Städte in Ovids Metamorphosen: Darstellung und Funktion einer literarischen Landschaft 9783647311395, 3647311391, 9783666311390

In Ovids Metamorphosen verwandeln sich nicht nur Figuren, sondern auch die menschliche Umwelt, darunter auch Städte. Die

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Städte in Ovids Metamorphosen: Darstellung und Funktion einer literarischen Landschaft
 9783647311395, 3647311391, 9783666311390

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Friedemann Buddensiek, Sabine Föllinger, Hans-Joachim Gehrke, Karla Pollmann, Christiane Reitz, Christoph Riedweg, Tanja Scheer, Benedikt Strobel Band 212

Vandenhoeck & Ruprecht

Torben Behm

Städte in Ovids Metamorphosen Darstellung und Funktion einer literarischen Landschaft

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortliche Herausgeberin: Christiane Reitz

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Zugl. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike, V&R unipress. Umschlagabbildung: Annibale Carracci (1560–1609), Die Gründung Roms. Palazzo Magnani, Bologna. © akg-images / Fototeca Gilardi Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-3407 ISBN 978-3-666-31139-0

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.1 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2  Ziele und Leitfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.3  Terminologie und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.4  Technische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2  Erste Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1  Die Entstehung von Städten im Zeitaltermythos (1,89–150) . . . . . 33 2.2  Der Untergang von Städten in der Sintflut (1,253–312) . . . . . . . 44 2.3  Der Untergang von Städten im Weltenbrand (2,1–400) . . . . . . . 49 2.4  Schlussfolgerungen: Die ersten Städte als literarische Landschaft . 53 3 Theben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.1  Cadmus gründet Theben (3,1–137) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.2  Pen­t heus verteidigt Theben (3,511–733) . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.3  Pyramus und Thisbe fliehen aus Babylon (4,36–166) . . . . . . . . 82 3.4  Juno will Theben zerstören (4,416–542) . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.5  Cadmus verlässt Theben (4,563–603) . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.6  Schlussfolgerungen: Theben als literarische Landschaft . . . . . . . 104 4 Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.1  Mercur verliebt sich in Athen (2,708–832) . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.2  Triptolemus preist Athen (5,642–661) . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.3  Athena verleiht Athen ihren Namen (6,1–145) . . . . . . . . . . . . 125 4.4  Tereus raubt Philomela aus Athen (6,412–674) . . . . . . . . . . . . 130 4.5  Medea flieht nach Athen (7,1–452) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4.6  Scylla verrät Megara (8,6–154) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4.7  Schlussfolgerungen: Athen als literarische Landschaft . . . . . . . . 152

6 5 Troja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5.1  Laomedon erbaut Troja (11,194–220) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.2  Ceyx geht wie Troja unter (11,410–748) . . . . . . . . . . . . . . . . 171 5.3  Aesacus meidet Troja (11,749–795) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.4  Achill stirbt vor Troja (12,580–619) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 5.5  Ajax und Odysseus streiten vor Troja (12,620–13,398) . . . . . . . . 195 5.6  Hecuba wird aus Troja verschleppt (13,399–428) . . . . . . . . . . . 209 5.7  Aeneas besucht Delos (13,623–704) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.8  Aeneas besucht das falsche Troja (13,720–723) . . . . . . . . . . . . 228 5.9  Schlussfolgerungen: Troja als literarische Landschaft . . . . . . . . 230 6 Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6.1  Aeneas besucht Karthago (14,75–84) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 6.2  Turnus fällt zugleich mit Ardea (14,566–580) . . . . . . . . . . . . . 254 6.3  Romulus gründet Rom (14,772–851) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 6.4  Myscelus gründet Croton (15,1–59) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 6.5  Pythagoras prophezeit die Zukunft Roms (15,418–452) . . . . . . . 285 6.6  Cipus verweigert sich Rom (15,565–621) . . . . . . . . . . . . . . . . 308 6.7  Asclepius wird nach Rom gebracht (15,622–744) . . . . . . . . . . . 318 6.8  Caesar stirbt in Rom (15,745–870) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 6.9  Ovid erhebt sich über Rom (15,871–879) . . . . . . . . . . . . . . . . 348 6.10  Schlussfolgerungen: Rom als literarische Landschaft . . . . . . . . 355 7 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 7.1  Rückblick auf die verwendete Terminologie und Methodik . . . . . 362 7.2  Die Städte der Metamorphosen als literarische Landschaften . . . . 363 7.3  Die Städte der Metamorphosen als Etappen auf dem Weg zum telos Rom? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 7.4  Einordnung der Ergebnisse in übergeordnete Fragestellungen . . . 370 8 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 8.1 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 8.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 9 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 9.1 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 9.2 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 9.3 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2020 von der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock angenommen wurde. Die Verteidigung fand am 14. November 2020 statt. Mein größter Dank, den ich an dieser Stelle kaum in angemessener Weise zum Ausdruck bringen kann, gilt meiner Doktormutter Christiane Reitz. Über mehr als ein Jahrzehnt hinweg hat sie mich mit unvergleichlichem Engagement gefördert und durch ihr unbedingtes Vertrauen in meine Fähigkeiten den erfolgreichen Abschluss meiner Dissertation sowie weiterer Projekte ermöglicht. Desgleichen möchte ich Robert Kirstein (Tübingen) und Marco Fucecchi (Udine) für die Übernahme der weiteren Gutachten im Promotionsverfahren danken. Letzterer hat das Fortschreiten meiner Arbeit seit meinem Forschungsaufenthalt in Italien mit unermüdlichem Interesse und vielen hilfreichen Ideen begleitet. Kein geringerer Dank gilt allen Dozenten und Mitdoktoranden an der Universität Rostock, die mich in meiner Studien- und Promotionszeit begleitet und unterstützt haben, insbesondere Simone Finkmann, Markus Kersten (jetzt Basel), Lars Mielke und Stefano Poletti (jetzt Freiburg). Der Fondation Hardt danke ich für zwei inspirierende Aufenthalte in Van­ doeuvres. In größter Dankbarkeit bin ich der Studienstiftung des deutschen ­Volkes verbunden, wo ich nicht nur ein großzügiges Stipendium und eine anregende ideelle Förderung fand, sondern auch meine Ehefrau Johanna. ­ ­Zusammen mit der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung förderte die Studienstiftung auch das Erscheinen dieser Publikation. Danken möchte ich nicht zuletzt auch meinem Lateinlehrer Frank ­Fritzinger für seinen inspirierenden Unterricht, Magret Behm und Christine Keil für das eifrige Korrekturlesen des Manuskriptes sowie meiner guten Freundin ­Jasmin Neumann für viele Stunden gemeinsamer Ovid-Lektüre und ihre stetige Unterstützung. Schließlich gilt mein Dank dem Herausgebergremium der Hypomnemata für die Begutachtung und Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe sowie Kai Pätzke, Oliver Schwinkendorf, Matthias Ansorge und allen weiteren Beteiligten im Verlag für die umsichtige Betreuung des Projektes. Berlin, im August 2021

Torben Behm

1 Einleitung

Ovid is a man of the city. Segal (1969a, 5) Ovids Metamorphosen sind nicht allein in zeitlicher, sondern auch in räumlicher Hinsicht im wahrsten Sinne des Wortes ein Weltgedicht1: Das carmen perpetuum erzählt eine mythologische Universalgeschichte vom Beginn des Kosmos bis zur Gegenwart des Dichters, deren Schauplätze nahezu die gesamte in der Antike bekannte Welt umspannen und damit weit über das Gebiet des Imperium Romanum hinausreichen.2 Während der zeitliche Rahmen des Werkes bereits im Proömium zum Ausdruck kommt (Ov. met. 1,3 f. prima … ab origine mundi / ad mea … tempora), erschließt sich seine räumliche Dimension erst im Verlauf der Lektüre. Einen wichtigen Teil der literarischen Welt der Metamorphosen machen die Städte aus, die das Thema dieser Studie sind. Unter den vielfältigen Handlungsorten des Werkes sind es jedoch die Naturlandschaften, die zunächst das Inte­ resse der Forschung auf sich gezogen haben.3 Die urbanen oder zumindest stadtnahen Schauplätze dagegen haben deutlich weniger Beachtung gefunden.4 Diese Beobachtung kommt exemplarisch zum Ausdruck, wenn Hardie (1990, 224) von einem »neglect of the city« in den Metamorphosen spricht und den thebanischen Zyklus in Buch 3 und 4 als einzige nennenswerte Ausnahme davon betrachtet. Demgegenüber betont von Albrecht (2003, 131 f.) die Bedeutung nicht nur Thebens, sondern ebenso diejenige weiterer Städte für die übergeordnete Gestaltung des Gedichts: »Es ist wohl auch kein Zufall, dass in der ersten Pentade thebanische, in der zweiten attische und in der dritten troianisch-römische Stoffe im Vordergrund stehen.« Die qualitativen Beobachtungen von Albrechts (1994, 636; vgl. 2008, 221 f.) zur Bedeutung der genealogischen und kulturhistorischen Verknüpfungen in den drei Werkdritteln lassen sich durch statistische Analysen untermauern.5 Eine quantitative Betrachtung aller namentlichen Nennungen von Städten so 1 Vgl. Zinn (1956, 7). 2 Vgl. Kap. 6.9 zur antizipierten Rezeption des Werkes über den römischen Machtbereich hinaus. 3 Vgl. Kap. 1.3.3 für eine kurze Forschungsübersicht. 4 Vgl. Sluiter/Rosen (2006, 1–7) zur Komplexität des Verhältnisses zwischen Stadt und Land als einem von vielen möglichen räumlichen Wertsystemen. 5 Neben dem Register der kritischen Edition von Tarrant wurde als Hilfsmittel die Internetseite Musisque Deoque verwendet (http://mizar.unive.it/mqdq/public/ricerca/avanzata

Einleitung

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wie der Verweise auf Städte in den Metamorphosen ergibt ein aufschlussreiches Bild:

Abb. 1:  Anzahl der Stadtnennungen pro Buch

Die Anzahl der Stadtnennungen nimmt kontinuierlich zu und hat in den letzten Büchern einen deutlich erkennbaren Höhepunkt (Abb. 1). Im Verlauf des Werkes lässt sich also eine ›Urbanisierung‹ feststellen, die in den letzten drei Büchern kulminiert, die vom Untergang Trojas über die Gründung Roms bis zu einigen weiteren dort lokalisierten Geschehnissen reichen.

[letzter Zugriff: 18.08.2021]). Vgl. Wilkinson (1955, 148 mit Fn.); Segal (1969a, 42) zu Landschaften als Verklammerung für jeweils mehrere Bücher; von Albrecht (2003, 131).

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Einleitung

Abb. 2:  Anzahl der Stadtnennungen pro Buchpentade

Fasst man die einzelnen Stadtverweise nicht nach Büchern, sondern nach Buchpentaden zusammen, so ergibt sich ein noch deutlicheres Bild (Abb. 2): Mit 60, 104 bzw. 218 Nennungen verdoppelt sich die Anzahl jeweils etwa von einem Werkdrittel zum nächsten. Interessant ist insbesondere das Auftreten der hier als zentral angesehenen Städte Theben, Athen, Troja und Rom (Abb. 3): Theben bzw. Athen werden im Verlauf des Werkes zehn bzw. sechs Mal genannt, Troja hingegen nicht weniger als 42 Mal (27 Formen von Troia, elf Vorkommen von Pergama, vier von Ilion), Rom wiederum nur zwei Mal wörtlich und an 16 Stellen durch Formen von urbs, also zusammen 18 Mal.

Forschungsüberblick

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Abb. 3:  Anzahl der Nennungen der vier ›Hauptstädte‹

In der Gesamtschau demonstriert diese kurze statistische Betrachtung die Bedeutung, die Städte in den Metamorphosen einnehmen, und liefert damit eine weitere Begründung für das hier gewählte Untersuchungsthema.

