von sich. Tränen stürzten über sein Gesicht. […] „Ein Bad“, flüsterte er. „Ein Bad nehmen!“ schrie er plötzlich und kehrte mit diesem Worten nie wieder in die Wirklichkeit zurück. Bis zu seinem Tode hieß es, er sei im Trommelfeuer irrsinnig geworden. (SO 199)

Der Rittmeister ist in diesem Fall sowohl Täter als auch Opfer. Seine aktive Rolle schützt ihn dabei nicht, denn auch für Täter können Situationen traumatisch sein;¹¹³ in diesem Fall kommen mehrere der von Shay genannten Faktoren zusammen, nicht zuletzt eine Verletzung moralischer Grundsätze und die erzwungene Ausführung einer unmoralischen und illegalen Tat. Gerade im Zusammenhang mit Traumatisierungen deutscher Täter im Zweiten Weltkrieg muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass sich Tätertraumata grundsätzlich von denen der Opfer insofern unterscheiden, als sie nicht durch ausgestandene Leiden und Ängste traumatisiert werden, sondern nachträglich durch überwältigende Gefühle von Scham und Schuld.¹¹⁴ Für den Rittmeister ist dies durchaus zutreffend, für die Holocausttäter bezweifelt Kansteiner den entsprechenden Werte- und Gesinnungswandel, der für eine solche Traumatisierung nach dem Krieg bei ihnen hätte stattfinden müssen.¹¹⁵ Die Erpressung des Rittmeisters durch den Major ist aber nicht das einzige Beispiel für Verrat an dem, was recht ist, in Ledigs Romanen. Einen umfassend – samt Folgen – beschriebenen Fall stellt auch die Behandlung des Melders dar, der sich vergeblich um seine Ablösung vom Weg zwischen Front und Bataillon bemüht: „Diesen Wettlauf mit dem Tod verdankte er hauptsächlich dem Feldwebel“ (SO 10). Seine Klage trägt er auch dem Major vor („‚Es ist ungerecht.‘ […] ‚Es wäre gerecht, wenn täglich gewechselt würde.‘ […] ‚Oder wenigstens wöchentlich‘“; SO 34 f.), stößt aber auch dort auf taube Ohren. Diese Behandlung führt schließlich zu seiner Desertion.

 Vgl. Huber (2007), 40 f.  Kansteiner (2004), 127.  Ebd.

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Die Verstöße gegen „das, was recht ist“, sind nicht auf die unteren Dienstgrade beschränkt, sondern ziehen sich durch die gesamte militärische Hierarchie. So stört sich der Major daran, dass sich der Oberst der Artillerie ein Haus im französischen Stil bauen lässt, Tafeln abhält, eine Geliebte hat und Dienstfahrten in die Etappe macht (SO 31). Außerdem fühlt er sich von der Division bzw. ganz konkret vom General im Stich gelassen (SO 76 – 78). Der schickt ihn mitten im russischen Angriff an die vorderste Front, während er selbst die Gefahrenzone verlässt (SO 83). Dieses Phänomen ist übrigens nicht auf die deutschen Truppen beschränkt, wie Sostschenkos Traum belegt, in dem ein russischer General erst den Tod aller Soldaten zu seiner Verteidigung fordert, um sich dann zu ergeben (SO 151 f.). Auch aus dieser Passage spricht das Gefühl des Soldaten, von seinen Vorgesetzten verraten zu werden. In Vergeltung werden ähnliche Töne angeschlagen, vor allem durch den Leutnant im Gespräch mit dem Funker: „‚Ich kann einen Befehl verweigern und mich dafür an die Wand stellen lassen. Ich kann aber keinen Befehl erteilen, wenn ich nicht selbst den Mut dazu habe, ihn auszuführen‘, sagte der Leutnant. […] Der Leutnant sagte: ‚Früher erschossen sich die Generäle, wenn sie eine Schlacht verloren hatten.‘ ‚Heute schreiben sie ein Buch darüber.‘ ‚Man sollte das wieder einführen‘“ (V 135). Diese Kritik ist auch vor dem erinnerungskulturellen Hintergrund der Entstehungszeit des Romans zu sehen: Durch den Leutnant des Jahres 1944 spricht hier auch der Autor des Jahres 1956, der deutliche Kritik an den apologetischen Erinnerungen der ehemaligen Generäle übt, die in ihren Memoiren nun allein Hitlers mangelnde militärische Einsicht für den verlorenen Krieg verantwortlich machen.¹¹⁶ Der Verrat an dem, was recht ist, zeigt sich also als gesamthierarchisches Problem, das nur durch das asymmetrische Rangverhältnis der jeweils Beteiligten nicht eskaliert. Sind die Rangunterschiede zwischen den Konfliktparteien jedoch aufgehoben, wie etwa im Arrest der Feldjäger, so treten die latenten Aggressionen offen zutage: Dort greift ein Gefreiter den Feldwebel an („Ihr Schweine habt uns geschunden, wo’s nur ging. Hier ist Schluß, verstanden?“; SO 98) und kann nur durch das Eingreifen eines Feldjägers gestoppt werden. Unter dem zuvor geschilderten Gesichtspunkt, dass im totalen Krieg die Unterschiede zwischen Soldaten und Zivilisten zumindest partiell aufgehoben sind, lässt sich der Verrat an dem, was recht ist, auf Störungen des Verhältnisses zwischen diesen beiden Gruppen ausweiten. Auch hierfür finden sich bei Ledig vereinzelt Beispiele. So betrügt die Frau des Gefreiten Schute diesen mit einem

 Zu denken ist hierbei etwa an Erich von Mansteins Verlorene Siege, das nur ein Jahr vor Vergeltung erschienen war.

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Mann, der nicht einrücken muss, unter Rückgriff darauf, dass man ja immer wieder von „Soldaten [höre], die sich mit Mädchen einließen“¹¹⁷ (SO 129). Auch die Misshandlung des Vaters durch den Trupp junger Soldaten in Vergeltung ist in diesem Licht zu sehen. Dem Fähnrich wird sein Fehlverhalten allerdings bewusst, als der Vater ihn einen Schuft schimpft (V 123). Die Folgen der immensen psychischen Belastung der Soldaten werden bei Ledig nicht ausgeblendet, kommen in Die Stalinorgel wegen der kurzen erzählten Zeit aber kaum zur Sprache. Nur hin und wieder finden sich Hinweise auf extreme Reaktionen Einzelner. Der Rittmeister und der Major wurden bereits angesprochen, dasselbe gilt für einen Soldaten, der sich selbst verstümmelt (SO 10). Darüber hinaus gibt es aber noch weitere entsprechende Stellen: So leidet der Melder durch die ständige Annihilationsdrohung während seines Weges bereits an Verfolgungswahn: „Die Einbildung, hundert Mündungen seien aus der Dunkelheit auf ihn gerichtet, ließ ihn zittern“ (SO 43). Anzeichen einer psychischen Beeinträchtigung zeigt auch ein junger Soldat im Feldjägerarrest: „Der Feldwebel erschrak. Solche Augen hatte er noch nie gesehen. In den Pupillen lag die Stumpfheit eines Blinden“ (SO 100). Auch seine erregte Gleichsetzung des zuständigen Feldgendarmen mit Gott (SO 101) weist auf eine Trübung der Urteilsfähigkeit hin. Ähnliches ist – zumindest in vorübergehender Form – für jene Soldaten anzunehmen, die „sich sinnlos auf einen Zug ohne Lokomotive“ stürzen, um der Gefahrenzone zu entkommen, und Plätze in diesem unbeweglichen Zug mit aller Gewalt und Brutalität verteidigen (SO 137 f.). Differenzierter sind die längerfristigen Folgen in Faustrecht anhand der Kriegsheimkehrer Rob, Edel und Hai dargestellt. Ohne an diesen eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren zu wollen, fällt doch auf, dass sie einige Symptome zeigen, die Shay als typisch für traumatisierte Veteranen nennt. Dies sind vor allem ein „Weiterbestehen und [eine] Aktivierung der Überlebenstechniken in Kampfsituationen im zivilen Alltag“ und die „Zerstörung der Fähigkeit, soziales Vertrauen aufzubauen“¹¹⁸. Letzterer Punkt wird auch von

 Zum „Soldatenleben – lustig Leben“ (SO 130), auf das Schutes Frau anspielt, vgl. Neitzel/ Welzer (2011), 217– 229. Anzunehmen ist hier eine Anspielung auf das Lied Lustig ist’s Soldatenleben: „Lustig ist‘s Soldatenleben / Für den König woll’n wir geben / unsern letzten Tropfen Blut / ein Soldat muß haben Mut / Wenn wir einst zu Felde ziehen / muß ein jeder sich bemühen / dem Feind zu schaden, wo er kann / ha, dann freut sich jedermann // Wenn Kanonen und Haubitzen / auch Granaten uns umblitzen / ja, dann merke jeder gleich / daß es geht für Thron und Reich // Wenn wir in den grauen Mänteln / mit den hübschen Mädchen tändeln / fühlen wir nicht Leid noch Schmerz / lustig ist’s Soldatenherz // Und ein Kranz von grünen Zweigen / muß den rechten Helden zeigen / Rufen wir Germania! / Ringsherum Viktoria!“  Shay (1998), 25.

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6 Traumata und Traumatisierungen

Huber als maßgeblicher Teil einer posttraumatischen Belastungsstörung gesehen: Sie erwähnt „Gefühle von Empfindungslosigkeit, losgelöst sein von anderen, Einsamkeit, Entfremdung von Nahestehenden, Kontaktunwilligkeit“¹¹⁹ sowie ein „Gefühl der Entfremdung von anderen; Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden; Gefühl, eine eingeschränkte Zukunft zu haben“¹²⁰. Außerdem nennt sie auch Albträume und Schlafstörungen.¹²¹ Diese Faktoren lassen sich an den männlichen Protagonisten von Faustrecht sämtlich beobachten. Das Gefühl einer eingeschränkten Zukunft wird hin und wieder angedeutet, etwa wenn Rob eines von Edels Bildern „Vergitterte Zukunft“ nennt (FR 40) oder feststellt: „Der Pfad führte ins Dunkle. Es gab nichts, wonach wir uns richten konnten“ (FR 38). Wesentlich offensichtlicher ist Robs Problem, Empfindungen und Nähe zuzulassen, d. h. seine Unfähigkeit zu zärtlichen Gefühlen. Wie chancenlos die Beziehung zwischen Olga und Rob ist, wird schon bei ihrer ersten Begegnung deutlich: Auf Olgas Frage, ob ihr Tod ihm etwas ausmachen würde, antwortet er nur: „‚Eine Leiche in der Wohnung kann ich nicht leiden‘“ (FR 10). Schon hier zeigt sich die emotionale Kälte und Distanz. Auch auf ihre Annäherungsversuche reagiert er deutlich: „Ich wandte den Kopf zur Seite. ‚Reden wir von etwas anderem. Das ist zwecklos‘“ (FR 10). Die Kommunikation der beiden scheitert an Robs Distanz und seiner Unfähigkeit, Olgas Gefühle positiv zu verarbeiten. Für Wolfgang Ferchl demonstriert Faustrecht so die Unmöglichkeit eines Zusammenlebens der vom Krieg Gezeichneten, wobei er vor allem die Heimkehrer als traumatisiert sieht: „Die defekte Wirklichkeit, die die sinnlosen Tode und das Scheitern der Liebe bedingt, ist im Roman allgegenwärtig“.¹²² Robs Unfähigkeit zu Nähe deckt sich also mit den Faktoren, die Shay und Huber nennen, sowie mit Hermans Hinweisen darauf, dass traumatische Erlebnisse „zwischenmenschliche Beziehungen in den Grundfesten“¹²³ erschüttern. Dies betrifft häufig das Verhältnis zum anderen Geschlecht: „Wie die Psychologin Josefina Card festgestellt hat, berichteten Vietnamveteranen häufig über Schwierigkeiten im Umgang mit Frauen und Freundinnen oder allgemein mit emotionaler Nähe zu anderen Menschen.“¹²⁴ Dass Rob das Kampfgeschehen nicht hinter sich gelassen hat, zeigt sich am eindrücklichsten an seinem Traum von Monte Cassino:

     

Huber (2007), 68. Ebd., 70. Ebd., 68. Ferchl (1991), 183. Herman (2006), 77. Ebd., 93.

6.5 Traumata in Gert Ledigs Romanen

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Im Traum kehrte ich zurück in den Graben am polnischen Abschnitt von Monte Cassino, und die Granaten hatten den toten Kindern die Kleider vom Leibe gerissen, und wir bedeckten ihre Blöße mit Zeltplanen, aber die Planen waren zu kurz, und nachts kamen die Ratten und nagten das Fleisch von den Beinen, und wenn sie satt waren, pfiffen sie. Sie bevorzugten Fleisch von Waden, und die Verwesten rochen süßlich wie Leuchtgas. (SO 137 f.)

Dies ist kein „normaler“ Traum, dessen Inhalt symbolisch zu deuten wäre; vielmehr handelt es sich offensichtlich um einen intrusiven Traum infolge eines Kampftraumas, in dem tatsächliche Erfahrungen Rob heimsuchen.¹²⁵ Den belastenden Aspekt bilden ganz offensichtlich die toten Kinder. Tote Kameraden (die es in der Schlacht um Monte Cassino zahlreich gab¹²⁶) sind offenbar im Gegensatz zu den Kindern nicht Teil der traumatischen Erfahrung, weil ihr Tod innerhalb des normalen Referenzrahmens liegt.¹²⁷ Die Bedeutung und Häufigkeit solcher Träume für die Kriegsheimkehrer betont auch Svenja Goltermann: Der zurückgekehrte Soldat träumte offenbar oft vom Krieg – diese Vorstellung legen jedenfalls einige filmische und literarische Darstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit eindringlich nahe, und das umso mehr, als in ihnen gelegentlich auch das Bild von einem gesellschaftlich ebenso vorhandenen wie verdeckt gehaltenen Wissen über Alpträume der Kriegsheimkehrer gezeichnet wird.¹²⁸

Während sich die gestörten sozialen Kompetenzen vor allem an Rob zeigen, kann Hais Verhalten als Beispiel für „Weiterbestehen und Aktivierung der Überlebenstechniken in Kampfsituationen im zivilen Alltag“ gesehen werden. Dies betrifft weniger seine Aktionen gegen die Amerikaner, die Rob ganz lapidar erklärt: „Für Hai ist der Krieg eben noch nicht zu Ende.“ Allerdings ist (tödliche) Gewalt für Hai auch die einzige Lösung, um das Problem der beiden Mitwisserinnen Katt und Olga zu lösen (FR 122, 131– 133, 154, 162). Auch Shay merkt an, dass es für Soldaten mit Kampftraumata nicht mehr vorstellbar ist, eine Auseinandersetzung auszutragen, ohne dass diese mit dem Tod eines der Beteiligten endet.¹²⁹ Hai selbst sieht die Gründe für sein Verhalten ganz klar im Krieg begründet: „Uns ist jahrelang befohlen worden, immer irgend jemanden zu töten. Mit fiel es zum Schluß gar nicht mehr auf.“  Zur Opposition symbolischer und intrusiver Träume vgl. Caruth (2000), 86.Vgl. auch Herman (2006), 61. Auch Meyer nennt den sogenannten battle dream das „wichtigste Element in der Kriegsneurose“; vgl. Meyer (1961), 579. Zum Traum als „Interpretationsvehikel für eine innere Pein“ vgl. Goltermann (2009), 50 ff.  Die deutschen Verluste beliefen sich auf etwa 20.000 Mann.  Vgl. hierzu auch Shay (1998), 228.  Goltermann (2009), 51.  Shay (1998), 245.

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6 Traumata und Traumatisierungen

Die Beispiele für Ledigs Darstellung des Krieges als einer traumatischen Situation zeigen, dass darin die zuvor erläuterten Aspekte seiner Zeichnung des Krieges zusammenlaufen und kumulieren. Eine Tötungstechnik, der der menschliche Körper relativ schutzlos gegenübersteht und die ebenso zufällig wie willkürlich zuschlägt, bedeutet eine ständige Annihilationsdrohung. In Verbindung mit einem Kriegsgeschehen, das für den Einzelnen in seiner Gänze nicht mehr erfassbar ist, ihn gleichzeitig aber in eine feste, gleichwohl massiv reduzierte Kriegsidentität presst, kommt es zu einer Krise des Individuums, zumal auch traditionelle Sinnstiftungen (etwa soldatischer Heroismus, aber auch theologische Deutungsmuster) vor der Gewalt zerbrechen und keinen Halt mehr geben können. Die Folge ist eine Verkehrung der Welt, in der nicht nur zivilisiertes Verhalten weitgehend außer Kraft gesetzt ist, sondern in der selbst rudimentäre Orientierung kaum noch möglich ist. Der traumatische Charakter der Situation gipfelt schließlich darin, dass der Bedrohung des eigenen Lebens kaum Widerstand entgegengesetzt werden kann, gleichzeitig aber auch keine Flucht möglich ist. Alle Versuche, sich zu entziehen, sind wiederum mit einer starken Gefährdung des Lebens verbunden. Ledig konzentriert sich zwar auf die Charakterisierung des Krieges als einer traumatischen Situation, deutet aber auch die Folgen für den Einzelnen an. So stellt er unmittelbare psychische Reaktionen ebenso dar wie längerfristige Entwicklungen. Wer den Krieg überlebt, mag zwar physisch weitgehend unbeschadet davongekommen sein, doch leidet seine Persönlichkeit. Wo die Erfahrung nicht (wie beim Rittmeister) direkt in den Wahnsinn führt, bleiben doch seelische Wunden zurück. Die Darstellung der Heimkehrer in Faustrecht lässt anklingen, dass der längere Verbleib in einer Umgebung, die Ledig als komplett unmenschlich und unzivilisiert ausweist, nicht nur zu einer kurzfristigen Degradation führt, sondern den Betroffenen die Rückkehr in ein „normales“ ziviles Leben insofern erschwert, als sie zu grundlegender sozialer Interaktion nicht mehr in der Lage sind. Auffällig ist, wie hellsichtig Ledig Traumata und Traumatisierungen verstanden und dargestellt hat, bevor diese überhaupt zu einem psychologischen Schlagwörtern wurden und etwa eine Diagnose wie die posttraumatische Belastungsstörung als akzeptiertes Krankheitsbild definiert wurde.

7 Gewaltsamer Stil 7.1 Begriff und Grundlagen Ledigs Beschäftigung mit den Traumata des Zweiten Weltkriegs erschöpft sich aber nicht in ihrer reinen Darstellung.Vielmehr hebt er sie auch auf die stilistische Ebene und versucht so, sie den Lesern nicht nur vor Augen zu halten, sondern sie ihnen bis zu einem gewissen Grad erfahrbar zu machen. In dieser Methode, dem Text den traumatischen Charakter der Situation einzuschreiben, um ihn so für die Verdrängenden seiner Zeit, aber auch für die Nachgeborenen zu konservieren, ist – viel stärker noch als in der authentischen Zeichnung von Traumata und Traumatisierungen – Ledigs originärer Ansatz zu sehen, sich diesen Erlebnissen und ihren Folgen literarisch zu nähern und sie ins Wort zu bannen. Indem Ledig seinen ersten beiden Romanen auch auf der stilistischen Ebene eine gewisse Gewaltförmigkeit verleiht, verlagert sich die Gewalt von der rein inhaltlichen auf eine ästhetische Ebene.¹ Sie wirkt dort nicht mehr auf die Figuren, sondern auf die Leser, die sich mit einer „Sprache der Gewalt“² im eigentlichen Wortsinne konfrontiert sehen. Man könnte diesbezüglich wie Gabriele Hundrieser in Anlehnung an Karl-Heinz Bohrer, der diesen Begriff auf Kleist anwendet, von einem „tödlichen oder mörderischen Stil“³ sprechen.⁴ Da Ledig aber auch gewaltsame Stilelemente verwendet, die weniger an Kleist erinnern (oder an Kafka, den Bohrer ebenfalls als exemplarisch für den „mörderischen Stil“ untersucht⁵), sondern eher an Louis-Ferdinand Céline, soll im Folgenden neutraler von einem „gewaltsamen Stil“ die Rede sein. Dabei wird zu zeigen sein, dass Die Stalinorgel nur Ansätze dieses Stils zeigt, während er in Vergeltung voll ausgeprägt ist. Es ist in diesem Zusammenhang zu hinterfragen, inwiefern dies die unter-

 Dass eine „Ästhetik der Gewalt“ sich nicht nur auf eine Betrachtung der inhaltlichen Elemente beschränken darf, sondern auch die formal-stilistische Ebene eines Textes umfassen sollte, sei hier vorausgesetzt, auch wenn dies noch keineswegs selbstverständlich ist. Es sei hierzu verwiesen auf Bohrer, Karl Heinz: Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren. In: Grimminger, Rolf (Hg.): Kunst, Macht, Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität. München, 2000, 25 – 42; Bohrer, Karl Heinz: Die Grenzen des Ästhetischen. München 1998, 138 – 159; sowie – konkret zu Ledig – auf Hundrieser (2003).  Trotz dieses Titels befasst sich Angelika Brauchle in ihrer Arbeit kaum mit dieser Thematik, obwohl sie ihr bewusst ist, wie ein kurzer Hinweis darauf belegt; vgl. Brauchle (2008), 37.  Bohrer (2000), 29.  Hundrieser (2003), 370.  Vgl. Bohrer (2000), 32– 39. https://doi.org/10.1515/9783110657128-008

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7 Gewaltsamer Stil

schiedliche Rezeption der beiden Romane bei ihrer Erstveröffentlichung beeinflusst haben könnte. Vier Elemente konstituieren Ledigs gewaltsamen Stil. Erstens ist dies der Blick auf Details, der schonungslos die Situation und die Folgen des Krieges vor Augen führt. Er bedeutet neben einer unverstellten Sicht auf die blutigen und teils überaus intimen Einzelheiten des Sterbens im Krieg auch eine Darstellung, die wie im Zeitraffer solche Vorgänge erfasst, die sonst unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsgrenze liegen. Daneben steht als zweites die extreme Lakonie, mit der die Schrecken des Krieges geschildert werden und die ihre Zuspitzung in unvermuteten Pointen erfährt. Diese grenzen an Zynismus und rücken Ledig in die Nähe dessen, was Bohrer mit Blick auf Kleist eine „Affinität zum grausamen Witz des anekdotisch-seltsamen Vorkommens“⁶ nennt. Hinzu kommt als drittes Element der Versuch, das Tempo bzw. die Beschleunigung der Handlung so auf den Rhythmus des Textes zu übertragen, dass bei den Lesern der Eindruck entsteht, ebenso gehetzt zu sein wie die Figuren. Zuletzt ist die Übertragung der Haltund Orientierungslosigkeit der Figuren auf die Leser zu betrachten; dies geschieht, indem Ledig Letzteren kaum Mittel zur räumlichen oder zeitlichen Orientierung an die Hand gibt. Die Kombination der vier genannten Elemente ergibt einen Stil, der auf einer Metaebene Gewalt auf die Leser ausübt. Die Folge ist eine – freilich abgemilderte, aber dennoch vorhandene – Fortsetzung des inhaltlichen Schreckens auf der ästhetischen Ebene. Dies wiederum führt dazu, dass das Unwohlsein, das schon die Handlung bei den Lesern auslöst, durch die stilistische Bearbeitung verstärkt wird. Es fällt ihnen somit noch schwerer, „sich in der Welt dieser Texte […] ‚einzurichten‘ und ‚heimisch‘ zu fühlen“, wie Hans Ulrich Gumbrecht für den ähnlich gelagerten Fall Célines konstatiert.⁷

7.2 Das „Vor-Augen-Führen“ Das erste Mittel, mit dem es Ledig gelingt, die Gewaltförmigkeit der Handlung auch in den Stil zu transportieren, ist seine konsequente Weigerung, die konkreten Auswirkungen des Krieges und der Kriegstechnik auszublenden. Dies ist

 Ebd., 29.  Zu denken ist hier etwa an dessen Beschreibung des Ersten Weltkriegs in Reise ans Ende der Nacht, aber vor allem auch an die stärkere Dynamisierung und Rhythmisierung seiner Prosa in Tod auf Kredit; vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Louis-Ferdinand Céline und die Frage, ob Prosa gewaltsam sein kann. In: Grimminger, Rolf (Hg.): Kunst, Macht, Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität. München 2000, 142.

7.2 Das „Vor-Augen-Führen“

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unter anderem seiner Konzentration auf einen Mikrokosmos innerhalb des Krieges geschuldet, da sowohl Die Stalinorgel als auch Vergeltung kaum über das unmittelbar beschriebene Geschehen hinausweisen; größere Zusammenhänge bleiben weitgehend außen vor. Indem Ledig den Krieg quasi im Labor betrachtet, eignet er sich die Charakteristika eines Experimentators an. Hierzu ist die klinische, distanzierte und relativ emotionslose Sprache zu rechnen, die im Folgenden noch angesprochen wird, aber auch der Zeigeimpetus eines Wissenschaftlers, der einem Laienpublikum etwas demonstrieren bzw. dieses aufklären will – in diesem Fall auch bzw. gerade weil es so drastische Ergebnisse sind. Ledig will seinen Lesern genau vor Augen führen,⁸ was die Kriegstechnik anrichtet, und zwingt sie durch seine detaillierten Beschreibungen gleichermaßen genau hinzusehen. Dieses Stilmittel ist auf den „Stoß“ angelegt, d. h. auf den kalkulierten (Schock‐) Effekt beim Leser. Die Schockwirkung bei den Lesern ist mit einem erzieherischen Impetus verbunden, den Ledig seiner „gefährlichen Literatur“ zusprach.⁹ Konkret äußert sich der Wille, dem Leser die Auswirkungen der Kriegsgewalt nicht nur nicht zu ersparen, sondern bis ins kleinste Detail vorzuführen, vor allem in jenen Szenen, die die „Unangemessenheit des Leibes“ illustrieren und grotesk anmuten, so etwa der Tod des Obergefreiten in Die Stalinorgel oder die Verletzungen der Bombercrew in Vergeltung. Mit kühlem Blick werden verschiedene Verwundungen aufgeführt und detailliert geschildert. Die Leser werden so zu direkten Zeugen einer potentiell traumatischen Gewalteinwirkung. Denkt man daran, dass Céline, der Mediziner, in Die Reise ans Ende der Nacht ganz ähnlich vorgeht, wenn er die Verwundeten und Leichen der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs beschreibt, könnte man auch mit Gumbrecht von „‚klinisch‘-unterkühlt präsentierten Beschreibungen pathologischer Einzelheiten“ sprechen, die „jede Toleranzgrenze“ überschreiten.¹⁰

 Bohrer identifiziert das „Vor-Augen-Führen“ bereits bei Montaigne (unter Rückgriff auf antike Vorbilder wie Lucan) als Stilmittel, um „die Dinge selbst als überfallartig vor Augen zu führen“, wobei er den Kern dieses Vorgehens „im Stoß der Rede, im Effekt des auf den Stoß angelegten Stils“ sieht; vgl. Bohrer (2000), 26 f.  Vgl. Ledig (1957, Literatur)  Gumbrecht (2000), 138. Es sei hier auch erwähnt, dass Célines Erzähler Ferdinand offensichtlich ebenfalls von seinen Kriegserlebnissen traumatisiert ist. „Sein Kriegstrauma äußert sich darin, dass er nachts nicht schlafen kann, was jede baldige Heilung unterbindet. […] Dieses Kriegstrauma manifestiert sich zuweilen in den Zügen eines cartesischen Wahns, der eine Unsicherheit entstehen lässt, ob die gewöhnlichen Leute, die etwa durch das Fenster auf der Straße sichtbar sind, tatsächlich das sind, als was sie erscheinen.“ Bronfen, Elisabeth: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München 2008, 491 und 493 f.

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7 Gewaltsamer Stil

Auf die Leser, die emotional am Geschehen beteiligt sind, wirkt dieses Kühle grausam, zumal sie gezwungen sind, einem Sterben beizuwohnen, das nicht kurz und schmerzlos, nicht sauber und heldenhaft ist; vielmehr sind sie immer wieder Zeuge von langsamen, schmutzigen und qualvollen Toden. So ruft Ledig Schaudern und auch Ekel hervor. Er sorgt bei den Lesern aber nicht nur durch die drastische Darstellung extremer Körperlichkeit für Unwohlsein, sondern auch, indem er sie zwingt, an Extrem- und Gewaltsituationen teilzuhaben, die nur mittelbar Folgen der Kriegsgewalt sind. In diesem Zusammenhang ist etwa auf den Selbstmord des Soldaten in Vergeltung hinzuweisen, der Dessy Cheovski rettet (V 164 f.), vor allem jedoch auf die Vergewaltigung des Mädchens unter den Trümmern. Gerade diese Szene sorgte unter den Rezensenten bei der Erstveröffentlichung des Romans für Entrüstung (s.u. 9.2). Ihr ist ein gewisser voyeuristischer Charakter nicht abzusprechen, gerade weil es sich nicht um die Darstellung unmittelbarer Kriegsgewalt handelt. Doch ähnlich wie bei der Gewalt gilt auch, dass Ledig die Leser zwingt, Zeugen einer als traumatisch gekennzeichneten Situation zu sein. Ausgehend von der Widmung des Romans lässt sich darüber spekulieren, ob sich Ledig mit der Vergewaltigung zumindest in Teilaspekten auf eine tatsächliche Begebenheit stützt. Zwar steht Vergeltung wie Die Stalinorgel eine Bemerkung vor, dass die Figuren des Romans weder mit lebenden noch toten Personen identisch und Ähnlichkeiten somit rein zufällig sind.¹¹ Gleichzeitig findet sich dort jedoch auch die Zueignung „Einer Toten gewidmet, die ich als Lebende nie gesehen habe“ (V 7). Mit Genette¹² lässt sich also spekulieren, ob Ledig Vergeltung hiermit nicht nur in memoriam einer realen Person zueignet, sondern ob diese nicht auch – die Widmung beweist ja ihre Bedeutung für den Roman – Eingang in den Roman gefunden hat. Die einzige prominente weibliche Figur, die im Roman das Leben verliert, ist das Mädchen, zumal dieser Handlungsstrang verhältnismäßig viel Raum einnimmt. Die Widmung bezöge sich also womöglich auch metaleptisch auf eine der Figuren des Romans.¹³ Die herausgehobene Stellung des Mädchens zeigt sich unter anderem daran, dass sein Lebenslauf im Buch als erster aufgeführt ist und auf den (nicht so betitelten) Prolog folgend dem ersten Kapitel voransteht; der biographische Einschub der ähnlich zentralen Figur Strenehens folgt erst wesentlich später. Ledig

 Nur in der Originalausgabe von 1956; in der Wiederveröffentlichung von 1999 fehlt dieser Absatz.  „Erwähnt man als Auftakt oder Schlußtakt eines Werkes eine Person oder eine Sache als vorrangigen Adressaten, so wird sie zwangsläufig als eine Art idealer Inspirator einbezogen“; Genette (2001), 133.  Vgl. zu dieser Art der Widmung ebd., 130.

