Gewalt, Flucht – Trauma?: Grundlagen und Kontroversen der psychologischen Traumaforschung [1 ed.] 9783666404795, 9783525404799

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Gewalt, Flucht – Trauma?: Grundlagen und Kontroversen der psychologischen Traumaforschung [1 ed.]
 9783666404795, 9783525404799

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Karin Mlodoch

Gewalt, Flucht – Trauma? Grundlagen und Kontroversen der psychologischen Traumaforschung

V

Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten Herausgegeben von Maximiliane Brandmaier Barbara Bräutigam Silke Birgitta Gahleitner Dorothea Zimmermann

Karin Mlodoch

Gewalt, Flucht – Trauma? Grundlagen und Kontroversen der psychologischen Traumaforschung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40479-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Nadine Scherer © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Reihenredaktion: Silke Strupat Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen . . . . . . . . . . 9 1 Gewalt, Flucht – Trauma? Vom inflationären Gebrauch des Traumakonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Die Traumabrille in der Arbeit mit Geflüchteten und in ihren Herkunftsländern . . . 17 1.2 Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2 Trauma – ein umstrittenes und umkämpftes Konzept von sozialer und politischer Brisanz . . . . 25 2.1 Traumadefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2 Die Anfänge der Traumaforschung . . . . . . . . . . 27 2.3 Diagnose PTSD: Zwischen politischer ­Errungenschaft und Pathologisierung . . . . . . . 32 2.4 Konzepte zum Verständnis der Folgen von menschengemachter politischer, sozialer und Massengewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.5 Die neoliberale Wende: Der »neurobiologische Turn« in der psychologischen Traumadebatte . 42 2.6 Kontroverse Defizitorientierung versus ­Ressourcenstärkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.7 Fazit: Für eine Repolitisierung der ­psychologischen Traumadebatte . . . . . . . . . . . . 52 3 Trauma als individuelle und soziale Erfahrung: Traumaphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.1 Die zentrale Dialektik des Traumas: Zwischen Überflutung und Vermeidung . . . . . . . . . . . . . . 53 3.2 Der »innere Teufel«: Die Introjekte der Täter . 55

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Inhalt

3.3 Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 »Shattered assumptions«: Erschütterte ­Grundüberzeugungen und der Verlust des sozialen Gegenübers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Rachegefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Komplexe Trauer- und Schuldproblematik bei »uneindeutigen Verlusten« . . . . . . . . . . . . . . 4 Traumaerinnerungen und Traumanarrative: Trauma als Gedächtnisphänom . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Erinnerung als soziale Kategorie . . . . . . . . . . . . 4.2 Traumatische Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Das Unsagbare: Mystifizierungen von ­traumatischer Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Traumaerzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Welche Wahrheit? Verstehen, bearbeiten – heilen? 76 5.1 Ungläubigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.2 Zuhören, bezeugen, verstehen . . . . . . . . . . . . . . 77 5.3 Speaking out: Die traumatische Erfahrung ­durcharbeiten – Notwendigkeit oder Dogma? 82 5.4 »Heilen«, entlasten oder leben mit dem Trauma? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 6 Überlegungen zur Übertragung von Traumata und dem Begriff des »kollektiven Traumas« . . . . . 6.1 Ist Trauma »ansteckend«? Belastungen für ­Helferinnen und Helfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Transgenerationale Weitergabe von traumatischen Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Kann ein Kollektiv leiden? Konzeptionelle Ansätze zu kollektivem Trauma . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt7

7 Die politische und soziale Dimension von Trauma 95 8 Flucht und Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 8.1 Traumatische Sequenzen: Erfahrungen von Geflüchteten . . . . . . . . . . . . . . 101 8.2 Die Grenzen der Psychotherapie in unsicheren und politischen Räumen . . . . . . . . . 104 8.3 Begegnungen auf Augenhöhe . . . . . . . . . . . . . . . 109 9 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

Wir freuen uns, in der Reihe »Fluchtaspekte. Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten« mit dem Band von Karin Mlodoch einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis von Trauma und darüber hinaus zur aktuellen Traumadebatte vorlegen zu können. Der Autorin gelingt es, in einer für die verschiedenen Berufsgruppen sehr verständlichen Sprache Bezüge zu einer erweiterten Diskussion in diesem Feld aus soziologischer, philosophischer und vor allem auch politischer Sicht herzustellen. In besonderer Weise verknüpft Karin Mlodoch dabei internationale Erkenntnisse mit ihrer persönlichen Forschung und Praxis in Kurdistan/Irak und schulenübergreifend mit der Debatte im deutschsprachigen Raum. Die Ausführungen der Autorin verdeutlichen, dass sich dem Begriff Trauma nur interdisziplinär und interprofessionell genähert werden kann und dass sich das Verständnis von Trauma entlang der jeweiligen politischen Situation kontinuierlich weiterentwickelt hat. Klar wird: Letztendlich ist der Begriff Trauma als Konstrukt zu verstehen und nicht als ein wissenschaftlich verobjektivierbarer, mit einer eindeutig klassifizierbaren Diagnose verbundener Terminus. Die Lektüre dieses gelungenen Überblicks über verschiedenste Ansätze weckt Interesse und Neugierde, einzelne Aspekte weiterzuverfolgen. Zahlreiche Literaturhinweise laden zur vertieften Auseinandersetzung ein. Karin Mlodoch liefert eine konsequente Darstellung der kontextualisierten Sicht auf das Traumakonzept und

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Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

eine klare, fachlich fundierte Analyse in der Debatte um diesen Begriff. Wir freuen uns auf den fachlichen Austausch. Dorothea Zimmermann Barbara Bräutigam Maximiliane Brandmeier Silke Birgitta Gahleitner

1 Gewalt, Flucht – Trauma? Vom inflationären Gebrauch des Traumakonzepts

Flüchtlingsproblematik, Flüchtlingskrise, Flüchtlingskatastrophe, Flüchtlingswelle, Flüchtlingsströme, Flüchtlingslawine – das sind nur einige der Begriffe, die die politische Debatte in Deutschland und Europa aktuell bestimmen, seit 2015 die Zahl der aus Kriegs- und Krisengebieten geflüchteten Menschen, die den Weg bis nach Europa geschafft haben, sprunghaft anstieg. Dramatisierende Begriffe, die den Blick auf die einzelnen Menschen und die vielfältigen Gründe verstellen, aus denen sie ihre Heimat verlassen; Begriffe, die dekontextualisieren und entsubjektivieren. Sie werden von konservativen Kräften in Europa und den USA gezielt eingesetzt, um Ängste vor den gesellschaftlichen Veränderungen in einer globalen Welt zu mobilisieren und wirtschaftliche und politische Abschottungsstrategien sowie ein Wiedererstarken nationalistischer Ideen und Diskurse zu befördern. Glücklicherweise stehen dagegen in den USA und quer durch Europa zahlreiche Menschen auf. Aufkommenden Ideen von der Festung Europa und dem Rückfall in nationalstaatliche oder ethnisch begründete Denkmuster setzen sie ihre Vision von einer vielfältigen, offenen, demokratischen Gesellschaft entgegen, werben für eine »Willkommenskultur« und leisten Menschen auf der Flucht humanitäre Hilfe – auf dem Mittelmeer, entlang der Fluchtrouten und nach der Ankunft im Aufnahmeland. Sie bieten den geflohenen Menschen, ehrenamtlich oder professionell, Unterstützung bei der Integration in die Aufnahmegesellschaft an.

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Gewalt, Flucht – Trauma?

Diese Solidarität und Hilfsbereitschaft als »Gutmenschentum« zu diffamieren, ist schierer Zynismus. Wohl aber sind Ideen von offenen Grenzen und »Willkommensgesellschaft« eine unzureichende Antwort auf die Dimension der aktuellen weltweiten Fluchtbewegungen: Ende 2015 bezifferte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, auf 65,3 Millionen (United Nations High Committee for Refugees, UNHCR, 2017a). Sie fliehen vor den Kriegen in Syrien und in dem Irak, vor Terror und Gewalt in Pakistan und Nigeria, vor Dürre und Hunger im Sudan und Somalia, vor Armut und Perspektivlosigkeit, vor weltweit erstarkenden nationalistischen und religiösen Fundamentalismen und der Ausgrenzung ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten. Nur ein kleiner Teil der geflüchteten Menschen kommt dabei bis nach Europa; 2015 stellten 476.649 Menschen einen Antrag auf Asyl in Deutschland (Bundesministerium des Inneren, BMI, 2015). Die meisten suchen Schutz im eigenen Land oder in Nachbarländern. So sind es vor allem selbst politisch und ökonomisch instabile Länder in Afrika und im Nahen Osten, die die größten Zahlen an Geflüchteten aufnehmen: In absoluten Zahlen stehen die Türkei, Pakistan und der Libanon an der Spitze; im Verhältnis zu ihren eigenen Bevölkerungszahlen der Libanon, Jordanien und der Süd-Sudan und im Verhältnis zu ihrer ökonomischen Kapazität der Süd-Sudan, die Republik Tschad, Uganda, der Libanon und Burundi (UNHCR, 2017b). Die Gründe der vielfältigen Fluchtdynamiken liegen zum einen in der globalen Ausdehnung des neoliberalen Wirtschaftssystems, das Mensch und Natur an marktwirtschaftlichen Interessen orientiert ausbeutet und zu extremer ökonomischer und sozialer Ungleichheit, Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen, zu Verteilungskriegen und klimabedingten Katastrophen, Dürren und

Gewalt, Flucht – Trauma?15

Hungersnöten geführt hat. Sie liegen zum anderen in weltweit erstarkenden ethnisch und religiös begründeten Fundamentalismen, die Terror und Angst verbreiten und neue Kriege und Ausgrenzung produzieren. Fluchtdynamiken sind »zur Tatsache geworden, die zum Zustand der gegenwärtigen Weltgesellschaft gehören«; sie sind gleichzeitig »kein Zustand: Flucht evoziert den Ruf nach Veränderung, ist Ausdruck von Veränderung, sucht nach Veränderung und schafft Veränderung« (Eppenstein u. Ghaderi, 2017, S. 1). Sie verändert nicht nur die Flüchtenden, sondern auch ihre Herkunfts-, Durchreise- und Aufnahmeländer, ob im Nahen Osten, Afrika oder Europa. Menschen auf der Flucht sind dabei »greifbar gewordenes Sinnbild einer Unsicherheit über die Zukunft der räumlichen Verortung der Menschen in der Moderne« (S. 15). Angesichts der weltweiten Eskalation von Krieg und Terror, dem Erstarken nationalistischer und fundamentalistischer Diskurse und der großen Zahl der vor Elend und Tod schutzsuchender Menschen direkt vor unserer Haustür herrschen bei vielen, die für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit eintreten und sich im sozialen Bereich engagieren, Entsetzen, Sprach-und Ratlosigkeit vor. Bislang fehlt es an einer engagierten und differenzierten Debatte um politische Handlungsmöglichkeiten: Wie kann sich die zurzeit überwältigende Solidarität vieler Menschen mit Geflüchteten verbinden mit ebensolcher Solidarität und Vernetzung mit demokratischen und säkularen Kräften, die in den Herkunftsländern für politische und soziale Veränderung kämpfen? Wie können sich die notwendigen Proteste gegen Rassismus, AFD und PEGIDA mit einer ebenso entschiedenen Absage an jeglichen religiös und ethnisch legitimierten Fundamentalismus und einer klaren Positionierung für Säkularismus, Geschlechtergleichheit und universelle Menschenrechte verbinden? Welche Handlungsstrategien gibt es jenseits der Forderung

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Gewalt, Flucht – Trauma?

nach politischen statt militärischen Lösungen, die Terror und Krieg jetzt beenden, ohne koloniale Unterwerfung fortzuschreiben und Gewalt weiter zu eskalieren? Jenseits dieser Fragen, die uns noch viele Jahre beschäftigen werden, sind Solidarität mit und Unterstützung von Geflüchteten, die jetzt in Deutschland und Europa stranden, humanitäre und politische Notwendigkeiten. Darüber hinaus hat sich die Frage der eigenen Haltung zu Geflüchteten zu einem zentralen Terrain politischer Debatten in Deutschland entwickelt, zum Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen politischen Haltungen und gesellschaftlichen Zukunftsvisionen. Im Versuch, Abschottungswahn und Rassismus etwas entgegenzusetzen, gibt es dabei auf der Seite engagierter Unterstützer und Unterstützerinnen von Geflüchteten auch Tendenzen, letztere als Subjekte des Wandels, als Katalysatoren einer offenen und globalen Gesellschaft zu verklären und sie damit erneut zu generalisieren. Aus Furcht, die Ressentiments rassistischer Kräfte zu bedienen, werden sensible Fragen und möglicherweise kontroverse Meinungen zu unserer Haltung gegenüber den Geflüchteten oft zurückgestellt: zum Beispiel die Debatte um die Gratwanderung zwischen Universalismus und Kulturalismus; zwischen Sensibilität, Offenheit und Verständnis für Herkunftskontext und -kultur von Geflüchteten auf der einen Seite und der Verteidigung von hier erkämpften Rechten auf individuelle Selbstverwirklichung, Geschlechtergleichheit, sexuelle Freiheit, Trennung von Religion und Staat auf der anderen Seite. Eine Begegnung mit Geflüchteten auf Augenhöhe, eine Begegnung, die Generalisierungen und Spaltung in die Aufnahmegesellschaft, die Geflüchteten und die Herkunftsgesellschaft überwinden will, muss eine solche kontroverse Debatte einschließen – nicht über, sondern mit den Geflüchteten (siehe auch Kapitel 8).

Die Traumabrille in der Arbeit mit Geflüchteten17

1.1 Die Traumabrille in der Arbeit mit Geflüchteten und in ihren Herkunftsländern Eine der generalisierenden Brillen, durch die Geflüchtete betrachtet werden, ist die Traumaperspektive. »Mindestens die Hälfte aller Flüchtlinge ist psychisch krank«, konstatiert die Bundespsychotherapeutenkammer (2015), 40 bis 50 % litten unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Bisweilen geistern Zahlen von 70 bis 90 % Traumatisierung unter Geflüchteten durch Fachwelt und Medien (siehe z. B. Asyl im Landkreis Biberach, 2017). Zahlreiche Fachkräfte aus der Psychologie, der Psychotherapie und dem Gesundheitsbereich in Deutschland sind zurzeit in der Entwicklung spezifischer Beratungsund Behandlungsangebote für Geflüchtete aktiv und fordern mehr staatliche Förderungen für Traumabehandlung; niedergelassene Psychotherapeutinnen bieten unentgeltliche Therapieplätze für Geflüchtete; ehrenamtliche Helfer und Helferinnen erhalten Fortbildungen im sensiblen Umgang mit Traumatisierten. Schon gibt es Überlegungen, qualifizierte Laien für die psychotherapeutische Arbeit mit Geflüchteten einzusetzen (Elbert, Wilker, Schauer u. Neuner, 2016). Mohammed Jouni, selbst als Jugendlicher aus dem Libanon nach Deutschland geflüchtet und heute in der Organisation »Jugendliche ohne Grenzen« aktiv in der Beratung neu ankommender Geflüchteter, sagte kürzlich auf einer Tagung, er bekomme manchmal den Eindruck, er solle die mit Geflüchteten ankommenden Busse am besten gleich komplett in die Psychotherapie umleiten.1

1 Tagung »Jugendliche Zwischen Welten«. Psychotherapeuten­kammer Berlin, Wildwasser e. V. und HAUKARI e. V., 24.03.2017. Dokumentation siehe https://www.youtube.com/watch?v=WwTQ8b4A5GU

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Gewalt, Flucht – Trauma?

Es ist unbestreitbar, dass viele Geflüchtete vor und während ihrer Flucht traumatische Erfahrungen gemacht haben. Alle haben ihre Heimat verloren und damit ihren sozialen Bezugsrahmen. Viele von ihnen haben in ihren Herkunftsländern Gewalt und Krieg erlebt, waren Zeuginnen und Zeugen von Tod und Zerstörung, haben Angehörige und ihr Heim verloren. Die meisten haben auf dem Weg nach Europa Gewalt in Durchgangslagern erlebt, Hunger, Entbehrungen und Qualen auf Gewaltmärschen durchlitten, Todesangst auf seeuntüchtigen Schiffen und in luftlosen Lastwagen gehabt. Nach der Ankunft in Deutschland leben sie in Angst um und Sehnsucht nach zurückgebliebenen Angehörigen, in prekären Lagersituationen, in Unsicherheit über ihr Bleiberecht und ständiger Sorge vor Ablehnung und Abschiebung. Zweifellos brauchen viele Geflüchtete auf diesem Hintergrund psychotherapeutischen und psychosozialen Beistand bei der Bearbeitung ihrer vielfältigen Gewalterfahrungen. Zuallererst aber brauchen sie freundliche Aufnahme, menschenwürdige Unterkünfte, einen sicheren Aufenthalt in Deutschland, Arbeit, Bildung sowie Perspektiven und die Möglichkeit, ihre Familien nachzuholen. So wichtig psychologische und psychotherapeutische Hilfe für viele Geflüchtete auch sein kann: Ihre Per-se-­ Diagnose als »traumatisiert« und der Fokus auf Traumata in der Unterstützung für Geflüchtete bergen die Gefahr einer Stigmatisierung und Pathologisierung der Geflüchteten als Patienten bzw. Patientinnen und sind somit letztendlich auch eine Form der Distanzierung. Zudem verstellen sie den Blick auf die vielfältigen Ursachen von Flucht, privatisieren die kollektive Fluchterfahrung und lenken ab von der zentralen Notwendigkeit stabiler Lebensbedingungen im Aufnahmeland. Experten und Expertinnen der allermeisten Schulen und Ansätze in der Traumaarbeit sehen ein verlässliches

Die Traumabrille in der Arbeit mit Geflüchteten19

soziales Umfeld und stabile Lebensbedingungen als Voraussetzung für eine Bearbeitung von traumatischen Erfahrungen. Wie also soll es gelingen, Menschen bei der Bearbeitung traumatischer Gewalterfahrungen psychologisch zu unterstützen, wenn sie weiter in prekären Situationen leben? Wie sollen sich Menschen, die Inhaftierung und Folter entronnen sind, in einem »geschützten therapeutischen Raum« mit dieser existenziellen Erfahrung auseinandersetzen, wenn sie nach der Beratung in eine Turnhalle oder lagerähnliche Wohnsituationen zurückkehren? Wie sollen Menschen, die Bombardements überlebt haben, sich mit der erlebten Todesangst konfrontieren, wenn ihre Angehörigen in den Herkunftsländern weiter täglichen Bombardements ausgesetzt sind? Und wie sollen sich Geflüchtete mit den Schrecken ihrer Fluchtstationen beschäftigen, wenn sie – wie im Asylpaket II vorgesehen – jederzeit ohne Ankündigung abgeschoben werden können? Fragen, die zeigen, dass psychologische Hilfen zur Traumabarbeitung immer mit dem Engagement für sichere Lebensbedingungen und Perspektiven der Betroffenen einhergehen müssen. Parallel zum »Traumaboom« in der Arbeit mit Geflüchteten hat das Thema Trauma auch in der internationalen humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit Hochkonjunktur. Angesichts der Eskalation von Krieg und Gewalt im Irak und Syrien und Millionen von Menschen, die in der Region auf der Flucht sind, schießen dort Traumaprojekte wie Pilze aus dem Boden, viele davon mit Beratung und Unterstützung deutscher und internationaler Experten und Expertinnen. Auch hier soll keineswegs die Bedeutung von psychologischen Hilfen für die Opfer von Terror und Gewalt geschmälert werden: Für viele jesidische Frauen im Irak beispielsweise, die der Versklavung durch die Terrormiliz ISIS entkommen sind, sind Traumazentren oft die einzigen Orte, an denen sie Leidensgenos-

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Gewalt, Flucht – Trauma?

sinnen treffen und ohne Angst vor Stigmatisierung über ihre Erfahrungen sprechen können. Trotzdem treibt die Traumaarbeit auch hier seltsame Blüten, wenn zum Beispiel Menschen in provisorischen Flüchtlingscamps, die gerade der Belagerung von Mossul entronnen sind und deren Angehörige noch dort sind, Traumaberatung angeboten wird. Die massive deutsche und internationale Förderung von Traumaprojekten inmitten akuter Kriegs- und Krisensituationen erweckt den Eindruck, dass es hier angesichts des Scheiterns politischer Lösungen vor allem darum gehe, die Menschen im Ausnahmezustand fürs Durchhalten fit zu machen und sie von der Flucht nach Europa abzuhalten. Hinzu kommt, dass in der boomenden Traumaarbeit in Deutschland und in den Herkunftsländern ganz unterschiedliche und oft kontrastierende Trauma- und Therapiekonzepte auf die Reise gehen. Das »Angebot« reicht von tiefenpsychologisch fundierter Traumatherapie über Gruppen- und Gesprächstherapie bis hin zu neurobiologisch begründeten Kurzzeit-Expositionstherapien, die in wenigen Sitzungen Erleichterung versprechen. Diese an sich durchaus positive Vielfalt von Ansätzen wird zum Problem, wenn die Geflüchteten und Betroffenen in den Herkunftsländern unzureichend über das Spektrum von Traumakonzepten und -ansätzen und die kontroversen Debatten über deren ethische Vertretbarkeit und Wirksamkeit informiert und somit kaum in der Lage sind, eine fundierte Entscheidung zu treffen, ob ein Angebot zu ihnen passt. Der Export von westlichen Traumakonzepten und -therapieansätzen in Kriegs- und Krisenregionen übersieht zudem häufig vor Ort bereits bestehende Beratungsstrukturen, lokale Unterstützungs- und Bewältigungsmechanismen und das dort entwickelte Praxiswissen im Umgang mit Trauma. Statt eines einseitigen Wissenstransfers ist

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dringend ein gleichberechtigter Wissensaustausch zwischen hiesigen und Fachleuten in den Herkunftsländern (und unter den Geflüchteten selbst) über kulturell sensible und lokal kontextualisierte Mechanismen zur Unterstützung von Menschen mit Gewalterfahrungen geboten: eine Begegnung auf Augenhöhe.