1.1 Forschungsüberblick Ein allgemeiner Forschungsüberblick zu den Metamorphosen erscheint im Rahmen dieser Monographie weder möglich noch sinnvoll.6 Daher erfolgt hier nur ein themenzentrierter Abriss.7 Zu den vier wichtigsten Städten des Werkes sind einige wenige Einzelstudien erschienen: Mit den Episoden rund um Theben haben sich außer Hardie (1990) auch Janan (2004; 2009) und Nikolopoulos (2006, 75 f.) in Aufsätzen beschäftigt; von Gildenhard/Zissos (2004) stammt ein wichtiger Artikel zu Ovids Athen; Hardie (1997; 2002b), Malochet-Turquety (2014) 6 In den vergangenen Jahrzehnten sind Arbeiten zu verschiedensten Feldern wie Intertextualität (insbesondere zu Homer und archaischen griechischen Vorbildern, zu tragischen Referenztexten und zur Rezeption in der flavischen Literatur), Gender Studies und politischen Deutungen erschienen; hierzu sind vor allem die Monographien von Schmitzer (1990) und Granobs (1997) zu nennen. Für einen allgemeinen Überblick sei auf die einschlägigen Forschungsberichte von Schmitzer (2002; 2003; 2007) und zuletzt Holzberg (2016) verwiesen. Von grundsätzlicher Bedeutung ist der neue Gesamtkommentar von Barchiesi et al. (2005–2015), der neben denjenigen von Bömer (1969–1986/2006) tritt. Zu den historischen Phasen der Ovid-Forschung im 20. Jahrhundert vgl. Latacz (1994, 569–576). 7 Vgl. den ähnlich konzipierten Überblick bei Bach (2020, 15).

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Einleitung

und Casanova-Robin (2016) haben Aufsätze zum römisch geprägten Schlussteil der Metamorphosen verfasst; daneben gibt es zahlreiche Arbeiten zu Ovids Troja, die sich vor allem mit seiner Bezugnahme auf die Epen Homers und Vergils beschäftigen,8 beispielsweise die Monographien von Dippel (1990), Andrae (2003), Boyd (2017) und Papaioannou (2005; 2007). Des Weiteren existieren kurze Untersuchungen zu anderen Städten des Werkes.9 Eine systematische Darstellung der ovidischen Stadtbeschreibungen fehlt jedoch bis heute und lässt sich deshalb als Forschungsdesiderat bezeichnen. Die vorliegende Arbeit unternimmt daher den Versuch, die genannten Einzeluntersuchungen zu einem Gesamtbild der Städte in den Metamorphosen zu erweitern. Zugleich verfolgt sie damit einen komplementären Ansatz zu den bereits erwähnten Forschungen über die Naturdarstellungen des Werkes wie vor allem der im Eingangsmotto zitierten Studie Landscape in Ovid’s Metamorphoses von Segal (1969a).

1.2  Ziele und Leitfragen Primäres Ziel dieser Studie ist es, Ovids Städte als literarische Landschaften zu untersuchen. Der Begriff ›literarische Landschaft‹ umfasst in Anlehnung an Pausch (2016, 291) drei mögliche Bedeutungen:10 a) Er bezeichnet die Darstellung einer Stadt in einer bestimmten Episode und ihre intratextuellen Bezüge zu anderen Stellen innerhalb der Metamorphosen. b) Er bezieht sich intertextuell auf Stadtdarstellungen der jeweiligen literarischen Tradition in verschiedenen Gattungen. c) Er steht in Beziehung zur Lebenswelt der (zeitgenössischen wie heutigen) Leser; diese können eine Verbindung zwischen der literarischen Darstellung und geographischen, historischen oder politischen11 Realien herstellen. In dieser Studie werden die beiden erstgenannten Punkte im Vordergrund stehen; weitere Aspekte werden dort mitbehandelt, wo dies besonders sinnvoll erscheint. Durch ein close reading aller im engeren Sinne stadtbezogenen 8 Vgl. Einleitung zu Kap. 5 und 6 zu Ovids ›Kleiner Ilias‹ bzw. ›Kleiner Aeneis‹. 9 Vgl. Nikolopoulos (2006, 76–79) zu Croton; Behm (2018) zu Megara; Behm (2019a, 261–263) für einen Überblick zu den Städten der Metamorphosen. 10 Vgl. Kirstein (2019b, 207 f.) zur narrativen Erzeugung bzw. zur Semantisierung von Räumen als den zwei grundlegenden Bereichen der Raumforschung. 11 Nachdem noch Galinsky (1975, 257) die Metamorphosen für »written largely for its own sake, apolitical« hielt, untersuchten insbesondere der bereits oben genannte Schmitzer (1990) und Barchiesi (1997; ital. Orig. 1994) das Verhältnis dieses Werkes bzw. der Fasten zum augusteischen Regime; vgl. Lundström (1980); Urban (2005); Einleitung zu Kap. 6. Inzwischen stehen jedoch wieder stärker literarisch orientierte Interpretationen im Fokus der Ovid-Forschung – dementsprechend versteht sich auch die vorliegende Arbeit.

Ziele und Leitfragen

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Textabschnitte der Metamorphosen wird zunächst die jeweilige Darstellung von Theben, Athen, Troja, Rom und anderen Städten auf der Ebene einzelner Episoden herausgearbeitet. Um die Funktionalisierung der einzelnen Städte zu bestimmen, wird dabei ein narratologisches Instrumentarium verwendet (vgl. Kap. 1.3.4; 1.3.5), das seinen Nutzen insbesondere auch im jeweiligen Fazit zu den Einzelkapiteln zeigt. Über diese Einzelanalysen hinaus wird der Blick auf das Werk als Ganzes erweitert und in den Schlussfolgerungen zu jedem Hauptkapitel dargestellt, wie Ovid die genannten Städte insgesamt präsentiert und in welcher Beziehung diese untereinander bzw. insbesondere zu Rom stehen, also zu dem Ort, an dem das Werk endet und an dem es selbst entstanden ist. Aus der so skizzierten Thematik ergeben sich einige allgemeine Fragen, die sowohl bei der Mikro- als auch bei der Makroanalyse von Belang sind: Wie wird der urbane bzw. stadtnahe Raum dargestellt, auch im Gegensatz zu der natürlichen Umgebung jenseits einer Stadt? Wann ist die Handlung innerhalb der Stadt, an den Stadtmauern oder explizit außerhalb davon verortet? Welchen Einfluss üben Figuren und Städte aufeinander aus, wie nimmt eine Figur die jeweilige Stadt wahr und welche Funktionen übernimmt eine Stadtdarstellung somit für die Erzählung? Über die genannten Fragen zur Darstellung und Funktionalisierung der städtischen Räume hinaus lässt sich die vorliegende Untersuchung in die Diskurse zu einigen grundlegenden, immer wieder gestellten Forschungsfragen zu den Metamorphosen einordnen. Dies betrifft vor allem die Struktur des Werkes, die narrative Technik und – mit beiden Aspekten in Verbindung stehend – die Gattungszugehörigkeit. Die entsprechenden Problemfelder sollen im Folgenden kurz dargestellt und in Bezug auf diese Studie kontextualisiert werden. Weil der Zusammenhang der konkreten Analysen zu den übergeordneten Themenfeldern in den Hauptkapiteln teils nur implizit vermittelt wird, wird ihr Beitrag dazu im Schlussteil separat herausgearbeitet.

1.2.1  Aufbau der Metamorphosen Im Vergleich zur epischen Tradition stellt bereits die Anzahl von 15 Büchern ein auffälliges Charakteristikum der Metamorphosen dar, enthalten doch die Werke Homers, Apollonios’ von Rhodos sowie Vergils mit 24, vier bzw. zwölf Büchern jeweils ein Vielfaches von vier volumina.12 Die Frage nach der Struktur von Ovids längstem Werk hat zu einer bis heute nicht endenden Forschungsdiskussion geführt:13 Einigkeit besteht einzig darüber, dass im ersten Drittel 12 Eine Ausnahme innerhalb der epischen Gattung bilden die 18 Annalen-Bücher des Ennius. 13 Vgl. die Synopse bei Wheeler (2000, 1–3).

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Einleitung

des Werkes Erzählungen über Götter, im mittleren über Helden und im letzten Drittel über historische Gestalten dominieren.14 Die so definierten Hauptteile stimmen jedoch nicht mit den Buchgrenzen überein,15 werden sie doch zumeist für die Textabschnitte 1,452–6,412/420, 6,413/421–11,193 bzw. 11,194–15,87016 postuliert und schließen damit nicht nur das Proömium und den Epilog, sondern auch mehrere hundert Verse über die früheste Phase der Weltgeschichte aus. Selbst dieser Minimalkonsens einer Dreiteilung erscheint überdies insofern angreifbar, als göttliche, heroische und menschliche Figuren auch in den jeweils anderen Werkdritteln verschiedentlich zu Protagonisten werden.17 Nicht weniger Kritik haben die in den 1960er Jahren entstandenen Vorschläge zur Strukturierung in unterschiedlich viele Großteile nach sich gezogen. Während Ludwig (1965, bes. 9; 80) neben dem Proömium und dem Epilog zwölf Großteile postulierte, von denen einer die ›Urzeit‹ (1,5–451), sieben die ›Mythische Zeit‹ (1,452–11,193) und vier weitere die ›Historische Zeit‹ (11,194–15,870) abdecken, ging Otis (1966, 84 f.) von vier Großteilen aus, die er mit den Bezeichnungen ›The Divine Comedy‹ (Buch 1–2), ›The Avenging Gods‹ (3,1–6,400), ›The Pathos of Love‹ (6,401–11,795) bzw. ›Rome and the Deified Ruler‹ (Buch 12–15) versah.18 Diese zwei Vorschläge sind vornehmlich deshalb kritisiert worden, weil sie die Buchgrenzen missachten und ihre teils sehr unterschiedliche Länge willkürlich gewählt erscheint.19 Sie wirken eher wie moderne Lektürehilfen, als dass sie Aufschluss über eine etwaige intendierte Komposition des Autors geben würden.20 14 Barchiesi (1997, 182). Kenney (2009, 146) erklärt jede weitere Struktursuche für nutzlos. Drei etwa gleich lange Großteile erkennen auch Wilkinson (1955, 147 f.) und Galinsky (1975, 85 f.). 15 Die Funktion der Buchgrenzen untersucht Bitto (2019, 145–158). 16 Vgl. Einleitung zu Kap. 5 zur Diskussion über den Übergang zwischen dem ›mythischen‹ und dem ›historischen‹ Teil der Metamorphosen. – In den Versen 6,420 f. und 11,193 f. findet sich mit der Einführung Athens bzw. Trojas jeweils eine geographische Angabe zur Beschreibung eines zeitlichen bzw. textlichen Übergangs; vgl. Barchiesi (1997, 183; 193); Badura (2021, 256). 17 Vgl. Newlands (2005, 478), die davon abgesehen den unten dargestellten Thesen von Holzberg (1998) zustimmt. 18 Schetter (1978) geht ebenso wie Otis von vier Großteilen aus, zieht die Grenze zwischen dem zweiten und dem dritten Teil allerdings schon beim Übergang vom sechsten zum siebten Buch und setzt durch seine Überschriften andere inhaltliche Schwerpunkte (›Frühzeit‹, ›Von der Erbauung Thebens bis zum Beginn der Argonautenfahrt‹, ›Zeitalter der Argonauten, Sagenkreise von Jason und Medea‹, ›Beginn des Trojanischen Krieges bis zur augusteischen Ära‹). 19 Vgl. Due (1974, 134 f.); Crabbe (1981, 2275); Schmidt (1991, 80–86); von Albrecht (2003, 150–152; 2014, 183–187). 20 Grundsätzliche Kritik an sämtlichen makrostrukturellen Vorschlägen äußert auch Gärtner (2004, 2–5), der die einzelnen Bücher stärker als selbstständige Erzähleinheiten verstanden wissen will und diese durch jeweils einen ›epischen‹ und einen ›elegischen‹ Teil geprägt sieht; diese These hat bisher keinen Anschluss gefunden.

