Zur literarischen Darstellung von Adoleszenz in der DDR: Entwicklungen der Gegenwartsliteratur seit 2000 [1 ed.] 9783737009133, 9783847109136

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Zur literarischen Darstellung von Adoleszenz in der DDR: Entwicklungen der Gegenwartsliteratur seit 2000 [1 ed.]
 9783737009133, 9783847109136

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 30

Herausgegeben von Carsten Gansel und Stephan Pabst Reihe mitbegründet von Hermann Korte

José Fernández Pérez

Zur literarischen Darstellung von Adoleszenz in der DDR Entwicklungen der Gegenwartsliteratur seit 2000

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation am Fachbereich 05 der Justus-Liebig-Universität Gießen eingereicht. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Uwe Steinberg: Mädchen bei den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten, Berlin, 1973 Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-0913-3

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Zur Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur Begriffsbestimmung von Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zu den Entwicklungsdimensionen von Adoleszenz . . . . . . . . 2.2.1 Zur adoleszenten Identitätsbildung . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Zur Modifizierung der Bindung an die Eltern . . . . . . . . 2.2.3 Zur Ausgestaltung einer Individuation unter Gleichaltrigen 2.2.4 Zur Spezifik der weiblichen Individuation . . . . . . . . . . 2.2.5 Zur Bedeutung des Körpers in der Adoleszenz . . . . . . . . 2.2.6 Zur Rolle von jugendkulturellen Bewegungen . . . . . . . . 2.2.7 Zur Herausbildung eines eigenen Werte- und Normsystems 2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten . . . . . . . . . 2.3 Zur Adoleszenz als zweiter Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Adoleszenz und Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Zur Adoleszenz in der DDR . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zur Sozialisation in der Familie . . . . . . . . . . 3.2 Zur Sozialisation in der Schule . . . . . . . . . . . 3.3 Die Jugendweihe als Initiationsritual . . . . . . . 3.4 Zur Sozialisation in der Freien Deutschen Jugend 3.5 Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR . . .

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1 Einleitung . . . . . . . . . . 1.1 Zum Forschungsstand . 1.2 Zur Methodik der Arbeit 1.3 Zum Textkorpus . . . . 1.4 Zum Aufbau der Arbeit .

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6 4 Zum Adoleszenzroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Anmerkungen zum Adoleszenzroman in der DDR . . . . . . . . . . 4.2 Zu Aspekten der Adoleszenzdarstellung in der DDR vor der Wende – Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Rolf Schneider: Die Reise nach Jaroslaw – »Als spontaner Akt kann Durchbrennen ganz hübsch sein, als Lebenshaltung ist es ein bisschen mager.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1 Zum Generationskonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.2 Zum adoleszenten Aufbruch oder auf der Suche nach dem Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Gerhard Holtz-Baumert: Trampen nach Norden – »Komm gut an, Kumpel, und immer nach StVO« . . . . . . . . . . . . 4.2.2.1 Gunnars Kampf um Anerkennung – »Beiß dich durch, Alter« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.2 Teresas Selbstverortung – »Ich schwankte zwischen Pflicht und Neigung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Thomas Brasch: Vor den Vätern sterben die Söhne – »Was ich will, schrie er, diese Nabelschnur durchreißen.« . . . . . . 4.2.3.1 Zum Generationskonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.2 Auf der Suche nach einem Möglichkeitsraum . . . . . 4.2.3.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zu Facetten der Darstellung von Adoleszenz in der DDR in der Gegenwartsliteratur nach 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Jürgen Landt: Der Sonnenküsser – Eigensinn als Lebenshaltung im sozialistischen Kollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Zu Autor und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Zum Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Zur gestörten Generativität im familiären Umfeld . . . . . . . 5.1.4 Zum grenzüberschreitenden Adoleszenzverhalten . . . . . . . 5.1.5 Zur sexuellen Initiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Angelika Klüssendorf: Das Mädchen – »Schon am Anfang scheint hier alles zu Ende zu sein – oder ist das Ende doch ein Anfang?« . 5.2.1 Zu Autorin und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Zur Poetologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Zum Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Zur fehlenden Generativität im familiären Umfeld . . . . . .

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Inhalt

5.2.5 Zum grenzüberschreitenden adoleszenten Verhalten . . . . . 5.2.6 Zur sexuellen Initiation des Mädchens . . . . . . . . . . . . . 5.2.7 Zu den Beziehungen unter Gleichaltrigen in Schule und Kinderheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8 Zum Erlangen einer Identität: April . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.9 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Torsten Schulz: Nilowsky – Das Dilemma einer Freundschaft zwischen Verrat und Loyalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Zu Autor und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Zum Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Zum Verrat einer Freundschaftsbeziehung . . . . . . . . . . . 5.3.4 Zum intergenerationellen Hegemoniekampf . . . . . . . . . . 5.3.5 Zur sexuellen Initiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Uwe Kolbe: Die Lüge – »Das dritte Leben begann mit einem Korb«. 5.4.1 Zu Autor und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Zur Poetologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Zum Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Zum intergenerationellen Hegemoniekampf . . . . . . . . . . 5.4.5 Zum adoleszenten Verhalten Hadubrands . . . . . . . . . . . 5.4.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Jochen Schmidt: Schneckenmühle – »Jede Narbe ist eine Erinnerung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Zu Autor und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Zur Poetologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3 Zum Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.4 Zum Übergang von der Familie zur Kultur . . . . . . . . . . . 5.5.5 Zur Bedeutung von Jugendkultur in Schneckenmühle . . . . . 5.5.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 André Kubiczek: Skizze eines Sommers – »Küssen ist fast so schwer wie Rauchen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1 Zu Autor und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2 Zum Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.3 Zu den adoleszenten Selbstinszenierungsritualen . . . . . . . 5.6.4 Zur sexuellen Initiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.5 Zu den intergenerationellen Beziehungen . . . . . . . . . . . 5.6.6 Zur Bedeutung von Musik und Literatur als Instrumente der Selbstsozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.7 Zur Reise nach Kaltennordheim . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.8 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5.7 Nadja Klier: 1988. Wilde Jugend. »Es gibt Musik, es gibt etwas zu trinken, es gibt Jungs. Das reicht.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.1 Zu Autorin und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.2 Zum Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.3 Zur Modifizierung der Bindung an die Eltern . . . . . . . . 5.7.4 Zur Bedeutung der Beziehungen unter Gleichaltrigen . . . . 5.7.5 Zur sexuellen Initiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.6 Zum grenzüberschreitenden adoleszenten Verhalten . . . . 5.7.7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 Literaturverzeichnis . . . . . . . 7.1 Siglenverzeichnis . . . . . . 7.2 Untersuchte Primärliteratur 7.3 Weitere Primärliteratur . . . 7.4 Sekundärliteratur . . . . . . 7.5 Internetquellen . . . . . . . 7.6 Discographie . . . . . . . . 7.7 Filmographie . . . . . . . .

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Danksagung

Diese Arbeit läge ohne die Unterstützung und die vielfältigen Anregungen all jener Personen, die ihren Entstehungsprozess mit kritischer Aufmerksamkeit begleiteten, nicht in der gegebenen Form vor. Carsten Gansel, meinem Doktorvater, gilt an dieser Stelle mein erster Dank. Er hat mich in meinem wissenschaftlichen Arbeiten von Anfang an freundschaftlich bestärkt und meine fachliche Qualifikation unaufhörlich gefördert. Dank zahlreicher anregender Gespräche und der Teilhabe an verschiedenen Projekten des Lehrstuhls und an Doktoranden-Workshops konnte ich mir fachliches Wissen aneignen, das die Entstehung dieser Arbeit ermöglichte. Unseren fachlichen und persönlichen Austausch habe ich stets als Ermutigung und Motivation für meine Arbeit empfunden. Herrn Prof. Dr. Heinrich Kaulen danke ich für die Bereitschaft, meine Dissertation als Zweitgutachter zu begleiten. Anna Heidrich, Norman Ächtler und Svenja Herrmann danke ich fu¨ r die konstruktiven fachlichen Gespra¨ che, Ratschla¨ge und Anmerkungen, die mir auf dem Weg zur fertigen Arbeit geholfen haben. Wegen ihrer Anteilnahme und Unterstützung mit ihren kritischen Betrachtungen und ihren differenzierten Anmerkungen gebührt ihnen hier mein besonderer Dank. Mein herzlichster Dank gilt meiner Ehefrau, Anastasia Mpessinas, für die mehrfache Durchsicht dieser Arbeit, für ihre unendlich hilfreiche Unterstützung und ihr unerschöpfliches Verständnis, mit dem sie den zeitaufwändigen Arbeitsprozess begleitet hat. Ihr und unseren Kindern, Maya und Mateo, ist diese Arbeit gewidmet. Heuchelheim, den 11. Dezember 2020

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Einleitung

Das Phänomen der Adoleszenz bezeichnet eine Übergangsphase, »die den ›Abschied von der Kindheit‹ und den Eintritt in das Erwachsenenalter«1 bedeutet. Die vorliegende Arbeit untersucht, wie Adoleszenz in der DDR in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur literarisch konfiguriert wird. Dabei wird insbesondere der Fragestellung nachgegangen, inwieweit sich unterschiedliche Adoleszenzverläufe aus dem Untersuchungskorpus von ausgewählten Adoleszenzromanen herauskristallisieren, die die Heterogenität von Jugend und Adoleszenz in der DDR im Rahmen eines selektiven Bildungsmoratoriums belegen.2 Nach Carsten Gansel stellt der Adoleszenzroman eine »Gattungs- bzw. Typenbildung auf Grundlage von inhalts- bzw. stoffbezogenen Merkmalen«3 dar. Ausgehend von Paul Ricœurs Modell des Kreises der Mimesis geht es darum herauszuarbeiten, auf welche Weise die Texte der Gegenwartsliteratur die Erfahrung der Adoleszenz verhandeln bzw. welche ausgewählten Aspekte der außertextuellen Wirklichkeit literarisch konfiguriert werden.4 1 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Berlin: Cornelsen Scriptor 2010, S. 167. 2 Zum Begriff des selektiven Bildungsmoratoriums vgl. Behnken, Irmgard/Zinnecker, Jürgen: Vom Kind zum Jugendlichen. Statuspassagen von Schülern und Schülerinnen in Ost und West. In: Büchner, Peter/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Aufwachsen hüben und drüben. Deutsch-deutsche Kindheit und Jugend vor und nach der Wiedervereinigung. Opladen: Leske + Budrich 1991, S. 33–56, hier: S. 35f. 3 Gansel, Carsten: Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance – Adoleszenz in der Literatur. In: Uhlhaas, Peter J. (Hg.): Das adoleszente Gehirn. Stuttgart: Kohlhammer 2011, S. 25– 44, hier: S. 26. 4 In seinem entworfenen Modell eines Kreises der Mimesis unterscheidet Paul Ricœur drei Stufen: die Pra¨ figuration oder »Mimesis I«, die den Bezug zur außertextuellen Wirklichkeit umfasst, die Konfiguration oder »Mimesis II«, die den Moment der Fiktionalisierung einer Geschichte darstellt bzw. die Gestaltung der Wirklichkeit durch die Literatur und die Refiguration durch den Rezipienten oder »Mimesis III«. Dadurch wird sichtbar, dass der literarische Prozess einen aktiven, konstruktiven Vorgang impliziert, »an dem kulturelle Sinnsysteme, literarische Verfahren und Rezeptionspraktiken gleichermaßen beteiligt sind«. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 150.

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Einleitung

In der Literaturwissenschaft herrscht weitgehend Konsens darüber, dass die politische Wende und der Mauerfall im Jahr 1989 eine markante Zäsur bilden, die auch in der Literatur einen Epochenwechsel nach sich gezogen hat. In diesem Kontext machen Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann auf thematische und stilistische Veränderungen sowie auf die Zusammenführung der beiden deutschen Literaturen aufmerksam und begründen damit eine Art Zäsur in der Literaturgeschichte.5 Im Anschluss an Überlegungen von Paul Michael Lützeler über die »gleitende Zeit« verstehen sie Gegenwart als »die Zeitspanne einer Generation, hier also (in etwa) die letzten dreißig Jahre«6. Für die Bestimmung der Gegenwartsliteratur greift Lützeler auf die historische Kategorie der Generation zurück, so Gansel und Herrmann. Angelehnt an Karl Mannheim und Aleida Assmann definieren Gansel und Herrmann die Generation weniger als biologische Alterskohorte denn als kulturelle Gruppe mit einem gemeinsamen Erfahrungshorizont und einem spezifischen, auf bestimmte historische Schüsselerfahrungen bezogenen Generationen-Gedächtnis.7 So gesehen ist Gegenwartsliteratur als Medium zu betrachten, »über das in Form von narrativen Inszenierungen individuelle und generationsspezifische Erinnerungen für das kollektive Gedächtnis bereitgestellt werden«8. Wenn nun die vorliegende Arbeit Fragen der Inszenierung von Adoleszenz bzw. Jugend in der DDR in den Blick nimmt, dann kann es nicht darum gehen, einschlägige Theorien zu Gedächtnis und Erinnerung erneut zur Diskussion zu stellen.9 Anschließend an die vielfäl5 Vgl. Gansel, Carsten/Herrmann, Elisabeth: »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation« – Anmerkungen zum Versuch, Gegenwartsliteratur zu bestimmen. In: Dies. (Hg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2013, S. 7–21, hier: S. 14f. 6 Lützeler, Paul Michael: Vorwort. In: Ders./Schindler, Stephan K. (Hg.): Gegenwartsliteratur: Ein germanistisches Jahrbuch – A German Studies Yearbook. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 2002, S. XIII–XIX, hier: S. XVII. 7 Aleida Assmann unterscheidet drei Formen des kollektiven Gedächtnisses: das soziale, das politische und das kulturelle Gedächtnis. Zum sozialen Gedächtnis gehört das Generationen-Gedächtnis, das für die persönliche Entwicklung relevant ist. Das individuelle Gedächtnis wird vom Generationen-Gedächtnis geprägt. Jedes Individuum wird »von bestimmten historischen Schlüsselerfahrungen geprägt« und teilt mit den Zeitgenossen seiner Generation »gewisse Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, gesellschaftliche Wertmaßstäbe und kulturelle Deutungsmuster«. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. 13/2002, S. 183–190, hier: S. 185. 8 Gansel/Herrmann, »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation«. 2013, S. 18. 9 An dieser Stelle sei auf einige ausgewählte Publikationen verwiesen: Erll, Astrid/Gymnich, Marion/Nünning, Ansgar (Hgg.): Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: Wissenschaftlicher Verlag WVT 2003; Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Berlin: Walter de Gruyter 2004; Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin: Walter de Gruyter 2005; Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005; Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische

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tigen theoretischen Erkenntnisse zu Fragen nach Gedächtnis und Erinnerung, die im Rahmen des Gießener Sonderforschungsbereich 434 Erinnerungskulturen gewonnen wurden, geht es daher erstens darum, individuelle und generationsspezifische Vergangenheitsversionen in Hinblick auf die Adoleszenz in der DDR herauszuarbeiten. Zweitens wird nachvollzogen, welchen Beitrag die ausgewählten Texte zur kollektiven Erinnerung leisten. Anhand von Textanalysen wird herausgearbeitet, welche Erinnerungsversionen dominant werden und welche möglicherweise im Sinne von Foucault den Status einer contre-mémoire bzw. eines Gegen-Gedächtnisses einnehmen.10 Dies hat mit der Tatsache zu tun, dass in pluralen Gesellschaften unterschiedliche Erinnerungskulturen existieren, die miteinander konkurrieren. Anders gesagt, es gibt unterschiedliche Gruppen, die um die Hoheit von Erinnerung streiten. Dabei ist es grundsätzlich so, dass individuelle, generationenspezifische sowie kollektive Formen von Erinnerungen in einem historischen Prozess ausgehandelt werden. In Abhängigkeit von den Ergebnissen ist jeweils eine bestimmte Wertung von Vergangenheit impliziert.11 Die Literatur bietet die Möglichkeit, Gegengedächtnisse einzuspeisen, und kann folglich das dominierende kollektive Gedächtnis erweitern. Indem literarische Texte zum einen Geschichtsnarrative ausbilden, bestätigen, erweitern oder in Frage stellen, zum anderen »selbst wieder zu Objekten [werden], sowohl als Quelle für weitere Texte als auch für Diskurse, die das gesellschaftliche Gedächtnis beeinflussen«12, erfüllen sie eine wichtige soziokulturelle Funktion. Im vorliegenden Fall archivieren sie unterschiedliche Versionen von DDR-Adoleszenz. Damit können sie mitbestimmen, was unter einer ›ostdeutschen‹ Identität verstanden wird. Entsprechend leisten diese Texte etwas im Rahmen von kollektiver Erinnerung.13 Wiederholt wurde konstatiert, dass die deutsche Kultur in

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Grundlagen und biosoziale Entwicklungen. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2006; Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer »Fictions of memory«. Berlin [u. a.]: Walter de Gruyter 2005; Schacter, Daniel L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001. Vgl. Gansel, Carsten: Atlantiseffekte in der Literatur? Zur Inszenierung von Erinnerung an die verschwundene DDR. In: Dettmar, Ute/Oetken, Mareile: Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2010, S. 17–49, hier: S. 18f.; Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 110ff. Vgl. ebd., S. 113f.; Gansel/Herrmann, »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation«. 2013, S. 13f.; Gansel, Atlantiseffekte in der Literatur? 2010, S. 18f. Nagelschmidt, Ilse: Die wilden Jahre sind vorbei. Paradigmen der Identitätskonstruktion in der ostdeutschen Literatur nach 1989. In: Geier, Andrea/Süselbeck, Jan (Hg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen: Wallstein 2009, S. 102–116, hier: S. 106. Vgl. Gansel, Carsten/Ächtler, Norman/Kümmerling-Meibauer, Bettina: Erzählen über Kindheit und Jugend – Historische, soziale und kulturelle Faktoren und Kontexte im Spiegel der Gegenwartsliteratur. In: Dies. (Hg.): Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. Geschichten vom Aufwachsen in Ost und West. Berlin: Okapi Verlag 2019, S. 9– 26, hier: S. 10; Geier, Andrea: Literatur als Archiv und Modell. »1989« und die DDR in der

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den letzten Jahren von einem anhaltenden »Memory-Boom«14 gekennzeichnet ist. Man kann Carsten Gansel, Norman Ächtler und Bettina Kümmerling-Meibauer beipflichten, wenn sie schreiben, »[…] dass für die deutschsprachige Literatur nach 1989 das ›Prinzip Erinnerung‹ in besonderer Weise Relevanz erlangt hat«15. Durch die gesellschaftlichen Veränderungen nach der Wende entstand ein Verlangen, die »Geschichte der Trennungen«16 und die »unter autoritärem Verschluss gehaltenen Erinnerungen«17 zu erzählen. Dementsprechend erschienen zahlreiche durch die eigene Biographie inspirierte literarische Texte, in denen die DDR bevorzugt als ein Überwachungs- und Verfolgungsstaat präsentiert wurde.18 Frank Grub zieht im Jahr 2003 eine Zwischenbilanz und konstatiert eine verstärkte Inszenierung von Erinnerung an die DDR, um gegen das Vergessen zu arbeiten.19 Ergänzend hebt Andrea Geier hervor, dass es in diesen Texten wiederholt darum ginge, »im Lauf der 1990er Jahre noch nicht thematisierten, vergessenen oder marginalisierten Erfahrungen in der Literatur Raum zu geben«20. Folglich können »marginalisierte und ausgeschlossene Erfahrungen in die Erinnerungskultur eingespeist«21 werden, also sie werden aus dem sogenannten Speichergedächtnis herausgeholt und gelangen in das kommunikative

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Literatur seit der Jahrtausendwende. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 55, 2008, H. 2. S. 156–171, hier: S. 156; Erll, Astrid/Gymnich, Marion/Nünning, Ansgar: Einleitung: Literatur als Medium der Repräsentation und Konstruktion von Erinnerung und Identität. In: Dies (Hg.).: Literatur – Erinnerung – Identität. 2003, S. iii–ix, hier: S. iv. Gansel, Carsten: Rhetorik der Erinnerung. Zur narrativen Inszenierung von Erinnerung in der Kinder- und Jugendliteratur und Allgemeinliteratur. In: Ders./Korte, Hermann (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie. Göttingen: V&R unipress 2009, S. 11–38, hier: S. 18; vgl. auch Gansel, Carsten: »Darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten« Oder: Vom Versuch, Kindheit zu erinnern. In: Roeder, Caroline (Hg.): Topographien der Kindheit. Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen. Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 59–81, hier: S. 62f.; Gansel/Ächtler/ Kümmerling-Meibauer, Erzählen über Kindheit und Jugend. 2019, S. 9f. Gansel/Ächtler/Kümmerling-Meibauer, Erzählen über Kindheit und Jugend. 2019, S. 9. Becker, Jürgen: Aus der Geschichte der Trennungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1999. Beckers Roman zeigt die Wende als Beginn einer Erinnerungsarbeit, mit der gemeinsam die deutsche Vergangenheit verarbeitet wird. Es geht darum, ausgelöst von bestimmten Objekten oder Impulsen »Eingänge in Vergangenes« zu öffnen und »den weißen Flecken« im Gedächtnis näher zu kommen. Ebd., S. 17. Der Protagonist Jörn verbalisiert die nach der Wende entstandenen Möglichkeiten der Aufarbeitung der eigenen Geschichte wie folgt: »aber ich spürte, daß die Reise in diesen Aufbruch hier etwas in mir aufbrach, in meiner ganz eigenen Geschichte, die mir wie durchgerissen und gespalten und irgendwann versiegelt und verblockt vorkam.« Ebd., S. 76. Guhehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler 2010, S. 123. Vgl. Geier, Literatur als Archiv und Modell. 2009, S. 157. Vgl. Grub, Frank Thomas: ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch. Band 1: Untersuchungen. Berlin [u. a.]: de Gruyter 2003, S. 675f. Geier, Literatur als Archiv und Modell. 2009, S. 169. Gansel, Atlantiseffekte in der Literatur? 2010, S. 19.

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Gedächtnis.22 Dadurch komme es zu einem Umbau des Funktionsgedächtnisses, da eine Neuaufnahme von bis dahin ausgeblendeten Erinnerungen, Vorgängen und Ereignissen sowie eine Neubewertung des bereits Erinnerten erfolge.23 Birgit Neumann macht das Potenzial der fictions of memory für die Konstruktion von Identität geltend und betont: »[…] [D]urch die Problematisierung der Gedächtnisbildung sind fictions of memory in nicht unwesentlichem Maße an der gesellschaftlichen Herausbildung, Modifikation und Reflexion von Erinnerung und Identität beteiligt.«24 Literarische Texte können daher identitätsbildende Prozesse beeinflussen, indem sie spezifische Erinnerungsbilder bestätigen oder aber ihre Allgemeingültigkeit in Frage stellen.25 Dadurch gelangt eine wichtige soziokulturelle Funktion von Literatur in den Vordergrund. Insofern kann man Katja Stopka beipflichten, wenn sie die Rolle von Literatur als einen gesellschaftlichen Multiplikator hervorhebt: »Aber gerade weil die Historisierung der jüngeren und jüngsten Vergangenheit nicht allein in der Hand von Zeithistoriker/innen liegt, sondern ein hart umkämpftes Feld ist, auf dem verschiedenste Akteure agieren, ist die Frage, welche Geschichtsbilder auf welche Weise für die Gegenwart und Zukunft Gültigkeit erhalten sollen, für die zeithistorische Reflexion und Selbstverortung äußerst relevant. Und genau in diesem Feld historischer Vermittlung fungiert auch die Literatur, ähnlich wie das Medium Film, besonders in der Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Vergangenheit als

22 Jan und Aleida Assmann unterscheiden zwischen einem kommunikativen Gedächtnis, das auf Alltagskommunikation basiert, das heißt eine mündliche Tradierung berücksichtigt, und einem kulturellen Gedächtnis, das »an feste Objektivationen gebunden« ist und durch Gedenktage, öffentliche Riten und Feste offiziell gestiftet wird. Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 27ff. Aleida Assmann differenziert innerhalb des kulturellen Gedächtnisses »zwei Schichten, die sich als Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis einander gegenüberstellen lassen«. Assmann, Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 189; Nach Assmann ist das Speichergedächtnis als ein kulturelles Archiv zu verstehen, in dem die materiellen Überreste vergangener Epochen aufbewahrt werden. Im Gegensatz dazu befinden sich im Funktionsgedächtnis Erinnerungsartefakte, »die durch gesellschaftliche Selektionsprozesse der Kanonisierung durchgegangen sind, durch Bildungs-Institutionen gestützt sind und deren immanente Ausdruckskraft durch immer neue Aufführungen, Lektüren, Deutungen am Leben erhalten wird.« Ebd., S. 189. Während das Funktionsgedächtnis wichtige Aufgaben wie die Identitätskonstruktion erfüllt, dient das Speichergedächtnis als Archiv, aus dem jederzeit Spuren der kulturellen Vergangenheit ins aktive Funktionsgedächtnis geholt werden können. Vgl. ebd.; Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 31f. 23 Vgl. Gansel, Atlantiseffekte in der Literatur? 2010, S. 25. 24 Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 9. 25 Angesichts der bis heute anhaltenden Diskussion um die ostdeutsche Identität, gewinnen literarische Texte, bei denen marginalisierte Erfahrungen Gegenstand der literarischen Darstellung werden, eine besondere Brisanz. Das Handlungssystem Literatur ermöglicht die Präsentation unterschiedlicher Versionen der Vergangenheit, die für den Identitätsprozess von enormer Bedeutung sind und als Gegenmodell zu den dominierenden vereinfachenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen des Diktaturgedächtnisses dienen.

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ein nicht zu unterschätzender gesellschaftlicher Multiplikator. Sie ist an der Konstruktion wie Dekonstruktion kollektiver Deutungsmuster und Erinnerungsstereotypen entscheidend beteiligt.«26

In Folge der historischen Zäsur von 1989 entstanden in den 1990er Jahren zahlreiche fiktionale Texte, die auch die Erinnerung an die ›verschwundene‹ DDR inszenieren und bereits vielfach Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden sind.27 Unter ihnen erhielt insbesondere jene Gruppe von Texten mediale Aufmerksamkeit, die sich durch eine Komödisierung der DDR auszeichnet und das Schreiben über die DDR-Vergangenheit reflektiert.28 Zudem erschienen zahlreiche autobiographisch geprägte Texte, in denen die Autoren die DDR als imaginäre Heimat rekonstruieren und den Verlust dieser zu kompensieren suchen.29 Es sind insbesondere Vertreter einer jüngeren Autorengenera26 Stopka, Katja: Zeitgeschichte, Literatur und Literaturwissenschaft, Version 1.0, In: [letzter Zugriff am 06. 10. 2019]. 27 An dieser Stelle sei auf einige ausgewählte Publikationen verwiesen: Dettmar, Ute/Oetken, Mareile: Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2010; hier insbesondere: Gansel: Atlantikseffekte in der Literatur? 2010, S. 17–49; Lüdeker, Gerhard Jens/Orth, Dominik: Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film. Göttingen: V&R unipress 2010; Grub, ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. 2003; Führer, Carolin (Hg.): Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens. Göttingen: V&R unipress 2016. 28 An dieser Stelle sei nur auf einige ausgewählte Texte verwiesen: Brussig, Thomas: Helden wie wir (1995), Brussig, Thomas: Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999), Brussig, Thomas: Wie es leuchtet (2004), Hennig, Falko: Alles nur geklaut (1999) und Hennig, Falko: Trabanten (2002). Insbesondere die Texte von Thomas Brussig sind ausreichend untersucht worden (vgl. Banchelli, Eva: Ostalgie. Eine vorläufige Bilanz. In: Cambi, Fabrizio (Hg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg: Königshaus & Neumann 2008, S. 57–68; Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: Verlag C. H. Beck 2002, S. 46–68; Brüns, Elke: Generation DDR? Kindheit und Jugend bei Thomas Brussig, Jakob Hein und Jana Hensel. In: Geier/Süselbeck: Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. 2009, S. 83–101, hier: S. 85ff.; Ledanff, Susanne: Neue Formen der ›Ostalgie‹ – Abschied von der ›Ostalgie‹? Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der DDR und an die Geschichtsjahre 1989/90. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies, 43.2 2007, S. 176–193; Magenau, Jörg: Kindheitsmuster. Thomas Brussig oder Die ewige Jugend der DDR. In: Kraft, Thomas (Hg.): Aufgerissen. Zur Literatur der 90er Jahre. München/Zürich: Piper 2000, S. 39– 52; Widmann, Andreas Martin: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2009, hier: S. 213–240. 29 Vgl. Löffler, Katrin: Systemumbruch und Lebensgeschichte. Identitätskonstruktionen in autobiographischen Texten ostdeutscher Autoren. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015; Warchold, Katja: Erschriebene Heimat. Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der DDR in Autobiographien der Nachwendezeit. Wu¨ rzburg: Ko¨ nigshausen und Neumann 2016; Kümmerling-Maibauer, Bettina: Vage Erinnerungen: Unzuverlässiges Erzählen in Kindheitsautobiographien über die DDR. In: Gansel/Ächtler/Kümmerling-Meibauer, Erzählen über Kindheit und Jugend. 2019, S. 121–143, hier: S. 141f.; Grub, ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. 2003, S. 299–327.

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tion, die von der ›verschwundenen‹ DDR erzählen und die Motive Kindheit und Jugend in der DDR literarisch zur Darstellung bringen. Zahlreiche dieser Texte zeichnen sich durch »eine Reihe von wiederkehrenden Stereotypen«30 aus und liefern ein Bild von der DDR, das die »klaren Schwarz-Weiß-Linien des Diktaturgedächtnisses«31 bestätigt.32 Als Gegenmodell zu diesen tendenziell vereinfachten DDR-Adoleszenz-Darstellungen erscheinen jedoch auch Texte, die mittels literarischer Konfiguration Kindheit und Jugend in der DDR zu erinnern suchen und »durch das ›Was‹ und ›Wie‹ des Erinnerns ein authentisches Bild von Kindheit und Jugend in einer geschlossenen Gesellschaft bzw. Diktatur entwerfen«33. Dazu gehören zum Beispiel die Titel Geschichte vom alten Kind (1999), Heimsuchung (2008) oder Dinge, die verschwinden (2009) von Jenny Erpenbeck, bei denen überwiegend die Erinnerung an Kindheit im Zentrum steht – Kurzgeschichten, die bereits aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive untersucht worden sind.34 Dreißig Jahre nach dem Mauerfall hat das fiktionale Erinnern an die DDR nicht an Bedeutung verloren. Im Handlungssystem Literatur erzielten Texte wie Uwe Tellkamps Der Turm (2008), Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) oder Lutz Seilers Kruso (2014) große Aufmerksamkeit und wurden mit Literaturpreisen ausgezeichnet.35 Obwohl es sich dabei nicht speziell um Ado30 Gansel, Atlantiseffekte in der Literatur? 2010, S. 35. 31 Gansel, Carsten: Zwischen Stabilisierung und Aufsto¨ rung – das ›Prinzip Erinnerung‹ in der deutschen Literatur nach 1945 und 1989. In: Ders./Maldonado-Alemán, Manuel (Hg.): Literarische Inszenierungen von Geschichte. Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 und 1989. Stuttgart: Metzler 2018, S. 11–33, hier: S. 28. 32 Exemplarisch für eine literarische Darstellung, die sich von Stereotypen bedient und »die klaren Schwarz-Weiß-Linien des Diktaturgedächtnisses« bestätigt, stehen die Texte Jenseits der blauen Grenze (2014) von Dorit Linke und Weggesperrt (2009), Abgehauen (2012), Schuld (2014) und Verraten (2020) von Grit Poppe. Vgl. Fernández Pérez, José: Die DDR als Darstellungsgegenstand in neuester (Jugend)Literatur – Möglichkeiten und Grenzen im Deutschunterricht. In: Der Deutschunterricht, H. 2/2015. S. 86–89; Gansel, Zwischen Stabilisierung und Störung. 2018, S. 29. 33 Gansel, Zwischen Stabilisierung und Aufstörung. 2018, S. 29. 34 An dieser Stelle sei auf einige ausgewählte Publikationen verwiesen, die sich Jenny Erpenbecks Werk widmen: Marx, Friedhelm/Schöll, Julia: Wahrheit und Täuschung. Beiträge zum Werk Jenny Erpenbecks. Göttingen: Wallenstein Verlag 2014, hier besonders Gansel, Carsten: »Als Kind liebt man, was man kennt« – Kindheit erinnern und erzählen bei Jenny Erpenbeck. In: ebd., S. 79–96; Gansel, Zwischen Stabilisierung und Aufsto¨ rung. 2018, S. 29f. 35 Uwe Tellkamp erhielt für seinen Roman Der Turm den Uwe-Johnson-Preis 2008, den Deutschen Buchpreis 2008 und den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2009. Der Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge wurde mit dem Alfred-Döblin-Preis 2009, mit dem Deutschen Buchpreis 2011 und dem Aspekte-Literaturpreis 2011 ausgezeichnet. Lutz Seiler erhielt für seinen Roman Kruso den Uwe-Johnson-Preis 2014, den Deutschen Buchpreis 2014 und den Kakahashi-Literaturpreis 2020. Die preisgekrönten Romane wurden verfilmt und erhielten dadurch eine noch größere Aufmerksamkeit. In den Handlungssystemen KJL und Medien sind ähnliche Erfolge zu verzeichnen. Verwiesen sei

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leszenzromane handelt, spielen Aspekte der Adoleszenz wie die Suche nach der eigenen Identität und adoleszente Grenzüberschreitungen eine wichtige Rolle. So stellt die Hauptfigur Christian Hoffmann aus Tellkamps Roman ein Beispiel für eine adoleszente Identitätssuche in den 1980er Jahren in der DDR dar. Dem Protagonisten gelingt es letztlich, eine eigene Identität auszubilden bzw. sich in der geschlossenen Gesellschaft ein eigenes Ich in Abgrenzung zum opportunistischen Verhalten vieler Angehöriger und Bekannter zu schaffen.36 Eine anders gelagerte Adoleszenz schildert Lutz Seiler in seinem Roman Kruso. Der begabte Student Edgar Bendler steht in den letzten Jahren des DDR-Sozialismus vor der Frage, wie er seine Zukunft in der fremdbestimmten Welt der DDR gestalten könnte; er ist weder für noch gegen die kommunistische Führung, er fühlt sich schlichtweg nicht dazugehörig. Entsprechend stellt seine Reise in die Fremde ein Moment der Selbstverortung dar, es ist die Suche nach einem Ort, an dem andere als die konventionalisierten Gesetze gelten. Auf der außerliterarischen Ebene spiegeln die Beispiele wider, dass dem Thema Adoleszenz große Aufmerksamkeit in den Medien und in der Literatur zukommt. Mit Blick auf die Literatur gewinnt die Gattung des Adoleszenzromans seit den 1990er Jahren auf nationaler wie internationaler Ebene zunehmend an Relevanz.37 Aus der Bedeutung des fiktionalen Erinnerns an die DDR und der Relevanz der Adoleszenz als soziokulturelles Phänomen entwickelt sich die Legitimation der bevorstehenden Arbeit. Aufgrund der Heterogenität der Fiktionalisierungen von DDR-Adoleszenz, die bislang noch kaum vergleichend betrachtet worden sind, ergibt sich der Ansatz, eine vergleichende Analyse von kanonisierten und weniger kanonisierten Erinnerungsversionen vorzunehmen. Da zwischen der Wende als historisch-politischer Zäsur und ihren literarischen Inszenierungen ein zeitlicher Abstand liegt, lässt sich aus erzähltheoretischer Perspektive die Frage aufwerfen, auf welche Weise Erinnerungen an die DDR konfiguriert werden können. Lutz Seiler verweist auf die Funktion von hier auf die Erfolge von Nadia Budde: Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in zehn Kapiteln (2010), Simon Schwartz: drüben! (2009) und Mawil: Kinderland (2014) im Bereich KJL und auf die Filmerfolge von Das Leben der Anderen (Henkel von Donnersmark 2006), Goodbye Lenin! (Becker 2003) und Barbara (Petzold 2012). Vgl. Führer, Carolin: Und keiner ist (mehr) dabei gewesen. Die andere deutsche Erinnerung – Tendenzen literarischer und kultureller Bildung. In: Dies., Die andere deutsche Erinnerung. 2016, S. 11–26, hier: S. 11f. 36 Sogenannte geschlossene Gesellschaften stellen nach Karl Popper ein Gegenmodell zu offenen Gesellschaften. Von geschlossenen totalitären Gesellschaften spricht man, wenn sie über keine demokratische Öffentlichkeit verfügen und durch ein Kontrollsystem reguliert und zensiert werden. Vgl. Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I. Der Zauber Platons. Hrsg. von Kiesewetter, Hubert. 8. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck 2003, S. 130, 207. 37 Vgl. Kaulen, Heinrich: Fun, Coolness und Spaßkultur? Adoleszenzromane der 90er Jahre zwischen Tradition und Postmoderne. In: Deutschunterricht 52/1999, H. 5, S. 325–336, hier: S. 325.

Zum Forschungsstand

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Literatur zur Aufbewahrung von Geschichte und spricht bezüglich der literarischen Genese von der Notwendigkeit einer Inkubationszeit von »wenigstens sieben Jahre[n]«, damit das aufbewahrte Material für eine literarische Konfiguration bzw. für die lyrische Verarbeitung reif ist: »Bis dann das Schreiben beginnt, dauert es nach meiner Erfahrung wenigstens sieben Jahre. Der Abstand selbst scheint dabei wichtig zu sein, erst ›mit der Zeit‹ wird das Material tatsächlich brauchbar, reif, mit diesem Mindestmaß an Geschichte im Rücken.«38 Was für die Entstehung lyrischer Texte gilt, ist bei der narrativen Inszenierung von Erinnerung ebenso relevant, um eine sogenannte »fiktive Authentizität«39 zu erzielen. Bei der Darstellung von Adoleszenz kann allerdings sowohl der zeitliche Abstand als auch eine gewisse Nähe vom Vorteil sein. Während der historische Abstand ermöglicht, Zusammenhänge und Ereignisse besser einzuordnen, erlaubt die zeitliche Nähe eine stärkere Authentizität.

1.1

Zum Forschungsstand

Zur Darstellung von Adoleszenz in der DDR-Literatur gibt es nur wenige literaturwissenschaftliche Studien. Augenscheinlich hängt dies vor allem damit zusammen, dass im Handlungs- und Symbolsystem der DDR-Literatur sowohl der Adoleszenzroman als auch die literarische Thematisierung von Jugend als Avantgarde keine größere Rolle gespielt hat. Es lässt sich mit Carsten Gansel in Anlehnung an Dieter Schlenstedt diesbezüglich auch von »Blindstellen der literarischen Produktion«40 sprechen.41 Die für die vorliegende Arbeit relevanten Vorarbeiten werden folgend überblicksartig erfasst. Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Arbeit ist das von Carsten Gansel entworfene Modell zur Bestimmung wiederkehrender prozessualer Gestalten, das eine Strukturierung der Entwicklungen der DDR und ihrer Literatur und eine diachrone Kategorisierung von Adoleszenztexten ermöglicht.42 Gansels Konzept ist angelehnt an die 38 Seiler, Lutz: Aurora. Versuch zu einer Antwort auf die Frage, wohin das Gedicht heute unterwegs ist. In: Bucheli, Roman (Hg.): Wohin geht das Gedicht. Göttingen: Wallstein Verlag 2006, S. 82f. 39 Lutz Seiler im Gespräch mit Carsten Gansel in Bansin am 15. 11. 2015. 40 Schlenstedt, Dieter: Literarische Widerspiegelung. Geschichtliche und theoretische Dimensionen eines Problems. 1. Aufl. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1981, S. 181 [Hervorh. im Original]. Den Hinweis verdanke ich Carsten Gansel, vgl. Gansel, Carsten: Stationen der Zerwicklung – Adoleszenzromanen in der DDR. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien 2/ 1994, S. 80–91, hier: S. 81. 41 Wesentliche Gründe für diese Entwicklung werden im Kapitel 4.1 Anmerkungen zum Adoleszenzroman in der DDR skizziert. 42 Vgl. Gansel, Carsten: Von der Einpassung über den Protest zum Ausbruch. Jugendkonfiguration in der DDR vor und nach 1968. In: Boden, Petra/Münz-Koenen, Inge/Rosenberg,

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Einleitung

sogenannte Vorgangsfigur, die Dieter Schlenstedt Ende der 1970er Jahre in die literaturwissenschaftliche Diskussion eingeführt hat, und betont den engen Zusammenhang zwischen gesellschaftspolitischen Modernisierungsfragen und der literarischen Konfiguration von Adoleszenz. Die von Gansel vorgeschlagenen sechs Modelle von Jugendkonfiguration werden für die Analyse fruchtbar gemacht und gegebenenfalls durch neue Jugendkonfigurationsmodelle erweitert. Im Jahr 2017 liefert Florian Urschel-Sochaczewski mit seiner Dissertation zum Thema Der Adoleszenzdiskurs in der DDR eine breit gefächerte Darstellung der gesellschaftspolitischen Hintergründe mit Einblicken in das kulturelle System der DDR.43 Seine Arbeit betont die Bedeutung des Adoleszenzdiskurses im kulturellen Feld der DDR und geht auf die Auswirkungen des Fernsehens und des Spielfilms im Lebensalltag der Heranwachsenden ein. Hinsichtlich des literarischen Feldes lässt sich Folgendes festhalten: Der von Urschel-Sochaczewski selbst formulierte Anspruch, formale und inhaltliche Aspekte bei der Analyse literarischer Texte zu berücksichtigen, um DDR-spezifische Ausprägungen von Adoleszenz in literarischen Texten nachzuweisen, bleibt weithin unerfüllt. Das hängt insbesondere mit der geringen Anzahl der berücksichtigten Texte zusammen. Darüber hinaus liefern die von ihm dargestellten literaturwissenschaftlichen Analysen über Ankunft im Alltag von Brigitte Reimann oder Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf keinen neuen Erkenntnisgewinn, sondern geben erneut bekannte Ergebnisse wieder. Urschel-Sochaczewskis Beobachtung bezüglich der Notwendigkeit einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der Adoleszenzdarstellung in der DDR kann man nur zustimmen. Die vorliegende Arbeit greift die Kategorisierung von DDR-Geschichte und ihrer Literaturentwicklung von Gansel auf und sucht darüber hinaus eine Analyse ausgewählter Texte, die seit etwa 2005 Adoleszenz in der DDR erinnern und erzählen, vorzunehmen.

1.2

Zur Methodik der Arbeit

Die vorliegende literaturwissenschaftliche Untersuchung der Darstellung von DDR-Adoleszenz bezieht bei der narratologischen Analyse auch Erkenntnisse aus angrenzenden Disziplinen ein, die sich ebenfalls mit dem Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter auseinandersetzen. Es wird der Versuch unternommen, das Schnittstellen-Phänomen Adoleszenz umfassend zu betrachten, Rainer (Hg.): Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft – Literatur – Medien. Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 267–290. 43 Urschel-Sochaczewski, Florian: Der Adoleszenzdiskurs in der DDR. Staatliche Programme, Jugendforschung, Lebensalltag, erzählende Künste. Berlin: Weidler Buchverlag 2017.

Zur Methodik der Arbeit

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wobei insbesondere Erkenntnisse aus der Soziologie, der Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie, den Sozial- und Kulturwissenschaften, der Ethnologie und der Neurowissenschaft für die Erfassung literarischer Adoleszenzdarstellungen fruchtbar gemacht werden. Ausgehend von Paul Ricouers Modell der dreifachen Mimesis setzt die narratologische Analyse auf der Ebene der Mimesis II an und untersucht die künstlerischen Verfahren literarischer Darstellung. Bei der Analyse der literarischen Konfiguration geht es um Fragen des Was und Wie des Erzählens, also um Fragen auf der Ebene der histoire und des discours. Nach folgenden Kategorien wird die literarische Inszenierung in den einzelnen Texten überprüft: 1) Der Adoleszenzroman – davon war bereits die Rede – lässt sich als »Gattungs- bzw. Typenbildung auf Grundlage von inhalts- bzw. stoffbezogenen Merkmalen«44 definieren. Davon ausgehend stellt die Analyse erstens heraus, welche stofflich-thematischen Motive in den ausgewählten Texten, die das Erinnern an die Adoleszenz in der DDR zum Gegenstand machen, aufgenommen werden und auf welche Weise sie literarisch konfiguriert werden. Die Identitätsfindung der adoleszenten Protagonisten, die intergenerationellen Beziehungen sowie der daraus resultierende Hegemoniekampf stehen im Zentrum der Analysen. Darüber hinaus rücken die Beziehungen der Figuren zu Gleichaltrigen in den Fokus der Betrachtung.45 Unterschiedliche Formen der adoleszenten Selbsterprobung und die damit einhergehenden Grenzüberschreitungen sind ein weiteres Kennzeichen von Adoleszenz, das in den Analysen berücksichtigt wird. Außerdem wird überprüft, wie der Prozess der sexuellen Initiation literarisch konfiguriert wird und als eine wichtige Facette der adoleszenten Individuation präsentiert wird. 2) Die Arbeit von Anna Stemmann Räume der Adoleszenz aufgreifend, wird zweitens der Frage nachgegangen, wie die Topographien, Raumordnungen und die Semantisierung des Raumes in den literarischen Konfigurationen von Adoleszenz funktionalisiert werden.46 Es wird untersucht, ob die diegetischen Räume symbolisch aufgeladen sind. Auch gilt es zu überprüfen, inwiefern die erzählten Räume kulturell semantisiert sind. Schließlich wird überprüft, ob in der räumlichen Figuration Oppositionen bestehen, die einen handlungskonstituierenden Charakter für die adoleszenten Figuren aufweisen. Daraus ergibt sich die Fragestellung, ob die Bewegungen der adoleszenten Figuren im erzählten Raum mit Entwicklungsprozessen, die zum Beispiel mit der Identitätsfindung und dem Ablösungsprozess von den Eltern verknüpft sind, korrelieren. Diesbezüglich 44 Gansel, Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance. 2011, S. 26. 45 Vgl. Kapitel zu Das Mädchen von Angelika Klüssendorf, Nilowsky von Torsten Schulz, Schneckenmühle von Jochen Schmidt und 1988. Wilde Jugend von Nadja Klier. 46 Vgl. Stemmann, Anna: Räume der Adoleszenz. Deutschsprachige Jugendliteratur der Gegenwart in topographischer Perspektive. Stuttgart: J. B. Metzler 2019, S. 4.

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wird auf das in der Adoleszenzliteratur häufig anzutreffende Reisemotiv im Rahmen der Analyse eingegangen.47 3) Die Analyse der stofflich-thematischen Adoleszenz-Motive sowie der diegetischen Räume wird drittens um Aspekte der Figurenkonzeption, der Struktur der Handlung und des Spannungsaufbaus ergänzt. Erkenntnisse aus der Jugendforschung und aus der literaturwissenschaftlichen Adoleszenzforschung werden herangezogen und für die Analyse der adoleszenten Figuren fruchtbar gemacht. Hierbei wird insbesondere untersucht, wie Ausprägungen der Adoleszenz anhand der Figurenkonstellationen dargestellt werden. Nach Manfred Pfister lässt sich »die Struktur des Figurenensembles als ein System von Korrespondenz- und Kontrastrelationen«48 verstehen. Er schreibt jeder einzelnen Figur »eine für sie charakteristische Kombination von Differenzmerkmalen«49 zu. Diese Überlegungen aufgreifend, widmet sich die vorliegende Arbeit weiterhin der Frage, welche Funktionen den Figuren im Handlungsschema zukommen. Hinsichtlich der Adoleszenz etwa ist denkbar, dass figurale Oppositionen die Funktion haben, intergenerationelle Konflikte und mit der Adoleszenz verbundene Abgrenzungsprozesse der Adoleszenten vom Elternhaus darzustellen, wodurch diese einen handlungskonstituierenden Charakter bekommen. Darüber hinaus wird nachvollzogen, ob durch die Korrespondenzpaare die Bedeutung der Beziehungen von Adoleszenten zu Gleichaltrigen literarisch konfiguriert wird. Kennzeichnend für den Adoleszenzroman ist insbesondere der Einsatz von Figuren, die als Individuen konzipiert sind.50 Daran anknüpfend wird untersucht, auf welche Weise mittels der Figurenkonzeption Aspekte der Identitätsfindung dargestellt werden. Ebenso charakteristisch für die adoleszenten Protagonisten ist die Verkörperung avantgardistischer Haltungen, die in der Regel mit unterschiedlichen Formen der Störung verknüpft sind.51 Diesbezüglich gilt es zu überprüfen, wie die Handlungsstruktur durch die

47 Vgl. Kapitel zu Die Reise nach Jaroslaw von Rolf Schneider, Trampen nach Norden von Gerhard Holtz-Baumert und Skizze eines Sommers von André Kubiczek. 48 Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Aufl. München: Wilhelm Fink Verlag 2001, S. 225. 49 Ebd. 50 Vgl. Gansel, Carsten: Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung: Forschungsbericht. Zeitschrift für Germanistik 14, H. 1/2004, S. 130– 149, hier: S. 141. 51 Zur Bedeutung der Adoleszenz für die Entstehung neuer Kulturformen und zur Funktion der Adoleszenz in sogenannten heißen Kulturen vgl. Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsycholoanalytischen Prozeß. Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1984, S. 276; Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman. Zwischen Moderne und Postmoderne. In: Lange, Günter (Hg.): Taschenbuch der Kinder und Jugendliteratur. Grundlagen. Gattungen. Bd. 1, Hohengehren 2000, S. 359–398, hier: S. 363.

Zum Textkorpus

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Konzeption der Protagonisten als Figuren der Störung52 oder Figuren der Abweichung53 konditioniert wird. 4) Neben den Aspekten, die die Ebene der histoire betreffen, gilt es viertens zu klären, mit welchen literarischen Strategien es den Autoren gelingt, die für die Adoleszenzinszenierung unabdingbare Innenweltdarstellung der Figuren bzw. der Erzähler zu gestalten; es betrifft dies die Ebene des discours. Leitend für die Analyse sind hier unter anderem folgende Fragen bezüglich der erzählerischen Vermittlung: Welche Erzählertypen und welche erzählerischen Perspektivierungsstrategien, die die komplexen Adoleszenzprozesse vermitteln und die Adoleszenzfiguren in ihrer Eigenartigkeit für den Rezipienten sichtbar und erfassbar machen, werden von den Autoren priorisiert? 5) Da die Adoleszenz auch als eine »zweite Chance«54 gilt und durch das »Prinzip der Nachträglichkeit«55 geprägt ist, gilt es fünftens zu überprüfen, ob die Autoren Strategien wie die Anwendung unterschiedlicher Erzählebenen oder den Einsatz von Analepsen nutzen, um Vergangenheit zu reflektieren und diese nachträglich in den für die Adoleszenz kennzeichnenden Identitätsfindungsprozess zu integrieren. Bei den aufgeführten Aspekten handelt es sich lediglich um eine Auswahl der zentralen Analysekategorien, die nicht hierarchisch geordnet sind, sondern sich wechselseitig bedingen und ergänzen.

1.3

Zum Textkorpus

Das Korpus umfasst Adoleszenzromane der Gegenwartsliteratur, die in den letzten fünfzehn Jahren erschienen sind und vielfältige narrative Inszenierungen von DDR-Erinnerung präsentieren. Es handelt sich hierbei um Texte, die sich als fictions of memory bestimmen lassen und unter Bezug auf Birgit Neumann als 52 Gansel, Carsten: Zur ›Kategorie Störung‹ – Theorie und Praxis. In: Ders. (Hg.): Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Berlin/Boston: de Gruyter 2020, S. 29–47, hier S. 37. Hierzu vgl. auch Gansel, Carsten/Ächtler, Norman: Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin: de Gruyter 2013, S. 7–13, hier: S. 12; Gansel, Carsten: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur. In: Ders. /Zimniak, Pawel (Hg.): Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 15–48, hier: S. 40ff. 53 Stemmann, Räume der Adoleszenz. 2019, S. 5. 54 Erdheim, Mario: Die Veränderung der bedeutungsgebenden Struktur durch Adoleszenz und Therapie. In: Psychotherapie 7. Jahrg., Bd. 7, H. 1/2002, S. 88–91, hier: S. 89. 55 Erdheim, Mario: Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. In: Bohleber, Werner (Hg.): Adoleszenz und Identität. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1996, S. 83– 102, hier: S. 94.

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Einleitung

Gedächtnisromane bezeichnet werden können.56 Sämtliche Texte weisen autobiographische Bezüge auf, die jedoch in der folgenden Untersuchung eine untergeordnete Rolle spielen, da die Texte nur hinsichtlich ihrer Konfiguration von Adoleszenz berücksichtigt werden. Es handelt sich ausschließlich um Texte, die als Nach-Wende-Narrationen mit einem zeitlichen Abstand zur Wende entstanden sind. Ausgewählt werden ausschließlich Texte von Autorinnen und Autoren, die ihre Kindheit und Jugend in der DDR verbracht haben. Hinzu werden Texte von Autorinnen und Autoren berücksichtigt, die sowohl in der DDR geblieben sind (Torsten Schulz, Jochen Schmidt, Uwe Kolbe, André Kubizcek) als auch die DDR verlassen haben (Jürgen Landt, Angelika Klüssendorf, Nadja Klier). Ausgehend von Überlegungen zur Abgrenzung von Generationen und dem Konzept des Generationen-Gedächtnisses, lässt sich die Frage anschließen, ob sich generationsspezifische Merkmale in der Konfiguration von Erinnerung an die DDR ergeben.57 Aus diesem Grund stammen die ausgewählten Texte von Autoren aus zwei Generationen: Zum einen aus der sogenannten Integrierten Generation und zum anderen aus der Entgrenzten Generation.58 56 Unter fictions of memory werden in der Forschung Erzähltexte bezeichnet, in denen das Erinnern eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Figur oder der Gruppe spielt. Vgl. Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 137. Unter Bezug auf Neumann führte Carsten Gansel den Begriff der fictions of memory mit ihren Gattungskategorien des Gedächtnisromans und des Erinnerungsromans in die deutsche Diskussion ein und hat ihn in zahlreichen Beiträgen modifiziert und fruchtbar gemacht. Vgl. Gansel, Rhetorik der Erinnerung, S. 27ff. 57 Gansel verweist zutreffend auf die Bedeutung generationsspezifischer Schlüsselerfahrungen, Werte und Vergangenheits- sowie Zukunftsreferenzen, die nach 1989 für die Konfiguration von Erinnerungen an die DDR besonders relevant sind: »Für Literatur, die – sagen wir – nach 1989 entstanden ist, wird man annehmen können, daß vor allem jene Signaturen von Wirklichkeit in das Blickfeld der Autorinnen und Autoren geraten, die generationsspezifisch an bestimmte Schlüsselerfahrungen gebunden […] sind.« Gansel, Carsten: Von Versuchen, Kindheit und Jugend zu erinnern. In: Ders./Ächtler/Kümmerling-Meibauer, Erzählen über Kindheit und Jugend. 2019, S. 87–117, hier: S. 100. 58 Die sozialwissenschaftliche und historische DDR-Forschung hat mit einer generationengeschichtlichen Perspektive unterschiedliche Generationenmodelle entwickelt. Der Soziologe Bernd Lindner präsentiert ein Generationenmodell mit vier Generationen: die Aufbau- und Aufstiegsgeneration (zwischen 1930 und 1949 geboren), die Generation der stabilen Bindung (zwischen 1950 und 1960 geboren), die Generation der Nicht-Mehr-Eingestiegenen (zwischen 1961 und 1975 geboren) und die Generation der Unberatenen (nach 1975 geboren). Vgl. Lindner, Bernd: Sozialisation und politische Kultur junger Ostdeutscher vor und nach der Wende – ein generationsspezifisches Analysemodell. In: Schlegel, Uta/Förster, Peter (Hg.): Ostdeutsche Jugendliche. Vom DDR-Bürger zum Bundesbürger. Opladen: Leske + Budrich 1997, S. 23–37. Eine weitere Generationsbestimmung für die DDR wurde von Thomas Ahbe und Rainer Gries vorgenommen. Ahbe und Gries unterscheiden in ihrem Generationenmodell sechs Generationen: Die Generation der Misstrauischen Patriarchen (zwischen 1883 und 1916 geboren), die Aufbau-Generation (zwischen 1925 und 1935 geboren), die Funktionierende Generation (zwischen 1936 und 1948 geboren), die Integrierte Generation (zwischen 1949 und 1959 geboren), die Entgrenzte Generation (zwischen 1960 und 1972

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Ergänzend werden in einem Exkurs Texte von Autoren aus der sogenannten Aufbau-Generation und der sogenannten Funktionierenden Generation untersucht, die nur zum Teil in der DDR publiziert worden sind.59 Exemplarisch für die Aufbau-Generation werden zwei kanonisierte Texte der DDR-Literatur, darunter die Die Reise nach Jaroslaw (1974) von Rolf Schneider und Trampen nach Norden (1975) von Gerhard Holtz-Baumert, untersucht. Exemplarisch für die Funktionierende Generation steht ein erfolgreicher Text, der als Referenztext für eine ganze Generation gilt und bei dem der Generationskonflikt und die rebellische Haltung der Heranwachsenden in den Fokus rücken: Vor den Vätern sterben die Söhne von Thomas Brasch (1977). Die Analyse der acht Romane stellt verschiedene Adoleszenzmuster heraus, wobei sich folgende Cluster ergeben: Erstens wird eine Gruppe von Texten untersucht, bei denen eine traumatisierte Adoleszenz Gegenstand der literarischen Darstellung ist: Jürgen Landts Der Sonnenküsser (2007), Angelika Klüssendorfs Das Mädchen (2011) und April (2014). Zweitens werden Texte untersucht, bei denen Adoleszenzprozesse nicht traumatisch, sondern ›normal‹ verlaufen: Jochen Schmidt: Schneckenmühle (2013) und André Kubiczek: Skizze eines Sommers (2016). Drittens zeichnet sich folgendes Cluster ab: Es geht um Texte, die sowohl Aspekte einer unauffälligen normalen Adoleszenz als auch Momente einer traumatisierten Adoleszenz literarisch konfigurieren, etwa Torsten Schulz’ Nilowsky (2013) und Nadja Kliers 1988. Wilde Jugend (2019). Eine Sonderstellung nimmt der Roman Die Lüge (2014) von Uwe Kolbe ein, da er sich den bisher skizzierten Adoleszenzmustern entzieht und Einblicke in eine Subkultur gibt, nämlich diejenige des Prenzlauer Bergs. Ebenso nimmt das Werk von Angelika Klüssendorf eine Sonderstellung ein, weil es sich bei den zwei untersuchten Romanen – es geht um Das Mädchen und um April – um Teile einer Trilogie handelt und die Protagonistin in unterschiedlichen Phasen ihrer adoleszenten Entwicklung erfasst wird. Grundsätzlich stehen in der Analyse Texte im Zentrum, bei denen Formen sowohl der weiblichen als auch der männlichen Adoleszenz Gegenstand der literarischen Darstellung sind.

geboren) und die Generation der Wende-Kinder (zwischen 1973 und 1984 geboren). Vgl. Ahbe, Thomas/Gries, Rainer: Geschichte der Generationen in der DDR und in Ostdeutschland. Ein Panorama. Hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, 3. Aufl: Erfurt 2011. 59 Vgl. ebd.

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1.4

Einleitung

Zum Aufbau der Arbeit

Zu Beginn der theoretischen Ausführungen werden die sozialen und kulturellen Veränderungen der Adoleszenzphase wie auch der Adoleszenzforschung in den letzten fünfzig Jahren untersucht. Angelehnt an einschlägigen Theorien von Erik H. Erikson, Helmut Remschmidt, Vera King, Gudrun Quenzel und Klaus Hurrelmann erfolgt im zweiten Kapitel zunächst die Bestimmung des Begriffs der Adoleszenz und ihrer Entwicklungsdimensionen.60 Darauf aufbauend wird die Bedeutung der Adoleszenzphase für die Entwicklung des Individuums sowie den kulturellen und gesellschaftlichen Wandel herausgearbeitet. Dabei wird auf das von Robert J. Havighurst entwickelte Konzept der Entwicklungsaufgaben, den [ethno]psychoanalytischen Ansatz Mario Erdheims sowie auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen.61 Zudem wird erfasst, welche Rolle neurophysiologische Entwicklungen zur Erklärung adoleszenzspezifischer Handlungswiesen spielen und wie adoleszentes Verhalten zur Entwicklung sogenannter heißer Gesellschaften beiträgt. Anschließend wird das Phänomen der Adoleszenz mit der Kategorie der Störung in Verbindung gebracht. Es wird argumentiert, dass die Adoleszenz ein immanentes Moment der Störung darstellt bzw. als Initiator für die Entstehung neuer Ordnungen wirkt und kulturelle wie gesellschaftliche Evolutionsprozesse in Gang setzt. Als Grundlage dient dabei die Bestimmung von Adoleszenz nach Vera King als Phase der Entstehung von Neuem und das von Carsten Gansel entworfene Modell der Störung mit ihren unterschiedlichen Formen, Topizitäten und Intensitätsgraden. Angelehnt an dieses Modell wird im analytischen Teil der Dissertation, im vierten und fünften Kapitel, überprüft, inwiefern sich adoleszente Figuren als Figuren der Störung bzw. als Figuren der Abweichung kategorisieren lassen und adoleszente Zwi-

60 Vgl. Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1973; Remschmidt, Helmut: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter. 1. Aufl. Stuttgart/New York: Georg Thieme Verlag 1992; King, Vera: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz: Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: Springer VS 2013; Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim/Basel: Juventa Verlag 2012. 61 Vgl. Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984; Erdheim, Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. 1996; Erdheim, Mario: Adoleszenzkrise und institutionelle Systeme. Kulturtheoretische Überlegungen. In: Apsel, Roland/Rost, Wolf-Detlef: Ethnopsychoanalyse. Bd. 5: Jugend und Kulturwandel. Frankfurt/Main: Brandes/Apsel 1998, S. 9–30; Konrad, Kerstin/Firk, Christine/Uhlhaas, Peter: Hirnentwicklung in der Adoleszenz. Neurowissenschaftliche Befunde zum Verständnis dieser Entwicklungsphase. Deutsches Ärzteblatt 2013, 110 (25)/2013, S. 425–431.

Zum Aufbau der Arbeit

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schenräume als Formen der Störung in literarischen Texten semantisiert werden.62 Da literarische Texte in politisch-historische und sozio-kulturelle Kontexte eingebettet sind und diese wiederum zu ihrem Gegenstand machen, werden im dritten Kapitel die gesellschaftspolitischen und kulturellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer wesentliche Adoleszenzprozesse in der DDR stattgefunden haben, skizziert. Hierbei finden insbesondere die primären, sekundären und tertiären Sozialisationsinstanzen sowie das in der DDR institutionalisierte Ritualisierungsmoment der Jugendweihe in ihrer Funktion als rites de passages Berücksichtigung.63 Der für die Adoleszenz entscheidende Einfluss der Jugendkultur wird ausführlich thematisiert. In diesem Zusammenhang werden auch Entwicklungstendenzen in den 40 Jahren der DDR nachgezeichnet und die DDR-spezifischen Merkmale herausgearbeitet. Im vierten Kapitel wird ein Überblick über die Entwicklung der Gattung des Adoleszenzsromans gegeben. Die von Carsten Gansel und Heinrich Kaulen entwickelte dreigliedrige Typologie der Gattung mit den Ausprägungen des klassischen, modernen und postmodernen Adoleszenzromans wird für die Analyse fruchtbar gemacht. Der Adoleszenzroman in der DDR nimmt hier eine Sonderstellung ein. Ausgehend von Gansels Typologie von Jugendkonfigurationen werden zentrale Entwicklungslinien in der Darstellung von Adoleszenz innerhalb der DDR-Literatur herausgearbeitet. Im Rahmen eines Exkurses werden einzelne Jugendkonfigurationsmodelle diskutiert, die in den 1970er Jahren entstanden sind und bis jetzt hinsichtlich der Frage der Adoleszenz in der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht ausreichend berücksichtigt wurden, etwa Die Reise nach Jaroslaw (1974) von Rolf Schneider, Trampen nach Norden (1975) von Gerhard Holtz-Baumert und Vor den Vätern sterben die Söhne (1977) von Thomas Brasch. Zu Beginn der 1970er Jahre ist eine zunehmende Distanzierung und politische Entfremdung der neuen Generationen zu beobachten. In diesem Kontext wird nachvollzogen, inwiefern literarische Texte solche intergenerationellen Konflikte verhandeln.

62 Anna Stemmann weist in Anlehnung an van Genneps Modell der Übergangsriten auf die Bedeutung von »topographischen Schwellengänge[n]« und »Zwischenräume[n] des Erprobens« für die Darstellung von Adoleszenz hin. Stemmann, Räume der Adoleszenz. 2019, S. 4. 63 Der Ethnologe Arnold van Gennep geht davon aus, dass das Leben einer Einzelperson in verschiedenen Etappen verläuft, die durch Übergänge miteinander verbunden sind. Durch sogenannte rites de passages, also durch Übergangsriten, werden Statusänderungen wie Geburt, Pubertät, u. a. markiert. Vgl. Van Gennep, Arnold: Übergangsriten. Les rites de passage. 3., erweiterte Aufl. Frankfurt/Main [u. a.]: Campus Verlag 2005, S. 21. Carsten Gansel verweist auf die Bedeutung des von van Gennep aufgestellten Schemas der rites de passages für die Bestimmung der Adoleszenz. Vgl. Gansel, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung. 2011, S. 27.

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Einleitung

Im fünften Kapitel, dem Hauptkapitel, erfolgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit ausgewählten Texten der Gegenwartsliteratur, die Erinnerungen an Kindheit und Adoleszenz in der DDR inszenieren. Die einzelnen nach Romanen unterteilten Kapitel berücksichtigen poetologische Fragen und stofflich-thematische Aspekte der Adoleszenz. Jedes Kapitel widmet sich einem ausgewählten Adoleszenzroman, wobei sich die Analyse an den jeweils dominierenden textspezifischen Besonderheiten orientiert. Dabei werden klassische Themen der Adoleszenz wie die Loslösung von den Eltern, die Entdeckung der Sexualität, die Freundschaftsbeziehungen und die ersten Liebesabenteuer in den Blick genommen. Zum Ende der Untersuchung der einzelnen Texte erfolgt jeweils eine Zusammenfassung der spezifischen Besonderheiten des jeweiligen Textes. Es gilt aufzuzeigen, dass die Bandbreite an Figurationen von Adoleszenz, die in den ausgewählten Texten aufzufinden ist, der Annahme widerspricht, dass DDR-Adoleszenzen linienförmig und wenig unterscheidbar inszeniert werden – sie sind vielmehr ein Beleg für die Heterogenität und Pluralität jugendlicher Lebensformen der DDR-Gesellschaft.

2

Zur Adoleszenz

Im folgenden Teil der Arbeit erfolgt im Sinne einer Einführung eine Auseinandersetzung mit dem sogenannten Schnittstellen-Phänomen der Adoleszenz. Im Anschluss daran geht es um die unterschiedlichen Entwicklungsdimensionen von Adoleszenz. Außerdem wird erörtert, zu welchen Wechselwirkungen es zwischen Adoleszenten und der Gesellschaft, in der sie leben, kommen kann.

2.1

Zur Begriffsbestimmung von Adoleszenz

Die Adoleszenz ist eine lebensgeschichtliche Phase, »die den ›Abschied von der Kindheit‹ und den Eintritt in das Erwachsenenalter bezeichnet«64. Für Remschmidt stellt die Adoleszenz eine Übergangsphase dar, bei der unterschiedliche körperliche, psychische und soziale Prozesse zusammenwirken.65 Angesichts verschiedener Prozesse unterscheidet Remschmidt zwischen der Pubertät und der Adoleszenz. Pubertät »umschreibt […] die biologischen und physiologischen Veränderungen, die mit der körperlichen und sexuellen Reifung verbunden sind«66. Dabei umfasst die Adoleszenz eher die psychologische Bewältigung des angesprochenen biologischen und physiologischen Wandels sowie »the adjustment of the child′s personality to puberty«67. Demzufolge stellt die Pubertät den Beginn der Adoleszenz dar, zumal die somatischen Reifungsprozesse die weiteren psychologischen und psychosozialen Vorgänge initiieren. Soziologisch gesehen bildet die Adoleszenz ein Zwischenstadium, in dem die Heranwachsenden ihre biologische Geschlechtsreife erzielen, allerdings sind sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Besitz der allgemeinen Rechte und Pflichten, die mit 64 65 66 67

Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 167. Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 1. Ebd., S. 2. Bernfeld, Siegfried: Types of adolescence (1938). In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd 1. Theorie des Jugendalters. Hrsg. von U. Herrmann. Gießen: Psychosozial Verlag 2010, S. 257–267, hier: S. 257.

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Zur Adoleszenz

Heirat und Berufsfindung verbunden sind, um an wichtigen gesellschaftlichen Grundprozessen verantwortlich teilnehmen zu können.68 In zeitlicher Hinsicht umfasst die Adoleszenz die Altersphase zwischen dem 11./12. und dem 24./ 25. Lebensjahr. Hierbei lässt sich der Beginn mit dem Eintritt der Menarche und der ersten Ejakulation und den damit zusammenhängenden somatischen Veränderungen auf einer biologischen Ebene präzis feststellen, so Remschmidt. Das Ende dieser Lebensphase ist jedoch durch ihre Variabilität gekennzeichnet und ist von unterschiedlichen gesellschaftlichen Faktoren abhängig. Aktuelle Ausprägungen der Adoleszenzentwicklung zeigen, dass der Status der ökonomischen Selbstversorgung, die erst mit einem Vollerwerbstatus möglich ist, aufgrund längerer Ausbildungsprozesse deutlich verzögert eintritt. Hinzu kommt der Aufschub oder sogar die Aufhebung des Übergangs in die biologisch reproduktive Familienrolle, die durch die unsichere berufliche Situation konditioniert ist oder durch ein anderes Verständnis von Partnerschaft.69 Zwar erlangen junge Menschen zwischen 20 und 35 Jahren »eine politische, kulturelle, partiell soziale Selbstständigkeit«70, jedoch ohne genügende Ressourcen für eine Lebenssicherung vorweisen zu können. Aufgrund der Retardation des Berufseintritts und des Heiratsalters ist es in modernen Gesellschaften schwierig geworden, eine feste Altersgrenze für das Ende der Adoleszenz zu bestimmen.71 Angelehnt an die Theorie von Vera King spricht Carsten Gansel bezüglich der Adoleszenz von einer »Neuprogrammierung der physiologischen, psychologischen und psychosozialen Systeme«72, weist unter Berufung auf Remschmidt auf die unterschiedlichen Ebenen der Adoleszenz hin und unterstreicht die Notwendigkeit einer transdisziplinären Betrachtung, um ihre Komplexität differenziert erforschen zu können. Neben den körperlichen Veränderungen erscheinen viele psychische und psychosoziale Probleme, die erstens mit der Wandlung der Vorstellung des eigenen Körpers, zweitens mit der Suche nach Identität und einer damit verbundenen sozialen Rolle, drittens mit der Entwicklung eines eigenen Werte- und Normensystems und viertens mit der Übernahme einer selbst definierten Geschlechts- und Berufsrolle zu tun haben. Hierbei spielen medizinische, anthropologische, soziologische, psychologische, [ethno]psychoanalytische, entwicklungstheoretische, pädagogische, kulturwissenschaftliche sowie generations- und genderspezifische Aspekte eine wichtige Rolle.73 68 69 70 71 72 73

Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 3. Vgl. Gansel, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung. 2011, S. 31. Ebd. Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 3f. Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 167. Vgl. Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. 2004, S. 130f.

Zur Begriffsbestimmung von Adoleszenz

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Aus psychoanalytischer Sicht werden in der Adoleszenz Phasen unterschieden, in denen verschiedene Entwicklungsaufgaben im Vordergrund stehen. Das von Peter Blos in den 1970er Jahren entwickelte Modell besitzt trotz aller gesellschaftlicher Veränderungen weiterhin Gültigkeit, so Werner Bohleber.74 In der sogenannten Präadoleszenz beginnen die hormonellen Veränderungen, »das Wachstum der Fortpflanzungsorgane sowie die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale«75. Der Heranwachsende setzt sich psychisch vor allem mit der Verarbeitung der somatischen Veränderungen auseinander. In einer zweiten Phase, in der sogenannten Frühadoleszenz, versucht der Adoleszent seinen sexuell funktionsfähigen Körper ins Selbstbild zu integrieren und sucht nach Befriedigungsmöglichkeiten für seine sexuellen Triebwünsche. In der mittleren Adoleszenz versucht der Heranwachsende eine Akzeptanz für seinen sexuell reifen Körper zu entwickeln und übernimmt hierfür die Verantwortung. In dieser Phase erfolgt eine Ablösung der elterlichen Abhängigkeitsbindungen, die zugleich mit einer Entidealisierung der Eltern einhergeht. Der Heranwachsende entwickelt erste Ansätze einer eigenen Identität, wobei insbesondere die gleichaltrigen Beziehungen, also die Peergroups, unterstützend und bestätigend wirken. Bei der Gestaltung der sexuellen Beziehungen kommt eine stark ausgeprägte narzisstische Haltung zum Vorschein. Bedingt durch die stattfindenden komplexen psychosozialen Veränderungen ist diese Lebensphase geprägt von großer Unsicherheit und starken Stimmungsschwankungen, die direkt mit der Unabgeschlossenheit des Identitätsprozesses zusammenhängen.76 In der vierten Phase, der sogenannten Spätadoleszenz, findet ein Konsolidierungs- und Integrationsprozess statt, der zu einer gewissen Autonomie des Adoleszenten führt. Dem Heranwachsenden gelingt es, zum einen seine sexuellen Triebwünsche zu stabilisieren. Zum anderen ist er in der Lage, unterschiedliche Identifizierungsmodelle in Übereinstimmung zu bringen und aus ihnen eine Ich-Identität zu entwickeln. In der sogenannten Postadoleszenz werden seelische Integrationsprozesse erfolgreich konsolidiert, die eine kohärente Persönlichkeitsentwicklung zur Folge haben. Nach der Konsolidierung seiner sozialen Rolle sucht der junge Erwachsene »seine Triebwünsche in Objektbeziehungen«77 zu verwirklichen und ist darauf bedacht, seine persönlichen Interessen in seinem familialen, sozialen und beruflichen Umfeld bewusst zu vertreten.78

74 Vgl. Bohleber, Werner: Grundzüge adoleszenter Entwicklung: Psychoanalytische Perspektiven. In: Uhlhaas, Das adoleszente Gehirn. 2011, S. 61–74, hier: S. 62f. 75 Ebd. 76 Vgl. ebd., S. 63. 77 Ebd. 78 Vgl. ebd.

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Zur Adoleszenz

Anfang des 20. Jahrhunderts stand »die Neuordnung der sexuellen Triebkomponenten«79 im Zentrum der psychoanalytischen Adoleszenzforschung. Für Freud ist die ansteigende libidinös-genitale Triebstärke der Adoleszenten verantwortlich für die Loslösung von den elterlichen Objekten. Diese Loslösung ist im Freudschen Sinne zugleich eine Emanzipation gegenüber der Autorität der Eltern und eine unabdingbare Voraussetzung für den Kulturfortschritt, so Bohleber.80 Erst mit dem Ansatz von Erik H. Erikson ab Ende der 1950er Jahre erfolgt ein Perspektivenwechsel in der psychoanalytischen Adoleszenzforschung, durch den die Bedeutung der Triebkonflikte relativiert wird und der Fokus auf »die Auseinandersetzungen des Adoleszenten mit gesellschaftlichen Strukturen, die Entwicklung ermöglichen und fördern«81, gerichtet wird. Für Erikson stellt die Adoleszenz ein »psychosoziales Moratorium«82 dar, in dem das Ich schrittweise darauf hinarbeitet, »durch freies Rollen-Experimentieren sich in irgendeinem der Sektoren der Gesellschaft seinen Platz [zu] such[en]«83, und versucht »die soziale Welt und die eigenen psychosexuellen und psychosozialen Erfahrungen in seine Identität«84 zu integrieren. Nach Erikson übernimmt die Interaktion mit der sozialen Welt für die Identitätsbildung des Heranwachsenden eine wesentliche Funktion. Erikson spricht von einer Antwort der sozialen Welt, mit der dem Jugendlichen »Funktion und Stand zuerkannt werden«85. Diese Anerkennung stellt nach Erikson eine unbedingt notwendige Stütze bei den adoleszenzspezifischen Aufgaben dar. Angelehnt an Erikson betont Bohleber die affirmative Funktion der sozialen Realität für die Entwicklung des Heranwachsenden bzw. für die Entstehung des Gefühls einer inneren und sozialen Kontinuität.86 Seit Mitte der 1980er Jahre werden in der psychoanalytischen Theorieentwicklung Ergebnisse aus verwandten Disziplinen wie der Säuglings- und Kleinkindforschung, der Lebenszyklusforschung sowie der Bindungsforschung berücksichtigt, welche die klassischen Entwicklungsmodelle der Psychoanalyse in Frage stellen. Die Adoleszenzforschung wird durch die neue Ausrichtung der psychoanalytischen Theorieentwicklung stark beeinflusst; lange Zeit etablierte Positionen werden entweder in Frage gestellt oder deutlich relativiert, so Bohleber. Entgegen der traditionellen Annahme, dass »der einsetzende sexuelle

79 80 81 82 83 84 85 86

Ebd., S. 64. Vgl. ebd. Ebd., S. 65. Erikson, Identität. 1973, S. 137 [Hervorh. im Original]. Ebd. Bohleber, Grundzüge. 2011, S. 65. Erikson, Identität. 1973, S. 138. Vgl. Bohleber, Grundzüge. 2011, S. 65.

Zur Begriffsbestimmung von Adoleszenz

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Triebschub und die dadurch wiederbelebten inzestuösen Wünsche«87 die Ablösung von den Eltern verursachen,plädiert man heute für eine komplexere Betrachtung, in der die somatischen Veränderungen, die Veränderungen in den sozial kognitiven Fähigkeiten, die seelischen Wandlungen und die Umgestaltung der Bindungsbeziehungen zwischen Eltern und Heranwachsenden als parallel stattfindende Prozesse wahrgenommen werden, die auf verschiedene Weise in Interaktion treten und über einen längeren Zeitraum zusammenwirken. Im Zuge dieses Paradigmenwechsels verliert der pubertäre Triebschub an Bedeutung, stattdessen bestimmt die Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten zunehmend den Blick auf die adoleszente Entwicklung, um den Ablösungsprozess von den Eltern zu erklären. Nach dem Piaget-Modell erwerben Jugendliche ab dem 11. Lebensjahr die höchste Form des logischen Denkens, das heißt die Fähigkeit, formal-operativ zu denken oder »die Fähigkeit zum hypothetischen und zum deduktiven Denken«88. Dadurch eröffnen sich für die Adoleszenten neue Wege zur Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen Objekten. Heranwachsende sind dann in der Lage, Denkoperationen im abstrakten Bereich durchzuführen, die ihnen unter anderem den Entwurf von Zukunftsszenarien, die Übernahme fremder Perspektiven sowie ihre eigene Selbstbeobachtung und einen damit verbundenen auswertenden Reflexionsprozess ermöglichen. Durch die Fähigkeit des abstrakten Denkens ist also der Heranwachsende in der Lage, seine eigenen Gefühle sowie fremde Gefühle wahrzunehmen und kann sich gegebenenfalls bewusst von ihnen distanzieren. Gleichzeitig kann das eigene Denken und Handeln einer gedanklichen Betrachtung unterzogen werden. Die neu gewonnenen »reflexiven Fähigkeiten ermöglichen [zudem] eine Dezentrierung des adoleszenten Selbst aus den Beziehungen zu vertrauten Personen und deren inneren Repräsentanzen«89. Der Jugendliche ist nun also in der Lage, sich als eigenständige Persönlichkeit im Kontext seines familiären Umfelds zu reflektieren und sich gegebenenfalls auch gegen bestehende Strukturen abzugrenzen. Diese Dezentrierung des Selbst ist entscheidend für die Auseinandersetzung des Adoleszenten mit seiner eigenen Kindheit, denn durch sie kann er in einem abstrakten Vorgang seine eigene Vergangenheit zum Objekt der Reflexion machen, mithin gelingt dem Adoleszenten eine Neugestaltung seines eigenen Selbstbildes, indem er seine Kindheitserinnerungen aus der Sicht eines Heranwachsenden rekonstruiert und sie sich aktiv aneignet. Unter Bezugnahme der Freudschen Kategorie der Nachträglichkeit weist Bohleber auf den komplexen 87 Ebd., S. 66. 88 Piaget, Jean: Intelligenz und Affektivität in der Entwicklung des Kindes. Herausgegeben und übersetzt von Aloys Leber. 1. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 122; vgl. auch Mietzel, Gerd: Wege in die Entwicklungspsychologie. Kindheit und Jugend. Weinheim: Beltz 2002, S. 328. 89 Bohleber, Grundzüge. 2011, S. 67.

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Zur Adoleszenz

Umarbeitungsprozess hin, in dem die Kindheit bzw. die Kindheitserinnerungen situativ, also »im Lichte der pubertären Sexualität neu gelesen«90 und unter dem Einfluss der Adoleszenz neu konstituiert werden. In diesem Sinne äußert sich auch Mario Erdheim, wenn er in Anlehnung an Kurt Robert Eissler von der Adoleszenz als »zweite[r] Chance«91 des Individuums spricht und Adoleszenz als Erfahrung betrachtet, »die ein neues Verständnis des Erinnerten gestattet«92 und die so dem Subjekt durch die Akkumulation neuer Erfahrungen »eine Neubewertung seiner Vergangenheit«93 ermöglicht. Demzufolge kann der Adoleszenz eine »problemlösende[] Kapazität [zugesprochen werden], die sich aus der in dieser Lebensphase stattfindenden Neustrukturierung der Sexualität, der Aggression und der Omnipotenzphantasien ergibt«94. Des Weiteren hat die im Zuge der Adoleszenz eintretende Erweiterung der kognitiven Kompetenz einen entscheidenden Einfluss bei der Gestaltung der Bindung zu vertrauten Personen. Insbesondere der Restrukturierung familiärer Bindungen während der Adoleszenz kommt eine richtungsweisende Rolle im Kontext des Individuationsprozesses zu, auf die später bei der Darstellung der Entwicklungsdimensionen der Adoleszenz noch einzugehen sein wird.95 Der Eintritt aus der Adoleszenz ins Erwachsenenalter ist aus Sicht der Entwicklungspsychologie nicht an einem einzigen Initiationsmoment festzumachen, sondern gestaltet sich sukzessiv. Nach Havighurst gestaltet sich Entwicklung als Lernprozess, in dem das Individuum durch die intensive Beschäftigung mit zahlreichen Entwicklungsaufgaben Fertigkeiten und Kompetenzen erwirbt, mit denen es das Leben zufriedenstellend bewältigen kann.96 Die Entwicklungsaufgaben repräsentieren grundlegende gesellschaftliche Erwartungen, die mit einer jeweiligen Altersphase verbunden werden und vom Individuum angenommen werden müssten. Nach Hurrelmann und Quenzel handelt es sich um Erwartungen, die in einem kulturellen, historisch-gesellschaftlichen Kontext verankert sind, einen Bezug auf gesellschaftliche Konventionen nehmen und durch die unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen tradiert werden.97 Hurrelmann und Quenzel unterscheiden verschiedene Aufgaben, die auf einer psychobiologischen Ebene zu verorten sind und die dazu beitragen, dass das Individuum ein autonomer und handlungsfähiger Mensch wird: 90 91 92 93 94 95 96

Ebd. Erdheim, Die Veränderung der bedeutungsgebenden Struktur durch Adoleszenz. 2002, S. 89. Ebd., S. 90. Ebd., S. 89. Ebd., S. 90. Siehe Kapitel 2.2.2 Zur Modifizierung der Bindung an die Eltern. Vgl. Oerter, Rolf/Montada, Leo (Hg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim/Basel: Beltz Verlag. 6., vollständig überarb. Aufl. 2008, S. 279. 97 Vgl. Hurrelmann/Quenzel, Lebensphase Jugend. 2012, S. 28.

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Erstens muss der Heranwachsende eine intellektuelle und soziale Kompetenz entwickeln. Hierbei liegt der Fokus auf der Entwicklung kognitiver und intellektueller Fähigkeiten und auf der Konsolidierung eines sozialen Habitus, um selbstverantwortlich in einem sozialen Kontext handeln zu können und zum Beispiel reifere Beziehungen zu den Altersgenossen aufzubauen. Zweitens muss der Adoleszent eine Körper- und Geschlechtsidentität und eine Bindungsfähigkeit entwickeln. Hierbei liegt der Fokus auf der Übernahme einer Geschlechtsrolle, auf der Akzeptanz und der Aneignung des eigenen Körpers sowie auf der Entwicklung einer emotionalen Unabhängigkeit von den Eltern. Diese sind Voraussetzungen, um je nach Veranlagung eine hetero- oder homosexuelle Beziehung aufbauen zu können. Drittens muss das Individuum soziale Kontakte aufbauen und Entlastungsstrategien entwickeln. In diesem Kontext steht die Entwicklung von (Freundschafts-)beziehungen zu gleichaltrigen Menschen im Mittelpunkt sowie die Entwicklung eines Konsumverhaltens, das unter anderem für den Umgang mit Genussmitteln und Drogen relevant ist. Viertens muss der Heranwachsende ein eigenes Wert- und Normsystem definieren. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf der Konsolidierung eines ethischen Systems bzw. eines Verhaltenskodexes, nach dem sich das Individuum in seinen sozialen Handlungen richtet.98 Darüber hinaus lassen sich nach Hurrelmann und Quenzel auf einer soziokulturellen Ebene vier weitere unterschiedliche Aspekte differenzieren, welche die »Übernahme von verantwortungsvollen gesellschaftlichen Mitgliedsrollen«99 fördern und die in direkter Beziehung zu den auf der psychobiologischen Ebene erörterten Aufgaben stehen. Es geht zuerst um die Aneignung einer Fähigkeit, mit der man berufliche Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen kann und demzufolge zur Finanzierung des eigenen Lebensunterhalts fähig ist. Darüber hinaus ist in dieser Phase zu beobachten, dass der Heranwachsende eine Kompetenz erwirbt, um in der Gesellschaft auf Partnerbindungen einzugehen und eventuell die generative Rolle des Familiengründers übernehmen zu können. Das setzt voraus, dass das Individuum seine sexuelle Identität definiert und bereit ist, sich auf eine partnerschaftliche Bindung einzulassen. Außerdem geht es darum, dass der Heranwachsende die Fähigkeit entwickelt, als Konsument in der Gesellschaft selbstverantwortlich mit den Angeboten aus dem Wirtschafts-, Freizeit- und Medienbereich umzugehen. Ergänzend dazu soll die Kompetenz, eigene Interessen und Bedürfnisse im öffentlichen Diskurs zu artikulieren, betrachtet werden. Hierbei liegt der Fokus auf der Teilnahme des Individuums an ethischen, religiösen, moralischen und politischen Diskursen.100 98 Vgl. ebd., S. 29f. 99 Ebd., S. 34. 100 Vgl. ebd., S. 36f.

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Zur Adoleszenz

Neben Havighursts Konzept der Entwicklungsaufgaben existieren weitere Entwicklungstheorien, die für die Deutung der Adoleszenz von Bedeutung sind: die sogenannten Anlage-, Milieu- und Interaktionstheorien. Bei den Anlagetheorien spielen endogene Faktoren die entscheidende Rolle, also die genetische Struktur des Individuums bestimmt in höchstem Maß den eigenen Entwicklungsverlauf. Bei den sogenannten Milieu- oder Umwelttheorien wird das Individuum durch exogene Faktoren geprägt, sei es durch die Kultur oder das soziale Umfeld. Die Interaktionstheorien betonen eine Interdependenz zwischen der Anlage des Individuums und dem Einfluss der sozialen Umwelt.101 Im Folgenden soll der Begriff der Adoleszenz aus soziologischer Perspektive genauer betrachtet werden. Vera King vertritt in Anlehnung an Karl Mannheims genealogischen Generationsbegriff eine soziologische Auffassung von Adoleszenz, nach der diese als eine soziale Form gilt, »mittels derer modernisierte Gesellschaften ›neue Kulturträger‹ auf ihr ›Neueinsetzen‹ in der ›Kontinuierlichkeit des Generationswechsels‹ vorbereiten«102. Nach King umfassen die sozialen Adoleszenzprozesse auch intergenerationale Regulationsprozesse, bei denen sich die betroffenen Generationen über die Weitergabe von Macht und Privilegien verständigen. In diesem Aushandlungsprozess nimmt das heranwachsende Individuum eine avantgardistische Haltung ein, die es veranlasst, »die angeblich gesicherten Bestände der Tradition auf neue Weise zu sehen«103. Unter Bezugnahme auf Christopher Bollas beschreibt King diesen Prozess als »intergenerationelle Dramatik«104, insofern als die nachfolgenden Generationen die elterliche Generation strukturell und funktionell ablösen. Es stellt sich ein Kampf zwischen den Generationen um die hegemoniale Dominanzposition ein, sie zu halten bzw. zu erlangen. Diese intergenerationellen Prozesse sind durch ein dynamisches Verhältnis von Tradierung alter Kulturgüter einerseits und Erneuerung andererseits gekennzeichnet und sind für die Entwicklung einer Gesellschaft unabdingbar. King betont, dass die »Entstehung des Neuen«105 davon abhängt, ob und in welcher Weise Individuation begünstigt oder verunmöglicht wird. Sowohl die Generativität der Erwachsenen- bzw. Elterngeneration als auch die Generativität der Heranwachsenden sind, so King weiter, für eine gelungene Individuation ausschlaggebend. Bei der Generativität handelt es sich um »die Gesamtheit der 101 Vgl. Helmken, Klaus: Individuelle Werthaltungen Jugendlicher. Erfassung der Wichtigkeit und Reflexion von Werten in der frühen und mittleren Adoleszenz. Dissertation. Universität Bremen 2008, S. 274ff. 102 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 62. 103 Unter Bezugnahme auf Bazon Brock, Erdheim, Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. 1996, S. 86. 104 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 66. 105 Ebd., S. 24.

Zur Begriffsbestimmung von Adoleszenz

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Haltungen und Bedingungskonstellationen, die aufseiten der Eltern in der Familie und aufseiten der Erwachsenengeneration eingenommen werden müssen, um Adoleszenz und adoleszente Individuation zu ermöglichen«106. Es bedarf eines »adoleszenten Möglichkeitsraum[s]«107 für die Entfaltung der einzelnen Individuationsprozesse, in dem Formen der Tradierung existieren und zugleich Erneuerung möglicht ist. In modernisierten Gesellschaften geht es primär darum, zu garantieren, »dass adoleszente Individuation im Rahmen eines Moratoriums befördert und nicht zer- oder gestört wird«108, so King. Von der erwachsenen Generation wird also erwartet, dass sie zwar »ihre generative Wirkmächtigkeit erfahren kann«109. Gleichwohl muss sie »die Relativierung ihrer eigenen Definitionsmacht vorbereiten«110, indem sie die Entwicklung neuer Kulturgüter durch die Adoleszenten befördert. Außerdem beschreibt der Begriff Generativität ein Stadium, in dem die Heranwachsenden eigenständig agieren, bereit sind, für ihre Handlungen Verantwortung zu übernehmen und die Gesellschaft mit ihrer Kreativität zu bereichern.111 Sichtbar werden diese Aushandlungsprozesse vor allem im familiären Umfeld, ungeachtet dessen können solche Vorgänge in außerfamiliären Beziehungen zwischen Erwachsenengenerationen und Jugendlichen eine bedeutsame oder sogar eine viel wichtigere Dimension einnehmen. Zum Beispiel hinterfragen jugendliche Sub- und Gegenkulturen die herkömmliche politische Ordnung, fordern tiefgreifende Veränderungen im Gesellschaftssystem und erinnern die Erwachsenengeneration an die »Relativität ihres eigenen Tuns und ihrer Wirkungsmächtigkeit im geschichtlichen Prozess«112. Das für die Adoleszenz kennzeichnende Spannungsmoment besteht nun darin, die Flexibilität der jeweiligen Systeme kontinuierlich zu überprüfen.113 Will man aus heutiger Sicht wissen, was unter dem Begriff der Adoleszenz zu verstehen ist, dann reicht es nach Auffassung von King eben nicht, Adoleszente einfach als eine nach dem Alter definierbare Bevölkerungsgruppe zu betrachten. Genauso wenig kann Adoleszenz als ein durch klare Statuspassagen markierter Übergang zwischen Kindheit und Jugend definiert werden, wie es für die frühe Moderne kennzeichnend war. Ebenso wenig kann Adoleszenz auf eine Phase der Ablösung von der Familie reduziert werden. Es geht um mehr als die Bewältigung 106 Ebd., S. 70. 107 King, Vera: Kultur, Familie und Adoleszenz – generationale und individuelle Wandlungen. In: Uhlhaas, Das adoleszente Gehirn. 2011, S. 75–88, hier: S. 78. 108 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 64. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Vgl. ebd., S. 71. 112 Ebd., S. 66f. 113 Vgl. Kapitel 2.4 Adoleszenz und Störung und Kapitel 3.5 Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR.

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Zur Adoleszenz

der Herausforderungen, die mit der Geschlechtsreifung und der Enkulturation zu tun haben. Vielmehr muss das Augenmerk auf die Prozesse gerichtet werden, durch die Heranwachsende als neue Kulturträger ausgebildet und die früheren Kulturträger abgelöst werden, so King.114

2.2

Zu den Entwicklungsdimensionen von Adoleszenz

Im Folgenden wird auf die unterschiedlichen miteinander zusammenhängenden Entwicklungsdimensionen eingegangen, die beim Individuationsprozess zum Tragen kommen: erstens der adoleszente Suchprozess nach einer eigenen Identität, zweitens die Modifizierung der Bindung an die Eltern, drittens die Ausgestaltung einer Individuation unter Gleichaltrigen, viertens die Ausgestaltung der geschlechtlichen Identität. Diesbezüglich soll die Bedeutung des Körpers für die adoleszente Entwicklung herausgearbeitet werden. Darüber hinaus sollen in einem weiteren Schritt die Abgrenzung zum familiären Umfeld und die Selbstpositionierung des Heranwachsenden in einem jugendkulturellen Raum genauer betrachtet werden. Hierbei liegt das Augenmerk auf der Herausbildung eines eigenen Werte- und Normsystems und auf Formen adoleszenten Verhaltens.

2.2.1 Zur adoleszenten Identitätsbildung Zu den Entwicklungsaufgaben des Adoleszenten gehört die Bildung einer Identität. Durch die Bewältigung von psychosozialen Herausforderungen erarbeitet der Heranwachsende eine Ich-Identität. Unter Identität versteht man im Allgemeinen die »einzigartige Kombination von persönlichen, unverwechselbaren Daten des Individuums wie Name, Alter, Geschlecht und Beruf«115. Aus psychologischer Perspektive betrachtet man Identität als »die einzigartige Persönlichkeitsstruktur, verbunden mit dem Bild, das andere von dieser Persönlichkeitsstruktur haben«116. Im Hinblick auf die Entwicklung des Adoleszenten ist »das eigene Verständnis für die Identität, die Selbsterkenntnis und der Sinn für das, was man ist bzw. sein will«117 noch zu beachten. Alan S. Waterman definiert den Begriff so:

114 115 116 117

Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 63. Oerter/Montada, Entwicklungspsychologie. 2008, S. 303. Ebd. Ebd.

Zu den Entwicklungsdimensionen von Adoleszenz

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»[…] identity refers to having a clearly delineated self-definition, a self-definition comprised of those goals, values, and beliefs which the person finds personally expressive, and to which he or she is unequivocally committed. Such commitments evolve over time and are made because the chosen goals, values, and beliefs are deemed worthy of giving a direction, purpose, and meaning to life.«118

Das psychosoziale Entwicklungsstufenmodell des Psychoanalytikers Erikson bestimmt bis in die 1980er Jahre maßgeblich die Identitätstheorieforschung. Nach Erikson entfaltet sich Identität im Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen des Individuums und den Anforderungen der sozialen Umwelt. Erikson geht von der Vorstellung eines kontinuierlichen Stufenmodells aus, das sich unter anderem durch seine Linearität auszeichnet. Er spricht von einem »spezifische[n] Zuwachs an Persönlichkeitsreife […], den das Individuum am Ende der Adoleszenz der Fülle seiner Kindheitserfahrungen entnommen haben muß, um für die Aufgaben des Erwachsenlebens gerüstet zu sein«119. Demnach hat das Subjekt nach dem Durchlaufen dieser Entwicklungsstufen ein »innere[s] Kapital«120 gesammelt, um ein Realitätsgefühl zu gewinnen, sodass »sein individueller Weg der Bewältigung von Erfahrungen eine erfolgreiche Variante ist […]«121. Wie Heiner Keupp zutreffend feststellt, ist das »Konzept von Erikson […] unauflöslich mit dem Projekt der Moderne verbunden«122. Nach Auffassung von Erikson entspricht der Identitätsfindungsprozess einem Ordnungsmodell regelhaft-linearer Entwicklungsverläufe, das heutzutage in einer globalisierten und pluralisierten Welt nicht uneingeschränkt gültig sein kann.123 An Eriksons Modell wird vor allem kritisiert, dass es vom fragwürdigen Ergebnis einer gelingenden Integration von Subjekt und Gesellschaft ausgeht. Ebenso wird seine Vorstellung eines kontinuierlichen Stufenmodells moniert, dessen erfolgreiches Durchlaufen bis zur Adoleszenz einen stabilen Kern und die Akkumulation eines inneren Kapitals ermöglicht, mit denen eine erfolgreiche Lebensbewältigung als Erwachsener garantiert wird.124 Gerhard Zenaty macht darauf aufmerksam, dass insbesondere die Adoleszenzphase aufgrund der Identitätsbildungsaufgabe von den existierenden kulturellen Bedingungen geprägt wird.125 Der aktuelle Diskurs der Postmoderne stellt vor allem die Vorstellungen von Einheit, Kontinuität und 118 Waterman, Alan S.: Identity in Adolescence: Processes and Contents. San Francisco [u. a.]: Jossey-Bass Inc. 1985, S. 6. 119 Erikson, Identität. 1973, S. 123. 120 Ebd., S. 107. 121 Ebd. 122 Keupp, Heiner: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. 4. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2008, S. 30. 123 Vgl. ebd. 124 Vgl. ebd., S. 29f. 125 Vgl. Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheiten oder Identitätsdiffusion? In: Texte 4/2001, S. 22–57, hier: S. 22.

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Zur Adoleszenz

Kohärenz in Frage. Keupp ist der Auffassung, Identität sei nicht mehr als Entstehung eines inneren Kerns zu betrachten, sondern als »ein Prozeßgeschehen beständiger ›alltäglicher Identitätsarbeit‹, […] [also] als permanente Passungsarbeit zwischen inneren und äußeren Welten«126. Angesichts der gegenwärtigen Lebensverhältnisse gewinnen zunehmend solche Identitätsvorstellungen an Bedeutung, die von einer kontinuierlichen und abschließbaren Kapitalbildung abweichen und Identität als einen vielfältigen, diskontinuierlichen und widersprüchlichen Prozess betrachten; als einen »›Projektentwurf‹ des eigenen Lebens«127 oder als eine Aufeinanderfolge von Projekten bzw. als eine zeitgleiche Verfolgung mannigfaltiger Projekte, die zum Teil sogar im Widerspruch zueinander stehen könnten.128 In den psychologischen, soziologischen und philosophischen Disziplinen ist der Begriff Identität umstritten. Identität bezeichnet nach King die Frage nach dem »Wer bin ich? Woher komme ich? und Wer will ich sein?«129 Im psychologischen Sinne beantwortet Identität »die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit für eine lebensgeschichtliche und situationsübergreifende Gleichheit in der Wahrnehmung der eigenen Person«130. Unabdingbare Voraussetzung für die Identitätsentwicklung ist die Introspektionsfähigkeit, da der Identitätsbildungsprozess immer eine reflektierende Selbstbeobachtung voraussetzt, also der Heranwachsende hat »eine Position der Selbsterforschung, Selbstkritik und Selbsterkenntnis«131 einzunehmen. Nur durch die im Zuge der Adoleszenz eintretende Erweiterung der kognitiven Kompetenz kann der Adoleszent eine dezentrierte Position einnehmen, die ihn in die Lage versetzt, seine eigene Position aus einer anderen Perspektive zu betrachten. In diesem Sinne argumentieren auch Hurrelmann und Quenzel und sprechen von der notwendigen »Fähigkeit der Selbstwahrnehmung, der Selbstbewertung und der Selbstreflexion«132, um eine Identität entwickeln zu können. Infolgedessen können im engeren Sinne konzipierte Identitätsbildungsprozesse erst ab der Adoleszenz stattfinden, so King.133 Die Beantwortung der Identitätsfrage wird als ein »stets unabgeschlossene[r], interaktive[r] Prozess«134 eingeschätzt, bei dem fortlaufend eine Passung zwi126 Keupp, Identitätskonstruktionen. 2008, S. 30. 127 Fend, Helmut: Identitätsentwicklung in der Adoleszenz. Lebensentwürfe, Selbstfindung und Weltaneignung in beruflichen, familiären und politisch-weltanschaulichen Bereichen. Entwicklungspsychologie der Moderne. Bd. II. Bern: Verlag Hans Huber 1991, S. 23. 128 Vgl. Keupp, Identitätskonstruktionen. 2008, S. 30. 129 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 101 [Hervorh. im Original]. 130 Keupp, Identitätskonstruktionen. 2008, S. 27. 131 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 101. 132 Hurrelmann/Quenzel, Lebensphase Jugend. 2012, S. 33. 133 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 102. 134 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 102.

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schen dem subjektiven Innen und dem gesellschaftlichen Außen hergestellt werden muss und mit dem die produktive Integration des Individuums in die Gesellschaft erfolgt.135 Nach Keupp handelt es sich immer um einen alltäglichen »komplexen Prozeß der Selbstverortung von Menschen in ihrer sozialen Welt«136. Bei dieser sozialen Selbstpositionierung stellt der Adoleszent bestimmte familiale und kulturelle Erwartungen ebenso wie soziale Rollen und gesellschaftliche Vorstellungen in Frage, um seine individuelle Sinnbestimmung zu erzielen.137 Der Individuationsprozess erfordert folglich »die Distanzierungsfähigkeit in Hinblick auf die eigene Geschichte«138, um ein Dezentrierungsmoment erfolgreich zu gestalten, in dem der Adoleszent seine kindlichen Konstruktionen mit allen dazugehörenden konventionellen Bindungen und Sicherheiten sowie den zugemuteten sozialen, familialen und kulturellen Rollen und Konventionen partiell korrigiert. Dieser Moment der Individualisierung ist demzufolge durch eine ambivalente, risikoreiche Position gekennzeichnet, zumal der Heranwachsende seine in der Kindheit gültigen konventionellen Stützen (teilweise) verliert bzw. verlieren muss, um eine adoleszente Emanzipation bzw. Unabhängigkeit erzielen zu können. Wie Vera King zutreffend feststellt: »Die mit der Adoleszenz genuin verbundene und diese im Kern kennzeichnende Dezentrierung vom kindlichen Ich und von den kindlichen Bedeutungswelten erzeugt zwangsläufig ein Vakuum, das potenziell adoleszente Individuierung risikoreich macht.«139

Bei dieser individuierenden Identitätsbildung kommt es darauf an, auf konventionelle Anerkennungsformen zu verzichten, vorgegebene Erfolgswege aufzugeben und sich ergebnisoffen auf eine riskante individuelle Selbstfindung einzulassen, so King.140 Eine der wichtigsten Stützen für die kindliche Entwicklung, die im Zuge der Adoleszenz neu reguliert bzw. partiell korrigiert wird, ist die Eltern-Kind-Bindung. Heranwachsende hinterfragen die Deutungsangebote und die Handlungsanforderungen der Eltern und der Gesellschaft und reagieren durch Anpassung, aber auch durch Ablehnung auf die Anforderungen des familiären und gesellschaftlichen Umfelds.141 Komplementär zum Einfluss der Eltern stehen die Beziehungen zu den Gleichaltrigen, die für die Verwirklichung von Gleichheit und Souveränität unabdingbar sind.142 Erikson beschreibt es wie folgt: 135 136 137 138 139 140 141 142

Vgl. Keupp, Identitätskonstruktionen. 2008, S. 30; Fend, Identitätsentwicklung. 1991, S. 21. Keupp, Identitätskonstruktionen. 2008, S. 26. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 103; Fend, Identitätsentwicklung. 1991, S. 21. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 104. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 105. Vgl. ebd. Vgl. Hurrelmann/Quenzel, Lebensphase Jugend. 2012, S. 34. Vgl. Oerter/Montada, Entwicklungspsychologie. 2008, S. 321.

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Zur Adoleszenz

»Der Prozeß der Adoleszenz ist jedoch nur dann wirklich abgeschlossen, wenn das Individuum seine Kindheitsidentifikationen einer neuen Form von Identifikation untergeordnet hat, die es in der intensiven Gemeinschaft und im Wetteifern mit Gleichaltrigen errungen hat.«143

Angesichts der postmodernen Entwicklung ist heute fraglich, ob dieser Prozess abgeschlossen werden kann oder muss, jedoch wird implizit erkennbar, dass die Ausbildung der Ich-Identität unterschiedliche Entwicklungsstadien voraussetzt. Im Anschluss an Eriksons Identitätsauffassung stellt James E. Marcia unterschiedliche Verlaufs- bzw. Identitätstypen144 auf, die einen bestimmten Identitätsstatus kennzeichnen, den man über den Grad der kritischen Auseinandersetzung mit Rollen, Konventionen und Werten bzw. Identifikationen und über den Grad der Verpflichtung ihnen gegenüber definiert: 1) Eine übernommene Identität liegt vor, wenn eine verbindliche Festlegung ohne Exploration zustande kommt, also das Individuum übernimmt Identifikationsangebote der Eltern, zum Beispiel Geschlechtsrollen, Berufe, politische Ideologien, weltanschauliche Kulturen oder andere Werte, ohne eine intensivere Erkundung nach Alternativen gestaltet zu haben. 2) Ein Moratorium bezeichnet das Stadium der Exploration, ohne dass sich das Individuum auf Identifikationsangebote festlegt. Es findet eine experimentelle und konfliktreiche Auseinandersetzung mit den oben angesprochenen Identifikationsangeboten statt. Im Anschluss kann das Stadium der Identitätsleistung erzielt werden, wenn sich bestimmte Überzeugungsmuster konsolidieren.145 3) Eine diffuse Identität liegt vor, wenn das Individuum aufgrund einer geringen Exploration nicht in der Lage ist, sich auf bestimmte Identifikationsangebote festzulegen. Die Heranwachsenden zeichnen sich in diesem Entwicklungsstadium durch das Fehlen einer festen Wertorientierung, durch eine geringe Verpflichtungsneigung und eine geringe Stabilität aus. Marcia stellte 1989 in einer Untersuchung fest, dass die Zahl der Menschen mit einer diffusen Identität stark zugewachsen ist. Diese Entwicklung sei aber nicht zu verstehen als das Scheitern eines Großteils der Bevölkerung an der Entwicklungsaufgabe der Identitätsfindung, sondern es handele sich vielmehr um eine angemessene Reaktion auf die aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen.146 Nach Marcia werden vier unterschiedliche Formen der diffusen Identität unterschieden: 143 Erikson, Identität. 1973, S. 136f. 144 Vgl. Marcia, James E.: Identity in adolescence. In: Adelson, Joseph (Hg.): Handbook of adolescent psychology. New York [u. a.]: John Wiley & Sons 1980, S. 159–187, hier: S. 161f. 145 Vgl. ebd. 146 Vgl. Helmken, Individuelle Werthaltungen Jugendlicher. 2008, S. 56f.

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a. Eine kulturell adaptive Diffusion: Von den Heranwachsenden werden Unverbindlichkeit, Offenheit und Flexibilität erwartet, um den soziokulturellen Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden zu können. b. Eine sorgenfreie Diffusion, bei der die Person angepasst erscheint, aber ohne sich verbindlich zu Werten zu bekennen. c. Eine Störungsdiffusion, bei der die Person unter den Folgen eines traumatischen Ereignisses oder einer unbewältigten prekären Situation leidet. d. Eine Entwicklungsdiffusion, die eher mit der ursprünglichen Diffusionsphase korrespondiert und das Übergangsstadium zum Moratorium darstellt.147 4) Eine erarbeitete Identität liegt vor, wenn sich das Individuum nach erfolgter Exploration auf selbst ausgewählte bzw. erarbeitete Identifikationsangebote festlegt. Dadurch kann die von King anvisierte individuelle Selbstfindung im Zuge eines dynamischen Aushandlungsprozesses eintreten, indem sich eigene Überzeugungsmuster konsolidieren und eigene Wertvorstellungen formieren. Unter heutigen Lebensbedingungen kann Identität nicht mehr als ein Stadium, das mit der Spätadoleszenz abgeschlossen ist, wahrgenommen werden. Vielmehr geht man von einem vorläufigen Ergebnis eines nicht abzuschließenden intersubjektiven Prozesses aus, bei dem das Subjekt ständig ein Gleichgewicht zwischen den äußeren Erwartungen, den sozialen Gegebenheiten und der inneren Wirklichkeit sucht.148 Eine der wichtigen Facetten der Identitätsfindung ist die Suche nach einer beruflichen Identität, mit der Heranwachsende eine finanzielle Autonomie erzielen und eine Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft vorweisen können. Im Zuge des Bildungsmoratoriums kann sich der Heranwachsende auf eine berufliche Karriere vorbereiten und erwirbt dabei berufliche und soziale Kompetenzen zur Gestaltung späterer Arbeitsbeziehungen. Bereits die Entscheidung für einen bestimmten Bildungsweg markiert einen Lebensweg bzw. einen individuellen Lebensentwurf und eine damit verknüpfte gesellschaftliche Positionierung. Im Folgenden geht es darum, eine weitere Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz zu beleuchten: die Erlangung emotionaler Unabhängigkeit von den Erwachsenen und infolgedessen die Modifikation elterlicher Bindungen.

147 Vgl. Marcia, James E.: Identity Diffusion differentiated. In: Luszcz, Mary A./Nettelbeck, T. (Hg.): Psychological development: Perspectives Across the Life-Span. Amsterdam [u. a.]: Elsevier 1989, S. 289-294, hier: S. 291f. Vgl hierzu auch Oerter/Montada, Entwicklungspsychologie. 2008, S. 307f. 148 Vgl. Zenaty, Adoleszente Identitätsbildung. 2001, S. 44.

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Zur Adoleszenz

2.2.2 Zur Modifizierung der Bindung an die Eltern Aus soziologischer Perspektive hängt die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz davon ab, ob Individuation seitens der Elterngeneration gefördert oder verhindert wird. Die mit der sexuellen Reifung einhergehende psychische Destabilisierung verlangt eine Veränderung der familialen Bindung. Des Weiteren können die neugewonnenen kognitiven Fähigkeiten dazu führen, dass Jugendliche die Beziehung zu ihren Eltern in Frage stellen und eine konträre Position ihren Eltern gegenüber einnehmen.149 Diese manifestiert sich insbesondere durch die Aneignung alternativer Wertvorstellungen, anderer Einstellungen und anderer Verhaltensformen. Im Sozialisationsprozess findet demzufolge eine zunehmende Entwertung der elterlichen Sozialisationsinstanz statt. An die Stelle der Eltern treten die Beziehungen zu gleichaltrigen Gruppen, die sich als eine immer wichtigere Sozialisationsinstanz erweisen. Der Einfluss der gleichaltrigen Gruppen bedeutet jedoch nicht, dass alle in der Kindheit von der Elterngeneration übernommenen Haltungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen in Frage gestellt werden. Vielmehr handelt es sich häufig um bestimmte Verhaltensweisen, die sich oft auf Aussehen und äußere Wirkung beziehen und in erster Linie dazu dienen, sich von der Elterngeneration anhand äußerer Merkmale deutlich abzusetzen oder »die Generationsdifferenz zu wahren«150 und dadurch Ansätze einer eigenen Identität zu konstituieren. Zwar reduziert sich die emotionale Bindung zu den Eltern, gleichwohl bleibt die Familie die wesentliche Bezugsgruppe für die Adoleszenten, so Remschmidt.151 Bohleber spricht diesbezüglich von Adoleszenz als einer Zeit der »Transformation der kindlichen Abhängigkeit in reifere Formen gegenseitiger Angewiesenheit«152 und betont die Bedeutung der intergenerationalen Solidarität für die Gestaltung dieser Transformation. Idealtypisch verläuft die Modifizierung der Eltern-Kind-Bindung als »ein Dreischritt von Trennung, Umgestaltung und Neuschöpfung«153. Um ihre eigene Welt konstituieren zu können, müssen Heranwachsende bereit sein, auf die Zustimmung und Anerkennung der Eltern zu verzichten, um im Verhältnis zu den Erwachsenen in ein sogenanntes Anerkennungsvakuum einzutreten. Der Distanzierungsprozess stellt für beide Generationen eine brisante Herausforderung dar und ist häufig mit einem krisenhaften Moment verbunden. Entscheidend für diesen Transformationsprozess ist die seitens der Eltern einzunehmende gene149 150 151 152

Vgl. Kapitel 2.2.1 Zur adoleszenten Identitätsbildung. King, Kultur, Familie und Adoleszenz. 2011, S. 78. Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 128f. Bohleber, Werner: Adoleszenz in einer Welt der Veränderungen: Psychoanalytische Perspektiven. Vortrag auf der Tagung Adoleszenz in einer Welt der Risiken in Frankfurt/Main am 03. 03. 2017. 153 King, Kultur, Familie und Adoleszenz. 2011, S. 76.

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rative Haltung oder generative Position, um die adoleszenten Selbstfindungsprozesse nicht zu (zer)stören, sondern sie zu unterstützen.154 Für die Eltern hat die Unterstützung der adoleszenten Individuation die Relativierung ihrer eigenen Wirkmächtigkeit mit allen dazu gehörenden historischen, sozialen, moralischen und kulturellen Konventionen zur Folge. Angelehnt an Christopher Bollas verweist King darauf, dass die Formierung einer neuen Generation die Relativierung der erwachsenen Perspektive auf die soziale Realität mit sich bringt und betont den doppelsinnigen ambivalenten Aspekt, der mit dem Ablösungsprozess verbunden ist: »Ablösung von der erwachsenen Generation läuft in verschiedener Hinsicht auch auf eine von dieser als schmerzlich erlebte Ablösung der erwachsenen Generation hinaus.«155 Für die Adoleszenten gestaltet sich das Erlangen der eigenen Generativität als ein umfangreicher gradueller Prozess, in dessen Zuge sie verschiedene Entwicklungsaufgaben wahrnehmen, um sich allmählich in verschiedenen Bereichen ihre eigene Wirkungsmächtigkeit in einem Aushandlungsprozess mit den Erwachsenen zu erkämpfen.156 Das Streben nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit ist für die Individuation von zentraler Bedeutung. Der adoleszente Wunsch nach mehr Selbstständigkeit ist allerdings nicht leicht zu vereinen mit dem Verantwortungsbewusstsein der Eltern und dem damit verbundenen Kontrollbedürfnis. Infolgedessen ist von einem Spannungsverhältnis die Rede.157 Die Distanz zu den Eltern manifestiert sich unter anderem dadurch, dass die Offenheit der Adoleszenten gegenüber ihren Eltern sinkt und manche persönlichen Probleme aus der familiären Diskussion ausgeklammert werden. Von Eltern wird verlangt, dass sie »ein geschicktes Konfliktmanagement betreiben, um die grundlegende emotionale Beziehung zu ihrem Kind aufrechtzuerhalten und zugleich die Ablösungsimpulse in Verselbstständigungsanforderungen umzulenken«158. In modernisierten Gesellschaften gestaltet sich die Aushandlung der intergenerationellen Veränderungen anders als in traditionellen Gesellschaften. Die Regulierung dieser Beziehungen über Konventionen oder Rituale verliert an Bedeutung, stattdessen geraten unterschiedliche Abgrenzungs- und Neukonstruktionsprozesse in den Vordergrund. Nach King geht es bei diesen Neukonstruktionsprozessen nicht nur um die Wandlung der primären Bindung, sondern auch um die Erprobung neuer Bindungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel die Ausgestaltung von neuen sozialen Beziehungen, von Freundschafts- und Lie154 155 156 157

Vgl. ebd., S. 77f. Ebd., S. 77 [Hervorh. im Original]. Vgl. ebd. Vgl. Fend, Helmut: Vom Kind zum Jugendlichen. Der Übergang und seine Risiken. Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne. Bd. I. Bern [u. a.]: Verlag Hans Huber 1990, S. 100. 158 Hurrelmann/Quenzel, Lebensphase Jugend. 2012, S. 156.

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besbeziehungen oder von beruflichen Bindungen bzw. beruflichen Interessen, die den adoleszenten Lebensentwurf stark konditionieren.159 Trotz einer existierenden Abgrenzungsdynamik betont King die Bedeutung der primären Familienbeziehungen als ein valides Gerüst für die Tradierung von Wissen und Werten, die für die Konstitution der adoleszenten Anschauungen, Selbstbilder und normativen Haltungen relevant sind. Angelehnt an James Youniss und Jacqueline Smollar verweist King auf die Komplexität des Neukonstruktionsprozesses, bei dem sich die kindliche Beziehung im Zuge der abgrenzenden Loslösung zwar verändert, jedoch Heranwachsende den Eltern auf eine neu definierte Art und Weise verbunden bleiben.160 Sowohl auf der Ebene der Beziehungsgestaltungen als auch auf der Ebene der Lebens- und Identitätsthemen existiert, so Kings Auffassung, »eine starke Korrespondenz zwischen familialen Beziehungen und verinnerlichten individuellen Lebensentwürfen«161 der Adoleszenten. Die Lebensthemen der Eltern, zum Beispiel für die DDR-Gründergeneration der Aufbau einer alternativen gesellschaftlichen Ordnung nach der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, können die Identitätssuche oder Neukonstitutionsprozesse der Heranwachsenden unterschiedlich bedingen, entweder durch einen ablehnenden oder durch einen affirmierenden Bezug. King verweist auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den Lebensentwürfen der Eltern-Generation, auch wenn die Momente der Abgrenzung dominieren, zumal sie eine unabdingbare Grundlage für die Entstehung neuer Konstellationen bzw. für die Erneuerung der Tradition sind. Ob Eltern eine generative Haltung einnehmen und für den notwendigen Entwicklungsspielraum sorgen, hängt jedoch häufig von ihrer eigenen Adoleszenzerfahrung ab.162 Hurrelmann und Quenzel heben die Bedeutung des Ablösungsprozesses als Voraussetzung für die adoleszente Entwicklung hervor und erörtern, wie die Heranwachsenden ihre Bindung zu den Eltern auf fünf unterschiedlichen Ebenen modifizieren: auf einer psychischen Ebene orientieren sich die Heranwachsenden bei ihren Handlungen nicht mehr vordergründig an ihren Eltern, sondern an ihren gleichaltrigen Freunden. Auf einer emotionalen und intimen Ebene ersetzen Partner und Partnerinnen die Eltern als Liebesobjekte. In kultureller Hinsicht entwickeln die Adoleszenten eine eigene Lebensart und grenzen sich damit von der Elterngeneration ab. Auf einer materiellen Ebene erzielen die Adoleszenten eine ökonomische Unabhängigkeit und überwinden ihren finan159 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 121f. 160 Vgl. ebd., S. 124. Youniss und Smollar betonen die Bedeutung der Familienbeziehungen in der Übergangsphase der Adoleszenz: »[…] parents and adolescents can be seen as in alliance together against society«. Youniss, James/Smollar, Jacqueline: Adolescent Relations with Mothers, Fathers and Friends. Chicago/London: The University of Chicago Press 1985, S. 78. 161 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 124f. 162 Vgl. ebd., S. 126f.

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ziellen Abhängigkeitsstatus. Die gewonnenen finanziellen Ressourcen ermöglichen einen Auszug aus dem Elternhaus, wodurch eine räumliche Distanz zu den Eltern eintreten kann, die eine Erweiterung der adoleszenten Lebensgestaltungsmöglichkeiten zulässt.163 Betrachtet man aktuelle Entwicklungen, dann lässt sich feststellen, dass aufgrund der zunehmenden Ausbildungsperioden und der damit zusammenhängenden Retardation des Berufseintritts das Moment der materiellen Unabhängigkeit hinausgezögert wird.164 Bei der Bewältigung der räumlichen Ablösung unterscheiden sich die weiblichen von den männlichen Heranwachsenden. Erstere suchen früher die räumliche Distanz zu den Eltern, während letztere die Vorzüge der elterlichen Wohnung länger genießen. Die intergenerationellen Beziehungen in den sogenannten Verhandlungsfamilien, die durch die Gleichheit der Familienmitglieder und relativ spannungsfreie Beziehungen gekennzeichnet sind, begünstigen das Hinauszögern der räumlichen Ablösung.165 Angesichts der Entwicklung neuer Familienstrukturen, sichtbar zum Beispiel am Wandel der Ehe- und Familienformen und an den unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen, stellt sich die Frage, wie sich diese Erfahrungen auf die adoleszente Identitätsbildung auswirken. Gerhard Zenaty verweist in diesem Kontext auf die Folgen dieses gesellschaftlichen Wandels und spricht von einer »Labilisierung der Elternidentität«166, die zwangsläufig zu »affektiven Versagungen innerhalb der Partnerschaft«167 und zu einer Vernachlässigung der elterlichen Vorbildfunktion führt. Besonders relevant für die Entwicklung der Heranwachsenden ist, wie Vera King feststellt, das Fehlen einer familialen Generativität, zumal diese nicht mehr durch die Peergroup-Erfahrungen kompensiert werden kann. Es kommt demzufolge zu »(selbst-)destruktive[n] Prozesse[n] und Wiederholungszwänge[n]«168, die eine adoleszente Individuation erschweren. 163 Vgl. Hurrelmann/Quenzel, Lebensphase Jugend. 2012, S. 154. 164 Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 127. 165 In der Familiensoziologie und in der Sozialisationsforschung gilt die »Verhandlungsfamilie« als ein Gegenmodell zur patriarchalen Familienstruktur, bei dem die Kinder immer stärker als Partner und »gleichberechtigte verhandlungsfähige Akteure« wahrgenommen werden und dementsprechend in Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden. Dadurch wird die Eigenverantwortung der Heranwachsenden verstärkt; ihre Verhandlungsräume erweitern sich. Erzieherische Anweisungen erfolgen nicht mehr als Befehle, sondern in Form von Ratschlägen oder Empfehlungen. Vgl. Burkart, Günter: Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? In: Steinbach, Anja/Hennig, Marina/Arránz Becker, Oliver (Hg.): Familie im Fokus der Wissenschaft. Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 71–91, hier: S. 84. 166 Zenaty, Adoleszente Identitätsbildung. 2001, S. 46. 167 Ebd. 168 King, Vera: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz: Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. 1. Aufl. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 125.

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Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Im Zuge der Adoleszenz ist eine Modifizierung der Bindungsmodalitäten des Adoleszenten an seine Familie zu beobachten. Die kognitive und emotionale Entwicklung des Heranwachsenden ermöglicht eine kritische Überprüfung der elterlichen Wert- und Normvorstellungen hinsichtlich ihrer Legitimation. Ungeachtet der verminderten emotionalen Bindung zu den Eltern bleiben diese als eine wichtige Stütze während der adoleszenten Entwicklung erhalten. Nach einer vorübergehenden Abgrenzung und einer konfliktreichen Zeit kommt es in der Regel zu einer Harmonisierung der Beziehung sowie zu einer Annäherung an die Lebensentwürfe der Eltern. Eltern dienen als Vorbilder für die Gestaltung zukünftiger Lebensentwürfe. Demzufolge gelten die primären Familienbeziehungen als ein valides Gerüst für die Übermittlung von Wissen und Werten, die für die Konstitution der adoleszenten Anschauungen, Selbstbilder und der normativen Haltungen relevant sind. Nachdem in diesem Kapitel die Rolle der primären Sozialisationsinstanz betrachtet wurde, geht es anschließend darum, die Bedeutung der gleichaltrigen Beziehungen für die adoleszente Individuation zu bestimmen.

2.2.3 Zur Ausgestaltung einer Individuation unter Gleichaltrigen In der Sozialisationsforschung gilt als Konsens, dass die Peergroups als sogenannte tertiäre Sozialisationsinstanz eine entscheidende individuationsfördernde Kraft innehaben.169 Vera King weist darauf hin, dass die Entstehung des Neuen von der »adoleszenten Triade Familie-Adoleszente-Peerbeziehungen«170 abhängt und dass für die Entstehung des individuellen sozialen Kapitals die Wechselbeziehungen zwischen Familie, Peers und anderen außerfamilialen Institutionen ausschlaggebend sind.171 Der Identitätsbildungsprozess wird durch die Interaktion in unterschiedlichen Lebensbereichen und durch die inter- und intragenerationellen Beziehungen bestimmt. Die gleichaltrigen und die familialen Erfahrungen bedingen sich diesbezüglich gegenseitig, so King. Komplementär dazu betrachtet Birgit Bütow die Funktion der Peergroups und stellt fest, dass der Adoleszent in der Peergroup die Möglichkeit erhält, Aspekte der eigenen Familiengeschichte im Vergleich mit Gleichaltrigen zu reflektieren und sie eventuell besser ertragen zu können; in diesem Sinne übernehmen die gleich169 Helmut Fend weist auf die Grenzen der familialen Sozialisationsinstanz und auf die Notwendigkeit der Beziehungen mit Gleichaltrigen hin, um eine erfolgreiche Individuation unter modernen Lebensbedingungen zu erzielen. Vgl. Fend, Helmut: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Nachdruck der 3., durchgesehenen Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 304. 170 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 122. 171 Vgl. ebd., S. 128.

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altrigen Beziehungen die Funktion zwischen Privatem und Öffentlichem zu vermitteln.172 Zugleich beeinflussen die familialen Erfahrungen die innerhalb der Peergroups stattfindenden Prozesse bezüglich der Gestaltung von Freundschafts- und Liebesbeziehungen.173 Im Folgenden geht es darum, den Stellenwert der Beziehungen unter Gleichaltrigen in Bezug auf die Förderung der Individuation zu untersuchen. Dabei muss geklärt werden, inwieweit die innere Struktur der Peergroups einen Möglichkeitsraum eröffnet, der die Entwicklung der adoleszenten individuellen Identität begünstigt. Angesichts der vielfältigen Beziehungen unter Gleichaltrigen und ihrer entsprechenden Bezeichnungen plädiert King für die Subsumierung aller gleichaltrigen Beziehungsmöglichkeiten unter die Kategorie des jugendkulturellen Raums, die zum einen an die Idee des bereits vorgestellten Konzepts des adoleszenten Möglichkeitsraums anknüpft; zum anderen auch ganz bewusst an die Jugendkulturforschung.174 Nach King stellt der jugendkulturelle Raum »den sozialen Raum des adoleszenten Experiments par excellence«175 dar. Dort können sich Adoleszente entwerfen, in Szene setzen und neue soziale Rollen(bilder) mit Gleichaltrigen aushandeln, ohne der ständigen Kontrolle der Erwachsenen ausgesetzt zu sein, und relativ frei von Verantwortung ›spielerisch‹ handeln. Dadurch wird der jugendkulturelle Raum zu einem Selbstbestimmungs- und Individuationsort, so King.176 Der jugendkulturelle Raum als ein Entwicklungsraum bietet eine Plattform für unersetzbare Prozesse der Ko-Konstruktion und der Ko-Regulation an und übernimmt wichtige Funktionen im Individuationsprozess. Die Beziehungen zu anderen Adoleszenten dienen der Regulation des emotionalen Wohlbefindens. Außerdem stellen sie ein Übungsfeld dar, »um Prinzipien der Gegenseitigkeit, der Perspektivenübernahme, des Aushandelns […] auszuüben«177, und ermöglichen einen Schonraum, in dem provisorische Identitätsentwürfe ausprobiert werden können, zum Beispiel Geschlechtsidentitätsentwürfe. Die in den Peergroups existierende Geborgenheit unterstützt die Heranwachsenden beim Experimentieren mit neuen Lebensentwürfen und neuen sozialen Rollen sowie bei der Ausgestaltung neuer Bezie172 Zur Funktion sozialer Räume vgl. List, Elisabeth: Die Präsenz des Anderen. Theorie und Geschlechterpolitik. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 150; hierzu vgl. auch Bütow, Birgit: Mädchen in Cliquen: sozialräumliche Konstruktionsprozesse von Geschlecht in der weiblichen Adoleszenz. Weinheim [u. a.]: Juventa Verlag 2006, S. 16. 173 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 129. 174 Die Beziehungen unter Gleichaltrigen können verschiedene Formen annehmen. In der Jugendforschung werden unterschiedliche Termini wie Freundschaften, Peergroups, Cliquen, Gangs, Szenen, Subkulturen oder Jugendgenerationen in Betracht gezogen, um dieser Vielfalt gerecht zu werden. Vgl. ebd., S. 228f. 175 Ebd., S. 229 [Hervorh. im Original]. 176 Vgl. ebd.; vgl. hierzu auch Bütow, Mädchen in Cliquen. 2006, S. 193. 177 Fend, Entwicklungspsychologie des Jugendalters. 2005, S. 309.

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hungsformen. Dieses Experimentieren ist nach Erikson eine Art »soziales Spiel«178, das ein Erproben und Sich-Auseinandersetzen mit der sozialen Umwelt darstellt. Durch das soziale Spiel kann der Adoleszent eine Beziehungskompetenz erwerben, die ihn in die Lage versetzt, selbstständig Beziehungen aufzunehmen, mit ihnen verantwortlich umzugehen, sie fairerweise zu gestalten und sie gegebenenfalls aufzugeben sowie in diesen Verhältnissen unterschiedliche Grade von Intimität auszuprobieren, so Fend. Darüber hinaus dient der jugendkulturelle Raum dazu, die prosoziale Motivation einzuüben. Hierbei erwirbt der Adoleszent die soziale Kompetenz, (moralische) Verantwortung für andere zu übernehmen und das eigene »Dominanzverhalten in ein konstruktives soziales Engagement zu verwandeln«179. Im jugendkulturellen Raum werden dem Adoleszenten kreative Wege eröffnet, mit denen er sich von der Erwachsenen-Generation und von anderen gleichaltrigen Gruppen abgrenzen kann und in denen ein spielerisches, jedoch häufig riskantes Austesten von Grenzen möglich wird. Das Erleben und die Verarbeitung dieser Grenzerfahrungen tragen entscheidend zur der Adoleszenz immanenten Entstehung des Neuen bei. Gleichwohl verursachen sie normative Abweichungen und bilden eine Gefahr für riskante Entgleisungen.180 Für die Adoleszenten dient das delinquente Verhalten innerhalb der Peergroup dazu, fehlende Wertschätzung und Anerkennung im sozialen Umfeld zu erlangen und sich gleichzeitig von den Eltern abzugrenzen.181 In Anlehnung an Klaus Hurrelmann betont King den symmetrischen Charakter der gleichaltrigen Beziehungen, durch die der Adoleszent eine »soziale Anerkennung, Sicherheit und Solidarität«182 erlangen und mithin seinen Selbstfindungsprozess stark fördern kann. Im jugendkulturellen Raum erhält der Heranwachsende im Umgang mit anderen Jugendlichen die Möglichkeit, eigene Wertvorstellungen zu entwickeln. Die Intensität der Freundschaftsbeziehungen fördert einen differenzierten reflexiven Umgang mit sich selbst und der Position anderer und trägt dadurch intensiv zur adoleszenten Selbstkonstitution bei.183 Darüber hinaus haben nach Kings Auffassung gleichaltrige Beziehungen eine Vorbereitungsfunktion, zumal der Adoleszent sich durch die in den Peergroups stattfindenden Aushandlungsprozesse auf die gesellschaftliche Integration in die 178 179 180 181

Vgl. Erikson, Identität. 1973, S. 145. Vgl. Fend, Entwicklungspsychologie des Jugendalters. 2005, S. 309. Vgl. ebd., S. 230. Vgl. Raithel, Jürgen: Jugendliches Risikoverhalten. Eine Einführung. 2., überarb. Aufl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 40; vgl. hierzu auch Kapitel 2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten. 182 Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend. 4. Aufl. Weinheim/München: Juventa Verlag 1995, S. 153. 183 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 230.

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Erwachsenenkultur vorbereiten kann. Außerdem dienen die Peergroups als ›Pufferzone‹, um die während der Eingliederung in die Bildungs- und Berufssysteme entstandenen Differenzen sowie die durch die Modifizierung der Eltern-Kind-Bindung aufkommenden Konflikte auffangen zu können.184 Die im Zuge der Adoleszenz eintretende ›Entidealisierung‹ der Eltern wird durch eine zunehmende Bedeutung der gleichaltrigen Beziehungen begleitet, die sich phasenweise als »dominierende[s] Orientierungs- und Handlungsfeld«185 herauskristallisieren. Gleichwohl prägen die familialen Beziehungen weiterhin den Individuationsprozess, sodass man im Sinne Hurrelmanns von einer Doppelorientierung sprechen kann, die sich durch die Interdependenz der familialen und jugendkulturellen Dynamiken in unterschiedlichen Ausprägungen im Adoleszenzverlauf manifestiert.186 In diesem Zusammenhang haben mehrere Untersuchungen gezeigt, dass Heranwachsende, deren Kind-Eltern-Bindung sich durch eine gute und sichere emotionale Qualität auszeichnet, leichter erfolgreiche Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen und erhalten können und eine stärkere Sozialkompetenz aufweisen.187 Innerhalb des jugendkulturellen Raums finden durchgehend Aushandlungsprozesse zwischen den Geschlechtern und den unterschiedlichen sozialen Gruppen statt, um einen bestimmten Status innerhalb der eigenen Freundesgruppe und im Umgang mit anderen gleichaltrigen Gruppen zu erkämpfen. Obwohl sich die gleichaltrigen Beziehungen durch ihren symmetrischen Charakter auszeichnen, kann nicht von einer Gleichberechtigungsstruktur innerhalb der Peergroups ausgegangen werden. Der Adoleszent ist Machtstrukturen, Normierungen und Gruppenzwängen ausgesetzt und muss sich um einen eigenen Stand bemühen. Der Erwerb dieses Status ist ein entscheidender Schritt zur Entwicklung der eigenen Wirkmächtigkeit und mit dem Erwerb von Privilegien, Aufstiegs- und Einflussmöglichkeiten verbunden, die den Individuationsprozess stark bestimmen.188 In den einzelnen Gruppen entwickelt sich eine Eigendynamik, die dazu führt, dass die einzelnen Gruppenmitglieder in einer »habituelle[n] und affektuelle[n] ›Gesinnungsgenossenschaft‹«189 agieren und Handlungen durchführen, die sie alleine nicht ausüben würden. Die Abgrenzungsnotwendigkeit zwischen den einzelnen Peergroups führt zum Beispiel dazu, dass sich in männlichen Cliquen die Heranwachsenden an Selbstbestätigungsprozessen beteiligen, die durch die Idolisierung des Männlichen und die Abwertung des 184 185 186 187 188 189

Vgl. ebd., S. 231. Hurrelmann, Lebensphase Jugend. 1995, S. 152. Vgl. ebd., S. 153f.; King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 231f. Vgl. Fend, Entwicklungspsychologie des Jugendalters. 2005, S. 325f. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 232. Böhnisch, Lothar: Männliche Sozialisation. Eine Einführung. 2. Aufl. Weinheim [u. a.]: Juventa Verlag 2013, S. 136.

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Weiblichen gekennzeichnet sind.190 Die Entwicklung in der Jugendkultur unterliegt den sozialen und kulturellen Einflüssen, die vor allem durch die familiale Herkunft bestimmt werden. Jedoch handelt es sich nicht um eine zwingende soziale und kulturelle Entwicklung; stattdessen ist nur von gewissen »Dispositionen für oder gegen bestimmte Jugendkulturen«191 auszugehen. Besondere Relevanz genießen innerhalb des jugendkulturellen Raums die vorher angesprochenen Normierungen und Gruppenzwänge in Bezug auf die sexuelle Identitätsfindung. Sowohl bei der sexuellen Initiation als auch bei der Suche nach einer eigenen sexuellen Identität wird der Adoleszent mit starken Normierungen und Gruppenzwängen konfrontiert und muss versuchen, sie mit seinen eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen und mit den in der eigenen Familie existierenden Identifikationsangeboten in Einklang zu bringen. Die adoleszenten Entwicklungen sind in einem Rahmen von gesellschaftlichen und familialen Identifikationsangeboten eingeordnet, die mit Anforderungen, Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern sowie innerfamilialen Dynamiken zusammenhängen.192 Durch diesen Aushandlungsprozess entwickelt der Adoleszent seine Einfühlungs- und Beziehungskompetenz und fördert seine Individuation in einem jugendkulturellen und familialen Interaktionsraum.193 Tina-Berith Schrader erläutert die Bedeutung der Peergroups für die Aushandlung von Geschlechterrollen und äußert sich wie folgt: »Geschlecht [wird] in bestimmten Peerkontexten und Interaktionen konstruiert […]. Diese Konstruktionen beeinflussen wiederum die entsprechenden Interaktionen.«194 In diesen Peerkontexten existiert, wohlgemerkt in einer limitierten Form, ein Raum für das Erproben alternativer und innovativer Entwürfe.195 Die Freundesgruppen können je nach Geschlechtszugehörigkeit spezifische Merkmale aufweisen. Insbesondere ab der mittleren Adoleszenz entwickeln sich geschlechtstypische Verhaltensformen, die den Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Adoleszenten markieren.196 In Anlehnung an Schröder und

190 Vgl. ebd. 191 Vollbrecht, Ralf: Von Subkulturen zu Lebensstilen. In: SPoKK (Hg.): Kursbuch JugendKultur. Stile, Szenen und Identitäten vor der Jahrtausendwende. Mannheim: Bollmann 1997, S. 22–31, hier: S. 27. 192 Vgl. Flaake, Karin: Körper, Sexualität und Geschlecht. Studien zur Adoleszenz junger Frauen. Gießen: Psychosozial-Verlag 2001, S. 98ff. 193 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 233f. 194 Schrader, Tina-Berith: Peergroups als Kontexte der Aushandlung und Praxis von Geschlechterrollen. In: Köhler, Sina-Mareen/Krüger, Heinz-Hermann/Pfaff, Nicolle (Hg.): Handbuch Peerforschung. 1. Aufl. Opladen [u. a.]: Verlag Barbara Budrich 2016, S. 305–322, hier: S. 318. 195 Vgl. ebd. 196 Vgl. Seiffge-Krenke, Inge: Freundschaften und romantische Beziehungen. In: Gniewosz, Burkhard/Titzmann, Peter F. (Hg.): Handbuch Jugend. Psychologische Sichtweisen auf

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Leonhardt verweist Vera King darauf, dass Jungen in den Peerbeziehungen eher nach Abenteuer und Erlebnissen suchen. Mädchen suchen im Vergleich dazu eher Nähe, Schutz und Obhut.197 Gegenüber der instrumentellen Vorgehensweise der Jungen fallen Mädchen durch ihr expressives Handeln auf, da innerhalb der Mädchengruppen ein intensiver Austausch über Geschlechtsrollen und intime Fragen stattfindet.198 Dementsprechend sind Mädchengruppen »ein Ort der diskursiven Vorbereitung, Einführung und ›teilnehmenden Beobachtung‹ an den sexuellen Liebes- und Beziehungserfahrungen der Peers [und folglich ein] Ort und Medium der sexuellen und geschlechtlichen Initiation«199. Häufig werden in den Mädchengruppen auch sogenannte Probleme ohne Lösung diskutiert. Infolgedessen kommt es eher zu einer Verunsicherung der jungen Frauen und häufig zu depressiven Störungen.200 Die Mädchen neigen zur Bildung intimerer Kreise, bei denen häufig aus Eifersucht Konflikte zwischen den Freundinnen entstehen, während die Jungen in größeren Freundeskreisen ihre Freizeitaktivitäten gestalten und häufig über Sportaktivitäten und Körperinszenierungen ihre männliche Identität aufbauen.201 Hinsichtlich der Verknüpfung von Geschlecht und Identitätsfragen betont King, dass die männlichen Gruppen stärker als die Mädchenfreundschaften in Anspruch genommen werden, um männliche Identität zu konstruieren.202 Im Folgenden geht es darum, die Bedeutung des Geschlechts als Strukturkategorie für die Bestimmung der Adoleszenz näher zu betrachten und die Besonderheiten weiblicher Adoleszenz zu erarbeiten.