1.2  Zu diesem Buch In diesem Kontext möchte dieser Band der Reihe »Fluchtaspekte« zu einer kritischen Reflexion der aktuell inflationären Nutzung des Traumabegriffs und zu einem Austausch über eine sozial und politisch kontextualisierte Traumaarbeit anregen. Er richtet sich an Menschen, die professionell oder ehrenamtlich in der Arbeit mit Geflüchteten und Verfolgten tätig und tagtäglich mit den Folgen vielfältiger Gewalterfahrungen konfrontiert sind. Dieses Buch ist kein Ratgeber für die Arbeit mit Menschen, die unter traumatischen Dynamiken leiden. In dieser Hinsicht seien zwei andere Bücher empfohlen: Dima Zitos und Ernest Martins anschaulicher und einfühlsamer Ratgeber »Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen. Ein Leitfaden für Fachkräfte und Ehrenamtliche« (2016) und Klaus Ottomeyers Buch »Die Behandlung der Opfer. Über unseren Umgang mit dem Trauma der Flüchtlinge und Verfolgten« (2011a), das ganz wunderbar Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis mit Geflüchteten mit einem Aufruf zu politischem, gesellschaftlichem und menschenrechtlichem Engagement verbindet, welches sichere Perspektiven für Geflüchtete schafft. Dieser Band will dazu ermutigen, die Traumabrille im Blick auf Geflüchtete einen Moment abzulegen, einen Schritt aus dem Dschungel von Traumadiagnosen und Traumaangeboten zurückzutreten und sich mit dem Konzept Trauma an sich auseinanderzusetzen: mit seiner Ge-

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schichte, die eng mit politischen und sozialen Umbrüchen verbunden ist, und mit seiner politischen und sozialen Dimension. Traumakonzepte und Ansätze haben sich aus der Arbeit mit Kriegsopfern, mit Überlebenden der Shoah, mit Vietnam-Kriegsrückkehrern, mit Opfern sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt, mit Gefolterten in Lateinamerika, mit Apartheidsopfern in Südafrika entwickelt. Trauma ist selbst ein politisches, ein umkämpftes Konzept mit zahlreichen Strömungen und kontroversen Debatten. Mit der aktuellen Diagnose ganzer Bevölkerungsgruppen als »traumatisiert« und dem Boom an Traumaprojekten und Therapieangeboten, die an marktwirtschaftlichen Kriterien und schneller und effektiver »Heilung« von Symptomen interessiert sind, droht die politische Dimension von Trauma und Traumaarbeit verlorenzugehen. In diesem Kontext versteht sich das Buch als Beitrag zur Repolitisierung der Traumadebatte und plädiert für eine sozialpolitische, kultur- und geschlechtersensible Perspektive auf Trauma und eine ressourcenstärkende und empowernde Arbeit mit Betroffenen. Es setzt sich für eine Traumaarbeit ein, die psychotherapeutische Hilfen mit politischem, sozialem und menschenrechtlichem Engagement für stabile Lebensbedingungen verbindet – sowohl für die Geflüchteten hier in Deutschland als auch für die Menschen in den Herkunftsländern. Kapitel 2 gibt eine Einführung in die historische Entwicklung des Traumakonzepts und einen Überblick über die verschiedenen Ansätze und wichtigsten Kontroversen innerhalb der psychologischen Traumaforschung. Kapitel 3 beschreibt die individuellen und sozialen traumatischen Dynamiken nach schweren Gewalterfahrungen, Kapitel 4 die spezifischen, mit Trauma verbundenen Phänomene des Gedächtnisses und der Erinnerung. In Kapitel 5 wird das Thema Wahrheit, Zuhören und Verstehen

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reflektiert; Kapitel 6 stellt Ansätze zum Verständnis von Weitergabe und Übertragung von Traumata vor und Kapitel 7 unterstreicht die politischen und sozialen Bedingungen von Trauma und die Zentralität von Stabilität, Respekt und Anerkennung für dessen Bewältigung. Kapitel 8 stellt schließlich Überlegungen zu den spezifischen Herausforderungen in der Arbeit mit geflüchteten Menschen vor. An einigen Stellen in diesem Band werde ich Bezug auf meine langjährige Arbeit mit und Forschung zu kurdischen Frauen im Irak nehmen, die die sogenannten Anfal-Operationen 1988 überlebt haben. Anfal – der Name einer Koransure – war das Codewort der irakischen Regierung unter Saddam Hussein für eine Militäroperation gegen kurdische Gebiete, bei der tausende kurdische Dörfer zerstört und über 100.000 Männer und Frauen ermordet wurden. Kinder und alte Menschen hingegen wurden über Monate in Gefängnissen gequält; Dutzende dieser Kinder und alten Menschen starben täglich. Nach den Anfal-Operationen verharrten vor allem die Frauen unter den Überlebenden 15 Jahre lang in Ungewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen und provisorischen Lebenssituationen. Erst nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein 2003 erhielten sie die Gewissheit über den Tod ihrer Angehörigen und ihre politische, soziale und ökonomische Lebenssituation stabilisierte sich. Heute fordern sie Aufklärung, Gerechtigkeit, Entschädigung und Mitbestimmung an der politischen Aufarbeitung der Vergangenheit. Ich hatte das Privileg, eine Gruppe der die Anfal-Operationen überlebenden Frauen über inzwischen 25 Jahre zu begleiten, und arbeite heute mit ihnen – im Rahmen meiner Tätigkeit für den Verein HAUKARI e. V. – in einem Projekt für eine selbst gestaltete und verwaltete Gedenkund Begegnungsstätte, dem Erinnerungsforum für Anfal überlebende Frauen in Rizgary (siehe Haukari e. V., 2014). Unter dem Titel »The Limits of Trauma Discourse« habe

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Gewalt, Flucht – Trauma?

ich eine Langzeitstudie zu den individuellen und kollektiven Bewältigungsstrategien der Frauen publiziert, die die politische und soziale Dimension von Trauma unterstreicht (Mlodoch, 2015). Bedanken möchte ich mich bei Heike Iggena und Usche Merk für ihre Anmerkungen, bei Ernst Meyer, meinem Sohn Dario Mlodoch und meiner Mutter Helga Mlodoch für ihre Unterstützung und bei den Herausgeberinnen und Sandra Englisch vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für ihre Geduld und Hilfe. Ein ganz besonderer Dank geht an Karin Dorsch – ohne sie wäre dieses Buch nie fertig geworden.

2 Trauma – ein umstrittenes und umkämpftes Konzept von sozialer und politischer Brisanz

2.1 Traumadefinitionen Trauma ist ein umstrittenes, ein umkämpftes und ein schwer zu definierendes Konzept. Seine Ambiguität beginnt schon damit, dass der Begriff Trauma sowohl ein gewaltvolles Ereignis als auch dessen psychische Auswirkungen auf eine Person, eine Gruppe oder eine Gesellschaft bezeichnet. Ein Ereignis kann nicht unabhängig von seiner subjektiven Wahrnehmung und seinen Folgen für eine Person als traumatisch oder traumatisierend bezeichnet werden; und umgekehrt gibt es keine traumatische Reaktion unabhängig von einem dazugehörigen gewaltvollen Ereignis. Trauma ist charakterisiert durch die Beziehung und Wechselwirkung zwischen einem äußeren Ereignis und einer individuellen Reaktion darauf (­Fischer u. Ried­esser, 2009, S. 59). Ein Trauma ist eine überwältigende Erfahrung von Gewalt oder ein Schock, ein plötzlicher tiefer Einschnitt im Lebensfluss eines Menschen. Sie ist gekennzeichnet von dem Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit und dem Verlust der Kontrolle über die eigenen physischen und psychischen Funktionen. In ihrem Grundsatzwerk »Trauma and Recovery« (1992, deutsch: Die Narben der Gewalt) definiert Judith L. Herman Trauma als das »Leid der Ohnmächtigen. Das Trauma entsteht in dem Augenblick, wo das Opfer von einer überwältigenden Macht hilflos gemacht wird« (2003, S. 53). Eine traumatische Erfahrung zerstört nicht nur die psychische und oft auch physische Integrität der Opfer, son-

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Trauma – ein umstrittenes und umkämpftes Konzept

dern erschüttert auch ihr Selbst- und Weltverständnis und ihr Vertrauen in die anderen und die Welt. Trauma deaktiviert das soziale Netzwerk der Opfer und ihr Zugehörigkeitsgefühl zu einem System von Beziehungen, Werten und Bedeutungen. Gottfried Fischer und Peter Riedesser (2009) beschreiben psychisches Trauma als: »ein vitales Diskrepanz-Erleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbstund Weltverständnis bewirkt« (S. 79). Andere, eher psycho-ökonomische Definitionen von Trauma wie die von Jean LaPlanche und Jean-Bertrand Pontalis (1999, S. 513) konzipieren Trauma als eine Erfahrung, die die normale Fähigkeit des Individuums, mit Schock, Stress oder Verlust umzugehen, überfordert: »Ökonomisch ausgedrückt ist das Trauma gekennzeichnet durch ein Anfluten von Reizen, die im Vergleich mit der Toleranz des Subjektes und seiner Fähigkeit, diese Reize psychisch zu bemeistern und zu bearbeiten, exzessiv sind.« Trauma ist nicht nur ein psychologisches oder therapeutisches Konzept. Es ist eine Kategorie von moralischer und politischer Bedeutung, ein provokatives Konzept von sozialer und politischer Brisanz. Denn es beschäftigt sich per definitionem mit der Auswirkung äußerer Ereignisse auf das Individuum (Lennertz, 2006), mit der Fragilität menschlicher Existenz, die ständig bedroht ist von unvorhersehbaren Katastrophen und der dunklen Seite der menschlichen Natur, das heißt von exzessiver Gewalt und von Krieg. »Wer psychische Traumata untersucht, muss über fürchterliche Ereignisse berichten« (Herman, 2003, S. 17). Trauma ist eine Abgrunderfahrung, die nicht nur das Opfer selbst, sondern auch die, die ihm nahekommen, in

Die Anfänge der Traumaforschung27

Angst und Schrecken versetzt. Extreme Traumatisierung, sagt Klaus Ottomeyer (2011a, S. 87), ist ein Wirklichkeit gewordener Albtraum, der, wenn wir mit ihm in Kontakt kommen, unser Vertrauen in die Welt zutiefst erschüttert. Trauma führt uns in grundsätzliche Glaubensfragen (Herman, 2003, S. 17). So ist auch die Geschichte des Traumakonzepts selbst eine Geschichte voller Brüche, eng verknüpft mit gesellschaftlichen Umbrüchen und politischem und sozialem Wandel und – wie Judith Herman zeigt – mit immer neuen »Phasen von Amnesie«, weil das Thema so starke Kontroversen auslöst, dass es »periodisch tabuisiert wird« (S. 17). Seit den Anfängen der Erforschung psychischer Traumata im 19. Jahrhundert geht es dabei um die Frage, ob äußere Ereignisse tatsächlich komplexe psychische Dynamiken auslösen, also sowohl um die Glaubwürdigkeit der Betroffenen wie auch um die der Forscher und Forscherinnen.

2.2  Die Anfänge der Traumaforschung 1889 führte der deutsche Neurologe Hermann Oppenheim in seinem Buch »Die traumatischen Neurosen« zum ersten Mal den aus der Medizin entlehnten, aus dem Griechischen stammenden Begriff »Trauma« (deutsch: Wunde) ein, um die physischen und psychologischen Symptome der Überlebenden von Eisenbahnunglücken zu beschreiben. Seine Rückführung von psychischen Problemen auf äußere Ereignisse stieß damals nicht nur in der medizinisch-psychiatrischen Fachwelt auf Widerstand, sondern auch bei den Eisenbahngesellschaften, die Entschädigungsansprüche der Unfallopfer fürchteten. Am Ende des 19. Jahrhunderts traten Pierre Janet, Sigmund Freud und Josef Breuer in ihren Forschungen mit der These an die Öffentlichkeit, dass das verbreitete Phänomen der Hysterie bei Frauen, die bis dahin für Simu-

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lantinnen gehalten wurden, ursächlich auf traumatische Kindheitserfahrungen und Erfahrungen sexuellen Missbrauchs zurückzuführen sei (Janet, 1894; Breuer u. Freud, 1895/1991; Freud, 1896/1975). Die Thematisierung des Tabus sexueller Gewalt in der Familie stellte damals einen gesellschaftlichen Skandal dar und wurde von der akademischen Gemeinschaft empört zurückgewiesen. Ebenso wenig fanden die mit der Hysterieforschung verbundenen Forschungsergebnisse zu Gedächtnisphänomenen wie der Dissoziation, also Abspaltung von traumatischen Erinnerungen, der somatischen Repräsentation dieser Erinnerungen sowie der nachträglichen Aktivierung von Erinnerungen nach Phasen von Latenz damals Beachtung (Venzlaff, Dulz u. Sachsse, 2004, S. 10). Während Pierre Janet auch weiterhin darauf bestand, dass sich hinter den Hysteriesymptomen von Frauen reale Erfahrungen sexueller Gewalt verbargen und dafür von der akademischen Gemeinschaft ausgestoßen wurde, widerrief Sigmund Freud in seinen späteren Schriften die Verführungstheorie vom realen sexuellen Missbrauch und fokussierte stattdessen auf Verführungsphantasien von Mädchen gegenüber ihren Vätern und ödipalen Phantasien von Jungen gegenüber ihren Müttern. Die Frage, ob dieser Wandel auf neuen Überzeugungen und Forschungseinsichten beruhte oder ob sich Freud damit dem sozialen und politischen Druck beugte, ist bis heute in der psychoanalytischen Debatte virulent (Herman, 2003; Venzlaff, Dulz u. Sachsse, 2004; Schriefers, 2008). Die nächsten Schübe in der Traumaforschung kamen mit den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert, als Ärzte und Psychologen mit Soldaten konfrontiert wurden, die an schwerwiegenden physischen und psychischen Folgen der Kriegserfahrung litten und dafür gemeinhin als Feiglinge angesehen und mit dem entwertenden Begriff »Kriegszitterer« belegt wurden. Damals wurde die Trauma­forschung

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vor allem von Militärpsychiatern dominiert, deren Forschungsinteresse vom politischen Druck bestimmt war, schnelle Lösungen zur Wiederherstellung der Kampfesbereitschaft und -fähigkeit der Soldaten zu liefern. In jener Zeit konzentrierte sich die Traumaforschung somit vor allem auf Kurzzeittherapien zur Heilung von Symptomen und versank jeweils am Ende beider Kriege erneut in Schweigen (Herman, 2003; Schriefers, 2008). Eine Ausnahme bildete der US-amerikanische Psychiater und Psychoanalytiker Abram Kardiner (1941/2012), der mit seinem aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gespeisten Buch »The Traumatic Neuroses of War« eine umfassende Untersuchung über kriegsbedingte psychische Traumata vorlegte. Mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden war die Erfahrung des Holocaust, der Shoah, der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa – einer bis dahin undenk­ baren Dimension der Massenvernichtung. Dan Diner (2007) hat den Holocaust als »Zivilisationsbruch« bezeichnet und sich dabei nicht so sehr auf die Dimension der Gewalt der Nationalsozialisten bei der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa bezogen, sondern auf den damit verbundenen Zusammenbruch »ontologischer Gewissheit« und des Vertrauens in die Grenzen des Bösen in der menschlichen Natur. Nach einer langen Phase von Schock, Verleugnung und Schweigen in der Opfergemeinschaft und der Tätergesellschaft in den 1950er und 1960er Jahren entwickelte sich eine vielschichtige Traumaforschung zur Situation der Überlebenden des Holocaust, stark dominiert von psychoanalytischen Ansätzen. Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, selbst Überlebender des Todeslagers Auschwitz, bezeichnete die lang anhaltende Erfahrung von Gewalt, Erniedrigung, Entmenschlichung und Tod in den Konzentrationslagern als Extremsituation (1943). Später

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wurde der Begriff Extremtraumatisierung eingeführt, um die spezifische Erfahrung der Opfer und Überlebenden von Gewalt, die von Menschen ausgeht, zu erfassen und die damit verbundenen Dynamiken von anderen traumatischen Erfahrungen wie Unfälle oder Naturkatastrophen zu unterscheiden (siehe z. B. Gubrich-Simitis, 1979). 1963 führte der britisch-pakistanische Psychoanalytiker Masud Khan das Konzept des kumulativen Traumas ein: Basierend auf seiner Praxis als Kinderpsychiater zeigte er, dass Trauma nicht notwendigerweise auf ein einzelnes, gewaltvolles Ereignis zurückgehen muss, sondern auch Folge einer Anreihung von einzeln nicht traumatogenen schwierigen Situationen sein kann, wie es zum Beispiel bei kontinuierlicher Vernachlässigung von Kindern der Fall ist (Khan, 1963/1974). Der deutsch-niederländische Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Hans Keilson (1979) wies als Erster auf den engen Zusammenhang zwischen den politischen und sozialen Lebensbedingungen nach der traumatischen Erfahrung und der Entwicklung traumatischer Symptome hin. Er führte eine Studie über jüdische Kinder durch, die vor dem Holocaust von ihren Eltern an niederländische Aufnahmefamilien gegeben wurden und dort überlebten, während ihre Eltern umgebracht wurden. Nach dem Krieg blieben einige Kinder bei ihren Pflegeeltern in den Niederlanden, andere fanden bei Vormündern in der jüdischen Gemeinschaft Aufnahme. Keilsons Forschung zeigte, dass die Entwicklung traumatischer Symptome und Dynamiken im weiteren Leben der Kinder weniger von der Schwere der gemachten traumatischen Erfahrungen selbst beeinflusst war, sondern wesentlich davon, ob sie nach 1945 stabile Lebensbedingungen und liebevolle Beziehungen hatten oder weiteren Belastungen und Trennungen ausgesetzt waren. Aus diesen Beobachtungen entwickelte Keilson das Konzept der sequentiellen Traumatisierung. Er

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begriff Trauma als Prozess mit vor-traumatischen, traumatischen und post-traumatischen Phasen und unterstrich die herausragende Bedeutung der letzteren für die Bewältigung der Leiderfahrung. Keilsons Beobachtungen markierten einen Paradigmenwechsel hin zu einem prozesshaften Verständnis von Trauma, das in der Folge von zahlreichen Traumaforschern und -forscherinnen aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Für den Kontext der Arbeit mit Geflüchteten sind Keilsons Forschungsergebnisse von aktueller Bedeutung und unterstreichen die Wichtigkeit von Sicherheit, stabilen Bedingungen und Perspektiven nach der Ankunft im Aufnahmeland für die Bewältigung von traumatischen Erfahrungen vor und während der Flucht. Weitere Forschungen von und zu Holocaust-Überlebenden beziehen sich auf die Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe von Traumata an Überlebende der zweiten und dritten Generation (siehe z. B. Bergmann, Jucovy u. Kestenberg, 1995; Kogan, 1998) sowie auf den Einfluss vom Trauma der Holocaust-Erfahrung auf das Selbstverständnis und die Identitätsbildung des Staates Israel (LaCapra, 2001). Auch die langanhaltenden Folgen der Nazidiktatur und ihrer Verbrechen auf die deutsche Tätergesellschaft wurden aus psychoanalytischer Sicht untersucht (Mitscherlich u. Mitscherlich, 1967; Bergmann et al., 1995). Heute sind Trauma und Holocaust eng zusammengehörige Begriffe (Lennertz, 2006). In der Arbeit mit und Forschung zu Überlebenden des Holocaust wurden die Freud‘schen Konzepte von Latenz und nachträglicher Aktivierung von Erinnerungen bestätigt: Häufig entwickelten die Überlebenden erst viele Jahre später und ausgelöst durch Ereignisse lange nach dem Ende des Holocaust starke und leidvolle traumatische Symptome. Zunehmend wurde Trauma als Prozess begriffen und die Zentralität der Lebensphase nach dem Trauma für dessen Bewältigung

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erkannt. Zahlreiche Forschungen beschäftigen sich zum Beispiel mit den destruktiven Auswirkungen des individuellen und gesellschaftlichen Schweigens über die Holocaust-Erfahrung auf die Opfer und mit der Wichtigkeit von eigenem Zeugnis und externer Zeugenschaft für die Bewältigung von Traumaerfahrungen (Felman u. Laub, 1992, siehe auch Kapitel 5.2).

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2.3 Diagnose PTSD: Zwischen politischer Errungenschaft und Pathologisierung In den 1970er Jahren brachten die Veteranen des Vietnamkriegs in den USA eine neue Welle von Traumadebatte und -forschung ins Rollen. US-Soldaten, die körperlich versehrt und psychisch schwer erschüttert aus dem Vietnamkrieg zurückkehrten, kratzten am heldenhaften Image des amerikanischen Soldaten. Sie erinnerten die US-amerikanische Gesellschaft schmerzvoll an die kolossale Niederlage in Vietnam und wurden deshalb verschwiegen und marginalisiert. Der Hollywoodfilm »Geboren am 4. Juli« mit Tom Cruise in der Hauptrolle erzählt eindrücklich vom Trauma der Soldaten, den in Vietnam erlebten Schrecken, der komplexen Verstrickung in eigene Schuld und der Ablehnung, die sie nach ihrer Rückkehr in die USA erfuhren. Die Vereinigungen der Vietnamveteranen führten einen engagierten Kampf gegen ihre Stigmatisierung und für die soziale und politische Anerkennung ihrer physischen und psychischen Verletzungen sowie für den Erhalt von Entschädigungen und Pensionen. Ihr Engagement und ihre Forderungen führten 1980 schließlich dazu, dass psychologisches Trauma unter dem Label »Post-TraumatischeBelastungsstörung« (»post traumatic stress disorder« bzw. PTSD) als klinisches Syndrom Eingang in das Diagnosemanual für Psychische Störungen (DSM III) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (American Psychiatric

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Association, 1980) fand. Zwei Jahre später wurde PTSD in das Manual zur Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD 10) der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO, 2010) aufgenommen. Das PTSD-Konzept – im Deutschen PTBS: Post-traumatische Belastungsstörung  – basiert weitgehend auf stresstheoretischen Überlegungen. Es definiert eine Reihe von Ereignissen wie Gewalt, plötzlicher Verlust, Unfälle, Naturkatastrophen oder sexueller Missbrauch als traumatische Stressoren, also Erfahrungen, die die Fähigkeit eines Menschen, Stress zu bewältigen, übersteigen. Für die Diagnose PTSD ist außerdem eine Reihe von klar definierten Symptomen notwendig: die Vermeidung von mit der traumatischen Erfahrung verbundenen Stimuli und Situationen (z. B. das Meiden von Orten, an denen die traumatische Erfahrung stattfand oder Orten, die denen ähneln) bei gleichzeitig intrusiven Symptomen, das heißt dem Hereinbrechen traumatischer Erinnerungen und Bilder in Form von Flashbacks, Albträumen oder zwanghaften Bildern. Weitere Symptome sind Schlafstörungen, Reizbarkeit, Erregungszustände, Nervosität und Konzentrationsschwierigkeiten. Mehrere dieser Symptome müssen festgestellt werden und über mindestens drei Monate anhalten, damit eine PTSD-Diagnose gestellt werden kann. Jenseits aller kritischen Aspekte des PTSD-Konzepts ist festzustellen: Sein Eingang in internationale Klassifikationen von psychischen Störungen markierte die bis dahin verweigerte internationale Anerkennung der psychischen Folgen von externen und gewaltsamen Ereignissen. Bis in die 1980er Jahre hatten Holocaust-Überlebende entwürdigende und zermürbende Prozeduren durchlaufen müssen, wenn sie Renten, medizinische oder psychologische Behandlung oder Entschädigungen beantragten. Sie mussten beweisen, dass ihre psychischen Probleme tatsächlich mit

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ihrer Inhaftierung in den Konzentrationslagen begonnen hatten und nicht genetisch oder in ihrer Familienvorgeschichte begründet waren. Der Essay von Kurt R. Eissler (1963) mit dem Titel »Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?« wurde zur Metapher für die jahrzehntelange Verleugnung der massiven und langanhaltenden Folge des Holocaust im Nachkriegsdeutschland – und im weiteren Sinne für die Verleugnung der traumatischen Folgen von Krieg und Gewalt. Die Klassifizierung von PTSD als klinisches Syndrom öffnete Menschen mit psychischen Traumafolgen nun zahlreiche Türen: zu Behandlung, Pensionsansprüchen, Entschädigungen und zu rechtlichen Schritten gegenüber ihren Peinigern oder den Verursachern von Unfällen und Katastrophen. Auch für Menschen, die in den letzten dreißig Jahren aus Kriegs- und Konfliktsituationen, aus Bosnien, Afghanistan und dem Irak nach Deutschland flohen, konnte eine PTSD-Diagnose unter Umständen zu einer Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung führen oder vor Abschiebung schützen (siehe Rafailović, 2005; Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, BAfF, 2006). Es gehört zu den viel kritisierten Verschärfungen des Asylgesetzes mit dem Asylpaket II von 2016, dass eben eine solche Diagnose posttraumatischer Belastung keine aufschiebende Wirkung bei einer Abschiebung mehr hat (Bühring u. Korzilius, 2016). Das PTSD-Konzept hat also in vieler Hinsicht dazu beigetragen, dass sich psychologisches Trauma im öffentlichen Bewusstsein verankert hat. Mit der Einführung des PTSD-Konzepts trat das psychologische Trauma aus der bis dahin vor allem psychoanalytisch geprägten Nische und hielt Einzug in die klinische Psychologie und Psychiatrie. Zahlreiche Ansätze zur Behandlung von PTSD entstanden. Nicht zuletzt hatte und hat die Anerkennung des psycho-

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logischen Traumas als Krankheitsbild und die Tatsache, dass ihre vielfältigen Belastungen und Qualen einen Namen haben, für viele Betroffene eine entlastende Wirkung. Aber das PTSD-Konzept hat auch viel Kritik auf sich gezogen, vor allem von Praktikern und Praktikerinnen, die mit Opfern von politscher und geschlechtsspezifischer Gewalt und/oder in komplexen Kriegs- und Gewaltkontexten arbeiten. Hauptkritikpunkt ist, dass das PTSD-Konzept die komplexe Wirkung von Gewalt auf einen Katalog von standardisierten Symptomen reduziert. Unter der Kategorie »traumatische Stressoren« werden dabei ganz unterschiedliche Erfahrungen wie Unfälle, Verluste nahestehender Menschen, Naturkatastrophen und von anderen Menschen zugefügte Gewalt zusammengefasst. Zwar können alle diese Ereignisse traumatische Dynamiken auslösen; aber die Nivellierung an sich nicht vergleichbarer Erfahrungen tendiert dazu, die einzelnen Erfahrungen zu dekontextualisieren und komplexe Gewalterfahrungen wie gezielte Aggression, Folter, Inhaftierung und Massengewalt in kriegerischen Auseinandersetzungen zu entpolitisieren. Das PTSD-Konzept sieht zudem Trauma als individuelle Erfahrung an, vernachlässigt somit die Auswirkungen von Trauma auf soziale Zusammenhänge und Gesellschaften und lässt dementsprechend die enge Wechselwirkung zwischen individueller Bearbeitung und sozioökonomischen und politischen Faktoren außer Acht. Das PTSD-Konzept tendiert zur Privatisierung von Trauma, zur Medikalisierung und Pathologisierung von an sich »normalen Reaktionen auf unnormale Situationen« und so zur Stigmatisierung der Opfer von Gewalt.2 2 Der Satz wurde geprägt von Viktor Frankl (1998), Psychiater und Holocaust-Überlebender. In seinem Bericht über das Überleben in den Konzentrationslager der National­sozialisten mit dem ­Titel »Und trotzdem Ja zum Leben Sagen. Ein Psychologe erlebt

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Weitere Kritik bezieht sich auf die Etablierung des PTSD-Paradigmas und damit zusammenhängender therapeutischer Ansätze als Komponente US-amerikanischer und europäischer humanitärer Unterstützung und Entwicklungshilfe in Kriegs- und Konfliktkontexten. Das PTSD-Konzept erwies sich als unzureichend, um individuelle und gesellschaftliche Traumadynamiken in von vielschichtiger Gewalt und multiplen Gewaltakteuren geprägten Kontexten zu erklären und Hilfen für Überlebende bereitzustellen (medico international, 1997, 2005; Weine u. Chae, 2008). Kritisiert wurde auch der Export westlich geprägter individueller Therapiekonzepte in andere kulturelle und soziopolitische Kontexte, bei dem jeweils kulturspezifische Definitionen von Leid und lokal bewährte Bewältigungsstrategien ignoriert oder überschrieben wurden. Radikale Kritiker wie David Becker und Derek Summerfield sehen das PTSD-Konzept als »westliche Erfindung«. Schon in den 1990er Jahren beklagten sie die Ausbreitung einer globalen »Traumaindustrie«, das damit verbundene Hilfsbusiness und das Mushrooming von Traumaprojekten, die letztendlich Gewalt und Konflikt entpolitisieren und die Opfer individualisieren (Becker, 1997, 2007; Summerfield, 1997, 2001). 1997 fasste die Frankfurter Hilfsorganisation medico international (1997) unter dem Titel »Schnelle Eingreiftruppe ›Seele‹« kritische Stimmen zum PTSD-Konzept zusammen und forderte einen kritischen und politischen Traumadiskurs.

das Konzentrationslager« schrieb er 1945: »In einer unnormalen Situation ist eine unnormale Reaktion normales Verhalten« (Frankl, 1982, S. 30).