Ziele und Leitfragen

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Eine derartige Intention Ovids erkennt hingegen Rieks (1980, 95–103) in einer pentadischen Struktur des Werkes.21 Im Rahmen seiner Untersuchung aller Buchübergänge in den Metamorphosen vertritt auch Holzberg (1998, 78 f.; vgl. 2005, 123–158; bes. 124) die These einer pentadischen Gliederung und hebt dabei die Reden bzw. Gesänge in den Büchern 5, 10 und 15 als implizite poetologische Epiloge zu der jeweiligen Pentade hervor. Von Albrecht (2003, 148 f.) greift diese Argumentation auf und betrachtet neben den genannten Analogien der drei abschließenden Pentaden-Bücher den Wettstreit zwischen Arachne und Minerva (6,1–138; vgl. Kap. 4.3), den Tod des Orpheus (11,1–84) und das Schlusswort des Dichters (15,871–879; vgl. Kap. 6.9) als Epiloge zu den drei Werkteilen.22 Ein wichtiges Argument zur Stützung der Pentaden-These liefert der Dichter selbst: In seiner Exildichtung spricht Ovid an zwei Stellen wörtlich von den Metamorphosen als ter quinque volumina (Ov. trist. 1,1,117; 3,14,19).23 Während Schmidt (2001, 175 f.) fälschlicherweise behauptet, diese Formulierung sei ausschließlich metrisch bedingt, nimmt Vogel (2014, 277–284; bes. 279 f.) eine differenziertere Untersuchung dieser Zahlenperiphrase vor.24 Da die Einfügung der Kardinalzahl quindecim in den Hexameter theoretisch möglich wäre,25 erscheint eine inhaltliche Entsprechung von Ovids Angabe durchaus denkbar. Ein tieferer Sinn der Junktur ist also weder auszuschließen noch beweisbar. Unabhängig von der Relevanz jener werkexternen Verweise des Autors der Metamorphosen lässt sich festhalten, dass die drei Pentaden von Geschichten mit Bezügen zu Theben, Athen bzw. Troja und Rom dominiert werden. Auf dieser 21 Als Vorläufer dieser These ist Martini (1933, 31) zu nennen, der von drei symme­ trischen Hauptteilen entsprechend der drei Werkdrittel (›Älteste Mythen bis Cadmus und Perseus‹, ›Ära des Hercules‹, ›Trojanische und italische Mythen‹) ausging, ohne diese explizit als Pentaden hervorzuheben. – Unter Verweis auf den Gesang der Musen in Buch 5, denjenigen des Orpheus in Buch 10 sowie die Rede des Pythagoras in Buch 15 bezeichnet Rieks indes die drei Buchpentaden als ›musisch-götterzeitliche‹, ›orphisch-heroenzeitliche‹ bzw. ›pythagoreisch-­historische Weltoffenbarung‹. Eine derartige inhaltliche Prägung der jeweiligen Pentaden ist jedoch nicht erkennbar; vgl. Schmidt (1991, 86 mit Fn. 25). 22 Vgl. auch Bartenbach (1990). 23 Vgl. Rieks (1980, 95 Fn. 50); Holzberg (1998, 78); von Albrecht (2003, 131 f.); Bitto (2019, 146). Die gleiche Umschreibung für die Zahl 15 findet sich außerdem an drei weiteren Stellen der Metamorphosen (2,497 [15 Lebensjahre des Arcas]; 3,351 [15+1 Lebensjahre des Narcissus]; 8,749 [Umfang der heiligen Eiche in der Erysichthon-Episode]). 24 Wie Vogel (2014, 183–199; bes. 198 f.) allgemein erörtert, sind die metrischen Gegebenheiten stets nur ein Teil der Erklärung für die Umschreibung von Zahlen in der lateinischen Dichtung. In vielen Fällen lässt sich sowohl die zerlegte als auch die nicht zerlegte Zahl in daktylischer Dichtung nachweisen. 25 Vgl. Vogel (2014, 187–190; 279 f. mit Fn. 852): Eine dafür nötige Elision vermeidet die Hexameter-Dichtung auch bei decem regelmäßig. Martial verwendet später die Umschreibung ›5+10‹ für die Buchzahl von Ovids Metamorphosen (Mart. 14,192,2 carmina Nasonis quinque decemque), ohne dass darin aber eine Bezugnahme auf die Gliederung des Werkes erkennbar wäre.

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Beobachtung aufbauend bezeichnet von Albrecht (1994, 641 f.; 2003, 165) diese Orte als ›Hauptstädte‹ des Werkes und sagt, Theben, Athen und Troja seien für Ovid »Stationen auf dem Wege zur Weltstadt Rom«. Eine Bestätigung dafür sieht von Albrecht (ebd., 148 f.) insbesondere in der Rede des Pythagoras, in der diese Städte als Elemente eines Katalogs in einer Reihe mit Rom stehen (vgl. Kap. 6.5). Einen völlig neuartigen Vorschlag zum Verständnis des Aufbaus der Metamorphosen liefert Schmidt (1991, 79–86; 91–95):26 Die Dominanz bestimmter Themen27 in einzelnen Teilen, wie sie die älteren Gliederungsvorschläge in den Vordergrund stellten, führt demnach nicht zu ›Bauteilen‹; stattdessen unterliege dem Werk eine ›symphonische‹ Struktur, in der neue Themen zunächst anklingen, dann in verdichteter Form auftreten und schließlich langsam verstummen. Wenngleich Schmitzer (2011, 96) meint, mit diesem Modell sei der ›Gordische Knoten‹ durchschlagen,28 kann die Debatte um die Werkstruktur damit keinesfalls als beendet gelten. Wie bereits das Inhaltsverzeichnis dieser Studie erkennen lässt, baut diese grundsätzlich auf der Annahme einer pentadischen Gliederung der Metamorphosen auf. Die Episoden werden in die Sagenkreise rund um Theben, Athen sowie Troja und Rom aufgeteilt;29 daneben wird aber auch die These einer ›symphonischen‹ Struktur im Blick behalten und jeweils im Fazit zu einer ›Hauptstadt‹ untersucht, in welchem Maße deren Darstellung für die eine oder die andere Strukturierungsthese spricht. Eine abschließende Bewertung dieses Aspekts erfolgt dann im Schlussteil (vgl. Kap. 7.4.1).

1.2.2  Narrative Technik und Gattung der Metamorphosen Auch die Gattungszugehörigkeit der Metamorphosen zählt seit langem zu den großen Fragen der Ovid-Forschung. Während Faktoren wie das hexametrische Versmaß und die bloße Länge des Gedichts eine Zuordnung zur Epik nahelegen, demonstriert bereits das vieldiskutierte Proömium den ambivalenten Charakter des Werkes zwischen einem kallimacheischen carmen deductum und einem dem entgegengesetzten carmen perpetuum (1,4 perpetuum deducite … 26 Crabbe (1981) untersucht die symmetrische Gestaltung des zentralen achten Buches und postuliert eine ringförmige Struktur um dieses Buch herum; diese muss nicht zur ­Pentadenstruktur in Widerspruch stehen. Zur Ringkomposition der Metamorphosen vgl. auch Zissos (2019, 549). 27 Die Ansichten über das dominierende Thema der Metamorphosen reichen von ›Verwandlung‹ (entsprechend dem Titel des Werkes) über ›Liebe‹ und ›Kunst‹ bis hin zu ›der Mensch‹ im Allgemeinen. Vgl. Schmidt (1991, 87–89); Sharrock (2019, 278 Fn. 9). 28 Vgl. auch die Zustimmung von Feichtinger (2008, 296 f. Fn. 2). 29 Die getrennte Bearbeitung der Abschnitte zu Troja und Rom erfolgt auch aus Gründen der Übersichtlichkeit, vgl. Einleitung zu Kap. 5; Einleitung zu Kap. 6.

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carmen).30 Einigkeit besteht dahingehend, dass in den Metamorphosen neben epischen auch elegische,31 dramatische, bukolische und für andere Gattungen typische Elemente erkennbar sind.32 Während man angesichts einer derartigen intertextuellen Komplexität früher von einer ›Kreuzung der Gattungen‹ sprach,33 zieht die modernere Forschung den Begriff generic enrichment vor.34 Angesichts der »réappropriation boulimique de la totalité littéraire« der Metamorphosen – so Jouteur (2001, 323) – wird die Gattungsfrage im Streben nach einem Kompromiss (um nicht zu sagen: nach einer Notlösung) zumeist dahingehend beantwortet, Ovid habe ein Epos sui generis verfasst.35 Ein zumindest formaler epischer Rahmen wird dem Werk also nicht abgesprochen.36 Der Grad der Abweichung von den Normen der klassischen Epik erfährt jedoch eine unterschiedliche Bewertung.37 Einen Überblick zum aktuellen Stand der Forschung bietet Sharrock (2019): Sie versucht anhand einiger exemplarisch ausgewählter Bauformen das Ausmaß zu bestimmen, in dem man die Metamorphosen als episch bezeichnen kann.38 Bislang ist der generische Status des Werkes jedoch niemals umfassend, d. h. in Bezug auf jedes einzelne 30 Vgl. Myers (1994, 2–5); Harrison (2002, 87); Sharrock (2019, 278 f. Fn. 12) für Literaturhinweise. 31 Vgl. die klassische Studie von Heinze (1919) zum vermeintlich epischen Charakter der Metamorphosen im Gegensatz zu den von ihm als elegisch angesehenen Fasten sowie die Monographie von Hinds (1987), der eine derartige Dichotomie zugunsten einer differenzierteren Betrachtung überwindet und ein wechselseitiges Vorhandensein von Elementen der einen in einem primär der anderen Gattung zugehörigen Werk erkennt. 32 Für Beispiele der Gattungsvielfalt vgl. Solodow (1988, 17–25); Harrison (2002, 87 f.); Keith (2002, 236–269); Sharrock (2019, 276 f. mit Fn. 3) mit Literatur. 33 Vgl. beispielsweise von Albrecht (1987, 384 f.; 2003, 155). Den Begriff ›Kreuzung der Gattungen‹ prägte Kroll (1924, 202–224; 215 f. zu den Metamorphosen); für eine kurze Begriffskritik vgl. Barchiesi (1997, 65 f.). 34 Harrison (2007, 1) definiert diesen Begriff als »the way in which generically identifiable texts gain literary depth and texture from detailed confrontation with, and consequent inclusion of elements from, texts which appear to belong to other literary genres«. Vgl. Harrison (2002), wo er den Begriff noch nicht verwendet. 35 Vgl. von Albrecht (2003, 155). Glei (1998, 102–104) spricht wahlweise von einem »ÜberEpos«, einem »Un-Epos« bzw. einem »Anti-Epos« und kommt angesichts der singulären Gestaltung des Werkes zu dem Schluss, der Gattungsbegriff sei überhaupt nicht auf die Metamorphosen anwendbar. Harrison (2002, 89) weist zu Recht auf die Inklusion von Elementen aus anderen Gattungen in der vergilischen Aeneis, aber auch bereits in hellenistischen Dichtungen wie den Aitien des Kallimachos hin. 36 Vgl. Harrison (2002, 89); Newlands (2005, 477–481); von Glinski (2018, 227) zu »epic plot elements« wie etwa Stadtgründungserzählungen. Rosati (2002, 277) beschreibt die Metamorphosen treffend als »impure epic«. 37 Hardie (2010, 430): »Ovid’s Metamorphoses tests the generic system to the point of deconstruction […] One answer to the question of definition is to see in it an attempt to establish an alternative tradition of epic […]« 38 Vgl. z. B. Sharrock (2019, 279–291) zu Kämpfen sowie (ebd., 297 f.) zum Motiv des epischen Seesturms.