7.2 Das „Vor-Augen-Führen“

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ordnet diese Lebensläufe keinesfalls willkürlich an; so steht der autobiographische Einschub des Arztes, der als einzige Figur nicht ambivalent angelegt ist, sondern klar negativ gezeichnet ist und Antipathie weckt, an letzter Stelle.¹⁴ Die Lebensläufe von Arzt und Mädchen bilden somit Gegenpole, was ebenfalls die besondere Rolle des Mädchens betont. Zusätzlich zu Ledigs Bekenntnis zu „gefährlicher Literatur“, die nicht vor Tabubrüchen zurückschreckt,¹⁵ könnte eine solche Sonderstellung der Figur des Mädchens eine weitere Motivation für diesen Handlungsstrang gewesen sein. Dass er damit Irritationen und Kontroversen auslösen würde, muss Ledig klar gewesen sein. Eine zweite Facette dieses „Vor-Augen-Führens“ besteht darin, dass Ledig nicht nur zeigt, was man nicht sehen will, sondern auch, was für das menschliche Auge in der Situation eigentlich nicht wahrnehmbar ist. So finden sich gerade in Vergeltung wiederholt Szenen, „die weit unter der Wahrnehmungsschwelle des Augenzeugen“ liegen, wie Andreas Hoeschen bemerkt hat.¹⁶ Er bezieht sich dabei auf die Beschreibung der Wirkungen, die Sprengbomben auf die städtische Architektur haben: Das Haus stürzte ein. Die dreistöckige Fassade rollte sich zusammen. Sechs Wohnungseinrichtungen samt Küchenherden, Badewannen und Klosettschüsseln stürzten auf den Keller. Der Hof wurde zur Schutthalde. Was in den Himmel flog, war Asche und Rauch. Die Detonationen der nächsten Bombe schmetterten die Trümmer durcheinander. Luftdruck fegte, was sich in der Luft befand, fünfzig Meter durch die Straße. Luft verdrehte schnell einen Eisenträger zur Spirale. Luft zertrümmerte ein Gewölbe, und Hitze entzündete, was entzündbar war wie Zelluloid. (V 45)

Daneben gibt es auch Passagen, in die Handlung von Sekundenbruchteilen gestreckt wird und das Geschehen wie in Zeitlupe abläuft. Dies ist etwa der Fall, wenn Strenehen in Gedanken seinen Aufprall auf dem Boden voraussieht: „Die erste Berührung. Das Rückgrat auf der steinernen Fläche, dreitausend Meter tiefer. Der Aufschlag des Hinterkopfes. Die Sprünge der Gehirnschale. Das blitzartige Zerbrechen des Beckens. Die Zersplitterung der Ellenbogen“ (V 50). Die Beschreibung unterhalb der Wahrnehmungsgrenze ist hier mit der zuvor erwähnten klinischen, unterkühlten Darstellungsart verbunden, wodurch die Szene – wenn sie auch nur eine Vorstellung Strenehens ist – noch an Eindrücklichkeit gewinnt. Eine ähnliche Passage findet sich auch in Die Stalinorgel beim Tod des Gefreiten vom Panzervernichtungstrupp:

 Es handelt sich außerdem um die dreizehnte Position; die Zahlensymbolik ist eindeutig.  Seeliger, Rolf: Interview mit Gert Ledig. In: Proben und Berichte, H. 9 (1958).  Hoeschen (2005), 182.

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7 Gewaltsamer Stil

In diesem Moment tropfte aus dem Stahlrohr des Flammenwerfers eine ölige Flüssigkeit. Ein harmloser Funke zuckte auf. Plötzlich spritzte glühendheiße Lohe in sein Gesicht. Sein Kopf brannte wie Zunder. Die Mine begann zu glühen. Eine gewaltige Detonation: den Gefreiten gab es nicht mehr. Eine Druckwelle fauchte in das Loch. Eine Welle von Luft schlug gegen Erdwände, gegen Beton, Stichflammen rasten auf andere Minen zu. Im Nu verkohlten Papier, Uniformfetzen, Fleisch. Der entzündete Sprengstoff hob den Betonklotz an, warf das Gerippe des Mastes in die Luft. (SO 108)

Auch wenn dieses Stilmerkmal in Die Stalinorgel bereits vereinzelt auftritt, ist auffällig, dass das „Vor-Augen-Führen“ erst in Ledigs zweitem Roman wirklich zur Geltung kommt. In Vergeltung zeigt sich ein stärkerer Stilwille, d. h. ein deutlicheres Bekenntnis zum gewaltsamen Stil,¹⁷ indem die Leser in deutlich größerem Ausmaß zum Hinsehen gezwungen werden. Bezeichnenderweise ist gerade dieses Stilmittel von der Kritik ambivalent aufgenommen worden: Beim Erstling wurde Ledig noch explizit dafür gelobt, dass ihm so ein genaues Abbild des Krieges gelungen sei – man sprach von einer „schmerzend exakte[n] Phänomenologie des Grauens“.¹⁸ In den Rezensionen von Vergeltung war davon keine Rede mehr; stattdessen überwogen negative Urteile. Der Vorwurf des Voyeurismus ist bereits angesprochen worden. Daneben wurde kritisiert, dass Ledigs Beschreibung sich nicht länger an der Wirklichkeit orientiere und Authentizität vermissen lasse.

7.3 Lakonie und grausame Pointen Ledigs Prosa ist hochgradig nüchtern. Er schildert den Krieg in den Passagen von Die Stalinorgel und Vergeltung, die keine Dialoge enthalten, aus der Sicht eines neutralen Berichterstatters. Zusammen mit der sprachlichen Verknappung und der dominierenden Parataxe entsteht so ein äußerst lakonischer Stil, der an vielen Stellen unbeteiligt und kalt, wenn nicht gar zynisch wirkt. In diesen Zügen zeigt sich wiederum Ledigs Nähe zu Kleist, insbesondere zu dessen Merkwürdigkeiten

 Ganz unabhängig vom gewaltsamen Aspekt von Ledigs Stil kann man in Anlehnung an KarlHeinz Bohrer schon allein in diesem unbedingten Stilwillen eine gewisse Gewaltförmigkeit sehen, die „im definitiven Stilbewußtsein überhaupt“ angelegt ist: „[I]n jedem ausgeprägten Stil [liege] etwas Aggressives […], weil sich hier eine spezifische Formentscheidung oder spezifische Redeform vom prallen Leben selbst gewissermaßen abschneidet; daß in diesem buchstäblichen Abschneiden vom Ganzen eine Vereinzelung, ja Verletzung gegenüber dem Ganzen auftritt, die es in der normalen Rede oder konventionell wissenschaftlichen Rede nicht oder sehr selten gibt. Stil hat ja wohl etwas mit Pointe, also mit einer Spitze zu tun.“ Bohrer (2000), 26.  Hühnerfeld, Paul: Die Stalinorgel und das geduldige Fleisch. In: Die Welt vom 7. 3.1955.

7.3 Lakonie und grausame Pointen

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und Anekdoten, zu dessen Prosastil Bohrer bemerkt: „Was bei dieser stilistischen Eigenart, das Furchtbare sozusagen teilnahmslos zu berichten und eben dadurch zu verschärfen oder zu pointieren, besonders zum Tragen kommt, ist dann die Struktur des atemberaubenden Nacheinanders des Erzählten bis zur Zuspitzung auf einen Punkt hin.“¹⁹ Letzteres ist auch bei Ledig der Fall, wenn die wertungsfreie Wiedergabe der Kriegsschrecken sich auf Pointen²⁰ zuspitzt, die in ihrer Lakonie und scheinbaren Unberührtheit durch das Erzählte grausam und zynisch erscheinen. Beispiele dafür finden sich in Ledigs ersten beiden Romanen mehrfach: „Zurück blieb ein Toter, über dem die Mücken tanzten, bis man ihn fand. War Morast in der Nähe, fand man ihn nie“ (SO 20). „In diesen sechzig Minuten wurde zerrissen, zerquetscht, erstickt. Was dann noch übrig war, wartete auf morgen“ (V 11). Der Begriff der Pointe, also der „Spitze“, und die Überraschung, mit der sie die Leser – wie ein Schlag²¹ – trifft, verdeutlichen bereits die Gewaltförmigkeit dieses Stils; mit dieser plötzlichen, unvermittelten Gewalt, auf die die Leser nicht vorbereitet sind, überträgt Ledig wiederum einen Aspekt der traumatischen Kriegssituation von der inhaltlichen auf die stilistische Ebene. Verstärkt wird dies zusätzlich durch die in der Regel wesentlich stärkere emotionale Beteiligung der Leser an der Handlung, als sie der distanzierte Erzähler aufzuweisen scheint. Solche Pointen können bei Ledig ohne größeren Spannungsaufbau auftreten („Ein kleiner Schuh flog mit der Bombenfontäne in die Luft. Das machte nichts. Er war schon zerrissen“; V 9). Sie können aber auch den Abschluss einer längeren Szene bilden, wie bei den meisten längeren Todesszenen, so etwa jener des Obergefreiten zu Beginn von Die Stalinorgel („Er roch noch vier Wochen süßlich. Bis nur noch Knochen von ihm im Waldgras herumlagen. Zu einem Grab kam er nie“; SO 8) oder jener des Priesters in Vergeltung („Dem Priester schwollen die Adern über der Stirn, so schrie er.Viermal sechzig Sekunden hatte er Zeit. Er stellte einen Rekord auf im Schreien. Bevor er verbrannte“; V 86). In beiden Ausprägungen entsteht der gewaltsame Stil aus der Lakonie der Erzählung. Im ersten Fall kommen noch Überraschung und Frappanz hinzu, da der Schilderung keine längere Episode vorangeht; im zweiten Fall trägt dazu eher der Kontrast zwischen der Unberührtheit des Erzählers und der Handlung bzw. der emotionalen Reaktion, die bei den Lesern hervorgerufen wird, bei.

 Bohrer (2000), 30.  Der Begriff „Pointe“ wird hier neutral verwendet; sein Schwerpunkt liegt auf dem überraschenden Aspekt, weniger auf dem geistreichen Witz.  Bohrer spricht daher im vergleichbaren Kontext Montaignes auch von einem „frappierendem Charakter“; vgl. Bohrer (2000), 27.

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7 Gewaltsamer Stil

Die grausamste Pointe Ledigs stellen wohl die letzten Sätze von Vergeltung dar, in denen er eine apokalyptische Lesart explizit verneint: „Nur das Jüngste Gericht. Das war sie [die Vergeltung] nicht“ (V 199). Keine der vorhergehenden Spitzen besitzt eine vergleichbare Frappanz, da bei keiner die Vorbereitung (durch den Aufbau der apokalyptischen Stimmung im gesamten Roman) länger und die Fallhöhe für den Leser höher ist. Dazu kommt, dass hier ein Wechsel in der Art der Aggressivität stattfindet.War der gewaltsame Stil zuvor vor allem passiv-aggressiv, so geht Ledig in den letzten Zeilen des Romans zu einer offenen Aggressivität über, die sich direkt gegen die Leser als Teil der Nachkriegsgesellschaft („Später wollten einige das vergessen. Die anderen wollten es nicht mehr wissen. Angeblich hatten sie es nicht ändern können“; V 199) und ihr Leseverhalten richtet. Betrachtet man diese Pointen mit frappierendem Charakter isoliert und vergleicht die Beispiele aus den beiden Romanen, so fällt auf, dass sie in Vergeltung wesentlich häufiger auftreten und im Vergleich zu Ledigs Erstling stärker verknappt und radikalisiert sind. Dies führt dazu, dass die Frappanz in Vergeltung durch die unvermittelten Spitzen zunimmt, während die Pointen in Die Stalinorgel als Abschluss längerer anekdotischer Szenen wesentlich weniger plötzlich und somit auch weniger gewaltsam wirken. Dies zeigt, wie Ledig im zweiten Roman seinen gewaltsamen Stil perfektioniert. Denn bereits im Erstling gibt es Szenen, die sich für die frappanten Pointen angeboten hätten, die von Ledig aber noch viel traditioneller und weniger zugespitzt geschrieben sind. Zu denken ist hier etwa an die Passage, in der Sonja Schaljewa auf dem russischen Verbandsplatz auf einen Verwundeten trifft, der anscheinend seine Genitalien verloren hat. In Vergeltung wäre diese Szene vermutlich knapper ausgefallen. Die ausführliche Beschreibung der Reaktion des Mannes und der abschließende Satz („Er ließ sich willenlos verbinden und hinaustragen“; SO 123) aber mildern die Pointe („Der würde keine Frau mehr herausfordern“; SO 123) deutlich ab. So zeigt Die Stalinorgel durch seine kühle Lakonie und die Weigerung, die Folgen der Kriegstechnik auszublenden, sowie durch seine gehetzte Erzählweise deutliche Merkmale eines gewaltsamen Stils, wenn auch – wie schon beim „Vor-Augen-Führen“ – weniger extrem als in Vergeltung.

7.4 Gehetzter Stil Durch die grausamen Pointen und das konsequente „Vor-Augen-Führen“ gelingt es Ledig, Aspekte des Krieges wie seine Plötzlichkeit und seine konkreten Auswirkungen auf die stilistisch-ästhetische Ebene des Textes zu übertragen. Ergänzt wird dies dadurch, dass seine Prosa in Die Stalinorgel und Vergeltung Charakte-

7.4 Gehetzter Stil

175

ristika der Dynamik des Kriegszustandes trägt. Auch in dieser Hinsicht steht sie wieder in der Nähe Célines, für den Gumbrecht bemerkt: Das, worum es Céline vor allem zu gehen scheint, der sich beschleunigende Rhythmus der Prosa, wird von der Textstruktur […] verkörpert. Von Seite zu Seite schrumpfen die TextAbschnitte, die durch Punktierung produzierten Intervalle, welche Sätze in Satzfetzen zerreißen, werden häufiger, und immer erbarmungsloser fühlt sich der Leser von dieser Prosa gehetzt.²²

Ledig erreicht eine ähnliche Wirkung, freilich mit ganz anderen Mitteln als der Franzose. Bei Céline gründet die Dynamisierung auf einer sogenannten Punktierung, der Zerfaserung des Textes sowie einer starken Einbindung von Umgangssprache bzw. Argot und Lautmalereien, die seine Prosa unmittelbarer wirken lassen. Ledig dagegen bedient sich einer Methode, das Tempo des Geschehens auf die Textebene zu übertragen, die seinem kühlen Stil einer Berichterstattung korrespondiert, weshalb ihm Célines ‚vulgäre‘ Ausdrucksformen nicht zur Verfügung stehen. Stattdessen gelingt ihm die Dynamisierung durch weitgehende Parataxe, die teils sogar nur mehr elliptisch ist. Beispielhaft finden sich solche Elemente etwa beim Lauf des Melders vom Gefechtsstand zum Bataillon am Anfang von Die Stalinorgel (SO 10 – 24). Die Prosa orientiert sich in ihrer Geschwindigkeit hier eindeutig an der Dynamik des Geschehens: Beschleunigt sich die Handlung, wie etwa bei den Stalinorgelangriffen, so gilt dies ebenso für ihre Beschreibung: Zwei-, dreimal brüllte es auf. Dann das Kreischen einer verstimmten Orgel. Eine Lähmung legte sich über den Frontabschnitt. Das Tacken der Maschinengewehre brach ab. Die Scharfschützen zogen die Karabiner in die Brüstung. Die Männer an den Granatwerfern rückten zusammen. Den Geschützführern erstarb der Befehl auf den Lippen. Auch der Melder hemmte seinen Schritt. Dann brach es herein. Unzählige Blitze zerrissen den Wald. Fast ein halbes Hundert Geschosse zerplatzte an den Stämmen oder auf der Erde. Ein ohrenbetäubendes Donnern. Feuer, Pulverdampf, faustgroße Messingstücke, Erde, Staub. (SO 20 f.)²³

Auch wenn Ledig mit anderen Mitteln operiert, ist der Effekt doch mit dem Célines vergleichbar, denn auch Ledig versucht, „den Rhythmus der Prosa den immanenten Rhythmen der je verschiedenen Szenen […] anzupassen“²⁴. So finden sich entsprechende Stellen auch in Vergeltung immer wieder:

 Gumbrecht (2000), 133.  Das Ende der Szene evoziert Begräbnisformeln („Erde zu Erde, Staub zu Staub“) und betont so die tödliche Wirkung der Kriegstechnik.  Gumbrecht (2000), 139.

176

7 Gewaltsamer Stil

Der Leutnant wollte etwas rufen. Luftdruck schloß ihm den Mund. Er dachte: Nicht wie der Primus! Aber es hob ihn auf und warf ihn zu Boden. Er krampfte sich in die Erde. Es hob ihn wieder auf. Er dachte: Ich zerbreche. Er zerbrach nicht. Etwas umkrampfte seine Gurgel. Er dachte: Ich ersticke. Es erstickte ihn nicht. Eine Faust schlug auf seine Lunge. Alles drohte zu zerplatzen. Er fühlte nichts mehr. (V 32 f.)

Diese textliche Beschleunigung äußert sich in Vergeltung außerdem im raschen Wechsel der Schauplätze. Ist dieser in Die Stalinorgel noch meist der Bewegung der Figuren in einem horizontalen Handlungsraum geschuldet – etwa dem schnellen Ortswechsel des Melders –, so verändert sich in Vergeltung die Erzählperspektive wesentlich häufiger und unabhängiger. Denn die Topographie des zweiten Romans ist vertikal zwischen Bombern und Kellern aufgespannt; dennoch bewegt sich einzig Strenehen entlang dieser Achse. Kaum einmal verbleibt die Narration länger als zwei Seiten am selben Ort: „Die Handlung oszilliert in schnellen, harten Schnitten zwischen den verschiedenen Erzählfragmenten hin und her und bringt so die Parallelität, d. h. das chaotische Nebeneinander, der sich überschlagenden Ereignisse zum Ausdruck.“²⁵ Hierin zeigt sich also ebenfalls Ledigs Versuch, die Kriegsgewalt quasi mimetisch auf die textuell-stilistische Ebene zu übertragen und den Rhythmus der Sprache in diesem Sinne zu semantisieren. Wie bei den zuvor beschriebenen Aspekten des gewaltsamen Stils ist auch zu dieser Dynamisierung des Textes bzw. Semantisierung des Rhythmus zu bemerken, dass beide in Vergeltung ausgeprägter sind als in Ledigs Debütroman. Entsprechend unterschiedlich wurde dieses Element auch von der Kritik der 1950er Jahre aufgenommen. Die Stalinorgel wurde für dieses Stilmittel noch sehr gelobt: Diese Sätze werden immer wieder grammatisch verkürzt, werden zum erregenden, monotonen Tacken der Maschinengewehre, werden zu Satzgarben, wenn die Männer aus den Gräben stürmen, wenn sie in panischer Angst ins Hinterfeld der Front fliehen, oder werden zum kurzatmigen Einzelfeuer, wenn der Feind sich Meter um Meter heranschleicht oder die Furcht vor der bereits errechenbaren Detonation das Herz grausam umklammert.²⁶

In den Rezensionen von Vergeltung ist dies nicht mehr der Fall, stattdessen wird Ledig nun ein „gekünstelter Hackstil“ vorgeworfen.²⁷ Dass diese ablehnende

 Hundrieser (2003), 369.  Braem, Helmut M.: Die Hölle auf Erden. Zum Kriegsroman „Die Stalinorgel“ von Gert Ledig. In: Stuttgarter Zeitung vom 26. 3.1955.  Ders.: Stadt im Feuerregen. Gert Ledig: „Vergeltung“. In: Stuttgarter Zeitung vom 24.11.1956.

7.5 Aufhebung der Ordnung und Orientierung

177

Aussage von demselben Rezensenten stammt wie das vorhergehende Lob, belegt, wie die Ausarbeitung der Gewaltförmigkeit im zweiten Roman eine Veränderung in den Leserreaktionen bewirkt und zu regelrecht aggressiven Aussagen der Kritik führt. Mit den schnellen Schnitten der Montagetechnik ist aber auch der vierte Aspekt des gewaltsamen Stils verbunden, denn sie sorgen nicht nur dafür, dass der Text „wie ein rasanter Videoclip […] der brachialen Gewalt“ anmutet²⁸, sondern tragen auch dazu bei, dass die Leser große Probleme haben, sich zeitlich oder räumlich zu orientieren.

7.5 Aufhebung der Ordnung und Orientierung Es ist im Zusammenhang mit der „verkehrten Welt“, die Ledig abbildet, bereits darauf hingewiesen worden, auf welche Weise er illustriert, dass im Krieg alle bekannten Ordnungen aufgehoben sind. Außerdem ist herausgestellt worden, wie Elemente, die Sinn und Ordnung stiften, in Chaos und Unordnung überführt werden, was auch für die zeitliche und räumliche Ordnung gilt. Damit ist ein genereller Mangel an Teleologie im Text verbunden. Dieser wirkt wiederum insofern auf die Leser, als Ledig auch ihnen Sinnstiftungsangebote oder eine größere Perspektive weitestgehend verweigert. Zusätzlich gelingt es ihm, Teile der fehlenden Orientierung der Figuren auf die Leser zu übertragen, indem sich nur wenige Angaben finden, die eine zeitliche oder räumliche Einordnung erlauben. Dieses Mittel des gewaltsamen Stils ist in Die Stalinorgel zwar ebenfalls bereits angedeutet, findet sich aber wiederum in Vergeltung verstärkt. Im Erstling ist die räumliche Ordnung noch relativ stark ausgeprägt, auch weil die einzelnen Handlungsorte in einer horizontalen Ebene liegend miteinander verbunden sind und durch Bewegungen der Figuren immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt werden. Aber schon die Zeitangaben beziehen sich in der Regel nur auf Ereignisse, die im Rückblick geschildert werden, und nicht auf die momentane Handlung. Greift man beispielhaft den Lauf des Melders heraus, so finden sich dort nur rückblickende Zeitangaben zu anderen Geschehnissen, aber keine, die einen Rückschluss darauf zulassen, wie viel Zeit der Melder für seinen Weg benötigt. Die einzige Information, die die Leser bekommen, besteht in der Aussage über die Häufigkeit, mit der der Melder beim Panzervernichtungstrupp auftaucht: „Einige Male am Tag, seltener nachts, kam der Melder in ihr Loch“ (SO 13 f.). Neben solchen „zeitlosen“ Passagen gibt es aber in Die Stalinorgel auch solche, in denen die verstreichende Zeit eindeutig angezeigt ist, so im gesamten Kapitel VII:

 Hundrieser (2003), 369.

178

7 Gewaltsamer Stil

Es ist klar auf die Zeit zwischen 8.01 Uhr und 8.10 Uhr eingegrenzt. Gleiches gilt für die Zeit vor dem großen russischen Angriff, die klar dokumentiert ist, indem beschrieben ist, wie Sostschenko immer wieder auf die Uhr sieht (SO 60 – 63). Auch finden sich häufiger Angaben, die ohne genaue Zeitangaben zumindest eine gewisse Orientierung ermöglichen, so z. B. wenn von der Abendsonne (SO 33) oder von der beginnenden Nacht (SO 37) die Rede ist. In Vergeltung fällt den Lesern die zeitliche und räumliche Orientierung wesentlich schwerer, da sich fast keine entsprechenden Angaben mehr finden. Die einzelnen Orte der Handlung sind kaum noch miteinander verknüpft, was nicht zuletzt auch der primär vertikalen Topographie geschuldet ist, zwischen deren Ebenen sich außer den amerikanischen Bomben und den Granaten der deutschen Geschütze nur Strenehen nach seinem Absprung bewegt. Zeitlich ist die Handlung zwar durch die rahmenden Angaben auf die Zeitspanne von 13.01 Uhr bis 14.10 Uhr eingegrenzt, der Ablauf der Zeit zwischen diesen beiden Uhrzeiten ist für die Leser jedoch kaum nachzuverfolgen. Nur im ersten Viertel des Romans finden sich noch zwei genaue Zeitangaben: „Zwei Minuten nach eins“ (V 18) und „Es war elf Minuten nach eins“ (V 49). Danach bleiben die Leser bis zum Schluss ohne Informationen über die ablaufende Zeit. Zudem sehen immer wieder Figuren auf die Uhr, nehmen aber nur sich bewegende Zeiger und keine konkreten Zeiten mehr wahr. In Verbindung mit den bereits erwähnten schnellen Schnitten, die stets mit einem Wechsel des Schauplatzes verbunden sind, wird eine temporale und lokale Orientierung für die Leser so quasi unmöglich: die Folge ist Verunsicherung. Der Verlust der zeitlichen und räumlichen Ordnung der Figuren in der Extremsituation des Krieges – mithin ein weiterer Aspekt der traumatischen Erfahrung – wird so zu einem gewissen Grad auch auf die Leser übertragen.²⁹ Hierin ist die Ähnlichkeit zum gewaltsamen Stil Célines ebenfalls begründet: Gumbrecht hat darauf hingewiesen, dass auch dieser den Lesern die zeitliche Einordnung stark erschwert. So bleibe ihnen bei ihrer „unausbleiblichen Bemühung, Sequenzen zu bilden, mangels temporärer Orientierung nichts anderes übrig, als dem Wechsel der Orte und Räume zu folgen“.³⁰ Gumbrecht betont außerdem, dass die Orientierung der Leser in der Handlung weiter erschwert wird, indem Célines Figuren „im Normalfall ohne Nennung eines Namens in die Handlung eingeschleust werden“ und „nur wenig Charakter-Profil und noch weniger HandlungsAutonomie gewinnen.“³¹

 Vgl. Vees-Gulani (2003), 89.  Gumbrecht (2000), 135.  Ebd., 135.

7.6 Wirkung

179

Die Parallele zu Ledigs weitgehend namenlosem Personal ist offensichtlich. So stellte auch Hundrieser den Beitrag „eines nahezu unüberschaubaren und zumeist namenlosen Handlungspersonals“ zur problematischen Leserorientierung fest.³² Es ist dies der einzige Aspekt des gewaltsamen Stils, der in Die Stalinorgel deutlicher als in Vergeltung ausgeprägt ist, wo kurze Lebensläufe die zentraleren Figuren mit Namen versehen und das Figureninventar hinsichtlich seines Alters und Geschlechts gemischt ist. In Die Stalinorgel sind die Leser dagegen fast ausschließlich mit männlichen Personen konfrontiert, die oft nur durch ihren militärischen Rang qualifiziert werden und keine Eigennamen tragen. Eine Nähe zu Célines Figuren zeigt sich bei Ledigs Personal aber auch dann, wenn es mehr Profil gewinnt, denn beide Autoren gehen mit ihren Figuren ähnlich um: „Jene Protagonisten, welche diese Regel [von wenig Profil und Autonomie] durchbrechen und exzentrisch genug geraten, um einen Charakter auszubilden […], sterben in der grauenhaftesten Weise, und der Erzähler verweigert in diesen Fällen […] jegliches Mitgefühl“.³³ Was Gumbrecht hier für Céline konstatiert, gilt so auch für Ledig, denn auch bei ihm finden sich – unterstrichen durch den bereits erwähnten kühlen, klinischen Blick – ein vergleichbares „Aussetzen der Empathie“ sowie (auch bezüglich der temporalen und lokalen Orientierung) eine „Verweigerung semantischer Prägnanz“, die auf die Leser „wie eine passiv-aggressive Haltung des Erzählers wirken“³⁴ muss. Auch in der Übertragung der Orientierungslosigkeit der Figuren angesichts der Extremsituation Krieg auf die Leser manifestiert sich also in Verbindung mit dem nur schwer überschaubaren, größtenteils namenlosen Personal die Gewaltförmigkeit von Ledigs Stil.

7.6 Wirkung Mithilfe der gezeigten Mittel, die Ledigs gewaltsamen Stil in Die Stalinorgel, vor allem jedoch in Vergeltung konstituieren, gelingt es ihm, Facetten jener potentiell traumatisierenden Gewalt, die auf die Figuren wirkt, von der inhaltlichen auf die Formebene zu übertragen, wo sie nicht länger auf das Personal der Romane, sondern stattdessen auf die Leser wirkt. Alle vier Aspekte des gewaltsamen Stils entsprechen den Charakteristika des Krieges, wie ihn Ledig schildert, und spiegeln diese auf die sprachliche Ebene. Indem Ledig die Folgen der Kriegstechnik und der Verrohung der Menschen in der Extremsituation drastisch und unge-

 Hundrieser (2003), 368.  Ebd., 135.  Ebd., 136.

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7 Gewaltsamer Stil

schönt vor Augen führt, erfahren die Leser unmittelbar die Brutalität eines Krieges, dem die Menschen weder körperlich noch geistig gewachsen sind, ja gewachsen sein können. Der lakonisch-kühle Reportagestil, der teils sogar klinischkalt wirkt, demonstriert, wie fern das Geschilderte jeglicher Abenteuerromantik steht, während die grausamen Pointen – wie Schläge gesetzt – die Plötzlichkeit widerspiegeln, mit der die Kriegsgewalt zuschlägt. Der gehetzte Stil nimmt parallel dazu Tempo und Beschleunigung der Situation auf. Schließlich überträgt Ledig durch eine erschwerte räumliche und zeitliche Orientierung sowie durch die fehlende Teleologie und durch ein kaum überschaubares Personal, das nur selten wirklich Charakter oder Individualität entwickelt, den Ordnungs- und Orientierungsverlust der Figuren zumindest partiell auf die Leser. Die Auswirkungen dieses gewaltsamen Stils auf die Leser können ebenfalls parallel zu jenen des dargestellten Kriegszustandes der Textebene auf die Figuren gesehen werden. Die Drastik, mit der die Folgen des Krieges vor Augen geführt werden, und die zahlreichen grausamen Pointen bewirken eine Vielzahl kleiner Schocks. Gleichzeitig sorgen der gehetzte Stil und die erschwerte Orientierung dafür, dass es den Lesern – ganz ähnlich wie bei Céline – nicht gelingen kann, „sich in der Welt dieser Texte sozusagen ‚einzurichten‘ und ‚heimisch‘ zu fühlen.“³⁵ Diese Wirkungen führen nun wiederum ganz konkret zu einem Unbehagen, das bei zu starker Ausprägung der stilistischen Gewalt – auch hier parallel zu den Figuren – Fluchtbewegungen oder reziproke Aggressivität auslösen kann. Ledig zwingt die Leser mittels dieses Stils nicht nur, Zeugen extremer Gewalt zu werden, sondern sie müssen die potentiell traumatisierende Situation zumindest in Teilen „miterleben“, indem Ledig einige ihrer Aspekte auf den Text überträgt. Die Rezeptionsgeschichte gerade von Vergeltung zeigt diesen Effekt anhand der Reaktionen in den 1950er Jahren ganz deutlich, denn es ist davon auszugehen, dass die offene und deutliche Ablehnung nicht zuletzt in der Weigerung, Traumata des Krieges erneut zu durchleben, begründet war. Die Rezensionen zu Die Stalinorgel zeigen zwar die Sehnsucht nach gelungenen Kriegsromanen, doch hatte man sich ein so lebendiges Bild, wie es Vergeltung zeichnet, anscheinend nicht gewünscht. Denn auch auf stilistischer Ebene entsteht durch Ledigs Methode der Gewaltförmigkeit des Textes der Eindruck einer Evidenz des Krieges. Über den Stil versucht Ledig, die Atmosphäre des Krieges an die Leser weiterzugeben, d. h. Stimmung gegen diesen Krieg zu machen. Betrachtet man die Rezensionen als dokumentierte Leserreaktionen, so wird deutlich, dass diese Taktik bei der Erstveröffentlichung für Die Stalinorgel

 Ebd., 142.