2.2.4 Zur Spezifik der weiblichen Individuation Hinsichtlich der Relevanz des Geschlechts im Zusammenhang mit der Diskussion von Adoleszenz bemängeln Soziologen, dass in den letzten Jahrzehnten in der soziologischen und psychoanalytischen Adoleszenzforschung sowie in der Entwicklungsforschung der weiblichen Adoleszenz nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Entweder wurde sie nicht zur Kenntnis genommen

197 198 199 200 201

202

Veränderungen in der Adoleszenz. 1. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 2018, S. 107–125, hier: S. 115. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 256. Vgl. Seiffge-Krenke, Freundschaften und romantische Beziehungen. 2018, S. 112f. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 257. Vgl. Seiffge-Krenke, Freundschaften und romantische Beziehungen. 2018, S. 113. Vgl. ebd., S. 113 ff; Winter, Reinhard/Neubauer, Gunter: Körper, Männlichkeit und Sexualität. Männliche Jugendliche machen »ihre« Adoleszenz. In: King, Vera/Flaake, Karin (Hg.): Männliche Adoleszenz. Sozialisation und Bildungsprozesse zwischen Kindheit und Erwachsensein. Frankfurt [u. a.]: Campus Verlag 2005, S. 207–226, hier: S. 211f. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 259.

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oder »an normativen Modellen männlicher Jugend gemessen und abgehandelt«203. In gleicher Weise moniert Carol Hagemann-White, dass man in der Adoleszenzforschung lange von einem geschlechtsunabhängigen Verlaufsmodell ausgegangen ist, bei dem das männliche Modell verallgemeinert wird und die spezifische Besonderheit der weiblichen Entwicklung außer Acht gerät. Im Gegensatz zum männlichen Modell, »bei dem Entwicklungsaufgaben der Partnerschafts- und Berufsfindung gleichzeitig mit der körperlich stürmisch verlaufenden Pubertät«204 bewältigt werden, stellt Hagemann-White die These auf, dass Mädchen die Pubertät durchlaufen, bevor sie in die Phase der Berufs- und Partnerfindung eintreten und die Ablösung von den Eltern gestalten. Vera King plädiert in diesem Kontext für die Berücksichtigung der Veränderung der Geschlechterverhältnisse, um ein differenziertes Adoleszenzbild entwickeln zu können. Traditionell war das Handlungsfeld der Frauen historisch durch eine starke Abhängigkeit begrenzt. Nach der Lösung der elterlichen Bindung gelangten sie unmittelbar in eine durch die Ehe bedingte neue Abhängigkeitssituation. King spricht von einem »unvermittelten Übergang aus der Position des Kindes und der infantilen Abhängigkeit von der Herkunftsfamilie in die Position der Ehefrau und Mutter«205, bei dem adoleszente Entwicklungsprozesse übersprungen wurden. Den weiblichen Adoleszenten wurde zum einen kein Raum gelassen, um sich mit den eigenen somatischen Veränderungen auseinanderzusetzen und sie psychisch zu verarbeiten, zum anderen erfolgte eine Sexualisierung ihres Körpers durch das unmittelbare Lebensumfeld.206 Moderne Vorstellungen von Weiblichkeit weichen von diesem traditionellen Bild stark ab. Die Moderne, mit der »das Projekt Jugend […] aufs engste«207 verbunden ist, zeichnet sich unter anderem durch die zunehmende Differenzierung von Geschlechterverhältnissen aus. Infolgedessen entwickelt sich ein 203 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 24; vgl. auch Flaake, Karin/King, Vera: Psychosexuelle Entwicklung, Lebenssituation und Lebensentwürfe junger Frauen. Zur weiblichen Adoleszenz in soziologischen und psychoanalytischen Theorien. In: Dies. (Hg.): Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen. Weinheim [u. a.]: Beltz Taschenbuch 2003, S. 13–39, hier: S. 14. 204 Hagemann-White, Carol: Berufsfindung und Lebensperspektive in der weiblichen Adoleszenz. In: Flaake/King, Weibliche Adoleszenz. 2003, S. 64–83, hier: S. 66f. 205 King, Die Entstehung des Neuen. 2002, S. 69. 206 Vgl. ebd., S. 172. 207 Helsper, Werner: Das imaginäre Selbst der Adoleszenz: Der Jugendliche zwischen Subjektentfaltung und dem Ende des Selbst. In: Ders. (Hg.): Jugend zwischen Moderne und Postmoderne. Opladen: Leske + Budrich 1991, S. 73–94, hier: S. 77. Carsten Gansel macht darauf aufmerksam, dass erst im Zuge der Modernisierung immer größere Gruppen der Bevölkerung die Möglichkeit einer Adoleszenz mit einer Erweiterung der Möglichkeitsräume durch ein Bildungsmoratorium erhalten und dadurch Optionen entstehen, die eigene Biographie individuell zu bestimmen. Vgl. Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. 2004, S. 132.

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genaueres Bild weiblicher Adoleszenz und erfolgt eine klare Abgrenzung zu Formen der männlichen Adoleszenz.208 Das hat zur Folge, dass adoleszente Möglichkeitsräume neu definiert werden, sodass sich »neue ›Entwicklungsaufgaben‹ weiblicher und männlicher Adoleszenz«209 entwickeln bzw. die Handlungsspielräume wesentlich erweitert werden können. Insbesondere die Frage nach der Vermittlung von Bindung und Autonomie muss neu definiert werden, da die konventionelle Form der binären Geschlechterordnung und die tradierten Geschlechterrollenbilder einer patriarchalen Herrschaft und einer Unterordnung der Frau in Frage gestellt wurden.210 Insbesondere ab den 1960er Jahren, durch die Frauenforschung und durch den im Zuge der Studenten- und Frauenemanzipationsbewegung geförderten gesellschaftlich-kulturellen Wandel, wurden Bedingungen geschaffen, die eine Dekonstruktion tradierter Geschlechterrollenvorstellungen und einen individuelleren Umgang mit Geschlechterrollenbildern unterstützten.211 Entscheidend für die Gestaltung weiblicher Lebensentwürfe sind die für sie vorhandenen beruflichen Chancen, so Flaake und King. Diesbezüglich gibt es auf dem Ausbildungs- und dem Arbeitsmarkt weiterhin eine geschlechtsspezifische Einteilung, die die Aufstiegsmöglichkeiten und die Autonomiemöglichkeiten weiblicher Adoleszenter beschränkt, den jungen Frauen zusätzliche Anstrengungen abverlangt und eine größere Durchsetzungsbereitschaft beansprucht.212 Soziologische Studien bestätigen, dass sich die Möglichkeiten für die Gestaltung weiblicher Lebensentwürfe durch die zunehmende Qualifizierung weiblicher Heranwachsender erweitern: »Die Zentrierung der Perspektive um ein durch den Ehemann ökonomisch abgesichertes Leben als Hausfrau und Mutter ist abgelöst worden durch die Bedeutsamkeit einer auf ökonomischer Unabhängigkeit basierenden Lebensgestaltung und ausgeprägten Interessen an der Erweiterung persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten hauptsächlich im Bereich beruflicher Arbeit […].«213

Weibliche Heranwachsende werden traditionell mit Vorstellungen konfrontiert, nach denen der Vater für den beruflichen – und somit für den ökonomischen – Bereich und die Mutter für den familiären Bereich zuständig sind. Die in der Adoleszenz eintretende Abgrenzung zu den Eltern bedeutet in diesem Kontext, dass Heranwachsende tradierte Geschlechterrollenvorstellungen und Konven-

208 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 50. 209 Ebd. Siehe auch Waldeck, Ruth: Die Frau ohne Hände. Über Sexualität und Selbstständigkeit. In: Flaake/King, Weibliche Adoleszenz. 2003, S. 186–198, hier: S. 194. 210 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 50. 211 Vgl. Flaake/King, Psychosexuelle Entwicklung. 2003, S. 14. 212 Vgl. ebd., S. 15. 213 Ebd., S. 15f.

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tionen kritisch hinterfragen und für ein »innovative[s] Moment«214 sorgen. Spezifisch für die weibliche Adoleszenz sind bestimmte Formen der Fremdbestimmung, die mit familialen Aufträgen zusammenhängen. So entstehen häufig »Beziehungs- oder Familienkonstellationen, bei denen die heranwachsende junge Frau bewußt oder unbewußt für die Bedürfnisse anderer in Funktion genommen wird und in entsprechende Beziehungsmuster verwickelt wird«215. Ebenso problematisch für die weibliche Individuation ist die Tatsache, dass oft weibliche Adoleszente die Rolle der ›Retterin‹ und ›Helferin‹ übernehmen und sich dafür verantwortlich fühlen, »die Wunden, Verletzungen oder Zerstörungen in der Familie zu heilen und [zu] kompensieren«216. Durch solche Fremdbestimmungen findet eine Verengung des Raums für die narzisstische Stabilisierung statt. Ebenso können die für die Entwicklung der adoleszenten Identität unerlässliche Größen- und Allmachtsphantasien nicht genügend ausgelebt werden. Auf diese Störungsmomente reagieren junge Frauen häufig mit einer radikalen Negation ihrer Weiblichkeit oder ihres Körpers. Die feindselige Haltung dem eigenen Körper gegenüber manifestiert sich zum Beispiel in pathologischen Formen wie der Anorexie, die als eine »gegen den Körper gewendete Größenphantasie«217 gelten kann, mit der sich weibliche Heranwachsende vor fremden Funktionalisierungsstrebungen zu schützen suchen, so King. In jugendsoziologischen Studien ist bei der weiblichen Individuation von einer »aktive[n] Doppelorientierung auf Beruf und Kinder«218 die Rede. Das Modell der aktiven Doppelorientierung, in der die jungen Frauen ihre berufliche Entwicklung mit ihrer Familienvorstellung in Einklang zu bringen versuchen, steht demnach dem männlichen Modell von einer auf den Beruf fixierten Individualisierung entgegen. King und Flaake bemängeln, dass das von Seidenspinner und Keddi entworfene Modell der aktiven Doppelorientierung nicht differenziert genug sei, da die Bedeutung der unbewussten Motive, die den rationalen Überlegungen und zielgerichteten und bewussten Entscheidungen zuwiderliefen, nicht berücksichtigt werde. In diesem Zusammenhang verweisen sie auf die Notwendigkeit des Einbezugs einer psychoanalytischen Perspektive, um die »Konflikthaftigkeit weiblicher Lebensentwürfe«219 erschließen zu können. Gleichwohl stellen King und Flaake fest, dass »die Wahrnehmung der Körper214 Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 278; vgl. hierzu auch Kapitel 2.3 Zur Adoleszenz als zweiter Chance und Kapitel 2.4 Adoleszenz und Störung. 215 King, Vera: Identitätsbildungsprozesse in der weiblichen Adoleszenz. In: Wiesse, Jörg (Hg.): Identität und Einsamkeit. Zur Psychoanalyse von Narzißmus und Beziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 53–70, hier: S. 64. 216 Ebd. 217 Ebd., S. 65. 218 Seidenspinner, Gerlinde/Keddi, Barbara [u. a.]: Junge Frauen heute – Wie sie leben, was sie anders machen. Opladen: Leske + Budrich 1996, S. 213. 219 Flaake/King, Psychosexuelle Entwicklung. 2003, S. 17f.

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lichkeit und die subjektiven Interpretationen des Körper- und Geschlechtserlebens sowie die damit verbundenen psychischen Prozesse […] untrennbar verflochten mit der Wahrnehmung und Interpretation der kulturellen Geschlechtsrollenvorgaben«220 sind. Die körperlichen Veränderungen und deren psychische Verarbeitung stellen eine wichtige Entwicklungsaufgabe dar. Im Vergleich zu gleichaltrigen Jungen setzen die somatischen Veränderungen bei Mädchen in der Regel ca. zwei Jahre früher ein.221 Demzufolge müssen sie sich mit dem körperlichen Umbruch früher auseinandersetzen und die damit zusammenhängenden Spannungen verarbeiten.222 Die Geschlechtsreifung und die damit zusammenhängenden somatischen Veränderungen erfordern bei Mädchen spezifische Aneignungsprozesse, um das neue Potenzial des Körpers sowie die veränderten Körperformen mit allen dazu gehörenden Implikationen in ein neues Körperbild und Selbsterleben zu integrieren. Das Wachsen der Brüste manifestiert zum einen das Ende der Kindheit. Zum anderen haben die Brüste aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung als Sinnbild für weibliche Sexualität eine wichtige Funktion, zumal Mädchen durch ihre Brüste als sexuelle Wesen wahrgenommen werden und ihre eigenen sexuellen Wünsche und Sehnsüchte mit dem Wachsen der Brüste verbinden.223 Diese körperliche Veränderung wird von den Betroffenen in der Regel mit negativen Gefühlen verbunden, zum Beispiel psychischen Verunsicherungen oder Scham. Gleichwohl führt sie dazu, dass die Mädchen »als sexuelles Wesen und damit als Objekt des Begehrens wahrgenommen«224 werden. Das adoleszente Erleben von körperlichen Veränderungen wird durch die dominierende gesellschaftliche Weiblichkeitsdefinition stark beeinflusst, dementsprechend sind die sozialen Rahmenbedingungen entscheidend, um die Aneignungsprozesse erfolgreich gestalten zu können.225 Auf einer psychischen Ebene ist die Verarbeitung der somatischen Veränderungen untrennbar von der »Aneignung, Ausgestaltung und Modifikation gesellschaftlicher Geschlechtervorstellungen und Weiblichkeitsbilder«226. Soziale Konstruktionen von Zweigeschlechtigkeit und kulturelle sowie gesellschaftliche Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit haben demzufolge eine regulatorische Wirkung bei der Bestimmung der weiblichen und männlichen Identitätsbildung. 220 Ebd., S. 13. 221 Vgl. Hagemann-White, Berufsfindung und Lebensperspektive in der weiblichen Adoleszenz. 2003, S. 66. 222 Vgl. Hauk, Gabriele/Hermesmeyer-Kühler, Astrid: Identität jenseits des Geschlechts? – Möglichkeiten und Grenzen in der Adoleszenz. In: Helsper, Jugend zwischen Moderne und Postmoderne. 1991, S. 223–240, hier: S. 230. 223 Vgl. Flaake, Körper, Sexualität und Geschlecht. 2001, S. 109ff. 224 Ebd., S. 111f. 225 Vgl. ebd., S. 112. 226 Ebd., S. 113.

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Flaake stellt die körperlichen Veränderungen der Pubertät in einen Kontext von erstens binären Geschlechtervorstellungen, zweitens von kulturellen und gesellschaftlichen Rollenbildern von Weiblichkeit und Männlichkeit und drittens von normativen Vorstellungen von Sexualität, bei denen »eine heterosexuelle Aufeinanderbezogenheit der Geschlechter zentral ist«227. Die von der Gesellschaft tradierten Bedeutungszuweisungen konditionieren das Selbstgefühl der Heranwachsenden und bestimmen, wie sie sich als Frau oder Mann selbst erleben. Diese Identifikationsangebote sind fixiert in ihren psychischen Strukturen und ihrem Selbstbewusstsein, dementsprechend »nicht beliebig oder willkürlich individuell veränderbar«228. Die in der westlich-industriellen Gesellschaft dominierenden Vorstellungen weiblicher Körperlichkeit »sind stark geprägt durch Schönheitsideale und einen spezifischen Bezug zum anderen Geschlecht«229. Betrachtet man die Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen einer modernen Gesellschaft, dann ist die Rede von einer Erweiterung der Handlungsspielräume, es eröffnet sich nämlich ein Raum für neue Lebenskonzepte, die mit den Veränderungen der Lebenssituationen und -möglichkeiten von Mädchen und jungen Frauen zusammenhängen. Infolgedessen genießen die Frauen größere Lebensgestaltungsmöglichkeiten. Gleichwohl geraten sie häufig in einen Konflikt, da sie nebeneinander existierenden modernen und traditionalen Vorstellungen von Weiblichkeit ausgesetzt sind und mit widersprüchlichen Erwartungen in Bezug auf ihre Rolle als Frau konfrontiert werden.230 Obwohl die tradierten Muster der Geschlechterverhältnisse in den letzten Jahrzehnten zum Teil in Frage gestellt wurden, indem erstens Frauen in der Berufswelt neue Arbeitsfelder für sich in Anspruch nehmen und mit den Männern konkurrieren, zweitens neben dem Familienmodell einer patriarchalen Autorität alternative Familienvorstellungen Gegenstand des öffentlichen Diskurses sind, drittens Mädchen im Bildungsbereich deutliche Erfolge erzielen und die männliche Hegemonie in Frage stellen und viertens eine Rhetorik mit einer egalitären Werthaltung im öffentlichen Diskurs dominant erscheint, lassen sich jedoch keine wirklich erkennbaren Erfolge in der Praxis verzeichnen. Michael Meuser spricht in diesem Kontext von einer Immunität der kollektiven Habitualisierungen, die sie unempfänglich gegen omnipräsente Irritationen macht.231 In diesem Kontext bewegen sich auch Vorstellungen weiblicher Körperlichkeit, denen zufolge

227 228 229 230

Ebd. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 192. Flaake, Körper, Sexualität und Geschlecht. 2001, S. 113. Vgl. Scheidegger, Valérie: Die Bedeutung des sozialen Geschlechts für die weibliche Identitätsentwicklung in der Adoleszenz. Bern: Verlag Edition Soziothek 2011, S. 47, 71. 231 Vgl. Meuser, Michael: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 321ff.

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Frauen als »Objekt männlicher Blicke und männlichen Begehrens«232 eine passive Rolle zugesprochen wird: »Im Vordergrund steht nicht die aktive Aneignung des eigenen Körpers und die Entdeckung sexueller Wünsche und Vorlieben, sondern eine Wendung zur Passivität: zum Wunsch nach Begehrtwerden durch einen Mann.«233

Die begehrende Reaktion des männlichen Geschlechts auf die Körperlichkeit der weiblichen Heranwachsenden erfüllt eine identitätsstiftende Funktion, zumal das »Begehrtwerden durch das andere Geschlecht eine größere Bedeutung […] als das eigene Selbstgefühl«234 erhält, so Flaake. Demzufolge betrachten die weiblichen Adoleszenten ihren eigenen Körper erst »mit dem phantasierten Blick des anderen Geschlechts«235, bevor sie ein eigenes positives Selbstgefühl erarbeiten. In diesem Sinne positioniert sich auch Hagemann-White und spricht von einer »befremdliche[n], von eigenen inneren Impulsen unabhängigen Sexualisierung [des] Körpers«236. Das hat tiefgreifende Auswirkungen auf das weibliche Selbstbild. Für frühpubertäre Mädchen ist die Entdeckung der Sexualität etwas, was andere Menschen auf sie projizieren. Infolgedessen sei es möglich, dass weibliche Heranwachsende im Zuge der Adoleszenz die eigene Souveränität einbüßen und in ihrer weiteren Entwicklung nur darauf bedacht sind, den sozialen Erwartungen und Vorstellungen des Lebensumfeldes gerecht zu werden.237 Unter diesen kulturellen und gesellschaftlichen Umständen neigen junge Frauen dazu, aufgrund ihres Körpers eher verunsichert zu sein als ein stabiles Selbstbewusstsein zu entwickeln.238 Vor diesem Hintergrund erhalten Momente, in denen junge Frauen eine Wertschätzung ihrer weiblichen Körperlichkeit erfahren, zum Beispiel durch die mütterliche oder väterliche Bestätigung, eine wichtige Bedeutung.239 Entscheidend für die Verarbeitung und Integration der psychosexuellen und psychosozialen Erfahrungen sind die »Beziehungen der Mädchen […] zu ihren primären Bezugspersonen, ihren frühen Liebesobjekten«240. Weibliche Heranwachsende streben im Zuge ihrer zunehmenden Auto232 Flaake, Körper, Sexualität und Geschlecht. 2001, S. 113. 233 Flaake, Karin/John, Claudia: Räume zur Aneignung des Körpers. Zur Funktion von Mädchenfreundschaften in der Adoleszenz. In: Flaake/King, Weibliche Adoleszenz. 2003, S. 199– 212, hier: S. 199. 234 Flaake, Körper, Sexualität und Geschlecht. 2001, S. 114. 235 Ebd. 236 Hagemann-White, Berufsfindung und Lebensperspektive in der weiblichen Adoleszenz. 2003, S. 71. 237 Vgl. ebd. 238 Vgl. Flaake, Körper, Sexualität und Geschlecht. 2001, S. 114. 239 Vgl. ebd., S. 116. 240 Jansen, Mechthild M./Jockenhövel-Poth, Annemarie: Trennung und Bindung bei adoleszenten Mädchen aus psychoanalytischer Sicht. In: Flaake/King, Weibliche Adoleszenz. 2003, S. 266–278, hier: S. 268.

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nomieherstellung und der damit verknüpften Ablösung vom Elternhaus eine neue Ausgestaltung der Bindung zur Mutter an und versuchen dabei, das von Vertrauen und Nähe geprägte Verhältnis auf einem anderen Niveau wieder aufzubauen.241 Das Mutter-Tochter-Verhältnis ist jedoch während der Adoleszenz nicht frei von krisenhaften Störungsmomenten, sondern oft durch eine wechselseitige Rivalität geprägt.242 Mütter werden durch den Eintritt der Menstruation mit der Weiblichkeit und der sexuellen Reifung ihrer Töchter konfrontiert. Alltäglich sehen sie ihren eigenen älter werdenden Körper im Verhältnis zur Jugendlichkeit der Töchter. Auf der anderen Seite geraten Töchter mit ihren Wünschen nach Anerkennung des eigenen Körpers in eine Rivalitätssituation im Kontext des Verlangens nach Abgrenzung von der mütterlichen Instanz. Das Austragen dieser aufstörenden Rivalitätsmomente ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen der Adoleszenz bzw. für den Erfolg der weiblichen Individuation. Ihre Unterdrückung kann zu »einer unzureichenden eigenen Ich-Ideal- und Über-Ich-Entwicklung«243, das heißt zu einer gestörten Ausbildung des Ichs führen, für die ein niedriges Selbstwertgefühl kennzeichnend ist.244 Geht die Tochter aus Angst dem Rivalitätskonflikt aus dem Weg, dann »vergibt sie die Chance der Pubertät, ihre aggressiven und aktiven Anteile kennenzulernen und sich selbst ihres Körpers zu bemächtigen«245. Verzichten weibliche Heranwachsende während der Pubertät auf das Ausprobieren ihrer Sexualphantasien, können sie selbst dadurch ihrer körperlichen Weiblichkeit keinen Wert verleihen und bleiben hinsichtlich der Identitätsfrage von männlichen Bestätigungen abhängig.246 Infolgedessen entwickeln sich häufig negative Verhaltensauffälligkeiten psychischer und psychosomatischer Natur, wie zum Beispiel Hörigkeit und unmündiges Verhalten, sowie pathologische Erscheinungen wie Ess- und Identitätsstörungen oder seelische Störungen.247 Mit dem weiblichen Hörigkeitsverhalten geht die Bestätigung der Ungleichheit der Geschlechter einher; die männliche Dominanz wird an die nächste Generation tradiert.248 Im Gegensatz dazu erlangen weibliche Heranwachsende durch das Probehandeln der Selbstbefriedigung ein Gefühl für Autonomie und Selbstverantwortung:

241 Vgl. Hagemann-White, Berufsfindung und Lebensperspektive in der weiblichen Adoleszenz. 2003, S. 77. 242 Vgl. Flaake, Körper, Sexualität und Geschlecht. 2001, S. 117. 243 Jansen/Jockenhövel-Poth, Trennung und Bindung. 2003, S. 275. 244 Vgl. Waldeck, Die Frau ohne Hände. 2003, S. 194f.; vgl. hierzu auch Erdheims Konzept der eingefrorenen Adoleszenz im Kapitel 2.4 Adoleszenz und Störung. 245 Waldeck, Die Frau ohne Hände. 2003, S. 196. 246 Vgl. Flaake/John, Räume zur Aneignung des Körpers. 2003, S. 201. 247 Vgl. Jansen/Jockenhövel-Poth, Trennung und Bindung. 2003, S. 270f. 248 Vgl. Waldeck, Die Frau ohne Hände. 2003, S. 196.

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»Durch das körperliche Erleben stärkt [die junge Frau] ihre Selbstsicherheit und Selbstbewusstheit und erweitert das weibliche Selbstbild um die Anteile, die traditionell dem Mann zugeschrieben werden.«249

Die Art und Weise, wie weibliche Adoleszente ihren Körper wahrnehmen oder wie sie damit bewusst umgehen, hat Auswirkungen auf ihre weitere Entwicklung in der Gesellschaft, insbesondere auf die Gestaltung ihrer weiblichen Geschlechterrolle bzw. auf ihre Auffassung von Weiblichkeit. Anders als die konfliktreiche Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist das Verhältnis zum Vater eher positiv besetzt. Traditionell steht der Vater für Autonomie, Aktivität und Handlungsfähigkeit. Der weibliche Individuationsprozess orientiert sich am Vater, zumal die oben genannten Eigenschaften Voraussetzung für die Übernahme einer generativen Haltung sind. Dies führt allerdings zu einem komplexeren Konflikt, wenn die jungen Frauen die Lebensbereiche Beruf und Familie für ihre eigene Individuation in Anspruch nehmen, da an diese Lebensbereiche »unbewußte Bedeutungsgehalte geknüpft [sind], die Resultate mütterlicher und väterlicher Identifizierungen und der damit verbundenen Widersprüchlichkeiten sind«250. Für die weiblichen Heranwachsenden bedeutet das Streben nach beruflichem Erfolg in einer Leistungsgesellschaft eine Identifikation mit der dem Vater traditionell zugesprochenen Lebensweise und zugleich eine Ablehnung der symbolisch mit der Mutter verbundenen Lebensweise. Die Abwendung von der Mutter zugunsten des Vaters verursacht bei den jungen Frauen Schuldgefühle.251 Ebenso verschärft sich mit dem Erzielen beruflicher Erfolge das Verhältnis zum Vater, da dieser sich durch die beruflichen Erfolge der Tochter entmachtet fühlen kann.252 Angelehnt an Adria Schwartz verweisen Jansen und Jockenhövel-Poth auf die Bedeutung der väterlichen Bestätigung, um das »geschlechtliche[] Selbst [weiblicher Adoleszenter] als Subjekt und Objekt des Verlangens«253 zu konsolidieren und ihre Geschlechtsrollenidentität zu festigen. Neben dem Einfluss der primären Bezugspersonen für die Entwicklung der weiblichen Adoleszenz muss die Wirkung der gleichaltrigen Gruppen und der Einzelfreundschaften berücksichtigt werden. Die Peergroups erfüllen eine wichtige Funktion bei der Suche nach Anerkennung außerhalb des familialen Umfeldes sowie eine unterstützende Funktion beim Aushandeln neuer sozialen Rollen, denn sie stellen einen wichtigen Interaktions- und Begegnungsraum dar. Eine der wichtigen Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz ist es, ein eigenes 249 250 251 252 253

Ebd., S. 197. Flaake/King, Psychosexuelle Entwicklung. 2003, S. 18. Vgl. Jansen/Jockenhövel-Poth, Trennung und Bindung. 2003, S. 275. Vgl. Flaake/King, Psychosexuelle Entwicklung. 2003, S. 18. Jansen/Jockenhövel-Poth, Trennung und Bindung. 2003, S. 276.

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Leben als erwachsene sexuelle Person zu gestalten. Bei der Gestaltung dieser Aufgabe geht es darum, »den eigenen Körper, die eigene Sexualität von der Mutter unabhängig zu machen«254. Flaake und John verweisen auf die Bedeutung von Mädchenfreundschaften in der »Spannung zwischen dem Wunsch nach Anerkennung der eigenen Sexualität durch die Mutter und nach der Ablösung von ihr«255. Mädchenfreundschaften bilden einen Übergangsraum, in dem Heranwachsende »ihre eigene Innenwelt ohne Angst vor vereinnahmenden Zugriffen erforschen können [und] in dem das [weibliche] Begehren sich frei entfalten«256 kann. Dementsprechend erfüllen Mädchenfreundschaften eine wichtige Funktion »für die Entwicklung und Ausdifferenzierung von Geschlechtsidentität«257. Birgit Bütow verweist darauf, dass die Mädchenfreundschaften je nach Entwicklungsphase und sozialen Beziehungen unterschiedlich funktional definiert werden können. In der Jugendphase entwickeln sich innerhalb der gleichaltrigen Gruppen weibliche Binnenstrukturen, in denen Mädchen unter sich Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht reflektieren, sich gegenseitig unterstützen und unterschiedliche »Praxen und Muster von Weiblichkeit«258 aushandeln. Neben der beratenden Funktion stellen die Mädchengruppen einen kollektiven Ort dar, in dem unterschiedliche Rollen hinsichtlich der Liebe, der Beziehungen und der Sexualität ausgehandelt und besprochen werden können. Die Beziehungen der Mädchen innerhalb ihrer weiblichen Gruppen gelten als Vorläufer für spätere romantische Beziehungen und zeichnen sich durch ein höheres Intimitätsniveau aus.259 Aufgrund dessen sind sie in den späteren romantischen Beziehungen »eine Art ›Lehrmeister‹ in Sachen Beziehungsentwicklung und Intimität für ihre Partner«260. Beim Übergang vom Jugend- in das Erwachsenalter verlieren die weiblichen Binnenstrukturen zwar Stabilität, gleichwohl wirken sie weiterhin als »zentrale Instanz des sozialen Vergleichs und Konstruktion von Identitäten im Hinblick auf Weiblichkeit«261. Nach Seiffge-Krenke sind Mädchen bei ihrer Identitätsentwicklung stärker auf Freunde bezogen als männliche Adoleszente. Die beste Freundin übernimmt in diesem Kontext eine wichtige Rolle bei der

254 255 256 257 258 259 260 261

Flaake/John, Räume zur Aneignung des Körpers. 2003, S. 203. Ebd., S. 203f. Ebd., S. 204. Schrader, Peergroups als Kontexte. 2016, S. 310; vgl. hierzu auch Seiffge-Krenke, Freundschaften und romantische Beziehungen. 2018, S. 112f. Bütow, Mädchen in Cliquen. 2006, S. 224; vgl. hierzu auch Breitenbach, Eva: Mädchenfreundschaften in der Adoleszenz. Eine fallrekonstruktive Untersuchung von Gleichaltrigengruppen. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2000, S. 305ff. Vgl. Seiffge-Krenke, Inge: Romantische Beziehungen. In: Köhler/Krüger/Pfaff, Handbuch Peerforschung. 2016, S. 249–259, hier: S. 255. Ebd. Bütow, Mädchen in Cliquen. 2006, S. 227.

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Konturierung des Körpers.262 Im Anschluss geht es darum, die spezifische Bedeutung des Körpers im Rahmen der adoleszenten Entwicklung zu bestimmen.

2.2.5 Zur Bedeutung des Körpers in der Adoleszenz Im Verlauf der Adoleszenz erreicht der adoleszente Körper allmählich seine physiologisch erwachsene Reife. Dementsprechend repräsentiert der Körper des Heranwachsenden die adoleszente Individuation par excellence, da er die Zugehörigkeit zu den Erwachsenen darstellt. Es handelt sich nicht nur um eine Veränderung, die mit der Größe zu tun hat, sondern vor allem um eine substanzielle Veränderung, die mit der Geschlechtsreifung einhergeht. Dadurch erhält der adoleszente Körper eine sexuierte Dimension, die einerseits den Bezug zum anderen und andererseits seinen eigenen generativen Charakter verdeutlicht.263 Der heranwachsende Körper definiert sich über Begehren und Begehrtwerden, dadurch gerät unter anderem die potenzielle Fruchtbarkeit des Individuums in den Vordergrund. »Der geschlechtsreife Körper steht […] für den Bezug zu den […] Erzeugern […] wie zu der Potenzialität von ›Nachfahren‹«264, so King. Im Zuge der Modernisierung werden die Möglichkeiten, Individuation und Generativität zu gestalten, vielfältiger und subjektiv differenzierbar. Die Selbstkonstitutionsprozesse werden, vor allem durch die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, in einem gewissen Grad individuell gestaltbar. Es geht hierbei vor allem um die Frage, wie man Herr des eigenen Leibs wird. Die während der Pubertät eingetretene biologische Reifung des kindlichen Körpers zu einem erwachsenen, geschlechtsreifen Körper ist nicht simultan von der psychischen Fähigkeit begleitet, diese körperlichen Veränderungen anzunehmen, sie zu verstehen und mit ihnen kompetent umzugehen. Dementsprechend kämpft der Adoleszent zum einen mit der Erfahrung, dass der Verlust des eigenen kindlichen Körpers nicht mehr zu revidieren ist und zum anderen mit der Integration des neuen Körpers und der damit verbundenen physischen und psychosozialen Funktionen in ein neues Selbstbild.265 »Die mit dem herangewachsenen geschlechtlichen Körper verbundene Dialektik von Erweiterungs- und Begrenzungserfahrung«266 bildet dementsprechend eine der entscheidenden Herausforderungen adoleszenter Entwicklung, so King. Der Heranwachsende verar262 263 264 265

Vgl. Seiffge-Krenke, Freundschaften und romantische Beziehungen. 2018, S. 112. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 181. Ebd. Vgl. King, Vera: Körper und Geschlecht in der Adoleszenz. In: Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, H. 1. CIP-Medien, München 2002, S. 92–100, hier: S. 93. 266 Ebd.

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beitet seine körperlichen Veränderungen mittels Erweiterungserfahrungen, beispielsweise durch Größen- oder Omnipotenzphantasien und eine Steigerung des Narzissmus, oder mittels Begrenzungserfahrungen, zum Beispiel durch vorübergehende Störungen des Selbstwertgefühls.267 Angelehnt an Michael Mitterauer stellt King fest, dass die Beziehung zwischen körperlichen Veränderungen und sozialer Entwicklung nicht einseitig ist; vielmehr handelt es sich um eine Wechselwirkung, bei der das Somatische und das Soziale sich gegenseitig konditionieren. Die Heranwachsenden müssen die geschlechtstypischen Veränderungen des Körpers und die damit verbundene Potenzialität und Begrenzung verarbeiten. Sie werden in dieser Lebensphase aufgefordert, die Möglichkeiten der Geschlechterordnung bewusst wahrzunehmen und »ihren geschlechtsspezifischen Habitus zu entwickeln«268. Dementsprechend übernehmen die Heranwachsenden Identifikationsangebote, aus denen Rollenbilder und Verhaltensstereotype abzuleiten sind. Aus einem männlichen und weiblichen kindlichen Körper sollen ein Mann und eine Frau konstituiert werden. King macht darauf aufmerksam, dass erst durch das Hinterfragen und durch die Analyse der konventionell vermittelten binären Geschlechterordnung seitens der Frauen- und Genderforschung sichtbar wurde, wie die Entwicklung einer Geschlechtsidentität von der binären Geschlechterordnung geprägt wird, die mit einer Reihe implizierter wirkmächtiger Normen das Geschlechterverhalten konditioniert und als wirkungsmächtiger Mechanismus Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit reguliert und dafür sorgt, dass sie in der Gesellschaft als feste Bezugskategorie eingebürgert werden.269 King verweist auf die Bedeutung des adoleszenten Entwicklungs- und Bildungsmoratoriums, um die psychische Verarbeitung der somatischen Veränderungen zu erfassen sowie die Gestaltungsmöglichkeiten der Aneignung des geschlechtsreifen Körpers zu moderieren. Soziale Faktoren bedingen die Qualität der Gestaltungsmöglichkeiten des psychosozialen Moratoriums und dementsprechend die Individuierungsmöglichkeiten.270 Auch bei günstigen sozialen Bedingungen wird die adoleszente Entwicklung mit dem Begriff der Krise in Verbindung gesetzt. Der krisenhafte Charakter manifestiert sich vor allem durch die Tatsache, dass das vom Kind verinnerlichte und als gewohnt wahrgenommene Selbstverständnis des eigenen Körpers nicht mehr aufrechterhalten bleiben kann und sich ein neues psychisches Selbstverständnis bilden muss, das die psychische Aneignung des genitalen Körpers integriert. Bei diesem Umwandlungsprozess ist die Krise »jene[r] Umschlagspunkt […], in dem aufgrund 267 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 199ff. 268 Ebd., S. 191. 269 Vgl. ebd., S. 19; vgl. hierzu auch Butler, Judith: Zwischen den Geschlechtern. Eine Kritik der Gendernormen. In: Politik und Zeitgeschichte. B 33-34/2002, S. 6–8, hier: S. 7. 270 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 192.

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struktureller Wandlungen eine neue Notwendigkeit zur Äquilibration«271 im Sinne Piagets sichtbar wird und noch inhaltlich zu konkretisieren ist.272 Solange der Heranwachsende die Inhalte und Formen der neuen Äquilibration nicht erfolgreich gestaltet hat, befindet er sich in einem inhaltlichen Vakuum, das »eine psychische Labilisierung«273 provoziert und dementsprechend mit Unsicherheiten und Risiken behaftet ist. In diesem Kontext spielen die oben angesprochenen tradierten Identifikationsangebote eine wichtige Rolle, zumal die Adoleszenten in einer bestimmten kulturellen und sozialen Umgebung auf entsprechende Codes zurückgreifen, mit denen Geschlechter- und Körperbedeutungen konstruiert werden.274 Die eingetretene psychische Labilität muss von den Heranwachsenden ständig kompensiert werden, bis sie die wirkliche Aneignung des geschlechtsreifen Körpers psychisch mit ihrer Identität vereinbart haben. Die Kompensationsmaßnahmen manifestieren sich in der Regel dadurch, dass die Heranwachsenden zwischen unterschiedlichen alternierenden Haltungen polarisieren, beispielsweise zwischen Allmachtsphantasien und Entwertungsprozessen, zwischen einer narzisstischen Abkapselung und der Sehnsucht nach Partnerschaft, oder sich zwischen unterschiedlichen sexuellen Identifikationsangeboten hin und her bewegen.275 Durch die Ästhetisierung des Körpers ist es den Heranwachsenden möglich, sich von der Erwachsenenkultur zu distanzieren und dadurch die eigene Identität zu verstärken. King geht von der Notwendigkeit der Überbesetzung des Selbst aus, um diesen Abgrenzungsprozess deutlich zu markieren. Sie verweist auf den kausalen Zusammenhang zwischen der Identitätsunsicherheit des Individuums und der Intensität der Überbesetzung des Selbst. Mit einer intensiveren Überbesetzung des Selbst versucht das Individuum seine eigene Unsicherheit abzuwehren.276 In diesem Zusammenhang spielt die positive affektive Besetzung des Selbst eine entscheidende Rolle, zumal sie die Funktionstüchtigkeit des Individuums im Umgang mit dem sozialen Umfeld fördert. Im Fall einer Störung der affektiven Besetzung des Selbst, zum Beispiel bei Heranwachsenden, die in einem prekären Familienumfeld mit keiner generativen Haltung der Eltern in Berührung kommen, kommt es häufig zu einer Intensivierung der Überbesetzung des 271 Ebd., S. 194. 272 Die Äquilibration nimmt eine zentrale Rolle im Rahmen der Stufentheorie von Jean Piaget ein, denn sie ist die treibende Kraft der kognitiven Entwicklung. Nach Piaget ermöglicht die Äquilibration ein Dezentrierungsmoment. Nimmt das Individuum Ungleichgewichte wahr, wie zum Beispiel im Rahmen der körperlichen Reifungsprozesse, versucht es sie zu überwinden. Vgl. Wirtz, Markus Antonius (Hg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie. 19., überarb. Aufl. Bern: Hogrefe 2020, S. 181f. 273 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 195. 274 Vgl. ebd., S. 194ff. 275 Vgl. ebd., S. 197. 276 Vgl. ebd., S. 198.

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Selbst. Der heranwachsende Körper wird als Experimentierobjekt vielfältigen Risiken und Grenzen ausgesetzt, die häufig destruktive Folgen verursachen. Angelehnt an Donald W. Winnicott betont King, dass »destruktive Phantasien und Neigungen zu den Bewältigungsformen der Adoleszenz gehören«277, mit denen der Adoleszent die Veränderung des Körpers und die damit zusammenhängenden Gefühle von Unsicherheit, Abhängigkeit und Ohnmacht zu verarbeiten versucht, um eine Autonomie zu erlangen. Dementsprechend handelt es sich bei den Grenzüberschreitungen und dem Spiel mit dem Risiko um einen zentralen Prozess der psychischen adoleszenten Entwicklung, so King. Nach Kings Auffassung pflegt der Heranwachsende ein ambivalentes Verhältnis zu seinem eigenen Körper, zumal er von seinem kindlichen Dasein Abschied nehmen muss, begleitet vom Versuch, die Erweiterungs- und Begrenzungsaussichten zu verarbeiten, die mit dem geschlechtsreifen Körper hinsichtlich der Generativität bzw. der potenziellen Fortpflanzungsfähigkeit zusammenhängen. Die Verarbeitung erfolgt in einem häufig mit Risiken verbundenen Spiel, bei dem der Adoleszent das neu gewonnene Potenzial des Körpers zu entdecken und zu kontrollieren versucht.278 King verweist in diesem Kontext auf die durch das Geschlecht bedingte unterschiedliche Akzentuierung des Verarbeitungsprozesses. Bei Mädchen manifestiert sich die Kontrolle des Körpers in einem Drang zur Selbstbeherrschung und in einer zwanghaften Kontrolle dessen, was mit ihrem Körper passiert und was man zu sich nimmt. Im Gegensatz dazu tendieren männliche Adoleszente dazu, mit ihrem Körper die »äußere Welt der Objekte«279 zu kontrollieren. Diese Unterschiede zeichnen sich auch ab in der Art, wie Heranwachsende je nach Geschlecht ihre körperliche Selbstdestruktivität gestalten. Während bei jungen Frauen Essstörungen zu beobachten sind, tendieren männliche Adoleszente zu riskanten und bedrohlichen Handlungen.280 King verweist auf die Wechselwirkung zwischen Entwicklungsbedingungen und (selbst)zerstörerischen adoleszenten Prozessen. Je eingeschränkter die adoleszenten Entwicklungsbedingungen zur Entfaltung von Größenphantasien sind, zum Beispiel durch die strengen familialen Vorgaben hinsichtlich der Berufs- oder Partnerfindung oder durch die dominierende Geschlechterordnung, die keinen ausreichenden Entwicklungsraum zulassen, desto intensiver fallen die (selbst)destruktiven adoleszenten Mechanismen bei Mädchen aus. Bei männlichen Heranwachsenden ist laut King ein typisches Verhalten zu beobachten, geprägt von Kontrolle der Objektwelt bei gleichzeitiger Inanspruchnahme einer eigenen autonomen Rolle.281 Angelehnt an Ralf Bohnsack 277 278 279 280 281

Ebd., S. 199. Vgl. ebd., S. 204. Ebd. Vgl. ebd.; Siehe Näheres dazu im Kapitel 2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten. Vgl. ebd., S. 205.

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weist King auf die Schwierigkeiten hin, die männliche Adoleszente bei der Gestaltung ihrer Liebesbeziehung haben. Geprägt von der Angst, ihre eigene Unabhängigkeit zu verlieren, kämpfen sie im Vergleich zu Mädchen über einen längeren Zeitraum hinweg um den Einklang von Bindung und Autonomie. In diesem Kontext spielten die väterlichen Vorbilder eine entscheidende Rolle. Problematisch und gefährlich wird es für den Heranwachsenden, wenn der Vater keine generative Haltung einnimmt. In dieser Situation wird der Mannwerdungsprozess von Selbstverlustängsten überlagert, die sich bei der Gestaltung von Liebesbeziehungen und anderen Objektbeziehungen negativ auswirken.282 Je nach der Intensität der Selbstverlustängste werden die eingesetzten Kontrollmechanismen männlicher Adoleszenter dimensioniert.283 Die in der Adoleszenz typischen Grenzüberschreitungen und das Risikoverhalten der Heranwachsenden werden zusätzlich verstärkt, wenn seitens der Eltern keine generative Haltung eingenommen wird, um die Autonomisierungsstrebungen der Jugendlichen hinsichtlich ihrer Sexualität und Körperlichkeit zu unterstützen.284 Diese Autonomisierungsstrebungen werden von ambivalenten Gefühlen begleitet. Die Neugier auf Leidenschaftserfahrungen steht somit auch im Kontext der Angst vor den Folgen erster sexueller Handlungen. Derlei Initiationserfahrungen bedeuten für die Jugendlichen die Überschreitung neuer Körpergrenzen und werden häufig mit negativen Gefühlen verbunden. Insbesondere für die weiblichen Adoleszenten stellt die Entdeckung der Sexualität eine besondere Herausforderung dar, da sie den eigenen Körper und das Verhältnis zu diesem tangiert. In diesem Kontext ist, so die Auffassung Kings, enorm wichtig, dass die Heranwachsenden »eine Vorstellung von Körper-Selbst-Abgegrenztheit«285 entwickeln, um die Anforderungen einer Verschmelzung mit dem anderen psychisch verarbeiten zu können. Eine stabile Selbst-Objekt-Abgrenzung ist unabdingbar, um den genitalen Reifungsprozess in das eigene Selbstbild integrieren zu können. Allerdings kann sie in der Adoleszenz noch nicht gewährleistet werden. Insofern zeigt sich, welchen enormen Entwicklungs- und Verarbeitungsdruck die weibliche Körperlichkeit zu schaffen hat, so King.286 Im Zuge der Adoleszenz sollten die Heranwachsenden, wie Mario Erdheim postuliert, eine zweite Chance erhalten, um in einem adoleszenten psychosozialen Möglichkeitsraum neue Erfahrungen zu sammeln, ihre Selbst-Abgrenzung zu konsolidieren und entstandene Selbstverlustängste zu überwinden. Bei den Mädchen geht es darum, dass sie zuerst die »Identifizierung mit dem mütterlichen Ur-

282 283 284 285 286

Vgl. ebd., S. 206. Vgl. ebd., S. 224. Vgl. ebd., S. 207. Ebd., S. 210. Vgl. ebd., S. 210.

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sprung integrieren«287 und sich während des psychosozialen Moratoriums von ihm distanzieren. Bei männlichen Adoleszenten ist eine Tendenz zu beobachten, nach der sie ihre Selbstverlustängste externalisieren und sie durch Kontrollmechanismen ihrer Objektbeziehungen zu bewältigen versuchen. Beide vereint der Wunsch, die durch die neu gewonnene Generativität des Körpers entstandene Unsicherheit zu bewältigen, sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Verarbeitungsform.288 Im Zuge der Entwicklung einer Mediengesellschaft gewinnen zunehmend Aspekte der Äußerlichkeit und der Visualität an Bedeutung, und infolgedessen stehen Heranwachsende unter einem »permanente[n] Druck, sich körpernah zu inszenieren«289. In diesem Kontext übernehmen der adoleszente Körper und die (Körper)Inszenierungsrituale als Distinktionsmedium eine wichtige Funktion, um sich von der Generation der Erwachsenen und von anderen Gruppen abzugrenzen.290 Zu den (Körper)Inszenierungsritualen gehören neben den Kleidungsstilen auch Formen der Frisur sowie auch das Tragen von Ohrringen, Piercings und Tattoos. Gansel weist darauf hin, dass im Zuge des 21. Jahrhunderts Heranwachsende immer größere Schwierigkeiten haben, sich von der Gesellschaft abzugrenzen, weil die subkulturellen Gesten der Erneuerung, die häufig durch die Musik- und Modeszene transportiert werden, schnell vergesellschaftet werden. Wilfried Ferchhoff macht auf diese Veränderungen aufmerksam und stellt fest, dass Jung-Sein als Wert schlechthin gilt und »in quasi allen Altersklassen der Gesellschaft […] als Ideal und Idee hofiert und […] sehr geschätzt«291 wird. Dementsprechend werden jugendliche Inszenierungsrituale und Trends von der Gesellschaft vereinnahmt. Durch die Vergesellschaftung und Standardisierung jugendlicher subkultureller Distinktionspraktiken verlieren die subkulturellen Zeichen zunehmend ihren aufstörenden Charakter. Den Jugendlichen bleibt nur die Möglichkeit, durch extreme Mittel ein eigenes Distinktionsmerkmal zu setzen, so Gansels Auffassung.292 Als Folge zunehmender Bedeutung der Äußerlichkeit wird der Körper zum wichtigen Träger einer Stilisierungskultur, bei der Praktiken wie Muskeltraining, Stretching, Body-Painting, Tattoos und Piercen immer mehr an Bedeutung gewinnen. Ferchhoff verweist in diesem Zusammenhang auf einen ›Körperboom‹, mit dem das Jugendbild idealisiert wird und die Jugend ihr Können, ihre Schönheit und Potenzialität 287 288 289 290 291

Ebd., S. 211. Vgl. ebd., S. 224. Gansel, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung. 2011, S. 23. Vgl. ebd. Ferchhoff, Wilfried: Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile. 2., aktualisierte und überarb. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 298. 292 Vgl. Gansel, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung. 2011, S. 23.

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unter Beweis stellt.293 Da im Zuge der Modernisierung feststehende Rituale, mit denen in vormodernen Gesellschaften der Übergang ins Erwachsenalter markiert wurde, ihre Bedeutung verlieren bzw. nicht mehr existieren, wird der Körper von Heranwachsenden zum exklusiven Medium, um sich von der Erwachsenenwelt abzugrenzen. In dieser Hinsicht kann man von einem adoleszenten »Entritualisierungsprozess«294 sprechen, der in postmodernen Gesellschaften zum Erscheinen kommt, so Gansel.Viele der oben angesprochenen (Körper)Inszenierungsrituale erfolgen in einem jugendkulturellen Raum und erfüllen in diesem Kontext unterschiedliche Funktionen, die im Anschluss genauer definiert werden.

2.2.6 Zur Rolle von jugendkulturellen Bewegungen Heranwachsende beginnen in der Adoleszenz zunehmend, den familialen Raum zu verlassen, um bewusst mit anderen Gleichaltrigen oder Gleichgesinnten außerhalb des Einflussbereichs der Eltern zu interagieren, neue soziale Handlungsrollen zu verinnerlichen sowie neue Erlebniswelten zu entdecken. Die Soziologieforschung versucht Einblicke in diese Vergemeinschaftungsprozesse zu gewähren. Hierbei werden die Begriffe der Subkultur, der Jugendkultur und der Szene deutlich voneinander getrennt. Für den Subkultur-Ansatz gilt, dass ein bestimmbarer Teil der Gesellschaft durch seine Lebensweise, seine Ansichten und Wertvorstellungen von der Gesamtgesellschaft abweicht. Die Andersartigkeit einer Subkultur steht im Kontrast zu einer existierenden Hegemonialkultur, die von der Subkultur in Frage gestellt wird.295 In den 1970er Jahren tragen zum Beispiel die Mitglieder von jugendlichen Subkulturen zu einem kulturellen und gesellschaftlichen Wandel bei. Im Zuge einer Auflockerung der intergenerationalen Beziehungen und als Folge zunehmender Toleranzspielräume seitens der Eltern besteht aktuell für die Jugendlichen nicht mehr das dringende Bedürfnis nach Widerstand gegenüber sogenannten Hegemonialstrukturen. Jugendkulturen bezeichnen heute dementsprechend einen von der Gesellschaft tolerierten Möglichkeitsraum, in dem sich die Jugend unter sich eigenständig in ihrer Freizeit entfalten kann. Der Widerstandscharakter solcher Gruppierungen gerät in den Hintergrund bzw. ist nicht mehr existentiell notwendig. Parallel dazu und im Zuge einer sogenannten »Entstandardisierung und Entstrukturierung des

293 Vgl. Ferchhoff, Jugend und Jugendkulturen. 2011, S. 287f. 294 Gansel, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung. 2011, S. 26. 295 Vgl. Eisewicht, Paul/Niederbacher, Arne/Hitzler, Ronald: Laboratorium statt Moratorium. Von der Peerkultur der Gleichaltrigen zum Szenenleben der Gleichartigen. In: Köhler/ Krüger/Pfaff, Handbuch Peerforschung. 2016, S. 291–304, hier: S. 294.

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Zur Adoleszenz

Lebens in modernen Gesellschaften«296 entstehen Szenen, die sich unabhängig von Alterskriterien als »thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen [konstituieren, die] bestimmte materiale und mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen«297. Anders als in der Sozialisationsinstanz Schule, wo institutionell gesteuerte gleichaltrige Gruppen zusammenkommen, treffen sich in Szenen überwiegend Menschen unterschiedlichen Alters mit einem gemeinsamen Interesse.298 Ronald Hitzler und Arne Niederbacher betonen die geringeren Verbindlichkeitsansprüche der Szenen, die sich unter anderem in einer problem- und folgenlosen Regelung des Eintritts und Austritts manifestieren.299 In der Lebenspraxis der Heranwachsenden findet man häufig jugendkulturelle Szenen, die eine soziale Interaktion unter Gleichgesinnten ermöglicht. Im Folgenden geht es darum, jugendkulturelle Szenen hinsichtlich ihrer Sozialisationsfunktion genauer zu betrachten. Paul Eisewicht, Ronald Hitzler und Arne Niederbacher betonen die Bedeutung von Szenen in einer Gesellschaft, die zunehmend von Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen geprägt ist, um den Individuen eine Lebensorientierung zu verleihen. Durch die Interaktion mit den anderen Szenenmitgliedern gelingt es dem Individuum, eine Identität aufzubauen bzw. seine eigene Identität zu erweitern. Die individuelle Selbstverwirklichung steht im Zentrum des szenischen Handelns. Szenen öffnen die Türen zu bestimmten sozialen Beziehungen und bilden den »Aushandlungsort von szenenspezifischen Statusgewinnen und Hierarchien«300. In den Szenen eröffnen sich für das Individuum Möglichkeiten, die eigene Autonomie zu bestätigen, herkömmliche Entwicklungen zu verlassen und sich bewusst gegen gesellschaftliche und teilweise auch rechtliche Konventionen aufzulehnen. Die Zugehörigkeit zu einer Szene erfolgt aus dem individuellen Bedürfnis, Orientierungsrichtlinien und Identifikationsangebote zu finden. Je nach den gesellschaftlichen historischen Gegebenheiten sind die Funktionen der Szenen anders konnotiert. In der aktuellen deutschen Gesellschaft, die von Individualisierungstendenzen geprägt ist und in der eine dominierende Leitkultur schwierig zu verorten ist, übernehmen die Erfahrungen in den jugendkulturellen Szenen einen anderen Stellenwert als in einer Gesellschaft wie der DDR, in welcher der Staat auf der Grundlage des Sozialismus eine neue Gesellschaft aufzubauen versucht und das Individuum zu dieser Zielsetzung beizutragen hat. Über die 296 297 298 299

Ebd., S. 295. Ebd. Vgl. ebd., S. 300. Vgl. Niederbacher, Arne/Hitzler, Ronald: Forschungsfeld ›Szenen‹ – www.jugendszenen. com. In: Mey, Günter/Pfaff, Nicolle (Hg.): Perspektiven der Jugendkulturforschung (Themenschwerpunkt). DISKURS. Zeitschrift für Kindheits- und Jugendforschung, 10(3)/2015, S. 339–344, hier: S. 340. 300 Eisewicht/Niederbacher/Hitzler, Laboratorium statt Moratorium. 2016, S. 296.

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traditionellen Sozialisationsinstitutionen wie Kindergarten, Schule, Lehrwerkstätten, Freie Deutsche Jugend oder Universitäten werden klare Vorstellungen über die Entwicklung des Individuums vertreten, die zum Teil mit einem politisch-ideologischen Anspruch verknüpft sind. In diesem Kontext gewinnen die Erfahrungen in den jugendkulturellen Szenen, zugespitzt formuliert, eine andere Dimension, da das deviante Verhalten Heranwachsender unverhältnismäßig politisiert und ideologisch konnotiert wird.301 Allgemein vertreten Jugendkulturen eine nonkonformistische Geisteshaltung und sorgen für Innovationsprozesse, indem sie »kulturelle Schubkräfte für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse«302 verursachen. Durch Selbstdarstellungspraktiken, in deren Rahmen die »(Körper)Inszenierung, die als ›funktionale Äquivalente‹ von Ritualen angesehen werden [kann]«303, die Kleidung sowie weitere Elemente der äußerlichen Erscheinung eine wichtige Rolle übernehmen, grenzen sich die jugendkulturellen Bewegungen von der Generation der Erwachsenen und von der Gesellschaft ab. Außerhalb der Familie und der sekundären Sozialisationsinstanzen können Heranwachsende durch Verfahren der Selbstsozialisation ihre Identitätsentwicklung vorantreiben. Innerhalb der Peergroups oder allein können sich Jugendliche durch unterschiedliche Verfahren »von pädagogisch-normativen Zielvorstellungen und erzieherischen Methodiken mit bevormundenden Praktiken in Familie und Schule«304 emanzipieren. Musik kann in diesem Kontext mehrere Funktionen erfüllen: einerseits hat Musik eine wesentliche Bedeutung »für die Identitätsbildung und die Entwicklung von ästhetischen Selbstkonzepten«305. Diesbezüglich liefern häufig jene Künstler Identifikationsangebote, die als systemkritisch und normabweichend gelten und von der herrschenden Macht als eine ästhetische Herausforderung wahrgenommen werden.306 Andererseits erfüllt die Musik eine wichtige Funktion für die Regulierung von Gefühlen und Emotionen. Ergänzend dazu muss berücksichtigt werden, dass Selbstsozialisa301 Im Kapitel 3 Zur Adoleszenz in der DDR erfolgt eine differenzierte Darstellung hinsichtlich der Bedeutung der jugendkulturellen Bewegungen in der DDR. 302 Ferchhoff, Wilfried: Musikalische Jugendkulturen in den letzten 65 Jahren: 1945–2010. In: Heyer, Robert/Wachs, Sebastian/Palentien, Christian (Hg.): Handbuch Jugend – Musik – Sozialisation. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 19–123, hier: S. 25. 303 Gansel, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung. 2011, S. 23. 304 Hurrelmann, Klaus: Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2002, S. 241. 305 Heinzlmeier, Bernhard: Performer – Styler – Egoisten. Über eine Jugend, der die Alten die Ideale abgewöhnt haben. 2. Aufl. Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag KG 2013, S. 87; vgl. hierzu auch Müller, Renate [u. a.]: Zum sozialen Gebrauch von Musik und Medien durch Jugendliche. In: Dies. (Hg.): Wozu Jugendliche Musik und Medien gebrauchen. Jugendliche Identität und musikalische und mediale Geschmacksbildung. Weinheim/München: Juventa 2002, S. 9–26, hier: S. 16f. 306 Vgl. Kapitel 3.5 Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR.

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Zur Adoleszenz

tion »über die Definition von Zugehörigkeiten und Abgrenzungen zu anderen Menschen als Teil sozialer Gruppen«307 geschieht. Durch Musik können Heranwachsende ästhetische Selbstinszenierungsmomente gestalten und sich von anderen Gruppen abgrenzen. Angelehnt an Susanne K. Langer verweist Bernhard Heinzlmaier auf die »präsentative Symbolik«308 der Musik, da die Musik »auf die Verführungskraft des Bildes, auf die Kraft der Verlockung von Ritualen und Inszenierungen«309 zurückgreift.

2.2.7 Zur Herausbildung eines eigenen Werte- und Normsystems Nach Erikson geht es in der Adoleszenz darum, sich zu positionieren bzw. einen Platz in der Gesellschaft zu finden, Farbe zu bekennen, Denkmuster, Meinungsrichtlinien, Vorlieben und persönliche Ziele und eine eigene Werthaltung aufzubauen, die das Individuum bei der Orientierung in dieser Welt unterstützen. Die Familie bildet als erste Sozialisationsinstanz den Ort, in dem sich die Kinder mit den moralischen Vorstellungen der Eltern, der älteren Geschwister und anderer Familienangehörigen identifizieren.310 Während der Adoleszenz, mit Gewinn einer zunehmenden emotionalen Unabhängigkeit von den Eltern, finden kontinuierliche Wandlungen der eigenen Werthaltungen statt. In diesem Kontext gewinnen »die Wertbereiche der Geltung und des Ansehens, des Ökonomischen, der Hygiene und der äußeren Erscheinung«311 an Bedeutung, während eine Reihe von sozialen Werten wie Hilfs- und Opferbereitschaft in der Adoleszenz unwichtiger werden. Im Zuge der Adoleszenz verliert die elterliche Sozialisationsinstanz zugunsten der Peergroups an Bedeutung.312 Je nach der generativen Haltung der Eltern bzw. nach der Qualität der Eltern-Jugendlichen-Beziehung divergiert der Einfluss der Peergroups. Sogenannte ›alternative Wertvorstellungen‹ werden bevorzugt von den Heranwachsenden, die sich von ihren familialen Identifikationsangeboten distanzieren möchten, konsolidiert.313 Die Lern- und Sozialisationstheorien betonen den Einfluss von sogenannten Sozialisationsagenten wie Familie, Freundeskreis, Bildungsinstitutionen sowie kulturellem und gesellschaftlichem Umfeld bei der Entwicklung einer Werthaltung. Konträr dazu betonen kognitivistische Ansätze wie Piagets Entwick-

307 308 309 310 311 312 313

Müller, Zum sozialen Gebrauch von Musik und Medien durch Jugendliche. 2002, S. 16. Heinzlmaier, Performer. 2013, S. 89. Ebd., S. 89f. Vgl. Oerter/Montada, Entwicklungspsychologie. 2008, S. 582. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 107. Vgl. Kapitel 2.2.3 Zur Ausgestaltung einer Individuation unter Gleichaltrigen. Vgl. Oerter/Montada, Entwicklungspsychologie. 2008, S. 585.

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lungspsychologie die Interdependenz zwischen Individuum und Umwelt.314 Einigkeit besteht jedoch darin, dass die Entwicklung einer Werthaltung als eine Aufgabe der Adoleszenz wahrgenommen wird, die einen wichtigen Teil des dynamischen Identitätsbildungsprozesses darstellt. Es war bereits im Zusammenhang mit der Identitätsfindung von einer Erweiterung der kognitiven Kompetenz die Rede, die eine kritische Überprüfung des eigenen Verhaltens ermöglicht. Hiermit verbunden ist die »Liberalisierung der Wertvorstellungen«315, da sie von ihrer konkreten Bezogenheit aufgelöst werden und ein (abstraktes) Bedeutungs- und Gültigkeitsumfeld erhalten, so Remschmidt. Im Zuge des Reifungsprozesses und durch das Aufgeben ihrer egozentrischen Haltung erkennen die Heranwachsenden die Reziprozität moralischer Gebote. Das Individuum ist dementsprechend in der Lage, den Standpunkt eines anderen anzunehmen und sein eigenes Verhalten nach den allgemein anerkannten moralischen Vorgaben zu beurteilen.316 Durch die Anerkennung der Gegenseitigkeit können Beziehungen und gegenseitiges Vertrauen entstehen. Dadurch gelingt es dem Heranwachsenden, eine intensivere soziale Beziehung zu gleichaltrigen Personen aufzubauen und die Eltern-KindBeziehung neu zu konsolidieren. Bei der Konsolidierung eigener Moralvorstellungen spielt das Gewissen eine wichtige Rolle. Das Gewissen ist »die Repräsentanz erworbener Moralvorstellungen«317, die vor allem durch die dominierenden kulturellen Wertvorstellungen bestimmt und durch die Sozialisationsinstanz der Familie vertreten und tradiert werden. Angelehnt an David P. Ausubel stellt Remschmidt fest, dass für die Entwicklung des Gewissens moralische Wertvorstellungen und das Gefühl, sich nach ihnen richten zu müssen, internalisiert worden sein müssen. Darüber hinaus wird vorausgesetzt, dass das Individuum über die Fähigkeit der Selbstreflexion verfügt, um die Übereinstimmung oder Abweichung seines eigenen Verhaltens mit den eigenen Werthaltungen zu überprüfen.318 Im Zuge der Adoleszenz gewinnt der Heranwachsende durch die Fähigkeit des abstrakten Denkens die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten zu hinterfragen. Dementsprechend können erst in der Adoleszenz abstrakte Wertvorstellungen verinnerlicht und vom Subjekt selbstkritisch reflektiert werden. Durch die zunehmende Selbstreflexionspraxis der Heranwachsenden sind diese außerdem in der Lage, übernommene Werthaltungen zu überprüfen und einen entscheidenden Beitrag zur eigenen Identitätsbildung zu leisten.

314 315 316 317 318

Vgl. Helmken, Individuelle Werthaltungen Jugendlicher. 2008, S. 52f. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 110. Vgl. ebd., S. 110f. Ebd., S. 109. Vgl. ebd.

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Zur Adoleszenz

Die Frage, welche Faktoren den größten Einfluss auf die Bildung einer Werthaltung ausüben, wird kontrovers diskutiert. Was die sozialen Faktoren betrifft und die Frage, ob die Familie oder die Peergroups einflussreicher sind, differieren die Ergebnisse unterschiedlicher Studien voneinander.319 Die kulturellen und gesellschaftlichen Identifikationsangebote bedingen ebenso die Entwicklung einer Werthaltung. Dieser Faktor ist im Kontext der DDR besonders relevant, zumal die Bildungs- und Jugendorganisationen eine wichtige Erziehungsaufgabe, die mit einer politischen Werthaltung einherging, erfüllten.320 Ebenso muss die Bedeutung sogenannter Krisensituationen für die Entwicklung bestimmter Werthaltungen hervorgehoben werden. Klaus Helmken macht darauf aufmerksam, dass nach erfolgreicher Problemlösung von Konflikten und Krisensituationen Werthaltungen nachhaltig entwickelt werden.321 Für die Bestimmung der intergenerationellen Beziehungen muss der bidirektionale Charakter des Transferzusammenhangs von Werthaltungen berücksichtigt werden. Kinder übernehmen demzufolge nicht nur eine Rezipientenrolle, sondern beeinflussen als Handelnde die Werthaltung ihrer Eltern.322 Dementsprechend können sie für die Erneuerung der Gesellschaftskonventionen sorgen und ihre Rolle als »Avantgarde des Individuums«323 erfüllen.

2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten Das Verhalten der Adoleszenten ist unter anderem »durch eine erhöhte Risikobereitschaft und Lust an extremen Gefühlen«324 gekennzeichnet. Beim Risiko handelt es sich um eine »subjektbedingte Bedrohung«325, die »ein bewusstes Wagnis dar[stellt], für dessen Folgen die Handelnden gerade stehen müssen«326. Unter Risikoverhalten versteht man in der Regel das Verhalten in Entscheidungssituationen, bei denen Jugendliche sich auf ein gewagtes Unterfangen einlassen und häufig Gesundheitsrisiken bewusst oder unbewusst in Kauf nehmen. Angelehnt an Bernd Rohrmann definiert Jürgen Raithel das Risikoverhalten »als ein[en] Typus unsicherheitsbestimmten Handelns mit einer Schädigungsgefahr gegenüber dem eigenen Leben und/oder der Umwelt«327. In der 319 Vgl. Helmken, Individuelle Werthaltungen Jugendlicher. 2008, S. 63. 320 Eine genauere Betrachtung der spezifischen Sozialisationsbedingungen im Rahmen der DDR-Gesellschaft erfolgt im Kapitel 3 Zur Adoleszenz in der DDR. 321 Vgl. Helmken, Individuelle Werthaltungen Jugendlicher. 2008, S. 68. 322 Vgl. ebd., S. 63. 323 Erdheim, Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. 1996, S. 86. 324 Konrad/Firk/Uhlhaas, Hirnentwicklung in der Adoleszenz. 2013, S. 425. 325 Raithel, Jugendliches Risikoverhalten. 2011, S. 23. 326 Ebd. 327 Ebd., S. 25f. [Hervorh. im Original].

Zu den Entwicklungsdimensionen von Adoleszenz

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Soziologie werden unterschiedliche Risikoverhaltenstypen differenziert. Je nach der Qualität des Risikos werden zum einen sogenannte substanzspezifische Risikoverhaltensweisen, zum anderen risikobezogene Handlungen unterschieden.328 Erstere charakterisieren sich durch einen relativ alltäglichen Charakter, zumal sie häufig in Form einer Lebensroutine zu beobachten sind. Sie werden von den Heranwachsenden als nicht riskant betrachtet, da direkte gesundheitliche Schäden nicht erkennbar werden. Letztere werden als riskante Mutproben bezeichnet und nehmen eine exponierte Stellung im adoleszenten Alltagshandeln ein. Für die Heranwachsenden sind die möglichen Gefahren offenkundig, sie sind jedoch von ihrer erfolgreichen Umsetzung überzeugt. Verantwortlich für diese Haltung ist nach Raithel das besonders ausgeprägte subjektive Invulnerabilitätskonzept der Heranwachsenden.329 Das Invulnerabilitätsgefühl der Heranwachsenden hängt mit Phänomenen der Allmächtigkeit zusammen, die während der Adoleszenz das jugendliche Verhalten konditionieren und in unterschiedlichen Ausprägungen zu beobachten sind. In Anlehnung an Eugene Pumpian-Mindlin weist Mario Erdheim auf die Bedeutung der Größen- und Allmachtsphantasien für die Entfaltung der Kreativität des Adoleszenten, für die Entwicklung eines Selbstgefühls und für den kulturellen Wandel hin.330 Pumpian-Mindlin beschreibt das adoleszente Verhalten wie folgt: »There is no occupation which is inaccesible, no task which is too much for him. As his perspective of the world broadens, as his horizon widens, he begins to question everything which his elders have come to accept. Nothing is impossible, nothing can be taken for granted. He can indulge in wild flights of the imagination soaring speculations, incredible adventures. He knows no limits in fantasy, and accepts grudgingly any limits in reality.«331

Je nach dem Typ und Geschlecht erfüllen die Risikoverhaltensweisen unterschiedliche Funktionen. Die substanzspezifischen Risikoverhaltensweisen können nach Raithels Auffassung als quantitative Integrationsleistung dienen; so ermöglicht beispielsweise der Konsum alkoholischer Getränke oder der Nikotingenuss die Kontaktaufnahme mit anderen Jugendlichen. Darüber hinaus können Risikoverhaltensweisen innerhalb der Clique zur Stabilisierung der erworbenen sozialen Position beitragen und dadurch die Akzeptanz innerhalb der Gruppe erhöhen. Außerdem übernehmen sie eine Kompensationsaufgabe im Rahmen des ansatzweisen Ausgleichs bzw. der Neutralisation psychosozialer

328 Vgl. Ebd., S. 31. 329 Vgl. ebd. 330 Vgl. Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 301 ff; hierzu vgl. auch Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 363. 331 Pumpian-Mindlin, Eugene: Vicissitudes of Infantile Omnipotence. In: The Psychoanalytic Study of the Child, Vol. XXIV 1969, S. 213–226, hier: S. 222.

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Zur Adoleszenz

Belastungen im familialen und schulischen Kontext.332 Die risiko-konnotativen Handlungen erfüllen eine qualitative Integrationsfunktion, häufig sichtbar an sogenannten Aufnahmeritualen in den Peergroups. Darüber hinaus tragen sie zur Selbstbestätigung des Individuums bei, indem sie entscheidend zur Entwicklung des eigenen Selbstkonzeptes dienen. Bei männlichen Adoleszenten übernehmen sie zusätzlich eine wichtige Funktion bei der Geschlechtsidentitätsreproduktion, denn körperinstrumentalisierende Risikoverhaltensweisen werden für die Männlichkeitskonstruktion und Geschlechtsrollenentwicklung funktionalisiert.333 Studien bestätigen den kausalen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an maskuliner Geschlechtsrollenorientierung und der zunehmenden Risikoaffinität, während mit zunehmender Weiblichkeit eine absinkende Affinität zum riskanten Verhalten zu beobachten ist.334 Diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern manifestieren sich auch in Bezug auf die Risikoverhaltensweisen. Bei den Jungen ist eher eine Tendenz zu exteriorisierenden Verhaltensweisen in Form von Selbst- und Fremdgefährdung zu beobachten, während Mädchen eher zu interiorisierenden Verhaltensweisen, zum Beispiel Magersucht, Medikamentenmissbrauch, etc. neigen.335 Die Neurowissenschaften haben Erklärungsmodelle für das adoleszente Verhalten erarbeitet. Neue Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie und den Neurowissenschaften belegen, dass es während der Adoleszenz zu einer grundlegenden Reorganisation des Gehirns kommt, die in direktem Zusammenhang mit adoleszenztypischen riskanten Verhaltensweisen steht.336 Die neuronale Neuregelung während der Adoleszenz umfasst »progressive Veränderungen (Myelinisierung) in der weißen Masse und regressive Veränderungen (›Pruning‹) in der grauen Masse des Gehirns«337. Diese Veränderungen finden jedoch nicht gleichzeitig statt, sondern zu unterschiedlichen Zeitpunkten je nach Region des Gehirns. Das führt zu einem Ungleichgewicht zwischen der neuronalen Entwicklung des limbischen Systems und der verzögerten Reifung des neuralen Netzwerkes im präfrontalen Kortex. Beim limbischen System handelt es sich um eine hormongesteuerte Gruppe von Einzelkomponenten, die bereits vor 332 333 334 335

Vgl. Raithel, Jugendliches Risikoverhalten. 2011, S. 32. Vgl. ebd., S. 106. Vgl. Konrad/Firk/Uhlhaas, Hirnentwicklung in der Adoleszenz. 2013, S. 425. Bernd Hontschik macht auf das für männliche Adoleszente kennzeichnende nach außen gerichtete Risiko- und Imponierverhalten aufmerksam und führt in diesem Kontext den Begriff des »Ikarus-Syndroms« ein. Vgl. Hontschik, Bernd: Das Ikarus-Syndrom. In: King/ Flaake, Männliche Adoleszenz. 2005, S. 325–339, hier: S. 337f.; vgl. Raithel, Jugendliches Risikoverhalten. 2011, S. 106; vgl. hierzu auch Böhnisch, Männliche Sozialisation. 2013, S. 140. 336 Vgl. Konrad/Firk /Uhlhaas, Hirnentwicklung in der Adoleszenz. 2013, S. 425. 337 Schmidt, Anne/Weigelt, Sarah: Neuronale Prozesse in der Adoleszenz. In: Gniewosz/Titzmann, Handbuch Jugend. 2018, S. 35–52, hier: S. 45.

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Beginn der Pubertät funktioniert und für die Regulierung und Verarbeitung von emotionalen Prozessen und Gedächtnisleistungen zuständig ist. Das limbische System weist mit Beginn der Pubertät eine besondere Aktivität aus und »trägt in den anfänglichen Entwicklungsjahren der Adoleszenz zu den typischen Verhaltensphänomenen der Jugendlichen bei: Stimmungsschwankungen, emotionale Entscheidungen, Risikofreudigkeit«338. Gemeinsam mit dem Striatum sorgt das limbische System für das neuronale Belohnungssystem. Neurowissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass dieses Belohnungssystem bei Heranwachsenden viel stärker aktiviert wird als bei Erwachsenen, wenn sie im Beisein gleichaltriger Personen Aufgaben lösen sollen, bei denen eine Belohnung in Aussicht gestellt wurde und dementsprechend mehr risikoreiche Entscheidungen treffen.339 Per se sind Heranwachsende nicht unfähig, rationale Entscheidungen zu treffen, jedoch steigt die Wahrscheinlichkeit, insbesondere bei Anwesenheit von Gleichaltrigen und bei Aussicht auf Belohnung, meist in Form von Anerkennung innerhalb der Peergroup, dass die Belohnung und die Emotionen einen stärkeren Einfluss als rationale Prozesse auf die Entscheidungen der Heranwachsenden ausüben.340 Der präfrontale Kortex ist verantwortlich für eine Vielzahl komplexer kognitiver Funktionen, die mit Planung von Handlungen und Aufgaben, mit einer vorausschauenden Denktätigkeit, mit der Abschätzung der Folgen aus den jeweiligen Handlungen und mit der Beurteilung des angebrachten Verhaltens zu tun haben. Seine Entwicklung und Reifung erfolgt später als die des limbischen Systems, endet in der Regel erst in der Mitte der zwanziger Lebensjahre und kann bis in die dritte Lebensdekade andauern. Das hat zur Folge, dass Adoleszente größere Schwierigkeiten haben, ihr impulsives Verhalten zu kontrollieren sowie die Risiken und Belohnungen bei ihren Handlungen abzuschätzen. Das hyperaktive limbische, emotionale System hat aufgrund dieser skizzierten früheren Entwicklung einen größeren Einfluss auf das adoleszente Verhalten, da das Kontrollsystem des Gehirns, das Stirnhirn, noch nicht vollständig ausgereift ist.341 Aktuelle Entwicklungen belegen, dass die Pubertät immer früher eintritt und folglich ein größeres Zeitfenster entsteht, bei dem ein Ungleichgewicht zwischen der Entwicklung limbischer Hirnregionen und der Regionen des präfrontalen Kortex existiert.342

338 Ebd. 339 Vgl. Schmidt/Weigelt, Neuronale Prozesse in der Adoleszenz. 2018, S. 45; Konrad/Firk/ Uhlhaas, Hirnentwicklung in der Adoleszenz. 2013, S. 428f. 340 Vgl. Konrad/Firk/Uhlhaas, Hirnentwicklung in der Adoleszenz. 2013, S. 428. 341 Vgl. Schmidt/Weigelt, Neuronale Prozesse in der Adoleszenz. 2018, S. 45; vgl. hierzu auch Konrad/Firk/Uhlhaas, Hirnentwicklung in der Adoleszenz. 2013, S. 427f. 342 Vgl. Schmidt/Weigelt, Neuronale Prozesse in der Adoleszenz. 2018, S. 45.

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Zur Adoleszenz

Betrachtet man die Adoleszenz aus evolutionärer Sicht, ist sie eine wichtige Entwicklungsphase, in der Adoleszente ihre Unabhängigkeit erlangen und in der sie aufgrund des existierenden Ungleichgewichts zwischen der Entwicklung limbischer Hirnregionen und der Regionen des präfrontalen Kortex zu risikoreichen Verhaltensformen tendieren, die diesen Unabhängigkeitsprozess fördern, damit die »Jugendliche[n] sich aus der familiären Sicherheitsnische lösen«343 und sich von ihrer Primärfamilie emanzipieren können. Diese Bereitschaft für risikoreiches Verhalten ist darüber hinaus Voraussetzung und Motor für die Entstehung neuer Ideen, die gesellschaftliche und individuelle Veränderungen in Gang setzen oder fördern. Aus diesen Gründen kommt es auch zu der spezifischen von Erdheim und Gansel herausgearbeiteten Entwicklung, nach der Jugendliche als »Wegbereiter veränderter kultureller Praktiken und Lebensstile«344 handeln und über kollektives Handeln als Förderer sozialer Veränderungen wirken.345 Zusammenfassend lässt sich die skizzierte Gehirnentwicklung als Chance für die kreative Entstehung von Neuem definieren, gleichwohl ist dieser Entwicklungsprozess nicht ohne Gefahren, welche die »erhöhte Vulnerabilität [der Adoleszenten] für schädliche Umwelteinflüsse«346 verdeutlichen. Welche Bedeutung die Adoleszenz für die kreative Entstehung neuer Kulturformen hat und wie die bereits in der Kindheit vermittelten Werte und Vorstellungen modifiziert werden können, soll im Folgenden erörtert werden.

2.3

Zur Adoleszenz als zweiter Chance

Aus evolutionstheoretischer Perspektive gilt die Adoleszenz als eine zweite Chance, um die Entwicklung des Individuums zu bestimmen. Damit zusammen hängt die Bedeutung der Adoleszenz für die Entstehung neuer Kulturformen bzw. für einen möglichen Kulturwandel.347 Während in kalten Kulturen eine zyklische Entwicklung zu beobachten ist und die »erworbene[n] kulturspezifische[n] Eigenheiten einer Art Wiederholungszwang unterliegen«348, besteht bei der Entwicklung moderner Kulturen, sogenannter heißer Kulturen, die Option 343 Konrad/Firk/Uhlhaas, Hirnentwicklung in der Adoleszenz. 2013, S. 429. 344 Buchmann, Marlis/Steinhoff, Annekatrin: Jugend und sozialer Wandel in fortgeschrittenen Industriegesellschaften der westlichen Welt. In: Gniewosz/Titzmann, Handbuch Jugend. 2018, S. 333–352, hier: S. 347. 345 Vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 363; Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 301ff. 346 Konrad/Firk/Uhlhaas, Hirnentwicklung in der Adoleszenz. 2013, S. 430. 347 Vgl. Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 276. 348 Ebd., S. 278.

Zur Adoleszenz als zweiter Chance

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der Veränderung. Erdheim verweist auf die statische Konzeption kalter Gesellschaften, bei denen »jede Generation […] von neuem die elterlichen Erfahrungen«349 reproduziert. Nur die im Rahmen der Familie gesammelten Erfahrungen sind für das spätere Leben in der Gesellschaft richtungweisend. In solchen Kulturen wird der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter durch Rituale markiert. Im Gegensatz dazu sind heiße Kulturen von einem linearen Geschichtskonzept und dem Bedürfnis nach Veränderung geprägt, dementsprechend ist die Relativierung des Determinationspotenzials der Kindheit möglich und erwünscht. In diesem Kontext kommt es einerseits zu einer Entritualisierung und zu einer Verlängerung der Adoleszenz. Andererseits spielt die Adoleszenz mit ihrer Dynamik eine immer wichtigere Rolle für die Entwicklung des Individuums, so Erdheim.350 Bereits Ende der 1950er Jahre verwies der amerikanische Psychoanalytiker Kurt Robert Eissler auf die im Verlauf der Pubertät existierende zweite Chance, die dem Individuum ermöglichte, in der Kindheit angeeignete Lösungen zu revidieren: »Die Pubertät gewährt dem Menschen eine zweite (und in den meisten Fällen letzte) Chance. Sie gewährt ihm eine Frist, die Lösungen, die er während der Latenzzeit in direkter Reaktion auf den ödipalen Konflikt gefunden hat, zu revidieren. […] Vielleicht kann man diesen Prozeß mit einer Verflüssigung vergleichen.«351

Angelehnt an Eissler verweist Erdheim auf die Möglichkeit, die Einstellung des Individuums zur Kultur während der Adoleszenz außerhalb des Einflusses der Familie neu zu bestimmen. »Die Verflüssigung der in der Familie angeeigneten psychischen Strukturen ermöglicht es dem Menschen, neue Anpassungs- und Kulturformen zu entwickeln, die nicht auf die Familie zurückführbar sind.«352 Erdheims Annahme basiert auf Freuds These von der Zweizeitigkeit der sexuellen Entwicklung bzw. auf das Prinzip der Nachträglichkeit. Demnach führt der erste Triebschub während der Kindheit »zur Anpassung an die stabile, konservative Familienstruktur und der zweite, der in der Pubertät anfängt, zur Anpassung an die dynamische expansive Kulturstruktur«353. Infolgedessen erfüllt die Adoleszenz eine von der frühen Kindheit unabhängige Funktion. Durch das Prinzip der Nachträglichkeit können Heranwachsende eine nachträgliche Aufbereitung der Kindheit gewährleisten und das Determinationspotenzial der

349 Ebd., S. 276. 350 Vgl. Erdheim, Adoleszenzkrise und institutionelle Systeme. 1998, S. 10. 351 Eissler, Kurt R.: Bemerkungen zur Technik der psychoanalytischen Behandlung Pubertierender nebst einigen Überlegungen zum Problem der Perversion. In: Psyche XX. Jahrgang, 10./11. H. 1966, S. 837–872, hier: S. 868f. 352 Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 277. 353 Ebd.

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Kindheit relativieren, indem »eine [neue] Bedeutung gebende Struktur heraus[gebildet wird], die sowohl vergangenheitsorientiert ist, indem sie neue Bedeutungen aus den positiven und negativen Erfahrungen der Kindheit herausholt, als auch zukunftsbezogen, indem sie Erwartungen erzeugt, die die Zukunft beeinflussen werden«354. Ähnlich äußert sich auch Louise Kaplan zur Funktion der Adoleszenz: »Der Zweck der Adoleszenz ist es, die Vergangenheit zu revidieren, nicht sie auszulöschen.«355 Kaplan verweist auf die während der Adoleszenz eintretende Umkehr der dynamischen Beziehung zwischen Innenleben und Außenwelt. Darin liegt das Potential der Adoleszenz, um »den Ausgang von bereits als erledigt ›abgehakten‹ Problembearbeitungen wieder offen […] halten«356 zu können. Während sich der erste Triebschub im Verlauf der ödipalen Phase durch die Übernahme vorgegebener Konventionen innerhalb des familiären Umfelds, dementsprechend durch eine Anpassung an die stabile Familienstruktur, auszeichnet, steht das innovative Moment beim zweiten Anpassungsprozess im Vordergrund, so Erdheim. Das Individuum ist durch das Inzestverbot gezwungen, die neu erwachte Sexualität außerhalb der Familie auszuleben und neue Liebesobjekte zu suchen. Beim zweiten Anpassungsvorgang pflegt das Individuum ein ambivalentes Verhältnis zur Familie und zur Kultur. Im Widerstreit zwischen Familie und Kultur muss sich der Heranwachsende neu positionieren und die Fähigkeit entwickeln, aktiv »an den sich verändernden Strukturen der Gesellschaft«357 mitzuwirken. Die neue Selbstverortung der Heranwachsenden ist eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz, bei der die Ablösung von der Familie in den Fokus rückt: »Die Ablösung von der Familie wird für jeden Jugendlichen zu einer Aufgabe, bei deren Lösung ihn die Gesellschaft oft durch Pubertäts- und Aufnahmeriten unterstützt.«358 Für Erdheim stellt der »Antagonismus zwischen Familie und Kultur«359 den zentralen Konflikt in der Adoleszenz dar, den jeder Heranwachsende abschließend klären muss, um psychisch wachsen zu können. Die Austragung dieses Konflikts ist mit einem krisenhaften Moment verbunden, aber für die Entwicklung des Individuums unverzichtbar. Die Entwicklungsaufgabe besteht darin, die Ordnung der Familie zu verlassen und »zur Ordnung der Kultur überzugehen«360. Die Neupositionierung des Heranwachsenden setzt also eine 354 Erdheim, Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. 1996, S. 94. 355 Kaplan, Louise J.: Abschied von der Kindheit. Eine Studie über die Adoleszenz. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 387. 356 Ebd., S. 185. 357 Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 278. 358 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Das Unbehagen in der Kultur: Close Reading und Rezeptionsgeschichte. Göttingen: V&R unipress 2016, S. 80. 359 Erdheim, Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. 1996, S. 8. 360 Erdheim, Adoleszenzkrise und institutionelle Systeme. 1998, S. 17.

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Relativierung der Wertvorstellungen und der Einstellungen der Familie voraus, um sich im fremden System der Kultur neu orientieren und definieren zu können, so Erdheim.361 Die Option der Korrektur ermöglicht dem Individuum während der Adoleszenz eine Überprüfung der überlieferten Kulturformen und die Suche neuer Perspektiven, ohne dass sich das Individuum dabei verliert und ohne die Kontinuität zu gefährden.362 Bereits in den 1960er Jahren verwies Peter Blos auf das Potenzial der Adoleszenz, um »dem Individuum Gelegenheit [zu geben], Kindheitserfahrungen, die seine fortschreitendende Entwicklung bedroht haben, zu modifizieren und zu korrigieren«363. Dadurch kann es zu einer »Umformung defekter oder unvollständiger früherer Entwicklungen«364 kommen. Es war bereits im Zusammenhang mit dem riskanten und grenzüberschreitenden Verhalten der Jugendliche die Rede von der Bedeutung der Größenund Allmachtsphantasien und von der Notwendigkeit einer narzißtischen Haltung, um den kulturellen Wandel vorantreiben zu können bzw. die tradierten Werte, Mythen und Einstellungen in Frage zu stellen.365 Dementsprechend müssen die Allmachtsphantasien als »an essential and vital element in the maturation of certain aspects of ego development«366 betrachtet werden. Bei den sogenannten heißen Gesellschaften, die sich durch ein »gierige[s] Bedürfnis nach Veränderung«367 definieren, ist das Konzept der Zweizeitigkeit der sexuellen Entwicklung elementar, zumal es die Entwicklung einer höheren Kultur ermöglicht.

2.4

Adoleszenz und Störung

Im Kontext der Adoleszenzforschung in der Literatur hat Carsten Gansel das Phänomen der Adoleszenz mit ihren inbegriffenen Grenzüberschreitungen in Verbindung mit der Kategorie der Störung gebracht. Gansel macht darauf aufmerksam, dass »Grenzüberschreitungen in Gestalt von Provokationen, Größen361 Vgl. ebd. 362 Vgl. Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 296. 363 Blos, Peter: Adoleszenz. Eine psychoanalytische Interpretation. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1973, S. 23. 364 Ebd. 365 Vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 363; Gansel, Carsten: »Ach ich bin so müde« – Gesellschaftliche Modernisierung und Adoleszenzdarstellung in Hermann Hesses »Unterm Rad«. In: Preyer, Gerhard (Hg.): Neuer Mensch und kollektive Identität in der Kommunikationsgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 25–46, hier: S. 42. 366 Pumpian-Mindlin, Vicissitudes of Infantile Omnipotence. 1969, S. 222; vgl. hierzu auch Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 306. 367 Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 289.

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und Allmachtsfiktionen, politisch deklarierten Aktionen und Provokationen bis hin zu Selbst- und Fremdschädigung in jugendkulturellen Praktiken […] ein vielfältiger Gegenstand […] der Gegenwartsliteratur«368 sind. Unter Bezugnahme auf Ludwig Jägers Transkriptionstheorie und auf Niklas Luhmanns Systemtheorie hinterfragt Gansel die bisher zu beobachtende Tendenz, Störungen als etwas Destruktives zu begreifen. Traditionell wird der Begriff der Störung mit Devianz, Irritation, Dysfunktion, Destruktion und Verlust verknüpft und steht in einem antagonistischen Verhältnis zu Ordnung und Norm. Dementsprechend ist der Begriff der Störung negativ konnotiert, so Gansel.369 Gansel plädiert für eine semantische Erweiterung des Störungsbegriffs, die das produktive Moment einschließt. Demnach sind Irritationsmomente für die Aufrechterhaltung eines Systems bzw. einer Gesellschaft zwingend notwendig, denn durch sie können »eingeschliffene Denk- und Verhältnisdispositionen«370 aufgebrochen und Innovationsprozesse in Gang gebracht werden. In diesem Sinne weist auch Norman Ächtler auf die semantische Aufwertung des Begriffs Störung hin, nach dem Störungen »nicht mehr so sehr als ein destruktives Element (technischer) Kommunikation gewertet [werden, sondern als] Impulsgeneratoren für die ›Entstehung neuer Ordnung‹, insbesondere für evolutive Prozesse«371 gelten. Störungen sind keine »parasitär[en] Defekt[e] der Kommunikation, […] sondern ein kommunikative[r] Aggregatzustand«372, der »immer mit Remediatisierungs-, d. h. Transkriptionsbedarfen«373 verbunden ist, so Ludwig Jäger in seinen sprachtheoretischen Überlegungen. Nach Jäger provoziert die Störung ein »transkriptive[s] Verfahren der Remediation […][, bei dem] das Zeichen/Medium als (gestörter) Operator von Sinn in den Fokus der Aufmerksamkeit tritt«374. Transkription sei nach Jäger der Übergang von Störung zu Transparenz. 368 Gansel, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung. 2011, S. 42. 369 Vgl. ebd. 370 Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Gansel/ Ächtler, Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 2013, S. 31–56, hier: S. 32. 371 Ächtler, Norman: ›Entstörung‹ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik. In: Gansel/Ächtler, Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 2013, S. 57– 81, hier: S. 57. 372 Jäger, Ludwig: Intermedialität – Intramedialität – Transkriptivität. Überlegungen zu einigen Prinzipien der kulturellen Semiosis. In: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 301– 323, hier: S. 318. 373 Ebd. 374 Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 35–74, hier: S. 61; vgl. hierzu auch Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 39.

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Gansel weist auf die Notwendigkeit der Entstörungsmaßnahmen hin, die durch das »Auftreten [so]wie die Erfahrung einer Störung«375 gefordert werden. Störungen werden bedeutsam erst in dem Moment, in dem man sie wahrnimmt, ihnen Aufmerksamkeit schenkt und sich mit ihnen auseinandersetzt, um die von ihnen erzeugten Perturbationen mit den entsprechenden Maßnahmen aufzufangen. Diesbezüglich kann von einer funktionalen Kette von Störung – Transkription – Transparenz ausgegangen werden, so Gansel in Anlehnung an Jäger.376 Gansel macht zudem auf die Verbindungen zwischen Jägers Überlegungen und der Systemtheorie Luhmanns aufmerksam. Nach Luhmann ist Evolution – und um sie geht es in der Adoleszenz hauptsächlich – ein »Vorgang der unablässigen Selektion, der kommunikativen Differenzierung von ›Ordnung und Störung‹ […] sowie der Grenzziehung zwischen System und Umwelt«377. Danach stehen autopoietische Systeme in Kontakt mit anderen Systemen und werden dabei ständig durch fremde, von der Umwelt veranlasste Einwirkungen irritiert. Solche Irritations- und Aufstörungsphänomene lösen im Sinne Luhmanns einen Informationsverarbeitungsprozess aus, bei dem die Störung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und Gegenstand der Kommunikation wird. Hierbei werden Störungen immer mit bestimmten Erwartungshaltungen verglichen, die bis jetzt im System Gültigkeit genossen und als existenzerhaltend gewirkt haben, so Gansel.378 Bedingt durch »die Selbstreferenz« und eine damit verbundene »kognitive Offenheit« sowie durch die »Temporalität« der autopoietischen Systeme können Systeme durch die von der Umwelt veranlassten Irritationen »für sich operativ relevante Informationen gewinnen«379 und sich von Moment zu Moment aktualisieren. Entscheidend ist, dass Irritationen eine »Fortsetzung der autopoietischen Operationen«380 intendieren. In Hinblick auf die Adoleszenz stellt die »Neuprogrammierung der physiologischen, psychologischen und psychosozialen Systeme«381 nichts anderes als eine Aktualisierung eines autopoietischen Systems auf unterschiedlichen Ebenen dar. Die somatischen Veränderungen führen zu Selbstirritationsmomenten bei dem Adoleszenten, auf die der Adoleszente reagiert, indem er seine Aufmerksamkeit auf die körperlichen Veränderungen richtet und mit den passenden Entstörungsstrategien diese Perturbationen aufzufangen und seine Operationen 375 376 377 378 379 380

Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 31. Vgl. ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Vgl. ebd. Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. Stuttgart: Lucius & Lucius Verlag 2005, S. 29ff. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 1. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 790. 381 Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 167.

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neu zu strukturieren versucht. Folglich kann die Adoleszenz selbst als eine Verstörung auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden, die nach intensiven Auseinandersetzungen in die Lebensbiographie integriert werden kann. Das Experimentieren mit neuen sozialen Rollen während des psychosozialen Moratoriums, sichtbar beispielsweise durch die Modifizierung der Bindung an die Eltern, kann nur erfolgreich gestaltet werden, wenn das System, also der Adoleszente, »für seine Operationen in seiner Umwelt hinreichende Voraussetzungen vorfindet«382, das heißt, wenn ein adoleszenter Möglichkeitsraum für die Entwicklung der einzelnen Individuationsprozesse geschaffen worden ist. Betrachten wir die Entwicklungsaufgabe der Identitätsbildung als eine permanente Passungsarbeit zwischen inneren und äußeren Welten, dann stellt das Moment der adoleszenten Selbstverortung ein Aktualisierungsmoment dar, das ausgehend von unterschiedlichen Störungsmomenten augenblicklich erfolgt.383 Hinsichtlich der der Adoleszenz immanenten Grenzüberschreitungen lässt sich Folgendes sagen: Das Ausleben von adoleszenten Größen- und Allmachtsphantasien stellt die kognitive Offenheit anderer Systeme in besonderer Weise auf die Probe, da sie ihnen eine enorme Anpassungsleistung abverlangen. Autopoietische Systeme sind aufgrund ihrer Selbstreferentialität fähig, einen Bezug zu sich selbst in Abgrenzung zur Umwelt herzustellen. Reize der Umwelt, wie zum Beispiel Größen- und Allmachtsphantasien der Heranwachsenden, können als Auslöser von Interaktionsprozessen wirken, zu Zustandsveränderungen von Systemen führen und folglich zu essentiellen Veränderungen des Systemverhaltens, allerdings ohne den Prozess der Autopoiese, also die eigene Selbstherstellung und die eigene Selbsterhaltung zu gefährden. Mit Blick auf die Adoleszenzentwicklung in der DDR gewinnen solche Reize, die von jugendkulturellen Bewegungen ausgehen, eine besondere Relevanz und werden zu einer dauernden Herausforderung für den Staat und seine Institutionen.384 Gansel differenziert unterschiedliche Formen der Störung, die nach dem Intensitätsgrad und nach ihrer Integrierbarkeit klassifiziert werden. Erstens spricht Gansel von einer »Aufstörung«, wenn es sich um eine Irritation handelt, die Aufmerksamkeit erregen soll, zweitens von einer »Verstörung«, wenn man sich auf eine tiefgreifende Irritation mit einem regenerativen Charakter bezieht und drittens von einer »Zerstörung«, wenn man mit einer nachhaltigen Verunsicherung irreversiblen Charakters zu tun hat.385 Zusätzlich stellt sich die Frage nach der Lokalität der Störung. Häufig ist »die Schwelle«[, als ein Raum der] Überschneidung und Überlappung von (Teil)Systemen»386, der Ort, an dem Störungen 382 383 384 385 386

Krause, Luhmann-Lexikon. 2005, S. 32. Vgl. Kapitel 2.2.1 Zur adoleszenten Identitätsbildung. Siehe Kapitel 3.5 Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR. Vgl. Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 35. Ebd.

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gehäuft auftreten, und dementsprechend als Raum der Störung prädestiniert, so Gansel. Die Adoleszenz als Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenendasein stellt eine besondere ›Form der Schwelle‹ dar. Bei der Gestaltung des Übergangs »von der Ordnung der Familie zur Ordnung der Kultur«387 ist das Auftreten und Erleben von Störungen unvermeidbar. Ebenso lässt sich die Gestaltung der intergenerationalen Prozesse, bei denen unterschiedliche autopoietische Systeme aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig bedingen, ohne Störungsphänomene nicht gestalten. Werden Konflikte mit der Familie oder gesellschaftlichen Instanzen nicht ausgetragen, sondern verdrängt, dann spricht Erdheim von einer »eingefrorenen Adoleszenz«388. Gansel verweist zutreffend auf die Reziprozität von Störungen und auf die Bedeutung von Störungen als »Medium gesellschaftlicher (Selbst)Verständigung«389: »Das psychische System, also etwa der Adoleszente, schreibt Ereignissen, die in der Umwelt ablaufen, den Status von Störungen zu. […] Aussagen von Eltern, Entscheidungen von Lehrern, das Verhalten von Mitschülern mögen ausreichen, um eine Störung hervorzurufen, die wiederum eine entsprechende Gegenreaktion hervorrufen. Umgekehrt vermag das Verhalten der Adoleszenten auf die gesellschaftlichen Teilsysteme und ihre Vertreter wiederum aufstörend zu wirken.«390

Die Relativierung der Wertvorstellungen und der Einstellungen der Familie ist ein Prozess, der ohne Störungsmomente gar nicht stattfinden kann. Will der Heranwachsende seine avantgardistische Funktion im Sinne Erdheims wahrnehmen, muss er unterschiedliche Irritationsmomente im Umfeld der Erwachsenen veranlassen. Die Korrektur der tradierten Kulturformen ist ein weiterer Beweis für die Reziprozität der Störungen und ihre Notwendigkeit in heißen Kulturen, um Kontinuität und Erneuerung in Einklang zu bringen. Ebenso kann Adoleszenz nicht gelingen, »wenn es nicht zu krisenhaften und krisenverarbeitenden Prozessen kommt«391. Verzichtet der Heranwachsende auf krisenhafte Störungsmomente, kommt es zu einem misslungenen Identitätsbildungsprozess und die Adoleszenz mutiert »zur Wiederholung der frühen Kindheit«392. Erdheim sieht drei Pathologien der adoleszenten Entwicklung bzw. drei »Störungsverläufe der Adoleszenz«393 vor:

387 388 389 390 391

Erdheim, Adoleszenzkrise und institutionelle Systeme. 1998, S. 17. Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 317. Gansel, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung. 2011, S. 43. Ebd., S. 43f. Mey, Günter: Adoleszenz, Identität, Erzählung. Theoretische, methodologische und empirische Erkundungen. Berlin: Verlag Dr. Köster 1999, S. 61. 392 Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 316. 393 Mey, Adoleszenz, Identität, Erzählung. 1999, S. 62.

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1) Eine eingefrorene Adoleszenz, bei der die Konflikte mit der Familie und den gesellschaftlichen Instanzen nicht ausgetragen, sondern verdrängt und eingefroren werden. Der Adoleszente übernimmt durch Ritualisierungsmomente vorzeitig die Erwachsenenrolle, zum Beispiel durch eine frühe Elternschaft oder eine Frühehe. 2) Eine zerbrochene Adoleszenz, also eine auf Konformität aufgebaute Adoleszenz, bei der die Größen- und Allmachtsphantasien im Verlauf der Adoleszenz zerstört werden und eine strikte Anpassung der Adoleszenten an die Realität der Erwachsenen erfolgt. Dadurch kommt es zu einer Beeinträchtigung der Fähigkeit, Umweltverhältnisse umzuwandeln bzw. die »avantgardistische Funktion der Adoleszenz«394 zu erfüllen. 3) Eine ausgebrannte Adoleszenz, bei der eine Weiterwirkung der in der Kindheit erlittenen Traumata kennzeichnend ist. Die Dynamik der Adoleszenz, die Adoleszenz zur zweiten Chance ausmacht, kann nicht für die Relativierung der Kindheitserfahrungen bzw. für die Ablösung genutzt werden. Dadurch werden die Teilnahme, die Bewahrung und die Weiterentwicklung der Kultur gehindert.395 Für eine erfolgreiche Identitätsfindung ist nach Erdheim die Wahrnehmung der Adoleszenz als zweite Chance unabdingbar. In dieser Phase des Erprobens sind verschiedene Störungsmomente erforderlich, die vor allem von älteren Generationen als verstörend wahrgenommen werden. Folglich lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die Adoleszenz als Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenenalter als ein Ort der Störungen zu betrachten ist. Störungsmomente nicht ausschließlich als Dysfunktion, sondern als Chance für Entwicklung zu betrachten, eröffnet vielfältige Möglichkeitsräume für das Individuum und fördert die gesellschaftliche Entwicklung. Werden Störungen nicht angemessen verarbeitet, kommt es zu fehlgeschlagenen Transkriptionen seitens der Gesellschaft oder der Elterngeneration. Daraus resultiert keine Transparenz im Sinne von Ludwig Jäger, sondern eine Verhinderung kultureller Evolution und im schlimmsten Fall die Zerstörung des adoleszenten Systems.

394 Erdheim, Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. 1996, S. 86. 395 Zu den Pathologien der adoleszenten Entwicklung vgl. Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 317ff.

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Aus soziologischer Sicht wird der Heranwachsende während der Adoleszenz als neuer Kulturträger ausgebildet und die Ablösung früherer Kulturträger durch neue verhandelt. Entscheidend für diese Aushandlungsprozesse sind sowohl gesellschaftliche und politische Direktiven als auch die Entwicklung gesellschaftlicher Faktoren im Verlauf der vierzigjährigen DDR-Geschichte. Bedingt durch den Gründungsmythos der DDR als antifaschistische Reaktion auf den Nationalsozialismus spielen politisch-ideologische Aspekte von Anfang an eine zentralle Rolle im gesellschaftlichen Diskurs. Die antifaschistische Gründungserzählung stellt ein bedeutsames Angebot für die Identitätsfindung nach dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch dar, so Raina Zimmering.396 Ebenso sei mit Blick auf die Gründer-Generation der DDR daran erinnert, dass ihre Mentalität einerseits durch ihre Sozialisation in proletarischen Elternhäusern, im Arbeiterturn- und Arbeiterbildungsverein und andererseits durch ihre Erfahrungen als (Alt)-Kommunisten und (Alt)-Sozialdemokraten im Exil, im Widerstand oder im KZ beeinflusst war.397 Entsprechend bestimmen die gemeinsamen Erfahrungen im antifaschistischen Widerstandskampf ihre Denkart und Wertvorstellungen.398 Vor diesem Hintergrund entwickelte sich eine Vorstellung, wie die generative Kraft der Heranwachsenden in die sozialistische Gesellschaft einzubinden ist. Nach der Doktrin der sozialistischen Menschengemeinschaft im Kontext der 1960er und 1970er Jahre sollten Jugendliche nach dem sozialistischen Persönlichkeitsideal erzogen werden.399 Die Berücksichtigung der kommunistischen Gesellschaftsutopie und des sozialistischen Persönlichkeitsideals verlangten eine starke politische Homogenisierung der DDR-Bevölkerung, die 396 Vgl. Zimmering, Raina: Mythen in der Politik der DDR. Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 37f. 397 Vgl. Dietrich, Gerd: Kulturgeschichte der DDR. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, S. 324f. 398 Vgl. ebd., S. 326. 399 Vgl. Ohse, Marc-Dietrich: Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961–1974). Berlin: Ch. Links Verlag 2003, S. 7.

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mit einer »Politisierung des Privaten«400 einherging. Der offiziell formulierte Anspruch nach dem sozialistischen Persönlichkeitsideal betonte unmissverständlich, dass die Sozialisation Jugendlicher eine wichtige Schlüsselfunktion für die Entwicklung der DDR innehatte, und in diesem Sinne wurde die Jugend von der SED-Führung als »Träger des Aufbaus der neuen Gesellschaft«401 betrachtet. Demensprechend geriet die Identitätsbildung in den Fokus der offiziellen sozialistischen Erziehung. In diesem Kontext spielten die Bildungsinstitutionen, die Pionierorganisation Ernst Thälmann und die Freie Deutsche Jugend eine wichtige Rolle, zumal sie für die Entwicklung einer sozialistischen Identität verantwortlich waren. Marc-Dietrich Ohse betont die in den 1960er Jahren sichtbare zunehmende Bedeutung der FDJ bei der Sozialisation der Heranwachsenden, um »Jugendliche […] auch außerhalb der Bildungseinrichtungen zu einer sozialistischen Lebens- und Arbeitsweise«402 zu erziehen und mit den entsprechenden Traditionen und Idealen vertraut zu machen. Offiziell wurde die These vertreten, dass die Interessen des Staates und der Jugend deckungsgleich sind. So lautete in der Präambel zum zweiten Jugendgesetz von 1964: »In der Deutschen Demokratischen Republik haben Staat und junge Generation zum ersten Mal in der deutschen Geschichte gemeinsame Interessen und Ziele.«403 Dieser Anspruch wurde weiterhin zehn Jahre später im dritten Jugendgesetz bestätigt: »In der Deutschen Demokratischen Republik stimmen die grundlegenden Ziele und Interessen von Gesellschaft, Staat und Jugend überein.«404 Die Erziehung der Jugendlichen zu sozialistischen Staatsbürgern wurde als vorrangiges Ziel proklamiert: »Alle Staats- und Wirtschaftsorgane betrachten die allseitige Erziehung, Bildung und Förderung jedes jungen Menschen zu einer sozialistischen Persönlichkeit als eine ihrer wichtigsten Aufgaben.«405 Die Verantwortung der Jugend als tragende Kraft für die Entwicklung der Gesellschaft wurde ebenso im Jugendgesetz von 1964 verankert: 400 Vgl. ebd., S. 11. 401 Lindner, Bernd: »Bau auf, Freie Deutsche Jugend« – und was dann? Kriterien für ein Modell der Jugendgenerationen der DDR. In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2003, S. 187–215, hier: S. 195. 402 Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 12. 403 Büro des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Kampf um den umfassenden Aufbau des Sozialismus und die allseitige Förderung ihrer Initiative bei der Leitung der Volkswirtschaft und des Staates, in Beruf und Schule, bei Kultur und Sport – Jugendgesetz der DDR vom 4. Mai 1964, Abs. I. In: GBI. DDR I, Nr. 4, S. 75. 404 Büro des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Gesetz über die Teilnahme der Jugend an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und über ihre allseitige Förderung in der Deutschen Demokratischen Republik – Jugendgesetz der DDR vom 28. 01. 1974. In: GBI. DDR I, Nr. 5, S. 47. 405 Büro des Ministerrates der DDR (Hg.), Gesetz über die Teilnahme der Jugend. 1964, S. 76.

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»Die Jugend trägt mit großer Initiative dazu bei, die Aufgaben des Volkswirtschaftsplanes zu lösen, den wissenschaftlich-technischen Höchststand in der Produktion zu erreichen und mitzubestimmen.«406 Der Jugend wurde ein »Mitentscheidungs- und Mitspracherecht […] auf allen Gebieten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens«407 zugesichert. Bereits in der Jugendphase wurden die Heranwachsenden auf den Erwachsenenstatus vorbereitet und mit klar formulierten Aufgaben beauftragt als »Schmiede der Zukunft, Bauherren des Sozialismus und Pioniere der Nation«408. Die Entwicklung der Jugendlichen unterlag je nach ihrem Bildungsweg den spezifischen gesetzlichen Rahmenbedingungen und verfolgte unabhängig von der Bildungsoption das Ziel, die Heranwachsenden zu sozialistischen Persönlichkeiten zu entwickeln.409 Aus den Paragraphen des Jugendgesetzes wird deutlich, dass der Staat durch unterschiedliche Instanzen den Anspruch erhob, einen starken Einfluss auf die Erziehung und Sozialisation der Heranwachsenden auszuüben. Insbesondere der Übergang von der Schule ins Arbeitsleben, eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben im Jugendalter, wurde staatlicherseits stark geregelt. Am Ende der Entwicklung in der Jugendphase wurde im Idealfall offiziell erwartet, dass die Jugendlichen sich reibungslos an das bestehende politische und gesellschaftliche System der DDR anpassen und »ihre eigenen Interessen ›bewußt‹ den gesellschaftlichen Interessen [einer sozialistischen Gesellschaft] unterstellen, die Arbeit in den Mittelpunkt ihres Lebens rücken und auch ihre Freizeit dementsprechend ›sinnvoll‹ nutzen«410. Die Entwicklung im Jugendalter wird »als ein Prozeß der frühzeitigen Vorbereitung und Übernahme der gesellschaftlichen und politischen Aufgaben und Normen der Erwachsenengesellschaft«411 betrachtet und nicht als ein psychosoziales Moratorium, in dem die Heranwachsenden nach anderen als den vorgegebenen Lebensformen suchen. Seit den 1950er Jahren bildete sich in entwickelten Industriegesellschaften ein dominantes Strukturmodell von Jugend heraus, das sich als Bildungsmoratorium charakterisieren lässt. Das Bildungsmoratorium-Strukturmodell grenzte sich von einem älteren Modell ab, das Jugend als eine transitorische Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenen-Alter betrachtete, die aber keine »zwingende

406 407 408 409 410

Ebd., § 1. Ebd. Ebd., S. 75. Vgl. Ebd. §§ 1–23. Hille, Barbara: Zum Stand der aktuellen Jugendforschung in der DDR. In: Zitzlaff, Dietrich/ George, Siegfried (Hg.): DDR-Jugend heute. Zustandsbeschreibung – Forschungsbefunde – Bildungsanregungen. Stuttgart: J. B. Metzler 1986, S. 88–96, hier: S. 90. 411 Ebd.

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lebensgeschichtliche, sozialisatorische Tiefenwirkung«412 hatte. Vielmehr erfolgte während des Übergangsmoratoriums ein Einstieg in berufliche und familiale Erwachsenenlaufbahnen. Allerdings übernahmen die Jugendlichen in dieser Phase eine nachgeordnete Rolle und agierten in der sozialen Position der Anfänger in Engführung zu Erwachseneninstitutionen.413 Im Unterschied dazu zeichnet sich das Bildungsmoratorium durch seine Eigenständigkeit als wichtige Lebensphase im Individuationsprozess aus, in der die Jugendlichen ein Bildungskapital sammeln können und für ihre individualisierte Biographie einen wichtigen Beitrag leisten. In dieser Phase erfolgt eine gesellschaftliche Entpflichtung der Heranwachsenden, die sich in unterschiedlichen Rollen ausprobieren können.414 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise das Modernisierungsmodell von Jugend, das sich im westeuropäischen Raum etabliert hat, auch für die Modernisierung von Jugend in der DDR gültig ist. Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker verweisen darauf, dass in Osteuropa eine eigenständige Sonderform des Bildungsmoratoriums entstand. Angelehnt an die Theorie von Alexander Gerschenkron plädieren Behnken und Zinnecker für den Begriff des selektiven Bildungsmoratoriums, der auf eine selektive Modernisierung der gesellschaftlichen Struktur im osteuropäischen Raum zurückgeht. Die selektive Modernisierung sei vor allem erkennbar erstens an der Sonderstellung staatlicher Instanzen bei der Bestimmung der Entwicklung der Gesellschaft, zweitens an der Priorisierung der sozioökonomischen Entwicklungspolitik und drittens an der Unterfütterung des forcierten Modernisierungsprozesses mit heilutopischen Ideologien. Behnken und Zinnecker heben in diesem Kontext die Besonderheit der DDR innerhalb des osteuropäischen Raums aufgrund ihrer soziopolitischen Geschichte und aufgrund ihrer geopolitischen Lage als ›Schwellenland‹ hervor. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern das selektive Bildungsmoratorium mit Elementen eines erweiterten Bildungsmoratoriums westeuropäischer Prägung modifiziert wurde.415 Besonders relevant sind in dem Zusammenhang die kulturellen Prozesse, die von Westdeutschland und den westlichen Gesellschaften aus den Jugendraum der DDR beeinflussten und bestimmte Veränderungen förderten. Will man das selektive Bildungsmoratorium genau bestimmen, dann sind nach Behnken und Zinnecker folgende Merkmale von Bedeutung: 1) Die Laufbahnpassagen der Jugendlichen in den Bildungsinstitutionen sind klar vorgegeben und normiert. Sie bieten wenige Ausweichmöglichkeiten. Diese Entwicklung resultiert aus einer Reihe habitualisierter Praxen, zu 412 413 414 415

Behnken/Zinnecker, Vom Kind zum Jugendlichen. 1991, S. 34. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 35f.

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denen alle Akteure, zum Beispiel Schüler, Eltern, Lehrer und Schulverwaltung einen Beitrag leisten. 2) Die zeitlichen und materiellen Ressourcen, über die Heranwachsende im selektiven Moratorium verfügen, sind knapper als im erweiterten Bildungsmoratorium ausgerichtet. Die Heranwachsenden werden durch Schule und Familie stärker in die Arbeitspflicht genommen. 3) Die Tendenz zur Individualisierung ist beim erweiterten Bildungsmoratorium intensiver ausgeprägt als beim selektiven Bildungsmoratorium. Das hat beispielsweise mit den realexistierenden Möglichkeiten zur Selbstbestimmung des Bildungsverlaufs zu tun. 4) Das selektive Bildungsmoratorium entspricht eher dem Modell einer standardisierten Normalbiographie. Im Gegensatz dazu entspricht das erweiterte Bildungsmoratorium dem Modell einer individualisierten Biographie.416 Die Normalbiographie von DDR-Jugendlichen lässt sich wie folgt beschreiben: – Vom ersten bis zum dritten Lebensjahr besuchten sie die Kinderkrippe. – Vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr besuchten sie den Kindergarten. – Vom sechsten bis zum 16. Lebensjahr besuchten sie die Schule und waren in der Regel aktiv in der FDJ-Organisation. – Vom 16. bis zum 18. Lebensjahr machten sie eine Berufsausbildung oder besuchten eine weiterführende Bildungseinrichtung. – Mit dem 18. Lebensjahr begannen sie eine berufliche Laufbahn oder ein Studium.417 Barbara Bertram und Leonhard Kasek sprechen bezüglich der Normalbiographie in zugespitzter Form von einem einzigen offiziell vorgegebenen Lebensentwurf: »Offiziell war im Prinzip nur ein einziger Lebensentwurf vorgegeben: Kinderkrippe – Kindergarten – 10jährige allgemeinbildende polytechnische Oberschule – Beruf erlernen (bzw. erweiterte Oberschule und Studium) – Beruf ausüben (die meisten ab 18 Jahre) – Familie gründen (im Durchschnitt mit etwa 23 Jahren). Das war es dann schon – Langeweile für viele.«418

416 Vgl. ebd., S. 38–47. 417 Vgl. Steiner, Irmgard: Strukturwandel der Jugendphase in Ostdeutschland. In: Büchner/ Krüger, Aufwachsen hüben und drüben. 1991, S. 21–32, hier: S. 28. 418 Bertram, Barbara/Kasek, Leonhard: Jugend in Ausbildung und Beruf. In: Friedrich, Walter/ Griese, Harmut (Hg.): Jugend und Jugendforschung in der DDR. Gesellschaftspolitische Situationen, Sozialisation und Mentalitätsentwicklung in den achtziger Jahren. Opladen: Leske + Budrich 1991, S. 58–75, hier: S. 67.

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5) Beim selektiven Bildungsmoratorium nehmen Eltern einen größeren Einfluss auf die Bildungsentscheidungen der Heranwachsenden. Eltern werden häufiger als Beratungsinstanzen herangezogen.419 Im Zuge der Modernisierung, in erster Linie bedingt durch einen zunehmenden Individualisierungsdrang, geraten die Rahmenbedingungen eines selektiven Bildungsmoratoriums immer mehr in die Kritik. Vor allem das Eingreifen des Staates in die individuelle Lebensentwicklung, etwa durch die Regulierung von Ausbildungsmöglichkeiten oder durch die Wehrdienstverpflichtung, löste bei vielen Heranwachsenden Resignation und Frust aus. Folglich kam es ab den 1970er Jahren zu einer zunehmenden Distanzierung und einer politischen Entfremdung der neuen Generationen.420 Dieser Riss wird in den 1970er Jahren anhand von Veränderungen der Wertorientierungen, Lebensziele und nationalen Identität der Adoleszenten erkennbar. Harry Müller macht darauf aufmerksam, dass Jugendliche bereits in den 1970er Jahren den Sinn ihres Lebens in Bereichen suchten, die »außerhalb der staatlichen und politischen Indoktrination und Kontrolle lagen«421. Allmählich lässt sich unter Heranwachsenden eine zunächst in den Großstädten fehlende Identifikation mit den offiziellen Wertvorstellungen beobachten. Unter dem Einfluss der bundesrepublikanischen Medien wurde die offizielle Darstellung des real-existierenden Sozialismus zunehmend hinterfragt, das sozialistische Gesellschaftsmodell und die damit verbundenen Wertvorstellungen standen immer mehr in der Kritik und verloren bezüglich ihrer sinnstiftenden Funktion für die adoleszente Identitätsentwicklung an Bedeutung. Walter Friedrich bestätigt bei seiner Beschreibung eines Mentalitätswandels, der allerdings keine jugendspezifische Erscheinung darstellt, diese Entwicklung. Hierbei erkennt er bis zur Mitte der 1970er Jahre normkonvergente Entwicklungstendenzen in den moralischen Einstellungen, Wertorientierungen und Lebenszielen der Jugend, seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend von der Norm abweichende Entwicklungen und seit 1988 sogar eine deutlich ablehnende Haltung, die einen »rasch zunehmenden Verlust der Identifikation zum alten Herrschaftssystem«422 zur Folge hatte. 419 Vgl. Behnken/Zinnecker, Vom Kind zum Jugendlichen. 1991, S. 47ff. 420 Vgl. Zaddach, Wolf-Georg: Heavy Metal in der DDR. Szene, Akteure, Praktiken. Bielefeld: transcript Verlag 2018, S. 27f. 421 Müller, Harry: Lebenswerte und nationale Identität. In: Friedrich, Walter/Griese, Hartmut (Hg.): Jugend und Jugendforschung in der DDR. Gesellschaftspolitische Situationen, Sozialisation und Mentalitätsentwicklung in den achtziger Jahren. Opladen: Leske + Budrich 1991, S. 124–135, hier: S. 124. 422 Friedrich, Walter: Jugend und Jugendforschung in der ehemaligen DDR. In: Melzer, W./ Heitmeyer, W./Liegle, L. und Zinnecker, J. (Hg.): Osteuropäische Jugend im Wandel. Ergebnisse vergleichender Jugendforschung in der Sowjetunion, Polen, Ungarn und der ehemaligen DDR. Weinheim/München: Juventa Verlag 1991, S. 172–183, hier: S. 175.

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Auf unterschiedlichen Ebenen erörtert Friedrich, wie der Mentalitätswandel vollzogen wurde. An dieser Stelle sollen nur einige wenige Aspekte angeführt werden, die für die Entwicklung der Heranwachsenden von besonderer Bedeutung waren. Bezüglich der Zivilisationsentwicklung macht Friedrich auf den Einfluss globaler Entwicklungen aufmerksam, die zu einer größeren Pluralisierung der Lebensweisen und zu einer größeren Individualitätsentfaltung geführt haben. In diesem Zusammenhang verweist er auf die Reformnotwendigkeit des real-sozialistischen Systems, bei dem die Kreativitäts- und Individualitätsentfaltung klaren Grenzen ausgesetzt waren. Auf einer politischen Ebene ging der Glaube an die Überlegenheit des Sozialismus verloren. Im gleichen Atemzug stieg der Attraktionswert der BRD, bedingt vor allem durch den enormen Wohlstandsunterschied und durch die demokratischen Freiheiten. Die Sympathie für die BRD wurde insbesondere durch die Unfähigkeit der eigenen Politiker, den Verfall der DDR zu stoppen, und durch ihre politische Haltung, den Westen zu verteufeln, zusätzlich gefördert.423 Im Alltag kamen die Menschen mit unterschiedlichen Problemen wie der Mangelwirtschaft, der Anhäufung von Tabus, dem Fehlen von Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten und der damit verbundenen Einschränkung der Individualitätsentfaltung in Berührung. Diese Faktoren gerieten zunehmend in die Kritik und begünstigten die ablehnende Haltung bei den Jugendlichen. Friedrich markiert in diesem Zusammenhang den unter den Jugendlichen seit der Mitte der 1970er Jahre sukzessive deutlicher in Erscheinung tretenden Wunsch nach materiellen Errungenschaften und Sicherheitswerten. Hinzu kommen ihr ausgeprägtes Verlangen nach Selbstbestimmung und eine am Hedonismus orientierte Lebenseinstellung.424 Ab den 1980er Jahren kann aufgrund der zunehmenden Bedeutung westlicher Medienkultur bei der ostdeutschen Jugendkultur von einem ›Verwestlichungsschub‹ gesprochen werden.425 Der von Friedrich beschriebene Mentalitätswandel lässt sich zweifellos mit politischen Aspekten in Verbindung bringen, aber in gewisser Weise auch mit intergenerationalen Prozessen, das heißt mit der der Adoleszenz immanenten Ablösung von früheren Kulturträgern, ihren Norm- und Wertvorstellungen. Gerd Dietrich erörtert in seiner Kulturgeschichte der DDR in zutreffender Form den intergenerationalen Konflikt, der das Ende der DDR begünstigt hat und in dessen Zuge viele Aspekte der Adoleszenztheorie eine wichtige Rolle spielen. In seiner Argumentation bezieht er sich auf die unterschiedlichen Generationen, die als Erfahrungsgemeinschaft bezüglich ihrer Erfahrungen und Erwartungen deutliche Unterschiede aufweisen. Er verweist in diesem Kontext erstens auf den Generationsvertrag zwischen der Gründer-Ge423 Vgl. ebd., S. 176. 424 Vgl. ebd., S. 178f. 425 Vgl. Behnken/Zinnecker, Vom Kind zum Jugendlichen. 1991, S. 44.

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neration und der Aufbau-Generation, der durch ihre gemeinsamen Erfahrungen von Not und Mangel nach dem Krieg und vom persönlichen Aufstieg im Zuge des gesellschaftlichen Aufschwungs begründet wird. Hinzu kommt ihre gemeinsame Ablehnung des Faschismus.426 Bedenkt man, dass aus soziologischer Sicht die Adoleszenz in modernisierten Gesellschaften zur Vorbereitung der neuen Kulturträger dient und dass in dieser Lebensphase ein dynamisches Verhältnis von Tradierung alter Kulturgüter und Innovation existieren muss, dann lässt sich erklären, wie es zu einem ›Generationsriss‹ zwischen der Gründer-Generation und der Aufbau-Generation und ihren Kindern, der sogenannten Hineingeborenen-Generation, kommen konnte. Das Fehlen eines dynamischen Verhältnisses von Tradierung alter Kulturgüter und Innovation bzw. die Tatsache, dass die Heranwachsenden der nachfolgenden Generationen aufgrund der fehlenden generativen Haltung der Gründer- und Aufbau-Generation ihre avantgardistische Aufgabe nicht erfolgreich erfüllen konnten, führte zwangsläufig zur Stagnierung der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR und zu einer Frustration der neuen Generationen, die auf die Erfahrung zurückging, »nicht mit den Eigenschaften gebraucht zu werden, die [ihnen] wichtig waren, [ihre] Kräfte nicht gefordert zu sehen. […] Verkümmerung. Blaß, farblos. Eine Generation ohne Biographie«427. Zutreffend diagnostiziert Dietrich eine fehlende Identifikation der Nachfolgegenerationen mit dem Antifaschismus und den sogenannten sozialistischen Errungenschaften. Der Gründer- und Aufbau-Generation war es nicht gelungen, die »Weitergabe der Fackel«428 an die dritte Generation erfolgreich zu gestalten, um die »Kontinuität des sozialistischen Humanismus«429 zu ermöglichen. Als Mitglieder einer etablierten Gesellschaft entwickelten sie andere Bedürfnisse als ihre Eltern und suchten nach einem »geistige[n] Freiraum abseits der vom Staat reglementierten Bahnen. Sie waren nicht länger an einer Befriedigung ihrer Bedürfnisse innerhalb der politischen Verhältnisse interessiert«430. Ein genauer Blick auf die Generationenfolge zeigt, dass die Gründerund Aufbau-Generation als Elite des Landes die Entwicklung der Gesellschaft bestimmte und verantwortlich für die Schließung der Aufstiegskanäle anderer Generationen war. Dietrich spricht von einer ab den 1970er Jahren nicht mehr zu übersehenden gestörten natürlichen Folge der Generationen, die zu einem 426 Vgl. Dietrich, Kulturgeschichte der DDR. 2018, S. 2061. 427 Damm, Sigrid: Lenz – eine geheime Lernfigur. Dankrede zur Verleihung des Lion-Feuchwanger-Preises (1987). In: Simm, Hans Joachim (Hg.): Sigrid Damm: »Einmal nur blick ich zurück«. Auskünfte. Berlin: Insel Verlag 2010, S. 214–223, hier: S. 221. 428 von Wangenheim, Inge: Genosse Jemand und die Klassik. Gedanken eines Schriftstellers auf der Suche nach dem Erbe seiner Zeit. 3. Aufl. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1981, S. 35. 429 Ebd. 430 Dietrich, Kulturgeschichte der DDR. 2018, S. 2061f.

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doppelten Bruch in der Gesellschaft führte. Die Unfähigkeit der Gründer-Generation, das Innovationspotenzial der nachfolgenden Generationen in konstruktive Veränderungsprozesse zu integrieren, führte zu einem Stillstand, der mit großer Resignation und Frustration unter den Heranwachsenden einherging. Dietrich macht darauf aufmerksam, dass der vorhin angesprochene Wandel der Wertehierarchien und Einstellungen mit dem zunehmenden Einfluss der jüngeren Jahrgänge zusammenhängt. Vor diesem Hintergrund spricht er von einem Paradigmenwechsel und einem Kulturumbruch, der sich in einer Distanzierung zum Herrschaftssystem manifestierte und durch das Nachdrängen der neuen Generationen zustande kam.431

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Obwohl die Sozialisation der Heranwachsenden durch außerfamiliale Instanzen, zum Beispiel die FDJ, stark beeinflusst war, genoss die Familie in der DDR einen hohen Stellenwert unter den Jugendlichen. Eltern wurden dementsprechend als Vertrauenspersonen und als kompetente Ratgeber herangezogen, um wichtige Lebensfragen zu klären.432 Studien belegen ein »relativ hohes Maß an Übereinstimmungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern in Fragen, die die Einstellung und Verhaltensweise Jugendlicher betreffen.«433 Bedingt durch die Regulierung des öffentlichen Lebens betrachteten Heranwachsende in der DDR die Familie als einen Ort, in dem sie ihre Individualität stärker ausleben konnten.434 Die Frage nach der Sozialisationsfunktion der Familie in der DDR wird jedoch in der Soziologie kontrovers diskutiert. Jutta Gysi vertritt die These, dass die Familien auf die staatliche Durchdringung des privaten Bereichs mit einer zunehmenden Distanzierung von den politischen Werten reagierten und sich insbesondere ab den 1970er Jahren immer mehr ins Private zurückzogen. Der Familie wird demzufolge eine Nischenfunktion oder der Status einer Gegenkultur zur staatlich verregelten Kindheit und Jugend zugewiesen.435 Nach Gysi stellt also

431 Vgl. ebd., S. 2065. 432 Vgl. Hille, Barbara: Familie und Sozialisation in der DDR. Opladen: Leske + Budrich 1985, S. 152; Melzer, Wolfgang/Schmidt, Lutz: Jugend und Familie in beiden Teilen Deutschlands. In: Melzer/Heitmeyer/Liegle/Zinnecker, Osteuropäische Jugend im Wandel. 1991, S. 207– 220, hier: S. 212ff. 433 Melzer/Schmidt, Jugend und Familie. 1991, S. 212. 434 Vgl. ebd., S. 213. 435 Vgl. Gysi, Jutta: Die Zukunft von Familie und Ehe, Familienpolitik und Familienforschung in der DDR. In: Burkart, Günter (Hg.): Sozialisation im Sozialismus. Lebensbedingungen in der DDR im Umbruch. Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie. 1. Beiheft. Weinheim: Juwenta 1990, S. 33–41; vgl. hierzu auch Kirchhöfer, Dietrich: Kindheit

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die Familie in der DDR einen individuellen Raum dar, in dem sich »individuelle[] Lebenstätigkeiten außerhalb der gesellschaftlichen Aktivitätsformen«436 entfalten können.In diesem Sinne leistet die Familie als privater Kommunikationsraum einen gewissen Widerstand gegen die Ansprüche der Kollektivierung der gesamten Gesellschaft.437 Hingegen stellt Norbert Schneider den familialen »Rückzugsraum mit [seinen] hoch emotionalisierten Beziehungen«438 in Frage und spricht bei der DDR-Familie von einer »Versorgungs- und Erledigungsgemeinschaft«439, die von ihren Mitgliedern häufig instrumentalisiert und aufrechterhalten wurde, um Nutzen daraus zu ziehen. Gitta Scheller vertritt eine mittlere Position und revidiert Gisys und Schneiders Thesen. Nach Schellers Auffassung kann weder von einer ›Sozialidylle‹ noch von einer ›Erledigungsgemeinschaft‹ die Rede sein, sondern es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Entwicklung eines durch eine gefühlsbetonte Beziehung geprägten Familiengefühls nicht besonders ausgeprägt ist. Für ihre Thesen greift Scheller auf Ergebnisse von Studien zurück, die dafür sprechen, dass die »Emotionalisierung der partnerschaftlichen und familialen Binnenstruktur in der DDR Grenzen unterlag und sich Partner- und Eltern-Kind-Beziehungen durch einen im Vergleich zur Bundesrepublik höheren Grad der Versachlichung auszeichneten«440. Sie führt dies zum einen darauf zurück, dass Ehe und Familie »durch das dichte Netz staatlicher Kindereinrichtungen […] von Sozialisationsaufgaben teilweise entlastet«441 waren und sich nahezu alle Aufgabenbereiche mit anderen Institutionen teilten. Die Übernahme von Sozialisationsaufgaben bereits durch die Kinderkrippen und andere Kollektive führte zu einer Einschränkung der innerfamiliären Aktivitäten und folglich zu einer Reduzierung von Situationen, in denen sich die emotionalen Familienbeziehungen entwickeln konnten, so Schellers Argumentation. Hinzu kommt die Tatsache, dass Mütter schon sehr früh ihrer Erwerbstätigkeit nachgingen und Kinder in Betreuungseinrichtungen versorgt wurden. Infolgedessen war die Entfaltung von Emotionalität keine exklusive

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in der DDR – Widersprüche einer spezifischen Moderne. In: Ders. (Hg.): Kindheit in der DDR. Frankfurt/Main [u. a.]: Peter Lang 2003, S. 35–48, hier: S. 40. Gysi, Die Zukunft von Familie und Ehe. 1990, S. 34; vgl. hierzu auch Melzer, Wolfgang: Zum Wandel familialer Lebensformen in Westdeutschland. In: Büchner/Krüger, Aufwachsen hüben und drüben. 1991, S. 69–87, hier: S. 81. Vgl. Pfau, Sebastian/Trültzsch, Sascha: Zur Rolle der Familie in der DDR. In: Steinlein, Rüdiger/Strobel, Heidi/Kramer, Thomas (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR von 1945 bis 1990. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 2006, S. 63– 74, hier: S. 71. Schneider, Norbert F.: Familie und private Lebensführung in West- und Ostdeutschland. Eine vergleichende Analyse des Familienlebens 1970 bis 1992. Stuttgart: Enke 1994, S. 291. Ebd., S. 292. Scheller, Gitta: Partner- und Eltern-Kind-Beziehung in der DDR und nach der Wende. In: Das Parlament bpb B 19/2004, S. 33–38, hier: S. 33. Ebd.

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Aufgabe der Familie, sondern sie wurde mit anderen Kollektiven geteilt. Ihrer Meinung nach führte der Verlust des Exklusivitätsstatus der Familie für die Versorgung der emotionalen Bedürfnisse des Kindes zu einer Versachlichung der Mutter-Kind-Beziehung und zu einer Relativierung der emotionalen Verbundenheit der Eltern mit den Kindern. Problematisch ist an dieser Stelle, dass Scheller davon ausgeht, die emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kind leide automatisch unter der Unterstützung der Eltern durch ein staatlich organisiertes Betreuungsnetz oder dadurch, dass die Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Berufsentwicklung anstreben. Ebenso problematisch ist es, davon auszugehen, die Emotionalität der Eltern-Kind-Beziehung werde beeinträchtigt, wenn das Kind im außerfamiliären Kontext die Möglichkeit hat, sich in Gesellschaft anderer Menschen emotional zu entfalten. Noch fragwürdiger ist ihre Argumentation bezüglich der in der DDR existierenden engen Wohnverhältnisse, die nach Scheller bei der Ausprägung emotionaler Beziehungen als zusätzliche Barriere zu betrachten sind. Fraglich ist, ob sich die Entwicklung von Emotionalität in der Eltern-Kind-Beziehung mit dieser Art pauschaler Kausalitätserklärungen beschreiben lässt. Betrachtet man die aktuelle Diskussion über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und über die Forderung nach einer besseren Ausgestaltung der Kinderbetreuung, um Familien intensiver zu unterstützen, damit kein Partner die berufliche Entwicklung vernachlässigen muss und damit die Menschen berufliche und familiäre Verantwortung gleichwertig übernehmen können, erscheint Schellers Argumentation in einem anderen Licht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das Dilemma, wie die Entwicklung einer emotionalen Eltern-Kind-Beziehung mit den gesellschaftlichen Anforderungen zu vereinbaren ist, eine DDR-spezifische Angelegenheit war. Vielmehr handelt es sich um ein Phänomen, das mit der Modernisierung der Arbeitskultur zusammenhängt und für das der DDR-Staat mit seiner Fürsorgefunktion eine kollektive Lösung offerierte. Demnach hatten staatliche Einrichtungen die Aufgabe, »zur Entwicklung der Familie«442 beizutragen. In den Ehen und Partnerschaften waren die »Beziehungen der Ehegatten zueinander […] so zu gestalten, daß die Frau ihre berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit mit der Mutterschaft vereinbaren kann«443. In der Institution Familie vollzogen sich ab den 1970er Jahren in der DDR genauso wie in den westeuropäischen Ländern deutliche Veränderungen bezüglich der familialen Lebensformen, auch wenn diese später einsetzten und graduell anders waren. Die Unterschiede sind nach Melzer und Schmidt auf den 442 Büro des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1966, Teil I, S. 2, § 1. 443 Ebd., S. 3, § 10.

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unterschiedlichen Modernisierungsgrad zurückzuführen. Ebenso wie im Westen wurden Ehen häufig geschieden und insbesondere ab der Mitte der 1970er Jahre war ein deutlicher Rückgang der Eheschließungen und der Geburtenzahl zu erkennen. Trotz einer Pluralisierung der Lebensformen blieb die Ehe als eindeutig dominierende Form des Zusammenlebens in der DDR.444 Die Erziehung und Sozialisation in der Familie galten in der DDR als gesellschaftlich bedeutende Aufgabe, um eine politische Homogenisierung der DDR-Bevölkerung zu erzielen. Offiziell wurde der »Erziehung zu einem bewußten und aktiven Staatsbürger ein[] besondere[r] Stellenwert«445 eingeräumt. Gleichwohl war die Familienrealität vielfältig; hier wurden heterogene politische Haltungen vertreten: »angefangen von einem bewußten politischen Einsatz für die DDR über einfache Anpassung an die Verhältnisse, über familieninterne Kritik an der DDR bis zur versteckten oder offenen Gegnerschaft«446. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und die innen- und weltpolitischen Entwicklungen tangierten alltäglich das Leben der Familien. Darauf reagierten die Familien in unterschiedlicher Form, häufig mit offenen und kritischen Diskussionen über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Je nach den politischen Interessen, dem politischen Bildungsstand und dem Identifikationsgrad gestalteten sich die Reflexionen innerhalb der Familie. Ein großer Teil der DDR-Bevölkerung versuchte seine Kinder für politische Themen zu sensibilisieren und förderte ihre Mitarbeit in der Pionierorganisation und in der FDJ. Die Eltern legten jedoch einen großen Wert darauf, den Kindern den Unterschied zwischen einer zu Hause formulierten privaten Äußerung und einer öffentlichen Äußerung zu vermitteln. Demzufolge wurden die Kinder konsequent zu einer gespaltenen Haltung erzogen, um Schwierigkeiten im Umgang mit politischen Fragen in der Öffentlichkeit zu vermeiden.447 Das führte häufig dazu, dass eine »politische Doppelkultur«448 vorgelebt wurde. Zwar wurde in der Öffentlichkeit den ideologischen Ansprüchen der Staats- und Parteiführung genügt, jedoch wurden »im privaten Bereich Werte gepflegt […], die nicht mit denen von Staat und Partei übereinstimmten«449. In diesem Sinne bot die Familie »die Möglichkeit zu Rückzug, Entspannung, Ausgleich und Entfaltung von teilweise abseits

444 Vgl. Melzer/Schmidt, Jugend und Familie. 1991, S. 208ff. 445 Scharnhorst, Erna: Die Erziehung des Kindes in der Familie. In: Kirchhöfer, Kindheit in der DDR. 2003, S. 189–202, hier: S. 191. 446 Ebd., S. 192. 447 Vgl. ebd., S. 197f. 448 Lemke, Christiane: Die Ursachen des Umbruchs 1989. Politische Sozialisation in der ehemaligen DDR. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 13. 449 Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 10.