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2.4 Konzepte zum Verständnis der Folgen von menschengemachter politischer, sozialer und Massengewalt Traumakonzepte, die die politische und soziale Dimension von Trauma betonen, entwickelten sich in den 1980er und 1990er Jahren in Kontexten, die von Diktatur und Gewalt geprägt waren, wie in Lateinamerika und Südafrika und in der Arbeit mit Opfern von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt. Für die komplexen Traumadynamiken im Kontext sozialer und politischer Gewalt bildeten sich dabei spezifische Begriffe wie Extremtraumatisierung, komplexe Traumatisierung oder politische Traumatisierung heraus. Aus seiner Arbeit mit politischen Gefangenen, Folteropfern und Angehörigen von Verschwundenen in El Salvador heraus prägte der spanische Sozialpsychologe und Jesuit Ignacio Martín-Baró (1990) im Rahmen der Formulierung einer politischen Psychologie bzw. Befreiungspsychologie den Begriff des psychosozialen Traumas. Er betonte dabei nicht nur die soziale und politische Bedingtheit von traumatischer Gewalt, sondern auch den sozialen Charakter der traumatischen Erfahrung selbst und den engen Zusammenhang zwischen individueller Bewältigung und gesellschaftlich-politischer Veränderung. Ignacio Martín-Baró wurde 1989 von einer Todesschwadron in San Salvador ermordet. In Chile arbeiteten der deutsche Psychoanalytiker David Becker und seine chilenischen Kollegen und Kolleginnen im Projekt ILAS (Lateinamerikanisches Institut für Psychosoziale Gesundheit und Menschenrechte) mit Folteropfern und politischen Gefangenen des Pinochet-­ Regimes. In seinem 1992 in deutscher Sprache erschienenen Buch »Ohne Hass keine Versöhnung« entwickelt David Becker aus diesen Erfahrungen den Begriff des soziopolitischen Traumatisierungsprozesses. Ebenfalls 1992

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legte Judith Herman ihr bahnbrechendes Werk »Trauma and Recovery. From Political Terror to Sexual Abuse« vor. Aus psychoanalytischer und feministischer Perspektive und aus der Perspektive ihrer praktischen Arbeit mit Opfern politischen Terrors, sexuellen Missbrauchs und geschlechtsspezifischer Gewalt heraus entwickelte sie einen integrierten Ansatz der Traumaarbeit, der individuelle Hilfe für die Betroffenen mit gesellschaftspolitischem Engagement verknüpft. All diese Traumakonzepte beziehen sich weitgehend auf psychoanalytische Theorie, gehen dabei aber über die Identifizierung von individuellen Traumasymptomen hinaus, definieren Trauma nicht als rein individuelle, sondern soziale und politische Erfahrung und unterstreichen den prozesshaften Charakter von Trauma. Sie beschäftigen sich mit der spezifischen und komplexen Täter-Opfer-Beziehung in Erfahrungen gezielter, von anderen Menschen zugefügter politischer, sexueller und sozialer Gewalt und deren langanhaltenden Spuren in der Psyche des Opfers.3 Sie betonen die soziale, politische und kulturelle Bedingtheit des Traumaerlebens selbst und den Einfluss von sozioökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Faktoren auf dessen Bewältigung. Auf der therapeutischen Ebene stimmen die meisten dieser Ansätze mit Judith Hermans Einteilung des traumatherapeutischen Prozesses in drei Phasen überein (2003, S. 215):

3 Am Beispiel des Erdbebens in der Türkei 2006, bei dem die Wirkung der Naturkatastrophe durch die korruptionsbedingte schlechte Bauweise von Häusern und die schlecht funktionierenden Rettungsdienste verstärkt wurde, weist Vamik Volkan (2006) darauf hin, dass es oft schwierig ist, die Grenze zwischen Naturkatstrophe und von Menschen gemachter Gewalt zu ziehen.

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1. »Wiederherstellung von Sicherheit«, also Stabilisierung der Betroffenen; 2. »Erinnern und Trauern«, also Bearbeitung der Erfahrung; 3. »Anknüpfen an das normale Leben«, also Integration der traumatischen Erfahrung in die eigene Biografie bzw. Lebensgeschichte und Reintegration in die Gegenwart. Ein solch kontextualisiertes Verständnis von Trauma übersetzt sich in eine psychologische oder therapeutische Praxis, die den Betroffenen neben psychologischen und psychotherapeutischen Hilfen auch rechtliche, soziale und ökonomische Unterstützung anbietet. Es bringt Fachkräfte dazu, sich politisch und menschenrechtlich zu engagieren: Argentinische Psychologinnen und Psychologen, die mit Angehörigen von während der Militärdiktatur Verschwundenen arbeiteten, erkannten die zentrale Bedeutung von Gewissheit und Gerechtigkeit für die Betroffenen und engagierten sich über die psychologische Beratung hinaus auf politischer Ebene für die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen und die Bestrafung der Täter (Kordon, Edelman, Lagos, Nicoletti u. Bozzolo, 1988). Nach dem Ende der Apartheid begleiteten Traumapsychologen und -psychologinnen die Opfer während ihrer Aussage bei der Wahrheits- und Versöhnungskommission und unterstützten sie in ihrem Kampf um Gerechtigkeit, Anerkennung und Entschädigung (Hamber, 2009). Auch in Deutschland gab es in den 1970er bis 1990er Jahren eine engagierte und politische Traumadebatte und zahlreiche Projekte, die psychologische mit politischer Arbeit verbanden. Sie waren verortet in der damals breiten Solidaritätsbewegung mit den Befreiungskämpfen in Lateinamerika und Südafrika und im Engagement für eine politische Umwälzung in Deutschland und Westeuropa.

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Sie waren zugleich Teil einer breiteren Kritik an der systemtragenden Rolle von Psychologie und Sozialwissenschaften und sozialen Institutionen. Auf der theoretischen Ebene entwickelte Klaus Holzkamp (1985) an der Freien Universität Berlin die subjektwissenschaftliche Theorie der Kritischen Psychologie. Sie nimmt Bezug auf die marxistische Theorie und die in der sowjetischen Psychologie entwickelte Handlungstheorie (Vygotsky, 1962; Leontiev, 1981), in der der Mensch als handelndes Subjekt im Mittelpunkt steht und sich aktiv handelnd mit dem sozialen und politischen Kontext in Beziehung setzt und ihn transformiert. In der Kritischen Psychologie haben die Wissenschaft und die psychologische Praxis einen emanzipatorischen Auftrag zur Befähigung des Subjektes, den Kontext und die gegebenen Bedingungen zu verstehen und politisch und gesellschaftlich handlungsfähig zu werden. Auf der praktischen Ebene entwickelten sich seit den 1970er Jahren aus der Kritik an der Institution Psychiatrie und der Psychiatrisierung und Psychologisierung von gesellschaftlichen Problemen und in Anlehnung an die radikalen »Freiheit-heilt«-Ansätze der italienischen antipsychiatrischen Bewegung (Basaglia, 1974) zahlreiche Selbsthilfegruppen von Psychiatriepatienten und -patientinnen sowie Projekte gemeindenaher psychosozialer Beratung, die auf die Selbstorganisierung von Betroffenen und deren Empowerment fokussierten. Das erste psychosoziale Zentrum wurde in Frankfurt von ehemaligen politischen Gefangenen aus Chile, die in Deutschland Asyl erhalten hatten, gegründet. Sie dokumentierten Menschenrechtsverletzungen und Folter des Pinochet-Regimes und gründeten Selbsthilfe- und Gesprächsgruppen für die Ex-Gefangenen. Die ersten Behandlungszentren für Folteropfer in Ulm und Berlin verbanden therapeutische, rechtliche und soziale Hilfen für Betroffene mit internationaler Lobbyarbeit zur Ächtung

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von Folter. Aus der Frauenbewegung und dem Kampf gegen Gewalt gegen Frauen entwickelten sich in den 1980er Jahren feministische Frauenberatungsstellen, die parteiliche psychosoziale Beratung, Empowerment und politische Aktion für Geschlechtergerechtigkeit verbanden (Brenssell u. Hartmann, 2017). Mit den Balkankriegen und der großen Zahl von aus Bosnien und später aus dem Irak und Afghanistan Geflüchteten entstanden zahlreiche weitere psychosoziale Zentren wie zum Beispiel der Frankfurter Arbeitskreis Trauma und Exil (FATRA), der Geflüchtete aus Bosnien und dem Kosovo psychotherapeutisch betreute und sich gegen deren Abschiebung engagierte. Heute sind 34 solcher Zentren zusammengeschlossen im Dachverband Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF), die für eine Integration von psychotherapeutischer Beratung und sozialer, rechtlicher und politischer Unterstützung stehen. Soziale, psychologische und therapeutische Fachkräfte, die in diesen Zusammenhängen arbeiten, kämpfen für gerechte Asylgesetze, für politische und soziale Anerkennung und für sichere Perspektiven der Betroffenen (Peltzer, Aycha u. Bittenbinder, 1995; Ottomeyer, 2011a, 2011b). Zur internationalen Vernetzung von kritischen und politischen Traumapsychologen und -psychologinnen gründete der Psychoanalytiker Dori Laub 1996 die »Internationale Studiengruppe zu Gewalt, Trauma und Genozid«, aus der das »Internationale Traumaforschungs-Netzwerk« entstand, gefördert unter anderem von dem von Jan Reemstma gegründeten Hamburger Institut für Sozialforschung. Auf der vom Netzwerk organisierten Konferenz »Trauma. Stigma and Distinction« in St. Moritz 2006 kamen Dutzende Traumatherapeuten sowie -therapeutinnen, Psychologen und Psychologinnen aus Europa, Israel, den USA, Lateinamerika, Asien, dem Nahen Osten und

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Afrika zusammen, um Erfahrungen aus der Arbeit mit politischen Traumata und eine politische Positionierung zu Trauma in dem damals bereits boomenden Feld der Traumaangebote zu diskutieren: ein internationales Forum für die Entwicklung eines politischen Traumabegriffs, das leider nur wenige Jahre aktiv war und in der heutigen Traumadebatte schmerzlich vermisst wird.

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2.5 Die neoliberale Wende: Der »neurobiologische Turn« in der psychologischen Traumadebatte Das skizzierte kontextualisierte und emanzipatorische Verständnis von Trauma und psychosozialer Arbeit war immer eng verbunden mit politischen und sozialen Bewegungen gegen Krieg und Diktatur, für Geschlechtergerechtigkeit, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. Mit dem Ende des Wettbewerbs der Systeme Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre und der Ausweitung neoliberaler Marktlogik in alle Bereiche der Gesellschaft und bis in die letzten Winkel des Globus wurden solche Ansätze zunehmend zurückgedrängt. Stattdessen gewannen traumatherapeutische Ansätze an Raum, die sich weniger mit den Ursachen und Kontexten von traumatischen Erfahrungen und den Lebensbedingungen der Betroffenen beschäftigen und stärker auf eine schnelle und effektive Behandlung der Symptome setzen. Befördert wurden solche Ansätze durch den »neurobiologischen Turn«, also den Einzug der Ergebnisse neuerer Hirnforschung in die psychologische Traumaforschung und -praxis. Um Missverständnissen vorzubeugen: Keineswegs sollen hier die Errungenschaften und die Bedeutung dieser Forschungen geschmälert werden. Die Neurobiologie hat wichtige Erkenntnisse über die Funktionsweise unseres Gehirns in traumatischen Situationen geliefert, insbeson-

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dere über die damit verbundenen Gedächtnisphänomene. So wissen wir heute, dass unterschiedliche Regionen in unserem Gehirn für die Speicherung von Affekten und deren bewusste Bearbeitung zuständig sind. In Bedrohungs- und Schocksituationen wird Erlebtes, das Panik und Todesangst auslöst, im für unsere Emotionen zuständigen limbischen System gespeichert und findet nicht den Weg in die Großhirnrinde, die für die Verarbeitung und Reflexion von Informationen und Emotionen zuständig ist (detaillierte Informationen finden sich im Kapitel 4.2). Durch diese Erkenntnisse wurden viele Annahmen und Erkenntnisse zu traumatischen Gedächtnisphänomenen aus der frühen psychoanalytischen Forschung wie Dissoziation, Repression, Latenz und Nachträglichkeit naturwissenschaftlich untermauert. Auf Grundlage der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse entstanden in den letzten 25 Jahren eine Reihe von Therapieverfahren, die in standardisierten Settings die von Trauma Betroffenen mit der traumatischen Erfahrung konfrontieren und sich auf die Überführung von unbewusst wirkenden traumatischen Erinnerungen in das narrative, autobiographische Gedächtnis konzentrieren. In dem von der US-amerikanischen klinischen Psychologin Francine Shapiro (1995) Ende der 1980er Jahre entwickelten EMDRVerfahren – »Eye Movement Desensitization and Reprocessing« (deutsch: Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung) – werden belastende traumatische Bilder aufgerufen. Durch vom Therapeuten unterstützte Rechts-Links-Augenbewegungen wird die Verbindung zwischen der für Emotionen zuständigen rechten Gehirnhälfte und der reflektierenden linken hergestellt. Auch psychoenergetische Verfahren, wie die sogenannte Klopftherapie, zielen auf die Stimulierung der rechten Gehirnhälfte und die Überführung belastender Bilder aus dem unbewusst Wirkenden ins narrative autobiographische Gedächtnis

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ab. Das sehr plastische EMDR-Verfahren wird heute vielerorts verwendet, unter anderem von der Bundeswehr in der Betreuung deutscher Soldaten. Verfahren, die kognitivverhaltenstherapeutische Elemente mit Imaginations- und Narrationstechniken verbinden (z. B. IRRT – »Imaginary Rescription and Reprocessing Therapy« oder CBT – »Trauma-focused Cognitive Behavior Therapy«), haben Hochkonjunktur und werden bei komplexen Traumafolgen ebenso wie gegen Prüfungsangst oder Phobien eingesetzt. Alle diese Verfahren arbeiten mit Modulen, bieten Handbücher, Leitfäden und internetgestützte Fortbildungen mit zu in der jeweiligen Methode zertifizierten Traumaberaterinnen an. All diese Verfahren können zweifellos von traumatischen Erinnerungen gequälten Menschen Entlastung bringen und, wie Luise Reddemann häufig sagt, den »Handwerkskoffer von Traumatherapeuten und -therapeutinnen ergänzen« (mündliche Mitteilung, Vorlesungen an der Universität Klagenfurt). Problematisch wird es aber, wenn diese Verfahren als »Rezept« für die Behandlung komplexer Traumafolgen auftreten. Klaus Ottomeyer plädiert für die Überwindung ideologischer Gräben in der Traumatherapie und dafür, das anzuwenden, was hilft. Er beschreibt allerdings auch die Grenzen und Risiken der technischen, modularen Therapieverfahren: Bei der Anwendung von EMDR bei einem ehemaligen Soldaten, der in einem internationalen Kriegseinsatz traumatische Gefechtserfahrungen mit Kindersoldaten durchlebte, war er so sehr auf die einzelnen Schritte im EMDR-Verfahren konzentriert, dass er eine tief liegende komplexe Schuldproblematik bei dem Ex-Soldaten übersah (2011a, S. 166 ff.). Ein kontrovers diskutierter therapeutischer Ansatz ist die Narrative Expositionstherapie (NET), die von Maggie Schauer, Franz Neuner und Thomas Elbert (2005) an der Universität Konstanz entwickelt wurde. Auch NET be-

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ruht auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zu traumatischer Erinnerung und stellt theoretische Bezüge zur kognitiven, Verhaltenstherapie und Testimony Therapy her, die ursprünglich von chilenischen Psychologen und Psychologinnen in der Arbeit mit politischen Gefangenen entwickelt wurde und die entlastende Wirkung der narrativen Dokumentation des Erlebten betont. Kern von NET sind standardisierte Kurzzeittherapien, in denen die Betroffenen intensiv und wiederholt mit dem Traumageschehen konfrontiert werden. Durch Exposition, Verbalisierung und Habituation sollen die traumatischen Bilder in das narrative Gedächtnis überführt und anhand einer Lebenslinie in eine konsistente Lebensgeschichte integriert werden. Stabilisierung vor der Exposition ist nur insoweit vorgesehen, als die Betroffenen ermutigt werden, sich positiver Lebensereignisse zu vergewissern. Die Vertreter und Vertreterinnen von NET behaupten die universelle Anwendbarkeit des Verfahrens für Traumafolgen in verschiedenen kulturellen und sozialen Kontexten und unabhängig vom jeweiligen Lebenskontext des Betroffenen. Sie stellen das Verfahren als eine Möglichkeit vor, auch große Populationen von Traumabetroffenen zum Beispiel in Geflüchtetencamps zu »behandeln« (Elbert et al., 2016). Die Begründer und Begründerinnen von NET selbst sehen das Verfahren als kurzfristige »Erste-Hilfe«-Maßnahme und verweisen auf die Notwendigkeit weiterer Traumatherapie. Dessen ungeachtet verbreiten sich NET und ähnliche Kurzzeit-Expositionsverfahren zurzeit rasant auf dem hiesigen Traumamarkt und werden auch in Kriegs- und Krisenregionen exportiert. Hier gehen Kurzzeittherapien eine unheilige Allianz mit dem Interesse internationaler Geldgeber an schnellen und zahlenmäßig effektiven Erfolgsprojekten ein und werden bei Tsunami-Überlebenden in Sri Lanka ebenso angewandt wie bei Kindersoldaten in Angola. Sie geraten nicht selten in

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Konflikt mit lokal entwickelten langfristigen psychosozialen Beratungsansätzen. Kritik aus der therapeutischen Fachwelt richtet sich gegen das experimentelle und standardisierte Setting solcher Kurzzeittherapien, die Vernachlässigung von sozioökonomischen und kulturellen Kontexten sowie den – im Falle von NET – Einsatz von Kurzzeit-ausgebildeten Laienberatern und -beraterinnen im hochgradig sensiblen Feld der Traumaexposition (siehe z. B. Mundt, Wünsche, Heinz u. Pross, 2011; Ottomeyer, 2011a, 2011b). Die größte Kontroverse rankt sich um die Frage, wie viel Stabilisierung nötig und wie viel Konfrontation vertretbar ist. Während beispielsweise NET-Vertreterinnen und -Vertreter die Bedeutung von Stabilisierung für überschätzt halten (Neuner, 2008), sehen die zuvor beschriebenen psychoanalytischen und sozialpolitisch kontextualisierten Traumaansätze die Stabilisierung der Betroffenen, physische und soziale Sicherheit und das Vertrauen in das Gegenüber als wichtige Voraussetzungen für eine Konfrontation mit dem Geschehenen an.

2.6 Kontroverse Defizitorientierung versus Ressourcenstärkung Einen Menschen oder eine Gruppe durch die Traumabrille zu betrachten, birgt immer das Risiko, sie auf ihr Leid zu reduzieren, ihre Rolle als Opfer festzuschreiben und sie so zu entmachten und zu entmündigen. Zweifellos hinterlassen traumatische Erfahrungen extremer Gewalt in jedem der Opfer Spuren und Narben. Dennoch bedeutet das nicht, dass sie automatisch traumatische Symptome entwickeln, im psychologischen Sinne »traumatisiert« sind oder psychologische Hilfe bei der Bewältigung ihrer Erfahrungen benötigen. Die individuellen Reaktionen auf Gewalterfahrungen sind vielfältig. Ob ein Mensch

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mit traumatischen Dynamiken reagiert, hängt nicht nur von der Dimension der Gewalterfahrung selbst, sondern auch von den Ressourcen und der psychischen Widerstandsfähigkeit des Einzelnen ab und ist in hohem Maße bestimmt vom Umfeld, das die Betroffenen nach der Gewalterfahrung vorfinden (Keilson, 1979). »In der Traumaarbeit«, so Luise Reddemann, »geht es nicht nur darum, sich mit dem erlebten Leid und dem Schmerz auseinanderzusetzen, sondern vor allem danach zu fragen: Was hat geholfen, zu überleben? Der Mensch ist immer mehr als sein Trauma« (mündliche Mitteilung, Vorlesungen an der Universität Klagenfurt). In der soziologischen und psychologischen Debatte ist seit den 1970er und 1980er Jahren ein Paradigmenwechsel von der Problemorientierung hin zur Auseinandersetzung mit Ressourcen und Resilienz zu verzeichnen: Beide Begriffe beziehen sich auf die Potenziale eines Menschen, mit sozialen und psychologischen Herausforderungen umzugehen. Der Begriff Resilienz bezieht sich dabei meist mehr auf die persönlichen Eigenschaften und Stärken, die Menschen helfen, Stress und extreme Erfahrungen zu bewältigen, also ihre individuelle psychische Widerstandskraft. Der Ressourcenbegriff wird hingegen häufiger für die äußeren sozialen, ökonomischen und politischen Faktoren gebraucht, die einen Bewältigungsprozess unterstützen können. Die schon genannte Kritische Psychologie (Holzkamp, 1985) stellt die politische und soziale Handlungsfähigkeit des Menschen in den Mittelpunkt der Forschung. Der französische Soziologie und Philosoph Pierre Bourdieu (1992) beschreibt die Potenziale, die der Einzelne zur sozialen Teilhabe hat, als Kapitale und identifiziert vier verschiedene Kapitalsorten: ökonomisches Kapital, soziales Kapital (wie soziale Beziehungen und Netzwerke), kulturelles Kapital (wie Bildung und Wissen) sowie das über-

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Trauma – ein umstrittenes und umkämpftes Konzept

greifende symbolische Kapital. Unter Letzterem versteht er Prestige und Anerkennung, die aus den anderen Kapitalsorten erwachsen, beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer bestimmten einflussreichen sozialen Gruppe oder ein Doktortitel als Ausdruck von Bildung und Wissen. Mit seinem Konzept der Salutogenese hat der israelischamerikanische Mediziner und Stressforscher Aaaron Antonovsky (1979) den defizitären Blick auf psychische Störungen umgekehrt und stattdessen nach den Faktoren für eine gesunde Psyche gefragt. Anhand seiner Forschung zu den Langzeitfolgen der KZ-Internierung bei Holocaust-Überlebenden unterstreicht er die Wichtigkeit des Kohärenzgefühls oder Kohärenzempfindens (»sense of coherence«), also des Gefühls der Stimmigkeit oder Sinnhaftigkeit des Erlebten, für die Bewältigung von schrecklichen Erfahrungen. Das Kohärenzgefühl setzt sich aus folgenden drei Elementen zusammen: 1. der Verstehbarkeit des Erlebten (»comprehensibility«), 2. der Fähigkeit, dem Erlebten eine Bedeutung oder einen Sinn zu geben (»meaningfulness«), und 3. der Handhabbarkeit es Erlebten (»manageability«). In meiner eigenen Forschung zu den Bewältigungsstrategien Anfal überlebender Frauen im Irak zeigt sich, dass die Frauen, die schon vor der Erfahrung extremer Massengewalt politisch aktiv waren und den Einbruch der Gewalt historisch und politisch einordnen konnten, in der Folge aktiver ihre Erfahrung bearbeiten konnten. Sie zeigt auch die tröstende und schützende Wirkung von Religiosität als Quelle der »Sinngebung« (Mlodoch, 2015, S. 315 ff.). Neben den individuellen Faktoren können äußere Ressourcen wie physische und ökonomische Sicherheit und Stabilität nach der Gewalterfahrung, stabile soziale Kontakte und Netzwerke, die Existenz empathischer Zuhörer