7.6 Wirkung

181

erfolgreich ist, während dies für Vergeltung nicht mehr gilt.³⁶ Angesichts eines nun forcierten gewaltsamen Stils schlägt die Wirkung um: Die gewünschte Agitation der Leser richtet sich nicht länger gegen die dargestellte Gewalt, sondern nun primär gegen die stilistische Gewalt, d. h. gegen den gewaltsamen Stilisten Ledig selbst. In den Stalinorgel-Rezensionen der 1950er Jahre werden der gewaltsame Stil, seine Verknappung und die kühle Distanziertheit noch gelobt. Zwar ist die Rede von „brutal-manierierter Schlichtheit“³⁷, und die Sprache sei „kalt, zynisch, salopp“³⁸, aber gerade dadurch wird der Stil als dem Thema angemessen empfunden. Auch die drastische Darstellung und die Übertragung des Tempos auf die Sprache werden positiv hervorgehoben. Prinzipiell herrscht die Meinung vor, dass es „hier […] einem deutschen Autor gelungen [ist], den Krieg, das Böse an sich, ins Wort zu bannen.“³⁹ Bei Vergeltung mit seinem deutlich stärker ausgeprägten gewaltsamen Stil verkehrte sich das positive Urteil ins Gegenteil: Zwar attestierte man Ledig das „Bemühen, das Grauen […] möglichst drastisch und vollständig zu zeigen“, allerdings verlasse er dabei „den Rahmen des Glaubwürdigen und Zumutbaren.“⁴⁰ Gerade weil mit der Vergewaltigung keine unmittelbare Folge der Kriegstechnik geschildert wird, überrascht es nicht, dass sich die Rezensenten bei der Erstveröffentlichung von Vergeltung gerade über diese Passage empörten. So wurde Ledig vorgeworfen, er habe sich „in nicht entschuldbarer Weise an der Darstellungsart“ vergangen;⁴¹ auch Voyeurismus wurde ihm unterstellt. Ähnlich verhält es sich bei der frühen Rezeption von Vergeltung mit der Darstellung extremer Körperlichkeit; auch diese stieß auf starke Ablehnung, verbunden mit der Kritik, das Grauen nur um seiner selbst willen zu zeigen. Auch der Mangel an Teleologie zeigte Wirkung: Wurde die fehlende Einbettung des Geschehens von Die Stalinorgel bei der Erstveröffentlichung von der Kritik nicht nur toleriert, sondern positiv bewertet, belegen die Vorwürfe des Voyeurismus und der „Mache“, dass die Kritiker die Gewalt in Vergeltung nur noch um ihrer selbst willen dargestellt sahen.

 Es wird an dieser Stelle nur betrachtet, wie der gewaltsame Stil von Ledigs Romanen zu deren Entstehungszeit aufgenommen wurde. Die Reaktionen der Kritiker bei der Wiederveröffentlichung bleiben hier noch außen vor, da die Rezensenten 1999/2000 durch ihre stärkere Gewöhnung an die mediale Inszenierung von Gewalt selbstverständlich nicht mehr im gleichen Maße für die Gewaltförmigkeit der Ledig’schen Prosa empfänglich waren. Vgl. hierzu unten 8.4.  O.A. (1955).  Schonauer (1955).  Braem (1955).  Hornung, Peter: Zuviel des Grauens. Zum neuen Roman von Gert Ledig. In: Die Zeit vom 15.11. 1956.  Ebd.

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7 Gewaltsamer Stil

Die knappe, nur berichtende Sprache fand in Vergeltung ebenfalls keinen Gefallen mehr: „Der Wortschatz […] ist bis auf ein wahres Existenzminimum vereinfacht und verödet.“⁴² Der gehetzte Stil und der schnelle Wechsel zwischen den Handlungsorten werden als Ausweis zeitgemäßer Prosa zwar nicht negativ bewertet, aber auch nicht mehr explizit positiv hervorgehoben. Vielmehr wird häufig darauf verwiesen, dass gute Technik nicht ausreiche, um mangelnde Authentizität und Erlebnistiefe – neben der vermeintlich übertriebenen Drastik der Hauptvorwurf – auszugleichen: „Die Beherrschung der technischen Mittel ist bei ihm kein Ersatz.“⁴³ Dazu kommt, dass die grausamen bzw. „kabarettistischen Pointen“,⁴⁴ wie ein Rezensent schreibt, als dem Thema nicht angemessen wahrgenommen wurden. Nachdem der gewaltsame Stil, der in Die Stalinorgel bereits in Ansätzen zu erkennen war, durchaus als große Qualität des Erstlings galt, trifft er in der vollen Ausprägung von Vergeltung auf breite Ablehnung. Der Impetus, der hinter diesem Stil steht, wird dabei nicht verkannt, wenn etwa bemerkt wird, dass Ledig „das Entsetzen durch grammatisch verkürzte Sätze deutlich machen will“.⁴⁵ Es ist auch offensichtlich, dass die Gewaltförmigkeit der Prosa Wirkung zeigt: „Filmartig wurde Szene an Szene gereiht, nicht ohne im Endeffekt Erschütterung hervorzurufen. Aber diese Prozession der Schrecken in einer Prosa von merkwürdig rhetorischer Art will dem Leser nicht so recht behagen.“⁴⁶ Wie stark dieses Unbehagen Mitte der 1950er Jahre empfunden worden sein muss, beweist auch der Umfang, den die Beschäftigung mit Ledigs Stil in den Rezensionen zu Vergeltung einnimmt. War dieser in Kritiken zu Die Stalinorgel nur ein positiver Aspekt neben weiteren, so liegt nun das Hauptaugenmerk auf diesem ästhetischen Gestaltungsmittel, mit dem die Ablehnung des Romans vor allem begründet wird. Die Reaktionen der Kritik sind nicht zuletzt als Reaktion auf die Gewalt zu sehen, die der Autor auf der ästhetischen Ebene auf seine Leser ausübt. Die vernichtenden Kritiken sind in diesem Sinne als eine Art Gegengewalt zu sehen, während die ‚Fluchtbewegungen‘, die der gewaltsame Stil von Vergeltung ebenfalls ausgelöst haben dürfte – indem das Buch einfach beiseitegelegt wurde –, nicht dokumentiert sind, wenn man davon absieht, dass Vergeltung vor der Wiederveröffentlichung im Jahr 2000 im Gegensatz zu Die Stalinorgel keine weiteren Auflagen bzw. Ausgaben erlebte.

 Hornung (1956).  Ferber, Christian: … aber er engagiert sich nicht. Gert Ledigs zweiter Roman. In: Die Welt vom 23.7.1957.  Hornung (1956).  Braem (1956).  Schwerbrock, Wolfgang: Im Stil von Malaparte. In: FAZ vom 22.9.1956.

7.6 Wirkung

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Ledigs Beibehaltung des gewaltsamen Stils bei gleichzeitiger Weiterentwicklung und Verschärfung waren sicherlich entscheidende Faktoren für die schlechte Aufnahme seines zweiten Romans beim zeitgenössischen Publikum.⁴⁷ Freilich gibt es weitere mögliche Gründe für die ablehnende Haltung der Kritik, wie die Untersuchung der Rezeption von Ledigs Romanen bei Erst- und der Wiederveröffentlichung zeigen wird (s.u. 9).

 Vergleichbares lässt sich auch bei der frühen Rezeption von Célines Tod auf Kredit beobachten, da Kritiker sich vom drastischen Stil irritiert zeigten, die Monotonie bemängelten und mehrfach zu dem Urteil kamen, der hochgelobte Stil von Reise ans Ende der Nacht verkomme im Nachfolger zur ermüdenden Manier; vgl. hierzu Geyersbach, Ulf: Louis-Ferdinand Céline. Reinbek bei Hamburg 2008, 76; Bitter, Rudolf von: „Ein wildes Produkt“. Louis-Ferdinand Céline und sein Roman ,Reise ans Ende der Nacht‘ im deutschsprachigen Raum. Eine Rezeptionsstudie. Bonn 2007, 92– 97.

8 Traumabewältigung durch Schreiben 8.1 Grundlagen Die literarische Behandlung eines traumatischen Ereignisses wie des Bombenkriegs kann dem Verfasser dabei helfen, das Erlebte – zumindest bis zu einem gewissen Grad – zu bewältigen. Die Versprachlichung eines Ereignisses, das nie richtig erfahren wurde, unterstützt die Überführung von dissoziierter in verarbeitete Erinnerung, indem die fragmentierte Erfahrung in der Erzählung sowohl sprachlichen Ausdruck als auch Linearität bzw. Sequenz erhält. Daher lenken buchstäblich alle Heilungsmethoden […] den Überlebenden dahin, zu irgendeinem Zeitpunkt der Genesung eine persönliche Erzählung zu konstruieren, […] [denn wenn] ein Überlebender eine Geschichte entwickelt, die das zersplitterte Wissen um das Geschehene zusammenfügt, die Emotionen, die durch die Bedeutung des Ereignisses hervorgerufen wurden, und die körperlichen Sinneswahrnehmungen, die die physischen Ereignisse hervorriefen, dann fügt dieser Überlebende die durch das Trauma verursachte Fragmentierung des Bewußtseins wieder zusammen.¹

Zwar stellt die Fiktionalisierung eigentlich keine „persönliche Erzählung“ im ursprünglichen Sinne dar, doch kann Literatur, der eine persönliche traumatische Erfahrung zugrunde liegt, durchaus als Variante einer solchen Erzählung gesehen werden. Denn auch in diesem Fall stellt sich der Autor einer fragmentierten Erinnerung, die zuvor nicht ohne Weiteres zugänglich war, und versucht, ihr in einer Weise sprachlich Ausdruck zu verleihen, die dem Ereignis gerecht wird. Hierzu muss er sich der eigenen verschütteten Erfahrung annähern und einen Zugang zu ihr finden, um die damit verbundenen Eindrücke und Gefühle authentisch wiederzugeben. Auch wenn die daraus resultierende Erzählung nicht so sehr seine „persönliche“ Geschichte ist, so basiert sie doch auf seiner Erfahrung und fasst sie wenigstens teilweise sequenziert in Worte. „Wenn die traumatische Erfahrung in Form einer Geschichte erzählt ist, gehört sie tatsächlich der Vergangenheit an.“² Diese Geschichte macht das traumatische Ereignis aber für den Betroffenen nicht nur erstmals wirklich erfahrbar, sondern er legt auch Zeugnis darüber ab, was wiederum einen Zuhörer bzw. einen Adressaten impliziert: Jonathan Shay vertritt daher die Meinung, „daß ein Trauma nur dann zu heilen ist, wenn man in einer Gemeinschaft darüber kommuniziert – dabei muß man sich allerdings sicher sein, daß man seine Geschichte jemandem  Shay (1998), 253.  Herman (2006), 278. https://doi.org/10.1515/9783110657128-009

8.1 Grundlagen

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erzählt, der zuhört und bei dem man mit Gewißheit darauf vertrauen kann, daß er sie wahrheitsgemäß anderen Mitgliedern der Gemeinschaft weitererzählt.“³ Die vormals fragmentierte, nicht ohne Weiteres zugängliche Erfahrung wird so zum Gemeinschaftsgut – es kommt zur „Vergesellschaftung des Traumas“.⁴ Shay benennt einige zentrale Voraussetzungen, die die Zuhörer hierfür mitbringen sollten: Sie „müssen stark genug sein, die Geschichte anzuhören“, „die Kraft aufbringen, die Geschichte anhören zu können, ohne die Realität der Erfahrungen leugnen zu müssen oder das Opfer mit Vorwürfen zu überhäufen“, und schließlich „die Bereitschaft aufbringen, einen Teil des Schreckens, der Trauer und der Wut mitzuerleben, die das Opfer erfahren hat“, denn „ohne die Auslösung von Emotionen beim Zuhörer gibt es keine Vergesellschaftung des Traumas.“⁵ Wenn kein Zuhörer vorhanden ist, der auf das Erzählte eingeht, büßt die Erzählung ihren heilsamen Charakter ein und wirkt kontraproduktiv: Die Abwesenheit eines empathischen Zuhörers oder, um dies mit einer radikaleren Formulierung auszudrücken, die Abwesenheit eines ansprechbaren Gegenübers, eines Anderen, der die Qual der Erinnerungen wahrnehmen kann und sie so als wirklich bestätigt und erkennt, zerstört die Erzählung.⁶

Im Falle eines Geschehens wie des Bombenkriegs, das ein großer Teil der Bevölkerung erlebte, reicht das Zeugnis freilich weit über die private Ebene hinaus in die gesellschaftliche Sphäre: Die Erzählung darüber berührt die Erfahrungen auch vieler anderer Menschen, die somit zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit gezwungen werden. Gerade wenn bewusstes Vergessen und Verdrängen zuvor verhindert haben, dass sich die Öffentlichkeit intensiver mit einem solchen Erlebnis befasst, wie es etwa der Erzähler von Vergeltung ganz am Ende des Romans bezüglich des Bombenkriegs anklingen lässt, fällt dem Zeugnis eine (gesellschafts‐)politische Dimension zu – vor allem, wenn es sich bei der Erzählung um ein literarisches Werk handelt, mit dem der Autor nicht nur bewusst die Öffentlichkeit sucht, sondern mittels dessen er quasi mit der Gesellschaft in einen Dialog tritt. Die Geschichte wird dann zum Mittel einer tatsächlichen „Vergesellschaftung“ des Traumas, gegen Verdrängung und Vergessen. Judith Herman hat daher auch darauf hingewiesen, dass gerade Schriftsteller ihre Traumata

 Shay (1998), 35.  Ebd., 96.  Ebd., 254 f.  Laub, Dori: Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeit des Zuhörens. In: Baer, Ulrich (Hg.): „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Frankfurt am Main 2000, 76 f. Hervorhebungen im Original.

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8 Traumabewältigung durch Schreiben

bewusst erhalten, um sie in ihren Werken zu verarbeiten und so dem Krieg gegenüber eine Pflicht zu erfüllen.⁷ Bei Erzählungen von Traumata, die das Potential besitzen, die betroffene Gemeinschaft massiv zu erschüttern und zu belasten, kommt es jedoch häufig zu ablehnenden Reaktionen der „Zuhörer“; hierbei wird nicht nur die Erzählung zerstört, sondern mit der wiederholten Erschütterung des Vertrauens in den Sinn von Kommunikation (zu der es erstmals bei der Auslösung des Traumas kommt) auch die Beziehung zum Umfeld bzw. zur Gemeinschaft erneut beschädigt.⁸ Es wird hier deutlich, dass Authentizität ein entscheidender Faktor für den Erfolg des Versuchs ist, ein traumatisches Ereignis in einer Geschichte fassbar zu machen. Denn zunächst muss der Erzähler (bzw. im Falle eines literarischen Textes der Autor) eine Form und dabei eine Sprache finden, die der zugrunde liegenden Erfahrung gerecht werden, die sie also abbilden und gleichzeitig ihre Charakteristika und Emotionen wiedergeben, ohne allzu viel von der Substanz des Erlebnisses zu verlieren.⁹ Nur wenn dies gelingt, kann auch der Zuhörer bzw. Leser der Erzählung den Charakter eines authentischen Zeugnisses zusprechen, was als Voraussetzung sowohl für die anschließende Vergesellschaftung als auch für den therapeutischen Effekt aufseiten des Erzählers/Autors zu sehen ist. Angesichts der Bedeutung, die etwa Shay der Wahrhaftigkeit (bzw. im Bereich fiktionaler Erzählungen: Wahrscheinlichkeit) zumisst, die einer Traumaerzählung vom Zuhörer zugesprochen werden muss, bildet Authentizität ein zentrales Element der Narration und dient keinesfalls als „Supplement mangelnder literarischer Leistungen“ der kompensatorischen „Aufwertung“, wie Rainer Leschke die „realistische Grundierung von Kriegsnarrationen“ kritisiert hat.¹⁰ Was die (angemessene) Repräsentation des Traumas betrifft, so sei hier auf die entsprechenden Kapitel der vorliegenden Arbeit verwiesen, die untersuchen, wie Ledig die traumatischen Situationen des Krieges an sich, aber auch ihre Wirkung auf die Betroffenen darstellt und wie es ihm gleichzeitig gelingt, den Lesern einzelne Charakteristika dieser Situation und ihres Effekts über einen gewaltsamen Stil nachempfindbar zu vermitteln.

 Herman (2006), 260.  Kopf (2005), 46.  Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass es in der Regel zu einem Verlust an Eindrücklichkeit und Vehemenz kommt, wenn versucht wird, ein Erlebnis in Worte zu fassen, das weit jenseits der üblichen Erfahrungs- und Referenzrahmen steht.  Leschke (2007), 98.

8.2 Literarische Beispiele

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8.2 Literarische Beispiele Das bekannteste Beispiel einer literarischen Traumaerzählung ist wohl Kurt Vonneguts Slaughterhouse-Five: Der „Roman ist bedeutsam als ein Zeugnis literarischer Trauma-Verarbeitung“,¹¹ vor allem insofern, als er auch die Schwierigkeiten aufgreift, die damit verbunden sind, sich einer Erfahrung wie dem Krieg literarisch zu nähern: „Ich habe lange keine Worte gefunden. […] Das Thema war zu groß für mich – wie für jeden anderen. Ich habe einfach keinen Dreh gefunden. Das Erlebte war zu gewaltig.“¹² Auch Vonnegut betonte die Bedeutung von Authentizität bzw. Wahrheit für sein Projekt: We all came home with stories, and we all wanted to cash in, one way or another. And what Mary O’Hare was saying, in effect, was, „Why don’t you tell the truth for a change?“ […] And what I saw, what I had to report, made war look so ugly. You know, the truth can be powerful stuff. You’re not expecting it.¹³

Es ist im Zusammenhang mit den verschiedenen Versuchen, sich literarisch mit den Traumata auseinanderzusetzen, die durch den Bombenkrieg ausgelöst wurden, bereits angesprochen worden, dass Hans Erich Nossack Der Untergang bewusst mit der Intention schrieb, einer potentiell gestörten Erinnerung entgegenzuwirken. Dass dies nicht nur gesamtgesellschaftlich zu sehen ist, sondern sich auch ganz konkret auf ihn selbst bezog, zeigt seine Sorge, auch selbst „schauend und wissend durch Erleiden des Gesamtschicksals überwältigt zu werden.“¹⁴ Er erfasste schnell den traumatisierenden Charakter der Bombenangriffe, die sich nicht ohne Weiteres psychisch bewältigen lassen, „da es der Vernunft niemals möglich sein wird, das, was damals geschah, als Wirklichkeit zu begreifen und dem Gedächtnis einzuordnen“.¹⁵ Sein literarischer Bericht versucht sich somit an einer Traumabewältigung bzw. an einer Möglichkeit, das Ereignis – für Nossack selbst wie für andere – erfahrbar zu machen. So erwähnt Nossack gegenüber Hermann Kasack, „wie viel Anstrengung“ ihn die Arbeit an dem „kleinen Stück Prosa“ koste – diese müsse aber „wohl sein, wenn auch nur aus therapeutischen Gründen“.¹⁶ Diese Aussage konzentriert die heilsame Funktion der Literarisierung zunächst auf den Autor selbst, im Briefwechsel mit Kasack  Assmann (1999, Trauma), 102.  Hage (2003, Zeugen), 283.  Vonnegut (2007), 19 f.  Nossack (1976), 7.  Ebd., 7 f.  Nossack, Hans Erich: Geben Sie bald wieder ein Lebenszeichen. Briefwechsel 1943 – 1956, hg. von Gabriele Söhling. Frankfurt am Main 2001, 14.

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kommt dann aber auch ein wesentlich weiterer Adressatenkreis zur Sprache: „Ich will nicht verhehlen, daß ich mit der üblichen vermessenen Verantwortlichkeit auch an Spätere gedacht habe, die einen solchen Bericht von uns, die dabei waren, erwarten werden.“¹⁷ Im Text selbst relativiert Nossack diesen Anspruch jedoch, wenn er den Wert seines Berichts für die Nachgeborenen in Frage stellt: „Wozu dies alles niederschreiben? Wäre es nicht besser, es für alle Zeiten der Vergessenheit preiszugeben? Denn die dabeigewesen sind, brauchen es nicht zu lesen. Und die anderen und spätere? Wie, wenn sie es nur läsen, um sich am Unheimlichen zu ergötzen und ihr Lebensgefühl dadurch zu erhöhen?“¹⁸ Nossack reflektiert hier zugleich den Vorwurf eines sensationslüsternen Voyeurismus – einer „kalten Mache“ –, wie er 1956 Vergeltung traf. Für sich selbst sah Nossack die Bewältigung der Erfahrung durch ihre Literarisierung als durchaus erfolgreich an, wie er Peter Suhrkamp im Dezember 1943 schrieb: „Ich habe mir selber dadurch geholfen, indem ich den Weg mit offnen Augen noch einmal zurückgegangen bin und all meine Erfahrungen und Erlebnisse beim Untergang Hamburgs niederschrieb, ohne erst auf Abstand zu warten.“¹⁹ So gelang es ihm letztlich, die Bombenangriffe, die seine Wohnung, seine Tagebücher aus 25 Jahren und seine Manuskripte vernichteten, als einen Neuanfang positiv zu werten, aber auch als ein Schlüsselerlebnis, das sein späteres Schreiben prägen sollte.²⁰ Auch Alexander Kluge gab in einem Gespräch mit Volker Hage an, dass der Luftangriff auf seine Heimatstadt Halberstadt eine „prägende Erfahrung“ für ihn gewesen sei, wobei die Schockwirkung mit Verzögerung eingesetzt und sich erst Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später voll entfaltet habe.²¹ Im Vorwort zu Neue Geschichten. Hefte 1 – 18 (darin als Heft 2 die Erzählung Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945) klingt bereits an, dass die eigene Erfahrung eine zentrale Rolle spielt: „Die Form des Einschlags einer Sprengbombe ist einprägsam. Sie enthält eine Verkürzung. Ich war dabei, als am 8. April 1945 in 10 Meter Entfernung so etwas einschlug.“²² Die Parallelen zwischen Kluge und der Figur Siegfried  Ebd., 19. Tatsächlich sollte es, wie gezeigt worden ist, bis zu Sebalds Essay dauern, bis die Späteren die Berichte derjenigen, die dabei waren, erwarteten; so überrascht es nicht, dass Sebald gerade Der Untergang trotz dessen Tendenz zur mythischen Überhöhung des Geschehens positiv hervorhebt; vgl. Sebald (2001), 57– 59.  Nossack (1976), 44.  Nossack (2001), 41.  Vees-Gulani (2003), 75. Hierin erinnert Nossack an Thomas Bernhard und dessen Charakterisierung der Angriffe auf Salzburg als „ein entscheidendes, mich für mein ganzes Leben verletzendes Geschehen“; vgl. Bernhard (2004), 29.  Hage (2003, Zeugen), 203 f.  Kluge (1978), 9.

8.2 Literarische Beispiele

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Pauli – ähnliches Alter und mit der Klavierstunde dasselbe Ziel²³ – geben zu erkennen, dass dieses Erlebnis nicht nur ein Auslöser für den Text war, sondern auch direkt darin aufging. Die Erzählung ist somit sowohl der Versuch, das Erlebnis im Nachhinein erfahrbar zu machen („Der Luftkrieg ist erst wirklich, erst wahrnehmbar, wenn er erzählt wird.“), es aber gleichzeitig nicht überhand nehmen zu lassen, d. h. es über die distanzierte Montage zugänglich, aber nicht erdrückend zu machen.²⁴ Auch für Dieter Forte waren Luftangriffe (in seinem Fall auf Düsseldorf) prägend. Auf seine Schilderungen dieser Angriffe und ihrer traumatischen Folgen in seiner Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern wurde bereits eingegangen. Forte macht kein Geheimnis daraus, dass hinter „dem Jungen“, dem Protagonisten des zweiten und dritten Teils der Trilogie, er selbst mit seinen Kindheitserlebnissen im Bombenkrieg steht. Er betont aber gleichzeitig, dass er mehr erzählerische Distanz eingebracht hat, als schlicht „Ich“ durch „der Junge“ zu ersetzen – auch um sich selbst vor den eigenen Traumata zu schützen,²⁵ mit denen er sich beim Schreiben ganz konkret auseinandersetzen musste. Ähnlich wie bei Bernhard und Vonnegut sind auch bei ihm Jahrzehnte vergangen, bis er sich dem damaligen Geschehen soweit stellen konnte, dass er in der Lage war, es niederzuschreiben; er erwähnt auch die Belastung, die diese literarische Auseinandersetzung dennoch darstellte, und die Schwierigkeiten, die sie mit sich brachte: „Es gibt Momente, wo auch die Sprache nicht mehr hält. Einen Luftangriff kann man einmal beschreiben und dann nie mehr im Leben.“²⁶ In einem Interview mit Volker Hage ging er auch darauf ein, inwiefern das Niederschreiben der Erlebnisse therapeutischen Wert besitze, wenngleich man sich niemals von den Traumata lösen könne: „Es ist einem bewußt geworden, man wird nicht befreit, man wird es nicht los, aber es wird einem bewußt. Es sitzt dann im Kopf. Man kann besser damit umgehen, aber es verläßt einen nicht.“²⁷ Reduziert wurde dieser heilsame Effekt jedoch durch die Erfahrung, dass viele Mitmenschen noch immer nichts davon hören wollten, auch wenn er viele positive Reaktionen von Lesern bekam, die im Bombenkrieg Vergleichbares erlebten.²⁸

 Hage (2003, Zeugen), 202.  „Wenn diese Erfahrung später wieder hochkommt, in diesem wiederkäuenden Magen, mit dem wir unsere Erinnerung verdauen, dann führt mich das zu einer Suche nach Auswegen. Ich muß dem etwas entgegensetzen.“ Kluge in Hage (2003, Zeugen), 205 f.  Forte, Dieter: Schweigen oder sprechen. Frankfurt am Main 2002, 45 f.; Vees-Gulani (2003), 118.  Forte (2002), 45.  Ebd., 52 f.  Ebd., 53.

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8 Traumabewältigung durch Schreiben

Hierin ist – trotz der großen zeitlichen Distanz von fast fünfzig Jahren zwischen den Romanen – eine deutliche Parallele zu Vergeltung zu sehen, die belegt, dass sich zwar bereits die literarische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit an sich positiv auswirkt, dieser Aspekt aber konterkariert wird, wenn die öffentliche Reaktion diese Literarisierung nur wenig beachtet oder gar kritisiert bzw. ablehnt.

8.3 Ledigs Romane als Traumabewältigung Wie die oben genannten Autoren erlebte auch Ledig im Zweiten Weltkrieg Luftangriffe mit, und es ist davon auszugehen, dass sie für ihn ebenfalls eine einschneidende Erfahrung darstellten. Dies zeigt sich vor allem an einem intrusiven Traum, den er immer wieder hatte und in einem Gespräch mit Volker Hage erwähnt hat. Hage berichtet: „Ein Traum suchte ihn noch Jahre nach Kriegsende immer wieder heim: Er liegt auf einer Plattform, hoch oben, auf allen Seiten gähnt der Abgrund, keine Treppe, kein Schlupfloch – und dann kommen die Flugzeuge und beschießen ihn.“²⁹ Zwar ist in diesem Traum bereits eine gewisse Abstraktion von den tatsächlichen Ereignissen zu erkennen, dennoch ist die Situation noch konkret und unsymbolisch genug, um von einer Intrusion zu sprechen, die auf eine traumatische Erfahrung hinweist. Eine ganz ähnliche Szene findet sich in Vergeltung: Eine Gruppe von Soldaten bedient während eines amerikanischen Angriffs quasi schutzlos hoch oben auf einem Bunker ein Flugabwehrgeschütz („Auf der Plattform lagen sie, und ihre Fingernägel krallten sich in den Beton“; V 52). Diese Passage „is very much a reenactment and expansion of his nightmare scenario“.³⁰ Ledigs Hinweis auf seinen Traum belegt, dass an dieser Stelle die eigene traumatische Erfahrung in den Roman Eingang gefunden hat. Ähnliche Verbindungen zwischen dem Inhalt und Ledigs Vita lassen sich darüber hinaus zwar nicht eindeutig belegen, doch gibt es – auch in den anderen Romanen – vergleichbare Hinweise. So gleichen etwa die Verletzungen von Rob und Edel in Faustrecht jenen, die Ledig selbst als Soldat davongetragen hat (Verlust zweier Finger sowie ein verletzter Unterkiefer); hinzu kommt die lautliche Nähe zu Ledig, der mit vollem Namen Robert Gerhard Ledig hieß. Hage, der Ledig noch kurz vor dessen Tod sprach, erwähnt auch die Verstörung des Autors angesichts seiner Erfahrungen an der Ostfront: Ledig selbst war an der Ostfront bei den Pionieren, und auch in Die Stalinorgel sind die meisten Soldaten Pioniere. Auch Ledig traf an

 Hage (1999), 162.  Vees-Gulani (2003), 91.

8.3 Ledigs Romane als Traumabewältigung

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der Ostfront auf einen gleichgültigen Major (vgl. Schnitzer), die Kritik an diesem brachte ihn in die Strafkompanie; später kämpfte er selbst vor Leningrad. Indem Ledig solche traumatischen Erlebnisse in seinen Romanen in Worte bzw. in Geschichten fasste, die er dann der Öffentlichkeit zugänglich machte, unternahm er den Versuch, mit der Gesellschaft in einen Dialog über das – ja keineswegs nur von ihm, sondern von weiten Teilen der Bevölkerung – Erfahrene zu treten, damit es zur oben beschriebenen Vergesellschaftung des Traumas kommen konnte. Die zentrale Rolle der Zuhörer dabei ist bereits erläutert worden. Diesen Part haben im Fall einer niedergeschriebenen Erzählung die Leser zu übernehmen; stellvertretend für ihre Reaktionen, die in der Regel nicht dokumentiert sind, sollen hier jene der Literaturkritik stehen. Die Rezeption von Die Stalinorgel und Vergeltung, die die beiden zentralen potentiell traumatischen Erlebnisse der Front und des Bombenkriegs in Worte fassen, zeigt, dass diese in ihren extremen Gegensätzen gute Beispiele für eindeutig erfolgreiche (Erstveröffentlichung Die Stalinorgel, Wiederveröffentlichung Vergeltung), aber auch für klar gescheiterte Vergesellschaftungen (Erstveröffentlichung Vergeltung) sind. Aufbauend auf den zuvor geschilderten Prämissen für eine erfolgreiche Vergesellschaftung eines Traumas ist dabei maßgeblich, inwieweit die Zuhörer/Leser die Authentizität des Erzählten bestätigen, ob sie die sprachliche Form als dem Erlebnis angemessen erachten und ob sie als emotional beteiligte gesellschaftliche Multiplikatoren fungieren können oder Abwehrreaktionen zeigen, indem sie die Erfahrung leugnen, ihre literarische Form ablehnen oder dem Autor Vorwürfe (z. B. der Übertreibung oder Sensationslust) machen. Die Wiederveröffentlichung seiner Romane erlebte Ledig nicht mehr. Die Rezeptionsdokumente der Jahre 1999/2000 (Vergeltung) bzw. 2000/01 (Die Stalinorgel) sollen hier dennoch einfließen, da es sich dabei zumindest teilweise um eine tatsächlich stattfindende Vergesellschaftung der beschriebenen Traumata handelt. Hinzu kommt, dass die literarische Beschäftigung mit dem eigenen Trauma auch Teil eines sozialen Engagements sein kann, das dem Opfer ebenfalls hilft und sich zudem auch nach dessen Tod fortsetzen kann: Judith Herman hat betont, wie Betroffene „durch vorbeugende Aufklärung und entsprechende Bemühungen auf juristischer oder politischer Ebene zu verhindern versuchen [können], daß in Zukunft noch mehr Menschen das gleiche Schicksal erleiden. […] All diesen Bemühungen liegt die Absicht zugrunde, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses Thema zu lenken.“³¹ Die erfolgreiche Vergesellschaftung der Erfahrung über das Medium der Erzählung ist auch hierfür zentral.

 Herman (2006), 297 f.