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der offiziellen Erziehungsnormen liegenden Bedürfnissen und Interessen«450, so Barbara Hille. Die Erziehung zur Arbeit war ein wesentlicher Bereich der sozialistischen Erziehung. Dementsprechend legten die Eltern in der Regel großen Wert darauf, Kinder an den reproduktiven Tätigkeiten in der Familie zu beteiligen und ein Bewusstsein für die Bedeutung von Arbeit bei den Kindern zu entwickeln. Demzufolge wurden den Kindern Aufgaben im Haushalt übertragen und in die Gestaltung des Familienlebens miteinbezogen.451

3.2

Zur Sozialisation in der Schule

Zusammen mit dem Jugendverband übernahm die Schule eine Schlüsselfunktion bei der Entwicklung der neuen Generationen. Sie stellte den zweiten Pfeiler der Jugendpolitik dar. »Die Schule galt als Schlüssel des gesamten Bildungs-, Erziehungs- und Sozialisationsfeldes.«452 Von Anfang an versuchte die Schule einen umfassenden Erziehungs- und Bildungsauftrag zu erfüllen, um »neben Kenntnissen und Fertigkeiten all jene Werte und Normen, Einstellungen und Haltungen zu vermitteln, die den ›neuen sozialistischen Menschen‹ auszeichnen sollten«453. Demzufolge wurde offiziell das einheitliche sozialistische Bildungssystem neben der Einheitspartei, dem einheitlichen Jugendverband und der Einheitsgewerkschaft als ein wichtiger Träger der Staatsdoktrin betrachtet.454 Alle anderen Sozialisationsinstanzen, wie beispielweise die Eltern und der Jugendverband, sollten die Aufgabe der Schule unterstützen und weiterführen.455 Die Arbeit in der Schule auf allen Stufen des Bildungssystems war durch die »Verbindung von wissenschaftlicher Bildung und sozialistischer Erziehung, von Schule und Leben, von Unterricht, produktiver Arbeit und körperlicher Erziehung«456 geprägt. Das Grundprinzip der sozialistischen Erziehung definierte Margot Honecker wie folgt: »Unsere Schule hat den Auftrag, den Nachwuchs der Arbeiterklasse und aller Werktätigen heranzubilden. Das verlangt, die Schüler von klein an zu lehren, gesellschaftlich 450 Hille, Barbara: Jugend und Familie in der DDR. In: Zitzlaff/George, DDR-Jugend heute. 1986, S. 32–40, hier: S. 40. 451 Vgl. Scharnhorst, Die Erziehung des Kindes. 2003, S. 195. 452 Steinlein/Strobel/Kramer, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. 2006, S. 21. 453 Gruner, Petra/Kluchert, Gerhard: Erziehungsabsichten und Sozialisationseffekte. Die Schule der SBZ und frühen DDR zwischen politischer Instrumentalisierung und institutioneller Eigenlogik. In: Zeitschrift für Pädagogik. Jahrg. 47, H. 6/2001, S. 859–868, hier: S. 859. 454 Vgl. Hoffmann, Achim: Jugend und Schule. In: Friedrich/Griese, Jugend und Jugendforschung in der DDR. 1991, S. 46–58, hier: S. 48. 455 Vgl. Steinlein/Strobel/Kramer, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. 2006, S. 21. 456 Dietrich, Kulturgeschichte der DDR. 2018, S. 837.

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Nützliches zu tun. […] Unsere Jugend soll frühzeitig lernen, daß sich persönliche Ansprüche allein durch die Arbeit erfüllen lassen, daß man nicht auf Kosten anderer leben, das eigene Wohl nicht über das anderer Menschen stellen kann. Erziehung zur Selbstlosigkeit, zur Verantwortung für das Ganze, Erziehung bewußter schöpferischer, initiativer und ideenreicher Menschen, die bereit und fähig sind, diszipliniert zu arbeiten, das ist konkrete kommunistische Erziehung.«457

Die Kinder sollten demnach früh daran gewöhnt werden, sich als Teil eines Kollektivs zu fühlen, dessen Aktivitäten nicht nur dem eigenen Nutzen dienten, sondern in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang gesehen wurden. In diesem Kontext traten Ideologie und ideologische Erziehung deutlich in den Vordergrund. Die Lehrer wurden von der ideologischen Subordination so weit geleitet, dass sie sich »zwangsläufig auf das Brave, Mustergültige, auf Unterordnung«458 orientierten. Wolf-Georg Zaddach macht darauf aufmerksam, dass »die Belohnung der Normanpassungsbereitschaft bei gleichzeitig erfahrenen alltäglichen Widersprüchen zwischen ideologischem Anspruch und der Realität«459 zu einer oberflächlichen Identifikation mit sozialistischen Wertvorstellungen und Idealen bei den Heranwachsenden führte. Darin erkennt er eine Ursache für die hohe Akzeptanz und das große Interesse für alternative Jugendkulturen. Es erfolgte eine zunehmende Entfremdung von den schulpolitischen Postulaten, die mit der Schulrealität immer schwerer zu vereinbaren waren. Das Einheitspostulat von Schule und Leben bestimmte eine schulpolitische Entwicklung, die zunehmend die Lebensziele, die Leistungsmotive sowie die Wertvorstellungen der neuen Generationen aus dem Auge verlor, weiterhin von der Existenz eines Kollektivgeistes ausging und folglich zur Leugnung eines existierenden Generationskonflikts führte.460 Ähnlich argumentiert Gerd Dietrich, um die existierende Diskrepanz zwischen den Partei-Ambitionen bezüglich der ideologischen Formung und den zunehmend fernbleibenden Identifikationserfolgen seitens der Bürger plausibel zu machen: »[D]ie Durchsetzungsmöglichkeiten der sozialistischen Ideologie in der Schule [blieben] wie im Leben begrenzt. Denn die ideologischen Postulate gerieten ständig in Widerspruch zu den Erfahrungen im Unterrichtstag in der Produktion wie zur Realität in Alltag und Familie. Darüber hinaus hatte sich auch an den Schulen jener ›Zwiesprech‹ herausgebildet, jene alltägliche Schizophrenie der DDR-Bürger, wonach man deutlich zwischen öffentlicher und privater Meinungsäußerung unterschied.«461

457 Margot Honecker, zitiert nach Wilhelmi, Jutta: Jugend in der DDR. Der Weg zur »sozialistischen Persönlichkeit«. Berlin: Verlag Gebr. Holzapfel 1983, S. 52. 458 Hoffmann, Jugend und Schule. 1991, S. 52. 459 Zaddach, Heavy Metal in der DDR. 2018, S. 27. 460 Vgl. Hoffmann, Jugend und Schule. 1991, S. 48. 461 Dietrich, Kulturgeschichte der DDR. 2018, S. 838.

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Die Schule mit ihrer Schulpolitik wurde wie alle Sozialisationsinstanzen in der DDR nach der Wende einer kritischen Evaluation unterzogen, über ihre Leistung wurde kontrovers diskutiert. Neben den Thesen, die von einer »ideologische[n] Hypertrophierung der Schule«462, von einer dominierenden Erziehungsfunktion, nach der »[ j]eder Unterrichtsgegenstand […] eine weltanschauliche Dimension mit erzieherischem Potenzial«463 gewann oder von »politischer Indoktrination in der Schule«464 sprechen und die Schule als eine Erziehungsinstitution mit einem klar formulierten Ideologisierungsauftrag betrachten, gibt es Ansätze, die einen differenzierteren Blick in die schulischen Sozialisationseffekte gewähren. Ohne den Erziehungsauftrag der Schule zu negieren und ausgehend von den spezifischen Konventionen der Institution Schule, plädieren Petra Grüner und Gerhard Kluchert für eine Überprüfung der schulischen Erziehungspraxis. Grüner und Kluchert sprechen der Institution Schule eine relative Autonomie gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu, die zusammen mit spezifischen strukturellen Eigenheiten dazu führten, dass die Nutzbarkeit der Schule für erzieherische Zwecke aufgrund ihrer strukturellen Barrieren begrenzt war.465 Sie begründen ihre These, indem sie die Steuerung der Schulpraxis durch ein politisch-pädagogisches Zentrum in Frage stellen. Die empirische Forschung hat bestätigt, dass die Beziehung zwischen Schulpolitik und Schulpraxis unter anderem durch die Individualität des Lehrers bedingt wird und zu unterschiedlichen Praxisumsetzungen führt, so Grüner und Kluchert. Darüber hinaus sind nach der Auffassung von Grüner und Kluchert die Erziehungsmöglichkeiten der Schule begrenzt, zumal sie ihre Besucher, sowohl Lehrer als auch Schüler, nur teilweise und in spezifischer Weise erfasst. Durch die Ausgliederung des Lehrens und Lernens aus den alltäglichen Handlungsvollzügen, durch die Trennung von Denken und Handeln, durch die große Aufmerksamkeit auf kognitive Prozesse und durch die Rollenhaftigkeit der Sozialbeziehungen werden Distanz- und Differenzerfahrungen gefördert und dadurch die erzieherische Wirkung verringert. Eine beliebige ideologische Funktionalisierung der Schule wird durch die Tatsache verhindert, dass Schule als Institution die Vermittlung von Werten und Normen als immanente Aufgabe innehat. Im natürlichen Fall fördert die Schule die Entwicklung von individueller Besonderheit und von Konkurrenzverhalten. Das steht im deutlichen Widerspruch zu den Strebungen, Gemeinschaftlichkeit 462 Hoffmann, Jugend und Schule. 1991, S. 48. 463 Steinlein/Strobel/Kramer, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. 2006, S. 22. 464 Margedant, Udo: Bildungs- und Erziehungssystem der DDR – Funktion, Inhalte, Instrumentalisierung, Freiräume. In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Bd. III: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR. Teilbd. 3. Baden-Baden: Nomos Verl.-Ges 1995, S. 1489–1529, hier: S. 1512. 465 Vgl. Gruner/Kluchert, Erziehungsabsichten und Sozialisationseffekte. 2001, S. 860.

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und Solidarität zu erzeugen.466 Gruner und Kluchert ignorieren nicht die Bemühungen seitens der SED, die Schulinstitution in den Aufbau eines neuen Gesellschaftsmodells einzubeziehen, um dadurch einen größeren ideologischen Einfluss ausüben zu können. Sie erkennen aber genauso die staatlichen Bemühungen, die Funktion der Schule als Vermittlerin von Fachwissen zu bestärken. Mit Recht behaupten Gruner und Kluchert, die Schulpolitik sei ein weiterer Beleg für die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR, die nach dem Soziologen Detlef Pollack für die gesamte DDR-Gesellschaft kennzeichnend ist.467 Unter dem Begriff einer »konstitutiv widersprüchlichen Gesellschaft« versteht Pollack, dass »sich durch die DDR-Gesellschaft spezifische Spannungslinien zogen, die ebenso destruktiv wie unvermeidbar waren und insofern als Widersprüche oder Paradoxien behandelt werden können«468. Neben Maßnahmen politischer Homogenisierung gab es unvermeidbare funktionale Differenzierungen, die sich dem Führungs- und Steuerungsanspruch des politischen Systems zu entziehen versuchten. Beispielsweise wird diese Paradoxie an der Familienpolitik sichtbar: Gegenüber dem »Anspruch auf die politische und ideologische Reglementierung der Privatsphäre«469 reagierten die Familien mit einer Erziehung der politischen Doppelkultur, bei der die Doppelbödigkeit und Zweigleisigkeit als Handlungsstrategie entwickelt und verinnerlicht wurde und auf die im alltäglichen Schulleben und in der sonstigen öffentlichen Kommunikation nach Bedarf zurückgegriffen wurde.470 Gruner und Kluchert gehen in ihrer Analyse weiter und verweisen auf den Charakter der Schulsozialisation, bei der Schüler nicht als ganze Person erfasst werden können, mit Erwartungen konfrontiert werden und »lernen, sich auf Konformitätserwartungen einzustellen«471 und Strategien zu entwickeln, um mit diesen Erwartungen und Anforderungen der Schule, welcher Art auch immer sie sind, erfolgreich umzugehen. Unabhängig vom gesellschaftlichen System lernen Schüler »personale und soziale Identität auszubalancieren«472 und dafür auf Strategien wie die Doppelbödigkeit und Zweigleisigkeit zurückzugreifen, so Gruner und Kluchert. Sie verweisen auf die Besonderheit der Schulinstitution und betonen, dass sowohl der Rückgriff auf solche Strategien als auch das Rollenhandeln der Schule als Institution immanent sind und als Bedingung gelten, um schulische Sozialisation erfolgreich gestalten zu können. Die Besonderheit der DDR-Schule liegt nur in der Steigerung und Ausdehnung dieser 466 Vgl. ebd. 467 Vgl. ebd., S. 861. 468 Pollack, Detlef: Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDR-Gesellschaft homogen? In: Geschichte und Gesellschaft 24/1998, H. 1, S. 110–131, hier: S. 114. 469 Ebd., S. 115. 470 Vgl. Kapitel 3.1 Zur Sozialisation in der Familie. 471 Gruner/Kluchert, Erziehungsabsichten und Sozialisationseffekte. 2001, S. 864. 472 Ebd.

Die Jugendweihe als Initiationsritual

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strukturellen Effekte, zum Beispiel durch den Einbezug der politischen Konformität als Erwartungsnorm.473 Die geforderte Identifikation mit dem sozialistischen Gesellschaftsmodell führte in der Tat zu einer äußerlichen politischen Konformität, aber gleichzeitig zu einer innerlichen Distanzierung, die jene Identifikation ablehnte.474 In ihrer Analyse der DDR-Schule verweisen Gruner und Kluchert zwar auf die Besonderheit der schulischen Selektion mit der gezielten Förderung bestimmter Gruppen und der Ausgrenzung anderer Gruppen aus politischen Gründen, räumen angelehnt an Klaus-Jürgen Tillmann aber dennoch ein, dass »[f]ür die Mehrheit der Schüler […] die Effekte schulischer Sozialisation kaum wesentlich über die üblichen hinausgegangen [sind], darunter auch Konformitätsorientierung im Sinne herrschender Wertvorstellungen in der Gesellschaft«475. Entscheidend in diesem Kontext ist, inwiefern die schulische Sozialisation gegen andere Sozialisationsfelder wirken konnte. Angesichts einer in der DDR vorherrschenden ›pluralistischen Sozialisation‹, die zum Beispiel durch den Einfluss der westlichen Medien und Jugendkulturen geprägt war, müssen die erzieherischen Wirkungsmöglichkeiten der Institution Schule deutlich relativiert werden: Die schulischen »Anstrengungen erscheinen so als ›blindes‹ Anrennen von Erziehung gegen Sozialisation«476.

3.3

Die Jugendweihe als Initiationsritual

In der DDR wurde an eine Tradition des 19. Jahrhunderts angeknüpft, um den Übergang ins Erwachsenenleben feierlich zu zelebrieren. Der Ursprung dieser Tradition lag in einem freireligiösen Kontext, der von Organisationen der Arbeiterbewegung übernommen und bis ins 20. Jahrhundert fortgeführt wurde.477 Nach dem Krieg wurde in der sowjetischen Besatzungszone an diese Tradition angeknüpft, und die ersten Jugendweihen wurden ohne ideologischen Einfluss durchgeführt. Im Zuge der einsetzenden Ideologisierung der DDR-Gesellschaft wurden Jugendweihen sogar verboten, um vor allem eine Konfrontation mit der Kirche zu vermeiden. Die SED-Führung versuchte durch solche Maßnahmen, die Unterstützung der Kirche für die aktive Mitgestaltung des neuen Staates zu bekommen.478 Gerd Dietrich differenziert drei Ebenen, die betrachtet werden müssen, um die Institutionalisierung der Jugendweihe im Jahre 1954 zu verste473 474 475 476

Vgl. ebd. Vgl. Pollack, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. 1998, S. 121. Gruner/Kluchert, Erziehungsabsichten und Sozialisationseffekte. 2001, S. 865. Ebd. Zur Wirkung der Sozialisationsfelder der westlichen Medien und Jugendkulturen siehe Kapitel 3.5 Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR. 477 Vgl. Dietrich, Kulturgeschichte der DDR. 2018, S. 563. 478 Vgl. ebd., S. 564.

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Zur Adoleszenz in der DDR

hen. Auf einer politischen Ebene ging es darum, im Rahmen einer Neukonzeption der Kirchenpolitik durch die Neueinführung der Jugendweihe eine Alternative zur Konfirmation und Kommunion anzubieten, bei der die Frage der Weltanschauung keine Rolle spielte. Mit der Maßnahme formulierte das Politbüro eine eindeutige Gegenposition zur Kirche. Auf einer ideologischen Ebene existierten bei der SED-Führung deutliche Ressentiments gegen die Religion, deren Ursprung in der stalinistischen Ideologie zu suchen war. Die SED-Führung verfolgte das Ziel, »die religiösen Lehren und Kulte zu privatisieren und [sie] aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen«479. Darüber hinaus ging es darum, »die Jugend für überpersönliche Ziele wie den Patriotismus und Internationalismus«480 zu gewinnen und eine materialistische und atheistische Weltauffassung zu fördern. Auf einer rituellen Ebene stellte die Jugendweihe eine Alternative zur Konfirmation dar. Als Rites de Passage sollte die Jugendweihe eine wichtige gesellschaftliche Funktion übernehmen, um den Eintritt in eine neue Lebensphase feierlich zu markieren und offiziell ein Bekenntnis zum sozialistischen Gesellschaftsmodell zu formulieren. Dietrich verweist auf die Fragwürdigkeit dieser Bekenntnisse im Alter von 14 Jahren und betont vielmehr den unpolitischen Charakter des Initiationsrituals, das in der DDR im Zuge einer ›Entkirchlichung‹ der Gesellschaft und zum Teil auch als Folge einer staatlicherseits unterstützten atheistischen Propaganda zunehmend an Beliebtheit gewann. Gegen das religiöse Weltbild stand eine atheistische Position, die wissenschaftlich und politisch durch den Marxismus-Leninismus geprägt war. Für die Verbreitung des wissenschaftlichen Weltbildes stand sinnbildlich das Geschenkbuch der Jugendweihe Weltall – Erde – Mensch, mit dem der »Kampf gegen Aberglauben, Mystizismus, Idealismus und alle anderen unwissenschaftlichen Anschauungen«481 dokumentiert werden sollte. Die Popularität der Jugendweihe wurde insbesondere dadurch begünstigt, dass die Teilnahme daran für den eigenen Bildungsweg förderlich war, sodass ein möglicher Opportunismus nicht zu verleugnen war.482 Betrachtet man die Entwicklung nach dem Ende der DDR und die Popularitätswerte dieses Rituals in Ostdeutschland, ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Tradition nicht nur auf einen politisch institutionalisierten Akt oder auf eine opportunistische Handlung reduziert werden darf, sondern vielmehr als ein feierlicher Familienakt gesehen werden muss und in diesem Kontext hinsichtlich der Modifizierung der Beziehungen zwischen Eltern und Heranwachsenden eine wichtige Funktion erfüllte und weiterhin erfüllt. Was zu 479 Ebd., S. 565. 480 Ebd. 481 Ulbricht, Walter: Geleitwort. In: Buschendorf, Gisela [u. a.] (Hg.): Weltall – Erde – Mensch. Ein Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft. 2. unveränderte Aufl. Berlin: Verlag Neues Leben 1955, S. 3–4, hier: S. 4. 482 Vgl. Dietrich, Kulturgeschichte der DDR. 2018, S. 568.

Zur Sozialisation in der Freien Deutschen Jugend

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Beginn als eine Politisierung des Familiären konzipiert wurde, wandelte sich mit der Zeit zu einer Familiarisierung des Politischen, zumal das Ritual zunehmend einen familiären Charakter gewann.

3.4

Zur Sozialisation in der Freien Deutschen Jugend

Neben dem Schulwesen übernahm die Frei Deutsche Jugend (FDJ) eine wichtige Funktion, um die Jugend im Sinne des Staates zu sozialisieren. Nach Auffassung der SED sollte der DDR-Bürger seine freie Zeit nicht individuell gestalten, sondern im Kollektiv der Arbeitsgemeinschaften und im Kreis der Massenorganisationen verbringen.483 Von Anfang an stand die FDJ in enger Verbindung mit der SED. Sie verstand sich selbst »als Bindeglied zwischen Jugend und Einheitspartei«484. Durch die pädagogische und ideologische Arbeit in der FDJ sollten Heranwachsende als Kampfreserve der Partei ausgebildet werden und die sozialistischen Werte- und Normvorstellungen verinnerlichen und als Grundlage ihres gesellschaftlichen Handelns übernehmen.485 Die Mitgliedschaft in der FDJ war zwar freiwillig, erfolgte jedoch in der Regel als eine Selbstverständlichkeit. Die enge Koppelung der Jugendarbeit an das Schul- und Bildungssystem sorgte unter anderem dafür, dass im Verlauf der 1960er Jahre der größte Anteil der Jugendlichen offizielles Mitglied der FDJ wurde.486 Im Alter von vierzehn Jahren erhielten Jugendliche ihren Personalausweis und wurden in der Regel auch Mitglieder der FDJ. Als Schlüsselmoment galt das von der Partei eingeführte Ritual der Jugendweihe, mit der man sich offiziell verpflichtete, sich als sozialistische Persönlichkeit zu entwickeln. Das Bekenntnis zum Sozialismus spielte jedoch für die meisten Jugendlichen und Eltern nur eine untergeordnete Rolle, vorrangig wurde die Jugendweihe als Familienfeier wahrgenommen und für die Heranwachsenden standen eher die Geschenke im Vordergrund.487 Neben diesem Aufnahmeritual gab es zahlreiche Symbole und Bräuche wie die Uniform des blauen Hemds, die Abzeichen und die Versammlungen, die den politischen Charakter der FDJ-Arbeit verdeutlichen. Die intensive Verknüpfung von Schule und FDJ führte nicht zwangsläufig zu einer inneren Übereinstimmung der Ju483 Vgl. Janssen, Wiebke: Halbstarke in der DDR. Verfolgung und Kriminalisierung einer Jugendkultur. Berlin: Ch. Links Verlag 2010, S. 71. 484 Wilhelmi, Jugend in der DDR. 1983, S. 16f.; Zaddach, Heavy Metal in der DDR. 2018, S. 31. 485 Vgl. Werner, Sven: »Kunde« oder »Jugendfreund« – Jugendkulturen jenseits der Offizialkultur. In: Mey, Günter (Hg.): Jugendkultur in Stendal 1950–1990. Szenen aus der DDR. Porträts und Reflexionen. Berlin: Hirnkost 2018, S. 83–90, hier: S. 83; Zaddach, Heavy Metal in der DDR. 2018, S. 26. 486 Vgl. Zaddach, Heavy Metal in der DDR. 2018, S. 26; Janssen, Halbstarke in der DDR. 2010, S. 63. 487 Vgl. Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 47f.

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Zur Adoleszenz in der DDR

gendlichen mit den Postulaten der Partei. Mit Eintritt der Pubertät erfolgte häufig »eine kritischere Wahrnehmung der FDJ«488, die sich allerdings als normale Adoleszenzentwicklung erklären lässt.489 Die geringe Attraktivität der FDJ-Arbeit hing vor allem mit dem politisch-ideologischen Charakter der Veranstaltungen, mit einer Vernachlässigung von Unterhaltungsaspekten sowie mit einer gewissen Ignoranz gegenüber den spezifischen Interessen der Jugend hinsichtlich ihrer Freizeitgestaltung zusammen, die bei den Jugendlichen wenig Sympathie hervorrief.490 Als Vertreterin der Jugend und als Beauftragte der Partei hatte die FDJ »eine problematische Scharnierposition inne«491 und dementsprechend die schwierige Aufgabe, beide Interessenlager in Einklang zu bringen. Die Freie Deutsche Jugend versuchte, die Heranwachsenden für den Aufbau des Sozialismus zu begeistern und zu staatstreuen Bürgerinnen und Bürgern der DDR zu erziehen. Allerdings brachte die Orientierung der Jugendlichen an westlichen Jugendkulturen die FDJ von Anfang an in Schwierigkeiten, zumal sie durch ihre Freizeitaktivitäten auf die Bedürfnisse der Jugendlichen mit angemessenen Angeboten eingehen wollte, ohne dabei die Forderungen der Partei zu ignorieren und ihre ideologische Aufgabe zu vernachlässigen.492 Mit dieser Aufgabe war die FDJ überfordert und »konnte diese Spannung [zwischen den Ansprüchen der Partei und den Interessen der Jugendlichen] nicht dauerhaft aushalten«493. Für die Partei war es wichtig, den Einfluss der westlichen Jugendkultur auf die Heranwachsenden durch die gezielte Förderung von Sport und Freizeitaktivitäten einzugrenzen und die Jugendlichen für das Modell des Sozialismus zu begeistern. Der massive Einfluss der westlichen Musik bedingte das Handeln der FDJ, sodass sie eigene Musikinitiativen in Gang setzte, um auf die Interessen der Jugendli488 Janssen, Halbstarke in der DDR. 2010, S. 63. 489 Es war bereits im Zusammenhang mit der Herausbildung eines eigenen Wertesystems die Rede davon, dass im Zuge der Adoleszenz eine Erweiterung der kognitiven Kompetenz erfolgt, die das Individuum befähigt, tradierte kulturspezifische Wertvorstellungen in Frage zu stellen, eigene Wertvorstellungen zu konsolidieren und durch alternative Wertvorstellungen klare Demarkationslinien zu setzen. 490 Vgl. Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 52f. Das Politbüro verwies in einem Kommuniqué am 07. 02. 1961 auf die negativen Auswirkungen der Bürokratie, mit der Jugendliche immer wieder konfrontiert wurden und folglich in ihrer persönlichen Entfaltung eingeschränkt wurden: »Wenn junge Menschen in unseren sozialistischen Betrieben mitunter ohne Lust und Begeisterung arbeiten, hat das oft in ihrer falschen Behandlung und im bürokratischen Verhalten ihnen gegenüber seine Ursache […] Oft wird die Initiative Jugendlicher gehemmt, es wird noch ungerechtfertigt gezögert, jungen Menschen in ihrem Arbeitsbereich Verantwortung zu übertragen.« Kommuniqué des Politbüros des Zentralkomitees zu Problemen der Jugend. In: ZK der SED (Hg.): Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Band VIII. Berlin: Dietz Verlag 1962, S. 367–375, hier: S. 370. 491 Zaddach, Heavy Metal in der DDR. 2018, S. 30f. 492 Vgl. ebd., S. 30. 493 Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 92.

Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR

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chen angemessen zu reagieren und die jugendliche Kreativität möglichst in staatlich gelenkte Bahnen zu überführen. In diesem Kontext sind die in den 1960er Jahren begründete Singebewegung, das Veranstalten von Konzerten und Musikfestivals, die Ausrichtung der Werkstattwoche Jugendtanzmusik, die Einrichtung von Jugendklubs als Freizentren und die Durchführung von Tanzveranstaltungen in Form von Disko-Abenden zu verorten.494

3.5

Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR

Wolf-Georg Zaddach macht in seiner Studie zum Heavy Metal in der DDR darauf aufmerksam, dass Jugendkulturen und deren Bedeutung nur erfasst werden können, wenn die historischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen definiert worden sind.495 In diesem Kontext verweist er auf den Historiker Winfried Speitkamp und seine These über das Wesen von Jugend. Demnach handelt es sich bei der Jugend nicht um etwas Autonomes, das unabhängig von sozialen Beziehungsstrukturen existiert, sondern um »ein gesellschaftliches Konstrukt«496, das sich »aus den sozialen Bedingungen und den politischen Normen eines Gemeinwesens«497 ergibt. Will man die Praktiken der jugendkulturellen Bewegungen erfassen, muss man die real existierenden Rahmenbedingungen und ihre Veränderungen berücksichtigen. Unabhängig von der Musikkultur lässt sich über die Funktion von Musik allgemein sagen, dass Musik eine identitätsstiftende Funktion inne hat, als Verbindungselement innerhalb der jeweiligen jugendkulturellen Gruppen fungiert und über »ein vielgestaltiges Reservoir von Symbolen, Verhaltensmuster[n] und Attitüden«498 verfügt, die von der jeweiligen Gruppe zur Abgrenzung eingesetzt werden. Nur im Kreis der Eingeweihten erfolgt eine Verständigung, zumal nur Szeneninsider ihre Codes entschlüsseln können und an der Entstehung neuer Codes beteiligt sind. Innerhalb der jeweiligen jugendkulturellen Gruppen kann das Individuum in einem kulturellen und sozialen Kontext seine eigene Identitätsfindung vorantreiben und sich selbst verwirklichen. Der Soziologe Simon Frith verweist auf ebendiese soziale Funktion von Musik:

494 Vgl. Zaddach, Heavy Metal in der DDR. 2018, S. 29f.; Rauhut, Michael: Rock in der DDR. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2002, S. 9. 495 Vgl. Zaddach, Heavy Metal in der DDR. 2018, S. 23. 496 Speitkamp, Winfried: Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 9. 497 Ebd. 498 Rauhut, Michael: Jugendkulturen und populäre Musik in der DDR. In: Mey, Jugendkultur in Stendal. 2018, S. 91–99, hier: S. 91.

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Zur Adoleszenz in der DDR

»The first reason, then, we enjoy popular music is because of its use in answering questions of identity: we use pop songs to create for ourselves a particular sort of self-definition, a particular place in society. The pleasure that pop music produces is a pleasure of identification – with the music we like, with the performers of that music, with the other people who like it. And it is important to note that the production of identity is also a production of non-identity – it is a process of inclusion and exclusion.«499

Ähnlich argumentiert Peter Wicke, indem er dem Medium Musik eine Schlüsselstelle einräumt, um autonome Jugendkulturen zu bestimmen.500 Angelehnt an Wicke formuliert Carolin Roeder pointiert die These: »Jugend und Musik verschmelzen zum Synonym«501 und markiert die Bedeutung von Musik für die Entwicklung der Heranwachsenden als eine der »wirkungsmächtigsten Sozialisierungsinstanzen im Prozess des Heranwachsens«502 und für die Lösung einer der wichtigsten adoleszenten Entwicklungsaufgaben, nämlich der Identitätssuche. Detlef Pollack verweist in seiner Theorie zur konstitutiven Widersprüchlichkeit auf die Entstehung einer »informelle[n] pluralistischen Subkultur als Reaktion auf die kulturelle Überorganisation der Gesellschaft«503. Ähnlich argumentiert Sven Werner und beschreibt, wie »[ j]unge Menschen […] vor den Anmutungen einer überpolitisierten Lebenswelt in gesellschaftliche Nischen und Szenen aus[wichen]«504. Angelehnt an Entwicklungen der westlichen Musikszene bildeten sich in der DDR, zwar mit unterschiedlicher Zeitverzögerung, imitierende Szenen mit DDR-spezifischen Elementen, die ihre Inhalte überwiegend aus den DDR-spezifischen Konflikten bezogen.505 Hinsichtlich der individuellen Aneignung verweist Manfred Stock darauf, dass die Zeichenmuster der westlichen Subkulturen in der DDR instrumentalisiert wurden, »um dem eigenen Erfahrungszusammenhang entsprechende Bedeutungen zuzuschreiben«506, die von eigenen Alltagserfahrungen konditioniert wurden. Zutreffend verweist Rauhut auf die Aufwertung der alternativen Musik im Kontext einer geschlos499 Frith, Simon: Towards an aesthetic of popular music. In: Leppert, Richard/McClary Susan: Music and society. The politics of composition, performance and recepcion. Cambridge: Cambridge University Press 1987, S. 133–149, hier: S. 140. 500 Vgl. Wicke, Peter: Von der Hausmusik zur House Music. Musik und Jugendkultur im Wandel der Zeiten. In: Roeder, Caroline (Hg.): Blechtrommeln: Kinder- und Jugendliteratur & Musik. München: Kopaed 2012, S. 17–28, hier: S. 17. 501 Roeder, Caroline: Einsingen. In: Roeder, Blechtrommeln. 2012, S. 7–14, hier: S. 9. 502 Ebd., S. 12. 503 Pollack, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. 1998, S. 121. 504 Werner, »Kunde« oder »Jugendfreund« – Jugendkulturen jenseits der Offizialkultur. 2018, S. 85. 505 Vgl. Rauhut, Jugendkulturen und populäre Musik in der DDR. 2018, S. 91ff. 506 Stock, Manfred: Jugendliche Subkulturen in Ostdeutschland. In: Büchner/Krüger, Aufwachsen hüben und drüben. 1991, S. 257–266, hier: S. 259.

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senen Gesellschaft und auf die Rezeption von Rockmusik als »Sinnbild für ›Freiheit‹, ›Widerstand‹ und ›Anderssein‹«507. In diesem Sinne argumentiert auch Zaddach, wenn er die Heavy Metal-Jugendkultur als eine frei gewählte »posttraditionale Vergemeinschaftung« unter Gleichgesinnten betrachtet, die »die traditionellen, staatlich organisierten Vergemeinschaftungsformen«508 ablöste. Die Sprengkraft der jugendkulturellen Szenen lag vor allem darin, dass sie eine »Aushöhlung des staatlichen Kulturmonopols«509 einleiteten und dass es den Jugendlichen so gelang, »ein ganz erhebliches Stück an kultureller Selbstbestimmung in Form von Sinnlichkeit, Vergnügungen und provokanter Aufmüpfigkeit auszuleben«510. Der Staat suchte seit den 1950er Jahren nach einer Strategie, um auf die Bildung informeller Netzwerke zu reagieren. Die strategischen Reaktionen konnten je nach Zeitpunkt und gesellschaftlichen Entwicklungen unterschiedlich ausfallen. Die informellen Netzwerke wurden teilweise bekämpft und kriminalisiert, aber auch geduldet, zumal »sie großteils kompensatorische und damit gesellschaftsstabilisierende Funktionen erfüllten«511. Die staatliche Haltung oszillierte zwischen politischer Kontrolle und kultureller Offenheit. Einerseits gab es eine hart bekämpfende Linie, erkennbar zum Beispiel an der Kriminalisierung der Halbstarken-Jugendbewegung in den 1950er und 1960er Jahren oder dem Versuch, die Beat-Bewegung zunächst auszuschließen. Die repressiven Eingriffe bei der Beat-Demo in Leipzig am 31. Oktober 1965 sind ein Beispiel dafür.512 Andererseits gab es sukzessive den Versuch, eine eigene und staatlich geförderte Musikszene zu etablieren, erkennbar etwa an der Einrichtung des Jugendradios DT 64 im Jahre 1964, an der Veranstaltung von Musikfestivals oder an dem Bemühen, Anfang der 1960er Jahre der Jugend mehr Spielräume zu geben, offensichtlich in der Einrichtung einer Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED und dem in diesem Rahmen entstandenen Jugendkommuniqué

507 Rauhut, Jugendkulturen und populäre Musik in der DDR. 2018, S. 91. 508 Zaddach, Heavy Metal in der DDR. 2018, S. 14. Diese Rezeptionspraxis ist in den 1980er Jahren genauso auf andere jugendkulturelle Erscheinungsformen übertragbar, zum Beispiel auf die Hip-Hop-Szene, auf die Punk-Szene oder auf die New Wave-Szene. Vgl. Schmieding, Leonard: »Das ist unsere Party«. HipHop in der DDR. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, S. 86 ff; Galenza, Ronald/Havemeister, Heinz: Stirb nicht im Warteraum der Zukunft. In: Dies. (Hg.): Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop, Independent-Szene in der DDR 1980–1990. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 1999, S. 6–8, hier: S. 6; Lange, Sascha/Burmeister, Dennis: Behind the Wall. Depeche Mode – Fankultur in der DDR. Mainz: Ventil 2018, S. 13f. 509 Wicke, Peter: Rock Around Socialism. Jugend und ihre Musik in einer gescheiterten Gesellschaft. In: Baacke, Dieter (Hg.): Handbuch Jugend und Musik. Opladen: Leske + Budrich 1997, S. 293–304, hier: S. 293. 510 Ebd. 511 Pollack, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. 1998, S. 121f. 512 Vgl. Janssen, Halbstarke in der DDR. 2010, S. 83f.

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von 1963.513 Hinsichtlich der Rockmusik spricht Rauhut von einem »permanente[n] Zickzackkurs […] [, von einem] Pendelschlag zwischen Aversion, Verbot und Anerkennung«514. Wicke beschreibt es in zutreffender Form als eine ›doppelte Existenzform‹, die zwar das staatliche Kulturmonopol gegenüber Jugendlichen und ihrer Musik garantierte, gleichwohl aber Möglichkeiten der jugendlichen Entfaltung außerhalb des formalisierten offiziellen Diskurses erlaubte: »Was die eine Instanz in den formalisierten Handlungszusammenhängen als ›dem Sozialismus nicht gemäß‹ wortreich und lautstark bekämpfte, ist von der anderen im Zuge pragmatischer Konfliktvermeidung zur gleichen Zeit faktisch toleriert oder sogar gefördert worden.«515

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Reaktionen der staatlichen Institutionen unabhängig von den unterschiedlichen staatlichen Strategien in erster Linie ein vergeblicher Versuch waren, »den Anspruch Jugendlicher auf eigene und eigenständige kulturelle Ausdrucksformen abzuweisen«516. Entgegen der Annahme der Parteiführung, es handele sich um ein vom politischen Klassenfeind intendiertes Ergebnis, muss man vielmehr davon ausgehen, dass »kulturelle Differenzierungen zwischen den Altersgruppen auch unter den Bedingungen des ›realen Sozialismus‹ das Ergebnis mehr oder weniger rasch sich verändernder Lebensbedingungen«517 in Folge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse sind. Im Folgenden geht es darum, intergenerationelle Strukturelemente im sozialen Geflecht der DDR anhand einer exemplarischen Analyse von einzelnen Momenten der jugendkulturellen Szenen zu erörtern. Es gilt zu klären, inwiefern einzelne jugendkulturelle Selbstverständnisse und subkulturelle Stilelemente einerseits generationelle Diskontinuitäten und Distinktionen aufzeigen. Andererseits soll der Frage nachgegangen werden, ob und gegebenenfalls in welcher Weise westliche symbolische subkulturelle Muster in der DDR zum Medium der Identitätsbildung von Heranwachsenden wurden. Mit der Produktion des Films Berlin-Ecke Schönhauser im Jahre 1957 wurde die Existenz eines in der DDR existierenden Jugendproblems eingestanden. Die Ursache des Problems lag aber nicht allein an den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern vor allem an der »mangelnde[n] Fürsorge durch das Elternhaus«518, so die Aussage des Films. 513 514 515 516 517 518

Vgl. ebd., S. 190ff.; Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 65ff., 85ff. Rauhut, Rock in der DDR. 2002, S. 7. Wicke, Rock Around Socialism. 1997, S. 296. Wicke, Rock Around Socialism. 1997, S. 294. Ebd. Janssen, Halbstarke in der DDR. 2010, S. 98.

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»Warum kann ich nicht leben, wie ich will, warum habt ihr lauter fertige Vorschriften? Wenn ich an der Ecke stehe, bin ich halbstark, wenn ich Boogie tanze, bin ich amerikanisch. Wenn ich das Hemd über der Hose trage, ist das politisch falsch.«519

Dieter, einer der Protagonisten des Films, erhebt den Anspruch auf einen individualistischen Weg und markiert drei Momente, mit denen Jugendliche sich von anderen Peergroups und der älteren Generation abgrenzen. In der Regel erfolgt der Distinktionsgewinn über das provokative äußere Erscheinungsbild, hier ersichtlich durch das lockere Tragen des Hemds über der Hose, über sonische Elemente, welche die Hörgewohnheiten der Zeitgenossen überstrapazierten und die damals als »scheppernde Klänge, peitschende Rhythmen und schrilles Kreischen«520 charakterisiert wurden. Darüber hinaus werden Abgrenzungsmomente über ein emotionales Verhalten, hier ersichtlich durch die unkonventionelle Form des Tanzens sowie durch das scheinbar sinnlose Herumhängen markiert. Die fertigen Vorschriften stellen für die DDR-Jugendlichen starre Konventionen dar, die ihrer individuellen Entwicklung im Wege stehen und mit denen sie sich nicht identifizieren möchten. Die angedeuteten Konflikte bilden ein transnationales Phänomen, das sich ab Anfang der 1950er Jahre »in West und Ost trotz unterschiedlicher politischer Kontexte durchaus ähnlich [entwickelte], wenngleich in unterschiedlicher Intensität«521. Im Sinne Jürgen Links stellen diese Abweichungen von Normalität, sei es entweder in Form von abweichenden Bekleidungsstilen oder in Form von unkonventionellen Tanzmöglichkeiten oder alternativen Musikstilen, wichtige Denormalisierungsprozesse dar, die später zu neuen normalen Vorstellungen werden. Angelehnt an Mario Erdheim verweist Carsten Gansel auf die natürliche Funktion von Jugend als »Avantgarde einer sozialen, politischen und kulturellen Evolution«522, als solche stellt sie eine Herausforderung für die etablierten politischen Instanzen dar und übernimmt die Verantwortung für einschneidende gesellschaftliche Veränderungen.523 Bernd Lindner spricht in diesem Sinne von einem Privileg der Jugend, »die Verhältnisse zum Tanzen […] bringen«524 zu können. Typisch für die DDR ist jedoch die Ideologisierung dieser gesellschaftlichen und kulturellen Regulierungsprozesse. So wurden schließlich auch Kleidungsstile und Verhaltensweisen Heranwachsender, die zunächst in erster Linie zur Abgrenzung der eigenen Generation dienten, politisch aufgeladen, und die damit einhergehende »Re519 Klein, Gerhard (1957): Berlin – Ecke Schönhauser [DVD]. Berlin: DEFA-Studio für Spielfilme 1957, 48:20-48:31. 520 Mrozek, Bodo: Jugend Pop Kultur. Eine transnationale Geschichte. Berlin: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2019, S. 173. 521 Ebd., S. 32. 522 Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 165. 523 Vgl. ebd. S. 165f. 524 Lindner, »Bau auf, Freie Deutsche Jugend«. 2003, S. 196.

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zeption moderner Kulturelemente [als] Indoktrination der jüngeren Generation durch den Westen«525 aufgefasst und dementsprechend vom Staat problematisiert. Für die Partei schien es, als stellten die Jugendlichen ihre Vorliebe für US-amerikanische Produkte offen zur Schau, allein um auf diesem Weg eine Distanz zum SED-Staat zu signalisieren.526 Bezüglich der Kleidungstile erhielten die Blue Jeans, auch Nietenhosen genannt, eine gesellschaftlich distinktive Funktion, um einen sozialen Status zu markieren.527 Die politische Aufwertung der Jeans erfolgte zum einen durch die Schwierigkeiten, an westliche Kleidung heranzukommen, und zum anderen durch die Disziplinierungsmaßnahmen, mit denen die Heranwachsenden seitens der FDJ, der Lehrerschaft oder der Polizei konfrontiert wurden, wenn sie solche Hosen trugen.528 Die symbolische Bedeutung der Jeans als Sinnbild für eine dekadente Jugendkultur wurde später durch Edgar Wibeau, den Protagonisten des zu einem Kultbuch avancierten Adoleszenzromans Die neuen Leiden des Jungen W. von Ulrich Plenzdorf, verewigt: »Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen.«529 Neben den Jeans erhielt auch die schwarze Lederjacke eine symbolische Bedeutung, war jedoch aufgrund ihrer kostspieligen Anschaffung nur im eingeschränkten Maße stilprägend.530 Zum Kleidungsstil kam noch »eine besondere Art des Stehens und Gehens, die als Erkennungszeichen devianter Jugendkulturen identifiziert wurde«531 hinzu sowie eine auffällige Frisur, eine sogenannte Entenschwanz-Frisur. Neben den amerikanischen Sängern wie Elvis Presley und Bill Haley dienten US-amerikanische Schauspieler wie Marlon Brando und James Dean als Identifikationsfiguren. Sie lieferten zum Beispiel mit ihrem Erscheinen und ihren Verhaltensformen eine Orientierungsvorlage für den unbekümmerten Habitus der Halbstarken.532 Ihre Wirkung blieb aber nicht nur auf eine bestimmte Szene reduziert – so wurde James Dean mit seinen drei Spielfilmen »als der Junge in Jeans und roter Lumberjacke mit seinem verträumten, traurigen Blick zum weltweiten Leitbild einer Generation. Es war der junge Rebell, der sich, stellvertretend für die vielen Jugendlichen vor der Leinwand, gegen die Eltern auflehnte«533. In diesem Kontext verweist Bodo Mrozek auf die Bedeutung des Kinos in den 1950er Jahren, um gesellschaftliche Themen zu behandeln, die mit politischen und sozialwissenschaftlichen Diskursen der 525 526 527 528 529 530 531 532 533

Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 371. Vgl. Janssen, Halbstarke in der DDR. 2010, S. 123. Vgl. Mrozek, Jugend Pop Kultur. 2019, S. 66. Vgl. Janssen, Halbstarke in der DDR. 2010, S. 124f. Plenzdorf, Ulrich: Die neuen Leiden des jungen W. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 27. Vgl. Janssen, Halbstarke in der DDR. 2010, S. 290. Mrozek, Jugend Pop Kultur. 2019, S. 73. Vgl. Janssen, Halbstarke in der DDR. 2010, S. 290. Lindner, Bernd: DDR Rock & Pop. Köln: Komet Verlag 2008, S. 20.

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Zeit verknüpft waren. Dementsprechend übernahm das Kino eine wichtige Sozialisationsfunktion, zumal die Kinofilme zur »Internationalisierung ursprünglich nationaler Motive«534 und zur Übermittlung von Tanz- und Kleidungsstilen sowie sprachlichen und körpersprachlichen Zeichen beitrugen und damit wichtige Denormalisierungsprozesse in Gang setzten oder förderten.535 Im Fall der Rock’n’Roll-Musik genossen diese Prozesse eine höhere politische Aufmerksamkeit, zumal diese Konflikte offiziell als ein Kampf gegen die sogenannte ›amerikanische Unkultur‹ galten. In diesem Kontext erörterte der ostdeutsche Musikwissenschaftler Ernst Hermann Meyer die Bedeutung der Musik und ihren Einfluss auf die Entwicklung der Heranwachsenden: »Der heutige ›Boogie-Woogie‹ ist ein Kanal, durch den das barbarisierende Gift des Amerikanismus eindringt und die Gehirne der Werktätigen zu betäuben droht. Diese Bedrohung ist so gefährlich wie ein militärischer Angriff mit Giftgassen.«536 Die offizielle Auseinandersetzung mit dem Rock’n’Roll war von einer ablehnenden Haltung geprägt. Als amerikanisch, dekadent und manipulativ wurde die Rock’n’Roll-Musikkultur wahrgenommen.537 Die Ablehnung westlicher populärer Musik durch die Altkommunisten erfolgte vor allem, weil sie in den vom Westen her eindringenden Einflüssen eine Gefährdung der Idee einer neuen Ordnung sahen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als vorrangiges Ziel im Raum stand.538 Die als Halbstarke bezeichneten Jugendlichen lehnten die vom Staat geförderten Kultur- und Sozialisierungsvorgaben ab und rebellierten dagegen, indem sie eine als kapitalistisch-feindlich deklarierte Musik zu ihrem Leitbild in der Öffentlichkeit proklamierten und sich durch ihre Begeisterung für den Rock’n’Roll, durch bestimmte Attitüden und ein auffälliges Verhalten von anderen Jugendlichen absonderten.539 Hinter der Begeisterung für die amerikanische Musikkultur steckte jedoch neben der ästhetischen Faszination für eine musikalische Richtung auch die Distanz gegenüber traditionellen Moralvorstellungen. Für die SED war die Entwicklung irritierend, zumal ein wichtiger Teil der Jugendlichen sich mit der von der Partei vorgeschriebenen Gesellschaftsordnung und mit der von der FDJ geförderten Jugendpolitik nicht identifizieren wollte.540 Auf politischer Ebene wurden mit großer Sorge die geringe Effizienz der Jugendarbeit und die immer größer werdenden Schwierigkeiten, den Einfluss der 534 Mrozek, Jugend Pop Kultur. 2019, S. 251. 535 Vgl. ebd. 536 Meyer, Ernst Hermann: Musik im Zeitgeschehen. Berlin: Bruno Henschel und Sohn 1952, S. 162. 537 Vgl. Rauhut, Michael: Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag. Berlin: BasisDruck 1993, S. 30. 538 Vgl. ebd., S. 21. 539 Vgl. ebd., S. 27f. 540 Vgl. Janssen, »Halbstarke« in der DDR. 2012, S. 176f.

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westlichen Rockkultur unter den Jugendlichen einzugrenzen, registriert.541 »Der Einfluß der Freien Deutschen Jugend auf die Jugend in der Freizeit ist außerordentlich gering und ist nur auf einen verhältnismäßig niedrigen Prozentsatz der eigenen Mitglieder beschränkt«542, konstatierte das Politbüro in einem Kommuniqué im Jahr 1961. Die 1960er Jahre sind gekennzeichnet durch einen Konflikt zwischen dem Erziehungsanspruch von FDJ und Partei und dem jugendlichen Streben nach einem individuellen Freiraum und nach einer Abgrenzung von den Moralvorstellungen der älteren Generation. Bei dieser Auseinandersetzung handelt es sich nicht nur um einen politischen Streit, sondern vor allem um einen der Adoleszenz immanenten intergenerationalen Konflikt, der im Verlauf der 1960er Jahre deutlich zum Ausdruck kommt.543 Ein großer Teil der DDR-Bevölkerung stand der Avantgarde der Pop- und Rockmusik skeptisch gegenüber und betrachtete alle dazugehörenden Verhaltensformen und Attitüden mit einer deutlichen kritischen Distanz. Die ablehnende Haltung seitens der Elterngeneration förderte reflexartig bei den Jugendlichen »das Gefühl des Zusammenhalts und der Stärke«544. Das Verhalten der Jugendlichen war durch einen exzessiven Alkohol- und Zigarettengenuss sowie durch die Lust zur Provokation gekennzeichnet. Geleitet von einem besonders ausgeprägten subjektiven Invulnerabilitätskonzept neigten sie zu substanzspezifischen Risikoverhaltensweisen, die erstens ihre Akzeptanz innerhalb der Gruppe erhöhen sollten und zweitens zur Bestätigung ihres Erwachsenendaseins beitragen sollten. Drittens versuchten männliche Adoleszente durch Grenzüberschreitungen dem anderen Geschlecht zu imponieren. Die beschriebenen Handlungen entsprechen also insgesamt dem typischen Verhaltensrepertoire eines Adoleszenten. Die Besonderheit der Situation in der DDR lag in der politischen Aufladung eines intergenerationalen Konflikts, indem das Verhalten der Heranwachsenden offiziell als ein gezielter politisch-ideologischer Angriff erfasst wurde und der Staat mit politischen Repressalien reagierte und die Wirkung der jugendkulturellen Initiativen einzugrenzen versuchte.545 Zu Beginn der 1960er Jahre stellte der Mauerbau im Jahr 1961 ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte der DDR dar, das massive Auswirkungen auf die Situation der Jugend hatte. Die Schließung der Grenze bedeutete für die Heranwachsenden, dass sie sich mit dem Gesellschaftssystem der DDR ar541 Vgl. Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 54f. 542 Beschluss des Politbüros des ZK vom 24. Januar 1961: Die Jugend der Deutschen Demokratischen Republik, ihre Zukunft und die sozialistische Gesellschaft. In: ZK der SED (Hg.): Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Band VIII. Berlin: Dietz Verlag 1962, S. 340–366, hier: S. 352. 543 Vgl. Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 56. 544 Ebd., S. 58. 545 Vgl. ebd., S. 60.

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rangieren mussten, da die Alternative des Westens nicht mehr zugänglich war. Will man die Ursachen für den Mauerbau klären, dann muss berücksichtigt werden, dass zwischen 1945 und 1961 dreieinhalb Millionen Menschen, zum größten Teil hoch qualifizierte junge Menschen, aus der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR in die Bundesrepublik flüchteten. Mit der krisenhaften Wirtschafts- und Versorgungssituation 1960/61 nahm die Zahl der sogenannten Republikflüchtlinge dramatisch zu. Die DDR-Regierung geriet enorm unter Druck und sah sich gezwungen, auf die Entwicklung zu reagieren, um den politischen Zusammenbruch zu vermeiden.546 Mit der Ablösung Erich Honeckers und der Nominierung von Kurt Turba als Leiter der Jugendkommission sowie mit der Verabschiedung des Jugendkommuniqué im Jahr 1963, »das zum toleranteren Umgang mit den ›Hausherren von morgen‹ aufforderte«547, versuchte die Partei ein Signal der Öffnung für die Interessen und Probleme der Jugendlichen zu senden. Mit dem Kommuniqué vom 17. September 1963, Der Jugend Vertrauen und Verantwortung, wurde eine Phase der Dynamisierung der DDR-Jugendpolitik eingeleitet. Der Partei war nicht entgangen, dass die Jugendlichen auf die Ideologisierungsstrebungen der FDJ und anderer Sozialisationsinstanzen mit einer strategischen Doppelzüngigkeit reagierten und sich als Gruppe mit ihren eigenen Interessen von den Institutionen nicht richtig wahrgenommen fühlten. Die im Kommuniqué proklamierte Einsicht, es gehe »nicht länger an, ›unbequeme‹ Fragen von Jugendlichen als lästig oder gar als Provokation abzutun, da durch solche Praktiken Jugendliche auf den Weg der Heuchelei abgedrängt werden […]«548, signalisierte ein Umdenken, das für die Regulierung intergenerationeller Prozesse von Bedeutung war. Ohse verweist zurecht auf die vorprogrammierten Konflikte, zumal der sozialistische Klassenstandpunkt in keiner Weise in Frage gestellt werden durfte. Der psychosoziale Möglichkeitsraum war klar definiert, eng begrenzt und stellte dementsprechend eine weitere Paradoxie des sozialen Geflechts der DDR dar. Die Jugendlichen sollten zwar selbstständige und selbstbewusste schöpferische Staatsbürger werden, aber ohne den ideologischen Rahmen zu verlassen. Unter diesen Umständen war die Suche nach individuellen Freiräumen nur möglich, solange die Wertvorstellungen der Partei nicht angezweifelt wurden. Zwar existierte nach dem Mauerbau eine allgemeine Aufbruchsstimmung, von »einer umfassenden Offenheit«549 kann trotzdem nicht die Rede sein, so Ohse. Die Bemühungen der FDJ, Jugendliche in deren Freizeit für die Verbandsarbeit zu gewinnen, blieben 546 Vgl. Dietrich, Kulturgeschichte der DDR. 2018, S. 827. 547 Rauhut, Rock in der DDR. 2002, S. 25. 548 Ulbricht, Walter: Kommuniqué des Politbüros des ZK der SED zu Problemen der Jugend in der DDR vom 17. September 1963. In: Ders.: Jugend von heute – Hausherren von morgen. 1. Aufl. Berlin: Dietz Verlag 1963, S. 5–33, hier: S. 18. 549 Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 67.

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bei den arbeitenden Jugendlichen und bei den Studenten ohne nennenswerte Erfolge. Letztere monierten insbesondere die fehlende Kritikfähigkeit des Jugendverbandes und der Partei, problematisierten die intergenerationellen Regulierungsprozesse und verwiesen auf die Existenz eines Generationsproblems, das durch die Dominanz der älteren Generationen in den staatlichen und parteilichen Instanzen zustande kam.550 Im Bereich der Freizeitgestaltung konnte die FDJ erste Erfolge verzeichnen. Im Zuge einer leichten Öffnung der Kulturpolitik kam es zu einer Lockerung im Umgang mit der Beat-Musik und den Tanzmodalitäten. Hinzu kam im Rahmen des Deutschlandtreffens der FDJ im Jahre 1964 die Einrichtung eines Rundfunk-Senders. Die kulturelle Öffnung wurde erkennbar durch die Tolerierung von Tanzmusikveranstaltungen, bei denen »öffentlich zu heißen Rhythmen westlichen Stils«551 getanzt werden durfte. Auch in der Jugendpresse wurden zunehmend Themen diskutiert, die mit Adoleszenzfragen unmittelbar in Verbindung standen, wie zum Beispiel die Identitätsfrage oder Beziehungsprobleme. In diesem Kontext der Öffnung leistete das Jugendradio DT64 einen besonderen Beitrag für die Förderung einer ostdeutschen Musikszene und für die Aufnahme jugendlicher Interessen in den medialen Diskurs.552 Das, was sich im Umgang mit der Rock’n’Roll-Musik bereits abgezeichnet hatte, wurde in den 1960er Jahren mit der Twist-Welle fortgesetzt. Eine Reihe von Gitarrenbands sorgte für die Entstehung einer Beatkultur in der DDR, indem sie ihr musikalisches Programm nach dem jugendlichen Geschmack ausrichteten und musikalische Traditionen vernachlässigten. Die Heranwachsenden ahmten die durch den westlichen Rundfunk rezipierten Hits nach und versuchten begeistert, nach Vorlage der westlichen Musik in autodidaktischer Manier ihre eigene Beatkultur zu kreieren. Mit der Beatmusik stand ihnen ein symbolisch aufgeladenes Medium zur Verfügung, mit dem sie eine Reihe von kulturellen Werten, zum Beispiel Spontaneität, Emotionalität und Eigenständigkeit, außerhalb der Einflusssphäre der Erwachsenenwelt transportierten. Gleichzeitig versuchten Heranwachsende mit der Beatmusik Generationsgrenzen deutlich zu markieren.553 Auch nach dem Mauerbau hatten DDR-Bürger aufgrund ihrer Nähe zur Bundesrepublik Zugang zum westlichen Rundfunk und später zum westlichen Fernsehen. Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre etablierten sich jugendspezifische Rundfunkangebote wie zum Beispiel Radio Luxemburg, die Schlager der Woche in RIAS Berlin und Beat-Club im Radio Bremen, die in der 550 551 552 553

Vgl. ebd., S. 70. Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 74f. Vgl. Rauhut, Beat in der Grauzone. 1993, S. 44ff.

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DDR zwar offiziell verboten waren, jedoch für die Rezeption westlicher Musik in der DDR ausschlaggebend waren.554 Unter den Jugendlichen existierte ein allgemeiner Konsens über das musikalische Konsumverhalten und über die Möglichkeiten, sich mit den musikalischen Trends zu versorgen. Mit dem erfolgreichen Einzug der Beatles in der westlichen Musikszene ist die Entstehung einer neuen subkulturellen Bewegung verbunden. Ihre Musik konnte durch die westlichen Rundfunksender die DDR-Jugendlichen erreichen und ihren Alltag revolutionieren: »[Die Beatles-Musik] löste im Osten eine musikalische Massenbewegung aus, mündete in Umwälzungsprozesse, die unterschwellig zwar, aber dennoch deutlich wahrnehmbar, eine kulturelle Gegenwelt zu dem verordneten Mief aus angestaubtem Proletkult und überideologisierter Volkserziehung entstehen ließen.«555

Durch besondere Verhaltensformen und durch ihr äußeres Erscheinungsbild gelang es den Heranwachsenden, sich von den Erwachsenen abzugrenzen. Ihre Kleidung, zum Beispiel die Jeans und die kurzen Röcke sowie ihre langen Haare erhielten eine wichtige symbolische Bedeutung, um ein Statussymbol und eine Generationsdifferenz zu markieren.556 Vor diesem Hintergrund und angelehnt an die Halbstarken-Bewegung der 1950er Jahre formierten sich Cliquen, bei denen eine westliche Orientierung an Trends und Musik sowie ein provokatives Verhalten zu beobachten war. Die politische Führung betrachtete die Entwicklung mit zunehmender Sorge und stellte einige FDJ-Maßnahmen hinsichtlich der liberalen Freizeitgestaltung in Frage. Das Misstrauen der Partei hing mit der Ansicht zusammen, diese Gruppen mit ihrer ›sinnlosen‹ Freizeitgestaltung manövrierten sich an den Rand der Gesellschaft und seien für das sozialistische Aufbauvorhaben nicht zu gewinnen.557 Damit bestätigte sich immer mehr die Existenz eines Generationskonflikts, für den die Parteiführung keine zufriedenstellende Lösung parat zu haben schien. Es ist Ohse recht zu geben, wenn er feststellt: »Der genuin unpolitische Habitus der Jugendlichen und der sich daran entzündende generationelle Konflikt wurden durch den politisch-ideologischen Anspruch des sozialistischen Staates und das entsprechende Verdikt gegenüber der Jugendkultur politisch aufgeladen.«558 Ohne ein funktionierendes Konzept zur Gewinnung der Jugend für die Idee des Sozialismus und aus Angst einer Gefährdung der eigenen Machtposition stand die Parteiführung immer wieder

554 Vgl. Rauhut, Rock in der DDR. 2002, S. 21. 555 Wicke, Rock Around Socialism. 199, S. 293. 556 Vgl. Rauhut, Rock in der DDR. 2002, S. 21; Rauhut, Michael/Kochan, Thomas (Hg.): Bye, bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2004. 557 Vgl. Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 79. 558 Ebd., S. 81.

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vor einem ungelösten Dilemma hinsichtlich des richtigen Umgangs mit den Jugendlichen und »lavierte […] zwischen Freizügigkeit und Restriktion«559. Die fehlende Generativität seitens der Gründer- und Aufbau-Generation, um die Relativierung der eigenen Wirkmächtigkeit zu akzeptieren, verhinderte eine sinnvolle Einbindung der neuen Generationen in den Erneuerungsprozess eines gesellschaftlichen Modells, das dem ständigen Vergleich mit dem kapitalistischen West-Modell ausgesetzt war. Das führte zwangsläufig zu wiederholten krisenhaften Momenten wie zum Beispiel den Unruhen im Rahmen der Beat-Demo in Leipzig am 31. Oktober 1965. Die FDJ versuchte die Entwicklung der Beat-Szene zu kontrollieren und sie für ihre eigenen jugendpolitischen Ziele zu funktionalisieren, blieb jedoch ohne großen Erfolg, da die formalisierte Jugendarbeit nicht genügend Platz für Individualität zuließ und meistens zu Frustration unter den Jugendlichen führte.560 Auf dem 11. Plenum des ZK der SED wurden unter anderem die Entwicklung der Jugendarbeit und das Auftreten der sogenannten Rowdygruppen kritisch besprochen. Zwar war eine nonkonformistische Haltung nur in bestimmten Jugend-Kreisen zu beobachten, und das deviante Verhalten betraf nicht die gesamte DDR-Jugend, aber besorgniserregend war für die Parteiführung die Tatsache, dass sogar Kinder von Eltern mit SED-Parteibuch Mitglieder dieser Cliquen wurden und damit die existierenden Generationsdiskrepanzen bestätigten. Im Vorfeld des 11. Plenums war es zu Unstimmigkeiten zwischen der SED-Führung und der sowjetischen Führung aufgrund des seit 1963 auf Initiative von Walter Ulbricht eingeführten Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung (NÖSPL) gekommen. Die Einführung war ohne die Zustimmung des sowjetischen Partners erfolgt und war ein Versuch, durch mehr Selbstverantwortung der Betriebe und eine gewisse Entbürokratisierung die ungenügende Effizienz der Produktion zu steigern.561 Der Versuch musste scheitern, »weil effizientere wirtschaftliche Strukturen eine Demokratisierung der politischen Strukturen vorausgesetzt hätten. Die aber erschien der Führungselite als drohender Machtverlust«562. Demzufolge war die SED-Führung gezwungen, einen Kurswechsel vorzunehmen, ohne ihn eigentlich beim Namen zu nennen. Diesem Zweck dienten die Angriffe auf die Kulturschaffenden und die Rücknahme einer nach dem Mauerbau eingeleiteten Liberalisierung der Jugendpolitik. Sowohl Kulturschaffenden als auch dem Jugendverband wurde vorgeworfen, für die

559 Ebd., S. 89. 560 Vgl. ebd., S. 90f. 561 Vgl. Gansel, Carsten: Störfall im Literatursystem DDR. Werner Bräunigs Roman Rummelplatz. In: Der Deutschunterricht, H. 4/2014, S. 46–57, hier: S. 48f. 562 Wolf, Christa: »Jetzt mußt du sprechen«. Zum 11. Plenum der SED. In: Dies.: Rede, daß ich dich sehe. Berlin: Suhrkamp Verlag 2012, S. 110–116, hier: S. 111f.

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gesellschaftlichen Fehlentwicklungen verantwortlich zu sein.563 In der Kritik standen nonkonformistische Formen der Kunst und insbesondere Kunstwerke, die gesellschaftliche Widersprüche darstellten und die aus der Sicht der SED-Führung eine Entfremdung von Individuum und Gesellschaft thematisierten. In diesem Kontext wurde der Zentralrat der FDJ wegen seiner Umsetzung des Jugendkommuniqués scharf angegriffen. Die Jugendarbeit habe durch die Durchführung von Musikwettbewerben eher Freiräume in der sozialistischen Gesellschaft gefördert, ohne »de[n] schädliche[n] Einfluss solcher Musik auf das Denken und Handeln von Jugendlichen«564 richtig einzuschätzen, so Honeckers Einschätzung. Die Medien wurden kritisiert, insbesondere der Sender DT 64, weil er für die allseitige Bildung der jungen Hörer nicht genügend leiste und für die Verbreitung der Beatmusik verantwortlich sei.565 Die Absage an westliche Einflüssen in der Unterhaltungskunst wurde in aller Deutlichkeit von Walter Ulbricht proklamiert: »Ich bin der Meinung, Genossen, mit der Monotonie des Yeah, Yeah, Yeah und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen.«566 Die Zurückweisung westlicher Musik wurde jedoch durch das Zugeständnis gepflegter Beat-Musik teilweise zurückgenommen: »Niemand in unserem Staate hat etwas gegen gepflegte Beat-Musik.«567 Damit formulierte das Politbüro ein Programm, das Formen der gepflegten Musik und eine staatsbürgerliche Erziehung und Bildung der Jugend in den Vordergrund stellte, und sicherte sich dadurch eine Zustimmung großer Teile der DDR-Bevölkerung.568 Das Kahlschlagplenum mit seinen Beschlüssen im Bereich der Kunst und der Jugendpolitik bedeutete eine Zäsur in der DDR-Entwicklung, die den Beginn eines rückwärtsgewandten Kurses in der Jugendpolitik markierte. Mit dieser Entscheidung »zerschlug die Partei […] die Hoffnung auf eine Harmonisierung der divergierenden Interessen«569 der Jugend und der Parteiführung. Die von den Jugendlichen provozierten Irritationen wurden von den staatlichen Instanzen nicht als eine produktive Störung wahrgenommen. Die benötigte Transkription, um die Störungen genau zu erfassen und anschließend zu integrieren, erfolgte nicht. Vielmehr bedeutete die einseitige Zurückführung solcher Ereignisse auf einen Einfluss der ›amerikanischen Unkultur‹ sowie die repressive Reaktion des Staates eine fehlgeleitete Transkription, die keine Transparenz im Sinne von Ludwig Jäger herbeiführen konnte. 563 564 565 566

Vgl. Gansel, Störfall im Literatursystem DDR. 2014, S. 49, 52. Erich Honecker, zitiert nach Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 105. Vgl. Rauhut, Rock in der DDR. 2002, S. 37. Walter Ulbricht, Wortlaut des stenographischen Protokolls, SAPMO-BArch DY 30/IV 2/ 1 190. Zitiert nach Rauhut, Rock in der DDR. 2002, S. 37. 567 Ebd. 568 Vgl. Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 105ff. 569 Ebd., S. 137.

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Die Beat-Musik-Szene reagierte auf die Kontrolle der Kulturbürokratie in den Großstädten mit einem Exodus auf das Land. Unter dem Schutz der »Grauzone des privaten Veranstaltungsbetriebes«570 entwickelten sich Gastronomen zum Partner der Jugendkultur, zumal sie ein wirtschaftliches Interesse hatten, ihre Lokale mit Gästen zu füllen. Darüber hinaus konnten Jugendliche über das Fernsehen und den Rundfunk die Entwicklung der westlichen Jugendkultur weiterhin verfolgen. Eine Sendung wie der Beat-Club erhielt beispielweise eine große Aufmerksamkeit unter den Jugendlichen und ermöglichte den Zugang zu neuen kulturellen Trends. Dadurch verlagerte sich die Jugendkultur ins Private, in die Nische der Familie.571 Ab den 1970er Jahren wurden Themen wie Rockmusik häufiger in den Medien berücksichtigt. Das Funkhaus in Ostberlin entwickelte sich in diesem Kontext »zur wichtigen musikproduzierenden und -verbreitenden Einrichtung der DDR«572. Der Radiosender DT 64 etablierte sich als das wichtigste Jugendmedium der DDR. Ein Gremium aus Produzenten, Kulturfunktionären und Leitungskadern entschied über die Sendewürdigkeit neuer Songs. Kritisiert bzw. abgelehnt wurden häufig Texte, bei denen Generationsprobleme, das Aussteigen aus der Gesellschaft, das Aufbegehren gegen gesellschaftliche Zwänge, das Erwachsenwerden in seinen Widersprüchen thematisiert wurden.573 Anhand dieser Auflistung wird deutlich, inwiefern die Adoleszenz mit allen dazugehörenden Facetten Gegenstand der musikalischen Aufarbeitung wurde und durch die Verbreitung von Musik in den Medien Gegenstand des öffentlichen Diskurses war. Seit Ende der 1970er Jahre verlor der Arbeiter-und-Bauern-Staat immer mehr den Rückhalt in der Jugend. Wie Bernd Lindner zutreffend feststellt, waren die Jugendlichen nicht mehr am Klassenkampf und am Aufbau des Sozialismus interessiert, sondern hatten »immer weniger ›Bock‹ auf eine allein seligmachende DDR-Identität«574. Heranwachsende hatten keine oder nur eine geringe Beziehung zur DDR aufgebaut und gingen ihren eigenen, an der westlichen Welt orientierten Weg. Die westlichen Medien beeinflussten zunehmend das Leben der Jugendlichen hinsichtlich ihres Konsumverhaltens, ihrer Freizeitgestaltung und ihrer kulturellen und musikalischen Interessen. Vor diesem Hintergrund versuchte die Jugend sich inoffizielle Freiräume zu schaffen, um ihre Individualisierungswünsche zu verwirklichen. »Durch die bloße Macht des Faktischen [erfolgte] immer wieder die Umwandlung öffentlicher Räume in landesweite 570 571 572 573 574

Rauhut, Rock in der DDR. 2002, S. 40. Vgl. Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 148ff. Rauhut, Rock in der DDR. 2002, S. 15. Vgl. ebd., S. 16. Lindner, Bernd/Krüger, Heinz Hermann: Jugend- und Jugendkulturforschung in Ost und West. In: Akademie Remscheid (Hg.): Jugendkultur im Osten und Westen Deutschlands. Verlag Alexander T. Rolland 1991, S. 18–33, hier: S. 19.

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Szenetreffs jugendlicher Gruppenkulturen […], obwohl es doch offiziell in der DDR alles gar nicht gab.«575 Die vom Staat veranlassten Verbote und Unterwanderungsversuche waren der Macht des Faktischen unterlegen, sodass sich autonome Zonen entwickeln konnten, so Michael Rauhut.576 Vor diesem Hintergrund kam es in den 1980er Jahren zu einer Entwicklung unterschiedlicher Jugendszenen, die das Jugendleben heterogener erscheinen ließen. Es bildete sich ein Mosaik von Gruppen: »von Wave bis Ska, von Punk bis Independent-Pop und -Rock, von Industrial bis Electro Avantgarde, Sixties-Rock, Gitarren-Pop, Gruftie-Szene und Hip-Hop«577, die eine bunte Palette stilistischer Möglichkeiten darstellten, um eigene Individualisierungswege zu gestalten. Die etablierte Rockszene, die ihren Höhepunkt in den 1970er Jahren erzielt hatte, strahlte jedoch keine Anziehungskraft mehr für die neue Generation aus und konnte »ihre Funktion als Sprachrohr junger Leute in der öffentlichen Kommunikation«578 nur in einer eingeschränkten Form erfüllen. Sascha Lange und Dennis Burmeister machen auf die Veränderungen in der Jugendkultur aufmerksam. Mit der Musik von neuen Punk- und Wavebands ging es darum, »die Musik der 1970er mit einem kräftigen Tritt in die Tonne zu verabschieden, alles Alte niederzureißen, um schließlich etwas Neues entstehen zu lassen«579. Ähnlich formulierte es die Gruppe Virus X aus Rostock: »DDR-Rockszene du hängst mir aus dem Hals, DDR-Rockszene ich hör nicht länger Schmalz. Die Puhdys sind schon lange tot ich will was neues hör′n.«580 Durch die Abgrenzung gegen die Rock-Szene markierten die neuen jugendkulturellen Szenen ihre eigene individuelle Identität außerhalb der mittlerweile institutionalisierten Rock-Musik. Die Bürokratisierung und Institutionalisierung der Rock-Musik führten zwangsläufig zu einem Verlust ihrer Legitimation unter den Jugendlichen. Lange und Burmeister sprechen diesbezüglich von einer »kulturelle[n] Abnabelung zum zunehmend überalterten DDR-Rock«581, die ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre vollzogen wurde. Zwar erkannte man den subversiven systemkritischen Diskurs der Texte von Gruppen wie Pankow, Silly und City, für die Jugendlichen jedoch verkörperten sie als Repräsentanten einer staatlich geförderten Rock-Musik keine Identifikationsfläche mehr. Die Generationsunterschiede sowie die Regulierung der intergenerationellen Prozesse werden hier 575 576 577 578

Wicke, Rock Around Socialism. 1997, S. 302. Vgl. Rauhut, Rock in der DDR. 2002, S. 74. Galenza/Havemeister, Stirb nicht im Warteraum der Zukunft. 1999, S. 8. Felber, Holm: DDR-Rockmusik und DDR-Jugend: T. 1: Problempapier. Leipzig: Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ) 1988, S. 18. In: [letzter Zugriff am 06. 10. 2019]. 579 Lange/Burmeister, Behind the Wall. 2018, S. 14. 580 Virus X, zitiert nach Horschig, Michael: In der DDR hat es nie Punks gegeben. In: Galenza/ Havemeister, Wir wollen immer artig sein. 1999, S. 17–40, hier: S. 17. 581 Lange/Burmeister, Behind the Wall. 2018, S. 34.

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durch den Rückgriff auf Begriffe wie »Abnabelung« und »Überalterung« verdeutlicht. Die Notwendigkeit, etwas Neues zu bilden und individuelle Freiräume außerhalb der offiziellen Kultur zu suchen, führte zur Ausbreitung anderer jugendkultureller Angebote.582 Im Folgenden geht es darum, exemplarisch die jugendkulturelle Entwicklung in den 1980er Jahren anhand von drei Szenen, der Punk-, der Hip Hop- und der New Wave-Bewegung, kurz zu skizzieren. Ronald Galenza und Heinz Havemeister erläutern die Ursache für die Devianz innerhalb der Punk-Szene folgendermaßen: »Anfangs ergaben sich Abweichungen von der sozialistischen Normpersönlichkeit eher aus Langeweile, anarchistischer Provokation und unbewußtem Protest gegen alles Erstarrte, Kontrollierte und Reglementierte. Eigentlich war dies ein reflexartiger Kampf gegen die Verbiegung des Alltags. Denn: in der maßregelnden DDR-Gesellschaft wurde selbst jede unpolitische, kulturelle Aktion politisch, allein wegen der Abgrenzung gegen die staatlich organisierte Kultur-Kontrolle.«583

Die Mitglieder der Punk-Szene verkörperten mit ihrer Ablehnung von Regeln und Reglementierung eine typische adoleszente Haltung, die sich durch das Hinterfragen von tradierten Konventionen und die Ablehnung eines massiven staatlichen Einflusses auf die individuellen Lebensentwürfe auszeichnete. Das Streben nach individuellen Handlungsräumen, um sich gesellschaftlich zu verorten, führte zwangsläufig zu einem Konflikt mit dem Staat, der die nötigen Freiräume nicht gewähren wollte.584 In der Weigerung, sich auf ein vorgeschriebenes Leben einzulassen und im Zuge des »Ausstieg[s] aus den Strukturen eines nicht länger als sinnstiftend angesehenen Systems«585 fanden sie ihre eigene Daseinsberechtigung in einem Land, mit dem sie sich nicht identifizierten. »Im schrillen Treiben der Punkszene fanden sie eine Heimat, die ihnen die DDR nicht mehr zu bieten hatte.«586 »Punk zu sein, war die extremste Möglichkeit jugendkultureller Entäußerung in der DDR«587, so Lindner. Ihre extreme Haltung forderte die Staatsführung in besonderer Weise heraus, da sie »die bestehenden Staatsformen bzw. jegliche staatliche Autorität«588 ablehnten. Mit harten Zersetzungsmaßnahmen, zum Beispiel gezielter Kriminalisierung, Einschüchterungsmaßnamen, Inhaftierung, Abschiebung in den Westen oder Einzug in die Volksarmee, gelang es dem Staat, die erste Generation von Punks zu ›neutrali582 583 584 585

Vgl. Zaddach, Heavy Metal in der DDR. 2018, S. 46f. Galenza/Havemeister, Stirb nicht im Warteraum der Zukunft. 1999, S. 6. Vgl. Lindner, »Bau auf, Freie Deutsche Jugend«. 2003, S. 191. Kaiser, Paul/Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere 1970-1989. Berlin: Fannei & Walz Verlag 1997, S. 17. 586 Hahn, Anne: Pogo auf dem Altar – Punk in der DDR. In: Mey, Jugendkultur in Stendal. 2018, S. 109–114, hier: S. 110. 587 Lindner, DDR Rock & Pop. 2008, S. 167. 588 Ebd.

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sieren‹.589 Kurze Zeit danach wuchs jedoch eine zweite Generation nach. Ihre Freiräume fanden die Punks im Rahmen der Offenen Arbeit bei wenigen Pfarrern und Jugenddiakonen der evangelischen Kirche, die bereits in den 1970er Jahren den Hippies und Bluesern eine Unterschlupfmöglichkeit geboten hatten. In kirchlichen Räumen konnten sie ihre Songs meistens unter Gleichgesinnten präsentieren. Ab der Mitte der 1980er Jahre versuchten neue Bands wie Feeling B oder Sandow, die unter dem Begriff Die anderen Bands subsumiert wurden, mit ihren Texten auf die Probleme der Heranwachsenden einzugehen.590 Neben der Punk-Szene erreichte die Hip-Hop-Szene eine besondere Beliebtheit unter den Heranwachsenden. Auch wenn die Kleidungsstücke der amerikanischen Vorbilder fehlten, war es möglich, sich selbst vor der Gruppe mit den eigenen Tanzkompetenzen zu stilisieren, um die Akzeptanz innerhalb der Peergroup zu fördern und, insbesondere bei den männlichen Jugendlichen, »die Mädchen auf sich aufmerksam zu machen«591. Offiziell versuchten die Kulturfunktionäre von Anfang an, die Breakdance-Bewegung für ihre eigenen ideologischen Zwecke zu vereinnahmen, um die Folgen der kapitalistischen Großstadtrealität zu veranschaulichen. Zu diesem Zweck wurde der Film Beat Street 1985 in den Kinos der DDR gezeigt, um aus offizieller Sicht das Elend in der New Yorker Bronx zu zeigen. Trotz der Vereinnahmungsversuche der Kulturfunktionäre konnte die Breakdance-Szene ihre Autonomie bewahren, sich zu einer eigenständigen Jugendkultur mit einer eigenen Lebenseinstellung entwickeln und anhand von Liedern ihre Kritik an den existierenden Verhältnissen üben, wie Leonard Schmieding anhand der Entwicklung des Dresdner DJs und Rappers TJ Big Blaster Electric Boogie überzeugend dokumentiert.592 Die Rechnung der Kulturfunktionäre erfolgte auch diesmal ohne Einbezug der jugendlichen Interessen. Im Zuge der Post-Punk-Bewegung entwickelte sich die sogenannte NewWave-Bewegung. Musikalisch standen Bands im Zentrum, die auf elektronisches Instrumentarium zurückgriffen und Punk-Elemente mit den aufkommenden Synthesizern zu vermischen versuchten. In der New-Wave-Szene avancierte die Band Depeche Mode mit ihren schwarzen Lederklamotten und ihren coolen Frisuren zum Vorbild vieler ostdeutscher Jugendlicher. Als Band lieferten sie eine Outfitvorlage und kreierten einen eigenen Tanzstil, innerhalb der Szene als Dave-Dancing bekannt. »Die Mädels hatten hervorragende Projektionsmöglichkeiten mit den beiden unterschiedlichen Charakteren Dave und Martin und 589 Vgl. Galenza/Havemeister, Stirb nicht im Warteraum der Zukunft. 1999, S. 6. 590 Vgl. Lange/Burmeister, Behind the Wall. 2018, S. 93; vgl. hierzu auch [letzter Zugriff am 06. 10. 2019]. 591 Lange/Burmeister, Behind the Wall. 2018, S. 60. 592 Vgl. Schmieding, »Das ist unsere Party«. HipHop in der DDR. 2014, S. 179ff.; Lange/Burmeister, Behind the Wall. 2018, S. 62.

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konnten sich auch modisch bestens austoben. Irgendwo zwischen Cure, Madonna und Sex Pistols.«593 Die Abgrenzung von den anderen Jugendlichen erfolgte über das Aussehen, orientiert am Vorbild der Bandmitglieder, und spielte eine wichtige identitätsstiftende Funktion im Rahmen des Individuationsprozesses der Heranwachsenden: »Das Outfit war wichtig, um sich von den anderen abzusetzen, von den Jüngeren und von den Älteren, den Eltern und so weiter. Diese Abgrenzung war wichtig, weil ich dabei zu einem Selbstbewusstsein gefunden habe, das ich vorher nicht hatte. Mit diesem äußeren Wandel hat sich bei mir auch viel innerlich vollzogen. Damit hat man sich auch von den politischen Verhältnissen abgehoben.«594

Durch die Gründung von ca. siebzig Fanclubs in mehreren Städten der DDR und durch deren Vernetzung konnte sich die Musik inoffiziell verbreiten und die Fangemeinde weiter wachsen.595 Den Höhepunkt der Szene bildete das Ostberliner Konzert im Jahr 1988, das die Kulturfunktionäre anlässlich des 42. Jahrestages der Gründung des SED-Jugendverbands organisiert hatten.596 Die Fans organisierten Überspiel-Sessions, trafen sich privat und in den Discos, wo zur Begeisterung der Cliquenmitglieder eine Depeche-Mode-Songrunde gespielt wurde. Später organisierten die Fanclubs eigene Depeche-Mode-Veranstaltungen, bei denen die Mitglieder mit anderen Fans aus anderen Städten Musik und Informationen bezüglich der Band austauschen konnten und unter Gleichgesinnten feierten.597 Ab Mitte der 1980er Jahre war das Straßenbild vom unverwechselbaren Outfit der New Wave-Bewegung, auch New Romantics genannt, geprägt. Die intensive Identifikation der Fans mit der Band und ihre enge Vernetzung führte zu der Entwicklung »einer fast omnipräsenten und freizeitfüllenden Jugendkultur«598. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Zugehörigkeit zu einer jugendkulturellen Gemeinschaft häufig über die Musik kenntlich gemacht wurde. Sie wurde von einem bestimmten Habitus, von Kleidungsgepflogenheiten, einem bestimmten Haarschnitt, einem sprachlichen Stil und einer spezifischen alltagskulturellen Lebenspraxis begleitet. Unter den Jugendlichen machte sich ein Gefühl von Gleichgültigkeit gegenüber dem Staat breit. Für viele Jugendliche galt das, was Olaf Toast so formulierte: »Wir mußten uns nicht verbal vom Staat distanzieren. Wir waren keine Aussteiger, wir sind gar nicht erst eingestiegen.«599 593 594 595 596 597 598 599

Lange/Burmeister, Behind the Wall. 2018, S. 30. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 160. Vgl. ebd., S. 120. Vgl. ebd., S. 181. Ebd., S. 204. Olaf Toast, zitiert nach Galenza, Ronald/Havemeister, Heinz: Frusti machs gut. Die Musikerpolizei. In: Dies.: Feeling B. Mix mir einen Drink. Punk im Osten. Ausführliche Ge-

Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR

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Der Begriff der konstitutiven Widersprüchlichkeit kann produktiv gemacht werden, um zu erklären, wie sich die vielfältigen Jugendkulturen nach westlichem Muster entwickelten. Obwohl die SED mit allen möglichen Mitteln eine ›Westabschottung‹ durchzusetzen versuchte und »die Abgrenzung vom Westen Deutschlands [als] eine weitere wichtige Voraussetzung für die Stabilisierung der DDR«600 galt, entstand neben der staatlich geförderten Einheitskultur eine informelle pluralistische Subkultur, die durchaus westlich orientiert war. Bei der Bewertung solcher gesellschaftlicher Prozesse ist zu beachten, dass nonkonformes Verhalten zwar als Indiz für die fehlende Akzeptanz einer vom Staat geförderten kulturellen Gesellschaftspraxis aufgefasst werden kann, jedoch nicht automatisch als eine Form des Widerstands. Wie Ohse zutreffend moniert, führen solche Bestrebungen, alle Formen der Nonkonformität unter dem Begriff des Widerstandes bzw. unter Opposition zu subsumieren, keineswegs zu einer differenzierten Betrachtung menschlichen Verhaltens. Vielmehr gilt es herauszufinden, welche Handlungsmotive und –optionen die einzelnen Individuen hatten und zwischen »Anpassung, nonkonformem Verhalten, Opposition und Widerstand zu unterscheiden«601.

spräche mit Flake, Paul Landers und vielen anderen. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 1999, S. 143–158, hier: S. 145. 600 Pollack, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. 1998, S. 119. 601 Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. 2003, S. 13.

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Zum Adoleszenzroman

Der Adoleszenzroman hat seinen Ursprung in der allgemeinen Literatur und weist eine jahrhundertealte Tradition auf. Nach 1970 kommt es zu einer »jugendliterarischen Eingemeindung des Adoleszenzromans«602. Heute gilt der Adoleszenzroman im Handlungs- und Symbolsystem der Kinder- und Jugendliteratur als eine Subgattung des Jugendromans, der, wie Carsten Gansel notiert, »alle möglichen Romanformen für Jugendliche«603 umfasst. Vorläufer und Wegbereiter des gegenwärtigen Adoleszenzromans sind die Entwicklungs-, Erziehungs- und Bildungsromane des 18. und 19. Jahrhunderts.604 Bereits in diesen Texten lassen sich Muster finden, die später durch den Adoleszenzroman in abgewandelter Form aufgenommen und weiterentwickelt worden sind.605 So stehen beispielsweise männliche Protagonisten im Zentrum des literarischen Geschehens und es ist ihre Entwicklung bzw. ihr Reifeprozess, der Gegenstand der literarischen Darstellung wird.606 Wie Heinrich Kaulen zutreffend betont, werden auf der Ebene des Wie des Erzählens häufig Darstellungsweisen angewendet, die durch moderne Techniken des psychologischen Erzählens bestimmt sind und bei denen die Innensicht der Protagonisten im Fokus steht, sodass der Leser Einblicke in die Entwicklungs- und Bewusstseinsprozesse des Protagonisten gewinnen kann:

602 Ewers, Hans-Heino: Der Adoleszenzroman als jugendliterarisches Erzählmuster. In: Der Deutschunterricht, H. 6/1992, S. 291–297, hier: S. 292ff. 603 Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 162; vgl. hierzu auch Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 327. 604 Vgl. Kaulen, Heinrich: »Welcher Jüngling kann eine solche verfluchungswürdige Schrift lesen?« Zur Rezeption des Adoleszenzromans in der Literaturkritik und Literaturdidaktik von Goethes »Werther« bis zur Postmoderne. In: Zeitschrift für Germanistik 14, H. 1/2004, S. 102–113, hier: S. 102; Steinlein, Rüdiger: Adoleszenzliteratur. In: Zeitschrift für Germanistik 14, H. 1/2004, S. 8–18, hier: S. 8ff. 605 Vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 368. 606 Vgl. Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. 2004, S. 141.

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Zum Adoleszenzroman

»Von daher ergibt sich die Fixierung auf die psychische Innenwelt der Hauptfiguren, die in ihren Krisen und Verwicklungen für den Leser als widersprüchliche und komplexe Individuen erfahrbar gemacht werden sollen. Dem Ziel der Exploration einer solchen zerrissenen Innenwelt dienen moderne Techniken des psychologischen Erzählens wie die personale Ich-Erzählung, der innere Monolog, die erlebte Rede sowie die Darstellung von Traumsequenzen und anderen verschlüsselten Symbolwelten des Unbewussten, wie sie bis dato beinahe ausschließlich der für Erwachsene bestimmten Erzählliteratur vorbehalten gewesen sind.«607

Als wichtige Vorläufer des Adoleszenzromans gelten Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) und Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785– 1790).608 Goethes Text präsentiert einen Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, der mit dem tragischen Tod bzw. dem Scheitern des Protagonisten endet. Auf formaler Ebene ist eine subjektive Form des Erzählens zu beobachten, die Einblicke in die krisenhafte Welt des Protagonisten gewährt. Kaulen spricht in diesem Zusammenhang von einer »schonungslosen Selbstartikulation von Subjektivität«609, die durch die Sprache und Erzählform des Textes auf besondere Weise zum Ausdruck kommt. Die Darstellung der Innenwelt eines Jugendlichen steht auch im Zentrum des psychologischen Romans Anton Reiser. Die Identitätsentwicklung des Titelhelden und insbesondere sein Streben nach Anerkennung werden minutiös geschildert. Hartmut Böhme verweist zudem auf den Umstand, dass Kindheit und Adoleszenz über einen längeren historischen Zeitraum »trotz des seit K. Ph. Moritz sich entwickelnden psychologischen Bewusstseins […] nicht eigentlich in den ihnen eigenen Dynamiken und Entwicklungsabläufen«610 bekannt gewesen sind. Adoleszenzentwicklungen gelten als »gefährliche Epochen unzivilisierter Natur und verführbarer Sinnlichkeit«611 und werden der Unvernunft zugerechnet, so Böhme. In der Romantik werden erneut kindliche und adoleszente Entwicklungs- und die damit verknüpften Identitätsfindungsprozesse Gegenstand der literarischen Darstellung. Dabei wird auf »höchst komplexe symbolische Topographien, räumliche Grenzziehungen, Raumbewegungen, Zeitordnungen sowie Mittlerfiguren«612 zurückgegriffen, um solche Reifungsprozesse zum Ausdruck 607 Kaulen, Heinrich: Jugend- und Adoleszenzromane zwischen Moderne und Postmoderne. In: 1000 und 1 Buch, H. 1/1999, S. 4–12, hier: S. 7. 608 Vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 368; Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 7. 609 Kaulen, Zur Rezeption des Adoleszenzromans. 2004, S. 104. 610 Böhme, Hartmut: Romantische Adoleszenzkrisen. Zur Psychodinamik der Venuskult-Novellen von Tieck, Eichendorff und E. T. A. Hoffmann. In: Bohnen, Klaus (Hg.): Literatur und Psychoanalyse. Text & Kontext, Sonderreihe Bd. 10. Kopenhagen: Wilhelm Fink Verlag 1981, S. 133–176, hier: S. 136. 611 Ebd. 612 Ebd.

Zum Adoleszenzroman

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zu bringen. In literarischen Texten wie den Kunstmärchen von Wieland, Novalis und E. T. A. Hoffmann und den Novellen, zu denken ist etwa an Eichendorffs Das Marmorbild, werden die adoleszente Übergangsphase und das damit verbundene Initiationsmotiv thematisiert. Neben den Darstellungen, bei denen der Held nach der Adoleszenz einen fortgeschrittenen wie soliden Reifezustand erreicht, existieren auch Texte mit einem tragischen Verlauf der adoleszenten Phase. Exemplarisch für die letztgenannte Variante ist das Schicksal des Poeten Nathanael in Hoffmanns Text Der Sandmann. Zutreffend beschreibt Rüdiger Steinlein die Unfähigkeit des Protagonisten, seine chaotische Energie für das gesellschaftliche Leben produktiv zu machen.613 Angelehnt an den Terminus der angloamerikanischen adolescent novel wird der Gattungsbegriff Adoleszenzroman seit dem Ende der 1980er Jahre im Literatursystem bestimmt, seine feste Etablierung erfolgt Anfang der 1990er Jahre.614 Hans-Heino Ewers, Carsten Gansel und Heinrich Kaulen haben die Abgrenzung des Adoleszenzromans von angrenzenden Formen wie dem Bildungsroman, dem Erziehungsroman und dem Entwicklungsroman erarbeitet und die Herausbildung der Gattung erfasst.615 Während der Bildungsroman ein historisch festgelegtes Genre darstellt, lässt sich der Entwicklungsroman als »überzeitlicher Romantypus«616 bezeichnen. Seine Darstellung beschränkt sich nicht nur auf einen Lebensabschnitt wie die Jugendphase im Bildungsroman, sondern kann die gesamte Lebensentwicklung einer Figur umfassen. Der didaktische Aspekt hat beim Entwicklungsroman eine geringere Relevanz im Vergleich zu den anderen Romantypen.617 Beim Erziehungsroman steht das didaktische Moment im Zentrum. Typischerweise gerät die Beziehung zwischen Mentor und Zögling in den Vordergrund, sodass eine bipolare Beziehung bzw. ein Figurenpaar für die Struktur der Handlung entscheidend ist, wodurch ein wichtiger Unterschied zum Bildungs- und Entwicklungsroman vorliegt, da bei diesen jeweils nur ein Protagonist im Fokus des Geschehens steht.618 613 Vgl. Steinlein, Adoleszenzliteratur. 2004, S. 8ff., 15ff.; Gansel, Zwischen existentieller Krise und zweiter Chance. 2011, S. 28f. 614 Vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 365; siehe hierzu auch Ewers, Der Adoleszenzroman als jugendliterarisches Erzählmuster. 1992, S. 291. 615 Vgl. Ewers, Der Adoleszenzroman als jugendliterarisches Erzählmuster. 1992, S. 291–297; Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 366f.; Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 6ff.; Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 327ff.; Lange, Günter: Adoleszenzroman. In: Ders. (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Grundlagen, Gattungen, Medien, Lesesozialisation und Didaktik. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren 2011, S. 147–166, hier: S. 147f.; Gansel, Carsten: Adoleszenz. Zu theoretischen Aspekten und aktuellen Entwicklungen. In: Der Deutschunterricht, H. 2/ 2016, S. 2–12. 616 Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 367. 617 Vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 367. 618 Vgl. ebd.

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Zum Adoleszenzroman

Seit den 1990er Jahren kann von einer bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt anhaltenden Konjunktur des Adoleszenzromans gesprochen werden. Auf nationaler und internationaler Ebene lässt sich eine große Anzahl von gelungenen Texten registrieren, die die Bedeutung der Gattung bestätigt.619 Kaulen spricht von einer »spezifische[n] Erscheinungsform oder Subgattung des modernen Jugendromans«620, die aufgrund der angewendeten Formtechniken und der thematisierten Probleme eine Annäherung an die Erwachsenenliteratur aufweist und »alle starren Grenzziehungen zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur entschlossen ignoriert«621. In diesem Kontext markiert Kaulen die Gründe für den Erfolg der Gattung: »Weder kann sich Jugendliteratur angesichts der Verlängerung der Jugendphase auf die Pubertät beschränken noch kann sie angesichts der Vielzahl miteinander konkurrierender Sinnsysteme überhaupt noch eine präskriptive Handlungsorientierung vermitteln. Die größere Verbreitung des Adoleszenzromans resultiert wahrscheinlich aus diesem Umstand, denn Adoleszenzromane sind nicht mehr auf pädagogische oder politische Lösungen ausgerichtet und tragen durch ihre Perspektivierung auf die psychische Innenwelt einer einzelnen (oder mehreren) Hauptfigur(en) der Tendenz zur Pluralisierung jugendlicher Lebenswege ebenso Rechnung wie der Notwendigkeit zum Selbstentwurf eines jeweils individuellen Lebensmusters.«622

Neben dem Verzicht auf eine Pädagogisierung ist die Fokussierung der Texte auf die psychische Innenweltdarstellung der individuellen Figuren zu beachten. Diese korrespondiert mit der zunehmenden Pluralisierung der jugendlichen Lebenswege und entspricht ihrem individuellen Bedürfnis nach Ausbildung eines Selbstentwurfs. In seinem vorläufigen Definitionsvorschlag des Adoleszenzromans verweist Kaulen auf konstante Problembereiche, die in Adoleszenzromanen Gegenstand der Darstellung sind: »Zu diesen Problemfeldern zählen in der Hauptsache die Ablösung von der Herkunftsfamilie, die Entwicklung eines eigenen Wertesystems, die ersten sexuellen Erfahrungen mit heterosexuellen oder gleichgeschlechtlichen Partnern, der Aufbau eigenständiger Sozialkontakte in der Peergroup und die Übernahme einer neuen sozialen Rolle.«623

619 Vgl. Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 325. 620 Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 6. 621 Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 325. Heinrich Kaulen verweist außerdem auf die Veröffentlichungspraxis der Verlage und konstatiert eine längst hinfällige Auflösung des Adressatenkonzepts. Die angesprochene Zielgruppe ist nicht auf die Jugendlichen reduziert, sondern umfasst auch andere Altersstufen, so Kaulen. Vgl. Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 6. 622 Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 6. 623 Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 327.

Zum Adoleszenzroman

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Ähnlich argumentiert Gansel, der betont, dass der Adoleszenzroman eine »Gattungs- bzw. Typenbildung auf Grundlage von inhalts- bzw. stoffbezogenen Merkmalen«624 bildet. Die literarische Darstellung präsentiert entsprechend Motive, die mit der Lebensphase der Adoleszenz zusammenhängen: Die Identitätssuche und die damit einhergehenden Prozesse wie zum Beispiel die Selbstinszenierung, die Ablösung von den Eltern und die Neugestaltung der Beziehung zu diesen sowie zu Gleichaltrigen, die sexuelle Initiation, die Entwicklung einer eigenen Werthaltung bzw. eines eigenen Wertesystems und die Übernahme oder die Ablehnung einer sozialen, beruflichen oder sexuellen Rolle.625 In seinem Forschungsbericht626 aus dem Jahr 2004, der die Gattung einer literaturwissenschaftlichen Prüfung unterzieht, hat Carsten Gansel auf Grundlage bestehender Darstellungen zentrale Merkmale für den Adoleszenzroman herausgestellt: Auf der Ebene der histoire stehen ein oder mehrere jugendliche Helden als Protagonisten im Zentrum des Geschehens. Bei den dargestellten Handlungen handelt es sich um Ereignisse aus der Jugendphase der Protagonisten. Anders als beim Entwicklungsroman beschränkt sich die Darstellung explizit auf die Jugendphase, die weitere Entwicklung der Protagonisten bleibt unberücksichtigt. Gleichwohl umfasst die dargestellte Zeit nicht bloß die Pubertät, sondern auch den gesamten Prozess der Identitätssuche der jugendlichen Protagonisten. Im sogenannten klassischen Adoleszenzroman ist der jugendliche Held meistens männlich. Im Gegensatz dazu finden sich in den sogenannten modernen und postmodernen Adoleszenzromanen auch weibliche Protagonisten als zentrale Figuren. Die Figurenkonzeption erfolgt in erster Linie unter Bezugnahme auf psychologische Muster von realen Vorbildern, das heißt, dass die Autoren auf Individuen zurückgreifen. Andere Formen des Figurenkonzeptionsmodells von Manfred Pfister wie die Personifikation oder die Typenbildung werden nicht berücksichtigt. Grundsätzlich rückt die Gestaltung von psychischen Prozessen in den Vordergrund, um die Neuprogrammierung des 624 Gansel, Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance. 2011, S. 26. 625 Vgl. Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. 2004, S. 141; Gansel, Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance. 2011, S. 28; Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 7; Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 327. 626 Mit dem Band 1/2004 der »Zeitschrift für Germanistik« gelingt es, den Adoleszenzroman in der germanistischen Diskussion zu etablieren. Er widmet sich dem Thema Adoleszenz und beleuchtet es aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Vgl. hier insbesondere Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. 2004, S. 130–149; siehe auch Kaulen, Zur Rezeption des Adoleszenzromans. 2004, S. 102–113; Steinlein, Adoleszenzliteratur. 2004, S. 8–18; Strobel, Heidi: Von der geplanten Persönlichkeit zur Suche nach dem Selbst. Die Darstellung von Adoleszenz in jugendliterarischen Texten der DDR. Zeitschrift für Germanistik 14, H. 1/2004, S. 114–129.

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Zum Adoleszenzroman

heranwachsenden Protagonisten sichtbar zu machen. Gleichzeitig werden auch Aspekte der Außenwelt erfasst. Der jugendliche Protagonist wird auf der Suche nach seiner Identität präsentiert. Dabei probiert sich die Figur typischerweise in unterschiedlichen Rollen aus und reizt etablierte Normen und Konventionen aus. Die lebensgeschichtliche Phase der Adoleszenz kann entweder in Form einer »existentielle[n] Erschütterung und [einer] tiefgreifende[n] Identitätskrise«627 oder als eine lustvolle und offene Lebensphase präsentiert werden, in der sich der Protagonist wachsend und bestätigend erlebt. Da die Protagonisten zumeist auf der Suche bleiben, ihr Identitätsfindungsprozess nicht abgeschlossen ist, wird das Ende des Adoleszenzromans üblicherweise offen gestaltet.628 Ab dem Ende der 1990er Jahre bildet sich in der Literaturwissenschaft eine Art Gattungstypologie des Adoleszenzromans heraus, die unter Berücksichtigung von modernisierungstheoretischen Fragestellungen spezifische Ausprägungen von Adoleszenz und Adoleszenzdarstellung erfasst.629 Kaulen und Gansel unterscheiden zwischen dem klassischen bzw. traditionellen Adoleszenzroman, dem modernen sowie dem postmodernen Adoleszenzroman. Aufgrund der Spezifik der Adoleszenz in der DDR werden die Texte, die von Jugend in der DDR erzählen, gesondert betrachtet. Im Folgenden geht es darum, die Gattungstypologie genauer zu bestimmen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich eine weitere Romanform entwickelt, die im Nachhinein als klassischer Adoleszenzroman bezeichnet worden ist, seinerzeit aber als »Schülerroman[]«630 klassifiziert wurde, zumal ihr Handlungsort die Schule ist. Gansel verweist darauf, dass im Zentrum des Geschehens ausschließlich männliche Adoleszente stehen, deren Entwicklung durch die Schule als Handlungsort konditioniert wird. Die dargestellte Handlung umfasst das Leiden der jugendlichen Protagonisten in einem Schulkontext, in dem die Heranwachsenden diszipliniert und drangsaliert werden und zum Opfer körperlicher wie seelischer Schmerzen werden. Folglich erscheint der Sozialisationsort 627 Ewers, Hans-Heino: Zwischen Problemliteratur und Adoleszenzroman. Aktuelle Tendenzen der Belletristik für Jugendliche und junge Erwachsene. In: Informationen des Arbeitskreises für Jugendliteratur 2/1989, S. 4–23, hier: S. 11. Gansel korrigiert Ewers’ Darstellung und betont, dass die jugendliche Hauptfigur unter (post)modernen Bedingungen die Adoleszenz-Phase ebenso lustvoll und offen erleben kann. Die Vielfalt an Optionen entspricht nach Gansel eher einer authentischen Darstellung jugendlicher Welten. Vgl. Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 169. 628 Vgl. Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. 2004, S. 141. 629 Vgl. Gansel, Stationen der Zerwicklung. 1994, S. 80–92; Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 325–336; Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 4–12; Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 359–399; Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. 2004, S. 130–149; Gansel, Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance. 2011, S. 25–44. 630 Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 373.

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Schule als ein Ort der Peinigung und der Schikane, so Gansel.631 Das Ambiente ist von Langeweile, Angst, Furcht und Entsetzen bestimmt. Lehrer werden von den Schülern als die Verkörperung des Bösen wahrgenommen und dementsprechend gefürchtet und gehasst. Die etablierten Instanzen zeichnen sich durch ihre autoritäre Haltung und durch unmenschliche und brutale Erziehungsmethoden aus und vertreten ein Erziehungssystem, das an den ›ewigen Werten‹ in einem Obrigkeitsstaat orientiert ist und Gehorsam und Unterordnung fordert. In diesem Kontext der Unterdrückung setzen sich jene Lehrinstanzen durch, die ein militantes, brutales und gewalttätiges Auftreten zeigen. Es dominiert ein menschenverachtendes System, bei dem sich das Recht des Stärkeren und des Brutalsten durchsetzt. Die ihrerseits schikanierten Lehrerfiguren verschaffen sich Genugtuung, indem sie sich an den sensiblen Schülern rächen.632 Da es unter diesen Umständen für die jugendlichen Protagonisten aus den Schülerromanen der Jahrhundertwende nicht möglich ist, einen erfolgreichen Identitätsbildungsprozess zu realisieren, geraten sie in eine unüberwindbare existentielle Krise mit tragischem Ausgang.633 Anders als bei den Erziehungs- und Bildungsromanen gelingt es den jugendlichen Protagonisten nicht, erfolgreich in die Gesellschaft der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Infolgedessen kommt es zu einem »Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft«634, so Gansel. Charakteristisch für die in dieser Spielart des Adoleszenzromans beschriebenen Heranwachsenden ist das Anzweifeln und Ablehnen überkommener Werte. Die Eltern, Lehrer und die Instanz Schule stehen stellvertretend für eine Welt, die von der neuen Generation in Frage gestellt wird. Gansel und Kaulen verweisen auf das konflikthafte Generationenverhältnis, das häufig anhand einer problematischen Vater-Sohn-Beziehung präsentiert wird.635 Kaulen fasst die wichtigsten Gattungseigenschaften zusammen und stellt das Potenzial der Texte als »Abbild der hierarchischen Machtstrukturen des wilhelminischen Obrigkeitsstaates«636 heraus: »[Die Texte] zeigen das Leiden und Scheitern eines begabten, sensiblen und künstlerisch veranlagten Außenseiters an den autoritären Erziehungsverhältnissen in Schule und Elternhaus. […] Die Erziehungsdressuren in Schule, Familie und Arbeitswelt werden in prägnanten Momentaufnahmen vorgeführt, um die psychologischen Kon631 632 633 634 635

Vgl. ebd., S. 374. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd.; hierzu siehe auch Kaulen, Heinrich: Vom bürgerlichen Elternhaus zur Patchwork-Familie. Familienbilder im Adoleszenzroman der Jahrhundertwende und der Gegenwart. In: Ewers, Hans-Heino/Wild, Inge (Hg.): Familienszenen. Die Darstellung familialer Kindheit in der Kinder- und Jugendliteratur. Weinheim/München: Juventa Verlag 1999, S. 111–132, hier: S. 112ff. 636 Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 328f.

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flikte des non-konformistischen Adoleszenten plausibel zu motivieren und eine Negativfolie zu gewinnen, von der sich das Bild einer höheren und reineren Idealen verpflichtenden Jugend um so strahlender abheben kann.«637

Gansel verweist auf die dominierende Darstellungsperspektive des klassischen Adoleszenzromans, die in der Regel aus Sicht des leidenden Protagonisten erfolgt. Der Protagonist ist auf der Suche nach einer stabilen Identität und wird dabei von Freunden unterstützt. Sein Streben, sich in der Gesellschaft zu verorten, bleibt jedoch ohne Erfolg. Neben den angesprochenen Problembereichen der Adoleszenz wird die Sexualitätsfrage im klassischen Adoleszenzroman nur verklausuliert behandelt.638 In der Forschung zum Adoleszenzroman gilt als Konsens, dass in den 1950er Jahren mit der Rezeption des Textes Der Fänger im Roggen (1951, dt. 1954) von Jerome D. Salinger eine neue Entwicklungsphase der Gattung zum modernen Adoleszenzroman beginnt.639 Salingers Text wird in den 1960er Jahren sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR intensiv und begeistert rezipiert, weil er das Lebensgefühl einer Generation präzise erfasst, die sich gegen etablierte gesellschaftliche Instanzen auflehnt, traditionelle Rollenbilder in Frage stellt und sich auf die Suche nach einer eigenen Identität begibt.640 Gansel betont, dass die Entstehung des modernen Adoleszenzromans als Reaktion auf die Entwicklung gesellschaftlicher Modernisierung zu verstehen ist. Letztlich sei es der gesellschaftlichen Modernisierung zu verdanken, dass die Schul- bzw. Adoleszenzromane um die Jahrhundertwende wiederentdeckt und in den Literaturkanon aufgenommen wurden. Durch die sozialen Bewegungen Ende der 1960er-Jahre, wie die Studenten- und Frauenbewegung, wurde die Entwicklung der Gattung weiter vorangetrieben.641 Gansel macht auf die Bedeutung des Musters des »Initiationsromans (novel of initiation)«642 aufmerksam, um die Gattung des modernen Adoleszenzromans zu bestimmen. Nach Peter Freese handelt es sich bei der Initiation um »ein[en] in den drei Phasen von Ausgang, Übergang, Eingang ablaufende[n] menschliche[n] Wandlungs- und Entwicklungsvorgang«643. Dieser Entwicklungsprozess erfolgt in unterschiedlichen Bereichen, zum Beispiel auf der zwischenmenschlichen Ebene als Individuationsprozess, auf der gesellschaftlichen Ebene als Sozialisationsprozess und 637 Ebd. 638 Vgl. Gansel, Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance. 2011, S. 33. 639 Vgl. Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 7; Gansel, Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance. 2011, S. 34. 640 Vgl. ebd. 641 Vgl. ebd. S. 34f. 642 Ebd., S. 35. 643 Freese, Peter: Die Initiationsreise. Studien zum jugendlichen Helden im modernen amerikanischen Roman. Neumünster: Karl Wachholtz Verlag 1971, S. 155.

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auf der religiösen Ebene als Offenbarungsvorgang.644 Freese markiert bereits die unterschiedlichen Dimensionen der adoleszenten Neuprogrammierung, die sich in den literarischen Adoleszenztexten manifestieren. Durch die Aufnahme pikaresker Elemente verlieren die Adoleszenzdarstellungen in den 1970er Jahren ihre tragische Dimension und »radikale Negativität«645, die noch die Texte um 1900 charakterisierten. Die Gegenüberstellung der Jugend- und Erwachsenenwelt determiniert weiterhin das Geschehen im modernen Adoleszenzroman. Diesbezüglich lehnen die Heranwachsenden die Wertund Normvorstellungen der Erwachsenen sowie ihren Leistungsanspruch ab. Gegenüber den herkömmlichen und als einfallslos empfundenen Vorstellungen der Erwachsenen vertreten die Jugendlichen einen Weltentwurf, der von Phantasie, Autonomie und Emotionalität geprägt ist.646 Am Ende der Erzählung geht die Generation der Erwachsenen als Sieger hervor; die Eingliederung der Heranwachsenden misslingt in der Regel. Beide Aspekte können als systemprägende Merkmale des modernen Adoleszenzromans festgehalten werden.647 Ihre Distanz zu den Erwachsenen manifestieren Heranwachsende auch in Formen äußerlicher Abgrenzung, zum Beispiel durch auffällige Frisuren und Kleidung. In diesem Kontext kommt etwa den Jeans eine zentrale Bedeutung zu, sie stehen sinnbildlich für eine rebellische Lebenshaltung und -form, die vor allem durch die Musik, die Erfahrung von Woodstock und die Hippie-Bewegung geprägt ist.648 Darüber hinaus zeichnen sich die jugendlichen Helden durch ihre ablehnende Haltung einer »modernen leistungsorientierten Industrie- und Massengesellschaft«649 aus, die ihnen scheinbar keine Möglichkeit zur individuellen Entfaltung bietet – eine Haltung, mit der sie sich meistens in gesellschaftliche Abseitspositionen manövrieren. Es rücken auch subkulturelle Gruppen in den Fokus, die sich von der konventionalisierten Welt der Erwachsenen distanzieren. Diese Bewegungen verkörpern durch ihr von der Norm abweichendes Verhalten eine Abgrenzungs- und Widerstandshaltung, mit der sie unmissverständlich Kritik an tradierten Konventionen zum Ausdruck bringen. Sie verdeutlichen die Existenz gesamtgesellschaftlicher Konflikte und bilden eine treibende Kraft für die Veränderung der Gesellschaft.650 Gansel verweist darauf, dass die Jugendsubkultur ein historisches Phänomen darstellt, das sich zeitlich verändert und sich durch die Entstehung neuer subkultureller Bewegungen auszeichnet, die 644 645 646 647 648 649

Vgl. ebd. Gansel, Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance. 2011, S. 36. Vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 375. Vgl. Gansel, Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance. 2011, S. 36. Vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 376. Doderer, Klaus: Jeansliteratur. In: Ders. (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Ergänzungsband. Weinheim [u. a.]: Beltz Verlag 1982, S. 319–320, hier: S. 320. 650 Vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 376.

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ein jugendliches abweichendes Verhaltensmuster aufrechterhalten und gesellschaftliche Veränderungen vorantreiben, indem sie Denormalisierungsprozesse in Gang setzen. In eben diesen subkulturellen Milieus sind die Figuren und die Handlung der modernen Adoleszenzromane verankert. Im Gegensatz zum klassischen Adoleszenzroman steht nicht mehr der Konflikt zwischen Kindern und Eltern im Fokus, sondern der Antagonismus zwischen den Instanzen einer etablierten Gesellschaft und einer heranwachsenden Jugend. Im Vergleich zur wilhelminischen Zeit verliert die Radikalität der Konflikte an existentieller Schärfe, gleichwohl erleben die Heranwachsenden weiterhin unüberwindbare Schwierigkeiten auf der Suche nach der eigenen Persönlichkeit. Zwar erfolgen ihre Identitätssuche und ihr Streben nach Handlungsautonomie und sozialer Verantwortung nicht reibungslos,651 aber »ein totales Scheitern oder gar Selbstmord als Lösung unerträglicher Ich-Konflikte«652 sind selten vorzufinden. Bei ihrer Identitätssuche spielt die Auseinandersetzung mit dem Selbstbild sowie mit Themen wie Sexualität, Liebe und Partnerschaft eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zum klassischen Adoleszenzroman wird jedoch offen über Sexualität und die damit zusammenhängenden Konflikte erzählt.653 Im Zentrum der Darstellung steht der »Erwerb von Identität«654, also die Protagonisten streben nach Individualität und suchen nach einer eigenen, unverwechselbaren Persönlichkeit. Die Gattung des Adoleszenzromans lässt sich als ein sich sukzessiv veränderndes Genre bestimmen, in dem Modernisierungsmomente aufgenommen werden. Die Veränderungen in der modernen Gesellschaft bieten jungen Menschen neue Entfaltungsmöglichkeiten, die sich auch in der Literatur niederschlagen. Kaulen macht auf das Reflexionspotential der Adoleszenztexte mit ihren neuen Formen aufmerksam, die »– im Sinne einer Reflexion der ›zweiten Moderne‹ – die gewandelten Sozialisationsbedingungen und Lebensverhältnisse heutiger junger Erwachsener reflektieren«655. Ein bis dahin nur für die Erwachsenenliteratur geltendes Erzählmuster wird nun für die spezifische Jugendliteratur gattungsprägend. So werden die heranwachsenden Figuren etwa als Individuen gestaltet, die sich selbstreflektiert mit ihrer Rolle, ihrer Entwicklung, ihren inkonsequenten Erwartungen und ihren inneren Konflikten auseinandersetzen. Um die konflikthaften Situationen der Protagonisten darstellen zu können, wird im modernen Adoleszenzroman zum Beispiel auf psychologische Erzähltechniken wie die Ich-Erzählform, den inneren Monolog, den Bewusst-

651 652 653 654 655

Vgl. ebd., S. 377. Lange, Adoleszenzroman. 2011, S. 160. Vgl. ebd. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 377. Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 330.

Zum Adoleszenzroman

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seinsstrom, die erlebte Rede oder die Traumdarstellungen zurückgegriffen.656 Der moderne Adoleszenzroman behandelt zwar jugendspezifische Themen, ist in seiner Gestaltung aber keine ausdrückliche Zielgruppenliteratur mehr, »sondern zeichnet sich durch einen offenen Leserbezug aus«657. Für die weitere Entwicklung der Gattung bzw. für die Bestimmung des postmodernen Adoleszenzromans sind die subkulturellen Szenen von Bedeutung. Sie stellen einen Rahmen, in dem die Figuren und Handlungsstrukturen des Adoleszenzromans zu verorten sind. Als Folge gesellschaftlicher Veränderungen in der Postmoderne wird der Begriff der Jugend neu konnotiert. ›Jung-Sein‹ ist in einer »postmodernen Erlebnisgesellschaft«658 nicht mehr eins zu eins mit dem biologischen Alter gekoppelt, sondern wird zunehmend zu einem »generationsübergreifenden Ideal«659, das auf bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und Lebensstile rekurriert. Dieser Wandel führt zwangsläufig zu wichtigen Veränderungen im subkulturellen Milieu, zumal die Zugehörigkeit zu entsprechenden Gruppen weniger Ausdruck einer Gegenkultur als vielmehr Bestätigung des jeweiligen ›Status‹ in der Alltagskultur der 1990er Jahre ist. Zudem ist in den 1990er Jahren eine »Normalisierung [der Verhältnisse] und eine Entdramatisierung«660 des Generationenkonflikts zu beobachten. Was noch im modernen Adoleszenzroman als Provokation galt, wird unter postmodernen Bedingungen toleriert; so wird der ›klassische‹ Generationskonflikt in einer Gesellschaft, die sich durch Werte- und Normenpluralität auszeichnet, entschärft. Kaulen markiert den Kontrast zu den Konflikten aus der Zeit der Jahrhundertwende und stellt fest: »[Es finden sich] gelungene Beispiele, die mit Witz und Ironie die spezifischen Krisenerfahrungen von Jugendlichen aufspießen, die im Gegensatz zu ihren Vorgängern aus der Zeit der Jahrhundertwende nicht so sehr an einem Übermaß an Ordnung und Disziplin zu leiden haben als vielmehr daran, dass sie sich neuerdings in einer verwirrenden Pluralität von Wertmustern und Sinnangeboten zurechtfinden müssen, bei der klare Orientierungsmaßstäbe – und damit stabile Selbstbilder und Ich-Entwürfe – nur schwer zu gewinnen sind.«661

Im Unterschied zur modernen Gesellschaft werden Konsum und Medien in der postmodernen Gesellschaft als Genuss und Erlebnis wahrgenommen. Gansel und Kaulen bringen die erwähnten gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen mit der Entstehung des postmodernen Adoleszenzromans, der als 656 Vgl. Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 7; Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 327; Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 172. 657 Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 172. 658 Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 379. 659 Ebd. 660 Ebd. 661 Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 330f.

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Zum Adoleszenzroman

Reflex auf den gesellschaftlichen Wandel zu betrachten ist, in einen kausalen Zusammenhang. Während im modernen Adoleszenzroman vorwiegend antagonistische Haltungen konkurrierten, koexistieren im postmodernen Adoleszenzroman unterschiedliche kulturelle Lebensformen und -entwürfe friedlich nebeneinander.662 Die Familie wird meist als Verhandlungsfamilie dargestellt. Des Weiteren ist die späte Ablösung von der Herkunftsfamilie, die auch als Nesthockersyndrom bezeichnet wird, für den postmodernen Adoleszenzroman charakteristisch. Die Identitätssuche des Protagonisten, die als prägendes Merkmal des modernen Adoleszenzromans galt, spielt im postmodernen Adoleszenzroman kaum noch eine Rolle. Die adoleszenten Protagonisten sind geprägt von Ambivalenzen und Indifferenzen und gehen eher auf die Suche nach Erlebnissen und Genussmomenten. Zugespitzt formuliert Gansel: »Die Protagonisten selbst sind nur noch Zeichen und Oberfläche. Sie kennen keine Erinnerung oder Geschichte, was zählt ist die Gegenwart. Und die ist ohne Ränder in andere Zeitstufen. Das Leben als Endlosparty.«663

Mit der zunehmenden Liberalisierung und Pluralisierung der Gesellschaft gewinnen neue Identitätsvorstellungen, die Identität als einen vielfältigen, diskontinuierlichen und widersprüchlichen Prozess betrachten, an Bedeutung. Demzufolge zeichnen sich die Protagonisten des postmodernen Adoleszenzromans durch unabgeschlossene und zum Teil widersprüchliche Identitätsfindungsprozesse aus. Somit weichen die rebellischen Helden des modernen Adoleszenzromans, die unter den gesellschaftlichen Verhältnissen leiden und die Erwartungshaltungen der Erwachsenen nicht erfüllen können, Figuren, die sich durch ein zwischen Witz und Zynismus pendelndes Spiel auszeichnen und sich keineswegs gegen die Konsum- und Mediengesellschaft auflehnen, sondern durch eine hedonistische Haltung und eine »postmoderne[] Polyvalenz des Ichs«664 charakterisiert sind. Themen wie Sexualität, Alkoholismus und Drogenexzesse werden offen und tabulos präsentiert. Die jugendlichen Protagonisten lassen sich als Mitglieder einer Spaß- und Erlebniskultur identifizieren, wobei eine moralische oder pädagogische Beurteilung der grenzüberschreitenden Verhaltensmuster unterbleibt.665 Heinrich Kaulen betont, dass die Provokation der Romane nicht allein aus der tabulosen Darstellung von Sexualität und

662 Vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 379. 663 Gansel, Carsten: Jugendliteratur und jugendkultureller Wandel. In: Ewers, Hans-Heino (Hg.): Jugendkultur im Adoleszenzroman: Jugendliteratur der 80er und 90er Jahre zwischen Moderne und Postmoderne. Weinheim [u. a.]: Juventa Verlag 1994, S. 13–42, hier: S. 38. 664 Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 381; vgl. hierzu auch Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 9f.; Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 332. 665 Vgl. Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 9.

Anmerkungen zum Adoleszenzroman in der DDR

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Drogenexzessen resultiert, sondern vor allem mit ihrer semantischen Tiefenstruktur zusammenhängt: »Was anstößig wirkt, ist der Umstand, dass sich die Schilderung jugendlicher Normverstöße hier von jeder moralisierenden Außenperspektive und von jedem pädagogisierenden Meta-Diskurs freimacht und unsere traditionellen Vorstellungen von Identitätsfindung, von Autonomie und Persönlichkeit, unterminiert. Damit greifen diese Texte nämlich in der Tat die normativen Grundlagen an, auf denen die ästhetische Moderne und die Literatur der Neuzeit beruhen.«666

Neben den erwähnten Ausprägungen des postmodernen Adoleszenzromans bestimmt Kaulen weitere Charakteristika, wie »das zitathafte Spiel mit den unterschiedlichsten Motiven und Konventionen«667, das Aufgeben des Konzepts eines ganzheitlichen Subjekts und den Verzicht auf eine kohärente Sinnkonstruktion. Mit Blick auf die Darstellungsebene tritt an die Stelle einer linearen Handlungsabfolge eine Aneinanderreihung fragmentarischer Einzelepisoden, die häufig multiperspektivisch angelegt sind.668

4.1

Anmerkungen zum Adoleszenzroman in der DDR

Es stellt sich die Frage, wie bzw. ob das Phänomen einer modernen bürgerlichen Adoleszenz wie es sich im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung etabliert hat – und nach 1945 auch für westliche Gesellschaften bestimmend war – in einem selektiven Bildungsmoratorium, das für die DDR angesetzt werden kann, möglich ist. Im modernen bürgerlichen Sinne geht es bei der Adoleszenz nicht zuletzt um die Identitätssuche und das Streben nach Autonomie. Gansel weist auf die Schwierigkeiten hin, denen Adoleszente bei ihrer Entwicklung im Alltag der DDR mit seinen vorgegebenen schulischen und beruflichen Laufbahnmöglichkeiten und seinem geordneten Übergang von Ausbildung zur Arbeitswelt begegnen. Unabhängig von der räumlichen Verortung geht es in der Adoleszenz um Grenzüberschreitungen, Tabubrüche und auch um ein Handeln außerhalb gesellschaftspolitischer Konventionen, das mit dem Ziel verknüpft ist, Selbstverortungsmöglichkeiten auf die Spur zu kommen.669 Vor diesem Hintergrund stellt Gansel die Frage, inwiefern moderne Adoleszenzformen und die damit verknüpften »vielfältigen Entscheidungs- und Individualisierungsmöglichkeiten«670 Eingang ins Symbolsystem Literatur, also die Texte, finden können. 666 667 668 669 670

Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 332. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 192. Gansel, Von der Einpassung über den Protest. 2000, S. 273.

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Zum Adoleszenzroman

Im Zuge der Adoleszenz übernimmt das Individuum üblicherweise eine avantgardistische Haltung und setzt sich dafür ein, »die angeblich gesicherten Bestände der Tradition auf neue Weise zu sehen«671. Die Relativierung der tradierten Wert- und Normvorstellungen ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit überkommenen Werten und Vorgaben und die Entstehung von Neuem. Vor diesem Hintergrund geht es im Folgenden darum, die Besonderheit des Adoleszenzromans in der DDR und seiner Entwicklung anzudeuten. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass in der Bundesrepublik Deutschland erst gegen Ende der 1980er Jahre das Phänomen der Adoleszenz in den Fokus der (literatur)wissenschaftlichen Forschung gerückt ist.672 Deswegen ist es nachvollziehbar, dass Texte, in denen das Phänomen Adoleszenz zur Darstellung kam – wenn überhaupt – unter dem Signum ›Jugend‹ diskutiert wurden. Erst seit den 1990er Jahren sind Texte, in denen der Darstellung von Adoleszenz eine systemprägende Rolle zukommt, als Adoleszenzromane bezeichnet worden.673 Von daher ist es verständlich, dass eine Auseinandersetzung mit der Darstellung von Adoleszenz in der DDR zu einem früheren Zeitpunkt schlichtweg nicht hat erfolgen können – bekanntlich wurde das Ende der DDR 1989/90 mit dem Grundlagenvertrag besiegelt. Der erste nennenswerte Beitrag zum Adoleszenzroman in der DDR ist erst 1994 erschienen. Ausgehend von dem historisch-politischen Kontext nimmt Gansel eine Analyse von literarischen Texten vor, die in der DDR entstanden sind und sich, wie er zeigt, mit maßgeblichen Einschnitten in der gesellschaftspolitischen Entwicklung in Zusammenhang bringen lassen.674 Er stellt heraus, dass wichtige Texte wie Uwe Johnsons Ingrid Babendererde (1985), Fritz Rudolf Fries’ Der Weg nach Oobliadooh (1966) und Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1973) als Adoleszenzromane gelesen werden können. Die jugendliche Stilisierung erfolgt darin vor allem über Äußerlichkeiten, die eine wiederkehrende Form des jugendlichen Protestes darstellen. Auch stellt Gansel das Potential der Texte heraus, das sich nicht in der Kritik an Äußerlichkeiten erschöpft, sondern sich aus dem Verhandeln der Diskrepanz zwischen der real-sozialistischen Wirklichkeit und den Visionen und Zukunftsversprechen der DDR-Anfangsjahre ergibt.675 Exemplarisch erzählt Volker Brauns Unvollendete Geschichte (1977) von den tabuisierten 671 Erdheim, Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. 1996, S. 86. 672 Vgl. Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. 2004, S. 130–149. 673 Vgl. ebd.; Ewers, Der Adoleszenzroman als jugendliterarisches Erzählmuster. 1992, S. 291– 297; Gansel, Stationen der Zerwicklung. 1994, S. 80–92; Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 366f.; Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 6ff.; Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 327ff. 674 Vgl. Gansel, Stationen der Zerwicklung. 1994, S. 80–92. 675 Vgl. ebd., S. 87.

Anmerkungen zum Adoleszenzroman in der DDR

141

Paradoxien der DDR-Gesellschaft und erteilt der »Reduktion der literarischen Darstellung auf äußerliche Widersprüche eine Absage«676. Gansel zeichnet am Text nach, wie die Protagonistin Karin unter den Eingriffen einer von ihr bejahten sozialistischen Gesellschaft leidet. Die Figur distanziert sich von der Haltung Edgar Wibeaus, der sich, so Karins Kritik, lediglich an Äußerlichkeiten abarbeitet, statt an den Kern der Paradoxien zu gehen. Es sind, so Gansel, insbesondere die an den Staat glaubenden Heranwachsenden, die von den politischen Repräsentanten in existenzielle Krisen getrieben werden.677 In einem späteren Beitrag macht Gansel die von Dieter Schlenstedt Ende der 1970er Jahre entworfene Vorgangsfigur für die Modellierung der literarischen Darstellung von Jugend bzw. Adoleszenz produktiv.678 Vorgangsfiguren bezeichnen nach Schlenstedt wiederkehrende »zeittypische Bündel von literarischen Gestalten«679, bei denen »Grundsituationen, Konfliktanlagen, Motivketten«680, Figurenkonstellationen und »Strukturierungen von Darstellungswelten«681 wiederholt in einem Zusammenhang auftreten. Gansel hebt die Funktion der Prozessgestalten heraus, die »charakteristische Linien eines bestimmten Reflexionsstandes von Literatur«682 verdeutlichen und damit Auskunft über den »Stand von Modernisierung sowie [über den] Zustand des ›gesellschaftlichen Bewusstseins‹«683 geben. Die wiederkehrenden literarischen Figurationen lassen Rückschlüsse auf die Rolle von Jugend in der DDR von ihrer Gründung bis zum Mauerfall zu. Auf diese Weise zeigt er, dass die Jugendlichen der Gründer- und der Aufbau-Generation, die sich mit der Idee eines neuen Staates identifizieren, sehr früh die Möglichkeit erhalten, die gesellschaftliche Entwicklung mitzugestalten und in wichtigen Funktionen Verantwortung zu übernehmen. Darüber hinaus arbeitet Gansel am Beispiel von Irmtraud Morgners Rumba auf einen Herbst (1992) und Fritz Rudolf Fries’ Der Weg nach Oobliadooh heraus, wie die junge Generation ab Mitte der 1960er Jahre die Übernahme vorgegebener ideologischer Direktiven ablehnt und nach eigenen Möglichkeitsräumen, in denen sie ihre Kreativität entfalten und ihre Individuation erproben kann, verlangt.684 Im Zuge der gesellschaftspolitischen Entwicklung in den 1970er Jahren präsentiert sich die Jugend in den literarischen Texten vielfach »als Avantgarde einer sozialen, politi676 677 678 679 680 681 682 683 684

Ebd. Vgl. ebd., S. 87ff. Vgl. Gansel, Von der Einpassung über den Protest. 2000, S. 267–290. Schlenstedt, Dieter: Wirkungsästhetische Analysen: Poetologie und Prosa in der neueren DDR-Literatur. Berlin (Ost): Akademie-Verlag 1979, S. 156. Ebd., S. 155. Ebd., S. 150. Gansel, Von der Einpassung über den Protest. 2000, S. 274; vgl. auch Schlenstedt, Wirkungsästhetische Analysen. 1979, S. 156. Ebd. Vgl. Gansel, Von der Einpassung über den Protest. 2000, S. 280.

142

Zum Adoleszenzroman

schen, kulturellen Evolution«685 und rebelliert gegen das Establishment. In diesem Kontext betont Gansel den Stellenwert von Ulrich Plenzdorfs Roman Die neuen Leiden des jungen W. als Kultbuch, das sowohl in West- als auch in Ostdeutschland intensiv rezipiert worden ist, weil der Text »gewissermaßen systemübergreifend[e] Gemeinsamkeiten eines jugendlichen Lebensgefühls«686 zum Ausdruck bringt. Die Niederschlagung des Prager Frühlings wurde, so Gansel, als ein eindeutiges Signal gegen jegliche Reformbestrebungen des real-sozialistischen Systems wahrgenommen. Ab diesem Zeitpunkt ist in der Literatur kein Platz mehr für Grenzüberschreitungen und Normbrüche; die jugendlichen Protagonisten werden politischer, ernster und hoffnungsloser dargestellt, so Gansel.687 Jugendliche erleben den Widerspruch zwischen der real-sozialistischen Wirklichkeit und den sozialistischen Visionen als eine zunehmende Entfremdung, die »einen desillusionierenden Bewußtwerdungsprozeß in Gang [setzt]«688. Am Beispiel von Thomas Brussigs Debütroman Wasserfarben (1991) zeigt Gansel sodann, wie der Riss zwischen den Generationen unüberbrückbar wird, da sich die Jugendlichen nicht mehr mit den Leitbildern der älteren Generationen identifizieren können. Allerdings gibt es auch Teile der jungen Generation, die auf eine Auseinandersetzung mit den staatlichen Instanzen verzichten, da sie sich vom Gesellschaftsmodell der DDR innerlich bereits verabschiedet haben.689 Hinsichtlich der Entwicklung des Adoleszenzromans in den 1990er Jahren differenziert Kaulen drei typische Grundmuster des Adoleszenzromans.690 DDR-Autoren greifen für die literarische Konfiguration von Jugenderlebnissen, so Kaulen, auf das Muster des klassischen Adoleszenzromans zurück. Das Muster der Schulromane der Jahrhundertwende bleibe zugunsten einer plausiblen Darstellung von Jugenderfahrungen in der DDR gültig, insbesondere, »um die psychologischen Konflikte des non-konformistischen Adoleszenten«691 darzustellen: »Man kann ihnen jedoch dort eine historische Plausibilität nicht absprechen, […] wo es, wie in einigen Adoleszenzromanen aus der ehemaligen DDR, um die Aufarbeitung von Jugenderlebnissen geht, bei der junge Menschen schon aufgrund vergleichsweise ge-

685 686 687 688 689 690

Ebd., S. 282. Ebd., S. 281. Ebd., S. 284. Ebd., S. 286. Vgl. ebd., S. 289. Vgl. die dreigliedrige Typologie: der klassische, moderne und postmoderne Adoleszenzroman. 691 Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 328.

Anmerkungen zum Adoleszenzroman in der DDR

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ringer Normabweichungen in Konfrontation mit einer übermächtigen Staatsmacht geraten.«692

Am Beispiel von Jurij Kochs Augenoperation (1988), Cordt Berneburgers Wasserfarben (1991) und Christoph Heins Von allem Anfang an (1997) verdeutlicht Kaulen, wie DDR-Autoren ab dem Ende der 1980er Jahre auf strukturelle Elemente des klassischen Adoleszenzromans zurückgreifen, um Jugenderlebnisse in der DDR darzustellen: erstens die Schule als Handlungsort, an dem Individualität und Selbstständigkeit unerwünscht sind, zweitens die Konfrontation der männlichen Helden mit Autoritätsinstanzen, die den traditionellen Werten eines repressiven Autoritätssystems verpflichtet sind, drittens die Infragestellung der Schulinstanz durch junge Protagonisten und viertens das konfliktbehaftete Generationenverhältnis.693 Neben den Zugängen, die Gansel und Kaulen wählen, gibt es weitere Entwicklungen in der Erforschung des Adoleszenzromans in der DDR. In diesem Kontext zeichnet Heidi Strobel den Wandel der DDR-Jugend über vierzig Jahre hinweg nach, wobei sie vor allem den jugendlichen Wunsch nach Selbstbestimmung sowie dessen literarisch-ästhetische Aufarbeitung in den Fokus nimmt. Sie bestimmt drei historische Zäsuren, anhand der sie Entwicklungsphasen ableitet: die Jugend in den 1960er Jahren, die Jugend vor und nach dem 11. ZK-Plenum und die Jugend in den 1980er Jahren.694 Die in diesem Kontext relevante Aufbauphase der DDR berücksichtigt Strobel nicht. Für die genannten Phasen erstellt sie Textanalysen unter anderem von Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag (1961), Ulrich Plenzdorfs Die Leiden des neuen jungen W. (1973) und Gunter Preuß’ Tschomolungma (1981). Es sind mithin Texte, die als exemplarisch für die jeweilige Zeitphase gelten und den Wandel der literarischen Ausprägungen von Jugend und Adoleszenz in der DDR-Literatur skizzieren. Auch Florian Urschel-Sochaczewski geht in seiner 2017 veröffentlichten Dissertation der Frage nach, wie sich »[d]er Adoleszenzdiskurs in der DDR« gestaltet.695 Allerdings erscheint diese Themenstellung insofern problematisch, als das Phänomen Adoleszenz erst in den 1990er Jahren zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Verständigung geworden ist. Auch unter Berücksichtigug der Positionen von Michael Titzmann, der den Diskurs als »ein System des Denkens und Argumentierens«696 definiert, das durch einen »gemeinsamen 692 693 694 695 696

Ebd., S. 328. Vgl. ebd., S. 329. Vgl. Strobel, Von der geplanten Persönlichkeit zur Suche nach dem Selbst. 2004, S. 114–129. Vgl. Urschel-Sochaczewski, Der Adoleszenzdiskurs in der DDR. 2017, S. 9. Titzmann, Michael: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem: Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. Bd. 99, H. 1 (1989), S. 47–61, hier: S. 51. Den Hinweis auf Titzmanns Bestimmung des Diskurses verdanke ich Carsten Gansel, vgl. Gansel, Carsten: Systemtheorie und Kinder- und

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Zum Adoleszenzroman

Redegegenstand«697, durch »Regularitäten der Rede über diesen Gegenstand«698 und durch interkursive »Relationen zu anderen Diskursen«699 bestimmt wird, kann von einem ›Adoleszenzdiskurs‹ in der DDR schlichtweg nicht die Rede sein. Zwar lässt sich das Potential von Literatur für die »ästhetische Codierung von Sachverhalten«700, wie Hartmut Böhme notiert, als »ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften«701 verstehen, gleichwohl erscheint die Annahme von Urschel-Sochaczewski, man könne »literarische Texte als die einzige Darstellungsform [betrachten], die sowohl der Adoleszenz und ihren Wirrnissen gerecht wird als auch angemessen gründlich ausgewertet werden kann«702, fraglich. Vielmehr geht es darum, einen »transdisziplinäre[n]«703 Ansatz nutzbar zu machen, um das Phänomen der Adoleszenz zu erfassen. Weiterhin lässt die von Urschel-Sochaczewski vorgenommene Betrachtung der Wirkung von Adoleszenztexten in Hinblick auf die Rezeption durch jugendliche Leser wichtige literarische Aspekte außer Acht und bezieht die vorliegenden Entwicklungen der literarischen Adoleszenzforschung nicht ein.704 Es ist festzuhalten, dass moderne Adoleszenztexte, die jugendspezifische Themen verhandeln, in ihrer Gestaltung keine ausdrückliche Zielgruppenliteratur sind, sondern sich »durch einen offenen Leserbezug aus[zeichnen]«705. Mit seiner Arbeit liefert Urschel-Sochaczewski eine breit gefächerte Darstellung der gesellschaftspolitischen Hintergründe mit Einblicken in die soziologische Adoleszenzforschung und das kulturelle Feld der DDR. Neben der Literatur berücksichtigt er die Medien Film und Fernsehen, wobei er herauszuarbeiten sucht, inwiefern die Kunstwerke verhandeln, welche Ausprägungen von Adoleszenz in

697 698 699 700 701 702 703

704 705

Jugendliteraturforschung. In: Ewers, Hans-Heino [u. a.] (Hg.): Kinder- und Jugendliteraturforschung 1994/95. Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, S. 25–43, hier: S. 27. Titzmann, Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. 1989, S. 51. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Böhme, Hartmut: Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. 42. Jahrgang 1998, S. 476–485, hier: S. 480. Ebd. Urschel-Sochaczewski, Der Adoleszenzdiskurs in der DDR. 2017, S. 61. Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. 2004, S. 130f. Es wurde bereits im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Schnittstellen-Phänomens der Adoleszenz herausgerarbeitet, wie wichtig die Berücksichtigung medizinischer, anthropologischer, soziologischer, psychologischer, [ethno]psychoanalytischer, entwicklungstheoretischer, erziehungswissenschaftlicher, pädagogischer, kulturwissenschaftlicher sowie generations- und genderspezifischer Aspekte ist, um das Phänomen der Adoleszenz zu erfassen. Vgl. hierzu Kapitel 2.1 Zur Begriffsbestimmung von Adoleszenz. Vgl. Urschel-Sochaczewski, Der Adoleszenzdiskurs in der DDR. 2017, S. 65. Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 172; Kaulen spricht in diesem Kontext von einer Auflösung des Adressatenkonzepts, vgl. Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 6.

Zu Aspekten der Adoleszenzdarstellung in der DDR vor der Wende – Exkurs

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der außerfiktionalen Wirklichkeit abgelehnt, geduldet oder gefördert werden. Hinsichtlich des literarischen Feldes lässt sich Folgendes festhalten: Der von Urschel-Sochaczewski formulierte Anspruch, formale und inhaltliche Aspekte bei der Analyse literarischer Texte zu berücksichtigen, um »DDR-spezifische Ausprägungen von Adoleszenz [in literarischen Texten] nachzuweisen«706, wird nicht eingelöst: Zum einen erlaubt die geringe Anzahl von untersuchten Texten keine differenzierte Darstellung, zum anderen liefert die knappe Beschreibung der ausgewählten Texte wie Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag (1961), Günter Görlichs Den Wolken ein Stück näher (1971) und Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1973) keine neuen Erkenntnisse, sondern wiederholt bereits an anderer Stelle Festgehaltenes. Erschwerend kommt hinzu, dass eine systematisch vorgehende Erzählanalyse nur in Ansätzen geleistet wird. Mit knappen Aussagen zum Inhalt ist es schwerlich möglich, literarische Texte analytisch aufzuschließen. Abschließend lässt sich konstatieren, dass eine monographische Studie zur Darstellung von Adoleszenz in der DDR-Literatur nach wie vor nicht vorliegt und die Frage nach den DDR-spezifischen Ausprägungen von Adoleszenz weiterhin ein Forschungsdesiderat darstellt. An diese Beobachtung anknüpfend, wird im Folgenden nur exemplarisch gezeigt, welche Adoleszenzfacetten bereits in der DDR-Literatur erfasst worden sind. Dieser Einblick zielt darauf ab, einen kontrastierenden Vergleich mit literarischen Darstellungen von Adoleszenz, die nach der Wende erschienen sind, zu ermöglichen.