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traditionelle epische Erzählelement untersucht worden.39 Wie Sharrock (ebd., 310) anmerkt, gehören beispielsweise Landschaftsbeschreibungen zu den möglichen Erzählformen, anhand derer die Zugehörigkeit der Metamorphosen zur epischen Gattung weiter analysiert werden könnte. Aus diesem Grund werden im Schlussteil des Buches die Erkenntnisse zu den urbanen Schauplätzen auch bezüglich des epischen Status des Werkes zusammengefasst. Zu diesem Zweck ist die Frage zu klären, inwieweit das vordergründig vorhandene narrative telos des Werkes, genauer gesagt sein Ende mit Darstellungen des zeitgenössischen Rom, den epischen Charakter der Metamorphosen stützt oder unterminiert.40 Die Bedeutung des Themas ›Stadt‹ lässt sich über die eingangs dargestellten statistischen Beobachtungen hinaus inhaltlich sowie hinsichtlich der Gattungsproblematik weiter präzisieren: Das Werk enthält nicht nur Episoden, die verschiedenste Szenen aus dem ›Lebenszyklus‹ einer Stadt wie Gründung, Kriegszustand und Untergang enthalten, sondern verknüpft diese Motive auch in vielfältiger Weise mit traditionellen epischen Bauformen oder typischen Elementen der Metamorphosen im Allgemeinen:41 – Die wohl auffälligste Verbindung der Stadtthematik mit dem Verwandlungsmotiv finden wir in der Episode um Ardea: Ovid erzählt, wie die Heimatstadt des Turnus nach ihrer Zerstörung zu einem Vogel gleichen Namens wird (vgl. Kap. 6.2).42 Das zugehörige Kapitel wird unter anderem zeigen, wie Ovid den Topos der urbs capta teilweise von Troja auf die italische Stadt überträgt. – Ein sehr häufig auftretendes Motiv sind Stadtgründungen: Ovid schildert – in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit – nicht allein die Gründungen der vier ›Hauptstädte‹ Theben, Athen, Troja und Rom (vgl. Kap. 3.1; 4.3; 5.1; 6.3),43 sondern rekurriert daneben auf die Entstehung zahlreicher weiterer Städte, darunter Megara und Croton (vgl. Kap. 4.6; 6.4).44 Anhand verschiedener 39 Zur Legitimierung des hier gewählten Forschungsthemas vgl. auch Feeney (1991, 239): »Scarcely a single area of epic technique is left unscathed by Ovid’s powerful experiments.« 40 Vgl. Sharrock (2019, 275). 41 Ein hier nicht weiter betrachteter Einzelfall betrifft die Verwendung eines Stadtnamens zur Angabe einer Tageszeit (14,416 Sparserat occiduus Tartessia litora Phoebus): Während in der literarischen Tradition meist beschrieben wird, wie die Sonne am Tagesende im Meer versinkt, markiert Ovid den Anbruch des Abends geographisch, indem er den Sonnenuntergang in der Nähe der heutigen Stadt Cádiz evoziert; vgl. Montuschi (2005, 284 f. mit Fn. 40). 42 Wie Bach (2020, 179) zu Recht konstatiert, invertiert diese Erzählung die sonstige ›anthropomorphe‹ Tradition der Verwandlungen. 43 Zur Bedeutung von Stadtgründungserzählungen in der Antike vgl. Cecconi/Tornau (2020, 1): »Die Städte sind […] auch der Ort, wo die Gründungsmythen der klassischen griechischen Kultur entstanden und ihre kanonischen literarischen Formen erhielten.« 44 Weitere erwähnte Gründungen von Städten betreffen Milet (9,448 f.), die Stadt des Caunus (9,633 f.), die Stadt des Diomedes (14,458 f.) sowie das von Teucer gegründete neue

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Beispiele werden wir sehen, wie Ovid in den Erzählungen über die Gründungen ›großer‹ Städte teilweise den Umfang stark kürzt oder bestimmte Motive weglässt und so eine Verschiebung von erzählerischen Schwerpunkten zugunsten ›kleinerer‹ Städte vornimmt. – Die nur genannte, aber nicht ausgeführte Gründung einiger für die Erzählung eher unwichtiger Städte deutet bereits auf ein weiteres wiederkehrendes Merkmal der Stadtverweise in den Metamorphosen hin, nämlich die Aufzählung von Städten in Katalogen. Beispiele hierfür aus der mittleren Buchpentade betreffen die um den thebanischen König Amphion trauernden Städte in Buch 6 (vgl. Kap. 4.4), die Städte auf Medeas Rundflug über Griechenland sowie die von Theseus befreiten Städte im siebten Buch (vgl. Kap. 4.5).45 Das finale Buch enthält unter anderem Kataloge zu den Städten, die Myscelus bzw. Asclepius auf ihren Reisen nach Italien passieren (vgl. Kap. 6.4; 6.7), zu untergegangenen Städten (vgl. Kap. 6.5) sowie zu den von Augustus eroberten Städten (vgl. Kap. 6.8).46 Es fällt auf, dass die erste Pentade keine, die zweite vier und die dritte Pentade acht Städtekataloge enthält. Dies unterstreicht die ›Urbanisierung‹ von Ovids mythologischer Weltgeschichte von einer Buchpentade zur nächsten (vgl. Abb. 2). – Komplementär zu der Dominanz von Städtekatalogen in der zweiten und dritten Buchpentade erscheint die Vielzahl nicht ausgeführter derartiger Kataloge im ersten Werkdrittel, also von Textpassagen, an denen von mehreren Städten die Rede ist, ohne dass diese namentlich genannt würden. Hierzu zählen insbesondere die untergehenden Städte bei der Deucalionischen Flut und beim Phaethontischen Weltenbrand (vgl. Kap. 2.2; 2.3) sowie diejenigen auf Invidias Reise nach Athen (vgl. Kap. 4.1).47 Die ersten zwei dieser Passagen sind Teil von Episoden, die zeitlich vor der Entstehung der ersten ›großen‹ Städte der Weltgeschichte liegen und in denen es daher noch keine namentlich bezeichneten Städte gibt. – Die drei großen Ekphraseis von Kunstwerken in den Metamorphosen enthalten allesamt Beschreibungen von Städten.48 Die Flügeltüren im Palast des Sonnengottes zeigen die Erde mitsamt ihren Städten (vgl. Kap. 2.3), das Gewebe der Minerva illustriert die Gründung Athens (vgl. Kap. 4.3), und auf dem Salamis (14,760). Vgl. allgemein Edmunds (2021, 21) zur Bedeutung von Städten und urbanen Lokalitäten im Mythos und der zugehörigen Forschung. 45 Außerdem sind die von Venus vernachlässigten Städte zu nennen (10,530). 46 Des Weiteren sind hier die von Achill (12,110), Odysseus (13,173–176; vgl. Kap. 5.5) bzw. Hercules (13,550) eroberten Städte sowie die Städte Siziliens (13,725–730) zu nennen. 47 Weitere nicht ausgeführte Städtekataloge sind zu beobachten beim Zug der Pieriden (5,306 f.), bei der Schilderung des unter sizilischen Städten begrabenen Typhoeus (5,354 f.), bei der Abreise der Aeneaden aus Kreta (13,709 f.) sowie bei der kurzen Beschreibung von Achills Schild (13,295; vgl. Kap. 5.5). 48 Vgl. Webb (2009, 61–67) zu den antiken Ekphrasis-Definitionen, die teilweise die Beschreibung von Orten enthalten, einige sogar explizit die von Städten.

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Mischkrug, den der delische König Anius seinem Gast Aeneas überreicht, ist die Pest in Theben abgebildet (vgl. Kap. 5.7). Anders als die oben genannten Städtekataloge sind die ekphrastischen Stadtbeschreibungen also gleichmäßig auf die drei Buchpentaden verteilt, aber entsprechend dem Auftreten namentlich benannter Städte im Werkverlauf enthält die erste Ekphrasis keine spezifischen Städte, diejenigen aus der zweiten und dritten Pentade dagegen handeln von den ›Hauptstädten‹ Athen und Theben, wobei jeweils eine Verbindung zu Troja erkennbar ist, wie die Analysen zu diesen Textstellen zeigen werden. – Neben Katalogen und Ekphraseis sind epische Gleichnisse ein weiteres traditionelles Erzählelement, das Ovid im Rahmen von Stadtreferenzen verwendet.49 Die Anzahl solcher ›urbanen‹ Vergleiche nimmt im Verlauf des Werkes stetig zu: Die erste Pentade enthält einen Stadtvergleich bei Cadmus’ Kampf gegen den thebanischen Drachen (vgl. Kap. 3.1), in Buch 8 finden sich Vergleiche mit Bezügen zu topographischen Elementen von Städten für das Verhalten des calydonischen Ebers (8,357–361) sowie des alles verzehrenden Erysichthon (8,832 f.) und in der Schlusspentade beim Untergang des Ceyx (vgl. Kap. 5.2), bei Achills Kampf gegen Cygnus (12,124) sowie beim Raub der Hippodame (12,224 f.). Sämtliche Gleichnisse der dritten Pentade stehen im Zusammenhang mit dem Trojanischen Krieg, der in der Ceyx-Episode auf dieser Ebene antizipiert wird.

1.3  Terminologie und Methodik Die hier vorgelegte Studie hat ihre methodischen und theoretischen Grundlagen in der Narratologie des Raumes. Ziel der folgenden Abschnitte ist es, zunächst einen kurzen Überblick zu diesem Bereich der Literaturwissenschaft, seiner Bedeutung in der Klassischen Philologie sowie zu Arbeiten zu geben, die sich mit raumbezogenen Aspekten von Ovids Metamorphosen auseinandersetzen. Anschließend werden einige wichtige Raummodelle vorgestellt und insbesondere die in dieser Monographie verwendeten Theorien und Begriffe erläutert, um ein Instrumentarium für die Untersuchung des urbanen Raumes in den Metamorphosen begründet herzuleiten. Zunächst seien einige allgemein wichtige Termini definiert: ›Literarische Raumdarstellung‹ lässt sich nach Nünning (2013, 634) zusammenfassen als »Oberbegriff für die Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Objekten wie Schauplätzen, Landschaft, Naturerscheinungen und Gegenständen in verschiedenen Gattungen«. Als Unterbegriff zu ›Raum‹ (space) erscheint daher ›Ort‹ (place). Ein Beispiel für solche Orte sind die in dieser Arbeit 49 Zu den Gleichnissen der Metamorphosen vgl. allgemein von Glinski (2012); Gärtner/ Blaschka (2019, 749–751); Lücht (2019).