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8 Traumabewältigung durch Schreiben

Es ist bei der Darstellung der Rezeption von Die Stalinorgel bei der Erstveröffentlichung 1955 darauf hinzuweisen, dass die Kritiker das Kriegserlebnis im Roman authentisch und „zeitwahr“³² wiedergegeben sahen. Sprache und Form wurden als dem Thema angemessen empfunden. Der Roman wurde als überzeugende Literarisierung einer Erfahrung des Autors wahrgenommen, die er mit einem Großteil der Männer seiner Generation teilte, und somit gewissermaßen auch als Erinnerungsdokument akzeptiert. Dass das eigene Kriegserlebnis in die Erzählung eingeflossen ist und diese beeinflusst hat, stand für die Rezensenten dabei außer Frage: Ledig habe die zehn Jahre seit Kriegsende gebraucht, um Abstand zu gewinnen und die Erzählung in sich reifen zu lassen. Durch die positiven Urteile über Authentizität und Gestaltung sowie durch die damit letztlich verbundene Leseempfehlung wurden so die Anforderungen erfüllt, die Shay an die Zuhörer stellt: Sie zeigten sich als stark genug, die Geschichte anzuhören, bestätigten das zugrunde liegende Erlebnis als wahr, erkannten die starke emotionale Beteiligung des Erzählers an, teilten diese bis zu einem gewissen Grad und sorgten schließlich für eine gesellschaftliche Weitergabe des Gehörten. Die Traumaerzählung verlief daher erfolgreich, sodass man von einer positiven Wirkung auf den Autor hinsichtlich seiner Traumata ausgehen kann. Da die Erzählung von der Ostfront bereits 1955 ausreichend „gesellschaftsfähig“ für eine Vergesellschaftung war, überrascht es nicht, dass die Reaktionen auf den Roman bei der Wiederveröffentlichung im Jahr 2000 zwar nach wie vor positiv waren, aber im Vergleich zu 1955 doch weitaus verhaltener. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass eine (Trauma-)Erzählung von den Schrecken der Front Jahre nach Kriegsende keinen Neuigkeitswert mehr besaß. Das Berichtete war bereits vollständig „vergesellschaftet“, d. h. gesellschaftlich bewusst und präsent: „Heute frappiert an Gert Ledigs Buch vor allem, wie sehr der Schrecken, den es schildert, längst ins allgemeine Bildergedächtnis eingegangen ist: Fast alles, was Ledigs Landser erleben, hat der drei Generationen jüngere Leser schon im Kino gesehen“.³³ Obwohl der Roman durchaus als literarisches Zeugnis von Ledigs eigenen Erfahrungen wahrgenommen wurde, kann nicht von einer erfolgreichen Vergesellschaftung gesprochen werden, da diese bereits ein halbes Jahrhundert zuvor stattgefunden hatte. Die Erstveröffentlichung von Vergeltung 1956 stellt ein gutes Beispiel für eine gescheiterte Vergesellschaftung dar. Der Versuch, die mit dem Trauma der Luftangriffe verbundenen Emotionen (d. h. die Erschütterung) über Sprache bzw. Stil

 Noé (1955), 299.  Kilb, Andreas: Es bellen die Mörser, es rasseln die Ketten. Der Erzähler kommt nicht aus dem Schützenloch: Gert Ledigs Roman „Die Stalinorgel“ in einer Neuauflage. In: FAZ vom 17.10. 2000.

8.3 Ledigs Romane als Traumabewältigung

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erfahrbar zu machen, wurde zwar wahrgenommen, aber nicht gewürdigt bzw. als nicht erfolgreich oder angemessen angesehen. Stattdessen wurden die Versuche, „im Endeffekt Erschütterung hervorzurufen“,³⁴ als „Mache in Grauen“³⁵ abqualifiziert. Vor allem aber wurde dem Roman die Authentizität abgesprochen, die für eine erfolgreiche Traumaerzählung so entscheidend ist. So hieß es, dass er nicht über auch nur „ein Fünkchen des Erlebnisgehalts, das ‚Die Stalinorgel‘ auszeichnet“, verfüge.³⁶ Diesen Vorwurf mangelnder Erlebnistiefe (der sich meist auf den vermeintlich unrealistischen Tod des Truppführers bezog) erhoben fast alle Rezensenten (s.u. 9.2) Die Kritik erschöpfte sich aber nicht darin, dem Roman seine Authentizität und seine angemessene literarische Repräsentation der Bombennächte abzusprechen, sondern stellte auch Ledigs (gesellschaftliches) Engagement in Frage: Anders als Die Stalinorgel wurde Vergeltung nicht mehr als Antikriegsbuch oder Mahnmal gegen den Krieg gelesen. Stattdessen wurden Ledig für die schonungslose Darstellung des Grauens, die auch vor der detaillierten Schilderung einer Vergewaltigung nicht zurückschreckte, nur mehr niedere, d. h. voyeuristische, Motive unterstellt. Betrachtet man die Reaktionen der Kritik, so fällt also auf, dass die Begründungen für die überwiegend ablehnende Meinung auffällige Parallelen zu den Verhaltensweisen zeigen, die Judith Herman für Täter beschreibt, die sich der Verantwortung für ihre Verbrechen zu entziehen versuchen, wenn ein Schweigen über die Tat nicht mehr möglich ist: Die Glaubwürdigkeit des Opfers wird in Frage gestellt, während gleichzeitig das Vorrecht in Anspruch genommen wird, „Realitäten zu benennen und zu definieren.“³⁷ Kommen solche Reaktionen auf eine Traumaerzählung aber von den Zuhörern (bzw. Lesern), muss die Vergesellschaftung des Traumas und damit auch der therapeutische Ansatz scheitern: Der „Riß zwischen dem Traumatisierten und der Gesellschaft kann nur gekittet werden, wenn erstens die Gesellschaft das traumatische Ereignis als solches anerkennt, und zweitens die Gesellschaft in irgendeiner Form handelt.“³⁸ Dies hat wiederum zur Folge, dass das ohnehin beschädigte Vertrauen in die Sprache, in den Sinn von Kommunikation und damit letztlich auch in die Gesellschaft, das mit dem Trauma einhergeht, nicht nur nicht neu aufgebaut werden kann, sondern sogar noch einmal erschüttert wird.

 Schwerbrock (1956).  Dallontano, E. R. (1956): Gruselkabinett mit Bomben. Zu Gert Ledigs zweitem Roman „Vergeltung“. In: Rheinischer Merkur vom 7.12.1956.  Ferber (1957, Engagiert).  Herman (2006), 18 f.  Ebd., 102.

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8 Traumabewältigung durch Schreiben

Sieht man Vergeltung als eine individuelle Traumaerzählung, in die Ledig seine eigene Traumatisierung einfließen ließ, so kann man angesichts der vernichtenden Kritik bei der Erstveröffentlichung nur konstatieren, dass die Vergesellschaftung des Traumas gescheitert ist. Zudem war das Ereignis, das dem Roman zugrunde liegt, keine individuelle, sondern eine kollektive Erfahrung, die nicht nur bei Ledig, sondern in der gesamten Gesellschaft Spuren hinterlassen hat. Eine erfolgreiche Vergesellschaftung durch Kommunikation hätte folglich eine gesamtgesellschaftliche Wirkung gehabt, womit die Erzählung auch Ausdruck eines nicht zu leugnenden gesellschaftspolitischen Engagements gewesen wäre. Obgleich Ledig die Reaktionen auf seinen Roman voraussah, wie der Schluss von Vergeltung beweist („Eine Stunde genügte, und das Grauen triumphierte. Später wollten einige das vergessen. Die anderen wollten es nicht mehr wissen“; V 199), erschließt sich gerade unter dem Aspekt der Traumaerzählung, wie sehr die Reaktionen auf diesen Roman Ledig verletzt und verbittert haben müssen, da es quasi zu einer doppelten Ablehnung durch die Leser bzw. die Kritik kam. Zunächst wurde die eher auf das Individuum gerichtete Anerkennung der authentischen Erfahrung verweigert und anschließend auch das besonders auf die Gesellschaft gerichtete Engagement verkannt; beide Zurückweisungen wurden durch die damit verbundenen Vorwürfe der „Mache“ bzw. des Voyeurismus noch verstärkt. Zu einer fruchtbaren gesellschaftlichen Kommunikation über Vergeltung und somit zu einer erfolgreichen Vergesellschaftung sollte es erst 1999/2000 im Zuge der Wiederveröffentlichung des Romans kommen, die Ledig nicht mehr erlebte; nur die Druckfahnen sah er vor seinem Tod noch. Auch wenn ihm damit eine späte Genugtuung und die heilsamen Aspekte der positiven Aufnahme seiner Traumaerzählung und somit eine zumindest partielle Traumabewältigung durch seine literarische Tätigkeit weitgehend verwehrt blieben, bedeuteten die Präsenz von Vergeltung in der Debatte um Luftkrieg und Literatur, die Wiederveröffentlichung des Romans und schließlich das überschwängliche Lob der Kritik doch einen Erfolg auf der Ebene des Engagements, indem öffentliche Multiplikatoren für die Vergesellschaftung sorgten. Anders als noch 1956/57 wurden Vergeltung nun sowohl Authentizität als auch angemessene Repräsentation zugesprochen. Es ist im Zusammenhang mit der Rezeption bei der Wiederveröffentlichung aber darauf hinzuweisen, dass durch die vorausgegangene Diskussion um die vermeintliche Leerstelle des Bombenkriegs in der deutschen Nachkriegsliteratur der Fokus der Kritik auch stark auf der gescheiterten Vergesellschaftung bei der Erstveröffentlichung lag. Es kam somit zu einer doppelten gesellschaftlichen Kommunikation: nicht nur über die Traumaerzählung und das zugrunde liegende Trauma selbst, sondern auch über deren gesellschaftliche Ablehnung bzw. Verdrängung in den 1950er Jahren.

8.3 Ledigs Romane als Traumabewältigung

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Der Roman erlangte so neben seinem Charakter als Zeugnis eines (gesellschaftlichen) Traumas eine weitere erinnerungskulturelle Funktion, indem er zusammen mit seinen Kritiken zum Dokument der Verdrängung eben jenes Traumas bzw. einer gestörten Erinnerung in der Nachkriegszeit wurde.

9 Rezeptionsgeschichte 9.1 Allgemein Es ist deutlich geworden, welche zentrale Rolle der enge Konnex von Gewalt und Trauma in den Romanen Gert Ledigs spielt. Aspekte wie der gewaltsame Stil oder die schonungslose Darstellung der Kriegsgewalt und ihrer Folgen verschafften Ledig eine singuläre Position in der deutschen Nachkriegsliteratur; davon ausgehend überrascht es nicht, dass gerade diese Aspekte von Ledigs Werk überaus einflussreich auf die Rezeption der Romane war. Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich die Literaturkritik sowohl bei der Erst- als auch bei der Wiederveröffentlichung mit diesen Punkten auseinandergesetzt hat. Grundlage dieser Untersuchung sind vor allem publizierte Rezensionen sowie im Falle von Vergeltung auch eine Besprechung im Literarischen Quartett. Der Darstellung der beiden Rezeptionsphasen soll ein Kapitel zwischengeschaltet werden, das sich zunächst nur am Rande mit Gert Ledig befasst und die Debatte in den Mittelpunkt rückt, die Ende der 1990er Jahre im deutschen Feuilleton um W.G. Sebalds Thesen zu Luftkrieg und Literatur geführt wurde und quasi das Vorspiel zur Wiederveröffentlichung von Vergeltung darstellt. Sebald hatte 1997 ein Versagen der Nachkriegsliteratur vor dem Thema des Bombenkriegs formuliert. Er erklärte sich die mangelnde literarische Verarbeitung mit einer mangelnden gesellschaftlichen Verarbeitung und konstatierte ein gesellschaftliches Tabu, an das auch die Literatur nicht zu rühren gewagt habe, bzw. ein Scheitern der Literaten, dieses Ereignis befriedigend darzustellen. Die Diskussion, die sich in der Folge um diese Thesen entspann, bildet eine Grundlage der Wiederveröffentlichung von Vergeltung, da der Roman im Laufe der Debatte als Argument gegen Sebald ins Feld geführt wurde. In der Druckfassung seiner Überlegungen setzt sich Sebald kritisch mit Ledigs Luftkriegsroman auseinander, was hier ebenfalls betrachtet werden soll.

9.2 Rezeption bei der Erstveröffentlichung 9.2.1 Die Stalinorgel Die Reaktionen, die Ledigs Erstling in den 1950er Jahren erfährt, sind weitgehend positiv. Einhellig wird konstatiert, dass damit nun jener Kriegsroman vorliege, „der von Kritik und Publikum ebenso gefordert und gefürchtet“ wurde und der „die konzentrierte, rhythmisch gebändigte Wahrheit“ über den Krieg enthält: „Er https://doi.org/10.1515/9783110657128-010

9.2 Rezeption bei der Erstveröffentlichung

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[Ledig] ist der erste Chronist eines Grauens, das die deutsche Kriegsliteratur so noch nicht gespiegelt hat.“¹ Welches Ausmaß dieses Grauen in den Augen der Rezensenten erreicht, wird an der häufigen Verwendung der Begriffe „Hölle“ und „Inferno“ deutlich, die in fast keiner Rezension fehlen. Die zentrale Rolle, die die diversen Formen der Gewalt des modernen Krieges sowie deren Folgen auf das Individuum in Die Stalinorgel spielen, wird von Rezensenten ebenso erkannt und positiv bewertet wie Ledigs neuartige literarische Gestaltung des Themas. Wohlwollend wird hervorgehoben, dass Ledig sich einer bis aufs Minimum reduzierten Sprache bediene, die nicht nur zu Unmittelbarkeit führe, sondern auch verhindere, dass er in den Jargon trivialer Kriegsliteratur abrutsche.² Auch wird Ledig hoch angerechnet, dass er auf „die geschwätzigen Dialoge der Soldaten untereinander, gespickt mit zweitklassigen Aperçus“, verzichte.³ Wie sehr Sprache und Inhalt korrespondieren, wird ebenfalls bemerkt: Hauptsatz reiht sich an Hauptsatz. Diese Sätze werden immer wieder grammatisch verkürzt, werden zum erregenden, monotonen Tacken der Maschinengewehre, werden zu Satzgarben, wenn die Männer aus den Gräben stürmen, wenn sie in panischer Angst ins Hinterfeld der Front fliehen, oder werden zum kurzatmigen Einzelfeuer, wenn der Feind sich Meter um Meter heranschleicht oder die Furcht vor der bereits errechenbaren Detonation das Herz grausam umklammert.⁴

Es wird deutlich, dass die Rezensenten die Sprache, die Ledig für die Darstellung des Grauens findet, dem Thema für durchaus angemessen halten; dasselbe gilt für den filmischen Montagestil, mittels dessen Ledig schnell zwischen den einzelnen Orten der Handlung hin und her springt bzw. wie „mit der Filmkamera“ folgt; der Weg des Melders zum Bataillon wird so definiert als „künstlerisch starker, souverän komponierter und rasant geschnittener Streifen.“⁵ Wohlwollend wird auch die Drastik und Radikalität aufgenommen, mit der Ledig den Leser zwingt, hinzusehen, was die Kriegstechnik mit dem menschlichen Körper anstellt (also das, was zuvor, Adorno zitierend, „Unangemessenheit des Leibes“ genannt wurde). Beispielhaft werden dafür fast immer Teile der Eingangsszene herausgegriffen, die nicht nur den Tod, sondern die völlige körperliche Vernichtung des Obergefreiten schildert.⁶ Diesbezüglich ist von der

 O.A. (1955).  Vgl. Noé (1955).  Hühnerfeld (1955); vgl. auch Braem (1955).  Braem (1955).  Noé (1955), 299.  Meist wird jedoch nur der Anfang der Passage zitiert, auf die Schilderung der endgültigen Zerstörung des Körpers dagegen verzichtet.

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9 Rezeptionsgeschichte

„schmerzend exakte[n] Phänomenologie des Grauens“⁷ ebenso die Rede wie von „Todesarten, die man beim Höllenbrueghel interessant und bei George Grosz geschmacklos findet.“⁸ Mit diesen Extremen ist jedoch kein abwertendes Urteil verbunden, sondern vielmehr unterstreichen sie, dass Ledig ein authentisches Abbild der Kriegsschrecken gelungen ist, wenngleich die Vergleiche mit Brueghel und Grosz auch auf eine gewisse groteske Qualität der Ledig’schen Darstellung hinweisen. Es wird auch thematisiert, dass der moderne Krieg in Ledigs Darstellung die Individualität auslöscht und die Soldaten auf eine militärische Rumpfidentität reduziert. „Dienstgrade und Funktionen genügen Ledig als Bezeichnung“; die Soldaten befinden sich „auf einer Ebene jenseits von Willen und Entscheidungsfreiheit“.⁹ Dies bedeutet, dass sie nicht mehr Herr ihrer selbst sind, sondern durch den Krieg fremdbestimmt werden: „Sie zeigen keine individuellen Gefühle, außer denen, die ihnen der Krieg aufzwingt.“¹⁰ Dass die Personen bei Ledig ihrer Individualität weitgehend enthoben und auf ihre jeweilige militärische Funktion beschränkt sind, findet ebenso Anklang wie die Tatsache, dass Ledig keinen Unterschied zwischen Deutschen und Russen macht – beide sind derselben unmenschlichen Situation ausgesetzt. Im Verzicht auf eine negative Darstellung der russischen Soldaten ist sicherlich ein Zeichen für Sympathie zu sehen, wie ein Rezensent feststellt, allerdings – bei Ledigs Ausklammerung größerer Zusammenhänge – nicht für den Russen als Verteidiger seines Landes, sondern für den Menschen in einer unmenschlichen Situation.¹¹ Diese Unmenschlichkeit, die jeglicher Normalität entgegengesetzt ist, spiegelt sich in den Rezensionen in der häufigen Verwendung von Begriffen wie „Hölle“, „Apokalypse“ oder „Inferno“; Letzeres hatte ja auch Ledig selbst ursprünglich als Titel des Romans vorgesehen.¹² Die Verfasser machen deutlich, dass Ledig den Krieg als eine verkehrte Welt beschreibt – nicht nur als Gegensatz aller Zivilisation, sondern auch als Kriegssituation, die kein Heldentum mehr kennt und nicht länger mythisch verklärt wird. „Der Tod ist keine heilige geheimnisvolle Sache, kein Heldentod, sondern ein physikalischer Vorgang“, und die „andere Seite des Krieges wird sichtbar, das Unheldische, die Kette der

 Hühnerfeld (1955).  Noé (1955), 298.  Ebd.  O.A. (1955).  Ganz anders in der DDR-Kritik, in der diese mangelnde Unterscheidung durchaus angeprangert wird. Vgl. Deicke (1955), 137.  Vgl. Brauchle (2008), 22.

9.2 Rezeption bei der Erstveröffentlichung

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Fehlleistungen.“¹³ Die Menschen in diesem Krieg werden nicht von Tugenden oder Idealen geleitet, sondern von „Verzweiflung, Selbsterhaltungstrieb, Angst“.¹⁴ Dass eben dieser Selbsterhaltungstrieb zu Versuchen führt, der Situation zu entfliehen, wird auch von den Rezensenten erkannt, wenn sie die Desertionen, die Ledig beschreibt, genau darauf zurückführen. Die Wertung dieser zentralen Handlungsstränge des Romans fällt jedoch eher negativ aus; am positivsten ist sie noch dort, wo das Überlaufen des Melders schlicht geschildert und nur mit dem Hinweis kommentiert wird, dass die halbherzige Flucht „keine Erlösung bringen“ konnte.¹⁵ Eindeutiger ist das Urteil über die Deserteure, wenn sie für den Rezensenten „das Unheldische, die Kette der Fehlleistungen“ repräsentieren.¹⁶ Hier wird deutlich, wie sehr bei allem Lob für Ledigs Demaskierung eines grausamen Krieges, dem kein Glanz und kein Heldentum mehr zu eigen sind, Teile der Kritik in den 1950er Jahren noch von jener „Ideologie des Kampfes“ beherrscht sind, die in der Fahnenflucht Verrat und todeswürdiges Verbrechen sieht und die Thomas Kraft auch in vielen kriegskritischen Romanen nachgewiesen hat.¹⁷ Nur knapp angesprochen werden das Gerichtsverfahren und die Exekution des Feldwebels durch den Rittmeister. Der Prozess wird an einer Stelle nur als Versuch gesehen, Ordnung in das Chaos zu bekommen,¹⁸ einmal wird er als „gespenstisch unwirkliches Kriegsgericht“ nur kurz erwähnt.¹⁹ Dabei ist die Verhandlung, wie gezeigt wurde, weit weniger unwirklich beschrieben, als man damals wohl wahrhaben wollte. Dass diese massive institutionelle Gewalt gegen die eigenen Leute, die sie zwingt, ihre Kameraden zu töten, ebenfalls zur Unmenschlichkeit dieses Krieges beiträgt, bleibt ebenso unerwähnt wie die Tatsache, dass sich die Psyche des Rittmeisters von der Erschießung des Feldwebels nicht mehr erholt. Generell werden die psychischen Folgen von den Rezensenten nur wenig beachtet. Dass offensichtlich neben dem Rittmeister, der an der Exekution zerbricht, noch zahlreiche andere Soldaten im Roman den Verstand verlieren, findet in den Kritiken keine Erwähnung. Es ist dies vermutlich nicht zuletzt im Lichte der damals noch vorherrschenden Ansicht in der Psychologie zu sehen, dass die menschliche Psyche quasi unbegrenzt belastbar wäre, sofern nicht eine ererbte

      

Schonauer (1955). Ebd. Noé (1955), 299. Schonauer (1955). Kraft (1994). O.A. (1955). Noé (1955), 299.

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9 Rezeptionsgeschichte

psychische Krankheit vorliege.²⁰ Somit bleibt ein wichtiger Aspekt des Romans in den Rezensionen bei der Erstveröffentlichung außen vor. Dies ist umso interessanter, wenn man betrachtet, dass anscheinend durchaus davon ausgegangen wurde, dass man eine lange Zeit braucht, um ein Erlebnis wie den Krieg in Russland zu verarbeiten: So wird im Zuge eines Vergleichs von Die Stalinorgel mit Renns Krieg festgestellt, dass beide erst etwa zehn Jahre nach den beschriebenen Kriegen erscheinen, „[d]enn eher hätten Renn und Ledig ihre Bücher gar nicht schreiben können. Sie brauchten diesen Abstand um das Wort reifen zu lassen, das Wort, das von dem Furchtbarsten auf Erden geprägt ist: dem Krieg.“²¹ In dieselbe Richtung weist die Vermutung, dass das „Erlebnis ‚Russland‘ zu groß [war], zu intensiv, als daß schon eine Gestaltung möglich gewesen wäre.“²² Dass zumindest eine gewisse Latenzzeit angenommen wird, die nötig zu sein scheint, bevor diese Extremsituation in Worte gefasst werden kann, spricht dafür, dass ein Gefühl dafür bestand, welche Auswirkungen sie auf die Psyche der Betroffenen haben konnte. Einig sind sich die Rezensionen darin, dass Ledig mit Die Stalinorgel eine authentische Darstellung des Kriegserlebnisses gelungen ist. Es wird suggeriert, dass der Roman „zeitwahr“ sei²³ und seinem Thema in seiner Sprache, seiner filmischen Montage und der Drastik seiner Bilder jederzeit gerecht werde. Diese Authentizität wird als seine große Stärke gesehen, aus ihr könne er auch Bezug zur damaligen Situation gewinnen: „[D]ie Tatsache, daß ein Krieg das Furchtbarste ist, was es gibt – ob er nun mit Beilen oder Radioaktivität ausgetragen wird.“²⁴ An diese Tatsache soll das Werk seine Leser erinnern; neben der anklingenden Angst vor einem Atomkrieg ist hier sicherlich auch die deutsche Wiederbewaffnung als Hintergrund zu sehen.

9.2.2 Vergeltung War Die Stalinorgel von der Kritik überaus wohlwollend aufgenommen worden, so waren die Reaktionen beim Erscheinen von Ledigs zweitem Roman das genaue Gegenteil: Vergeltung stieß auf breiter Front auf Ablehnung. Beachtenswert ist dabei, dass meist genau jene Punkte, die die Rezensenten am Erstling noch gelobt hatten, nun die Basis für die Verrisse bildeten.     

Vgl. hierzu Goltermann (2009), 430 f. Braem (1955). Hühnerfeld (1955). Noé (1955), 299. Hühnerfeld (1955).

9.2 Rezeption bei der Erstveröffentlichung

201

Ledigs knappe, reduzierte Sprache in Vergeltung gilt nicht länger als Ausweis von Unmittelbarkeit, stattdessen heißt es nun: „Der Wortschatz […] ist bis auf ein wahres Existenzminimum vereinfacht und verödet.“²⁵ Auch der schnelle, parataktische Stil und die rasche Szenenfolge, die in Die Stalinorgel noch gefielen, treffen nun auf Ablehnung. Hier ist nun nicht mehr von „rhythmisch gebändigter Wahrheit“ die Rede, sondern Ledig wird ein „gekünstelter Hackstil“ attestiert, der Entsetzen vermitteln soll, aber darin nicht erfolgreich ist. Dies zeigt bereits, dass die enge Verbindung von Sprache und Inhalt nicht mehr wahrgenommen wird. Ähnlich verhält es sich mit Ledigs Szenenmontage, die auch in Vergeltung zu einem schnellen Wechsel zwischen den unterschiedlichen Schauplätzen führt. Zwar wird dem Autor nach wie vor attestiert, mit der filmartigen Szenenreihung „im Endeffekt Erschütterung hervorzurufen“, aber es wird doch auch deutlich, dass die Kritik diese Erschütterung nicht im selben Maße würdigt wie jene in Die Stalinorgel: „[D]iese Prozession von Schrecken in einer Prosa von merkwürdig rhetorischer Art will dem Leser nicht so recht behagen.“²⁶ Ein anderer Rezensent bemerkt „schon im Satzbau die Mache, eine Mache in Grauen.“²⁷ Dieser Vorwurf zeigt bereits, dass auch Ledigs radikale und drastische Gewaltdarstellung, die dem Leser den genauen Blick auf die Auswirkungen des Krieges nie erspart, nicht mehr positiv aufgenommen wird. Alle Szenen würden nur noch „auf eine möglichst gräßliche Darstellung des Grauens“ drängen.²⁸ Vor allem zwei Stellen werden von den Rezensenten immer wieder verurteilt: die Vergewaltigung einerseits und der Tod des Truppführers im heißen Asphalt andererseits. Im ersten Fall lautet der Vorwurf, sich „in nicht entschuldbarer Weise an der Darstellungsart“ vergangen zu haben,²⁹ wobei fraglich ist, ob hier wirklich die Art der Darstellung kritisiert wird oder nicht doch die Darstellung an sich. Ein anderer Rezensent wirft Ledig gar voyeuristische Motive für die „widerwärtig minutiös“ geschilderte Vergewaltigung vor.³⁰ Der Tod des Truppführers dagegen dient dazu, den Hauptkritikpunkt zu untermauern: mangelnde Erlebnisoder Erfahrungstiefe bzw. Authentizität. Anders als Die Stalinorgel wird Vergeltung von der Kritik nicht mehr als glaubwürdiges Abbild des Geschehenen gesehen, sondern nur noch als grausame Übertreibung. „Fast alle haben wir Luftangriffe erlebt, fast alle in brennenden Straßen gehockt, und dennoch wird jeder, der

     

Hornung (1956). Schwerbrock (1956). Dallontano (1956). Ebd. Hornung (1956). Dallontano (1956).

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9 Rezeptionsgeschichte

Ledigs Roman liest, ganz unwillkürlich sagen: Das ist nicht wahr!“³¹ Es ist jedoch bereits darauf hingewiesen worden, dass Unglücke wie das des Truppführers vorgekommen sind, über einen möglichen Hintergrund der Vergewaltigungsszene ist ebenfalls spekuliert worden. Dennoch ist der Grundtenor der Kritiken, Ledigs Vergeltung lasse „an der Tiefe der Erfahrung zweifeln“³² bzw. weise nicht mehr jene „Tiefe des Erlebnisses und der Erfahrung“ auf, die noch Die Stalinorgel ausmachte.³³ Neben dieser fundamentalen Kritik an der mangelnden Authentizität stößt auch Ledigs Figurenzeichnung auf Kritik. So „bewegen sich seine Menschen mechanisch und stereotyp, wie mit Werg ausgestopfte Puppen. Alles Empfinden ist kollektiv und die Seele dieser Menschen, immer auf der Flucht von der eigenen Mitte weg, verfällt den Kobolden einer rein sinnlichen Prägung.“³⁴ Dass Ledig so eine Extremsituation einfängt, die den Einzelnen seiner Individualität beraubt und direkte Auswirkungen auf seine Psyche hat, wird nicht, wie noch in Die Stalinorgel, wohlwollend notiert. Dabei finden sich auch in den Rezensionen zu Vergeltung stets die Termini „Hölle“, „Apokalypse“ und „Inferno“, sodass auch hier der Charakter des Erlebnisses feststeht (ungeachtet der Tatsache, dass sich Ledig einer apokalyptischen Deutung bereits im Text explizit verwehrt). Mögliche Auswirkungen einer solchen Erfahrung werden in den Rezensionen nicht thematisiert, auch nicht am Beispiel des Autors. Stand bei Ledigs Debüt noch außer Frage, dass er darin seine eigene Kriegserfahrung verarbeitete und für diesen Prozess Zeit brauchte, so scheint dies nun unmöglich. Es wird sogar explizit erwähnt, dass der Erstling wohl aus psychologischer Notwendigkeit geschrieben wurde, woraus aber nicht der Schluss gezogen wird, es könne bei Vergeltung ähnlich sein – schließlich hatte Ledig auch die Bombenangriffe miterlebt. Vielmehr wird der Vorwurf erhoben, jene Aspekte des Erstlings, die dort für Unmittelbarkeit sorgten, weil sie der Erfahrung entsprängen, verkämen mangels Erfahrung nun zur Manier.³⁵ Wie traumatisch dieses Erlebnis für Ledig vermutlich war, ist bereits angesprochen worden (s.o. 8). Neben der mangelnden Erlebnistiefe wirft man Ledig nun vor, sich nicht wie noch in Die Stalinorgel zu engagieren.³⁶ Wurde der erste Roman noch als Mahnmal erkannt, das vor den Folgen des Krieges warnen sollte, versteht man Vergeltung

     

Ebd. Schwerbrock (1956). Braem (1956). Hornung (1956). Braem (1956). Ferber (1957, Engagiert).

9.2 Rezeption bei der Erstveröffentlichung

203

nicht mehr als solches. Zwar wird wiederholt darauf hingewiesen, dass dies die Intention auch des zweiten Werkes sei, aber nur ein Rezensent attestiert Ledig, damit erfolgreich gewesen zu sein.³⁷ Der zentrale Vorwurf bleibt die mangelnde Erlebnistiefe. Denn in fast allen Rezensionen klingen auch positive Töne an. So wird durchaus wahrgenommen, dass Ledig den „Widersinn des Krieges“ illustrieren will³⁸ und „mit moralischer Absicht“ vorgegangen sei.³⁹ Auch ist die Rede von „furchtbarer, aber gerechtfertigter Genauigkeit in der Beschreibung“, die aber auch ihr Potential verliere, da Vergeltung nicht „ein Fünkchen des Erlebnisgehalts, das ‚Die Stalinorgel‘ auszeichnet“, besitze.⁴⁰ Problematisch ist also nicht, dass sich Ledig des Themas Luftkrieg annimmt, sondern dass seine ästhetische Gestaltung in den Augen der Rezensenten dem Thema nicht gerecht wird: Er greift sich (scheinbar) übertriebene Erlebnisse heraus und stellt diese nur unbefriedigend dar. Prinzipiell wird aber anscheinend Literatur zu diesem Thema erwartet, wenn es etwa heißt, dass „[d]er Roman der Bombennächte […] noch nicht geschrieben“ sei,⁴¹ oder festgestellt wird, dass die meisten Kriegsromane den Luftkrieg bestenfalls marginal behandelten.⁴² Das Bewusstsein für diese vermeintliche Leerstelle der deutschen Nachkriegsliteratur ist also bereits in den 1950er Jahren vorhanden; Vergeltung kann diese Lücke für die Kritik jedoch nicht füllen. Dass dabei auch Gründe jenseits des Ästhetischen eine Rolle spielen, kann den Rezensionen zwar nicht entnommen werden; auffällig ist jedoch, dass in keiner Kritik der Titel des Romans diskutiert wird und dass auch die Absage an apokalyptische Deutungen – verbunden mit Kritik an jenen, die die Vergangenheit verdrängen – nicht thematisiert wird. Die Missachtung dieser Elemente, die darauf hinweisen, dass Deutschland die Luftangriffe selbst über sich gebracht hat, wird teils noch dadurch ergänzt, dass bezüglich der Angriffe von „Terrorangriffen“ die Rede ist.⁴³ In eine ähnliche Richtung weist auch, dass der offensichtliche Passionsprätext der Strenehen-Handlung⁴⁴ nicht zur Sprache kommt. Auch dieser suggeriert schließlich, dass der Amerikaner für  O.A.: Wir schlagen auf: Gert Ledig: „Vergeltung“. In: Der Standpunkt vom 8. 3.1957; hier wird jedoch auch im gleichen Satz noch relativiert, dass die Darstellung zwar kriegerische Mythen demoliere, aber auch gegen das Grauen abstumpfe, was wiederum vermutlich nicht der beste Weg zu mehr Menschlichkeit sei.  Schwerbrock (1956).  Hornung (1956).  Ferber (1957, Engagiert).  Schwerbrock (1956).  Vgl. Hornung (1956).  Ebd.  Vgl. Radvan (2006).