4.2

Zu Aspekten der Adoleszenzdarstellung in der DDR vor der Wende – Exkurs

In den 1970er Jahren geraten das sozialistische Gesellschaftsmodell und die damit verbundenen Wertvorstellungen innerhalb der DDR deutlich in die Kritik und verlieren unter den Jugendlichen bezüglich ihrer sinnstiftenden Funktion für die Identitätsentwicklung an Bedeutung. Sukzessive lässt sich eine Distanzierung und politische Entfremdung der neuen Generationen beobachten. Das für die Lebensphase der Adoleszenz kennzeichnende dynamische Verhältnis von Tradierung alter Kulturgüter und Innovation steht besonders unter Beobachtung, denn die sogenannte Hineingeborene-Generation identifiziert sich kaum noch mit den Lebensthemen der Gründer-Generation und der Aufbau-Generation. Zunehmend kommt es zum Riss zwischen der Gründer- und der Aufbau-Generation und deren Kindern. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen

706 Urschel-Sochaczewski, Der Adoleszenzdiskurs in der DDR. 2017, S. 424.

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Zum Adoleszenzroman

geht es im Folgenden darum, Einblicke in die DDR-Literatur der 1970er Jahre zu gewinnen und an Texten, die sich der Aufbau-Generation und der Funktionierenden Generation zuordnen lassen, exemplarisch zu überprüfen, inwiefern die transgenerationellen Konflikte zum Gegenstand der literarischen Darstellung werden. Ausgehend von Gansels Typologie von Jugendkonfigurationen werden verschiedene Adoleszenzmuster herausgearbeitet.

4.2.1 Rolf Schneider: Die Reise nach Jaroslaw – »Als spontaner Akt kann Durchbrennen ganz hübsch sein, als Lebenshaltung ist es ein bisschen mager.«707 Im Jahr 1974 veröffentlicht Rolf Schneider einen Text, in dem eine weibliche Figur die Außenseiter- und Ausreißerrolle übernimmt. Schneider knüpft an Salingers Adoleszenzroman Der Fänger im Roggen (1951) und Plenzdorfs sozialistische Entwicklungsgeschichte Die neuen Leiden des jungen W. (1972) an, präsentiert jedoch mit der Protagonistin Gittie ein Novum, da bis zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich männliche Jugendliche wie Werther oder Holden Caulfield mit ihrem Leiden an der Welt und ihrer Rebellion gegen diese im Zentrum der Darstellung gestanden haben. Rückblickend und chronologisch erzählt die Ich-Erzählerin ihre eigene Geschichte. Die zeitliche Ordnung wird jedoch von zahlreichen Analepsen durchbrochen, in denen die Hauptfigur über vergangene Erfahrungen berichtet. Das Erinnerte wird auf der Gegenwartsebene teilweise kommentiert. Durch den Wechsel zwischen der Vergangenheits- und der Gegenwartsebene entsteht eine komplex verwobene Erzählstruktur, wobei das Spannungsverhältnis zwischen erzählendem und erlebendem Ich funktionalisiert wird, um eine (selbst)kritische Reflexion über das Verhalten und die Entwicklung der Erzählerin zu gestalten. Die Handlung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Da die Schülerin Gittie nach Beendigung der Oberschule keinen Abiturplatz erhält, fühlt sie sich ungerecht behandelt. Nach einem Streit mit ihrem Vater verlässt sie ihr Zuhause und begibt sich auf eine Reise nach Jaroslaw, der Geburtsstadt ihrer Großmutter. An der polnischen Grenze lernt sie Jan Ziebinski kennen, einen polnischen Architekturstudenten. Zusammen trampen sie durch Nordostdeutschland und Polen und begegnen unterschiedlichen Charakteren. Nach vier Wochen kehrt Gittie nach Berlin zurück und nimmt trotz nagender Zweifel einen Ausbildungsplatz als Hotelkauffrau, den die Eltern für sie organisiert haben, an.

707 Schneider, Rolf: Die Reise nach Jaroslaw. Rostock: Hirnstoff Verlag 1974, S. 218 [im Folgenden unter der Sigle »RJ« mit Seitenzahl im Text].

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4.2.1.1 Zum Generationskonflikt Die im Text dargestellte Jugendkonfiguration entspricht eher dem von Carsten Gansel erarbeiteten Modell 3, bei dem die adoleszente Figur »zu Gegenspielern der etablierten älteren Generation«708 wird. Der Konflikt mit den Eltern und die Notwendigkeit, sich im Zuge der Adoleszenz von diesen abzugrenzen, tritt in den Vordergrund. Bereits zu Beginn des Textes markiert die Protagonistin eine Distanz zu ihren Eltern, als sie diese dem Leser bloß widerwillig vorstellt. Ihre Entfremdung vom Elternhaus wird etwa durch den Sprachgebrauch – sie bezeichnet die Eltern als »Greise« (RJ, 8) – zum Ausdruck gebracht. Weiterhin wird der Riss zwischen den Generationen durch Kommentare und Wertungen der Ich-Erzählerin hervorgehoben. Beispielsweise kommentiert sie das Übergewicht der Mutter und ihre Sauna-Gewohnheit in der folgenden abwertenden Weise: »Ich finde nicht, daß sich das Schwitzen bei ihr lohnt.« (RJ, 8) Ebenso despektierlich bezeichnet sie das von der Mutter zubereitete Essen als »Fraß« (RJ, 19). Gesamtheitlich betrachtet werden die Eltern als angepasste Akademiker präsentiert, die sich durch ihr Karrierebewusstsein und opportunistisches Verhalten auszeichnen (vgl. RJ, 9). Die Protagonistin wird von der Oma großgezogen und von deren Wertvorstellungen wie Offenheit und Echtheit geprägt, die dem Wertesystem der Eltern diametral entgegengesetzt sind. Die erste Krise erlebt die Protagonistin daher auch mit dem Tod der geliebten Großmutter und der Unfähigkeit des Vaters, eine angemessene Beerdigung zu organisieren. Die emotionale Störung wird aus der Sicht der Ich-Erzählerin als ein »Kneks« (RJ, 18) beschrieben. Im Grunde handelt es sich bei dem Todesfall um eine intensivere Störung, von der sich »niemand einen Begriff machen kann.« (RJ, 17) Die Krise zwischen Gittie und ihren Eltern verschärft sich mit dem Umzug der Familie in eine kleinere Wohnung, in der auch das Sofa von Oma Hela keinen Platz mehr hat. Die Tochter, die ihre Eltern für die Entscheidung des Umzugs verantwortlich macht, vermutet: »Unsere prima alte Wohnung mit Küche direkt überm Magistratsschirm war ihnen vermutlich nicht mehr fein genug.« (RJ, 18) Die Mutter-Tochter-Beziehung wird nach dem Tod der Großmutter auf die Probe gestellt, da die Mutter sich beurlauben lässt, um die Tochter in der schwierigen Phase des Übergangs zu unterstützen. Diese gut gemeinte Entscheidung entpuppt sich für beide als zusätzliche Belastung und offenbart tiefgehende Kommunikationsschwierigkeiten (vgl. RJ, 18f.). Dass Heranwachsende das Bedürfnis verspüren, sich von ihren Eltern abzugrenzen, ist für die Phase der Adoleszenz kennzeichnend.709 Aus der Perspektive der Ich-Erzählerin wird so708 Gansel, Carsten: Von der Einpassung über den Protest. 2000, S. 279f. 709 Die Modifizierung der Eltern-Kind-Bindung ist in der Regel mit der Notwendigkeit einer Generationsdifferenz verknüpft, die eine eigene Selbstverortung der Heranwachsenden ermöglicht. Vgl. King, Kultur, Familie und Adoleszenz. 2011, S. 78.

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dann ausführlich beschrieben, wie sich die Eltern in einer materialistischen vereinheitlichten Welt einrichten, in der keine Individualität zu existieren scheint. So beziehen die Eltern etwa eine Datsche, die wie alle Gartenlauben in der Siedlung aussieht, oder sparen für ein zweites Auto, weil sie sich nicht auf eine gemeinsame Fahrt verständigen können. Derweil gewinnt die Protagonistin eine gewisse Autonomie, trifft sich in ihrer Freizeit etwa in der Disco mit Gleichaltrigen. Durch die Musik von Django Reinhard, Frank Zappa und Simon & Garfunkel und ihr äußeres Auftreten grenzen sich Gittie und ihre Freunde von den Erwachsenen ab.710 Es sind nicht zuletzt ihre Kleidung, die Jeans, und ihre langen Haare (vgl. RJ, 30, 60), denen zur Markierung der Generationsdifferenz wichtige Symbolkraft zukommt. Der Monotonie der Gartenhaussiedlung wird der Aufenthalt in einem baufälligen Laden vorgezogen, in dem sich Gittie mit alternativen linksorientierten Jugendlichen trifft und ihre ersten sexuellen Erfahrungen sammelt.711 Das erste Gegenmodell zur obsoleten Welt der Greise stellt der bolivianische Student Carlos dar, der im Geiste Che Guevaras und des kolumbianischen Befreiungstheologen Camilo Torres ein alternatives Leben in Ostberlin führt. Gitties Sympathie für dessen freie Lebensart offenbart sich wie folgt: »Was mich betrifft, so hing ich oft ganze Nachmittage und Abende in dem Laden herum. Die Jungs lasen und hörten Radio und tranken Bier. Sie waren fabelhaft arm. Die Art, wie sie lebten, war auf eine ganz umwerfende Weise cool.« (RJ, 33) [Hervorh. im Original]

Mit ihrer Beziehung kann sich die Adoleszente als autonome sexuelle Person erleben und beginnt im Sinne Erdheims, den Übergang »von der Ordnung der Familie zur Ordnung der Kultur«712 zu gestalten. Auf dem Weg der eigenen Identitätsfindung erhält sie dadurch Zugang zu einem alternativen Identifikationsmodell. Carlos repräsentiert mit seiner Herkunft aus Bolivien, der Migration nach Europa, dem abgebrochenen Studium in Paris und München, der Übersiedlung in die DDR und dem radikal alternativen Leben in Ost-Berlin – mithin seiner Bastel-Biografie – ein Gegenmodell zum üblichen Ablauf der Individuation im selektiven Übergangsmoratorium der DDR. Das abrupte Ende 710 Die Abgrenzung von den Eltern wird durch die räumliche Figuration konstruiert. Der Rückgriff auf räumliche Oppositionen (Datsche vs. Disco, Datsche vs. baufälliger Laden) dient zur literarischen Konfiguration der adoleszenztypischen Abgrenzungsmomente. In diesem Kontext fungieren die Disco und der baufällige Laden als Orte des Moratoriums. Für die Protagonistin eröffnen sie einen sogenannten erweiterten Raum außerhalb der üblichen (Raum)ordnung. 711 Die Darstellung der Sexualität wird nur angedeutet, nimmt aber keinen nennenswerten Platz in der Darstellung ein, wie die Protagonistin mitteilt: »Ich hatte bis dahin überhaupt keine Erfahrungen mit Sex. Ich wußte, was Sex war, und der Gedanke an Sex hatte mich manchmal beschäftigt, schließlich war ich siebzehn. Ich könnte nicht sagen, daß Sex die Welt ist, aber ich räume ein, daß er einfach dazu gehört.« (RJ, 33) 712 Erdheim, Adoleszenzkrise und institutionelle Systeme. 1998, S. 17.

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der Beziehung durch Carlos’ Rückkehr nach Bolivien, der abreist, ohne sich von Gittie zu verabschieden, erzeugt nach dem Tod ihrer ersten Bindungsperson eine weitere emotionale Irritation. Die Protagonistin versucht Abstand von diesem Erlebnis zu gewinnen, indem sie einen Brief und ein Foto von Carlos zerreißt und verbrennt. Durch den Abriss des baufälligen Hauses, das den Jugendlichen als Rückzugsort diente, wird die Rückkehr zu jener alternativen Welt verunmöglicht und anschaulich inszeniert (vgl. RJ, 35). Ein weiteres Identifikationsangebot erhält die Protagonistin durch die Lektüre von Hemingways Text Wem die Stunde schlägt. Die Protagonistin deutet an, welche emotionalen Auswirkungen die Lektüre bei ihr entfaltet: »Ich habe das Buch mindestens sechs-, siebenmal gelesen. Eine glatte Übertreibung, wenn ich jetzt sagen würde, bei dem Buch hätte ich einen Kneks gehabt, aber es war so was Ähnliches.« (RJ, 28) Augenscheinlich fungiert das Eintauchen in die von Hemingway inszenierte Welt dazu, sich von den Eltern abzugrenzen. Obwohl sie das Buch in einem zerlesenen Zustand im Regal ihrer Eltern findet, geht sie davon aus, dass sie »das Buch nie in den Fingern gehabt [haben]. […] Das Buch war einfach nichts für Greise, sachlich.« (RJ, 27) Der literarische Text mit der Identifikationsfigur namens Jordan erzählt von der Verantwortung, die jeder einzelne in einer Gemeinschaft trägt und gibt der Ausbildung eines eigenen Wertesystems der Protagonistin neue Impulse. In der Öffentlichkeit sucht Gittie nach Aufmerksamkeit und erzeugt bereits mit ihren vierzehn Jahren Abgrenzungsmomente. So etwa, wenn sie zusammen mit ihrer Freundin Rosi und anderen Jugendlichen an dem »Ef-De-Jot-Kulturklub« (RJ, 21) ihrer Schule mitwirkt und auf einem buntbemalten LKW »an alle[n] möglichen Kreuzungen von Prenzlauer Berg« (RJ, 22) als Sängerin auftritt. Bei ihren Auftritten greifen sie auf Ernst Busch und klassische Lieder der Bürgerrechts- und Gewerkschaftsbewegung wie Whe shall overcome und Guantanamera zurück. Sie komponieren jedoch auch eigene Songs, in denen sie weltpolitische (Stör)Ereignisse wie den Vietnamkrieg, die Internierungslager während der griechischen Diktatur, die rassistische Diskriminierung und Unterdrückung in Südafrika thematisieren. Die Heranwachsenden entwickeln eine aktive politische Haltung und provozieren mit ihrem Engagement unterschiedliche Reaktionen bei den Erwachsenen: »Die Leute hörten uns zu und klatschten oder ärgerten sich und schrien, sie wollten ihre Ruhe. Es war eine ungeheure Sache, was zu tun und zu merken, daß die Leute reagieren.« (RJ, 22) Die Mitwirkung im Kulturklub erfüllt wichtige Funktionen im Rahmen der Entwicklung der Protagonistin. An der Reaktion des Publikums erlebt Gittie bei ihren Auftritten ihre Wirkmächtigkeit, das stärkt ihr Selbstbewusstsein. Gleichzeitig gewinnt sie mit ihren Freunden ein Alleinstellungsmerkmal, womit sie sich von den üblichen FDJ-Klubs abgrenzt: »Es war vollkommen anders als das, was solche Klubs sonst bieten […].« (RJ, 21) Durch den Einsatz von etablierter Musik in

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Verbindung mit eigenen Kreationen erarbeitet sich die Protagonistin in der Interaktion mit Gleichaltrigen ein eigenes Wertesystem – tradierte Kulturformen werden mit Gegenwartsmomenten verknüpft. Mit Rosis Abreise nach Kuba schläft die FDJ-Gruppe ein und Gittie verliert diese wichtige Möglichkeit der Selbstsozialisation. Auf das erneute Verlustmoment reagiert die Ich-Erzählerin mit Bedauern: »Ich weiß nicht, warum die besten Sachen, die wir haben, immer exportiert werden müssen.« (RJ, 23) Eine weitere wichtige Facette der Identitätsentwicklung der Protagonistin stellt ihre schulische Entwicklung dar. Hinsichtlich des Zugangs zum höheren Bildungsabschluss wird Gittie mit bestimmten Regeln konfrontiert, denen die Schule als institutionalisierte Sozialisationsinstanz unterliegt und auch implementiert. Es geht um die Zulassung für die Erweiterte Oberschule (EOS), die stark eingeschränkt ist, wobei die Zusage nicht allein anhand der erbrachten Leistung, sondern auch nach politisch-gesellschaftlichen Vorgaben erfolgt.713 »Arbeiterkinder müßten bevorzugt werden. Jungen wären jedenfalls zu bevorzugen.« (RJ, 25) Da es in der DDR offiziell zu keinem Zeitpunkt eine Bevorzugung männlicher Schüler gegeben hat, wird an dieser Textstelle eine Zuspitzung inszeniert – für Gittie wirkt die Absage hinsichtlich der Delegierung zur EOS als verstörende Erfahrung.714 Aus ihrer Sicht sind sowohl das in der DDR existierende Verständnis von Gleichberechtigung als auch das Recht auf Bildung nicht mit der Absage zu vereinbaren. Die Protagonistin ist sich sicher, eine Diskrepanz zwischen den offiziell verkündeten Maximen und der wirklichen Umsetzung zu erfahren, und ist nicht bereit, dies zu akzeptieren. Auch der Vermittlungsversuch ihres Vaters kann sie nicht davon abbringen. In ihrer Reaktion manifestiert sich bereits früh eine rebellische Haltung, die sich als Kritik am Bildungssystem der DDR verstehen lässt. Zugleich wird sichtbar, dass die Protagonistin ein starkes Rechtsbewusstsein entwickelt und bereit ist, für dieses auch zu kämpfen: »Ich holte alle Schwarten von Stabü, Verfassung und so. Ich zeigte dem Greis den Artikel über Gleichberechtigung. Ich zeigte dem Greis den Artikel mit Recht auf Bildung. Ich 713 Die Abkürzung »EOS« stand für den Terminus »Erweiterte Oberschule«, bei der es sich um die sogenannte ›höhere Schule‹ in der DDR handelte, vergleichbar mit dem Gymnasium in der Bundesrepublik. Bis 1981 wechselten die jeweils leistungsstärksten Schüler nach Absolvierung der 8. Klasse an die EOS, um dort in vier Jahren das Abitur zu machen und die Hochschulreife zu erwerben. Ab 1984 wurde der Zeitraum begrenzt und diejenigen, die Abitur machen sollten, gingen erst nach Abschluss der 10. Klasse an die EOS. Zu beachten ist, dass in der DDR nur um die 17 Prozent der Angehörigen eines Jahrgangs zur Erweiterten Oberschule delegiert wurden. Es spielten bei der Delegierung auch soziale Kriterien eine Rolle, etwa die Herkunft aus der Schicht der Arbeiter und Bauern. 714 Im Rahmen der Gewinnung von männlichen Jugendlichen für die Laufbahn als Offizier der Nationalen Volksarmee (NVA) wurden zu bestimmten Zeitpunkten Jungen, die sich entschieden hatten, Offizier zu werden, bei der Zulassung zum Abitur bevorzugt und gegebenenfalls zusätzlich aufgenommen.

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sagte dem Greis, wenn früher mit Bildungsplanung Mist gemacht worden ist, wäre das nicht meine Schuld und ich sähe nicht ein, warum ich darunter leiden sollte. Ich sagte, ich wollte mein Recht auf Bildung.« (RJ, 25f.)

Doch die Verhandlungen des Vaters mit den Parteivertretern enden so erfolglos wie die Organisation der Beerdigung der Großmutter. Gittie wird vom Vater auf die zehnte Klasse vertröstet. Doch am Ende der zehnten Klasse, als Gittie erneut keine Zulassung für die EOS erhält und sie ihren Eltern vorwirft, sich für die Probleme und Meinungen der Tochter nicht hinreichend zu interessieren, sie auch in ihre Entscheidungen nicht einzubeziehen, eskaliert die Situation: »Ihr habt euch also was ausgedacht. Für mich. Sicher ist das alles prima. Habt ihr euch auch gefragt, ob mir das schmeckt? […] Ich will nicht mehr, […]. Ich habe mich vier Jahre geschunden, aus Langeweile, aus Ehrgeiz, egal, […]. Niemand hat mich gefragt, was mir was ausmacht. Niemand scheint sich zu interessieren, wie ich mich fühle. Ich will nicht mehr.« (RJ, 38)

Die Tatsache, dass der Protagonistin von außen ein Bildungsweg und ein Übergang ins Berufsleben vorgegeben wird, entspricht dem selektiven Bildungsmoratorium in einer selektiv modernisierten DDR-Gesellschaft. In Gitties Fall bedeutet das den Ausschluss von der EOS und die Begrenzung ihres Möglichkeitsraums.715 Diese Vorgaben kann die Protagonistin nicht mehr akzeptieren, weil ihr eine zentrale Form der Selbstbestimmung entzogen wird. Die erneute Ablehnung und das Verhalten der Eltern veranlasst eine starke Irritation, in der Sprache Gitties kann von einem weiteren Kneks gesprochen werden. Vor diesem Hintergrund ist ihr im Text lediglich angedeutetes grenzüberschreitendes Verhalten als Reaktion auf die ungerechte Behandlung und als Ausdruck ihrer Frustration angesichts der DDR-Realität zu werten. Im Nachhinein schätzt die Ich-Erzählerin ihre Reaktion als unangemessen ein: »Ich schrie herum. Ich tobte. Ich weiß nicht mehr genau, was ich geschrien habe, aber jedenfalls war es eine ganze Menge und betraf die Greise und die allgemeinen Umstände und war in der Ausdrucksweise nicht fein. Der Greis federte schließlich aus seinem Sessel und schlug mir ins Gesicht. […] Ich ließ die Tür ins Schloß schmettern.« (RJ, 38)

Der Streit mit dem Vater besiegelt den Bruch mit den Eltern und der bisherigen Lebenssituation. Der entstandene Riss zwischen den Generationen wird durch die Schreie der Tochter, das Zuschlagen und Türenknallen inszeniert. Die Auseinandersetzung mit den Eltern treibt Gittie letztlich dazu, das Elternhaus zu 715 Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker weisen darauf hin, dass in Osteuropa eine eigenständige Sonderform des Bildungsmoratoriums entstanden ist. Behnken und Zinnecker plädieren für den Begriff des »selektive[n] Bildungsmoratoriums«, der auf eine selektive Modernisierung der gesellschaftlichen Struktur zurückgeht. Vgl. Behnken/Zinnecker, Vom Kind zum Jugendlichen. 1991, S. 35f. sowie Kapitel 3. Zur Adoleszenz in der DDR.

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verlassen und sich auf einen Erprobungsraum einzulassen, in dem sie ihre Entwicklung mitbestimmen kann.716 4.2.1.2 Zum adoleszenten Aufbruch oder auf der Suche nach dem Ich Die Reise der Protagonistin lässt sich als Initiationsreise einordnen, bei der das traditionelle Reisemotiv eng mit dem Identitätsfindungsprozess verknüpft ist. Da dieses Moment eine zentrale Stellung in dem Text einnimmt, lässt sich der Roman in Anlehnung an Peter Freese auch als Initiationsreise-Roman einordnen. Das Handlungsgerüst des Initiationsreise-Romans wird durch die Reise eines Protagonisten gebildet. In der Regel gliedert sich der Text in drei Phasen: den Auszug aus der vertrauten Welt, den Aufenthalt in der Fremde und die Rückkehr. Der Protagonist ist ein Jugendlicher, der während der Reise eine wichtige Persönlichkeitsentwicklung auf dem Weg zum Erwachsenwerden durchlebt.717 Seine innere Entwicklung manifestiert sich »als eine äußere Bewegung«718. Ebenso lässt sich Schneiders Text als Road Novel bestimmen. In der Literaturwissenschaft hat sich für Texte dieser Art, bei denen die Straße als wichtiger Handlungsort erscheint, die räumlichen Verschiebungen die narrative Struktur bestimmen und sich durch »eine intermediale Signatur«719 auszeichnen, der Begriff Road Novel etabliert. Hierbei handelt es sich um Romane, »die eine Selbstsuche und -bestimmung der Figuren mit einer (motorisierten) Reisebewegung durch den Raum verkoppeln«720. Anna Stemmann weist in diesem 716 In der literarischen Darstellung des Genres der sozialistischen Entwicklungsgeschichte manifestiert sich in den 1970er Jahren eine Tendenz, nach der die Familie eine größere Rolle als die Partei und die Jugendorganisationen bei der Sozialisation der Heranwachsenden spielt. Vgl. Steinlein/Strobel/Kramer, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. 2006, S. 233. Da Kulturen sich in den literarischen Texten selbst beobachten und selbst thematisieren und literarische Texte »spezifische Formen des individuellen und kollektiven Wahrnehmens von Welt und Reflexion dieser Wahrnehmung« sind, eröffnen sie die Möglichkeit, gesellschaftliche Entwicklungen darzustellen und an der kulturellen Sinnproduktion teilzunehmen. Vosskamp, Wilhelm: Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. 42. Jahrg. 1998, S. 503–507, hier: S. 504. In der Tat erfolgte in der DDR insbesondere ab den 1970er Jahren ein Rückzug ins Private, um der Regulierung des öffentlichen Lebens zu entkommen. Vor diesem Hintergrund genoss die Familie einen hohen Stellenwert unter den Heranwachsenden. Vgl. Kapitel 3.1 Zur Sozialisation in der Familie. 717 Vgl. Freese, Die Initiationsreise. 1971, S. 168, 175. 718 Ebd. S. 156. 719 Stemmann, Räume der Adoleszenz. 2019, S. 34. 720 Ebd. Angelehnt an Ellen Risholm verweist Anna Stemmann auf handlungslogische und konstituierende Elemente des Roadmovies wie die Straße, das Transportmittel, den Raum und die Bewegungen des Vehikels, die mit den Lebensbahnen der Figuren verknüpft sind. Risholm betont, dass es bei Roadmovies um abenteuerliche Handlungen geht, bei denen u. a. Momente der Abweichung markiert werden, vgl. Risholm, Ellen: (Nicht) normale Fahrten

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Kontext auf die Möglichkeit der Genre-Hybridität hin und betont, dass das Reisemotiv vielfach als Baustein in Adoleszenztexte integriert wird.721 Auch Heinrich Kaulen betont die Bedeutung, die der Bewegung für die Entwicklung der adoleszenten Protagonisten zukommt, und beschreibt den symbolischen Sinngehalt des Reisemotivs als Akt der Rebellion bzw. als Bruch mit den bestehenden Verhältnissen.722 Es sind Figuren wie Gittie, die sich entscheiden, sich auf eine Entdeckungsfahrt zu begeben und ihr vertrautes Umfeld zu verlassen, weil sie dessen Einengung nicht länger hinnehmen wollen. Dadurch erschließen sie sich einen adoleszenten Erprobungsraum ohne ideelle und materielle Vorgaben. Auch Gittie wird während ihrer Reise mit verschiedenen Identifikationsangeboten konfrontiert – zum Beispiel in der Begegnung mit Ed, der Hauptfigur aus Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf, mit dem polnischen Architekturstudenten Jan, mit dem Künstler Kazimierz Gerhart oder den katholischen Wertvorstellungen der polnischen Kultur –, die die Protagonistin in einem verkürzten Stadium der Exploration evaluiert und annimmt oder ablehnt. Im Folgenden werden einzelne Etappen und Erlebnisse der Reise und ihre Bedeutung für die Identitätsfindung der Protagonistin genauer erörtert. Schneider lässt die Reise nicht grundlos mit dem 18. Geburtstag der Protagonistin beginnen. Der Eintritt in die Volljährigkeit markiert eine Zäsur in Gitties Leben. Ihre Reise beginnt an einem Frühsommerabend um elf Uhr am Bahnhof Friedrichstraße, es ist ein sogenannter Nicht-Ort, der als sinnentleerter Funktionsraum nicht identitätsstiftend wirkt. Es ist ein Raum der Durchreise bzw. des Transitorischen, in dem die Protagonistin einsam und anonym unterwegs ist.723 Ebenso erhält der Bahnhof als Transit-Ort, als ein Ort der Heimatlosigkeit, einen symbolischen Charakter. Er steht für den Ausbruch und für die damit verknüpfte Erwartung nach Veränderung. Aus der Perspektive der Ich-Erzählerin wird der unheimliche Charakter dieses transitorischen Raums beschrieben: »Abends nach elf kriegt das Hauptgebäude des Bahnhofs Friedrichstraße eindeutig das Aussehen von Geisterbahn. […] [B]ei Neon[licht] sehen alle Leute aus wie Leichen.« (RJ, 40) Neben den dahineilenden Reisenden sind es die sich am Bahnhof aufhaltenden wenig vertrauenerweckenden Figuren, die etwa am Kiosk in der Schlange auf Alkohol warten, die die Stimmung des Schauplatzes bedingen. Eine soziale Interaktion mit ihnen erscheint ihr ausgeUS-amerikanischer und deutscher Road Movies. In: Gerhard, Ute/Grünzweig, Walter [u. a.] (Hg.): (Nicht) normale Fahrten: Faszinationen eines modernen Narrationstyps. Heidelberg: Synchron 2003, S. 107–130, hier: S. 109. 721 Stemmann, Räume der Adoleszenz. 2019, S. 34. 722 Vgl. Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 330, vgl. hierzu auch Steinlein, Adoleszenzliteratur. 2014, S. 16. 723 Zur Funktion der sinnentleerten Funktionsräume, vgl. Augé, Marc: Nicht-Orte. 3. Aufl. München: Verlag C. H. Beck 2012, S. 96, 104.

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schlossen. Die Feindseligkeit des Raumes wird auch durch die Wiedergabe von Sinneseindrücken wie dem Geruch nach »Pissoir« und »nach ganz miesen Zigaretten« (RJ, 40) zum Ausdruck gebracht. In dieser Umgebung kommt es zur ersten Begegnung mit einem Mann. Sie trifft auf die berühmteste Aussteiger-Figur der DDR-Literatur, auf Edgar Wibeau, der unverkennbar mit seinen »erstklassige[n] Bluejeans« (RJ, 41) präsentiert wird. Er bietet Gittie einen Platz in seiner verlassenen Gartenlaube in Lichtenberg an, Gittie erteilt ihm jedoch eine Abfuhr. Edgar Wibeau wird in Schneiders Text die Aura des Genies entzogen, er wird als Suchender unter Suchenden vorgestellt, als gescheiterte Figur umgeben von Gescheiterten, mithin als einer, der »sich für so was wie einen Maler hielt« (RJ, 41). Aus der Perspektive der Ich-Erzählerin wird die Figur als von Beat-Musik besessener Typ präsentiert, der »erst mal lernen [sollte], wie man richtig cool ist.« (RJ, 42) 724 Die räumliche Trennung von ihrem Zuhause geht mit der emotionalen Abwendung von ihrer kindlichen Rolle und der damit verknüpften Bindung an die Eltern einher. Mit ihrem Aufbruch lässt die Protagonistin die Sicherheit und Enge des familiären Umfeldes hinter sich und wagt einen Schritt ins Ungewisse, mithin sucht sie in der Ordnung der Kultur einen neuen Platz für sich. Auf der Reise wird Gittie mit unbekannten Grenzsituationen und Herausforderungen konfrontiert: Da ist erstens die Suche nach einer Unterkunft bzw. einem neuen Schutzraum, zweitens die Begegnung mit alkoholisierten Menschen, drittens das Bedürfnis, sich im familiären Umfeld neu zu verorten und viertens die Gestaltung der gemeinsamen Reisetage mit Jan. Diese Herausforderungen stoßen die emotionale Entwicklung der Protagonistin an, die lernen muss, ihre Unsicherheiten und Ängste auszuhalten. Anhand von Innenansichten wird die schwierige Gefühlslage der Ich-Erzählerin verdeutlicht: »Wenn ich jetzt sage, daß mir trübselig zumute war, so ist das eine ausgesprochene Beschönigung. Ich hätte am liebsten geheult. Ich hätte am liebsten gespien. Ich saß in meiner Heimatstadt Berlin in einer Gegend, in der sich nachts, sommers wie winters, kein vernünftiger Mensch freiwillig auf eine Parkbank setzen wird, und genau entsprechend waren meine Gefühle.« (RJ, 55) 724 In seinem Vorwort der eBook-Ausgabe von 2014 stellt Rolf Schneider beide Aussteigerfiguren in Zusammenhang und begründet die Entstehung des Textes: »Die bisherigen Aussteiger in der schönen Literatur waren durchweg männlichen Geschlechts. Gittie war eine junge Frau.« Die Einbindung der Figur Edgars bezeichnet der Autor als eine »kleine Reverenz«. Die im Text präsentierte Darstellung von Edgar Wibeau als gescheiterte Figur kontrastiert deutlich mit der vom Autor angekündigten Reverenz. Vgl. Schneider, Rolf: Die Reise nach Jaroslaw. eBook-Ausgabe. CulturBooks Verlag 2014. Weitere intertextuelle Referenzen werden im Text angedeutet. Ebenso wie Salingers Hauptfigur Holden Caulfield verkörpert auch Gittie eine Mischung aus Aussteiger- und Rebellionscharakter. Und so wie Holden Caulfield sitzt Gittie des Nachts auf einer Parkbank und beschreibt ihre erdrückenden Gefühle (vgl. RJ, 55).

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Doch erst durch den Verlust der familiären Sicherheit und das Verlassen der vorgezeichneten Bahnen kann die Protagonistin ihren Individuationsprozess gestalten. Es ist für die Phase der Adoleszenz kennzeichnend, dass Gittie erprobte Erfolgswege aufgibt und sich ergebnisoffen auf eine riskante individuelle Selbstfindung einlässt.725 Auf der Suche nach ›ihrem‹ Weg und nach Antworten auf offene Fragen sucht sie Anregungen – zum Beispiel hinsichtlich der Aushandlung ihrer Geschlechterrolle (vgl. RJ, 108) – bei der Lektüre von Hemingways Wem die Stunde schlägt (vgl. RJ, 55f.). Für den Leser wird die Selbstfindung der Protagonistin an bestimmten Handlungen erkennbar. Dazu gehört der Moment des Aufbruchs, der die Abwendung vom familiären Raum darstellt und durch unterschiedliche symbolische Rituale markiert wird. Zum einen geht die Protagonistin zum Friseur und lässt ihre »Loden, die [ihr] mindestens zwei Handbreit über die Schultern reichten« (RJ, 60) kurz »bis auf ungefähr vier Zentimeter« (RJ, 60) schneiden, zum anderen lässt Gittie ihre Kleidung in der Reinigung waschen, um jede Geruchsspur nach dem Elternhaus bzw. »jede Spur von Vergangenheit« (RJ, 63) zu tilgen.726 Die Protagonistin wendet sich auch direkt an den Leser und offenbart ihren Wunsch nach einem Lebenswandel. So heißt es etwa: »Es dürfte inzwischen klargeworden sein, daß ich vorhatte, mich entscheidend zu verändern.« (RJ, 61) Ihre Ablösung von den Eltern stellt die junge wie unsichere Protagonistin immer wieder in Frage. Auch versucht sie, durch eine kurze Rückkehr zum Haus der Eltern ihre Entscheidung zu überprüfen. Dabei beschreibt sie das Haus der Eltern als diegetischen Raum der Gefangenschaft: »Die Treppen waren eng und verwinkelt und hatten dürre Eisengeländer an den Seiten. Irgendwie erinnerte mich der Anblick an Knast, so wie ich ihn aus dem Kino kannte.« (RJ, 61) In dieser beklemmenden Enge kann sie sich nicht entfalten. Gleichwohl verunsichert die Entscheidung zur Abreise Gittie: »Es war plötzlich gar keine Frage, daß ich nach Jaroslaw wollte. […] Aber wie das so ist, ein paar von den blöden Gedanken waren hängengeblieben und fraßen weiter.« (RJ, 73) Insofern ist ihre Entscheidung, die Herkunftsstadt der Großmutter zu besuchen, ein wichtiger Schritt auf der Suche nach einer neuen identitätsstiftenden Umgebung, die ihren Individuationsprozess fördert.727 Aus der Perspektive der Protagonistin eröffnet der Schauplatz Polen die Möglichkeit der symbolischen Begegnung mit ihrer Großmutter und übt folglich eine identitätsstiftende Funktion aus. Gleichzeitig stellt Polen einen kontrastierenden Raum zur DDR dar, der der Protagonistin die Möglichkeit eröffnet, mit anderen 725 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 105. 726 Die Veränderung der Kleidung gehört zu den häufigsten Vorgängen, mit denen die existentielle Änderung des Initiierten symbolisch konkretisiert wird, vgl. Freese, Die Initiationsreise. 1971, S. 155. 727 Zur konstitutiven Funktion von Orten für die Entwicklung einer individuellen Identität, vgl. Augé, Nicht-Orte. 2012, S. 59f.

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Wertvorstellungen in Berührung zu kommen und einen kritischeren Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands zu entwickeln. Aus Gitties Perspektive wird das Moment der Fremde direkt beim Übergang zwischen den Räumen betont, als sie über die polnische Sprache reflektiert: »Es gab eine Menge komischer Häkchen und Punkte und Striche an den Buchstaben, mit denen ich nichts anfangen konnte.« (RJ, 67) In diesem Kontext entwickelt sich die Begegnung mit Jan, einem polnischen Architekturstudenten, an der Grenze zwischen Frankfurt Oder und Slubice zu einem weiteren Moment der Aufstörung bzw. zu einem Schlüsselerlebnis in der Selbstverortung der Protagonistin. Typischerweise reguliert und verzögert der Schwellenraum des Grenzübergangs den Austritt aus einem begrenzten Raum und den mit bestimmten Erwartungen aufgeladenen Eintritt in den neuen Raum. So bildet auch Gitties Grenzübergang nach Polen eine Zäsur, nicht zuletzt, weil es um den Eintritt in ein unbekanntes Umfeld geht. Gesamtheitlich betrachtet symbolisiert der Grenzübergang das Übergangsmoment der Adoleszenz, mithin von Gittie, die auf der Suche nach einer neuen Identität bzw. einem neuen Lebensziel ist.728 Dabei entspricht der innere Transit dem äußerlichen Überqueren jener Brücke über die Oder.729 Schwellenräume wie diese fungieren auch als Verbindungsräume, die Kontakt zu anderen Welten und Menschen ermöglichen, im vorliegenden Fall die Beziehung mit dem Architekturstudenten. Mit Blick auf Gitties Anliegen, in Polen eine neue Identität aufzubauen, kommt Jan eine unterstützende Funktion zu: In ihm findet Gittie den nötigen Rückhalt, um sich in der fremden Umgebung auch ohne die Eltern zurechtzufinden. Diese Entscheidung konditioniert allerdings ihre Bewegung in der Fremde und schränkt die Möglichkeiten des prozessualen Ausprobierens ein. Die Ich-Erzählerin kommentiert: »[Auf dem Weg nach Jaroslaw] brauche ich jemanden, an den ich mich halten kann.« (RJ, 76) Bei ihrer Selbstfindung erfüllt die Begegnung mit Gitties Mutter, als diese auf dem Weg zu einer Tagung ist, ihre Tochter am Straßenrand beim Trampen entdeckt und sie vergeblich zur Rückkehr zu überzeugen versucht, eine wichtige 728 Carsten Gansel verweist im Hinblick auf die Kategorie der Störung auf die Bedeutung der Beschaffenheit des Ortes. Diesbezüglich unterstreicht er die Bedeutung von Räumen, die als Schwelle fungieren, um Störungsmomente zu konstruieren. Vgl. Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 35. Die Begegnung unterschiedlicher Systeme, im vorliegenden Fall die Begegnung Gitties mit Jan, entfaltet eine Veränderung in den jeweiligen Systemen. Am Beispiel der Protagonistin zeigt sich diese Veränderung insofern, als sie sich nach der Begegnung am Grenzübergang neu verortet: Das Ziel ihrer Reise heißt nicht mehr Jaroslaw. Stattdessen geht es darum, den Weg dorthin gemeinsam mit Jan zu gestalten. Die damit verbundenen Unsicherheiten und Zweifel der Protagonistin werden im Text dadurch angedeutet, dass Gittie mehrmals über die Brücke zwischen Deutschland und Polen pendelt (vgl. RJ, 65ff.). 729 Zur Konkretisierung des Übergangs bei dem Initiationsvorgang durch eine Brückenüberschreitung vgl. Freese, Die Initiationsreise. 1971, S. 155.

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Funktion. Das Motiv dieser für Gittie unangenehmen Begegnung ist verbunden mit dem Sujet der Krise und der Verwandlung. Das Gespräch zwischen Mutter und Tochter bestätigt den Riss bzw. die Krise zwischen den Generationen. Die Protagonistin distanziert sich in dem Gespräch von den materialistischen Wertvorstellungen der Eltern und wirft der Mutter vor, sich nicht genügend um sie gekümmert zu haben: »Ihr habt euch immer bloß einen Dreck um mich gekümmert. Ich war euch ungefähr so viel wert wie eure Karriere, eure Autos und eure Datsche.« (RJ, 95) Die Erklärungen der Mutter offenbaren die Schwierigkeit, die Interessen der Aufbau-Generation und der Generation der Hineingeborenen in Einklang zu bringen.730 Gestärkt durch die Präsenz von Jan, lehnt Gittie die Forderung der Mutter, die Reise abzubrechen und nach Hause zu kommen, ab. Gitties Abweisung stellt erneut ein Moment der Selbstverortung dar, mit dem sie die Interessen der Eltern ablehnt und ihrem Wunsch nach einem eigenen Lebensentwurf Ausdruck verleiht. Ihre Reise durch Deutschland und Polen lässt sich metaphorisch als ein Erprobungsraum bzw. im Sinne von Erikson als ein psychosoziales Moratorium verstehen. Inszeniert wird es im transitorischen Moment, das das Bedürfnis der Figur nach biographischer Entwicklung spiegelt. Gittie erprobt sich als autonome Person und sammelt mit Jan wichtige Lebenserfahrungen. Durch ihre Entscheidung für das Trampen nutzt sie eine besondere Form der sozialen Praxis, bei der sie sowohl unterschiedlichen Menschen begegnen als auch sich von einer geregelten Reiseform abwenden kann.731 730 Die Aufbau-Generation, die mit Entbehrungen aufgewachsen ist und sich ihren Wohlstand sukzessiv erarbeiten muss, wird zur ›Trägergeneration‹ der DDR. Viele profitieren von einem sozialistisch geprägten Bildungsaufstieg und übernehmen wie Gitties Mutter wichtige Positionen in der Gesellschaft. Im Gegensatz dazu vertreten die darauffolgenden Generationen andere Werte und Sinnvorstellungen und streben danach, individuelle Lebensentwürfe zu verwirklichen. Sie erleben im Alltäglichen einen zunehmenden Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit. Folglich kommt es teilweise zu konflikthaften Generationsbeziehungen. Vgl. Ahbe/Gries, Geschichte der Generationen in der DDR. 2011, S. 69f. 731 In den 1970er Jahren entstehen in der DDR neben dem Text von Rolf Schneider weitere Texte, in denen Heranwachsende über Stationen einer Auto-Stop-Reise ihr Glück in der Ferne suchen. Genauso wie Gittie versucht etwa Norman Bilat, der Protagonist in Joachim Walthers Ich bin nun mal kein Yogi, durch eine Reise über vier Länder zu sich selbst zu finden. Beide Protagonisten suchen neue Erfahrungen und offenbaren ihre Sehnsucht nach Veränderung und Ausbruch aus dem selektiven Bildungsmoratorium bzw. den vorgegebenen DDR-Laufbahnen: »Ich möchte trampen, sagte ich. […] Keinen Tag am selben Ort! Jeden Tag was Neues sehen. Am Morgen nicht wissen, wo man am Abend schläft. Immer in Bewegung. Selbst bestimmen, wo und wie lange man bleibt, was und wann man ißt, sein eigener Herr sein! […] Eindrücke sammeln und einwecken! Sich nicht hängen lassen, sondern was tun!« Walther, Joachim: Ich bin nun mal kein Yogi. Berlin: Verlag Neues Leben 1975, S. 9. Zum einen proklamieren die Figuren den Wunsch nach Selbstbestimmung und nach Neuem, zum anderen offenbaren sie ihre Bereitschaft, selbst die Initiative zu ergreifen, um ihren Horizont durch neue Eindrücke und Erfahrungen zu erweitern. Beide Protagonisten erproben sich als autonome Figuren außerhalb des abgesicherten und vertrauten Umfelds der Heimat und entwickeln teilweise eine generative Haltung. Die Rückkehr beider

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Zu den Erlebnissen Gitties gehört die Erweiterung ihrer sexuellen Erfahrungen. Genauso wie bei der Beziehung mit Carlos werden sexuelle Momente mit Jan, zum Beispiel ihre intimen Erlebnisse am Strand, lediglich angedeutet: »Bei Hemingway gibt es eine Geschichte, sagte ich, wo ein Mann und ein Mädchen sich in einem Schlafsack lieben. Seit zwei Jahren stelle ich mir vor, wie das ist. Seit heute weiß ich, wie ungeheuer eng das ist.« (RJ, 108) [Hervorh. im Original]

Darüber hinaus umfasst ihr Erproben eine Reihe von adoleszenztypischen grenzüberschreitenden Momenten. Der verbotenen nächtlichen Benutzung von Strandkörben an der Ostsee, begleitet von Alkoholkonsum, folgt eine provokative Haltung gegenüber der Polizei, als Gittie und Jan wegen ihres Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung verhört werden. Zu einer Steigerung der Grenzüberschreitung kommt es, als sie unerlaubt das Polizeirevier verlassen (vgl. RJ, 110ff.). Es handelt sich um sogenannte Transgressionsakte, mit denen sich die Protagonistin von der Welt der Erwachsenen abgrenzt und ihre Identitätsbildung vorantreibt. Durch eine Begegnung mit Jans Vater und einem polnisch-jüdischen NS-Opfer aus Amerika wird Gittie mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands konfrontiert. Das Schicksal des Vaters als Zwangsarbeiter während der Okkupation und die tragische Geschichte des Überlebenden, dessen Familie in Auschwitz starb, wirken verstörend auf die Protagonistin ein und lösen einen tiefgreifenden Reflexionsprozess aus (vgl. RJ, 128f., 138f.). Die daraufhin folgenden Innenweltdarstellungen offenbaren, dass Gittie bereit ist, ihre ichbezogene Haltung aufzugeben und sich mit dem Leiden anderer Menschen auseinanderzusetzen. Auch, weil sie tiefere Einsichten in die Vergangenheit ihres Herkunftslandes gewinnt und sich selbst in die Historie einordnet, vollzieht sie einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden: »Ich kann nur wiederholen, daß es etwas anderes ist, ob man Dinge dieser Art bloß aus Büchern oder in der Schule erfährt oder ob sie einem gewissermaßen lebendig gegenüberstehen. Ich wußte natürlich, daß sie trotzdem ungeheuer vergangen waren, aber sie waren es plötzlich irgendwie auch wieder nicht.« (RJ, 139)

Protagonisten in die Heimat erfolgt auf unterschiedliche Weise. Gittie nimmt die von den Eltern vorgegebene Ausbildungsstelle in dem »stinkfeinen Interhotel Unter den Linden« (RJ, 227) an und beginnt ihre Ausbildung als Hotelkauffrau, obwohl das nicht ihrer Wunschvorstellung entspricht. Diese kann sie jedoch nicht genau definieren, ist aber bereit, sich vorläufig der vorgegebenen Struktur anzupassen – also scheint sie von einer generativen Position noch entfernt zu sein (vgl. RJ, 228). Im Gegensatz dazu kehrt Norman Bilat als eine aufgeklärte selbstbewusste Person von seiner Reise zurück und ist nicht bereit, »lammfriedlich« eine vorgegebene Rolle zu übernehmen: »Ich hatte nicht die Absicht, zu Hause um Vergebung zu bitten oder Reue zu heucheln. […] [I]ch war nicht der bekehrte Ausreißer, der sich streicheln lassen wollte […] Ich habe gelernt. Das ja. Aber mir ist keine Lehre erteilt worden.« Walther, Ich bin nun mal kein Yogi. 1975, S. 164f.

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Die kurze Begegnung mit Jans Vater und dem jüdischen Überlebenden ist ein wichtiger Impuls der Erneuerung, der als Wendepunkt in der Entwicklung der Protagonistin betrachtet werden kann. Gittie entwickelt sowohl eine empathische Haltung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus als auch ein politisches Bewusstsein für die Notwendigkeit der geschichtlichen Erinnerung. In Polen gewinnt sie die Einsicht, dass man »an allen diesen Dingen nicht vorbeikommen« (RJ, 142) kann. Diesbezüglich manifestiert die Protagonistin eine Haltung, anhand der zum einen ihr Wertesystem sichtbar wird und zum anderen implizit ihre Distanz zu der in der DDR erlebten Vergangenheitsbewältigung offenbar wird. Den dadurch entstehenden inneren Konflikt, den die Figur bei der kurzen, aber nachhaltig beeindruckenden Begegnung erkannt hat, formuliert sie so: »Wenn jemand achtzehn Jahre lang nicht darüber nachgedacht hat, sind zwei Tage ein bisschen knapp, plötzlich damit fertig zu werden.« (RJ, 142) Die von der Ich-Erzählerin demonstrierte überlegene Haltung ist zwar mit einer gewissen Reife verbunden, wird aber immer wieder durch Momente der Selbstüberschätzung relativiert. Dabei zeigt sich, dass Gittie noch nicht über eine stabile Identität verfügt und zeitweise in eine kindliche egozentrische Trotzhaltung verfällt (vgl. RJ, 143ff.). Eine weitere Bewährungsprobe auf dem Weg zu einer verantwortungsvollen Position in der Gesellschaft ist ihre kurze Beschäftigung in einer Leichtmetallgießerei. Dort kommt sie mit einer alleinerziehenden Mutter in Kontakt, die für das Überleben ihrer Familie hart arbeitet und für Gittie ein weiteres Identifikationsmodell darstellt. Auf ihrer letzten Station lernt Gittie den Künstler Kazimierz Gerhart kennen, der von seinem Kampf gegen den Faschismus im spanischen Bürgerkrieg, in der französischen Résistance und im Warschauer Untergrund berichtet (vgl. RJ, 175ff.). Kazimierz verkörpert mit seiner engagierten Lebenshaltung und seiner Geschichte ein weiteres Identifikationsangebot für die Protagonistin. Er verzichtet bewusst auf eine Karriere in geplanten Bahnen und auf die Fortsetzung der bürgerlichen Familientradition. Stattdessen setzt er sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken seiner Familie ein und lehnt sich damit gegen die Interessen seines Vaters auf. Ganz bewusst grenzt er sich von der bürgerlichen Welt der Eltern ab und reist mit einem Wanderzirkus, in dem er unterschiedliche Tätigkeiten ausübt, durch verschiedene Länder. Trotz seines Erfolges als international anerkannter Künstler entscheidet er sich in einem idyllischen Bauernhaus in Galizien zu leben, das weder über eine Wasserleitung noch über elektrische Stromzufuhr verfügt. Konsequent schlägt er auch sein Erbe aus und lebt zurückgezogen und bescheiden mitten in der Natur. Als Aussteiger verkörpert er einen Gegenentwurf zu Gitties Eltern und repräsentiert Ideale wie Autonomie, Eigensinn, Weltoffenheit und Unabhängigkeit von materiellen Gütern. Die Faszination der Protagonistin für Kazimierz’ Lebensentwurf und seine Wertvorstellungen beschreibt die Ich-Erzählerin ausführlich. Sein Werk, sein Leben und

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seine Erinnerungen lösen bei ihr ein zwischen Zugewandtheit und Unwohlsein changierendes Gefühl aus. Für ihre persönliche Entwicklung schreibt sie Kazimierz entscheidende Bedeutung zu: »Sie waren Arbeiten von Kazimierz Gerhart. Sie waren Dinge, neben denen ich mich wohl fühlte oder vor denen ich erschrak, ich konnte beides. […] Auf jeden Fall wäre mir irgendwas Entscheidendes verloren gegangen, wenn ich es nie gesehen hätte, sachlich. […] Hinterher saß er auf seinem Ledersofa und spielte Gitarre. Lieder aus Frankreich, Spanien oder Polen. Irgendwelche Lieder. Ich konnte ihm stundenlang zuhören.« (RJ, 183) [Hervorh. d. Verf.]

Mit Kazimierz, der Hemingway in Spanien selbst getroffen hatte, schließt sich für Gittie der Kreis, der in einem Berliner Park mit der Lektüre von Hemingways Wem die Stunde schlägt angefangen hatte. Daraufhin begibt sie sich auf die Rückkehr in ihre Heimat. Die Protagonistin durchläuft während ihrer Reise unterschiedliche Schauplätze und absolviert verschiedene Bewährungsproben auf dem Weg nach Jaroslaw. Ihre Bewegung durch Transiträume wie Bahnhöfe und Landstraßen geht mit einem prozessualen Ausprobieren einher und steht symbolisch für das psychosoziale Moratorium bzw. das transitorische Moment der Adoleszenz, für ein Moment der Heimatlosigkeit und unendlichen Möglichkeiten, die jedoch auch Risiken bergen. Auf ihren Zug- und Busfahrten durchqueren Gittie und Jan zahlreiche Räume, die für die Protagonistin unbedeutend bleiben und im Verständnis von Auge´ keine identitätsstiftenden Spuren hinterlassen (vgl. RJ, 121f.). Der Ort Jaroslaw wird gesamtheitlich betrachtet als ein Sehnsuchtsort präsentiert, der bis zum Ende unerreichbar für die Figur bleibt. Mit ihm verbindet Gittie Kindheitserinnerungen an ihrer Oma Helas. Doch ein Zurück ist für die Heranwachsende nicht mehr möglich. Auch nach ihrer Rückkehr wird der innere Konflikt der Protagonistin anhand einer räumlichen Opposition inszeniert. Die Trostlosigkeit ihres alltäglichen Daseins beschreibt Gittie wie folgt: »obwohl inzwischen eine Menge Zeit vergangen ist, habe ich das Gefühl, daß neuerdings ein Tag ungefähr halb soviel enthält wie irgendeine Stunde in Polen.« (RJ, 227). Dass der Konflikt mit den Eltern weiterhin besteht, wird angedeutet, von der Protagonistin jedoch vorläufig verdrängt. Sie verweist auf »kriegerisch[e]« Gespräche, bezeichnet ihre Eltern zurückhaltend als »meine Leute« (RJ, 227) und betont damit die unüberwindbare Distanz zwischen den Generationen. Die Rückkehr in das alte Leben wird direkt mit ihrer »angegriffenen Gesundheit« (RJ, 227) und einem notwendigen Aufenthalt im Krankenhaus in Verbindung gebracht. Gitties Krankheit bildet die unbewältigten Konflikte ab, mithin den Umstand, dass sie den an sie gerichteten Erwartungen ihres familiären Umfelds und den gesellschaftspolitischen Entscheidungen, die ihr weiteres berufliches Leben bestimmen, nicht gerecht zu werden glaubt. Sie steht am Anfang einer Auseinandersetzung, deren weitere

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Entwicklung offen bleibt.732 Zunächst akzeptiert sie jedoch mit Skepsis die vorgegebene Laufbahn, vor allem, weil sie selbst nicht in der Lage ist, eine eigene berufliche Zukunft zu gestalten: »Ich kann vorläufig kein Wort dazu sagen, was ich von dieser Stelle halten soll. Ich werde sie mir ansehen. Sie ist ganz bestimmt nicht das, was ich mir gewünscht habe. Ich muss zugeben, daß, wenn man mich fragen würde, was ich mir eigentlich gewünscht habe, ich nur eine unklare Antwort geben könnte, aber das hier wäre es jedenfalls nicht.« (RJ, 227f.) [Hervorh. d. Verf.]

Durch den vorläufigen Verzicht auf weitere Auseinandersetzungen mit den Erwartungen der Eltern und mit ihren eigenen Wunschvorstellungen, kommt es zu einem defizitären Identitätsbildungsprozess, dessen Ergebnis offen bleibt. Innerlich distanziert sich die Protagonistin weiterhin von der ihr vorgeschlagenen Normalbiografie. Auch ihre Sehnsucht nach Veränderung bleibt bestehen, manifestiert sich etwa in dem Wunsch, die polnische Sprache, die Muttersprache ihrer Großmutter, zu lernen. 4.2.1.3 Fazit Betrachtet man Die Reise nach Jaroslaw hinsichtlich der typischen Elemente eines Adoleszenzromans, so lässt sich zunächst festhalten, dass der Protagonistin bereits im ersten Teil des Romans ein Recht auf Liebe und Sexualität eingeräumt wird. Auch kann sie ihre Beziehungs- und Intimitätskompetenz auf der Reise nach Polen durch die Beziehung mit Jan weiterentwickeln. Sie erlebt sich sukzessiv als autonome Person außerhalb des familiären Umfelds, gleichwohl ist sie am Ende des Textes von einer generativen Haltung weit entfernt. Neben der sexuellen Reifung geraten vor allem intergenerationelle Konflikte und gesellschaftspolitische Aspekte, wie die Regulierung von Bildungschancen und der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Vordergrund und werden durch Reflexionsmomente der Protagonistin und Dialoge mit Angehörigen und Bekannten zum Gegenstand von Kommunikation gemacht. Außerdem wird im Verlauf des Textes indirekt auf politische Zusammenhänge Bezug genommen, indem die Figuren soziologische Tendenzen der Zeit verkörpern, darunter die Existenz der Doppelzüngigkeit als übergenerationale strategische Haltung (Gittie und die Eltern), die Skepsis gegenüber der Bildungspolitik der DDR (Gittie) oder die Bedeutung westlicher Musik für die Selbstsozialisation der Protagonistin.

732 Kennzeichnend für Adoleszenztexte ist die Gestaltung eines offenen Endes. Auch im vorliegenden Fall ist offen, wie sich die Protagonistin weiter entwickeln wird und ob sie mit der von den Eltern ausgesuchten Ausbildungsstelle glücklich sein wird.

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Auf der Ebene der histoire ist die Auswahl der diegetischen Räume durch deren Funktionalität im Rahmen des unabgeschlossenen Prozesses der Identitätsfindung geprägt. Durch den Rückgriff auf zahlreiche Transitorte rückt Schneider den transitorischen Charakter der adoleszenten Übergangsphase in den Vordergrund. Dem in der Adoleszenzliteratur vielfach anzutreffenden Reisemotiv kommt im Text der Charakter eines Initiationsrituals zu. Durch den Wechsel von ihrer Heimatstadt Berlin nach Polen wird die adoleszente Sehnsucht nach einer Veränderung eingelöst. Die Ablösung von den Eltern erfolgt durch das Verlassen des familiären Raumes und durch das Suchen eines alternativen Sehnsuchtsorts. Durch den ständigen topographischen Wechsel wird Gitties dynamische Suche nach einer Neuorientierung sichtbar gemacht. Die wiederholte pendelartige Bewegung von Deutschland nach Polen und zurück unterstreicht die Orientierungslosigkeit der Protagonistin sowie ihre Entwurzelung. Das Verlassen der vertrauten Umgebung und die Begegnung mit Menschen auf der Reise setzen wichtige Selbstreflexionsprozesse bei der Protagonistin in Gang, die zu ihrer Identitätsfindung beitragen. Die Reise entwickelt sich so zu einem psychosozialen Moratorium bzw. zu einem adoleszenten Erprobungsraum, in dem die Protagonistin zunächst alleine und später zusammen mit Jan Erfahrungen frei von jeglicher Verantwortung sammelt. Fraglich ist, ob das Ausleben ihrer Allmachtsphantasien und Träume ausreichend ist, um zu einem autonomiefähigen Subjekt heranzuwachsen. Denn Gittie scheint nach ihrer Rückkehr nicht in der Lage zu sein, ihre zukünftige Entwicklung selbst zu bestimmen. Dementsprechend kann sie nur für eine begrenzte Zeit aus dem vorgegebenen Entwicklungsplan ausbrechen und weist langfristig wieder eine Normalbiografie auf. Angesichts der vorläufigen Verdrängung des Konflikts mit den Eltern, dem System und der weiterhin bestehenden Fremdbestimmung ihres Schicksals, kann im vorliegenden Fall nach Erdheim von einer eingefrorenen Adoleszenz gesprochen werden: Die Konflikte mit der Familie und den gesellschaftlichen Instanzen werden nicht endgültig ausgetragen, sondern verdrängt, mithin ›eingefroren‹. Die Heranwachsende übernimmt durch ein Ritualisierungsmoment, etwa den Beginn ihrer Ausbildung, eine fremdbestimmte Rolle und gliedert sich vorläufig in die Gesellschaft ein.

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4.2.2 Gerhard Holtz-Baumert: Trampen nach Norden – »Komm gut an, Kumpel, und immer nach StVO«733 Der 1975 erschienene Roman Trampen nach Norden verhandelt eine Entwicklungsgeschichte im sozialistischen Kontext, die nach dem Modell der Initiationsreise konzipiert ist.734 Der Text wird nicht nur in der DDR, sondern auch in der BRD intensiv rezipiert. Kurz nach der Veröffentlichung wird die Geschichte von der DEFA für das DDR-Fernsehen verfilmt und als Theaterstück adaptiert. Sowohl die zahlreichen wissenschaftlichen Beiträge aus dem Bereich der Kinderund Jugendliteratur – bis 1977 sind es dreiundvierzig – als auch die fachdidaktischen Beiträge zum Roman in der deutschen Lehrerzeitung – bis 1977 sind es siebenundzwanzig, bis 1979 kommen fünfzig Beiträge zum Film hinzu – dokumentieren die breite Resonanz des Textes und belegen, dass es sich um einen kanonisierten Text der DDR-Jugendliteratur handelt.735 Als Einstieg in die Analyse sollen der Inhalt des Textes und seine narratologischen Besonderheiten skizziert werden: Der 15-jährige Gunnar und die 13-jährige Teresa treffen sich zufällig beim Trampen und reisen durch ländliche Straßen sodann gemeinsam an die Ostsee. Zu Beginn wird Gunnar von einem pensionierten Professor aus der Schlange der Tramper ausgewählt und auf dessen uraltem Motorrad im Beiwagen mitgenommen. Später nimmt der Professor auch Teresa mit, eine guterzogene 13-Jährige, die den Zug verpasst hat und so schnell wie möglich an die Ostsee kommen will, um sich ihrer Klasse anzuschließen, die dort im Ferienlager ist. Vom Professor erhält Gunnar den Auftrag, auf Teresa Acht zu geben und sie bis nach Altkirch zu begleiten. Die ihm zugewiesene Rolle des spanischen Kavaliers lehnt Gunnar zunächst ab. Doch auf der abenteuerlichen Reise, die mit einigen Schwierigkeiten verbunden ist, lernen sich Teresa und Gunnar besser kennen. Gunnar versucht bald, durch Mutproben Teresas Aufmerksamkeit zu gewinnen. Bei einem Abstecher an einen Badesee springt er vom Fünfmeterturm, doch seine Inszenierung gerät ungewollt zu einer Peinlichkeit. Auch bei seinem anschließenden Boxkampf mit einem Brigadier namens Che versagt Gunnar aufgrund fehlender Kampftechnik. Auf ihrem Weg an die Ostsee begegnen den Jugendlichen die unterschiedlichsten Menschen, zum Beispiel ein Brigadier namens Che in einem FDJ-Lager, ein Pastor auf dem Weg zu einem Sterbenden, ein berühmter Schauspieler mit einem Autounfall, ein Fernfahrer, der von seiner Frau verlassen wurde, ein zwielichtiger Merce-

733 Holtz-Baumert, Gerhard: Trampen nach Norden. Ravensburg: Otto Maier Verlag 1983, S. 151 [im Folgenden unter der Sigle »TN« mit Seitenzahl im Text]. 734 Vgl. Steinlein/Strobel/Kramer, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. 2006, S. 1119. 735 Vgl. ebd.

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des-Fahrer, der ehemalige polnische KZ-Insasse Pan Bolek und der hilfsbereite Charakter Eberhard. Wirft man einen analytischen Blick auf den Roman, so fällt zunächst auf, dass das Reisemotiv die epische Grundstruktur des Textes bildet.736 Aus narratologischer Sicht liegt zudem eine komplexe Erzählstruktur vor. Denn die Episoden der Reise werden sowohl aus Gunnars Perspektive als auch aus Teresas Sicht erzählt. Während Teresa ihre Erlebnisse in Form eines Reiseberichts präsentiert, inszeniert sich Gunnar im Stil seines literarischen Vorbildes, des Kommissars Maigret.737 Der Vergleich der beiden Erzählberichte »gestattet eine stärkere Akzentuierung des Geschehens in seiner Wirkung auf verschiedene Personen. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen beiden Erzählberichten erwächst vornehmlich der Reiz des Romans«738. Die multiperspektivische Darstellung wird durch eine dritte Erzählebene ergänzt, in der ein kollektiver heterodiegetischer Erzähler das Geschehen mittels Nullfokalisierung kommentiert und bewertet: »man muß sie hören alle beede … Doch die Wahrheit? Wo sie steckt, ob bei Gunnar, bei Teresa, bei beiden, zwischen ihnen, oder … das müssen wir wohl selbst herausbekommen.« (TN, 195) Es hat dies den Effekt, dass der Leser in den Prozess der Wahrheitsfindung einbezogen wird. Ausgehend von der besonderen Fokalisierung, die es dem Leser ermöglicht, die Entwicklung beider Protagonisten genau mitzuverfolgen, da ihre »spezifische Denk- und Fühlweise«739 offengelegt wird, sollen folgend die stofflich-thematischen Aspekte, die mit der Darstellung von Adoleszenz verknüpft sind, zunächst mit Blick auf die männliche und sodann auf die weibliche Hauptfigur erörtert werden. 4.2.2.1 Gunnars Kampf um Anerkennung – »Beiß dich durch, Alter«740 Beide Protagonisten betrachten die Reise als eine Bewährungsprobe und erleben sich dabei als autonome Persönlichkeiten, wenngleich ihre Ausgangspositionen und Beweggründe variieren. Während Gunnar aus freiem Willen trampt und den schweren Seesack seines Bruders von Berlin bis nach Rostock trägt, hat Teresa schlichtweg ihren Zug nach Altkirch ins Ferienlager verpasst. Die Notwendigkeit des Aufbruchs resultiert aus einem Verantwortungsgefühl gegenüber ihrer Klasse. Die Konzeption der Figuren als Kontrastpaar ist weiterhin durch den Familienhintergrund der Protagonisten markiert. Während Teresa aus einer Akademiker-Familie stammt – der Vater ist Schulleiter und die Mutter Zahn736 Vgl. Emmerich, Christian (Hg.): Literatur für Kinder und Jugendliche in der DDR. Berlin: Der Kinderbuchverlag 1981, S. 230. 737 Vgl. Steinlein/Strobel/Kramer, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. 2006, S. 1119. 738 Emmerich, Literatur für Kinder und Jugendliche in der DDR. 1981, S. 231. 739 Ebd. 740 Holtz-Baumert, Trampen nach Norden. 1975, S. 112.

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ärztin –, ist Gunnar Sohn einer Arbeiterfamilie. Sein Vater ist Gabelstaplerfahrer und die Mutter Fischverkäuferin. Ihre unterschiedliche Herkunft und Prägung geraten immer wieder zum Auslöser von Konflikten und Irritationen zwischen den Heranwachsenden. So ist Gunnar bemüht, sich vor der klugen, musisch und literarisch interessierten Teresa zu bewähren. Seine Unsicherheit manifestiert sich zuerst durch ein Zögern, ob er sich auf die gemeinsame Reise einlassen soll. Dabei sind seine Berührungsängste im Umgang mit dem anderen Geschlecht kennzeichnend für seine Entwicklungsphase: »Ich will kein Spanier und Kavalier sein – ich will bleiben wie ich war, einer, der im Unterschied zu Poppi und Friedrich-Karl ohne Frauen auskommt – von Mutter mal abgesehen.« (TN, 31) Gunnar versucht, seine Unsicherheit zu kaschieren und stellt sich als überlegen und selbstsicher dar. Auch seine Fähigkeit zur Dezentrierung ist zu Beginn nicht besonders stark ausgeprägt. Der Protagonist benennt sein Dilemma: »Was tut jetzt Gustav? Macht er sich dünne? Oder schleppt er dieses zerbrechliche Ei durch die Welt, wie dem Opa versprochen? Wie soll er denn abhauen?« (TN, 28) Widerwillig übernimmt er die Aufgabe, Teresa bis zur Ostsee zu begleiten. Damit trifft er eine wichtige Entscheidung für seine Entwicklung. Im Folgenden wird zuerst Gunnars Entwicklung analysiert. Im darauffolgenden Kapitel steht Teresas Individuationsprozess im Vordergrund. Die Unsicherheit des männlichen Protagonisten konditioniert sein Verhalten während der Reise. Sein Sprung vom Fünfmeterturm und der anschließende Boxkampf sind nicht nur Mutproben, sondern Ausdruck der Suche nach Anerkennung.741 Sie werden insbesondere durch die Begegnung mit dem Che im Ferienlager der FDJ provoziert. Als Brigadier der FDJ-Gruppe steht Che im Zentrum des Geschehens, darüber hinaus glänzt er durch seine Vorliebe für »Dichtung, Hölderlin und Heine, Erich Weinert und Sarah Kirsch« (TN, 39). Im Gegensatz dazu beschränkt sich Gunnars Intellekt auf eine Sammlung von 100 Witzen, sodass er nach einer Möglichkeit sucht, sich dennoch ins Rampenlicht zu drängen. Aus der Innenperspektive wird illustriert, wie Gunnar jegliche rationalen Argumente ausblendet und, geleitet von Allmachtsphantasien, den Rückwärtsfall vom Fünfmeterturm plant: »[D]iesmal blarrt im Hinterkopf eine Sirene: ›Unsinn, Gustav, laß das sein! Mach den üblichen Köpper vom Dreimeter, halte dabei die Beine zusammen. Mann, du bist doch noch nie vom Fünfmeter runter! Und Rückwärtsfaller! Das kann nur einer in der Klasse, und der auch nur vom Dreimeterbrett. Nicht einmal Schubbi traut sich vom Fünfmeter,

741 Sein riskantes Verhalten, mit dem er soziale Anerkennung und sein Unterlegenheitsgefühl zu kompensieren sucht, ist kennzeichnend für die Adoleszenz. Mit einer intensiveren Überbesetzung des Selbst versucht der Protagonist seine eigene Unsicherheit abzuwehren, vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013. S. 198.

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und der hat schon drei öffentliche Kämpfe hinter sich und zwei gewonnen, Gustav, Alarm! Gustav, warum denn bloß?‹« (TN, 45) [Hervorh. d. Verf.]

Ebenso wird aus der Innensicht des Protagonisten die Wirkung des riskanten Verhaltens im sozialen Umfeld veranschaulicht: Zum einen unterstreicht die eingetretene Stille den spannungsgeladenen Moment, zum anderen zeigt die Körperhaltung der umherstehenden Jugendlichen mit ihren auf Gunnar gerichteten Blicken, wie dieser die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zieht: »[A]uf dem Teich ist es still geworden, sie legen sich paddelnd auf den Rücken und schauen zu mir her. Am Strand scharen sie sich zusammen und blicken eben hoch. […] Ich nicke kurz herunter auf das staunende Volk und drehe mich um. ›Der traut sich nicht …‹, blökt wer. Da lasse ich das Geländer wieder los und balanciere rückwärts auf das Brett. […] Ruhe! Ihr werdet etwas zu sehen bekommen, ihr Flachschwimmer.« (TN, 46)

Deutlich wird, dass Gunnar mit seinem Sprung versucht, ein Abgrenzungsmoment zu den anderen Jugendlichen zu generieren. Mittels interner Fokalisierung bringt der Autor das adoleszente Verhalten zum Ausdruck, mithin Gunnars Invulnerabilitätsgefühl, das Ausblenden der Gefahr und den Ansporn zu risikobehaftetem Verhalten durch das soziale Umfeld. Gunnars Suche nach Anerkennung zieht sich als eine Konstante durch den Text. Nachdem Teresa ihn kurzfristig verlässt, nähert sich Gunnars Entwicklung einem Tiefpunkt. Der Ich-Erzähler beschreibt seine Stimmung metaphorisch als »totale Sonnenfinsternis« (vgl. TN, 108) und spricht Bezug nehmend auf seinen Lehrer Kramms von einem »totale[n] Kollaps« (TN, 108). Die Begegnung mit einem Fernfahrer, der für Gunnar zu einer Identifikationsfigur bzw. zu einem Vorbild wird, lässt sich hingegen als Schlüsselerlebnis in seiner Individuation betrachten. Der Fernfahrer berichtet, wie er von seiner Ehefrau verlassen worden ist und wie er nach dem einschneidenden Erlebnis erwachsen geworden ist (vgl. TN, 112). Obwohl Gunnar die Möglichkeit hat, mit ihm nach Hause zurückzukehren, entscheidet er sich, seine Reise nach Norden fortzusetzen und dem Ratschlag des Fahrers auf dem Weg zum Erwachsenwerden zu folgen: »Beiß dich durch, Alter, […].« (TN, 112) Gunnar nimmt sich vor, seinen individuellen Weg gemäß dieser Devise zu gestalten – nicht nur, um sich selbst etwas zu beweisen, sondern vor allem um die Vorurteile seiner Eltern zu entkräften: »Mutter würde sagen, sie hätte immer gewußt, ich gehe unterwegs zu Boden […].« (TN, 113) 742 Es sind die Begegnungen mit unbekannten Menschen, die Gunnar alternative Lebensentwürfe vor Augen führen und die er nach kurzer Reflektion evaluiert 742 In der Krise manifestiert sich eine Chance zur persönlichen Erneuerung. Gunnar erlangt wichtige Erkenntnisse, die sein weiteres Leben bestimmen. Durch die Erfahrung des Verlassenwerdens wird ihm die Notwendigkeit bewusst, schwierige Situationen allein zu überwinden, um eine persönliche Entwicklung erfolgreich vorantreiben zu können.

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und entweder annimmt oder ablehnt. Zum Gegenmodell des anständigen Fernfahrers gerät sodann der »Mercedes-Mann« (TN, 127), der einen luxuriösen Sportwagen fährt und Gunnar nicht nur in seinem Wagen mitnimmt, sondern auch zu einem dubiosen Geschäftsangebot überredet. Diese Begegnung konfrontiert den Jugendlichen mit einem Identifikationsangebot, das zwar verlockend wirkt, aber kurz darauf eine verstörende Wirkung entfaltet. In diesem Fall ist es die StVO, die die gesellschaftlichen Normen symbolisiert, deren Sinnhaftigkeit der Mercedes-Mann durch seine rasante Fahrweise in Frage stellt. Sein Lebensmotto resümiert er wie folgt: »›Schleichen ist öde; wenn ich schon höre: Langsam voran! Das ist etwas für Doofe. Zugegeben, schnell und scharf ist nicht ohne Risiko. Leben ohne Risiko ist wie Schleichen. Fahre ich eben, wie mein Schnucki will.‹« (TN, 138)

Das Motto spiegelt eine Persönlichkeit, die sich nicht um Regeln kümmert und einer Lebensauffassung folgt, die das eigene Wohlgefühl vor den Schutz des Kollektivs stellt. Die Fahrweise des Mannes ängstigt Gunnar. Sein Unbehagen wird metaphorisch aus der Innenperspektive beschrieben: »Irgendwie fühle ich mich kaputt. Am Körper beginnt es zu jucken, wie von zwei Millionen Mückenstichen. […] [E]s juckt am ganzen Körper, ich könnte mir die Haut abfetzen. ›Ich will raus‹ […].« (TN, 138f.) Die rücksichtlose Fahrweise des Rasers ist der vorausschauenden Fahrweise des Professors auf dem Motorrad zu Beginn der Initiationsreise diametral entgegengesetzt. Illustriert werden an den Figuren zwei gegensätzliche Lebenshaltungen: Während sich Gunnar zu Beginn der Reise noch über die langsame Fahrweise des Professors beschwert, kann er später die viel zu hohe Geschwindigkeit des Mercedes-Fahrers kaum aushalten. Dass er sich in der Folge bewusst gegen eine riskante Lebensweise entscheidet, führt zu einer völligen Umkehrung seiner Haltung. Gunnars Entscheidung für die Norm und die Rückkehr zu einer geregelten Lebensweise illustriert die dynamische Konzeption der Figur und offenbart einen wichtigen Moment in ihrer Entwicklung. So kommentiert Gunnar an anderer Stelle erleichtert: »Ein Traktor mit zwei leeren Anhängern nimmt mich mit. Der zuckelt brav unter der StVO-Norm.« (TN, 140) Auch auf der nächsten Etappe, die Gunnar mit einer Gruppe sächsischer Fahrradfahrer teilt, äußert er sich erleichtert über die Regularien: »Johlend, doch stets StVO-sauber, radeln wir voran.« (TN, 148) Es ist festzuhalten, dass Heranwachsende wie Gunnar keine Avantgarde im engeren Sinne darstellen, sondern nach kurzer Exploration alternativer Werte die Konventionen und Traditionen der (sozialistischen) Gesellschaftsordnung bestätigen. Evolution findet dabei lediglich in einem vorgegebenen Rahmen statt. Die Entwicklung des männlichen Protagonisten offenbart sich vor allem durch die Erweiterung seiner Dezentrierungsfähigkeit. In einem inneren Monolog reflektiert Gunnar unter anderem die Problematik und Bedeutung von Bewährungsproben: »›Gustav, sei

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ehrlich. Du warst doch daran aufzugeben, die Durststrecke zog sich zu lang hin, der Hungerast saß dir auf der Brust!‹« (TN, 142) Die Ausbildung einer eigenen Identität wird im Text wiederholt auf metaphorische Art und Weise thematisiert, so wird sie etwa als Etappenreise, als »Durststrecke« oder als »Boxkampf« bezeichnet. Gunnar begreift, dass er sich den vor ihm liegenden Aufgaben allein stellen muss und reflektiert die eigene Entwicklung: »Angezählt war Freund Gustav, der Gong hat ihn nicht gerettet, er ging in den Klintsch, er hat geklammert, na bitte, nun ist er durch.« (TN, 142) In Gänze betrachtet lässt sich Gunnars Reise als Allegorie der adoleszenten Identitätsfindung betrachten, bei der sich der Protagonist den auf ihn wartenden Bewährungsproben stellen muss, um sich in der Gesellschaft erfolgreich verorten zu können. 4.2.2.2 Teresas Selbstverortung – »Ich schwankte zwischen Pflicht und Neigung«743 Mit Blick auf die typischen Merkmale der Adoleszenz wirkt die Protagonistin Teresa von Beginn an etwas frühreif für ihr Alter. Gleichwohl empfindet auch sie die Reise als eine Bewährungsprobe auf der Suche nach der eigenen Identität. Auffällig ist zunächst die weit entwickelte Dezentrierungsfähigkeit der Jugendlichen, die in ihren Reiseberichten über ihre Erlebnisse reflektiert und sich kritisch mit ihrem eigenen Verhalten auseinandersetzt. Dazu passt, dass sie rückblickend erzählt, wie sie sich zu Beginn der Reise gefühlt hat und warum sie sich auf den Trip mit Gunnar eingelassen hat: »Heute weiß ich nicht, ob es gut war, mit diesem Jungen, der Gunnar hieß, mitzugehen. Aber ich fürchtete mich vor dem Alleinsein und hatte Angst, ich würde es nicht nach Altkirch schaffen. Was tut der Mensch nicht alles, wenn er Angst hat und verzweifelt ist! Und meistens sind es dann Fehler, die er macht.« (TN, 36)

Allein unterwegs und ohne die Unterstützung der Eltern kämpft Teresa beständig gegen jede Form der Vereinnahmung an und stellt ihre Eigenständigkeit unter Beweis. Durch die Reise gestaltet sie den Übergang »von der Ordnung der Familie zur Ordnung der Kultur«744, sodass die Reise die Funktion eines Rituals übernimmt. Dementsprechend nimmt sie die gemeinsame Zeit mit Gunnar als andauernde Herausforderung wahr, die mit dem Erleben von zahlreichen Irritationen verbunden ist. Dabei begegnet sie verschiedenen Personen, wobei sie vor allem für diejenigen des anderen Geschlechts besonderes Interesse aufbringt. Bei ihrer ersten Station lernt sie Che kennen, mit dem sie sich sofort gut versteht. Anhand einer Innenperspektive wird dem Leser verdeutlicht, dass Teresa bereit 743 Holtz-Baumert, Trampen nach Norden. 1975, S. 99. 744 Erdheim, Adoleszenzkrise und institutionelle Systeme. 1998, S. 17.

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wäre, eine partnerschaftliche Beziehung mit ihm einzugehen (vgl. TN, 40). Nur das riskante Verhalten Gunnars stört ihre intime Begegnung. Beim nächsten Stopp trifft sie einen berühmten Schauspieler namens Ottomar Heppus, der verletzt am Straßenrand liegt. Auch er weckt romantische Gefühle bei Teresa und führt ihr ihre Unsicherheit im Umgang mit dem anderen Geschlecht vor Augen. Die Protagonistin kämpft mit ihrem Schamgefühl und ihren Emotionen: »Mitten in den Schrecken hinein wuchs ein neuer, aber ein positiver: Ich erkannte in der ersten Sekunde Ottomar Heppus und fühlte, wie ich unaufhaltsam errötete, vom Hals bis unter die Haarwurzeln.« (TN, 94) Die Interaktion mit dem Schauspieler wird durch intertextuelle Verweise auf die Dramen Faust und Minna von Barnhelm sowie das Märchen Rumpelstilzchen mit adoleszenten Reifungsprozessen in Verbindung gebracht und mit sexuellen Konnotationen aufgeladen (vgl. TN, 94ff.).745 Der Schauspieler agiert in der Rolle des Faust und versucht, Teresas Aufmerksamkeit durch Komplimente zu erlangen. Diese wiederum übernimmt die Rolle des Gretchens, das zwischen Sympathie und Begeisterung für ihren Verehrer schwankt: »Ich nickte hingerissen; alles zeigte sich so einfach, so schön mit ihm, daß ich mitreden konnte, wie mit einem, den man schon hundert Jahre kennt.« (TN, 95) Später agiert der Schauspieler ähnlich der Figur Tellheim und Teresa scheint die Rolle des Fräuleins zu übernehmen, wenn es in dem Text heißt: »Er nahm meine Hand und küßte sie, und ich ließ es, wie gelähmt, geschehen und fühlte entsetzt, daß ich noch tiefer rot wurde.« (TN, 97) Teresa lässt sich immer wieder auf die Spielvorlagen des Schauspielers ein, hat jedoch Schwierigkeiten, die Ebene des Spiels als solche wahrzunehmen. Dementsprechend steckt sie in einem emotionalen Dilemma, gerät nach dem Motto »halb Spiel, halb Leben« (TN, 97) in Rollen hinein, die sie emotional überfordern. Und auch diese romantische Begegnung wird von Gunnar gestört. Daraufhin entschließt sich Teresa, ihren Weg mit dem Schauspieler fortzusetzen und sich von Gunnar zu verabschieden. Es handelt sich hierbei um einen bewussten Emanzipationsschritt (vgl. TN, 101), der auf die Möglichkeit einer intimen Situation abzielt. Aus Teresas Innensicht werden die Avancen des Schauspielers und ihre Auswirkungen beschrieben: »Jolli Heppus fuhr kühn, ich hatte das Gefühl, als hoben wir uns von der Chaussee ab und flögen direkt in die Sonne hinein. Jolli Heppus fuhr sehr sicher, nur mit der linken Hand steuernd, die rechte lag hinter meinem Nacken auf der Lehne meines Sitzes. Ab und zu 745 Max Lüthi verweist darauf, dass Entwicklungspsychologen wie Josephine Bilz und Graf Wittgenstein in Märchen Entwicklungsvorgänge und Reifungsprozesse abgebildet sehen. Vgl. Lüthi, Max: Märchen. 9. Aufl. Stuttgart: Metzler 1996, S. 106. Josephine Bilz argumentiert mit Blick auf das Märchen Rumpelstilzchen etwa, dass darin »die Biographie eines weiblichen Menschenkindes von seiner Jugend bis zu seiner Reife zur Mutter« nachgezeichnet würde. Bühler, Charlotte/Bilz, Josephine: Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 4. Aufl. Berlin [u. a.]: Springer-Verlag 1977, S. 125ff.

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spielten seine Finger, wie verloren, in meinen Haaren. […] doch Herr Heppus entschuldigte sich und legte begütigend die Hand auf meine Schulter.« (TN, 98) [Hervorh. d. Verf.]

Aus der Beschreibung der Protagonistin geht eine Begeisterung und Bewunderung für den Schauspieler hervor, die ihr Verliebtheitsgefühl andeuten. Die Avancen des Schauspielers werden im Laufe der Fahrt immer deutlicher und führen zu einer Einladung zu einem gemeinsamen Abend: »Jolli Heppus war zu Scherzen aufgelegt, er zwinkerte mir zu und fragte mich, ob ich ihn nicht weiter begleiten wolle.« (TN, 99) Bedingt durch ihre begrenzte Lebenserfahrung ist die Protagonistin unschlüssig, wie sie sich verhalten soll: »Ich schwankte zwischen Pflicht und Neigung, möglicherweise schwieg ich zu lange und fand keine richtige Antwort.« (TN, 99) Ihr Schweigen und ihre uneindeutigen Gefühle offenbaren Teresas Unsicherheit. Hinzu kommt eine gewisse Naivität, die das Erkennen der verdeckten Absichten der Einladung erschwert. Als Heppus auf seine Nachfrage hin das wahre Alter der Protagonistin erfährt, lässt er von dem Vorhaben, Teresa zu verführen, ab – einen Rechtsverstoß will er sich nicht einhandeln. Als er sich von ihr verabschiedet, thematisiert er den Altersunterschied und verleiht seiner Hoffnung, Teresa zu einem späteren Zeitpunkt wiederzusehen, Ausdruck: »Es war eine schöne Stunde, Teresa. Werde schnell groß und noch schöner. Und wenn du einmal im Theater sitzt, vergiß nicht, mich in der Garderobe zu besuchen. Ich würde mich wahnsinnig freuen.« (TN, 100)

Die Begegnung mit Heppus ruft eine emotionale Irritation bei Teresa hervor. Die abrupte Trennung verstört sie und verhindert die Fortsetzung ihrer Reise. Ihre Irritation manifestiert sich in ihrer verminderten Reaktionsfähigkeit. Durch das Aufrufen von Erinnerungen versucht sie, die Trennung und die damit verbundenen Gefühle zu verarbeiten: »Lange blieb ich stehen, wie benommen, und fühlte kaum, daß ich mich an einem Baum lehnte, eine Linde, die über mir weit ins Land schattete. An jedes Wort, das wir gewechselt hatten, versuchte ich mich zu erinnern, an jede Miene, an jedes Lachen.« (TN, 100) [Hervorh. d. Verf.]

Die gedrückte Stimmung der Protagonistin wird durch den Schatten des Baumes unterstrichen. So kommt dem sich an diese Begegnung anschließenden Aufenthalt im Ferienlager in erster Linie eine emotional regulierende Funktion zu, da die Protagonistin ihn dazu nutzt, die während der Reise gesammelten Erfahrungen in einem sicheren wie regulierten Umfeld zu verarbeiten: »[I]ch mußte nach Altkirch, ich brauchte Zeit und Ruhe, um alles Geschehene seelisch zu verarbeiten.« (TN, 104) Durch das Trampen und die Verlagerung der Handlung ins Ferienlager erhält die Protagonistin die Gelegenheit, mit anderen Heranwachsenden intensiver zu interagieren als es im Raum des vertrauten Zuhauses

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möglich ist. Neben den skizzierten Begegnungen fördert die Reise bzw. die räumliche Distanz zu den Eltern auch den Ablösungsprozess von diesen. Es sind im Ferienlager die Beziehungen zu Gleichaltrigen, die eine wichtige Funktion hinsichtlich der Entwicklung von Teresas Persönlichkeit einnehmen. Innerhalb der Gruppe finden Selbstinszenierungsprozesse statt, mit denen die Jugendlichen Aufmerksamkeit generieren und ihr Selbstbild bestätigen wollen. So berichtet Teresa ihren Mitschülerinnen ausführlich von ihrer Begegnung mit dem berühmten Schauspieler und erfährt Anerkennung: »Die Mädchen in der Klasse waren außer sich, als ich ihnen erzählte, daß ich mit Herrn Heppus zusammen gefahren bin, daß wir uns duzen.« (TN, 97) Teresas Verhalten ist nicht ungewöhnlich, vergegenwärtigt man sich, dass die Bildung und Pflege intimerer Beziehungen zwischen Freundinnen – in denen das Aushalten von Konflikten und Emotionen wie Eifersucht eine wiederkehrende Rolle spielen – zu zentralen Ausprägungen der Adoleszenz im weiblichen jugendkulturellen Raum gehören. Aus der Innenperspektive Teresas wird dann auch ausführlich beschrieben, wie sich die Beziehung zu ihrer besten Freundin Liane verändert, denn zwischen den Mädchen entwickelt sich ein Konkurrenzkampf um die Gunst eines Jungen namens Maat: »Liane, meine Herzensfreundin, verliebte sich in einen langen schwarzhaarigen Maat mit buschigen Augenbrauen. Heute früh kam er tatsächlich an den Strand, und Liane wußte vor Aufregung nicht, wohin sie zuerst rennen oder blicken sollte. Er saß lange bei uns, wir sprachen über viele Dinge; jetzt glaube ich fast, er ist meinetwegen gekommen. Diesen Verdacht bestätigt mir Lianes Verhalten, sie ist plötzlich seltsam zurückhaltend zu mir, redet kaum ein Wort und fängt an, an meiner Wandzeitung alles möglich zu kritisieren.« (TN, 155f.) [Hervorh. d. Verf.]

Die skizzierten Textauszüge illustrieren, dass die Reise der Protagonistin metaphorisch für den Erwerb eines neuen Status außerhalb des familiären Umfeldes und eine bewusste Suche nach Möglichkeiten der Selbstbestimmung steht. So entledigt sich Teresa etwa des »herrschsüchtigen« Gunnars (vgl. TN, 157). Außerdem arbeitet sie in der Interaktion mit Gleichaltrigen wie Che, Maat, Luka und Liane und auch mit älteren Figuren wie dem Professor, Herrn Heppus, dem Pastor und Lukas’ Vater an ihrem Selbstbild. Es ist dies ein unabgeschlossener Prozess, in dem Teresa die adoleszenztypischen Stimmungsschwankungen erlebt, mithin zwischen dem Gefühl der Entwertung und Momenten der Bestätigung pendelt. Entsprechend reflektiert die Protagonistin: »Ich gefalle den Leuten. Das überrascht mich ein wenig, denn manchmal komme ich mir wie das häßliche Entlein im Märchen vor, das erst später ein schöner weißer Schwan wird.« (TN, 161) 746 Am Ende ihrer Reise strahlt sie Zuversicht und Stolz aus, weil

746 Vera King verweist auf die psychische Labilität der Heranwachsenden und auf die üblichen

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sie an sich geglaubt und sämtliche Herausforderungen der Reise gemeistert hat: »Ich habe es geschafft! Ich habe mich durchgebissen von Burow bis nach Altkirch.« (TN, 201) Die Zuversicht und der Stolz manifestieren ein wichtiges Moment ihrer Persönlichkeitsreife, die für das Bestehen weiterer Bewährungsproben entscheidend sind: »Ich weiß jetzt: Wohin ich gehen will, immer werde ich dort hingeraten, auf welche Weise auch immer.« (TN, 202) 4.2.2.3 Fazit Zusammenfassend lassen sich folgende narratologische Aspekte nennen: Auf der Ebene des discours eröffnet die multiperspektivische Darstellung aus Sicht beider Protagonisten Einblicke in die Innenwelt der Heranwachsenden. Die Fokalisierung veranschaulicht die komplexe Gefühlswelt und die vielschichtigen Handlungsmotive der Adoleszenten. Mit Blick auf die Ebene der histoire ist zu ergänzen, dass sich sowohl Teresa als auch Gunnar zunehmend als autonome Personen außerhalb des vertrauten familiären Umfeldes erleben. Für beide fungiert die Reise als Initiationsritual zur Gestaltung des Übergangs »von der Ordnung der Familie zur Ordnung der Kultur«747 und der sich anschließenden erfolgreichen Einbindung in die Gesellschaft.748 Durch diverse Begegnungen kommen die Heranwachsenden in Kontakt mit verschiedenartigen Identifikationsmodellen, die wiederum identitätsstiftende Reflexionen anstoßen. Die Auswahl der diegetischen Räume, die für den einsetzenden Prozess der Identitätsfindung der Protagonisten entscheidend sind, geht mit einer funktionalen Besetzung einher. Der Aufenthalt in sogenannten Schwellenräumen ermöglicht den Übergang von der Familie in die Ordnung der Kultur. In diesem Sinne handelt es sich bei den ländlichen Straßen mit ihrem transitorischen Charakter und dem Ferienlager an der Ostsee um offene wie abwechslungsreiche Räume außerhalb des familiären Umfeldes, in denen sich Teresa und Gunnar sukzessive als autonome Persönlichkeiten erleben, mit Gleichaltrigen interagieren, wichtige identitätsstiftende Erfahrungen sammeln und eine neue Selbstwahrnehmung entwickeln. Die Motive der Reise, der Krise und des Wendepunkts bilden zentrale Aspekte, die mit dem Identitätsfindungsprozess der Protagonisten aufs Engste verwoben sind. Zudem trägt die Konzeption von Gunnar als dynamische Figur entscheidend dazu bei, die für adoleszenztypische Suche nach Kompensationsmaßnahmen, die sich in der Polarisierung zwischen unterschiedlichen alternierenden Haltungen manifestieren. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 197. 747 Erdheim, Adoleszenzkrise und institutionelle Systeme. 1998, S. 17. 748 Das literarische Motiv der Reise mit ihrem Initiationsritualcharakter wird bereits im paratextuellen Element des Titels aufgenommen. Im Unterschied zum Text Die Reise nach Jaroslaw liegen die Ursachen für die Reisebewegung der Protagonisten nicht in einem dysfunktionalen Ausgangsraum begründet.

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dem eigenen Ich zu verdeutlichen. Bezüglich seiner personalen Kompetenz ist festzuhalten, dass Gunnar seine Unsicherheit zu überwinden und die Vorurteile seiner Eltern gegenüber seinen Plänen zu entkräften sucht. Im Verlauf der Reise erweitert er seine Dezentrierungsfähigkeit und gliedert sich nach Prüfung alternativer Wertvorstellungen in die sozialistische Gesellschaftsordnung ein. Von einer avantgardistischen Haltung ist er weit entfernt, seine Entwicklung spielt sich in den vorgegebenen Bahnen des selektiven Bildungsmoratoriums ab. Die Figur Teresa ist als Typ konzipiert und vertritt die gewissenhafte Schülerin, die sich ganz ihrem Auftrag verpflichtet fühlt, im Ferienlager eine Wandzeitung zu gestalten. Sie übernimmt von Anfang an die ihr anvertraute gesellschaftliche Verantwortung und veranschaulicht mithin eine Idealvorstellung von Jugend. Erwähnenswert ist der Zeitpunkt der Handlung, denn im festgefügten System der DDR scheinen die Sommerferien den einzig möglichen Zeitraum für adoleszente Probehandlungen darzustellen.

4.2.3 Thomas Brasch: Vor den Vätern sterben die Söhne – »Was ich will, schrie er, diese Nabelschnur durchreißen.«749 Der Text Vor den Vätern sterben die Söhne erscheint erstmals 1977 in der BRD. In der DDR, wo Thomas Brasch lebt und seinen Text zur Publikation an den Hirnstorff-Verlag gibt, entfaltet er bereits vor dem Erscheinungstermin ein großes ›Verstörungspotenzial‹: Der Hinstorff-Verlag lehnt die Veröffentlichung des Textes, so vermutet Brasch rückblickend – aufgrund der darin erfolgenden »Verzerrung der DDR-Arbeitswelt […, der] als verzerrt bezeichnete[n] Darstellung der Jugend«750 und der Inszenierung vom Tod an der Mauer ab. In einem Interview berichtet Brasch, dass er das eingereichte Manuskript mit der Aufforderung vom Verlag zurückbekommt, achtundzwanzig Änderungen vorzunehmen: »[D]iese 28 Änderungen waren wirklich so, als ob man einem Mann die Nase, den Schwanz und die Ohren abschneidet und sagt, so jetzt geh mal los, und das war mir ein bisschen viel abgeschnitten.«751 Die bildhafte Beschreibung deutet an, dass die geforderten Eingriffe die Substanz des Textes betroffen hätten. 749 Brasch, Thomas: Vor den Vätern sterben die Söhne. Berlin: Rotbuch Verlag 1990, S. 18 [im Folgenden unter der Sigle »VS« mit Seitenzahl im Text]. 750 Brasch, Thomas: »Ich stehe für niemand anders als für mich«. Der Schriftsteller Thomas Brasch über seine Emigration aus der DDR. In: Hanf, Martina (Hg.): Thomas Brasch »Ich merke mich nur im Chaos«. Interviews 1976–2001. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 2009, S. 11–17, hier: S. 11. 751 Vgl. Thomas Brasch im Interview: »Ich will nicht, daß die DDR zur Sophia Loren meines Geistes wird«. In: Hanf, Martina (Hg.): Thomas Brasch »Ich merke mich nur im Chaos« Interviews 1976–2001. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 2009, S. 139–166, hier: S. 157.

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Brasch weigert sich, dem nachzukommen, und führt das Manuskript ohne Genehmigung des Büros für Urheberrechte, mithin illegal, aus der DDR aus, um die Publikation im Westen zu realisieren. Seine Entscheidung steht fest: »Ich sagte, ich bin jetzt 31 Jahre und habe keine Lust immer als pubertierender Oppositioneller, der immer dem Papa die Zunge rausstreckt, in die Geschichte einzugehen; ich drucke dieses Buch jetzt. Und zwar nicht als Widerstandstat, sondern um mich der Kritik der Öffentlichkeit auszusetzen.«752

Obwohl das Buch in der DDR nicht erscheinen darf oder vielleicht gerade deswegen, avanciert der Roman in der DDR zu einem Kultbuch und wird für die Generation der Hineingeborenen zu einem prägenden Text. Erst am Ende der 1980er Jahre darf das Buch offiziell auch in der DDR in der Originalform erscheinen. Doch worum geht es in dem Text? Der Titel Vor den Vätern sterben die Söhne deutet auf die Thematik des Generationenkonflikts hin, der im Kontext der Adoleszenz von zentraler Bedeutung ist. Denn beim intergenerationellen Hegemoniekampf bestätigt die erwachsene Generation ihre Wirkmächtigkeit gegenüber den Heranwachsenden, muss jedoch auch akzeptieren, dass ihre Definitionsmacht relativiert wird.753 Es stellen sich Aushandlungsprozesse zwischen den Generationenvertretern ein, die häufig im Umfeld der Familie ausgetragen werden, aber auch in außerfamilialen intergenerativen Beziehungen eine bedeutsame oder sogar noch wichtigere Dimension einnehmen können. Die Literatur kann mit ihrem Potential, das Hartmut Böhme als »ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften«754 beschreibt, Auskunft über diese intergenerationalen Konflikte geben. Der Kampf um die Deutungshoheit über das vermeintlich ›richtige‹ Verhalten der Heranwachsenden, die Wertung der Leistungen der Elterngeneration und die Gestaltung der Zukunft ist in der kaleidoskopischen Textsammlung, mit der Thomas Brasch 1977 seine literarische Stimme erhebt, omnipräsent. Am Beispiel von zwei Texten wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie Brasch die Jugend in der DDR zum Gegenstand der literarischen Darstellung macht. 4.2.3.1 Zum Generationskonflikt Braschs Textsammlung beginnt mit der Kurzgeschichte Fliegen im Gesicht, in der die Dichotomie der Gründer-Generation der DDR und der darauf folgenden Generation verhandelt wird. Der Bruch zwischen den Generationen kommt im Text in der Äußerung zwischen den Figuren Robert und Werner zur Sprache, 752 Ebd. 753 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 66. 754 Böhme, Zur Gegenstandsfrage der Germanistik. 1998, S. 480.

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einem »klassische[n] Paar: Junger Bürger vor der Flucht trifft auf Veteran der Arbeiterbewegung.« (VS, 16) Damit ist die Handlung bereits abgesteckt: Auf dem Weg zum Fluchtpunkt begegnet der Protagonist Robert einem Veteranen der Arbeiterbewegung, der angeblich vor achtunddreißig Jahren in Spanien gegen die faschistischen Truppen Francos gekämpft hat. Die Figuren sprechen mittels communal voice exemplarisch für zwei disparate Generationen: Werner verteidigt die Errungenschaften der sogenannten Gründer-Generation, wohingegen der jugendliche Protagonist Robert dem Gesellschaftsmodell und den Idealen der Vorgänger-Generation mit seinem Fluchtplan eine Absage erteilt. Während Werner stolz auf die aufgebauten Blockhäuser nach der Zerstörung des Krieges ist, betrachtet Robert sie als einen »Riesenknast mit Grünanlagen« (VS, 17) und markiert die Diskrepanz zwischen beiden Generationen. Die zwischen den Figuren vorliegende Kommunikationsstörung wird direkt thematisiert, so heißt es in Bezug auf Robert etwa: »Er sah den Alten sprechen, aber er hörte ihm nicht mehr zu.« (VS, 17) Eine Verständigung zwischen den Figuren scheint nicht mehr möglich zu sein, es ist bereits zur Entfremdung gekommen. So resümiert der ›alte‹ Werner dann auch: »Wir haben nichts gemeinsam.« (VS, 19) Der kurze Einblick in den Text verdeutlicht das verhandelte Kernproblem: Die Folgegeneration ist an der Übernahme der von der Gründer-Generation tradierten Werte und Lebensthemen nicht interessiert. Stattdessen plädiert sie für eine offene Gesellschaft »ohne Zensuren, ohne Stechuhren[, o]hne Angst[, o]hne Polizei« (VS, 18), in der die Verwirklichung eigener Ideen möglich ist. Der Heranwachsende distanziert sich zum einen von den in den Sozialisationsinstitutionen vermittelten Idealen und zum anderen äußert er sich über die Limitierung seiner Selbstverwirklichung und die Entfremdung zwischen den Generationen ernüchtert: »Hör auf. Ich kenn das Lied. Ich habe es schon im Kindergarten vorgespielt bekommen. […] Ich weiß nur, was jetzt kommt, und will es nicht zum tausendsten Mal hören. […] Laß gut sein. Ich kenn das Spiel auswendig. Gleich wirst du sagen, daß wir alles besser wissen. Daß wir hinten alles reingestopft bekommen und vorn das Maul aufreißen.« (VS, 17)

Während sich die Gründer-Generation für ihre Ideale einsetzen konnte, zum Beispiel durch ihr Engagement als freiwillige Kämpfer gegen den Faschismus im spanischen Bürgerkrieg, ist sie, so führt der Text vor, mit der Anklage der Nachfolgegeneration konfrontiert, dieser keinen angemessenen Möglichkeitsraum anzubieten, in dem die Individuation des Einzelnen ebenso Platz hat wie die innovative Fortsetzung überlieferter Traditionen. So heißt es aus Roberts Sicht: »Über welche Grenze kann ich gehen, wenn es keinen Sinn mehr hat? […] Du hattest deinen Text, jetzt habe ich meinen, und der heißt: Ich kann nicht machen, was du

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konntest. Schließlich habt ihr um die schönen Häuser auch noch eine Mauer gebaut.« (VS, 18)

Die fehlende Generativität seitens der Elterngeneration verhindert die Förderung und Entfaltung neuer Visionen, weil die ›Etablierten‹ nicht bereit sind, ihre erworbene Machtposition zu relativieren. In diesem Sinne steht der Mauerbau symbolisch für die Machtsicherung und für die Eingrenzung der Entfaltungsmöglichkeiten der Heranwachsenden. Diese empfinden die Bindung an die vorgegebenen Ideale als erdrückend und verlangen nach Freiheit und Veränderung. Aus Sicht von Robert stellt sich der Konflikt wie folgt dar: »Was ich will, schrie er, diese Nabelschnur durchreißen. Die drückt mir die Kehle ab. Alles anders machen. […] Von vorn anfangen in einer offenen Gegend.« (VS, 18f.) Die in der Adoleszenz angestoßene Entstehung von Neuem wird in dem Text mit dem Neuanfang des Ich-Erzählers im Westen assoziiert. Es ist das Verlangen nach Abnabelung von den Eltern, das in der Metapher des Durchreißens der Nabelschnur zum Ausdruck gebracht wird. So wie das Neugeborene über einen eigenen Blutkreislauf verfügt, wodurch die Verbindung zur Mutter über die Nabelschnur mit dem Zeitpunkt der Geburt überflüssig wird, verlangt auch die nachfolgende Generation, über eine eigene Identität und Autonomie, mithin über ein von der Elterngeneration entkoppeltes Leben zu verfügen. In dem Text verschärft sich der Generationenkonflikt wegen der fehlenden Bereitschaft der Eltern, Veränderungen zuzulassen. Diese Haltung offenbart sich zum Beispiel darin, dass Werner, ›der Alte‹, immer wieder auf die Ernst-Busch-Schallplatte mit der Ballade von der XI. Brigade zurückgreift, sich der Realität der 1970er Jahre entzieht, die Vergangenheit nostalgisch verklärt und nicht von seiner Forderung ablässt, dass die Heranwachsenden seine Ideale teilen sollten: »Robert sah, wie der Alte die Augen schloß.« (VS, 19) Werner, der stellvertretend für die Gründer-Generation steht, greift auf einen sogenannten Wiedergebrauchstext des kulturellen Gedächtnisses zurück, um sein Selbstbild zu stabilisieren.755 Für die Nachfolgegeneration klingt der Musik-Klassiker jedoch fremd und weist kein Identifikationspotential auf. Die Darbietung des Liedes wird aus Roberts Perspektive mit einer gewissen Distanz präsentiert:

755 Nach Jan Assmann entsteht das kommunikative Gedächtnis durch Erinnerungspraktiken, die in alltäglichen informellen interaktionalen Gesprächen stattfinden und die individuellen Geschichtserfahrungen der Zeitgenossen zum Inhalt haben. Individuen wie Werner agieren als Träger einer Erinnerungsgemeinschaft und deuten ihre Vergangenheit, um ihr Selbstbild zu stabilisieren und ihre Lebensgeschichte vermitteln zu können. Zur Funktion des kommunikativen Gedächtnisses vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 3. Aufl. München: Beck 2000, S. 50f., 56.

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»In Spanien stands um unsere Sache schlecht. Zurück gings Schritt um Schritt, sang eine harte metallische Stimme. Und die Faschisten brüllten schon: Gefallen ist die Stadt Madrid. Madrid, hörte Robert auch den Alten singen.« (VS, 19) [Hervorh. d. Verf.]

Nach dem Anhören des Liedes konstatiert Werner: »Wir haben nichts gemeinsam« (VS 19), womit er die Entfremdung zwischen den Generationen unterstreicht. Am Ende des Textes suggeriert Werners Nachbarin, dass dieser seine Geschichten als Freiheitskämpfer in Spanien und Russland bloß erfindet, um sich mit dem Ruhm des kommunistischen Widerstandskämpfers zu schmücken. Wer die Wahrheit sagt, lässt der Text offen. Das hat zur Folge, dass die politische Legitimation der Gründer-Generation, die sie aus ihrem antifaschistischen Kampf zieht, infrage gestellt wird. 4.2.3.2 Auf der Suche nach einem Möglichkeitsraum In direkter Verbindung mit Fliegen im Gesicht steht der Text Und über uns schließt sich ein Himmel aus Stahl. Die Erzählung beginnt in medias res nach Roberts tödlichem Fluchtversuch. Sie setzt mit der Verhaftung des Protagonisten Harry, der von der Polizei zu den Hintergründen der gescheiterten Republikflucht befragt wird, ein. In einer Pause des Verhörs erinnert sich Harry – dies erfolgt in Form von Analepsen – an ihre gemeinsamen Erlebnisse und ermahnt sich zur Vorsicht, um nicht selbst ins Visier der Polizei zu geraten: »Ruhig atmen, […]. Jeden Tag mit ihm noch einmal ablaufen lassen wie einen Film. Keinen Punkt überspringen. Dich nicht überraschen lassen.« (VS, 33) Durch den Erinnerungsprozess wird der Leser in die Vorgeschichte der Figuren eingeführt und kann die Beweggründe für Roberts Fluchtversuch nachvollziehen. Der metaphorische Titel des Textes verweist aus Sicht der Jugendlichen auf die erdrückende Atmosphäre der DDR, in der die Heranwachsenden angesichts der limitierten Entfaltungsmöglichkeiten zu ersticken glauben. Die antagonistische Relation zwischen Werner und Robert, die den unüberbrückbaren Bruch zwischen der Gründer-Generation und der Nachfolgegeneration spiegelt, arbeitet Brasch in diesem Text noch deutlicher heraus. Die Entfremdung im Generationenverhältnis wird anlässlich einer Filmvorführung, bei der sich Harry und Robert kennenlernen, besonders anschaulich. Dabei entpuppt sich der Film als ein aufstörendes Element der öffentlichen Ordnung. Im Text heißt es: »Die ganze Woche über, war in Berlin umgegangen, daß der Film verboten werden sollte und in anderen Städten zu Krawallen geführt hatte.« (VS, 29) 756 Sodann ist explizit 756 Der von Frank Beyer produzierte Film Spur der Steine von 1966, der auf dem gleichnamigen Roman von Erik Neutsch basiert, ist drei Tage nach der Uraufführung wegen antisozialistischer Tendenzen aus dem Programm genommen worden. Es lag dies daran, so die offizielle Einschätzung, dass die Parteimitglieder und SED-Funktionäre darin abgewertet worden

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von »zwei Parteien« (VS, 31) die Rede. Während die eine Seite den Film als eine »Verhöhnung unserer Staatsmacht« (VS, 29), mithin als unzumutbare Provokation und Beleidigung der Arbeiterehre wertet und infolgedessen auf Unterbrechung der Vorstellung drängt, reagieren Harry, Robert und zahlreiche weitere jugendliche Zuschauer angesichts der visualisierten Aggressionen von Arbeitern, die bei einer Demonstration die öffentliche Ordnung untergraben, Polizisten angreifen und damit eine Grenzüberschreitung begehen, amüsiert und mit Applaus. Mit einer provozierenden Haltung stehen Robert und Harry im Zuschauerraum und ziehen die Aufmerksamkeit der Kritiker auf sich, indem sie ihre kritischen Kommentare zum Film konterkarieren. Es kommt sogar zu einer körperlichen Auseinandersetzung (vgl. VS, 29ff.). Süffisant kommentiert Robert, was die Kritiker als Skandal wahrnehmen, wie folgt: »Noch kein Film hat eine Welt umgerissen.« (VS, 31) Der sich im Kinosaal einstellende Tumult zwischen den Fronten spiegelt das angespannte Verhältnis zwischen den Generationen wider: Hass, Drohungen, Sanktionen, Vergeltung und Aggressivität sind die primären Emotionen, die die Beziehung zwischen ihnen kennzeichnen. Nach der Vorstellung spitzt sich die Situation weiter zu: »Jetzt wird’s heiß, […] jetzt sind wir geliefert« (VS, 32), bemerkt Harry. Die Adoleszenten entziehen sich der Situation und suchen am Strand Zuflucht, sie wollen den Zwängen der normierten Gesellschaft entkommen. Ihr Ziel ist es, »raus aus der Stadt [zu kommen], irgendwohin, wo man mehr Luft kriegt.« (VS, 32) Die Dichotomie von Jugend- und Erwachsenenwelt mit ihren spezifischen Interessen und Wirklichkeitsmodellen sowie der Kampf um die Deutungshoheit einer allgemeingültigen Wirklichkeit werden zum Gegenstand der Reflexion der Protagonisten. Sie markieren im Laufe der Geschichte ihre Abkehr von einer ideologisch geprägten kollektiven Identitätsstiftung und bestehen darauf, sich auf ihre eigenen Erfahrungen zu konzentrieren und im gesellschaftlichen Diskurs als unabhängige Ich-Identitäten wahrgenommen zu werden. Kritisch reflektiert Robert die Situation der Heranwachsenden: »[…] tatsächlich zerspringt mir der Kopf von all den Theorien, Systemen und historischen Gesetzmäßigkeiten, die ich gelernt habe. Sie wollen unseren Blick auf die anseien und der Führungsanspruch der SED im sozialistischen Aufbauprozess in Frage gestellt worden sei. Nach dieser Kritik sind einige Szenen verändert worden, woraufhin der Filmrat des Ministeriums für Kultur die Aufführung doch empfahl. Das Sekretariat des Politbüros entschied, dass der Film unter Auflagen vorgeführt werden durfte. Für den Film zu werben war den Kinobetreibern gleichwohl untersagt. Die SED boykottierte die Aufführungen zudem, indem sie Schreihälse organisierte, die die Vorführungen störten. Vgl. Brandt, Susanne: Kritik an der SED in dem DEFA-Spielfilm Spur der Steine. Ein politischer Mythos behauptet sich. In: Tepe, Peter [u. a.]: Mythos No. 2. Politische Mythen. Würzburg K & N 2006, S. 182–193, hier: S. 182f., 189, 191. Der Rückgriff auf wahre Begebenheiten verleiht der literarischen Darstellung einen Authentizitätscharakter und markiert die Funktion von Literatur als Erinnerungsmedium.

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geblich großen Dinge lenken, damit wir unsere eigene Erfahrung nicht ernst nehmen.« (VS, 36)

Den Protagonisten geht es um existenzielle Identitätserfahrungen anstelle von belanglosen Scheindebatten, die mit Inszenierungspraktiken zu tun haben. Frustriert bemerkt Robert: »Wir dürfen auf die Barrikaden gehen, wenn es um Musik geht oder um Frisuren oder um Hosen. Das schadet keinem, und nach einer Weile werden wir die Tür einrennen, die sie angelehnt haben, und wir werden auf der Nase liegen.« (VS, 36)

Neben dem intergenerationellen Hegemoniekampf lassen sich am Text weitere Momente markieren, die für die Adoleszenz kennzeichnend und mit dem Identitätsfindungsprozess verknüpft sind, wie etwa das Erleben von Grenzüberschreitungen und Allmachtsphantasien oder die von Adoleszenten empfundene Abgrenzungsnotwendigkeit. So nehmen etwa adoleszente Allmachtsphantasien in der Selbstherrlichkeit des provokanten Auftritts von Robert und Harry im Kinosaal Gestalt an, die auf das Bedürfnis der Jugendlichen nach sozialer Anerkennung unter den Gleichaltrigen und Gleichgesinnten hindeuten. Auf die Aufforderung von Robert, nach der Filmvorführung eine Diskussion über den Film mit der »andere[n] Partei zu führen, reagieren viele Zuschauer mit Begeisterung: »Bravo, schrien einige, und ein gewaltiger Beifall ging durch die Reihen.« (VS, 31) Mario Erdheim betont die Bedeutung der adoleszenten Größen- und Allmachtsphantasien, die für viele Heranwachsende den Anstoß für die Einnahme einer avantgardistischen Rolle in der Gesellschaft darstellen: »Die erneute Besetzung des Selbst, sogar dessen Überschätzung sind notwendig, um die Infragestellung der äußeren Welt wagen und die dadurch bedingte Verunsicherung ertragen zu können.«757 Mit Erdheims Beobachtung lässt sich das grenzüberschreitende Verhalten der Protagonisten im Kinosaal als einen notwendigen Schritt, um gesellschaftliche Veränderungen zu provozieren, deuten. Gemeint ist mit Größenphantasien jenes euphorische, ab und an zur Selbstüberschätzung neigende Lebensgefühl, das Adoleszente wie Robert und Harry dazu motiviert, die überlieferten Wert- und Normvorstellungen in Frage zu stellen und sich auch mit etablierten staatlichen Instanzen und gesellschaftlichen Strukturen anzulegen. Wie Carsten Gansel feststellt, werden »aus gesellschaftlicher, institutioneller oder auch familialer Sicht, mithin aus dem Blickwinkel von psychischen wie gesellschaftlichen (Teil)Systemen [… die] Grenzüberschreitungen während der Adoleszenz zunächst als Störungen im negativen Sinne wahrgenommen«758. Der Grad der verstörenden Wirkung des beschriebenen Kinotumults wird sowohl an der sanktionierenden Reaktion der älteren Gene757 Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 301. 758 Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 33.

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Zum Adoleszenzroman

ration, die das Verhalten der Jugendlichen als Beleidigung und »Verhöhnung unserer Staatsmacht« (VS, 29) wertet, als auch an der Reaktion der Polizei, die die Unruhestifter verfolgt, verhaftet und Drohungen gegen sie ausspricht (vgl. VS, 31), deutlich. Diese Aufstörung resultiert jedoch, so lässt sich mit Gansel argumentieren, primär aus der erfahrenen Selbstirritation und der limitierten Fähigkeit der ›Etablierten‹, in diesem Fall der Parteirepräsentanten und Polizei, Störungen dieser Art als ›normal‹ zu akzeptieren oder sie sogar als ein »konstruktives Moment zu begreifen«759 und produktiv in einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess zu integrieren. Die ablehnende Reaktion der Machtelite verhindert jede Möglichkeit des gesellschaftlichen Wandels bzw. der Entstehung von Neuem. Seit dem Zeitpunkt seiner Verhaftung lebt Harry wegen möglicher Mitwisserschaft von Roberts Fluchtplänen unter Beobachtung und wird von der Angst verfolgt, wegen seines Verhaltens jederzeit mit staatlichen Repressalien belegt zu werden: »Sie können jetzt gehen, aber die Untersuchung ist nicht abgeschlossen« (VS, 60), versichert ihm der Polizist zum Ende des Verhörs. Am Beispiel der Figuren Harry und Robert wird das zentrale Problem ihrer Generation deutlich: Es steht ihnen in der DDR kein angemessener Individuationsraum zur Verfügung. Ein weiterer Ausdruck seines adoleszenten Verhaltens bildet das Risikoverhalten Harrys beim Motorradfahren, mit dem er sein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung zu befriedigen sucht. Soziologische Studien belegen, dass Mutproben, mit denen männliche Heranwachsende in der Interaktion mit Gleichaltrigen ihre (Macht)Position in der Gruppe aushandeln, eine wichtige Funktion im Rahmen des Identitätsfindungsprozesses zukommt.760 Harrys Bedürfnis nach Anerkennung manifestiert sich im Verlauf des Textes in Form verschiedener Mutproben. Aus seiner Innenperspektive wird eine dieser Mutproben ausführlich beschrieben. Mit Robert als seinem Beifahrer rast er mitten in der Nacht auf dem Motorrad ohne eingeschaltetes Licht auf ein entgegenkommendes Auto zu: »[Ich] schaltete die Scheinwerfer aus. Ich zog den Gashebel bis gegen den Anschlag und wir rasten ins Dunkel. Bist du lebensmüde, schrie [Robert] von hinten, mach das Licht an. Die Schatten der Bäume rasten vorbei, und von weitem sah ich die Lichter eines Autos auf uns zukommen […]. Der Wagen konnte nur noch vierzig Meter entfernt sein, und wir rasten noch immer genau auf ihn zu.« (VS, 34f.)

Der in dem Motorrad-Beispiel beschriebene Drang nach dem Erleben einer Grenzerfahrung und Harrys augenscheinliche Affinität zum Risiko – in anderen Fällen vielfach begleitet durch exzessiven Alkoholkonsum – hängen mit der im

759 Ebd., S. 34. 760 Vgl. Kapitel 2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten.

Zu Aspekten der Adoleszenzdarstellung in der DDR vor der Wende – Exkurs

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Zuge der Adoleszenz stattfindenden Reorganisation des Gehirns,761 dem Gefühl der Unverwundbarkeit und dem sogenannten Personal fabel-Phänomen zusammen, nach dem sich Heranwachsende als etwas Einzigartiges erleben und sich diese Einzigartigkeit beweisen wollen. Im Text wird diese Bestätigungsfunktion explizit thematisiert, als die Protagonisten noch unter Schock stehend, die riskante Fahrt Revue passieren lassen: »Du wolltest mir beweisen, was für ein Lappen ich bin mit meinen großen Sprüchen […]. Ich habs schon verstanden: Du bist der unkomplizierte Charakter, der dem Tod ins Weiße vom Auge sehen kann. Das war der Zweck der Übung.« (VS, 35)

Mit Risikoverhalten versuchen Adoleszenten wie Harry sich in der Phase der Adoleszenz sozial zu verorten, um sukzessiv ihre Identität und ihr eigenes Wertesystem zu entwickeln. Nach dem psychosozialen Ansatz von Erik H. Erikson kommt dem Heranwachsenden die Aufgabe zu, eigene Werte und Positionen innerhalb der Gesellschaft auszubilden.762 Dabei versucht Harry sich durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Musikszene von der Elterngeneration abzugrenzen.763 Die westliche Musik findet bei Heranwachsenden wie Harry zunehmend Sympathie und trägt zu einer neuen Bewusstseinsbildung bei. Das Credo der neuen Generation orientiert sich an Gruppen und Künstlern wie zum Beispiel den in der DDR verbotenen Rolling Stones, Simon & Garfunkel, Eric Burdon & The Animals, Jimi Hendrix und Bob Dylan (vgl. VS, 48f.), die mit ihren Songs »Play With Fire«, »Sympathy For The Devil«, »House Of The Rising Sun«, »Hey Joe« u. ä. eine Art Gegenkultur bilden, jenseits der realexistierenden gesellschaftlichen Konventionen. 4.2.3.3 Fazit Ausgehend von den präsentierten intergenerationellen Beziehungen und dem Verhalten der adoleszenten Protagonisten lässt sich festhalten, dass sich Adoleszente wie Harry und Robert erstens durch ein unstillbares Verlangen nach Selbstbestimmtheit auszeichnen. Zweitens erzeugen sie durch ihr Risikoverhalten Irritationen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, weshalb sie als Figuren der Störung bezeichnet werden können. Drittens verdeutlicht die Textanalyse, dass die Ablösung der Heranwachsenden von der Gründer-Generation der DDR zu 761 Neurowissenschaftliche Studien belegen, dass komplexe kognitive Funktionen, wie die Abschätzung der Folgen einer Handlung oder die Beurteilung des angemessenen Verhaltens, bedingt durch das in dieser Entwicklungsphase existierende Ungleichgewicht zwischen der Entwicklung des präfrontalen Kortex und der limbischen Hirnregionen erschwert werden. Vgl. Kapitel 2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten. 762 Vgl. Erikson, Identität. 1973, S. 136f. 763 Zur Funktion der sogenannten alternativen Musik im Kontext einer geschlossenen Gesellschaft vgl. Kapitel 3.5 Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR.

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Zum Adoleszenzroman

dramatischen »existentiellen Erschütterungen«764 führen kann, wenn die generative Haltung seitens der Elterngeneration oder der Jugendlichen nicht bzw. nur sehr bedingt gegeben ist, die Heranwachsenden demnach nicht über einen ausreichenden Möglichkeitsraum für ihre Individuation verfügen, die Systeme Gesellschaft und Politik mithin unfähig sind, auftretende Auf- und Verstörungen als produktive Impulse für die gesellschaftliche Entwicklung zu fassen und ausschließlich sanktionieren. Ausgehend von Mario Erdheims Adoleszenztheorie handelt es sich im vorliegenden Textbeispiel um zwei Varianten der sogenannten misslungenen Adoleszenz: Mit Blick auf die Figur Robert lässt sich auch von einer ausgebrannten Adoleszenz sprechen, zumal die erlittenen Erfahrungen an der Mauer mit seinem Tod in eine Katastrophe führen. Im Falle der Figur Harry liegt eine zerbrochene Adoleszenz vor, da seine Allmachtsphantasien im Adoleszenzverlauf zunehmend geschwächt werden und eine strikte Anpassung des Adoleszenten an die Realität der Erwachsenen erfolgt. Aus der Innenperspektive des Protagonisten wird dann auch die resignierende Haltung nach dem Polizeiverhör beschrieben: »Drei Tage später fuhr ich zu Roberts Begräbnis, drückte seiner Mutter die Hand und war zur Spätschicht zurück.« (VS, 60) Die Folgen dieser zerbrochenen Adoleszenz sind ein Stillstand, bei dem der Heranwachsende weder einen Möglichkeitsraum noch eine Chance erhält, eine generative Haltung zu entwickeln und entsprechend keine Aussicht hat, die Gesellschaft nach seinen individuellen Vorstellungen mitzugestalten. Robert beschreibt seine Situation wie folgt: »Leute wie ich bleiben ein Leben lang in der Pubertät, weil sie immer für oder gegen den großen Papa sind. Und das ist, was der große Papa will.« (VS, 36) Brasch selbst bringt es 1977 in einem Interview mit folgenden Worten auf den Punkt: »Wenn die Regierung, die herrschende Macht, auf alles Anspruch erhebt, was mit Marxismus zu tun hat oder was angeblich ›revolutionär‹ ist, dann ist der einzige Weg meiner Generation – die natürlich gegen die existierende Macht beziehungsweise gegen Autorität im allgemeinen rebelliert –, darauf zu reagieren, indem sie in kindlichen Starrsinn zurückfällt.«765

Angesichts des fehlenden adoleszenten Möglichkeitsraums weigert sich die neue Generation, eine verantwortungsvolle Haltung in der Gesellschaft einzunehmen.

764 Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 169. 765 Brasch, Thomas: Interview mit Thomas Brasch über seine Erfahrung in der DDR. In: Hanf, Thomas Brasch. 2009, S. 55.

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Zu Facetten der Darstellung von Adoleszenz in der DDR in der Gegenwartsliteratur nach 1989

Stellt man die Frage nach der Funktion von Literatur, lässt sich mit Gansel und Herrmann antworten, dass narrative Inszenierungen »individuelle und generationsspezifische Erinnerungen [präsentieren], die für das kollektive Gedächtnis bereitgestellt werden«766. Von dieser These ausgehend, geht es im Folgenden darum, in Hinblick auf die Darstellung von Adoleszenz in der DDR individuelle und generationsspezifische Adoleszenzmuster an ausgewählten Texten herauszuarbeiten. Im Zentrum stehen Nach-Wende-Narrationen von Autorinnen und Autoren aus der sogenannten Integrierten Generation sowie der Entgrenzten Generation. Mit Blick auf die Bedeutung des Generationen-Gedächtnisses stellt sich die Frage, ob sich möglicherweise generationsspezifische Merkmale in der Konfiguration von Erinnerung an die DDR ergeben, aus denen sich unterschiedliche Adoleszenzmuster ableiten lassen. In den folgenden Erzähltextanalysen, die durch Hinweise zum Werk und zum Autor eingeführt werden, wird dargelegt, welche erzählerischen Mittel bei der Konfiguration von Adoleszenz Verwendung finden. Dabei spielt die Analyse der Räume und Figuren eine zentrale Rolle. Mit Blick auf die Ebene der histoire wird sodann herausgearbeitet, inwiefern Schwellenräume bzw. »Zwischenräume des Erprobens«767 für die Darstellung der Entwicklung der Protagonisten und ihrer Identitätsfindung funktionalisiert werden. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, welche Rolle die Figurenkonzeption bei der Darstellung der Identitätsfindung einnimmt. Erarbeitet wird weiterhin, ob und in welcher Weise die Protagonisten die in dieser Entwicklungsphase typische avantgardistische Rolle übernehmen. Stofflich-thematische Motive, die für die Adoleszenz kennzeichnend sind, stehen ebenfalls im Zentrum der Analyse. Sie bilden die Grundlage für die komparative Betrachtung der Texte. Neben Aspekten, die die Ebene der histoire betreffen, geht es auch darum, die zentralen Erzählstrategien

766 Gansel/Herrmann, »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation«. 2013, S. 18f. 767 Stemmann, Räume der Adoleszenz. 2019, S. 4.

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Zu Facetten der Darstellung von Adoleszenz in der DDR

herauszustellen, etwa die Darstellung von Innenweltansichten, mittels der die Identitätsstiftungsprozesse der Figuren für den Leser erfahrbar gemacht werden.

5.1

Jürgen Landt: Der Sonnenküsser – Eigensinn als Lebenshaltung im sozialistischen Kollektiv

Jürgen Landts Der Sonnenküsser gehört zu einer Gruppe von Texten, deren Hauptanliegen die Inszenierung von Erinnerung an Kindheit und Jugend in der ehemaligen DDR ist. Versucht man Landts Text einer Gattung zuzuordnen, so lassen sich eindeutig Merkmale des Adoleszenzromans erkennen. Unter Bezugnahme auf Birgit Neumann kann der Text auch der Gattung der fictions of memory zugeordnet und als Gedächtnisroman bezeichnet werden. Dabei nimmt das »›Was‹ und ›Wie‹ des Erinnerns«768, mit Carsten Gansel gesprochen, eine »zentrale Bedeutung für die Figuren [ein]«769, das Prinzip Erinnerung fungiert mithin als »systemprägende Dominante«770. Anders als bei den meisten in den letzten Jahren erschienenen Adoleszenztexten, bei denen die Episoden aus der Jugendzeit auf der Gegenwartsebene verortet sind, wird in Landts Text ein Wechsel zwischen den Zeitebenen der Basiserzählung und der Analepse inszeniert, womit die Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt werden – aus der Perspektive des erlebenden Kindes und derjenigen des erzählenden postadoleszenten Ichs.771

5.1.1 Zu Autor und Werk Jürgen Landt wird 1957 in Loitz (Vorpommern) geboren. 1983 wird er aus der DDR ausgebürgert, woraufhin er sich in Hamburg ansiedelt. Die Ausbürgerung bildet eine biographische Zäsur, die er in seinen literarischen Texten zu verar-

768 Gansel: Atlantiseffekte in der Literatur? 2010, S. 27. 769 Ebd. 770 Hans Robert Jauß arbeitet mit der Kategorie der systemprägenden Dominante, um die Gattungszugehörigkeit eines literarischen Textes zu bestimmen, bei dem eine Vermischung mehrerer Gattungen vorliegt. Vgl. Jauß, Hans Robert: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Ders. (Hg.): Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 1: Généralités. Heidelberg: Winter 1972, S. 107–138, hier: S. 112. Den Hinweis auf diese Kategorie verdanke ich Carsten Gansel. Vgl. Gansel, Carsten: Kindheit und Jugend erfahren, erinnern und erzählen – Zu Otfried Preußlers literarischen Anfängen. In: Gansel/Ächtler/ Kümmerling-Meibauer, Erzählen über Kindheit und Jugend. 2019, S. 205–243, hier: S. 225. 771 Vgl. Gansel, Von Versuchen, Kindheit und Jugend zu erinnern. 2019, S. 102f.

Jürgen Landt: Der Sonnenküsser

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beiten sucht.772 Seit 1998 lebt Landt als freischaffender Autor in Greifswald. Seine Arbeit wird mehrfach gefördert, 1999 unter anderem durch ein Stipendium der Stiftung Kulturfonds Berlin und mehrere Literaturstipendien des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Im Jahr 2007 erscheint sein Debütroman Der Sonnenküsser, in dem er zahlreiche autobiographische Momente literarisch verarbeitet. Darüber hinaus schreibt Landt Kurzprosa und Lyrik, erstellt Schreibmaschinenkunstwerke, sogenannte Type-Arts, Grafiken und Zeichnungen. Kennzeichnend für seine Texte ist eine Sprache, die als »Skalpell für sezierende Beobachtungen«773 gehandelt wird. Mit seinem schonungslosen und eindringlichen Stil macht er die Abgründe menschlicher Beziehungen spürbar. Zentrales Thema seiner Texte ist das Individuum mit seinen innersten Konflikten und Kämpfen, insbesondere das existentielle Gefühl des ›In-die-Welt-GeworfenSeins‹ – das nicht zuletzt der Protagonist seines Debütromans wie folgt beschreibt: »dann riss ihr der damm. und ich war da.«774 Mit Blick auf die Rezeption des Texts ist Wolfgang Gabler herauszugreifen, der Landts Roman als »antiidyllisch[e]«775 Literatur einordnet, deren Lektüre mit intensiven emotionalen Risiken verbunden ist. Von einer »ungehobelt[en], ungekünstelt[en] [und] zudringlich[en]«776 Literatur ist weiterhin die Rede. Dieses Merkmal ist für Landts Schreiben zweifellos charakteristisch. Formal zeichnen sich seine Texte durch die Auflösung literarischer und sprachlicher Konventionen – zum Beispiel die Nicht-Berücksichtigung der Großschreibung – aus. Gabler stellt zurecht die Frage, ob es »für Lands Texte überhaupt verlässliche Regeln gibt«777. Sucht man Landt in den geschichtlichen Kontext der ehemaligen DDR einzuordnen, so ließe er sich aufgrund seiner Jahrgangszugehörigkeit nach dem Lindner-Modell zur sogenannten Generation mit stabiler Bindung zuordnen, nach dem Ahbe/Gries-Modell zur integrierten Generation.778 Landts Streben 772 Vgl. zum Beispiel das Gedicht Sieben Anträge auf Ausreise und vier Tage See. In: Verein zur Förderung neuer Literatur in Mecklenburg-Vorpommern RISSE e. V. (Hg.): Auf Kippe. Der Künstler Jürgen Landt. Risse. Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern. Sonderheft Nr. 8. 2016, S. 46f. 773 Brumke, Urs: GRÜSS DEN KRÜMMEN STERN VON MIR – EIN MENSCHENBERICHT UND EINE GRUNDAUSBILDUNG FÜR JENSEITS. In: Ebd., S. 73–75, hier: S. 73. 774 Jürgen Landt: Der Sonnenküsser. Weimar & Rostock: Edition M. 2009, S. 7 [im Folgenden unter der Sigle »DS« mit Seitenzahl im Text]. 775 Gabler, Wolfgang: Ungehobelt. Nachwort zum Roman Der Sonnenküsser. In: Ebd., S. 325. 776 Ebd. 777 Gabler, Wolfgang: Auf Kippe. Der Autor und Künstler Jürgen Landt. Essay. In: Verein zur Förderung neuer Literatur in Mecklenburg-Vorpommern RISSE e. V. (Hg.): Auf Kippe. Der Künstler Jürgen Landt. Risse. Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern. Sonderheft Nr. 8. 2016, S. 45–57, hier: S. 49. 778 Vgl. Ahbe/Gries, Geschichte der Generationen in der DDR. 2011, S. 39ff.; Lindner, Sozialisation und politische Kultur junger Ostdeutscher vor und nach der Wende. 1997, S. 23–37, hier: S. 27f.

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nach Individualität ist jedoch ein Charakteristikum, das ihn einer schematischen Generationenzuordnung entzieht. Vielmehr macht ihn sein Werdegang zum Einzelgänger, wodurch er seine Individualität bis in die Gegenwart bewahrt. Es lässt sich einräumen, dass seine Entwicklung zu einem gewissen Grad mit der Haltung der Nicht-Mehr-Eingestiegenen-Generation (Lindner) korrespondiert, weigert sich Landt doch aktiv, kollektive Haltungen zu übernehmen. Sein Individualismus spielt auch in der Rezeption seiner Texte eine Rolle, die immer wieder Momente der Entgrenzung zum Gegenstand machen. So resümiert Mathias Schnitzler die Wirkung von Landts Schreiben folgendermaßen: »Jürgen Landt ist vielleicht der größte Außenseiter der deutschen Gegenwartsliteratur. So groß ist seine Außer- und Abseitigkeit, dass ihn kaum jemand kennt.«779

5.1.2 Zum Inhalt Die Erzählung beginnt im Jahr 1989, am Tag der Maueröffnung, und setzt auf der extradiegetischen Ebene ein. Der Ich-Erzähler Peter Sorgenich, Landts Alter Ego, erzählt aus der postadoleszenten Perspektive, wie ihn die Vergangenheit in seiner Hamburger Ein-Zimmer-Wohnung im Moment des Mauerfalls einholt. Die Mauer zwischen der DDR und der BRD lässt sich als metaphorische Grenze zwischen der Gegenwart des Ich-Erzählers und seiner Vergangenheit deuten. Bereits der Titel verweist auf die Größenphantasien und den selbstzerstörerischen Höhenflug des Protagonisten, der geprägt von einem »Ikarus-Syndrom«780 nach der Sonne bzw. der absoluten Freiheit strebt. Rückblickend fasst Sorgenich seine Geschichte zusammen und beschreibt, wie er in der Enge eines familiären, schulischen und gesellschaftlichen Umfeldes zunehmend seine Individualität verliert und unter dem sozialen Konformitätsdruck, der die DDR-Gesellschaft bestimmt, leidet: »meine geschichte nahm ihren engen verlauf: menschen gürteten einen kleinen jungen ein. und sie stanzten weitere löcher in seinen gürtel, um ihn eng in ihr muster des lebens zu schnallen.« (DS, 36)

Der Protagonist erinnert, wie er sich gegen jede Form der Fremdbestimmung gewehrt und auf seiner Individualität beharrt hat. Auf der intradiegetischen Ebene angekommen wird, mit Gérard Genette formuliert, die Geschichte des Ich-Erzählers sodann in Form einer nahezu kompletten Analepse chronologisch 779 Mathias Schnitzler, zitiert nach dem freiraum Verlag. In: [letzter Zugriff am 27. 02. 2020]. 780 Bernd Hontschik macht auf das Risikoverhalten männlicher Adoleszenten aufmerksam, die nach Anerkennung suchen, und spricht in dem Zusammenhang von einem »Ikarus-Phänomen«. Vgl. Hontschik, Das Ikarus-Syndrom. 2013, S. 337.

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erzählt, beginnend mit seiner Geburt im Jahr 1957 in der Nähe von Demmin bis zu seiner Ausbürgerung im Jahr 1983. Diese Form der Darstellung gibt einen detaillierten Überblick über die Entwicklung der Figur, wobei sich die aufeinanderfolgenden Erinnerungsmomente zu einer sinnhaften Lebensgeschichte zusammensetzen lassen.781 Letzteres spielt für die Darstellung von Adoleszenz eine entscheidende Rolle. Angelehnt an Kurt Robert Eissler spricht Mario Erdheim von der Adoleszenz als einer zweiten Chance, in der eine Relativierung des Determinationspotenzials der Kindheit möglich ist. Die Rekonstruktion seiner Kindheit, die mit der Möglichkeit zu nachträglicher Reflexion und Neubewertung aus Sicht des postadoleszenten Ichs einhergeht, ermöglicht es Sorgenich, das Determinationspotenzial seiner Kindheit zu relativieren und die Vergangenheit und deren Auswirkungen in Hinblick auf seine Situation in der erzählerischen Gegenwart abzumildern. Dadurch erfüllt die Erinnerung an die eigene Kindheit und Adoleszenz eine identitätsstiftende Funktion und trägt dazu bei, eine der wichtigen Entwicklungsaufgaben im Prozess der Individualisierung zu erfüllen. Die Darstellungen erfolgen raffend und überwiegend aus Sicht des kindlichen wie jugendlichen Protagonisten, wobei die limitierte Perspektive des erlebenden Ichs durch kurze Reflexionsmomente des gealterten erzählenden Ichs ergänzt bzw. kontextualisiert wird. Auf der Ebene der histoire präsentiert Der Sonnenküsser die Geschichte einer zerrütteten Familie: Omnipräsent ist die psychisch kranke Mutter, die ständig mit Selbstmordgedanken spielt und das familiäre Umfeld auch mit ihrer aggressiven und kontrollierenden Haltung drangsaliert. Der Vater ist mit der Krankheit seiner Frau vollkommen überfordert, zudem ist er nicht in der Lage, die Entwicklung seines Sohnes zu begleiten – stets hofft er darauf, dass staatliche Instanzen für dessen Probleme eine Lösung finden, wie er dem Sohn auch mitteilt: »die werden schon irgendwas für dich finden. in unserem staat bleibt niemand auf der straße.« (DS, 166) Neben Peter Sorgenich umfasst das Figurenensemble noch eine Tochter, die wie ihr Bruder unter der Kontrolle der Mutter leidet, der es im Sinne einer Kontrastfigur zum Protagonisten jedoch gelingt, ihre Schullaufbahn erfolgreich zu gestalten. Dass die Mutter sie dem Bruder ständig als Vorbild präsentiert, sorgt für weitere Spannungen. Peter Sorgenich ist eine Außenseiterfigur, deren Handeln nicht politisch motiviert ist. Stattdessen sucht Peter in seinem familiären wie schulischen Umfeld, das Uniformität fordert, eine Individualität auszubilden. Von Kindesbeinen an versucht er sich der Dominanz seiner Mutter und den Vorgaben seiner Lehrer zu entziehen. So verwundert es 781 Zur Funktion von Analepsen in der Darstellung von Erinnerung vgl. Basseler, Michael/Birke, Dorothee: Mimesis des Erinnerns. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. S. 123–148, hier: S. 126.