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untersuchten Städte in Ovids Metamorphosen, die einen Teil des narrativen Raumes ausmachen. Ein literarischer Raum kann nicht allein durch Toponyme,50 Deiktika oder Adjektive zur Landschaftsbeschreibung erzeugt werden, sondern auch Eigennamen, Patronyme und ähnliche Elemente können bestimmte Räumlichkeiten aufrufen (beispielsweise erinnert jede Nennung von Cadmus’ Vater Agenor an die phönizische Herkunft des Helden; vgl. Kap. 3.1) und müssen daher entsprechend bei der Interpretation berücksichtigt werden.51

1.3.1 Der spatial turn in den Geisteswissenschaften Seit den 1960er Jahren gewann die Narratologie in der Literaturwissenschaft an Einfluss.52 Doch während die Kategorien von Zeit (Ordnung, Dauer, Frequenz), Modus und Stimme seitdem für die Analyse literarischer Texte von zentraler Bedeutung waren, wurde dem Raum über Jahrzehnte hinweg keine gleichwertige Rolle zuerkannt.53 Viele klassische Einführungen in die Erzählwissenschaft, die in ihren Grundannahmen auf die Standardwerke von Genette (vor allem Die Erzählung, 2010; frz. Grundlage Figures III, 1972) zurückgehen, enthalten meist kein gesondertes Kapitel zur Raumdarstellung. Der literarische Raum wurde also häufig als ein zwar notwendiger, jedoch eher ornamentaler Hintergrund im Verhältnis zu der als das Wesentliche angesehenen Handlung betrachtet, ohne dass ihm selbst Bedeutung im Sinne einer Erzählfunktion zuerkannt wurde.54 Die beschriebene Vernachlässigung des literarischen Raumes änderte sich erst mit dem sogenannten spatial turn ab den 1980er Jahren. Eine wichtige Grundannahme davon geprägter Analysen besteht darin, den Raum nicht mehr im Sinne einer Container-Vorstellung als statisch zu betrachten, sondern seinen dynamischen Charakter sowie die Subjektivität der Raumwahrnehmung hervorzuheben.55 Die als spatial turn bezeichnete Tendenz der geisteswissenschaftlichen Forschung definiert Kirstein (2019b, 206) folgendermaßen: Unter dem Begriff des spatial turn […] wird eine Beschäftigung mit dem Raum in den Kultur-, Sozial- und Literaturwissenschaften zusammengefasst, die zu einem neuen Verständnis von Raum als wissensproduzierender Größe geführt und Möglichkeiten

50 Vgl. Skempis/Ziogas (2014b, 3 f.) zu Toponymen als Bedeutungsträgern. 51 Vgl. Dennerlein (2009, 77; 96; 116; 2011, 159). 52 Vgl. de Jong (2014, 3–6). 53 Vgl. Frank (2009, 65). 54 Vgl. Hallet/Neumann (2009b, 11); Nünning (2009, 46). Hölsken (1959, 165) spricht noch von der Landschaft bei Ovid als »dekorative[m] Hintergrund«. 55 Lotman (1993, 328 f.) spricht diesbezüglich von einer ›Polyphonie von Räumen‹. Vgl. Dennerlein (2009, 70–72); Bachmann-Medick (2010, 292); Ritzer (2012, 22–25); Bach (2020, bes. 10; 64).

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eröffnet hat, Räume und Raumdarstellungen als konstitutive Elemente übergreifender Weltaneignungsprozesse zu analysieren.

Der Terminus spatial turn selbst wurde durch den Geographen Soja (Post­modern Geographies, 1989; Thirdspace, 1996)56 geprägt. Zunächst wurde der Begriff benutzt, um damit die räumlichen Analysen von Foucault (Von anderen Räumen, 2005; frz. Orig. 1967) zu sogenannten Heterotopien zu charakterisieren.57 Erst im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte gelangte der Ansatz zu seiner vollen Entfaltung. Mittlerweile ist die Vernachlässigung des Raums beinahe ein Topos, der am Anfang nahezu jeder Auseinandersetzung mit diesem Thema zu finden ist,58 obwohl sich verschiedene literaturwissenschaftliche Disziplinen intensiv mit räumlichen Aspekten von Texten befassen und eine solche Klage daher immer weniger gerechtfertigt erscheint. Wie jede wissenschaftliche Wende, so wird auch der spatial turn nicht unhinterfragt als eine in einer bestimmten Epoche eindeutig zu beobachtende, prägende Tendenz der oben genannten Wissenschaften gesehen.59 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass bereits Jahrzehnte vor dem Aufkommen des Begriffs wichtige Studien zu Räumen in der Literatur entstanden sind.60 Als Ausgangspunkt jeglicher Raumdebatten der nachfolgenden Jahrhunderte ist zunächst der Lessing’sche Laokoon (1766) mit seiner Analyse zur Malerei als ›räumlicher‹ Kunst und der entgegenstehenden ›zeitlichen‹ Natur der Literatur zu nennen.61 Prägende Einflüsse des 20. Jahrhunderts gehen sodann von den russischen Literaturwissenschaftlern Bachtin und Lotman aus, obgleich ihre Werke teils erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung intensiv rezipiert wurden.62 Beiden Theoretikern gemeinsam ist der Grundgedanke, dass die räumliche Struktur der fiktionalen Welt Aufschluss zu geben vermag über das Wesen des dazugehörigen Weltbildes.63 In seinen ab den 1930er Jahren entstandenen Arbeiten zum Roman geht Bachtin (2008) davon aus, dass je nach Gattung eines literarischen Werkes bestimmte Lokalitäten mit einer spezifischen Zeit(wahrnehmung) verbunden sind. In Anlehnung an den physikalischen Begriff der ›Raumzeit‹ (geprägt durch die Mathematik Minkowskis sowie durch Einsteins Relativitätstheorie) spricht er 56 Vgl. Bachmann-Medick (2010, 297–299). 57 Vgl. Frank (2009, 56–59); Döring (2010, 90 f.). 58 Vgl. z. B. Dennerlein (2009, 3–5); Ryan (2014, 796). 59 Vgl. Bachmann-Medick (2010, 7–57) zur Problematik wissenschaftlicher turns; ­Neumann (2015, 96 f.) und Ritzer (2012) für eine Begriffskritik des spatial turn. 60 Vgl. Bachmann-Medick (2010, 285–290) zu den Vorläufern ab dem 18. Jahrhundert. 61 Vgl. Sasse (2010, 294 f.) zur Überwindung der so gesetzten Dichotomie durch Genette; Ritzer (2012, 28–31). 62 Zur mythisch-ästhetischen Raumanalyse des Philosophen Cassirer vgl. Hallet/Neumann (2009b, 16 f.); Sasse (2010, 298 f.). 63 Frank (2009, 64).

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vom ›Chronotopos‹ als dessen literaturwissenschaftlichem Äquivalent.64 Da­ runter versteht Bachtin das ›Organisationszentrum‹ eines literarischen Textes, ohne jedoch eine exakte Definition zu geben.65 Wenngleich Bachtins Konzept mit großem Gewinn – nicht zuletzt auf epische Texte – anwendbar erscheint,66 betont Dennerlein (2009, 168 f.), dass der Zusammenhang zwischen der Handlungsstruktur und dem Schauplatz eines Textes selbstverständlich auch ohne diese spezielle Methodik beschreibbar ist. Das erst ab den 1970er Jahren in der westlichen Welt rezipierte Werk Lotmans geht von der Annahme aus, dass räumliche Verhältnisse eines Textes (beispielsweise topologische Gegensätze wie ›innen‹ und ›außen‹) sich auch in nicht raumbezogenen Relationen äußern (d. h. in semantischen Oppositionen wie ›sicher‹ vs. ›gefährlich‹).67 Lotman (1993, 327; 2010, 174–190; bes. 174) untersucht disjunkte Teilbereiche des Raumes und betrachtet die dazwischenliegende Grenze als dessen wichtigstes Merkmal. Das Überschreiten einer solchen Grenze durch eine Figur stellt demnach ein ›Ereignis‹ (Sujet) dar.68 – Auch an Lotmans Arbeiten ist indessen fundamentale Kritik geübt worden: Anders als Bachtin vernachlässigt er die zeitliche Dimension eines Textes,69 und seine Grundsatzunterscheidung zwischen ›revolutionären‹ Texten, in denen eine Grenzüberschreitung stattfindet, und ›restitutiven‹, in denen ein solcher liminaler Akt verhindert oder zumindest rückgängig gemacht wird, erscheint allzu schematisch. Dennoch hat sich insbesondere Bachtins Betonung der Bedeutung liminaler Strukturen für das Ermöglichen oder Verhindern einer Figurenhandlung als anschlussfähig erwiesen. Dies zeigt sich nicht zuletzt bei der Betrachtung des sogenannten Aktionsraums im Modell von Haupt (2004; vgl. Kap. 1.3.4).70 Der Begriff und die Epoche des spatial turn sind also im Nachhinein definiert worden. Auf diesen Grundlagen sind in den letzten Jahren zahlreiche Studien über die literarische Darstellung von Räumen erschienen.71

64 Vgl. Frank (2009, 72–75); Hallet/Neumann (2009b, 18; 21); Wolkenhauer (2019, 220– 224). 65 Vgl. Sasse (2010, 299–301); Aczel (2013); Frank (2015, 164–168). 66 Vgl. die Untersuchungen von Huss et al. (2016) zu ideologischen Konstruktionen verschiedener Epen im Zusammenhang mit deren Raum-Zeit-Struktur. 67 Vgl. Bal (1999, 134; 215 f.); Frank (2009, 65 f.); Hallet/Neumann (2009b, 17 f.). 68 Vgl. Bal (1999, 216 f.); Böhme (2009, 199 f.); Frank (2009, 67 f.); Martínez/Scheffel (2016, 156–160). 69 Vgl. Frank (2009, 71). 70 Vgl. Ronen (1986, 430 f.) zu offenen bzw. geschlossenen frames; Hallet/Neumann (2009b, 25); Bachmann-Medick (2010, 297) zu Grenzen und Grenzüberschreitungen als wichtigem Forschungsfeld; Koschorke (2012, 114 f.) zur liminalen Zone als räumlicher Entsprechung einer liminalen Phase (im Sinne eines rite de passage). 71 Vgl. für den Bereich der allgemeinen Literaturwissenschaft z. B. Dennerlein (2009); Hallet/Neumann (2009a); Piatti (2009); Geus/Thiering (2012); Dünne/Mahler (2015).

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Einleitung

1.3.2 Der spatial turn in der Klassischen Philologie Mit einer gewissen Verzögerung haben die Narratologie und andere moderne Disziplinen der allgemeinen Literaturwissenschaft auch für die Klassische Philologie enorm an Bedeutung gewonnen.72 Schmitz (2002) erörtert grundsätzlich, wie sich moderne Literaturtheorie und antike Texte miteinander vereinbaren lassen.73 Zu den wichtigsten Leistungen in diesem Gebiet zählen die seit den 1980er Jahren erschienenen narratologischen Arbeiten von de Jong (vgl. bes. 2012, 1–20), die in ihrem Überblickswerk Narratology and Classics (2014) zusammengestellt sind. Dort wird an Beispielen aus der antiken und modernen Literatur erläutert, wie die wichtigsten Begrifflichkeiten und Methoden praktisch angewendet werden können. Im Zuge der so skizzierten Hinwendung auch zu narratologischen Theorien sind in den letzten etwa 15 Jahren etliche Einzelarbeiten und vor allem Sammelbände erschienen, die sich mit der Bedeutung von Raum in der antiken Literatur auseinandersetzen und die entsprechenden Theorien auf einzelne Werke oder Gattungen anwenden.74 Wichtige Beispiele sind die Bände City, countryside, and the spatial organization of value in classical antiquity von Rosen/Sluiter (2006), Geography, topography, landscape von Skempis/Ziogas (2014a) sowie Valuing landscape in classical antiquity von McInerney/Sluiter (2016a).75 Die Einleitungen dieser Werke verweisen regelmäßig auf die oben dargelegten Grundannahmen des spatial turn: Auch im Bereich der Klassischen Philologie gilt, dass dem Raum eine ebenso hohe Bedeutung zukommt wie der Zeit.76 Die Darstellung und Wahrnehmung von Landschaften zu erforschen, erscheint insbesondere deshalb lohnend, da sich dadurch eine Vielzahl an Zugängen zu den untersuchten Texten bietet, wie etwa McInerney/Sluiter (2016b, 7) betonen: »Landscape is polyvalent: it can mean different things to different people, or even different things to the same person at different moments.«

1.3.3 Der spatial turn in der Forschung zu Ovids Metamorphosen Die oben skizzierten Trends der allgemeinen Literaturwissenschaft und der Klassischen Philologie lassen sich auch in der Ovid-Forschung feststellen. Zum einen sind in den vergangenen Jahrzehnten einige Studien mit narratologischer 72 Vgl. de Jong (2014, 6–11). Kirstein et al. (2019, 101) heben die Studie von Segal (1969a) als Beispiel für die frühe Bezugnahme der Klassischen Philologie auf die Semiotik heraus. 73 Vgl. außerdem Grethlein/Rengakos (2009). 74 Eine Übersicht bietet Kirstein (2019a, 245 Fn. 3). 75 Vgl. außerdem Purves (2010) speziell für den Bereich der griechischen Literatur; Mundt (2012); Klooster/Heirman (2013). 76 Vgl. z. B. Skempis/Ziogas (2014b, 1; 7).