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deutsche Sünden stirbt, wobei damit natürlich gleichzeitig zumindest teilweise jener metaphysische Ausblick geboten wird, dessen angebliches Fehlen die Kritik verurteilt. Vor diesem Hintergrund muss angenommen werden, dass nicht nur die Frage, wie man den Bombenkrieg literarisch darstellt, eine Rolle spielte, sondern auch, wie man ihn historisch einordnet und wertet. Für eine (öffentliche) Deutung als gerechte Strafe für deutsche Verbrechen scheint es 1956 noch zu früh gewesen zu sein.

9.2.3 Faustrecht Was bei der Betrachtung der Rezeption von Ledigs drittem Roman auffällt, ist vor allem die geringe Zahl an Besprechungen, die Faustrecht bei seiner Erstveröffentlichung erfahren hat. Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden. Möglicherweise interessierte sich die Kritik nach Vergeltung nicht mehr für Ledig; ausgehend von den leidenschaftlichen Verrissen des zweiten Romans ist dies jedoch unwahrscheinlich. Außerdem kann man einer Kritik entnehmen, dass Faustrecht „[m]it Spannung […] erwartet“ wurde.⁴⁵ Wahrscheinlicher ist, dass Ledig mit Die gefährliche Literatur, worin er der deutschen Literaturkritik im Anschluss an die schlechten Besprechungen von Vergeltung mangelndes Erkenntnisvermögen vorgeworfen hatte,⁴⁶ die Missachtung der Rezensenten provozierte. So überrascht es nicht, dass vor allem jene Kritiker Faustrecht besprechen, die Vergeltung nicht völlig verrissen hatten. Wohlwollend wird zur Kenntnis genommen, dass Ledig seinem Thema treu bleibt, sodass bereits 1957 von „einer sich allmählich herauskristallisierenden Trilogie der dreiaktigen Tragödie Deutschlands“ die Rede ist,⁴⁷ auch wenn Ledig seine Romane nie als solche intendiert hat. Auch zu Nachkriegsdeutschland wird – ähnlich wie bei den Sujets der ersten beiden Romane – wiederum eine literarische Leerstelle attestiert, die Ledig aber nicht füllen könne: „Es ist bis heute aber niemandem gelungen, einen Roman von Rang aus der ersten Nachkriegszeit vorzulegen“.⁴⁸ Der Wandel im Stil, für den die weniger dynamische Handlung und die ursprüngliche Anlage als Theaterstück verantwortlich sind, vermag die Kritik ebenso wenig zu überzeugen wie die Aspekte der Nachkriegs-

 Schwerbrock, Wolfgang: Liebe, Mord und Lucky Strike. In: FAZ vom 28.9.1957.  Ledig (1957, Literatur); vgl. auch Hage (1999, Angst).  Schwerbrock (1957).  Ferber (1957, Kolportage). Es sei hier auf Heinrich Bölls Der Engel schwieg hingewiesen, der – 1949/50 geschrieben – in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielt, Anfang der 1950er Jahre aber noch nicht erscheinen konnte, sondern erst 1992 veröffentlicht wurde.

9.2 Rezeption bei der Erstveröffentlichung

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gesellschaft, die Ledig darstellt. Ledig bleibe seiner gewollt drastischen Darstellung extremer Brutalität treu, setze diese aber nicht mehr in der gehabten Form fort. Dem Autor wird abermals fehlendes Engagement vorgeworfen, die Handlung trifft wie bei Vergeltung das Verdikt der mangelnden Erfahrungstiefe bzw. Welthaltigkeit. ⁴⁹ Die vermeintlich triviale Gangstergeschichte in Verbindung mit dem Mangel an „Legitimation durch die Form“⁵⁰ führen zu allgemeiner Ablehnung, die bei Joachim Kaiser zu dem sehr endgültigen Urteil führt, dass „viele Namhafte unserer jungen Literatur sich auf einen Weg gemacht haben, an dessen Ende kein Pantheon steht.“⁵¹ Der Vorwurf der mangelnden Welthaltigkeit weist auch hier darauf hin, dass die Kritik sich nicht per se an Ledigs Thema störte, sondern auch in diesem Fall wieder an Ledigs Herangehensweise. Es wird ein Mangel an Literatur zu Ledigs Thema – dem Leben in den Trümmern des Bombenkriegs – festgestellt, aber ebenso auch, dass Ledig nicht in der Lage ist, diesen zu beheben. Wiederum wird Ledigs Erzählung nicht als repräsentativ für die kollektive Erfahrung empfunden. Dass die Kritik auch darauf beruhen könnte, dass die Rezensenten die Darstellung von deutschen Soldaten ablehnten, die sich weiterhin in einem Kriegszustand – auch gegen sich selbst – befanden und sich nicht als befreit, sondern eher als besetzt sahen, scheint in den Rezensionen nicht durch. Insofern ist es wenig erstaunlich, dass auch die psychischen Beschädigungen, die die Protagonisten im Krieg davongetragen haben, kaum in den Blick genommen werden. Nur ein Rezensent geht darauf ein, wertet dafür aber genau diesen Aspekt auch als Ausweis von Qualität: „Nur manchmal, wenn herauskommt, daß der Krieg die Helden des Buches zu den berechnenden Tieren gemacht hat, die sie geworden sind, spürt man noch etwas von Ledigs unbestreitbarer Kunst.“⁵² Offensichtlich ist dieser Aspekt dem Rezensenten aber nicht ausreichend herausgearbeitet. Dabei ist jedoch noch einmal darauf hinzuweisen, dass die damals herrschende Forschungsmeinung davon ausging, dass die Psyche des Menschen selbst extremste Belastungen ohne bleibende Beeinträchtigungen verkrafte; wer versuchte, eine psychische Schädigung als Kriegsfolge etwa versorgungsrechtlich geltend zu machen, wurde stattdessen in der Regel mit dem Stigma des erblichen Defekts belegt.⁵³ Ebenfalls unkommentiert bleiben die Westernelemente, mit denen Ledig seinen Roman unterlegt, die in Verbindung mit dem Titel die Rechtlosigkeit der     

Vgl. Kaiser, Joachim: Bücher, die beachtet wurden. In: Frankfurter Hefte 13.1 (1958), 65 – 69. Schwerbrock (1957). Kaiser (1958), 67. Kaiser (1958), 68. Vgl. Goltermann (2009).

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9 Rezeptionsgeschichte

Nachkriegsgesellschaft verdeutlichen. Dies ist gerade vor dem Hintergrund interessant, dass zumindest in einer Kritik explizit der Wildwestfilm als Vergleich herangezogen wird, wenn auch in deutlich abwertendem Kontext.⁵⁴

9.3 Wiederentdeckung: Die Debatte um Luftkrieg und Literatur 9.3.1 Sebalds Vorlesungen Nachdem Ledig der Literaturwelt nach den schlechten Reaktionen auf seinen zweiten und dritten Roman den Rücken gekehrt hatte, wurde es schnell still um ihn. Es entstanden noch das Hörspiel Das Duell/Der Staatswanwalt und kleinere Veröffentlichungen in Anthologien,⁵⁵ aber danach folgten nur noch journalistische Arbeiten.⁵⁶ Zwar gab es in den folgenden Jahren noch hin und wieder Taschenbuchauflagen von Die Stalinorgel,⁵⁷ doch verhinderte dies nicht, dass Ledig bis zum Ende der 1990er Jahre in Vergessenheit geriet. Dass man sich seiner wieder erinnerte und schließlich auch seine Bücher wieder neu auflegte, hatte dabei zunächst nur wenig mit ihm selbst zu tun. 1997 beschäftigte sich W.G. Sebald in Rahmen der Zürcher Poetikvorlesung mit der vermeintlich mangelnden Repräsentation des Luft- und Bombenkriegs über den deutschen Städten im Zweiten Weltkrieg. Er knüpfte damit an Überlegungen an, die er bereits Anfang der 1980er Jahre angestellt hatte.⁵⁸ Zu dieser Zeit war Vergeltung bereits so gründlich vergessen, dass der Roman in Sebalds Überlegungen keine Rolle spielte. In der Debatte, die sich im Anschluss an die Vorträge im deutschen Feuilleton entspann, fiel dann jedoch Ledigs Name, und schließlich kam es 1999 zur Wiederveröffentlichung von Vergeltung. Sebalds Grundthese war, dass die deutsche Nachkriegsliteratur⁵⁹ sich der Bombennächte nicht angenommen habe und dies in einer Art gesellschaftlichem Tabu begründet sei, mit dem diese Thematik behaftet sei. Er merkt an, dass man heute zwar die genauen Zahlen zum Bombenkrieg kenne, aber keine Vorstellung

 Kaiser (1958), 68.  Vgl. Ledig, Gert: Episode am Abend. In: Deutsches PEN-Zentrum Ost und West (Hg.): … daß die Zeit sich wende! Ein Almanach. Berlin 1957, 99 – 107.  Z. B. Merian-Hefte zum Münchner Umland.  Z. B. 1977 bei Heyne; auf dem Buchrücken wird der Roman hier noch als „eines der wichtigsten und berühmtesten Kriegsbücher“ angepriesen.  Vgl. Sebald (1982).  Es sei hier angemerkt, dass Sebald damit nur die westdeutsche Literatur meint; mit der DDRLiteratur zum Thema setzt er sich nicht auseinander.

9.3 Wiederentdeckung: Die Debatte um Luftkrieg und Literatur

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mehr davon habe, was er bedeutete. Trotz der langen Dauer des Bombenkriegs und der Tatsache, dass er angesichts der mehr als einer halben Million toter Zivilisten und Millionen Verwundeter quasi alle (be)traf, bleiben heute nur vage Verallgemeinerungen bei seiner Beschreibung. Die Zerstörung erscheint nicht als „Ende einer kollektiven Aberration“, sondern als erste Stufe des Wiederaufbaus.⁶⁰ Letzterer habe die Vergangenheit quasi ein zweites Mal vernichtet, indem die Vorgeschichte einer neuen Wirklichkeit wich und die Bevölkerung konsequent auf die Zukunft ausgerichtet und, wie Sebald es nennt, zum Schweigen über die Vergangenheit verpflichtet wurde. Die große Niederlage wurde auf diese Weise gewissermaßen umgedeutet und zum Ausgangspunkt eines Erfolgs gemacht, anstatt zunächst als Niederlage und Katastrophe verstanden und verarbeitet zu werden. „Die finstersten Aspekte des von der weitaus überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung miterlebten Schlußakts der Zerstörung blieben so ein schandbares, mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis, das man vielleicht nicht einmal sich selber eingestehen konnte.“⁶¹ Sebald erklärt das Fehlen von tieferen Verstörungen im deutschen Seelenleben nach dem Krieg mit einem großen Akt der Verdrängung, der zwar nicht vergessen ließ, dass man aus einem Vorgang der Zerstörung und Degradation hervorgegangen war, diese Erkenntnis aber vom Gefühlshaushalt abkoppelte bzw. die erlittenen Leiden und den Wiederaufbau sogar positiv zu den eigenen Gunsten werten ließ.⁶² Neben diversen klar benennbaren Faktoren des Wirtschaftswunders identifiziert Sebald auch einen immateriellen Katalysator: den „bis heute nicht zum Versiegen gekommene[n] Strom psychischer Energie, dessen Quelle das von allen gehütete Geheimnis der in die Grundfesten unseres Staatswesens eingemauerten Leichen ist“.⁶³ Es wird hier schon deutlich, dass Sebald die Leerstelle der deutschen Literatur, die er diagnostiziert, eigentlich auf ein Trauma zurückführt. Aus den individuellen Traumata entsteht ein gesamtgesellschaftliches Trauma, dem man sich in den Jahren nach dem Krieg nicht mehr zu nähern vermag: Die Spuren werden beseitigt; es wird nicht mehr darüber gesprochen. Das Tabu, von den eingemauerten Leichen und den Umständen ihres Todes zu sprechen, hat sich für Sebald auch auf die Literatur ausgewirkt, sodass sich vor allem ausländische Schriftsteller des Themas annahmen. Implizit knüpft Sebald

 Sebald (2001), 12.  Ebd., 17.  Hier rekurriert Sebald natürlich implizit auf Alexander und Margarete Mitscherlich sowie deren Thesen zur Verbindung des Wiederaufbaus mit Abwehr der Vergangenheit und zu den mangelnden „Anzeichen innerer Krisen“; vgl. Mitscherlich, Alexander; Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens; zuletzt 20. Aufl. München 2007.  Sebald (2001), 20.

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hier ganz klar an Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich an, wobei die Literatur eben das kommunizieren und exemplarisch durcharbeiten soll, was die Gesellschaft nicht aus eigener Kraft verarbeiten kann bzw. will. Freilich nennt Sebald mit Hans Erich Nossacks Der Untergang, Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom, Peter de Mendelssohns Die Kathedrale und Arno Schmidts Aus dem Leben eines Fauns einige Ausnahmen von dem postulierten Erzähltabu, ohne dies allerdings zunächst mit qualitativen Urteilen zu verbinden. Die fehlende Repräsentation des Luftkriegs in der deutschen Literatur hatte Sebald auch schon in seiner ersten Beschäftigung mit dem Thema in den 1980er Jahren diagnostiziert und damals bereits „komplizierte Verdrängungsprozesse“⁶⁴ am Werk gesehen; neu ist in den Vorlesungen die klare Formulierung des vermuteten Erzähltabus und seiner Gründe.⁶⁵ Sebald macht keinen Hehl daraus, dass es natürlich viele Augenzeugenberichte über die Luftangriffe gab, denen er aber nicht traut: Da in ihnen das Erlebte häufig nur formelhaft wiedergegeben wurde und die Betroffenen meist psychisch überfordert waren, sieht Sebald darin einen Hinweis auf Verdrängungs- und Aussperrungsmechanismen. Er spricht diesen Berichten daher die Authentizität ab und hält eine Ergänzung durch einen synoptischen, künstlichen Blick für notwendig. So ist der Essay „weniger ein Argument gegen das Fehlen von Texten als ein Argument gegen das Fehlen angemessener Darstellungen.“⁶⁶ Es verwundert wenig, dass Sebald die literarische Beschäftigung mit dem Bombenkrieg vor allem dort positiv bewertet, wo sie sich mit jener mangelnden psychischen Beteiligung befasst, die er als eine Ursache des Tabus versteht, wie etwa bei Nossack und in Alexander Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. ⁶⁷ Kritik übt Sebald dort, wo die Autoren versuchen, das Geschehene zu mythisieren und philosophisch zu überhöhen. Dies bemerkt er vor allem bei Kasack, aber auch in Nossacks Nekyia. Auch (pseudo)ästhetischen Versuchen wie bei de Mendelssohn und Schmidt erteilt Sebald eine Absage. Am ehesten sieht er das Potential der Literatur zur Repräsentation eines Ereignisses wie des Bombenkriegs dort ausgeschöpft, wo die Autoren stark dokumentarisch arbeiten oder gezielt historische Dokumente einflechten, wie etwa Nossack und Kluge, aber

 Sebald (1982), 357.  Vgl. hierzu auch Volkening (2004), 155 f.  Ebd., 152.  Die Kinoangestellte in Kluges Erzählung verkörpert ganz direkt, was Sebald später anprangert: Nachdem die Bomben gefallen sind, beginnt sie – offenbar traumatisiert – sofort damit, Ordnung zu machen, wobei sie auch Leichenteile emotionslos aufräumt. Vgl. Kluge (1978), 36

9.3 Wiederentdeckung: Die Debatte um Luftkrieg und Literatur

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auch Hubert Fichte in Detlevs Imitationen „Grünspan“, wenn er seinen Protagonisten Jäcki in Siegfried Gräffs pathologischen Untersuchungen zu den Toten des Hamburger Feuersturms blättern lässt. Mehr als Ausnahmen von der Regel des Tabus sieht er in diesen Texten jedoch nicht. Vielmehr versucht er, nun eine Umschrift der von ihm besprochenen Texte zu liefern, die – um eigene Erzählpassagen erweitert – die Lücke in der kollektiven Erinnerung füllen und den Nachgeborenen das Geschehen vermitteln soll. Auf diesen Aspekt soll an späterer Stelle genauer eingegangen werden, wenn Sebalds Reaktion auf Ledigs Vergeltung betrachtet wird.

9.3.2 Debatte Sebalds Thesen blieben nicht unbeachtet. Nachdem die NZZ neben einem Beitrag Sebalds auch ein ausführliches Gespräch mit ihm abgedruckt hatte,⁶⁸ fanden sie ihren Weg in die deutschen Feuilletons, wo sich daraufhin eine Debatte um Luftkrieg und Literatur entspann.⁶⁹ Auch wenn der Name Gert Ledig in dieser Diskussion nur am Rande fällt, bildet sie doch das Vorspiel zur Wiederveröffentlichung von Vergeltung sowie – zusammen mit Sebalds Text – auch den Hintergrund für die Rezeption des Romans. Zunächst erfährt Sebald einige Zustimmung zu seinen Thesen. Da der Gegenstand der Vorlesungen „von zentraler Bedeutung für die Deutschen“ sei und alle angehe, vom Bombenkrieg in der Gesellschaft tatsächlich nicht gesprochen werde und seine Thematisierung durch Sebald nun zu Irritationen und Widerstand führe, sieht Andreas Isenschmid in den Vorlesungen einen tatsächlichen Tabubruch.⁷⁰ Er bestätigt also die Kernthese eines Tabus und stellt die literarische Unterrepräsentation des Luftkriegs nicht in Frage. Auch Volker Hage stützt prinzipiell die Vermutung, dass der Luftkrieg gegenüber den Fronterfahrungen wesentlich seltener in der Literatur verarbeitet wurde, weist aber gleichzeitig auf einige Texte hin, die den Bombenkrieg zum Thema haben und die Sebald in seiner

 NZZ vom 27.11.1997.  Dokumentiert in Hage, Volker; Winkels, Hubert (Hg.): Deutsche Literatur 1998. Stuttgart 1999, 249 – 290. Die folgenden Beiträge der Debatte sind jeweils nach dieser Zusammenstellung zitiert.  Isenschmid, Andreas: Deutschlands schandbares Familiengeheimnis. In: Tages-Anzeiger vom 4.12.1997, zitiert nach Hage,Volker; Winkels, Hubert (Hg.): Deutsche Literatur 1998. Stuttgart 1999, 250 – 253.

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Betrachtung vernachlässigt habe: Neben Borcherts Billbrook und Remarques Zeit zu leben und Zeit zu sterben nennt er auch Vergeltung. ⁷¹ Da es so schwer sei, von deutschem Leiden bzw. deutschen Opfern zu erzählen, ohne relativierende und einschränkende Sätze zu ergänzen, führt Hage das Erzähltabu zum Luftkrieg auf das größere Erzähltabu zum Holocaust zurück, dessen Darstellung nur den Betroffenen, nicht aber dem Tätervolk zukomme. Vor diesem Hintergrund könnten auch die Schrecken des Bombenkriegs von Deutschen kaum dargestellt werden. Allerdings fügt er an, dass der Ruf nach Romanen zu den Bombennächten nicht vermessen sei, da – neben Sebald – auch andere deutsche Schriftsteller Leerstellen im literarischen Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg festgestellt haben, und verweist in diesem Kontext etwa auf Hans Magnus Enzensberger und Walter Kempowski, dessen Echolot er als Manifestation dieses Mangels sieht. Die Hoffnung, dass noch entsprechende Literatur nachkäme, hegt er somit noch, denn er glaubt eine Neuorientierung der Schriftsteller zum lange ignorierten Kriegsthema beobachten zu können; und so schließt er, dass es sein könne, „dass die deutsche Nachkriegsliteratur überhaupt erst beginnt“.⁷² Es ist jedoch darauf hingewiesen worden, dass dies aufgrund der wenigen Belege, die Hage für seine These beibringt, eher als Forderung denn als Fazit zu sehen ist.⁷³ Frank Schirrmacher widerspricht dieser These von einem Neuanfang ganz entschieden. Zwar konstatiert auch er eine Leerstelle in der deutschen Literatur sowie ein aus diesem Mangel erwachsendes Bedürfnis der Menschen, das sich im Erfolg etwa von Kempowskis Echolot manifestiere; dass diese Lücke aber noch gefüllt werde, glaubt er nicht: Die junge nachkommende Generation sieht er „wie um Lichtjahre entfernt“ und kommt zu dem Schluss: „Es ist vorbei. Die Beteiligten und Betroffenen, die als Kinder und Heranwachsende die Bombennächte noch erlebten, werden stumm abtreten.“⁷⁴

 Hage, Volker: Feuer vom Himmel. In: Der Spiegel vom 12.1.1998, zitiert nach Hage, Volker; Winkels, Hubert (Hg.): Deutsche Literatur 1998. Stuttgart, 1999, 253 – 262. Über die reine Nennung geht er hier noch nicht hinaus; eine ausführliche Beschäftigung mit Ledig lässt er erst ein Jahr später im Spiegel folgen; vgl. Hage (1999).  Hage (1998), 262.  Streim (2005), 295 f. Zu dem Hoffen auf einen Neuanfang bzw. eine „Wende“ nicht nur, aber auch in der Literatur als einer spezifisch deutschen Eigenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Huyssen, Andreas: On Rewriting and New Beginnings: W.G. Sebald and the Literature about the Luftkrieg. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 124 (2001), 72– 90.  Schirrmacher, Frank: Luftkrieg. Beginnt morgen die deutsche Nachkriegsliteratur? In: FAZ vom 15.1.1998, zitiert nach Hage,Volker; Winkels, Hubert (Hg.): Deutsche Literatur 1998. Stuttgart 1999, 264.

9.3 Wiederentdeckung: Die Debatte um Luftkrieg und Literatur

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Neben Reaktionen, die Sebald zumindest im Kern zustimmten, gab es aber auch diverse kritische Stimmen. Dabei kristallisierten sich drei Kritikpunkte heraus: (1) Es gibt sehr wohl deutsche Literatur zum Thema, aber sie wurde nicht rezipiert. (2) Da es nie ein Verbot gab, vom Luftkrieg zu sprechen, könne von einem Tabu gar keine Rede sein. (3) Das Schweigen bzw. die Scham, die dahintersteht, sind wertvoller als alle Literatur, die sich mit dem Bombenkrieg befasst.⁷⁵ Der erste Punkt folgt in gewissem Sinne Hage, der wie erwähnt an einige Texte erinnert hatte, die zum Thema erschienen waren. Die mangelnde Produktion wird somit zur mangelnden Rezeption. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang Joachim Güntner, der auf die literarische Darstellung der Zerstörung Dresdens durch DDR-Autoren hinweist, namentlich Max Zimmering und Eberhard Panitz, und feststellt: „Die Bücher aber existieren, man hat sie nur nicht gelesen.“⁷⁶ Der zweite Punkt hängt damit eng zusammen, denn auch jene Kritiker, die ihn formulieren, berufen sich darauf, dass durchaus Texte zum Bombenkrieg existieren, allen voran Nossacks Der Untergang und Borcherts Billbrook. Dieser Befund stützt hier die These, es habe nie ein Tabu gegeben. So reduziert Jost Nolte den Bombenkrieg jedoch auf Hamburg: Zu dessen Feuersturm sei von Nossack und Borchert alles gesagt worden, was zu sagen gewesen wäre.⁷⁷ Und auch Ulrich Baron sieht unter Berufung auf diese beiden sowie auf Otto Erich Kiesels Die unverzagte Stadt kein Tabu und kein Darstellungsverbot gebrochen, sondern allenfalls einen Bann: Die Angst vor einem neuen Krieg habe die Autoren gelähmt oder zumindest gebremst, vom letzten zu erzählen.⁷⁸ Der dritte Kritikpunkt wurde vor allem von Klaus Harpprecht vertreten. Dieser bestätigt zwar das Fehlen von Literatur zum Bombenkrieg, sieht aber darin auch gar keinen Mangel; vielmehr versteht er diese Lücke in der deutschen Nachkriegsliteratur als etwas Bewahrenswertes: „Das Schweigen verbarg vielleicht eine Scham, die kostbarer ist als alle Literatur. Der wahre Verlust wäre, dies zu

 Hage (2003, Zeugen), 118 f.  Günther, Joachim: Der Luftkrieg fand im Osten statt. Anmerkungen zu einer fehllaufenden Literaturdebatte. In: NZZ vom 24.1.1998, zitiert nach Hage, Volker; Winkels, Hubert (Hg.): Deutsche Literatur 1998. Stuttgart 1999, 275.  Nolte, Jost: Sebald oder Neues über Untergänge. In: Die Welt vom 24.1.1998, zitiert nach Hage, Volker; Winkels, Hubert (Hg.): Deutsche Literatur 1998. Stuttgart 1999, 269 – 271.  Baron, Ulrich: Im Schatten zweier künstlicher Sonnen. In: Rheinischer Merkur vom 6. 2.1998, zitiert nach Hage,Volker; Winkels, Hubert (Hg.): Deutsche Literatur 1998. Stuttgart 1999, 275 – 278.

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vergessen.“⁷⁹ Diese implizite Mahnung richtet er vor allem an die junge Literatur, die erst beginnende Nachkriegsliteratur, die Hage ansprach. Denn Harpprecht sieht im Bombenkrieg etwas, von dem nicht erzählt werden kann: Die Betroffenen schwiegen aus Scham, die Jüngeren hatten es nicht erlebt. Gewissermaßen manifestiert sich hier genau das Tabu, das Sebald anprangert. Gustav Seibt schließlich legt seinem Beitrag die Überlegung zugrunde, inwiefern Kunst überhaupt in der Lage sei, die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts darzustellen, und verweist neben der Luftkriegsdebatte auf die Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin.⁸⁰ Seibt stellte auch die Frage, inwiefern die Forderung nach einem Roman, der den Luftkrieg oder Ereignisse ähnlichen Ausmaßes beschreibt, berechtigt sei, und erinnert an die nur geringe Thematisierung der Französischen Revolution und der napoleonischen Zeit. Mit der Frage nach der literarischen Ausgestaltung verbindet sich für Seibt ein Vorwurf an die Historiographie: Diese solle oder könne zwar die Fakten liefern, aber das Geschehene nicht darstellen bzw. die Geschehnisse für jene, die nicht dabei waren, nicht erfahrbar machen. Seibt führt dies auf die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zurück, die nicht mehr darstellen, nicht mehr erschüttern will, seit die Historie ab dem 18. Jahrhundert zur Forschung wurde, während die Erinnerung zunehmend der Kunst zufiel. Diese Unterscheidung zwischen historisch-faktischer Information und ästhetischer Gestaltung nicht zu beachten, ist der Vorwurf, den Seibt Sebald und seinen Unterstützern macht. Seibt selbst trennt die Bereiche ganz klar und unterscheidet drei Formen, von Vergangenem zu erzählen: Geschichtsschreibung – die der Information dient, aber nicht der Imagination –, Augenzeugenberichte – die Anschauung vermitteln – und autonome Kunst – die „den inneren Zustand“ ihrer Epoche spiegele.⁸¹ Bewältigung sieht er weder als Kompetenz der Kunst noch als ihre Aufgabe an. Allerdings ist im Zusammenhang mit Gert Ledig seine Definition der autonomen Kunst interessant, da dies Rückschlüsse auf die möglichen Gründe für die ganz unterschiedliche Rezeption von dessen Romanen zu verschiedenen Zeiten zulässt.

 Harprecht, Klaus (1998): Stille, schicksallose. Warum die Nachkriegsliteratur von vielem geschwiegen hat. In: FAZ vom 20.1.1998, zitiert nach Hage, Volker; Winkels, Hubert (Hg.): Deutsche Literatur 1998. Stuttgart 1999, 269.  Seibt, Gustav: Sprachlos im Feuersturm. Luftkriegs-Literatur, Holocaust-Mahnmal: Was können Kunst und Dichtung zur historischen Erinnerung beitragen? In: Berliner Zeitung vom 14./15. 2. 1998, zitiert nach Hage, Volker; Winkels, Hubert (Hg.): Deutsche Literatur 1998. Stuttgart 1999, 283 – 290.  Ebd., 289.

9.3 Wiederentdeckung: Die Debatte um Luftkrieg und Literatur

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Die Debatte, die sich um Sebalds Thesen zu Luftkrieg und Literatur entspann, zeigt bereits ganz deutlich, dass der Bombenkrieg noch Ende der 1990er Jahre ein sensibles Thema war, das von deutlichen gesellschaftlichen Erinnerungskonkurrenzen bestimmt wurde. Betrachtet man die unterschiedlichen Meinungen der Diskussion genauer, so zeigt sich, dass die Gegenthesen zu Sebald zumindest teilweise am Thema vorbeigehen. Dieser stellt nicht infrage, dass es Zeugnisse zum Bombenkrieg gibt, aber er sieht sie aus verschiedenen Gründen nicht geeignet bzw. dazu in der Lage, die singuläre, aber kollektive Erfahrung den folgenden Generationen, die nicht dabei waren – wie Sebald selbst –, zu tradieren. Denn Sebald lehnt die Erzählung – sei sie autobiographisch, sei sie literarisch – als Repräsentation authentischer Erfahrung ab. Dabei werde Authentizität „nicht als Unmittelbarkeit gedacht, sondern als eine Form der Darstellung und Reflexion, die sich der gemachten Erfahrung gegenüber als angemessen erweisen muss.“⁸² Solche Authentizität spricht Sebald z. B. historischen Fundstücken zu, wie sie sowohl Fichte als auch Kluge in ihre Texte einflechten.⁸³ „Das Problem des Umgangs mit dem Bombenkrieg in der Nachkriegszeit stellt sich bei Sebald daher als Frage weniger des Redens oder Nicht-Redens als der Art der Rede dar.“⁸⁴ Dies wird im Folgenden auch noch hinsichtlich Sebalds Reaktion auf Ledigs Luftkriegsroman zu zeigen sein. Zu Vergeltung wurde außerdem darauf hingewiesen, dass sich diesbezüglich die Frage nach einem Tabu bzw. einem Tabubruch nicht stelle, sondern sich an der unterschiedlichen Beurteilung des Romans bei Erst- und Wiederveröffentlichung vor allem zeige, dass dabei jeweils unterschiedliche Auffassungen von Authentizität eine Rolle spielten.⁸⁵ Auch hierauf wird später im Zusammenhang mit den Urteilen der Rezensenten bei der Wiederveröffentlichung noch einmal einzugehen sein. Die starke Konzentration der Debattierenden auf die vermutete Leerstelle und das Erzähltabu, die häufig an Sebalds eigentlichem Anliegen vorbeigehen, geht mit einem Mangel an Aufmerksamkeit für dessen formal-ästhetische Überlegungen einher.⁸⁶ Gerade diese spielen aber für Sebalds Umgang mit Ledigs Vergeltung eine wichtige Rolle.