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und Vertrauenspersonen bei der Bewältigung der Erfahrung helfen. Anfal-Frauen im Irak beschreiben ihre Kinder, die ihnen Energie und Mut zum Weiterleben gaben, und den kollektiven Zusammenhalt unter den überlebenden Frauen als ihre wichtigsten Ressourcen. In zahlreichen Traumatherapie-Ansätzen geht es darum, gemeinsam mit den Traumabetroffenen die Ressourcen, die sie mitbringen, zu erarbeiten und zu stärken und ihnen so Kraft, Sicherheit und Vertrauen für die Bewältigung des Alltags und die eventuelle Konfrontation mit und Bearbeitung von schrecklichen traumatischen Bildern und Erfahrungen zu geben. Die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie nach Luise Reddemann (2001) unterstreicht die Bedeutung von Phantasie, Imaginationsfähigkeit und Kreativität als »Kraftquellen«. Es werden mit Betroffenen tröstende innere Bilder von sicheren Orten und freundlichen Helfern und Helferinnen erarbeitet, auf die sie sich angesichts der in der Therapie auftauchenden Schreckensbilder zurückziehen können. Eng verbunden mit dem Gedanken der Ressourcenstärkung ist auch der Empowerment-Gedanke, der in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA (Solomon, 1976) entstand und später von dem US-amerikanischen Psychologen Julian Rappaport (1981) in die psychologische Debatte um Gemeindepsychologie und Gemeindepsychiatrie eingebracht wurde. Empowerment bedeutet eine radikale Abkehr von der Defizitorientierung und zielt darauf, dass Menschen, die in ökonomische, soziale und psychische Krisen geraten, über Selbsthilfegruppen und die Verbindung von sozialer Arbeit und politischer Aktion ermächtigt werden, ihre Situation aktiv zu verändern. In den letzten zehn Jahren hat vor allem der Begriff der Resilienz, also der individuellen psychischen Widerstandskraft, einen regelrechten Boom erlebt. Resilienz wird dabei meist als die Gesamtheit von persönlichen Stärken

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und Kompetenzen des Einzelnen und externen Ressourcen verstanden. Als individuelle Resilienzfaktoren gelten zum Beispiel kognitive Fähigkeiten, emotionale Intelligenz (Bonnano, 2004), soziale Kompetenz und das Gefühl der Selbstwirksamkeit, ein von Albert Bandura (1979) entwickelter Begriff für das Vertrauen, dass die eigenen Handlungen erfolgreich und wirksam sein können. Auch Bildung und Wissen werden als resilienzstärkende Faktoren angesehen – ebenso wie soziale Unterstützung, liebevolle Familienbande etc., aber auch schwer definierbare Kategorien wie »Optimismus«. Angesichts der Beschleunigung des Arbeits- und Lebensalltags in den westlichen Ländern und der steigenden Zahl von Menschen, die sich in Burn-out-Behandlung begeben, hat der Resilienzbegriff Hochkonjunktur. Im Internet wimmelt es von Angeboten zur Resilienzstärkung und Burn-out-Prophylaxe von gestressten Menschen, und Firmen schicken ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Resilienztrainings. Auch im Kontext internationaler humanitärer und Entwicklungshilfe hat sich der Fokus von den ehemaligen Paradigmen der Nachhaltigkeit, Konfliktprävention und Katastrophenvorsorge auf die Resilienzstärkung von Menschen und Gesellschaften verschoben, die von Krieg, Gewalt und Naturkatastrophen betroffen sind (Merk, 2017). Schon 2006 warnte Pauline Boss, die den Resilienzbegriff mitgeprägt hat: »Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ein Resilienzmodell übernehmen, das nur den Status Quo festigt […] wir können nicht akzeptieren, dass Krieg und Armut uns dauerhaft begleiten und dass dagegen nichts getan werden kann. Wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben, dass die Resilienz des Menschen die einzige Antwort ist. Das entscheidende Kriterium individueller Resilienz ist zwar die persönliche Gesundheit, aber wir müssen auch die Gesundheit der Ge-

Kontroverse Defizitorientierung versus Ressourcenstärkung51

sellschaft und Umwelt fördern, in der Menschen gedeihen können« (S. 85). Heute ist Resilienz, wie Usche Merk (2017) von der Frankfurter Hilfsorganisation medico international ausführt, »zur zentralen Kategorie in nahezu allen nationalen und internationalen humanitären Strategien geworden. Alle wichtigen Akteure – die Vereinten Nationen (UN), die Europäische Union (EU), das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie private Hilfswerke und philanthro-kapitalistische Stiftungen – entwickelten in den letzten Jahren umfassende Resilienzkonzepte und machten Resilienzorientierung zum Maßstab für ihre jeweilige Förderungspraxis« (S. 126). Eine beunruhigende Tendenz, denn hier wird einmal mehr der Blick auf die Ursachen von Kriegen und Katastrophen verstellt. Angesichts des Scheiterns politischer Konzepte zur Lösung von Gewaltkonflikten und umweltpolitischer Konzepte zur Eindämmung von klimabedingten Katastrophen wird hier die Verantwortung kurzerhand an die Betroffenen selbst zurückgegeben. Sie sollen stark gemacht werden, mit Krieg und Katastrophen zu leben, fit gemacht für das Leben im Ausnahmezustand (Merk, 2017). Wie schon beim Traumakonzept selbst wird hier der ursprünglich emanzipatorische Gedanke der Ressourcenstärkung in sein Gegenteil verkehrt: in die Zementierung zerstörerischer und krank machender Verhältnisse.

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Trauma – ein umstrittenes und umkämpftes Konzept

2.7 Fazit: Für eine Repolitisierung der psychologischen Traumadebatte

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Der beschriebene therapeutische Fachstreit zwischen kontextualisiertem Traumabegriff und experimentellem Kurzzeitverfahren, zwischen Stabilisierung und Exposition, zwischen Empowerment und Pathologisierung und das zunehmende Zurückdrängen des Subversiven im Traumadiskurs – also seiner Thematisierung von Gewalt, Diktatur und Unrecht – zugunsten experimenteller Symptombekämpfung (Ottomeyer, 2011b) spiegeln eine breitere gesellschaftliche Entwicklung. Mit der globalen Ausweitung neoliberaler Marktlogik, dem damit verbundenen Stress in den kapitalistischen Zentren, der Marginalisierung und Verarmung ganzer Bevölkerungsgruppen, der Zunahme kriegerischer Ressourcenkämpfe und klimabedingter Katastrophen steht statt der Frage nach den Ursachen zunehmend die Frage nach der »Verwaltung« und dem »Management« des Elends im Vordergrund. Es findet statt, was Anhorn und Balzereit (2015) als die »Therapeutisierung des Sozialen« bezeichnen. Unter dem Titel »Das Unbehagen in der Globalisierung« lud medico international 2012 zu einem Symposium ein, auf dem Praktiker und Forscher aus Medizin, Psychologie und Sozialer Arbeit diesen Trend kritisierten und sich für eine psychologische und soziale Forschung und Praxis aussprachen, die nicht nur Symptome behandelt, sondern Ursachen von Gewalt und Leid bekämpft. Eine solche Repolitisierung der Debatte wird dringend gebraucht und kann, wie ich versucht habe zu zeigen, auf eine reiche Geschichte und vielfältige Erfahrungen zurückgreifen.

3 Trauma als individuelle und soziale Erfahrung: Traumaphänomene

Auch in Kontexten, in denen Menschen Opfer von Krieg, organisierter politischer Gewalt, Vertreibung und Massengewalt bis hin zum Genozid werden, in denen also viele Menschen extreme Gewalterfahrungen teilen, bleibt die traumatische Erfahrung für jedes einzelne Opfer selbst zunächst eine individuelle, einzigartige und einsame Erfahrung. Quer durch die verschiedenen theoretischen Traumaschulen und Therapieansätze gibt es eine Übereinstimmung im Hinblick auf eine Reihe von zentralen Phänomenen, unter denen Menschen nach traumatischen Erfahrungen leiden, bzw. von belastenden Dynamiken, die sie durchleben.4

3.1 Die zentrale Dialektik des Traumas: Zwischen Überflutung und Vermeidung Judith Herman beschreibt den »Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen« als die »zentrale Dialektik des psychischen Traumas« (2003, S. 9). Die widerstreitenden Tendenzen von Vermeidung und Überflutung (»avoidance and intrusion«) und das Alternieren dazugehöriger Symptome werden von allen Strömungen der Traumaforschung, ob stresstheoretisch, psychoanalytisch oder neuro4 Zur Vertiefung seien empfohlen: Judith Hermans »Die Narben der Gewalt« (2003), Angela Kühners »Trauma und kollektives Gedächtnis« (2008) und Klaus Ottomeyers »Die Behandlung der Opfer« (2011a).

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Trauma als individuelle und soziale Erfahrung

biologisch begründet, als Kerndynamik des traumatischen Prozesses betrachtet (z. B. Horowitz, 1976; Reddemannn u. Sachsse, 1997; Birck, 2001). Auf der einen Seite bringt die betroffene Person eine enorme Menge an Energie auf, um Menschen, Orte, Situationen, die mit der traumatischen Situation in Verbindung stehen oder daran erinnern, zu meiden, die Erinnerung daran zu verdrängen oder gar abzuspalten (Dissoziation). Auf der anderen Seite wird sie von traumatischen Bildern und Erinnerungen gequält, erlebt die traumatische Situation in Albträumen wieder oder wird von plötzlich über sie hereinbrechenden Flashbacks überfallen, die in emotionaler und sensorischer Intensität der traumatischen Erfahrung selbst nahekommen. Die unterdrückten Erinnerungen wirken unbewusst weiter und können zu psychosomatischen Symptomen führen. »The body keeps the score« – der Körper vergisst nicht –, schreibt der Traumaforscher Bessel van der Kolk (1994). Unterdrückte oder dissoziierte Erinnerungen an das traumatische Ereignis können auch lange Zeit nach dem Ereignis plötzlich ins Bewusstsein einbrechen (Latenz und Nachträglichkeit), oft ausgelöst durch so genannte Trigger, also Situationen, vielleicht auch Gesten, Gerüche, Gesichter, die an die traumatische Situation erinnern. Das unbewusste Weiterwirken der traumatischen Erinnerung bringt Überlebende von traumatischer Gewalt oft dazu, das Trauma zu »suchen«: Sie reinszenieren die traumatische Situation in alltäglichen Situationen oder wiederholen das Beziehungsmuster Opfer–Täter aus dem traumatischen Ereignis in späteren Beziehungen in einer Art Wiederholungszwang (van der Kolk, 1989). Während dieser dialektische Prozess von wechselnden Symptomen der Vermeidung und der Intrusion in den meisten Traumaforschungen als ein quälendes Traumasymptom begriffen wird, interpretieren Reddemann und Sachsse (1997) ihn stattdessen als zentrale Dynamik des

Der »innere Teufel«55

Bewältigungsprozesses. Sie beschreiben Dissoziation als Mechanismus des Selbstschutzes: Nach traumatischen Erfahrungen spalten die Opfer die unerträglichen Erinnerungen und Bilder so lange ab, bis sie ausreichend stabilisiert sind, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

3.2 Der »innere Teufel«: Die Introjekte der Täter Im Kontext von sozialer, politischer und geschlechtsspezifischer Gewalt ist der Akt der Gewalt selbst häufig begleitet vom Versuch des Täters, das Opfer zu entwerten, zu erniedrigen, zu entmenschlichen. Dies ist nicht nur eine zusätzliche Waffe der Täter gegen die Opfer, sondern dient ihnen selbst zur Senkung der Hemmschwelle und als Legitimation für die auszuübende Gewalt. Die Täter zwingen die Opfer in eine Beziehung der Unterwerfung und gleichzeitig, bei Folter oder Vergewaltigungen, in eine körperliche Abhängigkeit und Zwangsintimität. Im verzweifelten Versuch zu überleben oder die Aggression abzumildern, versuchen die Opfer, die Täter zu »verstehen«, sich mit deren Logik zu identifizieren und internalisieren die abwertende Perspektive der Täter auf sich selbst. Diese komplexe Täter-Opfer-Beziehung hinterlässt eine langanhaltende Spur in der Psyche des Opfers, einen »Fremdkörper«, einen »inneren Teufel«, den der ungarische Neurologe und Psychoanalytiker Sandór Ferenczi (1933/1955) als das Introjekt (oder die Introjektion) des Täters bezeichnet, also das Eindringen des Täters in die Psyche des Opfers. Ferenczi bezog sich auf seine Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern, die von nahen Verwandten sexuell missbraucht wurden und sich selbst schuldig fühlten, den aggressiven Übergriff provoziert zu haben oder ihn »verdient« zu haben. Für die Opfer erscheint es erträglicher,

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Trauma als individuelle und soziale Erfahrung

selbst die Verantwortung für den Missbrauch zu übernehmen, als zu akzeptieren, dass eine Vertrauensperson, von der sie abhängig sind, sie verrät und/oder »böse« ist. Paradoxerweise wendet sich so die erlittene Gewalt in Form von Schuldgefühlen gegen das Opfer selbst, eine Tatsache, die der Psychiater und Psychoanalytiker Mathias Hirsch (2000) damit erklärt, dass das Opfer den Täter existenziell braucht bzw. von ihm abhängig ist.

3.3 Schuld 3

Überlebende von extremer Gewalt leiden häufig unter schweren und komplexen Schuldgefühlen. Da ist einmal das bereits beschriebene diffuse Gefühl von Mitschuld und Selbstverantwortung für die selbst und von anderen erlittene Gewalt, die die Täter im Opfer eingepflanzt haben. Zudem quälen sich Überlebende mit Fragen, ob sie in der Extremsituation das »Richtige« getan haben, ob sie – vor allem in Situationen von Massengewalt – mehr hätten tun können, um die Katastrophe für sich und andere abzuwenden und Verwandte, Freunde und sich selbst zu schützen etc. Neben diesen quälenden Fragen leiden viele Überlebende unter dem, was der deutsch-US-amerikanische Psychiater und Psychoanalytiker William G. Niederland (1968) als Überlebensschuld-Syndrom beschrieb: das Gefühl der Schuld, selbst überlebt zu haben, während andere gestorben sind. Niederland fand das Phänomen der Überlebensschuld verbreitet unter Überlebenden der NaziKonzentrationslager, für die er in den 1960er Jahren Gutachten verfasste. Das Syndrom hat sogar Eingang in den Katalog der PSTD-Symptome gefunden (World Health Organization, 2010). Schuldgefühle und Selbstvorwürfe können aber auch einen »realen« Hintergrund haben, wenn zum Beispiel Inhaftierte und Folteropfer Mitgefangene verraten haben,

Schuld57

sich während der Gewalterfahrung oder Flucht aggressiv oder egoistisch verhalten oder Mitleidende im Stich gelassen haben. Primo Levis (1947/1995) autobiographische Berichte über seine Gefangenschaft in Auschwitz »Ist dies ein Mensch« (1947) und »Die Untergegangenen und die Geretteten« (1986) geben einen zutiefst verstörenden Einblick in die unmenschliche Logik der Vernichtungslager. Sie zeigen einen grausamen Überlebenskampf, der zu Hierarchien und Aggression unter den Gefangenen führte, in die – wie Levi sagt – »Grauzone« zwischen Tätern und Opfern und letztendlich zur Entmenschlichung der Opfer selbst. Er beschreibt seine eigenen unüberwindbaren Gefühle von Schuld und Scham angesichts der extremen Erfahrung und der Tatsache, überlebt zu haben. 1987 nahm Primo Levi sich das Leben. Für Überlebende und ihre sozialen Gegenüber – inklusive eventueller Therapeuten oder Therapeutinnen – ist der Umgang mit den komplexen Schuldgefühlen eine große Herausforderung. Auf der einen Seite gilt es, eigene und gesellschaftliche Distanzierungsstrategien – dem Opfer eine Mitverantwortung oder Schuld für das erlittene Leid zu geben und sich tendenziell mit dem starken und siegreichen Täter zu identifizieren – zu erkennen und dem entgegenzuwirken. Quer durch alle gesellschaftlichen Kontexte werden Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, beschuldigt, durch ihr eigenes Verhalten die Übergriffe provoziert zu haben, und marginalisiert. Ein aktuelles Beispiel sind die von ISIS im Irak verschleppten jesidischen Mädchen und Frauen, die nach Versklavung und sexualisierter Gewalt in ihren eigenen sozialen Strukturen gegen Misstrauen und Stigmatisierung ankämpfen müssen. Auf der anderen Seite gibt es aber im Umgang mit Menschen, die extreme Gewalt erlebt haben, auch die Gefahr, Schuldgefühle zu schnell als Traumasymptom einzuord-

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Trauma als individuelle und soziale Erfahrung

nen und dabei mögliche Anteile tatsächlicher Schuld und Verantwortung zu übersehen, die die Opfer quälen. Klaus Ottomeyer erzählt die Geschichte seiner Therapie mit Herrn Johansson, der als Soldat einer internationalen Friedenstruppe in einem Gefecht an der Tötung dreier Kindersoldaten beteiligt war. In der Therapie wurden die traumatischen Bilder von Herrn Johansson, seine Todesangst, seine Hilflosigkeit, sein Ausgeliefertsein bearbeitet. Erst nachdem Herr Johannsson die Therapie abgebrochen hatte, erkannte Ottomeyer, dass beide – Klient und Therapeut – vor einer tiefer liegenden traumatischen Erfahrung zurückgeschreckt waren: Offenbar hatte Herr Johansson nach Ende der Gefechtssituation einen der Kindersoldaten getötet, weil er verletzt nicht transportiert werden konnte. Das komplexe Schulddilemma, in dem Herr Johansson sich befand, blieb unbearbeitet (2011a, S. 166 ff.). Das Zurückschrecken von Therapeuten und Therapeutinnen beim Entdecken von Täter- und Schuldanteilen in Opfern und Überlebenden von Gewalt verweist auf die noch komplexere Debatte um die therapeutische Arbeit mit Tätern und Täterinnen, auf die Sladjana Kosijer in einem späteren Band der Reihe »Fluchtaspekte« eingehen wird.

3.4 Scham Viele Überlebende von extremer Gewalt leiden unter Schamgefühlen. Neben dem im vorherigen Kapitel beschriebenen diffusen Schuld- und Schamgefühl, persönlich verantwortlich zu sein für das Erlittene (warum ich?), schämen sie sich für den während der traumatischen Erfahrung erlittenen Kontrollverlust, für ihre Demütigung und Unterwerfung durch den Täter und ihre eigene Nacktheit vor und Intimität mit ihm. Zudem empfinden sie Scham, weil andere Leidensgenossen und Leidensgenossinnen sie in ebendiesen Situationen erlebt haben.

Scham59

Schamgefühle sind besonders stark bei Opfern sexualisierter Gewalt (Herman, 2003) und sexualisierter Folter (Becker, 1992), die von Tätern gezielt als Mittel der Unterwerfung und Zerstörung der physischen und moralischen Integrität der Opfer eingesetzt werden. Sexuelle Gewalt, schreiben Monika Hauser und Ingeborg Joachim (2003), ist ein »Angriff auf das intimste Selbst«. Scham ist ein Gefühl, das besonders stark von den kulturellen, religiösen und sozialen Werten der jeweiligen Gesellschaft geprägt ist. In allen Gesellschaften erleben Frauen und Männer, die Opfer von sexueller Gewalt wurden, anschließende Stigmatisierung und Marginalisierung. Besonders in patriarchalen, traditionellen Kontexten und muslimisch geprägten Gesellschaften, in denen Körperlichkeit und Sexualität Tabu sind und die Ehre der Männer vom Schutz der Jungfräulichkeit und Tugendhaftigkeit der Frauen in der Familie abhängt, zerstört sexuelle Gewalt nicht nur die Integrität der Opfer selbst, sondern trifft darüber hinaus die Grundfesten der patriarchalen sozialen Ordnung in der Gesellschaft der Opfer. In zahlreichen kriegerischen Konflikten werden Vergewaltigungen von Frauen, die der gegnerischen Gruppe angehören, als Kriegswaffe und Mittel ethnischer Säuberungen eingesetzt. Zwischen 1992 und 1995 haben serbische Soldaten in Bosnien circa 20.000 muslimische bosnische Frauen vergewaltigt (Mirvic-Rogge, 2005). Jasmila Ž ­ banićs preisgekrönter Film »Esmas Geheimnis – ­Grbavica« (2006) gewährt einen verstörenden Einblick in die von Scham und Sprachlosigkeit geprägte Beziehung einer bosnischen Mutter zu ihrer aus einer Vergewaltigung durch einen serbischen Soldaten hervorgegangenen Tochter. Der Film zeigt die destruktive Macht der erlittenen Vergewaltigung ebenso wie die Last der Tabuisierung, des sozialen Schweigens und der Stigmatisierung, die über der Erfahrung sexueller Gewalt liegt und die der Entwicklung neuer Beziehungen und Perspek-

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Trauma als individuelle und soziale Erfahrung

tiven entgegensteht. Auch bei Anfal-Frauen in KurdistanIrak wurden ihre eigenen Schamgefühle nach erlittener Gewalt und Demütigung in den Gefangenenlagern der irakischen Armee durch die gesellschaftliche Tabuisierung ihrer Erfahrung verstärkt. Das Erlittene wandte sich in Form von sozialer Kontrolle und Marginalisierung gegen sie (Mlodoch, 2015).

3.5 »Shattered assumptions«: Erschütterte Grundüberzeugungen und der Verlust des sozialen Gegenübers 3

Erfahrungen von extremer Gewalt zerstören nicht nur die psychische Integrität, sondern auch das Selbst- und Weltverständnis der Opfer. Die US-amerikanische Psychologin Ronnie Janoff-Bulman (1992) führte den Begriff der erschütterten Grundüberzeugungen (»shattered assumptions«) ein: Der Glaube an eine grundsätzlich gerechte und gute Welt und einen grundsätzlich guten sozialen Anderen wird nachhaltig erschüttert – ebenso wie das eigene Selbstwertgefühl, der Glaube an die eigene Unverletzbarkeit und das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit. Überlebende extremer Gewalt fühlen sich wie abgeschnitten vom normalen Lebensstrom und anderen Menschen, als sei ihnen der Boden entzogen worden. Jean Améry, der die Konzentrationslager von Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen überlebt hat, schrieb: »Wer der Folter erlegen ist, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Dass der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen. Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht« (1966, S. 70).

Rachegefühle61

Der Psychoanalytiker Dori Laub hat über Jahrzehnte therapeutisch mit Überlebenden der Shoah gearbeitet und deren Berichte über das Erlebte archiviert. Er sieht die Zerstörung der inneren Repräsentanz eines sozialen Gegenübers als eine der zentralen Erfahrungen des Traumas. Er betont die Wichtigkeit der Rekonstruktion des sozialen Anderen, der empathisch zuhört und die Erfahrung des Überlebenden bezeugt. In ihrem Buch »Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History« untersuchen die Literaturwissenschaftlerin Shoshana Felman und Dori Laub (1992) die Bedeutung von Zeugenschaft in der Arbeit mit Überlebenden und unterstreichen die Wichtigkeit, für die scheinbar »unaussprechliche« Erfahrung des Holocaust eine lebendige Stimme zu finden und sie zu textualisieren (siehe auch Kapitel 5.2).