Terminologie und Methodik

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Methodik zu den Metamorphosen erschienen,77 zum anderen insbesondere auch Arbeiten, die raumbezogene Aspekte des Werkes behandeln. Der Beginn einer ›ovidischen‹ Raumwende ist bereits in den 1960er Jahren feststellbar:78 Parry (1964; bes. 275–280) beobachtete den Zusammenhang zwischen unberührten Landschaften, die jungfräuliche Charaktere spiegeln, und sexueller Gewalt; ­Segal (1969a, bes. 4–19) erforschte darüber hinaus die symbolische Bedeutung einzelner Landschaftselemente und führte aus, wie die arkadische Szenerie vieler Episoden zum Schauplatz anschließender Gewalthandlungen wird (ebd., 77; 86).79 Auch neuere Arbeiten zu den Metamorphosen heben die Bedeutung des Raumes hervor und betonen, dass dieser stets mehr ist als nur ein Hintergrund für die Handlung.80 Reitz (2000) untersucht die Darstellung und Funktion von Ovids allegorischen Ortsbeschreibungen (Domus Invidiae in Buch 2, Domus Famis in Buch 8, Domus Somni in Buch 11, Domus Famae in Buch 12);81 Hinds (2002) betrachtet die Wirkung von Ovids Landschaften auch im Hinblick auf ihre kunstgeschichtliche Rezeption; Fondermann (2008, 109–111) geht zumindest kurz auf die Darstellung realer Orte und ihre Verknüpfung mit Mythen ein; Reitz (2013) widmet sich anhand der Asclepius-Episode einem Vergleich der visuellen Qualität von Ovids Rom-Schilderung in den Metamorphosen mit derjenigen in seiner Exildichtung; Kirstein (2015a) schließlich wendet das unten beschriebene Raummodell von Haupt (2004) auf die Cadmus-Episode an (vgl. Kap. 3.1).82 77 Einen Überblick zur Narratologie der Metamorphosen bieten die Companion-Beiträge von Barchiesi (2002) und Rosati (2002; bes. 272 f.); daneben ist der Kommentar zu Buch 8 von Tsitsiou-Chelidoni (2003) als Beispiel für einen narratologischen Zugang zu Ovids Epos zu nennen. 78 Daneben sind noch frühere Vorläufer zu nennen: Bereits Zarnewski (1925) befasste sich mit den ›Szenerie-Schilderungen‹ in den Metamorphosen; Hölsken (1959) untersuchte die ovidischen Landschaftsdarstellungen; Curtius (1993, 189–207; bes. 199 f.; Orig. 1948) erforschte nicht nur grundsätzlich die Geschichte der literarischen Ideallandschaft (locus amoenus, ›Lustort‹), sondern speziell auch die Rhetorisierung der Landschaft bei Ovid, und Betten (1968) die ›Naturbilder‹ der Metamorphosen. Zum locus amoenus in der antiken Literatur vgl. Schönbeck (1962, 18–60) und besonders zu seinem Vorkommen bei Ovid Haß (1998, 6–9; 141–148). Zur stereotypen Einleitung durch die Formel est locus (und Variationen) vgl. Hinds (2002, 126). 79 Die modernere Forschung konnte bestätigen, wie Ovid die ›Sexualisierung‹ der Landschaft zur Vorbereitung der nachfolgenden Handlung nutzt; vgl. Hinds (2002, 130–136); Ziogas (2014, 345–347); Behm (2019b, 332–338) zu Arkadien und Sizilien in den Metamorphosen. 80 Vgl. Hinds (2002, 122; 134); Segal (in Barchiesi [2005, clii–cliii]); Kirstein (2019b, 213). Zur Darstellung und jeweiligen Funktion von Rom in Ovids übrigen Werken vgl. Einleitung zu Kap. 6. Für einen kurzen Überblick zu Arbeiten über die Stadtdarstellungen der Metamorphosen vgl. Kap. 1.1. 81 Vgl. von Albrecht (2014, 182 f.); Kersten (2019c, 385–387); Kap. 4.1; 5.2. 82 In Überblickswerken werden einige spezielle Lokalitäten in den Metamorphosen untersucht; vgl. Kersten (2019a, 419–421) zu den Wohnsitzen der Götter; Reitz (2019a, 450 f.) zu den Stätten der Toten.

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Einleitung

1.3.4  Narratologische Raummodelle Bislang gibt es kein einheitliches Modell zur Untersuchung literarischer Räume, das in der Foschung allgemeine Akzeptanz gefunden hätte, doch lassen sich sinnvolle Schnittmengen zwischen den in den letzten Jahren gemachten Vorschlägen bilden. Um die terminologische Auswahl zu begründen, die in den Einzelanalysen dieses Buches angewendet wird, soll daher im Folgenden zunächst die Entwicklung der einflussreichsten Raummodelle nachgezeichnet werden. In ihrem Überblickswerk zur Raumnarratologie entwirft Dennerlein (2009, 131 f.; 161) das Konzept von ›Ereignisregionen‹, die sie als Schauplätze der erzählten Geschichte definiert, und spricht ergänzend von ›räumlichen Gegebenheiten‹, die nur erwähnt werden.83 Damit wird eine wichtige Unterscheidung deutlich, die sich in ähnlicher Weise auch in zahlreichen anderen Modellen findet. Analog dazu sprechen beispielsweise Martínez/Scheffel (2016, 213) in ihrem Einführungswerk zur Erzähltheorie vom erzählten oder diegetischen Raum als Kombination aus explizit thematisierten Schauplätzen der dargestellten Ereignisse und einem häufig nur unbestimmt gegebenen ›Hintergrundsraum‹ [sic]. Innerhalb der Klassischen Philologie wird dem Raum mittlerweile eine ebenso hohe Bedeutung zugemessen wie der Zeit. Dies illustriert beispielhaft die Tatsache, dass de Jong (2014, 105–131) in ihrem konzisen Überblickswerk zur Narratologie dem Thema Space ein eigenes Kapitel widmet. Sie definiert drei Bestandteile des literarischen Raums (ebd., 105–108): 1) settings, also Schauplätze bzw. unmittelbare Handlungsorte einer Geschichte; 2) frames, d. h. weitere Lokalitäten, auf die Figuren in Gedanken, Träumen usw. Bezug nehmen und die somit einen Hintergrundraum für die Handlung darstellen;84 3) props, d. h. Objekte, die den aus diesen zwei Bestandteilen konstituierten Raum ausfüllen.

83 In einem weiteren Aufsatz entwirft Dennerlein (2011, 159–161) den Terminus ›Bewegungsbereich‹ als Oberbegriff für Ereignisregionen, Schauplätze und erwähnte räumliche Gegebenheiten. Das Modell von Dennerlein (2009) erscheint mir insgesamt wegen der Überlappung der einzelnen Termini wenig praktikabel, denn die Autorin definiert, wie beschrieben, eine Ereignisregion als Schauplatz der erzählten Geschichte, einen Schauplatz jedoch wiederum als besondere Ereignisregion. 84 De Jongs (2014) Definitionen von settings bzw. frames lassen sich nicht mit den auf den ersten Blick analog erscheinenden Begriffen von Martínez/Scheffel (2016, 152 f.) in Übereinstimmung bringen, denn diese beschreiben Schauplätze als fiktive, Hintergrundsräume jedoch als reale Orte.

Terminologie und Methodik

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Ganz anders als de Jong benutzt Ryan (2014, 797–799) den Begriff frame, denn ihr multidimensionales Modell (das wiederum nicht aus der Klassischen Philologie stammt) versteht spatial frames als die unmittelbaren Umgebungen von tatsächlichen Ereignissen, während ein setting für sie die allgemeine sozio-historische oder geographische Umgebung einer Handlung ist. Vergleichbar mit dem literarischen Raum im Sinne de Jongs ist bei Ryan mithin der story space: Dieser wird als derjenige Raum definiert, der sich aus sämtlichen spatial frames sowie den im Text bloß erwähnten Örtlichkeiten zusammensetzt.85 Im Grundsatz gehen die Modelle von Ryan und de Jong beide auf einen theoretischen Ansatz aus den 1980er Jahren zurück: Ronen (1986, 421–423) definiert zunächst allgemein einen frame als »a fictional place, the actual or potential surrounding of fictional characters, objects and places«; als Unterbegriff dazu bestimmt sie ein setting als »the zero point where the actual story-events and story-states are localized« und sieht darin »the actual immediate surrounding of an object, a character or an event«. Insgesamt entwirft Ronen (ebd., 425–428; 435–437) eine hierarchische Ordnung von jeweils weiter vom setting entfernten, ineinander verschachtelten distant frames.86 Damit erscheint mir de Jongs Reduktion von Ronens Modell auf settings als Handlungsorte und frames als allgemeine Hintergrundräume (ungeachtet ihrer spezifischen Distanz zum jeweiligen setting) als eine sinnvolle Vereinfachung. Basierend auf den gegebenen grundsätzlichen Begriffsbestimmungen soll nun ein Modell zur genaueren Analyse von Handlungsräumen in den Metamorphosen vorgestellt werden, das in der Literaturwissenschaft eine gewisse Akzeptanz erfahren hat.87 Es handelt sich dabei um ein dreigliedriges Modell, das auf einem phänomenologischen Ansatz der Philosophin Ströker (1965) basiert. Der Anglist Hoffmann (1978) übertrug dieses Modell auf den literarischen Raum, bevor Haupt (2004; bes. 70–77) es weiter als Analysemittel spezifizierte.88 Die Bedeutung und gegenseitige Wechselwirkung der drei Raumkomponenten des Modells lässt sich folgendermaßen erläutern:

85 Neben dem story space gibt es in Ryans Modell noch den narrative space (definiert als physisch existierende Umgebung, in der die Figuren leben und sich bewegen), die narrative/ story world (der von der Imagination des Lesers komplettierte story space) sowie das narrative universe (die vom Text als tatsächlich präsentierte Welt zusammen mit sämtlichen weiteren von den Charakteren als denkbar konstruierten Welten im Sinne der Possible Worlds Theory; vgl. dazu kurz Kirstein [2015b, 264–269]); zu Ryans Modell vgl. Kirstein (2019b, 210). 86 Von innen nach außen: setting – secondary frames (»background frames close to the setting«) – inaccessible frames (nicht von Charakteren betreten) – spatio-temporally distant frames (jenseits der räumlichen oder zeitlichen Grenzen des story space) – generalized space. 87 Kirstein (2019a, 250). 88 Vgl. Hoffmann (1978, 47 f.).