 Volkening (2004), 152.  Ebd., 154. Die Frage der Authentizität von Texten ist auch ein entscheidender Punkt bei der Rezeption von Ledigs Vergeltung.  Streim (2005), 300.  Ebd., 304.  Menke, Timm: W.G. Sebalds „Luftkrieg und Literatur“ und die Folgen. Eine kritische Bestandsaufnahme. In: Wilms, Wilfried; Rasch, William (Hg.): Bombs away! Representing the Air War over Europe and Japan. Amsterdam 2006, 151 f.; vgl. ebd. auch 157– 162 für eine detaillierte

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9 Rezeptionsgeschichte

9.3.3 Sebalds Reaktion und Erweiterung In der gedruckten Fassung seiner Vorlesung, die 1999 erschien, geht Sebald intensiv auf die vielen Reaktionen ein, die er auf seine Thesen erhalten hat. Er gibt an, implizit gehofft zu haben, dass seine Überlegungen widerlegt würden. Und tatsächlich gebe es einige Texte, die sich mit dem Luftkrieg auseinandersetzen, „doch steht das wenige uns in der Literatur Überlieferte sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in keinem Verhältnis zu den extremen kollektiven Erfahrungen jener Zeit.“⁸⁷ Sebald erkennt durchaus an, dass es Texte gibt, die sich mit dem Luftkrieg beschäftigen, nur traut er ihnen, wie bereits erwähnt, vielfach nicht. Die wenigen literarischen Zeugnisse, die Sebald gelten lässt, sind seit der Nachkriegszeit in Vergessenheit geraten, was Sebald eher als Beleg für als gegen seine Hypothese wertet: Otto Erich Kiesels Die unverzagte Stadt und Ledigs Vergeltung. ⁸⁸ Während er Kiesels Roman nur kurz streift, widmet er sich Vergeltung ausführlicher. Sebalds Umgang mit dem Text ist ambivalent: Zwar attestiert er ihm, Einiges genau aufgefasst zu haben, stellt aber auch ästhetische Schwächen fest. Gleichwohl weist er sofort darauf hin, dass diese nicht dazu geführt haben, dass Ledig vergessen wurde. Vielmehr sei der Roman über das hinaus gegangen, was man damals bereit war zu lesen; er sei verdrängt worden, weil er das durchbrach, was Sebald den „cordon sanitaire“ nennt, „mit dem die Gesellschaft die Todeszonen tatsächlich entstandener dystopischer Einbrüche umgibt.“⁸⁹ Sebald erkennt ganz klar, dass es sich bei Vergeltung mehr noch als bei Die Stalinorgel um einen Roman handelt, der gegen alle Illusionen und Mystifikationen des Krieges gerichtet ist, und dass sich Ledig damit ins literarische Abseits schreiben musste. Über einen kurzen Lebenslauf lässt Sebald das Bild eines Außenseiters entstehen, der nicht in die damalige Literaturgesellschaft passte. „In der Gruppe 47 kann man ihn sich kaum vorstellen“,⁹⁰ befindet er, wobei unklar bleibt, ob er wusste, dass Ledig tatsächlich einmal bei einem Treffen der Gruppe war, dort aber nicht richtig Anschluss fand bzw. finden wollte.⁹¹

kritische Auseinandersetzung mit Sebalds Ablehnung der Darstellung eines Luftangriffs in Arno Schmidts Aus dem Leben eines Fauns, die Sebald ebenfalls formal bzw. ästhetisch begründet; vgl. Sebald (2001), 63 – 65.  Ebd., 75 f.  Ebd., 100 – 103.  Ebd., 103.  Ebd., 102.  Vgl. hierzu den Brief, den Ledig im April 1955 an Hans-Werner Richter schrieb: „[I]ch danke Ihnen für die Einladung nach Berlin, aber ich muss Ihnen absagen. ‚Meine Stalinorgel‘ [sic] war

9.3 Wiederentdeckung: Die Debatte um Luftkrieg und Literatur

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Auch wenn Sebald den Roman grundsätzlich positiv bewertet, so wird doch deutlich, dass dieser ihn nicht komplett überzeugt; manches wirke „unbeholfen und überdreht.“⁹² Eine Ablehnung Ledigs durch Sebald verwundert zunächst, findet sich doch in Vergeltung Einiges davon umgesetzt, was dieser von Literatur zum Luftkrieg erwartet. Auch wenn Ledig keine historischen Dokumente einflicht, so entfernt er sich im Vergleich zum Vorgängerroman von der Romanform und setzt „pseudo-dokumentarische Stilmittel“ ein: Georg Streim zählt dazu die „logbuchartigen Notate“ am Anfang und am Ende des Romans ebenso wie die eingeschobenen Lebensläufe und „chronikartige Berichte“, die in die Erzählung eingebaut sind (vgl. etwa V 11 oder 198 f.).⁹³ In Verbindung mit den wechselnden Perspektiven, die auch die Bomberbesatzungen einschließen, kommt er so dem synoptischen Blick nahe, den Sebald fordert.⁹⁴ Betrachtet man aber nun, was Sebald außerdem von einer literarischen Darstellung des Luftkriegs fordert, so wird deutlich, warum er Vergeltung durch seine Rezeptionsgeschichte eher als Beweis für seine Tabu-These gelten lässt denn durch seine Form als Luftkriegsroman. Sebald erwartet „konkrete sachliche Erinnerungen, Genauigkeit, Langsamkeit bei der Beschreibung, [sic] und vor allem Distanz“.⁹⁵ Gerade diese Bedingungen erfüllt Ledig jedoch nicht oder nur unter Vorbehalt. Statt auf Langsamkeit setzt er gezielt auf extremes Tempo bei der Erzählung, das sich im schnellen Handlungsverlauf, der atemlos wirkenden Parataxe und den häufigen Perspektivwechseln manifestiert. Mangelnde Distanz kann man Ledig dagegen nur teilweise vorwerfen. So wenig der Erzählerblick Distanz vom Geschehen wahrt, indem er jedes Detail wahrnimmt, so distanziert ist er gleichzeitig auf der Gefühlsebene; hier findet sich keine Emphase, der nüchterne, unbeteiligte Ton des Berichts überwiegt. Nicht zuletzt diese formalen Charakteristika von Vergeltung sind es wohl, die Sebald für „überdreht“ hält. Dazu kommt, dass Ledigs Roman einen Versuch darstellt, die Geschehnisse quasi naturalistisch darzustellen, während Sebald an Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945

nur eine Kampfschrift. Alles andere ist ein Missverständnis. Natürlich werde ich weiter Kampfschriften schreiben.Wie aber sollte ich neben einer Aichinger bestehen – nur um einen Namen zu nennen.“ Gert Ledig, Gesammelte Werke und Briefe. Hg. von Petra Weichel, mit einem Vorwort von Emma Weichel. Kindle eBook, 2016.  Sebald (2001), 101. Interessanterweise greift er mit „überdreht“ wörtlich eines der vernichtenden Urteile der 1950er Jahre auf, vgl. Schonauer.  Streim (2005), 308 f.  Der synoptische Blick durch die Verbindung verschiedenster Perspektiven ist noch anderen Werken zu eigen, die Sebald ebenfalls nicht gelten lässt, wie etwa Kempowskis Echolot.  Menke (2006), 153.

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9 Rezeptionsgeschichte

gerade schätzt, dass dieser weder die „Form romanhafter Fiktion“ habe, noch ein „Abbild“ der Realität arrangiere.⁹⁶ Interessant wird Sebalds verhaltene, ambivalente Reaktion auf Vergeltung, wenn man Luftkrieg und Literatur nicht nur als Diagnose der Leerstelle liest, sondern auch als Versuch, diese selbst zu füllen bzw. eine Umschrift der bisherigen, in Sebalds Augen unzureichenden literarischen Behandlungen des Luftkriegs zu bieten.⁹⁷ In diesem Zuge entwirft Sebald nun selbst ein Bild des Luftkriegs (konkret des Hamburger Feuersturms) und inszeniert sich dabei um der Authentizität willen zum Teil sogar implizit selbst als Augenzeuge.⁹⁸ Andreas Huyssen sieht dabei den Mangel an konkreter Erinnerung an die Bombenangriffe bei der ersten Generation, die nach dem Krieg aufwuchs und der auch Sebald (Jahrgang 1944) angehört.⁹⁹ Sebalds Text bildet nach dieser Sicht eine Umschrift der von ihm untersuchten Texte, die Huyssen ihrerseits teilweise auch schon als Umschriften identifiziert, so Fichtes Detlevs Imitationen „Grünspan“ als Gegentext zu Nossacks Der Untergang. Wo Nossack versucht, über das Ereignis, das er als Erwachsener erlebte, zu berichten, stellen die Texte von Kluge und Fichte, die die Angriffe als Kinder erlebten, Versuche dar, „to approach an inerasable childhood memory via documentation and fictionalization.“¹⁰⁰ Sebalds Text stellt nun wiederum den Versuch dar, sich einer nicht persönlich gemachten Erfahrung, die in ihrem traumatischen Charakter jedoch transgenerationell weiterwirkt, durch Umschrift der vorhandenen Texte zu nähern, wobei er durch den Einbau von Bildern und Dokumenten ähnlich verfährt wie Kluge, gleichzeitig stilistisch aber nah an seiner eigenen Prosa bleibt. Als Mitglied der nachgeborenen Generation stellt er das traumatische Erlebnis mithilfe von literarischen Zitaten bzw. Umschriften und Bildern dar, da er nicht auf die eigene Erinnerung zurückgreifen kann.¹⁰¹

 Sebald (1982), 357.  Vgl. hierzu etwa Huyssen (2001) und Volkening (2004), 158 ff.  Vgl. Sebald (2001), 33 – 36; Hilde Volkening weist jedoch darauf hin, dass Sebald hier selbst vielfach die bekannten Zahlen und Fakten abändert und überhöht bzw. übertreibt, wobei unklar bleibt, ob er damit die ‚Unwahrheit‘ der Augenzeugenberichte inszenieren will oder doch durch genaue Beschreibung das Geschehen lebendig werden lassen möchte, was ihn freilich der Gefahr des Voyeurismus aussetzen würde, die er selbst thematisiert; vgl. Volkening (2004), 160 f., und Sebald (2001), 104.  Huyssen (2004), 82 ff.  Ebd., 83.  Dieter Forte hat auf die Unmöglichkeit dieses Unterfangens hingewiesen, da in dieser Hinsicht keine akademische Beschäftigung und Forschung je die direkte Augenzeugenschaft ersetzen könne, vgl. Forte (2002), 31– 37.

9.3 Wiederentdeckung: Die Debatte um Luftkrieg und Literatur

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Durch die Überschreibung der von ihm besprochenen Texte kommt es so zu einer Intertextualität, die von Sebald selbst jedoch zu keiner Zeit thematisiert wird. Huyssen merkt außerdem an, dass die Umschrift auch einen Hinweis darauf liefert, dass es sich beim Bombenkrieg um etwas handelt, das im Gedächtnis der Deutschen noch nicht endgültig verarbeitet sei, da anscheinend noch Bedarf nach einer literarischen Durcharbeitung bestehe. In diesem Sinne ist es dann auch zu verstehen, wenn Huyssen davon spricht, dass Sebald die Literaten im Hinblick auf die Thematisierung des Luftkriegs nicht so sehr als ein Gewissen der Nation in der Pflicht sah, sondern eher als Psychotherapeuten („shrink“).¹⁰² Ledigs Text wird von Sebald kaum in dieses intertextuelle Netzwerk eingebaut. Auffällig ist, dass Vergeltung Sebalds eigenen Erzählpassagen in Luftkrieg und Literatur ähnelt bzw. Charakteristika aufweist, die Sebald von einer angemessenen Repräsentation des Bombenkriegs erwartet. Zunächst ist in dieser Hinsicht vor allem Ledigs synoptischer, künstlicher Blickwinkel zu nennen, der – bewusst weit gefasst – von den Besatzungen der Bomber bis in die Luftschutzkeller reicht; die Parallele zu Kluges Einteilung in die „Strategie von oben“ und „Strategie von unten“ ist deutlich und kann auch Sebald nicht entgangen sein. Dazu kommt, wie bereits erwähnt wurde, die große emphatische Distanz vom Geschehen, die es Ledig ermöglicht, so etwas wie die „Wahrheit der Gewalt“ zu erfassen, wie Colette Lawson bemerkt.¹⁰³ Diese Gewalt wird zum eigentlichen Subjekt bzw. zum eigentlichen Protagonisten, während die beschriebenen Menschen nur noch Objekt dieser Gewalt sind. Ledigs Darstellung des Luftkriegs könnte somit durchaus im Sinne einer „Naturgeschichte der Zerstörung“ verstanden werden, wie sie Sebald vorschwebt. Wenn auch der Stil gehetzt und quasi schon selbst gewaltsam wirkt, so hat der Leser doch den Eindruck, die Geschehnisse in Echtzeit oder gar verlangsamt zu erleben, was wiederum bei allem Tempo der Erzählung gleichzeitig zu einer Art von Langsamkeit führt; verbunden mit der detaillierten Beschreibung der Folgen, die die Bomben auf die Menschen haben, ist Vergeltung damit nicht weit von den Passagen in Luftkrieg und Literatur entfernt, in denen Sebald selbst den Bombenkrieg und seine Auswirkungen beschreibt.¹⁰⁴ Beiden ist außerdem gemeinsam, alle Anstrengungen, im Chaos nach vertrauter Ordnung und damit so etwas wie Sinngebung zu suchen, als illusorisch und hoffungslos zu entlarven; dies reicht von den Orchestern in den Ruinen, die Sebald anprangert, bis zu den vergeblichen Versuchen der Menschen in Vergeltung, die Uhrzeit zu erfahren bzw.

 Huyssen (2004), 85.  Lawson (2009), 35.  Vgl. Sebald (2001), z. B. 33 – 36; vgl. hierzu auch Lawson (2009), 36 f.

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vergehende Zeit einzuschätzen. In letzterem Punkt ist ein Hinweis nicht nur auf ein verändertes Zeitempfinden in der Extremsituation zu sehen, sondern auch darauf, wie gewohnte Strukturen im Bombenkrieg an Geltung bzw. Substanz verloren. Lawson merkt außerdem an, dass sowohl Ledig als auch Sebald Kritik am technologischen Fortschritt üben, in dessen Zentrum Ledig deutliche zerstörerische Tendenzen sehe.¹⁰⁵ Darauf weist auch die Schlusspassage von Vergeltung hin, wenn es heißt: „Der Fortschritt vernichtete Vergangenheit und Zukunft“ (V 198). Auch hier wird die klare historische Zäsur gefordert, die Auseinandersetzung mit dem Geschehen und seinen Ursachen. Diese findet jedoch nicht statt: „Eine Stunde genügte, und das Grauen triumphierte. Später wollten einige das vergessen. Die anderen wollten das nicht mehr wissen“ (V 199). Mitten im Wirtschaftswunder geschrieben, prangern diese Zeilen bereits über vierzig Jahre vor Sebald die eingemauerten Leichen im Fundament der neuen BRD an. Auch wenn darauf hingewiesen wurde, dass offen bleibt, welche Repräsentation des Luftkriegs sich Sebald genau vorgestellt hat,¹⁰⁶ so muss man doch davon ausgehen, dass Vergeltung in etwa dem entspricht, was sich Sebald für den fiktionalen Part vorstellte. Statt – wie so oft argumentiert – ein Beweis für Sebalds Tabuthese zu sein, stellt Ledigs Roman so ein Argument gegen die Behauptung nicht von der mangelnden, sondern von der unbefriedigenden Repräsentation des Luftkriegs in der deutschen Nachkriegsliteratur dar. Gleichzeitig bietet sich der Roman nicht zur Umschrift an, da er in weiten Teilen ja schon das liefert, was Sebald fordert. Hierin ist auch der Grund zu sehen, warum Sebald kaum auf den Text selbst, sondern vor allem auf seine Rezeptionsgeschichte und Ledigs Außenseiterposition eingeht, da diese Aspekte seine Thesen stützen und keine direkte Konkurrenz zu seinem eigenen Projekt darstellen. Gleichzeitig muss Sebald den Text jedoch auch ablehnen, da er in seiner extremen Nähe zum Geschehen seiner Vorstellung von wissenschaftlicher Distanz entgegensteht. Nur so ist die verhaltene und zwiespältige Reaktion Sebalds auf Vergeltung zu erklären. Betrachtet man nun das Aufscheinen Ledigs in der Debatte um Sebalds Vorlesungen sowie darauffolgend in der Buchausgabe von Luftkrieg und Literatur, so kann man noch keinesfalls von einer Wiederentdeckung sprechen. Nur Hage erwähnt Vergeltung kurz; Sebald geht nach Hages Hinweis zwar auf den Roman ein, bleibt dabei aber sehr distanziert und in seinen Aussagen ambivalent, obwohl er ihm zumindest in mancher Hinsicht hohe Qualität attestiert. Dennoch ist in der Diskussion um Sebalds Thesen das entscheidende Moment zu sehen, das dann zur Wiederveröffentlichung der Romane Ledigs führte.

 Lawson (2009), 39.  Hage (2003, Zeugen), 123 f.

9.4 Rezeption bei der Wiederveröffentlichung

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9.4 Rezeption bei der Wiederveröffentlichung 9.4.1 Vergeltung Nachdem Vergeltung im Herbst 1999 von Suhrkamp neu aufgelegt wurde, war das Medienecho groß: Zahlreiche Rezensionen befassten sich mit dem Roman, wobei angemerkt werden muss, dass der Großteil erst erschien, nachdem das Buch öffentlichkeitswirksam im Literarischen Quartett besprochen worden war.¹⁰⁷ Vor dem Hintergrund der Debatte um Sebalds Thesen verwundert es nicht, dass im Zentrum der Rezensionen – neben der Vorstellung des wiederentdeckten Autors – vor allem die Rezeption des Romans in den 1950er Jahren stand. Die schlechte Aufnahme bei der Erstveröffentlichung wurde dabei primär damit erklärt, dass man damals nichts vom Bombenkrieg habe lesen wollen bzw. dass Ledig an ein Erzähltabu rührte. „Damals, 1956, wollte man von alledem nichts mehr hören. Noch war der Bombenterror ganz nah.“¹⁰⁸ Stattdessen habe das Augenmerk der Nation auf Wiederaufbau und Wirtschaftswunder gelegen.¹⁰⁹ Diese Argumentation folgt unübersehbar den Ausführungen Sebalds, wobei Vergeltung sowohl dazu dient, diesen zu widerlegen, als auch dazu, durch die Rezeptionsgeschichte die Verdrängungsthese zu stützen. In dieser Konzentration auf die Kritik des Romans bei seiner Erstveröffentlichung und die Frage eines nationalen Tabus zeigt sich bereits das erinnerungskulturelle Potential, das der Wiederveröffentlichung von Vergeltung innewohnt. Der Roman wird zum Ausweis einer verhinderten bzw. sogar gestörten Erinnerung stilisiert, die nun revidiert werden kann. Neben der Biographie des Autors und der Rezeption bei der Erstveröffentlichung gerät der Roman selbst fast zum Nebenaspekt im Feuilleton. Die meiste Aufmerksamkeit gilt dabei Ledigs literarischer Gestaltung des Bombenkriegs, wobei vor dem Hintergrund ästhetischer Theorie erstmals auch Ledigs Leistung gewürdigt wird, unter dem Eindruck des „Nicht-Ausdrucksfähigen beziehungsweise nicht Nicht-Repräsentierbaren“ nicht verstummt zu sein, sondern im Gegenteil eine Darstellungsweise gefunden zu haben, die das Grauen des Erlebnisses überzeugend widerspiegele.¹¹⁰ „Die brutal verknappte Härte der Sprache Ledigs ist seinem Sujet angemessen. Im Hagel der Splitter- und Brandbomben

 Reich-Ranicki/Löffler/Karasek (2000), 722– 729.  Bellin, Klaus: Szenen einer sterbenden Stadt. In: Neues Deutschland vom 16.11.1999.  Vgl. Baumgart, Reinhard: Massaker zur Mittagsstunde. Gert Ledigs Luftkriegsroman von 1956. In: Die Zeit vom 9.12.1999.  Hörisch, Jochen: Wenn der Mensch in seiner Qual verstummt. Gert Ledigs Roman über die Grauen eine Bombennacht. In: NZZ vom 12.10.1999.

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wird nicht reflektiert.“¹¹¹ Ähnlich wie 40 Jahre zuvor bei Die Stalinorgel wird für Vergeltung die enge Verbindung von Inhalt und Sprache festgestellt, die der drastischen, schonungslosen Darstellung eine weitere Ebene verleiht. „Die Druckwelle dieser Prosa erfasst den Leser sofort, schleudert ihn von Hauptsatz zu Hauptsatz, von Inferno zu Inferno – kein Atemholen.“¹¹² Mehr noch als Ledigs Sprache steht der Montagestil im Blickpunkt der Kritiker, der in Verbindung mit der Sprache für die „ästhetische Organisation eines nur scheinbar nicht mehr zu bändigenden, also unmenschlichen Schreckensmaterials“ verantwortlich sei.¹¹³ Trotz allen Lobs für Ledigs drastische Darstellung, die dem Leser nicht erlaubt wegzusehen, und der häufigen Charakterisierung der Szenerie als „Inferno“ oder „Hölle“ wird aber auch deutlich, dass das Grauen des Krieges seit 1956 viel von seinem Schockpotential verloren hat. Man muss dabei nicht einmal so weit gehen, zu konstatieren, der heutige Leser sei durch Gewalt-TV abgestumpft, sondern es reicht schon der exemplarische Hinweis auf Steven Spielbergs Der Soldat James Ryan und vor allem dessen eindringliche Eingangsszene, um zu verdeutlichen, dass Ledigs naturalistische Nachzeichnung der Kriegsgewalt kein Novum und auch kein Extrem mehr darstellt.¹¹⁴ Die Wahrheit über den Krieg ist zwischen 1956 und 1999 in den Wohnzimmern angekommen. Dennoch wird dem Roman im Gegensatz zur Erstveröffentlichung nun große Authentizität zugesprochen; er besteche „durch imponierende Sachkenntnis von Ballistik und Aerodynamik, von physikalisch-chemischen Prozessen, von medizinisch-physiologischen Funktionen.“¹¹⁵ Es kommt somit zu dem Paradox, dass jene Kritiker, die den Krieg selbst erlebten, dem Roman die Erlebnistiefe absprachen, während eine neue Generation von Rezensenten, die die Ereignisse nicht aus eigener Anschauung kennen, von authentischer Darstellung sprechen.

 Rode, Ulrike: Ledig entlässt niemanden aus dem Inferno. In: Tages-Anzeiger vom 18.11.1999.  Roos, Peter: Den Toten schlägt keine Zeit. Gert Ledig erleidet die Bombenhölle der „Vergeltung“. In: FAZ vom 19.1. 2000.  Baumgart (1999).  Leitgeb, Christoph: Leidenswege ins Leere. Die Neuauflage von Gert Ledigs „Vergeltung“ über den Bombenkrieg und seine Opfer. In: Der Standard vom 18.12.1999; vgl. hierzu auch Schneider, Thomas F.: Die Re-Installation eines ,neuen‘ alten Kriegsbildes. Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“ und die deutsche Sicht auf die ,Realität des Krieges‘. In: Heukenkamp, Ursula (Hg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945 – 1961). Amsterdam 2001, 813 – 827; und Schneider, Thomas F.: „Giving a Sense of War As It Really Was“ – Präformation, Marketing und Rezeption von Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“. In: Preußer, Heinz-Peter (Hg.): Krieg in den Medien. Amsterdam 2005, 351– 390.  Roos (2000).

9.4 Rezeption bei der Wiederveröffentlichung

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Der stärkeren Gewöhnung an mediale Gewalt entsprechend sorgen auch jene Szenen, die bei der Erstveröffentlichung auf besonders große Ablehnung gestoßen waren – die Vergewaltigung und der im Asphalt „gegrillte“ Truppführer – 1999 nicht mehr für Skandale. Letztere Szene wird mehrfach erwähnt, aber Kritik ist damit nicht verbunden; die Stelle illustriert nur mehr, was 40 Jahre zuvor für die Leser nicht erträglich war. Die Vergewaltigung hingegen wird von Marcel Reich-Ranicki sogar explizit herausgehoben: „Und wie ist sie geschrieben: fabelhaft!“¹¹⁶ Auch dies illustriert die Veränderungen, die sich zwischen 1956 und 1999 nicht so sehr im Lesergeschmack vollzogen haben, als darin, was einem literarischen Text als adäquat zugestanden wird. Bei der Erstveröffentlichung gehörte eine detailliert geschilderte Vergewaltigung noch nicht dazu. Weitere Aspekte des Werks werden bei der Wiederveröffentlichung ebenfalls anders gelesen als 1956. So wird nun erkannt, dass in Vergeltung – und damit quasi in Fortführung des in Die Stalinorgel angelegten – ein Krieg demaskiert wird, der alle zivilisatorischen Errungenschaften in Frage stellt und das Individuum auf eine äußerst eingeschränkte Individualität reduziert, die primär auf Selbsterhalt zielt. Von „atavistische[n] Existenzformen“ ist diesbezüglich ebenso die Rede wie vom „Rücksturz in den jämmerlichen Naturzustand“.¹¹⁷ Gemeinsam ist den Rezensionen der beiden Veröffentlichungen, dass sie Vergeltung einen fehlenden metaphysischen Ausblick attestieren, der direkt mit dieser Reduktion zusammenhängt. „Zersprengte Theodizee, wenn Bomben in einer Kirche den Christus vom Kruzifix und den Betenden die Hände auseinander reißen. Zerbombter Kriegsglaube, wenn selbst Jesus nur noch tatenlos von oben herabblickt auf das Meer der Leichen; kein Heroismus mehr“.¹¹⁸ 1999/2000 wird die Absage an alle Sinnstiftungsangebote jedoch nicht mehr kritisiert, sondern als notwendiger Teil der Drastik gewertet. Dass Ledig „in seiner kompromisslosen Schilderung des Kriegsgrauens […] den nationalen Wertekanon von ‚Vaterland, Heldentum, Tradition, Ehre‘ als pure Phraseologie“ enthüllt,¹¹⁹ wird ebenso positiv gewertet wie die Demaskierung der verschworenen Schicksalsgemeinschaft als Mythos. Anders als in den 1950er Jahren rückt nun auch die ambivalente Anlage der Figuren in den Blickpunkt; die meisten Personen des Romans sind gleichermaßen Opfer wie Täter und dies nicht nur durch die Handlungen innerhalb der erzählten

 Reich-Ranicki/Löffler/Karasek (2000), 728.  Pralle, Uwe: Die erbarmungslose Physiologie des Krieges. Von einem Blackout der Nachkriegszeit. Ein Porträt des Autors Gert Ledig anläßlich seines Romans „Vergeltung“. In: Frankfurter Rundschau vom 21. 2. 2000.  Roos (2000).  Reinhardt, Stephan (2000): Gegenwart des Nichts. Pflichtlektüre: Gert Ledigs LuftkriegsDokument. In: Der Tagesspiegel vom 27. 2. 2000.

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9 Rezeptionsgeschichte

Zeit; dass der Titel eine wesentlich breiter angelegte Täterschaft andeutet, für die die Bomben eben eine Vergeltung darstellen, wird nun von der Kritik ganz klar erkannt: Die Bomben treffen eine Bevölkerung, „die in übergrossen Teilen Hitlers beispielloser Vernichtungspolitik eines totalen Krieges zugejubelt hatte“.¹²⁰ Unangesprochen bleibt dagegen die Verbindung zwischen dem von Ledig Beschriebenen und der von der Kritik häufig attestierten Verdrängung der 1950er Jahre. Es wird also kaum die Frage gestellt, ob die Ablehnung, die Ledigs Roman 1956 entgegenschlägt, ihren Ursprung in einem Tabu hat und so letztendlich auf Scham beruht oder auch auf einem Trauma, das dem Bombenkrieg entspringt. In den Rezensionen wird dieses Thema nur gestreift, wenn etwa konstatiert wird, dass die Bomben die „Bevölkerung traumatisierten“.¹²¹ Lediglich eine Kritik nennt die Folgen für die Überlebenden: „Auch für jene, die diese kurze Spanne [des Angriffs] überleben werden, wird sie unauslöschlich sein, ein Brandmal der Seele.“¹²² Dass zu eben jenen, die solcherart gebrandmarkt waren, auch Ledig selbst gehörte, dass der Autor mit dem Roman auch ein eigenes Bombentrauma verarbeitete, fand in den Kritiken keine Erwähnung, obwohl Volker Hage im Nachwort explizit darauf eingeht.¹²³ Das Gesamturteil, zu dem die Rezensenten kommen, könnte von der Wertung der Erstveröffentlichung nicht verschiedener sein. Vergeltung wird „in der Tradition der großen Anti-Kriegs-Romane von Grimmelshausen bis Remarque, von Tolstoi bis Zola, Barbusse und Hemingway“ gesehen,¹²⁴ an anderer Stelle als der „tatsächlich beste Roman zum Thema Bombennächte in Deutschland“.¹²⁵ Diese überschwänglichen Aussagen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Hauptinteresse dem Roman nicht so sehr um seiner selbst willen zukommt, sondern vor allem vor dem Hintergrund der Debatte um die Darstellung des Luftkriegs in der Literatur und der großen Ablehnung, auf die er bei seiner Erstveröffentlichung stieß. Der Roman wird nicht zuletzt dafür aufs Podest gehoben, dass er die von Sebald attestierte Lücke in der deutschen Nachkriegsliteratur schließt und gleichzeitig durch seine Rezeptionsgeschichte auch Sebalds Thesen vom gesellschaftlichen Tabu und dem kollektiven Trauma zu stützten scheint. Dies geschieht in deutlicher Abgrenzung zur Kritik der 1950er Jahre.

 Hörisch (1999).  Ebd.  Schoeller, Wilfried F.: Collage des Kahlschlags. Gert Ledigs lange verschollen gewesener Roman „Vergeltung“. In: SZ vom 11./12.12.1999.  Hage, Volker: Nachwort. In: Ledig, Gert: Vergeltung. Frankfurt am Main 1999, 204.  Roos (2000).  Hörisch (1999).