3.6 Rachegefühle Die Erfahrung von durch andere Menschen zugefügter Gewalt ist gekennzeichnet von Unterwerfung, Hilflosigkeit und Machtlosigkeit (Herman, 2003). In Erfahrungen von Gefangenschaft, Folter oder Vergewaltigung haben die Täter unbegrenzte Macht über das Opfer. Die Erfahrung des Verlusts von physischer und psychischer Kontrolle über sich selbst verfolgt die Opfer lang anhaltend und kann sich in ein Gefühl anhaltender Machtlosigkeit auch gegenüber den Herausforderungen des Lebensalltags übersetzen. Schuldgefühle über den Kontrollverlust alternieren mit Rachephantasien. Rache ist ein herausragendes Thema in kulturellen Darstellungen von Konflikten in der klassischen Weltliteratur (von Homers »Ilias« über Shakespeares »Hamlet« bis zu Dürrenmatts »Alter Dame)« ebenso wie in heutigen Hollywood-Selbstjustizdramen. In der psychologischen Literatur hingegen wird dem Thema Rache vergleichsweise geringe Beachtung geschenkt (Küh-

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ner, 2002, S. 37). Breuer und Freud beschrieben in ihren Studien über Hysterie (1895/1991), dass ausgelebte Racheakte als Reaktion auf erlittene Gewalt die emotionale Belastung durch das Trauma mindern. Und Judith Herman (2003, S. 268 f.) beschreibt Rachephantasien bei Opfern von extremer Gewalt als Ausdruck für den Wunsch, die in der traumatischen Situation gemachte Erfahrung totaler Machtlosigkeit wenigstens in der Phantasie zu überwinden. Die soziale Akzeptanz von Rachegefühlen und Racheakten variiert mit den jeweiligen kulturellen Kontexten. Während in den westeuropäischen Gesellschaften der Rachegedanke als negativ und destruktiv bewertet wird und auch im Justizsystem durch den Gedanken der Rehabilitation und Reintegration ersetzt wurde, gilt in den USA und vielen anderen Ländern weiter die institutionalisierte staatliche Vergeltung in Form der Todessstrafe. Und im Irak haben nach dem Sturz des Baath-Regimes retributive Konzepte von Gerechtigkeit inklusive der Hinrichtung von Saddam Hussein und seinen engen Gefolgsleuten breite Zustimmung gefunden (Mlodoch, 2015, S. 348, 368). In den meisten westlichen psychotherapeutischen Ansätzen wird Rache als ein »unreifes« Gefühl verstanden, das überwunden und in ein »zivilisiertes« Streben nach Gerechtigkeit überführt werden muss. Es gibt aber auch Kritik an dieser normativen Perspektive auf Rachegefühle. So sagt Jan Philipp Reemtsma, Sozialforscher und 1996 selbst Opfer einer Entführung und wochenlanger Geiselhaft, Rache »widerspricht unserem Rechtsprinzip, und das ist gut so. Aber Rachegefühle nicht empfinden zu können ist eine Pathologie« (2016). Und Brandon Hamber und Richard Wilson (2002) unterstreichen die Wichtigkeit von sozialen und therapeutischen Räumen, in denen Überlebende von Gewalt Rachegefühle ohne soziale Sanktionierung ausdrücken können.

Trauer63

3.7 Trauer Traumatische Situationen sind oft lebensbedrohlich. Die Opfer sind an der Schwelle zum eigenen Tod und/oder müssen den Tod anderer, naher und geliebter Menschen oder Leidensgenossen bzw. -genossinnen miterleben. Trauma und Trauer sind deshalb eng miteinander verbunden. Ein Trauerprozess ist von verschiedenen Phasen gekennzeichnet: Nach einer anfänglichen Phase von Schock und Verleugnung durchläuft der oder die Trauernde immer neue Phasen von tiefem Eintauchen in den Schmerz und die Vergangenheit. Er bzw. sie lernt schrittweise, den Verlust als real zu akzeptieren, die verlorene Person loszulassen, sie symbolisch zu repräsentieren und sich wieder auf die Gegenwart einzulassen. Zahlreiche Modelle wurden für das Verständnis von Trauerarbeit entwickelt. Der britische Arzt, Psychoanalytiker und Bindungstheoretiker John Bowlby (1980) unterscheidet vier Phasen der Trauer: 1. Betäubung und Schock; 2. Suche und Sehnsucht; 3. Desorientierung und Verzweiflung; 4. Reorganisierung. Die schweizerisch-US-amerikanische Psychiaterin Elizabeth Kübler-Ross (1969) beschreibt fünf Stufen des Trauerprozesses: Verleugnung, Wut, Verhandlung, Depression und Akzeptanz, die sich überlappen können. Und die US-amerikanische Psychologin und Traumatologin Therese Rando (1993) führt die sechs Rs des Trauerprozesses ein: 1. »recognize the loss« – den Verlust erkennen; 2. »react emotionally« – emotional reagieren; 3. »re-collect and re-experience the lost relationship« – sich an die verlorene Beziehung erinnern und sie wiedererleben;

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Trauma als individuelle und soziale Erfahrung

4. »relinquish the lost person« – die verlorene Person loslassen und auf sie verzichten; 5. »readjust to the daily life« – sich wieder ins tägliche Leben integrieren; 6. »re-invest in present and future« – in die Gegenwart und Zukunft investieren.

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Für Überlebende von organisierter Gewalt und Krieg mit oft zahlreichen Verlusten von geliebten Angehörigen, Freunden und Kollegen ist der Trauerprozess aber durch die schiere Dimension der plötzlichen Verluste, ihrer Ungerechtigkeit und Unverständlichkeit oft kompliziert, gestört und verlängert. Er kann sich zu Depression und Melancholie (Freud, 1917) oder chronischer Trauer, die auch als pathologische Trauer, traumatische Trauer, erschwerte oder komplizierte Trauer definiert wird, entwickeln (siehe z. B. Kogan, 2011). Gestörte und verlängerte, nicht lösbare Trauerprozesse sind besonders häufig bei Angehörigen von Verschwundenen (siehe Kapitel 3.8). In vielen Ansätzen zur Traumabearbeitung wird Trauerarbeit als ein wichtiger Schritt bei der Bewältigung traumatischer Erfahrungen angesehen. Dabei bezieht sich der Begriff des Trauerns nicht nur auf die Trauer um den Tod oder Verlust eines anderen Menschen, sondern auch im weiteren Sinne um den Verlust des Glaubens an eine gute Welt, den Verlust der eigenen Würde und des eigenen Selbstwertgefühls. Es gilt weithin als ein Meilenstein in der Traumabearbeitung, wenn es den Betroffenen gelingt, den eigenen Schmerz und die Erschütterungen, die sie erfahren haben, zu betrauern oder darum zu trauern, was sie durch die erfahrene Gewalt verloren und verpasst haben: eine unbeschwerte Jugend, eine Familie, oder – bei Missbrauch in der Familie – eine behütete Kindheit und schützende Vater- und Mutterfiguren. Der innere Trauerprozess wird begleitet von ­Ritualen

Komplexe Trauer- und Schuldproblematik65

und Zeremonien auf der sozialen Ebene. Diese differieren je nach religiösem und kulturellem Kontext, beinhalten aber meist die Bestattung der Verstorbenen, das Zusammenkommen des sozialen Kontextes zu deren Würdigung und zum Troste der Angehörigen und die symbolische Repräsentanz der Toten (Grabsteine, Foto, Blumen, Steine etc.). In den ländlichen Gemeinden in KurdistanIrak dauern die Trauerzeremonien (separiert nach Frauen und Männern) sieben Tage. Angehörige und Nachbarn der Trauernden verbringen Zeit mit ihnen, essen und beten gemeinsam und tauschen Erinnerungen aus. In den sieben Tagen verschiebt sich der Fokus der Zeremonie von dem anfänglichen Ausagieren des Schmerzes (Klagen und sich auf die Brust schlagen) hin zur Diskussion, wie es für die Angehörigen weitergeht. Die Zeremonie unterstützt den Prozess der Trauernden von der Verzweiflung hin zur symbolischen Repräsentanz und markiert gleichzeitig ihren sozialen Statuswechsel: von der Ehefrau zur Witwe, vom Sohn zum Familienvorstand etc. Für Menschen im Exil oder auf der Flucht ist es belastend, dass sie beim Tod von Angehörigen oder Freunden und Freundinnen in der Heimat an solch tröstenden sozialen Zeremonien nicht teilnehmen können. Mit Bezug auf diese spezifische Trauerproblematik in der Fremde haben Kollegen und Kolleginnen vom Psychosozialen Zentrum in Düsseldorf für Menschen aus Fluchtkontexten einen Trauergarten eingerichtet, um ihnen einen Ort für ihre Trauer zu geben (http://www.trauerort-duesseldorf.de/).

3.8 Komplexe Trauer- und Schuldproblematik bei »uneindeutigen Verlusten« Schuld- und Trauerproblematik sind besonders komplex, wenn der Verlust von Angehörigen oder Freunden mit Ungewissheit über deren Schicksal verbunden ist. Dies ist der

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Trauma als individuelle und soziale Erfahrung

Fall bei Menschen, deren Angehörige verschleppt wurden und dauerhaft verschwunden bleiben. So war es beim massenhaften systematischen Verschwindenlassen von Oppositionellen, das von den Militärdiktaturen in Chile und Argentinien in den 1970er und 1980er Jahren ebenso angewandt wurde wie vom südafrikanischen Apartheid-Regime oder dem Baath-Regime im Irak gegen die kurdische Bevölkerung 1988.5 Es gibt zahlreiche psychologische Studien zur Situation von Angehörigen von Verschwundenen in Lateinamerika (Becker, 1992; Kordon et al., 1988), auf dem Balkan (Zvizdic u. Butollo, 2000), in Südafrika (Hamber u. Wilson, 2002), aber auch nach Naturkatastrophen wie dem Tsunami in Indonesien und Sri Lanka (Preitler, 2006). Die US-amerikanische Familienforscherin Pauline Boss (2006) zieht eine interessante Parallele zwischen der komplizierten Trauer von Angehörigen von Verschwundenen, die physisch abwesend, aber psychologisch präsent sind, und der Situation von Angehörigen von AlzheimerErkrankten, die physisch anwesend, aber psychologisch unerreichbar sind. Sie hat den Begriff des »uneindeutigen Verlustes« geprägt. Alle Studien zur Situation von Angehörigen von Verschwundenen beschreiben die destruktive Wirkung der Ungewissheit, den permanenten Stress, das ständige Fragen: »Was ist geschehen?«, das tägliche Oszillieren zwischen Verzweiflung und Hoffnung  – letztere genährt durch jedes neue Gerücht, ein Gesicht im Bus, eine Geste im Vorbeigehen, die an den Verschwundenen erinnert. Angehörige von Verschwundenen können keinen Trauer5 2.000 Frauen und Männer der Opposition gegen das PinochetRegime verschwanden zwischen 1973 und 1978 in Chile (Becker, 1992); die argentinische Militärjunta war verantwortlich für das Verschwinden von zwischen 10.000 und 30.000 Menschen zwischen 1976 und 1983, 95 % von ihnen sind nie zurückgekehrt (Kordon et al., 1998).

Komplexe Trauer- und Schuldproblematik67

prozess durchlaufen; sie wissen nicht einmal, was sie betrauern und welche Realität sie akzeptieren sollen (Becker, 1992). Sie erleben den Verlust täglich neu und bleiben wie eingefroren in der Vergangenheit und der Schmerz (Meyer, 1994). Jeder neue Lebensplan ist mit Schuldgefühlen gegenüber den Verschwundenen verbunden und wird als Verrat erlebt. Die Akzeptanz des Verlustes kommt einem Aufgeben der Verschwundenen gleich und einer Komplizität mit dem Aggressor, der deren Existenz negiert. Die argentinischen Mütter der Plaza de Mayo haben in den 1980er Jahren ihre Verzweiflung in politische Aktion übersetzt und gaben ihren verschwundenen Söhnen und Töchter in politischen Demonstrationen Namen, Gesichter und öffentliche Präsenz. Bis heute – vier Jahrzehnte nach dem Verschwinden ihrer Liebsten – lehnt ein Teil der Mütter der Plaza de Mayo vehement eine bildliche Repräsentation ihrer Angehörigen in öffentlichen Gedenkstätten ab – als eine nicht akzeptable Form des Abschlusses ohne Gewissheit und der Aufgabe ihrer Kinder (Diskussion mit argentinischen Kolleginnen während der Konferenz »Trauer, Politik, und Erinnerung im Kontext von Kriegen und Regimeverbrechen« an der Universität Konstanz, 8. bis 10. Dezember 2011). Viele Geflüchtete, die Angehörige in ungewissen Situationen zurückgelassen haben oder von ihnen auf der Flucht getrennt wurden, sind von »uneindeutigen Verlusten« betroffen und kämpfen mit der Ungewissheit und einem komplexen Geflecht aus unlösbarer Trauer, Hoffnung, Verzweiflung und Gefühlen von Schuld und Verpflichtung, das sie in der Vergangenheit gefangen hält und sie an der Entwicklung neuer Lebensperspektiven hindert.

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4 Traumaerinnerungen und Traumanarrative: Trauma als Gedächtnisphänom

4.1  Erinnerung als soziale Kategorie Erinnerung ist nie eine einfache Sammlung oder Speicherung der Vergangenheit; sie ist ein dialektischer Prozess zwischen Erinnern und Vergessen. Was wir erinnern und was wir vergessen, hängt von unserer aktuellen Perspektive, von unseren aktuellen Bedürfnissen und Interessen ab. Gedächtnis ist ein permanenter Prozess der Rekonstruktion, Reinterpretation und Transformation der Vergangenheit aus gegenwärtiger Sicht. Die Rekonstruktion der Vergangenheit ist diskursiv und vollzieht sich in Narrationen bzw. Erzählungen. Mit der Rekonstruktion unserer Vergangenheit werden wir – in den Worten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (S. 76) – zu »Ideologen des eigenen Lebens«. Erinnerung ist nicht nur eine individuelle Funktion, sondern auch eine soziale Aktivität und Kategorie. Maurice Halbwachs (1950/1980) – ebenfalls französischer Soziologe – führte schon in den 1920er Jahren das Konzept des kollektiven Gedächtnisses ein und betonte die dialektische Wechselwirkung zwischen individueller und kollektiver Erinnerung. Sozialpsychologische und interdisziplinäre Begriffe wie »konversationelles, soziales und kollektives Erinnern« (Middleton u. Edward, 1990) oder »Erinnerungstalk« (»memory talk«) (Nelson, 2006) unterstreichen den interaktiven Charakter des Erinnerns. Aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive unterscheiden Jan und Aleida Assmann (Assmann, J., 1992; Assmann, A., 1999) zwischen »kommunikativem Gedächtnis«,

Traumatische Erinnerung69

also Erinnerungen, die in zwischenmenschlicher Interaktion entstehen, und »kulturellem Gedächtnis«, also symbolischen, institutionalisierten Erinnerungen, wie zum Beispiel Mythen oder Zeremonien. Kategorien wie »soziales Gedächtnis« (Welzer, 2001) oder »Gewohnheitsgedächtnis« (Connerton, 1989) beschreiben das Einschreiben von unbewussten und gesellschaftlichen Erinnerungen ins Alltagsleben. All diese Kategorien betonen den kommunikativen Charakter des Erinnerns und des Gedächtnisses, die enge Verflechtung von individueller und kollektiver, gesellschaftlicher Erinnerung und die Prozesshaftigkeit des Erinnerns und seine ständige Transformation in Wechselwirkung mit der sich verändernden sozialen Realität.

4.2  Traumatische Erinnerung Wie schon ausgeführt, haben traumatische Erfahrungen eine tiefgreifende Wirkung auf unsere Fähigkeit, uns zu erinnern, und die Struktur unserer Erinnerung. Die beschriebene traumatische Dialektik zwischen Vermeidung und Überflutung ist weitgehend ein Gedächtnisphänomen. Teile der oder die gesamte Erinnerung an die traumatische Situation werden verdrängt oder dissoziiert; sie wirken unbewusst weiter und überfluten die Betroffenen episodisch in Albträumen oder Flashbacks, ausgelöst durch so genannte Trigger: Gerüche, Gesten, Reize, die an die traumatische Situation erinnern. Sie äußern sich im Zwang, die traumatische Konstellation in Beziehungen zu wiederholen oder Örtlichkeiten aufzusuchen, die an das Trauma erinnern. Von Traumata Betroffene können oft nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Phantasie und Realität unterscheiden. Die unbewussten traumatischen Erinnerungen können sich auch in somatischen Beschwerden äußern. Das traumatische Ereignis hat sozusagen seine körperlichen Fußstapfen hinterlassen.

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Traumaerinnerungen und Traumanarrative

Breuer und Freud (1895/1991) nannten diese Übersetzungen von psychologischer Erregung in physische Symptome »Erinnerungssymbole«. Traumatische Erinnerungen sind fragmentiert und nicht zugänglich für das narrative oder autobiographische Gedächtnis. Neuere Erkenntnisse in der neurobiologischen Forschung gewähren Einblick in die physiologischen und biochemischen Prozesse, die diesen Erinnerungsphänomenen zugrunde liegen. In unserem Gehirn wirken verschiedenen Strukturen zusammen: Im limbischen System entstehen unsere Gefühle und Affekte und werden von dort durch den Hippocampus, eine Art Schaltzentrale oder Filter äußerer Einwirkungen, an die Großhirnrinde (den Neokortex) weitergeleitet. Hier findet dann die bewusste Bearbeitung von Eindrücken und Affekten, die Einordnung ihrer Bedeutung für das Ich und ihre sprachliche Repräsentation statt. In Situationen von Gefahr, Bedrohung und Anspannung tritt die Amygdala (der Mandelkern) in Aktion, eine Art Alarmanlage unseres Gehirns. Durch Ausschüttung großer Mengen an Hormonen sorgt sie dafür, dass alle Energie für die Abwehr-, Flucht- und Schutzreaktionen zur Verfügung steht und die Aktivität der Großhirnrinde heruntergefahren wird. Sie unterbricht sozusagen die Weiterleitung von Affekten aus dem limbischen System in die bewusste Ebene des Großhirns und verhindert damit die semantische und kognitive Bearbeitung der Affekte. Damit werden die angstvollen, bedrohlichen Eindrücke und Bilder aus der traumatischen Situation nicht als Narrativ, sondern als Affekt gespeichert und wirken auf unbewusster Ebene weiter. Das erklärt die emotionale und sensorische Intensität traumatischer Erinnerungen in plötzlichen Flashbacks (van der Kolk, 2006). In ihrem »Handbuch Traumakompetenz« ziehen Lydia Hantke und Hans-Joachim Görges (2012) zur Illustration der neurophysiologischen Vorgänge das Bild vom »Häs-

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chen und vom Denker« heran, die normalerweise gut zusammenarbeiten, in Notsituationen aber den Kontakt zueinander verlieren. In der Stabilisierung von Betroffenen nach traumatischen Erfahrungen geht es in diesem Bild darum, Häschen und Denker wieder miteinander in Verbindung zu bringen. Wie schon gesagt, bestätigen neurobiologische Forschungsergebnisse frühe psychoanalytische Annahmen zur Funktion der Erinnerung durch Janet, Breuer und Freud. So hatte Pierre Janet schon 1890 angenommen, dass es zwei verschiedene Erinnerungssysteme gebe: ein verbales autobiographisches Gedächtnis, das Erinnerungen verbal fassbar und kommunizierbar macht, und eines, in dem emotionale und sensorische Abdrücke von Erlebtem gespeichert werden (van der Kolk, 2006). Traumatische Erinnerung ist bruchstückhafte, zerrissene Erinnerung. Ottomeyer (2011a, S. 38) beschreibt die unbearbeiteten Erinnerungsfragmente als »eingeklemmtes Leben«. Sie sind Stücke der Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinragen. Erinnerungen an traumatische Ereignisse, die über die Betroffenen hereinbrechen, sind von unheimlicher Intensität und Zeitlosigkeit. Sie fühlen sich an, als würde die traumatische Erfahrung im Gegenwärtigen erneut geschehen. In vielen afrikanischen Kulturen wird die Überflutung mit traumatischen Erinnerungen als Heimsuchung durch ruhelose Geister und Seelen von Toten und Vorfahren erklärt. Efraim Boia jr. (1997) und Usche Merk (2006) haben beschrieben, wie in Mosambik und Südafrika Rituale zur Besänftigung der Geister von Toten und Verschwundenen zur Beruhigung und Entlastung von Kindersoldaten und Gewaltopfern genutzt werden.

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Traumaerinnerungen und Traumanarrative

4.3 Das Unsagbare: Mystifizierungen von traumatischer Erinnerung

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Die Unzugänglichkeit und gleichzeitig unheimliche Präsenz der traumatischen Erinnerung hat zahllose literarische Arbeiten über die geisterhafte Präsenz einer traumatischen Vergangenheit inspiriert, von Shakespeares Hamlet bis hin zu heutigen argentinischen Autoren und Autorinnen, die das Genre von Geistergeschichten benutzen, um das ungelöste Kapitel der zahllosen argentinischen Verschwundenen zu symbolisieren (siehe Mandolessi, 2011). Jan Philipp Reemtsma (1996, S. 10) nennt Geistergeschichten die »literarische Repräsentation von Trauma«. In den Literatur- und Kulturwissenschaften wird traumatische Erinnerung oft als das Unaussprechliche und manchmal sogar als Zugang zu einer unbearbeiteten und damit besonders »authentischen« historischen Wahrheit gesehen (Caruth, 1996/2016). Diese metaphorische Sicht auf traumatische Erinnerung tendiert aber auch dazu, den Mantel des Schweigens, die häufig über der traumatischen Erfahrung liegt, zu legitimieren. Ruth Klüger (1994), die als Kind das Konzentrationslager Theresienstadt überlebte, sieht die Mystifizierung des Holocaust als das Unsagbare als ein Alibi für die Weigerung, sich mit seiner brutalen Realität auseinanderzusetzen. Und Theodor Adorno (1951/1976), der sagte, es sei »barbarisch, nach Auschwitz Lyrik zu schreiben«, distanzierte sich in seinen späteren Werken von diesem Ausspruch und betonte stattdessen die Notwendigkeit, sich mit der Holocaust-Erfahrung zu konfrontieren.

4.4 Traumaerzählungen Zweifellos ist es für viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen schwierig, darüber zu sprechen. Die Gründe für das Schweigen sind vielfältig: Es kann Ausdruck der be-

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schriebenen Erinnerungsphänomene sein, des versperrten Zugangs zur eigenen Erinnerung, von Dissoziation und Verdrängung. Schweigen kann aber auch auf Scham- und Schuldgefühle deuten, auf die Angst vor sozialem Stigma oder vor der Ungläubigkeit des sozialen Gegenübers. Traumatisierte können außerdem zum Schweigen verdammt sein, wenn zum Beispiel der Verursacher der Gewalt, ein diktatorisches Regime, weiter an der Macht oder das Erlittene sozial tabuisiert ist, wie bei Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen wurden. Während einige Menschen nach extremen Gewalterfahrungen Jahre und Jahrzehnte nicht über ihre Erfahrungen sprechen können oder wollen, sprechen andere unentwegt darüber. Als ich 1991 zum erstem Mal Anfal überlebende Frauen in Kurdistan-Irak traf – drei Jahre nach den Anfal-Operationen –, war ich erstaunt über ihre Bereitschaft und die scheinbare Leichtigkeit, mit der sie tagtäglich untereinander und mit Dritten über ihre Erfahrungen sprachen und dabei auch quälende traumatische Bilder austauschten. Ihre Erzählungen waren ausführlich und detailreich, aber fragmentiert, unchronologisch und unspezifisch in Zeit und Raum. Unvorstellbare Grausamkeiten wurden oft fast emotionslos und ohne sichtbare Zeichen von Erregung vorgetragen. Häufig stimmten sie nicht mit den historischen Fakten überein. Manche einschneidende Erfahrungen, wie zum Beispiel die Geburt eines Kindes während der Deportation, wurden nur gestreift oder ganz ausgelassen; andere scheinbar profane Details wie das Wetter oder ein Essen am Rande der Deportationsrouten dagegen ausgeschmückt. Diese bruchstückhafte und distanzierte Art des Erzählens, die »ungleichmäßige Detailliertheit« (Birck, 2002; zit. nach Ottomeyer, 2011a, S. 74), die Gleichzeitigkeit von kleinteiliger, quälender Erinnerung (Hypermnesie) und von Erinnerungslücken (Amnesie; Ottomeyer, 2011a, S. 80) sind typische Merk-

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male von Traumaerzählungen. Das Einflechten detailreicher Schilderungen von Alltagsdingen wie Essen, Wetter etc. bezeichnet Ottomeyer (2011a, S. 75) als »Wirklichkeitskontrollen«. Sie sind ein Versuch, sich inmitten der Schilderung des Unfassbaren Ruheinseln zu schaffen und sich einer unveränderbaren Alltagsrealität zu versichern. Anfal überlebende Frauen verweben in ihren Erzählungen eigene Erinnerungen mit denen ihrer Leidensgenossinnen zu einer kollektiven Leidensgeschichte. Eine der quälendsten Erinnerungen ist die an den Tod zahlreicher Kinder in den Armen ihrer Mütter im berüchtigten Gefängnis von Nugra Salman im Südirak. Die irakischen Soldaten verscharrten die Körper der an Hunger und Erschöpfung gestorbenen Kinder im Sand vor dem Gefängnis; des Nachts mussten die Frauen zusehen, wie wilde Hunde die Körper der Kinder ausgruben und zerfleischten. Dieses traumatische Bild – »unsere Kinder wurden von schwarzen Hunden gefressen« – wird auch von Frauen, die nicht in Nugra Salman inhaftiert waren, mit der Intensität einer eigenen Erfahrung und den damit verbundenen Gefühlen erzählt und weitergetragen. Es ist zur kollektiven Metapher der während Anfal erlittenen Grausamkeiten geworden. Das kollektive Erzählen bietet den einzelnen Frauen die Möglichkeit, ihre Erfahrungen auszusprechen, und gewährt gleichzeitig eine gewisse Anonymität in der Gruppe und Schutz vor der Wucht des Schmerzes und der Trauer angesichts der eigenen individuellen Erfahrung. Es spiegelt, was Judith Herman (2003) das zentrale Dialektik des Traumas nennt: das Oszillieren zwischen dem Wunsch, zu sprechen, und dem Wunsch, zu (ver)schweigen (S. 9). Gerade in den Jahren der Ungewissheit und der provisorischen Lebenssituationen nach der Gewalterfahrung hat das kollektive Narrativ auch eine traumaschützende und tröstende Funktion für die Anfal überlebenden Frauen entfaltet. Erst nach dem Sturz des Baath-Regimes

Traumaerzählungen75

von Saddam Hussein 2003 und der Gewissheit über den Tod ihrer Angehörigen und der politischen und ökonomischen Stabilisierung der kurdischen Region kamen bis dahin tabuisierte individuelle Erinnerungen an die Oberfläche – zum Beispiel Erinnerungen an die sexuelle Gewalt in den Gefängnissen oder an die Beteiligung kurdischer Kollaborateure an den Gewaltexzessen. Dieser Prozess verdeutlicht den kommunikativen Charakter der Erinnerung ebenso wie die enge Verflechtung zwischen der Rekonstruktion traumatischer Erinnerung und dem gesellschaftlichen Umfeld. Heute können viele Frauen ihre individuellen Erfahrungen während Anfal erzählen und sie in ein Leben vor und nach Anfal einbetten. Andere der Frauen verharren hingegen im kollektiven Narrativ. Aus meiner Sicht wäre es wenig hilfreich, die Frauen zu ermutigen oder gar zu drängen, aus dem schützenden kollektiven Narrativ herauszutreten und sich mit ihrer individuellen Erfahrung zu konfrontieren.