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nicht, dass im Laufe seiner Adoleszenz die Beziehungen zu Gleichaltrigen für Sorgenich an Bedeutung gewinnen. Mit seinen Freunden testet er Grenzen aus und gibt sich Provokationen hin. Seine Geschlechtsreife stellt ihn vor neue Herausforderungen, die er allein und gemeinsam mit Freunden zu bewältigen versucht. Nach der Jugendweihe gewinnen sogenannte Transgressionsakte an Bedeutung, es sind dies Erfahrungen, mit denen er seine Männlichkeit und seinen Status in der Peergroup bestätigt, sich von der Welt der Erwachsenen abgrenzt und seine Identitätsbildung vorantreibt. Im schulischen Umfeld fällt er durch ein zunehmend aggressives Verhalten auf, begleitet von einer selbstbewusst-ablehnenden Haltung gegenüber den etablierten Regeln und den Forderungen der Lehrenden. Auch in der Freizeit verliert er sich nicht selten in eine Gewaltspirale und zeigt asoziales Verhalten. Wie sein sprechender Name »Sorgenich« bereits verrät, kümmert er sich nicht wirklich um sich. Mit sechzehn Jahren kommt Sorgenich wegen Vandalismus und seines aggressiven Verhaltens in Berührung mit der Justiz und wird zu einer Jugendstrafe verurteilt. Der Aufenthalt im Zuchthaus Alt-Strelitz bildet eine Zäsur in seiner Entwicklung. Stigmatisiert durch die Verurteilung und emotional angeschlagen durch die Grenzerfahrungen im Gefängnis, findet Sorgenich nach seiner Entlassung keinen Anschluss an die Gesellschaft mehr. Im Folgenden geht es darum, der Frage nach der literarischen Konfiguration von Adoleszenz in der DDR am Beispiel der Figur Peter Sorgenich nachzugehen. In einem ersten Schritt wird überprüft, ob bzw. inwiefern in der familiären Situation, in die Peter hineingeboren wird, die generativen Voraussetzungen, die für einen erfolgreichen Individuationsprozess notwendig sind, vorliegen. Dabei werden sowohl allgemeine Entwicklungshindernisse als auch traumatische Erfahrungen in der Kindheit der Figur berücksichtigt. Im Anschluss wird untersucht, wie sich die erlebten Aufstörungsmomente auf die adoleszente Entwicklung auswirken. Dabei wird die These geprüft, dass die Entwicklung des Protagonisten maßgeblich von den Folgen seines kindlichen Entwicklungstraumas konditioniert worden ist. Daran anknüpfend, werden zentrale Ausprägungen der Adoleszenz, wie die Suche nach Grenzerfahrungen und die damit verbundenen Aufstörungsmomente, die Funktion der Beziehungen zu Gleichaltrigen und das Erleben erster sexueller Kontakte in den Blick genommen.

5.1.3 Zur gestörten Generativität im familiären Umfeld In der Familie Sorgenich ergibt sich durch die pathologische Situation der depressiven und hysterischen Mutter eine Grenzsituation, die sich, so lässt sich am Text nachzeichnen, besonders negativ auf die Individuation des Protagonisten auswirkt. Die Mutter ist seit seiner Geburt nicht in der Lage, »eine generative

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Haltung einzunehmen und damit eine der Voraussetzungen für [die] soziale Geburt«782 des Sohnes zu schaffen. Von Beginn an ist die Beziehung zwischen Mutter und Sohn konfliktreich. So gerät Peter bereits als Baby in Lebensgefahr, weil die Mutter sein Bedürfnis nach Unabhängigkeit, symbolisiert durch die Handlung des »Freistrampelns«, unterbinden will und ihn zudeckt: »als das vieh versorgt war, befreite sie das unters zudeck geratene und bläulich angelaufene kind.« (DS, 7) Peter Sorgenich entgeht knapp dem Erstickungstod, wird von der Mutter aber dauerhaft als eine Belastung empfunden und kann ihren Erwartungen und Ansprüchen nicht gerecht werden: »ab! ab! ins bett! mein gott, was habe ich bloß für einen ärger mit dem bengel! der bengel ist gottes strafe!« (DS, 69), keift sie etwa. Die Aneinanderreihung kurzer Imperativsätze markiert den dominanten und hektischen Charakter der Mutter. Die Exklamation unterstreicht die emotional aufgeladene Grundstimmung der Situation. Zusätzlich gibt die Mutter ihrer Abneigung gegenüber dem Sohn durch Wiederholungen des Begriffs »bengel« Ausdruck. Das Gefühl des Protagonisten, weder willkommen noch angenommen zu sein, verhindert die Entwicklung des sogenannten Urvertrauens. Stattdessen ist seine Existenz von einer tiefgehenden Angst geprägt, die erst die Ausbildung eines gesunden Selbstwertgefühls und später die Identitätsfindung des adoleszenten Protagonisten verhindert. Dass Peter und seiner Schwerster Simone andauernd für vermeintliches Fehlverhalten Strafen angedroht werden und sie unterschiedlichen Formen von emotionaler und physischer Gewalt ausgesetzt sind, führt zu einer tiefgreifenden Verstörung der Kinder. Resigniert äußert sich Simone, als sie für ihre Leistung im Russischunterricht lediglich eine Drei bekommt: »du weißt ja, wie mutti haut und böse wird! und nachts läuft sie wieder auf den boden und will sich aufhängen.« (DS, 52) Sie fürchtet die Repressalien der Mutter: »simone heulte wieder los und bebte am ganzen körper.« (DS, 52) Das aggressive Verhalten der Mutter überfordert die Kinder permanent, selbst nachts finden sie keine emotionale Ruhe: »wieder wachte ich nachts. geschrei, gezeter und geheule im treppenflur. türen krachten. wieder ging mein vater meiner mutter auf den boden nach. ich kannte das, doch jedesmal bekam ich fürchterliche angst. nicht mehr so schlimm wie vor jahren, nicht mehr heulend, aber immer diese furcht vor dem selbsttod der mutter. warum machte sie das nur? was sollte das? und warum ging mein vater ihr jedesmal nach? hatte er dieselbe angst wie ich? wenn ich ein mann wäre, würde ich sie hängen lassen? würde ich die wäscheleine vor ihr verstecken? aber auf dem boden hingen ja noch mehr leinen und draußen auf dem trockenplatz oder in den geschäften. und warum war sie nicht tot, obwohl mein vater zeit verstreichen ließ, ihr nicht sofort hinterherging? nach solchen nächten war ich morgens todmüde, und meine mutter tat so, als wäre in

782 King, Die Entstehung des Neuen. 2002, S. 124.

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der nacht zuvor nichts gewesen! und wenn ich in jenen tagen mit einer drei nach hause kam, dann schlug sie mich.« (DS, 42f.) [Hervorh. d. Verf.]

Die iterative Erzählung inszeniert das Moment der Wiederholung der beschriebenen Ereignisse, das der Figurencharakterisierung dient. An anderen Stellen entsteht der Eindruck, als ob die Mutter im Zweiten Weltkrieg im Zuge der Flucht vor der Roten Armee traumatische Erfahrungen erlitten hätte und nicht in der Lage sei, das Erlebte zu verarbeiten (vgl. DS, 39, 62, 249). Möglicherweise ist dies der Grund dafür, dass sie psychisch labil, reizbar und selbstmordgefährdet ist und sich durch unberechenbares Verhalten auszeichnet. Der Textauszug deutet ein Spannungsverhältnis zwischen dem erlebenden kindlichen und dem erzählenden postadoleszenten Ich an. Es ist der übergeordnete Wissenshorizont des erinnernden Ichs, der die Rekonstruktion der Erinnerung einklammert. Nachträglich wird das Geschehen aus Perspektive des postadoleszenten Erzählers kommentiert und bewertet. Mit Daniel L. Schacter formuliert, erfolgt in dem Auszug ein Wechsel von Felderinnerungen (field memories) zu Beobachtererinnerungen (observer memories).783 Die Intensität der Verstörung ist so groß, dass in Momenten des Erinnerns Gegenwart und Vergangenheit fast ineinander übergehen. Der Wechsel der Zeitebenen wird nur kunstvoll angedeutet. Durch die Form der Darstellung wird die nachhaltige intensive Wirkung der Verstörung für den Leser erfahrbar. Augenscheinlich tyrannisiert die Mutter mit ihrer omnipräsenten Drohung, sich das Leben zu nehmen, die gesamte Familie. Der Wechsel der Zeitebenen zeigt die emotionale Distanzierung der Figur zur Mutter an, belegt mithin, wie weit die innere Abkehr des Protagonisten von seinem primären Liebesobjekt vorangeschritten ist. Der Textauszug zeigt auch, dass Peter die Rolle seines Vaters in Frage stellt, da sich dieser nicht gegen die Mutter zu behaupten weiß oder sich erst gar nicht traut, sich ihr entgegenzustellen. Auch an anderen Stellen im Text wird deutlich, dass der Vater in angespannten Familiensituationen stets den Weg wählt, der für ihn selbst am angenehmsten ist und der es ihm ermöglicht, die Bearbeitung des Konflikts mit seiner Ehefrau zu vermeiden. Mit seiner Passivität lässt er jedoch die emotionale Störung seiner Kinder geschehen, die offensichtlich unter der physischen und psychischen Gewalt der Mutter leiden. Deutlich wird: Auch wenn Peter das Verhalten seiner Mutter nicht unbekannt ist, gewöhnen kann er sich an extrem belastende Situationen wie diese nicht. Die Bedrohung, die von der Mutter ausgeht, empfindet er als allgegenwärtig: »ich fing an zu zittern, und tränen stiegen in mir auf. türenschlagen weckten mich in der nacht, kreischender krach, schriller, unbändiger zorn meiner mutter ließ mich im bett erstarren.« (DS, 57f.) Geprägt von den prekären Lebensumständen in der Familie – den traumatisierenden Miss783 Zur Unterscheidung von field memories (Felderinnerungen) und observer memories (Beobachtererinnerungen) vgl. Schacter, Wir sind Erinnerung. 2001, S. 45.

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handlungen und Vernachlässigungen ausgesetzt – zeigen die Geschwister deutliche Symptome einer emotionalen Störung, die ihre Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt und vor allem bei Peter in der Adoleszenz dazu führt, dass er mit seiner Selbstfindung überfordert ist.784 Neben den Momenten der Sorge um die Mutter ist die Kindheit des Ich-Erzählers auch durch die Beobachtung gewalttätiger Handlungen geprägt, wie die folgende Textstelle veranschaulicht: »in dem über und über von spinnweben verhangenen stall saß ich angeschnallt im kinderwagen und sah meiner mutter zu, wie sie dem tier am euter zog, wie sie am euter spielte, wie weiße flüssigkeit in einen eimer spritzte und wie meine mutter das weiße trank. und immer war die ratte da, die auf einem stützbalken verharrte, und ich sah die gewalttätige kraft, mit der die mutter die rostigen zinken einer forke durch die ratte bohrte und sie an das holz nagelte, ich sah das blut, das bis an meine karre spritzte, die ratte quiekte heller, schrie lebendiger als ich, und sie zappelte auch länger, länger, als ich es in meiner kinderkarre vermochte […].« (DS, 8)

Eine ähnlich verstörende Wirkung entfaltet die Beobachtung der brutalen Schlachtung eines Schweines auf dem Hof der Familie. Die Schonungslosigkeit des Vorgehens wird aus der Sicht des damaligen Kindes in Form von Felderinnerungen (field memories) dargestellt: »doch jetzt rannte franz mit dem großen hammer und – ohne dass es ihm aufgetragen worden war – mit einem meißel dem schwein hinterher. als die männer das schwein endlich zu fassen kriegten, schlug franz den meißel in den kopf des schweins.« (DS, 30)

Die beobachtete Tötung der Tiere sind verstörende, mithin traumatische Erlebnisse für den Protagonisten, der aufgrund seines Alters und der erfahrenen Vernachlässigung keine ausreichende Fähigkeit entwickeln konnte, um die Intensität der miterlebten Gewaltausübung aufzuarbeiten.785 Seine direkte physische Reaktion auf die Beobachtung der Schlachtung des Tieres – er spürt Kälte, aufsteigende Übelkeit und muss sich erbrechen (vgl. DS, 30f.) – bestätigt, wie intensiv sich Peters Unterbewusstsein mit den beobachteten Ereignissen auseinandersetzt und welche eindringliche Wirkung sie ausüben. Die einzelnen Aspekte bilden in Summe ein prekäres Umfeld, das Peter nicht angemessene Möglichkeiten der Entfaltung bietet.

784 Vgl. Streeck-Fischer, Annette: Trauma und Entwicklung. Adoleszenz – Frühe Traumatisierungen und ihre Folgen in der Adoleszenz. 2., überarb. Aufl. Stuttgart: Schattauer 2014, S. 1f. Vera King macht darauf aufmerksam, dass die fehlende Generativität in der Familie adoleszente Individuationsprozesse erschwert oder verunmöglicht. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2002, S. 125. 785 Die funktionale Kette von Störung – Transkription – Transparenz misslingt und der Grad der Störung erreicht eine weitere Intensivierung, die einen größeren Remediatisierungsbedarf verlangt. Vgl. Jäger, Störung und Transparenz. 2004, S. 61.

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In Ergänzung zu den soziologischen Erkenntnissen, die zur Charakterisierung der Figuren dienen, stellt sich aus literaturwissenschaftlicher Sicht die Frage, wie die traumatischen Erinnerungen trotz der ihnen inhärenten ›Unsagbarkeit‹ literarisch inszeniert werden können. Während Landt bei der Darstellung der Selbstmordversuche der Mutter auf ein Zusammenspiel von Felderinnerungen und Beobachtererinnerungen setzt, nutzt er bei der Darstellung der Gewaltszenen insbesondere eine Poetisierung der Sprache, mit der die Erzählinstanz das irritierende Ereignis in seiner Kindheit vermittelt.786 Auffällig ist dabei der Rückgriff auf diametral entgegengesetzte Momente bzw. Assoziationen, wie das Euter der Kuh, das mit seiner Milch als Symbol für das Leben und eine nährende Mütterlichkeit steht, wohingegen die Ratte als heimtückisches und schmutziges Tier gilt, das oft mit dem Teufel in Verbindung gebracht wird, Krankheiten überträgt und bei vielen Menschen Angst und Ekel hervorruft. Die schmutzige, Krankheiten verbreitende Ratte ist antithetisch mit der »weißen [F]lüssigkeit« verknüpft, die Wachstum bewirkt, Stärkung und Sättigung erzeugt und so für eine nährende Mütterlichkeit steht oder durch die Farbsymbolik für die Reinheit und Unschuld stehen kann. Über das Mittel der bildhaften Sprache bringt Landt eindrucksvoll zum Ausdruck, welche Ausmaße die Verstörung Peters durch seine Mutter annimmt. Die Beschreibung der mütterlichen Handlungen eröffnet darüber hinaus noch eine zweite Ebene, die durch die eindeutig sexuell konnotierte Wortwahl des erzählenden Ichs induziert wird. Indem die Milch als »weiße flüssigkeit« bezeichnet wird, die aus dem Euter »spritzt«, während die Mutter daran »spielte«, werden beim Leser sexuelle Assoziationen hervorgerufen, die jedoch den Horizont des kindlichen erlebenden Ichs übersteigen. Ein weiteres kontrastierendes Moment wird durch die Gegenüberstellung der spritzenden Milch und des spritzenden Blutes, mithin von Leben und Tod, erzeugt. Auf der sprachlichen Ebene kommt es zu einer Anhäufung von spitzen Lauten, die eine lautmalerische Wirkung erzielen und die Aggressivität des Erlebnisses vermitteln. Wie sehr sich das verängstigte Kind mit der von der Mutter an den Balken genagelten Ratte identifiziert, zeigt sich dadurch, dass es von einer anfänglichen beobachtenden Rolle in eine aktive Rolle wechselt, wobei er das Leiden der Ratte sowie ihre letzten Zuckungen vor dem Tod mit seiner Person in Verbindung setzt. Dieser Eindruck wird insofern gesteigert, als das Blut des abgestochenen Tieres 786 An anderen Stellen werden Auslassungsstrategien angewendet, um die Sprachlosigkeit bzw. die Irritation des Protagonisten sichtbar zu machen und die Unmöglichkeit einer Remediatisierung im Sinne der Transkriptionstheorie von Ludwig Jäger zu offenbaren: »fragen, nichts als fragen … waren es die erlebnisse meiner mutter als kind auf der flucht gewesen, die ihr verhalten und ihre ausbrüche … oder war es nur dieser mann, mein vater, der … oder wir, die kinder … oder ich? warum hatte sie denn einen mann und kinder und mich …? mir wurde unerträglich heiß und schlecht als müsste ich jeden moment brechen …« (DS, 122).

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bis an seine »karre spritzte«. Hervorzuheben ist, dass durch die nachträgliche Präsentation des Geschehens eine Distanzierung der Figur von dem erschreckenden Erlebnis erfolgt. Die Rückwendung ist folglich sowohl eine erzählerische als auch eine therapeutische Strategie des erzählenden Ichs, um mit der erfahrenen Ohnmacht umzugehen. Beim zweiten Erinnerungsmoment, dem Schlachten des Schweins, wird das Ereignis aus der Sicht des kindlichen erlebenden Ichs rekonstruiert. Dabei erfolgt ein Wechsel von Felderinnerungen zu Beobachtererinnerungen, indem die Darstellung des erlebenden Ichs durch eine Parenthese unterbrochen wird, durch die der übergeordnete Wissenshorizont des erzählenden Ichs in die Darstellung einfließt und das Geschehen nachträglich kommentiert wird. Zusätzlich wird der Ich-Erzähler von seiner Mutter mit der detaillierten Darstellung des Selbstmordes des Friseurs sowie seiner Nadelarbeitslehrerin, mit einer Beschreibung von (erweiterten) Selbstmordfällen am Ende des Zweiten Weltkrieges (vgl. DS, 61) und der Darstellung eines familienkollektiven Mords (vgl. DS, 93) konfrontiert. Nachhaltig verstört von diesen Schilderungen und Eindrücken entwickelt der kindliche Erzähler eine Vorstellung des Selbstmordes des Friseurs, in der er den Friseur mit dem Schwein gleichsetzt, so wie er sich selbst zuvor mit der Ratte identifiziert hat:787 »[…] und ich sah das loch im kopf des friseurs, klein und ein rinnsal blut, wie beim schwein von onkel friedrich. ich hörte den friseur quieken und sah ihn tot neben dem drehbaren sessel […].« (DS, 37)

In seinem Alltag ist der Protagonist immer wieder angsteinflößenden Berichten seiner Mutter über Vergewaltigungen von Frauen durch russische Soldaten (vgl. DS, 62), über das Schicksal von verstorbenen Säuglingen in der (Nach)Kriegszeit und über die Fluchtumstände der Familie während des Zweiten Weltkrieges ausgesetzt: »überall lagen kleine kinder im straßengraben! steif gefroren! sie sahen aus wie puppen!« (DS, 38), heißt es etwa.788 Die kontinuierliche Kon787 Das Quieken des Schweins verfolgt Peter, es bleibt ihm noch Jahre später präsent und gerät zu einem Symbol seines Leides und Schmerzes. Die Figur verbindet fortlaufend schmerzhafte Ereignisse mit der Schlachtung des Schweins. So erinnert sich Peter beim Anblick der abgetrennten Finger des Kochs im Gefängnis an die »schräg abgesäbelte[n] schweinepfoten« (DS, 228). Ebenso vergleicht er sich selbst »mit einer zum trocknen aufgehängten schweineblase, wie [er] sie aus [seiner] kindheit von den schlachtfesten kannte« (DS, 296), als er in der Vollzugsanstalt eine »schlimme hautablösung« (DS, 296) bekommt. Die Rückblicke zeigen die Intensität und Nachhaltigkeit jener in der Kindheit gemachten Erfahrungen auf. 788 Carsten Gansel verweist darauf, dass es mit der Überwindung der deutschen Teilung zu einer Umformung des Funktionsgedächtnisses kommt, da Erinnerungen aus dem Speichergedächtnis ins Funktionsgedächtnis gelangen und Erfahrungen wie Flucht, Vergewaltigung durch russische Soldaten u. ä., die über einen längeren historischen Zeitraum tabuisiert waren, literarisch aufgearbeitet werden können. Die literarische Verarbeitung ermöglicht es, die sogenannten blinden Stellen der deutschen Geschichte zum ersten Mal oder auf neue

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frontation mit berichteter erfahrener Gewalt – körperlich, emotional, verbal – versetzt den Protagonisten in einen dauerhaften Angst- bzw. Alarmzustand und bedingt seine Verstörung. Die von den Kontroll- und Gewaltmechanismen der Mutter geprägte prekäre Lebenssituation der Familie sowie die verstörenden Erfahrungen verhindern die natürliche Entfaltungsmöglichkeit des Protagonisten: »wie sollte sich ein kind von einer alles kontrollierenden mutter zurückziehen können?« (DS, 34), fragt er sich. Durch die Passivität des Vaters sind die Kinder den Misshandlungen ihrer Mutter schutzlos ausgeliefert. Das Ausbleiben effektiver Maßnahmen verstärkt ihre Verstörung und enttäuscht dauerhaft ihre Erwartungen an die Rolle ihrer Eltern als Fürsorge- und Bezugspersonen. Zu einem Tiefpunkt in der Eltern-Kind-Beziehung kommt es, als Peter durch die in der Pubertät stattfindenden hormonellen Veränderungen bedingt, sexuelle Fantasien entwickelt und seine sexuelle Entwicklung voranzutreiben sucht. Auch in diesem Punk ergeben sich Konfrontationen mit der Mutter, die die Intimität des Kinderzimmers kontinuierlich stört, um auf diese Weise zu verhindern, dass der Sohn die sexuellen Funktionen seines Körpers entdecken und sich selbst befriedigen kann: »ruckartig flog die tür des kinderzimmers auf, und wie im flug stand meine mutter neben dem bett, und ruckartig zog sie das zudeck über mir weg und schrie mich an: ›tobst du dich schon wieder ein!? mach, dass du aus dem bett kommst! nur ärger macht einem dieser bengel! hör auf mit diesem eintoben! raus aus dem bett!!‹« (DS, 44)

Das aufdringliche und bestrafende Verhalten der Mutter offenbart ihre Schwierigkeit, eine generative Haltung einzunehmen, die die natürliche Entwicklung Peters unterstützen würde. Mit ihren Drangsalierungen greift sie massiv in die Intimsphäre ihres Sohnes ein und erschwert wichtige adoleszente Entwicklungsaufgaben wie die Aneignung des eigenen Körpers und die Erprobung der Sexualität. Folglich stellt der Protagonist seine Entwicklung in Frage und die Entdeckung des eigenen Körpers wird mit einem Gefühl des Verbotenen und Schlechten assoziiert. Nur durch den Besuch der Schule und die Teilnahme an Freizeitangeboten, die vom Staat initiiert werden, kann sich Sorgenich der permanenten Kontrolle seiner Mutter entziehen und mit Gleichaltrigen in Weise zu erinnern. Vgl. Gansel, Atlantiseffekte in der Literatur? 2010, S. 25, 28. Durch Landts Darstellung wird der größte Massenselbstmord der deutschen Geschichte ins Funktionsgedächtnis übertragen. Wie im Text angedeutet wird (vgl. DS, 59f.), handelt es sich um eine in der DDR tabuisierte Tragödie, die sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges ereignete: Der Vorstoß der Roten Armee löste eine Suizidwelle aus. Aus Angst vor der Rache der Sowjetsoldaten nahmen sich ca. Tausend Menschen zwischen dem 30. April und dem 03. Mai in Demmin das Leben. Vielfach kam es zu erweitertem Selbstmord – Mütter töteten zunächst ihre Kinder und anschließend sich selbst. Vgl. Huber, Florian: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945. Berlin: Berlin Verlag 2015, S. 59, 136– 138; vgl. auch Ullrich, Volker: Acht Tage im Mai. München: C. H. Beck 2020, S. 51f.

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Kontakt treten. Die für den modernen Adoleszenzroman kennzeichnende Dichotomie von Jugend- und Erwachsenenwelt manifestiert sich im Sonnenküsser insofern als der heranwachsende Protagonist eine zu seinen Eltern konträre Position einnimmt und eigene Vorstellungen und Einstellungen entwickelt.789 Dies zeigt sich etwa mit Blick auf seine Berufswahl. Die Eltern versuchen, die Wahl seiner Ausbildung zu beeinflussen. Peters Vorstellungen, im Hafen zu arbeiten, um eventuell eine Möglichkeit zu finden, eine Flucht aus der DDR zu realisieren, lehnen die Eltern ab – sie befürchten persönliche Nachteile. Peter ist mit Beschimpfungen seines Vaters konfrontiert wie: »solche wie dich können die da drüben nicht gebrauchen« und mit dem Entsetzen seiner Mutter: »›willst du uns alle ins grab bringen, bengel?‹, schrie meine mutter mich an […].« (DS, 143) Für Peter entwickelt sich die BRD als Sehnsuchtsort, um seinen prekären Familien- und Lebensverhältnissen zu entfliehen (vgl. DS, 144).790 Der heranwachsende Peter fühlt in zunehmendem Maße das Bedürfnis, seine Bindung zu den Eltern, insbesondere zur dominanten Mutter neu zu definieren. Die finale Ablösung von den Eltern vollzieht Peter nach seinem Aufenthalt im Gefängnis, weil er nicht mehr bereit ist, sich in die Welt der Konformität der Eltern einzugliedern. Der Empfang zu Hause offenbart, welche Haltung die Eltern gegenüber ihrem Sohn einnehmen: Völlig distanziert und emotionslos wird der Sechszehnjährige von seiner Mutter empfangen und sogleich mit Vorwürfen konfrontiert. Dabei haben ihre Sorgen lediglich mit der Hygiene seiner Kleidung und seines Körpers zu tun, das seelische Empfinden spielt in der intergenerationalen Beziehung keine Rolle. Mit den Worten: »oh, junge, haben sie dich wieder entlassen? gib mir deinen anorak, […] du siehst schmutzig aus, konntet ihr euch da nicht richtig waschen? zeig mal deine hände« (DS, 237), empfängt sie ihn. Der Gefängnisaufenthalt stößt eine Modifizierung von Peters Bindung zu den primären Liebesobjekten an, indem Peter gegenüber seinen Eltern eine reflexive und distanzierte Rolle einnimmt, gegen die Repressionen seiner Mutter Widerstand leistet und Freiräume für sich einfordert.791 Gleich nach dem Ge789 Zu Merkmalen des modernen Adoleszenzromans vgl. Gansel, Der Adoleszenzroman. 2000, S. 375f. und Kapitel 4 Zum Adoleszenzroman. 790 Divergenzen zwischen Jung und Alt über die Gestaltung der beruflichen Zukunft und die Richtigkeit von Lebenszielen sind keine DDR-spezifische Angelegenheit. Es handelt sich vielmehr um einen in der Entwicklungspsychologie allgemein identifizierten Abgrenzungsund Verselbstständigungsprozess von Heranwachsenden gegenüber der Elterngeneration. Vgl. Kapitel 2.2.2 Zur Modifizierung der Bindung an die Eltern. Die angesprochene räumliche Trennung von den Eltern gewinnt jedoch in der DDR eine politische Dimension, weil sie mit einer Straftat, der Republikflucht, verknüpft ist. Der ungesetzliche Grenzübertritt war in der DDR mit Inkrafttreten des DDR-Strafgesetzbuches am 01. 07. 1968 eine strafbare Handlung. 791 Aus psychoanalytischer Sicht sind die im Zuge der Adoleszenz eintretenden Abgrenzungsprozesse gegenüber den Eltern durch die neue Intensität der sexuellen Wünsche und

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fängnisaufenthalt sortiert er kindliche Kleidungsstücke aus. Mit der Veränderung seiner Kleidung vollzieht er einen Bruch mit seiner Kindheit. Er ist nicht mehr bereit, die von der Mutter gestrickte Kleidung zu tragen und will sich von seiner Rolle als Kind abgrenzen, indem er nur noch westliche Kleidung mit provozierendem Stil wählt. Symbolisch löst er sich von den aufgedrückten Rollen und Erwartungen seiner Eltern. Dadurch befreit er sich von der passiven Konformität seiner Eltern und macht seinen Anspruch auf Individualität geltend. Die Einwände seiner Mutter ignoriert er: »aber nicht mit dem COLA-hemd!« (DS, 239). Er allein bestimmt, welche Kleidung er anzieht, und geht, die Provokation suchend, mit einer Jeans-Hose und einem Coca-Cola-Hemd zum Volkspolizeikreisamt und in die Schule (vgl. DS, 239ff.). Sein Auftreten veranlasst bei den Institutionen Irritationen. Sowohl die Polizeibehörden als auch der Schuldirektor reagieren gereizt auf die Provokation des Heranwachsenden und zeigen keine Flexibilität im Umgang mit der an Kapitalismus und Konsum orientierten Haltung des Protagonisten: »du gehst sofort nach hause und ziehst dieses feindhemd aus. mit KAPITALISTISCHEN parolen will ich dich an unserer schule nicht sehen!« (DS, 243) Die Ablehnung weist auf die Verstörung der öffentlichen Ordnung hin, ist aber für Peter eine wichtige Erfahrung im Rahmen der Identitätsfindung. Peters Entwicklung wird umso deutlicher, als er sämtliche Spartakiademedaillen und -urkunden beim Schrotthändler entsorgt, womit er seine Kindheit und die familiären und gesellschaftlichen Erwartungen hinter sich lässt und sich bewusst jenseits der offiziellen DDR-Konformität und realsozialistischer Wertvorstellungen positioniert: »›hier, fürn schrotthändler.‹ ich überreichte ihr einen strauß klimpernder blechmedaillen in gold, silber und bronze. schluss mit diesen klamotten, für immer weg von rundstricknadeln meiner mutter, nie mehr häftlingskleidung, von nun an würde ich nur noch klamotten anziehen, die ich mir selbst besorgte, zeug, das mir gefiel, mir war, als wäre ich plötzlich leichter geworden.« (DS, 248)

Der Protagonist greift fortan auf übliche Inszenierungsmittel wie die Frisur, westliche Kleidung und Musik wie Led Zeppelin, Jimi Hendrix, The Beatles oder Rolling Stones (vgl. DS, 128, 264, 266ff.) zurück, um weitere Abgrenzungsmomente zu generieren und ein Mindestmaß an Autonomie in seinem familialen und sozialen Umfeld zu erwirken. Diese Polarisierungszeichen können als erste Versuche einer Entstörung gedeutet werden, mit denen der Protagonist der ihn belastenden Kontrolle seines Umfeldes zu entkommen sucht. Im Folgenden werden weitere Inszenierungsmomente sowie ihre Auswirkung auf den Identitätsfindungsprozess des Protagonisten untersucht.

Erregungen bedingt. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Eltern aufgrund ihres angepassten Verhaltens keine Akzeptanz bei dem Protagonisten genießen.

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5.1.4 Zum grenzüberschreitenden Adoleszenzverhalten Es gilt als entwicklungspsychologischer Konsens, dass Adoleszente sich in einer Lebensphase der Identitätsfindung und auf der Suche nach ihrer gesellschaftlichen Rolle befinden. Konventionen, Werte und Normen des Zusammenlebens haben sich bei ihnen noch nicht verfestigt. Sie bevorzugen sogenannte ›alternative Wertvorstellungen‹, erproben neue Verhaltensweisen, testen ihre Grenzen aus und versuchen, sich von der Welt der Erwachsenen abzugrenzen.792 Sie handeln vielfach spontan, ohne die Folgen ihres Handelns ausreichend zu reflektieren, und häufig nutzen sie riskantes Verhalten, um sich öffentlich zu inszenieren. Verfehlungen und Grenzüberschreitungen sind in dieser Zeit keineswegs ungewöhnlich, vielmehr sind sogenannte Transgressionsakte »ein notwendiger Bestandteil der adoleszenten Entwicklung«793, mit denen sie sich erstens von der Welt der Erwachsenen absetzen, zweitens unter Gleichaltrigen Anerkennung suchen und drittens ihre Identitätsbildung vorantreiben. In diesem Sinne lassen sich im Sonnenküsser Selbstinszenierungsmomente der Figur Peter wie das Tragen von westlicher Kleidung sowie Grenzüberschreitungen in Form von Alkoholexzessen, Vandalismus und Gewaltausschreitungen verstehen. Kennzeichnend für die Adoleszenz ist die Eigenschaft der Heranwachsenden, mit sich und der Umwelt zu experimentieren. Zu den klassischen Experimentierpraktiken in der Jugendkultur gehört der exzessive Alkoholkonsum. Es ist vielfach belegt worden, dass es Jugendlichen unter Alkoholeinfluss leichter fällt, Kontakte zu knüpfen, sich in neuen Rollen zu erproben, ihre Gruppenzugehörigkeit zu festigen, Freundschaften herzustellen und Spaß mit Gleichaltrigen zu haben.794 Darüber hinaus demonstrieren Adoleszente durch den Konsum von Alkohol ihre Unabhängigkeit und inszenieren Geschlechterrollen in der Peergroup. Alkohol fungiert mithin »als Katalysator oder Schmiermittel für die Freizeitgestaltung und die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben«795. Nicht zuletzt John Litau weist nach, dass dem Alkoholkonsum eine »psychoregulative und eine sozialregulative Funktion«796 zukommt. Bringt man diese Überlegungen auf die Figurenanalyse in Anwendung, so lässt sich zunächst beobachten, dass es Peters Freund Harald, mithin dessen Großmutter, ist, der ihm den Zugang zu Alkohol verschafft (vgl. DS, 50f.). Im geselligen Trinken und Rauchen vertiefen 792 Vgl. Oerter/Montada, Entwicklungspsychologie. 2008, S. 582ff. 793 Vgl. Ahrbeck, Bernd (Hg.): Von allen guten Geistern verlassen? Aggressivität in der Adoleszenz. Gießen: Psychosozial Verlag 2010, S. 13. 794 Zur instrumentellen Funktion des Trinkens vgl. Litau, John: Risikoidentitäten: Alkohol, Rausch und Identität im Jugendalter. Weinheim [u. a.]: Juventa Verlag 2011, S. 52. 795 Vgl. Litau, John: Alkoholkonsum als Lernprozess. Wendepunkte, Phasen und Verläufe des Umgangs mit Alkohol im Jugendalter. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2017, S. 42. 796 Litau, Risikoidentitäten: Alkohol, Rausch. 2011, S. 59.

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Peter und Harald ihre Freundschaft. Alkohol trinkend, fühlt sich Peter unverwundbar, es gelingt ihm, seine Probleme zu verdrängen bzw. den alltäglichen Belastungen zu entkommen: »jedesmal, wenn ich mit harald und seiner oma klaren trank, bekam mir der schnaps ein bisschen besser […] es baute sich eine angenehme stimmung auf, machte ein starkes gefühl gegenüber allem […].« (DS, 51) [Hervorh. d. Verf.]

Auch im familiären Rahmen konsumiert Peter Alkohol, Familienfeste begrüßt er als Gelegenheit zum exzessiven Konsum: »[…] um die auf dem tisch stehenden schnapssorten durchzuprobieren, … ich kippte ein glas nach dem anderen in mich hinein, wasserfarbener schnaps, brauner schnaps, grüner schnaps, roter schnaps, gelber schnaps, doch immer bekam mir der grüne am besten. … es gab nichts besseres, als die wirkung von schnaps zu spüren, die ganze umgebung wurde so wunderbar außer kraft gesetzt, nichts konnte einem wirklich auf die nerven gehen, innerliches unwohlsein in unterrichtsstunden, bei fahnenappellen oder gruppenversammlungen war verschwunden, die ganze welt konnte mir in solchen momenten nichts anhaben, was gingen mich die PIONIERE an, meine neu zugeteilte, blau behemdete FREIE DEUTSCHE JUGEND, die DDR, die mädchen, die mir ständig vorgehaltenen KRIEGSTREIBER aus dem KAPITALISMUS? was wollten die erwachsenen von mir, eltern, lehrer? was sollte ich ständig verteidigen?« (DS, 102f.)

Die iterative Erzählweise markiert, dass das exzessive Trinken ein festes Ritual in Peters Leben ist. Der Alkohol fungiert als Betäubungsmittel, das ihn seine Probleme vergessen lässt und im Laufe der Zeit zunehmend unverzichtbar erscheint. Das Gefühl des Rausches wird vom Ich-Erzähler in seinem Reflexionsmonolog explizit gemacht und erweist sich als wirksame Betäubungsmöglichkeit, um der Welt der Regelungen und Vorgaben und dem Zwang eines kollektiven Verhaltens in der Schule und der FDJ zu entkommen.797 Peters exzessiver Alkoholkonsum lässt sich als Hilfeschrei bewerten, der von seinem familialen und schulischen Umfeld allerdings konsequent ignoriert wird. Neben der zunehmenden Divergenz zwischen ihm und seinen Eltern wächst auch Peters Ablehnung gegenüber offiziellen Sozialisationsinstitutionen. Peter lehnt es ab, kollektive Haltungen wie die kollektive Identifikation mit dem Vaterland oder die Übernahme des kapitalistischen Feindbildes wie sie in der Schule und über die Mitgliedschaft in der FDJ vermittelt werden, unhinterfragt zu übernehmen. Stattdessen orientiert er sich an der westlichen Subkultur, wie sie ihm etwa über das Radio zugänglich ist: 797 Offiziell existierte eine staatliche Aversion gegen übermäßigen Alkoholkonsum, vielmehr wurde ein moderater kulturvoller Genuss und eine kultivierte Freizeitgestaltung vorgezogen. Es sollte zu einer Umerziehung in Sachen Trinkkultur kommen. Vgl. Kochan, Thomas: Blauer Würger. So trank die DDR. Berlin: Aufbau Verlag 2011, S. 31ff., 59. Trotz der offiziellen strikten Anti-Alkohol-Gesetze war der Alkoholkonsum eine weit verbreitete Praxis in der Arbeits- und Freizeit, folglich spricht Thomas Kochan von der DDR als einer »alkoholzentrierten Gesellschaft«, vgl. ebd., S. 147.

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»[…] musik aus kofferradios drang in mich und gab mir kraft auf dem langen weg von der STRASSE DER BEFREIUNG zur schule. die musik unserer feinde könnte ich verteidigen.« (DS, 103) Auf formaler Ebene wird die eigensinnige Haltung des Protagonisten und seine Ablehnung des offiziellen DDR-Diskurses anhand der typographischen Gestaltung sichtbar. Die Suspendierung der orthographischen Normen sowie der kreative Umgang mit der Sprache inszenieren die abgelehnte Übernahme von etablierten sprachlichen Konventionen und bringen die Eigenwilligkeit des Protagonisten, seine zunehmende Verweigerungshaltung und sein Streben nach einem Leben außerhalb von Uniformität und Normativität zum Ausdruck. Die Begrifflichkeiten aus dem offiziellen ideologischen Diskurs – hervorgehoben in Form von Kapitälchen – erscheinen wie ein Fremdkörper in der Figurenrede des Protagonisten. Die Forderung seitens der Schule und Familie, sich gesellschaftlich und beruflich zu positionieren, erzeugt bei dem Heranwachsenden einen immer größeren Druck, den er mit Unterstützung seiner Clique und dem übermäßigen Konsum von Alkohol zu verarbeiten sucht.798 Die Clique fungiert als ›Pufferzone‹, um die während der Eingliederung in das Bildungssystem entstandenen Dissonanzmomente aufzufangen:799 »die erwachsenen waren verrückt. tat ich mehrfach in der clique kund, wenn das thema auf die schule zu sprechen kam. gab es jemals ein entrinnen aus dem zu erwartenden leben? […] die erwachsenen machten mich fertig. sie waren wahnsinnig. immer öfter schmerzte mein kopf, und wenn mir daraufhin schlecht wurde, half mitunter nur ne kleine geklaute flasche schnaps aus der kaufhalle […].« (DS, 146f.)

Angesichts dieser Entwicklung sind Probleme im schulischen und gesellschaftlichen Kontext vorprogrammiert. Peters Aufforderungen seitens der Lehrer, sich an schulischen Aktivitäten stärker zu beteiligen, rufen bei ihm das Gefühl von Gleichgültigkeit und Ablehnung hervor. Auf die verbalen Aussagen der Eltern und Lehrer wie: »du musst doch mal was machen! peter, reiß dich doch mal

798 Der Alkohol mit seiner verstärkten Wirkung auf die Stimmung des Heranwachsenden ist ein bewährtes Mittel für die Konstruktion von Männlichkeit. Häufig gilt es, in der Peergroup im Rausch die eigene Männlichkeit im Rahmen von Mutproben zu beweisen. Vgl. Hößelbarth, Susann/Seip, Christine/Stover, Heino: Doing Gender – Bedeutungen und Funktionen des Alkoholkonsums und des Rauschtrinkens bei der Inszenierung von Männlichkeiten und Weiblichkeiten. In: Hößelbarth, Susann (Hg.): Kontrollierter Kontrollverlust. Jugend, Gender, Alkohol. Frankfurt/Main: Fachhochschulverlag 2013, S. 45–55, hier: S. 49. 799 Im jugendkulturellen Raum kann Peter durch die Beziehungen zu Gleichaltrigen sein emotionales Wohlbefinden regulieren. Die Clique dient als Bollwerk gegen Autoritäten aller Art, im Sonnenküsser gegen die Erwachsenen. Vgl. Streeck-Fischer, Trauma und Entwicklung. 2014, S. 41.

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zusammen.« (DS, 86) reagiert die Figur genervt, vollkommen verständnislos – er ignoriert sie: »ich hatte das gefühl, dass ich genug machte, im unterricht hing ich meinen gedanken nach. das gequatsche der lehrer zerstückelte nur meine gedanklichen ausflüge und nervte. ihr stoff war leicht zu begreifen, doch was steckte hinter dem stoff ? was sollte diese welt? was hatte sie für einen zweck? ›ich habe genug zu tun‹, antwortete ich meinem klassenlehrer.« (DS, 86)

Sein distanziertes Verhältnis zu den in der Schule vermittelten Inhalten und zu dem dort propagierten Weltbild manifestiert sich immer deutlicher. Seine mangelnde Leistungsbereitschaft kann zwar als Grenzüberschreitung gedeutet werden. Genau genommen ist das Desinteresse und die Gleichgültigkeit der Figur jedoch eine typische adoleszente Haltung, die ein kritisches Hinterfragen von Normvorstellungen der Erwachsenen und eine Suche nach alternativen Wegen ermöglicht. Adoleszente Figuren wie Peter Sorgenich lassen sich als Figuren der Abweichung oder als Figuren der Störung bestimmen. Angelehnt an Mario Erdheim bestimmt Carsten Gansel die natürliche Funktion von Jugend als »Avantgarde einer sozialen, politischen und kulturellen Evolution«800. Als solche stelle sie eine »Herausforderung für die etablierten politischen [und schulischen – der Verf.] Instanzen«801 dar. In diesem Kontext sind die jugendlichen Allmachts- und Größenphantasien notwendig, um Denormalisierungsprozesse zu fördern.802 Genau betrachtet, bildet die inszenierte eigensinnige Position Peter Sorgenichs, die sich durch nonkonformes Verhalten und Entgrenzungen auszeichnet, keine Form des politischen Widerstands, sondern ist ein Beleg für die Heterogenität der sozialen Wirklichkeit der DDR, in der zwar eine staatlich angestrebte umfassende politische, soziale und kulturelle Kontrolle der Bürger existierte, Individuen jedoch auch die Möglichkeit ergriffen, eigenständige Positionen zu vertreten, ohne damit die Haltung von Oppositionellen oder Dissidenten einzunehmen. Es handelt sich vielmehr um Individuen, die, wie Ina

800 Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 165. 801 Ebd., S. 165f. 802 Nach Jürgen Link besteht die Funktion von Kunst und Literatur im Normalismus darin, »Applikations-Vorlagen für Denormalisierungen« bereitzustellen, die vom Rezipienten selektiv aufgenommen werden können. Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 41. Im Kontext der DDR gewinnt das deviante Verhalten des Protagonisten allerdings eine weitere Dimension, da die jugendkulturelle Devianz unverhältnismäßig politisiert und ideologisch konnotiert wird. Das hängt vor allem mit der Ideologisierung von gesellschaftlichen und kulturellen Regulierungsprozessen zusammen, die für die DDR kennzeichnend ist.

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Schmied-Knittel in Anlehnung an Alf Lüdtke formuliert, sich »der Logik des Entweder-Oder von Herrschaft und Widerstand«803 entziehen. Die Schule bietet den Jugendlichen einen Ort der Inszenierung, an dem sich entscheidende Momente für die Individuation der Heranwachsenden ereignen.804 Auch das Erregen öffentlichen Aufsehens und der Kampf um Anerkennung spielen für die adoleszenten Abgrenzungs- und Identitätsfindungsprozesse eine konstitutive Rolle. Ähnlich den Protagonisten der klassischen Adoleszenztexte erlebt Peter Sorgenich die Schule als einen Ort der Demütigung und der Peinigung (vgl. DS, 19). Rückblickend reflektiert das erzählende Ich über die Haltung der Lehrer und kritisiert, dass er nicht ernst genommen wird (vgl. DS, 36) und für das Teilen seiner verstörenden Erfahrungen keine Zuhörer findet (vgl. DS, 32f.). Die Bedeutung der Schule als jugendkultureller Raum wird insbesondere an folgendem Beispiel deutlich: Sorgenich nutzt den Besuch von Armeeangehörigen in der Schule, um sich vor den Mitschülern zu inszenieren bzw. sich zu erproben. Auf den Vortrag der Soldaten, der darauf abzielt, Jugendliche für die Armee zu gewinnen, reagiert Peter mit einer Provokation: »wir sind doch nicht blöd, Sie müssen uns nicht alles zweimal sagen […].« (DS, 149) Peters Äußerung erzeugt Irritationen, die Armeeangehörigen fassen sie als Provokation auf und reagieren mit einer Drohung: »nun seien Sie mal nicht so fläzig, JUGENDFREUND. dieser ton wird Ihnen noch vergehen, wenn Sie erstmal bei uns sind. dann bringen wir Ihnen manieren bei!« (DS, 149f.)

Die Intervention des Soldaten entfacht die Eskalation der Situation. Angesichts der erfolgreichen Wirkung seiner Worte und der formulierten Drohung fühlt sich Peter herausgefordert und treibt den Versuch, die Grenzschwelle des Erlaubten auszutesten, weiter: »in die kluft steig ich nie. ich halte doch nicht für fremde interessen meinen arsch hin« (DS, 150), antwortet er. Sodann fühlen sich Peters Mitschüler genötigt, ihren sozialen Status unter den Gleichaltrigen zu sichern, mithin eine höhere Akzeptanz in der Peergroup zu gewinnen. Sie setzen die von Peter angestoßene Provokation fort: »›genau‹ frohlockte tommy von hinten. ›einmal gespaltener arsch reicht‹, rief der lange ralf aus der letzten reihe. kurzes

803 Schmied-Knittel, Ina: Drogenfreie Zone. Zur Rauschkultur der DDR. In: Schetsche, Michael/ Schmidt, Renate-Berenike (Hg.): Rausch – Trance – Ekstase. Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände. Bielefeld: transcript Verlag 2016, S. 51–71, hier: S. 52. 804 Carsten Gansel hat mit Recht auf die symbolische Dimension des literarischen Raums der Schule seit den klassischen Schulromanen und -erzählungen der Jahrhundertwende verwiesen und den diegetischen Raum Schule »als [einen] bevorzugten Schauplatz/Raum für die gestalteten Adoleszenzkrisen« markiert. Vgl. Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 178.

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lachen erfüllte die klasse.« (DS, 150)805 Die Spirale der verbalen Aggression erfährt durch die Weigerung von Peter, seinen Namen zu nennen, Verschärfung (vgl. DS, 150). Peters verbale Kampfansage wird von den Lehrenden genau registriert. Bald spürt er die Folgen seines aufmüpfigen Verhaltens – seine Bewerbung für einen Ausbildungsplatz auf der Neptunwerft wird abgelehnt: »eines tages quatschte mich der aufsichtshabende lehrer auf dem pausenhof mit einem höhnischen grinsen an: ›na, peter, das mit deiner NEPTUNWERFT hat ja nicht geklappt. bleibt wahrscheinlich nur noch die LANDWIRTSCHAFTLICHE PRODUKTIONSGENOSSENSCHAFT aufm dorf für dich übrig, oder?‹« (DS, 153)

Peter Sorgenich mutmaßt eine Verwicklung der Lehrer in die Entscheidung und fasst die Absage als Ausdruck der Fremdbestimmung seines Werdegangs auf: »›ich habe die schnauze so voll, das glaubt mir keiner‹, sagte ich in der clique. ›die machen einen fertig. nichts, aber auch gar nichts kann man hier selber klarmachen. überall mischen sich die typen ein. ein wunder, dass man noch selbstständig kacken darf.‹« (DS, 154)

Der Komplizenschaft von Lehrern und staatlichen Organen hilflos ausgeliefert und tief enttäuscht wegen der Unmöglichkeit, sich gegen institutionelle Formen der Fremdbestimmung wehren zu können, entscheiden Peter und seine Freunde, den Lehrern einen »richtig fetten denkzettel« zu verpassen und in der Schule die Fensterscheiben mutwillig zu zerstören (vgl. DS, 155).806 Zu fünft bilden sie eine Gemeinschaft und schwören sich gegenseitigen Zusammenhalt: »das wird ne harte nummer. die polizei und die kripo werden aufkreuzen. keiner von uns wird bei verhören etwas zugeben, egal was die sagen, kapiert? wenn sie uns nicht direkt dabei erwischen, dann können die uns auch nichts beweisen. dichthalten ist die devise, egal, was passiert.« (DS, 155)

Die Clique erweist sich als ein Übungsfeld, in dem sich die Heranwachsenden mit ihrer sozialen Umwelt auseinandersetzen, sich durch Formen des grenzüberschreitenden Verhaltens entwerfen und in Szene setzen. Die Erfahrung der Gemeinschaft lindert Peters frustrationsbedingte Belastungen. Die Clique fungiert als Stabilitätsinstanz, da die Figur dort im Unterschied zur Interaktion mit den 805 Die Selbsterprobungsabsicht ist erstens für die Entwicklung des individuellen Wertesystems und der eigenen Persönlichkeit unabdingbar. Zweitens ist sie eine unverzichtbare Voraussetzung für soziale Erfahrungen und das soziale Lernen. Es hilft den Heranwachsenden, sich in einer größeren Gemeinschaft mit Regeln und Konsequenzen zurechtzufinden. 806 Carsten Gansel hat darauf hingewiesen, dass in zahlreichen literarischen Texten, die die DDR erinnern, Eltern- und Lehrerfiguren als »Negativ-Stereotyp« fungieren. Sie zeichnen sich, wie im vorliegenden Fall, häufig durch »Eigenschaften wie mangelnde Zivilcourage, Heuchlertum, Anpassung, Parteihörigkeit [und] Dogmatismus« aus. Eng damit verbunden sei der Abgrenzungsprozess der Heranwachsenden von der Elterngeneration und den damit verbundenen Lebensvorstellungen. Gansel, Atlantiseffekte in der Literatur? 2010, S. 39.

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Lehrern und Eltern die Prinzipien der Gegenseitigkeit und Solidarität erlebt.807 So dient die Gruppe als Bollwerk gegen Autoritäten wie Lehrer und Polizisten. Im Text wird die Generationsdifferenz explizit durch die Dichotomie »die« und »wir« markiert. In der Clique entwickeln sich zudem eigendynamische Prozesse, die dazu führen, dass Peter Sorgenich in einer affektuellen Gesinnungsgruppe riskante Handlungen durchführt, die er allein wohl kaum vollzogen hätte. Sein geringes Selbstwertgefühl resultiert aus dem Mangel an familiärer und schulischer Anerkennung, aus der Ablehnung seiner Lebensvorstellungen und seiner Bewerbung sowie aus dem Fehlen von erfolgreichen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Gerade im Übergangsstadium der Adoleszenz kommt jenen Erfahrungen eine wichtige Bedeutung zu, um die Individuation außerhalb der Familie erfolgreich gestalten zu können. Gedanklich kommentiert der Ich-Erzähler der Basiserzählung seine damalige fehlende Zuversicht und die Wirkung von Kompensationsmöglichkeiten, darunter Alkoholkonsum und Gewaltexzesse: »aber wie denn mein unwohlsein und meinen lebensunmut demonstrieren, wie alles in wenigstens erträgliche bahnen lenken, ohne mit hilfe von alkohol, mädchen und prügeleien zu kompensieren?« (DS, 169)

Aus der Innenperspektive des Protagonisten erfährt der Leser unmittelbar, wie sich die Erfahrungen auf Peters Selbstbewusstsein auswirken. In Bezug auf die Zerstörung der Fensterscheiben lässt sich festhalten: Die massiven Ermittlungen der Kriminalpolizei verunsichern den Heranwachsenden nicht, sondern bestärken sein Gefühl der Invulnerabilität noch: »irgendein sicheres gefühl stieg in mir auf, eine stärke, die mir einredete, zehntausend leute können sagen, du wärst es gewesen, aber nur du selbst weißt, dass du es nicht warst.« (DS, 159)

Nach der Ablehnung seiner Bewerbung für einen Ausbildungsplatz gewinnen Peters Konflikte in der Schule an Intensität, da sich sein dissoziales Verhalten nicht nur auf die verbalen Auseinandersetzungen und Vandalismus beschränkt, sondern zunehmend aggressive Verstöße gegen andere, Gleichaltrige wie Autoritätspersonen, umfasst.808 So illustriert es eindrücklich die folgende Episode: 807 Nach Vera King repräsentieren die Freundschaftsbeziehungen »in ihrer nicht institutionalisierten Form […] den sozialen Raum des adoleszenten Experiments par excellence«, in dem sich Heranwachsende inszenieren und häufig durch ein grenzüberschreitendes Verhalten ihre Identitätsfindung vorantreiben. Insbesondere der symmetrische Charakter der gleichaltrigen Beziehungen fördert den Selbstfindungsprozess der Heranwachsenden. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 229f.; vgl. Kapitel 2.2.3 Zur Ausgestaltung einer Individuation unter Gleichaltrigen. 808 Das von Alkohol und Gewalt geprägte selbst- und fremddestruktive Verhalten des Protagonisten offenbart, dass vor allem unter männlichen Adoleszenten der eigene Körper zum

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»›du flegel! halt bloß die klappe, du!‹ ›wenn schon, denn schon: Sie, bitte‹ murmelte ich vor mich hin, und plötzlich zog sich mein rollkragenpullover in die länge, bedeckte mein kinn und den mund, ich sah den arm und die faust des erdkundelehrers, […] der nervöse erkundelehrer lag über mir, schwitze, glotzte mich mit hasserfüllten augen an und besaß eine kraft, die ich ihm nicht zugetraut hatte. ich stieß meine beiden fäuste gegen seinen oberkörper, und der mann ließ los. doch nun drehte ich den spieß um, schnappte mir den kerl und legte ihn auf den tisch, nun schaute ich von oben auf den lehrer, sah ein erschrecktes zucken in seinem gesicht, und landete mit ihm und dem zusammengebrochenen tisch auf dem boden, hörte wie die klasse tobte und spürte seine mit wucht angezogenen knie in meinem unterkörper landen. doch seine kniestöße schadeten mir nicht, ich hielt ihn fest und wartete, bis er sich beruhigt hatte. dann ließ ich ihn los, stand auf, setzte mich zurück auf meinen platz und zitterte.« (DS, 167)

Es ist die körperliche Auseinandersetzung – auch mit erwachsenen Autoritätspersonen –, die die Verschärfung des Konflikts aufzeigt. Auf den verbalen Angriff des Lehrers reagiert Peter Sorgenich mit einer provokanten Zurechtweisung, die den Konflikt eskalieren lässt. Es ist herauszustellen, dass die Anwendung von Gewalt durch den Lehrer an seinem Schüler eine eindeutige Grenzüberschreitung, einen klaren Fall von Machtmissbrauch, darstellt. Die gewalttätige Reaktion des Schülers provoziert auf mehrfache Weise: Es ist die Anwendung von Gewalt gegenüber einer Autoritätsperson in einem institutionellen Raum vor den Augen der versammelten Klasse, mithin wird der Bereich des Erlaubten und Tolerierbaren überschritten und eine Störung der öffentlichen Ordnung erzeugt. Der Adoleszente demonstriert seine Haltung vor den Gleichaltrigen und stellt die öffentliche Ordnung in Frage. Das »Umdrehen des Spießes« symbolisiert die Umkehrung der Verhältnisse, mithin den adoleszenten Versuch, die bestehenden Machtstrukturen zu verschieben. Sein permanentes »inneres sprengungsgefühl« (DS, 121) muss sich entladen und Peter initiiert immer häufiger Schlägereien, die anfangs persönlich motiviert sind (vgl. DS, 109), später aber völlig willkürlich stattfinden (vgl. DS, 173). Augenscheinlich ist die Ausübung von Gewalt für Peter ein Ventil, um die zu Hause oder in der Schule erlebten Irritationen auszuhalten. Er offenbart: »gegen eine prügelei hatte ich […] nichts einzuwenden, zumal ich ständig am überkochen war.« (DS, 169)809 Mit sechszehn Jahren gerät Peter Sorgenich wegen seines rowdyhaften Verhaltens in Konflikt mit der Justiz. Der Richter spricht explizit von einer Störung der »öffentliche[n] Ordnung« (DS, 180) und von einer »nachhaltigen Störung wichtiger körperlicher Funktionen« (DS, 181) bei einem Austragungsort adoleszenzbedingter Krisen wird. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 199. Siehe dazu Kapitel 2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten. 809 Auf der extradiegetischen Ebene reflektiert der Ich-Erzähler über das eigene Verhalten und betont die Kompensationsfunktion seines damaligen aggressiven Verhaltens.

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seiner Opfer. Das irritierende Verhalten der Heranwachsenden wird als Affront gegen die etablierte Ordnung gewertet. Die rechtlichen Instanzen sind nicht in der Lage, flexibel und konstruktiv auf die Provokationen der Adoleszenten zu reagieren. Das Justizsystem greift lediglich auf disziplinierende Maßnahmen zurück, um Einfluss auf die Entwicklung der Jugendlichen zu nehmen. Peters deviantes Verhalten wird von den Gleichaltrigen jedoch honoriert, es verbessert seinen Status innerhalb der Peergroup: »als ich endlich den saal verlassen konnte, sah ich in den geräumigen gängen des gerichtsgebäudes eine große anzahl junger leute, die während der verhandlung vor verschlossenen türen gewartet hatten, ein paar mädchen lachten und winkten mir zu, sogar ein oder zwei handküsschen zerschellten an meiner stirn.« (DS, 183) [Hervorh. d. Verf.]

Die ihm auferlegte Jugendstrafe sitzt Peter nicht in einer Jugendstrafanstalt ab, sondern im Zuchthaus Alt-Strelitz, wo er in Kontakt mit kriminellen Erwachsenen und Mördern kommt. Die Unangemessenheit der Unterbringung wird durch einen der Gefangenen explizit gemacht: »jetzt bringen diese arschlöcher hier schon kinder rein.« (DS, 199) Der Gefängnisaufenthalt bildet eine Zäsur in Peters Entwicklung. Unter den dortigen Bedingungen erfährt er die existierende Kluft zwischen Realität und im Staatsbürgerkunde-Unterricht propagierten Gesellschaftsbild auf neue Weise (vgl. DS, 217). Die bedrohliche Atmosphäre im Gefängnis, bedingt durch die »gebrüllte[n] kommandos«, durch das »hundegekläffe«, durch »die großen köter, zähnefletschend und bellend an ihren straffen leinen, [die] kaum von den schließern zu halten waren« (DS, 218), belastet den Heranwachsenden, der sich dauerhaft einem »große[n] rudel wölfe« (DS, 218) ausgeliefert fühlt. Nach der Haft spürt er das Gefühl »dieses niewieder! so stark und ausgeprägt, dass [er] nicht einmal glauben konnte, dass es so einen schlimmen ort in diesem land gab« (DS, 230).810 Schockiert von den Haftbedingungen und verstört durch die entsprechenden Erfahrungen leidet der

810 Michael Foucault definiert Heterotopien als »Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht«. Dazu zählen psychiatrische Anstalten, Gefängnisse u. a. Vgl. Foucault, Michael: Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagetexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. 1. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 317–329, hier: S. 322. Das Gefängnis ist ein Raum der Abweichung. Die Heterotopie des Gefängnisses, die in Verbindung und im Widerspruch zu anderen gesellschaftlichen Orten steht, erfüllt eine Kommentarfunktion über den diegetischen Raum der DDR und löst einen Selbstreflexionsprozess aus. Mithin lässt sich der adoleszente Protagonist als Figuration der Krise verstehen. Zur Funktion von heterotopen Räumen in der Adoleszenz vgl. Stemmann, Räume der Adoleszenz. 2019, S. 29.

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Protagonist nach seiner Entlassung unter den Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung811: »auch wenn es abends still wurde, hatte ich keine ruhe im bett. ich hörte immer wieder das gekläffe der knastköter in meinem kopf, und die frei laufende töle im hof des staatssicherheitsgebäudes unter meinem zimmer stimmte nacht für nacht mit ein. durch meinen halbschlaf huschten gestalten in häftlingsklamotten, angetrieben von trillerpfeifen. manchmal war mir, als befände ich mich in einem dieser verwahrräume […].« (DS, 249) [Hervorh. d. Verf.]

Auch nach der Haftstrafe lassen Peter die verstörenden Erfahrungen nicht los. Noch immer fühlt er sich als Verfolgter. Das von den Eltern vermittelte Gefühl, ein unliebsamer Störfaktor zu sein, wird durch die Justiz, außerhalb der Familie, auf eine höhere Stufe gestellt. Peter Sorgenich wird immer wieder von sogenannten Intrusionen eingeholt, seine psychische Verfassung ist nachhaltig verstört: »ich kam einfach nicht zur ruhe.« (DS, 249) Seine Erinnerungen sind so intensiv, dass er das Gefühl hat, sich noch inmitten der traumatischen Situation des Zuchthauses zu befinden. Solche Erinnerungsmomente werden durch sogenannte trigger hervorgerufen, die ein plötzliches Wiedererleben der vergangenen Erlebnisse im Zuchthaus auslösen.812 So wird Peter beispielsweise durch das Eintreten der abendlichen Stille an die Nächte im Zuchthaus oder in der Schule durch das Rasseln des Schlüsselbundes eines Lehrers an die Schließer im Zuchthaus erinnert (vgl. DS, 249ff.). Trotz der skizzierten Belastungen schafft es Peter Sorgenich, die Abschlussprüfung in der Schule zu bestehen. In der Regel wird den Absolventen nach der bestandenen Prüfung das Reifezeugnis zuerkannt. Peter Sorgenich wird jedoch jegliche Reife abgesprochen, so heißt es in seiner Beurteilung: »Peter braucht in der Zukunft eine ständige Kontrolle und konkrete Anleitung durch das Kol811 Häufiger Auslöser einer posttraumatischen Belastungsstörung ist das Erleben eines traumatischen Ereignisses, wie im Falle des Protagonisten die immer wiederkehrende Begegnung mit den Wachhunden im Zuchthaus. Als traumatisches Ereignis gilt »ein Ereignis oder Ereignisse, die eine Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod oder ernsthafter Verletzung oder Gefahr für die eigene oder fremde körperliche Unversehrtheit beinhalten«. Vgl. Maercker, Andreas: Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. In: Ders.: Posttraumatische Belastungsstörungen. Berlin/Heildelberg: Springer 2013, S. 14. Kennzeichnend für eine PTBS sind, wie beispielhaft an der Figur Peter Sorgenichs erkennbar wird, belastende Erinnerungen an das Trauma, sogenannte Flashbacks oder Alpträume, die durch symbolisierende Auslöser initiiert werden. So kämpft auch der traumatisierte Peter mit Folgestörungen wie Schlafproblemen, Erschütterungen des Selbst- und Weltbildes und der Unfähigkeit, anderen zu vertrauen. 812 Unter einem Trigger versteht man in der Psychologie ein Schlüsselreizerlebnis, das die Erinnerungen an eine in der Vergangenheit liegende Erfahrung sowie die mit diesem Erlebnis verbundenen Gefühle wieder hervorruft. Als Schlüsselreize können Gegenstände, Geräusche und auch Gerüche wirken, die regelmäßig belastende Erinnerungen an den traumatischen Moment wachrufen. Vgl. ebd., S. 18.

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lektiv.« (DS, 252) In der Folge muss sich Peter für seine Vergangenheit immer wieder rechtfertigen, die Chance, sich frei von Vorbehalten in ein neues Umfeld zu integrieren und eine neue Lebensphase zu gestalten, bleibt ihm versagt. Unter diesen Bedingungen schafft er es nicht, sich an die Regeln der Erwachsenengesellschaft zu halten, die ihm nur einen limitierten Spielraum gewährt und ihn damit indirekt zu neuen Regelverletzungen drängt. Peter wird durch die Verurteilung stigmatisiert und bleibt den Schikanen des Systems ausgesetzt: »hier [auf einer Beurteilung] steht aber, dass Sie Ihren lehrer geschlagen haben. und wenn die GENOSSEN mir das so mitteilen, dann muss ich den GENOSSEN doch wohl mehr glauben schenken als Ihnen. hier steht, Sie haben ein grundsätzliches unmoralisches verhalten, verstoßen ständig gegen die SOZIALISTISCHEN grundsätze.« (DS, 273)

Wie Carsten Gansel notiert, werden Transgressionsakte während der Adoleszenz »aus gesellschaftlicher, institutioneller oder auch familialer Sicht, mithin aus dem Blickwinkel von psychischen wie gesellschaftlichen (Teil)Systemen […] zunächst als Störungen im negativen Sinne wahrgenommen«813. Die Reaktionen der Justizbeamten mit der Wertung des devianten Verhaltens als Störung der »öffentliche[n] Ordnung« und den darauf folgenden Strafmaßnahmen im Zuchthaus und in der Jugendstrafanstalt sowie die Reaktion des gesellschaftlichen Teilsystems mit polizeilicher Verfolgung – »in demmin hatte ich vor den ordnungshütern nie meine ruhe. […] platzverweise waren die folge« (DS, 277f.) – zeigen die Folgen des adoleszenten Verhaltens auf. Zu betonen ist, dass die Reaktionen eher aus der Unfähigkeit der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme resultieren, solche Störungen als normal zu akzeptieren, sie als »konstruktives Moment zu begreifen«814 und produktiv ins System zu integrieren. Inszeniert wird in Landts Roman »eine Gesellschaft, die in sich zwar schon modert, aber auch in ihrem Verwesungsprozess noch nicht fähig zur Selbstreflexion ist.«815 Für die verantwortlichen Instanzen kommen nur Sanktionen in Frage, mit denen jede Integrationsmöglichkeit des Heranwachsenden verhindert wird, oder sogenannte Umerziehungsmaßnahmen in der Jugendstrafanstalt Wriezen, die aus Peter noch einen »vernünftige[n] STAATSBÜRGER« (DS, 286) machen sollen. Peter Sorgenich wird jedoch stattdessen schikaniert, von dem Anstaltsarzt sexuell missbraucht (vgl. DS, 295f.) und als Versuchskaninchen für Medizinexperimente (vgl. DS, 296f.) missbraucht. Die im familiären Umfeld erlittenen Verstörungen werden von der Gesellschaft noch einmal gesteigert und

813 Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 33. 814 Ebd., S. 34. 815 Klein, Ronald: Über »Der Sonnenküsser« von Jürgen Landt. Avinus Magazin vom 17. 06. 2008. In: [letzter Zugriff am 20. 02. 2020].

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damit gefestigt. Sorgenich ist Menschen – wie dem Anstaltsarzt oder den Polizisten – ausgeliefert, die ihre Machtposition schamlos ausnutzen. So besteht für Peter keine Möglichkeit, eine generative Haltung in der Gesellschaft einzunehmen, da ihm nicht ausreichend Freiraum gewährt wird, um seine Individualität zu entfalten, und sein provozierendes Verhalten sowie seine Regelverletzungen immer drastischere sanktionierende Reaktionen zur Folge haben. Die posttraumatische Belastungsstörung nach dem Gefängnis zeigt, dass die erlittene Zerstörung irreversibel und eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft unmöglich ist. Darüber hinaus wird der Protagonist durch die sogenannten Umerziehungsmaßnahmen in einer so nachhaltigen Weise zermürbt, dass ihm die Fortsetzung seines Lebens phasenweise sinnlos erscheint: »doch nach tagen schlug meine angst [zu sterben] in gleichgültigkeit um. dann starb ich eben, dann war schluss mit allem, zumal ich das gefühl nicht los wurde, dass sich für mich sowieso nichts mehr lohnte.« (DS, 296)

Der Sonnenküsser lässt sich als eine Allegorie verstehen, die sich systemübergreifend auf andere Kontexte übertragen lässt: Wenn kein ausreichender Individuationsraum ermöglicht wird, fungiert die vermeintliche Ordnung, sei es im familiären, schulischen oder gesellschaftlichen Bereich, als ein Machtinstrument, das jegliche Individualität und Entwicklung verhindert.816

5.1.5 Zur sexuellen Initiation Charakteristisch für die Adoleszenz ist, dass die Heranwachsenden erste sexuelle Erfahrungen erleben und sich für das gleiche oder andere Geschlecht zu interessieren beginnen. Das Begehren des Körpers einer anderen Person ist Ausdruck der sich ausbildenden sexuellen Bedürfnisse von Heranwachsenden. Im Sonnenküsser vermittelt der Ich-Erzähler sein Interesse für das andere Geschlecht anhand von Innenweltdarstellungen. So entwickelt der Protagonist erotische Phantasien, als er einmal einen Blick auf den Schlüpfer der Lehrerin erhaschen kann (vgl. DS, 42) oder sich beim Anblick eines Wandbehangs, auf dem Rotkäppchen abgebildet ist, imaginiert, wie er Rotkäppchen vom Wolf befreien würde und es sich aus Dankbarkeit mit ihm auf intime Handlungen einlassen würde: »sie würde sich freuen und zum dank ihren rock hochheben und mit der anderen hand ihren schlüpfergummi weit nach vorne ziehen und sagen: ›schau mal in meinen schlüpfer!‹« (DS, 43) Peters sexuelle Initiation und das damit verbundene »Eintoben«, wie seine Mutter seine Selbstbefriedigung bezeichnet, wird von dieser abgelehnt und als 816 Vgl. ebd.

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»eklig und schweinisch« (DS, 64) kategorisiert. Augenscheinlich hat die Mutter ein zutiefst gestörtes Verhältnis zur Sexualität, wie auch die Textstelle zeigt, in der sie die Kuh melkt und die Ratte tötet. Über die Gründe lässt sich bloß spekulieren, es gibt Hinweise darauf, dass sie während des Zweiten Weltkrieges sexuelle Übergriffe auf deutsche Frauen durch russische Soldaten beobachten musste (vgl. DS, 62). Dies hat zur Folge, dass Peter zu Hause kein geeigneter Individuationsraum gewährt wird, um seinen sich verändernden Körper zu entdecken und erleben zu können.817 Seine Mutter bestraft ihn regelrecht für das natürliche Ausleben seiner sexuellen Wünsche. In diesem Kontext verbündet sie sich mit seiner Schwester, die die Rolle der zweiten Aufseherin übernimmt und ihn jedes Mal, wenn er im Bett onaniert, bei der Mutter verpetzt. Konditioniert durch die Sanktionen der Mutter kann Peter sein Elternhaus nicht als Intimitätsort wahrnehmen, folglich verlagert er seine sexuellen Erlebnisse nach Möglichkeit an andere Orte. Er trifft seine Freunde an öffentlichen Plätzen, etwa an Bushaltstellen oder in Parkanlagen, wo er auch seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Mädchen macht (vgl. DS, 134, 168). Diese bleiben jedoch von flüchtiger, einmaliger Natur, ihm gelingt es nicht, eine stabile Beziehung aufzubauen und Sexualität bewusst als etwas Gemeinsames zu erfahren: »mit frauen hatte ich in den letzten jahrzehnten ständig verschlungene pfade durchwandert, kam mir vor wie ein verprügelter, ausgezehrter wolf« (DS, 169), stellt der Ich-Erzähler in einem Monolog auf der extradiegetischen Ebene fest. Mit dem intertextuellen Verweis auf das Kindermärchen Rotkäppchen wird ein Zusammenhang mit einem Text hergestellt, bei dem das Moment der Initiation im Vordergrund steht und zahlreiche Anspielungen auf Sexualität zu finden sind. Die Bezugnahme auf Rotkäppchen erfolgt an verschiedenen Stellen des Romans auf der extradiegetischen Ebene (vgl. DS, 6, 35f., 169). Offenbar dient sie zur Veranschaulichung von Peters anhaltendem Kindheitstrauma und seiner verstörten Beziehung zur Sexualität, die immer mit Aggressionen verbunden zu sein scheint. Das Moment der sexuellen Initiation wird insofern begünstigt, als Peter durch sein gewalttätiges Verhalten gegenüber dem Erdkundelehrer unter den Mädchen vorübergehend an Anerkennung gewinnt: »neben einer aussprache mit dem direktor und einem verweis, brachte mir die aktion mit dem erkundelehrer einige mädchen näher, und mit einer schlenderte ich sogar einige tagelang hand in hand durch die straßen. dabei sollte es mit rita nicht bleiben.« (DS, 167f.)

Gesamtheitlich betrachtet gelingt es Peter nicht, eine gesunde emotionale Beziehung zu Frauen zu entwickeln. Er nimmt Frauen als bloße Lustobjekte wahr und reduziert sie auf ihre körperlichen Eigenschaften. Die erste intime Begeg817 Vgl. Kapitel 5.1.3 Zur gestörten Generativität im familiären Umfeld.

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nung mit einer Frau wird ihm durch Wilfried Schober, einen Jugendfreund, vermittelt, der seine eigene Schwester sexuell missbraucht und prostituiert. Peter beobachtet den Missbrauch, ohne ihn jedoch als solchen zu erkennen. Er geht sogar davon aus, dass Wilfrieds Schwester diese Art der Zwangsprostitution genießt (vgl. DS, 76). Durch das sanktionierende Verhalten seiner Mutter und die Tabuisierung von Sexualität in der Familie ist es Peter nicht möglich, eine normale Sexualität zu entwickeln. Erfolglos versucht er während seines psychosozialen Moratoriums, sein verunsichertes Selbstwertgefühl mit sexuellen Erfahrungen zu stärken. Ebenso wie der Alkoholkonsum und das Ausüben von Gewalt entpuppt sich auch sein Interesse an Mädchen bzw. an sexuellen Erfolgserlebnissen als ineffiziente Strategie, um seinen Mangel an Selbstwertgefühl zu kompensieren und eine Orientierung in einer Lebensphase zu finden, in der Familie und Schule keinen Halt anbieten (vgl. DS, 169).

5.1.6 Fazit Zusammenfassend lassen sich folgende Aspekte festhalten: Auf der Ebene des discours verleiht die von Landt ausgewählte autodiegetische Erzählinstanz der Darstellung einen authentischen Charakter, umso mehr durch die überwiegend figurale Innenperspektive des erlebenden Ichs. Durch die unmittelbare Präsentation von Gedankenrede und gesprochener Rede werden Einblicke in die Innenwelt des Protagonisten gewährt, die seinem Umfeld verschlossen bleiben. Das mit der Adoleszenz verbundene Prinzip der Nachträglichkeit findet durch die Erzählstruktur Unterstützung: Durch nachträgliche Kommentierungen und Reflexionen des erzählenden Ichs, also durch Kombination von Felderinnerungen und Beobachtererinnerungen wird die für die Adoleszenz kennzeichnende identitätsstiftende Neubewertung der Kindheit plausibel inszeniert. Dass der Text auf der Gegenwartsebene mit dem Mauerfall einsetzt, steht metaphorisch dafür, dass der Protagonist in der Basiserzählung von seiner Vergangenheit eingeholt wird und sich zwangsläufig einer erneuten Rekonstruktion seiner Vergangenheit widmen muss. Die Analepsen geben Einblicke in die vom Protagonisten vorgenommenen Entstörungsmaßnahmen im Sinne eines Remediatisierungsprozesses, die dem Bedürfnis folgen, die Traumata aus Kindheit und Adoleszenz zu überwinden. Auf der Ebene der histoire wird der für den modernen Adoleszenzroman charakterisierenden Dichotomie zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden durch figurale Oppositionen, etwa zwischen der Mutter und Peter Sorgenich sowie zwischen den Jugendlichen und ihren Lehrern, Ausdruck verliehen. Die präsentierten intergenerationellen und schulischen Beziehungen bestätigen, dass Adoleszente wie Peter Sorgenich und seine Clique Figuren der Störung bzw.

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Figuren der Abweichung darstellen. Durch ihr dissoziales, nonkonformes Verhalten erzeugen sie in ihrem familiären und gesellschaftlichen Umfeld Irritationen und stellen die kognitive Offenheit anderer Systeme wie die von Familie, Schule und Justiz in besonderer Weise auf die Probe. Die fehlende Generativität Peters Eltern führt zu dramatischen existentiellen Verstörungen und einem gestörten Selbstwertgefühl des Protagonisten. Der Konflikt verschärft sich, weil weder das Erziehungs- noch das Justizsystem in der Lage ist, die Größen- und Allmachtsphantasien des Protagonisten und die damit verknüpften Aufstörungen und Verstörungen produktiv zu verarbeiten, sondern ausschließlich mit drastischen Sanktionen auf diese reagiert. Peters Grenzüberschreitungen und seine vielfach missglückten Entstörungsversuche werden von seinem Umfeld nicht als Hilfeschrei um Zuwendung gedeutet, sondern als mutwillige Zerstörungswut, Disziplinlosigkeit und bewusste Gefährdung des Gesellschaftssystems missverstanden. Die sanktionierenden Maßnahmen der Lehrer, Ordnungskräfte und Justizinstanzen tragen nicht zu einer konstruktiven Entstörung der Situation und der entsprechenden Reintegration des Protagonisten in die Gesellschaft bei, sondern zielen ausschließlich auf die Ausschaltung möglicher zukünftiger Störungsmomente – durch repressive Kontrollmaßnahmen. Folglich kann im Sinne von Ludwig Jäger keine Transparenz erfolgen. Eigensinnige Positionen wie die von Peter Sorgenich mit seinem nonkonformen Verhalten und den entsprechenden Entgrenzungen und Grenzüberschreitungen können von einem System, das nach der »Logik des Entweder-Oder von Herrschaft und Widerstand«818 agiert, nicht sinnvoll integriert werden. Der Protagonist versucht wiederholt, sein beschädigtes Selbstwertgefühl zu kompensieren und sorgt damit vorübergehend für einen Anstieg seines Selbstwertes, kann jedoch keine endgültige Stabilität für eine erfolgreiche Individuation erzielen. So lässt sich im Falle von Peter Sorgenich ein diffuser Identitätszustand feststellen, mithin eine Störungsdiffusion819, bei der der Protagonist unter den Folgen der in seiner Kindheit und Adoleszenz erlittenen Traumata im familiären wie gesellschaftlichen Umfeld leidet. Angesichts der dargestellten Erlebnisse und der Folgen der erlebten Sanktionen für die weitere Entwicklung kann im vorliegenden Fall nach Mario Erdheim von einer ausgebrannten Adoleszenz820 gesprochen werden. Es gelingt dem Protagonisten nicht, die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit nachträglich aufzuarbeiten und das Determinationspotenzial der Kindheit zu relativieren. Entsprechend ist die Chance einer zweiten seelischen Geburt821, die im Zuge der Adoleszenz hätte

818 Schmied-Knittel, Drogenfreie Zone. Zur Rauschkultur der DDR. 2016, S. 52. 819 Vgl. die unterschiedlichen Formen der diffusen Identität nach James E. Marcia im Kapitel 2.2.1 Zur adoleszenten Identitätsbildung. 820 Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 317ff. 821 Fend, Identitätsentwicklung. 1991, S. 2.

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eintreten können, für ihn unerreichbar, sodass ihm keine wirkliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben möglich ist. Auf der Ebene der histoire kommt dem diegetischen Raum eine tragende Bedeutung zu. Die Auswahl der diegetischen Räume ist durch deren Funktionalität im Rahmen des gestörten Identitätsfindungsprozesses geprägt. Räume wie Peters Kinderzimmer, die Wohnung der Familie sowie das Gefängnis sind als Orte der Fremdbestimmung, der Gewalt und der Misshandlung inszeniert und eindeutig negativ konnotiert. Sie bestimmen die gestörte Entwicklung des Adoleszenten. Die Heterotopie des Gefängnisses erfüllt eine Kommentarfunktion über den diegetischen Raum der DDR. Ebenso erlebt Peter Sorgenich den Sozialisationsraum Schule als einen Ort der Demütigung und der Fremdbestimmung, einen positiv aufgeladenen Schutzraum findet Peter lediglich temporär im Kreis seiner Freunde abseits von Kontrollinstanzen. In diesem Sinne schließt der Text an die Tradition des klassischen Adoleszenzromans wie Hermann Hesses Unterm Rad an.822

5.2

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen – »Schon am Anfang scheint hier alles zu Ende zu sein – oder ist das Ende doch ein Anfang?«823

Ausgehend von der im paratextuellen Erzählraum platzierten Frage »Schon am Anfang scheint hier alles zu Ende zu sein – oder ist das Ende doch ein Anfang?« entfaltet Klüssendorfs Text Das Mädchen gleich zu Beginn ein für den Adoleszenzroman zentrales Thema. Dies insofern, als die Adoleszenz im Sinne einer Übergangsphase sowohl das Ende einer furchtbaren Kindheit als auch den Beginn einer Zukunft darstellt, in der die Protagonistin eine zweite Chance erhält, ihre kindliche Vergangenheit neu zu bewerten. Mit Das Mädchen beginnt Angelika Klüssendorf im Jahr 2011 einen Roman-Zyklus, den sie 2014 mit dem Text April fortsetzt und 2018 mit Jahre später abschließt. Sowohl Das Mädchen als auch April sind Texte, in denen die Inszenierung von Erinnerung an die Kindheit und Jugend in der ehemaligen DDR im Vordergrund steht. Hinzu kommt, dass das Erinnern eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Protagonistin einnimmt. Ihre Selbstverortung wird durch sich wiederholt einstellende Momente des Erinnerns beeinflusst, die ihre Identitätsfindung erschweren. Dementspre822 Es wurde im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Adoleszenzromans in der DDR darauf hingewiesen, dass DDR-Autoren auf das Muster des klassischen Adoleszenzromans zurückgreifen, um Jugenderlebnisse literarisch zu konfigurieren. Vgl. Kaulen, Fun, Coolness und Spaßkultur? 1999, S. 328. 823 Klüssendorf, Angelika: Das Mädchen. Fischer Taschenbuchverlag. 4. Aufl. 2018.

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chend lassen sich beide Texte nach Birgit Neumann auch der Gattung der fictions of memory zuordnen. Die erzählte Zeit beider Texte umfasst zusammen etwa zwölf Jahre. Die Handlung wird von einem heterodiegetischen Erzähler in einer nüchternen Sprache ohne wertende Kommentare, aber nahezu durchgehend aus Perspektive der jungen Protagonistin vermittelt. Dadurch wird eine Erzählsituation erzeugt, die insofern heraussticht, als sie Distanz ebenso wie Nähe erzeugt. Die folgenden Überlegungen beziehen sich ausschließlich auf die ersten zwei Texte der Trilogie, da sie für die der Arbeit zugrunde liegende Frage nach Darstellungsformen von Adoleszenz besonders relevant sind.

5.2.1 Zu Autorin und Werk Angelika Klüssendorf wird 1958 in Ahrensburg geboren. Ab 1961 lebt sie in Leipzig und wächst in einem Heim auf. Sie arbeitet zeitweise im VEB Starkstromanlagenbau Leipzig-Halle und im Museum für Völkerkunde. Zusammen mit Wiebke Müller gründet sie in den 1980er Jahren die bedeutendste Zeitschrift der nicht offiziellen Editionen, Anschlag, die sie bis zu ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik 1985 mitherausgibt.824 Ihr erstes Gedicht veröffentlicht Klüssendorf 1982 in der Zeitschrift Litfaß. Ihrem Erzähldebüt Sehnsüchte. Eine Erzählung (1990) folgen 1994 die Erzählung Anfall von Glück sowie die Erzählbände Aus allen Himmeln (2004) und Amateure (2009). Ihren ersten Roman Alle leben so präsentiert Klüssendorf 2001. Der Durchbruch gelingt Klüssendorf erst mit dem ersten Teil der Trilogie Das Mädchen – der Text wird für den Deutschen Buchpreis nominiert. Einen ähnlichen Erfolg erzielt sie mit dem Nachfolgeroman April, mit dem ihr ebenfalls eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis gelingt. Ihre Trilogie schließt die Autorin mit einem Gesellschaftsroman im Jahr 2018 ab. Die Trilogie lässt sich als komplexer »Entwicklungs- und Künstlerinnenroman, in dem die Literatur als Rettungsanker fungiert«825, einordnen. Neben dem epischen Werk veröffentlichte Klüssendorf zwei Theaterstücke. Das erste Stück Frag mich nicht, schieß mich tot erscheint 1996. Darin präsentiert sie mit dem Stilmittel der Komik das Bewusstseinsportrait einer sich im Umbruch befindenden (DDR)Gesellschaft, die im Zuge der Wende ihre Orientierung verliert. Ihr 2020 erschienener Monolog Branka thematisiert erneut den Verlust von Heimat und das Erinnern der Kindheit.

824 Vgl. Eckart, Frank: Eigenart und Eigensinn – Alternative Kulturszenen in der DDR (1980– 1990). Bremen: Edition Temmen 1993, S. 90. 825 Wester, Christel: Bilanz einer toxischen Ehe. In: [letzter Zugriff am 27. 04. 2020].

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5.2.2 Zur Poetologie Die poetologische Herangehensweise Klüssendorfs ist dem »authentischen Schreiben« verpflichtet. Dass sie vierundzwanzig Jahre in der DDR gelebt hat, bildet eine wichtige Quelle für Lebensanekdoten, auf die sie in ihren literarischen Texten immer wieder zurückgreift. Ihre autobiographischen Erfahrungen werden literarisch gestaltet, mithin fiktionalisiert. Aus der realen Person Klüssendorf eine poetische Figur zu erschaffen, sei das Schwierige am authentischen Schreiben, skizziert die Autorin ihren poetologischen Ansatz in einem Interview mit Denis Scheck.826 Der Einsatz einer personalen Erzählinstanz ermögliche der Autorin zum einen eine notwendige Distanz zum autobiographischen Stoff und zum anderen eine große Genauigkeit, so Klüssendorf im Gespräch mit Wiebke Porombka.827 Für ihr literarisches Schaffen lehnt die Autorin kategorisch jede Form der Wertung ab – dies sei für sie immer mit dem Moment des Denunziatorischen verbunden.828 Diese Haltung wiederholt Klüssendorf in mehreren Epitexten: »Vor allem ist mir wichtig, nicht zu bewerten. Jede Bewertung dessen, was ich da erzähle, soll von vornherein wegfallen.«829 Kennzeichen ihrer Texte ist dessen reduzierter Umfang. Auf diesen Aspekt abzielend, bezeichnet Thomas Hettche ihre Texte als »Destilate, Ergebnisse eines langen Prozesses«830, bei dem alles Überflüssige gestrichen wird. Mithin bestimmen das Prinzip der Reduktion und die Kunst der Auslassung ihre Erzählweise. Klüssendorf selbst vergleicht ihr Schreiben bildhaft mit der Aufgabe des »Bildhauer[s], der seinen Stein [sukzessiv] bearbeitet«831. Als Konstante ihres Werks lassen sich folgende Aspekte fixieren: erstens die literarische Verarbeitung autobiographischer Erfahrungen, zweitens die Bedeutung von Kindheitsprägungen, drittens die unabgeschlossene Suche ihrer Figuren nach Heimat, Liebe und Zugehörigkeit und viertens die 826 Vgl. Scheck, Denis: Angelika Klüssendorf: »Jahre Später«. In: Druckfrisch. Neue Bücher mit Denis Scheck. Sendung vom 28. 01. 2018. [letzterZugriff am 27. 04. 2020]. 827 Porombka, Wiebke: »Die DDR war ein riesiges Kinderheim«. In: Zeit Online, Ausgabe vom 14. 02. 2014. In: [letzter Zugriff am 23. 04. 2020]. 828 Angelika Klüssendorf im Gespräch mit Christine Thalmann. In: Literatursendung »Bücher und Moor« vom 13. 03. 2014. 829 Porombka, »Die DDR war ein riesiges Kinderheim«. 2014. 830 Thomas Hettche stellt Angelika Klüssendorf am 06. 09. 2011 im Literarischen Colloquium Berlin vor. In: [letzter Zugriff am 28. 04. 2020]. 831 Porombka, »Die DDR war ein riesiges Kinderheim«. 2014.

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Bedeutung des Lesens für die individuelle Sinnfindung. Durch den Fokus auf die Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte rücken auch Aspekte des Erinnerns ins Zentrum. Die Autorin ist sich der Unzuverlässigkeit der eigenen Erinnerung bewusst: »Es gibt keine wirkliche Erinnerung. Meine Erinnerung knüpft schon an die erste Erinnerung an, die mir erzählt wurde, und dann legen sich die Jahrzehnte darauf wie auf einem Foto, das langsam vergilbt.«832 Die Fiktionalisierung der eigenen Vergangenheit durch die Erarbeitung einer der Figur gemäßen Sprache sei die einzige Rettung, um die Geschichte authentisch rekonstruieren zu können, so die Autorin.833 Ihre Aufgabe als Schriftstellerin bestehe darin, wichtige Augenblicke aus der Kindheit und Jugend durch literarische Rekonstruktion »wieder zum Leuchten zu bringen und lebendig aufscheinen zu lassen«834. Mithin heißt Schreiben für Angelika Klüssendorf »das Leben erfassen, das, was uns ausmacht«835.

5.2.3 Zum Inhalt Im Leipzig der 1970er Jahre ist die Diegese des Romans Das Mädchen von Angelika Klüssendorf angesiedelt.836 Auf der Ebene der histoire wird die Geschichte einer zerrütteten Familie erzählt: da ist der Vater, Alkoholiker mit krimineller Vorgeschichte und die prügelnde Mutter, ein pathologisch hoffnungsloser Fall, die selbst Opfer männlicher Gewalt ist und ihr Glück vergeblich bei wechselnden Liebhabern aus dem kapitalistischen Ausland sucht. Die Tochter des Paares, die in einer Welt der Verwahrlosung, des Alkoholismus und der häuslichen Gewalt aufwächst, muss Strategien der Selbsterhaltung entwickeln, um sich angesichts dieser widrigen Lebensumstände zu behaupten. Der kleine sechsjährige Bruder leidet am meisten – er ist von allen Seiten Drangsalierungen ausgesetzt. Elvis, das Baby, das dritte unerwünschte Kind, kann nur über seine Schwester als Bezugsperson verfügen. Da die Eltern nicht stabile, zuverlässige Sozialisationsinstanzen sind, ist die Tochter fast ausschließlich auf sich allein gestellt. Die Protagonistin wird durch ihr aggressives Verhalten und eine Reihe von Diebstählen verhaltensauffällig. Auf die häusliche Gewalt der Mutter reagiert sie mit 832 Angelika Klüssendorf, zitiert nach Zetzsche, Cornelia: Kaschnitz-Preisträgerin Angelika Klüssendorf im Portrait. In: [letzter Zugriff am 28. 04. 2020]. 833 Vgl. ebd. 834 Klüssendorf, Angelika: Über Vögel und andere Tiere. Dankesrede anlässlich der Verleihung des Marie Luise-Kaschnitz-Preises der Evangelischen Akademie Tutzing. In: [letzter Zugriff am 28. 04. 2020]. 835 Ebd. 836 Klüssendorf, Angelika: Das Mädchen. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2011, [im Folgenden unter der Sigle »DM« mit Seitenzahl im Text].

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Aggressionen gegenüber ihrem wehrlosen Bruder und lässt ihren Frust an ihm aus. Weil sie von der Mutter verachtet und drangsaliert wird, läuft sie von Zuhause weg. Sie zieht zu ihrem Vater, der sich mit seiner neuen Freundin eine Wohnung an der Ostsee teilt. Dort vermisst sie bald ihre Mutter und ihren Bruder und kehrt zu ihnen zurück. Derweil hat ihre Mutter eine neue Beziehung und ein weiteres Kind bekommen. Gleich nach der Ankunft der Tochter wird klar, dass jeder in seine alte Rolle verfällt: die Mutter verletzt ihre Tochter emotional und diese muss an Stelle ihrer Mutter Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernehmen. Um der verfahrenen Situation zu entfliehen, verletzt sich das Mädchen selbst. Nach einem Krankenhausaufenthalt wird sie in ein Kinderheim eingewiesen. In einem neuen Lebensabschnitt mit festen Strukturen, mit »Regeln und Pflichten« (DM, 113) kämpft sie um Anschluss. In ihrer Mädchen-Clique entdeckt sie die Bedeutung des weiblichen Körpers und entwickelt Interesse für das andere Geschlecht. Im weiteren Verlauf des Kinderheimaufenthaltes gerät sie in einen Konflikt mit der Heimleitung, weil sie fortlaufend gegen die Heimregeln verstößt. Mit siebzehn Jahren steht sie am Anfang einer Lehre, die sie »wahrscheinlich abbrechen« (DM, 183) wird. Angesichts dieser prekären Lebensumstände stellt sich die Frage, welche Herausforderungen die adoleszente Zwölfjährige meistern muss, um die Übergangsphase von der Kindheit in das Erwachsenenalter erfolgreich zu gestalten. Im Fall der Protagonistin gilt es zu prüfen, ob bzw. inwiefern die Eltern eine generative Haltung einnehmen und welche Folgen sich aus den prekären Bedingungen des familiären Umfelds für die Individuation des Mädchens ergeben. Darüber hinaus geht es darum, weitere zentrale Merkmale der Adoleszenz, wie die Suche nach grenzüberschreitenden Erfahrungen, das Erleben erster sexueller Kontakte und die Gestaltung von Beziehungen zu Gleichaltrigen am Beispiel der Hauptfigur herauszustellen.

5.2.4 Zur fehlenden Generativität im familiären Umfeld Das Lebensumfeld der Adoleszenten muss gewisse Voraussetzungen erfüllen, damit Neues in der Adoleszenz entstehen kann. Hinsichtlich der Eltern ist etwa gemeint, dass diese die notwendigen Einstellungen, Haltungen und Voraussetzungen mitbringen bzw. schaffen müssen, damit Individuationsprozesse überhaupt realisiert werden können. Die Entstehung des Neuen ist maßgeblich davon abhängig, inwieweit Individuation zugelassen wird. Eine generative Haltung der Eltern ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Heranwachsenden adoleszente Prozesse durchführen können.837 837 Vera King führt aus, dass Eltern eine generative Haltung einnehmen müssen, damit Neues entstehen kann. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 70.

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Vor diesem Hintergrund lässt sich mit Blick auf das Umfeld der Hauptfigur in Das Mädchen festhalten: Die Entwicklung in der Familie der zwölfjährigen Protagonistin nimmt tragische Züge an. Das Mädchen gerät von Beginn an in eine Außenseiterrolle. Als Tochter eines kleinkriminellen Alkoholikers sowie Opfer und Zeugin häuslicher Gewalt ist ihre Entwicklung vorgezeichnet. Ihre höchste Priorität ist die Entwicklung von Strategien, um dem familiären Prekariat zu entkommen. So heißt es bereits am Anfang des Textes: »Das Herz pocht ihr den Hals herauf, sie schließt die Augen, eigentlich will sie nur davonkommen […].« (DM, 11) In der Familie ergibt sich durch das pathologische Verhalten der Mutter sowie die Situation des alkoholabhängigen Vaters eine Grenzsituation, die einen besonders negativen, mithin traumatischen Einfluss auf die Individuation der Protagonistin hat – weder der Vater noch die Mutter ist in der Lage, »eine generative Haltung einzunehmen und damit eine der Voraussetzungen für [die] soziale Geburt«838 der Tochter zu schaffen. So bieten die familiären Bedingungen dem Mädchen und seinen Geschwistern keinen angemessenen Rahmen, in dem sie eine Orientierung finden können. Keine der Bezugspersonen erfüllt ihre Vorbildfunktion für die Kinder, so weist der Vater mit seiner kriminellen Laufbahn und seiner Alkoholsucht keinerlei generative Haltung auf, die für die Entwicklung der Heranwachsenden förderlich wäre. Die Perspektivlosigkeit des Protagonisten manifestiert sich an seinem Schicksal, eindrücklich heißt es: »ein Säufer [bleibt] immer ein Säufer.« (DM, 62) Ebenso wenig stellt die Mutter mit ihrem übermäßigen Alkoholkonsum und aggressiven Verhalten ein Vorbild dar: »Ihre Tochter wartet darauf, dass sie zu lallen beginnt, dann bringt sie die betrunkene Mutter ins Bett.« (DM, 43)839 Ihre wiederholten Partnerwechsel sind ein weiterer Beweis für ihre fehlende Beziehungsfähigkeit, die sie der Tochter vorlebt und die auch deren zukünftiges Verhalten bei der Gestaltung romantischer Beziehungen beeinflusst.840 Der Familienalltag ist von gegenseitigem Misstrauen, von Verrat und von Konflikten, Kontaktabbrüchen und Versöhnungssituationen geprägt. Ein Beispiel illustriert die Beobachtung: Nachdem der Vater die Mutter bestiehlt und sie ihn daraufhin verflucht, verschwindet er fluchtartig aus der Wohnung, kommt aber am nächsten Tag wieder zurück. Es wird deutlich, dass innerhalb des familiären Zusammenlebens keine Stabilität 838 King, Die Entstehung des Neuen. 2002, S. 124. 839 Die Tochter wird ständig mit unterschiedlichen Versorgungsaufgaben beauftragt, für die in der Regel Eltern zuständig sind. Da die Eltern ihre Bindungs- und Fürsorgefunktion nicht ausüben, muss die Tochter die Rolle der versorgenden Eltern übernehmen und sich zum einen um die Geschwister kümmern und zum anderen um die Eltern selbst, die häufig nicht in der Lage sind, sich selbst zu versorgen oder sich weigern, die elterliche Verantwortung zu übernehmen. 840 Näheres dazu im Kapitel 5.2.6 Zur sexuellen Initiation des Mädchens und im Kapitel 5.2.7 Zu den Beziehungen unter Gleichaltrigen in Schule und Kinderheim.

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vorhanden ist und die Kinder kein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit erfahren können: »Am nächsten Morgen läuft ihr Vater wieder laut krachend durch die Wohnung […].« (DM, 63) Die Diskontinuität prägt auch diesen Tag, nach einem Versöhnungsmoment: »Als sie aus der Schule kommt, sitzen die Mutter und der Vater fröhlich vor dem Fernseher« (DM, 63), beleidigt die Mutter den Vater und die Stimmung wechselt erneut: »du Versager, […] Bankrotteuer, mieser, dreckiger Wurm […].« (DM, 63) Auf die verbale Gewalt und die verletzenden Äußerungen reagiert der Vater mit körperlicher Gewalt: »[…] und schon liegt die Mutter auf dem Boden, der Vater kniet über ihr und würgt sie, würgt die Mutter so sehr, bis ihre Augen hervortreten.« (DM, 63f.) Die Kinder sind hemmungslosen Auseinandersetzungen wie diesen direkt ausgesetzt. Die Konfrontation mit dem Suchtverhalten der Eltern und das Erfahren von interpersoneller Gewalt auf verschiedenen Sinnesebenen – erstens durch das Erleben körperlicher und psychischer Gewalt, zweitens durch die unmittelbare Beobachtung körperlicher und psychischer Misshandlung der Mutter durch den Vater oder des Bruders durch die Eltern, drittens durch das Wahrnehmen von Schreien oder anderen Formen verbaler Gewalt – erzeugen eine permanente Angstatmosphäre in der Familie, die bei dem Mädchen zu einer sozial-emotionalen Verstörung führt: »Sie denkt daran, wie die Mutter mit einem grauen Ledergürtel auf sie einprügelt und hinterher völlig außer Atem ist. […] Sie sieht [in den Augen des Bruders] die gleiche Angst wie ihre eigene, und das macht sie wütend.« (DM, 10)

Die wiederkehrende belastende Erinnerung an die erfahrene Gewalt löst weitere Störungsmomente aus. Sie ist nicht in der Lage, die durch das Erinnern veranlasste Selbstirritation zu verarbeiten, und bildet ein destruktives Verhalten aus, mithin führt sie der Psyche ihres Bruders selbst Verstörungen zu: »Sie zielt mit ihrem Finger auf die Stirn ihres Bruders, peng, schreit sie, und noch einmal, peng, peng, peng, dann klopft sie an seine Stirn, wie man an eine Tür klopft. […] Als er sich zu wehren versucht, knallt sie ihm eine.« (DM, 10)

Damit wechselt die Protagonistin von der Opfer- in die Täterrolle und verstetigt dieses Verhalten auch. Sobald sie sich einer schwächeren Person überlegen fühlt, nutzt sie die Gelegenheit, um ihre Wut und Frustration abzureagieren. Diese Entstörungsstrategie dient nicht dazu, die durch das Erinnern erzeugte Perturbation aufzufangen, sondern stößt eine Steigerung des Gewaltverhaltens an, die an der Demütigung und Verletzung ihrer Opfer deutlich wird. So setzt sich ihr jüngerer Bruder zwar anfangs zur Wehr, resigniert aber sodann »willenlos« und lässt die Gewalt über sich ergehen. Der Bruder hat keine Möglichkeit, die von seinem Umfeld veranlassten Irritationen aufzufangen, er leidet unter den Folgen der erlebten Gewalt, insbesondere unter Angstzuständen und posttraumatischen

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Belastungsstörungen. Sein Verhalten illustriert den Grad seiner Überforderung und Nervosität: »Sein linkes Augenlid zuckt, er reibt ständig die Finger aneinander und er hat sich angewöhnt, ruckartig seinen Mund aufzureißen, bevor er spricht […].« (DM, 38)841 Schadenfroh und hämisch quält die Mutter die ihr unterlegenen Kinder, die naiv und hilflos ihrem vernichtenden Sadismus ausgeliefert sind (vgl. DM, 42, 103, 106, 108): »Sie schlägt ihre Kinder, wenn ihr danach ist, gibt sich keine Mühe mehr, einen Grund zu erfinden […]« (DM, 37) und sucht geradezu nach einem Vorwand, um ihre sadistische Lust auf Kosten der Kinder ausleben zu können: »[Die Tochter] weiß längst um die Nutzlosigkeit, tapfer durchzuhalten, es ist Sinn und Zweck dieser Veranstaltung, irgendwann schwach zu werden, und das wiederum ist ein Vorwand für ihre Mutter, losprügeln zu dürfen.« (DM, 108f.)

Neben körperlicher ist der Alltag des Mädchens von psychischer Gewalt seitens der Mutter geprägt (vgl. DM, 106). Ihren Sohn bezeichnet sie als »krankes Stück Scheiße« (DM, 38) und die Tochter als »Missgeburt« (DM, 109). Die Mutter betrachtet die Kinder als »[d]ie größte Strafe […], die Gott ihr gesandt hat« (DM, 63). Das wird auch insofern deutlich, als sie ihnen andauernd vorrechnet, wie viel Zeit sie ihr kosten (vgl. DM, 98). Auch erzählt die Mutter ihrer Tochter in aller Ausführlichkeit von dem erfolglosen Versuch, sie abzutreiben (vgl. DM, 109f.). In aller Deutlichkeit wird ihr zu verstehen gegeben, dass sie nicht erwünscht war. Das Fehlen von Geborgenheit in der Familie, das Gefühl der Protagonistin, nicht willkommen und angenommen zu sein, verhindert die Entwicklung eines Urvertrauens. So verhindert die seine Existenz dominierende Urangst die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls und die Identitätsfindung des adoleszenten Mädchens. Die Protagonistin lernt Gewalt im alltäglichen Erleben im familiären Umfeld als eine normale Form der Konfliktlösung und der unterdrückenden Machtausübung kennen. Die fehlende generative Haltung der Eltern kann nicht vom Mädchen aufgefangen werden. So kommt es erstens zu einem (auto)destruktiven Verhalten und zu Wiederholungszwängen, die eine adoleszente Individuation erschweren, zweitens zu Überforderungen während des Selbstfindungsprozesses und drittens zur Ausbildung eines generationsübergreifenden Problems.842 Diese Beobachtung wird im Folgenden anhand von ausgewählten Textbeispielen nachgezeichnet. In diesem Sinne führt die fehlende Generativität der Eltern dazu, dass das zwölfjährige Mädchen das aggressive Verhalten der Mutter nachahmt 841 Die funktionale Kette von Störung – Transkription – Transparenz misslingt und der Grad der Störung erreicht eine weitere Intensivierung, die mit einem größeren Remediatisierungsbedarf verbunden ist. 842 Zu den Folgen fehlender Generativität der Eltern vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2002, S. 125.

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und ein (selbst)destruktives, verstörendes Verhalten entwickelt, indem sie wie die Mutter zuerst ihren Bruder und später andere Kinder quält und auch sich selbst Schaden und Verletzungen zufügt. Aus Sicht der Entwicklungspsychologie lässt sich ihr Verhalten als ein Mittel zur Generierung von Aufmerksamkeit bzw. von Irritationsmomenten, etwa im schulischen Umfeld, deuten, um der Ausweglosigkeit ihrer familiären Situation zu entkommen (vgl. DM, 181): »Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll, hat das Gefühl, nirgendwo hinzugehören. In der Pause bleibt sie neben einer Gruppe von Jungs stehen, zerbricht einen Kopierstift, steckt sich, für alle gut sichtbar, die Mine in den Mund. Sie will, dass man sie sieht, sie will nicht wirklich sterben. Sie verschluckt die Mine und wartet auf den Schrecken in den Augen ihrer Mitschüler, aber die beachten sie nicht weiter.« (DM, 110)

Der Textausschnitt belegt, dass das schulische Umfeld kaum auf ihre Selbstverletzungen reagiert, sodass die Erwartungen der Protagonistin zunächst nicht erfüllt werden. Genau wie in ihren Alpträumen, die sie nachts plagen, reagiert niemand auf ihre Hilferufe (vgl. DM, 18). Erst ein Krankenhausaufenthalt macht die Interaktionsstörungen innerhalb der Familie öffentlich und sie erhält die Chance, aus dem Teufelskreis auszubrechen: »[S]ie will nicht nach Hause, nie mehr, das ist die einzige Auskunft, die sie zu geben bereit ist.« (DM, 110) Die Jugendhilfe reagiert auf die Situation und kann mit der Einweisung des Mädchens in ein Heim eine Entstörung herbeiführen. Langfristig provozieren die fehlende Bindung zu den Eltern und das Erleben wiederholter Demütigungen und Gewaltausübung eine sozial-emotionale Störung, die das auffällige Verhalten und die weitere Entwicklung der Protagonistin konditioniert. Ihre Unsicherheit zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählung und resultiert vor allem aus den prekären Familienbedingungen, die ihren Individuationsprozess in der Frühadoleszenz massiv beeinträchtigen. Der folgende Gedankenstrom belegt dies eindrücklich: »Sie meint diesen Blick zu kennen, doch sie ist sich nicht sicher. Sie weiß nie, was er als Nächstes tun wird. Es gibt keine erkennbaren Gesetze für ihr Zusammenleben, keine gültige Gerechtigkeit; ein Vorfall, der ihr morgens eine Tracht Prügel einbringt, kann abends ein müdes Lächeln bei ihm hervorrufen.« (DM, 73)

Konfrontiert mit dem willkürlichen und gewalttätigen Verhalten der Primärobjekte entwickelt das Mädchen schützende Verhaltensstrategien. Sie reagiert auf die Aggressionen mit einer dissoziativen Störung – sie entflieht der gewaltsamen materiellen Umgebung und begibt sich mental an einen Ort, wo sie die mit der Misshandlung verbundenen Schmerzen nicht mehr spüren muss: »[…] während die Mutter auf sie einschlägt, muss sie an den mächtigen Goliathkäfer denken, sie stellt sich vor, sie hätte seine Flügel und könnte weit weg fliegen.« (DM, 44). Bei Bedrohung verharrt sie bewegungslos: »Sie verschwindet in der Raserei der Mutter wie in einem Strudel, lässt sich nach unten auf den Grund

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sinken und ist einfach nicht mehr da […].« (DM, 61)843 Die Imagination des ›Goliathkäfers‹ ist ein erstes Symptom der multiplen Persönlichkeitsstörung, die das Mädchen durch die extrem belastenden Lebensumstände entwickelt. Die Welt der Literatur und der Fabelwesen, in diesem Fall Brehms Tierleben, öffnet der Protagonistin einen phantastischen Fluchtweg aus ihrer trostlosen, destruktiven Umgebung. Im Bild eines mächtigen ›Goliathkäfers‹ baut sich die Tochter eine zweite Persönlichkeit auf und sucht eine schützende Distanz zum Erlebten bzw. zum Gewaltausbruch der Mutter zu gewinnen. Deutlich wird die Überforderung des Mädchens, das offenbar keine andere Möglichkeit sieht, die durch die Misshandlung hervorgerufene Perturbation aufzufangen. Die Protagonistin identifiziert sich mit fiktionalen Figuren, wie dem Mädchen Gretel oder dem Graf von Monte Christo, die sie in ihrer alltäglichen Flucht aus der Gefangenschaft der Eltern, der Welt der Ungerechtigkeit und des Verrats bestärken und zu Vorbildern in ihrem persönlichen Rachefeldzug avancieren.844 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die äußerst prekären familiären Lebensbedingungen den Individuationsprozess der Protagonistin nicht nur nicht fördern, sondern vielmehr verhindern. Die alltägliche Konfrontation mit sadistischer Gewalt, Willkür, Unterdrückung und Alkoholmissbrauch verunmöglichen die normalerweise in der Phase der Adoleszenz erfolgende ›soziale Geburt‹. Die fehlende Identität der Protagonistin – sichtbar an ihrer namenlosen Bezeichnung – korrespondiert mit der Unmöglichkeit einer Individuation in einer toxischen familiären Umgebung. Die Familie entpuppt sich als ein Ort der Verstörungen, die die Möglichkeiten der Verarbeitung seitens der Hauptfigur übersteigen. Folglich entwickelt das Mädchen verschiedene Formen von fremdund selbstdestruktivem Verhalten, was die Intensität der familiären Störung wiederum steigert. Das Fehlen von Urvertrauen und verlässlichen Wertvorstel843 Das Auftreten alternativer Identitäten in Form von Tieren oder Fabelwesen ist ein typisches Symptom der dissoziativen Identitätsstörung bzw. der multiplen Persönlichkeitsstörung. Sie ist häufig bei Personen anzutreffen, die in der Kindheit einer überwältigenden psychischen Belastung oder einem überwältigenden Trauma ausgesetzt sind. Es handelt sich um einen Schutzmechanismus, der dem Aushalten der unerträglichen psychischen und physischen Grausamkeiten dient. Während der Misshandlungen löst sich die Person von ihrer unfreundlichen realen Umgebung und begibt sich mental an einen anderen Ort, wo sie die Schmerzen nicht bzw. anders spürt und der Misshandlung entfliehen kann. Ihre körperliche Anwesenheit hält die Wahrnehmung der Schmerzen und Gewalterfahrungen aufrecht. Vgl. Fiedler, Peter: Dissoziative Störungen. 2., überarb. Aufl. Göttingen [u. a.]: Hogrefe 2013, S. 11ff. 844 Da die Eltern ebenso wie die Pädagogen als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz versagen, bildet die Protagonistin eigene moralische Instanzen aus, wobei sie sich an der Literatur und der Tierwelt orientiert. Die Herausbildung eines eigenen Werte- und Normensystems ist eine wichtige Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz. Im Falle der Protagonistin manifestiert sich damit der Versuch, sich emotional von den Eltern abzulösen. Vgl. Kapitel 2.2.7 Zur Herausbildung eines eigenen Werte- und Normsystems.

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lungen erschweren maßgeblich die Suche nach einem Lebenssinn und die Integration der Protagonistin in die bestehende soziale Gemeinschaft.

5.2.5 Zum grenzüberschreitenden adoleszenten Verhalten Bereits zu Textbeginn wird der Blick des Rezipienten auf die außerordentlich schwierigen Bedingungen des Aufwachsens des Mädchens gelenkt. Hineingeboren in eine Welt der Gefühllosigkeit und Vernachlässigung greift die Figur eines Tages auf eine Provokation zurück – aus Gründen des Selbstschutzes und um ihre prekäre Situation öffentlich zu machen. Folgendes ist geschehen: Das Mädchen und ihr kleiner Bruder sind »seit Tagen in der Wohnung eingeschlossen« (DM, 8). Da sich die Toilette außerhalb der Wohnung befindet und somit nicht erreichbar ist, sind die Kinder genötigt, ihre Bedürfnisse in einen Eimer zu verrichten. Als dieser voll ist, leert das Mädchen den Eimer auf der Straße aus: »Scheiße fliegt durch die Luft, […] trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig.« (DM, 7) Durch die aufmerksamkeitswirksame Entsorgung der Fäkalien wird die öffentliche Ordnung für einen Augenblick gestört, doch die irritierten Passanten laufen nach kurzer Zeit gleichgültig weiter. Ein jeder, so verdeutlicht die Episode, ist auf sich und sein eigenes Wohl bedacht, den stummen Verzweiflungsschrei des Mädchens hört niemand. In Bezug auf die Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung wird auf den zuständigen Polizisten verwiesen: »Die Leute stellen sich in die Hauseingänge und verfolgen das Geschehen. Die junge Frau hält den beschmutzten Strohhut weit von sich, Rufe nach dem Abschnittsbevollmächtigten werden laut. […] Dann schlägt das Fenster mit einem lauten Krachen zu – ein Wunder, dass die Scheibe nicht zerbricht. Nach einer Weile ziehen die Leute ab, gehen ihrer Wege.« (DM, 8)

Eine Intensivierung erhält diese Episode durch eine Semantisierung des Raumes. Angelika Klüssendorf setzt die Passanten mit der Substanz der Gebäude in Beziehung. Der moralische Verfall der Gesellschaft, der in der Verwahrlosung der Kinder, der Gleichgültigkeit der Bürger und ihrer empathielosen abweisenden Haltung Gestalt annimmt, korreliert mit dem Verfall der umliegenden Häuser. Folgende Textstelle veranschaulicht das Verfahren: »Das Haus unterscheidet sich nicht von den anderen Häusern in der Straße, Rußflecke, Einschusslöcher aus dem Krieg, abblätternder Putz.« (DM, 7) Hinter den vom Krieg gezeichneten Fassaden offenbaren sich menschliche Abgründe. Im Verlauf der Erzählung wird der Leser mit weiteren Grenzüberschreitungen konfrontiert, die in regelmäßigen Abständen von der Protagonistin vollzogen

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werden. Sie legt ein riskantes Verhalten an den Tag, das in einer eindeutigen Korrelation mit den bei Adoleszenten auftretenden Allmachtsphantasien steht. So entwickelt sie ihr Lieblingsspiel, um »die Reaktionsschnelligkeit der Autofahrer zu testen […]. Sie steht am Bordstein, und kurz bevor ein Auto sich auf ihrer Höhe befindet, rennt sie blitzschnell über die Straße. […] [D]ie Bremsen quietschen und ihre Herzen hämmern.« (DM, 14) Offenbar versucht das Mädchen mit ihrem Verhalten ihre Vernachlässigung im familiären Umfeld zu kompensieren, sie will spüren, am Leben zu sein. Im Zusammenhang mit der Bedeutung des Körpers in der Adoleszenz wurde bereits herausgearbeitet, dass es im Falle einer Störung der affektiven Besetzung des Selbst zu einer Intensivierung der Überbesetzung des Selbst kommt, bei der der heranwachsende Körper als Experimentierobjekt vielfältigen Risiken und destruktiven Situationen ausgesetzt wird. Je unsicherer die Selbstidentität des Individuums ist, desto notwendiger ist die Überbesetzung des Selbst.845 Auch ihre Diebstähle erfolgen geleitet von einem übermächtigen Gefühl der Invulnerabilität – »für eine Weile fühlt sie sich unverwundbar« (DM, 134, vgl. 151f.) – und nehmen den symbolischen Charakter einer Mutprobe an, mit der sich die Protagonistin, beispielsweise innerhalb der Mädchengruppen im Kinderheim, Respekt und Anerkennung verschafft und ihre soziale Position innerhalb der Clique verbessert oder stabilisiert: »Inzwischen ist sie zur Meisterdiebin aufgestiegen […]. Die anderen Mädchen bewundern sie dafür […].« (DM, 151f.) Außerhalb dieser symbolischen Funktion innerhalb der Peergroup haben die Gesetzesbrüche diverse Ursachen und Bedeutungen: Ihre Diebstähle lassen sich in erster Linie als Ausdruck ihrer Verwahrlosung mangels positiver Vorbilder in der Familie deuten. Sie spiegeln die seelische Konfliktsituation der Figur und sind insofern Zeichen ihrer Aufstörung. Augenscheinlich sucht das Mädchen durch das Entwenden von Nahrungsmitteln im Konsum und kleinen Geldbeträgen zu Hause ihr unerfülltes Liebesbedürfnis zu befriedigen. Sie reagiert auf eine affektive Störung mit einer erneuten Störung der familiären oder gesellschaftlichen Ordnung. Angesichts ihrer defizitären seelischen Verfassung stellt ihre Kleptomanie eine Art Protest dar, eine die Form der Aggressivität annehmende Abwehr gegen das Schicksal des Vernachlässigtwerdens. Weiterhin spielt das Bedürfnis nach Rache eine wichtige Rolle. Die Rache ist gezielt gegen die Eltern gerichtet, die durch die Rechtsbrechung des Mädchens in gewisser Weise bestraft werden sollen. Der Diebstahl geht aus dem schon erwähnten diffusen Empfinden, ungerecht behandelt und benachteiligt worden zu sein, sowie aus einem Gefühl der Kränkung und Enttäuschung hervor. In diesem Sinne ist auch das Entwenden von Kleidungsstücken, die das Mädchen der Mutter seiner Freundin Elvira schenkt, zu 845 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 198; siehe hierzu Kapitel 2.2.5 Zur Bedeutung des Körpers in der Adoleszenz.

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deuten, das als Ersatz-Befriedigung ihres unerfüllten Anerkennungsbedürfnisses dient. Heranwachsende setzen mit ihrem grenzüberschreitenden Verhalten die kognitive Offenheit anderer Systeme auf die Probe und verlangen ihrerseits eine Anpassungsleistung.846 In der Regel werden die Grenzüberschreitungen von der Familie und der Gesellschaft als eine Dysfunktion wahrgenommen und haben sanktionierende Reaktionen zur Folge.847 In diesem Kontext stellen die Mutproben mit den Autos, die später wiederholt erfolgenden Ausreißversuche aus dem Kinderheim und die regelmäßigen Diebstähle klare Verstöße gegen gesellschaftliche Regeln dar, die von dem Mädchen mit dem Bestreben initiiert werden, die Missachtung seitens der primären Bezugspersonen und die damit zusammenhängenden psychosozialen Belastungen auszugleichen.848 Besonders deutlich zeigt sich dies, als das Mädchen bereits im Kinderheim lebt und sich sicher ist, dass »[s]ie […] nicht wie die anderen in den großen Ferien nach Hause fahren [wird]; die Mutter will sie nicht sehen« (DM, 123). Weder die Eltern noch die Pädagogen vermögen es, die psychischen Folgen dieser Abweisungen zu erfassen und das aufstörende Verhalten des Mädchens als Hilferufe wahrzunehmen. Die im Heim verhängten Stubenarreste, die Setzung ihres Namens auf die »Liste der negativen Kinder« (DM, 131), die Schläge der Erzieher vor den versammelten Kinderheimmitbewohnern führen keine Besserung ihres Verhaltens herbei, sondern provozieren weitere sogenannte Dysfunktionen. Am Beispiel des Mädchens wird anschaulich inszeniert, welche Folgen es hat, wenn eine Gesellschaft die produktive Bedeutung der durch Individuen veranlassten Störungen verkennt und die Möglichkeit, auf Verfehlungen in der persönlichen Entwicklung jener Individuen konstruktiv einzuwirken, versäumt. Auch bei ihrer zuletzt beschriebenen Entwicklungsstation, der Ausbildung zur Rinderzüchterin in einer LPG, mithin am Tiefpunkt ihrer Odyssee, greift das Mädchen zu einer rigorosen Maßnahme, um sich gegen äußere Widrigkeiten zu behaupten.849 In ihrem Ausbildungsbetrieb wird sie »Zeugin, wie eine Kuh zu Tode geprügelt 846 Regel- und Grenzüberschreitungen sowie Verletzungen der symbolischen Ordnung sind sogenannte Transgressionsakte. Sie dienen dazu, das Scheitern einer symbolischen Ordnung zu signalisieren und gelten als notwendiger Bestandteil der adoleszenten Entwicklung. Vgl. Ahrbeck, Von allen guten Geistern verlassen? 2010, S. 13; vgl. Kapitel 2.4 Adoleszenz und Störung. 847 Vgl. Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 33. 848 Die regelmäßigen Diebstähle des Mädchens stellen ein dissoziales Verhalten dar, das als Normbruch und strafbares Verhalten einzuordnen ist. Diese Form der Delinquenz ist bei Jugendlichen das am häufigsten begangene Delikt. Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 291. 849 Traumatisierte Heranwachsende, die sich selbst überlassen werden, greifen zu adoleszenztypischen Selbsthilfemaßnahmen, die oft mit einem autodestruktiven Verhalten verbunden sind. Vgl. Streeck-Fischer, Trauma und Entwicklung. 2014, S. 1.

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wird« (DM, 180). Es ist anzunehmen, dass das verstörende Erlebnis die Erinnerung an eigene, in der Vergangenheit liegende Misshandlungserfahrungen auslöst. In einer Szene absoluter Brutalität quälen die LPG-Mitarbeiter eine Kuh, die verängstigt schreit, ohne dass ihr jemand zu Hilfe eilt, im Gegenteil. Dass die herumstehenden Zuschauer die Schläger nicht bloß gewähren lassen, sondern sie lautstark anfeuern, verdeutlicht die Aggressivität und Empathielosigkeit der Mitarbeiter. Illustriert werden Abgründe des menschlichen Handelns bzw. die Verrohung der Gesellschaft: »Das Tier gibt verzweifelt klingende Laute von sich. Der Arbeiter nimmt eine Eisenstange und schlägt auf die Kuh ein, er schlägt, als wolle er nie wieder aufhören, die anderen feuern ihn lautstark an.« (DM, 180)

Verstört von dieser Erfahrung findet die Protagonistin keinen Sinn mehr in ihrem Handeln als Rinderzüchterin und versucht durch Einnahme von Zahnpasta hohes Fieber zu erzeugen oder durch eine Selbstverletzung, sie bricht sich den Arm, der Situation zu entfliehen (vgl. DM, 182). Am Tag ihres siebzehnten Geburtstags gesteht sie sich ihr Scheitern in der verrohten Umgebung ein: »Ihre Lehre wird sie wahrscheinlich abbrechen, sie kann sich nicht vorstellen, hierzubleiben.« (DM, 183) Nur in der Welt der Träume kann sie der traumatisierenden Wirklichkeit entkommen und ihre Fluchtsehnsucht erfüllen. In ihren Träumen »fliegt [sie] höher und höher, bis sie ganz verschwunden ist.« (DM, 183)

5.2.6 Zur sexuellen Initiation des Mädchens Die Geschlechtsreifung und die damit einhergehenden somatischen Veränderungen erfordern von Mädchen spezifische Aneignungsprozesse, um das neue Potenzial des Körpers und die veränderten Körperformen in ein neues Körperbild und Selbsterleben zu integrieren.850 Infolgedessen nimmt die Sexualität im Zuge der adoleszenten Entwicklung eine wichtige Rolle ein. Die Annäherung an das andere Geschlecht beginnt und die Heranwachsenden erleben »die verschiedensten Probeläufe, Spielereien und Dramen der ersten Liebesgeschichten«851. Gleich zu Beginn des Textes wird sichtbar, dass die Protagonistin eine spezifische Vorstellung von Sexualität ausgebildet hat. Sie ist zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt: »Lange Zeit hat sie sich Sexualität so vorgestellt: Ein Mann steht nackt in einer Toilettenkabine, daneben steht, durch eine dünne Wand getrennt, eine nackte Frau. Der 850 Vgl. Kapitel 2.2.4 Zur Spezifik der weiblichen Individuation. 851 King, Die Entstehung des Neuen. 2002, S. 229.

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Samen wird vom Mann ausgestoßen, gleitet dann geschwind seine Beine hinunter auf den Boden, von da aus in die Nebenkabine, die Beine der Frau hinauf und dann in sie hinein. Die Frau und der Mann bewegen sich dabei überhaupt nicht und sprechen auch kein Wort. Inzwischen aber glaubt sie Bescheid zu wissen: Der Mann steckt der Frau sein Ding rein.« (DM, 16)

Offensichtlich ist weder im familiären noch im schulischen Bereich eine hinreichende sexuelle Aufklärung erfolgt. Die Protagonistin bringt Sexualität auch nicht in Relation mit Vertrauen, Nähe und Liebe. Mann und Frau gehen keine interpersonale Beziehung ein, sondern stehen sich distanziert wie zwei Fremdkörper, die miteinander nichts gemeinsam haben, gegenüber. Die Vorstellung der weiblichen Hauptfigur offenbart ein gestörtes Bild von Sexualität, das möglicherweise direkt damit zu tun hat, dass ihre Mutter ständig wechselnde Beziehungen führt und diese nach finanziellen Interessen ausgerichtet sind. Die Art und Weise, wie die Mutter mit ihrer Tochter über Sexualität spricht, fördert die gesunde Entwicklung des Mädchens nicht, sondern erzeugt vielmehr Angst und Schamgefühle. Die Fragen, die die Mutter an das Mädchen richtet, sowie ihr kontrollierendes Verhalten stellen einen massiven Eingriff in die Intimsphäre der Hauptfigur dar und führen zu einer gravierenden Verunsicherung. Sukzessive stellt die Protagonistin in Frage, dass sie sich normal entwickelt und habitualisiert bei der Entdeckung ihres Körpers ein Gefühl des Verbotenen und Schlechten: »Aus irgendeinem Grund beginnt die Mutter, über Körperhygiene zu sprechen, sie will wissen, wie oft sich ihre Tochter untenherum wäscht, ob sie schlechte Gedanken hat. Die Mutter kontrolliert ihre getragenen Schlüpfer, und natürlich kommt sie sich gedemütigt vor, auch deshalb, weil sie so tun muss, als ob sie von nichts eine Ahnung hätte.« (DM, 80)

Für die Entwicklung der Adoleszenten sind die ersten sexuellen Erfahrungen entscheidend. Im Falle von negativen Erfahrungen können Betroffene eine gestörte Beziehung zu ihrer eigenen sexuellen Identität entwickeln.852 Im Zuge der Pubertät stellt sich bei der Protagonistin ein gewisses Interesse für das andere Geschlecht ein. Dieses wird in der Schule jedoch von keinem Jungen erwidert. So wird sie etwa von Uwe, dem sie sich wiederholt zu nähern versucht, vollkommen ignoriert, da sich dieser längst um ein anderes Mädchen bemüht. Und Uwes Bruder, der ihr auch gefällt, scheint sich eher für ihren Bruder zu interessieren (vgl. DM, 29). Erst der Wechsel des Handlungsortes, von der Großstadt Leipzig zu einem Ferienort an der Ostsee, sorgt für eine strukturelle Veränderung im Leben der Protagonistin und eröffnet ihr die Chance, »sich [außerhalb des toxischen Ein852 Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 119.

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flusses der Mutter] neu zu erfinden« (DM, 86). Im Sinne eines Raumes der Begegnung bedingt der Ferienort das Verhalten der Protagonistin und fördert das Zusammenkommen mit anderen Menschen. So ermöglicht ihr im Feriengebiet an der Ostsee etwa die Begegnung mit dem polnischen Jungen namens Wodek erste Initiationserfahrungen. Bei ihrem ersten Kuss empfindet sie zunächst Ekel und Enttäuschung, was sie jedoch nicht davon abhält, sich am nächsten Tag abermals küssen zu lassen. Auch diese Szene zeigt, dass sie bloß ungenaue Vorstellungen über das Küssen hat. Auffällig ist ihre passive Haltung: Mehrfach geht die Initiative von dem Jungen aus und »sie schafft es nicht, ihm ihren Mund am nächsten Abend zu verweigern« (DM, 88f.). Einen weiteren Meilenstein ihrer sexuellen Entwicklung bildet die Begegnung mit Gudrun und Steffi. Von den beiden Mädchen lernt sie, sich ihren eigenen Körper sexuell anzueignen und sammelt erste Erfahrungen in der Selbstbefriedigung: »[…] zeigt ihr Steffi, wie man an sich selbst herummachen kann, um dieses unaussprechliche Gefühl zu bekommen. Sie probiert es aus, doch nichts passiert, nur ihre Finger ermüden.« (DM, 94)

Im Verlauf ihrer Entwicklung kommt sie im Kinderheim mit anderen Gleichaltrigen in Kontakt. Den Blicken der Mädchen und Jungen ausgesetzt, veranlasst ihre körperliche Entwicklung ständige Irritationsmomente, die die Protagonistin emotional stark belasten: »[…] am liebsten möchte sie sich diesem Reinigungsritual [in den Gemeinschaftsduschen] entziehen, denn die Blicke der anderen Mädchen sind unerbittlich. Aber auch die Jungs, die Mittel und Wege finden, sich das Duschspektakel anzusehen, sind nicht zimperlich.« (DM, 118)

Die intensive Beschäftigung mit dem eigenen Körper, dessen Entwicklungsstand ständig überprüft und der ständig in den Vergleich mit anderen Mädchen oder Jungen gebracht wird, ist für die Adoleszenz bezeichnend.853 Der heranwachsende geschlechtliche Körper gewinnt dadurch zunehmend an Bedeutung, zumal dieser vielfach darüber entscheidet, ob jemand begehrt oder ignoriert wird. Aufgrund ihres geringen Gewichts und der retardierten Entwicklung ihrer Geschlechtsmerkmale wird die Protagonistin von den anderen Kindern des Heims ausgelacht und ausgegrenzt. Ihr Körper wird zur Projektionsfläche allgemeiner Belustigung und die Erfahrung des gemeinsamen Duschens gerät zu einem 853 Die häufige Wahrnehmung des eigenen Körpers und der ständige Vergleich mit anderen führen dazu, dass vorhandene oder vermeintliche körperliche Besonderheiten überbewertet werden. Infolgedessen kommt es häufig zu krisenhaften Entwicklungen, die sich unter anderem in einem verminderten Selbstwertgefühl manifestieren. Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 285.

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traumatisierenden Moment, das fortan ihr (sexuelles) Verhalten konditioniert. Mit diversen Tricks versucht die Protagonistin ihr unterentwickeltes Brustwachstum zu verbergen und die Proportionen ihres Körpers zu kaschieren.854 Im Kinderheim tauscht sie sich erstmals mit der Mitschülerin Andrea über Sexualität aus, die bereits Geschlechtsverkehr mit ihrem Freund hatte und darüber hinaus eine erfolgreiche Schullaufbahn vorweisen kann (vgl. DM, 121). Der Protagonistin wird bewusst, dass das Erleben von Sexualität in ihrem Alter mit einer normalen Entwicklung zu vereinbaren ist. Durch die Begegnung mit Gudrun und Steffi am Ferienort sowie die Freundschaft mit Andrea hat die Protagonistin Gelegenheit, sich mit anderen Mädchen über erste sexuelle Erfahrungen auszutauschen und Unterstützung beim Ausprobieren unterschiedlicher sexueller Praktiken zu gewinnen. Die intimen Gespräche mit den Freundinnen über ihre Bedürfnisse unterstützen ihre sexuelle Entwicklung. Ihr wird dabei auch bewusst, dass sie im Vergleich zu anderen Mädchen wenig erfahren ist. Den Mangel an Erfahrungen versucht sie durch das Erfinden von sexuellen Beziehungen zu kompensieren, um im Vergleich mit den anderen Mädchen nicht so schlecht abzuschneiden (vgl. DM, 122). Es ist für die Adoleszenz kennzeichnend, dass die Jugendlichen erste körperliche Regungen erleben, sich für andere Personen interessieren und diese auch körperlich begehren oder von diesen begehrt werden. Auch bei der weiblichen Hauptfigur entwickeln sich anfänglich Regungen und der Wunsch, begehrt zu werden: »[…] wünscht sie sich, die Jungs würden sie anders ansehen.« (DM, 132) Während ihres Aufenthalts in der Strafanstalt für Jugendliche sammelt sie in einer Silvesternacht erste sexuelle Erfahrungen mit einem Mädchen (vgl. DM, 140). Zurück im Heim und in der Schule lernt sie Bernd, den Bruder von Constanze, kennen. Sie fühlt sich von Bernd beachtet und wertgeschätzt und schwärmt von ihm und seiner Begeisterung für die Literatur: »Wenn Bernd sie begrüßt, klingt Rippchen wie etwas Besonderes. Verlegen lässt sie sich von ihm durchs Haus führen […] Sie kennt keine Jungs, die Bücher lesen – sie ist beeindruckt.« (DM, 144f.)

In die Zeit der Begegnung mit Bernd fällt die erste Regelblutung der Protagonistin. Durch das Eintreten der Menstruation erfolgt der bedeutsamste körperliche Prozess im Zuge der Entwicklung vom Mädchen zur Frau. Die weibliche 854 Im Jugendalter wird eine starke Konformität innerhalb der Peergroups angestrebt. Die individuelle Entwicklung auf körperlicher Ebene setzt die Heranwachsenden unter massiven Druck und veranlasst zahlreiche Irritationen. Diese werden vor allem dadurch verstärkt, dass unter weiblichen Jugendlichen ein starker sozialer Vergleich existiert. Die intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper dient aber in erster Linie der Integration des veränderten Körpers in ein neues Selbstbild. Vgl. Seiffge-Krenke, Freundschaften und romantische Beziehungen. 2018, S. 112.

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Hauptfigur bindet an das Einsetzen der Menarche die Hoffnung auf eine körperliche Reifung, die mit einem sichtbaren Brustwachstum und dem Einsetzen der Schambehaarung ihre Geschlechtsreifung offenkundig macht. Gleichwohl ruft das erste Auftreten der Regelblutung eine intensive Irritation hervor. Die Entdeckung des »Blut[s] zwischen ihren Beinen« (DM, 147) löst die Erinnerung an jenen Tag aus, an dem das Schwein geschlachtet worden ist. Es liegt nahe, so deutet die Erinnerung an, den Abschied von der Kindheit als einen Auflösungsprozess zu betrachten, mit dem sich die Protagonistin von ihrem kindlichen Körper verabschiedet, bevor sie mit der Neugestaltung ihres Erwachsenen-Daseins beginnen kann.855 Ihre somatischen Veränderungen lösen bei Bernd brennende Neugier und sexuelle Erregung aus. Seine körperlichen Berührungen irritieren das Mädchen jedoch heftig. Sie wirkt unsicher und kann nicht glauben, dass »der schönste Junge im Ort« (DM, 164) Interesse an ihr hat. Es wird deutlich, dass ihr Selbstwertgefühl kaum ausgeprägt ist: »Auf dem Weg zurück ins Kinderheim fühlt sie sich verstört, […] Warum hat er sie geküsst? Ist er in sie verliebt?« (DM, 164) Durch ihren ›Beschluss‹, in Bernd verliebt zu sein, wird deutlich, dass sie noch keine Vorstellung davon hat, wie sich Liebe anfühlt. Möglicherweise empfindet sie auch keine Gefühle für den Jungen, meint jedoch, dass ein ›normales‹ Mädchen in so einer Situation Liebesgefühle spüren müsste. Bei der nächsten Begegnung ist die Verunsicherung des Mädchens noch stärker: Sie schämt sich für ihren ausgestopften Büstenhalter und hat Angst davor, dass Bernd ihre Vertuschungsstrategie durchschaut. Seine eindringlichen Berührungen scheinen ihr nicht zu gefallen und sie hofft, zumindest im Genitalbereich ›normal‹ zu sein (vgl. DM, 165). Vorbelastet von den zurückliegenden (außer-) familiären verstörenden Erfahrungen und von der ihr vertrauten »Angst, abgewiesen zu werden« (DM, 91), »ist [sie] nur darauf bedacht, alles richtig zu machen« (DM, 165).856 Zugleich fürchtet sie, von Bernd verletzt und getäuscht zu werden. Unter dem Vorwand eines Waldspaziergangs ergreift Bernd die Gelegenheit, mit ihr zu schlafen. Die Stärke seines triebhaften Verhaltens zeigt sich anhand von kräftigen Küssen, auch überspringt er jegliches romantische Vorspiel. Aus dem empfundenen Zwang heraus, dem Jungen zu gefallen und ihn nicht zu enttäuschen, lässt die Figur den Missbrauch geschehen: »Dann liegt sie 855 Die Gefühle, die weibliche Heranwachsende beim Einsetzen ihrer Menarche erleben, hängen im Wesentlichen davon ab, inwieweit sie sich mit ihrem Körper und den darin stattfindenden Prozessen identifizieren und arrangieren können. Vgl. Jansen & Jockenhövel-Poth, Trennung und Bindung. 1995, S. 273; das Fehlen einer offenen Atmosphäre gegenüber sexuellen Themen im Elternhaus führt dazu, dass das Mädchen größere Schwierigkeiten hat, ein positives Körpergefühl zu entwickeln. 856 Ihr Sexualverhalten weist Merkmale einer gestörten Sexualentwicklung auf, denn ihre Sexualität erfolgt unter einem sexuellen ›Leistungsdruck‹, der sich vor allem darin manifestiert, dass ihr Handeln von der Sorge begleitet wird, den für ihr Alter üblichen sexuellen Anforderungen nicht genügen zu können. Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 281.