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1) Die erste Wahrnehmungsform des Raumes ist der sogenannte Anschauungsraum,89 wie er sich dem Subjekt darbietet; dieses nimmt ihn aus einer bestimmten Perspektive wahr. Auf dieser Ebene des Raumes ist alles relevant, was das Subjekt sehen kann. Somit handelt es sich um einen relativ objektiven Raumbereich, da die gesehenen Objekte im Normalfall für alle Menschen identisch sind, solange sie denselben räumlichen Standpunkt einnehmen. Die Figur muss die sich ihr darbietenden Raumelemente bei Bedarf durch ›gewussten‹ Raum ergänzen, also die in einer jeglichen literarischen Darstellung unvermeidlichen Lücken mit eigenem Wissen auffüllen. 2) Die zweite Raumebene ist der Aktions- oder Handlungraum,90 der einerseits durch die Handlung eines Subjekts verändert werden kann und andererseits eine solche Handlung erst ermöglicht oder verhindert. Damit handelt es sich bei dieser Ebene um den Raum als einen Bereich, dessen Vorhandensein sich im literarischen Text vor allem durch entsprechende Verben manifestiert.91 3) Schließlich ist Raum beschreibbar als gestimmter Raum,92 dessen Wahrnehmung die Stimmung des Subjekts beeinflusst, ebenso wie umgekehrt dessen Stimmung auf die Raumwahrnehmung einwirkt. Es handelt sich dabei um die subjektivste der drei Kategorien zur Raumerfassung, da die Atmosphäre eines Raumes individuell sehr unterschiedlich wahrgenommen werden kann;93 literaturwissenschaftlich erfassbar ist diese Art der Raumwahrnehmung vor allem anhand der verwendeten Adjektive. In den drei beschriebenen Ebenen nimmt das Subjekt den Raum also sehend, handelnd bzw. durch sein Empfinden wahr.94 Diese Wahrnehmungsbereiche sind naturgemäß bei der Analyse eines literarischen Textes ebenso wenig streng voneinander zu trennen wie bei der Anwendung des Modells auf das reale Leben. Vielmehr können die drei Bereiche einander überlappen; hier wie dort handelt es sich um gleichzeitig stattfindende, subjektive Wahrnehmungsprozesse. Daneben ist darauf hinzuweisen, dass sich die Raumwahrnehmung nicht ohne eine zeitliche Komponente denken lässt: So kann beispielsweise ein räumliches Objekt wie etwa ein Stadttor zunächst ein Element des Anschauungsraums einer Figur darstellen und sodann zu einem Bestandteil des Aktionsraums werden, wenn es von ihr durchschritten wird. 89 Vgl. Hoffmann (1978, 92 f.). 90 Vgl. Hoffmann (1978, 79–81). 91 Wie oben dargestellt, steht diese Raumkomponente in engem Zusammenhang mit der Bedeutung von Liminalität im Werk von Lotman (1993). 92 Vgl. Hoffmann (1978, 55–58). 93 Vgl. Klooster/Heirman (2013, 3–10; bes. 5) zum Konzept des lived space; Kersten (2019c, 385) zur intersubjektiven Veränderlichkeit von Landschaftswahrnehmungen, auch anhand von Beispielen aus Ovids Metamorphosen. 94 Selbstredend sind anders ausgerichtete Modelle der Raumwahrnehmung denkbar; vgl. Bal (1999, 133): »There are three senses which are especially involved in the perceptual representation of space: sight, hearing, and touch.«

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1.3.5  Wie werden die Begriffe in dieser Arbeit verwendet? Nachdem ich die wichtigsten modernen Modelle zur Erfassung des literarischen Raumes dargestellt habe, erscheint es mir sinnvoll, mich im Grundsatz der Terminologie von de Jong (2014) anzuschließen und ihre Begriffe setting und frame ins Deutsche zu übertragen.95 In den weiteren Teilen dieser Studie werde ich daher von Handlungsorten bzw. synonym dazu von Schauplätzen sprechen, wenn dort die gegenwärtige Handlung situiert ist, und von Hintergrundräumen, wenn diese nicht den aktuellen Handlungsort darstellen, sondern nur in irgendeiner Form auf sie verwiesen wird.96 Diese Einteilung in zwei basale Raumbereiche einer Erzählung werde ich mit dem dreigliedrigen Modell von Haupt (2004) ergänzen, mit dessen Hilfe die Ergebnisse der linearen Analyse einer jeden Episode in einem Fazit dazu ausgewertet werden. Häufig werde ich dabei auch die auf Lotman (1993) zurückgehende Bedeutung von liminalen Elementen analysieren. Das genannte Raummodell von Haupt liefert ein Instrumentarium für die Analyse der Darstellung von Handlungsräumen, beantwortet also zunächst die Frage nach dem Was und dem Wie einer Erzählung. Um eine Episode darauf aufbauend zu interpretieren und somit die Frage nach dem Warum zu stellen, empfiehlt es sich, nach der konkreten Funktion einer Raumdarstellung im Kontext zu fragen. Hierfür liefert wiederum de Jong (ebd., 122–129) eine geeignete, problemlos ins Deutsche übertragbare Terminologie, indem sie fünf mögliche Funktionen des Raumes definiert (abgesehen von einer lediglich ornamentalen Funktion als bloßer Hintergrund der Handlung, wie man sie häufig vor dem spatial turn postulierte). Eine Raumbeschreibung hat demnach ggf. eine: a) thematische Funktion: Die Erzählung kann explizit räumliche Aspekte behandeln.97 Beispielsweise geht es am Beginn des dritten MetamorphosenBuches um die Suche nach einem bestimmten Ort für die Gründung einer Stadt (vgl. Kap. 3.1); b)  spiegelnde Funktion: Der Raum kann das Gesamtgeschehen widerspiegeln oder auf Ereignisse vorausdeuten; z. B. wirkt in Buch 11 die Verfolgung einer Nymphe mit dem allegorischen Namen Hesperie durch einen trojanischen Prinzen als Präfiguration von Aeneas’ Irrfahrt nach Italien (vgl. Kap. 5.3); c) symbolische Funktion: Nach Lotman können topographische oder topologische Oppositionen semantische Gegensätze widerspiegeln. Beispielsweise 95 Dass die von de Jong (2014) eingeführten Begriffe besonders praktikabel sind, zeigt sich insbesondere daran, dass sie sich an zahlreichen Beispielen sowohl antiker als auch moderner Literatur bewährt haben. – Kirstein (2019b, 208) weist auf die potentiell unzureichende Abdeckung sämtlicher Raumphänomene durch den Begriff setting hin, da damit zunächst einmal nur ein Teilaspekt des Raumes bzw. seiner Darstellung gemeint ist. 96 Bach (2020, 73) spricht analog von lieux de l’histoire bzw. lieux dans l’histoire. 97 Vgl. Bal (1999, 136).

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Einleitung

symbolisiert der Gegensatz von Athen und Thrakien in der Tereus-Episode in Buch 6 die Unterschiede zwischen der Zivilisation und der Welt der Barbaren (vgl. Kap. 4.4);98 d) charakterisierende Funktion: Die Beschreibung eines Raumes, in dem sich eine Figur aufhält, kann zu ihrer Charakterisierung beitragen;99 z. B. werden die Figur Croton und die gleichnamige Stadt am Beginn von Buch 15 als gastfreundlich dargestellt (vgl. Kap. 6.4); e) psychologische Funktion: Ebenso können räumliche Aspekte die Stimmung einer Figur unterstreichen; beispielsweise erzählt Pythagoras im letzten Metamorphosen-Buch, wie Aeneas beim Anblick seiner untergehenden Heimat geweint habe (vgl. Kap. 6.5).100 Die genannten Funktionen lassen sich wiederum nicht immer exakt voneinander trennen und daher teilweise auch parallel beobachten. Während sich die symbolische Funktion meist auf ein Kollektiv bezieht, sagen die charakterisierende sowie die psychologische Funktion des Raumes häufig etwas über ein Individuum aus. Dabei unterstreicht die charakterisierende Funktion eine dauerhafte Eigenschaft, die psychologische Funktion hingegen eine aktuelle Stimmung. Zum Abschluss dieses Kapitels sollen einige weitere Aspekte zum literarischen Raum nachgetragen werden, die für diese Arbeit von Bedeutung sind. Die Beschreibung eines bestimmten Handlungsortes wie etwa einer Stadt in den Metamorphosen kann grundsätzlich auf zweierlei Weise erfolgen: Entweder finden sich die Beschreibung bzw. sämtliche Hinweise auf eine Stadt in konzentrierter Form innerhalb eines zusammenhängenden Textabschnitts (z. B. spielt die Handlung nur am Beginn von Buch 8 in Megara), sodass man von einer synoptischen Darstellung sprechen kann (dort in Form einer Ekphrasis; vgl. Kap. 4.6), oder aber es finden sich einzelne, über mehrere Abschnitte oder sogar das ganze Werk verstreute Hinweise (so z. B. im Fall Roms, dessen Gründung zwar erst in Buch 14 geschildert wird, von dem jedoch in Vorverweisen schon ab dem ersten Buch die Rede ist; vgl. Kap. 6.10). Die Perspektive, aus der die Beschreibung einer bestimmten Stadt erfolgt, kann weiteren Aufschluss zur Deutung des Raumes der Erzählung bieten. F ­ okalisierung kann in verschiedenen Modi erfolgen:101 Entweder rekurriert ein extradiegeti­ scher Erzähler auf einen Handlungsort (vgl. z. B. die Ekphrasis des Sonnen 98 Die symbolische Funktion des Raumes kann sich zum einen innerhalb eines Werkes wandeln und zum anderen durch literaturgeschichtliche Konventionen wie im Fall des locus amoenus zum Topos werden; vgl. Haupt (2004, 82 f.); Dennerlein (2011, 161 f.). 99 Vgl. Dennerlein (2009, 69); von Albrecht (2014, 187). 100 Einen Sonderfall in der Raumsemantik stellen Personifikationen dar; vgl. de Jong (2014, 128 f.). 101 Vgl. de Jong (2014, 47–60; 68 f.).

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palastes: 2,1 Regia Solis erat) oder eine Figur als intradiegetische Erzählerin, sei es gegenüber einer anderen Figur oder allgemein für die Leser (vgl. Pen­theus’ Mahnrede: 3,548 f. si fata vetabant / stare diu Thebas), alternativ kann es einen an­ onymen Fokalisierer (vgl. z. B. die Erzählung eines alten Einwohners über Croton: 15,10 e senioribus unus) oder einen hypothetischen Fokalisierer geben (vgl. z. B. die Ekphrasis eines Kraters: 13,685 posses ostendere). Ergänzend dazu stellt sich die Frage nach dem räumlichen Standpunkt der wahrnehmenden Instanz:102 Die Perspektive auf einen bestimmten Raum kann diesen panoramaartig als Ganzes umfassen oder szenisch auf einen bestimmten Bereich beschränkt sein. Diese beiden Kategorien lassen sich wiederum jeweils danach unterscheiden, ob die Wahrnehmung durch den extradiegetischen Erzähler oder durch eine Figur erfolgt. Städte wie Rom oder Athen sind Beispiele für reale Orte, die in einem fiktionalen Text repräsentiert werden. Die Schnittstelle zwischen solchen Elementen realweltlicher Geographie und rein imaginären Orten ist schwierig zu bestimmen.103 Hilfreich hierbei ist die von Pavel (1986, 29) aufgestellte Definition sogenannter immigrant objects: Damit sind Elemente der realen Welt gemeint, die in einen Text übernommen werden, um die Wiedererkennbarkeit durch die Leser zu gewährleisten.104 Ein prägnantes Beispiel hierfür sind die sieben Tore Thebens, welche die Stadt in der zugehörigen Ekphrasis erkennbar werden lassen und die Nennung des Stadtnamens überflüssig machen (13,686 hae pro nomine erant; vgl. Kap. 5.7). – Unabhängig davon, ob die in einem Text genannten oder beschriebenen Orte einen realweltlichen Hintergrund haben oder nicht, erhalten sie auf der textlichen Ebene zunächst denselben Status als fiktive Objekte.105 Ebenfalls losgelöst von der Frage nach seiner möglichen realen Existenz kann ein bestimmter Ort niemals in seiner Gesamtheit im Text dargestellt werden.106 Vielmehr vollzieht sich die Konstitution des literarischen Raumes erst während des Leseaktes und erfordert daher eine aktive Teilnahme des Lesers.107 102 Vgl. de Jong (2014, 60–65). 103 Vgl. Nünning (2009, 40 f.); Piatti (2009, 19); Döring (2010, 93 f.); Kersten (2019c, 361– 364; bes. 362) zur Definition von mythical places; Bach (2020, 13 f.); Geitner (2021, 65–73) zu den schwer bestimmbaren Grenzen zwischen realen und fiktiven Objekten. Zur antiken Unterscheidung zwischen der Beschreibung realer und fiktiver Orte (Topographie vs. Topo­ thesie) vgl. Lausberg (1990, 406 f.); Fondermann (2008, 43 f.). 104 Vgl. Kirstein (2015b, 259 f.; 2019a, 249). Martínez/Scheffel (2016, 153 f.) erläutern, dass reale Räume durch erfundene Figuren und Ereignisse zu fiktiven Räumen werden. 105 Piatti (2009, 23) gliedert den ›literarisierten‹ Raum in einen ›fiktionalisierten Raum‹ und einen ›Raum der Fiktion‹; vgl. Kirstein (2019b, 209); Geitner (2021, 48; 65–69). Wie Geitner (ebd., 40) zu Recht betont, ist die Welt der Metamorphosen selbst dann kein getreues Abbild der Realität, wenn sie es scheinbar selbst so vorgibt. 106 Vgl. de Jong (2014, 105). Auch diese Feststellung lässt sich im Grundsatz auf das Paradigma von Lessing (1766) zurückführen, wonach ›Körper‹ mit ihren sichtbaren Eigenschaften primär Gegenstand der Malerei seien. 107 Vgl. de Jong (2014, 28–33; 105 f.).