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5 Welche Wahrheit? Verstehen, bearbeiten – heilen?

5.1 Ungläubigkeit

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Der beschriebene fragmentarische Charakter von Traumaerzählungen, ihre Sprunghaftigkeit und ihre Widersprüche zu historischen Fakten führen oft zur Ungläubigkeit und zu Zweifeln in Bezug auf den Wahrheitsgehalt der Schilderungen bei den Zuhörern und werden zum Beispiel in behördlichen Befragungen in Asylverfahren oft gegen die Betroffenen verwandt. Immer wieder wurde aus psychotherapeutischer Perspektive darauf hingewiesen, dass widersprüchliche und lückenhafte Erinnerungen von Geflüchteten an traumatische Situationen nicht gegen den Wahrheitsgehalt ihrer Erzählungen sprechen, sondern im Gegenteil ein Zeichen für eine vorliegende Traumadynamik sind. Darauf hingewiesen wurde auch, dass der Zwang zur Rekonstruktion von traumatischen Geschehnissen in einer angstbesetzten behördlichen Situation verstörend, belastend und retraumatisierend auf die Betroffenen wirken kann und ethisch nicht vertretbar ist (Birck, 2002; Groninger, 2006; BAfF, 2006; Rafailovic, 2005; Ottomeyer, 2011a). Aber nicht nur bei Asylbehörden stoßen Menschen mit traumatischen Erfahrungen auf Unglauben. Auch ihr soziales Umfeld reagiert häufig mit Zweifel und Ablehnung. Für ihr Umfeld, sagt Klaus Ottomeyer, sind traumatisierte Menschen eine Zumutung. Sie konfrontieren ihre Gegenüber mit Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten, die sie erschrecken und ihren eigenen Glauben in eine sichere Welt erschüttern (2011a, S. 91). Auch in Gesellschaften,

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die nach Krieg und Gewalt in eine neue Zukunft streben, sind die Opfer lebende Symbole einer belasteten und beängstigenden Vergangenheit. Primo Levi (1986/1995) beschreibt einen wiederkehrenden Albtraum von Gefangenen in Auschwitz: »Sie seien nach Hause zurückgekehrt, erzählten mit Leidenschaft und Erleichterung einer ihnen nahestehenden Person von den vergangenen Leiden und sahen, dass ihnen nicht geglaubt, ja nicht einmal zugehört würde. In der typischsten (und grausamsten) Version wandte sich der Angesprochene ab und ging schweigend weg« (S. 8). Die Ängste von Holocaust-Überlebenden haben sich in der Realität vielfach bestätigt. Während die Betroffenen sich nach empathischen Zuhörern sehnen, begegnet ihnen ihr Umfeld mit Misstrauen, Zweifeln und Vermeidung. Esther Mujawayo, Überlebende des Genozids in Ruanda 1994, beschreibt in ihrem Buch »Ein Leben mehr« (Mujawayo u. Belhaddad, 2005), wie Überlebende, die vom Völkermord erzählen, spüren, dass die Leute ihnen nicht glauben können: »Es ist zu viel. Wie gesagt, für die Zuhörer ist es zu viel, es klingt alles übertrieben.« Die anderen begegnen ihnen mit Misstrauen, weil sie sich die Dimension des Schreckens nicht vorstellen können oder wollen. Am Ende scheint es, »als wolle sogar ich es nicht glauben, weil es zu unvorstellbar ist« (S. 105). Das soziale Meiden von Gewaltopfern kann darüber hinaus in sozialen Neid umschlagen, wenn diese Privilegien wie zum Beispiel Renten oder Entschädigungen erhalten (Ottomeyer, 2011a).

5.2  Zuhören, bezeugen, verstehen Der Psychoanalytiker Dori Laub beschreibt den Verlust der inneren Repräsentanz eines empathischen sozialen Gegenübers als eine der zentralen Erfahrungen von Trauma. Aus

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seiner Arbeit mit Holocaust-Überlebenden unterstreicht er die zentrale Wichtigkeit empathischer Zuhörer für die Betroffenen von Gewalt und Trauma und deren Fähigkeit, die traumatische Erinnerung zu rekonstruieren. Ob in therapeutischen Settings, bei der Aufnahme von Zeitzeugenberichten, bei Interviews mit von Gewalt Betroffenen oder im Gespräch: Wenn wir einem Menschen zuhören, der schwere Gewalt erlebt hat, ist das immer mehr als die Aufnahme einer Erzählung. Immer treten wir als Zuhörende in die Beziehung mit einem tief verletzten Menschen ein, der um die Rekonstruktion seiner Erinnerung kämpft. Immer sind wir auch Zeugen bzw. Zeuginnen, das in der traumatischen Erfahrung verloren gegangene soziale Gegenüber, die Leinwand, auf der die Betroffenen die Narration des Erlebten erst entwickeln und abbilden können (vgl. 1992, S. 57). So ist mit dem Zuhören eine besondere ethische und moralische Verantwortung verbunden. Jedes Gespräch, jedes Interview kann bei den Betroffenen überwältigende Erinnerungen auslösen. Es ist von zentraler Bedeutung, die Grenzen der Erzählenden zu erkennen und zu respektieren. Gleichzeitig sind auch die Zuhörenden mit verstörenden Bildern konfrontiert und teilen bis zu einem gewissen Grade den Schrecken und die Verstörung der Erzählenden. Deshalb ist es ebenso wichtig, dass die Zuhörenden ihre eigenen Grenzen in der Aufnahme von Schreckensbildern erkennen und ihre eigenen Abwehrmechanismen reflektieren: Wo fange ich an, das Erzählte anzuzweifeln und die Erfahrungen meines Gegenübers herunterzuspielen, weil ich sie selbst nicht aushalte? Wo hingegen bin ich so überwältigt von Mitleid, dass ich den Erzählenden in seiner eigenen Wahrnehmung als ohnmächtiges Opfer bestätige? Die Erzählenden haben das Vertrauen in ein gutes soziales Gegenüber verloren. Sie sind in einem inneren Kon-

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flikt zwischen der eigenen Wahrnehmung und der internalisierten selbstentwertenden Täterperspektive (siehe Kapitel 3.3). Empathie, Parteilichkeit, unbedingter Glauben an das von den Betroffenen Geschilderte sind deshalb für die Herstellung von Vertrauen im Gespräch ebenso wichtig wie die Vermeidung jeglichen Zwangs oder sprachlicher Mittel, die an die Sprache und Logik der Täter erinnern. Aber auch eine Überidentifizierung ist zu vermeiden. Bisweilen thematisieren Zuhörende ihren eigenen Schrecken und eine damit verbundene, angenommene eigene Traumatisierung und riskieren damit – abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit einer Traumatisierung durch das Zuhören (siehe Kapitel 6) –, die Erfahrungen der Betroffenen zu trivialisieren und sie zu beleidigen. In Gesprächen mit Opfern von Gewalt geht es nicht um den Abgleich ihrer Schilderung mit historischen Fakten, wie sie in Begutachtungs- oder Verhörsituationen von Asylbehörden abgefragt werden. Die Erinnerung an Gewalterfahrungen hat ihr eigenes Zeitmaß. Teile der Erfahrung sind in der Erinnerung der Betroffenen so gegenwärtig und physisch präsent wie am Tag des Erlebens, andere verschüttet. Die Rekonstruktion der Erinnerung strukturiert sich nicht entlang historischer Fakten, sondern entlang der subjektiven Bedeutung der einzelnen Erinnerungsbilder für die Betroffenen. Es ist wichtig, dass die Zuhörenden mit dem historischen, kulturellen und sozialen Kontext der Betroffenen vertraut sind und das Erzählte einordnen können. Es ist ebenso wichtig, dass sie auf die nonverbale Kommunikation hören, auf körperliche oder gestische Ausdrücke von Wut, Erregung, Schmerz oder Verzweiflung, die auf schmerzliche und unterdrückte Erinnerungen, tabuisierte Themen oder Scham- und Schuldgefühle deuten, dass sie also »szenisch verstehen« (Lorenzer, 1970) und »das Schweigen hören« können (Laub, 1992, S. 60).

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So kann gehört und verstanden werden, was Dori Laub die »subjektive Wahrheit aus dem Inneren der Gewalterfahrung« nennt. Was er damit meint, illustriert er am Bericht einer Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz, die, damals Ende sechzig, ihre Geschichte für das Fortunoff-Videoarchiv für Holocaust-Zeitzeugenberichte an der Universität Yale erzählte. Er beschreibt, wie die Frau angesichts der Katastrophe, über die sie berichtete, ganz in sich zusammengesunken war und nur flüsternd und monoton sprach. Dann aber kam sie zum jüdischen Aufstand in Auschwitz im Herbst 1944. Leidenschaft und Farbe kamen in ihre Erzählung, »sie war ganz da«: »›Plötzlich‹, sagte sie, ›sahen wir vier Schornsteine explodieren und in Flammen aufgehen. Die Flammen schossen in den Himmel. Menschen rannten. Es war unglaublich.‹ Es war eine Stille im Raum, eine Totenstille, in der die eben vernommenen Worte nachhallten, als trügen sie ein Echo der triumphierenden Geräusche, die hinter dem Stacheldraht losbrachen. […] Keine Spur mehr von der tödlichen Zeitlosigkeit von Auschwitz. Ein blendend heller Augenblick der Vergangenheit rauschte durch die gefrorene Stille der verstummten Gräberlandschaft mit der rasenden Geschwindigkeit eines Meteors, der sich bei seinem Einschlag in einem Schauer von Bildern und Geräuschen entlud. Doch der Meteor der Vergangenheit zog weiter. Die Frau verstummte abermals, und der Tumult des Augenblicks verblasste. Sie nahm wieder ihre niedergedrückte Haltung an, und ihre Stimme verfiel abermals in einen ereignislosen, fast monoton klagenden Ton. Die Tore von Auschwitz waren verschlossen, und der Schleier des Vergessens und des Schweigens, ebenso bedrückend wie unterdrückend, hatte sich wieder herabgesenkt. Der Komet der Spannung und Alertheit, die Explosion von Lebendigkeit und Widerstand, verblasste und entschwand in der Ferne« (S. 59, zit. nach Assman, A., 1999, S. 274 f.).

Zuhören, bezeugen, verstehen81

Monate später, so berichtet Dori Laub weiter, ­kamen Forscherinnen und Forscher aus den Bereichen Geschichte, Kunst und Psychoanalyse auf einer Konferenz zusammen und sahen gemeinsam den Zeitzeugenbericht der Frau an. Eine heftige Debatte entwickelte sich. Die Historiker und Historikerinnen sagten, der Bericht sei nicht korrekt; nicht vier, sondern nur ein Schornstein sei in Auschwitz explodiert. Da somit die Erinnerungsfähigkeit der Frau an diesem Punkt fehlerhaft sei, könne man dem gesamten Bericht keinen Glauben schenken. Absolute Korrektheit sei von enormer Wichtigkeit, sonst würden die Revisionisten in der historischen Debatte alles in Frage stellen. Ein Psychoanalytiker (hierbei handelte es sich um Dori Laub selbst) widersprach: »›Was die Frau bezeugte‹, so insistierte er, ›war nicht die Anzahl der in die Luft gesprengten Schornsteine, sondern etwas Anderes, Radikaleres, Zentraleres: Die Wirklichkeit eines unvorstellbaren Ereignisses. Ein Schornstein, der in Auschwitz in die Luft gesprengt wurde, war ebenso unglaublich wie vier. Die Zahl war weniger wichtig als der Vorfall selbst. Das Ereignis in sich war fast unvorstellbar. Die Frau bezeugte auf ihre Weise ein Ereignis, das den alles zwingenden Rahmen von Auschwitz gesprengt hat, wo bewaffnete Aufstände von Juden eben nicht vorkamen und keinen Ort hatten. Sie bezeugte den Bruch dieses Rahmens. Und das war historische Wahrheit‹« (S. 275). Es ist diese »subjektive Wahrheit aus dem Inneren der Gewalterfahrung«, um die es in Gesprächen mit Betroffenen und bei der Rekonstruktion ihrer Erinnerung geht. Es handelt sich um eine Geschichte, die sich nicht an Fakten, sondern an der subjektiven Bedeutung für die Betroffenen orientiert, daran, was für sie erzählbar und hilfreich ist. Immer sind es die Betroffenen selbst, die entscheiden, ob und was sie erzählen wollen und wie viel sie aushalten können.

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Welche Wahrheit? Verstehen, bearbeiten – heilen?

5.3 Speaking out: Die traumatische Erfahrung durcharbeiten – Notwendigkeit oder Dogma?

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Auch im psychotherapeutischen Gespräch und Setting geht es in den meisten Therapieschulen zuallererst um die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Therapeuten bzw. Therapeutinnen und Betroffenen sowie um eine Ressourcenstärkung, um den vom Trauma Betroffenen Vertrauen, Sicherheit und Kraft für die Bearbeitung der Gewalterfahrungen zu geben. Des Weiteren wird in vielen Therapieansätzen die Rekonstruktion der fragmentierten traumatischen Erinnerung, die Überführung der einzelnen Bruchstücke und quälenden Bilder in eine zusammenhängende, erzählbare und Sinn machende Geschichte und damit die Integration der traumatischen Erfahrung in die eigene Lebensgeschichte als ein entscheidender Schritt für die Betroffenen gesehen, die gewaltvolle Erfahrung zu bewältigen (Herman, 2003). In der psychoanalytischen Schule wird das Durcharbeiten der traumatischen Erfahrung als kathartisch, als reinigend und heilend, betrachtet. Die skizzierten Expositionstherapien wie NET fokussieren auf die wiederholte Konfrontation mit dem traumatischen Geschehen als therapeutisches Mittel. Jenseits der narrativen Ebene zielen kunst- und gestalttherapeutische oder Psychodrama-Ansätze auf bildliche und bildgebende Bearbeitung des traumatischen Geschehens. Und auch auf der sozialen Ebene gilt das Durchbrechen der gesellschaftlichen Tabuisierung von traumatischen Erfahrungen – das »Speaking out« – gemeinhin als heilsamer Schritt für den Einzelnen. Wieder ist Vorsicht geboten, das Erinnern der traumatischen Situation, die Konfrontation mit ihr und das Sprechen über sie als Dogma anzusehen. Reddemann und ­Sachsse (1997) unterstreichen die schützenden Aspekte des Schweigens und der Dissoziation von Traumaerlebnis-

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sen und wenden sich gegen deren Pathologisierung und das Dogma des Durcharbeitens. Dori Laub (1992) interpretiert die Dissoziation nicht so sehr als passives Versagen der Erinnerung, sondern als aktive Weigerung, das Erlebte wahrzunehmen, zu repräsentieren und zu bearbeiten. Auch Ottomeyer (2011a, S. 33) warnt davor, traumatische Bilder zu schnell und zu nah an die Betroffenen heranzulassen, »die notwendige ›Schutzmauer‹ und Distanz zwischen Traumabildern und PatientIn« zu vernachlässigen und so deren Überflutung mit traumatischen Bildern, ein »Wiedererleben von schrecklichen Ängsten und eine Retraumatisierung« zu riskieren. Aus seiner therapeutischen Praxis berichtet er über gute Erfahrungen mit der Verlagerung des Traumageschehens auf imaginäre Bühnen, zum Beispiel über psychodramatische Leinwandtechniken, die Arbeit mit dem »inneren Kind«, für das der heute Erwachsene sorgt, oder die Arbeit mit verschiedenen EgoStates. Dabei tritt das heute in Sicherheit lebende Ich in Kontakt mit dem während des Traumas verletzten Ich und entlastet es.

5.4 »Heilen«, entlasten oder leben mit dem Trauma? Der Blick auf Überlebende von Krieg, Gewalt und Flucht durch die Traumabrille und insbesondere aus der Perspektive von Traumakonzepten, die die traumatische Dynamik in erster Linie als pathologisch definieren, impliziert immer auch die Vorstellung, dass das Trauma »bewältigt«, »überwunden« oder gar »geheilt« werden könne. Gerade im Kontext massenhafter extremer Gewalt aber mutet der schiere Gedanke, eine Überlebende des Genozids in Ruanda könne die traumatische Erinnerung an die brutale Ermordung von 800.000 Menschen »abschließen«, oder ein Geflüchteter, der der Hölle des Krieges in Syrien

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entkommen und dessen Familie vielleicht noch dort ist, könne sein Trauma »überwinden«, bizarr an. Anfal überlebende Frauen in Kurdistan-Irak leiden alle unter Phänomenen, die nach gängiger Traumadiagnostik als traumatisch definiert würden: Schlaflosigkeit, Albträume, Erregungszustände, Flashbacks und immer wiederkehrende Einbrüche tiefster unauflösbarer Trauer. Aber keine von ihnen definiert ihr Leid in psychologischen Kategorien oder als Störung. Stattdessen halten sie Albträume und Trauereinbrüche für normale Reaktionen auf die Grausamkeiten und Verluste, die sie erleiden mussten. Eine der Frauen sagte einmal zu mir: »Wenn du wüsstest, dass dein Mann irgendwo von einem Bagger im Sand verscharrt wurde, hättest du dann keine Albträume? Das wäre nicht normal« (Mlodoch, 2015, S. 422). Das soll nun keineswegs heißen, dass die Frauen nicht entlastende Unterstützung benötigen und annehmen würden. Wohl aber empfinden sie Ideen von »Abschluss«, »Überwindung« oder »Heilung« ihres Leids als Affront und Zumutung. Insbesondere reagieren viele von ihnen ablehnend auf individuelle Therapieangebote, die sie herauslösen würden aus ihrem kollektiven Zusammenhang, der sich für sie als wichtigste stärkende und tröstende Ressource erwiesen hat. So wie einige der argentinischen Mütter von der Plaza de Mayo bis heute den Abschluss der Suche nach ihren Kindern als Verrat und Komplizität mit den Tätern ablehnen, so empfinden auch viele AnfalFrauen die Idee von »Abschluss« als Verrat an den Toten, aber auch an ihrer eigenen Geschichte und Erfahrung als Überlebende. Ihre Trauereinbrüche an jedem Jahrestag der Anfal-Operation, bei jeder neuen Beisetzung von aus Massengräbern zurückgeführten Toten, ist leidvoll, hält aber auch die Verbindung zu ihren Liebsten aufrecht und die Erinnerung an sie wach. Ihr Trauma ist auch ein Identitätsmarker. Sie wollen nicht abschließen, sondern mit der

»Heilen«, entlasten oder leben mit dem Trauma? 85

aktiven Erinnerung neue Lebensperspektiven entwickeln. Heute fordern sie keine therapeutischen Hilfen, sondern politische und soziale Anerkennung ihres Leids, Renten, Entschädigungen, strafrechtliche Verfolgung der Täter und engagieren sich für Gedenkstätten, die die Erinnerung an die Toten und an ihre eigenen Leiderfahrungen bezeugen und für die Nachwelt wachhalten. Über ganz ähnliche Prozesse berichtet Esther Mujawayo (Haukari Sonntags­salon, 2013) aus Ruanda: über die kollektiven Strukturen von ruandischen Frauen, die sich nach dem Genozid gegenseitig versicherten, nicht verrückt zu sein, ihr Überleben organisierten und sich heute für Versöhnung, Geschlechter­ gerechtigkeit und gegen Gewalt engagieren. An dieser Stelle sei noch einmal betont: Keineswegs möchte ich mit meinen Ausführungen die Wirksamkeit von psychotherapeutischen Hilfen für Menschen mit komplexen traumatischen Erfahrungen anzweifeln oder deren Wichtigkeit schmälern. Einzel- und Gruppenpsychotherapie kann Menschen, die nach traumatischen Erfahrungen unter akuten Angstzuständen und suizidalen Krisen leiden, auffangen. Sie kann mit imaginativen und kognitiven Übungen quälende Schlafstörungen lindern, ihnen helfen, mit ihren Albträumen und Flashbacks umzugehen und ihre Ressourcen für die Bewältigung des Alltags stärken. Klaus Ottomeyer (2011a) beschreibt an Therapiebeispielen mit Geflüchteten aus Kriegs- und Konfliktregionen, wie eine jeweils individuell auf die Betroffenen zugeschnittene empathische und kulturell sensible Kombination aus einer Stabilisierung von Alltagsabläufen, imaginativen Entspannungsübungen und einer behutsamen Annäherung an das Traumageschehen mithilfe von psychodramatischen Methoden oder auch Werkzeugen wie EMDR Entlastung und Erleichterung schafft. Wohl aber verweisen die in diesem Band aufgeführten Beispiele auf die Grenzen individueller Traumatherapien

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Welche Wahrheit? Verstehen, bearbeiten – heilen?

und vor allem auf die Grenzen damit verbundener Vorstellungen von »Heilung«. Sie unterstreichen die gebotene Vorsicht und Behutsamkeit bei individualtherapeutischen Angeboten inmitten von Krieg und Massengewalt und in ungesicherten Fluchtsituationen. Damit verdeutlichen sie erneut die Wichtigkeit sozial und kulturell kontextualisierter Traumaansätze und Hilfsangebote.