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regungslos da, blinzelt in den Himmel, sie kann Federwolken erkennen, eine Wolke ähnelt einem Schaf […].« (DM, 166) Die Verwendung des erzählerischen Stilmittels der Ellipse verleiht der Situation eine gewisse Ambiguität.857 Hier offenbaren sich möglicherweise Symptome einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Das Mädchen versucht, der belastenden Situation zu entkommen, indem sie sich mental an einen anderen Ort versetzt, um die schmerzhaften wie erniedrigenden sexuellen Erfahrungen nicht gänzlich empfinden zu müssen. Ihre Regungslosigkeit verdeutlicht ihre Resignation. Aus Angst, von Bernd verlassen zu werden, fügt sie sich wie in zahlreichen vorangegangenen Lebenssituationen dem Geschehen. Dabei ist sie im Grunde noch nicht bereit, sich auf sexuelle Erfahrungen einzulassen, wie das folgende Zitat veranschaulicht: »Auf ihrer Haut glüht ein unbehaglicher Funkenregen, sie schämt sich, einerseits möchte sie ihm alle seine Wünsche erfüllen, doch will sie auch keine von denen sein, die es gleich machen.« (DM, 166)858

Die Erfahrung löst starkes Unbehagen bei der Protagonistin aus, die das Erlebte nicht einzuordnen weiß. Die Ambiguität der Darstellung wird insofern verstärkt, als dem Leser das Geschehen mittels interner Fokalisierung, aus Perspektive des Mädchens, mitgeteilt wird. Es stellt sich mithin die Frage, was tatsächlich passiert ist: »Wir haben Fortschritte gemacht, sagt Bernd, das nächste Mal klappt es bestimmt.« (DM, 166) Durch den Rückgriff auf die Figurenrede wird die Anomalie der Situation deutlich hervorgehoben. Ihre Reaktion offenbart die Intensität der erlebten Perturbation: »Sie hat keine Ahnung, ob sie überhaupt will, dass irgendetwas klappt, doch sie nickt, versucht ein Lächeln.« (DM, 166) Offen bleibt, inwiefern es dem Mädchen gelingen kann, die Erfahrung mit Bernd in ihr Selbstbild zu integrieren. Bernd drängt sie in den nächsten Tagen dazu, mit ihm zu schlafen, aber sie kann dieser Forderung nicht nachkommen. Sie sieht sich nicht in der Lage, sich ihm zu öffnen und seine Nähe zuzulassen. Daraufhin ebbt Bernds Interesse an ihr ab.859 Die erneute Abweisung ruft eine emotionale Stö857 Diese Ambiguität wird bis zum Ende des Texts aufrechterhalten, als die Erzählinstanz mitteilt: »Sie glaubt, immer noch Jungfrau zu sein« (DM, 183). Die Überzeugung könnte mit einer Amnesie zusammenhängen, um die schmerzliche Erfahrung mit Bernd zu verdrängen. Peter Fiedler beschreibt dissoziative Störungen wie diese als »Ausdruck der innerpsychischen Verarbeitung und Bewältigung traumatischer Erfahrungen. Untersuchungen an Menschen, die sexuellen oder gewalttätigen Übergriffen […] ausgesetzt waren, zeigen, dass bei den Betroffenen dissoziative Phänomene wie Amnesien, Depersonalisationen und Konversionen extrem häufig auftreten.« Fiedler, Dissoziative Störungen. 2013, S. 1. 858 Vgl. die Reaktion des Mädchens auf die Gewalt der Mutter. 859 Das Verhalten des Mädchens ist stark durch ihre multiple Persönlichkeitsstörung konditioniert. Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung haben große Schwierigkeiten, jemandem wirklich zu vertrauen und Nähe zuzulassen. Diese Umstände erschweren zusätzlich das schon ohnehin komplizierte Moment der sexuellen Initiation. Vgl. Kapitel 2.2.4 Zur Spezifik der weiblichen Individuation.

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rung hervor, die das Mädchen nicht verarbeiten kann. Körperliche Schmerzen und das Gefühl der Kraft- und Haltlosigkeit illustrieren die körperlichen und psychischen Auswirkungen, die auf die Trennung folgen: »In den nächsten Tagen kann sie nichts essen. Ihr Nacken schmerzt vor Anspannung, doch der restliche Körper ist von einer großen Schlaffheit befallen, als wäre ihr das stützende Skelett abhanden gekommen. Sie geht in die kleine Kirche auf dem Friedhof und betet, sie wünscht sich ihn verzweifelt herbei. […] Herbststürme fegen über die Felder. Das Wetter passt zu ihrer Stimmung […].« (DM, 167)

Wut, Verzweiflung, Sehnsucht und Zorn verdeutlichen die emotionale Aufstörung, die durch das Ende der Beziehung eingetreten ist und als Anzeichen von Liebeskummer und innerer Leere zu verstehen ist. Die aus der Abweisung resultierende affektive Verstörung bestimmt fortan ihr Handeln im Kinderheim, wo sie durch fremdaggressives Verhalten auffällt (vgl. DM, 167). Der Aufgabe, ihre emotionale Verstörung durch angemessene Entstörungsstrategien produktiv zu verarbeiten, nicht gewachsen und orientiert an dem mütterlichen aggressiven Verhaltensmuster, wird die Protagonistin ein weiteres Mal verhaltensauffällig, sie verprügelt und tyrannisiert eine Mitbewohnerin im Kinderheim – augenscheinlich, um ihre Wut und Enttäuschung zu verarbeiten. Es folgen sporadische Kontaktversuche mit anderen Jungen, aber geprägt von der verletzenden Erfahrung mit Bernd ist sie noch verunsicherter und verschlossener. Hinzu kommt eine weitere negative Erfahrung: Während der Ferienarbeit erlebt sie einen intimen Moment mit einem Kellner des Restaurants. Nachdem sie von ihm mit einem Vorwand in sein Zimmer gelockt wird, bedrängt er sie und dringt mit seiner Zunge in ihren Mund ein. Die Handlung löst ambigue Gefühle aus: »Er schließt die Tür, […] dann beugt er sich zu ihr, öffnet ihren Mund mit seiner Zunge. Seine Küsse schmecken scheußlich, nach vergorenem Atem, und doch spürt sie eine Erregung, als sie sich von ihm losmacht.« (DM, 177)

Sie kann sich von ihm lösen und eine Umkehr der Machtsituation erzwingen. Dass es ihr gelingt, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen, erregt sie. Anders als bei der Beziehung mit Bernd, dessen Berührungen sie passiv und starr über sich hat ergehen lassen, wobei sie darauf bedacht war, seine Wünsche zu erfüllen, kann sie sich eigenständig aus der Situation der Nötigung durch den Kellner befreien. Sie genießt ihre neue, selbstbestimmte Rolle: »Geht sie in den nächsten Tagen an seiner Tür vorbei, lacht sie laut und wild, fühlt sich erhitzt, größer und weicher.« (DM, 177) Es wird deutlich, dass sie aufkommende Erregungen verspürt und ihre Sexualität als Machtinstrument einsetzt, um nach den erfahrenen Abweisungen ihre Wirkmächtigkeit zu vergrößern und von den Männern wahrgenommen zu werden. In dem Text dominiert ein zeitraffendes Erzählen, da unterschiedliche sexuelle Episoden als Momenteindrücke anein-

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andergereiht werden. Die Raffung des Erzählens verstärkt den Eindruck, dass sich die Adoleszenzphase, bei der unter anderem das Aushandeln der eigenen sexuellen Rolle im Vordergrund steht, durch ihre Kurz- und Schnelllebigkeit sowie ihren vorläufigen Charakter auszeichnet. Die raffende Erzählweise inszeniert auf der Darstellungsebene den Umstand, dass das Mädchen nicht an Sexualität herangeführt worden ist. Körperlichkeit und Sexualität wird nicht als etwas Schönes und Kostbares erlebt, dem man sich hingeben kann, sondern als eine Aggressivitätserfahrung, die nach Möglichkeit schnell verdrängt werden soll.

5.2.7 Zu den Beziehungen unter Gleichaltrigen in Schule und Kinderheim Die Entstehung des Neuen hängt, so zeigt Vera King hinlänglich, von der adoleszenten Triade Familie-Adoleszente-Peerbeziehungen ab.860 Von dieser zentralen Beobachtung ausgehend wird im Folgenden die Rolle der gleichaltrigen Freunde als sogenannte tertiäre Sozialisationsinstanz für die Individuation des Mädchens herausgearbeitet. Während ihrer Zeit zu Hause ist der Kontakt zu Gleichaltrigen kaum möglich, weil die Mutter es verhindert: »Die Mutter erlaubt ihr nur selten, nach der Schule auf die Straße zu gehen, und noch nie durfte sie Besuch bei sich zu Hause empfangen.« (DM, 22) Das Mädchen erhält dadurch kaum Möglichkeiten, sich außerhalb der Schule mit ihrer sozialen Umwelt auseinanderzusetzen. Lediglich über ihre Freundin Elvira kann sie Einblicke in andere Familienverhältnisse gewinnen. Die kurzen Besuche zeigen ihr eine Welt der Normalität fern ab ihrer toxischen mütterlichen Umgebung und tragen zur Kompensation ihrer familiären Probleme bei: »Dienstags haben sie drei Freistunden, die sie bei Elvira zu Hause verbringen. […] Diese Dienstage sind Glückstage […].« (DM, 20)861 Bei Elviras Familie gelingt es dem Mädchen, eine emotionale und soziale Entwicklung zu vollziehen, die für ihre Persönlichkeitsentwicklung von großer Bedeutung ist. Auf der Ebene der histoire kommt neben den Figuren auch dem Raum eine besondere Bedeutung zu. Insbesondere die Räume Schule und Kinderheim

860 Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2002, S. 104ff; vgl. Kapitel 2.2.3 Zur Ausgestaltung einer Individuation unter Gleichaltrigen. 861 Die Eltern von Elvira repräsentieren eine Arbeiterfamilie, die den offiziellen Diskurs der DDR vertritt, und bilden ein Kontrastpaar zur Mutter, weil sie freundlich und fürsorglich sind. Ihr Leben ist von Wert- und Normvorstellungen geprägt, die an der Arbeitshaltung von Adolf Hennecke orientiert sind. Darüber hinaus zeichnen sie sich durch ihre Aufgeschlossenheit gegenüber dem Mädchen aus (vgl. DM, 21).

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spielen für die Sozialisation des Mädchens eine wichtige Rolle.862 In der Schule nimmt sie von Beginn an eine Außenseiterrolle ein, die sie erfolglos versucht, abzulegen. Sie wird »von eifrigen Lehrern zum Sozialobjekt erklärt« (DM, 13), das im Rahmen einer Schülerpatenschaft zusätzlich betreut werden muss. In dieser Sonderrolle muss sie einer der besseren Schülerinnen »die Hausaufgaben vorzeigen, wohlmeinende Worte erdulden [und] sich von der Wichtigtuerei [der Patin] beleidigen lassen.« (DM, 13) Der symmetrische Charakter, der üblicherweise die Beziehungen zwischen Gleichaltrigen prägt, wird durch die Intervention des Lehrers und die Haltung der Schülerpatin außer Kraft gesetzt. Die unfreiwillig aufgenommene Beziehung zu Kathrin kann weder eine Kompensationsfunktion übernehmen noch einen Möglichkeitsraum eröffnen, der soziale Anerkennung, Sicherheit und Solidarität generieren und die Identitätsausbildung des Mädchens fördern könnte. Entwicklungspsychologische Studien belegen, dass Heranwachsende lernen müssen, im Verhältnis zu den Eltern in ein Anerkennungsvakuum einzutreten und auf die Zustimmung ihrer primären Bezugspersonen zu verzichten, um eine eigene Weltsicht zu entwickeln. Der durch die Abgrenzung resultierende Kampf um Anerkennung bestimmt den Individuationsprozess. Im Falle der Protagonistin wird die Suche nach Zustimmung durch die soziale Marginalisierung in der Familie zusätzlich verstärkt und bildet ein Leitmotiv des Texts. Der Minderwertigkeitskonflikt der Protagonistin wird vor allem in der Schule ausgetragen. Das wird etwa daran deutlich, dass sie sich nach den Ferien »das Versprechen [gibt], eine gute Schülerin zu sein [… und] den Ehrgeiz [verspürt], ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden« (DM, 57). Dieser Integrationsprozess ist jedoch zum Scheitern verurteilt, zumal sie aufgrund der zurückliegenden jedoch nachwirkenden Erfahrungen in der Familie ein verunsichertes wie verstörendes Verhalten zeigt, dessen Gründe kein Pädagoge nachvollziehen kann. Ihr späterer Umzug an die Ostsee, wo sie unter der Obhut ihres Vaters eine neue Lebensphase beginnen möchte, erscheint auf den ersten Blick als »eine Chance, sich neu zu erfinden, […] Sie könnte sich als tolle Sportlerin zeigen, als vorbildliche Schülerin« (DM, 86). Doch ihre Hoffnung wird bereits am ersten Tag enttäuscht, als ihr in der neuen Schule die Rolle der Außenseiterin aufgedrängt wird:

862 Carsten Gansel verweist darauf, dass der diegetische Raum der Schule seit den klassischen Schulromanen und -erzählungen der Jahrhundertwende als bevorzugter Schauplatz für die gestalteten Adoleszenzkrisen fungiert. Der Schule als literarischem Raum haftet eine symbolische Komponente an. Häufig wird die Schule als Ort des Scheiterns und der öffentlichen Demütigung und der Disziplinierung präsentiert. Vgl. Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 178.

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»[Sie] weiß […], dass es sinnlos wäre, sich anzustrengen; sie wird neben ein Pummelchen gesetzt, das sie auf den ersten Blick als Außenseiterin erkennt, die anderen Mädchen stecken die Köpfe zusammen und kichern.« (DM, 87)

Als sie sodann beim Stehlen erwischt wird, macht der Abschnittsbevollmächtigte den Fall vor der Klasse bekannt. Sie wird »vorn an die Tafel gerufen« (DM, 68) und von ihrem Lehrer, Herrn Baum, vor aller Augen gedemütigt. Mit Trotz, Stolz und »von ihrem Mut selbst überrascht« (DM, 69) streitet sie alles ab und bezichtigt die Verkäuferin der Lüge: »Sie bleibt bei ihrer Ausrede, dass sie nur vergessen habe, zu bezahlen, wer will ihr das Gegenteil beweisen – niemand kennt ihr Lager unter dem Bett, wo sie ihr anderes Diebesgut versteckt hält.« (DM, 68)

Geleitet vom Gefühl der Invulnerabilität und völlig uneinsichtig lehnt sie jegliche Schuldzuweisungen ab. Das öffentlich sanktionierende Verhalten bzw. die vom Lehrer und vom Polizisten zugefügte Demütigung wirkt nicht als Impuls zur Aufarbeitung der Situation, sondern als Anstoß für weitere emotionale Störungen, die ihr fremdaggressives Verhalten intensivieren: »In der Pause schaut sie sich herausfordernd im Klassenzimmer um.« (DM, 69) Als neues Opfer bestimmt sie einen »dürre[n], hässliche[n] Junge[n], der was mit der Lunge hat« (DM, 69): »Als es zur Stunde klingelt und die Schüler neben ihren Schulbänken stehen, reißt sie ihm die Hose herunter, und da steht er, in seiner entsetzlichen Magerkeit, mit einem Zitterpimmel, und sie lacht am lautesten in dem einsetzenden Chor aus Schadenfreude.« (DM, 70)

Im Zentrum ihrer Entstörungsstrategie steht der Wechsel von der Opfer- in die Täterrolle, wobei sie immer nach dem gleichen Schema vorgeht: Sie sucht eine schwächere Person aus, um ihren Zorn und ihre Frustration abzureagieren. Anstatt die erzeugte Perturbation aufzufangen, führt die Strategie zu einer Intensivierung der Störung, etwa in Form der Einschaltung der Jugendhilfe seitens des Lehrers. Auch im Kinderheim versucht das Mädchen, die Rolle des Opfers hinter sich zu lassen und eine neue Identität anzunehmen. Sie versucht, sich in dem neuen Umfeld zu profilieren, sich einen besseren Status zu erarbeiten. Doch der Neustart will nicht recht gelingen, immerfort muss sie sich beweisen. Das Verlassen des vertrauten familiären Umfeldes erscheint als eine Chance zur Befreiung vom Ort der familiären Traumata und prekären, lieblosen Lebensumständen. Die neue Lebensphase ist von Ambivalenzen geprägt: Einerseits ist das Kinderheim Ausdruck des problematischen Verhältnisses zu den Eltern. In diesem Sinne stellt es für die Protagonistin einen Fluchtort jenseits des toxischen elterlichen Einflussbereichs dar. Ihm kommt die kompensierende Aufgabe zu, als neues Zuhause zu fungieren, das die Individuation der Protagonistin ermöglicht. An-

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dererseits herrschen im Heim strenge Regeln und Disziplin vor, wie die Erzählstimme mitteilt: »Die Erzieherin begleitet sie durch das Haus, erklärt ihr Regeln und Pflichten – eine Menge Dinge sind verboten.« (DM, 113) Die umfangreichen Vorgaben limitieren die Entfaltungsmöglichkeiten der Heranwachsenden.863 Die abgelegene Lage des Heims symbolisiert darüber hinaus die Isolation der Heimbewohner und auch die schwer zu öffnende »Eingangstür aus Eichenholz« (DM, 115) illustriert das Abgeschnittensein, das auch den Charakter einer Falle hat, aus der zu entkommen kaum möglich ist. Der neue Sozialisationsort ist nach offiziellen Angaben von »den zehn Geboten der sozialistischen Moral« (DM, 115) geprägt, tatsächlich werden jedoch andere Werte gelebt.864 So nutzt etwa der Heimleiter seine Machtstellung aus – setzt die Heimkinder am Wochenende ein, um eine Sauna in seinem privaten Haus einzubauen (vgl. DM, 115) – und konterkariert den Geist jener zehn Gebote, die eigentlich eine Beseitigung der menschlichen Ausbeutung vorsehen. Im Verlauf des Romans wird deutlich, dass das Mädchen im Kinderheim und in der Schule als Neue einen schweren Stand hat. Ihr Körper wird zur Zielscheibe der Diskriminierung durch Heimbewohner und Mitschüler: »[Sie hat] das Gefühl, dass alle Augenpaare auf sie gerichtet sind […] und möchte vor Scham im Boden versinken.« (DM, 114). Ständig ablehnenden Blicken ausgesetzt zu sein, ist es ihr zunächst nicht möglich, Anschluss zu finden: »[V]on den Jungs wird sie offenbar für nicht tauglich befunden« (DM, 116),865 und auch »die Blicke der 863 Die Berücksichtigung von strengen Regeln und Pflichten konditioniert das Verhalten der Adoleszenten. Das Experimentieren mit den Grenzen der sozialen Welt gehört zu den unentbehrlichen Erfahrungen im Prozess der Individuation und der Persönlichkeitsentwicklung. Je größer die Anzahl der Verbote ist, desto gezwungener fühlen sich die Heranwachsenden, sich grenzüberschreitend zu verhalten. Vgl. Kapitel 2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten. 864 Im Juli 1958 verkündete Walter Ulbricht Die zehn Gebote der sozialistischen Moral, die allgemeingültige Wertvorstellungen der sozialistischen Ethik und Moral verkörpern, an denen die DDR-Bürger ihr Handeln und Verhalten ausrichten sollten. Vgl. Judt, Matthias (Hg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1998: Quelle P12, S. 54–55. 865 In diesem Kontext entwickeln die Gruppen eine Eigendynamik. Zum Beispiel agieren die Jungen als Einheit und versuchen sich von den Mädchen abzugrenzen, indem sie diese abwerten und dadurch ihre Männlichkeit bestätigen: »Die Jungs in der Klasse kommen ihr vor, als seien sie lauter geworden, gefährlicher, sie machen sich über alles lustig, brüllen widerliche Ausdrücke durch die Gegend, nennen die Mädchen Schlampen und Nutten, niemand entgeht ihrem Spott« (DM, 101). In erster Linie versuchen die Jungen sich selbst zu stabilisieren und die durch die Pubertät eingetretenen Probleme und Verunsicherungen zu Lasten des anderen Geschlechts zu bewältigen. Dementsprechend zeichnen sich Männlichkeitsinszenierungen vielfach »durch ein Nebeneinander von verborgener Fragilität und inszenierter Überlegenheit« aus. Flaake, Karin: Geschlechterverhältnisse – Adoleszenz – Schule. Männlichkeits- und Weiblichkeitsinszenierungen als Rahmenbedingungen für pädagogische Praxis. Benachteiligte Jungen und privilegierte Mädchen? Tendenzen aktueller Debatten. In: Jösting, Sabine/Seemann, Malwine (Hg.): Gender und Schule. Ge-

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anderen Mädchen sind unerbittlich« (DM, 118).866 Die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben wie die Akzeptanz und Aneignung des eigenen Körpers sowie der Aufbau neuer Beziehungen zu Gleichaltrigen des gleichen oder anderen Geschlechts, bei denen der Körper eine wichtige Rolle spielt, sind für die Phase der Adoleszenz kennzeichnend. Fragen nach Attraktivität und Wirkung auf das eigene und andere Geschlecht sind für das Eingehen erster Liebesbeziehungen von großer Relevanz. Sowohl in der Schule als auch im Heim kommen mit Blick auf die Protagonistin Vorstellungen von Schönheit und attraktiver Körperlichkeit zum Tragen. Der heranwachsende Körper steht für »die Individualität, das Selbstwerden, […] [also] für die inkarnierte adoleszente Individuation«867. Die Protagonistin verarbeitet ihre körperlichen Veränderungen mittels Begrenzungserfahrungen, zum Beispiel durch ein gestörtes Selbstwertgefühl bzw. durch das Absinken ihres Selbstbewusstseins.868 Der ständige Vergleich mit den anderen Mädchen verstärkt ihre Minderwertigkeitsgefühle. Ihre Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führt zu einer großen Unsicherheit, die sich im Umgang mit den anderen Schülern und Heimbewohnern, insbesondere bei der Annäherung an das andere Geschlecht und bei der Aufnahme intimer Beziehungen, negativ auswirkt. Im Heim muss sich das Mädchen gegen dominierende Machtstrukturen durchsetzen. Die Figur August Kreische, »der Älteste in der Gruppe der Großen« (DM, 117), repräsentiert die unantastbare Machtposition in der sozialen Struktur des Kinderheims: »Niemand wagt es, ihm zu widersprechen« (DM, 117). Das Mädchen ist Machthierarchien und Gruppenzwängen ausgesetzt, so muss sie etwa ihren Nachtisch hergeben (vgl. DM, 117, 131). Sie wagt es jedoch, gegen den Machtmissbrauch Kreisches und seiner »Hofschranzen« anzukämpfen. Diese Aushandlungsprozesse zwischen den Geschlechtern stabilisieren ihre Identität und dienen der Erlangung eines bestimmten Status sowie der Selbstinszenierung:

schlechterverhältnisse in Theorie und schulischer Praxis. Oldenburg: Bis-Verlag 2006, S. 27– 44, hier: S. 33. 866 Seiffge-Krenke betont, dass der asymmetrische Wachstumsschub unter Mädchen Anlass zur Besorgnis und Irritationen ist. Mädchen vergleichen sich häufig und genau untereinander. Die Unterschiede in der Entwicklung sind häufig Auslöser für ausgrenzendes Verhalten. Vgl. Seiffge-Krenke, Inge: Die Psychoanalyse des Mädchens. Stuttgart: Klett-Cotta 2017, S. 243. 867 King, Die Entstehung des Neuen. 2002, S. 159. 868 Vera King betont, dass die Verarbeitung von somatischen Veränderungen im Zuge der Adoleszenz in einem dialektischen Prozess von Erweiterungs- und Begrenzungserfahrungen erfolgen kann. So sei es üblich, dass Mädchen mittels Selbstentwertungen, zum Beispiel Verminderung des Selbstwertgefühls oder depressiver Phasen, ihre körperlichen Veränderungen verarbeiten. Vgl. ebd., S. 176.

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»Sie reißt an seinen Haaren, kratzt, spuckt, pariert seine Schläge. […] Sie ist schneller, wendiger als der Fettsack, und sie ist böse. Ihr Ansehen bei den Mädchen ist gestiegen […].« (DM, 131f.)

Neben ihrer massiven Gegenwehr gegen Kreische verbessert sich die Stellung des Mädchens innerhalb der Gruppe auch durch risikoaffines Verhalten: zur Belustigung ihrer Freundinnen parodiert sie die Erzieher und den Heimleiter (vgl. DM, 132), überfällt die Speisekammer und verteilt in Robin Hood-Manier alle Süßigkeiten unter den Heimbewohnern (vgl. DM, 133). Durch die Unterstützung mit Spickzetteln während einer Klassenarbeit gelingt es dem Mädchen, die Gunst des hübschesten Mädchens der Klasse namens Constanze zu gewinnen. Um ihre Stellung zu verbessern, erfindet sie Geschichten über den neuen Herzensbrecher im Kinderheim, Andy, und sucht Constanze und Andy zu verkuppeln: »sie erfindet Eigenarten, macht ihn zu einem romantischen Helden.« (DM, 143) Durch die enge Beziehung zu ihnen stärkt das Mädchen ihr Selbstbewusstsein und verbessert ihren Status: »Wenn Constanze mit ihr redet, hat sie das Gefühl, weniger hässlich zu sein, als würde ein Funken ihrer Schönheit auf sie überspringen und den Unterschied zwischen ihnen verwischen.« (DM, 134)

Um ihre Machtposition im Kinderheim weiterhin zu stärken, verhält sie sich regelmäßig aggressiv: »Die anderen Mädchen bewundern sie [für ihr Talent beim Klauen], gleichzeitig fürchten sie auch ihre Wutausbrüche […].« (DM, 151f.)869 Oft übernimmt das Mädchen die Rolle der drangsalierenden Mutter und zwingt ihre Mitbewohnerinnen, das Bett für sie zu machen und »das Zimmer auf[zu]räumen« (DM, 167f.). Puppi, das neue Opfer, »kann ihr nichts recht machen, denn sie entdeckt immer einen Fehler« (DM, 168). Sie denkt sich Strafen aus: »[Puppi] wehrt sich nie, sie weint nur lautlos, wenn sie die zwei Kopfkissen links und rechts auf Hüfthöhe halten muss, und wehe die Kissen sinken. Dann wird Puppi von ihr verprügelt […].« (DM, 168)

Nimmt man das Verhältnis zwischen der äußeren und inneren Realität näher in den Blick, lassen sich folgende Beobachtungen festhalten. Der Kampf um Akzeptanz im Kinderheim und in der Schule stellt das Selbstbewusstsein der Hauptfigur in besonderer Weise auf die Probe. Ihre Entwicklung zeichnet sich anfangs durch soziale Kontaktschwierigkeiten sowie soziale Isolation und später 869 Die Interaktion innerhalb der Mädchengruppen zeichnet sich durch ein hohes Maß an relationaler Aggression aus. Die Beziehungsaggression, sei es durch Auslachen, Ausgrenzung oder Abwertung, ist die bevorzugte Form, mit der in Mädchengruppen agiert wird. Die Ausgrenzung und Abwertung anderer dient vor allem der Stabilisierung der eigenen Stellung in der Gruppe. Vgl. Seiffge-Krenke, Die Psychoanalyse des Mädchens. 2017, S. 246.

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durch einen höheren Status innerhalb der Mädchengruppe aus. Zudem verursachen die erlebten Abweisungen und Ausgrenzungen durch die Heimbewohner und Mitschüler ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper, das die Figur nicht produktiv verarbeiten kann und ihre interpersonalen Beziehungen belastet. Weiterhin sorgt die spätere Akzeptanz unter den Gleichaltrigen für eine Verbesserung ihres angeschlagenen Selbstbewusstseins bzw. für einen Anstieg ihres Selbstwertes. Ihr Status basiert jedoch auf Täuschungsstrategien, auf Lügen und erfundenen Geschichten und ist dementsprechend zu instabil, um die Stressbelastungen zu verkraften und mentale Labilität zu überwinden. Sie ist unzufrieden mit sich: »Sie möchte so nicht sein, empfindet Abscheu vor sich selbst.« (DM, 168) Darüber hinaus dient ihr grenzüberschreitendes und aggressives Verhalten zur Kompensation eines beschädigten Selbstwertgefühls, sorgt vorübergehend für einen Anstieg ihres Selbstwertes, kann jedoch zu keiner endgültigen Stabilität beitragen. Immer reflektiert das Mädchen seine Situation und hat Schwierigkeiten, ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen: »[Sie] versucht […] das Bild von sich selbst auszublenden, das Bild einer staksenden Missgeburt.« (DM, 149). Schließlich treibt die durch die traumatisierenden Erfahrungen in der Familie konditionierte Unsicherheit das Mädchen fortlaufend zu Kompensationshandlungen an, die sie in ihr eigenes Selbstbild nicht integrieren kann. Häufig ist die Protagonistin von einer inneren Zerrissenheit geplagt, da sie die Perturbationen, die ihre Handlungen hervorrufen, nicht auffangen kann.

5.2.8 Zum Erlangen einer Identität: April Der Roman April setzt in den späten 1970er Jahren, kurz nach dem 18. Geburtstag des Mädchens, ein. Sie hat sich selbst den Namen April gegeben, nach ihrem Lieblingslied der Band Deep Purple. Sie redet nur wenig über ihre Vergangenheit und versucht, diese hinter sich zu lassen. Nach dem Abbruch ihrer Lehre wird ihr von der Jugendfürsorge ein Zimmer bei einer alten Dame, Fräulein Jungnickel, sowie eine Arbeitsstelle als Bürohilfskraft zugewiesen. Im Text heißt es: »[Sie] wurde […] ins Erwachsenenleben entlassen.«870 So zieht April mit nur einem Koffer in ihre erste eigene Wohnung ein und beschließt, die neue Herausforderung als erwachsene Frau anzunehmen und sich an die gesellschaftlichen Anforderungen anzupassen. Zunehmend kleidet sie sich jedoch ›westlich‹, was am Arbeitsplatz auf Ablehnung stößt, und beginnt zu rebellieren – sie wird Mitherausgeberin der Untergrundzeitschrift Anschlag. Beeinflusst durch ihre traumatisierende Kindheit, ist das Leben der Protagonistin bestimmt von der 870 Klüssendorf, Angelika: April. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. 8 [im Folgenden unter der Sigle »A« mit Seitenzahl im Text].

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Suche nach sozialem Anschluss und Anerkennung. Schließlich lernt April Hans kennen, mit dem sie einen Sohn namens Julius bekommt und nach West-Berlin ausreist. Dort trennen sich die Wege des Paares, das sich jedoch weiterhin gemeinsam um den Sohn kümmert. Aufgrund ihrer schwierigen Familiengeschichte fällt es der jungen Frau schwer, eine Bindung zu ihrem Sohn aufzubauen. Im weiteren Verlauf lernt April einen neuen Mann kennen, mit dem sie zunächst glücklich zu sein scheint. Sie bewirbt sich um ein Literaturstipendium, das ihr auch zugesagt wird, und beschließt ihrer Leidenschaft fürs Schreiben und Lesen nachzugehen. Nimmt man die Figur näher in den Blick, fällt auf, dass dem Namen der Protagonistin eine selbstcharakterisierende Funktion zukommt. Sowohl ihr Name als auch der Titel des Textes sind allegorisch zu verstehen: Die Wechselhaftigkeit des Wetters im April lässt sich mit den Gefühlsschwankungen der adoleszenten Protagonistin assoziieren. Entsprechend äußert sich auch die Autorin in einem Interview: »Man kann natürlich auch an den Monat denken, der ganz gut ihre Stimmung wiedergibt.«871 Neben den paratextuellen Elementen sind es vor allem die stofflich-thematischen Aspekte, die eine Kategorisierung des Textes als Adoleszenzroman zulassen: Dazu gehört zunächst der Identitätsfindungsprozess der Figur, der mit der Suche nach einem alternativen Wertesystem verknüpft ist sowie der Neubewertung ihrer eigenen Kindheit, die auch in diesem Fall mit einer Modifizierung der Bindung zu den primären Sozialisationsinstanzen einhergeht. Hinzu kommen Aspekte wie die Akzeptanz des eigenen Körpers, die Entwicklung von Intimitätsbeziehungen sowie der Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, und schließlich die Selbstverortung der Figur im gesellschaftlichen Kontext als politisches und freidenkendes Individuum. Diese für den Adoleszenzroman zentralen Themen werden im Folgenden sukzessiv erörtert. Die Modifizierung der Bindung zu den Eltern ist eines der zentralen Handlungselemente, das sich vor allem in Form einer räumlichen Abgrenzung seitens der Protagonistin manifestiert. Sie bezieht ein eigenes Zimmer und gewinnt dadurch eine gewisse Autonomie jenseits des elterlichen Einflusses, insbesondere der Mutter, ebenso wie der Erzieher im Kinderheim. Die räumliche Distanz geht jedoch nicht mit einer emotionalen Distanz einher, da die Protagonistin mehrfach von wiederkehrenden wie belastenden Erinnerungen eingeholt wird. Die Handlung ist kontinuierlich von Analepsen durchzogen, die meistens die Form von Erinnerungen an die in der Kindheit erlebten Misshandlungen annehmen (vgl. A, 62). Das repetitive Erzählen signalisiert, dass die Protagonistin diese Erlebnisse noch nicht abschließend verarbeitet hat. Erst die räumliche und zeitliche Distanz ermöglichen es ihr, über das Erlebte zu reflektieren und es als 871 Porombka, »Die DDR war ein riesiges Kinderheim«. 2014.

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verstörend zu bewerten. Aus der Perspektive der älteren April wird das Verhalten der Eltern wertend kommentiert und Unterschiede zwischen dem Verhalten der Mutter und des Vaters bewusst gemacht. Während April ihre Mutter weiterhin als aggressiv empfindet und sich von ihr emotional distanziert, relativiert sie das gewalttätige Verhalten des Vaters, indem sie dem Vater nachträglich einen zweifelhaften Gerechtigkeitssinn zuspricht. Es lässt sich dies als Ausdruck ihres verzweifelten Wunsches, vom Vater geliebt zu werden, interpretieren:872 »Anders als ihre ewig grausame Mutter hatte ihr Vater eine Art Gerechtigkeitssinn; er hat April nur mit der Hand geschlagen, er schlug auch nicht gern, es kam sogar vor, dass er sich danach entschuldigte. Trotz allem wünscht sie sich, dass ihr Vater sie auf seine Weise liebt.« (A, 24)

Geleitet von der Hoffnung, von der Mutter die Anerkennung und Bestätigung zu erfahren, die ihr als Kind verwehrt worden ist, besucht April ihre Mutter, als ihre Schwangerschaft weit fortgeschritten ist. Entgegen ihrer Hoffnung auf Veränderung setzt ihre Mutter die alten Verhaltensmuster fort und beschimpft ihr ungeborenes Kind als »Krüppel«, mithin verwehrt sie April jegliche Chance, als eine ihr ebenbürtige Erwachsene betrachtet zu werden (vgl. A, 90ff.). Weiterhin fühlt sich April von ihrer Mutter unterdrückt. Durch ihre emotionale Verstörung ist sie nicht in der Lage, sich »von dem Schatten ihrer Mutter« (A, 93) zu befreien und sich unabhängig von ihr zu entfalten. Folglich bleibt das Trauma bestehen: »Sie fragt sich, wo die Macht ihrer Mutter endet. Manchmal hat April das Gefühl, der Zorn ihrer Mutter würde wie eine Ascheschicht auf ihrem Herzen liegen. Als sollte sie nie frei atmen dürfen, als würde ihre Mutter noch immer versuchen, alles Gute und Lebendige in ihr zu vernichten.« (A, 115f.) [Hervorh. d. Verf.]

Das traumatische Verhältnis zur Mutter wird in dem Moment, als die Protagonistin sich selbst als Mutter erlebt und reflektiert, besonders relevant. Das Verhalten ihres Sohnes löst immer wieder Erinnerungsmomente aus: »Sie sagt nicht wie ihre Mutter früher: Hau doch ab. Aber sie würde es gerne sagen, hau ab, verschwinde. Stattdessen umarmt sie ihn, drückt Julius fest an sich […].« (A, 181) Deutlich wird, dass das Verhalten des Sohnes als trigger fungiert und traumatische Erinnerungen, mithin die von der Mutter erfahrene Ablehnung auslöst. Auch in anderen Situationen wird die Protagonistin von den wiederkehrenden belastenden Erinnerungen, sogenannten Intrusionen, eingeholt. Sie werden etwa im Gespräch mit Freunden hervorgerufen: »Und deine Mutter? [fragte Irma]. April kribbelt es in den Kniekehlen. Sie hört die Stimme ihrer Mutter: Ich werde 872 Hier präsentiert sich die Adoleszenz der Protagonistin als eine »zweite Chance«, die ihr eine »Neubewertung« der erlebten Kindheit gestattet. Vgl. Erdheim, Die Veränderung der bedeutungsgebenden Struktur durch Adoleszenz. 2002, S. 89; vgl. Kapitel 2.3 Zur Adoleszenz als zweiter Chance.

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dir die Haut in Fetzen vom Leib prügeln. Du verdienst nichts anderes.« (A, 62) [Hervorh. im Original] Aprils Erinnerungen sind so intensiv, dass sie das Gefühl hat, sich wieder mitten in der traumatischen Situation zu befinden. Ihr Unbehagen manifestiert sich im körperlichen Symptom des juckenden Hautgefühls.873 Es ist die Vergangenheit, die sämtliche interpersonelle Beziehungen belastet. Auch die Konsultation eines Psychologen, an die sie die Hoffnung knüpft, ihre emotionale Überforderung zu überwinden, bringt kaum Besserung (vgl. A, 181ff.). Erst im Epilog wird die Aussicht auf eine Verbesserung ihrer emotionalen Situation angedeutet. Es hängt dies mit dem Erhalt eines Pakets mit Briefen, Fotos und Zeichnungen des verstorbenen Vaters zusammen. Der Inhalt des Pakets löst versöhnliche Erinnerungsmomente aus. Aus der Innensicht der Figur erfährt der Leser, was April beim Betrachten der Fotos und Zeichnungen empfindet: »In dem Päckchen findet April Briefe, die sie ihrem Vater als Kind geschrieben hat, ein Manuskript, zusammengefaltete Blätter. Als sie auf einem Bild den blauen Traktor entdeckt, muss sie lachen, das Bild hat ihr Vater für sie gezeichnet, auf dem Traktor sitzt ein betrunkener Fahrer und hält eine Bierflasche in der Hand […]. Auf dem dritten Foto sitzt sie als Kind im Gras, vor einem weiten Horizont. Sie weiß nicht, wo und wann das Foto aufgenommen wurde, es muss Sommer sein, das Mädchen trägt kurze Hosen und hält sich die Hand über die Augen, doch April meint ganz deutlich ein Lächeln zu erkennen.« (A, 218f.) [Hervorh. d. Verf.]

Die Erinnerung an die Zuwendung des Vaters verdeutlicht, wie April ihre Beziehung zu ihm modifizieren und die traumatischen Kindheitserlebnisse überwinden kann. Die Erinnerungsartefakte tragen entscheidend zu dem Versöhnungsmoment bei, der für das Gelingen des Individuationsprozesses der Protagonistin entscheidend ist. Anders als im Falle des Vaters, empfindet sie die Beziehung zur Mutter als eine Belastung, wenngleich auch in abnehmendem Maße: »Das Kriegsgeheul ihrer Mutter vernimmt sie nur noch selten, es lässt nach […].« (A, 218) Die Protagonistin hofft, dass die belastenden Erinnerungen »sie bald gar nicht mehr erreichen« (A, 218) werden und sie losgelöst von den traumatischen Erfahrungen einen individuellen Lebensweg gestalten kann. Kennzeichnend für die Adoleszenz ist weiterhin die Entwicklung eines alternativen Wertesystems, mit dem sich Adoleszente wie April von ihren Eltern abgrenzen können. Sowohl im ersten Teil der Trilogie als auch im vorliegenden Text flüchtet die Protagonistin in die Welt der Literatur, um die belastende Wirklichkeit auszublenden. Es ist zu vergegenwärtigen, dass die Welt der Mär873 April leidet unter den Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das zeigt sich unter anderem an den Intrusionen, ungewollt aufkommenden belastenden Einzelerinnerungen. Es ist dies ein typisches Traumasymptom. Vgl. Maercker, Posttraumatische Belastungsstörungen. 2013, S. 18.

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chen im Sinne Bettelheims gleichwohl als »moralische Erziehung [dient], die [dem Mädchen – der Verf.] unterschwellig die Vorteile eines moralischen Verhaltens nahebringt […], dadurch, daß [dem Mädchen – der Verf.] das richtige greifbar vor Augen tritt«874. So gelingt es der Hauptfigur, »einen Sinn im Leben zu finden«875. Da die Eltern als Erziehungsinstanz versagen, ist die Protagonistin auf sich selbst zurückgeworfen. So dient dem Mädchen die Lektüre als eine Form der Selbstsozialisation, durch die es ein Wertesystem entwickeln kann, in dem Gut und Böse klar definiert sind. Sie schafft es aus eigener Anstrengung heraus, Moralvorstellungen auszubilden und Handlungskriterien für ihr Leben abzuleiten. Durch die Entwicklung eines eigenen Wertesystems gelingt es ihr auch, sich emotional von der Mutter zu lösen. Darüber hinaus erfüllt die Lektüre der Märchen eine therapeutische Funktion bei der Bewältigung ihrer Vergangenheit: »Wenn sie ›Das kluge Gretel‹, ihr Lieblingsmärchen, liest, fühlt sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie zur Strafe in den Keller gesperrt wurde und sich mit diesem Märchen den Hunger vertrieb. Sie liest die Märchen mit dem Gefühl, davongekommen zu sein, vorerst.« (A, 12)

Mit der Figur im Märchen teilt April ihre subversive und erfinderische Haltung. Wie die kluge Gretel ändert auch sie die ›Spielregeln‹ nach ihren eigenen Vorstellungen. Jens Bisky konstatiert, dass es sich bei der klugen Gretel um »eine Figur der radikalen Subjektivität, des Eigensinns«876 handelt. Sie fungiert für April als ein Vorbild, um eigene Handlungsmuster zu entwickeln und ihre traumatischen Erfahrungen zu überwinden. Aprils interpersonelle Beziehungen werden nicht nur von den in der Kindheit erlebten seelischen Verletzungen, sondern auch von den traumatischen Erfahrungen in der Frühadoleszenz bestimmt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Protagonistin eine gestörte Beziehung zu ihrer Sexualität entwickelt. Dies zeigt sich etwa daran, dass April sexuelles Erleben als Machtinstrument nutzt, um ihre Wirkmächtigkeit zu vergrößern und vom anderen Geschlecht stärker beachtet zu werden. Offenbar setzt April Sexualität ausschließlich dafür ein, um Kontrolle über ihren eigenen Körper und andere Menschen zu erlangen: »Es gibt den einen oder anderen Mann, mit dem April sich trifft oder den sie mit nach Hause nimmt. Auf ihrem Sofa ist sie jedoch nur zu kämpfen bereit, außer wilden Zärtlichkeiten hat sie nichts zu geben; sie entzieht sich mit lustvollem Ernst. Ein junger

874 Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1977. 1. Aufl., S. 11f. 875 Ebd., S. 9. 876 Bisky, Jens: »Ihr Realismus ist mit dem Märchen und der Groteske im Bunde«. Laudatio zur Preisverleihung des Marie Luise Kaschnitz-Literaturpreises am 19. 05. 2019 in Tutzing. In: [letzter Zugriff am 28. 04. 2020].

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Student der Literaturgeschichte ist ihr Favorit. Ihm zeigt sie ihre Gedichte, und er macht sich die Mühe, ihre Rechtschreibfehler zu korrigieren. Auch mit ihm kämpft sie bis in die frühen Morgenstunden, er nennt sie eine gewiefte Taktikerin. Nach einer Weile ist er der Sache überdrüssig und kommt nicht mehr.« (A, 71) [Hervorh. d. Verf.]

Diese Machtspiele stellen einen wichtigen Aspekt im Rahmen ihrer Identitätsfindung dar. Gleichzeitig signalisiert das Erproben von Machtverhältnissen die innere Unsicherheit der Protagonistin, die aus ihrer Furcht resultiert, zurückgewiesen und verlassen bzw. verletzt zu werden. In diesen Situationen »fühlt sie sich wie ein Korken auf dem Wasser«. (A, 65) Bedingt durch die traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit ist sie nicht in der Lage, sich ohne Minderwertigkeitsgefühl an einem herkömmlichen Gespräch unter Erwachsenen zu beteiligen (vgl. A, 78) oder sich offen und lustvoll auf eine Begegnung mit einem Mann einzulassen. Mit dem Interesse eines attraktiven Mannes umzugehen, macht sie ratlos und überfordert sie (vgl. A, 65). Problematischer wird es für April, sich auf eine sexuelle Beziehung einzulassen. Es betrifft dies auch den Vater ihres Sohnes. Die Entwicklungsaufgabe der Integration von personalen Intimbeziehungen und Sexualität stellt April vor eine belastende Herausforderung. Aus der Innensicht der Protagonistin heißt es dazu: »Doch wie geht es weiter nach diesem Spiel [des Blickkontakts]? Das Erwachsensein strengt sie an.« (A, 76) Die Resilienz der Protagonistin ist nicht ausreichend entwickelt, um mit einer möglichen Ablehnung umzugehen. Vielmehr überwiegt das Gefühl der Angst und Scham. Ausführlich wird mittels interner Fokalisierung beschrieben, in welchem Dilemma sie sich befindet: »Trotzdem will sie nicht stöhnen und einen Orgasmus vorspielen, viel lieber würde sie zeigen, wie sie ist, doch sie schämt sich für ihre echte Lust mehr als für die Schauspielerei. […] Dabei würde sie ihre Empfindungen gerne mit Hans teilen, die richtigen Worte finden, doch Angst, Scham, der Gedanke an eine Zurückweisung hindern sie daran. Was soll sie machen, wenn er die Achseln zuckt oder sie pervers findet.« (A, 76) [Hervorh. d. Verf.]

Aus Angst vor Zurückweisung kann sie ihr ausgeprägtes Sexualempfinden in der Partnerschaft nicht ausleben. Die Unsicherheit der Protagonistin und ihr defizitäres Selbstwertgefühl begründen auch, dass sie ihren eigenen Körper kaum akzeptieren kann und »eine dicke Trainingshose unter ihrer Levi’s [… trägt, um] ihre Magerkeit zu verbergen.« (A, 43f.) April hat Angst, für das andere Geschlecht nicht attraktiv genug zu sein: »[…] sie fühle sich minderwertig, wie eine schlechte Ware. Ihre Mutter pflegte zu sagen, dass ein richtiger Mann sich nie mit ihr abgeben würde.« (A, 121) Es sind Aussagen ihrer Mutter wie diese, die diese Sorgen noch Jahre später begründen und April belasten. Im Text wird sowohl explizit als auch implizit thematisiert, dass die Irritationen in der Gegenwart der adoleszenten Figur mit den traumatischen Erlebnissen der Kindheit verknüpft

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sind: »Sie fragt sich, wo die Macht ihrer Mutter endet.« (A, 115f.) Der Akt der Erinnerung stellt einen Verarbeitungsversuch dar, um die Vergangenheit neu zu evaluieren. Dieser Prozess geht häufig mit belastenden Nachwirkungen einher, weil die Protagonistin an alten Erfahrungen festhält und nicht in der Lage ist, diese Erfahrungen neu zu bewerten und sie konstruktiv in ihre Persönlichkeit zu integrieren. Entsprechend bleibt ihre adoleszente Gegenwart von einem gestörten Selbstwertgefühl dominiert und von einer »frei flottierende[n] Angst« (A, 114) erfüllt. Sie selbst erkennt bei sich Symptome unterschiedlicher Krankheitsbilder, wie zum Beispiel der Borderline-Persönlichkeitsstörung und des Narzissmus (vgl. A, 114). Bezüglich der Identitätsfindung spielen die für die Adoleszenz typischen Größen- und Allmachtsphantasien eine zentrale Rolle. Es lassen sich mit Blick auf die Entwicklung der Figur mehrere grenzüberschreitende Momente erkennen. Bereits zu Beginn des Textes präsentiert sich April auch anhand von Angaben zu ihrer Lieblingsmusik und Lieblingskleidung. Sowohl das Hören von westlicher Beat-Musik, insbesondere Janis Joplin, als auch das Tragen von westlicher Kleidung sind übliche Praktiken der Jugendlichen in der DDR der 1970er Jahre, um Differenzmomente zu generieren. Aus der Innensicht der Protagonistin erfährt der Leser, dass April sich anfangs vornimmt, eine strategische doppelzüngige Haltung einzunehmen und durch ihr Äußeres keine Konflikte zu erzeugen: »Sie wacht auf, noch bevor der Wecker klingelt, geht leise auf die Toilette, putzt sich die Zähne über dem Waschbecken. Sie will ordentlich aussehen, und das bedeutet, dass sie nicht ihre Lieblingsklamotten tragen kann, eine geflickte Levi’s und ihren Nicki aus dem Westen, mit der USA-Flagge bedruckt.« (A, 10)

Es gelingt der Protagonistin jedoch nicht, lange an dieser Strategie festzuhalten. Verleitet von einem für die Adoleszenz kennzeichnenden übermütigen Gefühl, tritt sie mit ihren westlichen Klamotten im beruflichen Umfeld auf, löst sich von ihrer passiven Konformität und provoziert durch ihre Kleidungswahl Irritationen bei der Abteilungsleiterin. Durch ihre Selbstdarstellung gelingt es April, ein Abgrenzungsmoment zu generieren. Die Leiterin reagiert empört auf Aprils Provokation, wodurch das Irritationspotenzial ihres Handelns bestätigt wird – es erfüllt eine wichtige Funktion bei der Identitätsfindung der Figur. Ausführlich wird aus Aprils Innensicht beschrieben, wie eine innere Stimme bzw. Kraft sie zu diesem nonkonformen Verhalten verleitet: »An einem der ersten Frühlingstage trägt sie frühmorgens ihre zerschlissene Levi’s und den Nicki mit der amerikanischen Flagge. Das Krakeelen der Vögel hat sie übermütig werden lassen. Die Abteilungsleiterin schickt sie empört nach Hause, sie soll sich umziehen und die Arbeitszeit nachholen. Das kann sie aber nicht, es gibt einen Kobold in ihr, der sich solchen Anweisungen zwanghaft widersetzt. Stattdessen geht sie in den Zoo,

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beobachtet ihren Lieblingsaffen, die restlichen Stunden vertrödelt sie in der Innenstadt.« (A, 18) [Hervorh. d. Verf.]

Es handelt sich hier um die im Zuge der Adoleszenz eintretende Entwicklung von sogenannten alternativen Werten und Haltungen, die April demonstrativ inszeniert, um ihren Selbstfindungsprozess voranzutreiben. Symbolisch stellen die Vögel zum einen die Ablehnung der Fremdbestimmung und zum anderen Aprils Wunsch nach Freiheit und Überwindung von Einschränkungen dar.877 Ihre Missachtung der sanktionierenden Reaktion der Abteilungsleiterin bildet eine weitere Grenzüberschreitung, mit der sie sich in ihrer Haltung selbst bestärkt.878 Hinzu kommt, dass April – genauso wie das Mädchen aus dem ersten Roman der Trilogie – durch ihre regelmäßigen Diebstähle ein dissoziales Verhalten an den Tag legt (vgl. A, 12). Punktuelle Diebstähle lassen sich als Spiegelbild einer seelischen Konfliktsituation, also als Zeichen der Aufstörung interpretieren. Während das Mädchen mit den Diebstählen auf eine Störung im familiären Umfeld antwortet, reagiert April mit dem Entwenden von Nahrungsmitteln im Konsum auf eine Störung im gesellschaftlichen Kontext. Die Diebstähle bilden eine Art von gesellschaftlichem Protest. Sie sind auch von dem Bedürfnis nach Rache motiviert, die sich gezielt gegen das politische System richtet, das, so die Meinung der Protagonistin, willkürlich seine friedlichen Bürger misshandelt und zu Haftstrafen verurteilt (vgl. A, 143f.). Sukzessiv entwickelt die Figur größere Lust an dieser Form der Provokation. Und damit häufen sich Situationen, in denen sie mit ihrem Handeln für Aufstörungen im beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld sorgt: An ihrem Arbeitsplatz im Museum stört sie die Vorführung eines Films über den Klassenfeind bei einem Treffen der Parteifunktionäre, indem sie »für einen Kurzschluss im Sicherungskasten« (A, 117) sorgt. Übermütig und angetrunken zerstört sie die Fahnen aller Bruderländer, die anlässlich der Herbstmesse gehisst sind (vgl. A, 125). Mit ihrer Freundin Susanne verantwortet sie außerdem ein Zeitschriftenprojekt mit dem Titel Anschlag, um Texte, Graphiken und Fotografien im Untergrund zu publizieren, wobei sie sich dem Druckgenehmigungsverfahren entziehen (vgl. A, 128ff.). Die Hinwendung zu Kunst und Literatur bildet Aprils Suche nach einem alternativen Weg außerhalb des offiziellen Diskurses ab. Zunehmend rücken politische Fragen für April in den Vordergrund. Sie nimmt eine klare parteikritische Haltung ein und bricht immer wieder aus den Konventionen aus. Mit ihrem Ausreiseantrag verortet sie sich schließlich bewusst außerhalb der 877 Diese Textstelle offenbart einen direkten Bezug zum Ende des ersten Textes der Trilogie, als das Mädchen sich vorstellt, mit einem Vogelschwarm der belastenden Realität zu entfliehen (vgl. DM, 183). 878 Ein ähnliches Verhalten wird von dem Protagonisten in Jürgen Landts Text Der Sonnenküsser präsentiert. Vgl. Kapitel 5.1.3 Zur gestörten Generativität im familiären Umfeld.

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sozialistischen »Schicksalsgemeinschaft« (A, 132) und positioniert sich gegen eine Fremdbestimmung durch staatliche Institutionen. Sie fragt sich, »[…] warum sie in einem Land bleiben muss, um das eine Mauer gezogen ist. Sie will selbst entscheiden dürfen, wo und wie sie lebt.« (A, 131) Ihre Abgrenzung manifestiert sich einerseits durch eine bewusste Kritik an der Einschränkung des Rechts auf Freizügigkeit und an der willkürlichen Regelung der Reisepolitik der DDR. Andererseits grenzt sich die Protagonistin auch äußerlich bewusst von der Mehrheit ab, indem sie etwa ihre kurzen Haare metallblau färbt (vgl. A, 139). Hierbei zeigt sich, dass die Protagonistin im Zuge ihrer Adoleszenz ein eigenes Wertesystem entwickelt, in dem ein individuelles Rechts- bzw. Unrechtsbewusstsein existiert, das dem offiziellen Rechtssystem der DDR diametral entgegengesetzt ist und in dem das Recht auf Meinungsfreiheit anders definiert ist. Weiterhin wird deutlich, dass April durch ihre Mitherausgeberschaft einer Untergrundzeitschrift Anschluss an eine Gruppe von Gleichgesinnten findet und ihr Einzelgänger-Dasein ansatzweise hinter sich lässt. Ihre riskante Selbstpositionierung in der Gesellschaft bleibt zunächst folgenlos. Die Situation eskaliert jedoch, als April bei einer Demonstration zusehen muss, wie die Polizisten auf eine schwangere Freundin einprügeln. Geleitet von ihrem Gerechtigkeitssinn greift sie die Uniformierten an: »[…] als sie sieht, wie einer von [den Uniformierten] auf die schwangere Frau einprügelt, ist April nicht mehr zu halten. Sie springt dem Uniformierten auf den Rücken und verbeißt sich in seinem Nacken. Sie schlägt, kratzt, tritt, verliert sich in einem Wirbel aus angestautem Zorn, bis sie taumelnd zu Boden fällt.« (A, 141)

April beweist mit ihrem Eingreifen, dass sie bereit ist, für ihr Rechtsempfinden zu kämpfen, was belegt, dass es ihr gelungen ist, im Rahmen eines Reifungsprozesses eine eigene Identität auszubilden. Dass diese jedoch noch nicht gefestigt ist, wird dadurch belegt, dass die Identitätssuche nach ihrer Ausreise aus der DDR in Westdeutschland von Neuem beginnt: Dem Alkohol- und Drogenkonsum verfallen, sucht sie nach einem Weg der Selbstverortung, mit dem sie glücklich werden kann. Ihre Suche wird symbolisch als Irrfahrt beschrieben: »Immer fährt sie in die falsche Richtung, wird von ihrem Platz vertrieben oder versäumt es, rechtzeitig auszusteigen.« (A, 164)879 Nach der Trennung von Hans und einer Italien-Reise kann sie ihr Heimweh überwinden und gewinnt eine gewisse Autonomie und Zuversicht. Mit ihrer Tätigkeit als Autorin literarischer Texte gelingt es der Protagonistin sodann, die bis dahin ausgebliebene soziale Anerkennung zu erfahren, sich als Erwachsene durchzusetzen und Gehör zu 879 Exzessiver Alkoholkonsum und promiskuitives Verhalten bestimmen das Leben der Protagonistin; sie verfällt dadurch in eine Wiederholung der mütterlichen Verhaltensmuster. Es entsteht der Eindruck, als ob April in einem fatalen zwanghaften Kreislauf gefangen wäre, aus dem sie kaum entkommen kann.

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen

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verschaffen: »Sie wird ernst genommen, das, was sie schreibt, wird ernst genommen.« (A, 217) Die Literatur stellt schließlich den rettenden Hafen dar, in den die Protagonistin am Ende ihrer Odyssee einläuft. Im Epilog wird suggeriert, dass sie ihre Irrfahrt beendet und einen wichtigen Entwicklungsschritt auf der Suche nach sich selbst einlösen konnte.

5.2.9 Fazit Ausgehend von den präsentierten intergenerationellen Beziehungen und angesichts des grenzüberschreitenden Verhaltens der Protagonistin kann zusammenfassend festgehalten werden, dass Adoleszente wie das Mädchen und April Figuren der Störung darstellen, die durch ihre Handlung und ihr (aggressives) Verhalten in ihrem familiären und gesellschaftlichen Umfeld Irritationen erzeugen. Es wurde zudem aufgezeigt, dass die Krisen der Adoleszenz in einem familiären Umfeld, in dem die Erwachsenen ihren Kindern keinen Halt geben und sich nicht ausreichend um diese kümmern, weil sie selbst brüchige Subjekte sind, eine deutlich dramatischere Dimension annehmen. Es wurde an den Texten außerdem illustriert, dass die Ablösung der Adoleszenten von ihren Eltern zu existentiellen Erschütterungen führen kann, wenn die generative Haltung auf Seiten der Eltern oder Erzieher nicht gegeben ist, das erzieherische oder familiäre System nicht fähig ist, auftretende Auf- und Verstörungen produktiv ins System zu integrieren und lediglich mit drastischen Sanktionen reagiert. Demzufolge wird adoleszente Individuation als »eine überaus bedrohliche Vernichtung der kindlichen Welt und der familialen und sozialen Schutzhülle«880 erlebt oder im Sinne Christian Schneiders als »ein[] Riss im Leben, der sich nie mehr wird schließen«881 lassen. Schließlich veranschaulicht die Entwicklung der Protagonistin, dass die Lösung wichtiger adoleszenter Entwicklungsaufgaben, wie zum Beispiel die Akzeptanz und Aneignung des adoleszenten Körpers, die Erprobung und Aneignung von Sexualität oder die Entwicklung einer Beziehungsfähigkeit, durch traumatische Erlebnisse in der Kindheit zusätzlich erschwert oder sogar verunmöglicht wird. Darüber hinaus lässt sich konstatieren, dass das Fehlen einer familialen Generativität nicht immer durch Erfahrungen in der Peergroup kompensiert werden kann. Im Falle der untersuchten Figuren kommt es zu selbst- und fremddestruktiven Prozessen und Wiederholungszwängen, die ihre adoleszente Individuation erschweren. Diese Formen der Destruktivität sind die 880 King, Die Entstehung des Neuen. 2002, S. 42. 881 Für Christian Schneider ist die Adoleszenz als Erlebniskonfiguration »die psychische Repräsentanz des Bruchs«. Schneider, Christian [u. a.]: Trauma und Kritik. Zur Generationsgeschichte der Kritischen Theorie. 1. Aufl. Münster: Westfälisches Dampfboot 2000, S. 63.

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Zu Facetten der Darstellung von Adoleszenz in der DDR

Folge einer eskalierenden Wut bei Heranwachsenden wie April, die in ihrer Kindheit oder Adoleszenz demütigenden und traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt gewesen sind.882 Angesichts der dargestellten Traumatisierungen und ihrer Folgen für die weitere Entwicklung der Protagonistin kann im vorliegenden Fall nach Mario Erdheim von einer »ausgebrannten Adoleszenz«883 gesprochen werden. Dem Mädchen im ersten Roman gelingt es nicht, die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit nachträglich aufzubereiten und das Determinationspotenzial der Kindheit zu relativieren. Die Fortsetzung der Geschichte im Roman April bestätigt die Nachwirkungen der erlittenen Kindheitstraumata und die Schwierigkeiten der Protagonistin bei der Neubewertung ihrer Vergangenheit. Eine Erlösung durch die Literatur wird am Ende des Textes in Aussicht gestellt. Wie Alexander Cammann feststellt, erscheint »[i]hr Erwachsenwerden […] als Parabel auf eine unbewusste Selbstfindung inmitten alltäglicher Hoffnungslosigkeit«884. Die Handlung des ersten Textes der Trilogie spielt zwar in der DDR, die beschriebenen Erlebnisse einer Individuation unter prekären Familienbedingungen vermitteln jedoch Überzeitliches, das, abgesehen von einigen realsozialistischen Details, systemunabhängig und paradigmatisch für die Biografien vernachlässigter und verwahrloster Kinder ist. Erst im zweiten Teil der Trilogie zeigen sich DDR-spezifische Adoleszenzprobleme, als sich die Figur bewusst gesellschaftlich verortet und mit dem Rechtssystem der DDR in Konflikt gerät. Auch in ihrem Fall bestimmen die Folgen der erlittenen Kindheitstraumata als dominierende Kraft das Leben der Protagonistin. Der Kontrollapparat der DDR erfüllt in diesem Kontext eine eher verstärkende Funktion.885 Auf der Ebene des discours werden der komplexe Prozess der Neubewertung der Kindheit sowie die Auswirkungen der erlebten Traumata durch den häufigen Rückgriff auf Analepsen und repetitive Formen des Erzählens veranschaulicht. Der Akt der Erinnerung stellt einen Verarbeitungsversuch dar, um die Vergangenheit neu zu evaluieren und ist insofern Ausdruck des Identitätsfindungsprozesses der Protagonistin. Das zeitraffende Erzählen verstärkt den Eindruck der Kurz- und Schnelllebigkeit der Adoleszenz. Auf der Ebene der histoire wird der Individuationsprozess durch die Auswahl der diegetischen Räume – Schule und Kinderheim – stark konditioniert. Durch den räumlichen Wechsel von der Familie ins Kinderheim wird eine Distanzierung zu den Eltern begünstigt. 882 Vgl. Ahrbeck, Von allen guten Geistern verlassen? 2010, S. 14. 883 Vgl. Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 317ff. 884 Cammann, Alexander: Eine Heldin unserer Zeit. In: Die Zeit vom 22. 09. 2011. In: [letzter Zugriff am 04. 08. 2020]. 885 Vgl. Schröder, Christoph: Ich, Macht, Männer. Erwachen und leiden in der DDR: Angelika Klüssendorfs Roman »April«. In: Tagesspiegel vom 08. 02. 2014. In: [letzter Zugriff am 27. 04. 2020].

Torsten Schulz: Nilowsky

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Heranwachsende wie das Mädchen sind aufgefordert, die Grenzen der sozialen Welt in der Schule und im Kinderheim auszutesten. In diesen spezifischen Räumen entwickeln sie ihre Persönlichkeit durch die Gestaltung sogenannter Transgressionsakte. Die dynamische Figurenkonzeption greift die für Adoleszente typischen Merkmale der emotionalen Instabilität auf.

5.3

Torsten Schulz: Nilowsky – Das Dilemma einer Freundschaft zwischen Verrat und Loyalität

Torsten Schulz’ 2013 erschienener Roman Nilowsky thematisiert Adoleszenz in der DDR der 1970er Jahre. Es finden sich darin zahlreiche stofflich-thematische Aspekte, die den Text als modernen Adoleszenzroman bestimmen lassen. Gleichwohl spielt das Erinnern für die Entwicklung des Protagonisten, Markus Becker, eine wichtige Rolle. Da die Handlung maßgeblich »in der erinnernden Rückschau hervorgebracht [wird]«886, lässt sich der Text im Sinne von Birgit Neumann auch der Gattung der fictions of memory zuordnen. Die zurückliegenden Ereignisse der diegetischen Ebene stehen im Vordergrund, folglich kann von einem Gedächtnisroman die Rede sein. Die Erzählung erfolgt rückblickend aus der Perspektive des Ich-Erzählers und übernimmt eine identitätsstiftende Funktion für diesen. Es ist der Wahrnehmungshorizont des erinnerten bzw. erlebenden Ichs, der die Darstellung bestimmt und lediglich punktuell durch das Wissen des erzählenden Ichs erweitert wird. Abgesehen von wenigen Ausnahmen werden die episodischen Rückblicke chronologisch erzählt. Es dominiert ein zeitraffendes Erzählen, wobei das Erzähltempo im Verlauf des Textes durch die Präsenz größerer Ellipsen ansteigt.

5.3.1 Zu Autor und Werk Torsten Schulz ist 1959 in Ost-Berlin geboren und wuchs zu DDR-Zeiten in einer Arbeiterfamilie im proletarisch geprägten Bezirk Friedrichshain auf. Nach dem Schulbesuch (Abitur 1978) studiert Schulz zwischen 1982 und 1986 Film- und Fernsehwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg. Nach dem Studium arbeitet Schulz als Dramaturg im DEFA-Spielfilmstudio. Während der Wendezeit gründet Schulz zusammen mit Freunden eine Wochenzeitung für Politik und Kultur mit dem Titel Der Anzeiger

886 Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 137.

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Zu Facetten der Darstellung von Adoleszenz in der DDR

und ist als Redakteur bei der Wochenzeitung der DDR-Bürgerbewegung Die Andere tätig. Wollte man Schulz in den geschichtlichen Kontext der ehemaligen DDR einordnen, ließe er sich nach dem Lindner-Modell aufgrund seiner Jahrgangszugehörigkeit der sogenannten Generation mit stabiler Bindung zuordnen. Betrachtet man den Werdegang des Autors jedoch genauer, wird deutlich, dass der Autor eher der sogenannten Generation der Nicht-mehr-Eingestiegenen angehört, die die Brüchigkeit des DDR-Systems erkannt und dem System kritisch gegenüber gestanden hat. Wie viele andere Autoren dieser Generation hat auch Schulz für den sogenannten ›Dritten Weg‹ plädiert und versucht, mit seinen Filmen »das System von innen heraus zu verändern«887, mithin einen Systemwandel zu erwirken: »[I]ch wollte [in der DDR] bleiben und kritische Filme schreiben, die zum Wandel in Ostdeutschland beitragen sollten. Im Nachhinein ist mir klar, dass diese Zeit der Anfang vom Ende war, aber damals – in den 1980ern – war das mein Traum.«888

In Bezug auf seine Schreibmotivation hebt Schulz hervor, dass es ihm vor allem darum gehe, die »Vergangenheit zu erfassen«, und dies auf eine authentische Weise. Durch das Schreiben erhalte er seine Kindheit und Adoleszenz, oder wie es Schulz formuliert: »Noch wichtiger war mir, meine Kindheitserinnerungen festzuhalten, die mir mit der Zeit entglitten, und meine eigene Sprache zu profilieren.«889 Vor diesem Hintergrund erfüllen seine Texte eine wichtige Funktion bei der Rekonstruktion und Sicherung des individuellen Gedächtnisses, um der Erfahrung des Verschwindens bzw. ›Entgleitens‹ entgegenzuwirken.890 So siedelt

887 MacLean, Rory: Torsten Schulz im Interview mit Rory MacLean. In: [letzter Zugriff am 20. 06. 2016]. 888 Ebd. 889 Ebd. 890 Diese Schreibmotivation teilt Schulz mit Jochen Schmidt und anderen Autoren, die in der DDR sozialisiert wurden. So ist die Erfahrung des Verschwindens für die Autorinnen Julia Schoch und Jenny Erpenbeck ein entscheidender Aspekt für das literarische Schreiben. Konfrontiert mit dem Schrecken, dass »mit den Dingen und Orten, die verloren gingen, […] sich seine eigene Geschichte« verflüchtigt, könne der Autor angesichts der Tatsache, dass »das Verbindungsseil zwischen Vergangenheit und Gegenwart immer fasriger wird«, keine avantgardistische Rolle übernehmen, sondern müsse gegen das Vergessen ankämpfen. Vgl. Schoch, Julia: Ich, Arrière-Gardistin. In: Neue Rundschau, H. 2/2013, S. 23–29, hier: S. 25, 28; Carola Hähnel-Mesnard verweist darauf, dass für Schoch literarische Zeugnisse als »Fundstücke ohne Archiv agieren, die als Spuren einer verschwundenen Zeit durch den unendlichen Raum der Gegenwart treiben«. In diesem Sinne erfüllen sie die Funktion von minoritären Konzepten, die von der Peripherie aus in das dominierende kollektive Gedächtnis eingespeist werden und dieses entsprechend erweitern. Vgl. Gansel, Atlantiseffekte in der Literatur? 2010, S. 18f; Ha¨ hnel-Mesnard, Carola: Geschichte und Zeiterfahrung in der Prosa von Julia Schoch. In: Caemmerer, Christiane/Delabar, Walter/Meise, Helga (Hg.):

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er die Handlung seines Debüts Boxhagener Platz (2004) auch in der DDR an und verarbeitet Motive aus seiner Kindheit. Der Roman ist als Hörbuch adaptiert und 2010 verfilmt worden. Nach der Kurzgeschichtesammlung Revolution und Filzläuse (2008) setzt Schulz seine literarische Erkundung Berlins mit dem Roman Nilowsky (2013) fort, der ebenfalls autobiographische Züge aufweist. In seinem dritten Roman Skandinavisches Viertel (2018) kehrt er mit seinem Helden, einem Immobilienmakler, zu Wendezeiten in sein geliebtes Kindheitsviertel Prenzlauer-Berg zurück und verarbeitet die mit der Wende einhergehenden gesellschaftlichen Entwicklungen.

5.3.2 Zum Inhalt Die Diegese von Torsten Schulz’ Adoleszenzroman Nilowsky ist gegen Ende der 1970er Jahre angesiedelt. Auf der Ebene der histoire finden sich drei zentrale Figuren: Markus Bäcker, Reiner Nilowsky und Carola Worgitzke, die eine Dreieckskonstellation bilden und sich gemeinsam durch die Wirren der Pubertät und Adoleszenz kämpfen.891 Markus Bäcker, der vierzehnjährige Ich-Erzähler, zieht 1976 mit seinen Eltern vom Prenzlauer Berg an den Rand von Ostberlin, in die Nähe eines Chemiewerks. Seine Eltern sind über den beruflichen Aufstieg glücklich, doch Markus leidet unter dem Wohnortwechsel, der auch die Trennung von seinen ehemaligen Freunden bedeutet. Eines Tages lernt er den siebzehnjährigen Außenseiter Reiner Nilowsky kennen, den charismatischen Sohn des Kneipenwirts und Alkoholikers des Viertels. Nilowsky hilft Markus dabei, Anschluss zu finden, und lässt ihn an seinem ungewöhnlichen Leben teilhaben. Von Anfang an bewundert Markus Nilowsky, fürchtet ihn aber auch. Er lernt durch ihn skurrile Figuren wie die Neger-Wally, die Mosambikaner, die als Gastarbeiter in der Chemiefabrik arbeiten, und Carola, Nilowskys zukünftige Freundin, kennen, die ihn zwar fasziniert, der er sich aus Loyalität zu seinem Freund und aus Angst vor ihm aber nicht zu nähern traut. Carola gibt sich Markus gegenüber stellenweise verführerisch, weist ihn sodann aber wieder zurück. Für Markus ist klar, dass Reiner und Carola zusammengehören und respektiert ihre Beziehung, sogar als Reiner eine Gefängnisstrafe absitzen muss. Dabei ist es Nilowskys auffällige Art, seine eigenartige Sprache und irritierenden Theorien zur Erklärung der Welt, die Markus’ Faszination für den jungen Mann begründen. Doch sukzessive gibt sich Nilowsky skurriler, entwickelt immer abFräuleinwunder. Zum literarischen Nachleben eines Labels. Frankfurt/Main: Peter Lang Edition. INTER-LIT, Bd. 15/2017, S. 31–49, hier: S. 49. 891 Schulz, Torsten: Nilowsky. Stuttgart: Klett-Cotta 2013 [im Folgenden unter der Sigle »N« mit Seitenzahl im Text].

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surdere Weltanschauungen und verhält sich gegenüber seinem Vater und Carola dermaßen aufstörend, dass Markus’ anfängliche Begeisterung gegenüber Nilowsky nachlässt. Er leistet seinen Grundwehrdienst ab, will Lehrer werden und versucht, sich vom Ehepaar Nilowsky und Carola zu distanzieren. Von Anfang an wirkt Nilowsky auf Markus bedrohlich, was sich neben seinen bizarren Ansichten auch darin zeigt, dass er keinen Widerspruch akzeptiert. Nachdem Nilowskys Vater Selbstmord begeht, verfällt auch er dem Alkohol und verschwindet aus Markus’ Leben, wobei unklar ist, ob sein Rückzug von Dauer ist. Das Ende des Textes ist offen und ambivalent gestaltet, was aus Nilowsky wird, bleibt ungewiss.

5.3.3 Zum Verrat einer Freundschaftsbeziehung Schulz’ Roman Nilowsky lässt sich in eine literarische Tradition von Texten einordnen, die die adoleszente Neuprogrammierung narrativ inszenieren. Zu den Vorläufern des Adoleszenzromans gehören Texte wie Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther (1774), dem ebenso wie in Schulz’ Roman eine Dreiecksgeschichte als konstitutives Strukturelement zugrunde liegt. Auch Grass’ Novelle Katz und Maus lässt sich zu dieser Tradition zählen und bildet eine wichtige Textreferenz für Schulz’ Adoleszenzgeschichte. Der Text wird 1961 in Westdeutschland publiziert und sorgt für einen literarischen Skandal samt gerichtlicher Folgen: Der Publizist Kurt Ziesel zeigt Grass an und beschimpft ihn als »Verfasser übelster pornographischer Ferkeleien«, zudem stellt das hessische Ministerium für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen am 28. 09. 1962 einen Antrag auf Aufnahme in das Verzeichnis jugendgefährdender Schriften, der zwei Monate später zurückgezogen wird.892 Im Zentrum der Kritik steht eine Onanie-Szene im dritten Kapitel des Romans sowie die Behandlung des Ritterkreuzes. Besonders die Onanie-Szene ist für die vorliegende Untersuchung relevant, da Schulz’ Text Darstellungen enthält, die in ähnlicher Weise für Aufstörungen sorgen (vgl. N, 18).893 Betrachtet man Katz und Maus aus erzähltheoretischer Sicht und lässt die moralischen Reaktionen beiseite, fällt auf, dass Schulz’ Roman auf der Ebene der histoire eindeutige Parallelen zu Grass’ Novelle aufweist. So ähneln sich bereits die Textanfänge: Während Grass’ Ich-Erzähler namens Pilenz mit der Figur Mahlke »neben dem Schlagballfeld im Gras« liegt und »das Krematorium zwischen den Vereinigten Friedhöfen und der Technischen Hochschule […] bei 892 Vgl. Sieg, Christian: Die ›engagierte Literatur‹ und die Religion. Politische Autorschaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2017, S. 289f. 893 In der Schülerausgabe sind diese und andere Stellen, die mit Sexualität zu tun haben, zensiert worden. Vgl. Schulz, Torsten: Nilowsky. Stuttgart: Klett Sprachen 2013. Vgl. Kapitel 5.3.5 Zur sexuellen Initiation.

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Ostwind« arbeitet, rückt Mahlkes Adamsapfel ins Zentrum des Geschehens, »denn Mahlkes Adamsapfel wurde der Katze zur Maus«.894 Die Erzählinstanz verweist auf die Beweglichkeit des überdimensionierten Adamsapfels. Ganz ähnlich setzt auch Schulz’ Roman mit der Begegnung zweier Freunde, Markus Bäcker, eine Ich-Erzählinstanz, und Reiner Nilowsky, ein. Statt der vom Krematorium aufsteigenden Wolke beobachtet Schulz’ Ich-Erzähler eine »grünlich gelb von den Schwefelabgasen« kontaminierte Wolke, die »vom Chemiewerk« herüberzieht (N, 5). Nilowsky, Mahlkes Pendant, wird aus der figuralen Perspektive des Ich-Erzählers, der »einen Kopf kleiner« (N, 5) als Nilowsky ist, präsentiert. Nilowsky richtet sein Gesicht mit geschlossenen Augen gen Himmel. Dadurch erscheint »sein langer Hals noch länger und sein großer Adamsapfel, der bei jedem Schlucken eindrucksvoll hoch und runterging« (N, 5) noch impulsanter.895 Die figurale Charakterisierung, die durch den intertextuellen Verweis verstärkt wird, macht bereits zu Beginn des Textes auf die Besonderheit der Figur Nilowsky, Sohn des Kneipenwirts am Bahndamm, auf die Figurenkonstellation und die existierenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in der Freundschaft zwischen Nilowsky und Markus aufmerksam.896 Sowohl Mahlke als auch Nilowsky sind Einzelkinder und Halbwaisen, die sich in ihrer Außenseiterrolle und ihrem Dasein als Sonderling auszeichnen. Letzterer wird durch die körperliche Anomalie verstärkt. Ihr Kampf um Anerkennung zieht sich als roter Faden durch die Erzählung und entspricht dem Anerkennungsvakuum, das eines der wichtigsten Momente des psychosozialen Adoleszenzprozesses bildet und im Fall von Nilowsky durch die soziale Marginalisierung seiner Familie intensiviert wird. Die Faszinationskraft, die Mahlke auf Pilenz und andere Figuren der Novelle ausstrahlt, bestimmt die Figurenrelation und wird repetitiv erzählt: »Er hatte es uns wieder einmal gezeigt; und zeigte es uns gleich darauf noch einmal, indem er sich zweimal nacheinander etwas – wie wir es nannten – von der Palme lockte.« (KM, 34) Pilenz’ Faszination für Mahlke ähnelt der Anziehungskraft, die Nilowsky auf Markus und Carola ausstrahlt. So heißt es etwa: »Ich öffnete die Augen und sah zu ihm hoch. Er lächelte mich an und sagte: ›Komm! Wir gehen ein Stück.‹ Ich folgte ihm […].« (N, 6) oder an anderer Stelle: »Nilowskys Logik 894 Grass, Günter: Katz und Maus. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand Verlag 1987, S. 6 [im Folgenden unter der Sigle »KM« mit Seitenzahl im Text]. 895 Der riesengroße Adamsapfel ist fortlaufend Gegenstand der Darstellung, zieht sich mithin als wiederkehrendes Motiv durch den Text (vgl. N, 163, 174, 224). 896 Der Ausgang der Geschichte wird anhand eines kunstvollen intertextuellen Verweises auf das Schicksal von Jakob Abs, der Figur aus Mutmassungen über Jakob von Uwe Johnson, angedeutet. Die Spannung von Schulz’ Roman hängt mit Merkmalen, die für eine Kriminalgeschichte typisch sind, zusammen: Markus’ Suche nach Nilowsky und die offene Frage bezüglich dessen Entwicklung erinnern an die Mutmaßungen über den Tod des Streckendispatchers Jakob Abs: »[D]er Reiner ist irgendwo vorn Zug, so unglücklich wie der war. Und er war ja immer uff ’n Gleisen, da hat er sich doch immer hinjezogen jefühlt.« (N, 159)

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begann mich zu faszinieren. Sie war etwas Kostbares, das mir immer vertrauter wurde.« (N, 30) Dass der Ich-Erzähler Markus aus der Froschperspektive zu Nilowsky aufsieht, markiert seine untergeordnete Position, die auch durch seine Folgsamkeit Nilowsky gegenüber bestätigt wird. In beiden Texten besteht zwischen den Protagonisten ein ambivalentes Abhängigkeitsverhältnis, das sich im Handlungsverlauf verändert. Die Abhängigkeit des Ich-Erzählers von Nilowsky korreliert in bestimmten Aspekten mit Pilenz’ Abhängigkeit von Mahlke. Für die Konzeption der Figuren Nilowsky und Mahlke ist das Alter von entscheidender Bedeutung: Während Grass seine Figur mit einem »Jahr Vorsprung vor seinen Klassenkameraden« (KM, 6) konzipiert, versieht Schulz seinen Protagonisten mit einem dreijährigen Altersvorsprung und einer entsprechenden Körpergröße. Bereits aufgrund der körperlichen Merkmale sind beide für die Übernahme einer dominanten sozialen Rolle prädestiniert. Nilowsky entwickelt sich für den Erzähler fortan zu einem charismatischen Leader, von dem er lernen will und dessen Anerkennung er sucht, um, wie Carola es formuliert, »ein richtiger Reiner-Experte« (N, 80) zu werden: »Bei so viel Lob – und dann noch von Nilowsky, der jetzt sein eigener Herr war – errötete ich. Aber das machte mich nicht etwa hilflos, nein, es tat mir gut. Ich hatte einen Freund, der sein eigener Herr war.« (N, 68)

Der dominante Charakter von Nilowsky ist für den Individuationsprozess des Ich-Erzählers von Bedeutung. Insbesondere dessen Unabhängigkeit begeistert den Ich-Erzähler. So avanciert Nilowsky für ihn zum Vorbild, zumal er jene charakterlichen Facetten habitualisiert, die Markus zu Beginn seiner adoleszenten Persönlichkeitsentwicklung anstrebt. Darüber hinaus lässt sich die von Markus verwendete Bezeichnung »Herr« mit einem biblischen Kontext assoziieren: Nilowsky ähnelt in seiner Vorbildfunktion für Markus Jesus Christus, dem göttlichen Gesandten, dem Markus und Carola blind folgen. Nilowsky gibt Markus die emotionale Sicherheit, die an die Stelle von derjenigen seiner Familie rückt: »Ich fühlte mich geborgen in seinen Armen und musste noch heftiger heulen, so heftig, dass mein Körper bebte. Nilowsky drückte mich fest an sich […].« (N, 39) Der Ich-Erzähler charakterisiert sich selbst als »ein[en] gelehrige[n] Schüler« (N, 114) und betont wiederholt sein Erstaunen über Nilowskys Fähigkeiten. Gleichwohl gibt es Phasen, in denen der irritierte Markus sich von Nilowsky bzw. dessen starkem Einfluss zu befreien versucht: »So sehr ich mich bemüht hatte, Nilowsky aus meiner Gedankenwelt zu verdrängen, so sehr wollte ich nun wieder an ihn und seinen Traum glauben« (N, 285), resümiert Markus am Ende der Erzählung. Die skizzierten Textauszüge verdeutlichen, dass der Individuationsprozess des Ich-Erzählers primär durch seine innere Zerrissenheit und Unsicherheit geprägt ist. Er sieht sich über längere Zeit in dem Dilemma gefangen, gegenüber Nilowsky loyal zu bleiben oder aber seinem Interesse an

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Carola nachzugehen. Mit der inszenierten ambivalenten Freundschaftsbeziehung greift Schulz ein zentrales Moment außerfamilialer adoleszenter Generationenverhältnisse auf.897 Nach Vera King repräsentieren Freundschaftsbeziehungen »in ihrer nicht institutionalisierten Form […] den sozialen Raum des adoleszenten Experiments par excellence.«898 Dort können Jugendliche sich »entwerfen, inszenieren [und] ihre soziale Welt konturieren«899. Freundschaften gewähren Spielraum für die Stabilisierung der eigenen Identität, »für die Selbstdarstellung, für Ablösungs- und Neufindungsprozesse«900. Entscheidend dafür ist die symmetrische Verfasstheit der Beziehung, die im Falle von Markus und Nilowsky nicht gegeben ist. Gleichwohl sind Dominanzhierarchien auch in Peergroups üblich und verlangen einigen Mitgliedern ein unterwürfiges Verhalten ab, wie es etwa die Figur Markus zeigt. Die sonst bei Freundschaften auf Gegenseitigkeit angelegte positive Beziehung, die auf Verlässlichkeit und Vertrauen baut, wird zwar von Nilowsky gefordert – sogar auf extreme Art und Weise durch skurrile Vertrauensbeweise (vgl. N, 91f.) – aber nicht immer eingelöst, zumal sich Nilowsky immer erlaubt, jederzeit aufzutauchen und zu verschwinden, wie es ihm gefällt und ohne seine Entscheidung zu erklären (vgl. N, 40). Er nutzt seine Machtposition aus, bedroht Markus sogar und setzt ihn unter Druck, um sein Handeln zu bestimmen. Es kommt hinzu, dass sich die Beziehung zwischen Nilowsky und Markus durch den allgegenwärtigen, jedoch nicht ausgesprochenen Vorwurf des Verrats auszeichnet. Bereits zu Beginn der Freundschaft ereignet sich ein krisenhaftes Moment: Markus beobachtet, wie Nilowskys Vater »mit einem Feuerhaken auf seinen am Boden liegenden Sohn einschlug.« (N, 12) Der Ich-Erzähler ist durch die beobachtete Gewaltszene verstört und kämpft mit intensiven Gewissenkonflikten und Schuldgefühlen: »Ich schämte mich, Zeuge dieser Demütigung geworden zu sein […] Ich fragte mich, ob ich ihm irgendwie hätte beistehen müssen. Ob die offen stehende Kneipentür gewis-

897 Der Altersunterschied zwischen Markus und Nilowsky von drei Jahren ist ausreichend, um bei letzterem einen Entwicklungsvorsprung zu bedingen, sodass Nilowsky in Relation zu Markus eine bestimmende Rolle einnimmt. Während Markus erst anfängt, die im Zuge der Pubertät eintretenden Veränderungen seines Körpers und die damit einhergehenden Möglichkeiten zu entdecken, führt Nilowsky bereits eine feste Beziehung und überlegt, zu heiraten. Seine Lebensumstände, der Tod seiner Mutter und die Alkoholsucht seines Vaters, zwingen Nilowsky dazu, sehr früh eine erwachsene Rolle einzunehmen. So erscheint es legitim, Markus und Nilowsky zwei verschiedenen Generationen zuzuordnen. Vgl. King, Vera: Adoleszenz und Ablösung im Generationsverhältnis. Theoretische Perspektiven und zeitdiagnostische Anmerkungen. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung. H. 1/2010, S. 9– 20, hier: S. 18. 898 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 229 [Hervorh. im Original]. 899 Ebd. 900 Ebd.

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sermaßen eine Aufforderung gewesen war, etwas für ihn zu tun. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben […] Mit Nilowsky sprach ich nie über das, was ich gesehen hatte, nicht einmal eine Andeutung machte ich.« (N, 13)

Die Beobachtung hat eine nachhaltige Wirkung auf den Ich-Erzähler, die sich vor allem in der repetitiven Erzählung des Geschehens (vgl. N, 17, 19 und 24) und der Tabuisierung des Problems manifestiert. Der Protagonist versucht erfolglos, seine emotionale Verstörung und seine Gewissensbisse, Nilowsky nicht beigestanden zu haben, zu verarbeiten. Im Sinne von Ludwig Jäger wird ein transkriptives Verfahren der Remediation in Gang gesetzt: »Als Freund, sagte ich mir, hätte ich ihm helfen müssen, irgendwie. Vielleicht war das eine Prüfung für mich gewesen. Mit diesem Gedanken lag ich nachts wach im Bett.« (N, 24) Eine weitere Bewährungsprobe bzw. ein weiteres Störungsmoment ihrer Freundschaft ereignet sich, als Markus Nilowskys Vater in der Kneipe aushilft, während dessen Sohn erneut verschwunden ist. Nach Nilowskys überraschender Rückkehr erhebt dieser, verstärkt durch einen intertextuellen Verweis auf den biblischen Judas (Matthäus 26–27), den Vorwurf des Verrats an der Freundschaft: »Am liebsten hätte ich das Geld auf den Tresen geworfen oder auf den Fußboden. Am liebsten hätte ich gesagt: Ich bleibe! Aber ich brachte keinen Ton heraus. Die drei Mark hielt ich in meiner verkrampften, zitternden Faust. […] ›Jetzt kannst du gehen, kannst du jetzt‹, sagte Nilowsky zu mir. ›Mit deinem Lohn, geh jetzt. Los!‹ […] Ich schämte mich, warf das Geld in einen Gully und eilte in den Hausflur.« (N, 51) [Hervorh. d. Verf.]

Mittels dieses Verweises auf die biblische Figur wird bereits am Textanfang das Ende der Figurenbeziehung vorweggenommen. Denn Markus weigert sich, bei dem von Nilowsky geplanten Suizid zu helfen und verwehrt sich nicht, Carola zu einem Zeitpunkt, als diese bereits mit Nilowsky verheiratet ist, Avancen zu machen. Nimmt man dieses Verhalten von Markus genauer in den Bick, lässt sich seine Abwendung vom ›Meister‹ weniger als Verrat, sondern vielmehr als Moment der Emanzipation des Ich-Erzählers und als wichtiger Schritt seiner Selbstfindung deuten, da er allmählich in der Lage ist, die Absurdität von Nilowskys Argumentation zu durchschauen, sich von ihm nicht weiter blenden zu lassen und ihm zu widersprechen bzw. eine eigene Position zu beziehen: »Er kam dicht an mich heran, nur ein paar Zentimeter trennten unsere Gesichter voneinander. Ich roch seinen Schnapsatem. Ich ekelte mich davor. Doch ich wich keinen Zentimeter zurück. Wie zwei Boxer, dachte ich, die sich kurz vor dem Kampf noch einmal in die Augen schauen. Ich zwang mich, seinem Blick standzuhalten.« (N, 252) [Hervorh. d. Verf.].

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Betrachtet man den diegetischen Raum, dann lässt sich die Bahndammgegend am Ostberliner-Stadtrand im Schwefeldunst der Chemiefabrik als Korrelat zum Minensuchboot aus Katz und Maus fassen, wo sich die Clique um Mahlke trifft, die Jugendlichen sich inszenieren und ihre Vertrauensbeweise und Mutproben durchführen. Im Verlauf des Romans wird das Versteck am Bahndamm genauso wie die entdeckte Funkerkabine zu einem Refugium, wohin Nilowsky sich zurückziehen und vor der Polizei verstecken kann. Auf der Ebene des discours deuten das gemeinsame rückblickende Erzählen sowie die autodiegetische Erzählperspektive mit interner Fokalisierung Parallelen zwischen den Texten von Grass und Schulz an. Die vorgenommene Analyse der Beziehung zwischen Markus und Nilowsky zeigt, dass die Entwicklung eigener Sozialbeziehungen während der Adoleszenz wesentlich zur Identitätsfindung beitragen kann. Darüber hinaus ist illustriert worden, dass der Adoleszenzroman Nilowsky über die gemeinsamen stofflichen thematischen Aspekte der Adoleszenz hinaus Ähnlichkeiten zu Grass’ Novelle Katz und Maus zeigt, insbesondere bezüglich der Figurenkonzeption, sichtbar am Kontrastpaar Markus Bäcker und Reiner Nilowsky. Ähnlich wie bei Grass’ rückt auch bei Schulz’ Figurenensemble die Frage nach der Loyalität von Freundschaftsbeziehungen in den Fokus des Erzählens. Beiden Texten haftet der Tenor der Beichte an: Im Falle von Schulz’ Text sucht sich Markus durch das Erzählen von Nilowskys Geschichte von seinen Schuldgefühlen diesem gegenüber zu befreien.901

5.3.4 Zum intergenerationellen Hegemoniekampf Im Folgenden geht es darum, weitere relevante Aspekte des Individuationsprozesses der Ich-Erzählinstanz in den Blick zu nehmen und den intergenerationellen Hegemoniekampf im Figurenensemble näher zu untersuchen. Torsten Schulz lässt in seinem Text Jugendliche aus drei unterschiedlichen familiären Milieus, aus der Arbeiterklasse, der bürgerlichen Familie und den sogenannten Bonzen-Kreisen, aufeinandertreffen. Anhand dieser Figuren mit ihrer spezifischen Weltwahrnehmung werden die für die Adoleszenz typischen Konflikte illustriert. Dabei fällt zunächst auf, dass die Entwicklung von Markus, der aus stabilen familiären Verhältnissen stammt, weithin ohne dramatische Momente erfolgt, wohingegen das Heranwachsen von Nilowsky und Carola aufgrund ihrer familiären Situation tragische Züge zeigt. So sind es primär die zerrütteten Fa901 Vgl. zur therapeutischen Funktion von Pilenz’ Bericht in Katz und Maus Gansel, Carsten: Zwischen Störung und Affirmation? Zur Rhetorik der Erinnerung im Werk von Günter Grass. In: Deutsche Zeitschrift für Philologie, Sonderheft 2012, S. 173–198, hier S. 185f.

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milienverhältnisse, die Nilowskys Außenseiterrolle bedingen. Nicht allein sein Dasein als Halbwaise, sondern insbesondere die Abhängigkeit von seinem alkoholkranken Vater zeichnet seine Entwicklung vor. Nilowsky hasst seinen Vater, den er für den Tod seiner Mutter verantwortlich macht. Immer wieder muss er dessen gewalttätige Übergriffe sowie unzählige öffentliche Demütigungen ertragen, was dazu führt, dass er Mordgedanken entwickelt. So ergibt sich in Nilowskys Familie eine Grenzsituation, die einen besonders negativen, mithin traumatischen Einfluss auf seine Individuation hat. Sein Vater ist nicht in der Lage, eine generative Haltung einzunehmen, mithin eine der zentralen Voraussetzungen für die soziale Geburt seines Sohnes zu schaffen. Wie Vera King erläutert, kann das Fehlen der familialen Generativität nicht durch Erfahrungen in der Peergroup kompensiert werden. Es kann zudem dazu kommen, dass sich (auto-)destruktive Prozesse und Wiederholungszwänge (vgl. N, 102f.) einstellen, die die adoleszente Individuation erschweren oder, wie in Nilowskys Fall, sogar verunmöglichen. Dies wird etwa an seiner Liebesbeziehung deutlich. So ist Nilowsky in seiner Beziehung zu Carola oftmals überfordert (vgl. N, 125).902 Die zerrütteten Familienverhältnisse sorgen auch dafür, dass Nilowsky überlegt, den Vater umzubringen, um sich von dessen Unterdrückung zu befreien. So ist die Figur, um der Tragik ihres Daseins zu entkommen, von Beginn an genötigt, sich zu behaupten und kann kaum Vertrauen zu anderen aufbauen. Der Vater, der sich mit einer Überdosis Schnaps das Leben nimmt, kommt den Gedanken seines Sohnes zuvor. Sein Selbstmord verwehrt es dem Jungen, die gehegten Rachegefühle auszuleben oder sich auf andere Weise von ihm zu lösen. Im Erzählverlauf wird er dem Verhassten schließlich immer ähnlicher (vgl. N, 72, 169).903 Bei der Betrachtung von Carolas Familienverhältnissen fällt hingegen auf, dass ihre Eltern als typenhafte Figuren konzipiert sind: Sie werden durch Engstirnigkeit und Rückständigkeit als Kleinbürger karikiert. Ihre Zeit verbringen sie mit dem Hören alter deutscher Volkslieder wie Am Brunnen vor dem Tore. Der Vater wird als Bonze präsentiert, der auch im Privatleben als Funktionär agiert. Sein Bekenntnis zum Staat markiert er durch das Tragen eines »dunkelgrauen Anzug[es] mit dem Abzeichen der Sozialistischen Einheitspartei am Revers« 902 Zu den Auswirkungen der fehlenden Generativität seitens der Eltern vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 145. 903 Wie sein Vater entwickelt auch Nilowsky eine Alkoholsucht (vgl. N, 101f., 164, 249), arbeitet als Kellner in einer Kneipe und kommentiert fortlaufend seine Sucht. Auffällig ist, dass eine solche Figurenentwicklung auch in anderen Texten zu finden ist, in denen Erinnerungen an die DDR inszeniert werden. Ähnlich verhält es sich zum Beispiel mit Uwe Kolbes Protagonist im Text Die Lüge, in dem Vater und Sohn aufgrund ihrer disparaten ideologischen Positionen zu Beginn zunächst ein Kontrastpaar bilden und in Konflikt geraten, woraufhin sie im Textverlauf eine ähnliche Lebensform ausbilden: Beide sind unfähig, ihre Partnerschaftsbeziehungen zu pflegen und leben ihr exzessives Sexualleben auf Kosten ihrer wechselnden Partnerinnen aus.

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(N, 142) – sogar kurz vor dem intimen Liebesspiel mit seiner Ehefrau. Das intergenerationelle Verhältnis ist gestört: Die Eltern interessieren sich ausschließlich für ihre Parteifunktionen. So reflektiert Carola: »Normalerweise kümmerten sie sich nicht um mich. Schichtarbeit, Parteifunktionen, Ehrenämter. Hatten einfach keine Zeit für mich.« (N, 84) Carola verachtet sie und versucht, sich kommunikativ abzugrenzen: »Wenn ich mich mit meinen Eltern treffe, zum Geburtstag oder zu Weihnachten, nicht öfter, verwende ich so viele Fremdwörter wie möglich. Sie sind zwar Funktionäre, aber Fremdwörter kennen sie nicht. Außer ›Dialektik‹ oder ›Manifest‹. Was das bedeutet, haben sie auswendig gelernt.« (N, 206f.)

Durch die figurale Charakterisierung werden die fehlende Bereitschaft zur Reflexion seitens der Eltern und die Entfremdung zwischen den Generationen zur Sprache gebracht. Carola lehnt die gesellschaftlichen Werte und Normen, die ihre Eltern uneingeschränkt reproduzieren, ab: »Ich hatte keine Lust auf den Ernst des Lebens. Arbeit, Funktionen, Arbeit, Funktionen … Keine Lust, keine Lust, keine Lust.« (N, 84) Für die Bestimmung der distanzierten intergenerationellen Beziehung ist der Besuch von Nilowsky bei Carolas Eltern und eine damit verbundene Grenzüberschreitung entscheidend: Carola hat sich von Nilowsky und ihren Eltern zurückgezogen. Der besorgte Nilowsky versucht, von den Eltern ihren Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen. Dabei gerät er in Konflikt mit der Mutter, die sich weigert, ihm Auskunft zu geben. Aus Sicht der Mutter erfährt der Leser sodann, wie Nilowsky ihren Arm greift, umdreht und droht, sie umzubringen, um die Information über Carolas Aufenthaltsort zu erhalten. Es wird weiterhin erkennbar, dass die Mutter sich einbildet, dass Nilowsky sie sexuell zu belästigen versucht (vgl. N, 145). Die Reaktion der Eltern, die den Vorgang als »Hausfriedensbruch, Körperverletzung und […] versuchte Vergewaltigung« (N, 145) werten und zur Anzeige bringen, was polizeiliche wie rechtliche Konsequenzen für Nilowsky hat, zeigt die verstörende Wirkung seines Übergriffs. Das Beispiel illustriert, was Carsten Gansel in Bezug auf Grenzüberschreitungen während der Adoleszenz herausstellt: »[…] [sie werden] aus gesellschaftlicher, institutioneller oder auch familialer Sicht, mithin aus dem Blickwinkel von psychischen wie gesellschaftlichen (Teil)Systemen […] zunächst als Störungen im negativen Sinne wahrgenommen«904. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Aufstörung eher eine Selbstirritation der Eltern ist sowie Ausdruck ihrer Unfähigkeit, mit dem aggressiven Verhalten Nilowskys konstruktiv und deeskalierend umzugehen. Aus evolutionärer Sicht wird durch das Verhalten der Eltern und die Reaktion des Gesellschaftssystems jede Wandlungsmöglichkeit verhindert und sanktioniert, zumal Nilowsky in der Folge vier 904 Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 33.

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Jahre Gefängnishaft absitzen muss. In diesem Sinne lässt sich seine folgenreiche Gewaltausübung als Störung von besonderer Intensität bestimmen, die für Nilowsky nicht integrierbar ist. Carolas Distanz zu den Eltern wächst, als diese Nilowsky bei der Polizei anzeigen. Ihre Beziehung kühlt vollständig ab, als die Eltern sich weigern, auf die Bitte der Tochter einzugehen und von ihrer Aussage gegen den Freund abzusehen. Die wachsende Entfremdung wird in der Erzählung mittels figuraler Charakterisierung inszeniert: Aus Sicht der Tochter ist zunächst von den »Eltern« die Rede. Als sich der Konflikt zwischen ihnen zuspitzt, wählt Carola despektierliche Namen für sie wie »die Alte«, »die fette Plinse«, »die fette Tonne«, »[die] perverse Kuh«, »der alte Sack«, »die Bonzeneltern« oder auch »die Drecksäcke« (N, 227f.). Verbal wird der Riss innerhalb der Familie demonstriert. Was in Carolas Familie geschieht, lässt sich als Abbild der gesellschaftlichen Entwicklung innerhalb der DDR lesen: Mittels direkter Rede werden die Eltern in ihrer Ideologie präsentiert und als Bonzen charakterisiert, die unfähig sind, mit Neuerungen produktiv umzugehen. In ihrer Beurteilung von Jugend als »asoziales Gesindel […] [und] Schande für unsere sozialistische Gesellschaft« (N, 227) offenbart sich ihr Starrsinn und ihre Ablehnung gegenüber der Entgrenzten Generation. Auffällig ist zudem, dass die Ereignisse der Gerichtsverhandlung repetitiv bzw. dreimal aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Die Episode gewinnt durch die Lokalisierung im Gerichtssaal, einem hinsichtlich Aspekten wie Recht und Gerechtigkeit symbolisch aufgeladenen Raum, zusätzlichen Nachdruck (vgl. N, 183ff., 207, 227f.). Nilowsky gibt sich bei seiner Verhandlung selbstherrlich, offenbar gehen adoleszente Allmachtsphantasien mit ihm durch, die ein zentrales Moment der Frühadoleszenz bilden und auf ein starkes Bedürfnis nach sozialer Anerkennung unter Gleichaltrigen hindeuten: »Und Carola saß da und guckte zu Reiner. Und der guckte zu ihr, dürr wie er war, mit Riesenoogen im Knochenjesicht, und sagte zu dem Richter: ›Ich kann Ihnen gleich verraten, weshalb ich mich versteckt habe, da brauchen Sie mich nicht zu fragen, brauchen Sie nicht. Ich wollte nämlich Frau Worgitzke nicht vergewaltigen, aber umbringen, das wollte ich. Blöderweise habe ich’s nicht fertiggebracht. Aber eines Tages werde ich es tun. Werde ich! Und den Genossen Worgitzke, den werde ich zusammenschlagen und ebenfalls umbringen. […]‹ Ja, dit waren seine Worte, jenau seine Worte, und dabei guckte er immer noch zu Carola, janz offen und ruhig guckte er.« (N, 183f.)

Typischerweise ist das Bedürfnis nach sozialer Bestätigung umso stärker ausgeprägt, je unsicherer die Selbstidentität des Individuums ist. Dies berücksichtigend, lässt sich Nilowskys Verhalten als Reaktion auf die erfahrene Vernachlässigung und Misshandlung im familiären Umfeld betrachten, augenscheinlich

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sucht er mit seinem provokativen Auftritt im Gerichtssaal sein beschädigtes Selbstwertgefühl zu kompensieren.905 Im Gegensatz zu den präsentierten intergenerationalen Konflikten ist die Beziehung zwischen Markus und seinen Eltern weit weniger angespannt. Durch die Wahl seiner neuen Freunde erfüllt Markus nicht die Wunschvorstellung seiner Eltern. Es freut ihn, wenn er sie verblüffen oder irritieren kann (vgl. N, 151f.). Denn ihr Interesse gilt in erster Linie ihrer beruflichen Karriere – und im Falle von Markus’ Mutter auch außerehelichen Beziehungen. Im Verlauf der Handlung entwickelt Markus ein stärkeres Selbstbewusstsein und eine größere Unabhängigkeit von seinen Eltern. Die Veränderung dieser Bindung ist immer wieder Gegenstand seiner Reflexionen: »Ich beschloss, möglichst mein eigenes Leben zu führen, ganz gleich, wie meinen Eltern das gefiel.« (N, 141) Seine erfolgreiche schulische wie universitäre Laufbahn ermöglicht ihm eine reibungslose Entwicklung ohne nennenswerte intergenerationale Konflikte. Die Eltern eröffnen Markus den notwendigen Freiraum für seine Individuation, sodass er zum Ende des Romans von einer Versöhnung spricht (vgl. N, 162): »Ich fühlte mich zwar nicht wie die Made im Speck, aber tatsächlich hatte ich keinen Grund mehr gesehen, von meinen Eltern wegzuziehen, nachdem sie mir versichert hatten, dass es für sie eine große Freude wäre, wenn ich für die Zeit des Studiums bei ihnen wohnen bliebe.« (N, 259)

Die Analyse der Familiensituationen zeigt, dass die Modifizierung der Bindung zwischen Heranwachsenden und ihren Eltern unterschiedlich verlaufen kann, je nach Haltung der Eltern und Adoleszenten und je nach vorliegender Familiensituation. Das Erreichen einer emotionalen Unabhängigkeit von den Eltern erweist sich für die adoleszenten Figuren als komplexe Aufgabe, die zu existenziellen Spannungen führen und den Übergang ins Erwachsenenalter erschweren oder verunmöglichen kann, sofern die Eltern, wie es bei Nilowsky und Carola der Fall ist, keine angemessene generative Haltung einnehmen.

5.3.5 Zur sexuellen Initiation Zu den wichtigsten Aufgaben der Frühadoleszenz gehört die Integration des sexuell funktionsfähigen Körpers in das individuelle Selbstbild. Dieser Selbstfindungsprozess wird oft von inneren Erschütterungen begleitet, so auch im Falle des Ich-Erzählers in Schulz’ Adoleszenzroman Nilowsky. Mit der Frühadoleszenz ergeben sich körperliche Veränderungen, die in Zusammenhang mit der Ge905 An dieser Stelle wird sichtbar, wie Nilowsky sich den Gerichtssaal in demonstrativer Weise als Raum des Rechts anzueignen und für seine Zwecke zu nutzen sucht.

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schlechtsreifung stehen. Heranwachsende nehmen diese Veränderungen wahr und reflektieren sie. Nicht selten geraten sie dabei in ambivalente labile Gefühlssituationen zwischen sexueller Erregung und Schamgefühl: »Es passierte mir zum ersten Mal, dass er, ohne dass ich ihn mit entsprechender Absicht berührte, anschwoll. Sozusagen selbst. Ich schaute kurz auf meine Hose, an der sich eine Beule bildete. Sofort drehte ich mich ein Stück von Carola weg, blickte zum Bahndamm und errötete trotzdem.« (N, 108f.)

Die triebhafte körperliche Reaktion verunsichert den Ich-Erzähler. Seine Überforderung bildet ein zentrales Romanmotiv, das sinnbildlich mit den Vibrationen seines Zimmers, die durch die am Ostberliner Stadtrand vorbeifahrenden Züge verursacht werden, korreliert. So heißt es etwa: »Er [der Zug] ratterte an uns vorbei und ließ mein Zimmer vibrieren.« (N, 109) Die Irritationen des Ich-Erzählers bezüglich seiner Sexualität sind nicht nur mit den somatischen Veränderungen, sondern auch mit sozialpsychologischen Aspekten verbunden. Markus’ Entdeckung, dass seine Mutter den Vater mit einem Mozambiquaner betrügt, obwohl er »[v]or einigen Wochen […] [seine] Eltern noch wie frisch verliebt erlebt« (N, 89) hatte, verstört den Jungen und beeinflusst sein Verständnis von Sexualität. Nilowsky kommentiert die Beobachtung seines Freundes mit seiner typischen direkten und taktlosen Art: »Auch deine Mutter scheint auf Negerschwänze zu stehen?« (N, 89) Neben dieser Entdeckung sind es Nilowskys sexuelle Phantasien zur Selbstbefriedigung, die Markus verstören (vgl. N, 89f., 105, 178).906 Er versucht, Abstand zu Nilowsky zu gewinnen. Seine Verunsicherung offenbart sich in besonderer Weise, als er den Avancen Carolas ausgesetzt ist – etwa als sie ein platonisches Liebesangebot in den Raum wirft und er bei der Vorstellung eines Kusses seine sexuelle Erregung kaum verbergen kann (vgl. N, 109) oder als sie ihn sexuell provoziert: »Carola nahm meine Hände, drückte sie fest. ›Könntest du dir vorstellen … mit mir? Oder denkst du, du triffst auf einen Kirschbaum, wenn du meinen Hintern anfasst?‹ Sie legte meine Hände auf ihre Pobacken. […] ich spürte, wie sie die Muskeln ihres kleinen, runden Pos unter meinen Händen bewegte. Es erregte mich sofort […].« (N, 244)

Markus ist hin und her gerissen zwischen der Wahrung der Loyalität gegenüber seinem Freund und dem Verrat ihrer Freundschaft, zudem verunsichert ihn das Gefühl, in Carola verliebt zu sein. Gedanklich beschreibt er sein Dilemma: »Eins war klar: Ich konnte nicht mit Reiner befreundet sein und zugleich verliebt in das Mädchen, das er heiraten wollte. Ich musste diese Verliebtheit unterdrücken.« 906 Im Text werden die Gründe für Nilowskys gestörtes Verhältnis zur Sexualität angedeutet: Die freizügigen sexuellen Praktiken seines Vaters (vgl. N, 18) üben ebenso wie die grenzüberschreitenden Sexualpraktiken des Gastarbeiters Roberto einen negativen Einfluss auf seine Entwicklung aus (vgl. N, 178f.).

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(N, 129)907 Die Zerrissenheit zeigt Markus’ emotionale Belastung, unter der er trotz aller Ablenkungsversuche (darunter Wohnortwechsel, Schule, Militärdienst, Studium) leidet: »Logisch also, dass ich nicht in sie verliebt sein dürfte. Ich spürte, wie dieser Gedanke mir die Kehle zuschnürte. Wie meine Hände feucht wurden und zugleich verkrampften.« (N, 208) Mit allen Mitteln versucht er, Abstand von Carola zu gewinnen und sich aus dem Dreierbund mit Carola und Nilowsky loszusagen: »Ich musste etwas tun! Etwas, das mich mehr als bisher klarkommen ließ mit der komplizierten Situation, die so viel Unfreiheit in sich barg.« (N, 214) Trotz seiner Angst vor der Armeezeit freut er sich auf die »wirksame Ablenkung« (N, 218), um sich zu distanzieren oder, wie Carola es formuliert: »[…] einen Schlussstrich ziehen, neu anfangen und alles hinter [sich] lassen.« (N, 206) Der Antritt des Wehrdienstes bildet ein Moment der Neuprogrammierung. Gleichwohl bleiben seine Versuche, Carola zu vergessen, vergeblich und Markus kann sein Bedürfnis nach Nähe zu ihr und Nilowsky nicht einfach abschalten. Die wiederkehrenden gedanklichen Auseinandersetzungen mit der Beziehung zu den beiden offenbaren, wie stark die Situation ihn belastet. Am Beispiel von Markus kann der Leser nachvollziehen, wie schwierig es für das Individuum ist, den Aufbau reiferer Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts, es ist dies eine der adoleszenten Entwicklungsaufgaben, zu verwirklichen. Es ist sodann seine erste Beziehung mit einem Mädchen namens Martina, mit der Markus seine ersten sexuellen Erfahrungen sammelt. Er erkennt, dass er nicht nur für Carola, sondern auch für andere Mädchen Liebesgefühle entwickeln kann, was ihm dabei hilft, sich von Carola zu distanzieren. Nach anfänglicher Unsicherheit, etwa hinsichtlich des »richtigen« Küssens, rückt die Entdeckung und die Lust nach genitaler Sexualität in den Vordergrund: »Einige Wochen vergingen, in denen wir die Clique und den Schlosspark mieden, uns immer geschickter und ausgiebiger küssten und ich schließlich meine Lust, mit Martina zu schlafen, kaum mehr zurückhalten konnte.« (N, 193)

Darüber hinaus lernt Markus mit Martina, wie vergänglich das Gefühl des Verliebtseins sein kann und wie ambivalent sich die eigenen Gefühle während der Adoleszenz darstellen können: »Ich fragte mich, wo nur meine Verliebtheit geblieben war.« (N, 198) Seine emotionale Verunsicherung versucht der Ich-Er907 Markus findet durch seine Beziehungen zu Nilowsky und Carola ein Übungsfeld, um Prinzipien der Gegenseitigkeit und Perspektivenübernahme auszuprobieren. Das ist eine wichtige Erfahrung für die Konstruktion einer sozialen Rolle und die Etablierung eines eigenen Wertesystems. Hierbei manifestiert sich das von Erikson eingeführte »soziale[] Spiel«, das Heranwachsende unter anderem die Möglichkeit gibt, Beziehungskompetenzen aufzubauen und unterschiedliche Intimitätsgrade auszuprobieren. Vgl. Kapitel 2.2.3 Zur Ausgestaltung einer Individuation unter Gleichaltrigen.

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zähler mit intensivem Feiern auf Partys, mit Kneipentouren und Alkoholexzessen zu überwinden. Es wird angedeutet, dass es dabei zu seiner sexuellen Initiation kommt, als er völlig betrunken mit einer »kräftigen, blondierten Kellnerin, mit der [er] am Vorabend nach Ausschankschluss eine Flasche Wodka geleert hatte« (N, 247) im Bett landet.908 Seine Abhängigkeit von Carola lässt es jedoch nicht zu, dass er sich emotional auf andere Personen einlässt. Dementsprechend sind seine sexuellen Erfahrungen zum Scheitern verurteilt (vgl. N, 258). Nachdem Reiner schließlich aus seinem Leben verschwindet, entpuppen sich seine Gefühlsschwankungen und sein Herzklopfen als vergänglich, die Bindung zu Carola löst sich auf und verliert angesichts von Nilowskys Abwesenheit ihr Anziehungspotential: Erstaunt stellt Markus in Gedanken fest: »Von meiner Verliebtheit, die ich immer so unabwendbar und verunsichernd erlebt hatte, war nichts mehr da. Nichts!« (N, 280) Markus’ Gefühlsschwankungen sind ein typisches Merkmal für die Übergangsphase der Adoleszenz. Es sind Irritationsmomente, die auf der Schwelle zum Erwachsenendasein eine psychische Labilisierung des Individuums bewirken können. So zeigen die Protagonisten ambivalentes Verhalten und schwanken zwischen alternativen Haltungen hin und her. Insbesondere Nilowsky empfindet an einem Tag den Wunsch nach narzisstischer Abkapselung und anderntags die Sehnsucht nach einer Partnerschaft. Es kommt hinzu, dass die männlichen Protagonisten sich zwischen unterschiedlichen sexuellen Identifikationsangeboten entscheiden müssen. Die Bewunderung, die Markus für Nilowsky empfindet, schließt dabei den Leseeindruck nicht aus, dass Nilowskys Anziehungskraft nicht bloß freundschaftlicher Natur ist, sondern auch erotische Momente enthält, die Markus irritieren: »Wenn du nicht so schreckhaft wärst, würde ich dich meinen Schwanz anfassen lassen. Dann würdest du merken, was da los ist.« (N, 89f.) Markus ist mit diesem indirekt formulierten Angebot überfordert. Im Sinne von Ludwig Jäger versucht er seine Verwirrung durch ein transkriptives Verfahren der Remediation zu bewältigen. So heißt es etwa: »Einmal dachte ich daran, [meinen Eltern] von meinem Verhältnis zu Nilowsky zu erzählen, das so verwirrend intim war, dass ich nicht wusste, ob man es überhaupt als Freundschaft bezeichnen konnte.« (N, 95) [Hervorh. d. Verf.]

Der Austausch mit den Eltern sowie der offene Umgang mit Sexualität sind wichtige Voraussetzungen für das Gelingen der adoleszenten Neuprogrammie908 Kennzeichnend für die Adoleszenz ist der Versuch der Heranwachsenden, unterschiedliche soziale Rollen auszuprobieren. Dieser Prozess wird häufig durch Alkoholkonsum unterstützt. Gleichzeitig erleben Adoleszente bei ihren Aushandlungsprozessen zahlreiche Frustrationsmomente, die sie durch exzessiven Alkoholkonsum zu überwinden versuchen. Vgl. das Verhalten der Protagonisten in Jürgen Landts Der Sonnenküsser und in André Kubiczeks Skizze eines Sommers.

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rung und die Entwicklung einer angstfreien Haltung. Es geht um die Erfüllung einer wichtigen adoleszenten Entwicklungsaufgabe, die Aneignung des adoleszenten Körpers und die Erprobung der Sexualität. Am Beispiel von Carolas Eltern wird deutlich, welche Auswirkungen sich für den Individuationsprozess ergeben, wenn die Eltern keine ausreichende generative Haltung einnehmen: Stark beansprucht von ihren politischen Funktionen nehmen sie sich nicht genügend Zeit, um ihre Tochter über die sich einstellenden Entwicklungsaufgaben aufzuklären. Sie glauben, ihre beratende Funktion mit einem Buchgeschenk, einem Sachbuch zum Thema ›Sexualerziehung‹, erfüllen zu können: »Mann und Frau intim. Fragen des gesunden und des gestörten Geschlechtslebens. […] ›Das sollst du lesen. Zur Vorbereitung auf all das, was dich erwarten wird‹« (N, 84) [Hervorh. im Original].909 Die Tochter ist von dieser Ankündigung über den bald eintretenden »Ernst des Lebens« (N, 84) verstört. Aus Angst vor ihrer potenziellen Fortpflanzungsfähigkeit und konfrontiert mit möglichen Sexualstörungen, ist ihre Entdeckung des Körpers von problematischen Gefühlen behaftet. Dass Carola fortan ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität entwickelt, wird unter anderem an ihrem dreizehnten Geburtstag deutlich, an dem sie den Wunsch äußert, »nicht älter zu werden. Denn nur so konnte ich es hinkriegen, nicht in die blöde Pubertät zu kommen.« (N, 86)910 Das gestörte Verhältnis zur Sexualität scheint weiterhin durch übergriffige Erfahrungen ihres Onkels »Antatsch« konditioniert zu sein. Seine wiederholten körperlichen Berührungen offenbaren eine sexuelle Belästigung, die das elfjährige Mädchen mit Entstörungsmaßnahmen zu verarbeiten sucht (vgl. N, 123f.). Die skizzierten Irritationen zeigen wichtige Facetten des adoleszenten Entwicklungsmoratoriums, bei denen die psychische Verarbeitung der somatischen Veränderungen und die Aneignung des geschlechtsreifen Körpers in den Vordergrund rücken.

909 Der literarische Text verweist auf ein reales Buch, den erfolgreichsten Ehe- und Sex-Ratgeber der DDR, der über eine Million Mal verkauft wurde und in der DDR und im Ausland als Ratgeber zum Thema Sexualität eine große Popularität genoss. In dem Ratgeberbuch erläutert Siegfried Schnabl die Bedingungen und Probleme menschlicher Sexualität. In dem Text behandelt er verbreitete Sexualstörungen der Frau und des Mannes und liefert eine Fülle von Ratschlägen, die es dem Leser erlauben, Ansätze für die Lösung eigener Probleme zu finden. Vgl. Schnabl, Siegfried: Mann und Frau intim. Fragen des gesunden und des gestörten Geschlechtslebens. 12. Aufl. Berlin: VEB Verlag Volk und Gesundheit 1978, S. 99ff. 910 Die Angst vor dem Erwachsenwerden ist ein kennzeichnendes Gefühl für die Adoleszenz. Ähnliche Gefühle hat Jens, der Protagonist in Jochen Schmidts Schneckenmühle. Vgl. Kapitel 5.5.4 Zum Übergang von der Familie zur Kultur. Bei weiblichen Adoleszenten entwickelt sich durch die Geschlechtsreifung ein starkes Bedürfnis, den eigenen Körper zu kontrollieren, das sich unter Umständen, wie in Carolas Fall, in einer zwanghaften Kontrolle dessen, was mit ihrem Körper passiert und was sie zu sich nimmt, äußert und sich in Form einer Essstörung manifestiert. Vgl. King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 204; siehe auch Kapitel 2.2.4 Zur Spezifik der weiblichen Individuation.

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5.3.6 Fazit Zusammenfassend lassen sich folgende Aspekte herausstellen: Der unvermittelte Texteinstieg betont den spannungsvollen Charakter von erlebter Unmittelbarkeit. Die von Schulz ausgewählte Erzählinstanz eines autodiegetischen Erzählers verleiht der Darstellung zusätzlichen Authentizitätscharakter. Dies wird durch die Anwendung dialektaler sowie ideolektaler Elemente noch verstärkt. Der Einsatz einer autodiegetischen Erzählinstanz samt interner Fokalisierung stellt sich als wichtige stilistische Entscheidung heraus, denn die Innensicht ermöglicht es dem Leser, die ambivalenten Haltungen und Handlungsmotive der adoleszenten Figuren nachzuvollziehen. Durch die interne Fokalisierung gelingt dem Autor eine Darstellung, die der Komplexität der Adoleszenz mit all ihren physiologischen, psychologischen und soziologischen Facetten gerecht wird. Weitere narratologische Elemente wie die Konzeption der adoleszenten Protagonisten als dynamische Figuren tragen entscheidend zur Darstellung ihrer Identitätssuche bei. Ebenso erweist sich der intertextuelle Bezug zum Adoleszenztext Katz und Maus als kunstvolle Strategie, um die Komplexität der Identitätsfindungsprozesse und gleichaltrigen Beziehungen aufzuzeigen. Das intertextuelle Zusammenspiel mit der inhärenten Auflösung des Textes als abgeschlossener Einheit und Identität korreliert mit der Offenheit der adoleszenten Identitätssuche. Die Erinnerungen des Ich-Erzählers stellen einen Verarbeitungsversuch zur Neubewertung der Vergangenheit dar und lenken den Identitätsfindungsprozess des Protagonisten. Die zahlreichen Ellipsen zwischen den einzelnen Episoden sowie die Ungewissheit über das Schicksal Nilowskys inszenieren die für die Adoleszenz typische Offenheit bzw. Unabgeschlossenheit auf der Darstellungsebene. Angesichts der präsentierten intergenerationellen Beziehungen kann weiterhin festgehalten werden, dass die adoleszenten Figuren Carola Worgitzke und Reiner Nilowsky Figuren der Abweichung bilden, die durch ihre Handlungen und ihr Verhalten in ihrem familiären wie gesellschaftlichen Umfeld Irritationen erzeugen und ihr Umfeld bezüglich seiner Flexibilität auf die Probe stellen. Zudem wird deutlich, dass eine fehlende Generativität im familiären Umfeld den Abnabelungsprozess der Heranwachsenden erschwert und die Individuation der Protagonisten negativ konditioniert. Die bereits im Zusammenhang mit den Texten Der Sonnenküsser und Das Mädchen erörterten Schwierigkeiten einer Adoleszenz unter prekären familiären Bedingungen (Gewalt und Alkoholsucht) sowie die daraus resultierenden Figurationen weisen deutliche Parallelen zur Figur Nilowskys auf. Dementsprechend kann auch bei dieser Figur ein diffuser Identitätszustand, mithin eine Störungsdiffusion identifiziert werden, bei der der Protagonist unter den Folgen seiner traumatischen Erfahrungen, etwa dem frühen Verlust seiner Mutter und den Misshandlungen sowie der Alkoholsucht

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seines Vaters leidet. Die Entwicklung der Figur kann mit Erdheim als pathologischer Adoleszenzverlauf bestimmt werden, mithin als ausgebrannte Adoleszenz. Allerdings offenbart Schulz’ Text durch den Einbezug unterschiedlicher Familienstrukturen eine neue Dimension: Die fehlende Generativität kann, wie bei Carolas Familie, auch anders bedingt sein. Carola und Reiner vereint, dass das gesellschaftliche oder familiäre System nicht in der Lage ist, mit auftretenden Verstörungen flexibel umzugehen und sie produktiv zu machen. Die drastischen sanktionierenden Reaktionen führen in beiden Fällen zu existentiellen Krisen, die sich in der Alkoholsucht Nilowskys und im familiären Konflikt Carolas sowie in ihrer Essstörung manifestieren. Gleichwohl wird am Beispiel von Markus gezeigt, dass die Adoleszenz auch in hohem Maße ›normal‹, mithin ohne traumatische intergenerationelle Konflikte ablaufen kann. Markus empfindet keine Einengung, sondern kann unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seine Individuation erfolgreich gestalten. Die Zerrissenheit des Ich-Erzählers ist nicht ideologisch, sondern durch die Umstände seiner Pubertät bedingt. Zwar ist die Handlung in der ehemaligen DDR verortet, die beschriebenen Erlebnisse vermitteln jedoch etwas Überzeitliches, das, abgesehen von wenigen realsozialistischen Details, systemübergreifend gilt. So lässt sich mit Wolfgang Schneider Folgendes festhalten: »Die proletarische Stadtrandatmosphäre, die hier vergegenwärtigt wird, wäre Mitte der Siebziger ähnlich wohl auch im Ruhrgebiet Ralf Rothmanns zu finden gewesen, von einigen realsozialistischen Details abgesehen.«911

Kennzeichnende Merkmale der Adoleszenz wie die Auseinandersetzung mit der eigenen Unsicherheit, das Ausbilden von Freundschaftsbeziehungen, das Erleben von ersten sexuellen Kontakten und von Eifersucht sowie die Suche nach der eigenen sexuellen Identität sind zentrale Aspekte in Torsten Schulz’ Adoleszenzroman, die von überzeitlichem wie systemübergreifendem Charakter sind.

5.4

Uwe Kolbe: Die Lüge – »Das dritte Leben begann mit einem Korb«912

Uwe Kolbe präsentiert mit seinem Debütroman Die Lüge einen Text, in dem er auf verschiedene Weise Bezug auf die ›wirkliche Wirklichkeit‹ nimmt: Es sind reale Personen, darunter Franz Fühmann, Wolfgang Biermann, Konrad Wolf, 911 Schneider, Wolfgang: Coming-of-age-Geschichte in der DDR. In: Deutschlandradio Kultur. In: [letzter Zugriff am 23. 02. 2020]. 912 Kolbe, Uwe: Die Lüge. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2014, S. 141 [im Folgenden unter der Sigle »DL« mit Seitenzahl im Text].

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Peter Weiss, Frank-Wolf Matthies sowie reale Zustände und Ereignisse – Uwe Kolbes Besuch in Westberlin im Jahr 1982, die Ausbürgerung Biermanns 1976, den Vorgang um die 1981 von Brigitte Böttcher herausgegebene Anthologie Bestandsaufnahme 2. Debütanten 1976-1980 für sogenannte Nachwuchsautoren, das von Fühmann initiierte und von der Akademie der Künste beauftragte Projekt für die Anthologie junger Autoren –, die der Autor in seinem Text künstlerisch verarbeitet.913 Zum Teil verschlüsselt Kolbe die Bezüge zur außerliterarischen Welt, zum Teil integriert er sie ganz ohne poetische Verfremdung. Dabei sind es die Bezugnahmen auf reale Erlebnisse, die den Text zu einer Art Schlüsselroman werden lassen.914 Die Mischung aus Fiktionalität und Faktualität grenzt Kolbes Roman von den anderen im Rahmen der vorliegenden Arbeit analysierten Texten ab. Wie in allen ausgewählten Texten des Korpus lassen sich auch in Die Lüge Figurationen der Adoleszenz identifizieren, wenngleich sie nicht den Status einer ›systemprägenden Dominante‹ einnehmen. Ebenso spielt das Erinnern von Jugend eine zentrale Rolle für den Protagonisten, weshalb sich Kolbes Text unter Bezug auf Birgit Neumann der Gattung der fictions of memory zuordnen lässt.

5.4.1 Zu Autor und Werk Uwe Kolbe wurde 1957 in Ost-Berlin geboren. Nach dem Schulbesuch am Prenzlauer Berg und in Pankow, dem Abitur und NVA-Wehrdienst muss er mit Gelegenheitsarbeiten auskommen, bis er 1976 den Dichter Franz Fühmann kennenlernt. Fühmann wird ein wichtiger Mentor und Förderer Kolbes, der ihm unter anderem die Veröffentlichung einiger Gedichte in der DDR-Zeitschrift Sinn und Form ermöglicht. Kurz darauf wird Kolbe für seinen ersten Gedichtband Hineingeboren vom Aufbau Verlag, einem der renommiertesten DDRVerlage, unter Vertrag genommen. Franz Fühmann bezeichnet Kolbe in seinem Nachwort als einen herausragenden Dichter und formuliert 1980 die Hoffnung, er möge durchhalten, standfest sein und seine staatskritische Haltung beibe-

913 Vgl. Braun, Matthias: Die Anthologie von den jungen Leuten lässt mich nicht schlafen. In: Krätzer, Jürgen (Hg.): Franz Fühmann. Text und Kritik. H. 202/203. München 2014. S. 121– 136. 914 Johannes Franzen verweist auf den Doppelcharakter des Schlüsselromans als einen Text, der sich als Übergangskategorie zwischen fiktionalen und nicht fiktionalen Texten einordnen lässt. Bei den meisten Schlüsselromanen könne von einem Hybridcharakter gesprochen werden, der sich durch eine Mischung aus autobiographisch-privaten Bekenntnissen und einer auf Öffentlichkeit angelegten Satire konstituiert. Vgl. Franzen, Johannes: Indiskrete Fiktionen: Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960–2015. Göttingen: Wallstein Verlag 2018, S. 76ff.

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halten.915 Von 1980 bis 1981 belegt Kolbe einen Sonderkurs am Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig und arbeitet fortan als freier Autor und Übersetzer. Er beschreibt sich als »Verseschmied« und stellt die Lyrik ins Zentrum seines literarischen Schaffens. Sein Gedichtband Hineingeboren avanciert Anfang der 1980er Jahre zu einem Kultbuch in der ehemaligen DDR, das in besonderer Weise die Sprache einer neuen Generation, der Hineingeborenen Generation, abbildet. Im Jahr 1981 gelingt es Kolbe, die Kontrollverfahren der staatlichen Kulturbehörden zu umgehen und ein Gedicht mit dem Titel Kern meines Romans in der von Brigitte Böttcher herausgegebenen Anthologie Bestandsaufnahme 2. Debütanten 1976–1980 zu publizieren. Der Text ist in Form eines Kryptogramms verfasst und enthält einen geheimen staatsfeindlichen Subtext.916 Kolbes Aktion wird aufgedeckt, es folgen Konsequenzen: Die Anthologie wird aus den Auslagen der Buchhandlungen entfernt und die Bibliotheken werden angewiesen, das Gedicht unter Verschluss zu halten. Kolbe wird mit einem faktischen Publikationsverbot belegt und kann seine Texte in der DDR nur noch in kirchlichen und privaten Räumen vorstellen. Im Westen nehmen ihn die wichtigen Printmedien Anfang der 1980 Jahre als politisch-kritischen Schriftsteller wahr. Später gerät Kolbe zunehmend zu einem umstrittenen Autor.917 Neben lyrischen Texten veröffentlicht Kolbe mehrere Essaybände, in denen er sich zu seiner Poetik und seiner (DDR)-Vergangenheit äußert.918 Im Jahr 2014 erscheint sein Debütroman Die Lüge, in dem seine Beziehung zum Vater und 915 Vgl. Franz Fühmann in seinem Nachwort zu Hineingeboren. In: Kolbe, Uwe: Hineingeboren. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1980. S. 145–151, hier: S. 145. 916 Das Gedicht vertritt eine scharfe Kritik an den Funktionären, die an der Macht saßen und von ihrem antifaschistischen Widerstandkampf erzählten. Die in dem Gedicht enthaltene Botschaft lautet: »Eure Masse sind Elend. Euren Forderungen genügen Schleimer. Eure ehemals blutige Fahne bläht sich träge zum Bauch. Eurem Heldentum den Opfern widme ich einen Orgasmus. Euch mächtige Greise zerfetze die tägliche Revolution.« Vgl. Gansel, Carsten: »Meinungen sind nicht literarisch«. Gespräch mit Uwe Kolbe. In: Ächtler, Norman (Hg.): Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989-2014. Berlin: Verbrecher Verlag 2015, S. 677–687, hier: S. 686. 917 Vgl. [Verfasser unbekannt]: »Brisantes Lyrik-Rätsel« In: Der Spiegel 23/1982, Ausgabe vom 07. 06. 1982, S. 14; Winters, Peter Jochen: Der Kern des Gedichts. Eine »Panne« im Literaturbetrieb der DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 118 vom 24. 05. 1982, S. 23; die Hinweise verdanke ich der Arbeit von Katharina Deloglu: Uwe Kolbes Rezeption im literarischen Feld BRD. In: Dies.: ›Dann verlieren sich die Vorschriften des Widerstands‹ – Die Lyrik Uwe Kolbes in den literarischen Feldern der Vorwendezeit (1976-87), hier: S. 397–415. In: [letzter Zugriff am 13. 04. 2020]. 918 Kolbe, Uwe: Die Situation. Eine Geschichte von Prenzlauer Berg. Göttingen: Wallstein Verlag 1994, Kolbe, Uwe: Renegatentermine. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, Kolbe, Uwe: Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe. Göttingen: Wallstein Verlag 2011, Kolbe, Uwe: Mein Usedom. Hamburg: mareverlag 2014.

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Erinnerungen an die ehemalige DDR in den Fokus rücken. Bereits in dem Essay Die Sache mit V. reflektiert Kolbe seine familiäre Situation und führt in den Generationenkonflikt, den er in Die Lüge vertieft, ein. In Die Sache mit V. heißt es: »Wenn ich ihn besuchte, stritten wir wie immer. Er nannte mich dann einen, der der RIAS-Propaganda aufsäße. Ich nannte ihn dann einen Stalinisten.«919 Kolbe und sein Vater geraten aufgrund ihrer politischen Auffassungen permanent in Konflikt. Ihre ideologischen Positionen sind so weit voneinander entfernt, dass eine Verständigung nicht möglich ist. Kolbe beschreibt die problematische Beziehung in dem Essay wie folgt: »Wir haben eine Geschichte miteinander, die kein Miteinander ist. Wir haben im selben deutschen Nachkriegsstaat gelebt, aber wir haben ihn nicht als denselben erlebt.«920 Zwar teilen sie denselben historisch-sozialen Lebensraum, partizipieren jedoch auf unterschiedliche Weise an gemeinsamen Schicksalen und verarbeiten diese auch auf eigene Weise.921 Kolbes Essay Die Sache mit V. greift Hans Joachim Schädlichs Titel Die Sache mit B. auf und thematisiert die Bespitzelung des Protagonisten durch den Vater. Bis zum Ende des Textes entzieht sich das Verhältnis von Vater und Sohn einer konkreten Bestimmung. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass Vater und Sohn »[i]m besten Falle Vorlagen [sind], eine Geschichte zu erzählen. Die würde im 20. Jahrhundert spielen und wäre vollständig zu erzählen.«922 Mit dem Roman Die Lüge liefert Kolbe sodann die vollständige Geschichte. Der Autor stellt heraus, dass ihm das Thema des Romans vom Kern her lange aufgegeben gewesen sei.923 Zur Präfiguration der Geschichte gehören neben Kolbes familiären Erfahrungen und seiner beruflichen Entwicklung als Lyriker in der DDR auch die Erfahrungen seiner Eltern, insbesondere des leiblichen Vaters, der in der Rolle des hauptamtlichen Führungs-IM als Kulturaktivist tätig ist und seinen Sohn bespitzelt. Die Verarbeitung von Autobiographischem ist für den »Dringlich-

919 Uwe Kolbe: Die Sache mit V. In: Huberth, Franz (Hg.): Die Stasi in der deutschen Literatur. Tübingen: Attempto Verlag 2003, S. 151–155, hier: S. 153. 920 Ebd., S. 154. 921 Vgl. Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: Wolff, Kurt H. (Hg.): Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Berlin/Neuwied: Luchterhand 1964, S. 544. 922 Kolbe, Die Sache mit V. 2003, S. 155. 923 Vgl. Luisier, Michael: »Die Lüge« von Uwe Kolbe. Uwe Kolbe im Gespräch mit Michael Luisier in der Sendung 52 Beste Bücher vom 16. 03. 2014 in SRF2. In: [letzter Zugriff am 01. 09. 2020]; Kolbe bedient sich einer Doppelstrategie. Durch die Essays und diverse Epitexte in Form von Interviews verweist er auf textuelle Faktualitätssignale. Gleichwohl wird der Text mit einem paratextuellen Hinweis als Roman in der Öffentlichkeit präsentiert und dementsprechend mit einem fiktionalen Geltungsanspruch verknüpft. Zur Strategie der Autoren von Schlüsselromanen vgl. Franzen, Indiskrete Fiktionen: Theorie und Praxis des Schlüsselromans. 2018, S. 82.

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keitscharakter« des Textes entscheidend, wie Kolbe in mehreren Interviews darlegt.924

5.4.2 Zur Poetologie In seinen Essays markiert Kolbe ausführlich seine poetologischen Positionen. So heißt es etwa: »Ich für meinen Teil leiste mir den Luxus der Erinnerung, des Grabens und des Heraufholens so lange, bis die Bilder sprechen, ja ich empfinde diese Langsamkeit als Konstituens meiner Arbeit, meiner Teilfunktion, um es mit Gottfried Benn zu sagen.«925 In einem langsamen Prozess »des Grabens und des Heraufholens« sucht der Autor nach einer angemessenen Sprache, um seine Erinnerungen literarisch zu verarbeiten und formuliert ein Programm, das das Erinnern als zentrales Moment seines Schreibens bestimmt. In dem Essay Vinetas Archiv. Aus persönlichen Beständen erörtert Kolbe seine Auffassung von Literatur und verweist auf die im Sinne von Foucault wichtige Funktion der Literatur als contre-mémoire.926 An diesem Punkt laufen persönliche und kollektive Erfahrung zusammen: Denn Kolbe empfindet das Schreiben als Reaktion auf ein selektives Geschichtsverständnis, auf die Tilgungsversuche von Geschichte und als Antwort auf das Schweigen der Großvätergeneration. Aus Perspektive der kulturwissenschaftlichen Erinnerungstheorie lässt sich Kolbes Schreiben als Mittel gegen das dominierende kulturelle Gedächtnis beschreiben, dessen Ziel es ist, »die vermeintlich einzige hegemoniale Vergangenheitsdeutung kritisch zu perspektivieren«927. Kolbe setzt sich mit dem in der Gesellschaft existierenden Machtkampf um die Deutungshoheit von Erinnerung auseinander und verweist auf die Notwendigkeit des Selektierens für die Bildung des kulturellen Gedächtnisses: »Unser [kollektives – der Verf.] Gedächtnis gleicht einer Arena, in der die Erinnerungen aufeinander losgelassen werden. Hier und da behauptet ein Jemand oder eine Körperschaft Deutungshoheit. Erinnerungen werden angezweifelt. Manchmal werden sie aus dem Kanon des Erlaubten ausgeschlossen, eine Zeitlang gemieden oder mundtot gemacht.« (VA 19)

924 Vgl. ebd. 925 Kolbe, Uwe: Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe. Göttingen: Wallstein Verlag 2011. S. 54. 926 Kolbe, Uwe: Vinetas Archiv. Aus persönlichen Beständen. In: Ders.: Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe. Göttingen: Wallstein Verlag 2011. S. 19–32 [im Folgenden unter der Sigle »VA« mit Seitenzahl im Text]; zum Begriff des Gegengedächtnisses vgl. Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 113. 927 Ebd.

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Im Einklang mit Positionen des Geschichtstheoretikers Jörn Rüsen weist Kolbe darauf hin, dass Erinnerung im »Widerspiel von Interessen und Machtkämpfen aufgeht und ein wesentliches Stück praxisregulierender Kultur darstellt«928. Carsten Gansel spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »Streit um die Deutungshoheit von Erinnerung […, von einem] Kampf um die jeweilige Bewertung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«929. Demnach werden Erinnerungskonzepte, die keine Hegemonie erlangen, aus dem dominierenden kollektiven Gedächtnis ausgeschlossen. Aleida Assmann differenziert innerhalb des kulturellen Gedächtnisses »zwei Schichten, die sich als Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis einander gegenüberstellen lassen«930. Im Funktionsgedächtnis werden nur jene Artefakte aufgehoben, »die durch gesellschaftliche Selektionsprozesse der Kanonisierung durchgegangen sind«931, so Assmann. In Anlehnung an Assmanns Erinnerungstheorie verhandelt Kolbe in seinem Essay den Selektionsprozess von Erinnerungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt keine Majorität genießen und demzufolge in das sogenannte Speichergedächtnis ausgelagert werden. Nach Assmann werden die Wandlungsfähigkeit und »Erneuerungskraft des kulturellen Gedächtnisses«932 durch einen fließenden Übergang zwischen dem Speicher- und dem Funktionsgedächtnis gewährleistet. Bezugnehmend auf Assmann, verweist Kolbe auf die Möglichkeit, dass die im Speichergedächtnis ausgelagerten Erinnerungen an die Oberfläche geraten können, um eine (neue) Aufführung, Lektüre oder Deutung zu erfahren. Kolbe assoziiert diese Erinnerungen mit »Bilder[n, die] in Kisten und Kasten aufbewahrt wurden« (VA, 20) und zu einem späteren Zeitpunkt unter einem neuen Blickwinkel ans Licht treten. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, ausgelagerte Erinnerungskonzepte in das Funktionsgedächtnis einzuspeisen. Der dynamische Charakter des Funktionsgedächtnisses bzw. das dem kulturellen Gedächtnis inhärente »Spannungsverhältnis von Erinnertem und Vergessenem«933 ermöglicht es, so Kolbe, dass eine »Nation, eine Generation, eine Familie […] irgendwann einen Schluckauf oder stärkere Konvulsionen [bekommt], wodurch 928 Rüsen, Jörn: Geschichtskultur. In: Bergmann, Klaus (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber: Kallmeyer 1997, S. 38–41, hier: S. 38f. 929 Gansel, Atlantiseffekte in der Literatur? 2010, S. 18f.; bei dem Text Die Lüge geht es unter anderen um die Bewertung der Dissidenten-Szene im Prenzlauer Berg. Bezüglich der Bewertung der DDR-Vergangenheit wird vor allem seit 2009 im öffentlichen Diskurs eine kontroverse Diskussion um die Frage geführt, ob die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet werden darf. Vgl. Sabrow, Martin: Die DDR erinnern. In: Ders. (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2010, S. 9–25, hier: S. 19f.; Sack, Hilmar: Geschichte im politischen Raum: Theorie, Praxis, Berufsfelder. 1. Aufl. Tübingen: A. Francke Verlag 2016, hier: S. 62f. 930 Assmann, Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 189. 931 Ebd. 932 Ebd., S. 190. 933 Ebd.