9.4 Rezeption bei der Wiederveröffentlichung

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9.4.2 Die Stalinorgel Ein Jahr nach der Wiederveröffentlichung von Vergeltung erschien auch Die Stalinorgel erneut. Doch nicht nur die Reihenfolge der Veröffentlichung hat sich umgekehrt, auch die Rezeption findet nun unter umgekehrten Vorzeichen statt. Wurde bei der Erstveröffentlichung noch der Russlandroman als Meisterwerk gefeiert und der Nachfolger als misslungener Abklatsch abgelehnt, so wird Ledigs Erstling nun primär als Vorstufe der grandiosen Vergeltung gesehen. Dies liegt nicht zuletzt in der Thematik begründet: „So teilen die Bücher das Schicksal ihrer Sujets. Das Interesse an den Gemetzeln der Ostfront hat sich abgekühlt, während das Bild der brennenden Städte dem Zeitgeist nähergerückt ist.“¹²⁶ Der Stil und die Sprache, mittels derer Ledig den Kriegswahnsinn darstellt, stoßen dennoch auf ein überaus positives Echo. Wie schon bei Vergeltung wird hervorgehoben, dass Ledig den Schrecken „mit präzisen, harten Strichen, lakonisch, ohne jede Verzierung“ nachzeichne.¹²⁷ Außerdem beherrsche er „die Techniken des modernen Romans virtuos: Perspektivwechsel, Ein- und Überblendungen, den Strom des Bewusstseins“.¹²⁸ Es wird dabei deutlich, dass die Kritik die verknappte Sprache und den Montagestil – wie schon bei der Erstveröffentlichung – für gelungen und dem Thema angemessen hält. Gleiches gilt auch für die drastischen Bilder, die dem Leser das komplette Grauen aufzwingen und ihm keine Verschnaufpause gönnen: Diese Schlachtbeschreibung wirkt mit einer geradezu penetranten körperlichen Direktheit. Sie stellt ein Bewegungsbild pulsierender Vernichtung, ohne jede Reflexion. Der Roman ‚Stalinorgel‘ ist das Buch, das Ernst Jüngers ästhetisierende Landserprosa ‚In Stahlgewittern‘ auslöscht.¹²⁹

Allerdings wird gleichzeitig – ähnlich wie ein Jahr zuvor bei Vergeltung – festgestellt, dass die Erzählung viel von ihrem ursprünglichen Schockpotential verloren hat:

 Kilb (2000).  Baader (2000).  Kluger, Michael: Der ganze Irrsinn des mörderischen Gefechts. In: Frankfurter Neue Presse vom 16.11. 2000.  Schoeller, Wilfried F.: Der rasende Körper des Krieges. So direkt kann Sprache sein: Nach 45 Jahren wird Gert Ledigs Roman „Stalinorgel“ wiederentdeckt. In: SZ vom 9.11. 2000.

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Heute frappiert an Gert Ledigs Buch vor allem, wie sehr der Schrecken, den es schildert, längst ins allgemeine Bildergedächtnis eingegangen ist: Fast alles, was Ledigs Landser erleben, hat der drei Generationen jüngere Leser schon im Kino gesehen¹³⁰.

Anders als bei Vergeltung, wo zwar auch schon eine prinzipielle mediale Gewöhnung an Kriegsgewalt konstatiert worden war, die dargestellte Schrecken des Bombenkriegs an sich aber zuvor keine mediale Repräsentation gefunden hatten, reproduziert Die Stalinorgel also nur Bekanntes; der erzieherische und abschreckende Impetus der ungeschönten Darstellung läuft so zu einem gewissen Teil ins Leere, auch wenn die extreme Körperlichkeit und Unvermitteltheit des Geschehens erst kurz zuvor mit Der Soldat James Ryan wirklich Einzug ins Kino und damit ins Bildergedächtnis gehalten hatten. Dass die Gewöhnung an Gewaltdarstellungen seit 1955 zugenommen hat, ändert jedoch nichts an der besonderen Qualität der hier beschriebenen Gewalt und der Art ihrer Beschreibung; nach wie vor finden die Rezensenten als Vergleichsbegriffe vor allem „Inferno“ und „Apokalypse“. Stärker noch als bei der Erstveröffentlichung erkennt die Kritik nun auch das Ausmaß der Anklage gegen den Krieg und dessen Vernichtung des Individuums in allen Facetten. Alle Rezensenten stellen heraus, wie es Ledig gelingt, diese Negation der Individualität und Identität des Einzelnen einzufangen, und bemerken „die Auflösung der Person, ihre Anonymisierung, Entblössung und Rückentwicklung in die nackte Kreatur“,¹³¹ die – wie gezeigt wurde – nicht nur durch die Reduktion der Figuren auf ihre Dienstgrade und somit ihre militärische Funktion erreicht wird. Aber dieser moderne Krieg vernichtet nicht nur die Menschen, sondern auch alle Werte, die bisher eine Sinnstiftung in dieser Extremsituation ermöglichen sollten: „Ein brutaler Schock geht davon aus, dass Gewissheiten, Regeln und Empfindungen wie Korpsgeist, Heldentum, Kameradschaft zerstört sind; die Totalität des Krieges hat auch sie total vernichtet.“¹³² Auch auf dieser Ebene wird die Opposition zu ästhetisierenden und verharmlosenden Kriegsdarstellungen deutlich hervorgehoben. Wie sehr diese Situation die Soldaten nicht nur körperlich in Mitleidenschaft zieht, stellen auch die Rezensionen fest: „Ledigs Menschen sind von Krieg und Schmerz zermürbte Kreaturen – gequälte, hoffungslose Seelen am Rande des Wahnsinns.“¹³³

 Kilb (2000).  Cramer, Sibylle (2000): Lebensläufe, Tötungsarten. Gert Ledigs erzählter Krieg: Zeitgeschichtliche Sprengsätze. In: NZZ vom 17.10. 2000.  Schoeller (2000).  Kluger (2000).

9.4 Rezeption bei der Wiederveröffentlichung

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Die Desertionen, die an sich eine sehr zentrale Stellung innerhalb des Romans einnehmen, werden dagegen nur selten und eher am Rande angesprochen, wobei meistens der Rittmeister erwähnt wird, in dessen Wahnsinn sich der Wahnsinn des Krieges eindrucksvoll manifestiere. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass dies vor allem darin begründet ist, dass Ledigs Verzicht auf eine politische Motivation für die Desertionen im Sinne der aktuellen Diskurses erschwert, der die Deserteure verstärkt in die Nähe des Widerstands rückt. Interessanterweise wird allerdings das Verfahren nicht nur als groteske Szene beschrieben, sondern die Episode trage auch „karikaturistische Züge“.¹³⁴ Diese Lesart wird leider nicht begründet. Dass Ledig, der selbst negative Erfahrungen mit der Wehrmachtsjustiz gemacht hatte, seinem Roman gerade an dieser Stelle humoristische Züge verleiht, konnte jedoch nicht festgestellt werden; vielmehr ist davon auszugehen, dass Ledig auch hier um Realitätsnähe und Authentizität bemüht war. Wie sehr Ledig in Die Stalinorgel seine eigenen Erlebnisse an der Ostfront verarbeitet, wird von der Kritik prinzipiell jedoch sehr wohl wahrgenommen; mehrfach wird darauf hingewiesen, dass gerade dies für die Erlebnistiefe des Dargestellten spricht. „Ledig hatte es nicht nötig, etwas zu erfinden, denn er selbst entkam ähnlichen Kämpfen […] im Sommer 1942 nur mit einer schweren Verwundung.“¹³⁵ Bei allem Lob der authentischen Darstellung und der wohltuenden Absage an Landserromantik lässt sich jedoch nicht übersehen, dass der Roman die Kritik nicht mehr komplett zu überzeugen vermag. Dies liegt nicht nur daran, dass er nur mehr als Vorstufe von Vergeltung betrachtet wird und die Gewöhnung an mediale Gewalt das Schockpotential des Textes reduziert. Auch der Laborblick, mit dem Ledig zwar jedes kleinste Detail im Mikrokosmos des beschriebenen Frontabschnitts wahrnimmt, der aber gleichzeitig den Makrokosmos eines totalen Weltkriegs ausblendet, gerät nun in die Kritik. „Er bietet keine politischen Erklärungen oder metaphysischen Perspektiven.“ Es ist dies z.T. eine logische Folge der konsequenten Abwendung von Sinnstiftungsmodellen. Wenngleich Ledig auch noch im Jahr 2000 dafür gelobt wird, so ist dennoch nicht zu übersehen, dass gleichzeitig mehr von einem Kriegsroman erwartet wird. Hierin ist eine Folge der Erinnerungskultur zu sehen, die sich seit Mitte der 1980er Jahre, vor allem aber seit der Wiedervereinigung verstärkt des Zweiten Weltkriegs angenommen hatte. Man weiß inzwischen schon lang um die Grausamkeit des Krieges, spätestens nach der Wehrmachtsausstellung (1995 – 1999 und 2001– 2004) und den mit ihr verbun-

 Baader (2000).  Niemann, Wolfgang A: Bilder schier unerträglicher Verzweiflung. Gerd [sic] Ledigs Antikriegsroman „Die Stalinorgel“ wurde neu aufgelegt. In: Passauer Neue Presse vom 18.11. 2000.

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denen Debatten sind auch die Verbrechen der Wehrmacht in Russland bekannt. Davon findet sich jedoch im Roman ebenso wenig etwas, wie thematisiert wird, dass Deutsche und Russen eben nicht in derselben Situation sind, sondern die einen Angreifer sind, während die anderen ihr Land verteidigen. Von diesem Standpunkt aus überrascht die Kritik daran nicht, dass hinter dem Kriegsgeschehen nicht noch größere Zusammenhänge durchscheinen: „Der Autor bekommt den Kopf nicht aus dem Schützenloch.“¹³⁶ Gehört der Roman für die Rezensenten auch „zu den besten und eindringlichsten Büchern, die über den bewaffneten Irrsinn geschrieben wurden“,¹³⁷ so bleibt doch festzustellen, dass er 45 Jahre nach Kriegsende nicht mehr die gleiche Wirkung zu entfalten vermag wie bei seiner Erstveröffentlichung. Zum einen fehlt ihm mit den Diskussionen um die deutsche Wiederbewaffnung und der steten Furcht vor einem weiteren Weltkrieg die gesellschaftliche Aktualität, zum anderen vermag er – anders als Vergeltung, das in eine erinnerungskulturelle Lücke stößt –, einer neuen Generation von Lesern, die den Zweiten Weltkrieg in den meisten Facetten erinnerungskulturell aufgearbeitet und sich erschlossen hat, kaum etwas Neues zu bieten: Zu erwähnen wären hier vor allem die psychischen Folgen der Extremsituationen, die aber in den Rezensionen kaum in den Blickpunkt geraten. Im Jahr 2000 wurde noch keine Debatte über dieses Thema geführt – anders als heute, wo das Problem von Kriegstraumata bei deutschen Soldaten nach Jahren des militärischen Engagements in Afghanistan erschreckend aktuell ist.

9.4.3 Faustrecht Als 2001 auch Faustrecht wieder aufgelegt wurde, wurde dem Roman deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteil als bei seiner Erstveröffentlichung. Zwar war das Echo wesentlich positiver als noch 1957, blieb aber dennoch weit hinter den Elogen auf die ersten beiden Romane – vor allem Vergeltung – zurück. Auch wenn Faustrecht von Stil und Sprache her konventioneller angelegt ist als seine beiden Vorgänger, sehen die Rezensenten doch eine Kontinuität. So wird weiterhin die knappe, klare Sprache hervorgehoben, der sich Ledig nach wie vor bediene, der „Nuancenreichtum, die Evokationsdichte und atmosphärische Kraft eines Lapidarstils, der sich ans Hör- und Sichtbare hält, an die Bilder einer verwüsteten Stadt, an Taten, Dialoge und stumme Beredsamkeit von Figuren-

 Kilb (2000).  Kluger (2000).

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konstellationen im Raum.“¹³⁸ Diese Aspekte hängen natürlich zu weiten Teilen auch davon ab, dass Ledig statt eines Romans zunächst ein Theaterstück aus dem Stoff machen wollte. Negativ wertet die Kritik nun jedoch eine Metaphorik, die zu gewöhnlich und abgedroschen sei, um noch zu überzeugen; zu sehr sei der Autor nun bemüht, jenen symbolischen Überbau zu schaffen, der zuvor von der Kritik bei Vergeltung vermisst wurde: Daß der Leser dieses Klagelieds des ‚lost generation‘ auch ja keine Metapher verkennt, dafür trägt der Autor ständig Sorge: Straßen führen prinzipiell ins Nichts, Pfade ins Dunkle und, ach!, für ‚einen Selbstmord wäre es das geeignetste Wetter‘. Rare Momente von Eindringlichkeit erinnern an die lapidare und lakonische Wucht, an die Brillanz und Präzision des Stils, deren Ledig in seinen beiden früheren Arbeiten […] fähig war.¹³⁹

Ähnlich wie bei Die Stalinorgel fällt auch bei Faustrecht eine deutliche Abnahme des Schockpotentials auf. „Die Provokationen, die einmal von [dem Plot] ausgegangen sein müssen, sind nur noch archäologisch rekonstruierbar.“¹⁴⁰ 2001 ereifert sich niemand mehr über Prostitution oder einen „Entkleidungstanz“ wie noch in den 1950er Jahren.¹⁴¹ Dies wirkt sich in diesem Fall aber nicht negativ aus, denn so ist der Blick auf die Folgen des Krieges auf die einzelnen Figuren nicht verstellt. So wird Hais Rohheit zumindest in Teilen auf den Krieg zurückgeführt, aber auch allgemein wird festgestellt, dass „Ledigs ‚Faustrecht‘ eng verwurzelt [sei] mit den unfasslichen Geschehnissen, die der Krieg und seine Folgen für die Menschen, genauer: für eine geschundene Generation brachten“.¹⁴² Welche Folgen das sind, wird einmal kurz angesprochen, aber nicht weiter verfolgt: „die Traumata seiner [Ledigs] Protagonisten“.¹⁴³ Doch formuliert zumindest eine Rezension gleich eingangs die entscheidende Frage, die Faustrecht zugrunde liegen könnte: „Was bleibt vom Menschen, wenn er, als Soldat, Bunkerexistenz, Flüchtiger aus den brennenden Städten, dem Nichts begegnet ist?“¹⁴⁴ Weiterverfolgt wird dies aber kaum; so werden die vielen Anknüpfungspunkte an die ersten beiden Romane, die diesen Bezug ganz deutlich herstellen, nicht erwähnt.

 Nentwich, Andreas: Licht am Ende der Nacht. Unterkühlte Szenenfolge aus dem zerstörten München: Gert Ledigs Nachkriegs-Roman „Faustrecht“. In: SZ vom 19.4. 2001.  Roos (2002).  Nentwich (2001).  Kaiser (1958), 68.  Moritz, Rainer: Um die Märchen betrogen. Wieder aufgelegt: Gert Ledigs Roman „Faustrecht“. In: NZZ vom 17.7. 2001.  Ebd.  Nentwich (2001).

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Überlegungen zum Titel werden ebenfalls nicht angestellt; dabei weist dieser darauf hin, dass wesentliche Charakteristika des Kriegszustands auch die Nachkriegsgesellschaft auszeichnen – eine gewisse Zivilisationsferne und Rechtlosigkeit, die der Tatsache entsprechen, dass für einige der Protagonisten der Krieg noch nicht vorbei ist. Dass diese Rechtlosigkeit durch die durchgängigen Westernmotive untermauert wird, die ebenfalls auf eine rechtsfreie Grenzgesellschaft deuten, wird ebenfalls übersehen. Es findet sich lediglich der Hinweis darauf, dass es sich bei München in der Nachkriegszeit um „eine der gefährlichsten Städte Deutschlands“ gehandelt habe.¹⁴⁵ Unkommentiert bleibt auch die Nähe zwischen Autor und Edel Noth, der im Krieg ähnliche Verletzungen davongetragen hat wie Ledig selbst. Den meisten Rezensionen ist gemein, dass sie in Faustrecht kein bedeutendes Buch sehen, da es zu sehr von seiner Entstehungszeit beeinflusst sei und sich zu sehr konventioneller literarischer Mittel bediene. Dies ändert aber nichts daran, dass die Authentizität des Dargestellten bzw. dessen Repräsentationsfähigkeit wie schon bei der Wiederveröffentlichung der Vorgänger nicht infrage gestellt wird. Vielmehr schaffe Ledig „eine Atmosphäre, die unverwechselbar den Geist der Nachkriegsbeklemmung atmet.“¹⁴⁶ Anders ausgedrückt: „Eine kurze Szene, ein paar Wechselreden, und man ist im Bild, sieht, fühlt, schmeckt die Zeit“.¹⁴⁷ Bedeutsam ist diese Bemühung um Authentizität wiederum vor dem Hintergrund der Erinnerungskultur, wie auch von einem Rezensenten explizit angesprochen wird: „Noch fließt der Strom der mündlichen Überlieferung, aber eines nicht mehr fernen Tages wird man auf die Bücher von Schriftstellern angewiesen sein, die damals, in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, um Authentizität bemüht […] waren.“¹⁴⁸ Hier wird formuliert, welche Rolle nicht nur Faustrecht, sondern alle drei Romane Ledigs weiterhin spielen können, auch wenn sie heute viel ihrer früheren Aktualität und ihres Schockpotentials verloren haben – immer vorausgesetzt, dass auch zukünftige Leser ihnen einen authentischen und vor allem repräsentativen Charakter zuweisen.

   

Ebd. Moritz (2001). Nentwich (2001). Ebd.

10 Fazit In der vorliegenden Arbeit wurde aufgezeigt, dass Gert Ledigs Romane den Zweiten Weltkrieg sowohl an der Front als auch in den Städten, die den Bomben ausgesetzt waren, als eine grundlegend traumatische Extremsituation darstellen – in ihrem Inhalt und in der Art der Darstellung. Hierfür wurde zunächst in den Blick genommen, wie Ledig den modernen Krieg als ein Umfeld beschreibt, das vom Einzelnen nicht mehr sinnhaft erfasst werden kann. Ausgehend von Adornos Diagnose der „Unangemessenheit des Leibes an die Materialschlacht“ wurde betrachtet, wie Ledig diesen Kern der Kriegserfahrung – nämlich die Nichterfahrbarkeit – in literarische Form fasst. Der Auflösung der Sinnstrukturen in der Kriegssituation entspricht in Die Stalinorgel und Vergeltung die Auflösung traditioneller Erzählstrukturen und -muster. Ledigs Sprache und die Rolle des Erzählers sind maximal reduziert, das Ergebnis ist eine extrem nüchterne und undistanzierte Parataxe, die kein Detail der Kriegswirklichkeit beschönigt. Es gibt keine klare Haupthandlung, sondern die Handlung ist in mehrere parallel geführte Linien zersplittert – Ledig überträgt damit den fragmentierten und fragmentierenden Charakter des Krieges auf seine Texte –, die sich eher zufällig kreuzen und vielfach mit Mitteln organisiert sind, die Filmtechniken nahestehen. Hinzu kommt, dass Ledig mit seinem mikroskopischen Blick konsequent auf eine Makroperspektive verzichtet und auch jede Form teleologischer Entlastung des Geschilderten vermeidet. Die Extremerfahrung wird so aus jeglichem Kontext gelöst, der Sinnstiftung erlauben würde. Das Ergebnis dieser Erzählweise sind ein klinisch-kühler Blickwinkel und eine radikale Mimesis bzw. Authentizität, die die Leser nicht vor den Auswirkungen der Kriegsgewalt schützen, sondern sie ihnen vielmehr in aller Drastik demonstrieren – mit dem pädagogischen Impetus, sie mittels „gefährlicher Literatur“ zum Frieden zu erziehen. Mit der fehlenden Möglichkeit sinnhafter Erhellung geht einher, dass die Figuren die Situation nur noch sinnlich, d. h. vor allem akustisch und optisch, erfahren können. Es ist daher hervorgehoben worden, welche große Rolle der Schilderung dieser, aber auch anderer Sinneseindrücke in den Romanen zukommt. Diese sinnliche Wahrnehmung des Krieges ist dabei ambivalent angelegt, indem die richtige Deutung der akustischen und visuellen Reize einerseits überlebenswichtig ist, diese Reize andererseits aber auch Quelle einer massiven psychischen Belastung und Überforderung sind. Denn sie führen denen, die bislang unversehrt geblieben sind, unmittelbar und ungefiltert die Auswirkungen der extremen taktilen und thermischen Gewalt vor: zerstörte und verbrannte Körper sowie von Wimmern über Stöhnen bis zu Schreien eine Vielfalt akustischen Ausdrucks von https://doi.org/10.1515/9783110657128-011

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Schmerz. Neben der schlichten Langsamkeit des menschlichen Körpers gegenüber den Geschossen sind diese Verwundungen (und Tode) bei Ledig der offenkundigste Hinweis auf das Missverhältnis zwischen technischer Destruktiv- und menschlicher Widerstandskraft, mithin auf die Unangemessenheit des menschlichen Leibes. In einem nächsten Schritt wurde herausgearbeitet, dass Ledig den Krieg als ein Umfeld beschreibt, das nicht nur das Individuum physisch vollständig negiert, sondern auch einen vergleichbaren Effekt auf jegliche Identitätskonstruktionen des Einzelnen hat. Betrachtet wurden sowohl soldatische als auch zivile Selbstbilder, aber auch die Auswirkungen auf gesellschaftliche Geschlechterrollen sowie auf Alteritätsvorstellungen wurden in den Blick genommen. Hinsichtlich der soldatischen Selbstbilder wurde aufgezeigt, wie Ledig an die Unangemessenheit des Leibes anknüpfend konsequent militärische Mythen wie Heroismus, Stärke, persönlichen Ruhm durch individuelles Opfer, militärische Auszeichnungen, aber auch das vermeintlich lustige Soldatenleben als Trugbilder demaskiert und stattdessen ein Bild vom Soldaten zeichnet, der eigentlich kein Individuum mehr ist, sondern auf eine militärische Funktion und Rumpfidentität reduziert ist. Höhere Ideale und Ziele, wie etwa der Schutz der Heimat, werden im totalen Krieg mit Bomberflotten über den Städten ad absurdum geführt; der letzte verbliebene Impuls der Männer ist der Selbsterhalt. Ledig hebt sich somit in seiner Darstellung des Kriegs deutlich von der auch nach 1945 noch weiter verbreiteten Ideologie des Kampfes ab. In Faustrecht schildert Ledig zudem, wie schwer es den Soldaten fällt, diese Rumpfidentität nach dem Krieg abzulegen bzw. wieder zu vervollständigen. Herausgearbeitet wurde außerdem, dass den auf reine Funktionen verkümmerten soldatischen Identitäten in Die Stalinorgel vergleichbare zivile Identitätskonstrukte in Vergeltung korrespondieren. Auch dort sind die Figuren in ihren Identitäten maximal reduziert und in eine Situation geworfen, die Vergangenheit und Zukunft – mithin entscheidende Konstituenten individueller Identitäten – bedeutungslos werden lässt und den Überlebenskampf in der Gegenwart zum einzig bestimmenden Moment macht. Ledig unterstreicht so auch das Verschwimmen von Front und Heimat, von Soldaten und Zivilisten im totalen Krieg. Der Verlust an Individualität geht bei Ledigs Figuren zudem, wie gezeigt wurde, häufig auch mit einem grundlegenden Verlust an Zivilisation und Menschlichkeit einher. Dies geschieht nicht nur im eigenen Verhalten, sondern auch im Blick auf den Anderen, d. h. bei den Soldaten auf den Gegner. Ledigs Figurenzeichnung bildet dabei einen Gegenentwurf sowohl zur Kriegspropaganda (die den Feind nach Möglichkeit entmenschlicht, um Tötungshemmungen zu nehmen, was auf deutscher Seite im Zweiten Weltkrieg durch die Rassenideologie noch verstärkt wurde) als auch zu gängigen Bildern der Entstehungszeit der Romane, indem er russische und amerikanische Soldaten in der

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Regel positiver zeichnet als ihre deutschen Pendants und gerade Sostschenko und Strenehen auch mehr Profil gewinnen lässt als andere Figuren. Auch tragen die alliierten Soldaten in der Regel einen Namen, während die deutschen Soldaten fast nur über ihren Dienstgrad identifiziert werden. Hinzu kommt, dass Ledig immer wieder einzelnen Figuren die Erkenntnis ermöglicht, dass es sich auch beim Gegner um Menschen handelt bzw. dass über Propaganda gezielt Fremdbilder gesteuert werden, die das Töten erleichtern und ein Überlaufen verhindern sollen. Zwar ist auch Ledig nicht davor gefeit, manche Stereotype wieder unreflektiert aufzugreifen – etwa eine vermeintlich typische russische Physiognomie oder die Zeichnung der Amerikaner als wenig intelligent –, aber er bildet so dennoch einen deutlichen Gegenpol zur Kriegsliteratur seiner Zeit. Dies gilt umso mehr, als er auch demonstriert, wie einzelne Situationen im Krieg neue Feindbilder in den eigenen Reihen schaffen können. Die Unangemessenheit des Leibes und die Unmöglichkeit, an den gewohnten Identitätskonstruktionen festzuhalten, machen den Krieg zu einer Extremsituation, die den grundlegenden Aspekten menschlichen Lebens diametral entgegengesetzt ist, sodass es nahe liegt, von einer „verkehrten Welt“ zu sprechen, in der das Bekannte auf den Kopf gestellt ist. Es ist daher im Anschluss an die beiden genannten Aspekte dargestellt worden, wie auch Gert Ledig dieses gängige Motiv der Kriegsliteratur aufgreift und das Bild einer verkehrten bzw. entfremdeten Welt zeichnet. Der Fokus lag in diesem Zusammenhang auf dem Einsatz (vermeintlich) grotesker Körperlichkeit und Metaphorik, Ledigs Verwendung von Gelächter und dem Primat von Zufall und Chaos in einer scheinbar apokalyptischen Umgebung. Am offensichtlichsten ist dabei die extreme Körperlichkeit der Ledig’schen Prosa, die nicht an geöffneten, verstümmelten und entstellten Körpern spart. Tatsächlich grotesk ist dies auf den zweiten Blick aber nicht aus sich selbst heraus, sondern aus der Gegenüberstellung mit der anderen Kriegsliteratur der Zeit. Denn Ledig ist der Erste, der diese Körperlichkeit als festen Bestandteil des Krieges schonungslos und authentisch präsentiert. Unterstrichen wird dieser Aspekt der verkehrten Welt durch zahlreiche bio- und technomorphe Metaphern und Bilder, die einerseits die fortschreitende Degradation der Menschen demonstrieren und andererseits die wachsende Bedeutung der Kriegstechnik hervorheben, wenn ihr auf diese Weise Leben zugesprochen wird. Für all diese grotesken Elemente gilt dabei, dass ihnen keine Ambivalenz innewohnt und dass die ihnen inhärente Spannung nicht aufgelöst wird: Der Bruch der Ordnung ist hier nicht temporär und heilsam, sondern von Dauer und in hohem Maße beklemmend. Diese verkehrte Welt ist komplett lebensfeindlich. Hinzuweisen ist hier nochmals darauf, dass der Einsatz dieser Elemente des (teils nur vermeintlich) Grotesken nicht im Widerspruch zu Ledigs Anspruch an Naturalismus und Authentizität steht, sondern vielmehr das wirklichkeitsgetreue

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Bild einer Situation unterstreicht, die gegen jedes menschliche Leben gerichtet ist. Analog dazu ist auch das Gelächter in Ledigs Romanen kein befreiendes oder entspannendes Moment. Stattdessen überwiegen schadenfrohes Lachen, verzweifeltes Lachen und ein Gelächter, das auf der Schwelle zum Wahnsinn steht. Einzig das Lachen von Überlebenden, die dem Tod gerade so noch einmal von der Schippe gesprungen sind, kann positiv gedeutet werden, auch wenn diese Erleichterung selten von Dauer ist. Doch ansonsten ist das Gelächter bei Ledig in der Regel negativ konnotiert und Ausdruck der Überforderung der Figuren angesichts des massiven Auseinanderklaffens von Erwartungs- bzw. Erfahrungshorizont und Kriegsrealität. So unterstreicht auch dieser Einsatz von Gelächter bei Ledig den Eindruck von Ausweglosigkeit der Situation sowie Ohnmacht der Figuren und ist somit ein klares Kennzeichen einer verkehrten Welt. Es wurde außerdem aufgezeigt, dass Ledig analog zur Verkehrung der Welt konsequent Elemente, die grundsätzlich Ordnung oder Orientierung stiften, außer Kraft setzt. Besonders deutlich wird dies darin, dass die Zeit in den Romanen jegliches Potential zur Stiftung von Ordnung verliert. Zwar äußern immer wieder Figuren den Wunsch nach zeitlicher Orientierung, dieser wird aber nie erfüllt. Stattdessen bleibt Lesern wie Figuren der Ablauf der Zeit weitgehend verborgen, und die Uhren sind auf den akustischen Reiz ihres Tickens reduziert, vermögen aber keine Ordnung mehr zu stiften. Hinzu kommt die Herrschaft des Zufalls in der Kriegssituation, die den Figuren quasi keine Möglichkeit lässt, auf ihr Schicksal Einfluss zu nehmen. Damit geht eine Abwertung christlicher Sinnstiftungsangebote einher. Wie gesehen stellt Ledig immer wieder christliche Motive und Zitate in direkte Opposition zur Kriegsgewalt, wobei Erstere (und selbst der Glaube des Priesters in Vergeltung) nie standhalten können bzw. offensichtlich ad absurdum geführt werden. Das Sinnstiftungspotential von Kirche und Glauben wird somit konsequent in Frage gestellt; Religion vermag keine Zuflucht zu bieten. Zu den religiösen Konzepten, die in Ledigs Romane häufig zur Sprache kommen, gehören auch Hölle/Inferno und die Apokalypse. In Die Stalinorgel überwiegt dabei Ersteres und kennzeichnet den gottverlassenen Kriegszustand (so sehr, dass Ledig „Inferno“ sogar als Titel für den Roman in Erwägung zog). In Vergeltung stehen dagegen mit der Passion Christi (in der Strenehen-Handlung) und der Apokalypse bzw. dem Jüngsten Gericht (nicht zuletzt durch den Titel) zwei Motive im Vordergrund, die eschatologisch gedeutet werden könnten. Doch wurde aufgezeigt, dass Ledig auch diese Lesarten am Ende des Romans konsequent konterkariert und verneint; dies ist angesichts der sonstigen Dekonstruktion von Ordnung und Sinnstiftung nur konsequent. Ledig weist damit nicht nur jeglichen christlichen Ordnungsanspruch zurück, sondern liefert mit dem Titel

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auch eine sehr klare Deutung der Luftangriffe: Indem er vorangegangene Verbrechen evoziert, ordnet er die Bomben als Reaktion etwa auf deutsche Bombardements, auf „Vergeltungsmaßnahmen“ der Wehrmacht an Zivilisten und nicht zuletzt auf den Holocaust ein und lehnt somit die zeitgenössische Lesart als „Terrorangriffe“ ab. Ledigs Vergeltung ist menschengemacht, rein juristisch und kein Akt höherer Mächte. Es gibt letztlich zwei Möglichkeiten, einer Situation zu begegnen, die wie geschildert dem menschlichen Leben dermaßen entgegengesetzt ist, und nicht mehr durch traditionelle Sinnstiftungsmuster erträglich zu machen ist: sich der Situation anzupassen und zu kämpfen, d. h. selbst zu töten, um zu überleben (fight), oder sich der Situation durch Flucht zu entziehen (flight). Tatsächlich stellt sich diese Wahl nur für die Soldaten an der Front, denn die Zivilisten in der Stadt können zwar vor einem Luftangriff Schutz suchen, aber nicht mehr aus der Situation fliehen und sich auch nicht gegen die Angreifer zur Wehr setzen. Im Kapitel zu Fluchtbewegungen wurden daher nur Formen, sich des Kriegsdienstes zu entziehen, untersucht: Desertion und Simulieren bzw. Selbstverstümmlung sowie die damit verbundene Gefahr der drakonischen Sanktionierung in der Wehrmacht. Dabei wurde aufgezeigt, dass sich Ledigs Zeichnung der Deserteure eng an den historischen Tatsachen orientiert und frei von ideologischer Färbung ist. Die desertierenden Figuren fliehen nicht aus politischen oder weltanschaulichen Gründen, sondern haben stets individuelle, persönliche Motivationen. Auch in dieser Hinsicht verweigert sich Ledig also Sinnstiftungsangeboten. Hinzu kommt, dass ihre Fluchtbewegungen in der Regel keine Flucht ins Leben darstellen, sondern meist nur in ein kurzfristiges Überleben. Akkurat ist Ledig auch in der Darstellung der Wehrmachtsjustiz, indem er deutlich ihren Unrechtscharakter, ihre starke Orientierung an der NS-Ideologie (der Deserteur als „Volksschädling“) und ihre Tendenz zur Schnelljustiz demonstriert. Hier wird außerdem deutlich, dass neben der eigentlichen Kriegsgewalt auch die institutionelle Gewalt des Unrechtssystems auf die Soldaten wirkt. In der Erschießung, die in Die Stalinorgel auf die geschilderte Verhandlung folgt, wird außerdem Ledigs Kritik an diesem Unrechtssystem und den drakonischen Maßnahmen zur „Erhaltung der Manneszucht“ deutlich. Während Desertionen in Die Stalinorgel relativ prominent in Erscheinung treten, gibt es nur einen Fall einer versuchten Dienstentziehung durch Selbstverstümmelung. Breiteren Raum nehmen Selbstmordversuche und -überlegungen ein, die wie Desertion und Simulation unter die Wehrkraftzersetzung fielen und entsprechen hart bestraft wurden. Sie bilden gleichwohl einen Sonderfall, weil sie eine besondere Art der Flucht aus der Situation darstellen, indem sie eine letzte verzweifelte, aber individuelle Tat sind. Auch diese Versuche, sich dem Kriegs-