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6 Überlegungen zur Übertragung von Traumata und dem Begriff des »kollektiven Traumas«

6.1 Ist Trauma »ansteckend«? Belastungen für Helferinnen und Helfer Allgemein gesprochen sind Emotionen ansteckend. Menschen reagieren auf die Gefühle anderer Menschen mit Empathie und eigenen Gefühlen. Aus der Neurowissenschaft wissen wir inzwischen, dass dafür die so genannten Spiegelneuronen in unserem Großhirn verantwortlich sind. Menschen, die Zeugen bzw. Zeuginnen traumatischer Ereignisse werden, die als Rettungspersonal in Katastrophenfällen oder an Unglücksstellen Hilfe leisten sowie diejenigen, die ehrenamtlich oder professionell mit Menschen arbeiten, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, leiden oft selbst unter schweren seelischen Belastungen. Diese Belastungen werden in der psychologischen Debatte und der medialen Öffentlichkeit häufig unter die Diagnose sekundäre Traumatisierung, indirekte Traumatisierung oder auch sekundäre traumatische Belastungsstörung (STSD) gefasst. Tatsächlich wird im Diagnosemanual für PTSD die Möglichkeit der indirekten Auslösung einer posttraumatischen Belastungsstörung explizit aufgeführt. Diese störungsorientierte und pathologisierende Begrifflichkeit suggeriert quasi eine Übertragung des Traumas von den Betroffenen auf die Unterstützer und birgt die Gefahr, die quälende Intensität des Erlebens der Betroffenen zu verharmlosen. In Medienberichten über Amokläufe oder Unglücksfälle wird heutzutage die Notfallseelsorge für Überlebende und Retter in einem Atemzug genannt. Nicht selten diagnostizieren sich Fachkräfte

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Überlegungen zur Übertragung von Traumata

durch das bloße Anhören von traumatischen Erfahrungen selbst als traumatisiert. Tatsächlich sind Menschen, die mit dem Trauma anderer in Berührung kommen, mit schrecklichen und unerträglichen Bildern konfrontiert, die sie verfolgen. Sie erleben das Leid der Betroffenen bis zu einem gewissen Grade mit. Ihr eigenes Weltbild, ihr eigener Glaube in eine gerechte Welt werden durch das Gehörte erschüttert. Dazu kommt, wie bereits erläutert, dass der Umgang mit einem Menschen mit schweren traumatischen Erfahrungen immer der Eintritt in ein komplexes Beziehungsgeschehen ist. Im Kontakt mit dem traumatischen Erleben des anderen werden bei uns selbst bewusste und unbewusste Trauerprozesse und eigene belastende Erinnerungen wach. In der psychoanalytischen Begrifflichkeit handelt es sich hierbei um die Mechanismen der Übertragung und Gegenübertragung: Klienten und Klientinnen übertragen ihre unbewussten Erinnerungen und Beziehungsmuster in die therapeutische Beziehung und reinszenieren Geschehenes in dieser Beziehung. Umgekehrt übertragen Therapeuten und Therapeutinnen eigene unbewusste Erfahrungen, Erwartungen etc. in die Beziehung zu den Klienten und Klientinnen. Heute sehen Psychoanalytiker diese Mechanismen nicht mehr als Störfaktor in der therapeutischen Beziehung, sondern nutzen sie aktiv, um Unbewusstes und Verschüttetes sichtbar zu machen. In der Literatur zu den Belastungen von Helferinnen und Helfern gibt es eine intensive Debatte darüber, ob deren mögliche eigene traumatische Erfahrungen die Belastungen erhöhen oder umgekehrt sich gerade Menschen, die selbst traumatische Erfahrungen gemacht haben, hingezogen fühlen zu therapeutischen und sozialen Berufen und größere Empathiefähigkeit bzw. Vertrauen in die Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen zeigen. Jenseits dieses komplexen Beziehungsgeschehens leiden Helferinnen und Helfer vor allem unter dem Gefühl

Ist Trauma »ansteckend«?89

der Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts des Schreckens und des Leids ihres Gegenübers – unter einer Hilflosigkeit, die zum Beispiel im Kontext der Arbeit mit Geflüchteten noch durch die strukturellen und institutionellen Grenzen der Hilfe verstärkt wird. In zahllosen Fallbeschreibungen und Berichten von Therapeuten und Therapeutinnen und psychosozialen Beratungsstellen (siehe z. B. Ottomeyer, 2011a; BAfF, 2006) wird geschildert, wie Fortschritte in Therapien oder sozialer Arbeit mit Geflüchteten von retraumatisierenden Konflikten in menschenunwürdigen Notunterkünften, unempathischen behördlichen Verhören oder drohenden Abschiebungen zunichte gemacht werden. Hier wird auch deutlich, wie eine immense politische und gesellschaftliche Herausforderung angesichts fehlender politischer Antworten auf die Ebene ehrenamtlicher und professioneller Sozialarbeit abgewälzt wird und sich hier in Selbstaufopferung und Überforderung Einzelner übersetzt. Angesichts unzureichender finanzieller Ausstattung, Arbeitsstress und Unterbezahlung in professionellen Institutionen führt dies darüber hinaus auch zu Konflikten innerhalb von Hilfsstrukturen, in Helferinnen- und Therapeutenteams. Die Überlastung der einzelnen Helfer durch die Verflechtung der individuellen, institutionellen und strukturellen Faktoren beschreibt Charles Figley (1995) in Abgrenzung zu pathologischen Bildern wie Sekundärtraumatisierung als »compassion fatigue« – »Mitgefühlserschöpfung« oder auch »Mitleidensmüdigkeit«. Hier fällt die Abgrenzung zum in sozialen Berufen weit verbreiteten Burn-out schwer. Aus den spezifischen Erfahrungen in der Traumaarbeit hat der Traumatherapeut und langjährige Leiter des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer Christian Pross in seinem Buch »Verletzte Helfer« (2009) die Gesamtheit individueller und gesellschaftlicher Faktoren bei der Be- und Überlastung von Helferinnen und Helfern geschildert. Da-

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Überlegungen zur Übertragung von Traumata

bei hat er das Augenmerk auf die dringende Notwendigkeit von entlastenden Gegenmaßnahmen gelenkt: von individueller Ressourcenstärkung, Selbstfürsorge, Achtsamkeit und Akzeptanz der eigenen Grenzen bei der Aufnahme traumatischer Bilder über die Verbesserung von Arbeitsbedingungen bis hin zur gesellschaftlichen und politischen Anerkennung der Arbeit mit Traumabetroffenen.

6.2 Transgenerationale Weitergabe von traumatischen Erfahrungen

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Es gibt eine Fülle von Forschung über die Dynamiken und Mechanismen der transgenerationalen »Weitergabe« von traumatischen Erfahrungen, insbesondere zu den Auswirkungen der Holocaust-Erfahrungen auf die Nachkommen von Opfern und Tätern (u. a. Bergmann et al., 1995; Bar-On, 1995; Bohleber, 1996). Dabei zeigt die Literatur, dass auch hier der Begriff »Weitergabe von Traumata« irreführend ist. Es bleibt ein substanzieller Unterschied zwischen der Leidenserfahrung der Opfer selbst und deren Repräsentation in ihren Nachkommen. Es sind vor allem der Umgang und die Bewältigungsstrategien der Eltern, die sich auf ihre Beziehung zu und Kommunikation mit den Kindern und damit auch auf deren Entwicklung auswirken. Daher unterscheidet Ilany Kogan (1998) reales Trauma von »vermitteltem Trauma« und Grubrich-Simitis (1979) spricht von der »Verwandlung der Extremtraumatisierung in ein kumulatives Trauma« (nach Khan, 1963/1974) in der zweiten Generation. So kann das als Schutz der Kinder verstandene Schweigen von Holocaust-Überlebenden über ihre Erfahrungen bei den Kindern zu belastenden Phantasien und Reinszenierungen führen (Fischer u. Riedesser, 2009). Eltern hingegen, die ihre Erfahrungen extensiv erzählen, machen damit die Kinder oft zum Auditorium ihrer eigenen Gewalterfahrung (Trossmann, 1968, nach Wutti, 2013). Boh-

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leber (1996) beschreibt den Prozess der Identifizierung von Kindern mit der Erfahrung ihrer Eltern als den zentralen Mechanismus der Übertragung zwischen Generationen und Moré (2006) das Weiterwirken von unbearbeiteten Teilen der elterlichen Erfahrung in den Kindern als rätselhafte und ambivalente »Gefühlserbschaften«. Am Beispiel der Kärntner Sloweninnen und Slowenen beschreibt Wutti (2013) die starken »generationsübergreifenden Bänder«, die Präsenz der Verfolgungserfahrung in der zweiten und dritten Generation und deren Ambivalenz zwischen Identifikation mit und Verpflichtung gegenüber dem Schicksal ihrer Eltern bzw. Großeltern einerseits und dem Wunsch nach Befreiung von der Belastung andererseits. Meine eigenen Untersuchungen zu Söhnen und Töchtern von Anfal überlebenden Frauen in Kurdistan-Irak zeigen, wie die gemeinsam geteilten traumatischen Erfahrungen in früher Kindheit, das Leben in Ungewissheit und extremer Not nach Anfal und die gemeinsam erfahrene soziale Marginalisierung und Stigmatisierung zu oft symbiotischen Beziehungen mit ihren Müttern führen. Die Aneignung der traumatischen Bilder ihrer Mütter und die Identifikation mit deren Leid übersetzen sich in den Auftrag und die Verpflichtung zur Unterstützung der Mütter und zum »Wachhalten« der Vergangenheit. Eigene Lebenspläne werden dieser Verpflichtung untergeordnet.

6.3 Kann ein Kollektiv leiden? Konzeptionelle Ansätze zu kollektivem Trauma Im Kontext von Erfahrungen von Massengewalt, zum Beispiel in Kriegs- und Konfliktsituationen oder angesichts von Naturkatastrophen, hat in der Psychologie, den Sozialund Kulturwissenschaften und sogar in der historischen Forschung der Begriff des »kollektiven Traumas« Einzug gehalten. Auf den ersten Blick erscheint es einleuchtend,

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Überlegungen zur Übertragung von Traumata

dass traumatische Erfahrungen, die von einer Gruppe von Menschen geteilt werden, analog zur individuellen traumatischen Wirkung auch eine traumatische Wirkung auf eine Gruppe haben. Tatsächlich aber sind die Konzepte zum Verständnis der Übertragung von individuellen Traumadynamiken auf soziale Strukturen, Gesellschaften oder sogar Nationen bislang eher unscharf. Sigmund Freud versuchte in seinen Werken »Das Unbehagen in der Kultur« (1930) und »Moses und der Monotheismus« (1939) aus psychoanalytischer Perspektive, individuelle psychologische Prozesse auf gesellschaftliche Dynamiken und kulturelle Praktiken zu übertragen oder andersherum die Entwicklung spezifischer kultureller Kontexte und gesellschaftlicher Ordnungen anhand psychoanalytischer Konzepte von Trauma und Neurosen zu beschreiben. Er selbst betrachtete seine diesbezüglichen Ausführungen als »spekulativ« (Bloom, zit. nach Windt, 2006), inspirierte aber damit spätere Arbeiten, wie zum Beispiel die psychoanalytische Untersuchung der deutschen Nachkriegsgesellschaft von Alexander und Margarete Mitscherlich (1967). Dabei bezieht sich die in deren Titel benannte »Unfähigkeit zu trauern« nicht etwa auf die Trauer um die Opfer des Nationalsozialismus, sondern auf die verdrängte und unterdrückte Trauer der Deutschen um den Verlust der Führerfigur und der eigenen Siegesideale. Ethnopsychoanalytiker wie Paul Parin, Goldy ParinMatthèy, Fritz Morgenthaler (1963, 1971) und Mario Erdheim (1982) nutzten psychoanalytische Kategorien für kulturvergleichende sozialwissenschaftliche Forschungen und interpretierten Kultur als »das Unbewusste der Gesellschaft«. Ihre Arbeiten sind aus heutiger Sicht und angesichts der breiten Debatte um interkulturellen Dialog faszinierende kulturkritische Werke. Aber auch sie geben wenig Aufschluss darüber, wie individuelle Prozesse auf die kollektive Ebene transferiert werden.

Kann ein Kollektiv leiden?93

Der US-amerikanische Soziologie Jeffrey Alexander, ein Vertreter der sozial-konstruktivistischen Perspektive, entwickelte das Konzept des »kulturellen Traumas« und beförderte damit den Vorstoß des Traumakonzepts in die Kultur- und Literaturwissenschaften. Kulturelles Trauma, so sagt er, liege dann vor, wenn eine Gemeinschaft das »Gefühl hat, eine schreckliche Erfahrung durchlaufen zu haben, die unauslöschliche Spuren in ihrem kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat, die ihre Erinnerung für immer bestimmen und ihre zukünftige Identität fundamental und unwiderruflich verändern wird« (Alexander, Eyerman, Giesen, Smelser u. Sztompka, 2004, S. 1). In Alexanders Konzept ist dabei Trauma weniger eine unmittelbare Erfahrung als vielmehr eine soziale Konstruktion, ein Akt, in dem eine Gemeinschaft »entscheidet«, dass eine bestimmte Erfahrung für ihre kollektive Identität relevant ist und auf dieser Grundlage eine kulturelle Traumaerzählung entwickelt. Andere Forschungen beschäftigen sich damit, wie traumatische Erinnerungen und Erzählungen von Gruppen, Gesellschaften und Nationen im Prozess der Identitätsfindung genutzt werden. Der Historiker Dominick LaCapra (2001) verbindet historische Forschung und psychoanalytische Elemente und zeigt, wie das Holocaust-Trauma zum konstituierenden Element der Staatsgründung Israels wurde und Israel und die Palästinenser ihren Konflikt mit machtvollen Bezügen zu jeweils identitätsbildenden, historisch kontrastierenden Traumanarrativen unterlegen. Und der türkisch-zypriotische Psychoanalytiker Vamik Volkan (2006) hat die Nutzung oder besser den Missbrauch von traumatischen Erfahrungen für politische und nationale Ziele untersucht und dabei den Begriff des »gewählten Traumas« geprägt. Er gibt das Beispiel des ehemaligen Präsidenten Serbiens, Slobodan Milosevic, der 1989 den Bezug zur serbischen Niederlage gegen das Osmanische

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Überlegungen zur Übertragung von Traumata

Reich auf dem sogenannten Amselfeld im Jahr 1389, also 600 Jahre zuvor, zur Einstimmung der serbischen Bevölkerung auf die bevorstehenden Jugoslawien-Kriege benutzte. Volkan zeigt an diesem Beispiel, wie traumatische Erfahrungen und deren emotionale Repräsentation noch Jahrhunderte nach ihrem Geschehen und völlig unabhängig von der konkreten Erfahrung für politische und nationalistische Ziele mobilisiert werden können. In ihrem Buch »Trauma und kollektives Gedächtnis« hat die Sozialpsychologin Angela Kühner (2008; siehe auch Kühner, 2002) unterschiedliche Zugänge und Perspektiven auf das Konzept des »kollektiven Traumas« untersucht und dabei die psychologische Traumaforschung ebenso berücksichtigt wie interdisziplinäre Forschungen zu Gedächtnis, Erinnerung und Identität. Sie plädiert für eine scharfe begriffliche Trennung zwischen dem wirklich erlebten Trauma und seinen sozialen, kulturellen, literarischen und politischen Darstellungen und Repräsentationen und schlägt die Nutzung von Begriffen wie »kollektiv kommuniziertes Trauma« oder »symbolisch vermitteltes Trauma« statt des unscharfen Konzepts des kollektiven Traumas vor.

7 Die politische und soziale Dimension von Trauma

Während die Kategorie des »kollektiven Traumas« also unscharf bleibt, ist Trauma neben der individuellen Erfahrung immer auch eine soziale und politische Erfahrung. Die Gewalterfahrung selbst ist oft verbunden mit einschneidenden Veränderungen in der Lebensrealität der Opfer. Sie verlieren ihre Jobs und ihre Arbeitsfähigkeit, Familien ihre Oberhäupter und Versorger. In Situationen von Krieg und Massengewalt ist die Gewalterfahrung des Einzelnen verbunden mit der Zerstörung sozialer Strukturen und ökonomischer Lebensgrundlagen. Geflüchtete Menschen verlieren ihr Hab und Gut, ihre Heimat und damit ihr gesamtes soziales Bezugssystem, ihre Berufe und ihre damit verbundene gesellschaftliche Stellung und Anerkennung. Überlebende schwerer Gewalt leben nach ihrer Gewalterfahrung oft in sozialer Isolation. Dies hat zum einen mit ihrem individuellen Erleben zu tun, mit dem Gefühl, aus dem Lebensfluss gerissen, vom sozialen Gewebe und »den anderen« abgeschnitten und »anders« als die anderen zu sein. Die innere Isolation wird oft durch soziales oder politisch bedingtes Schweigen verstärkt, wenn zum Beispiel der Aggressor, der die Gewalt zugefügt hat, weiter Macht und Einfluss hat oder die Gewalterfahrung selbst tabuisiert ist. Auch die sozialen Tabus, die in vielen, vor allem traditionellen und konservativen Gesellschaften – aber nicht nur hier – über von Frauen (und Männern) erlittener sexueller Gewalt liegen und sie in Schweigen hüllen, verlängern das Leid der Betroffenen. Eine Fülle psychologischer und sozialwissenschaftlicher Forschungen bestätigt die Interdependenz zwischen

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Die politische und soziale Dimension von Trauma

den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten von traumatischen Erfahrungen und den sozioökonomischen und politischen Bedingungen, die die Betroffenen vorfinden. Während soziales Schweigen und Tabuisierung der Gewalterfahrungen den inneren psychologischen Stress der Betroffenen erhöhen, können, wie in Kapitel 5.2 beschrieben, empathische Zuhörer, liebevolle Familienbande und soziale Unterstützung hilfreich sein. Beispiele aus Chile, Argentinien, Südafrika und dem Irak zeigen, wie Straf­ losigkeit für die Täter das Leid der Opfer, ihren Stress, ihre Rast- und Ruhelosigkeit und ihre Ohnmachtsgefühle verlängern und Rachephantasien befördern. Die strafrechtliche Verfolgung von Tätern ist hingegen für die Opfer mit Erleichterung, Genugtuung und Entlastung verbunden und hilft ihnen, verloren gegangenes Welt- und Selbstvertrauen und den Glauben in eine gerechte Welt wiederzuerlangen (Kordon et al., 1988; Hamber, 2009; Schmolze u. Rauchfuss, 2009, Mlodoch, 2015). Ausbleibende gesellschaftliche und staatliche Unterstützung für Opfer von Gewalt fügt dem Leid der Betroffenen Bitterkeit, Enttäuschung und Wut hinzu und verlängert ihre Ohnmachtsgefühle und soziale Isolation. Renten, Entschädigungen und finanzielle Unterstützungen von Opfern sind hingegen immer mehr als ökonomische Lebenshilfen, repräsentieren politische und soziale Anerkennung des Erlittenen und helfen ihnen bei der Reintegration in die Gegenwart. Auch Gedenkstätten, Erinnerungszeremonien und Denkmäler stellen den Opfern Orte der Trauer zur Verfügung und helfen ihnen, zur Ruhe zu kommen (Preitler, 2006). Hamber und Wilson (2002) schreiben diesen Orten die Funktion »symbolischer Abschlüsse« zu. Sie sind von besonderer Bedeutung für Angehörige von Verschwundenen, deren Trauerprozess unabschließbar ist. Das bereits genannte Beispiel argentinischer Mütter, die solche symbolischen Abschlüsse

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als Verrat an den Verschwundenen begreifen, zeigt aber auch die Ambivalenz derartiger offizieller Abschlüsse und verweist auf die Spannung zwischen politisch-institutionellen Aufarbeitungsprozessen und individuellen Traumaprozessen. Der Widerspruch zwischen den Wünschen und Forderungen der Opfer von Gewalt nach Bestrafung der Täter, nach Gerechtigkeit, Entschädigung und Anerkennung ihrer spezifischen Gewalterfahrung auf der einen Seite und den Erfordernissen einer politischen Aussöhnung zwischen Opfern, Tätern und verschiedene Konfliktparteien auf nationaler und gesamtgesellschaftlicher Ebene auf der anderen Seite ist allen Gesellschaften nach massiven Gewalterfahrungen inhärent. Selbst die häufig als politische Erfolgsgeschichte beschriebene Wahrheitskommission in Südafrika konnte der Wut und Trauer der Opfer der Apartheid keinen adäquaten Raum bieten und ließ ihr Bedürfnis nach Bestrafung der Täter und individueller Wahrheitsfindung unbefriedigt (Merk, Schleicher u. Robins, 1998; Hamber, 2009). Während auf politischer Ebene die Ziele des sozialen Friedens und der Stabilität eine Balance zwischen Erinnern und Vergessen und den verschiedenen konfliktiven Diskursen von Opfer- und Tätergruppen erfordern, haben die Opfer von Gewalt keine Alternative zur Erinnerung. Auf politischer Ebene ausgegebene normative Terminologien wie »zum Abschluss kommen«, »Versöhnung« oder auch der von der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission ausgegebene Zielspruch: »die Nation heilen«, können Opfer von Gewalt unter Druck setzen (Hamber u. Wilson, 2002). Sie kämpfen ein Leben lang mit Trauer und traumatischen Erinnerungen und können nur selbst bestimmen, wann sie zu Versöhnung oder auch nur zur Koexistenz mit Tätern bereit sind (Hamber u. Wilson, 2002; Bloomfield, 2006; Hamber, 2009). Jenseits von politisch-institutionellen Aufarbeitungsprozessen brauchen

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sie soziale Räume, in denen sie ihre Trauer und Erinnerungen zum Ausdruck bringen können, und zwar ohne Druck, zum »Abschluss« zu kommen. Am Beispiel der Anfal überlebenden Frauen in Kurdistan-Irak möchte ich zum Abschluss dieses Kapitels noch einmal die enge Verflechtung zwischen individueller Traumabarbeitung auf der einen Seite und ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen und Diskursen auf der anderen Seite verdeutlichen. Nach den schweren Gewalt- und Verlusterfahrungen während der Anfal-Operationen 1988 lebten die Frauen 15 Jahre lang in Ungewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen. Sie lebten unter politisch ungesicherten Bedingungen und in extremer Armut, waren als alleinstehende Frauen marginalisiert und kontrolliert von einem patriarchalen traditionellen Umfeld und ohne Unterstützung seitens Politik und Gesellschaft. All diese Faktoren verlängerten ihr psychisches Leid und hielten sie in einem Zustand von permanentem Stress. Sie waren im Warten gefangen und blockiert in der Entwicklung neuer Lebensperspektiven, nur getröstet und gestärkt von ihrem kollektiven Zusammenhang und ihren Kindern. Erst mit dem Sturz des Baath-Regimes 2003 erhielten sie Gewissheit über den Tod ihrer Liebsten; die Hauptverantwortlichen für die Anfal-Operationen wurden vom Obersten Irakischen Gerichtshof verurteilt und hingerichtet. »Jetzt, wo mein ärgster Feind seine Strafe bekommen hat, jetzt bin ich ruhig, jetzt kann ich mich ausruhen«, sagte eine von ihnen 2006 (Mlodoch, 2015, S. 367). Mit der politischen und ökonomischen Stabilisierung der kurdischen Region verbesserten sich ihre Lebensbedingungen, sie erhielten Renten und Häuser, ihre inzwischen erwachsenen Kinder gründeten eigene Familien und gaben ihren Müttern ein lebendiges familiäres Umfeld zurück. Diese ökonomischen, politischen und sozialen Veränderungen

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hatten eine tiefgreifende Wirkung auf die psychische Situation der Anfal überlebenden Frauen. Sie traten heraus aus ihrer Starre und ihrem Wartezustand; zum Leid gesellte sich der Stolz, überlebt und ihre Kinder großgezogen zu haben. Heute rekonstruieren sie gemeinsam mit ihren Kindern die familiären und sozialen Strukturen in ihrer Region und tragen ihre Forderungen nach Bestrafung weiterer Täter, nach Entschädigung und politischer Anerkennung in die öffentliche Debatte. Damit geraten sie aber auch in Konflikt zum herrschenden politischen Diskurs in der kurdisch-irakischen Region, der überlebenden Frauen die Rolle als passive Opfer und nationale Trauersymbole zuweist und sie von der politischen Debatte um Aufarbeitung weitgehend ausschließt. In diesem Kontext engagieren sich heute hunderte Anfal überlebende Frauen für eine selbst gestaltete und verwaltete Gedenkstätte. Sie soll ihre spezifische Erfahrung als Frauen während und nach den Anfal-Operationen repräsentieren, dem herrschenden Opferdiskurs ihre eigenen Narrative entgegensetzen und ihren Weg von Opfern zu Überlebenden dokumentieren: ein Projekt, das jenseits individualtherapeutischer Hilfen ihre wichtigste Ressource, ihren kollektiven Zusammenhalt, stärkt und psychosoziale Selbsthilfe mit Empowerment verbindet. In solch komplexen Geschehen ist es natürlich schwierig, den Einfluss von psychosozialer Arbeit und Unterstützung aufzuzeigen. Während Vertreter experimenteller Kurzzeitverfahren deren Wirksamkeit mit standardisierten Testverfahren und Messungen von Erregungszuständen vor und nach der Intervention untermauern, ist es weit schwieriger, die Wirksamkeit kontextualisierter, politischer Traumaarbeit zu belegen. Hier sind dringend mehr Forschung und Langzeitstudien nötig, die die komplexen Wechselwirkungen von psychologischer Unterstützung, politisch-menschenrechtlichem Engagement und äußeren

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Faktoren auf die Traumabewältigung aufzeigen. Im deutschen Kontext führen Arianne Brenssell und Anna Hartmann (2017) seit 2014 ein mehrjähriges Forschungsprojekt im Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe durch, das den Ansatz parteilicher und kontextualisierter Traumaarbeit gegen Gewalt an Frauen und deren Wirkung explizieren soll.