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Erinnerungen ausgeworfen werden und an die Oberfläche gelangen zu erneuter Anschauung, wenn nicht überhaupt das erste Mal.« (VA, 19) Dadurch können Erinnerungsorte und -momente, die aus dem Kanon des Erinnerten vertrieben worden sind, zur Diskussion gestellt werden. Mittels der Erinnerung bzw. der »Macht der Mnemosyne« (VA, 32) vermag der Autor, die »Geschichte […] mit jeweils besonderen Mitteln aufzuheben« (VA, 19). Es sind die Mittel der literarischen Fiktion, auf die Kolbe abzielt, um das kulturelle Gedächtnis zu aktualisieren.

5.4.3 Zum Inhalt Im Roman Die Lüge wird der Lebenslauf des Ich-Erzählers und seines Vaters in parallel geführten Erzählsträngen dargestellt. Die Ereignisse um den Vater werden durch eine heterodiegetische Erzählinstanz rückblickend und achronologisch präsentiert. Beim Ich-Erzähler handelt es sich um einen jungen hoffnungsvollen Komponisten von avantgardistisch geprägter E-Musik, der von den Kulturbehörden gefördert wird und sich als Kolbes Alter Ego deuten lässt. Die Vaterfigur ist ebenso wie der Vater des Autors ein überzeugter SED-Anhänger, der für die Staatssicherheit und im Kulturbereich der DDR tätig ist. Die Figur liefert unter anderem Berichte über die Entwicklungen in der Musikszene, in der der Ich-Erzähler verkehrt. Die Anlage der Figuren folgt mit der Rivalität zwischen Vater und Sohn dem Figurenschema Held–Antiheld. Am Beispiel der Figuren wird ein Konflikt zwischen den Generationen bzw. der politischen Führung der DDR und der sogenannten Dissidenten-Kunstszene entwickelt. Abgesehen von ihrer ideologischen Distanz weisen Vater und Sohn in Bezug auf ihren Umgang mit dem anderen Geschlecht Ähnlichkeiten auf: Scheinbar beliebig wechseln beide ihre Partnerinnen, die sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zu bloßen Objekten ihrer sexuellen Begierde reduzieren. So ist es die ausgeprägte Libido der männlichen Hauptfiguren, die ihr freizügiges Handeln bestimmt. Das kontinuierliche Kräftemessen zwischen Vater und Sohn äußert sich schließlich in einem erotischen Machtkampf, der durch exzessiven Alkoholkonsum intensiviert wird und irritierende Züge annimmt: Immer wieder gehen die Figuren neue Ehen ein, lassen sich wieder scheiden und zeugen zahlreiche Kinder, die sodann den Müttern überlassen werden. Neben den wechselnden Liebesbeziehungen zeichnet sich der Ich-Erzähler durch seine Kompositionen und künstlerischen Provokationen, durch sein ausgezeichnetes Gehör und seine autodidaktische Herangehensweise aus, womit er es in der Dissidenten-Kunstszene zu Ansehen bringt. Alles, was um ihn herum ertönt, erzeugt leidenschaftliche Empfindungen oder stößt ästhetische Erlebnisse an, die er in seinen Werken in Form eines »Soundstrudel[s]« (DL, 65) fixiert. Zwar wird der junge Künstler in der Szene

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verehrt, er kann mit dem Erfolg jedoch nicht adäquat umgehen: Sukzessive verliert seine künstlerische Entwicklung zugunsten seines ausschweifenden Sexuallebens an Bedeutung. Auch seine Lügen und der von ihm begangene Verrat bestimmen zunehmend sein Verhältnis von Kunst und Macht und beeinflussen seine intimen Liebesbeziehungen. Im Verlauf des Romans wird deutlich: Für die Protagonisten ist in einer als grau beschriebenen Welt, in der Menschen ihre Meinungen verbergen und ihre offiziellen Funktionen verleugnen müssen, das eigene Glück am wichtigsten. Die Vater-Sohn-Rivalität reduziert sich zum Ende des Romans schlichtweg auf die Eroberung von Frauen. Sie erreicht ihren Höhepunkt, als der Sohn erfolgreich um die Favoritinnen des Vaters buhlt und beide Figuren in der Rolle des Ich-Erzählers aufgehen.

5.4.4 Zum intergenerationellen Hegemoniekampf Kolbe bedient sich in seinem Roman mehrerer Verfremdungsverfahren, um die Spuren des Autobiographischen zu verwischen. Auf der Ebene der histoire nutzt der Autor eine literarische Vorlage, das älteste germanische Heldenlied, um das Figurenensemble zu entwickeln: die Rivalität zwischen Vater und Sohn. Demnach heißt der Vater Hildebrand Einzweck, genannt Hinrich, und der Sohn Hadubrand Einzweck, genannt Harry. Es gelingt Kolbe, mit dieser Namensgebung eine archaische Grundierung aufzubauen und das autobiographische Material zu fiktionalisieren. Dem Leser wird jedoch die Notwendigkeit der Bezugnahme auf die Mythologie lediglich angedeutet, ein Bezug im Roman findet sich nicht, sodass sich der intertextuelle Bezug im realexistierenden Konflikt zwischen Vater und Sohn erschöpft. Bei genauerer Betrachtung der Figuren fällt auf, dass sich die Protagonisten abgesehen von ihren politischen Differenzen in ihrer Lebensweise ähnlich entwickeln. Dazu heißt es im Roman: »Meinem Alten war ich in meinem Dämmerzustand nah. Er war bei mir, weil ich gewissermaßen in seiner Spur rollte, seinem Streben nachstrebte, seinen Wünschen, die mir einleuchteten.« (DL, 297). Auf der Ebene des discours manifestiert sich die Dichotomie zwischen den Figuren insofern, als zwei verschiedene Erzähler, ein autodiegetischer und ein heterodiegetischer, eingesetzt werden, die die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven vermitteln. Die Figuren bilden sinnbildlich die disparaten Generationen mit ihren jeweiligen Wertvorstellungen ab: zum einen die Aufbau-Generation und zum anderen die Entgrenzte Generation.934 Aus Sicht des autodiegetischen Ich-Erzählers wird der Generationenkon934 Nach dem Generationsmodell von Thomas Ahbe und Rainer Gries zur Analyse der DDR-Geschichte handelt es sich bei der Aufbau-Generation um Menschen aus den Jahrgängen 1925-1932, die sich sozialistisch für das ›Große Ganze‹ einsetzten und in der DDR

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flikt präsentiert. Mittels Dialogen gibt der Autor Einblicke in die Subjektivität des Vaters, wodurch die Grenzen des autodiegetischen Erzählers gedehnt werden. Die Vaterfigur bedient sich im Figurendialog einer communal voice, womit er für die Aufbau-Generation spricht und ihre Errungenschaften hervorhebt: »›Was ihr so redet, du und deinesgleichen. Ihr wisst ja nichts. Du [der Sohn – der Verf.] wärst unter den alten Verhältnissen nicht an der Oberschule, also am Gymnasium. Wenn wir nicht die Macht übernommen hätten, würden hier ringsum weiter die Junker herrschen.‹ Ich schaltete ab, während wir schärfer wurden, mitten im Streit.« (DL, 15) [Hervorh. d. Verf.]

Zudem kommentiert der heterodiegetische Erzähler die Haltung des Vaters, der sich als überzeugtes Mitglied der Einheitspartei für das Projekt des Sozialismus einsetzt. Er nutzt die sogenannte langue de bois, die sich durch einen wir-und-unser-Stil auszeichnet und auf das Erzeugen des Eindrucks von Gemeinsamkeit und Konformität abzielt:935 »Hinrichs Wir war übrigens ein handfestes. Es umfasste zwar sicher die Einheitspartei, auch die Staatsbediensteten und die herrschende Regie der alten Antifaschisten, doch im engeren Sinne diejenigen, die das Projekt des Sozialismus voranbrachten. In diesem Wir fühlte er sich am Platz. ›Right or wrong my country!‹ war sein Wahlspruch, den er gern und oft zitierte. Der bezog sich auf die Heimat, für die er sich entschieden hatte. Und das Wir, als dessen Teil er sich und seine unermüdliche Arbeit betrachtete, das umfasste seine Kompatrioten im Reich der Arbeitspartei.« (DL, 209) [Hervorh. d. Verf.]

Aus der Perspektive des Vaters findet eine militante Einteilung der DDR-Bevölkerung statt: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die bereit sind, ihre »Arbeitskraft dem Aufbau des Sozialismus zur Verfügung zu stellen« (DL, 94f.) und als »durchaus kritische Genossen mit Begeisterung und Strenge, ohne Wenn und Aber für das Projekt Sozialismus [kämpfen]« (DL, 146), auf der anderen Seite stehen diejenigen, die noch von der Idee des Sozialismus überzeugt bzw. dafür gewonnen werden müssen.936 Ausgehend von diesem marxistisch-leninistisch geprägten binären Denken werden die Bürger in sogenannte Oppositionspaare eingeteilt, wobei für den heterodiegetischen Erzähler plurale Übereinen sozialen Aufstieg erleben. Im Gegensatz dazu zeichnen sich die Mitglieder der Entgrenzten Generation durch eine pragmatische und hedonistische Haltung und ihre Abwendung von der DDR aus. Dazu gehören die Menschen aus den Jahrgängen 1960-1972. Vgl. Ahbe/Gries, Geschichte der Generationen. 2011, S. 24, 58, 79. 935 Vgl. Gansel, Christina/Gansel, Carsten: Aspekte der deutschen Sprache in der DDR als Unterrichtsgegenstand. In: Deutschunterricht 46 (1993) H. 3, S. 140–151, hier: S. 148. 936 Sowohl Vater als auch Sohn verhalten sich in einer Weise, die zu DDR-Zeit üblich war. Christina und Carsten Gansel verweisen auf die Folgen des dualen Denkens und dessen Auswirkungen auf den DDR-Sprachgebrauch, nämlich die Entstehung von FreundFeind-Bildern, die Einteilung in Gut-Böse-Schemata und den Ausschluss von Denkfiguren, die Pluralität berücksichtigen. Vgl. ebd., S. 146f.

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gangspositionen nicht in Frage kommen. Im Gegensatz dazu vertritt der autodiegetische Erzähler häufig die Generation der Entgrenzten, die sich in der sozialen Sicherheit der DDR der 1970er Jahre eingerichtet hat, mit der Ideologie der Partei jedoch nicht mehr identifiziert. Mittels communal voice werden »die Erlebnisse einer spezifischen Erinnerungsgemeinschaft« aktualisiert, wobei der Ich-Erzähler »als autorisiertes Sprachrohr einer Gemeinschaft gruppenkonstitutive Erfahrungen und Werte«937 artikuliert: »Über Geld dachten wir nie nach. […] Geld spielte keine Rolle. Festmieten und Festpreise für Brot und Bier waren von Staats wegen heilige Kühe, auf die wir uns verlassen konnten, über die wir nicht nachdachten. Dass ich ›wir‹ sagte und dachte, war übrigens selbstverständlich, und es meinte niemals nur Rebbeka, den kleinen Blonden im Gitterbett und mich.« (DL, 69) [Hervorh. d. Verf.]

Das Zitat illustriert, dass auch der autodiegetische Erzähler in dialektischen Kategorien denkt. Aus seiner Perspektive findet eine Einteilung der Bevölkerung in folgende Gruppen statt: in die Freunde, die er als »Trinkeropposition« (DL, 150) bezeichnet, und die Feinde. Die sich zwischen der »Trinkeropposition« und denen »da oben« auftuende Kluft hält der Ich-Erzähler für unüberbrückbar. Durch den Einsatz einer kollektiven Stimme bringt er die gruppenkonstitutiven Erfahrungen der »Trinkeropposition« zum Ausdruck: »Freund, […] sofort wurde aus jeder Begegnung Freundschaft. Man sah sich, wurde miteinander bekannt gemacht durch einen, der ein Freund war, und schon sagte der eine zum anderen und über den anderen: mein Freund. […] Jenseits des Reichs der Freunde, das größer und größer wurde, hätte es die Feinde durchaus gegeben, gab es sie, insbesondere die da oben, das waren die größten Feinde. Aber wir sagten es nicht. Wir sagten: die! Meist vermieden wir jedoch […] die anderen überhaupt zu benennen.« (DL, 149f.)

Mit Blick auf die Frage nach der Entwicklung des Generationenkonflikts lässt sich ergänzen, dass dessen Überwindung bereits durch das Motto des Buches, das eine Wiedervereinigung beider Parteien in Aussicht stellt, angedeutet wird. Entsprechend heißt es: »dort drüben bracht ich meine jugend auf den grund und gattete mich mit dem schatten meines vaters.«938 Auf der Ebene des discours wird die Aufhebung des Konflikts durch die Vereinheitlichung der Erzählperspektive

937 Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 161. 938 Hilbig, Wolfgang: prosa meiner heimatstraße. In: Wolfgang Hilbig: Werke. Gedichte. Hrsg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Frankfurt/Main: S. Fischer 2008, S. 238– 263, hier: S. 261. Das Gedicht entstand in der Zeit des politischen Umbruchs in der DDR. Es geht um die Rückkehr des lyrischen Ichs in seine Heimat, in seine Vergangenheit oder, wie es im Gedicht heißt, in die »asche, schattenwelt der asche …«. In dieser Hinsicht blicken das lyrische Ich und der autodiegetische Erzähler auf ihre Vergangenheit.

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am Ende des Textes suggeriert. Als ob beide Generationen mit einer Stimme sprechen würden, heißt es dort: »[Vater: – der Verf.] Was für ein Gefühl, an der richtigen Stelle zu sein. Viele hatten das Zeichen unserer Einheitspartei am Revers wie ich. Das war ein Heimspiel […] Heute war heute. Ich liebte. Da saß sie, meine junge Frau im Kreis von Freundinnen und Verwandten, […] saß da mit der Kugel von einem Buddhabauch. Achter Monat. Ich freute mich auf das Kind. Da stand Harry in der Stubentür. Ich sagte: ›He, immer herein in die gute Stube. Darf ich vorstellen? Mein Großer, der Komponist Hadubrand Einzweck.‹ Er wurde rot wie früher als Kind. […] Er machte die Runde. Ich war stolz, was hier für einer von meiner Seite kam. Er war sowieso der Einzige. [Sohn: – der Verf.] Ich hatte nichts gesehen, als sie mich zur Stubentür durchgeschoben hatten, nichts außer ihrem Blick. Es war dumm, aber mir stieg die Wärme die Wangen hoch. Sie saß da, ich ging durch den Raum, gab ihr die Hand, gratulierte laut den beiden zur Hohen Zeit, machte einen Spruch daraus, verlegen, wie ich war. […] Ich gab brav Pfötchen.« (DL, 375f.)

Auf der Ebene der histoire wird die Annäherung der Rivalen durch die dynamische Konzeption der Figur Hadubrands verdeutlicht: Am Ende des Textes wird offenkundig, dass Vater und Sohn einander ähneln – ein jeder gibt sich als »echter Frauenschwarm« (DL, 337). Aus dem rebellischen Sohn wird ein braver verlegener Nebenbuhler, der sowohl mit der Geliebten als auch mit der hochschwangeren Ehefrau seines Vaters ein Stelldichein hat. Ein halbes Jahr nach dem Tod des Vaters heiratet er die Witwe Roswitha und erkennt den noch ungeborenen Sohn des Vaters als seinen eigenen an. Hadubrand tritt symbolisch an die Stelle des Vaters. Wie zuvor der Vater offenbart nun er Beate Brinkmann, der Geliebten des Vaters, seine Sorgen und Probleme und wird von ihr sexuell getröstet. Erst nach der Begegnung mit Beate, bricht der autodiegetische Erzähler sein Schweigen und geht selbstkritisch mit seiner Generation ins Gericht. Entsprechend heißt es: »Es lag an dem Schweigen. Ich lebte in einem Kokon des Ungesagten. Unter uns herrschte ein grausamer Mangel an Konkretion! […] Wir sagten nichts aus, nichts, verdammt noch einmal, gar nichts.« (DL, 365) Auch Gregor Dotzauer stellt in seiner Rezension von Kolbes Roman die Auswirkungen der »stillschweigenden Kooperation«939 zwischen Vater und Sohn heraus und hinterfragt die Glaubwürdigkeit der Dissidenten-Haltung: »Auf das Verhalten in autoritären Strukturen angewandt, macht diese Kollusion die strikte Trennung von Dissidenz und Konformismus fragwürdig.«940 Die Charakterisierung der Protagonisten erfolgt auch durch den diegetischen Raum. Die von Kolbe vorgenommene Semantisierung des Schauplatzes der 939 Dotzauer, Gregor: Uwe Kolbes Roman »Die Lüge« - Die Lachnummer Wahrheit. In: Der Tagespiegel vom 19. 02. 2014. In: [letzter Zugriff am 11. 04. 2020]. 940 Ebd.

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Geschichte verdeutlicht die spezifische Wahrnehmung der Protagonisten von der Außenwelt, die als die »heruntergekommenste[]« und als »porös[]« (DL, 66) beschrieben wird. Die moralische Verkommenheit der Protagonisten, die vor allem an ihrem »massiven Frauenverschleiß«941 und ihrer Gleichgültigkeit anderen Menschen gegenüber sichtbar wird, korreliert mit der vom Verfall betroffenen Gegend.

5.4.5 Zum adoleszenten Verhalten Hadubrands Es ist für die Adoleszenz kennzeichnend, dass der Heranwachsende sich »durch freies Rollen-Experimentieren […] in irgendeinem der Sektoren der Gesellschaft seinen Platz sucht«942. Im Zuge der Adoleszenz grenzen sich Heranwachsende wie Hadubrand Einzweck von ihren Eltern und anderen Gleichaltrigen ab. In einem bestimmten Milieu setzen sich Jugendliche in Szene und handeln neue soziale Rollen(bilder) mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten aus. In Kolbes Roman Die Lüge ist die Handlung in der Künstler- und Dissidentenszene des Prenzlauer Bergs verortet. Dort kann die adoleszente Figur spielerisch und relativ frei von Verantwortung handeln. Eingerichtet in einer kommoden Gesellschaft, in der die Selbstversorgung durch den Staat garantiert wird, wählt Hadubrand eine hedonistisch-konsumative Lebenshaltung, experimentiert mit seiner Kunst und nutzt sein Künstlerdasein, um soziale Anerkennung zu erlangen und mit Frauen in Kontakt zu treten. Gleichwohl übt er in seiner rückblickenden Darstellung an der Selbstgefälligkeit und am Dilettantismus der Künstlerszene Kritik. Nachträglich resümiert der autodiegetische Erzähler: »Ich begann mein Vokabular aufzublasen. Ich redete überschwänglich drauflos wie die meisten in der Szene.« (DL, 151) In Form einer personal voice vermittelt das gegenwärtige erzählende Ich das promiskuitive Verhalten des vergangenen erlebenden Ichs: »Mir sagte man in dieser Zeit etwas nach, ein notorisches Missbrauchen meines Erfolgs, dass es keinen Auftritt ohne ein fremdes Bett danach gäbe, dergleichen.« (DL, 153) Sein freizügiges und libidinöses Verhalten offenbart seine gesteigerte Suche nach sozialer Bestätigung. Es kann als unverbindliches Experimentieren einer sexuellen Rolle, nicht jedoch als Übernahme einer »Position eigentätiger, eigensinniger und selbstverantworteter ›Erzeugenschaft‹«943 gefasst werden. Immer wieder weigert sich Hadubrand, Verantwortung für sein sexuelles Handeln zu übernehmen – er kümmert sich weder um Verhütungsmaßnahmen noch um den 941 Luisier, Michael: Uwe Kolbe: »Die DDR-Lüge beginnt bei Brecht« [letzter Zugriff am 01. 09. 2020]. 942 Erikson, Identität. 1973, S. 137. 943 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 71.

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Aufbau einer emotionalen Bindung zu seinen Kindern. Die Frage nach der Verhütung gibt Hadubrand ganz in die Hände seiner wechselnden Geschlechtspartnerinnen. Er stellt heraus: »Ich hatte kein Kind gewollt. Das hatte ich ihr gesagt, als wir begannen, täglich miteinander zu schlafen […].« (DL, 102) Auch den Fragen zur Erziehung und Begleitung seiner Kinder entzieht sich Hadubrand. Der Ich-Erzähler erinnert das Verhalten des (Post)Adoleszenten und seine fehlende generative Haltung rückblickend durchaus kritisch und stellt heraus, wie er fünf Jahre nach der Geburt seines zweiten Kindes seinen Sohn kennenlernt, bevor dieser mit seiner Mutter in die Bundesrepublik ausreist: »Ein Kind, von dem es hieß, es sei meins, wollte mich kennenlernen, ein kleiner Junge.« (DL, 100) Hadubrands Verhalten lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass für ihn die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung im Zentrum seines Interesses steht und er weder Prinzipien der Gegenseitigkeit noch die Fähigkeit der Perspektivenübernahme entwickelt hat. In seinem Individuationsprozess werden wichtige Entwicklungsaufgaben, die mit dem Erwerb von sozialen und moralischen Kompetenzen zusammenhängen, konsequent vernachlässigt. Folglich bildet Hadubrand keine Bindungsfähigkeit aus. Die Unverbindlichkeit und Unzuverlässigkeit seiner sexuellen Praktiken entspricht primär der Norm im psychosozialen Moratorium. Bezüglich der Frage, ob der Protagonist die natürliche Funktion von Jugend als »Avantgarde einer sozialen, politischen und kulturellen Evolution«944 erfüllt und ob er die Verantwortung für einschneidende gesellschaftliche Veränderungen übernimmt, lässt sich Folgendes beobachten: Mit seiner Kunst kann Hadubrand punktuell für Aufstörungsmomente sorgen. Die Einladung zur Teilnahme an einer musikalischen Anthologie nutzt er, um die Kulturbehörde zu irritieren und »die Arbeitermusik der frühen Jahre des antifaschistischen Kampfes durch den Kakao« (DL, 230) zu ziehen.945 In einer spontanen nächtlichen Aktion komponiert er ein Stück mit dem Titel Stern meiner Jugend, bei dem er zwei kanonisierte Lieder ins Lächerliche zieht: Brüder zur Sonne, zur Freiheit und Wann wir schreiten Seite an Seit.946 Durch seinen Umgang mit dem kultu944 Angelehnt an Mario Erdheim verweist Gansel auf die natürliche Funktion von Jugend als »Avantgarde des Individuums«, um soziale, politische und kulturelle Denormalisierungsprozesse zu initiieren. Vgl. Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2010, S. 165; Erdheim, Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit. 1996, S. 86. 945 Die erdachte musikalische Anthologie und die damit zusammenhängenden Ereignisse sind eine verschlüsselte Darstellung des Vorgangs um die 1981 von Brigitte Böttcher herausgegebene Anthologie Bestandsaufnahme 2. Debütanten 1976-1980. Mit seinem Gedicht Kern meines Romans verursachte Kolbe einen Eklat im Literaturbetrieb der DDR (vgl. DL, 219f.). 946 Bei dem Titel Brüder zur Sonne, zur Freiheit handelt es sich um das meistgesungene Lied aus der Arbeiterbewegung, das als ein zentrales staatliches Symbol in der DDR-Zeit galt und mit einem entsprechend großen symbolisch-politischen Kapital aufgeladen war. Das Lied hatte einen festen Platz auf den Parteiversammlungen der Sozialistischen Einheitspartei

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rellen Gedächtnis offenbart Hadubrand seine Lust an der Selbstdarstellung und Provokation. Er erzeugt gezielt Irritationen und grenzt sich von der Arbeitertradition der DDR ab, wobei er eine Generationsdifferenz markiert. Es handelt sich hierbei um ein Moment der Selbstverortung, die mit einer für die Adoleszenz typischen grenzüberschreitenden Handlung inszeniert wird, um die eigene Wirkmächtigkeit zu prüfen. Seine Provokationen führen zu zwei Vorladungen, bei der obersten Musikbehörde und dem Schallplattenproduktionskombinat, die ihn mit besonderem Stolz erfüllen: »Ich war stolz auf diese Vorladungen. Für mich war das Wirkung von Musik in gegebener Gegend unter gegebenen Umständen.« (DL, 220f.) Seine Reaktion auf die Vorladungen entspricht jedoch nicht mehr der rebellischen Haltung, die mit der Verunstaltung von kanonischem Liedgut verbunden ist. Vor der verantwortlichen Abteilungsleiterin gibt er seine radikale Haltung auf und lässt sich wie ein »Schuljunge« (DL, 222) über die Folgen seines grenzüberschreitenden Verhaltens belehren. Auch bei den darauffolgenden Vorladungen lässt er jede Form von Radikalität und Rebellion vermissen. So heißt es: »Ich leistete keinen Widerstand. Ich ergab mich in das, was sie von mir wollte. Brav hörte ich zu, nickte an den Stellen.« (DL, 221) Darüber hinaus lässt sich eine Diskrepanz zwischen der Außendarstellung und dem wirklichen Wirken seiner künstlerischen Tätigkeit feststellen: Die ästhetische Dissidenz innerhalb der Künstlerszene im Prenzlauer Berg mit ihrer Suche nach alternativen Wertvorstellungen entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Fassade, hinter der Hadubrand und andere Dilettanten ein selbstgefälliges hedonistisches Dasein führen, ohne sich ernsthaft mit drängenden gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Dem Leser wird die Diskrepanz zwischen den Behauptungen und dem Handeln der Figuren deutlich vor Augen geführt. Auf der Ebene der Basiserzählung kommentiert und wertet der autodiegetische Erzähler die erinnerten Vorgänge. Dies erfolgt überwiegend in Form einer personal voice, wobei Kolbe das charakterisierende Spannungsverhältnis zwischen dem erzählenden und erlebenden Ich nutzt, um eine (selbst)kritische Reflexion zu inszenieren. Das geschieht oft in der Auseinandersetzung mit seiner eigenen angepassten Rolle als Künstler: »Ich wollte mein Leben, wie es war, dort in dem grauen Nordost, nicht aufs Spiel setzen. Es hätte jemand kommen können und sagen: Du hast dich eingerichtet! […] Ich wäre empört gewesen, aber ich hätte nicht wirklich widersprechen können.« (DL, 208)

Ebenso wird die schweigende und befürwortende Haltung der ›subversiven Künstler‹ der Szene durch das erzählende Ich einer selbstkritischen Überprüfung Deutschlands (SED) und wurde während der Demos am 17. Juni 1953 und später 1989 in den Montagsdemonstrationen gesungen. Bei dem Lied Wann wir schreiten Seite an Seit handelt es sich auch um ein stark symbolisch aufgeladenes Arbeiterlied, das in der DDR einen festen Platz im Liederbuch der FDJ und im schulischen Musikunterricht hatte.

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unterzogen. Das erzählende Ich bemängelt, dass die Mitglieder der »Trinkeropposition« unter der Obhut der zum Staatsapparat gehörenden Eltern einer hedonistischen Existenz nachgehen und »im Wechsel von trunkener Euphorie und Katerstimmung« (DL, 333) leben, jedoch nicht bereit sind, die realexistierende sozialistische Wirklichkeit zu verändern: »Aber bezogen auf Fragen, die das Scheitern der [sozialistischen – der Verf.] Utopie, nüchtern gesagt das Ende des volkstümlichen Projekts zur Antwort hätten mit allen, was daraus folgt, wurde von all diesen hochproduktiven, dauernd erregten und dauernd besoffenen Menschen, von diesen süßen somnambulen Neurotikern, die sich freiwillig in Hinterhöfen und Souterrains angesiedelt hatten, nichts zu Ende gedacht. Es fehlten am Schluss immer die Aussagen. Wir nickten den Zustand ab.« (DL, 366) [Hervorh. d. Verf.]

Aus soziologischer Perspektive betrachtet, lässt sich festhalten, dass der Protagonist nicht bereit ist, eine generative Haltung einzunehmen. Diese selbstkritische Erkenntnis wird durch die Reflexionsebene und die nachträgliche Bewertung des erinnernden bzw. erzählenden Ichs in die Erzählung einbezogen.947 Auf der Ebene der histoire greift Kolbe auf den Einsatz einer Kontrastfigur namens Katharina zurück, um der (selbst)kritischen Bewertung des erzählenden Ichs zusätzlich Ausdruck zu verleihen. Katharinas Distanz zur Künstlerszene illustriert die Verlogenheit der Künstler und ihrer »revolutionären Attitüden« (DL, 277), sie übt an der Sinnlosigkeit ihres Handelns zudem offen Kritik: »Deine Freunde, diese Schmarotzer. Was macht ihr eigentlich den ganzen Tag? Künstler haha.« (DL, 277) Ebenso weist sie Hadubrand auf die Folgen seiner Gespräche mit dem Vater und dessen Verstrickung mit dem System hin: »Du redest nicht nur wieder mit deinem Vater, sondern berichtest ihm obendrein brühwarm über die ach so konspirative Zusammenkunft deiner Künstlerfreunde? Da kannst du gleich selbst bei der Firma anheuern und brauchst ihn nicht die Berichte schreiben zu lassen. Hast du alle Tassen im Schrank?« (DL, 307)

Als kritische Stimme bleibt Katharina in der vom Autor konfigurierten Welt allerdings eine Ausnahme. Mit ihrer offen geübten Kritik führt sie Hadubrand die Inkongruenz seines Verhaltens vor Augen. 947 Bereits in seinem Essay Die Situation formuliert Kolbe eine deutliche (Selbst)Kritik am Verhalten der Künstlerszene im Prenzlauer Berg, die sich in den 1980er Jahren in einer schweigenden Haltung eingerichtet und die Vorzüge des DDR-Systems ausgenutzt hatte. Vgl. Kolbe, Die Situation. Eine Geschichte von Prenzlauer Berg. 1994, S. 5; in dem sieben Jahre später erschienenen Essay Vinetas Archiv wird die gegenüber den Künstlern geübte Kritik deutlicher formuliert und auf die Generation der Entgrenzten Generation ausgeweitet: »Was innerhalb meiner Altersgruppe stattfand, wollen und können wir leider nicht anders nennen, weitestgehend noch nicht: Das große ›Beschweigen‹ von vielerlei Feigheit (Ich zeige mit vier von fünf Fingern auf mich selbst). Viel weniger aber: Schweigen um die versoffene und abgesoffene Hoffnung, um die erwürgte Liebe, um unser utopisches Vineta.« Kolbe, Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe. 2011, S. 39.

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5.4.6 Fazit Kolbes Text liefert ein fragmentarisches Zeitbild der 1970er und 1980er Jahre in der DDR und entfaltet das in den 1980er Jahren existierende Gefühl von Lethargie und Stagnation. Zu diesem Zeitbild gehört auch ein auf den ersten Blick existierender Kampf zwischen der Aufbau-Generation und der Entgrenzten Generation, die sich von den ideologischen Positionen der Gründer des sozialistischen Projekts auf deutschem Boden distanziert. Der Einsatz von zwei unterschiedlichen Erzählinstanzen erweist sich als wichtiges stilistisches Mittel, um den intergenerationellen Hegemoniekampf darzustellen. Auf der Ebene des discours wird die Überwindung des Generationenkonflikts durch das Verschmelzen der Erzählinstanzen zu einem einzigen Ich-Erzähler zum Ende des Romans überzeugend gelöst. Mit dem Rückgriff auf eine communal voice gelingt es dem Autor, gruppenkonstitutive Erfahrungen und Werte zu formulieren und »die Erlebnisse einer spezifischen Erinnerungsgemeinschaft«948 zu aktualisieren. Das Spannungsverhältnis zwischen den Zeitebenen Gegenwart und Vergangenheit bzw. zwischen dem erzählenden und erlebenden Ich wird produktiv genutzt, um das Verhalten, die Werte und Haltungen des Protagonisten zu evaluieren. Legitimiert wird sein Ansatz vor allem dadurch, dass der Ich-Erzähler seine Vergangenheit mittels personal voice selbstkritisch überprüft und auch gruppenübergreifende Erfahrungen in seinen Rückblick einschließt. Dadurch gelingt es Kolbe, eine kritische Auseinandersetzung mit den dominierenden Mythen und Legenden der Prenzlauer Berg-Szene vorzunehmen und eine Gegenstimme zur intellektuellen Opposition in dieser Szene zu inszenieren. Der Text leistet einen wichtigen Beitrag, um die »hegemoniale Vergangenheitsdeutung kritisch zu perspektivieren«949. Bei der Darstellung der Denkweise der väterlichen Figur überschreitet Kolbe die Grenzen der narratologischen Möglichkeiten eines autodiegetischen Erzählers durch den Einsatz von Figurendialogen. Auf der Ebene der histoire wird durch die statische Konzeption des Vaters die fehlende Reformfähigkeit und Flexibilität der Aufbau-Generation erfahrbar gemacht. Die dynamische Konzeption der Figur des Sohnes ist entscheidend, um die Frage nach der avantgardistischen Rolle seiner Generation einzuschätzen: Hadubrand sorgt mit seinen künstlerischen Provokationen für punktuelle Aufstörungsmomente, mit denen er eine Generationsdifferenz zu generieren und seine Wirkmächtigkeit als Künstler zu bestätigen sucht. Aus diesen Aufstörungsmomenten können jedoch keine wirksamen Denormalisierungsprozesse hervorgehen, weil Hadubrand seine Kunst nur für die Förderung seines promiskuitiven Verhaltens einsetzt, im 948 Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 161. 949 Ebd., S. 113.

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Verlauf des Textes eine angepasste, schweigende Haltung einnimmt und sich die Suche nach alternativen Werten als Ausdruck eines selbstgefälligen wie nutzlosen hedonistischen Daseins erweist. In diesem Sinne kommt die avantgardistische Funktion der Adoleszenz nicht zum Tragen, da der Protagonist nicht bereit ist, seine Privilegien abzulegen, eine generative Haltung einzunehmen und eine Position »eigentätiger […] und selbstverantworteter ›Erzeugenschaft‹«950 zu übernehmen. Die Suche nach alternativen Werten gestaltet die Figur nicht konsequent, stattdessen wird die Auseinandersetzung mit den tradierten Werten aus der Arbeiterbewegung auf ein Größenwahnphantasie-Spiel reduziert, das Hadubrand die Gelegenheit bietet, mit den »großgewachsene[n] Katzen« (DL, 261), die auf ihn warten und ihm Spalier stehen, in Kontakt zu treten und seine Popularität schamlos zu seinem Vorteil einzusetzen (vgl. DL, 262). Viel mehr manifestieren die Protagonisten eine postadoleszente Haltung und experimentieren vordergründig mit ihrem Körper, ohne Verantwortung am gesellschaftlichen Leben zu übernehmen. Kolbes Rückgriff auf eine Kontrastfigur wie Katharina verleiht dem Versagen Hadubrands zusätzlich Ausdruck. Mit der Wahl eines atmosphärischen Raumes des Verfalls gelingt Kolbe der Aufbau einer logischen Verbindung zwischen Raum, Figur und Handlung: Die moralische Verkommenheit und das Scheitern der Figuren als Erneuerungskraft im evolutionären Sinne werden durch den von Verfall betroffenen Raum hervorgehoben. Dabei erweisen sich ihre Allmachtsphantasien als wirkungsloses postadoleszentes Spiel.

5.5

Jochen Schmidt: Schneckenmühle – »Jede Narbe ist eine Erinnerung«951

Jochen Schmidt präsentiert 2013 einen Text, dessen Hauptanliegen die Inszenierung von Erinnerung an die Jugend in der DDR ist. Der Text Schneckenmühle ist aufgrund seiner stofflich-thematischen Aspekte ein moderner Adoleszenzroman. Gleichwohl lässt sich der Text der Gattung der fictions of memory zuordnen und unter Bezug auf Birgit Neumann als ein Gedächtnisroman bestimmen. Die erzählte Zeit beschränkt sich auf einen kurzen Zeitraum von drei Wochen im Ferienlager Schneckenmühle. Die Handlung ist auf der gegenwärtigen Erzählebene verortet und wird abgesehen von einzelnen kurzen Analepsen, es sind dies Kindheitserinnerungen, chronologisch aus der Perspektive der vierzehnjährigen Figur namens Jens erzählt. Eine Weitung des Wissenshorizonts 950 King, Die Entstehung des Neuen. 2013, S. 71. 951 Schmidt, Jochen: Schneckenmühle. München: C. H. Beck 2013, S. 108 [im Folgenden unter der Sigle »SM« mit Seitenzahl im Text].

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des damaligen Protagonisten, etwa in Form von nachträglichen Bewertungen, wird nicht vorgenommen.

5.5.1 Zu Autor und Werk Jochen Schmidt ist 1970 in Ostberlin geboren. Versucht man Schmidt in den geschichtlichen Kontext der ehemaligen DDR einzuordnen, lässt er sich ausgehend von seiner Jahrgangszugehörigkeit nach dem Modell von Lindner der sogenannten Generation der Nicht-mehr-Eingestiegenen oder nach dem Modell von Ahbe/Gries der Entgrenzten Generation zuordnen. Diese zeichnet sich primär dadurch aus, dass sie die durch das Bildungssystem und die Propaganda an sie herangetragenen Wertvorstellungen nicht mehr annehmen. Mit einer pragmatischen Haltung leben sie bereits als Schüler in einer Doppelwelt: Sie sind einerseits Teil der offiziellen DDR mit all ihren Institutionen, andererseits führen sie ein Leben im Privaten. Sie empfinden kein Bedürfnis mehr, »[…] an den politischen wie gesellschaftlichen Verhältnissen der DDR Anteil zu nehmen oder gar Partei zu ergreifen«952. Schmidt orientiert sich damals wie viele Angehörige seiner Generation gen Westen: »[…] wir waren tatsächlich sehr materiell und scharf auf alles, was von drüben kam.«953 Ebenso wie Torsten Schulz gehörte Schmidt zu denen, die das System reformieren, aber nicht abschaffen wollten.954 Sein Werk umfasst die Romane Müller haut uns raus (2002), Schneckenmühle (2013), Zuckersand (2017) und Ein Auftrag für Otto Kwant (2019). Hinzu kommen die Erzählbände Triumphgemüse (2000), Seine großen Erfolge (2003), Meine wichtigsten Körperfunktionen (2007), Weltall. Erde. Mensch (2010), Der Wächter von Pankow (2015).955 Von Juli 2006 bis Januar 2007 liest Schmidt jeden Tag Marcel Prousts Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Seine Eindrücke veröffentlicht er zunächst täglich auf einem Blog, sie werden später in dem Band Schmidt liest Proust (2008) veröffentlicht.956 Seit 1999 trägt Jochen Schmidt ge952 Ahbe/Gries, Geschichte der Generationen. 2011, S. 59. 953 Leinen, Lisa: »Und jetzt, was kommt denn jetzt?« Jochen Schmidt und David Wagner, ein Interview. In: der Freitag. Die Wochenzeitung vom 09. 11. 2014. In: [letzter Zugriff am 24. 02. 2020]. 954 Vgl. ebd. 955 In Zusammenarbeit mit der Illustratorin Line Hoven veröffentlicht Schmidt zwei Serien von kurzen Texten mit den Titeln Dudenbrooks und Schmythologie, die erstmals in der FAZ veröffentlicht worden sind. Ein weiteres Projekt mit der Illustratorin Hoven inszeniert unter dem Titel Paargespräche Dialoge zwischen Paaren aus der Bibel, der Kunstgeschichte, der Popkultur und der Gegenwart. Zusammen mit David Wagner veröffentlicht Schmidt 2014 das Gemeinschaftsprojekt Drüben und Drüben. Zwei deutsche Kindheiten, in dem die Autoren Erlebnisse aus ihrer Kindheit kontrastieren. 956 Vgl. Schmidt, Jochen: »Schmidt liest Proust«. In: [letzter Zugriff am 24. 02. 2020].

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meinsam mit anderen Schriftstellern auf der Berliner Lesebühne Chaussee der Enthusiasten regelmäßig seine Texte vor. Zusätzlich verantwortet er einen literarischen Blog, in dessen Rubrik Spurensuche DDR Fotos gesammelt und archiviert werden, um die Kuriositäten der DDR-Vergangenheit im Alltag festzuhalten.957

5.5.2 Zur Poetologie Beim Schreiben geht es Jochen Schmidt darum, sich seiner selbst zu vergewissern: »Das ist sehr persönlich, wenn man erkundet, wer man ist und wer man war.«958 Das Thema Erinnerung an die DDR-Vergangenheit spielt eine wichtige Rolle in Schmidts literarischem Schaffen. Seine Texte fungieren als Artefakte der Erinnerung: »Um dem Vergessen entgegenzuwirken, schreibe ich meine Erinnerungen« (Jochen Schmidt).959 Damit wendet sich der Autor gegen eine normierte Version der Einheitsgeschichte, die durch die Medien nach und nach festgeschrieben wird. Er plädiert für eine Darstellung der Geschichte der DDR, die nicht aus einer retrospektiven Perspektive vorgenommen wird, sondern die Situation der Menschen aus der damaligen Sicht zu beschreiben versucht, ohne nachträgliche Wertungen vorzunehmen und ohne die Deutungshoheit über das Geschehene zu beanspruchen. Das ist auch der Grund, warum in Schneckenmühle die Erfahrung des Ferienlagers ausschließlich aus der Perspektive des adoleszenten Protagonisten dargestellt wird. Er liefert dem Leser eine individuelle Erinnerung, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt.960 Damit läuft der Text jenen Darstellungen entgegen, die allein darauf abzielen, die DDR über entsprechende Figurenanlagen und Plots als einen stereotypen Raum der Restriktion zu inszenieren. Schmidt ist der Auffassung, dass eine solche Darstellung der DDR-Geschichte dazu beiträgt, die damaligen Bürger zu entschulden

957 Vgl. Schmidt, Jochen: Chaussee der Enthusiasten. In: . Jochen Schmidts Blog. In: [letzter Zugriff am 24. 02. 2020]. 958 Jochen Schmidt, zitiert nach Oehlen, Martin: Die »Schneckenmühle« ist auch ein literarisches Museum der DDR. In: Kölner Stadt Anzeiger, Ausgabe vom 07. 11. 2014. In: [letzter Zugriff am 24. 02. 2020]. 959 Vgl. Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: Zeitzeugenportal. In: [letzter Zugriff am 24. 02. 2020]. 960 Das individuelle Gedächtnis als Ergebnis einer individuellen Wahrnehmung dient im Sinne von Aleida Assmann als »dynamische[s] Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung« und stellt zugleich eine fragmentarische und begrenzte Sicht dar, die einer Ergänzung bedarf. Assmann, Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 184.

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und sie von der eigenen Verantwortung freizusprechen.961 Es kommt hinzu, dass Schmidt beim Schreiben auf eigene Erfahrungen zurückgreift. Dies sei der Vorteil der DDR-Schriftsteller: »Sie können über einen Mikrokosmos schreiben, den sie aus eigener Erfahrung kennen.«962 Darüber hinaus verfügen DDR-Autoren durch die Wiedervereinigung über eine »doppelte Erfahrung, [die] des Ostens und [die] des Westens«963, aus denen sie literarisch schöpfen können.

5.5.3 Zum Inhalt In einem Interview weist der Autor auf die Bedeutung des Titels und Untertitels hin. Der Romantitel Schneckenmühle verweist auf ein real existierendes Kinderferienlager, das sich in der Nähe von Dresden befindet. Der Untertitel des Romans, Langsame Runde, trägt eine mehrfache symbolische Bedeutung. Einerseits wird auf einen Tanzstil verwiesen, der im Westen als Stehblues bekannt gewesen ist, einen langsamen engen Tanz, der auf Partys den Tanzpaaren einen engen körperlichen Kontakt ermöglicht und den Höhepunkt der Veranstaltung bildet. Andererseits spielt der Untertitel auf den paradoxen Zustand an, in dem sich die Protagonisten im Ferienlager befinden, den intensiven Moment der Verlangsamung und Beschleunigung: »Einerseits verlangsamt, weil man eben eine Auszeit hat im Leben. Andererseits aber auch beschleunigt durch den Kontakt mit den anderen und auch den Kontakt zwischen den Geschlechtern […].«964 Darüber hinaus verweist der Untertitel auf die Lebenssituation der Protagonisten im Moment des gesellschaftlichen Umbruchs, wie Ulrich Rüdenauer in seiner Buchkritik festhält, womit er auf den für die folgende Analyse zentralen Aspekt der Adoleszenz abzielt: »Die Kindheit ist noch nicht beendet, und das Erwachsensein hat noch nicht begonnen. Das alte System löst sich auf,

961 Vgl. Schlinsog, Elke: Im Gespräch mit Jochen Schmidt am 20. 10. 2013 in Radio Bremen. In: [letzter Zugriff am 01. 12. 2013]. 962 Jochen Schmidt, zitiert nach Karich, Swantje: Jens braucht die DDR nicht mehr. Vom Duft des Sommers und Depeche Mode: Jochen Schmidts neuer Roman »Schneckenmühle« taucht ein in das Ferienlager der Kindheit. In: FAZ vom 09. 03. 2013, S. 0 L8 / Seitenüberschrift: Literatur Ressort: Literaturbeilage. 963 Schmidt, Jochen/Hülswitt, Tobias: »Bei uns war es viel spannender« – Ein Autorengespräch zwischen Ost und West. In: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur. H. 6, 2001, S. 37–39, hier: S. 39. 964 Jochen Schmidt, zitiert nach Rüdenauer, Ulrich: »Das Ende von der Kindheit ist einer der radikalsten Brüche«. In: [letzter Zugriff am 24. 02. 2020].

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das neue ist noch unvorstellbar. Man dreht noch einmal eine langsame Runde, bevor das Leben so richtig in Fahrt kommt.«965 Der Roman setzt in medias res im Jahr 1989 ein, woraufhin die Handlung von einem extradiegetischen-autodiegetischen Erzähler chronologisch präsentiert wird. Die Aufregung des Protagonisten deutet auf die bevorstehenden spannenden Ereignisse hin: »Schon Monate vorher träume ich nachts immer wieder von der Abfahrt, wenn die Kinder in aller Frühe von ihren Eltern im Bahnhofsgebäude abgegeben werden.« (SM, 7) Aus der Perspektive des 14-jährigen Jens gewinnt der Leser Einblicke in den Alltag des pubertierenden Jungen, der zum letzten Mal ins Ferienlager Schneckenmühle fahren darf, ein Umstand, den er mit folgenden Worten beschreibt: »Ich bin in der größten Gruppe, das Ziel einer Entwicklung ist erreicht, wir sind die Könige des Durchgangs […].« (SM, 7) Vor der Abreise beschäftigt Jens besonders die Suche nach einer Freundin, aber das erscheint ihm als unlösbare Aufgabe, da er überhaupt nicht tanzen kann, und ihm damit die unter Jugendlichen übliche Möglichkeit der Annäherung zwischen den Geschlechtern verwehrt bleibt: »[B]ei mir funktioniert es nicht, ich muss bei jeder Bewegung nachdenken, was ich als nächstes tun soll, und wenn jemand zusieht, werden meine Glieder steif. Ich habe deshalb immer Angst.« (SM, 16) Es sind seine Träume, Unsicherheiten, insbesondere die Sorge, sich lächerlich zu machen, aber auch die Angst vor dem Erwachsenwerden und vor der Zukunft, darüber hinaus seine Liebesgefühle und seine sexuellen Wünsche und Fantasien, die die Lebensnormalität des Protagonisten, eines reflektierten, altklugen und gelegentlich naiven jungen Mannes, kennzeichnen. Die Erlebnisse der Figur im Ferienlager dominieren die Erzählung, aus der die historischen Ereignisse und gesellschaftlichen Themen nicht ausgeklammert werden, jedoch gänzlich in den Hintergrund geraten und stets aus der Perspektive des Protagonisten dargestellt werden. Der Alltag im Ferienlager nimmt unabhängig vom historischen Ereignis der Wende seinen Lauf. Gelegentlich erhält der Leser durch kurze Analepsen Informationen über andere Erfahrungen im Ferienlager, als Jens »noch zu den Kleinen gehörte« (SM, 85) und von den Großen schikaniert worden ist. Kurze Prolepsen dienen dazu, seine Ängste vor der Zukunft zu verdeutlichen: »Vier Jahre an der neuen Schule, und danach kommt die Armee. Und wenn man die überlebt hat, ohne von den anderen mit Zigarettenqualm im Spind erstickt worden zu sein, muß man studieren.« (SM, 35) Gesellschaftliche Themen werden aus der Figurenperspektive erzählt, zum Beispiel die von vielen Bürgern praktizierte politische Doppelkultur, womit eine Diskrepanz zwischen der unpolitischen Haltung im Privaten und einem klaren Bekenntnis zur Partei in der Öffentlichkeit gemeint ist, durch die die Allgegenwärtigkeit des Politischen deutlich wird. Dazu heißt es etwa: »Komisch, daß bei uns in allen Gebäuden ein Hone965 Ebd.

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cker-Bild hängt, manchmal neben einem von Stoph, aber in Wohnungen habe ich diese Bilder noch nie gesehen.« (SM, 37)

5.5.4 Zum Übergang von der Familie zur Kultur Mit der Abreise des Jungen wird die Handlung ins Ferienlager verlagert. Damit gerät das alltägliche Leben des Protagonisten in der Familie und der Schule in den Hintergrund. Beim diegetischen Raum des Ferienlagers handelt es sich um einen perspektivierten Raum, der im Bewusstsein der Hauptfigur bekannt ist. Gleichzeitig wird diesem Raum vor allem durch die räumliche Trennung von den Eltern ein symbolischer Wert zugewiesen, der mit Abenteuer, Freiheit, Spannung und Erfahrungen mit der Peergroup assoziiert ist. Die räumliche und zeitliche Distanz zu den primären Bezugspersonen begünstigt den Abgrenzungsprozess, der mit der Adoleszenz einhergeht. An die Stelle der Eltern rücken im Ferienlager die Gruppenleiter, die die Wünsche und Anliegen der Jugendlichen, das wird im Verlauf des Romans deutlich, genauso wenig wie die Eltern verstehen. Die Dichotomie zwischen Jung und Alt bzw. den Generationen wird vom Ich-Erzähler explizit thematisiert: »Wenn ein Erwachsener sich zu uns stellt, fühlt sich das immer so an, wie wenn bei Biene Maja ein Mensch vorkommt.« (SM, 122) Dieser Gedankengang illustriert den jugendlichen Wunsch nach Abgrenzung und die spezifische Wahrnehmung der Eltern als Peinlichkeit. Aus der Innensicht des Protagonisten heißt es weiter: »Aber dann saßen meine Eltern da. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil es mir peinlich war, sie hier im Ferienlager zu sehen. Sie paßten irgendwie nicht hierher.« (SM, 219) Deutlich wird auch, dass der Ich-Erzähler sich von den Errungenschaften der Elterngeneration abgrenzt. Er macht seine fehlende Identifikation mit der DDR explizit: »Es nieselt auf die Schrottberge und Kokshaufen, aus denen sie [die Angehörigen der Elterngeneration – der Verf.] dieses Land gebaut haben.« (SM 139) Üblicherweise weicht die primäre Sozialisationsinstanz Familie in der tertiären Sozialisationsphase dem Einfluss der Peergroups, so auch in Schneckenmühle. Dem Leben in der Gruppe ausgesetzt, hat Jens drei Wochen lang die Möglichkeit, sich im Umgang mit Gleichaltrigen zu erproben und mit neuen Rollen zu experimentieren. Geprägt von einem Invulnerabilitätsgefühl sammelt er grenzüberschreitende Erfahrungen, denen eine identitätsstiftende Funktion zukommt: »Niemand kann uns etwas, wir sind ja nicht von hier, und außerdem sind Ferien. Man sucht ständig nach einer Idee, wie man möglichst effektvoll ›Scheiße bauen‹ kann.« (SM, 73f.) Das Ferienlager wird zu einem erweiterten Erprobungsraum, in dem Jens und seine Freunde provisorische Identitätsentwürfe erproben. Der Sinn der Zusammenkunft besteht nur darin, Anerkennung und andere Selbstbestätigungsformen zu gewinnen. Innerhalb der Gruppe finden die typischen Zusammen-

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gehörigkeits- und Abgrenzungsprozesse statt, die mit Selbstinszenierung sowie mit Profilierung auf Kosten anderer zusammenfallen. Hierbei spielen der Kleidungsstil, das sprachliche Register, das (grenzüberschreitende) Verhalten sowie die politische und religiöse Überzeugung eine wichtige Rolle. Jens orientiert sich an den Meinungsführern und vermeidet zunächst den Kontakt zu der ungeliebten und gemobbten Sächsin Peggy. Er hat Angst, mit dem Mädchen in Verbindung gebracht zu werden und dadurch seinen Status in der Peergroup zu verlieren: »Ich stehe schnell mit den anderen auf, es darf kein Zusammenhang hergestellt werden zwischen ihr und mir. So einen Ruf wird man nicht mehr los, und dann steht überall mit Kreide ›Jens und Peggy‹ an den Wänden.« (SM, 47)

Doch Jens hat von Anfang an einen schweren Stand, er muss fortlaufend darauf achten, nicht in die Rolle des Opfers oder in die Nähe ausgesuchter Opfer zu geraten. Schon auf dem Weg ins Ferienlager beginnt diese Herausforderung: »Neben mir sitzt ein Mädchen, das wir in Dresden eingesammelt haben, offenbar ist sie in diesem Jahr ›der Sachse‹. […] Wegen seiner Sprache bleibt der Sachse Außenseiter. Es ist mir unangenehm, noch dazu trägt sie einen Pionier-Anorak mit dem aufgenähten Fackelsymbol der Pionierorganisation […].« (SM, 29)

Durch die Fremdcharakterisierung des Mädchens erfolgt auf implizite Weise eine Selbstcharakterisierung des Protagonisten, der sich bereits im frühen Alter als systemkritisch und politisch distanziert präsentiert. Seine Position in der Gruppe beschreibt er wie folgt: »Ich komme mir lächerlich vor in meinem gestreiften Schlafanzug, der mir schon seit Jahren paßt. Wie der dritte von den Bee Gees, von dem niemand den Namen kennt.« (SM, 114) Die Unauffälligkeit seiner Persönlichkeit steht im diametralen Kontrast zu anderen Figuren, die eine exponierte Stellung in der Gruppenhierarchie einnehmen. Zu nennen ist etwa Dennis, der einen Striptease für die Gruppe inszeniert und seinen Körper zur Schau stellt (vgl. SM, 115), auch Eike, der nackt vor den Mädchen aus dem Fenster pinkelt (vgl. SM, 36), den Sicherungskasten manipuliert und abends die gesamte Elektrik des Ferienlagers durcheinanderbringt (vgl. SM, 56) oder Holger, der demonstrativ vor der Gruppe raucht oder mit seiner Freundin in »seinem Bett, unter der Decke, wie ein Ehepaar, nur mitten am Tag« (SM, 119) Zeit verbringt.966 Ihnen gegenüber 966 Die Transgressionsakte der Figuren verdeutlichen, dass die Suche nach Grenzerfahrungen und das Ausleben des Verbotenen eine besondere Rolle im Ferienlager-Alltag spielen. Neben den skizzierten Handlungen gehören ein auffälliges Verhalten in der Öffentlichkeit, Provokationen gegenüber der Polizei (vgl. SM, 134) und den Betreuern im Ferienlager (vgl. SM, 59f.), zum Praxisrepertoire der Heranwachsenden. Solche Transgressionsakte gelten als notwendiger Bestandteil der adoleszenten Entwicklung, durch die Adoleszente Anerkennung unter Gleichaltrigen suchen und ihre Identitätsbildung vorantreiben. Vgl. Ahrbeck, Von allen guten Geistern verlassen? 2010, S. 13.

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empfindet Jens starke Minderwertigkeitskomplexe, die seine Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, der eigenen körperlichen Entwicklung und den sozialen Beziehungen dokumentieren: »Gegen Holger komme ich mir zwerghaft vor, aber das geht mir mit allen Größeren so, schon die aus der Zehnten sind wie Riesen, die uns zu ihren Füßen nicht bemerken.« (SM, 63) Kennzeichnend für die Adoleszenz ist Jens’ bewusste Einordnung in die Geschlechterordnung, seine Auseinandersetzung mit den daraus resultierenden Geschlechterbildern sowie die bewusste Wahrnehmung der geschlechtstypischen Veränderungen seines Körpers. Seine Reflexionen veranschaulichen sein Bild von Männlichkeit, das primär durch Stärke, Leistung und Selbstständigkeit definiert ist. Auch kreisen die Gedanken des Protagonisten unablässig um die Bedeutung der Muskelmasse: »Muskeln, man braucht Muskeln, Muskeln lösen alle Probleme.« (SM, 50) Zu seinem Männlichkeitsideal gehört auch das Bestehen von Mutproben, ohne auf die Hilfe anderer Personen angewiesen zu sein. Dazu heißt es etwa: »Diese Hilfestellung ist einem Jungen lästig, so was hat man doch nicht nötig.« (SM, 127) Bedingt durch die pubertäre Entwicklung durchlebt Jens im Ferienlager einen Entwicklungsprozess. Insbesondere in Bezug auf die Auseinandersetzung mit seiner Sexualität und den Umgang mit dem anderen Geschlecht macht er Fortschritte. Bereits vor Beginn des Ferienlagers wird deutlich, dass Jens Wunschvorstellungen entwickelt, die mit einer partnerschaftlichen Beziehung verknüpft sind: »Ob ich diesmal eine Freundin haben werde? Aber wie soll es dazu kommen?« (SM, 15) Als Vorbereitung übt er das Küssen und denkt darüber nach, wie sich Küssen anfühlt und welche Bedeutung es hat (vgl. SM 16). Die Allgegenwärtigkeit der sexuellen Neugier unter den Jugendlichen manifestiert sich in der wiederholten sexualisierenden Deutung einzelner Gegenstände (vgl. SM 39) sowie in den sexuell aufgeladenen Wortspielen ihrer Gespräche (vgl. SM, 148). Jens’ Neugier wird auch in seiner Suche nach sexueller Aufklärung sichtbar. Ausführlich wird beschrieben, wie er sich in der Kinderbibliothek informieren will: »Das Jugendlexikon ›Junge Ehe‹ stand in einer Reihe mit anderen Jugendlexika, […] Da müsse man mal unter ›Position‹ gucken, das raunte man sich zu.« (SM, 58f.) Die Intensität seiner sexuellen Neugier steigert sich beim Treffen auf andere Jugendliche im Ferienlager. Aus der Innenperspektive der Figur erfährt der Leser, dass sich Jens von den mit Badeanzug bekleideten Mädchen angezogen fühlt und dass er den Körper von Mädchen und Frauen ausschließlich aus einem erotischen Blickwinkel wahrnimmt: »Ihre weißen Arzthosen, die Sandalen, diese Rundung hinter den weißen Blusenknöpfen, in die man sein Gesicht tauchen möchte.« (SM, 159) Jens spricht von einem »zähe[n] Ringen zwischen Jungen und Mädchen« und beschreibt mittels communal voice den Wunsch der jungen Männer, den weiblichen Körper nackt zu betrachten:

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»[W]ir sehnen uns danach, sie nackt zu sehen, wenigstens etwas mehr als erlaubt, wir tauschen uns aus und tragen unser Wissen zusammen […].« (SM, 108)

Es ist sodann die Begegnung mit Peggy, die für die mentale und emotionale Entwicklung des Protagonisten entscheidend ist, zumal er durch das Entdecken und Akzeptieren seiner Geschlechtlichkeit und Geschlechtsrolle einen wichtigen Schritt in seiner Identitätsfindung macht. Seine Annäherungsversuche bei Peggy stellen ihn immer wieder vor ungelöste Fragen und lösen widersprüchliche Gefühle aus: »›Warst du schon mal verliebt?‹ [fragt ihn Peggy – der Verf.] ›Ich weiß nicht. Woran merkt man das denn?‹« (SM, 208f.) In diesem Kontext wird auch erzählt, wie schwer es dem Heranwachsenden fällt, sich zu einem Menschen zu bekennen und seine Gefühle öffentlich zu machen:967 »Wenn ich sie jetzt küsse, sind wir ein Paar und müssen es vor allen anderen zugeben. Das ist dann passiert, man kann dann die Zeit nicht mehr zurückdrehen.« (SM, 215f.)

Es lässt sich dies als Schlüsselmoment für Jens’ Initiationsprozess auf dem Weg in die Welt der Erwachsenen bestimmen. Die Figur lernt sukzessive, nach den eigenen Gefühlen zu handeln und sich zu Peggy zu bekennen, obwohl sie in der Gruppe gemobbt wird und er befürchten muss, selbst ins Visier der Mobber zu geraten. Kurz vor dem Ende der Zeit im Ferienlager reflektiert der Protagonist seinen Entwicklungsfortschritt: »Ich habe in so kurzer Zeit so viel gelernt wie noch nie im Leben.« (SM, 213) Als Folge dieses Reifeprozesses entwickelt die Figur ein stärkeres Selbstbewusstsein, das sich durch die Übernahme tradierter Geschlechterrollen und eine bewusste Abgrenzung von den Eltern manifestiert: »Es ist so traurig, dass mich zu Hause keiner versteht […].« (SM, 220) Die skizzierten Beobachtungen lassen erkennen, dass die Zerrissenheit des Ich-Erzählers nicht politisch oder ideologisch bedingt ist. Stattdessen resultiert der wechselhafte Innenweltzustand des Protagonisten aus den Pubertätsumständen. Diesen haftet etwas Überzeitliches an, das zum Teil systemübergreifend ist: der Protagonist erlebt eine spannende Zeit, vergleicht sich andauernd mit gleichaltrigen Jungen, ist mit seinem Körper unzufrieden, schämt sich dafür, nicht tanzen zu können, will mit seinen Freunden Grenzen austesten, ist neugierig auf die Welt der Mädchen und fürchtet sich vor dem Kommenden. Er wünscht sich, dass die Zeit stehen bliebe. Diese Erfahrungen decken sich zum größten Teil mit denen eines Jugendlichen im Westen. Das Frappierende im Roman ist, dass es dem Autor gelingt, die Normalität eines Zeitabschnitts im

967 Die Ängste und Unsicherheiten bezüglich der partnerschaftlichen Bindungen und Liebe sind kennzeichnend für die Altersphase der frühen und mittleren Adoleszenz, in der sich der Protagonist befindet. In dieser Lebensphase steht der Aufbau von Selbstvertrauen und sozialen Kompetenzen im Vordergrund. Vgl. Wendt, Eva-Verena: Die Jugendlichen und ihr Umgang mit Sexualität, Liebe und Partnerschaft. Stuttgart: Kohlhammer 2019, S. 79ff.

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Leben eines jungen Menschen darzustellen, ohne sie zu stilisieren. Dabei wird die Ideologisierung des DDR-Lebens als gegebener Zustand präsentiert, mit dem die Jugendlichen vollkommen natürlich umgehen: Sie reißen Witze über Honecker, machen sich über die Produktknappheit im Osten lustig, genieren sich nicht, offen ihre Meinung über das Ost- und Westfernsehen oder die Ost- und Westmusik zu äußern und reflektieren den Besuch ihrer Verwandten aus dem Westen und deren Ansichten über die DDR. Der ideologische Einfluss bedingt auch die zukünftige Berufswahl: »Meine Eltern sind aber sehr dafür, daß ich versuche [eine Schule mit mathematischem Schwerpunkt zu besuchen – der Verf.], sie sagen, einen Mathematiker könne man nicht zwingen, seine Forschungsergebnisse dem Marxismus-Leninismus anzupassen, die Zahlen seien ja, wie sie sind. Ich würde später von der Partei in Ruhe gelassen. Außerdem muß man während der Arbeit nur nachdenken.« (SM, 34)

Auch Probleme, die sich für einen Jugendlichen aus dem ideologischen Einfluss ergeben, werden keineswegs ausgeklammert. So ist etwa die Zukunft von Jens’ Bruder durch seine religiöse Bindung vorgezeichnet: Als Mitglied der Jungen Gemeinde wird ihm verweigert, das Abitur abzulegen, was seine Berufswahl stark limitiert. Es bleiben ihm bloß zwei Optionen: »Kammerjäger oder Gärtner« (SM, 100). Auch dass Jens empört reagiert, als er feststellt, dass seine Post im Ferienlager gelesen wird, zeugt von seiner Sensibilität gegenüber den gesellschaftspolitischen Verhältnissen, die bei einem Gleichaltrigen im Westen nicht in vergleichbarer Form gegeben ist, sich aber in der ehemaligen DDR aus dem alltäglichen Umgang mit den Umständen einer geschlossenen Gesellschaft entwickeln konnte: »Meine Post ist gelesen worden! Empörung wallt in mir auf, es fühlt sich gut an, sich im Recht zu wissen. Ich bin nicht so verblendet wie Rita, die an den Staat glaubt.« (SM, 89)

Jens ist geübt darin, mit dem gesellschaftspolitischen System umzugehen und dabei seine persönlichen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren: »Ich habe ein Gefühl dafür, bei wem man wie weit gehen kann mit seinen Äußerungen. […] Man muß genau aufpassen, wieviel man bei jedem durchblicken läßt« (SM, 121),968 heißt es etwa. Aus der Innensicht des Protagonisten erfährt der Leser sodann, wie Jens sich vornimmt, eine doppelzüngige Haltung einzunehmen, um Konflikte zu vermeiden. Bedingt durch seine materialistische Einstellung ergreift er beim 968 Ähnlich äußert sich die Hauptfigur des Romans Wasserfarben von Thomas Brussig: »Man muß immer vorsichtig sein, damit man gar nicht erst in was verwickelt wird. Besonders politisch. Man muß sich höllisch vorsehen, daß sie einen nicht politisch drankriegen.« Brussig, Thomas: Wasserfarben. Berlin: Aufbau Taschenbuch 2003, S. 21; vgl. auch Gansels Modell 6 der Jugendkonfiguration in der DDR bzw. Prozessgestalt »Abschied oder ›Sie dürfen einen nicht politisch drankriegen‹«. Vgl. Gansel, Von der Einpassung über den Protest. 2000. S. 288ff.

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Vergleich zwischen West und Ost eindeutig für die westlichen Produkte Partei und markiert seine Distanz zur realexistierenden Wirklichkeit der DDR: »Kinder mit Westsachen sind meistens kirchlich. Eine Aura von Unabhängigkeit umgibt sie, als könnte ihnen in diesem Land niemand etwas anhaben. Mit Westsachen fühlt man sich unverwundbar. Zur Not würden sich die Verwandten von drüben dazwischenstellen.« (SM, 105f.)

Den Standpunkt seiner Generation bringt der Protagonist mit einer für einen Vierzehnjährigen etwas befremdlichen Äußerung, in Form einer communal voice, auf den Punkt, wenn er beim Betrachten einer verwahrlosten Fabriklandschaft feststellt: »Wir haben nicht das Gefühl, mit diesen Dingen etwas zu tun zu haben oder irgendwann damit konfrontiert zu werden, hier für Besserung zu sorgen. Man weiß ja aus dem Westfernsehen, daß es anders geht, und man identifiziert sich mit dem erfolgreicheren Teil der Welt.« (SM, 136)

Damit formuliert Jens eine Meinung und Haltung, die eine Generationseinheit im Sinne von Karl Mannheim ausdrückt und für die Entgrenzte Generation steht.969

5.5.5 Zur Bedeutung von Jugendkultur in Schneckenmühle Auch in dem Roman Schneckenmühle kommt der Musik eine wichtige Funktion in Hinblick auf das Vorantreiben der identitätsstiftenden Prozesse während der Adoleszenz zu.970 Jens’ Sehnsucht nach einem Walkman aus dem Westen signalisiert die zentrale Rolle, die die Musik für sein Leben und die Interaktion in der Gruppe spielt: »Das wichtigste Gesprächsthema ist Musik, deshalb läuft auch ein Rekorder, wir halten es kaum aus, wenn einmal keine Musik zu hören ist. […] Ein Walkman, das wäre vielleicht der letzte Wunsch, den ich aus dem Westen hätte, damit würde ich mich für immer zufriedengeben. […] Wir tragen zusammen, was es für neue Lieder gibt.« (SM, 102f.) [Hervorh. d. Verf.] 969 Für die Konstitution einer Generation ist nach Karl Mannheim das Phänomen der »Erlebnisschichtung« entscheidend. Denn die »Erlebnisschichtung« bestimmt die Formung des Bewusstseins durch die ersten prägenden Eindrücke in der Jugend. Generationen grenzen sich voneinander durch ihre spezifische Prägung ab. Mannheim differenziert innerhalb derselben »[…] Jugend, die an derselben historisch-aktuellen Problematik orientiert ist« unterschiedliche Gruppen, die »in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten«. Diese Gruppen bilden nach Mannheim folglich »Generationseinheiten«, die sich durch »ein einheitliches Reagieren« auszeichnen. Vgl. Mannheim, Das Problem der Generationen. 1964, S. 535f., 544; zur Entgrenzten Generation vgl. Ahbe/Gries, Geschichte der Generationen. 2011, S. 48ff. 970 Vgl. Kapitel 3.5 Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR.

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Jens’ Sonderstellung in der Peergroup resultiert nicht allein aus seiner Unsicherheit beim Tanzen und seinem Dasein als Brillenträger, sondern auch aus seinem altersuntypischen Musikgeschmack: »Es ist mir peinlich, daß ich die Beatles gut finde, das sind ›Oldies‹, ein Lied von ihnen würde nach wenigen Sekunden abgeschaltet.« (SM, 103) Angesichts der ablehnenden Haltung seiner Gruppe dieser Musik gegenüber fühlt sich Jens allein: »Es ist quälend, daß niemand bereit ist, die Wahrheit zu erkennen.« (SM, 103) Die Musik übernimmt im Text eine identitätsstiftende Funktion und dient zur Charakterisierung des Protagonisten. Sie bildet exemplarisch die Präsenz der westlichen Welt in der DDR-Gesellschaft der 1980er Jahre ab. Wie der Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier feststellt, »[…] verwenden [Jugendliche – der Verf.] Elemente aus popkulturellen Diskursen und popkulturelle Artefakte, um eine eigenständige, unverwechselbare Identität zu konstruieren und entwickeln mit Hilfe der Populärkultur auch Formen der Selbstpräsentation, mit denen es ihnen möglich wird, sich von Identitätsentwürfen und Lebensstilkonzeptionen anderer abzugrenzen«971. In diesem Sinne liefern die Interpreten »mögliche Identitätskonzepte und Selbstdarstellungsmodi«972, die die Jugendlichen als Vorbild wahrnehmen. Außerdem kommt der Musik eine Regulierungsfunktion zu, da sie den Jugendlichen ermöglicht, ihre Gefühle und Emotionen zu verarbeiten. In Schneckenmühle werden die Musik aus dem Osten und Westen gegenübergestellt, wobei erstere für Jens’ Generation keine Anziehungskraft ausstrahlt und Stellvertreter für eine Welt ist, von der er und seine Freunde sich eindeutig distanzieren: »Wenn ein Lied gespielt wird, das keiner von uns kennt, dann ist es ›von hier‹, und wir verziehen angewidert das Gesicht.« (SM, 85) Von seinem Freund Marko erhält Jens Informationen über die neuesten westlichen Musikentwicklungen und darüber, wie man mit dem Radio die Westsender RIAS und Radio Saarbrücken empfangen kann. Die Figuren identifizieren sich mit der NDW-Bewegung ebenso wie mit der Synthie-Pop-Bewegung der 1980er Jahre, insbesondere ihrem wichtigsten Vertreter Depeche Mode, und grenzen sich auf diese Weise von ihrer Elterngeneration ab. Mit elektronischen Sounds und unnahbarer Attitüde gelten die vier britischen Musiker um den Sänger Dave Gahan nicht allein für die DDR-Teenager als Inbegriff von Coolness. Sie liefern den Fans im Osten »einen lebensnahen Soundtrack [… und dienen als] Projektionsfläche für Sehnsüchte einer ganzen Generation«973, zumal in ihren Musikvideos »[…] mit etwas Fantasie mehrere Anspielungen auf die DDR zu erkennen [… sind]: 971 Heinzlmeier, Performer. 2013, S. 85. 972 Ebd., S. 87. 973 Lange, Sascha/Burmeister, Dennis: »Good Evening, East Börlin«. In: Zeit im Osten, Ausgabe vom 08. 05. 2013, S. 12–13. Das Identifikationspotenzial der Band unter den DDR-Fans wurde beim legendären Konzert der Gruppe in Ost-Berlin im Jahr 1988 sichtbar, als ihre Fans Unsummen für Tickets bezahlten.

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de[r] Blick auf die Berliner Mauer, die Zerstörung eines russischen Lada-Kombis mit Vorschlaghämmern und vernebelte Industriebrachen, die im Osten in jedem Ort zu finden waren«974. Die westliche Pop-Musik verkörpert damit nicht mehr das provokative Potenzial der Beat- und Rock-Musik von Jimi Hendrix und den Rolling Stones, stattdessen gerät sie zu einer Kompensations- und Evasionsmöglichkeit, die durch Rundfunksender wie RIAS in der DDR Verbreitung findet und unter den Jugendlichen eine starke Resonanz entfaltet – zumal sie als Ausdruck westlicher Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung gilt. Bei ihren Tanzveranstaltungen sind unter den Jugendlichen Lieder beliebt, die ein gewisses Störungspotenzial aufweisen und mit denen sie sich von der Institution Schule und dem offiziellen Diskurs der DDR abgrenzen können.975 In Schneckenmühle wird explizit auf mehrere NDW-Lieder verwiesen, die den Heranwachsenden Potenzial zur Rebellion eröffnen. Zum Beispiel präsentiert Markus’ Ich will Spaß eine für das psychosoziale Moratorium der Adoleszenz charakteristische Lebensvision, in der übersteigerter Konsum, Grenzüberschreitungen und Hedonismus zum Tragen kommen. Im historischen DDR-Kontext kommt eine politische Dimension hinzu: Der Song gilt in der DDR aufgrund der Erwähnung des Begriffs Deutschland als Provokation, da im öffentlich-politischen Diskurs großer Wert auf die Verwendung der Termini DDR und BRD gelegt wird. Jens und seine Freunde sind nun besonders darauf bedacht, die Textstelle »Deutschland, Deutschland, hörst du mich?« laut mitzusingen. Das gemeinsame Singen verleiht ihrem rebellischen kollektiven Bewusstsein Nachdruck. Im Ferienlager erreicht ein organisierter Party-Abend seinen Höhepunkt durch das Abspielen von zwei Liedern, die hohes symbol-politisches Potenzial aufweisen: Es handelt sich zum einen um das Lied Give peace a chance von John Lennon, zum anderen um das Lied People are people von Depeche Mode. In beiden Songs geht es um die Notwendigkeit des Friedens für das menschliche Zusammenleben. Damit vermitteln die Lieder zwar keine neue musikgeschichtliche Botschaft, doch beide Songs entfalten im spezifischen Kontext der DDR eine identitätsstiftende Funktion für eine junge Generation, die sich jenseits sozialistischer Vorstellungen positioniert und deren Visionen eher an der westlichen Welt orientiert sind. Der intertextuelle Bezug zu einem in der westlichen Friedensbewegung kanonisierten Text bestätigt primär die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen, abseits von Ideologien. In der Tat avancierte das Lied von John Lennon in den 1970er und 1980er Jahren in der DDR ebenso wie im Westen zu einer der populärsten Hymnen der Friedensbewegung, die den geteilten Wunsch nach 974 Ebd. 975 Ihre Begeisterung für das Lied von Extrabreit Hurra, hurra, die Schule brennt (vgl. SM, 85) entspricht einer adoleszenztypischen rebellischen Ablehnungshaltung gegenüber den Erziehungsinstitutionen.

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Frieden und die Sehnsucht nach der Überwindung des Kalten Krieges artikulierte.976 Das Singen als Gemeinschaftserfahrung löst mithin ein Gefühl von Gemeinschaft ebenso wie ein kollektiv geteiltes Aufstörungsmoment hervor. An anderer Stelle greifen die Heranwachsenden auf volkstümliche Lieder und Schlager zurück, um Erfahrungen kollektiv zu besingen, die im Zuge der Adoleszenz relevant sind. Mit dem Lied Lenchen ging mit 14 Jahren in den tiefen Wald spielen die Jugendlichen auf das Sammeln sexueller Erfahrungen und auf mögliche Risiken einer ungewollten Schwangerschaft an. Auch Themen wie die sexuelle Erkundung des anderen Geschlechts und das Flirten geraten durch den Schlager Ein junger Mann, Mutti, hat mich geküßt, Mutti von Mary & Ann als Gemeinschaftserfahrung des Ferienlagers ins Zentrum des jugendlichen Bewusstseins. Das gemeinsame Singen erweist sich als kollektive Strategie der Verarbeitung einer wichtigen adoleszenten Entwicklungsaufgabe, der Annäherung an das andere Geschlecht.

5.5.6 Fazit Zusammenfassend lassen sich folgende Aspekte herausstellen: Der chronologisch aufgebaute Text Schneckenmühle konzentriert sich auf die Handlungsebene, also das Figurenerleben in der erzählerischen Gegenwart des Ferienlagers. Der unvermittelte Einstieg markiert den spannungsgeladenen Charakter von erlebter Unmittelbarkeit. Die von Schmidt gewählte Erzählinstanz eines autodiegetischen Erzählers verleiht der Darstellung einen hohen Authentizitätscharakter. Dem naiven Horizont der vierzehnjährigen Fokalisierungsinstanz wird durch die Verwendung einer lexikalisch wie syntaktisch einfachen Jugendsprache zusätzlich Ausdruck verliehen. Der Einsatz einer autodiegetischen Erzählinstanz und einer kontinuierlichen internen Fokalisierung erweisen sich als wichtige stilistische Mittel, um die narrative Sympathielenkung zu fördern. Die Innensicht macht die Haltung und Handlungsmotive der adoleszenten Figur für den Leser nachvollziehbar und trägt, da sie ein miterlebendes Lesen ermöglicht, zu einer stärkeren Identifikation mit dem Protagonisten bei. Weitere narratologische Elemente wie der ausgewählte Raum des Ferienlagers sowie die Konzeption von Jens als dynamische Figur tragen entscheidend zur Darstellung der Identitätssuche des Protagonisten bei. Wichtige historische Zusammenhänge und gesellschaftliche Aspekte werden auf indirekte Weise, durch die figurale 976 Zum politischen Symbol John Lennons in der DDR vgl. Rauhut, Michael: Held der Arbeiterklasse: Zur John-Lennon-Rezeption in der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 27/ 2010, S. 21–27, hier: S. 27.

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Verkörperung der sozialen und ideologischen Tendenzen der Zeit, präsentiert, wie zum Beispiel die Distanzierung der Heranwachsenden von der ›ostpolitischen DDR-Realität‹ und ihre Identifikation mit der westlichen Musik. Ebenso werden Konfliktlagen in den Dialogen der Figuren verhandelt, so heißt es etwa: »Es müsste sich eben irgendwie alles ändern.« (SM, 120) Im Gegensatz zu zahlreichen anderen historischen Jugendtexten, in denen das Augenmerk auf die Verarbeitung von traumatischen Schicksalen in der DDR gerichtet wird, lenkt Schmidt seinen erzählerischen Fokus auf eine besondere Erfahrung im Leben eines Jugendlichen, das Ferienlager. Die ideologischen Aspekte spielen in Schmidts Roman eine untergeordnete Rolle. Sie gehören zum Alltag des pubertierenden Jungen, der sich in erster Linie mit sich selbst, seiner Identitätssuche auseinandersetzt. Schmidts Darstellung dient nicht dazu, die DDR-Geschichte als dunkles und tragisches Kapitel der deutschen Geschichte zu inszenieren und ihre womöglich traumatischen Folgen auf die Bürger zu verarbeiten. Im Zentrum der Darstellung steht vielmehr der Umstand, dass Adoleszenz in einer geschlossenen Gesellschaft in hohem Maße ›normal‹ verlaufen kann. Gesamtheitlich betrachtet präsentiert Schmidt mit seinem Roman Schneckenmühle eine individuelle Erinnerung, die das dominierende Kollektivgedächtnis in Frage stellt bzw. ergänzt.

5.6

André Kubiczek: Skizze eines Sommers – »Küssen ist fast so schwer wie Rauchen«977

André Kubiczeks Text Skizze eines Sommers gehört zu einer Gruppe von Texten, deren Hauptanliegen die Inszenierung von Erinnerung an die Jugend und Kindheit in der ehemaligen DDR ist. Versucht man Kubiczeks Text einer Gattung zuzuordnen, dann lassen sich eindeutig Merkmale eines postmodernen Adoleszenzromans erkennen. Gleichwohl lässt sich der Text der Gattung der fictions of memory zuordnen und unter Bezug auf Birgit Neumann als Gedächtnisroman bestimmen. Die erzählte Zeit beschränkt sich auf einen Zeitraum von sieben Wochen in den Sommerferien. Die Handlung ist auf einer gegenwärtigen Erzählebene verortet und wird, abgesehen von einzelnen kurzen Analepsen mit Kindheitserinnerungen, chronologisch und ausschließlich aus der Perspektive des sechzehnjährigen René erzählt. Nachträgliche Wertungen werden nicht vorgenommen und der Wissenshorizont des damaligen Protagonisten wird auch nicht erweitert. Der Ich-Erzähler verstrickt die Leser gelegentlich in die Ereignisse, um eine Verständigung zwischen ihm und dem Leser über das Erzählte zu 977 Kubiczek, André: Skizze eines Sommers. Berlin: Rowohlt 2016, S. 208 [im Folgenden unter der Sigle »SeS« mit Seitenzahl im Text].

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suggerieren, aber auch, um den Geschehnissen einen Authentizitätscharakter zu verleihen.

5.6.1 Zu Autor und Werk Kubiczek wurde am 20. Januar 1969 in Potsdam als Sohn zweier Staatswissenschaftler der Potsdamer Hochschule Staat und Recht geboren. Aufgewachsen ist Kubiczek in der DDR. Sein Vater arbeitete als Unterhändler der DDR in Genf, stand jedoch laut Kubiczek in Kontakt mit DDR-Kritikern. Seine Mutter verstarb 1985 an Krebs. Kubiczek besuchte nach dem Tod der Mutter ein Internat, wo er 1987 sein Abitur machte. Während der Wende absolvierte er seinen Militärdienst. Nach der Wende studierte Kubiczek ab 1990 Germanistik, Philosophie und Komparatistik in Leipzig, brach dieses Studium jedoch ab. »Der Salinger des deutschen Ostens«978, wie ihn Michael Pilz bezeichnet, liefert mit Skizze eines Sommers einen Text, in dem die Jugend im Vordergrund steht. Rückblickend betrachtet Kubiczek seine eigene Jugend in der DDR als eine »großartige Zeit«979, in der etwas Neues anfing, ohne zu wissen, worauf es hinauslaufen würde. Das Schreiben dient Kubiczek dazu, das nostalgische Gefühl, das durch die Erinnerung an seine Jugend ausgelöst wird, vor der Vergänglichkeit zu bewahren: »Das [wehmütige – der Verf.] Gefühl ist sozusagen zwischen die Buchdeckel gebannt […].«980 Genauso wie bei anderen Autoren der Entgrenzten Generation übernimmt der Text also eine Archivierungsfunktion.981 Von der Kritik wurde der Text überwiegend positiv aufgenommen und landete auf der Shortlist zum deutschen Bücherpreis. Betont wird der »lässige[] Huckleberry-Finn-Ton«982 des Romans. Meike Fessmann drückt es pointiert aus: Kubiczek »[…] unterlegt seinen coolen Sommer-Sound mit einer Hintergrundstrahlung, die dem Oszillieren zwischen Dunkelheit und Helle, zwischen dem Schwarzen und dem Leuchtenden, das ihn auf allen Ebenen charakterisiert, große Intensität verleiht.«983 Christoph Schröder attestiert ihm ein besonderes

978 Pilz, Michael: So groß war die Freiheit im letzten Sommer der DDR. In: Die Welt vom 21. 07. 2016. In: [letzter Zugriff am 20. 03. 2020]. 979 Vgl. Otremba, Gérard: Interview mit dem Schriftsteller André Kubiczek. In: [letzter Zugriff am 20. 03. 2020]. 980 Ebd. 981 Vgl. Jochen Schmidt, Torsten Schulz und Nadja Klier. 982 Fessmann, Meike: Küssen ist fast so schwer wie Rauchen. In: Süddeutsche Zeitung, Ausgabe vom 22.09.16, S. 14. 983 Ebd.

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Talent für die authentische Darstellung der adoleszenten Übergangsphase.984 Im Jahr 2017 wurde der Roman erfolgreich auf die Bühne gebracht. Ein Fortsetzungsroman mit dem Titel Straße der Jugend erschien im Jahre 2020. Skizze eines Sommers steht in engem thematischen Zusammenhang mit dem bisherigen Werk des Autors. Sein Debütroman Junge Talente (2002) und Das fabelhafte Jahr der Anarchie (2014) thematisieren den Zeitraum um die deutsche Wende. Mit Skizze eines Sommers schließt sich der Kreis zu seinem Debüt, denn beide Texte inszenieren Adoleszenzprozesse in der DDR der 1980er Jahre. In Junge Talente verlässt der adoleszente Protagonist seine provinzielle Heimatstadt, um in der facettenreich schillernden Subkultur des Prenzlauer Bergs seine Individuation voranzutreiben. In Kubiczeks Darstellungen wird der Individuationsprozess der Protagonisten besonders durch westliche Musikstile und Literatur geprägt. Politische Themen werden nur beiläufig angesprochen oder aus der Perspektive der Romanfiguren präsentiert. Der Roman Skizze eines Sommers trägt autobiographische Züge: Sowohl der Autor als auch die Hauptfigur wachsen in Potsdam auf und das Familienbild ist vergleichbar. Auch in Bezug auf die Bildung gleichen sich Autor und Protagonist – beide besuchen nach Abschluss der Schule ein Eliteinternat. Auch die Liebe zur Pop-Musik, die für Kubiczek eine wichtige Inspirationsquelle darstellt, teilt er mit seiner Hauptfigur. Ein Mixtape mit seinen Lieblingssongs wird wiederholt zur Charakterisierung des Protagonisten herangezogen.985 Ebenso spielt die Literatur für die Persönlichkeitsentwicklung Kubiczeks eine entscheidende Rolle und einige Texte, die ihm Denkanstöße gegeben haben, werden von dem Protagonisten reflektiert. Bei dem Text geht es trotz allem nicht um autobiographisches Schreiben, sondern um die Darstellung von Jugend und das mit ihr verknüpfte Lebensgefühl. Sein Leben als Jugendlicher dient ausschließlich als Imaginationsgrundlage.

5.6.2 Zum Inhalt Die Handlung des Romans ist im Sommer 1985 in Potsdam verortet. Der Vater des Protagonisten Rene´ reist als Delegierter der Partei beruflich zu Abrüstungsverhandlungen in die Schweiz und überlässt dem 16-ja¨ hrigen Sohn tausend Ostmark für das Lebensnotwendige. Zudem erhält er 200 Ostmark als Geschenk 984 Schröder, Christoph: Zeit des Mixtapes. In: Tagesspiegel, Ausgabe vom 28. 06. 2016. [letzter Zugriff am 25. 03. 2020]. 985 Kubiczek präsentiert in seinem Roman eine musikalische Selektion, die im Kapitel 5.6.6 Zur Bedeutung von Musik und Literatur als Instrumente der Selbstsozialisation noch genauer erläutert wird.

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zu seinem bevorstehenden sechzehnten Geburtstag. Die Schulferien stellen eine Übergangsphase dar, bevor René auf ein Eliteinternat in Halle/Saale geht. Der jugendliche Protagonist befindet sich in einem entwicklungspsychologischen Zwischenstadium, in dem er die Abwesenheit des Vaters willkommen heißt und mit seinen Freunden Dirk, Michael und Mario die Ferien genießt, ohne sich von seinem Doppeldeck-Kassettenrekorder aus dem Intershop trennen zu müssen. Sie hören Musik, feiern, trinken Alkohol, rauchen und lernen Mädchen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen kennen. René brennt darauf, das »Mädchen ohne Namen« (SeS, 86), das in der Mehrzweckhalle Orion nie zur falschen Musik tanzt, wiederzusehen. Solange das Mädchen ohne Namen im Urlaub ist, verbringen aber Mario und René ihre Zeit mit Connie und Bianca, um die kostbare Sommerzeit sinnvoll auszunutzen. Die Mädchen haben im Vergleich zu den Jungen einen Entwicklungsvorsprung: einerseits wissen sie etwas mehr über Sex, andererseits haben sie schon klare berufliche Ziele im handwerklichen Bereich. Durch die intellektuelle Rebecca wird die Freundschaft der Jungen untereinander geprüft, da sie alle das Mädchen anbeten und um ihre Zuneigung kämpfen. Die Jungen befinden sich auf der für die Phase der Adoleszenz typischen Suche nach ihrer Identität. Dabei inszeniert sich jeder auf seine Art: Renés Freunde Dirk und Michael führen sich wie Dandys auf und lesen wie René Texte von Baudelaire, Mallarmé oder Rimbaud. Mario setzt sich als frühreifer Verführer bzw. Frauenschwarm ohne intellektuelle Ambitionen in Szene. René stilisiert sich wiederum zum Außenseiter, sein Erscheinungsbild ist ihm unheimlich wichtig. Mit seinen schwarzen Anzügen und seinen toupierten Haaren macht er unter Gleichaltrigen auf sich aufmerksam. Er hört westliche Musik von The Cure bis hin zu Sisters of Mercy, aber am liebsten sind ihm Interpreten und Gruppen jenseits des westlichen Achtziger-Mainstreams, zum Beispiel Durutti Column oder Martha and The Muffins. Mit seinen Freunden verbringt René die Freizeit in Cafe´s und Discos; fährt mit ihnen in einen spontanen Kurzurlaub und freut sich über die gewonnenen Freiheiten. Für René ist diese Zeit aber auch von Trauer geprägt, denn seine Mutter verstarb zwei Jahre zuvor an Krebs. Während des Sommers erinnert er sich gelegentlich an sie und versucht den Verlust zu verarbeiten.

5.6.3 Zu den adoleszenten Selbstinszenierungsritualen Im Zuge der Adoleszenz versuchen Heranwachsende ihre Identität zu stärken und sich von der Erwachsenenkultur zu distanzieren. Die adoleszente Selbstpositionierung erfolgt unter anderem durch Abgrenzungspraktiken, die häufig

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mit der Ästhetisierung des Körpers verknüpft sind.986 Zu den (Körper)Inszenierungsritualen der Protagonisten in Skizze eines Sommers gehören neben identitätsstiftenden Kleidungsstilen auch entsprechende Frisuren. Mit seinen schwarzen Klamotten und seiner toupierten Frisur ruft René beim Vater Irritationen hervor: »Mensch, du siehst aus wie ein Leichengräber, René.« (SeS, 20) Auch außerhalb des familiären Umfeldes erzeugen er und seine Freunde mit ihrem äußeren Erscheinungsbild Irritationen bei den Erwachsenen und markieren damit einen Abstand zur Eltern-Generation und zur Gesellschaft: »Ein paar von den Fußgängern guckten jetzt tatsächlich zu uns rüber. Ziemlich schräg sogar. Lag aber wahrscheinlich gar nicht an dem Schnaps, der ja unsichtbar war in der Cola. Hing wahrscheinlich eher mit unseren Klamotten zusammen. Wer lief schon bei Kurze-Hosen-Wetter im Anzug rum? Schwarz wie die Nacht. Und dann noch den obersten Hemdknopf geschlossen wie der letzte Streber?« (SeS, 65) [Hervorh. d. Verf.]

Insbesondere im schulischen Umfeld erleben die Protagonisten die Wirkmächtigkeit ihrer ästhetischen Inszenierung. Entsprechend heißt es: »Als wir Mitte der Zehnten plötzlich in Anzügen zur Schule gekommen waren, Michael, Dirk und ich, Haare hoch und Broschen aus falschen Diamanten am Revers, hieß es auch sofort, wir seien dekadente Subjekte.« (SeS, 14)

Konfrontiert mit dem Erscheinungsbild der Jugendlichen, greifen die Klassenlehrerin und der Direktor reflexartig auf eine Abwehrstrategie zurück und stempeln die Heranwachsenden als »dekadente Subjekte« ab, ohne sich mit den Interessen und Handlungsmotiven der Jugendlichen auseinanderzusetzen. Im Laufe der Zeit lernen René und seine Freunde, Strategien zu entwickeln, um durch gute schulische Leistungen diese Probleme zu kompensieren. Der symbolische Erfahrungsraum der Schule wird von ihnen instrumentalisiert, um ihre Akzeptanz unter Gleichaltrigen zu erhöhen, indem sie die offiziellen Indoktrinationsversuche konterkarieren, ad absurdum führen und durch ein übertrieben militärisches Auftreten, mithin durch die Wiederholung von Phrasen aus dem offiziellen ideologischen Diskurs den Inhalt des Staatsbürgerkundeunterrichts karikieren und damit ein distanziertes Verhalten an den Tag legen. Süffisant beschreibt der Ich-Erzähler das Verhalten der Freundesgruppe während des Staatsbürgerkundeunterrichts: 986 Carsten Gansel verweist auf die wichtige Funktion von (Körper-)Inszenierungen, die als »funktionale Äquivalente« von Ritualen betrachtet werden können. Gansel markiert die Bedeutung des Körpers und anderer Elemente, wie zum Beispiel Kleidung, Haare, Körperausdruck, modische Accessoires, u. a., als Mittel, um eine Differenzerfahrung zum Ausdruck zu bringen. Vgl. Gansel, Carsten: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur. In: Arnold, Heinz Ludwig/Schäfer, Jörgen (Hg.): Text+Kritik. Sonderband: Popliteratur. München: edition text + kritik 2003, S. 234–257, hier: S. 248; vgl. Kapitel 2.2.5 Zur Bedeutung des Körpers in der Adoleszenz.

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»Wann immer einer von uns im Staatsbürgerkundeunterricht aufgerufen wurde, Dirk, Michael und ich, wo wir in der letzten Bankreihe saßen und normalerweise Neuaufteilung der Welt spielten, mit Karten, die wir aus dem Geschichtsbuch gerissen hatten, dann schnellten wir hoch wie von der Tarantel gebissen, schlugen die Hacken zusammen, legten die Hände an die Hosennaht und skandierten zackig die Antwort heraus. Zum Beispiel, dass Sowjetmacht plus Elektrifizierung gleich Kommunismus bedeute. […] Hatten wir den Spruch zu Ende aufgesagt, schlugen wir noch mal die Hacken zusammen und setzten uns wieder hin. Die Klasse lachte, und die Lehrerin, die frisch von der Hochschule gekommen war, wurde rot. Sie hatte uns tadeln wollen und musste uns stattdessen loben für die richtige Antwort.« (SeS, 23f.) [Hervorh. d. Verf.]

Das äußere Erscheinungsbild ist für Renés Selbstverortung ausschlaggebend. Es ist für die Adoleszenz charakteristisch, dass der eigene Körper, dessen Veränderungen Unsicherheiten und Ängste verursachen, zum Rückzugsort des Heranwachsenden wird. In dieser Übergangsphase nutzt der Adoleszente seinen Körper typischerweise, um sich in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen. Auch René legt besonderen Wert auf seine Außenwirkung und empfindet seinen Körper als Objekt der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Er reflektiert die Bedeutung der Inszenierungspraktiken und vergleicht sein aktuelles auffälliges Erscheinungsbild mit seinem Kleidungsstil als Vierzehnjährigem. So heißt es: »Ihr müsst wissen, dass wir damals, in der achten Klasse noch keine schwarzen Klamotten trugen, keine Anzüge und nichts. Wir sahen aus wie die letzten Eimer, karierte Hemden, Konsumjeans, Turnschuhe und so.« (SeS, 42) [Hervorh. d. Verf.]

Anhand von kurzen Analepsen kann sich der Ich-Erzähler an Vergangenheitsepisoden erinnern und über seine Veränderungen nachdenken. Die im Text markierte Distanz zwischen dem erlebenden Ich und dem erzählenden Ich macht den Entwicklungsfortschritt sichtbar. Seine Suche nach einem positiven Körpergefühl, nach einem neuen befriedigenden Umgang mit dem eigenen Körper, manifestiert sich durch das leitmotivisch wiederkehrende Betrachten im Spiegel, das meistens im Zusammenhang mit der Haarpflege auftritt. René verbringt viel Zeit vor dem Spiegel, um die Frisur so zu gestalten, dass sein abstehendes Ohr kaschiert wird (vgl. SeS, 17).987 Regelmäßig überprüft er im Verlauf des Tages vor dem Spiegel, dass seine Haare richtig liegen: »Kurz vor vier ging ich ins Bad, kontrollierte die Haare […].« (SeS, 85) Mit seinem Verhalten vor dem Spiegel stellt er die Geduld seines Vaters schwer auf die Probe: »Herrgott, schlimmer als ein Mädchen!« (SeS, 18) In der Clique stehen die Jungen in einem ständigen Wettbewerb um die Gunst der Mädchen. Auch dabei spielen die körperliche Entwicklung und ihr Aussehen 987 Auch Viktoria versucht durch die Frisur ihr Segelohr zu verstecken. Darin erkennt man die Schwierigkeiten der adoleszenten Figuren, ihren eigenen Körper zu akzeptieren (vgl. SeS, 144).

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eine wichtige Rolle. René vergleicht sich zum Beispiel mit seinem Freund Mario, der zwar fast zwei Jahre jünger ist, aber wie ein Achtzehnjähriger aussieht und noch dazu aufgrund seines libanesischen Vaters eine exotische Ausstrahlung hat. Anders als René hat Mario »einen mächtigen Schlag bei den Mädchen« (SeS, 49) und keine Probleme beim Kauf von Zigaretten.988 Die Clique als Treffpunkt mit Gleichgesinnten avanciert zu einem Selbstsozialisationsraum, in dem durch das kollektive Lesen westlicher Literatur alternative Wertvorstellungen weitergegeben werden und die Protagonisten ihre Identitätsentwicklung fördern (vgl. SeS, 96f.).989 Zu ihrer Selbstdarstellung gehört ihr Habitus, erkennbar etwa an dem äußeren Erscheinungsbild und an den intellektuellen Attitüden von René, Dirk und Michael. Insbesondere letztere überspielen ihre Unsicherheit und Minderwertigkeitskomplexe durch ein überhebliches Auftreten, durch einen Sprachstil, der von intellektuellen Phrasen gespickt ist, und durch die stetige Betonung von Distinktionsmomenten gegenüber Heranwachsenden, die nicht auf die EOS gehen können und sich für handwerkliche Berufe entscheiden, wie Connie und Bianca. Kubiczek setzt auf den Dialog, mithin auf die Figurenrede, um die Subjektivität der einzelnen Figuren zu vermitteln: »›Dann ist deine Connie ja ein Mädchen aus dem Volk‹ sagte Dirk. ›Sehr löblich, Mario, dass du mit der Arbeiterklasse anbändelst‹« (SeS, 133) oder »[René,] du bist echt nicht deren Kaliber. – Das ist eher’ne Braut für die Panikrocker aus dem Orion: Abgang achte Klasse, Maurerlehre.« (SeS, 181) [Hervorh. im Original]990 Betrachtet man die semantisch-codierten Implikationen der Topographien, dann muss die Verbindung zwischen den diegetischen Räumen und den dort realisierten Inszenierungspraktiken genauer analysiert werden. Durch den Umstand, dass René »sturmfrei« (SeS, 22) hat, wird die Wohnung zu einem freien Raum außerhalb der Kontrolle der Eltern, in dem René und seine Freunde gemeinsam Alkohol trinken und exzessiv rauchen.991 Zu den üblichen Inszenierungsritualen der Clique gehört der Besuch des Cafés Heider, eines Begegnungsortes von Künstlern und subkulturellen Bewegungen, und das geschieht sogar gegen den ausdrücklichen Wunsch des Vaters. Damit grenzt sich René

988 Dieser Konkurrenzkampf prägt die Entwicklung der einzelnen Figuren durch den gesamten Text. Vgl. zum Beispiel den Kampf von Michael und Dirk um die Gunst von Rebecca (vgl. SeS, 149f.). 989 Näheres dazu im Kapitel 5.6.6 Zur Bedeutung von Musik und Literatur als Instrumente der Selbstsozialisation. 990 Durch ihre Sublimierungsfähigkeit versuchen Adoleszente wie René die enorme Triebzunahme in geistige Fähigkeiten umzulenken. Dieser Vorgang manifestiert sich in der Intellektualisierung des Protagonisten. Vgl. Blos, Adoleszenz. Eine psychoanalytische Interpretation. 1973, S. 131ff., 205. 991 Zu den üblichen jugendlichen Praktiken gehört der exzessive Konsum von Alkohol und Tabak.

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bewusst von ihm und seinen Wertvorstellungen ab. Süffisant kommentiert der Ich-Erzähler: »Leider war es zu diesem Zeitpunkt schon zu spät gewesen für den gut gemeinten Rat, da waren wir längst Stammkunden und saßen zwischen den Hippies rum mit ihren Shell-Parkas und Kletterschuhen, zwischen den Punks, auf deren Lederjacken Exploited stand und nicht Billy Idol, wie bei den Panikrockern aus unserem Wohngebiet, zwischen den Homosexuellen mit den getönten Pilotenbrillen und den Halstüchern aus Seide. Alles Feinde unseres Landes und arbeitsscheue Gestalten, hieß es in manchen Kreisen.« (SeS, 166) [Hervorh. im Original]

Das Café Heider steht symbolisch für einen Ort der Abweichung. Dort setzen sich die Jugendlichen mit ihren intellektuellen Phrasen über Literatur und Politik in Szene, protokollieren ihre Einfälle, übertragen Gedichte aus literarischen Texten von Baudelaire, Mallarmé und anderen Autoren in ihre Notizbücher und trinken ihre Martinis. Entscheidend ist nicht das Erlebnis selbst, sondern wie man von anderen wahrgenommen wird: »Wir nippten immer nur an unseren Martinis, schön langsam, damit sie eine Weile hielten und von vielen gesehen werden konnten, […].« (SeS, 169f.) Einen weiteren wichtigen Ort für die adoleszente Inszenierung stellt die Mehrzweckgaststätte Orion dar, wo sich die Jugendlichen mittwochs und sonntags zum Feiern treffen. Aus der Sicht des Protagonisten wird die Dynamik der Situation wie folgt beschrieben: »Wenn die grell erleuchteten Straßenbahnen über die aufgeschüttete Trasse jenseits der diesigen Nuthewiesen in Richtung Orion schossen, konnte man schon aus großer Entfernung ihre schwarzen Anzüge erkennen, die Fledermausärmel der schwarzen Blousons, ihre gefärbten Haare, die zu ungeheuren Skulpturen toupiert waren, und man ahnte das Glitzern der Ohrgehänge und der Diademe und der genauso falschen Broschen.« (SeS, 63) [Hervorh. im Original]

Die Jugendlichen aus der Stadt nehmen die Straßenbahnen in Beschlag, zeigen demonstrativ ihre ästhetisierten Körper und verleihen der Straßenbahn und Umgebung eine eigene Dynamik. Auf diese Weise verwandelt sich auch die Mehrzweckgaststätte Orion in einen jugendkulturellen Raum mit eigenen Gesetzen.992 Nach der griechischen Mythologie handelt es sich bei Orion um einen unter die Sterne versetzten Jäger, der von Zeus mit einer Vorliebe für erotische Abenteuer ausgestattet wurde. Der mythologische Bezug spielt auf die potenziellen sexuellen Begegnungen an, die im Diskoraum initiiert werden. Der Orion ist 992 Die Mehrzweckgaststätte Orion fungiert als bedeutender Schwellenort, an dem die Entwicklung der Heranwachsenden erkennbar wird. Heranwachsende erleben sich zunehmend in einer autonomen Rolle in einem erweiterten Erfahrungsraum, der ihnen u. a. größere Möglichkeiten für die Aushandlung von Geschlechterrollen eröffnet. Die Mehrzweckhallen und die Diskos sind relevante identitätsstiftende Räume, in denen sich Heranwachsende während der Adoleszenz neu positionieren.

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erstens der Ort der Verabredungen von Mädchen und Jungen: »›Kommst du morgen ins Orion?‹ Sie blieb stehen und drehte sich um: ›Kommst du denn?‹ ›Ja, logisch.‹ ›Dann komme ich auch.‹« (SeS, 105) Zweitens ist es der Ort, wo man Blickkontakt mit dem anderen Geschlecht aufnehmen kann: »Zwischen den Köpfen der anderen Tanzenden tauchte ab und zu Fritzis große Schwester auf, und weil auch sie mich bereits fixiert hatte, trafen sich unsere Blicke alle paar Momente, […].« (SeS, 155) Drittens ist es der Ort, wo man das Interesse am anderen Geschlecht entdeckt. Aus der Sicht des Ich-Erzählers wird Bianca entsprechend eingefärbt dem Leser präsentiert: »[Ich] drehte […] mich zur Tanzfläche, wo Bianca zu dieser optimistischen Kaugummimusik tanzte. Friseuse hin, Friseuse her, dachte ich, sie sah schon gut aus auf ihre spezielle Art.« (SeS, 135) Viertens ist es ein Ort der Selbstinszenierung, in dem die Protagonisten durch das Tanzen mit dem eigenen Tanzstil auf sich aufmerksam machen und sich für mögliche Partner interessant machen können. Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich um einen Ort handelt, der für das von Erikson genannte soziale Spiel prädestiniert ist und in dem Heranwachsende wie René ihre ersten Pettingerfahrungen sammeln (vgl. SeS, 156).

5.6.4 Zur sexuellen Initiation Wie üblich ist Renés Adoleszenz durch sein erwachendes Interesse für das andere Geschlecht geprägt. Bedingt durch den Tod seiner Mutter genießt er unter den Freunden und den Mädchen ein hohes Ansehen. Als Vierzehnjähriger wird er von vielen der meist schon weiter entwickelten Mädchen seines Alters wahrgenommen, die sich sonst nur mit älteren Jungen unterhalten (vgl. SeS, 40). Zu seinem Bedauern entwickelt sich aus den Gesprächen aber keine verbindliche Beziehung, auch wenn er fleißig seinen Doppelkassettenrecorder zum Kopieren von Kassetten zur Verfügung stellt, um seine Beliebtheit zu steigern. Rückblickend erkennt der Leser bei René ein unerfülltes Bedürfnis nach sozialem Kontakt mit Mädchen und ein ausgeprägtes Interesse für das andere Geschlecht. Zwei Jahre später kann René durch die Begegnung mit dem »Mädchen ohne Namen« seinen emotionalen Zustand stabilisieren, was der Ich-Erzähler entsprechend kommentiert und bewertet: »Mit einem Mal war sie weg, die Melancholie, die Gedanken an Leben und Tod und treulose Freunde. Alles war leicht, und alles hatte einen Sinn.« (SeS, 103) Seine erste Begegnung ist geprägt von Zurückhaltung und der adoleszenten Unsicherheit, eventuell abgewiesen zu werden. Seine Hemmungen zeigen sich auf der sprachlichen Ebene einerseits durch die kurzen Antworten, andererseits durch die Auslassungszeichen und die Gedankenstriche, die entweder Denkpausen und Momente der Sprachlosigkeit

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signalisieren oder einen Themenwechsel markieren, um das abgebrochene Gespräch fortsetzen zu können (vgl. SeS, 100ff.). Bereits im Zusammenhang mit der Erarbeitung der adoleszenten Selbstinszenierungspraktiken wurde gezeigt, wie der jugendkulturelle Raum den Protagonisten die Möglichkeit eröffnet, sich als autonome Subjekte in einem erweiterten Raum außerhalb der Familie zu erleben. Die Anziehungskraft der außerfamiliären Objekte führt dazu, dass Protagonisten wie René und seine Freunde ständig unterwegs sind, um Mädchen zu begegnen, wozu auch die regelmäßigen Termine im Orion genutzt werden. Der Diskoraum wird zu einem Ort der Begegnung, der Selbstinszenierung und der Entfaltung sexueller Interessen und Bedürfnisse. Dort kann René neue soziale Rollen aushandeln, zum Beispiel durch Unterhaltungen oder körperliche Annäherung an Bianca oder das »Mädchen ohne Namen«. In diesem Kontext erleichtert der Alkoholkonsum die Begegnung mit dem anderen Geschlecht und hilft, die eigene Unsicherheit zu überspielen, wie der Ich-Erzähler zusammenfassend und wertend reflektiert: »Schon nach dem ersten Schluck merkte ich, wie der Nebel in meinem Kopf wieder zu steigen begann. Und wie er die Leichtigkeit mit sich brachte. Die Gleichgültigkeit. Die Gelassenheit.« (SeS, 143) Das Eingehen auf das andere Geschlecht und das damit verknüpfte Erleben ambivalenter Gefühle bereiten René trotz Alkoholkonsum emotionale Schwierigkeiten, als er mit dem Selbstbewusstsein Biancas und ihrem körperbetonten und aufgeschlossenen Auftreten konfrontiert wird. Die Reflexion des Erzählers fällt entsprechend deutlich aus, wenn es etwa heißt: »Dann drängelte sich Bianca zu mir durch und stand mir plötzlich gegenüber. Und ihre Brüste bewegten sich beim Tanzen auf diese Art, die ich vorhin schon beobachtet hatte, nur jetzt eben ganz nah, direkt vor meiner Nase, keine fünfzig Zentimeter weg. Das war magisch. Ich wollte da nicht dauernd hingucken, aber irgendein Naturgesetz schaltete meinen Willen aus.« (SeS, 155) [Hervorh. d. Verf.]

Renés Unsicherheit, wie er auf das Verhalten Biancas reagieren soll, ist durch den Umstand seiner sexuellen Erregung bedingt und durch die Angst, das »Mädchen ohne Namen« zu verlieren. Die Wahl des autodiegetischen Erzählers, verstärkt durch die interne Fokalisierung, ermöglicht ein miterlebendes Lesen und verdeutlicht, in welche Achterbahn der Gefühle René durch seine erwachende Sexualität und seine Neugier auf das andere Geschlecht gerät. Die kurzen Sätze verdeutlichen die Spannung und Dynamik der Situation. Der Klimax verstärkt die Steigerung der Intensität des Erlebten: »[…] nur jetzt eben ganz nah, direkt vor meiner Nase, keine fünfzig Zentimeter weg. Das war magisch.« (SeS, 155) Hin- und hergerissen zwischen den zwei Mädchen, unfähig sich selbst zu positionieren, lässt er sich von der Ausstrahlung Biancas Körper verunsichern. Am

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Ende kann er Biancas Avancen nicht aus dem Wege gehen, wie der Ich-Erzähler offen zugibt: »Ich wollte das nicht, ich war ja heute eigentlich in einer völlig anderen Mission unterwegs, aber ich muss trotzdem zugeben, dass es kein schlechtes Gefühl war, von Biancas Hand gestreichelt zu werden.« (SeS, 129)

Anhand seiner Beziehung zu Bianca erprobt René seine Fähigkeit, intime Beziehungen aufzubauen, sammelt Pettingerfahrungen und bewältigt damit eine der wichtigsten adoleszenten Entwicklungsaufgaben. Obwohl Bianca die Initiative ergreift und der Ich-Erzähler von Biancas Erfahrungsvorsprung profitiert, hat er jedoch Schwierigkeiten, die sexuelle Rolle in seine Persönlichkeit zu integrieren. In der internen Fokalisierung, also über die Innensicht, wird der Wandel der figuralen Disposition angedeutet: »Bianca legte ihre Wange an meinen Hals, und ich inhalierte ihren Duft aus Parfüm und Haarspray. Meine Hände lagen auf ihren Hüften, ganz locker zuerst, und als ich den Druck etwas erhöhte, um zu sehen, was passierte, erhöhte auch sie den Druck ihrer Arme. Längst schon hatten die Naturgesetze meinen Willen zur Contenance überrumpelt und Teile von meinem Körper in Aufruhr versetzt. Weshalb ich auch versuchte, Biancas Becken etwas auf Distanz zu halten. Weil es mir ein bisschen peinlich war.« (SeS, 184)

Die sexuellen Wünsche und Erregungen provozieren den Verlust der Selbstkontrolle und rufen blitzschnell Scham und Peinlichkeitsgefühl hervor. Dem Protagonisten gelingt es schwer, seine sexuellen Wünsche anzunehmen und damit umzugehen. Die regelmäßigen Treffen mit Bianca ermöglichen René aber sukzessive die Überwindung seiner anfänglichen Hemmungen: »Bianca küsste mich zum Abschied am Hals und hinter den Ohren, während ihre Hände durch meine Haare fuhren und über den Nacken streichelten. Ich ließ meine Hände vorsichtig über ihren Rücken wandern, über ihre Hüften und über ihren Po, und längst war alles wieder in Aufruhr.« (SeS, 197)

Nach der Trennung von Bianca kann René übergangslos durch seine Beziehung mit Victoria einen weiteren Schritt hin zum Aufbau seiner Beziehungs- und Intimitätskompetenz realisieren. Sein Erfahrungsvorsprung gegenüber Victoria gibt ihm hierbei zusätzliche Sicherheit. Mit ihr kann er weitere Pettingerfahrungen sammeln und eine emotionale Stabilität aufbauen. Entsprechend heißt es: »Ich merkte schnell, dass Victoria keine große Übung hatte beim Küssen und beim Anfassen, so wie ich selbst ja auch nicht, bevor mir Bianca ein paar gute Sachen beigebracht hatte, die ich jetzt an Victoria weitergab.« (SeS, 340)

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Die erste gemeinsame Übernachtung nutzen sie für den Austausch von Zärtlichkeit und als Möglichkeit der sexuellen Annäherung. Ausführlich reflektiert die Erzählinstanz die eingetretene Situation: »[…] und als ich zurück war, fingen wir wieder an, uns zu küssen und zu umarmen und anzufassen. […] und irgendwann hatten wir plötzlich auch keine Sachen mehr an, obenrum nicht und nicht unten, weswegen wir uns auch da anfassten, wo die Sachen vorher drauf gewesen waren, […] Wir machten nicht mehr, weil wir ja keine Pille dabeihatten und nichts und weil wir noch keine Kinder gebrauchen konnten.« (SeS, 350)

Geprägt von der Angst vor dem ersten Mal bedenkt der Ich-Erzähler die möglichen Risiken der sexuellen Handlungen und präsentiert sich als eine selbstreflexive Figur, die mit ihrer Reflexion die eigene Angst kaschieren will: »Wir waren Menschen, und wir hatten nicht umsonst die Selbstbeherrschung geschenkt bekommen von der Evolution.« (SeS, 351) Die angedeutete Aussicht auf genitale Sexualität und die damit verknüpften Gefühle verdeutlichen den Entwicklungsfortschritt der adoleszenten Figuren und die Schwierigkeiten des Protagonisten, die neue Rolle einzunehmen. Aus Renés subjektiver Sicht wird die angedeutete sexuelle Möglichkeit entsprechend eingefärbt und semantisiert: »Ich kriegte auf der Stelle mächtiges Herzklopfen, aber weil Victoria so ein Geheimnis darum machte, will ich es hier nicht gleich weitertratschen. Nur so viel: Es hing mit diesem Letzten zusammen, das wir neulich nicht gemacht hatten. Ich meine: nackt. Zwecks Kindergefahr. Und dass sie nächste Woche in die Stadt fahren wollte mit ihrer Mutter, um sich was dafür verschreiben zu lassen. Das heißt: dagegen. Was sagst du dazu? fragte Victoria nach einer kurzen Pause. ›Ich weiß nicht.‹ ›Du brauchst keine Angst zu haben.‹ ›Ich habe keine Angst.‹ ›Nein?‹ ›Das sieht nur so aus‹, sagte ich, ›komm, wir gehen wieder rein.‹« (SeS, 365f.)

Sein explizit genanntes »mächtiges Herzklopfen« offenbart seine Verunsicherung. Hinzu verdeutlicht die unterbrochene Erzählweise die Unsicherheit und Spannung des Ich-Erzählers angesichts des bevorstehenden Entwicklungsschritts. Seine Weigerung, das Gespräch mit Victoria weiterzuführen, bestätigt, wie unangenehm es für ihn ist, seine Ängste einzugestehen.

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5.6.5 Zu den intergenerationellen Beziehungen Die intergenerationellen Beziehungen spielen in Skizze eines Sommers eine Nebenrolle, da die Handlung des Protagonisten überwiegend unter Gleichaltrigen stattfindet. Dieser Umstand korrespondiert durchaus mit den im Zuge der Adoleszenz eintretenden Veränderungen bezüglich der familialen Bindung und der zunehmenden Bedeutung der gleichaltrigen Beziehungen und des jugendkulturellen Raums.993 Durch die Reflexionen der Figuren oder durch ihre Dialoge lassen sich jedoch unterschiedlich gestaltete intergenerationelle Verhältnisse weiterhin erkennen. Allgemein genießen fast alle Figuren einen großen Spielraum für die Gestaltung ihrer Freizeit, da der Autor die Handlung auf die Sommerferien begrenzt. Im Falle Renés würde man eigentlich erwarten, dass die Beziehung zum Vater durch den Tod der Mutter eine größere Bedeutung gewonnen hätte. Aber schon zu Beginn des Textes wird deutlich, dass Rene´ und sein Vater ein distanziertes Verhältnis zueinander haben. Der Protagonist selbst reflektiert darüber und beklagt die fehlende väterliche Zuwendung schon vor dem Tod der Mutter und auch danach: »Ich wusste nicht, wie ich ihn anreden sollte. Etwa so: Ey, du, da stimmt was nicht mit deinem Mantel? Ich hatte aufgehört, Papa zu sagen, als er aufgehört hatte, sich mit mir zu beschäftigen, als ich elf gewesen war oder zwölf. Und ich konnte schlecht Vater sagen, das klang irgendwie zu förmlich, obwohl es vielleicht gar nicht schlecht gepasst hätte.« (SeS, 20) [Hervorh. im Original]

Ein Austausch über persönliche Gefühle findet in der Familie nicht statt, auch nicht nach dem tragischen Tod der Mutter (vgl. SeS, 32). Folglich kann keine emotionale Nähe in der Familie entstehen. Der Vater interessiert sich nur für seine berufliche Laufbahn und hat seit dem Tod der Mutter jegliche sozialen Aktivitäten eingestellt: »Seit meine Mutter tot war, lebten wir beide ein bisschen wie Aussätzige. Falsches Wort. Wie Einsiedler […].« (SeS, 26) Das kommt Renés Außenseiterhaltung entgegen. René selbst interessiert sich nicht für die berufliche Tätigkeit des Vaters im staatlichen Dienst. Seine Erklärungen über seine bevorstehende Teilnahme an einer Genfer Abrüstungskonferenz werden dementsprechend von René nicht ernsthaft wahrgenommen. Er betrachtet seinen Vater als Teil eines sinnlosen Systems, mit dem er sich gar nicht identifizieren will 993 Die adoleszente Ablösung von den primären Liebesobjekten erkennt man unter anderem an der stetigen Abnahme der Zeit, die man mit den Eltern gemeinsam verbringt und an der kontinuierlichen Zunahme der Zeit, die man mit gleichaltrigen Freunden verbringt. Vgl. Habermas, Tilman: Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Berlin [u. a.]: de Gruyter 1996, S. 170.

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und dessen »Friedensparolen und Parolen überhaupt« (SeS, 24) für ihn keine Bedeutung mehr haben: »Ich hatte fast 16 Jahre Zeit gehabt, mich an die ganzen Sprüche zu gewöhnen.« (SeS, 23) Seine Haltung beschreibt er wie folgt: »[…] und mein Kopf stellte sich automatisch auf Durchzug.« (SeS, 24) Der Vater versucht die Vernachlässigung des Sohnes mit materiellen Zuwendungen zu kompensieren, zum Beispiel mit großzügigen Geldgeschenken und einem permissiven Erziehungsstil, der eher dem Stil einer Verhandlungsfamilie entspricht. Der Sohn und der Vater verhandeln zum Beispiel, wo René während seiner Dienstreise untergebracht werden soll. Den Vorschlag des Vaters, bei den Großeltern die Sommerferien zu verbringen, lehnt René konsequent ab. Nach ein paar Diskussionen einigen sie sich auf einen Kompromiss, der von René jedoch nicht eingehalten wird. Entsprechend kommentiert der Ich-Erzähler die Haltung der beteiligten Figuren: »Es hatte ein paar Diskussionen darüber gegeben, aber weil mein Vater nicht gerne diskutierte und ich auch nicht, jedenfalls nicht mit ihm, hatten wir uns schnell darauf geeinigt, dass ich die Hälfte der Zeit allein in Potsdam bleiben durfte und für den Rest der Ferien zu meinen Großeltern fuhr.« (SeS, 35)

Die Autorität des Vaters wird durch René wiederholt untergraben, indem er beispielsweise die teuren Napoléon-Flaschen des Vaters mit seinen Freunden trinkt und die Flaschen mit dem billigen Goldbrand aus dem Konsum füllt, er sich gegen den Willen des Vaters im Café Haider aufhält oder den mit dem Vater vereinbarten Kompromiss für die Sommerferien konsequent ignoriert und die gesamten Ferien allein verbringt. Die Familie hat sich nach dem Tod der Mutter zu einer Verhandlungsfamilie gewandelt, in der zwei ich-bezogene Akteure darauf bedacht sind, ihr Gesicht zu wahren. Der Vater versucht den Anschein einer patriarchalen Machtstruktur zu bewahren, indem er zum Beispiel während seiner Dienstreise bei René Kontrollanrufe tätigt oder gleich nach der Reise ›einen Inspektionsgang‹ durch die Wohnung macht und überprüft, ob seine Alkoholvorräte konsumiert wurden. Vater und Sohn haben sich in ihren jeweiligen Welten arrangiert. Konflikte zwischen ihnen werden zwar erkannt, aber nicht konsequent ausgehandelt. Man vermeidet die Konfrontation und es entwickelt sich eine gegenseitige Nicht-Angriffshaltung, die mit der Duldung anderer Lebensvorstellungen einhergeht. Dadurch entfällt gewissermaßen die Notwendigkeit zur Rebellion gegen den Vater. Jugendliche wie René suchen im jugendkulturellen Raum nach spezifischen Möglichkeiten, ihre Persönlichkeit frei entfalten zu können. Die Ästhetisierung des Körpers und die Selbstsozialisation durch Musik und Literatur stellen für René ein Medium der Selbstverortung auf der Suche nach seiner Identität dar, mithin generiert er damit einen Distinktionsgewinn, um dadurch die Generati-

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onsdifferenz zu wahren.994 Ideologische Vorgaben wie der Auftritt im FDJ-Hemd werden von ihm nicht mehr berücksichtigt, wie im Dialog mit dem Vater deutlich zum Ausdruck gebracht wird995: »›Wie du aussiehst! Deine Haare und diese grässlichen Schuhe und dann noch der dumme Spruch auf deiner Jacke! – Müsst ihr nicht im FDJ-Hemd kommen?‹ ›Das fehlte noch!‹ ›Du wirst einen ganz großartigen ersten Eindruck hinterlassen bei deinen Lehrern, mein Lieber. Und bei deinen Klassenkameraden – Mann, Mann, Mann!‹, sagte mein Vater und dann ›Bist du endlich fertig?‹« (SeS, 373)

Durch die häufige Verwendung von Dialogen gelingt es dem Autor, einen Einblick in die Subjektivität des Vaters zu geben und die Erzählmöglichkeiten des autodiegetischen Erzählers zu erweitern. Renés äußerliche Erscheinung produziert eine Art Selbstirritation beim Vater, die ganz im Sinne Luhmanns Folge der neuen System-zu-System-Beziehung ist.996 Entsprechend fällt seine Wertung aus, doch er muss resignierend erkennen, dass er keinen Einfluss mehr auf die Entwicklung Renés hat. Aus Renés Sicht ist die Aufgabe der Erziehung zu anstrengend für den Vater, »deshalb ist [der Vater – der Verf.] wahrscheinlich ganz froh, dass [er] aufs Internat [kommt] und der Staat das übernimmt.« (SeS, 338) Auffällig ist das paradoxe Verhalten des Vaters, da er selbst nach der Dienstreise in Genf eine Levi’s Jeans anzieht, Westfernsehen aus angeblichen beruflichen Gründen konsumiert (vgl. SeS, 26) und seinen Sohn mit Literatur versorgt, die in der DDR nicht gern gesehen ist oder lange Zeit verboten war.997 Er bringt seinem Sohn als Geschenk Texte von Samuel Beckett und Charles Bukowski mit: »In der Geschenktüte befanden sich […] fünf Bücher: Malone stirbt, Murphy und Wie es ist von Beckett und von Bukowski Terpentin on the Rocks und Gedichte, die einer schrieb, bevor er im 8. Stock aus dem Fenster sprang.« (SeS, 357) [Hervorh. im Original] Der Ich-Erzähler denkt an mehreren Stellen über das widersprüchliche 994 Vgl. King, Kultur, Familie und Adoleszenz. 2011. S. 78. 995 Wie im Kapitel 3.5 Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR erörtert wurde, kommt es ab den 1970er Jahren zu einem Mentalitätswandel. Zunehmend machte sich unter den Jugendlichen ein Gefühl von Gleichgültigkeit gegenüber den staatlichen ideologischen Vorgaben breit. Ab Mitte der 1980er Jahre prägten jugendkulturelle Gemeinschaften mit ihren Kleidungsgepflogenheiten, ihren typischen Haarschnitten und einer spezifischen alltagskulturellen Lebenspraxis die Entwicklung der Heranwachsenden. 996 Vgl. Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013, S. 41. 997 Viele Jahre galt Beckett offiziell in der DDR als Sinnbild bürgerlicher Dekadenz. Sein erster Text Aus einem aufgegebenen Werk wurde in der DDR im Rahmen einer Anthologie 1979 verlegt und erst 1987 wurde mit Warten auf Godot sein erstes Stück in der DDR gespielt. Der Text Warten auf Godot erschien 1988. Ähnliches galt auch für die Texte von Charles Bukowski, die in der 1985 gestarteten Reihe ad libitum in der DDR erscheinen konnten. Vgl. Lokatis, Siegfried: Die zensurpolitische Funktion von Anthologien im Verlag Volk und Welt. In: Häntzschel, Günter (Hg.): Literatur in der DDR im Spiegel ihrer Anthologien. Ein Symposion. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2005, S. 47–58, hier: S. 51, 57.

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Verhalten des Vaters nach und vermittelt dem Leser den Eindruck, als ob es sich beim Vater um einen Opportunisten handele, der bereit sei, die politisch-ideologischen (Leer-)Formeln nachzusprechen, um zum sozialistischen Reisekader zu gehören und seinen persönlichen sozialen Aufstieg nicht zu gefährden. Vom Sohn erwartet er die gleiche Haltung, dementsprechend fällt die Entscheidung hinsichtlich der weiterführenden Schule auf das Eliteinternat, weil dieses am meisten sozialen Aufstieg in Aussicht stellt. Aus Sicht des Ich-Erzählers wird die figurale Disposition kommentiert: »[Der Vater] kriegte sich gar nicht wieder ein vor lauter Freude. Meine eigene Begeisterung dagegen hielt sich in Grenzen. […] Und mein Schicksal hatte sich entschieden, und seitdem hing ich im Getriebe fest wie ein Schluck Wasser […].« (SeS, 66f.)

Renés Problem liegt vor allem darin, dass er sich von seinen Freunden trennen und das vertraute soziale Umfeld verlassen muss. Aus der Situation auszubrechen, traut er sich jedoch nicht (vgl. SeS, 241). Auch wenn René sich durch die Ästhetisierung des Körpers von seinem Vater abzugrenzen versucht, hat er jedoch am Ende des Textes ganz klar das Ziel vor Augen, später genauso wie der Vater beruflich erfolgreich zu werden und hat diesen Anspruch ebenfalls an seine Freundin. Seine Vorsicht und Zurückhaltung beim Sex begründet er wie folgt: »Denn ich musste zuerst die materiell-technische Basis studieren in Moskau und Victoria Medizin, bevor wir für immer zusammenblieben.« (SeS, 350) Kubiczeks Text offenbart, dass die Bildungszeit für die Heranwachsenden unter den Bedingungen eines selektiven Moratoriums einem festgelegten Zeitplan folgt, bei dem Ausnahmen vom staatlichen System nicht vorgesehen sind.998 Der einzige Spielraum, den Heranwachsende zur Verfügung haben, bezieht sich auf die Freizeit und die Ferienzeit, wo sie sich als autonome Personen außerhalb der Schule entwickeln können. Betrachtet man die familialen Bindungen der anderen Figuren, lässt sich feststellen, dass die Jugendlichen, unabhängig davon, ob sie mit alleinerziehenden Müttern oder mit beiden Eltern leben, überwiegend in einem funktionsfähigen Familienumfeld aufwachsen und mit Eltern zu tun haben, die eine generative Haltung einnehmen und für die Heranwachsenden einen Individuationsraum zulassen. Victoria zum Beispiel genießt ein offenes Familienumfeld, in dem sie ihre individuelle Persönlichkeit entfalten kann. Die Mutter ist aufgeschlossen und vertraut ihrer Tochter. Die Mutter wird von Victoria sogar bei Intimitätsfragen, die mit dem Erleben von Sexualität zu tun haben, miteinbezogen. Solange die Schulleistungen stimmen, gibt es aus Sicht der Mutter keinen Grund, restriktiv zu handeln: »›Wir haben eine Abmachung‹, sagte Victoria, ›solange ich gut bin in der Schule, kann ich rumlaufen, wie ich will.‹« (SeS, 337) 998 Vgl. Gansel, Adoleszenz, Ritual und Inszenierung. 2003, S. 249.

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Ebenso hat Rebecca ein enges Verhältnis zu ihrer Mutter, die sie als »eine Art Freundin« (SeS, 235) betrachtet.

5.6.6 Zur Bedeutung von Musik und Literatur als Instrumente der Selbstsozialisation Es wurde bereits im Zusammenhang der Analyse des Textes Schneckenmühle herausgearbeitet, dass die Musik eine identitätsstiftende Funktion hat und folglich definiert der Musikgeschmack, wer man ist und zu wem man gehören will. Beim vorliegenden Text erfüllen die populär-musikalischen Elemente neben der identitätsstiftenden Funktion noch andere Funktionen. Durch den Titel des Romans rückt der Song Sketch for Summer von Durutti Column in den Vordergrund. Seine Bedeutung für den Protagonisten wird noch verstärkt, als er ein Mixtape für seinen Schwarm, »das Mädchen ohne Namen« (SeS, 97), zusammenstellt und es nach dem Lied benennt. Zu Beginn des Songs erklingen Vogelklänge in Verbindung mit widerhallenden Gitarrenglissandi, die eine Art akustische Andersartigkeit auslösen und die Melancholie eines imaginären verlassenen ungewohnlichen Ortes hervorrufen.999 Die evozierte Stimmung steht in eindeutiger Korrelation zur Gemütslage des Protagonisten, wie die Ich-Erzählinstanz zu Beginn des Texts offenbart: »Keine Ahnung, wer zuerst zu wem kam, die Melancholie zu mir oder ich zur Melancholie.« (SeS, 9) Angedeutet wird ebenso das Verlangen nach Veränderung und die Sehnsucht nach einer glücklichen Idylle. Die stetig gleitende Veränderung der Tonhöhe im Song lässt sich als Ausdruck der Gefühlsschwankungen des adoleszenten Protagonisten fassen. Auf das Sujet der Erstellung eines Mixtapes wird in zahlreichen Texten der Popliteratur rekurriert.1000 An diese Tradition anknüpfend, fungiert auch das Mixtape in Kubiczeks Text als persönliche Botschaft und Flirtinstrument, um »[dem Mädchen ohne Namen – der Verf.] zu sagen, dass ich sie ganz gut fand« (SeS, 116).1001 Deutlich werden die Bezugnahme auf die westliche Massenkultur und die Bedeutung der Pop-Musik für die adoleszente Entwicklung in der DDR. 999 Vgl. Haddon, Mimi: What is Post-Punk? Genre and Identity in Avant-Garde Popular Music, 1977-82. Michigan: University of Michigan Press 2020, S. 68f. 1000 Vgl. Nick Hornbys High Fidelity (1995), Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998), Florian Illies’ Generation Golf (2000) oder Christian Gassers Mein erster Sanyo. Bekenntnisse eines Pop-Besessenen (2000). Vgl. Außerlechner, Hilde/Kossen, Vanessa/Staack, Birgit: Das doppelte Archiv. Mixtapes als Thema der Popliteratur. In: Herlyn, Gerrit/ Overdick, Thomas (Hg.): Kassettengeschichten. Von Menschen und ihren Mixtapes. Münster: LIT Verlag 2005, S. 88–95, hier: S. 90f. 1001 In dem Text Kassettenmädchen von Stuckrad-Barre ist von dem Mixtape als »Köderkassette« für Mädchen die Rede. Von Stuckrad-Barre, Benjamin: Kassettenmädchen. In: (Ders.): Remix. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004, S. 285–291, hier: S. 285.

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Für René ist sein Doppeldeck-Kassettenrekorder aus dem Intershop das Medium, mit dem er sich die westliche Musik zu eigen macht: »Ich hatte die Lieder alle selber aus dem Radio aufgenommen […].« (SeS, 116) Die im Konzept des Mixtapes inbegriffene Auswahlfunktion verrät etwas über die Identität und den seelischen Zustand des Protagonisten. Insofern handelt es sich bei dem Erstellungsprozess eines Tapes auch um ein Selbstverortungsmoment.1002 Mit seiner Musikauswahl bekundet René seine Vorliebe für bestimmte Bands samt ihren populärkulturellen Konnotationen. Auch Rebecca nutzt die Musik als Mittel der ›Verlockung‹ und Kommunikation, um ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Dem Mixtape ist eine Karte mit dem Gedicht Stumme Herbstgerüche von Paul Celan beigelegt.1003 In der Symbiose von Musik und Literatur entsteht ein hybrides Element, mit dem Rebecca René ihren Gefühlszustand anvertraut und ihn nachdrücklich ersucht, intensiver über ihr Verhältnis nachzudenken. Mit der Musik werden Adoleszenzaspekte assoziiert, die mit einer Diffusion hinsichtlich der Wertorientierung, einer nihilistischen Lebenseinstellung und der weitgehenden Haltlosigkeit des Heranwachsens in Verbindung stehen. Entsprechend fällt die Wertung des Ich-Erzählers bei der Rezeption des Mixtapes aus: »[…] das hier war echt eine ganz andere Art von Nihilismus, als er in jener Musik steckte, die ich bis jetzt gehört hatte. […] das war nicht melancholisch, es war destruktiv, es kam ohne Harmonien um die Ecke, ohne Strophe und ohne Refrain, ohne Halt und ohne Orientierung.« (SeS, 317)

Auch Rebecca bedient sich der Kombination von Musik und Literatur, um sich von den Gleichaltrigen abzugrenzen. Sie erzeugt bewusst ein Moment intellektueller Distinktivität. Absichtlich lässt Rebecca die B-Seite der Kassette mit dem Titel »die Einstürzenden Neubauten« leer, um René zu locken: »›Ich habe sie nur frei gelassen‹, sagte Rebecca, ›damit du noch mal wiederkommen musst.‹« (SeS, 326) Kubiczek greift wiederholt auf das Medium Musik als Mittel der Figurencharakterisierung zurück. Während Bianca und Connie ihren Enthusias1002 Moritz Baßler verweist auf das Kommunikations- und Selbstoffenbarungspotential des Mixtapes durch seine spezifische Musikauswahl und zitiert zur Verdeutlichung eine Aussage aus Karen Duves Roman Dies ist kein Liebeslied: »Wenn du dir von einem Mann eine Kassette aufnehmen läßt, erfährst du mehr über ihn, als wenn du mit ihm schläfst.« Baßler, Moritz: Was bin ich? Die Antwort der Mixtapes. In: Vokus. Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Schriften 13, 2003, S. 28–37, hier: S. 33. 1003 Kurz vor Ende der Sommerferien soll René an die Begegnungen mit Rebecca erinnert werden, damit er sie nicht vergisst. Das wird zum einen durch die persönliche Widmung »zur Erinnerung an Rebecca« hervorgehoben, zum anderen wird der Appell, sich zu erinnern, durch das Gedicht Stumme Herbstgerüche an René gerichtet. Hermann Burger verweist auf die zwei Gesichter des Herbstes, die er aufgrund seiner zeitlichen Verortung zwischen Sommer und Winter innehat und auf seine Funktion, die wertvollen Erlebnisse des Sommers im Herbst im Gedächtnis zu bewahren. Vgl. Burger, Hermann: Paul Celan: Auf der Suche nach der verlorenen Sprache. Zürich & München: Artemis Verlag 1974, S. 41.

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mus für »Kaugummimusik« proklamieren und ihre Vorliebe für die Gruppe Bananarama bekunden, setzen sich Victoria und René durch ihre Ablehnung der kommerzialisierten Pop-Musik von ihnen ab (vgl. SeS, 136). Der Protagonist eröffnet seine sieben Wochen »sturmfrei« (SeS, 22) mit dem Song Nowhere fast der britischen Alternativ-Rock-Band The Smiths. Damit wird ein programmatischer Plan für die Entwicklung des Ich-Erzählers in den Sommerferien angeboten. Der Songtext propagiert eine rebellische Haltung und stellt die Thatcher Regierung und die Monarchie an den Pranger: »I’d like to drop my trousers to the world […] I’d like to drop my trousers to the Queen.«1004 Durch seine exponierte Stellung am Textanfang erhält der Song eine symbolische Bedeutung und wird zum Orientierungsmodell für das Verhalten der Jugendlichen. Der im Song propagierte Habitus entspricht der avantgardistischen Haltung der Adoleszenten, mithin ihrer Suche nach alternativen Wertvorstellungen und der Infragestellung von gesellschaftlichen Konventionen und etablierten Machtverhältnissen. Neben der Vermittlung der genannten Werthaltungen erfüllen die Künstler noch eine komplementäre Funktion, sie tragen mit ihrer Musik und ihren Musikvideos zur Entwicklung von ästhetischen Selbstkonzepten bei und liefern Vorbilder für die adoleszenten Selbstdarstellungspraktiken.1005 So orientiert sich zum Beispiel Mario an Boy George, dem Sänger der Band Culture Club, oder an Fad Gadget und schminkt sich die Augen: »[René sagte:] ›du hast dir die Augen geschminkt.‹ ›Nur nachgezeichnet. – Mit Kajal‹, sagte Mario und zog einen schwarzen Stift mit Kappe aus der Hosentasche, als sei es das Natürlichste auf der Welt.« (SeS, 49)

Genauso orientiert sich Victoria an Robert Smith, dem Sänger von The Cure, und grenzt sich damit bewusst von anderen Gleichaltrigen ab. Ausführlich beschreibt der Ich-Erzähler den musikalischen Trend und die Distinktivität des Szenenstils: »Sie kam aus der Kaufhalle, und trotzdem sah sie aus, als wolle sie zur Disco gehen, ins Orion: schwarze Hose, schwarze Bluse mit Rüschenärmeln, hoher Stehkragen aus Spitze, und an den Füßen trug sie die gleichen Weißen und knöchelhohen Adidas-Turnschuhe, wie sie Robert Smith seit neuestem anhatte, der Sänger von The Cure,

1004 The Smiths: Nowhere fast (Musik: Stephen Street; Text: Morrisey & Jonny Marr). In: The Smiths: Meat is Murder. Rough Trade 1985. 1005 Durch die Wahrnehmung westlicher Fernsehsendungen wie Formel Eins mit der Vorstellung von Videos westlicher Musikgruppen können Heranwachsende wie René und seine Freunde die populärkulturellen Codes in Form einer autodidaktischen Aneignung erwerben (vgl. SeS, 26, 101). Der anschließende Austausch in der Clique ist ein weiterer wichtiger Faktor der Selbstsozialisation. Durch die Aneignung der populärkulturellen Codes können die Heranwachsenden ein populärkulturelles Kapital im Sinne Fiskes erwerben und damit Prozesse zur Abgrenzung und Zuordnung des Selbst in der Clique initiieren. Zur Sozialisationsfunktion von Musik vgl. Müller/Glogner/Rhein/Heim, Zum sozialen Gebrauch von Musik und Medien durch Jugendliche. 2002, S. 19.