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dienst zu entziehen, werden von Ledig als individuell und nicht weltanschaulich motiviert dargestellt. Abermals weist Ledig also konsequent Sinnstiftungsangebote zurück. Ebenso konsequent behält Ledig seine neutrale Position bei: Weder zeichnet er in den Deserteuren, Selbstverstümmlern und Selbstmördern das Bild von feigen Vaterlandsverrätern, noch glorifiziert er sie über hehre Motive. Sie sind bei ihm schlicht Menschen, die sich einen letzten Rest von Individualität erhalten wollen. Über die „Unangemessenheit des Leibes“, die Auflösung wichtiger Identitätskonstruktionen, die fehlenden Sinnstiftungs- und Ordnungsmöglichkeiten der verkehrten Welt und den Mangel an Optionen, sich der Situation zu entziehen, entsteht in Ledigs Romanen also das Bild des Krieges als eines Umfelds, das in seiner Unmenschlichkeit eine immense psychische Belastung darstellt. Hiervon ausgehend wurde untersucht, wie es Ledig gelingt, den traumatischen Charakter dieser Situation zu versprachlichen und die daraus resultierenden Traumatisierungen darzustellen. Es wurde dabei festgestellt, dass die Literarisierung der traumatischen Erfahrung sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der stilistischen Ebene stattfindet. Auf der ersten Ebene finden sich in Vergeltung immer wieder Passagen, die Ereignisse von potentiell traumatischem Charakter beschreiben: extreme Gewalt, Verwundungen, grausame Tode, hinzu kommt der Verlust der sinn- und ordnungsstiftenden Mechanismen, wie etwa des Zeitempfindens. Der plötzliche gewaltsame Tod bedroht unterschiedslos alle Menschen in der bombardierten Stadt; ein verlässlicher Schutz oder eine Möglichkeit zur Flucht sind nicht gegeben. Neben der Gefahr durch die Bomben stellt Ledig auch Momente extremer zwischenmenschlicher Gewalt und Misshandlung dar, so etwa die als traumatisch geschilderte Vergewaltigung des Mädchens unter den Trümmern. Zudem beschreibt Ledig auch vereinzelt Anzeichen einer Traumatisierung, z. B. bei Dessy Cheovski und im späteren Verlauf des Romans auch bei Strenehen. Hinsichtlich der Traumata in Die Stalinorgel wurde vor allem auf den Aspekt des Treubruchs – des Verrats an dem, „was recht ist“ (z. B. missbräuchliche Gewalt, Entbehrungen, mangelhafte Ausrüstung, ungleiche Verteilung von Risiken etc.) – innerhalb der starren hierarchischen, aber eben auch lebenswichtigen Abhängigkeits- und Bezugssysteme des Militärs hingewiesen. Es wurde dabei aufgezeigt, dass sich im Roman Beispiele für alle Faktoren finden, die Jonathan Shay als konstituierend für Kampftraumata identifiziert hat. Hinweise auf Traumatisierungen finden sich allerdings in Die Stalinorgel kaum; diese sind dafür in Faustrecht präsent, wo Rob, Edel und Hai Verhaltensmuster an den Tag legen, die dem entsprechen, was Shay für traumatisierte Veteranen beschrieben hat: ein Festhängen im Kampf bzw. einen fehlenden Zugang zu zivilen Problemlösungsstrategien und die mangelnde Bindungsfähigkeit wegen eines Mangels an

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sozialem Vertrauen. Auch lassen sich an den männlichen deutschen Protagonisten alle Faktoren beobachten, die als typisch für eine posttraumatische Belastungsstörung genannt wurden, so Kontaktunfähigkeit, Gefühlskälte, Perspektivlosigkeit, aber auch Schlaflosigkeit und intrusive Albträume. Ledigs Beschäftigung mit dem Thema erschöpft sich aber nicht auf der inhaltlichen Ebene, sondern es wurde gezeigt, dass es ihm darüber hinaus gelingt, die traumatischen Aspekte der Situation in seinen Erzählstil einfließen zu lassen und so bis zu einem gewissen Grad für die Leser erfahrbar zu machen. Die Texte erhalten so eine Gewaltförmigkeit, für die hier der Begriff des „gewaltsamen Stils“ gewählt wurde und die das Unbehagen der Leser über die dargestellte Gewalt noch verstärkt. Es wurden vier Elemente identifiziert, aus denen sich dieser gewaltsame Stil zusammensetzt: (1) der schonungslose Blick, der die Kriegsgräuel unverstellt vor Augen führt, (2) ein lakonisch unterkühlte Sprache, die in grausamen Pointen gipfelt, (3) die Übertragung der Dynamik der Handlung auf die Sprache und schließlich (4) der Verzicht auf Mittel, die den Lesern eine zeitliche oder räumliche Orientierung innerhalb der Erzählung erlauben. Der erste Aspekt ist nicht zuletzt Ledigs aufklärerischem, erzieherischem Anliegen geschuldet: Er will den Lesern zeigen, was der Krieg anrichtet, und zwingt sie darum, genau hinzusehen; er wertet dabei aber nicht, sondern bemüht sich um einen kühlen, medizinischen Blick und lässt die Bilder für sich sprechen. Dieses Aufzeigen der Kriegsrealität umfasst dabei nicht nur die Folgen der Gewalt, sondern auch immer wieder einen mikroskopischen Blick auf das, was für das menschliche Auge eigentlich nicht wahrnehmbar ist. Die Kühle und Distanz der Ledig’schen Sprache verdichtet sich im zweiten Aspekt zu einer Lakonie, die ob der beschriebenen Schrecken fast zynisch wirkt und ihre Zuspitzung in grausamen Pointen erfährt. Die Frappanz dieser unerwarteten Spitzen überträgt einen gewaltförmigen Aspekt des Krieges – den Schlag/Treffer aus dem Nichts – auf den Text. Die extremste und aggressivste dieser Pointen bilden die letzten Sätze von Vergeltung. Der dritte Aspekt, bei dem Ledig das Tempo und die Dynamik der Handlung auf die Sprache überträgt, führt dazu, dass die Leser sich ähnlich gehetzt fühlen wie die Figuren. Dies gelingt ihm durch intensiven Einsatz von Parataxe und Ellipse, unterstützt durch die schnellen Sprünge zwischen den verschiedenen Orten der Handlung. Der Erzählstil beschleunigt und verlangsamt sich dabei analog zum Dargestellten. Der schnelle Wechsel zwischen den Erzählsträngen und Handlungsorten ist auch Teil des vierten Aspekts, des Mangels an Möglichkeiten zur Orientierung. Hierzu trägt der bereits angesprochene Verzicht auf Sinnstiftungsangebote bei, vor allem die Vermittlung der räumlichen und zeitlichen Orientierungslosigkeit der Figuren auf die Leser, indem Ledig kaum Angaben macht, die Rückschlüsse

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auf die verstreichende Zeit oder eine Verortung im Raum zulassen. Für die Leser kommt zudem die Konfrontation mit weitgehend namenlosen Figuren hinzu, die eher Typen als Charaktere sind und nur selten Profil gewinnen. Bis auf den letztgenannten Punkt ist allen diesen Elemente gemeinsam, dass sie in Vergeltung ausgeprägter zum Einsatz kommen als in Die Stalinorgel; Ledigs gewaltsamer Stil ist mithin erst in seinem zweiten Roman wirklich ausgereift. Gemeinsam ist ihnen ferner, dass sie dazu beitragen, dass Ledig auf der Ebene des Stils die Wirkung des Krieges für die Leser im Kleinen nachbildet, die Gewalt, Plötzlichkeit, Dynamik und Unmöglichkeit der Orientierung auf die Sprache und so auf die Leser überträgt und ansatzweise für sie erfahrbar macht.Wie erfolgreich Ledig dabei ist, zeigen die Reaktionen der Kritik, die den quasimimetischen Charakter der Erzählung beim Erstling noch einigermaßen goutierte (wenn auch hier schon Unbehagen über den extremen Naturalismus geäußert wurde), in seiner perfektionierten Form in Vergeltung aber deutlich ablehnte. Bevor die Rezeption im Detail betrachtet wurde, ist dargestellt worden, inwiefern es möglich ist, dass Ledig nicht lediglich Traumata versprachlicht hat, sondern eventuell in seinen Romanen auch versucht hat, eigene Traumatisierungen zu vergesellschaften (und so zumindest partiell zu bewältigen). Es sind auch entsprechende Parallelen zu den Autoren anderer Romane zum Bombenkrieg wie Nossack, Kluge und Forte gezogen worden, die sich zum therapeutischen Charakter ihrer Werke bekannt haben. Zentral für diese Überlegungen ist ein intrusiver Traum, der Ledig nach dem Krieg wiederholt heimgesucht hat und der Eingang in den Roman gefunden hat, sowie Parallelen zwischen Ledig und einigen seiner Figuren. Das Ergebnis dieser Vergesellschaftung fällt gemischt aus, denn nur teilweise wurden die Romane als authentische Traumaerzählungen rezipiert; die positive Aufnahme von Vergeltung, wo die Vergesellschaftung erst bei der Wiederveröffentlichung erfolgreich war, erlebte Ledig nicht mehr. Wie die wechselvolle Rezeption der Romane Ledigs in Einzelnen vonstattenging und welche Argumente und Lesarten dabei jeweils dominierten, wurde abschließend betrachtet. Dabei wurde chronologisch vorgegangen und wurden zunächst die Reaktionen der Kritik bei der Erstveröffentlichung in den Blick genommen. Diese fielen für Die Stalinorgel weitgehend positiv aus. Der gewaltsame Stil wurde überaus positiv aufgenommen und trug in den Augen der Rezensenten zu einer authentischen Zeichnung des Kriegserlebnisses bei. Anklang fanden auch die reduzierten Identitäten sowie der Verzicht auf militärische Mythen und den Landserjargon als Elemente der Trivialliteratur. Negativ sah die Kritik Ledigs Darstellung der verschiedenen Versuche der Dienstentziehung, worin ein Hinweis auf ein Fortbestehen zumindest von einzelnen Aspekte einer Ideologie des Kampfes in weiten Teilen der Gesellschaft gesehen werden kann. Die psychologischen Aspekte des Romans fanden keine Beachtung.

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Die Reaktionen auf Vergeltung waren demgegenüber in erster Linie negativ, überraschenderweise auch und gerade hinsichtlich jener Aspekte, die beim Erstling noch überzeugten, wie des gewaltsamen Stils und der reduzierten Figurenzeichnung. Die Kritik an der gezeigten Gewalt und ihrer Darstellung ging bis zum Voyeurismusvorwurf. Das zentrale Argument für die Ablehnung war jedoch, dass Ledig zwar in der Behandlung des Bombenkrieges eine wertvolle Absicht verfolgt habe, ihm aber mit Vergeltung kein authentisches Abbild desselben gelungen sei. Eine Diskussion des Titels und seiner Implikationen blieb aus. Faustrecht erhielt schließlich nur noch wenige Besprechungen, wobei wiederum festgestellt wurde, dass Ledig mit der Nachkriegszeit ein wichtiges Thema gewählt habe, ihm aber wie schon bei Vergeltung nicht gerecht werde. Neben dem erneuten Vorwurf mangelnder Authentizität wurde Ledig auch der Stilwechsel vorgehalten. Die psychologischen Aspekte blieben erneut weitgehend unbeachtet; wo sie wahrgenommen wurden, wurden sie aber durchaus positiv bewertet. In Folge der Debatte um die Darstellung des Bombenkriegs in der deutschen Nachkriegsliteratur, die sich 1997/98 im Anschluss an W.G. Sebalds Zürcher Poetikvorlesungen in den Feuilletons entspann, kam es zur Wiederentdeckung und Wiederveröffentlichung von Vergeltung. Sebald selbst setzte sich in der Druckfassung von Luftkrieg und Literatur mit Ledigs Roman auseinander. Seine Reaktion ist, wie gezeigt wurde, ambivalent, da der Roman einerseits nicht Sebalds Vorstellung von wissenschaftlicher Distanz zum beschriebenen Geschehen entspricht, andererseits Sebalds Vorstellungen eines synoptischen Blicks und einer Subjektivierung der Gewalt sowie seiner Kritik am technologischen Fortschritt relativ nahe kommt. So überrascht es nicht, dass Sebald sich vor allem mit der Rezeption des Romans beschäftigt, um die gescheiterte Aufnahme in den 1950er Jahren als Beweis für seine These vom Erzähltabu anzuführen. Die Rezeptionsgeschichte und Sebalds Thesen waren daher der Kern der Rezensionen bei der Wiederveröffentlichung des Romans 1999. So wurde er gegen Sebald ins Feld geführt, um zu zeigen, dass es doch Literatur zum Thema gab, und gleichzeitig wurde mit der Kritik der 1950er Jahre die These gestützt, dass man damals nichts vom Bombenkrieg habe lesen wollen. Es wurde aufgezeigt, dass die Kritik daneben vor allem die enge Verklammerung von Inhalt und Sprache hervorgehoben und gewürdigt hat, auch wenn das Dargestellte und die Art der Darstellung inzwischen viel von ihrem Schockpotential verloren hatten. Explizit wurde dabei die Authentizität des Romans herausgestellt. In der Thematisierung der Unangemessenheit des Leibes, der reduzierten Identitäten sowie der Absage an jegliche Sinnstiftungsangebote wurden zudem jene Aspekte des Romans positiv gewertet, die in der vorliegenden Arbeit als zentral für Ledigs Zeichnung des Krieges als einer traumatischen Situation herausgearbeitet wurden. Das Thema

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Trauma/Traumatisierung selbst hingegen blieb außen vor: Weder wurden die entsprechenden Passagen des Romans betrachtet noch Ledigs persönlicher Hintergrund miteinbezogen noch hinterfragt, inwiefern Traumatisierungen eine Rolle bei der Rezeption der 1950er Jahre gespielt haben könnten. Hinsichtlich der Rezeption der Wiederveröffentlichung von Die Stalinorgel im Jahr 2000 wurde gezeigt, dass dieser Roman nun vor allem als Vorstufe von Vergeltung betrachtet wurde. Auch wenn der gewaltsame Stil erneut als angemessen und gelungen gewürdigt wurde, fällt auch bei Ledigs Erstling auf, dass das Schockpotential von Thema und Darstellung abgenommen hatte: Hinzu kam, dass das Interesse am bereits stark aufgearbeiteten Krieg im Osten lange nicht so hoch war wie am Bombenkrieg. Dennoch rückte stärker als noch bei der Erstveröffentlichung Ledigs Kritik an der Unmenschlichkeit des Krieges in den Blick der Rezensenten. Gleichzeitig erhielten die verschiedenen Versuche einzelner Figuren, sich des Dienstes zu entziehen, nur wenig Aufmerksamkeit. Dass der Roman die Kritik nicht mehr vollends zu überzeugen vermochte, lag, wie gesehen, auch am Verzicht auf jegliche Makroperspektive; die Kritik erwartete auch in einer grundlegenden Anklage gegen den Krieg einen Blick auf das größere Ganze und seine Ursachen. Keine Rolle spielten in den Rezensionen die psychologischen Aspekte wie Trauma und Traumatisierung; eine Antwort auf die Frage, ob dies heute vor dem Hintergrund traumatisierter Afghanistanheimkehrer anders wäre, müsste Hypothese bleiben. Auch Faustrecht hatte bei der Wiederveröffentlichung viel von seinem Potential zur Provokation verloren, wie auch die Kritik bemerkte. Dafür findet sich in den Besprechungen des Romans nun auch die Traumathematik gewürdigt, wenn die Rezensenten feststellen, dass Faustrecht nicht zuletzt der Frage nachgeht, was der Krieg aus den Menschen macht. Die möglichen Verbindungen zu den anderen beiden Romanen wurden gleichwohl nicht hergestellt. Insgesamt waren die Urteile über den Roman nicht sehr wohlwollend: Zu konventionell sei er, zu sehr atme er den Geist seiner Entstehungszeit. Gleichzeitig wurde gerade Letzteres als Authentizitätsausweis bemüht – authentisch aber eben nicht für die beschriebene Zeit, sondern für die Entstehungszeit. Und dennoch wird bemerkt, dass man, wenn eines Tages die Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind, nicht zuletzt auf die literarischen Stimmen angewiesen sein wird: nicht nur in Bezug auf Faustrecht und die Nachkriegszeit, sondern auch und gerade auf Die Stalinorgel bzw. Vergeltung und ihren Blick auf den Krieg. Es ist auf der Grundlage dieser Ergebnisse unbestritten, dass die Auseinandersetzung mit den Romanen Gert Ledigs wertvolle Erkenntnisse nicht nur zur deutschen Nachkriegsliteratur liefert, sondern auch einen maßgeblichen Beitrag zur Untersuchung der deutschen Erinnerungskultur in den Jahrzehnten nach 1945

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liefern kann. Dennoch hat sich die Forschung in den letzten Jahren wieder von der Beschäftigung mit Ledig abgewandt. Ein Aspekt, der weitgehend unbeleuchtet geblieben ist, ist Ledigs Verhältnis zur DDR, obwohl Ledig nie einen Hehl aus seiner Sympathie für den ostdeutschen Staat gemacht hat und sogar in Erwägung zog, dorthin zu übersiedeln. Zu untersuchen wäre in diesem Zusammenhang etwa die Rezeption von Ledigs Romanen in der DDR. Die vorliegenden Rezensionen zu Die Stalinorgel aus ostdeutschen Zeitschriften weichen wenig überraschend deutlich von den westdeutschen Besprechungen ab. Positiv hervorgehoben wird dort etwa die naturalistische Darstellung des Krieges, während kritisiert wird, dass der Roman an antifaschistischer Kritik spart und den Blick der Leser zu wenig darauf lenkt, dass die russischen Soldaten ihr Land gegen deutsche Aggressoren verteidigen.¹ Wenig untersucht ist bislang auch Ledigs Kontakt zu DDR-Schriftstellern und -Intellektuellen wie etwa Christa Wolf. Nicht zuletzt könnte es auch ergiebig sein, Ledigs Akte bei der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen genauer auszuwerten, um so das Bild zu komplettieren. Vielversprechend wäre es außerdem, nicht zuletzt aufbauend auf der vorliegenden Arbeit, Ledigs Romane noch stärker im Kontext der Erinnerungskultur zu untersuchen und in den Blick zu nehmen, inwiefern es sich dabei um „Gedächtnisromane“ handelt, die sich mit gesellschaftlichen Erinnerungskonkurrenzen befassen, und dazu Stellung beziehen.² Es drängen sich hinsichtlich des Ledig’schen Werkes diverse Themen auf, die in diesem Kontext fruchtbar gemacht werden könnten, da sie Gegenstand gesellschaftlicher Debatten waren. Zu denken ist hierbei etwa an die Wiederbewaffnung der BRD in den 1950er Jahren. Anknüpfend an hier bereits angesprochene Themen wäre in einen solchen Kontext auch der Umgang mit den Wehrmachtsdeserteuren zu untersuchen sowie in einem breiteren Rahmen der Blick auf die Rolle der Wehrmacht im Dritten Reich und bei den im Krieg verübten Verbrechen. Und nicht zuletzt kann bei einer solchen Betrachtung auch jener Aspekt nicht außen vor bleiben, der vor knapp 20 Jahren die gesellschaftliche und akademische Auseinandersetzung mit Ledig überhaupt erst ausgelöst hat: die Frage der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Opfer des Bombenkrieges. Nicht auszublenden sind in diesem Zusammenhang dann Fragen kollektiver Schuld, kollektiver Identitäten und eventueller gesellschaftlicher Tabus. Die Auseinandersetzung auch mit Literatur als Erinnerungsträger und Deutungsangebot ist umso wichtiger, als über 70 Jahre nach Kriegs Vgl. etwa Deicke (1955).  Zum Konzept des Gedächtnisromans: Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier, 2003.

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ende der Zeitpunkt näher rückt, an dem die Gesellschaft nicht mehr über Zeitzeugen und mithin über ein „lebendes“ Gedächtnis verfügen wird. Nicht nur kann es für diese Themen erhellend sein, Ledigs Romane und ihre Rezeption zu betrachten – auch für die Beschäftigung mit Ledig und seinem Werk ist es essentiell wichtig, die Perspektive derart auszuweiten. Denn hier, in der authentischen Repräsentation des Kriegs sowie in der klaren Positionierung hinsichtlich der genannten gesellschaftlichen Erinnerungskonkurrenzen, liegt die große Stärke von Ledigs Romanen. Gelingt es nicht, diese Aspekte und ihre Bedeutung fest in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg zu verankern, so ist es wahrscheinlich, dass sich die Geschichte wiederholt und Gert Ledigs Romane erneut in Vergessenheit geraten.

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Register Adorno, Theodor W. 15, 27 Aicher, Otl 114 Akustik 30 f., 88 Andersch, Alfred 10, 26, 110, 113 f. Apokalypse 8, 13, 82, 100 – 102, 104, 202 Artillerie 51 Assmann, Aleida 140 Ästhetik 16 f., 19, 25, 38 – 41 Authentizität 10, 12, 19, 25 – 29, 120, 186 f., 191 – 194, 200 f., 208, 213, 220, 228 Bachtin, Michail Michailowitsch 82 f., 91 Bamm, Peter 57 f., 125 f. Barbian, Jan-Pieter 5 Baron, Ulrich 211 Baumgart, Reinhard 18 Benjamin, Walter 6, 15, 42 Berlemann, Dominic 9 Bernhard, Thomas 13, 32, 67, 144 f., 189 Beschleunigung 175 f. Bewährungsbataillon 120 Bohrer, Karl-Heinz 167, 173 Böll, Heinrich 26 Bombenkrieg 4 f., 14, 16, 24, 27, 30 f., 34, 43, 61, 78, 90, 101, 103, 105, 134, 140 f., 143 f., 146 f., 149 – 151, 154, 184 f., 187 – 190, 192 – 194, 196, 201, 203, 206, 208 – 211, 213 – 219, 222 Bönitz, Wolfgang 79, 85 Borchert, Wolfgang 210 f. Brauchle, Angelika 11 Browning, Christopher R. 103 Bunker 154 Busch, Stefan 92 Céline, Louis-Ferdinand 178 f., 183 Chaos 94, 96

48, 167 f., 175,

DDR 14, 211, 239 Desertion 13, 108 – 118, 120, 122 f., 161, 199, 225

https://doi.org/10.1515/9783110657128-013

Egyptien, Jürgen 63 Eisernes Kreuz 55 Enzensberger, Hans Magnus 210 Erhabenheit 6, 38 f., 41 Erinnerungskultur 2, 4, 9, 26, 114, 123, 162, 213, 219, 225, 228, 238 f. Erinnerungsliteratur 12, 26 f. Erzähler 18 f., 23, 39 f., 65, 176 Fahnenflucht s. Desertion Faustrecht 59 Feindbild 44, 72 f., 76 f., 80 Ferchl, Wolfgang 58, 60 Feuersturm 103, 143, 211 Fichte, Hubert 209, 213, 216 Filbinger, Hans 112, 132 Forte, Dieter 13, 28, 146 f., 189 Fortschritt 7, 218 Frappanz 173 f. Freiheit 44, 114, 117 Fremdbild 72 f., 76, 80 Friedrich, Jörg 67, 85, 96, 143 Front 46, 152 Gaiser, Gerd 10, 57, 105 Genette, Gérard 100 Geruch 32 Geschlechterrollen 44, 68 f. Geschmack 32 Gesellschaft 45, 58, 118, 185, 191, 193 f., 196 Gewalt 1, 10, 12, 16 f., 19, 24, 34 f., 37, 41, 47, 118, 152, 159 f., 166 – 168, 173, 179, 182, 201, 217, 221, 224 Goltermann, Svenja 165 Gräff, Siegfried 86 Groteske 82 – 87, 89, 91, 93 Gruppe 47 113, 214 Gumbrecht, Hans Ulrich 168, 175, 178 f. Güntner, Joachim 211 Haase, Norbert 113 Hage, Volker 143, 190, 209 f., 218, 222

Register

Harpprecht, Klaus 211 Heimatfront 34, 49, 55, 61, 64 Held/Heldentum 3, 10, 43, 50 – 58, 108, 114, 127, 198 Hensel, Andreas 5 Herman, Judith 71, 155, 157, 185, 191, 193 Heydrich, Reinhard 103 Hinrichtung 121 f., 160 Hitler, Adolf 112, 125 Hochhuth, Rolf 132 Hoeschen, Andreas 6 Hölle s. Inferno Holocaust 1, 106, 161, 210 Hörsinn 29, 31 f. Huber, Michaela 135 Heukenkamp, Ursula 4 Hundrieser, Gabriele 6, 167, 179 Huyssen, Andreas 216 f. Identität(en) 12, 20, 43, 45 f., 48, 60 – 62, 64 f., 72, 224 Ideologie 57 f., 63, 77, 80, 111, 117 – 119, 121, 131, 137, 157 Individualität 12, 20, 43 – 45, 49, 62, 64, 108, 123, 198, 224 Inferno 100, 198, 202 Intertextualität 217 Isenschmid, Andreas 209 Jünger, Ernst

6, 10, 30, 34, 40, 85

Kafka, Franz 167 Kansteiner, Wulf 136, 161 Kant, Immanuel 38 f. Kasack, Hermann 25, 208 Kayser, Wolfgang 82, 89 Kemper, Raimund 10 Kempowski, Walter 210 Kiesel, Otto Erich 211, 214 Kleist, Heinrich von 167, 172 Kluge, Alexander 13, 18, 28, 62, 149, 188, 208, 213, 215 f. Koch, Lars 10 Kolbenhoff, Walter 113 Kolle, Kurt 156 Kopf, Martina 139 Köppen, Edlef 22

257

Körper 33 – 35, 37, 41, 82 – 84, 87, 89 f., 170, 197 Kraft, Thomas 3, 57, 110, 114 f., 119, 121, 126, 158 Kriegsverbrechen 77, 103, 160 Lachen/Gelächter 82, 91 – 93 Lakonie 172 f. Lawson, Colette 7, 218 Leschke, Rainer 27, 186 Literaturkritik 9, 11, 14 Luftangriff s. Bombenkrieg Luftschutzkeller 67, 142, 154 Lynchjustiz 78 f. Maertens, André Sven 11 Malaparte, Curzio 48 Männlichkeit 54, 58 f., 68 Mendelssohn, Peter de 208 Menschlichkeit 67 Messerschmidt, Manfred 112, 119 Militär 45, 118 Militärjustiz 109, 112, 118, 120 – 123, 125, 131, 157, 160 Mimesis s. Authentizität Mitscherlich, Alexander 207 f. Mitscherlich, Margarete 207 f. Montage 22, 197, 201, 220, 223 Morphologie 87 f. Mulisch, Harry 139 Mythos 54, 56, 61, 108, 114 Nation 17, 50 Neitzel, Sönke 117 Nieraad, Jürgen 17 Nitribitt, Rosemarie 132 Nolte, Jost 211 Nossack, Hans Erich 13, 25, 39, 105, 147, 152, 187 f., 208, 211, 216 Ordnung 94 – 96, 98 f., 106, 177, 217 Ott, Wolfgang 126 Panitz, Eberhard 211 Passion Christi 8, 101 f., 203 Performanz 19 Permooser, Ingrid 78 f.

258

Register

Perzeption s. Wahrnehmung Pfeifer, Jochen 3, 18, 57, 63, 75, 114 Plivier, Theodor 18 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 1, 4 Propaganda 72 – 74, 117 Prostitution 69 Psychologische Kriegsführung 30 Radvan, Florian 8, 97, 99 Reich-Ranicki, Marcel 144, 221 Religion 97 – 99, 104 Remarque, Erich Maria 23, 210 Renn, Ludwig 200 Richter, Hans Werner 214 Roman 18, 20 Roman der Härte 3 Rückblende 21 Scarry, Elaine 138 Schirrmacher, Frank 210 Schmerz 31, 33, 35 – 37, 54 Schmidt, Arno 26, 208 Schock 169 Schwinge, Erich 112, 119 Sebald, W.G. 2, 4, 27 f., 85, 138 f., 143, 151, 196, 206 – 209, 213 – 219 Sehsinn 32 Seibt, Gustav 212 Selbstjustiz s. Lynchjustiz Selbstmord s. Suizid Selbstverstümmelung 13, 109 f., 124 – 128, 130 Shay, Jonathan 60, 71, 133, 137, 157 f., 163, 184, 186, 192 Slow Motion 20 Soldat(en) 46 f., 49 – 52, 54, 56, 60, 72, 117 f., 123, 137, 152, 156 – 159, 198, 224 Spielberg, Steven 220 Stalinorgel 30 f., 53, 175 Staudtke, Wolfgang 119, 132 Strafkompanie 120 Streim, Georg 9 Stunde Null 8 Suizid 13, 48, 125, 127, 129 f. Syntax 19 Systemtheorie 9

Tabu 207, 209 – 213, 215, 219, 222 Teleologie 13, 17, 24 Theis, Jörg 30 Theodizee 8, 17, 99 Todesstrafe 109, 113, 116, 118, 120, 122, 124 Totaler Krieg 34, 49, 61, 64 Transtextualität 8, 97 – 99, 102 Traum 190 Trauma 1 f., 4, 60, 71, 122, 133 – 140, 142, 144 – 149, 151 – 153, 155 – 158, 161, 163 – 167, 179, 184 – 187, 189 – 194, 207, 216, 222, 227 Ulrich, Volker

115

Vees-Gulani, Susanne 3 f., 140, 144, 148, 152 f. Vergeltung 8, 53, 102 – 105 Vergewaltigung 66, 70, 98, 153, 155, 170, 201, 221 Verkehrte Welt 25, 82, 87, 89 – 91, 93 f., 106, 198 Verzweiflung 99 Vietnamkrieg 1 Volksgemeinschaft 120 f., 141 Vonnegut, Kurt 13, 47, 139 f., 150 f., 187, 189 Voyeurismus 17 Wahrnehmung 29, 32, 38 – 41, 171 Wehrdienstentziehung s. Desertion Welzer, Harald 117 Western 58 – 60, 205 Widerstand 118, 127 Wieden, Anja 8 Wiederaufbau 207 Wiederbewaffnung 58, 200 Wüllner, Fritz 112, 119 Zabel, Bernd 3, 114 Zeitempfinden 96, 142, 178 Zeitwahrnehmung 95, 152 Zeugen Jehovas 113 Zimmering, Max 211 Zivilisation 48, 59, 66, 87 Zufall 46, 53, 94, 96 f. Zwangsarbeit 78