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8  Flucht und Trauma

8.1 Traumatische Sequenzen: Erfahrungen von Geflüchteten Was bedeutet nun ein sozial und politisch kontextualisiertes Verständnis von Trauma für die Begegnung und Arbeit mit Geflüchteten? Es bedeutet zunächst einmal einen kritischen Blick auf die zurzeit gängige massenhafte Diagnose von Geflüchteten als »traumatisiert« und den damit verbundenen boomenden Therapieangeboten unterschiedlichster Couleur, bis hin zu Vorschlägen, »große Populationen« von Geflüchteten mithilfe von Laienberaterinnen und -beratern per Kurzzeittherapie zu behandeln (­Elbert et al., 2016). Solche Massendiagnosen und -rezepte fügen den ohnehin grassierenden Generalisierungen von Geflüchteten im öffentlichen Diskurs eine weitere Kategorie hinzu. Sie erklären Geflüchtete zu Patienten, pathologisieren und dekontextualisieren ihr vielschichtiges Leid und sind letztlich auch eine Distanzierungsstrategie. Ganz ohne Zweifel haben die Menschen, die aus Kriegs-, Krisen- und Elendsregionen nach Deutschland und Europa geflohen sind, eine Geschichte aufeinanderfolgender traumatischer Sequenzen hinter sich. Viele haben in ihren Heimatländern Krieg, Zerstörung, Verfolgung und Folter erlebt, haben Massaker miterlebt und Angehörige verloren, wurden aufgrund ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten oder sexueller Orientierung verfolgt und gedemütigt. Frauen sind vor sexueller Gewalt, Zwangsverheiratung und Ehrenmord geflohen; junge Menschen aus einem Kreislauf von Gewalt, Armut und Perspektivlosig-

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keit. Die in der hiesigen Politik und den Medien gängige Spaltung von Geflüchteten in »politische Flüchtlinge« und »Wirtschaftsflüchtlinge« ignoriert nicht nur die komplexe Verquickung von Klimawandel, Elend, Ressourcenkämpfen und kriegerischen Konflikten in vielen Herkunftsländern, sondern ebenso die Mitverantwortung deutscher und internationaler Politik an ihrer Entstehung. Auch die Geflüchteten, die in ihren Herkunftsländern nicht direkt Gewalt erfahren haben, haben ihre Heimat verloren und die schwerwiegende Entscheidung getroffen, ihre Familie und sozialen Bezüge zu verlassen. Oft tragen sie Aufträge mit sich, nicht nur sich, sondern auch anderen Familienmitgliedern eine sichere und bessere Zukunft zu ermöglichen – Aufträge, deren Erfüllungsdruck im Weiteren zu einer großen Belastung werden kann. Auf den Fluchtrouten haben die Flüchtenden weitere Gewalt durch Schleuser und Grenzpolizei diverser Länder erfahren, Todesangst gehabt und den Tod von Mitflüchtenden erlebt. Ob geflüchtete Menschen die Möglichkeit haben, sich zu erholen, ihre Erfahrungen zu bewältigen und neue Perspektiven zu entdecken oder aber langanhaltende traumatische Dynamiken entwickeln, hängt – wie in den vorherigen Kapiteln ausführlich beschrieben –wesentlich von den Bedingungen ab, die sie nach den traumatischen Erlebnissen im Aufnahmeland vorfinden, von Stabilität, Sicherheit, empathischen Zuhörern und einer Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess. Die Bedingungen, die geflüchtete Menschen zurzeit in Deutschland vorfinden, stehen dem diametral entgegen. Angekommen in Deutschland sind sie konfrontiert mit oft Jahre andauernden prekären und belastenden Lebenssituationen: mit einem fremden, oft feindseligen Umfeld, mit abweisenden Asylgesetzen und überlasteten, unempathischen Behörden. Sie leben in Sammelunterkünften oder Wohnheimen mit unzurei-

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chender Privatsphäre, sind durch die Residenzpflicht in ihrer Bewegungsmöglichkeit eingeschränkt, durch fehlende Arbeitserlaubnis zu Untätigkeit und monatelangem Warten verdammt und leben in permanentem Stress aufgrund der ständigen Drohung der Ablehnung ihres Asylantrags und der Abschiebung. Zu den genannten, offensichtlich belastenden Faktoren kommt die einschneidende Erfahrung des Verlusts ihrer sozialen und gesellschaftlichen Rollen und der Selbstbestimmung über ihr Leben. Ihre spezifische Leidensgeschichte ebenso wie ihre Lebensgeschichten vor der Flucht, ihre Stärken, Ressourcen, Kenntnisse, ihre beruflichen Karrieren, politischen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten im Heimatland: All das geht in der Kategorisierung als Geflüchteter unter. Ihr Lebensalltag ist bestimmt vom Zeitmaß asylpolitischer und behördlicher Vorgaben und immer neuer verordneter Phasen des Wartens: »Warten auf Registrierung, Warten, einen Asylantrag stellen zu können, Warten auf Beschäftigung, Warten auf Familienangehörige« (Eppenstein u. Ghaderi, 2017, S. 16). »Flucht beschämt«, sagen Thomas Eppenstein und ­Cinur Ghaderi und beziehen das ebenso auf die Scham der Geflüchteten, deren Welt und eigene Verortung in der Welt zerbrochen sind, wie auf unsere Scham als Beobachterinnen, »weil unser Meer (mare nostrum/Mittelmeer) zum Massengrab mutiert, weil Innenminister darauf einstimmen, man müsse sich an unschöne Bilder an den Grenzen gewöhnen (Idomeni, Calais, Ceuta), weil illegale Grenzübertritte mit mehrjährigen Gefängnisstrafen belegt werden (wie in Ungarn) […], weil Zuständige überfordert sind und Unzuständige Überfremdung fürchten, weil, weil, weil« (S. 2). Beim Schreiben dieses Textes erreicht die eigene Scham einen bizarren Höhepunkt, als Bundesinnenminister de Maizière am Tag des verheerenden Bombenanschlags in Kabul, der mehr als neunzig Menschen tötete, vierhundert

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verletzte und die deutsche Botschaft schwer beschädigte, die für denselben Tag angesetzte Abschiebung von Afghaninnen und Afghanen mit der Begründung verschob, die Mitarbeiter der Deutschen Botschaft hätten Wichtigeres zu tun, als die Abgeschobenen in Empfang zu nehmen. Erst nach einer Welle der Empörung wurden die Abschiebungen nach Afghanistan vorübergehend ausgesetzt. Die bedrückenden und entmündigenden Lebensbedingungen von Geflüchteten in Deutschland verlängern und verstärken zuvor gemachte traumatische Erfahrungen und sind selbst traumatisierend. Insbesondere der Verlust von Selbstbestimmung schreibt den Kern früherer Traumaerfahrungen – Ohnmacht und Kontrollverlust – institutionell fort und steht einer Wiedererlangung von Vertrauen in die Welt, in das soziale Gegenüber und in die eigene Selbstwirksamkeit direkt entgegen.

8.2 Die Grenzen der Psychotherapie in unsicheren und politischen Räumen

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Die Arbeit mit Geflüchteten sollte deshalb neben psychosozialen und psychologischen Hilfen immer auch den menschenrechtlichen und politischen Einsatz für eine Stabilisierung ihrer Lebensbedingungen einschließen: für eine schnelle Bearbeitung ihrer Asylanträge und einen sicheren Aufenthaltsstatus; für selbstbestimmte Wohn- und Bewegungsmöglichkeiten; für den Zugang zu Bildung und Arbeit; für die Anerkennung der in ihren Heimatländern erlangten Berufs- und Studienabschlüsse. Für viele ist der Nachzug ihrer Familien, die sie inmitten von Krieg und Elend zurückgelassen haben, oberste Priorität. Es ist aus menschenrechtlicher und psychologischer Perspektive nicht zu vertreten, dass Geflüchtete nach dem neuen Asylpaket II von ihren Familien zwangsweise getrennt bleiben (Ghaderi u. van Keuk, 2017, S. 262 f.).

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Die politische Durchsetzung dieser Grundbedingungen für eine menschenwürdige Aufnahme von Geflüchteten liegt angesichts des Erstarkens konservativer und fremdenfeindlicher Kräfte in Deutschland und Europa in weiter Ferne. Dennoch kann gerade angesichts der gebetsmühlenartig wiederholten Aufforderung an Geflüchtete, sich zu »integrieren«, nicht oft genug wiederholt werden, dass Sicherheit, Teilhabe, Selbstbestimmung und Familienzusammenführung Grundvoraussetzungen dafür sind, dass Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen sich erholen, sich der hiesigen Gesellschaft öffnen und hier eigene Lebensperspektiven entwickeln. Angesichts rassistischer Ressentiments, die Geflüchteten entgegenschlagen, und den zahlreichen entsubjektivierenden, generalisierten Perspektiven in Politik und Medien – von der Kennzeichnung Geflüchteter als Katastrophe bis hin zur scheinbar positiv konnotierten Betrachtung als Wirtschaftsfaktor – ist das Engagement der zahllosen Ehrenamtlichen, die den Kontakt zu Geflüchteten suchen, von unschätzbarer Bedeutung. Es sind oftmals Ehrenamtliche, die mit den Geflüchteten, statt über sie sprechen, ihnen Hilfen bei der Bewältigung des Alltags, Sprachkurse, Freizeitaktivitäten und Kinderbetreuung, Patenschaften und Familienanschluss anbieten. Diese empathischen Zuhörer und Botschafter einer »freundlichen Aufnahmekultur« benötigen dringend Unterstützung und Fortbildung, nicht etwa, um sie zu Laien-Traumaberatern bzw. -beraterinnen auszubilden und ihre zwischenmenschliche Empathie zu verbiegen, sondern vor allem, um sie zu entlasten. Es ist nötig, ihnen die gesellschaftlich oft ausbleibende Anerkennung ihres Engagements zu geben und ihren Zusammenhalt zu stärken, damit ihr Einsatz nicht angesichts der institutionellen Mühlen, gegen die sie ankämpfen, in Resignation umschlägt. Die psychosozialen Zentren bieten in diesem Zusammenhang Fort-

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bildungen an. Sie tun das auch für Mitarbeiterinnen von Asylbehörden, die in ihrem täglichen Spagat zwischen Empathie, behördlichen Vorgaben und Arbeitsüberlastung dringend Hilfe statt Häme brauchen. Wichtig für Geflüchtete sind auch Räume, in denen sie mit Menschen aus ihren eigenen sozialen und gesellschaftlichen Kontexten zusammenkommen und sich austauschen können. Das Beispiel chilenischer Ex-Gefangener, die schon in den 1970er Jahren Gesprächsgruppen bildeten und den Grundstein für die Entwicklung psychosozialer Zentren legten, wurde schon erwähnt. In den 1990er Jahren haben bosnische Frauen in Berlin im Rahmen des Südosteuropa-Zentrums Erzählcafés gegründet. Sie betreuen heute einen interkulturellen Garten, in dem sie gemeinsam Zeit verbringen, zusammen arbeiten und sich gegenseitig stützen. Wichtig ist dabei, dass solche Gruppen ihre Zusammensetzung selbst bestimmen und nicht extern aufgrund von Länderzugehörigkeiten gebildet werden. Hier besteht die Gefahr, dass Menschen zusammengebracht werden, die in ihren Ländern aufgrund ethnischer Konflikte oder politischer Gegnerschaft in Konflikt miteinander standen und in multiethnische Dialoge gezwungen werden, für die sie selbst noch nicht bereit sind. Gerade angesichts des Versagens der institutionellen Rahmenbedingungen brauchen Geflüchtete zudem professionelle psychosoziale Beratung und psychotherapeutische Hilfen, um mit akuten Angstzuständen sowie depressiven und suizidalen Krisen fertig zu werden. Für viele Geflüchtete sind Beratungsgespräche und therapeutische Situationen – meist mit muttersprachlichen Dolmetschern6 – die einzigen sicheren Orte, an denen sie ohne Angst vor be6 Auf die Herausforderungen in der therapeutischen Arbeit mit Dolmetschern und Dolmetscherinnen wird in einem späteren Band dieser Reihe eingegangen.

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hördlichen Fallen über sich und ihre Geschichte sprechen können. Wichtig ist dabei, die Grenzen von Traumatherapie inmitten von prekären Lebensbedingungen, Unsicherheit und Angst im Blick zu behalten. Cinur Ghaderi und Eva van Keuk (2017) beschreiben die Grenzen der Traumatherapie an Beispielen aus ihrer psychotherapeutischen Praxis: Erstens ist der Zugang zu psychotherapeutischer und medizinischer Hilfe über das Asyl­bewerbergesetz geregelt und mit dem neuen Asylpaket noch weiter eingeschränkt und auf Notfallhilfe beschränkt worden. Jede psychotherapeutische Hilfe muss erstritten werden; Dolmetscherleistungen werden gar nicht übernommen (S. 259). Zweitens findet das psychotherapeutische Geschehen unter prekären und instabilen Bedingungen statt und entstandenes Vertrauen und Fortschritte werden durch die Bedrohung durch Abschiebung, die behördliche Anforderung von Gutachten oder neue Einbrüche im Alltag des Geflüchteten wie Zeugenschaft von Abschiebungen etc. wieder zurückgeworfen (S. 259). Drittens sind die Probleme und der Leidensdruck, mit denen Geflüchtete in die Therapie kommen, eng mit ihren unsicheren Lebensbedingungen verknüpft. Ghaderi und van Keuk berichten von Herrn M. aus Aleppo in Syrien, der bereits zwei Jahre von seiner Familie getrennt war und Hilfe suchte, als seine Heimatstadt bombardiert wurde, weil er nicht schlafen, nicht essen konnte und »schier wahnsinnig wurde«. »Es ist schlecht vorstellbar, dass ein gesunder Familienvater in einer ähnlichen Situation […] weniger Symptome aufzeigen könnte als Herr M.« In der Therapie konnte durch Aufklärung über die Symptome und Aufbau einer Tagesstruktur eine suizidale Krise abgefangen werden. Der Zustand von Herrn M. verbesserte sich erheblich, als seine Familie zwar nicht nach Deutschland, aber wenigstens unverletzt nach Istanbul ausreisen konnte (S. 265).

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In der Arbeit mit Geflüchteten sind Therapeuten und Berater zwischen Empathie und dem Wunsch zu helfen auf der einen Seite und Empörung auf der anderen Seite hin- und hergerissen. Ihre Empörung gilt dem den Betroffenen zugefügtem Leid in ihren Heimatländern und auf der Flucht ebenso wie den feindseligen und traumatisierenden prekären Lebensbedingungen und dem institutionellen Abschieben politischer Probleme in den therapeutischen Raum. Ottomeyer beschreibt die Notwendigkeit des »Empörungsmanagements« der Therapeutinnen und Therapeuten zwischen einem therapeutisch-beruhigenden und einem menschenrechtlich-empörten Ego-State (2011b, S. 13) und weist auf eine weitere Grenze der Psychotherapie hin: dass Menschen, die Fürchterliches erlebt haben, oft keine Psychotherapie wollen. »Der Anteil dieser Personen ist nicht gering, gerade auch unter politisch Verfolgten, die oftmals andere Vorstellungen von der Wiederherstellung ihrer verletzten Integrität haben. Manche wollen ihren Peinigern nicht auch noch den Triumph gönnen, dass sie zu einem Fall für Mediziner und Psychologen werden« (2011a, S. 223). Die Erfahrung der Grenzen von Psychotherapie im unsicheren und politischen Raum ist keineswegs neu und führte wie beschrieben schon in den 1970er, 1980er Jahren zur Entwicklung von Empowerment-Konzepten und der Gründung von Selbsthilfegruppen und psychosozialen Zentren. Heute bieten die psychosozialen Zentren ganzheitliche Beratung für Menschen mit traumatischen Erfahrungen und aktuell für Geflüchtete an. Sie verbinden Rechtsberatung und Alltagshilfen mit der Schaffung von Begegnungsräumen und dort mit psychologischer und psychotherapeutischer Hilfe, wo es nötig ist. Auch in Syrien, im Irak, im Libanon und in der Türkei– inmitten von Krieg, Konflikt und Flucht – bieten lokale Frauenorganisationen ganzheitliche Beratung für Frauen mit Gewalterfah-

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rungen, errichten in Geflüchtetencamps niedrigschwellige Anlaufstellen, öffnen Begegnungsräume, bieten Rechtsberatung, Alltagshilfen, Bildung und psychologische Hilfen an.7 Ein verstärkter Erfahrungsaustausch zwischen hiesigen Fachkräften und dortigen Expertinnen wäre nicht nur eine fachliche Bereicherung, sondern würde auch helfen, die Trennung zwischen »hier und dort« und generalisierte Perspektiven auf die Herkunftsländer zu überwinden.

8.3  Begegnungen auf Augenhöhe Ob in Therapie, Beratung oder Begegnung mit Geflüchteten: Immer ist es wichtig, die Betroffenen nicht auf ihr Trauma, ihr Leid oder mögliche Symptome zu reduzieren und sie so in der Opferrolle festzuschreiben und weiter zu entmachten, sondern die ganzen Menschen mit ihrer Lebenssituation, ihrer Geschichte vor dem Trauma in den Blick zu nehmen, ihre Ressourcen, Kenntnisse, Fähigkeiten herauszufinden und diese zu stärken. Es geht um empathisches Zuhören und eine Begegnung auf Augenhöhe, die dem Betroffenen die Selbstbestimmung zurückgibt und ihn als Experten seiner eigenen Situation anerkennt. In diesem Kontext ist es auch wichtig, Geflüchtete über bestehende Beratungs- und Therapieangebote umfassend aufzuklären, ihnen therapeutische Angebote nicht als die Traumatherapie, sondern als eine Möglichkeit unter vielen, auch kontrovers diskutierten, vorzustellen und sie so zu ermächtigen, selbst zu entscheiden, was für sie gut ist. 7 Am 18. Mai 2017 trafen sich psychosoziale Beratungsprojekte für Frauen aus den genannten Ländern zu einem Regionalaustausch zu integrierter psychosozialer Praxis in Duhok, Kurdistan-Irak. Der Austausch wurde organisiert von HAUKARI e. V. und medica mondiale und gefördert von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit.

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Immer geht es in der Begegnung mit Geflüchteten und Menschen mit traumatischen Erfahrungen auch darum, die eigenen Grenzen zu reflektieren und anzuerkennen. Wo sind angesichts der Grausamkeiten, die den Betroffenen widerfahren sind, die Grenzen meiner eigenen Empathie und Aufnahmefähigkeit erreicht? Wo fange ich an abzuwehren, mich zu distanzieren durch Stempel wie »traumatisiert«, durch Ungläubigkeit oder durch Stereotype wie »im Irak sind die Menschen mit Krieg und Tod aufgewachsen und an Schrecken und Trauer gewöhnt«? Wo hingegen führt mein eigener Schrecken und die schon beschriebene Scham angesichts der menschenunwürdigen Bedingungen von Geflüchteten zur Überidentifikation und Überschätzung meiner eigenen Möglichkeiten? Wo übertrage ich meinen Schrecken auf den Betroffenen und verstärke so noch seine Ohnmachtsgefühle? Eine weitere Frage, die sich stellt, lautet: Wo verstellen kulturelle Deutungsmuster und Stereotype über kulturelle Differenz die Möglichkeit, wirklich zuzuhören? In meinen bisherigen Ausführungen bin ich bewusst nicht auf Kultur und Religion eingegangen, weder auf kulturspezifische Unterschiede in Konzepten von Trauma und psychischer Gesundheit noch auf kulturspezifische Bewältigungsstrategien von Leiderfahrungen. Ebenso wenig war in diesem Band die interkulturelle Kompetenz, ein Schlüsselwort in der Arbeit mit Geflüchteten, Thema.8 Ganz unbestreitbar ist in der Arbeit mit Geflüchteten Kontextwissen zu den Herkunftsländern ebenso wichtig wie Sensibilität für kulturelle Besonderheiten, um nicht in sogenannte »Kulturfallen« zu tappen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Kunsttherapeutin in den 1990er Jahren, die tief erschüttert über die starke Präsenz von Waffen in Zeich8 Auch zu diesem Thema wird in der Reihe »Fluchtaspekte« ein Band erscheinen.

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nungen kurdisch-irakischer Kinder war und hier traumatische Erfahrungen vermutete. Damals aber gehörte die Kalaschnikoff neben der Haustür und im Wohnzimmer zur Standardausrüstung eines jeden kurdisch-irakischen Haushaltes. Und Ghaderi und van Keuk (2017) berichten, wie eine junge Kollegin nach einem Erstgespräch mit einem jungen Tamilen, der – wie in seinem Land üblich – zunächst zurückhaltend auftrat, diesem prompt Affektarmut attestierte. Der Fokus auf Kultur kann aber auch Fremdheit konstruieren und Distanz fördern und den Blick auf Gemeinsames verstellen. »Kulturelle Wände« lösen sich auf, »wenn es gelingt, Empathiefähigkeit beizubehalten, menschliche Verbundenheit wahrzunehmen, auch bei Fremdheit und Unterschieden im Hinblick auf Sprache, Werte, Religion, Geschlecht und emotionaler Kommunikation usw.«, sagen Ghaderi und van Keuk und empfehlen, »Migrationsbedingtes und Kulturelles nicht zu pathologisieren, Psychologisches nicht zu kulturalisieren und Soziologisches nicht zu psychologisieren« (S. 274). Die beschriebenen Herausforderungen und Fallstricke in der individuellen Begegnung mit Geflüchteten spiegeln sich auch in der gesellschaftlichen und politischen Debatte um Flucht und Geflüchtete. Hier möchte ich zum Abschluss einige Punkte aufgreifen, die eingangs schon erwähnt wurden. Auf dem Hintergrund von zurzeit siebzig weltweit wütenden kriegerischen Konflikten und weltweit 65 Millionen Geflüchteten wird uns das Phänomen der Massenflucht weiter begleiten und auch unsere Gesellschaft verändern. Angesicht des Erstarkens von konservativen und rassistischen Kräften in Europa ist Solidarität mit den Geflüchteten dringend geboten und an sich schon ein politisches Statement. Vorsicht ist aber geboten angesichts von Tendenzen im Kreis der Unterstützer von Geflüchteten, diese zu Subjekten des Wandels zu verklären und sie somit erneut zu generalisieren. Dabei werden

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aus Angst vor der Bedienung fremdenfeindlicher Ressentiments kontroverse Debatten um unsere Haltung zu Geflüchteten oft zurückgestellt, zum Beispiel die Spannung zwischen Universalismus und Kulturalismus in unserer Perspektive auf Geflüchtete, also die Gratwanderung zwischen der Sensibilität und Toleranz für kulturelle Differenz auf der einen Seite und der Verteidigung hier erkämpfter Rechte auf individuelle Selbstverwirklichung, Geschlechtergleichheit, sexuelle Freiheit, Trennung von Religion und Staat auf der anderen Seite. Wo setzen wir, wenn wir universelle Kinder- und Frauenrechte und zum Beispiel rechtliche Verbote von Kinderehen und Zwangsverheiratung einfordern, Menschen, die aus anderen Kontexten hier stranden, unter kolonialistischen Anpassungs- und »Emanzipationsdruck«? Wo hingegen gerät der Versuch, andere kulturelle Kontexte und traditionelle Familienstrukturen zu integrieren, zur Zementierung patriarchaler Strukturen und Aufweichung hier erkämpfter Rechte? Auf einer im März 2017 von der Psychotherapeutenkammer Berlin, Wildwasser e. V. und HAUKARI e. V. organisierten Tagung zum Thema »Jugendliche zwischen Welten« kamen geflüchtete und nicht geflüchtete Experten und Expertinnen aus Herkunftsländern und Deutschland zusammen und diskutierten das Dilemma unter anderem am Beispiel der Debatte um Zwangsverheiratung und Frühehen. Brauchen wir rechtliche Verbote und Sanktionen gegen Zwangsverheiratung und Frühehe, um hier ankommenden jungen Menschen eine Jugend jenseits von Zwangsverhältnissen zu garantieren und eine klare Position gegen Missbrauch und Gewalt in der Familie zu zeigen? Oder setzen solche Verbote Familien und Jugendliche, die mit solchen Zwangsstrukturen hier ankommen, unter Druck und stehen einer Integration im Weg? Die Diskussion war kontrovers, ein Ergebnis oder eine »Handrei-

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chung« gab es nicht, wohl aber den Wunsch, mehr Räume für solch kontroverse Diskussionen zu schaffen. Eine Begegnung mit Geflüchteten auf Augenhöhe, eine Begegnung, die Generalisierungen und eine Spaltung in die Aufnahmegesellschaft, die Geflüchteten und die Herkunftsgesellschaft überwinden will, muss eine solche kontroverse Debatte einschließen – nicht über, sondern mit den Geflüchteten. Dabei ist es wichtig und hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Debatte keine hiesige, das heißt, keine deutsche oder europäische ist. Die Frage, ob wir angesichts der weltweiten Krise in religiöse und ethnische Fundamentalismen, Nationalismen und »Traditionen« zurückfallen oder uns auf eine demokratische, säkulare, multiethnische und geschlechtergerechte Zukunft orientieren – diese Frage stellt sich für Frauengruppen im Irak und Syrien genauso wie für Frauengruppen in Deutschland. Die Frage, ob angesichts der weltweiten Krise religiöse und ethnische Fundamentalismen, Nationalismen und »Traditionen« erstarken oder aber demokratische säkulare politische und zivilgesellschaftliche Kräfte, beschäftigt Menschenrechts- und Frauengruppen im Irak und Syrien ebenso wie in Deutschland. Ein radikaler Perspektivwechsel von der Frage nach der Integration von Geflüchteten in unsere Gesellschaft hin zu der Frage, wie wir mit demokratischen und säkularen Kräften unter den Geflüchteten und in ihren Herkunftsländern Allianzen für eine demokratische, geschlechtergerechte, multiethnische und laizistische Zukunft bilden können: Das wäre eine Begegnung auf Augenhöhe.

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