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nur ganz locker geschnürt und mit dieser dicken, herausstehenden Lasche vorne. Ihre Haare waren schwarz, im Nacken und an den Seiten kurz, der Rest stand, toupiert und mit Haarspray gefestigt, vom Kopf ab.« (SeS, 98) [Hervorh. im Original]

Selbstinszenierungselemente, wie die toupierten Haare, die schwarze Kleidung und das Tragen bestimmter Schuhe stellen eine Form der jugendkulturellen Selbstverortung dar, mit der sich Victoria der Dark Wave Szene anschließt und ein Distinktionsmoment unter Gleichaltrigen generiert. Charakteristisch für die Entwicklung des jugendkulturellen Raums in den 1980er Jahren ist eine zunehmende Pluralisierung der Lebensstile. Adoleszente wie Victoria und René sind stark auf die Inszenierung ästhetischer Präferenzen bedacht und generieren damit eigene Entwicklungswege.1006 Populärkulturelle Elemente werden gezielt eingesetzt, um »Gegenräume innerhalb der Diegese«1007 zu eröffnen. Kubiczek greift wiederholt auf intertextuelle Verweise aus dem populärkulturellen Kosmos zurück, um den Erfahrungsraum der diegetischen Figuren zu erweitern. Ebenso wie mit dem Song Sketch for Summer wird mit dem Verweis auf den Song Echo Beach von Martha and The Muffins ein Gegenraum eröffnet, der jenseits der alltäglichen Eintönigkeit des Berufslebens lokalisiert ist und als Erlösungsmoment für das Individuum projiziert wird (vgl. SeS, 154ff.): »From nine to five, I have to spend my time at work My job is very boring, I’m an office clerk The only thing that helps me pass the time away Is knowing I’ll be back at Echo Beach someday […] On Echo Beach Waves make the only sound

1006 Kubiczeks Text verzeichnet verschiedene subkulturelle Tendenzen und spezifische Rituale des jugendkulturellen Lebens um 1985. Insofern erfüllt sein Text eine Archivierungsfunktion, die für die Pflege des kulturellen Gedächtnisses von Bedeutung ist. Kennzeichnend für den Text ist ein »konkrete[r] Realismus«, der durch außerliterarische Referenzen, wie die Verweise auf real existierende Bands, unter anderen The Cure, The Smiths oder Sisters of Mercy, auf modische Entwicklungen der 1980er Jahre, auf real existierende Medienangebote, etwa die Fernsehsendung Formel Eins oder die Musik-Radiosendungen von John Peel oder Burghard Rausch, auf wirkliche Personen wie Ronald Reagen, Helmut Kohl, Robert Smith oder Boy George, auf erfolgreiche wie prägende Musikhits der 1980er Jahre, darunter Blue Monday von New Order oder Tainted Love von Soft Cell, auf real existierende Zeitschriften wie die Junge Welt oder auf prägende Ereignisse wie das Live Aid Konzert, markiert wird. Gansel verweist im Zusammenhang mit der Popliteratur auf den »mimetischen Kern« dieses Archivierungsverfahrens. Vgl. Gansel, Adoleszenz, Ritual und Inszenierung. 2003, S. 245. 1007 Anna Stemmann verweist auf die Möglichkeiten von populärkulturellen Versatzstücken, um in literarischen Texten Gegenräume zu eröffnen. Das kann sowohl imaginativ für die Figuren durch die Lyrics als auch topologisch in den daraus evozierten Bewegungen in Diskoräumen u. Ä. erfolgen. Vgl. Stemmann, Räume der Adoleszenz. 2019, S. 37.

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On Echo Beach There’s not a soul around.«1008

Beim Echo Beach handelt es sich um keinen realen Ort, sondern um eine symbolische Vorstellung von einem Ort, an dem der Ich-Erzähler lieber wäre, irgendwo »weit entfernt in der Zeit«, wie das im Refrain immer wieder betont wird. Mit dem Song wird die Sehnsucht der Adoleszenten nach einem Ort der Entgrenzung zum Ausdruck gebracht.1009 Der verlassene Strand fungiert als symbolischer Raum, als die rhetorische Umkehrung der alltäglichen Welt der Arbeit, und evoziert einen Raum der unbegrenzten Möglichkeiten. Dieser Raum steht sinnbildlich für die Lebensphase der Adoleszenz, da sich die Heranwachsenden im psychosozialen Moratorium ausprobieren können, ohne eine generative Haltung einnehmen zu müssen. Songs wie Echo Beach von Martha and The Muffins, The boys are back in town von Thin Lizzy oder Still Lovin’ you von Scorpions werden leitmotivisch als Überschrift für Kapitel eingesetzt, um einen bestimmten Stimmungszustand in der Entwicklung der Protagonisten anzukündigen.1010 Für den Protagonisten entwickelt sich der Song Hell of a Summer von The Triffids zum Soundtrack des Sommers: »What you cannot have Sir / You must kill / You must kill / And say to you / It’s been hell« (SeS, 198). Mit dem Song wird eine bestimmte Lebenseinstellung präsentiert, die für Renés Entscheidungen und Entwicklung von Bedeutung ist. Mit dieser radikalen Strategie versucht René auf seinem adoleszenten Weg ernüchternde und enttäuschende Erfahrungen hinter sich zu bringen, zum Beispiel seinen emotionalen Schmerz, als er von Bianca betrogen wird. Ausgehend von den in diesem Kapitel erläuterten Aspekten kann resümiert werden, dass Musik erstens durch ihre identitätsstiftende Wirkung, zweitens durch ihre Abgrenzungsfunktion und drittens durch die Vermittlung von Lebensstilen einen Raum zur Bewältigung von adoleszenten Entwicklungsaufgaben darstellt.1011 1008 Martha and The Muffins: Echo Beach (Musik: Mike Howlett, Text: Mark Gane). In: Martha and The Muffins: Metro Music. Dindisc 1980. »Von neun bis fünf muss ich meine Zeit bei der Arbeit verbringen / Mein Job ist sehr langweilig, ich bin Büroangestellter / Das Einzige, was mir hilft, die Zeit zu vertreiben / ist das Wissen, dass ich eines Tages wieder am Echo Beach sein werde […] Am Echo Beach / Wellen machen den einzigen Ton / Am Echo Beach / Es ist keine Menschenseele in der Nähe« [Übersetzung des Verfassers]. 1009 Vgl. die kollektive Begeisterung der Adoleszenten für das Lied. Alle stürmen auf die Tanzfläche und tanzen begeistert nach den Rhythmen des Songs (vgl. SeS, 154). 1010 Zur Funktion von Pop-Liedern in literarischen Texten vgl. Gansel, Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur. 2003, S. 244. 1011 Zur Funktion von Musik bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben vgl. Münch, Thomas: Musik, Medien und Entwicklung im Jugendalter. In: Müller/Glogner/Rhein/ Heim, Wozu Jugendliche Musik und Medien gebrauchen. 2002, S. 70–83, hier: S. 73.

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Neben der Musik hat die Literatur für die Entwicklung Renés eine zentrale Bedeutung. Genauso wie die Musik hat die Literatur einen identitätsstiftenden Charakter. Durch die kognitiv-reflexive und durch die moralisch-soziale Funktion der Literatur kann der Protagonist sowohl sein eigenes Wirklichkeitsmodell mit dem des literarischen Textes vergleichen als auch seine Norm- und Wertvorstellungen hinterfragen.1012 Das Gedicht Der Fremdling von Baudelaire tritt explizit in einen dialogischen Diskurs mit Kubiczeks Text. Der Fremde in Baudelaires Gedicht begreift sich als Außenseiter, der traditionelle Werte wie Heimat und flache gesellschaftliche Wertvorstellungen wie Reichtum und Schönheit konsequent ablehnt. Abseits der Gesellschaft entwickelt er eine Sehnsucht nach dem flüchtigen und unerreichbaren Horizont. Die Rezeption des Gedichtes evoziert beim Ich-Erzähler einen Akt der Selbstreflexion, mithin wird Selbsterkenntnis möglich. Für René repräsentiert das Gedicht mit seiner Radikalität »[…] de[n] vollkommene[n] Moment!« (SeS, 96). René stilisiert sich durchaus gerne zum Außenseiter, aber bei genauem Hinsehen korrespondieren die Wertvorstellungen des Fremdlings nur zum Teil mit der Lebenseinstellung Renés. In seiner Brust wohnen zwei Seelen, zum einen ein Hang zum Außenseitertum, der mit der bereits erörterten Intellektualisierung gepaart ist, und eine Neugier für das andere Geschlecht, bei der die im Gedicht kritisierte Schönheit nicht ohne Bedeutung ist. Betrachtet man zusätzlich seine Begeisterung für die tausend Ostmark, die ihm sein Vater für die Sommerferien überlässt, kann man annehmen, dass die Ablehnung des Materiellen nicht Teil seines Wertekanons ist. Gelegentlich erfährt der Leser, dass der Protagonist in seinen Selbstreflexionsmomenten Zusammenhänge mit den literarischen Texten herstellt. So werden beispielsweise seine Ängste vor der Zeit im Internat in Halle mit der Stadtvorstellung, die René beim Rezipieren des Gedichts Der Gott der Stadt von Georg Heym entwickelt, verknüpft. Entsprechend heißt es: »Ich musste an den September denken, als ich fertig war mit diesem Gedicht, das Der Gott der Stadt hieß, wenn ich selber in eine Stadt musste, die ein Moloch war, doppelt so groß wie unsere und voll von dreckiger, giftiger Industrie, wie ich wusste.« (SeS, 287)

Die expressionistischen Gedichte aus der »Reclam-Ausgabe der Menschheitsdämmerung« (SeS, 286) können vor allem ihre Wirkung entfalten, weil der Ich-Erzähler die Texte in einer idyllischen Umgebung rezipiert, die ihm eine Distanz zum Leben in der Stadt ermöglicht. Entsprechend sind die Figur-Raum-Beziehungen im Text auf der Ebene der histoire entworfen. Erst in diesem verlassenen Ort findet der Protagonist »ein Buch, das [er] brauchte und das es gerade nirgends zu kaufen gab und es hieß Menschheitsdämmerung« 1012 Zu den Funktionen der Literatur vgl. Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1991, S. 151ff.

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(SeS, 283).1013 Der Ich-Erzähler erhält durch die Lektüre Denkanstöße, um über die dunklen Seiten der Wirklichkeit, den Tod, den Zerfall, den Krieg und die Städte in Aufruhr, zu reflektieren (vgl. SeS, 288). Diese Gedanken werden jedoch nicht ausgesprochen, sondern nur angedeutet. Gleichzeitig dient die Literatur den Protagonisten als Medium der Selbststilisierung und hilft ihnen dabei, ein Moment intellektueller Distinktivität zu erzeugen. Neidisch stellt sich der Ich-Erzähler vor, wie sein Freund Michael »vor irgendwelchen Schnepfen […] Gedichte [aus dem Notizbuch – der Verf.] deklamieren« (SeS, 260) würde und nachts »auf der Mecklenburgischen Seenplatte […] mit [s]einen Baudelaire-Sache« [sic!] angeben würde (SeS, 260). Ebenso will sich René selbst mit dem Lesen von Literatur als etwas Besonderes inszenieren und bei den Mädchen Ansehen gewinnen. Selbstreflektierend kommentiert der Ich-Erzähler: »Und ich las Victoria ab und zu ein paar von den Baudelaire-Sachen vor, […] und manchmal was von Georg Heym oder von Gottfried Benn, um ein bisschen anzugeben.« (SeS, 339) Durch die Buchgeschenke, die ihm sein Vater aus dem Westen mitbringt, kommt der Ich-Erzähler in Berührung mit Texten, wie zum Beispiel Charles Bukowskis Gedichte, die in der DDR lange Zeit nicht zugänglich waren, und kann dadurch seinen Sozialisationshorizont erweitern. Mit seiner Freundin Victoria wird das Lesen dieser verbotenen Texte als eine alternative Leseerfahrung zur konventionellen Literatur erlebt. Seine Leseerfahrung wertet der Ich-Erzähler entsprechend: »Wir legten uns auf Victorias Bett und küssten uns ein bisschen und alles, und dann nahmen wir jeder eines von den Bukowski-Büchern, und wir lasen uns gegenseitig diese Gedichte vor, die so klangen wie nichts anderes, das ich bisher kannte an Gedichten.« (SeS, 358) [Hervorh. d. Verf.]

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass René durch seine intensive Beschäftigung mit der Literatur in der Tradition der »lesende[n] Helden«1014 des 1013 Lange Zeit wurde die Lyrik des Expressionismus in der DDR kontrovers wahrgenommen. Einer anfänglichen marxistisch begründeten Ablehnung, die vor allem durch Georg Lukács kritische Haltung geprägt war, folgte eine offenere Betrachtung. Die von Kurt Pinthus herausgegebene Lyrik-Anthologie Menschheitsdämmerung wurde in der DDR erst 1968 in einer Reclamausgabe verlegt. Eine zweite Auflage folgte allerdings erst 1986. Vgl. Orlick, Manfred: Rückblick auf eine Reclam-Ausgabe von 1968 in der DDR. In: [letzter Zugriff am 03. 04. 2020]. 1014 Kaulen verweist darauf, dass die Lektüre von Literatur für die adoleszenten Protagonisten bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein ein wichtiges identitätsstiftendes Moment darstellt. Vgl. Kaulen, Heinrich: Aufwachsen in der Mediengesellschaft. Leserfiguren und Lektüreprozesse in aktuellen Adoleszenzromanen. In: Ewers, Hans-Heino [u. a.]: Kinderund Jugendliteraturforschung 2000/2001, Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler 2001, S. 84–98, hier: S. 85 [Hervorh. im Original].

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klassischen Adoleszenzromans steht. Die durch die Rezeption von Literatur in Gang gesetzte Selbstreflexion stellt im Sinne Kaulens »ein Refugium autonomer Subjektivität«1015 dar und kann einen wichtigen Beitrag zur Identitätskonstruktion leisten. Darüber hinaus erhält der adoleszente Ich-Erzähler durch die Rezeption und den Besitz von Literatur Zugang zu alternativen Wertvorstellungen, mit denen er sich von anderen Heranwachsenden und den Eltern abgrenzen kann. Im Kubiczeks Text eröffnen literarische Texte, insbesondere lyrische Texte, genauso wie die Musik einen Raum zur Bewältigung von adoleszenten Entwicklungsaufgaben.1016

5.6.7 Zur Reise nach Kaltennordheim Die Reise, die mit der Identitätssuche verknüpft wird, ist ein literarisches Motiv, das im Adoleszenzroman häufig mit bestimmten Initiationsritualen verbunden wird. Die Reise fungiert als Szenario für wichtige Erfahrungen und steht sinnbildlich für Freiheit und Abenteuer. Anders als bei vielen Adoleszenztexten, in denen sich der Protagonist von den in seinem Herkunftsraum existierenden Normen und Werten befreit und in denen die Reise als ein Moment der Abwendung zu betrachten ist,1017 ist der Aufbruch von René und Mario durch die Langeweile bedingt, die in der Stadt eingetreten ist, weil alle Jugendlichen in den Urlaub gefahren sind. Aus Sicht der Protagonisten handelt es sich um eine abenteuerliche »Weltreise« zum »[…] letzten Zipfel der Republik […], wo es fast nicht mehr weiterging und wo dahinter nur noch die BRD lauerte. Wo sich Fuchs und Igel gute Nacht sagten.« (SeS, 266) Der in Adoleszenztexten üblichen ziellosen Bewegung der Figuren auf der Suche nach der eigenen Identität stellt Kubiczek jedoch eine klar definierte Fahrt vom Urbanen ins Ländliche mit klar geregelten Anschlüssen und klar definiertem Ziel entgegen. Entsprechend fällt die Beschreibung des Ich-Erzählers aus: »In Erfurt stiegen wir aus und warteten auf den Zug nach Eisenach. In Eisenach stiegen wir aus und warteten auf den Zug nach Bad Salzungen, wo uns schließlich die Bimmelbahn nach Kaltennordheim aufsammelte.« (SeS, 268)

Die Reise endet in Kaltennordheim: »Dieser Zug endete hier, so wie jeder andere auch, und wollte man weiter voran auf dem Gleis, dann blieb man auf dem Prellbock kleben.« (SeS, 269) Die Reise mit ihren geregelten Anschlüssen und 1015 Ebd., S. 87. 1016 Anna Stemmann verweist auf die Bedeutung der intertextuellen und intermedialen Referenzen, die nicht Teil eines aktuellen jugendkulturellen Diskurses sind, um diese Texte als All-Age-Literatur einzuordnen. Vgl. Stemmann, Räume der Adoleszenz. 2019, S. 48. 1017 Vgl. ebd., S. 35f.

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ihrem festgelegten Ziel steht sinnbildlich für ein Aufwachsen unter Bedingungen eines selektiven Bildungsmoratoriums, in dem die Phase der Erprobung überwiegend in geregelten Bahnen abläuft. Weitere Experimente sind unter diesen Umständen nicht möglich, da die Gleise mit fest montierten Prellböcken abgeriegelt sind. Die verkürzte Darstellung der Reise offenbart außerdem das geringe Abenteuerpotential der angekündigten »Weltreise«, für die René auch reichlich Geld zur Verfügung hat. Heranwachsende wie René sind nicht bereit, sich auf die Unsicherheiten und abenteuerliche Aspekte einer Reise per Anhalter einzulassen. Schon die Fahrt mit Bus und Zug erscheint ihnen wie eine Zumutung (vgl. SeS, 267). Sie verzichten bewusst auf diese exotische Form des freien Reisens. Entscheidend für René ist, dass er seinen Herkunftsort verlässt und von einem anderen Ort auf Potsdam zurückblicken kann (vgl. SeS, 279). Den topographischen Wechsel von einer urbanen modernen Gesellschaft zu einer ländlichen Umgebung erlebt der Protagonist als eine bereichernde Erfahrung. In der autodiegetischen Erzählstimme und der figuralen Fokalisierung von René wird die Beschreibung der neuen Umgebung aus seiner subjektiven Mitsicht entsprechend eingefärbt und semantisiert. Ausführlich wird über die Innensicht des Protagonisten die Wirkung der ländlichen Umgebung mit ihren »schön modelliert[en] […] Hügeln und Tälern« (SeS, 279) beschrieben: »Man wurde ganz ruhig im Inneren, wenn man einen Moment auf diese Landschaft guckte […]. Man atmete langsamer, und die Nebel der Gelassenheit fluteten einem den Schädel, ohne dass man Napoléon dafür brauchte.« (SeS, 279)

Durchaus kritisch vergleicht der Ich-Erzähler Potsdam mit der Umgebung um Kaltennordheim, abseits der Modernisierung. Kaltennordheim übernimmt entsprechend die Funktion eines Gesellschaftsspiegels. Zurückgezogen von der modernen Stadt versucht René eins mit sich selbst und der Natur zu werden. Entsprechend ist die Raumkonzeption im Text auf der Ebene der histoire entworfen. Es wird eine Dichotomie zwischen Land und Stadt aufgebaut, indem die Stadt als kontrastierender Raum zum Land herangezogen wird. Das Land entwickelt sich zu einem Sehnsuchtsort und wird aus der Innenperspektive des Ich-Erzählers als ein locus amoenus mit allen dazugehörigen Elementen dargestellt. Der Protagonist, begleitet vom »Murmeln und Rauschen und Glucken des kleinen Flusses« (SeS, 279), im »Schatten eines Baums« (SeS, 280), kann der Lektüre Baudelaires Gedichte nachgehen oder das Treiben der Schwalben am Himmel beobachten, mithin wird ein bukolisches Moment entworfen. Gewissermaßen wird die an mehreren Stellen angedeutete Sehnsucht nach einer Veränderung, nach einer paradiesischen Idylle, mit der Reise nach Kaltennordheim eingelöst. In dieser Idylle kommt es zu einer Entschleunigung und einem Moment der Besinnlichkeit, der mitten in den Turbulenzen der Adoleszenz entspannend und vitalisierend wirkt. In dieser Umgebung ist es kein Zufall, dass

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René expressionistische Gedichte liest, in denen die Stadt als Gegenpol zur Natur präsentiert wird. Die Leseerfahrung korrespondiert mit der Lebenserfahrung des Protagonisten.1018 Renés Initiationsreise beginnt mit dem Ausgang aus der vertrauten Umgebung in Potsdam. Es folgt ein Übergang, der im vorliegenden Fall zeitlich auf zwei Wochen verkürzt ist und den Aufenthalt auf dem Lande umfasst, wo er vereint mit der Natur über sich und sein Leben reflektiert. Schließlich endet die Reise mit der Rückkehr in das alte vertraute Umfeld. Versucht man den Wandlungscharakter und das Entwicklungspotenzial der Übergangsphase zu markieren, dann müssen Renés kritische Selbstreflexionen, seine innere Ausgeglichenheit und die Erkenntnisse über die Bedeutung der Natur und des sozialen Umfeldes beachtet werden. Diesbezüglich äußert sich der Ich-Erzähler folgendermaßen: »Eigentlich ist es überall schön. Es kam darauf an, wen man bei sich hatte, sei es an der Hand oder im Kopf.« (SeS, 286) Vor dem Hintergrund, dass der Protagonist beim Übergang von der Familie zur Kultur eigene Wertvorstellungen und eine Beziehungskompetenz entwickeln muss, ist diese Erkenntnis ausschlaggebend für die weitere Entwicklung des Protagonisten.

5.6.8 Fazit Zusammenfassend lassen sich folgende narratologische Aspekte markieren: Auf der Ebene des Diskurses verleiht die von Kubiczek ausgewählte autodiegetische Erzählstimme der Darstellung einen Authentizitätscharakter, der durch die Wiedergabe aus der figuralen Innenperspektive Renés, durch die intermedialen Referenzen und durch gezielte Ansprachen des impliziten Lesers verstärkt wird. Durch zahlreiche Textpassagen, bei denen der dramatische Modus dominiert, werden die Darstellungsmöglichkeiten der autodiegetischen Erzählinstanz zusätzlich erweitert. Dadurch gewinnt der Leser einen unmittelbaren Einblick in die figurale Disposition anderer Charaktere. Auf der Ebene der histoire trägt die Konzeption des Protagonisten als eine dynamische Figur entscheidend zur Darstellung seiner Identitätssuche bei. Obwohl sich die erzählte Zeit ausschließlich auf einen Zeitraum von sieben Wochen beschränkt, ist eine Entwicklung des Protagonisten leicht erkennbar. Bezüglich seiner Beziehungs- und Intimitätskompetenz entwickelt sich der Protagonist von einem unerfahrenen Teenager zu einem beziehungsfähigen Partner, der schon an 1018 Carsten Gansel verweist auf die Bedeutung des Initiationsromans für die Entwicklung des Gattungsmusters des modernen Adoleszenzromans. In diesem Kontext ist wiederholt die Bedeutung von Texten wie Mark Twains Initiationsroman Huckleberry Finn hervorgehoben worden. Die Reise nach Kaltennordheim entspricht diesem Initiationsprozess.

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die Zukunft mit seiner Freundin denkt. Ausgehend von einer anfänglichen Verunsicherung im Umgang mit dem anderen Geschlecht, lernt René sukzessiv die Sexualität in seine Persönlichkeit zu integrieren. Der ausgewählte Zeitraum in den Sommerferien eröffnet einen Raum, wo sich Heranwachsende abseits von festen (zeitlichen) Strukturen im jugendkulturellen Raum selbstständig frei entfalten und in unterschiedlichen Rollen ausprobieren können. Der unabgeschlossene Identitätsfindungsprozess des Protagonisten wird durch die funktionale Besetzung der diegetischen Räume entscheidend geprägt. Sowohl die ›sturmfreie Bude‹ als auch die Mehrzweckgaststätte Orion eröffnen einen erweiterten Raum, in dem sich René und seine Freunde sukzessiv als autonome Persönlichkeiten erleben können. Das in der Adoleszenzliteratur häufig anzutreffende literarische Motiv der Reise erhält im Text den Charakter eines Initiationsrituals. Durch den topographischen Wechsel von einer urbanen modernisierten Gesellschaft zu einer ländlichen Umgebung wird die adoleszente Sehnsucht nach einer Veränderung eingelöst. Das Verlassen der vertrauten Umgebung Potsdams und das Erleben der Natur veranlassen wichtige Selbstreflexionsprozesse bei dem Protagonisten, die zu seiner Identitätsfindung beitragen. Die Darstellung fokussiert Facetten der Neuprogrammierung in der Adoleszenz, darunter den Aufbau außerfamiliärer Beziehungen, die Suche nach Ansehen in der Peergroup, das Aushandeln einer Geschlechterrolle, die Aneignung des eigenen Körpers und die bewusste Selbstverortung gegenüber den Eltern. Daneben geraten wichtige politische Zusammenhänge im Verlauf des Textes durch Reflexionsmomente der Figuren in den Fokus der Darstellung oder werden implizit angedeutet, indem die Protagonisten soziologische Entwicklungen der Zeit verkörpern, zum Beispiel die Existenz einer Doppelzüngigkeit als übergenerationale Strategie, eine zunehmende Distanz gegenüber dem offiziellen politischen DDR-Diskurs sowie die wachsende Geltung westlicher Medienkultur für die adoleszente Selbstsozialisation. Diesbezüglich kommt der westlichen Musik eine identitätsstiftende und deskriptive Funktion zu. Mit der Pop-Musik wird unter anderen das adoleszente Verlangen nach einem Ortswechsel bzw. die Sehnsucht nach einer Idylle angedeutet, um den alltäglichen Schwierigkeiten zu entkommen. Der Autor schließt bewusst an die Tradition der Popliteratur der 1990er Jahre an, indem er auf das Motiv des Mixtapes zurückgreift, um figurale Beziehungen auf der Ebene der histoire implizit zu vermitteln. Die vorgenommene Musikselektion dient zur Gestaltung adoleszenter Selbstinszenierungsmomente und zur Verdeutlichung figuraler Dispositionen. Darüber hinaus illustriert der Text, wie der westlichen Musik in den 1980er Jahren im Osten, genauso wie im Westen, eine zentrale Rolle für die adoleszente Identitätsentwicklung zukommt, insofern als die Künstler und ihre Musik als Orientierungsmuster bei der Entwicklung eines individuellen Lebensentwurfs fungieren.

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Zu Facetten der Darstellung von Adoleszenz in der DDR

Kubiczek greift bei den intertextuellen Bezügen nicht nur auf die Pop-Musik zurück, sondern konstruiert einen vielschichten Erzählkosmos, der auch intertextuelle literarische Bezüge sowie intermediale Verweise aus der Filmgeschichte umfasst. Der Roman verzeichnet verschiedene subkulturelle Entwicklungen und spezifische Rituale im jugendkulturellen Raum Mitte der 1980er Jahre. Folglich kommt dem Text eine wichtige Archivierungsfunktion zu, die für die Pflege des kulturellen Gedächtnisses relevant ist. Kubiczeks Roman liefert einen Beitrag zum »Arrangementgedächtnis« und erweitert das im dominierenden kollektiven Gedächtnis existierende Bild des »Diktaturgedächtnisses«1019. Anhand von adoleszenten Figuren wie René, Victoria und Rebecca wird sichtbar, dass das Leben in der Adoleszenz auch in hohem Maße ›normal‹, also ohne traumatische intergenerationelle Auseinandersetzungen und ohne politische Konflikte, ablaufen kann. Die Unsicherheit des Ich-Erzählers ist nur durch die Adoleszenzumstände bedingt. Die Handlung des Textes spielt zwar in der DDR, die beschriebenen Erlebnisse vermitteln jedoch etwas Überzeitliches, das größtenteils, abgesehen von einigen realsozialistischen Details, wie zum Beispiel der schulischen Entwicklung und den »Mehrzweckobjekten«, systemübergreifend ist.

5.7

Nadja Klier: 1988. Wilde Jugend. »Es gibt Musik, es gibt etwas zu trinken, es gibt Jungs. Das reicht.«1020

Der im Jahr 2019 veröffentlichte Text 1988. Wilde Jugend gehört zu einer Gruppe von Texten, deren Hauptanliegen die Inszenierung von Erinnerung an die Jugend in der ehemaligen DDR ist. Versucht man Kliers Text einer Gattung zuzuordnen, dann lassen sich eindeutig Merkmale eines Adoleszenzromans erkennen. Gleichwohl lässt sich der Text auch der Gattung der fictions of memory zuordnen und unter Bezug auf Birgit Neumann als Gedächtnisroman bezeichnen. Die Episoden aus der Jugendzeit sind auf einer gegenwärtigen Erzählebene verortet und werden chronologisch, abgesehen von einzelnen kurzen Analepsen, schließlich aus der Perspektive der dreizehnjährigen Protagonistin erzählt, ohne 1019 Hinsichtlich der Erinnerung an die ehemalige DDR verweist Martin Sabrow auf eine tägliche Verhandlung der DDR-Vergangenheit in einem tripolaren Kräftefeld zwischen Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittgedächtnis und konstatiert seit der Wende zum 21. Jahrhundert einen zunehmend heftigeren Disput zwischen den drei kulturellen Deutungslagern. Während beim Diktaturgedächtnis die Erinnerung vordergründig auf den Unrechtscharakter der SED-Herrschaft ausgerichtet ist, wird beim Arrangementgedächtnis ein Bild von »alltäglicher Selbstbehauptung unter widrigen Umständen, aber auch von eingeforderter oder williger Mitmachbereitschaft« propagiert. Vgl. Sabrow, Die DDR erinnern. 2010, S. 16ff. 1020 Klier, Nadja: 1988. Wilde Jugend. Berlin: Okapi Verlag 2019. S. 37 [im Folgenden unter der Sigle »WJ« mit Seitenzahl im Text].

Nadja Klier: 1988. Wilde Jugend

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nachträgliche Wertungen vorzunehmen und den Wissenshorizont der damaligen Protagonistin zu erweitern.

5.7.1 Zu Autorin und Werk Nadja Klier wurde im Jahr 1973 in Dresden geboren. Sie wuchs in Ost-Berlin in der Oderberger Straße in Prenzlauer Berg auf. Die Straße galt als Biotop für Künstler und Unangepasste. Als Kind arbeitete sie als Schauspielerin bei dem Film Gritta von Rattenzuhausbeiuns. Ihre Mutter, Freya Klier, war Regisseurin und Mitbegründerin der Friedensbewegung, und erhielt als Bürgerrechtlerin ein Berufsverbot in der DDR. 1988 wurde ihre Familie aus politischen Gründen zwangsweise aus der DDR ausgebürgert. Klier begann ihre schriftstellerische Tätigkeit mit einem Essay für den Band von Anna und Susanne Schädlich Ein Spaziergang war es nicht (2012), in dem verschiedene Erlebnisse und Erinnerungen von Kindern und Jugendlichen, die aus der DDR ausreisen mussten oder ausgebürgert wurden, zusammengestellt wurden. Zusammen mit ihrer Mutter produzierte Klier einen Dokumentarfilm über die Oderberger Straße und veröffentlichte dazu einen Text Meine Oderberger Straße (2017) in der Reihe Berliner Orte des Be.Bra-Verlags, in dem sie sich auf Spurensuche in die Geschichte der Straße begibt und ein persönliches Zeitzeugnis über den Alltag mehrerer Generationen abliefert. Bei ihrem zweiten Buch 1988. Wilde Jugend (2019) handelt es sich um einen autobiographischen Text, mit dem die Autorin das traumatische Erlebnis der Ausbürgerung mit ihren emotionalen Schmerzen und ihrer Entwurzelung aus dem vertrauten sozialen Umfeld zu verarbeiten versucht. Über Jahrzehnte verdrängt Klier die Erfahrung der Ausbürgerung, erst nach einer Trauma-Therapie kommt sie zum Schreiben und ist in der Lage, die »verschütteten Gefühle wieder hochzuholen und zu verarbeiten«1021. Zum Zeitpunkt des Schreibens äußert sich die Autorin wie folgt: »Ich hätte mein Buch niemals früher schreiben können. Aber jetzt musste es heraus, es ist fast aus mir herausgeflossen. Und ja, ich schreibe persönlich, aber ich finde, das funktioniert auch nicht anders. Ich sehe mich auch nicht als schwach. Es ist eine große Stärke, offen über Gefühle zu reden. Und ich finde, das alles muss raus.«1022

1021 Rennefanz, Sabine: Nadja Klier: »Ich will mich nie wieder so ohnmächtig fühlen«. In: Berliner Zeitung vom 05. 01. 2020. In: [letzter Zugriff am 03. 05. 2020]. 1022 Ebd.

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Die Fixierung auf die Vergangenheit und das Festhalten von Erinnerungsmomenten erscheint als eine Konstante ihrer künstlerischen Tätigkeit sowohl im filmischen als auch im literarischen Bereich.

5.7.2 Zum Inhalt Die dreizehnjährige Nadja lebt mit ihrer Mutter, einer sehr engagierten und erfolgreichen Theaterregisseurin in Ost-Berlin. Ihre Eltern leben in Trennung seit ihrem 2. Lebensjahr. Zum Vater hat sie seit sieben Jahren kaum Kontakt, weil er im Westen seinen Lebensraum hat und nicht in die DDR einreisen darf. Sie verbringt viel Zeit allein, weil ihre Mutter häufig wegen ihrer Projekte lange unterwegs ist. In ihrer Freizeit trifft sie sich mit Gleichaltrigen im Einkaufszentrum, wo sie »rumhängen« (WJ, 19), Musik hören und flirten. Ihre beste Freundin Anna und sie sind ein Herz und eine Seele. Mit dem Eintritt der Pubertät kommen die Neugier und ihr zunehmendes Interesse für das andere Geschlecht, das erste Verliebtsein und die damit verbundenen Zweifel und Liebesschmerzen. Ein Jahr später, 1988, wird es immer schwieriger für Nadjas Familie, denn ihre Mutter erhält Berufsverbot. Sie engagiert sich jedoch weiterhin im Friedenskreis und trägt mit ihrem neuen Partner in Kirchenkreisen ihre selbstgeschriebenen kritischen Texte zur gesellschaftlichen Situation in der DDR vor. Nadjas Leben ist zunächst davon wenig betroffen, denn ihr Taschengeld finanziert sie durch den Verkauf von Bravos, die sie regelmäßig vom West-Besuch erhält. Die Mutter ist aber jetzt öfters zu Hause und Nadja muss sich dauernd etwas Neues einfallen lassen, um ihr freizügiges Freizeitleben zu gestalten. Die Mutter wird von der Staatssicherheit überwacht und kommt kurz danach ins Gefängnis. Für Nadja gerät alles aus den Fugen, aber Anna steht ihr zur Seite. Zwei Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag muss sie mit ihrer Familie aus politischen Gründen die DDR verlassen. Über Nacht verliert Nadja ihr Zuhause, ihr soziales Umfeld und ihre alltägliche Lebensstruktur. Die neue Welt im Westen ist zwar verlockend, aber oft ist Nadja mit ihren Gefühlen überfordert, denn zu den Problemen des Erwachsenwerdens kommt die Sehnsucht nach ihren Freunden in Ost-Berlin und sie weiß nicht, ob und wann sie sie wiedersehen wird. Sie bemüht sich, durch Telefonate und Briefverkehr den Kontakt mit ihren Freunden aufrechtzuerhalten. Mehrmals versucht sie, ein Einreisevisum für einen Tagesbesuch zu erhalten, ihre Anträge werden jedoch – mit einer einzigen Ausnahme – immer wieder abgelehnt. Dann, knappe zwei Jahre später, kommt es unerwartet zum Mauerfall.

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5.7.3 Zur Modifizierung der Bindung an die Eltern Die Beantwortung der Identitätsfrage erfolgt als ein Akt der sozialen Konstruktion, durch den der Heranwachsende sich immer wieder neu sozial verortet.1023 Bei diesem unabgeschlossenen Prozess erfolgt erst eine Distanzierung von den Eltern. Im vorliegenden Fall wird die Entwicklung der Protagonistin durch die frühe Trennung der Eltern und die Ausbürgerung des Vaters konditioniert. Die Mutter wird zum einzigen Bezugspunkt ihrer Primärsozialisation, da der Einfluss des Vaters inexistent ist und sich nur auf den Erhalt von Postkarten aus beliebigen Urlaubsorten beschränkt. Bezüglich des Verhältnisses zu ihrer Mutter empfindet Nadja mit Eintritt der Pubertät ein starkes Bedürfnis nach Privatheit und betrachtet ihr Zimmer als einen identitätsstiftenden Raum und als einen schützenden Rückzugsort, wo sie sich außerhalb des Einflusses der Mutter in unterschiedlichen Bereichen ausprobiert: »Mit 13 will man nicht, dass die Mutter einen sofort sieht, bei all den Dingen, die man in diesem Alter so tut und ausprobiert …« (WJ, 18). Nachdem die Beziehung der Mutter mit einem Gruftie-Anhänger zu Ende geht, übernimmt Nadja bewusst ihr ganz schwarz gestrichenes Zimmer und verändert die schwarze Farbe nicht. Das Zimmer dient ihr dazu, zum einen eine Verbindung »zum Trend der New Romantics und Grufties« (WJ, 17) herzustellen, zum anderen eine bewusste Abgrenzung zu ihrer Mutter zu markieren: »Bei einer erneuten Wohnungsumstellung […] bekam ich das schwarze Zimmer, welches ich so lassen wollte. Freya findet es schrecklich, ich finde es prima, denn kein anderer hat so ein Zimmer.« (WJ, 17) Das Zimmer wird dekoriert mit Postern von Madonna und mit eigenen halbnackten Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Die von Nadja Klier vorgenommene Semantisierung des Raums verdeutlicht, dass das Zimmer für sie eine identitätsstiftende Bedeutung hat. Das »schwarze Zimmer« (WJ, 17) mit den »knallbunten Madonna Postern« (WJ, 144) wird zur Projektionsfläche der ambivalenten Gefühle der adoleszenten Ich-Erzählerin, deren emotionaler Zustand, abhängig von den intensiven Lebenserfahrungen, zwischen Melancholie und Euphorie pendelt. Der von der Protagonistin erlebten Ambivalenz wird durch die Korrelation zwischen Subjekt und Raum zusätzlich symbolhaft Ausdruck verliehen.1024 Die kognitive Entwicklung der Protagonistin versetzt sie in die Lage, eine reflektierende Selbst- und Fremdbeobachtungsposition einzunehmen. Ihre Reflexionsmomente beziehen sich zum einen auf ihre somatischen Veränderungen

1023 Vgl. hierzu Kapitel 2.2.1 Zur adoleszenten Identitätsbildung. 1024 Anna Stemmann verweist in Anlehnung an Jürgen Habermas auf die funktionale Besetzung von Räumen als individuelle Orte, die eine identitätsstiftende Funktion haben und sich im Prozess der wandelnden Identitätsfindung verändern. Vgl. Stemmann, Räume der Adoleszenz. 2019, S. 2.

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und zum anderen auf ihre Beziehung zu den Eltern.1025 Kritisch reflektiert sie über die Haltung der Mutter, die froh ist, wenn die Tochter keine Schwierigkeiten in der Schule bereitet und sie ihrer künstlerischen Arbeit nachgehen kann. Der fehlenden Zuwendung und dem Fehlen einer erwachsenen Bindungsperson im Haushalt kann die pubertäre Protagonistin trotzdem etwas Positives abgewinnen, da sie in Abwesenheit der Mutter länger ausgehen kann. Ihre sozialen Bedürfnisse prägen ihr Bewusstsein und veranlassen eine bewusste Gestaltung der Freizeit, nach eigenen Vorstellungen und ohne Rücksicht auf die mütterlichen Wünsche. Der Mutter ist die Clique am Einkaufscenter »ein Dorn im Auge« (WJ, 19), und sie hat kein Verständnis dafür, dass ihre Tochter und andere Jugendliche »halb asozial auf der Straße rumhängen und ihre Zeit verplempern« (WJ, 19). Die Vorstellungen von Nadja und ihrer Mutter sind diametral entgegengesetzt. Während Nadja sich dafür begeistert, sich mit anderen Jugendlichen zu treffen, »Musik zu hören und zu tratschen und rumzuknutschen« (WJ, 19), und den jugendkulturellen Raum mit all seinen Möglichkeiten auskostet, um sich sozial zu verorten und ihre Geschlechterrolle zu definieren, plädiert die Mutter für eine aus ihrer Sicht sinnvollere Freizeitgestaltung mit Lesen und Aktivitäten in der Jungen Gemeinde oder in Öko- oder Friedenkreisen (vgl. WJ, 110). Die für die Adoleszenz kennzeichnende Dichotomie zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden manifestiert sich zwar in Fragen der Freizeitgestaltung, diese hängen jedoch mit divergierenden Identitätsentwürfen zusammen. Nadjas Selbstverortung ist geprägt von ihren somatischen Veränderungen, ihrem Interesse für das andere Geschlecht und von einem Abgrenzungsbedürfnis von der Welt der Erwachsenen. In einem psychosozialen Moratorium steht für sie die Aneignung des eigenen Körpers und der sexuellen Identität im Vordergrund. Die Mutter, die überwiegend eine sehr lockere Erziehungshaltung einnimmt und kaum Zeit für das Leben ihrer Tochter hat, wird immer wieder von einem ›Verantwortungsgefühl‹ überfallen, und glaubt, mit kritischen Vorwürfen und inkonsequenten Stubenarrestmaßnahmen die Entwicklung der Tochter lenken zu können. Vom politischen Kampf eingenommen, hat sie allerdings den Blick für die Bedürfnisse der eigenen Tochter verloren. Die Interessen und Bedürfnisse der Tochter werden demzufolge nicht ernst genommen und verächtlich kommentiert: »Jedenfalls durfte ich mir anhören, dass ich mich nur für oberflächliche Scheiße wie Klamotten, Jungs und Musik und Disko interessieren und gar nichts aus meinem Leben

1025 Politische und gesellschaftliche Fragen sind immer wieder auch Gegenstand ihrer Reflexionen, diese beschränken aber ihren Alltag nicht. Durch diese Reflexionsmomente kann der Leser wichtige Informationen über die Familienvorgeschichte und über die systemkritische Haltung der Eltern erfahren. Nadjas Mutter saß zum Beispiel bereits ein halbes Jahr im Gefängnis wegen versuchter Republikflucht (vgl. WJ, 67).

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machen würde. Ich solle doch besser in eine Öko- oder Friedens-AG gehen, statt am Center rumzuhängen mit irgendwelchen zwielichtigen Gestalten, die auch nichts in der Rübe hätten.« (WJ, 142) [Hervorh. d. Verf.]

Die Situation von Anna, Nadjas bester Freundin, bestätigt die gerade erörterte Zweiteilung zwischen der Erwachsenen- und der Adoleszentenwelt. Anders als die Mutter von Nadja, zeichnet sich Annas Mutter durch ihre Strenge und Kontrolle aus. Der Kampf um einen adoleszenten Individuationsraum wird intensiver geführt und der Spielraum für ein freies und selbstbestimmtes Verhalten ist deutlich kleiner: »Ach, die spinnt, die Alte. Sie ist urst streng. Ick darf fast niemanden nach Hause mitbringen, das ist ihr alles zu laut und zu anstrengend. Ick darf keine laute Musik hören und Poster an der Wand will sie auch nich haben, dabei ist das doch mein Zimmer!« (WJ, 21)

Für Anna ist es schwieriger ihr Abgrenzungsbedürfnis zu erfüllen, da sie mit strengen Vorgaben für Kleidung und Freizeitgestaltung konfrontiert wird. Als Parteimitglied vertritt ihre Mutter ideologische Positionen, die für Anna nicht annehmbar sind, ein offenes Gespräch darüber kann jedoch im familiären Umfeld nicht stattfinden. Den Konflikt beschreibt die Tochter wie folgt: »Meinst du, ick finde allet jut, watt hier passiert? Mit meiner Mutter kann ick eben nicht drüber reden, sie hat ihre ganz eigenen Vorstellungen vom Sozialismus und ick eben meine. Und die passen nicht so richtig zusammen.« (WJ, 91)

Die Abwesenheit der väterlichen Erziehungsinstanzen betrachten beide als eine ›Luxussituation‹, um die sie oft von Freunden beneidet werden, da sie dadurch viel Zeit allein verbringen können und sich vorübergehend der elterlichen Kontrolle entziehen können (vgl. WJ, 125). Gemeinsam kommen beide Protagonisten mit dem Schutzinstinkt ihrer Mütter in Berührung. So wird Nadja dafür sensibilisiert, niemandem etwas anzuvertrauen, was in der familiären Wohnung passiert, und ständig mit der Möglichkeit des Verrats zu rechnen: »Meine Mutter hat mir in den letzten zwei Jahren eingeimpft, fremden Menschen so wenig wie möglich darüber zu erzählen, was in unserer Wohnung passiert, wer uns besucht, was wir tun, hören und lesen. Man weiß nie, wer einen verrät, und die Geschichten von Stasispitzeln im engsten Freundeskreis machen nun häufiger die Runde. Vielleicht sollte ich doch vorsichtiger sein mit Informationen.« (WJ, 90)

Ebenso beschützend agiert Annas Mutter, als Nadja nach ihrer Ausbürgerung für einen Tag in die DDR einreisen darf, Anna an ihrem Geburtstag überraschen will und die Mutter das Zusammentreffen verhindert, möglicherweise aus Angst vor politischen Repressalien (vgl. WJ, 252f.). Durch die Distanz zu den Eltern gewinnen im Zuge der Adoleszenz die Beziehungen in den Peergroups an Bedeutung. Im Folgenden geht es darum, den

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Individuationsprozess der Ich-Erzählerin im jugendkulturellen Raum genauer zu erörtern.

5.7.4 Zur Bedeutung der Beziehungen unter Gleichaltrigen Im Hinblick auf die ontogenetische Entwicklung während der Adoleszenz spricht Remschmidt von einer Reduzierung der emotionalen Bindung zu den Eltern und einer Distanzierung von der Elterngeneration.1026 Stattdessen suchen Heranwachsende Anschluss an Personen außerhalb der Familie. Beziehungen zu Gleichaltrigen, Freundschaften und romantische Beziehungen gewinnen folglich an Bedeutung. Der jugendkulturelle Raum eröffnet zahlreiche Möglichkeiten der Inszenierung und der Erprobung außerhalb der Kontrolle der elterlichen Instanzen und außerhalb des Einflusses sekundärer Sozialisationsinstanzen, wie etwa der Schule und der FDJ.1027 Mit Eintritt der Pubertät gewinnen unter anderem Praktiken der (Körper)-inszenierung an Bedeutung, zumal der Heranwachsende außerhalb der Familie Anerkennungsmomente sucht, um das durch die Dezentrierung der kindlichen Bedeutungswelt eingetretene Identitätsvakuum zu kompensieren. Nadjas Beziehungen zu Gleichaltrigen erfüllen in diesem Kontext eine wichtige Funktion in ihrem Identitätsbildungsprozess, verstärkt durch die Tatsache, dass die elterlichen Instanzen durch die Ausreise des Vaters und durch die intensive Künstlertätigkeit der Mutter keine große Präsenz in ihrem Alltag haben. Das Moment der Dezentrierung des kindlichen Ichs fällt Nadja nicht schwer, weil sie durch die Lebensumstände sehr früh auf sich allein gestellt ist und eine gewisse Selbstsicherheit und Autonomie erlangt hat. Der Leser wird mit einem Beginn in medias res mit dem diegetischen Raum des »Centers« konfrontiert. Der moderne Vorzeigebau wird als Aushängeschild der DDR präsentiert und als Anziehungspunkt für Menschenmassen. Die Clique am Erholungszentrum symbolisiert einen emanzipatorischen Initiationsraum, in dem Nadja mit Gleichaltrigen interagiert und sich in verschiedenen Rollen ausprobiert. Durch den Treffpunkt am Vorplatz des stark frequentierten Erholungsraums und durch ihr Verhalten setzt sich die Clique in Szene: »Wir sind sehr bunt, laut und ziemlich schrill« (WJ, 9) und erzeugt bewusst Irritationen in der Öffentlichkeit bzw. sorgt für ein Abgrenzungsmoment: »Viele Leute, die vorbeigehen, schütteln den Kopf über unser Aussehen und unser Benehmen.« (WJ, 9) Die Clique als Ort der Begegnung mit Gleichgesinnten entwickelt sich zu einem Selbstsozialisationsraum, in dem die Heranwachsenden durch das gemeinsame Hören westlicher Musik und den Konsum versteckter Bravo-Zeit1026 Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 128f. 1027 Vgl. Kapitel 2.2.3 Zur Ausgestaltung einer Individuation unter Gleichaltrigen.

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schriften aus dem Westen mit alternativen Werten in Berührung kommen und so ihre Identitätsentwicklung fördern (vgl. WJ, 8f.). Für Nadja bedeutet ihr Bekenntnis zur Clique entgegen der Meinung ihrer Mutter einen wichtigen Schritt zur eigenen Emanzipation. Die Orientierung an Pop-Musik von Stars wie Madonna und Bands wie Depeche Mode und The Cure ist das Verbindungselement einer heterogenen Gruppe, die sich vor allem durch Kleidungs- und Frisurstile von der Masse abgrenzen will.1028 Der Wunsch nach sozialer Distinktion und die Orientierung an westlichen Popstars ist ihr gemeinsames Anliegen: »Madonna hat gerade ihr drittes Album auf den Markt gebracht. ›Into the Groove‹ ist der aktuelle Hit, und ich will nichts anderes, als genauso aussehen wie sie in diesem Video.« (WJ, 10) Mit ihrem innigen Bekenntnis verweist Nadja auf ein Idol, mit dem sich zahlreiche weibliche Heranwachsende in West und Ost seit Mitte der 1980er Jahre identifizieren.1029 Thematisch geht es in dem Lied Into the groove erstens um die Begegnung mit dem anderen Geschlecht und um die Möglichkeit der Annäherung durch das Tanzen. Zweitens geht es um die Bedeutung von Musik und Tanzen als Ausdruck von Freiheit und Leidenschaft. Durch das Lied werden wichtige Leitbilder für die adoleszente Entwicklung tradiert, die mit dem Aushandeln von Geschlechterrollen zu tun haben. Für Nadja wird der Videoclip zu Beginn ihrer Adoleszenz zu einem programmatischen Lebensentwurf, den sie pausenlos zu verwirklichen versucht. Innerhalb der Clique spielen politische Fragen gar keine Rolle, für Nadja und die anderen Heranwachsenden fungiert die Clique lediglich als Ort der Selbstinszenierung und der Selbsterprobung provisorischer Identitätsentwürfe.1030 Der 1028 Bedingt durch die materiellen Lebensbedingungen wird den Heranwachsenden eine besondere Kreativität abverlangt, zumal »in den Kaufhäusern […] der ewige Einheitsbrei« (WJ, 9) existiert. 1029 Seit Beginn ihrer Musikkarriere setzt Madonna mit ihren Hits und Videoclips Inszenierungstrends, die die Fans nachahmen. Dabei geht es fast immer um ein Image, das bei ihrem jungen Publikum Begeisterung hervorruft und zugleich konservative Menschen schockiert. Bei Madonnas musikalischer Entwicklung kann berechtigterweise von einer Abfolge von Inszenierungsmomenten gesprochen werden, die bis heute die Popkultur regelmäßig verstört haben. Ihre Musik, die mit ihrer Performance untrennbar verbunden ist, stellt nicht nur konventionelle Geschlechterrollen in Frage, sondern auch die Rolle von Sexualität und Geschlecht. In ihren Inszenierungen wird die stereotype Vorstellung von der passiven Frau einer Kritik unterzogen und eine sexuell selbstbestimmte und selbstbewusste Frau, die aktiv als Sexualsubjekt handelt, wird in den Vordergrund gestellt. Diesbezüglich spricht Bernhard Heinzlmeier, in Anlehnung an John Fiske, von einer Kritik an dem dominierenden Geschlechterdiskurs und von einer Herausforderung für die herrschende Macht, die auf einer ästhetischen Ebene stattfindet. Vgl. Heinzlmaier, Performer. 2013, S. 87. 1030 Nadja gehört zur sogenannten Generation der Wende-Kinder, die in der komfortablen Spätphase des Sozialismus aufgewachsen ist und von einer behüteten und geordneten Kindheit geprägt war. Wie üblich für ihre Generation suchen Jugendliche wie Nadja überwiegend den Sinn ihres Lebens in Bereichen, die außerhalb der staatlichen Indoktri-

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Sinn der Zusammenkunft besteht ausschließlich darin, im Mittelpunkt der Gruppe zu stehen, folglich Anerkennung zu genießen und sonstige Selbstbestätigungsprozesse zu gestalten. Aus der Innensicht der Protagonistin wird die Bedeutung der Clique ausführlich beschrieben: »Mittendrin in diesem bunten Haufen sitze ich – dreizehn Jahre und neun Monate. In meinem Alter zählt jeder Monat. Laut lachend und gestikulierend genieße ich die Aufmerksamkeit der anderen. Ich erzähle Anekdoten, die Leute hören mir zu, nicken anerkennend und lachen über meine Witze. Wenn ich im Mittelpunkt stehe, dann fühle ich mich wohl und laufe zur Hochform auf, spiele die Unterhalterin.« (WJ, 9) [Hervorh. d. Verf.]

Obwohl die Heranwachsenden im Text keine politischen Ambitionen haben, werden subkulturelle Elemente als Perturbation der öffentlichen Ordnung wahrgenommen und von öffentlichen Plätzen verjagt. So werden beispielsweise die Nachahmer des Beat Street-Films,1031 die mit ihren freien Oberkörpern und ihren Tänzen ästhetische Selbstinszenierungsmomente gestalten, um sich von anderen Gruppen abzugrenzen, als verstörende Momente wahrgenommen. Dementsprechend werden sie von der Polizei mit Platzverweisen bedacht und erhöhen dadurch ihr symbolisches Kapital unter den Heranwachsenden (vgl. WJ, 94).1032 Zu den kennzeichnenden Inszenierungsmomenten der Adoleszenz gehören die grenzüberschreitenden Handlungen, mit denen Heranwachsende, überwiegend in Begleitung von Gleichaltrigen, ihre Grenzen austesten und einen Status in der Gruppe erwerben oder festigen. Zu den üblichen Praktiken unter Jugendlichen gehören das Klauen in den Kaufhallen und das gemeinsame Konnation und Kontrolle liegen. Kennzeichnend sind für diese Generation außerdem eine am Hedonismus orientierte Lebenseinstellung und eine größere Bedeutung der westlichen Medienkultur. Vgl. Ahbe/Gries, Geschichte der Generationen. 2011, S. 66f. Daniel Kubiak und Martin Weinel präzisieren das Generationenmodell von Ahbe und Gries und unterscheiden in der Generation der Wende-Kinder genauere Kategorien: die Generation der Wendejugend für die in den 1970er Jahren Geborenen und mit einer DDR-Sozialisierung bis zur Jugend versehen, und eine Generation der Wendekinder für die in den 1980er Jahren Geborenen, die keine Adoleszenzerfahrung in der DDR hatten. Vgl. Kubiak, Daniel/Weinel, Martin: DDR-Generationen revisited – Gibt es einen Generationszusammenhang der »Wendekinder«? In: Lettrari, Adriana/Nestler, Christian/Troi-Boeck, Nadja (Hg.): Die Generation der Wendekinder. Elaboration eines Forschungsfeldes. Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 107–130, hier: S. 126f.; siehe hierzu Kapitel 3 Zur Adoleszenz in der DDR. 1031 Nach der Vorstellung des Films Beat Street in den ostdeutschen Kinos im Jahr 1985 wurde Breakdance in der DDR populär. Obwohl die Kulturfunktionäre von Anfang an die Breakdance-Bewegung für ihre ideologischen Zwecke zu vereinnahmen versuchten, um die Folgen der »spätkapitalistischen Großstadtrealität« zu veranschaulichen, konnte die Breakdance Szene ihre Autonomie bewahren. Vgl. Kapitel 3.5 Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR; Lange/Burmeister, Behind the Wall. 2018, S. 61f. 1032 Vgl. Entwicklung der Hip-Hop-Szene in den 1980er Jahren in der DDR im Kapitel 3.5 Adoleszenz und Jugendkulturen in der DDR.

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sumieren der ergatterten Produkte.1033 Genauso dazu gehört der Alkoholkonsum, der mit seiner psychoregulativen und sozialregulativen Funktion dazu verhelfen kann, dass sich Jugendliche in neuen (Geschlechter)-Rollen erproben können.1034 »Heute ist Kaufhallen-Klau-Tag, es gibt Kekse, Brause und Wodka. Damit bummeln wir zum Arkonaplatz, lungern am Sandkasten rum, und der Klare kreist in der Runde. Wir Mädchen trinken nichts davon, es brennt wie Benzin in der Kehle. […] Aber die Jungs finden sich stark damit […] fangen an, Komplimente zu machen. Sie albern rum und machen Kraft- und Mutproben, um uns zu beeindrucken.« (WJ, 117ff.) [Hervorh. d. Verf.]

Heranwachsende können bei diesen Praktiken durch Kraft- und Mutproben tradierte Geschlechterrollen bestätigen und innerhalb der Peergroup Anerkennungsmomente erlangen. Die Grenzüberschreitungen entfalten allerdings ihre Wirkung hauptsächlich, wenn sie Gegenstand einer Gruppeninszenierung sind. Dementsprechend prahlen die Jungen mit ihrem dissozialen Verhalten vor den Gleichaltrigen: »Ich bin sprachlos und irgendwie voller Anerkennung. Hab ich den Jungs gar nicht zugetraut.« (WJ, 119)1035 Aufgrund ihrer körperlichen Frühreife, getrieben von Lebenshunger und Ruhelosigkeit: »In meinem Alter zählt jeder Monat« (WJ, 9), und begünstigt durch das Fernbleiben der Mutter am Abend kann Nadja häufiger und länger in den Diskos sein und Erfahrungen mit älteren Jugendlichen sammeln. Dank dieser Erlebnisse nimmt sie eine Sonderstellung unter den Gleichaltrigen ein. Für die Klassenkameraden sind ihre Erlebnisse in der Freizeit ein »spannender Erotikkrimi« (WJ, 63) und sie wird dadurch zur Referenzfigur. Die Sonderstellung als Referenzfigur ist mit einem Moment der Anerkennung verknüpft, das sich auf das positive Selbstbild der Protagonistin verstärkend auswirkt: »Alle hängen an meinen Lippen und fragen mich danach Löcher in den Bauch. Ich hülle mich in geheimnisvolles Schweigen, grinse und sage nur: ›Fortsetzung folgt Ende der Woche … Ich muss los, bis morgen‹. Ach, das macht Spaß.« (WJ, 63).1036

1033 Vgl. das dissoziale Verhalten der Protagonisten in Jürgen Landts Roman Der Sonnenküsser und in Angelika Klüssendorfs Roman Das Mädchen. 1034 Vgl. Litau, Risikoidentitäten: Alkohol, Rausch. 2011, S. 59. 1035 Bei diesen Praktiken unter Gleichaltrigen besteht die Gefahr einer riskanten Entgleisung, wie am Beispiel des Klauens im Intershop sichtbar wird (vgl. WJ, 118f., 129ff.). Die Suche nach weiteren Herausforderungen erfolgt geleitet von einem Gefühl der Invulnerabilität. Das riskante Verhalten der Heranwachsenden hat jedoch polizeiliche Ermittlungen zur Folge. 1036 Ihre Sonderstellung wird dadurch verstärkt, dass sie bereits als junges Mädchen als Schauspielerin bei Film- und Theaterprojekten mitmachen kann (vgl. WJ, 30).

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In der Clique findet Nadja ihre beste Freundin Anna.1037 Sie erfüllt als beste Freundin eine wichtige beratende Funktion, indem sie gemeinsam das eigene Verhalten und Erleben kritisch hinterfragen: »Anna sagt ganz klar dazu: ›Das ist wieder mal typisch Nadja, auf allen Hochzeiten tanzen, mit jedem knutschen, Verbindlichkeiten und Partnerschaft nicht zu ernst nehmen.‹ […] ›Nenn es wie Du willst, meine Liebe, aber Du hast so was wie einen Freund, wenn ich mich nicht irre, und dem wird es nicht gefallen, wenn er das hört.‹« (WJ, 193).

Mit Anna bespricht die Protagonistin ihre ersten Liebeserfahrungen und die damit verbundenen Probleme, zum Beispiel die Bedeutung und Folgen des eigenen Verhaltens, die Interpretation der männlichen Verhaltensweisen oder den adäquaten Umgang mit dem anderen Geschlecht: »[…] die Frage ist, wat Du willst. Wenn der nur mit Dir in die Kiste will und Du willst vielleicht, dass er Dein Freund wird, was machste dann? […] Aber vielleicht nicht das ganze Programm beim ersten Mal?« (WJ, 49f.)1038 Zusammen reflektieren sie ihre Erfahrungen bezüglich der Sexualität (vgl. WJ, 23f., 35) und besprechen ihre Gefühle. Die hohe Reziprozität zwischen den beiden führt dazu, dass Anna sehr schnell eine Sonderstellung im Leben der Protagonistin einnimmt und in emotionaler Hinsicht eine wichtige unterstützende Funktion hat: »Anna gibt mir eine Geborgenheit, die ich so gar nicht kenne.« (WJ, 110) An die Stelle der Mutter tritt jetzt ihre beste Freundin als Vertrauensperson und mit ihr kann sie ihre Intimitäts- und Nähebedürfnisse befriedigen, denn »[v]ielleicht will man mit vierzehn auch nicht mehr alles den Eltern erzählen. Dafür hat man doch eine beste Freundin.« (WJ, 151) Anna tröstet Nadja bei Liebeskummer und agiert immer wieder als Stabilitätsinstanz, um frustrationsbedingte Belastungen und krisenhafte Momente zu verarbeiten: »Ich habe ja Anna. Immer dieser ganze Herzschmerz mit den Typen, das braucht doch keiner. Naja, für Knutschen und Rummachen und so sind Jungs natürlich besser, aber fürs Herz und die Laune und die Stabilität isses eben Anna.« (WJ, 158)

Beide Freundinnen kleben aneinander und können sich nicht vorstellen, ohne einander zu sein. Die Freundschaft zueinander verstärkt das positive Selbstwertgefühl der Protagonistin, insbesondere in schwierigen Situationen: »Am meisten freue ich mich über ihre Gefühle für mich. Mir geht’s ja genauso. Ein 1037 Mädchenfreundschaften erfüllen eine wichtige Funktion bei der Individuation weiblicher Adoleszenten. Die Freundinnen sind »eine Art Supervisionsgruppe der heterosexuellen Erfahrungen«, die eine der wichtigen Entwicklungsdimensionen jugendlicher Praxis darstellen. Vgl. Breitenbach, Mädchenfreundschaften. 2000, S. 311. 1038 Die kritische Reflexion der Freundin prägt die Sozialisation der Protagonistin und beschränkt sich nicht nur auf die ersten Liebeserfahrungen, sondern bleibt eine Konstante ihrer Beziehung bis zu ihrer Ausbürgerung.

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Leben ohne Anna ist für mich nicht mehr vorstellbar.« (WJ, 177) Gemeinsam besuchen sie Diskos und Partys, wo sie sich an das andere Geschlecht annähern und ihre Geschlechterrollen aushandeln: »Wir flirten wortlos mit den jungen Männern am Eingang, – als wären wir schon ziemlich erwachsen.« (WJ, 35)1039 Zusammen erleben sie auch Aktivitäten mit homoerotischer Nähe, um ihre Sexualität auszuprobieren und eine sexuelle Identität zu definieren: »Wir haben mal geknutscht, weil wir unbedingt wissen wollten, wie das ist, und haben uns kaputt gelacht dabei, als wir verschiedene Knutschmethoden ausprobieren wollten. Wir kuscheln auch, wenn Anna bei mir schläft und wir zusammen im Bett liegen, und es fühlt sich gut an. Richtig kribbeln tut’s aber nur, wenn uns ein Typ knutscht oder streichelt.« (WJ, 177) [Hervorh. d. Verf.]

Die gemeinsame Freundschaft erfüllt eine wichtige identitätsstiftende Funktion, denn mit Anna führt Nadja »stundenlang diese typischen Pubertätsgespräche über Jungs und Verliebtsein, Gefühle und alles Dazugehörige« (WJ, 184). Der familiäre Hintergrund mit der politischen Haltung der Eltern wird bei diesen Gesprächen bewusst ausgeklammert: »Aber richtige Politik wird ausgeklammert, und ich bin nicht unglücklich darüber. Vielleicht wäre es doch ein größeres Streitthema zwischen uns, weil Anna und ich in manchen Dingen unterschiedlicher Auffassung sind. Das liegt an unseren unterschiedlichen Elternhäusern.« (WJ, 184)

Zwar wird Nadja von der Mutter immer wieder davor gewarnt, sich anderen Menschen anzuvertrauen, weil sie einen möglichen Verrat befürchtet, aber für Nadja kommt nicht in Frage, auf ihre Freundschaft und auf den Austausch mit ihrer Freundin zu verzichten. Unabhängig von Ängsten und Verratsmöglichkeiten besteht sie auf dem Wunsch nach einer Freundschaft und lebt dementsprechend danach. Die im Zuge der Adoleszenz gesammelten Erfahrungen führen bei der Protagonistin häufig zu einer emotionalen Überforderung, die ein besonders ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis nach sich zieht. Dieses Bedürfnis stillt sie mit für die Adoleszenz kennzeichnenden Gesprächen mit Freundinnen, die dadurch eine emotionsregulierende Wirkung entfalten (vgl. WJ, 104). Die Bedeutung der 1039 Mehrzweckhallen und Diskos funktionieren als bedeutende Schwellenorte, an denen die Entwicklung der Heranwachsenden erkennbar wird. Adoleszente erleben sich zunehmend in einer autonomen Rolle in einem erweiterten Erfahrungsraum, der mit zunehmendem Alter immer größere Möglichkeiten eröffnet. Die Mehrzweckhallen in der DDR und die Diskos sind relevante identitätsstiftende Räume, in denen sich Heranwachsende während der Adoleszenz immer neu selbst verorten. Mit ihren Ausweiskontrollen und ihren geregelten Altersbegrenzungen werden die Handlungsmöglichkeiten der Adoleszenten reguliert. Vor diesem Hintergrund bedeuten die Altersbegrenzungen für Jugendliche immer eine Herausforderung und eine einladende Vorlage für Transgressionsakte. Vgl. Kapitel 2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten.

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Freundschaft gewinnt eine neue Dimension, als Nadjas Mutter kurz vor der Ausbürgerung verhaftet wird und Anna Nadja zur Seite steht: »Ich falle Anna in die Arme, die sieht Ulrike und wie ich aussehe und sagt erstmal gar nichts, drückt mich nur lange und ganz fest. Der Magendruck wird weniger, dafür öffnen sich wieder die Schleusen, und die Tränen rollen. Als wären die beide Körperteile durch eine unsichtbare Leitung miteinander verbunden.« (WJ, 202)

Mit ihrem zärtlichen Umgang manifestiert Anna zum einen ihre Verbundenheit und zum anderen ihre Reziprozität, der ein hohes Maß an Vertrauen zugrunde liegt. Mit einer bildlichen Sprache wird der Vertrautheit, der Intimität und Solidarität innerhalb der Freundschaftsbeziehung zusätzlich Ausdruck verliehen und deren emotionsregulierende Funktion hervorgehoben. Die von der Autorin gewählte interne Fokalisierung sorgt für eine größere Identifikation mit der Protagonistin beim Leser, da sie ein miterlebendes Lesen ermöglicht. Die Beziehung zu Anna gerät noch mehr in den Vordergrund, als Nadja aus der DDR ausgebürgert wird: »Die ganze Nacht hören wir Musik, liegen uns weinend in den Armen, mit dem Schmerz, nicht zu wissen, ob wir uns jemals wiedersehen werden.« (WJ, 216). Die Entwurzelung und die damit verbundene Krise der Protagonistin hängen nicht nur mit dem Verlassen des vertrauten Raums, sondern vor allem mit der Trennung von ihrem sozialen Umfeld zusammen: »Es ist ein so deprimierender Moment in meinem Leben, und wirklich niemand ist da, der mich auffängt. Mit dieser Dunkelheit im Herzen schlafe ich ein.« (WJ, 251). Anders als die Mutter, die sofort als Oppositionelle mit ihrem politischen Kampf im Westen weitermacht, von den Medien vereinnahmt wird und dementsprechend Anerkennung findet, erlebt Nadja die Ausbürgerung als einen tiefgreifenden Einschnitt in ihrem Leben, als einen Bruch ihrer Entwicklung, mithin als eine emotionale Bedrohung. Sie fällt in ein emotionales Vakuum zu einem Zeitpunkt erhöhter emotionaler Verletzbarkeit, in dem sie alters- und entwicklungsbedingt die bisherigen Bindungen und Sicherheiten verliert, ihr Selbstwertgefühl starken Schwankungen unterworfen ist und sie somit auf Freundschaftsbeziehungen angewiesen ist. Ihr Identitätsfindungsprozess wird durch die Trennung von ihrer Freundin Anna stark destabilisiert und es kommt zu einer Störungsdiffusion, die sich zu Beginn in Form einer Essstörung und ihrer Unfähigkeit, sich emotional auf das neue soziale Umfeld einzulassen, manifestiert1040:

1040 Die Entwicklung der Protagonistin bleibt im weiteren Verlauf von dieser emotionalen Störung massiv geprägt. Nadja gelingt es nicht, passende Entstörungsstrategien zu entwickeln. Ihr turbulentes und wechselhaftes Leben mit einem exzessiven Alkohol- und Drogenkonsum und einer Unfähigkeit, stabile Intimitätsbeziehungen aufzubauen, hängt mit dem Trauma der Ausbürgerung zusammen.

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»Alle Ablenkungsmanöver in Sachen Lebenslust scheitern. Ausgehen und tanzen, Jungs anmachen und knutschen. Das gibt es hier praktisch nicht. Oder lasse ich es nicht zu? Oder sehe ich es nicht?« (WJ, 240)

Erst mit der Reise nach Ungarn und ihrem Aufenthalt in England ist sie wieder bereit, ihre persönliche Entwicklung fortzusetzen: »Ich spüre zum ersten Mal den positiven Aspekt dieser Ausbürgerung. Vielleicht auch, weil ich fünf Monate eingeschlossen war in dem Moloch West-Berlin, der komplett eingezäunt ist von der DDR.« (WJ, 254)1041 Im Westen lernt sie in der Schule Britta, eine Mitschülerin aus Ost-Berlin, kennen und andere gleichaltrige Mädchen, mit denen sie ausgiebig Spaß in der Freizeit hat und die sie bei ihren emotionalen Problemen auffangen: »Ich bin unglücklich mit meinem Körper und meinem Aussehen, und wenn ich meine Freundinnen hier nicht hätte, die so geduldig mich und meine zu mir gehörenden Aufs und Abs ertragen, dann wüsste ich auch nicht.« (WJ, 273f.) Der Aufbau neuer und reifer Beziehungen zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts bestimmt das Leben der Protagonistin sowohl im Osten als auch im Westen. Die massive Verstörung durch die Trennung von Anna ist ein wichtiger Beweis für die Bedeutung der gleichaltrigen Bindungen in der Adoleszenz. Die Entwicklung einer Fähigkeit zum Eingehen von Bindungen mit dem anderen Geschlecht ist eine weitere wichtige Entwicklungsaufgabe im Individuationsprozess der Protagonistin.

5.7.5 Zur sexuellen Initiation Mit dem plötzlichen Eintritt der Pubertät und der Ausbildung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale verändert sich der Körper der Protagonistin. Folglich wird sie von Passanten als Frau wahrgenommen und häufig als Objekt der sexuellen Begierde betrachtet. Die somatischen Veränderungen erfordern ein Umdenken in der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Nadja ist herausgefordert, mit diesen biologischen Veränderungen umzugehen und die neuen emotionalen Erfahrungen in ihre Persönlichkeit zu integrieren. Die gierigen Blicke der Männer bereiten ihr zuerst großes Unbehagen, aber bald registriert sie sie als ›Vorzüge des körperlichen Wachstums‹, um die Altersbeschränkungen bei Freizeitveranstaltungen zu unterlaufen:

1041 Auffällig ist, dass erst mit der DDR-Ausbürgerung und dem Umzug nach West-Berlin die politische Ebene in den Vordergrund rückt und der symbolische Raum DDR als Bedrohung und Einschränkung eine Rolle spielt. In der DDR, solange die Protagonistin sich in ihren gleichaltrigen Beziehungen aufgefangen fühlt, erlebt sie sich hauptsächlich in ihren Liebesund Freundschaftsbeziehungen, ohne dass sich die politischen Zustände auf ihre Entwicklung auswirken.

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»Das ging letzten Sommer so schnell, dass ich innerhalb von drei Wochen plötzlich einen BH brauchte. Da habe ich mich erst mal geschämt und gemerkt, wie gierig viele Männer plötzlich starren, ziemlich unangenehm, […].« (WJ, 62f.)

Die beschriebenen somatischen Veränderungen sind Voraussetzung für den Aufbau neuer Sozialbeziehungen mit älteren Jungen, mit denen sich Nadja in unterschiedlichen Rollen ausprobiert, und lernt, die damit verbundenen Emotionen zu regulieren. Zu ihrer sexuellen Initiation kommt die Protagonistin auf einer WG-Party. In Form einer Analepse erinnert sich Nadja an die Begegnung mit Tony. Die Beschreibung der Momente ihrer ersten Pettingerfahrungen durch die autodiegetische Erzählinstanz, verstärkt durch eine interne Fokalisierung aus Sicht der Protagonistin, verleiht der Darstellung einen starken Authentizitätscharakter.1042 Zusätzlich wird dem unerfahrenen gedanklichen Horizont der dreizehnjährigen Erzählinstanz durch die Anwendung einer lexikalisch wie syntaktisch einfachen Jugendsprache Ausdruck verliehen: »Da küsst mich Tony auf die Wange, auf die Nase, auf den Mund. Öffnet ihn mit seiner Zunge und küsst mich erst vorsichtig, dann etwas fordernder. Und bei mir knallt eine Sicherung durch. Anders als bei allen Küssen mit den Jungs aus meiner Klasse. Als würde eine Schleuse aufgehen und etwas abfließen, das sich lange angestaut hat. Wir knutschen und fummeln, was das Zeug hält, wild und willenlos. […] Tony ist wirklich geschickt mit seinen Händen und Fingern, die über meine Haut und zwischen meine Beine wandern, suchend und findend, während er mich so intensiv küsst, dass ich kurz denke, ich werde ohnmächtig, mein ganzer Körper zittert so.« (WJ, 24f.) [Hervorh. d. Verf.]

Die Anwendung einer metaphorischen und bildlichen Sprache verleiht der Beschreibung eine zusätzliche Intensität, die das emotionale Erleben der Protagonistin als etwas Besonderes erkennen lässt. Zugleich signalisiert der Rückgriff auf Metaphern und Vergleiche die Schwierigkeiten der unerfahrenen Protagonistin, das Erfahrene sprachlich zu fixieren. Der Intimitätserfahrung mit Tony folgt eine Annäherung an einen anderen älteren Jungen namens Martin. Bezeichnend für die Adoleszenz Nadjas ist ihr Interesse für ältere Jungen, denn gleichaltrige Jungen »sind […] immer noch eher Milchreisbubis« (WJ, 179), können nicht mit ihrer körperlichen Entwicklung mithalten und trauen sich nicht, sie offen zu begehren: »[D]ie Jungs trauen sich ja noch nicht so richtig, die schielen heimlich…« (WJ, 63) Der Umgang mit dem anderen Geschlecht, das Eingehen auf Intimitätsbeziehungen und das damit verbundene Erleben von intensiven und ambivalenten Gefühlen rücken für Nadja in den Vordergrund. Ihr 1042 Als Pettingerfahrung wird der intime Zärtlichkeitsaustausch bezeichnet, ohne Geschlechtsverkehr zu haben. In der Regel sammeln Heranwachsende über einen Zeitraum von oft mehreren Jahren nach und nach – oft mit mehreren aufeinander folgenden Partnern – jeweils intensivere sexuelle Erfahrungen.

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Alltag ist geprägt von Gefühlen wie sexueller Erregung, Verliebtsein (vgl. WJ, 25), Wut und Enttäuschung (vgl. WJ, 82), Sehnsucht, Eifersucht (vgl. WJ, 108), Getriebensein und der Unsicherheit, ob man richtig handelt und wie man auf das Verhalten anderer reagieren soll. Momenten mit einem intensiven sozialen Austausch im Freizeitbereich folgen Reflexionsmomente, in denen die Protagonistin über ihre widersprüchlichen Gefühle und ihr Verhalten reflektiert. Demzufolge macht die Protagonistin häufig von der im Zuge der Adoleszenz entwickelten kognitiven Fähigkeit der Selbstwahrnehmung Gebrauch. Die Wahl eines autodiegetischen Erzählers, der mit einer durchgehenden internen Fokalisierung erzählt, erweist sich als eine wichtige stilistische Entscheidung, um die Achterbahn der Gefühle der Protagonistin sichtbar zu machen. Die Abfolge von unbeantworteten Fragen, der wiederholte Rückgriff auf Wörter wie »vielleicht« und die Anwendung von Auslassungszeichen verdeutlichen ihre innere Zerrissenheit mit Lust und Neugier auf sexuelles Erleben und der Angst, emotional verletzt zu werden: »Und wenn der was anderes will als Du? Was soll denn das bedeuten? Dass er gar nicht in mich verliebt ist? Und nur mit mir schlafen will? Und vielleicht direkt danach Schluss macht – hat es überhaupt schon angefangen? Zweimal sehen, einmal knutschen und fummeln, eine Verabredung für zu Hause? […] Vielleicht sollte ich Annas Rat befolgen und erst mal rausfinden, was so Sache ist. Aber der küsst so gut, und wenn er mich küssen will, dann lasse ich mich doch küssen, ich wär ja schön blöd. Und dann werde ich wieder weich, und dann schiebt er vielleicht wieder seine Hand unter mein Oberteil und dann …« (WJ, 54) [Hervorh. d. Verf.]

Den sexuellen Trieben ausgesetzt, sucht Nadja mit der Unterstützung ihrer Freundin Anna nach einem geeigneten Umgang mit den emotionalen Herausforderungen dieser Lebensphase. Im interpersonellen Bereich erprobt die Protagonistin anhand ihrer Beziehung mit Martin ihre Fähigkeit, intime Beziehungen aufzubauen und gestaltet damit eine der wichtigen adoleszenten Entwicklungsaufgaben. Bei erotischen Annäherungen erlebt sie sich als autonom handelnde Person und lernt, ihren Körper bewusst einzusetzen, um die Nähe und Akzeptanz einer anderen Person zu erzielen: »Ich klebe mit meinen Augen an ihm und versuche besonders gut zu tanzen. Ich will unbedingt, dass er mich auch toll findet.« (WJ, 42) Trotz ihrer selbstbestimmten Haltung, und auch wenn die Kontaktaufnahme auf ihre Initiative zurückgeht, hat sie in der Beziehung aufgrund ihres Alters eine Unterlegenheitsposition. Ihre Unsicherheit manifestiert sich zum einen darin, dass Martin den aktiven Part übernimmt und die Initiative ergreift, um einen intimen Zärtlichkeitsaustausch zu gestalten, und sie schließlich auf seine Initiative eingeht. Durch sein forderndes Verhalten gerät sie in eine überwiegend passive Rolle, bei der sie zunächst nur darauf bedacht ist, nichts Falsches zu machen und auf seine erotischen Forderungen zu reagieren:

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»Ich schaue hoch zu ihm, da küsst er mich. Ganz unvermittelt. Ganz zärtlich, aber auch bestimmt. […] Ich küsse vorsichtig zurück. Will nichts falsch machen und ihn doch gleichzeitig aufessen. Weil, wenn einer blöd küsst, dann hört der andere ja auf, und ich will nicht, dass er damit aufhört. Wir knutschen jetzt richtig, mir ist heiß, trotz kalter Herbstnacht. Er zieht mich zur Hauswand und drückt mich dagegen, seine Hand wandert über meine Brust und knetet sie sanft. Sein Atem wird jetzt schneller, und ich spüre, dass ihn das erregt. Mich macht das Gefühl zwischen meinen Beinen verrückt. Ich drücke meinen Körper gegen seinen.« (WJ, 25) [Hervorh. d. Verf.]

Durch den Erfahrungsaustausch mit ihrer besten Freundin findet Nadja Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer Pettingerfahrungen. Durch die gemeinsame Reflexion ihres eigenen Verhaltens kann sie ihre sexuellen Unsicherheiten besprechen und lernt bewusst, der Zielstrebigkeit Martins und ihrer eigenen Lebenslust und Neugier Grenzen zu setzen und selbst zu bestimmen, wie weit sie gehen möchte: »Martin scheint jetzt zielstrebig zum Zuge kommen zu wollen. ›Noch nicht! Lass uns noch ein wenig Zeit.‹ Obwohl ich total weich und offen bin, habe ich bei all dem Zauber nicht vergessen, dass ich erst dreizehn bin und er schon volljährig. Und ich will ihn ein wenig hinhalten, um zu sehen, ob er es wirklich ernst mit mir meint. Annas Rat schiebt sich hinter meine Stirn, nichts zu überstürzen, und die Wörter anderer, älterer Frauen zu diesem Thema; es den Männern nicht zu leicht zu machen.« (WJ, 106) [Hervorh. d. Verf.]

Bei Nadjas Entscheidung handelt es sich um ein wichtiges Moment in der Entwicklung ihrer eigenen Identität.1043 Ihre bewusste Selbstverortung verstört ihr männliches Gegenüber, das seine sexuellen Wünsche wider Erwarten nicht erfüllt bekommt. Martins Vorstellungen entsprechen dem Stereotypen des männlichen Adoleszenten, der für sich eine autonome freie Rolle in Anspruch nimmt und nur darauf bedacht ist, möglichst viele sexuelle Erfahrungen zu sammeln, aber nicht bereit ist, auf eine feste Bindung einzugehen. Durch die Figurenrede wird Martin als Typ konzipierte Figur genau präsentiert: »[…] aber ich bin auch nur ein Mann. Und wenn ich so was Schönes vor mir habe, dann hört der Kopf auf zu denken.« (WJ, 107) Sein triebgesteuertes Sozialverhalten und seine häufig wechselnden Mädchenbekanntschaften beschreibt seine Mutter auf eine metaphorische Art und Weise und treffend: »[es] geht hier manchmal zu wie im Taubenschlag.« (WJ, 74) 1043 Nach Keupp bedeutet die Beantwortung der Identitätsfrage immer eine Passung zwischen dem Individuum mit seinen Gefühlen und dem sozialen Umfeld mit seinen Erwartungen. Die Selbstverortung der Protagonistin in ihrem sozialen Umfeld verlangt eine Antwort auf die Erwartungen Martins, die Nadja nicht erfüllen kann. Diese Ablehnung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur eigenen Sinnbestimmung. Auf der Suche nach der eigenen Identität muss sich Nadja auf eine ambivalente risikoreiche Position außerhalb der vertrauten Welt der Familie einlassen. Vgl. Kapitel 2.2.1 Zur adoleszenten Identitätsbildung.

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Die Begegnung mit Martin erhält eine wichtige Bedeutung für die emotionale Entwicklung der Protagonistin. Das wird narratologisch vor allem dadurch sichtbar, dass die sexuellen Begegnungen mit Martin repetitiv erzählt werden (vgl. WJ, 49, 102, 105f.) und dadurch ihrer Bedeutung zusätzlich Nachdruck verliehen wird. Durch die Erfahrungen mit Martin erlebt Nadja neue Funktionen des eigenen Körpers, die mit den biologischen Veränderungen in der Pubertät zusammenhängen. Mit Selbstbefriedigungspraktiken versucht sie ihren eigenen Körper kennenzulernen, als Sexualsubjekt zu handeln und ihre Gefühle für Martin zu erleben (vgl. WJ, 81). Darüber hinaus erlebt sie sich als sexuelle Persönlichkeit während der Anfertigung von Nacktaufnahmen und lernt, den eigenen Körper bewusst zu inszenieren: »[Ich] ziehe […] mich halbnackig aus und ihren schwarzen Pelzmantel an. Verrucht, mit viel Kajal und Tusche, setze ich mich ans Fenster in die kalte Februarsonne. Spiele mit Fächer und zu großen Ohrringen, räkele mich lasziv vor ihrer großen Linse.« (WJ, 144)1044

Es handelt sich bei allen den Praktiken um Beispiele für den bewussten Einsatz des eigenen Körpers und folglich um einen weiteren Beleg dafür, dass Nadja eine der wichtigen adoleszenten Entwicklungsaufgaben erfüllt. Nach der Abweisung durch Martin muss Nadja lernen, ihre Frustration zu verarbeiten, da ihre Idealvorstellung von Beziehung nicht verwirklicht werden konnte. Bei ihrer Ablehnung von Martins Wunsch nach genitaler Sexualität manifestieren sich unterschiedliche Facetten des psychosozialen Moratoriums. Nach der Exploration von möglichen Identifikationsangeboten, zum Beispiel Annas Ratschlag, nichts zu überstürzen, oder die Empfehlungen der älteren Frauen, es den Männern nicht zu leicht zu machen, hat sich Nadja bewusst für eine zögerlichere Haltung im Umgang mit dem Wunsch nach genitaler Sexualität entschieden: »Ich muss wahrscheinlich erst eine Weile mit jemandem zusammen sein, bis das ganze Programm abläuft.« (WJ, 107) Die Folgen ihrer Entscheidung bereiten ihr zwar Unbehagen, sind jedoch kennzeichnend für eine experimentelle und konfliktreiche Phase, ohne die keine Identitätsleistung erzielt werden kann. Ihre Gefühlslage entspricht einem inneren Zwiespalt zwischen Liebeskummer und Lebensfreude: »Bin innerlich zwei Menschen. Mindestens. Das lebenslustige Ding, das nichts anbrennen lässt und überall dabei sein will; bereit, jeden Scheiß mitzumachen. Und das ruhige, fast melancholische Wesen mit einem ordentlichen Schuss Drama im Herzen. An manchen Tagen ist es in mir drinnen wie Ping-Pong. Hin und her, so schnell, dass einem dabei schlecht wird, wenn man zuguckt. Und es innerlich aushalten muss.« (WJ, 153) [Hervorh. d. Verf.] 1044 Die halbnackten Selbstporträts hängt sie in ihrem Zimmer neben den Madonna-Postern auf. Dadurch wird ihr ausgeprägtes Selbstwertgefühl hervorgehoben.

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Das Aushandeln dieser Konflikte ist die wichtigste Herausforderung in Nadjas Alltag. Um sie kompensieren zu können, lässt sie sich, getrieben von einem »Jagdinstinkt« »[…] mit jedem Kerl ein, der [ihren] Weg kreuzt und [ihr] halbwegs gefällt« (WJ, 168) oder versucht durch exzessiven Alkoholkonsum ihre zwiespältigen Gefühle zu neutralisieren.1045 Ihre Selbstcharakterisierung als unausgeglichenes und spielsüchtiges Mädchen verdeutlicht ihren verstörten emotionalen Zustand. Mit dem Schock der Ausbürgerung und dem Verlust ihrer Freundin Anna kommt es zu einer Destabilisierung des brüchigen seelischen Gleichgewichts der Protagonistin, die den Aufbau einer Intimitätsbeziehung verunmöglicht. Sie versucht mit aller Macht an ihrer alten Heimat festzuhalten und ihren Schmerz zunächst mit Essen und Rauchen zu kompensieren. Das (sexuelle) Jugendleben kommt vorläufig zu einem Stillstand, da sie sich in der Fremde West-Berlins nicht in der Lage fühlt, sich auf andere Menschen einzulassen: »Alle Ablenkungsmanöver in Sachen Lebenslust scheitern. Ausgehen und tanzen, Jungs anmachen und knutschen. Das gibt es hier praktisch nicht. Oder lasse ich es nicht zu?« (WJ, 240) Erst im Ausland und durch die Begegnung mit Ben gelingt es der Protagonistin, vorübergehend ihre Vergangenheit auszuklammern und sich auf einen anderen Menschen emotional einzulassen. Sie fühlt sich durch Bens Zuneigung als Mensch bestätigt, und bestärkt durch das Gefühl der Verliebtheit, kann sie zu einer normalen Entwicklung zurückkehren: »Es ist, als tankte ich mich innerlich auf. Und ich kann sein, wie ich bin. Endlich schlafe ich wieder richtig tief und fest, ohne Albträume von Hausdurchsuchungen und Ausreise. Denke auch nicht mehr so viel an Anna und den Osten. Als würden sich neue Räume in meinem Kopf öffnen und in meinem Herzen.« (WJ, 264)

Mit der Rückkehr nach Westberlin folgt eine turbulente Zeit mit wechselhaften Beziehungen und Parallelbeziehungen. Sexualität wird für Nadja nur noch als Mittel zum Zweck gegen ihre Einsamkeit und Trauer. Als sie von Sascha, einem ihrer Freunde, betrogen wird, wird ihr die Schattenseite der Intimitätsbeziehungen bewusst: »Ich habe Angst. Verletzt zu werden und betrogen. Ich glaube, ich kann das nicht ertragen.« (WJ, 309) Der Aufbau einer Paar-Beziehung ist für Nadja sowohl im Westen als auch im Osten mit positiven Gefühlen wie Verliebtheit und Euphorie, aber auch mit ambivalenten Emotionen wie Wut, Eifersucht, Schmerz, Angst und Misstrauen verbunden und stellt für die Protagonistin eine der schwierigsten Bewährungsproben in ihrer adoleszenten Entwicklung dar.

1045 Näheres dazu im folgenden Kapitel 5.7.6 Zum grenzüberschreitenden adoleszenten Verhalten.

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5.7.6 Zum grenzüberschreitenden adoleszenten Verhalten Eine der wichtigen Entwicklungsaufgaben während der Adoleszenz ist die Beantwortung der Identitätsfrage, die eine dauernde Selbstverortung des Individuums im sozialen und gesellschaftlichen Umfeld erfordert. Konfrontiert mit Erwartungen im familiären, schulischen und gesellschaftlichen Umfeld versuchen Heranwachsende ihre Grenzen auszutesten. Für Nadja, die in einem lockeren Familienumfeld aufwächst, ist das Austesten von Grenzen schwieriger als für Anna, die mit einer strengen Mutter aufwächst. Es wurde bereits im Zusammenhang mit der Modifizierung der Bindung an die Eltern festgestellt, dass Nadja über ein besonderes Bewusstsein für ihre eigenen sozialen Bedürfnisse verfügt und ihre Freizeit nach ihren eigenen Vorstellungen gestaltet. Insbesondere folgt sie ihrem Wunsch, mit älteren Jugendlichen in Kontakt zu treten. Die mit ihrer Mutter vereinbarten Ausgehzeiten sowie die vom Jugendschutzgesetz geregelten Vorgaben fürs Ausgehen und für den Konsum von Alkohol werden wiederholt ignoriert. Ihr riskantes Verhalten erfüllt zum einen eine »quantitative Integrationsleistung«1046, zumal der gemeinsame Alkoholkonsum und die längeren Ausgehzeiten die Kontaktaufnahme mit älteren Jungen ermöglichen, Nadja ihr wirkliches Alter überspielt und dadurch ihre Akzeptanz unter den Jungen erhöht: »›Keine Grüne Wiese – einen Gin Tonic bitte‹, rufe ich quer über den Tresen dazwischen. So ein Klein-Mädchen-Getränk kann ich jetzt nicht bestellen, das ist mir unangenehm vor Martin.« (WJ, 98) Zum anderen dient der Alkohol als Verarbeitungsstrategie, um die psychosozialen Belastungen nach Martins Abfuhr zu neutralisieren1047: »Nicoles Party ist spitze, es gibt gute Musik […] ich betrinke mich total und stehe plötzlich knutschend mit einem Typen, den ich noch nie gesehen habe, in der Ecke. […] Ist mir auch gerade alles wirklich egal. Ich merke nichts mehr, schwanke gegen drei Uhr morgens rüber in die Oderberger. Mir ist schwindlig vom Rotwein, schwindlig von den Gedanken über mein Leben […].« (WJ, 191) 1046 Aufgrund der hohen Ausübungsfrequenz in unterschiedlichen Gruppensituationen wird bezüglich des Alkoholkonsums in der Risikoforschung von einer quantitativen Integrationsleistung gesprochen. Vgl. Raithel, Jugendliches Risikoverhalten. 2011, S. 32; vgl. hierzu auch Kapitel 2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten. 1047 Die Inszenierung durch den Alkoholkonsum gehört zu einer der üblichen Experimentierpraktiken in der Jugendkultur der DDR. Diese Praxis hat in den meisten Fällen eine psycho- und sozialregulative Funktion. Im vorliegenden Fall versucht Nadja zum einen Spaß mit Gleichaltrigen zu haben und die eigenen Grenzen zu testen, zum anderen ihre persönlichen Probleme zu verdrängen. Im Westen erweitert sich die Praxis durch den Konsum von Drogen, die Handlungsmotive korrespondieren allerdings mit denen der Heranwachsenden im Osten. Vgl. das Verhalten von Peter Sorgenich in Der Sonnenküsser von Jürgen Landt, von dem Mädchen in Das Mädchen von Angelika Klüssendorf, von Reiner Nilowsky in Nilowsky von Torsten Schulz, von Harry Einzweck in Die Lüge von Uwe Kolbe und von René in Skizze eines Sommers von André Kubiczek.

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Ihr Wunsch nach nächtlichem Ausgehen verleitet sie dazu, ihren Personalausweis zu fälschen, um bei den Einlasskontrollen in der Disko die Altersbegrenzung zu umgehen. Bei der Urkundenfälschung handelt es sich um eine Straftat, für die sie von den Freunden bewundert wird: »Du bist echt verrückt. Seid ihr in Berlin alle so?« (WJ, 163) Kennzeichnend für das adoleszente Verhalten ist das riskante Handeln, ohne die Tragweite und die möglichen Folgen der Taten zu berücksichtigen. Nadja selbst ist voller Stolz auf ihre Tat und gibt damit beim Telefonieren mit Freundinnen an. Da ihre Mutter unter Beobachtung der Staatssicherheit steht und bereits ein Berufsverbot über sie verhängt wurde, bekommt ihre Tat eine gefährliche Dimension für die Mutter: »Mensch Nadja, darauf warten die doch nur, dass wir einen Fehler machen, dass sie uns was anhängen oder uns kaltstellen können.« (WJ, 166) Von der Mutter mit den möglichen Folgen ihrer Tat konfrontiert, zeigt sie wenig Einsicht für ihr Fehlverhalten, hat kein Verständnis für die Reaktion der Mutter, sondern ist stolz auf ihre Idee: »Ich bin trotzdem stolz auf meine Idee und darauf, dass ich es so gut hinbekommen habe.« (WJ, 167) Hinzu ist Nadja verärgert über ihre »wütende Mutter, über die ganze verlorene Mühe für den Ausweis und über [sich] selbst […]« (WJ, 167), weil sie durch die Vernichtung des gefälschten Ausweises keine Möglichkeit mehr hat, in Diskotheken mit Altersbegrenzungen Einlass zu bekommen.1048 Neben der Freizeit ist der Erfahrungsraum der Schule für die Entwicklung der Protagonistin von besonderer Bedeutung. In einem schulischen Umfeld verortet, in dem die meisten Schüler aus Pragmatismus eine ›Zwiesprech-Haltung‹ verinnerlicht haben, nimmt Nadja durch ihr Selbstbewusstsein und ihre politisch kritische Haltung eine Sonderstellung ein und fordert die schulischen Instanzen mit ihrem Habitus heraus. Beeinflusst von den Diskussionen der Oppositionellen-Kreise, die regelmäßig bei Nadjas Mutter stattfinden, führt sie »verbale Gefechte« (WJ, 61) mit der Klassenlehrerin, tadelt die Missstände in der DDR öffentlich und führt ihren Mitschülern die Diskrepanz zwischen offizieller Darstellung und realer Wirklichkeit vor Augen. Im System Schule kommt es zu schweren Irritationen, insbesondere als Nadja nichts ahnend einen von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater verfassten Offenen Brief an Kurt Hager an die Mitschüler verteilt, in dem die Autoren über den gesellschaftlichen Zustand der 1048 Kennzeichnend für das adoleszente Verhalten sind die erhöhte Risikobereitschaft und die Lust an extremen Gefühlen. Komplexe kognitive Funktionen, wie die Abschätzung der Folgen einer Handlung oder die Beurteilung des angemessenen Verhaltens werden bedingt durch das in dieser Entwicklungsphase existierende Ungleichgewicht zwischen der Entwicklung des präfrontalen Kortex und der limbischen Hirnregionen erschwert. Nadjas Interesse für das Nachtleben ist zum einen mit dem Reiz des Verbotenen verknüpft, zum anderen erlebt Nadja die nächtliche Zeit als einen Handlungsraum, in dem die altersbedingten sozialen Grenzen der Tagesidentität gelockert werden, sie mit älteren Jungen in Kontakt treten und sich als Frau anders erleben kann. Vgl. hierzu Kapitel 2.2.8 Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten.

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DDR kritisch reflektieren und offensiv eine Reformpolitik einfordern. Zwar wird der Brief konfisziert und die Mutter durch die Schuldirektorin zu einem Abmahnungsgespräch einberufen, von weitergehenden Strafmaßnahmen sieht die Schulleitung jedoch ab.1049 In der Regel verfügen die schulischen Instanzen nicht über die nötige Flexibilität, um mit den verbalen Gefechten konstruktiv umzugehen. Lehrer fungieren als Negativ-Figuren, mithin als Vertreter des Systems, und werden mit einzelnen Ausnahmen zum Feindbild degradiert. So zeichnet sich beispielweise Nadjas Sportlehrerin durch ihre Strenge und ihren militärischen Ton aus (vgl. WJ, 60). Ihre Deutschlehrerin instrumentalisiert den Literaturunterricht für Ideologisierungszwecke und zeichnet sich durch ihren Dogmatismus und ihre Parteihörigkeit aus.1050 Konfrontiert mit dem provozierenden Verhalten oder der Verweigerungshaltung der Heranwachsenden, reagiert sie schließlich mit einer sanktionierenden Haltung: »Auf ihren Unterricht haben wir meistens keine Lust, DDR-Literatur durchzukauen, deren höhere Wertigkeit für die sozialistische Gesellschaft zu analysieren. Wir fangen deshalb an zu stören. Sie versucht dann unsere Klasse, die als besonders anstrengend gilt, mit Disziplinarmaßnahmen wie Tadel, Unterrichtsverweis und Nachsitzen in den Griff zu bekommen […].« (WJ, 62) [Hervorh. d. Verf.]

Kliers Darstellung präsentiert mehrere Transgressionsakte, die als notwendiger Bestandteil der adoleszenten Entwicklung Gegenstand der literarischen Darstellung eines Adoleszenzromans werden.

5.7.7 Fazit Zusammenfassend lassen sich folgende narratologische Aspekte markieren: Auf der Ebene des discours verleihen zum einen die von Klier ausgewählte Erzählinstanz eines autodiegetischen Erzählers und zum anderen die durchgehende 1049 Hier erkennt man die Grenzen der schulischen Sozialisationseffekte. Die im Zuge der 1980er Jahre unter der Bevölkerung eingetretene Skepsis gegenüber offiziellen Darstellungen, die das alltägliche Leben der DDR-Bürger tangieren, kann durch die schulische Sozialisation nicht neutralisiert werden. Vielmehr wird die Schule zum Ort, wo Widersprüche der Gesellschaft reflektiert und ausgehandelt werden (vgl. WJ, 185f.). Der Verzicht auf Sanktionsmaßnahmen seitens der Schuldirektorin offenbart, dass die Wirkung von Transgressionsakten von zeitlichen Faktoren abhängt und dass sich die Entstörungsstrategien der Systeme im Laufe der Zeit verändern. 1050 Kliers Darstellung des Lehrpersonals berücksichtigt auch einzelne Lehrer, die sich von dieser dogmatischen und parteihörigen Haltung distanzieren und Schüler ernst nehmen (vgl. WJ, 60). Nach der Verhaftung von Nadjas Mutter zeigen die meisten Lehrer eine empathische Haltung: »Selbst die meisten Lehrer haben mitfühlende Blicke oder sogar kleine aufmunternde Worte übrig. Ich werde mit Samthandschuhen angefasst beziehungsweise sehr freundlich ignoriert.« (WJ, 204)

346

Zu Facetten der Darstellung von Adoleszenz in der DDR

interne Fokalisierung der Darstellung einen Authentizitätscharakter, dem durch die Anwendung einer dialektalen Sprache sowie einer Jugendsprache zusätzlich Nachdruck verliehen wird. Der Einsatz einer autodiegetischen Erzählinstanz sowie die Wahl einer internen Fokalisierung erweisen sich als wichtige stilistische Entscheidungen hinsichtlich der narrativen Sympathielenkung. Über eine interne Fokalisierung wird es möglich, die komplexe Gefühlswelt und die vielfältigen Handlungsmotive der adoleszenten Protagonistin auszuleuchten. Auf der Ebene der histoire trägt die Konzeption der Hauptfigur als eine dynamische Figur entscheidend zur Darstellung der Identitätssuche der Protagonistin mit all ihren sich wandelnden Vorstellungen über das eigene Selbst bei. Obwohl sich die erzählte Zeit schließlich auf einen Zeitraum von drei Jahren beschränkt, ist eine Entwicklung der Protagonistin erkennbar. Nadjas sich wandelnde Vorstellungen des eigenen Selbst werden insbesondere durch ihre Selbstverortung in unterschiedlichen Beziehungsgeflechten veranschaulicht, zum Beispiel durch ihre Selbstpositionierung in der Clique oder in der Schule, durch eine gewisse Distanzierung zu ihrer Mutter, durch die Erarbeitung einer eigenen politischen Meinung sowie eines eigenen Wertesystems, durch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit ihrem egozentrischen Verhalten, durch den Aufbau einer intensiven Freundschaft mit Anna, durch ihre wandelnde Selbstpositionierung im Umgang mit dem anderen Geschlecht, u. v. m. Die Intensität dieser Lebensphase, bedingt vor allem durch die notwendige Integrationsleistung der Hauptfigur, um den biologischen, psychosexuellen und psychosozialen Veränderungen gerecht zu werden, wird durch die mehrdimensionale dynamische Konzeption der Protagonistin plausibel dargestellt. Die Auswahl der diegetischen Räume ist geprägt von einer funktionalen Besetzung von Schauplätzen, die für den unabgeschlossenen Prozess der Identitätsfindung entscheidend sind. Während Nadjas schwarzes Zimmer zum Beispiel als identitätsstiftendes Instrument und als Schutz- und Stabilitätsraum für krisenhafte Momente fungiert, eröffnen die Mehrzweckhallen und Diskoräume einen erweiterten Raum, in dem sich Nadja immer mehr als autonome Persönlichkeit erlebt. Die Entwurzelung der Protagonistin wird durch den kontrastierenden Raum Ost-Berlin vs. West-Berlin, das heißt durch den Kontrast zwischen Heimat und Fremde, zum Ausdruck gebracht. Der oben angesprochene Authentizitätscharakter der Darstellung wird durch die Tatsache verstärkt, dass die Erzählung sich überwiegend auf Aspekte und Konflikte fokussiert, die mit der Neuprogrammierung in der Adoleszenz verknüpft sind, und auf den Aufbau sozialer Beziehungen außerhalb der Familie. Nadjas Selbstverortung in der Familie und im sozialen Umfeld, ihre Auseinandersetzung mit ihren biologischen Veränderungen und das Aushandeln einer Geschlechterrolle stehen im Vordergrund. Dessen ungeachtet werden wichtige politische Zusammenhänge im Verlauf des Textes explizit durch Reflexions-

Nadja Klier: 1988. Wilde Jugend

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momente herausgestellt oder implizit angedeutet, etwa indem die Figuren soziologische oder ideologische Strömungen der Zeit zum Gegenstand von Kommunikation machen, wie zum Beispiel die zunehmende Bedeutung der westlichen Pop-Kultur für die Selbstsozialisation der Protagonistin mit der Übernahme von Leitbildern und äußeren Inszenierungselementen, die Vertretung von politischen Meinungen aus bürgerrechtlichen Kreisen im Schulkontext und die Distanzierung von der ›ostpolitischen DDR-Realität‹. Genauso diskutieren die Figuren realexistierende politische Konfliktsituationen: »Sozialismus ist das hier alles nicht.« (WJ, 31) Eine besondere Sprengkraft entwickeln Fragen dieser Art, als Nadjas Mutter festgenommen und die Familie mit einer Zwangsausbürgerung aus der DDR konfrontiert wird. Kliers Text bietet durch die Berücksichtigung der Entwicklung der Protagonistin sowohl in der DDR als auch in der BRD eine kontrastierende Dimension. Diesbezüglich lässt sich anhand der Darstellung von Nadjas Entwicklung Folgendes festhalten. Gleichaltrige Beziehungen haben sowohl im Osten als auch im Westen eine unterstützende Funktion für die Protagonistin. Durch sie kann sich Nadja in der Freizeit als autonome Person erleben und ihr emotionales Wohlbefinden regulieren. Zudem eröffnet der jugendkulturelle Raum sowohl im Osten als auch im Westen zahlreiche Möglichkeiten der Selbstinszenierung, der Ausgestaltung neuer Beziehungsformen und der Erprobung unterschiedlicher Grade von Intimität. Heranwachsende wie Nadja erproben ihre Grenzen mittels substanzspezifischer Risikoverhaltensformen. Für die Protagonistin erfüllt der Alkoholkonsum unabhängig vom Ort einerseits eine quantitative Integrationsleistung und andererseits eine Kompensationsleistung, um ihre emotionale Überforderung zu neutralisieren. Im Westen wird der Alkoholkonsum durch den Drogenkonsum erweitert (vgl. WJ, 290). Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass die Zerrissenheit der Protagonistin nicht vorrangig politisch bedingt ist, sondern unabhängig vom Wohnort mit der Schwierigkeit verknüpft ist, bestimmte adoleszente Entwicklungsaufgaben zu erfüllen, wie zum Beispiel das Aushandeln einer Geschlechterrolle oder den Aufbau einer Intimitätsbeziehung. Erst durch die Verhaftung der Mutter und die Ausbürgerung aus der DDR wird Nadja mit politischen Maßnahmen konfrontiert, die tiefgreifende Auswirkungen auf ihr adoleszentes Leben haben. Für sie bedeuten die Ausbürgerung und die Trennung von ihrem vertrauten sozialen Umfeld eine wichtige Zäsur in ihrem Leben. Die mit der Zwangsausbürgerung verbundene Entwurzelung ruft ein emotionales Trauma bei der Protagonistin hervor. Die emotionalen Schwierigkeiten der Protagonistin im Westen haben jedoch auch mit den familiären Bedingungen zu tun. So definiert sich die Mutter sowohl im Osten als auch im Westen durch ihren politischen Dissidenten-Kampf, wobei die Tochter und ihre Bedürfnisse für sie völlig in den Hintergrund geraten. Zudem ist der Vater nicht fähig, eine generative Haltung einzunehmen und seiner Tochter den nötigen familiären Halt

348

Zu Facetten der Darstellung von Adoleszenz in der DDR

anzubieten. Das offene Ende des Textes ist kennzeichnend für den Adoleszenzroman. Wie die Figur sich nach dem Mauerfall weiterentwickelt und verortet, bleibt am Ende des Textes offen.

6

Schlussbetrachtung

Nachdem in den einzelnen Kapiteln die Ergebnisse der Analysen zusammengefasst und die spezifischen Merkmale der Texte festgehalten wurden, sollen nachfolgend die jeweiligen Muster der Adoleszenzdarstellung knapp rekapituliert und zueinander in Bezug gesetzt werden. In Hinblick auf die Frage, wie Adoleszenz in der DDR in der Gegenwartsliteratur literarisch konfiguriert wird, konnten unterschiedliche Muster herausgearbeitet werden, die die Heterogenität von Adoleszenz in der DDR unter den Bedingungen eines selektiven Bildungsmoratoriums belegen. Es wurde erkennbar, dass Adoleszenz eine krisenhafte Lebensphase darstellt und traumatisch verlaufen kann. In den analysierten Texten hängen die Ursachen für eine traumatische Adoleszenzentwicklung in erster Linie mit der fehlenden Generativität des familiären Umfeldes zusammen. Die Analyse der Romane Der Sonnenküsser von Jürgen Landt, Das Mädchen und April von Angelika Klüssendorf und Nilowsky von Torsten Schulz belegt, dass eine gestörte Generativität im familiären Umfeld den Individuationsprozess der adoleszenten Figuren stark einschränkt und die Entstehung von Neuem bis zu einem gewissen Grad unmöglich macht. Erwachsene Figuren, die selbst Opfer von Gewalt geworden, mit ihrer eigenen Existenz überfordert sind oder unter chronischem Alkoholismus leiden, können keine generative Haltung einnehmen oder für die Adoleszenten zu Identifikationsfiguren werden, weil sie selbst brüchige Subjekte sind. Adoleszente wie Peter Sorgenich (Der Sonnenküsser), das Mädchen April und Reiner Nilowsky, die in sogenannten dysfunktionalen prekären Familien aufwachsen und in ihrer Kindheit unterschiedlichen Formen von Gewalt und Misshandlung ausgesetzt waren, erleben die familiäre Umgebung als einen Ort der Bedrohung und der Verwahrlosung und genießen keine förderlichen Voraussetzungen für eine gesunde Individuation. Zum einen leiden die Heranwachsenden unter den Auswirkungen der traumatischen Erlebnisse der Eltern während des Zweiten Weltkrieges, zum anderen werden sie Opfer von Folgen der Modernisierung, die sich unter anderem an den brüchigen Familienstrukturen manifestieren. Die erlittenen (traumatischen) Erfahrungen führen vor allem zu einem beschädigten Selbstwertgefühl und zwingen die Protago-

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Schlussbetrachtung

nisten dazu, durch grenzüberschreitende Verhaltensformen ihre Unsicherheit und ihre fehlende emotionale Stabilität zu kompensieren. Zu den üblichen Kompensationspraktiken gehören die der Adoleszenz immanenten Größen- und Allmachtsphantasien, mithin ein extremes Risikoverhalten. Ebenfalls sind Transgressionsakte auszumachen wie beispielsweise ein aggressives selbst- und fremddestruktives Verhalten und eine Reihe von dissozialen Handlungen, mit denen adoleszente Figuren ihre Identitätsfindung vorantreiben und sich auf diese Weise deutlich von den Eltern und Gleichaltrigen absetzen. Durch ihr Verhalten sind Adoleszente wie Peter Sorgenich, das Mädchen April und Reiner Nilowsky im Sinne von Carsten Gansel letztlich Figuren der Störung bzw. Figuren der Abweichung, sie provozieren zahlreiche Irritationen im familiären und gesellschaftlichen Umfeld und stellen ihr soziales Umfeld bezüglich seiner Flexibilität auf die Probe. Die Sozialisationsagenten wie Familie, die Schule und das Kinderheim sowie die Justiz- und die Polizeibehörden besitzen in den präsentierten Texten keine ausreichende Flexibilität, um die durch das adoleszente Verhalten provozierten Irritationen produktiv zu verarbeiten und durch konstruktive Entstörungs- bzw. Reintegrationsmaßnahmen die Protagonisten in das gesellschaftliche System zu integrieren. Stattdessen zerstören ihre sanktionierenden Maßnahmen die Größen- und Allmachtsphantasien der Protagonisten, verschärfen die konflikthafte Situation der traumatisierten Adoleszenten und tragen zur Verhinderung eines erfolgreichen Individuationsprozesses bei. Dementsprechend ist die Chance einer zweiten seelischen Geburt1051, die im Zuge der Adoleszenz hätte eintreten können, für diese Figuren nicht gegeben. Angesichts der dargestellten Traumatisierungen im familiären und außerfamiliären Umfeld und der massiven Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Protagonisten kann nach Mario Erdheim von einer ausgebrannten Adoleszenz1052 gesprochen werden. Folglich kommt es zu einem misslungenen Identitätsbildungsprozess, der sich je nach literarischem Text in unterschiedlichen Formen manifestiert. Peter Sorgenich und das Mädchen April verlassen die DDR, nachdem sie mit dem Rechtssystem der DDR in Berührung kommen und sie feststellen müssen, dass sie keine Möglichkeit haben, ihre Positionen und die von ihnen anvisierten Perspektiven in der DDR zu verwirklichen. Auch in den Räumen, die in der Bundesrepublik angesiedelt sind, leiden sie weiterhin unter den Folgen der in der Kindheit und der Adoleszenz erlittenen Traumata. Reiner Nilowsky kommt ebenfalls in Berührung mit dem Rechtssystem der DDR, und seine Allmachtsphantasien werden ebenso zerstört. Über seinen Verbleib in der DDR oder eine mögliche Ausreise sowie über einen eventuellen Tod wird am Ende des Textes nur spekuliert. Bei den drei Romanen bestimmen nach wie vor 1051 Fend, Identitätsentwicklung. 1991, S. 2. 1052 Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. 1984, S. 317ff.

Schlussbetrachtung

351

die Nachwirkungen der im familiären Umfeld erlittenen Kindheitstraumata die Entwicklung der adoleszenten Protagonisten. Der staatliche Kontrollapparat mit seinen unterschiedlichen Instanzen erfüllt in diesem Kontext lediglich eine verstärkende Funktion. Die Heterogenität von Adoleszenz wird in Torsten Schulz’ Text Nilowsky dadurch erkennbar, indem drei unterschiedliche Adoleszenzmuster synchron präsentiert werden. Bedingt durch die krisenhaften Auseinandersetzungen zwischen den Generationen kann es, wie im Fall von Carola Worgitzke, zu einer konflikthaften Adoleszenz kommen, die durch die fehlende Identifikation mit den Lebensthemen der Eltern, durch eine problematische Sexualerziehung, durch die Weigerung, bestimmte vorgegebene soziale Rollen zu übernehmen, und durch eine sich entwickelnde Essstörung gekennzeichnet ist. In den einzelnen Kapiteln wurde herausgestellt, dass Adoleszenz trotz ihrer krisenhaften Momente auch in hohem Maße ›normal‹ und ohne traumatische intergenerationelle Konflikte ablaufen kann. Wie am Schicksal des Protagonisten Markus Bäcker (Nilowsky) deutlich gezeigt wird, kann es im selektiven Bildungsmoratorium der DDR zu einer klar geregelten Entwicklung kommen, in der der Adoleszente durch seine Beziehungen zu Gleichaltrigen neue Rollen aushandelt, seine Bindung zu den Eltern modifiziert und seine Identitätsfindung vorantreibt, ohne in unüberwindbare Konflikte mit der Familie und der Gesellschaft zu geraten. Mit einer geregelten Laufbahn von Schule, Grundwehrdienst und Studium und geleitet von einem gewissen Pragmatismus verkörpert Markus Bäcker ein weiteres mögliches Adoleszenzmuster im selektiven Bildungsmoratorium der DDR. Die Romane Schneckenmühle von Jochen Schmidt und Skizze eines Sommers von André Kubiczek präsentieren ein Adoleszenzmuster, das durch einen ab Mitte der 1970er Jahre erkennbaren Mentalitätswandel und durch die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in den 1980er Jahren in der DDR konditioniert wird.1053 Die Heranwachsenden können sich nicht mehr mit den überkommenen Leitbildern der älteren Generationen identifizieren. Vom »Gesellschaftsmodell DDR« haben sie sich innerlich distanziert, aber aus pragmatischen Gründen verzichten sie bewusst auf eine Auseinandersetzung mit den staatlichen Instanzen. Mit einer strategischen Doppelzüngigkeit reagieren sie auf die gesellschaftlichen Anforderungen in der Schule. Ihre Wertvorstellungen und Leitbilder entwickeln die Adoleszenten mittels Selbstsozialisation orientiert an der westlichen Kultur. Diesbezüglich fungieren westliche Musik und Literatur als Orientierungsmuster und unterstützen Heranwachsende wie René und Jens bei der Entwicklung eines individuellen Lebenskonzeptes. In beiden Texten wird die 1053 Zum Mentalitätswandel der 1970er Jahre vgl. Friedrich, Jugend und Jugendforschung in der ehemaligen DDR. 1991, S. 175.

352

Schlussbetrachtung

Bedeutung des jugendkulturellen Raums für die Selbstsozialisation markiert, in dem die Adoleszenten alternative Wertvorstellungen entwickeln. Insbesondere in Kubiczeks Roman wird deutlich, wie Heranwachsende stark von globalen Entwicklungen beeinflusst werden und es zu einer größeren Individualitätsentfaltung kommt. Im historischen Kontext der 1980er Jahre ist auch der Text 1988. Wilde Jugend von Nadja Klier verortet und weist deutliche Gemeinsamkeiten mit dem in Skizze eines Sommers konfigurierten Adoleszenzmodell auf. Die Protagonistin erlebt bis zu ihrem fünfzehnten Geburtstag eine Lebensphase, die sich vor allem durch die für den Übergang von Kindheit ins Erwachsenalter kennzeichnenden Entwicklungsaufgaben auszeichnet. Die Intensität der Adoleszenz ist bedingt durch die notwendige Integrationsleistung, um den somatischen, psychosexuellen und psychosozialen Veränderungen gerecht zu werden. Vergleichbar wie René, der Protagonist aus Kubiczeks Roman, verkörpert die Hauptfigur soziologische und ideologische Tendenzen der 1980er Jahre, die den Einfluss der westlichen Popkultur dokumentieren. Von Ikonen der westlichen Pop-Musik wie Madonna übernimmt die Protagonistin Leitbilder und Inszenierungselemente, die für die Bestimmung ihrer Geschlechterrolle und für ihre soziale Selbstverortung bestimmend sind. Ihre Distanz zum »Gesellschaftsmodell DDR« manifestiert sie nicht nur wie René durch äußere Inszenierungsrituale, sondern auch durch die explizite Problematisierung der ost-politischen DDR-Realität im Schulkontext sowie durch die Vertretung und Verbreitung von bürgerrechtlichen politischen Meinungen. Kliers Text lässt den Schluss zu, dass die für die Adoleszenz kennzeichnenden Abgrenzungsprozesse nicht nur in vermeintlich linientreuen Familien stattfinden, wie oft in vereinfachenden literarischen Darstellungen von DDR-Adoleszenz suggeriert wird, sondern auch in oppositionellen Kreisen. Ein weiteres Adoleszenzmodell wird im Text Die Lüge von Uwe Kolbe literarisch konfiguriert. In der Künstler- und Dissidentenszene des Prenzlauer Bergs wird eine (Post)Adoleszenz inszeniert, die sich durch das Ausleben von Allmachtsphantasien und einen Rückzug in eine hedonistische Welt auszeichnet. (Post)Adoleszente wie Hadubrand streben keine generative Haltung an und verfolgen mit ihrer Kunsttätigkeit keine avantgardistischen Ziele, die zur Entstehung von Neuem führen und ernstzunehmende Denormalisierungsprozesse in der Gesellschaft in Gang zu setzen in der Lage wären. Eingerichtet in der DDR-Gesellschaft nutzen sie ihre Privilegien aus, um ausschließlich ihr promiskuitives und hedonistisches Leben zu fördern. Es ist unverkennbar, dass die Literatur als Medium des Gedächtnisses »eine Pluralisierung von kollektiven Erinnerungen«1054 ermöglicht, da die analysierten

1054 Gansel, Atlantiseffekte in der Literatur? 2010, S. 19.

Schlussbetrachtung

353

Texte »verschiedene Versionen von Vergangenheit«1055 und heterogene Varianten von Adoleszenz präsentieren, die miteinander konkurrieren und teilweise quer zu den hegemonialen, vielfach vereinfachenden Stereotypen, den »klaren Schwarz-Weiß-Linien« des Diktaturgedächtnisses, verlaufen.1056 Die im Exkurs analysierten Texte offenbaren weitere Adoleszenzmuster.1057 In den Erzählungen Die Reise nach Jaroslaw von Rolf Schneider und Vor den Vätern sterben die Söhne von Thomas Brasch rücken der Generationskonflikt und die Notwendigkeit, im Zuge der Adoleszenz eine Generationsdifferenz zu generieren, in den Vordergrund der literarischen Darstellung. Heranwachsende problematisieren Aspekte der Generationenfolge und stellen die Legitimation des tradierten Gesellschaftsmodells in Frage. Sie postulieren ein Mitgestaltungsrecht und hinterfragen die Legitimation der Lebens- und Identitätsthemen der Eltern. Das ›Erbe‹ des Spanischen Bürgerkrieges und der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Frage nach dem geeigneten Umgang mit diesen historischen Einschnitten dient dazu, den intergenerationellen Hegemoniekampf literarisch zu inszenieren. Adoleszente wie Robert aus der Erzählung Fliegen im Gesicht von Thomas Brasch beklagen in Form einer communal voice, keinen Möglichkeitsraum für die Entwicklung der einzelnen Individuationsprozesse finden zu können, hinterfragen die Instrumentalisierung der Bürgerkriegserinnerungen von Veteranen der Internationalen Brigaden und fordern einen Raum für die Entfaltung eigener Visionen. Gittie, die Protagonistin des Romans Die Reise nach Jaroslaw, verortet sich ebenso zuerst gegen die etablierte ältere Generation und hinterfragt das etablierte Gesellschaftsmodell, indem sie die Regulierungspraxis im Bildungssystem und den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der DDR in Frage stellt. Die Reise nach Polen ermöglicht ihr die Begegnung mit alternativen Identifikationsmodellen. Dadurch entwickelt sie ein Bewusstsein für die identitätsstiftende Bedeutung der eigenen Vergangenheit, sie erkennt die Notwendigkeit, der in der DDR im kulturellen Gedächtnis bereitgestellten Vergangenheitsversion eine eigene entgegenzustellen. Für eine kurze Zeit der Exploration im Ausland bricht sie aus dem vorgegebenen Entwicklungsplan aus, aber nach ihrer Rückkehr übernimmt sie erneut eine eher fremdbestimmte Rolle und gliedert sich vorläufig in die Gesellschaft ein. 1055 Ebd. 1056 Carsten Gansel hat darauf verwiesen, dass bei zahlreichen kinder- und jugendliterarischen Texten, die hauptsächlich über Kindheit und Jugend in der DDR erzählen oder die sogenannte Wende literarisch konfigurieren, eine einseitige Vereinfachung der DDR-Geschichte zu beobachten ist. Diesbezüglich greifen Autoren auf eine Reihe von wiederkehrenden Stereotypen zurück: den »Täter-Opfer-Topos«, den »Widerstandstopos« und »das Feindbild Lehrer/Eltern«. Vgl. ebd. S. 35ff. 1057 Vgl. die sechs Jugendkonfigurationsmodelle oder sogenannte Prozessgestalten, die Carsten Gansel entworfen hat. Vgl. Gansel, Von der Einpassung über den Protest. 2000. S. 267– 290.

354

Schlussbetrachtung

Offensichtlich wird, dass Autoren von Adoleszenzromanen wiederholt auf das Reisemotiv zurückgreifen, um Ausprägungen der Adoleszenz literarisch zu inszenieren. Die Reise erscheint als Ausdruck der adoleszenten Sehnsucht nach Veränderungen und der Flucht aus den realexistierenden Einschränkungen, als ein Moment der Selbstbestimmung, als Suche nach einer eigenen Identität und als eine Art Bewährungsprobe für die Protagonisten. Während Roberts Ausreise (Vor den Vätern sterben die Söhne) in die BRD tragisch endet, kehrt Gittie (Die Reise nach Jaroslaw) in die Normalität des selektiven Bildungmoratoriums zurück, ohne ihre Konflikte zu überwinden. Die Reise steht auch im Zentrum der Darstellung in Holtz-Baumerts Jugendroman Trampen nach Norden und übernimmt die Funktion eines Initiationsrituals. Holtz-Baumert stellt eine männliche und eine weibliche Figur in den Mittelpunkt des fiktionalen Geschehens. Sie bilden zwar ein Kontrastpaar, aber beide Figuren bestätigen, obwohl sie unterschiedlich konzipiert sind, das bestehende Gesellschaftsmodell. Eine avantgardistische Funktion kann von den Heranwachsenden nicht übernommen werden. Es wurde in der Arbeit zudem herausgestellt, dass sich in Hinblick auf die Adoleszenz in der DDR generationsspezifische Vergangenheitsversionen herauskristallisieren. Bei den Autoren der Aufbau-Generation, dazu gehören Holtz-Baumert und Rolf Schneider, lässt sich kein einheitliches Adoleszenzmuster feststellen. Während Holtz-Baumert ein Adoleszenzmuster beschreibt, bei dem das Gesellschaftsmodell der DDR bestätigt wird und sich die Adoleszenten nach einer Bewährungsprobe in dieses Modell integrieren, präsentiert Schneider in Die Reise nach Jaroslaw ein ambivalentes Bild. Auf den ersten Blick integriert sich die adoleszente Figur nach ihrer Erprobung als Ausreißerin in die Gesellschaft, dennoch ist ihre Kritik an dem existierenden Gesellschaftsmodell nicht zu übersehen und es sind die Risse in der Generationenfolge, die die Erzählung bestimmen. Letzterer Aspekt steht im Vordergrund der Darstellung der Autoren der sogenannten Funktionierenden Generation. Exemplarisch stehen für die Funktionierende Generation die Texte von Thomas Brasch; sie veranschaulichen einen deutlichen Riss in der Generationenfolge und einen intergenerationellen Konflikt, der traumatische Auswirkungen für die Entwicklung der nachgeborenen Adoleszenten hat. Während die Autoren der Integrierten Generation in ihren Texten ein traumatisiertes Adoleszenzmuster präsentieren, für das hauptsächlich die gestörte Generativität des familiären Umfeldes verantwortlich ist, konfigurieren Autoren der Entgrenzten Generation und der Generation der Wende-Kinder überwiegend ›normale‹ Adoleszenzverläufe, bei deren Präfiguration auf die teilweise westlich geprägte Wirklichkeit der 1980er Jahre zurückgegriffen wird. Der Historiker Martin Sabrow beschreibt im Jahre 2013 das Bild, das sich inzwischen im kollektiven Gedächtnis etabliert hat und für die Erinnerung an die untergegangene DDR bestimmend war und ist:

Schlussbetrachtung

355

»Dreiundzwanzig Jahre nach der deutschen Vereinigung ist die DDR kein bedeutendes Thema mehr. Die Schlachten der Aufarbeitung sind geschlagen, und wir haben uns eingerichtet: Im öffentlichen Umgang mit der DDR dominieren die klaren SchwarzWeiß-Linien des Diktaturgedächtnisses, das die Erinnerung an Repression und Teilung in Gedenkstätten und Jahrestagen verankert hat.«1058

Nach Sabrow wird die Erinnerung an die DDR durch »klare Schwarz-Weiß-Linien« des Diktaturgedächtnisses dominiert. Vor diesem Hintergrund wurde gezeigt, dass sowohl in der DDR-Literatur der 1970er Jahre als auch in der Gegenwartsliteratur marginalisierte Erfahrungen verhandelt werden und dadurch die Literatur eine wichtige soziokulturelle Funktion erfüllt, indem sie individuelle Bilder ins Funktionsgedächtnis einspeist, die im offiziellen Diskurs der Gegenwart zumeist ausgeblendet werden. Die »klaren Schwarz-Weiß-Linien« des Diktaturgedächtnisses werden auf diese Weise erweitert, zum einen durch die Darstellung von Adoleszenz als einer ›normal‹ ablaufenden Lebensphase, wie am Beispiel von Schneckenmühle von Jochen Schmidt oder Skizze eines Sommers von André Kubiczek sichtbar wird, und zum anderen durch die Darstellung von Adoleszenz als einer traumatischen Erfahrung, die vor allem durch die gestörte familiäre Generativität, aber nicht primär politisch motiviert ist. Ebenso wird der in der DDR offiziell gestiftete Diskurs über die Rolle der Jugend als »Schmiede der Zukunft, Bauherren des Sozialismus und Pioniere der Nation«1059 durch den im Westen erschienenen Sammelband von Thomas Brasch Vor den Vätern sterben die Söhne und seine Inszenierung des Generationskonflikts korrigiert. Abschließend gilt es, die von den Autoren angewendeten künstlerischen Verfahren literarischer Darstellung zu rekapitulieren und zueinander in Bezug zu setzen. Autoren von Adoleszenzromanen favorisieren autodiegetische Erzählinstanzen, die mit einer internen Fokalisierung die komplexe Gefühlswelt und die vielfältigen Handlungsmotive der adoleszenten Protagonisten vermitteln und eine höhere Identifikation des Lesers mit den Protagonisten fördern. Die Texte von Angelika Klüssendorf Das Mädchen und April nehmen diesbezüglich mit ihrer heterodiegetischen Erzählinstanz eine Sonderstellung ein. Durch die Kombination eines heterodiegetischen Erzählers, der ohne jegliche Wertungen und Kommentierung die Geschichte vermittelt, und einer durchgehenden internen Fokalisierung aus der Perspektive der adoleszenten Protagonistin wird sowohl eine Distanz zum Dargestellten als auch eine Nähe zur Protagonistin erzeugt. Die heterodiegetische Erzählinstanz wird bewusst von der Autorin eingesetzt, um eine Distanz zum autobiographischen Stoff zu wahren und da1058 Sabrow, Martin: Der Zinnoberstaat: die DDR. Stefan Wolle beschreibt Herrschaft und Alltag in der ostdeutschen Republik. In: Süddeutsche Zeitung vom 12. 11. 2013, S. 15; vgl. hierzu auch Gansel, Zwischen Stabilisierung und Aufstörung. 2018, S. 28. 1059 Büro des Ministerrates der DDR (Hg.), Gesetz über die Teilnahme der Jugend. 1964, § 1.

356

Schlussbetrachtung

durch eine literarische Verarbeitung des eigenen Lebens zu ermöglichen. Ebenso besitzt der Roman Die Lüge von Uwe Kolbe mit der Kombination eines heterodiegetischen und eines autodiegetischen Erzählers ein Alleinstellungsmerkmal im Korpus. Mit dem Rückgriff auf eine communal voice gelingt es Kolbe, gruppenkonstitutive Erfahrungen und Werte zu artikulieren und dementsprechend »die Erlebnisse einer spezifischen Erinnerungsgemeinschaft«1060, der Dissidentenszene des Prenzlauer Bergs, zu aktualisieren. Das Spannungsverhältnis zwischen erzählendem und erlebendem Ich wird produktiv genutzt, um den Habitus und die Wertvorstellungen des Protagonisten und seiner Gleichgesinnten nachträglich zu kommentieren und zu bewerten. Genauso weist der Roman Der Sonnenküsser von Jürgen Landt aus narratologischer Sicht durch seine Erzählstruktur eine Besonderheit auf. Durch die Unterscheidung von erinnerndem und erinnertem Ich bzw. durch den Einbau einer Basiserzählung und einer Vergangenheitsebene in Form von Analepsen und das damit verknüpfte Spannungsverhältnis eröffnen sich zusätzliche Möglichkeiten zur Darstellung von Adoleszenz, mit denen identitätsstiftende Prozesse veranschaulicht werden. Hinzu kommt, dass der für den Adoleszenzroman kennzeichnende unabgeschlossene Identitätsfindungsprozess durch die funktionale Besetzung der diegetischen Räume entscheidend geprägt wird. Entweder greifen die Autoren der Adoleszenztexte auf das Reisemotiv zurück, wie am Beispiel von Die Reise nach Jaroslaw, Trampen nach Norden, Schneckenmühle und Skizze eines Sommers sichtbar wird, oder die Protagonisten durchleben mehrere Etappen ihres Lebens, die mit unterschiedlichen Orten verknüpft sind und verschiedene Entwicklungsstadien offenbaren. An symbolisch aufgeladenen Orten wie der Familienwohnung, der Schule, dem Kinderheim, dem Gerichtssaal, der Justizvollzugsanstalt, den Ausbildungsbetrieben und den Diskotheken werden Entwicklungsprozesse verortet, die mit der Identitätsfindung der Protagonisten und mit dem Erwerb einer generativen Haltung verknüpft sind. Schließlich wurde in der Arbeit herausgearbeitet, dass bei der Konzeption der Figuren ein Muster wiederholend vorkommt. Die Protagonisten werden als Figuren der Störung bzw. Figuren der Abweichung konzipiert. Die Transgressionsakte der adoleszenten Protagonisten stellen unterschiedliche Grade der Störung dar, dienen aber immer dazu, die eigene Identitätsfindung voranzutreiben, Generationsdifferenzen zu generieren und in der Gesellschaft Abgrenzungsmomente zu markieren. Dementsprechend besitzen sie einen handlungskonstituierenden Charakter in den jeweiligen Adoleszenzromanen. Es konnte mit den Analysen eine These bestätigt werden, die im Rahmen theoretischer Darstellungen zu Adoleszenzromanen von der Forschung herausgestellt worden ist, dass nämlich die Figuren der Adoleszenzromane als Individuen konzipiert 1060 Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. 2005, S. 161.

Schlussbetrachtung

357

sind. Der Rückgriff auf Individuen bestätigt schließlich die Position, dass Adoleszenz in der DDR trotz aller Einschränkungen und Vorgaben einen individuellen Charakter aufgewiesen hat. Die figuralen Oppositionen zwischen den Adoleszenten und den Eltern verdeutlichen die für moderne Adoleszenzromane charakterisierende Dichotomie zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden. Sie werden funktionalisiert, um den Generationsriss zu markieren und dementsprechend einen gesellschaftspolitischen Konflikt zu verhandeln.

7

Literaturverzeichnis

7.1

Siglenverzeichnis

A DL DM DS KM N RJ SeS SM TN VA VS WJ

7.2

Klüssendorf, Angelika: April. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2014. Kolbe, Uwe: Die Lüge. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2014. Klüssendorf, Angelika: Das Mädchen. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2011. Landt, Jürgen: Der Sonnenküsser. Weimar & Rostock: Edition M 2009. Grass, Günter: Katz und Maus. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand Verlag 1987. Schulz, Torsten: Nilowsky. Stuttgart: Klett-Cotta 2013. Schneider, Rolf: Die Reise nach Jaroslaw. Rostock: Hirnstoff Verlag 1974. Kubiczek, André: Skizze eines Sommers. Berlin: Rowohlt 2016. Schmidt, Jochen: Schneckenmühle. München: Verlag C.H.Beck 2013. Holtz-Baumert, Gerhard: Trampen nach Norden. Ravensburg: Otto Maier Verlag 1983. Kolbe, Uwe: Vinetas Archiv. Aus persönlichen Beständen. In: Ders.: Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe. Göttingen: Wallstein Verlag 2011. S. 19–32. Brasch, Thomas: Vor den Vätern sterben die Söhne. Berlin: Rotbuch Verlag 1990. Klier, Nadja: 1988. Wilde Jugend. Berlin: Okapi Verlag 2019.

Untersuchte Primärliteratur

Brasch, Thomas: Vor den Vätern sterben die Söhne. Berlin: Rotbuch Verlag 1990. Holtz-Baumert, Gerhard: Trampen nach Norden. Ravensburg: Otto Maier Verlag 1983. Klier, Nadja: 1988. Wilde Jugend. Berlin: Okapi Verlag 2019. Klüssendorf, Angelika: Das Mädchen. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2011. Klüssendorf, Angelika: Das Mädchen. 2. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2013. Klüssendorf, Angelika: April. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2014. Kolbe, Uwe: Die Lüge. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2014. Kubiczek, André: Skizze eines Sommers. Berlin: Rowohlt 2016. Landt, Jürgen: Der Sonnenküsser. Weimar & Rostock: Edition M 2009. Schmidt, Jochen: Schneckenmühle. München: Verlag C.H.Beck 2013. Schneider, Rolf: Die Reise nach Jaroslaw. Rostock: Hirnstoff Verlag 1974. Schneider, Rolf: Die Reise nach Jaroslaw. eBook-Ausgabe. CulturBooks Verlag 2014.

360

Literaturverzeichnis

Schulz, Torsten: Nilowsky. Stuttgart: Klett-Cotta 2013. Schulz, Torsten: Nilowsky. Stuttgart: Klett Sprachen 2013.

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Weitere Primärliteratur

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Filmographie

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Schlinsog, Elke: Im Gespräch mit Jochen Schmidt am 20. 10. 2013 in Radio Bremen. In: [letzter Zugriff am 01. 12. 2013]. Schmidt, Jochen: »Schmidt liest Proust«. In: [letzter Zugriff am 24. 02. 2020]. Schmidt, Jochen [u. a.]: Chaussee der Enthusiasten. In: [letzter Zugriff am 24. 02. 2020]. Schmidt, Jochen: Blog von Jochen Schmidt. In: [letzter Zugriff am 24. 02. 2020]. Schneider, Wolfgang: Coming-of-age-Geschichte in der DDR. In: Deutschlandradio Kultur. In: [letzter Zugriff am 23. 02. 2020]. Schröder, Christoph: Ich, Macht, Männer. Erwachen und leiden in der DDR: Angelika Klüssendorfs Roman »April«. In: Tagesspiegel vom 08. 02. 2014. In: [letzter Zugriff am 27. 04. 2020]. Schröder, Christoph: Zeit des Mixtapes. In: Tagesspiegel, Ausgabe vom 28. 06. 2016. [letzter Zugriff am 25. 03. 2020]. Stopka, Katja: Zeitgeschichte, Literatur und Literaturwissenschaft, Version 1.0, In: [letzter Zugriff am 06. 10. 2019]. Wester, Christel: Bilanz einer toxischen Ehe. In: [letzter Zugriff am 27. 04. 2020]. Zetzsche, Cornelia: Kaschnitz-Preisträgerin Angelika Klüssendorf im Portrait. In: [letzter Zugriff am 28. 04. 2020].

7.6

Discographie

Martha and The Muffins: Echo Beach (Musik: Mike Howlett, Text: Mark Gane). In: Martha and The Muffins: Metro Music. Dindisc 1980. The Smiths: Nowhere fast (Musik: Stephen Street; Text: Morrisey & Jonny Marr). In: The Smiths: Meat is Murder. Rough Trade 1985.

7.7

Filmographie

Klein, Gerhard (1957): Berlin – Ecke Schönhauser [DVD]. Berlin: DEFA-Studio für Spielfilme 1957.

380

Literaturverzeichnis

Formale Aspekte Nachweise zu den Primärtexten werden im Fließtext mit Siglen und in Klammern angegeben. Alle anderen Quellen werden mit vollständigen Angaben in den Fußnoten dokumentiert. Um deren Umfang in Grenzen zu halten, wird bei Wiederholung einer Quelle nur der Namen, mit einer verkürzten Titelangabe, dem Jahr und der entsprechenden Seitenangabe angegeben. Alle Zitate werden ungeachtet überholter Rechtschreib- oder Zeichensetzungsregeln nach dem Original wiedergegeben. Gleiches gilt für typografische Auszeichnungen wie Kursiv- oder Fettdruck. Änderungen oder Auslassungen, die dem Textfluss dienen, sowie eigene Hervorhebungen werden in eckigen Klammern kenntlich gemacht.

Weitere Bände dieser Reihe Band 29: Carolin Führer/ Antonius Weixler (Hg.)

Umbruch – Bild – Erinnerung

Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten 2022. 358 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1379-9

Band 28: Carola Hähnel-Mesnard

Zeiterfahrung und gesellschaftlicher Umbruch in Fiktionen der Post-DDRLiteratur

Literarische Figurationen von Zeitwahrnehmung im Werk von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck 2022. 293 Seiten, gebunden € 45,– D ISBN 978-3-8471-1345-4

Band 27.1: Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)

Schreiben, Text, Autorschaft I

Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten 2021. 340 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1272-3

Band 27.2: Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)

Schreiben, Text, Autorschaft II

Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen 2021. 420 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-1339-3

Band 26: Eva Rünker

Konstruktionen christlichen Lebens im populären Frühmittelalter-Roman

Eine Untersuchung zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart 2020. 493 Seiten, gebunden € 65,– D ISBN 978-3-8471-1195-5