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Einleitung

­ ezeptionsästhetische Theorien betrachten den Raum der erzählten Welt daher R als mentales Modell (mental map) eines Modell-Lesers; dabei funktioniert z. B. ein Toponym wie Dardaniam … Romam (15,431) als sogenannter cognitive trigger, der das geographische und kulturelle Hintergrundwissen des Lesers aufruft (in diesem Fall wird er sich möglicherweise an die geographische Lage und Topographie Roms und den mythischen trojanischen Ursprung der Stadt erinnern).108 Jede Raumbeschreibung enthält also eine unvermeidliche Vielzahl von Leer- und Unbestimmtheitsstellen, mithin bei der Lektüre mental zu ergänzende Lücken, an denen der Text einzelne Segmente nicht miteinander verbindet.109

1.4  Technische Bemerkungen Als Übergang von den methodischen Präliminarien zu den inhaltlichen Kapiteln erfolgen hier einige kurze Hinweise zur Benutzung dieser Arbeit: – Der Text der Metamorphosen folgt der Edition von Tarrant (2004). Wo wegen textkritischer Betrachtungen davon abweichend der Text von Anderson (1982) gedruckt wird, ist dies entsprechend vermerkt. Die Textausgaben aller übrigen Autoren sind im Literaturverzeichnis aufgeführt. Die Schreibung der Buchstaben u/v wurde stillschweigend vereinheitlicht. – Die Abkürzungen antiker Autoren und Werke richten sich nach den Vorgaben des Thesaurus Linguae Latinae bzw. dem Lexikon von Liddell/Scott/ Jones. Bei mehreren Bezügen auf ein und dasselbe Werk nacheinander wird das entsprechende Kürzel nicht wiederholt. Sofern nichts anderes angegeben ist, beziehen sich die Stellenangaben ab dem Beginn eines jeden neuen Kapitels stets auf Ovids Metamorphosen. – Im Rahmen von intertextuellen Betrachtungen spreche ich gemäß der Terminologie von Hinds (1998, 17–51) zumeist von Referenztexten; der Begriff Hypotext im Sinne von Genette (1993, 9–18) wird nur dort verwendet, wo die dominante Bezugnahme auf einen bestimmten Text hervorgehoben werden soll, und dort entsprechend reflektiert. – Sofern der Kontext es nicht unmittelbar erfordert, wird sprachlich nicht zwischen Ovid als realem Autor und dem ovidischen Erzähler unterschieden.110

108 Vgl. Dennerlein (2009, 7–9; 96–114); Martínez/Scheffel (2016, 151 f.). Schon Kroll (1924, 297) macht darauf aufmerksam, dass geographische Exaktheit nicht zu den Zielen des Metamorphosen-Dichters gehört. 109 Zur Definition dieser Begriffe vgl. Antor (2013); Winkgens (2013). Vgl. außerdem Hoffmann (1978, 587); Fondermann (2008, 24 f.); Dennerlein (2009, 238; 241); Piatti (2009, 158 f.). 110 Vgl. Rosati (2002, 273 f.); de Jong (2014, 17–19).

2  Erste Städte

Die beiden Auftaktbücher der Metamorphosen sind geprägt von der Kosmogonie (1,5–88), in der aus dem anfänglichen Chaos räumliche Strukturen in der Welt entstehen,1 sowie von Erzählungen über göttliche Liebesaffären wie diejenige von Apollo und Daphne (1,452–567), die sich allesamt in der freien Natur abspielen. Doch auch hier, am Beginn des Werkes, finden Städte bereits Erwähnung. Im Zeitaltermythos (1,89–150) schildert Ovid indirekt, wie die ersten Städte der Weltgeschichte entstehen; kurz darauf erfahren wir im Rahmen der Sintflut-Erzählung (1,253–312), wie diese Städte sogleich wieder untergehen. Eine weitere Zerstörung von Städten wird im Zuge von Phaethons katastrophaler Reise mit dem Sonnenwagen berichtet (2,1–400). Alle drei genannten Episoden werden daher in diesem ersten inhaltlich ausgerichteten Kapitel daraufhin untersucht, wie Städte darin thematisiert und im jeweiligen Kontext funktionalisiert werden. Die erste Geschichte, in der mit Athen eine namentlich benannte Stadt eine wichtige Funktion innehat – es handelt sich um die Erzählung von Aglauros, Mercur und Herse (2,708–832) –, wird jedoch erst später zusammen mit den übrigen ›urbanen‹ Geschichten von Ovids attischem Sagenkreis behandelt (vgl. Kap. 4.1).

2.1  Die Entstehung von Städten im Zeitaltermythos (1,89–150) Der Mythos von einer ›Goldenen‹ Zeit am Beginn der Menschheit sowie der Abfolge verschiedener Zeit- oder Weltalter beziehungsweise Menschengeschlechter lässt sich bis auf die griechische Archaik zurückverfolgen. In den Werken und Tagen schildert Hesiod eine Sequenz von fünf Geschlechtern, die in einer im Grundsatz abwärts gerichteten Entwicklung vom Goldenen bis zum Eisernen Geschlecht reicht (Hes. op. 106–201).2 Die Menschen der Goldenen Zeit (109– 126) leben frei von Sorge in einer ländlichen Welt und kennen keine urbane

1 Vgl. Schmidt (2021, 57). 2 Vgl. Kubusch (1986, 3–8) für einen Überblick zu verschiedenen Darstellungen des Zeitaltermythos sowie eine Forschungsübersicht; Gale (1994, 156–159) für einen kurzen Abriss zum Goldenen Zeitalter und zu antiken Kulturgeschichtstheorien; West (1996, z. St.) zu orientalischen Parallelen. Bach (2020, 49) hebt gegenüber der häufig postulierten Deszendenz die Bedeutung von Dichotomien zwischen den verschiedenen Stufen hervor.

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Erste Städte

Zivilisation.3 Bei der Beschreibung der weiteren Menschengeschlechter4 schildert Hesiod das Vorhandensein von Häusern und Städten nur indirekt. Die degenerierten Kinder des Silbernen Geschlechts (127–142) werden bereits in Häusern aufgezogen (131 ᾧ ἐνὶ οἴκῳ); im Ehernen Zeitalter (143–155) bestehen diese Häuser im Einklang mit dessen Benennung aus Bronze (150 χάλκεοι … οἶκοι).5 Hesiod beschreibt die Gründung von Städten nicht direkt, doch deren Entstehung haben wir uns im Verlauf des zweiten oder dritten Zeitalters zu denken, denn in der darauffolgenden Heroischen Epoche (156–173) erwähnt der Dichter die mythischen Kriege um die Städte Theben und Troja (161–165):6 καὶ τοὺς μὲν πόλεμός τε κακὸς καὶ φύλοπις αἰνὴ τοὺς μὲν ὑφ᾽ ἑπταπύλῳ Θήβῃ, Καδμηίδι γαίῃ, ὤλεσε μαρναμένους μήλων ἕνεκ᾽ Οἰδιπόδαο, τοὺς δὲ καὶ ἐν νήεσσιν ὑπὲρ μέγα λαῖτμα θαλάσσης ἐς Τροίην ἀγαγὼν Ἑλένης ἕνεκ᾽ ἠυκόμοιο.

Grausamer Krieg und schreck­ licher Kampf löschten diese aus, die einen beim siebentorigen Theben, im Land des Cadmus, im Streit um die Herden des Oedipus, die anderen aber, als sie in Schiffen über den weiten Schlund des Meeres nach Troja fuhren wegen der schönhaarigen Helena.

In der Eisernen Zeit (174–201) hat sich schließlich das Leben in der polis etabliert; zu den Übeln dieser Epoche zählen auch Kriege, die mit der Zerstörung von Städten einhergehen (189 ἕτερος δ᾽ἑτέρου πόλιν ἐξαλαπάξει, »Der eine zerstört die Stadt des anderen«).7 In späteren Texten über die Kulturentstehung variieren nicht nur die Anzahl der Zeitalter8 sowie die chronologische Einordnung der Goldenen Zeit, sondern auch das zugrunde liegende Entwicklungsmodell: Der Deszendenz bei Hesiod wird teilweise die Vorstellung einer aszendenten Entwicklung der Menschheit von primitiven Anfängen hin zur Kultur der jeweiligen Gegenwart entgegen 3 Jedoch lässt sich, wie Golla (2016, 168; 178) bemerkt, das Goldene Geschlecht bei Hesiod mit dem wenig später beschriebenen ›Städtediptychon‹ (Hes. op. 225–247) in Beziehung setzen: Das Verhalten der Goldzeitmenschen dient anscheinend als Vorbild für die Menschen in der allegorischen ›Stadt der Gerechtigkeit‹ (225–237), die denjenigen in der ›Stadt der Ungerechtigkeit‹ (238–247) gegenübergestellt werden. – Das Goldene Zeitalter weist auch Ähnlichkeiten mit der biblischen Paradiesdarstellung (Gen 2,4–25) auf. 4 Vgl. Gatz (1967, 73; 205) zu Ov. met. 1,89 als erstem Beleg für die Junktur aurea aetas; Hardie (2015, zu 15,96–103) zu den alternativen Begriffen tempus aureum (Hor. epod. 16,64) und saeculum aureum (zuerst bei Vergil, vgl. Verg. Aen. 8,324 f.). 5 Die bei Homer genannten (von Hephaestus gefertigten) bronzenen Häuser dienen vornehmlich als Wohnstätten für Götter und Helden, weniger für einfache Menschen, vgl. z. B. Hom. Il. 18,371 (Hephaestus); Hom. Od. 7,81–87 (Alcinous); West (1996, zu Hes. op. 150). 6 Vgl. West (1996, zu Hes. op. 162); Fantuzzi/Tsagalis (2015, 13 f.). 7 Zu den textkritischen Problemen in diesem Vers vgl. den kritischen Apparat von Solmsen et al. 8 Zur Anzahl der Zeitalter bei Hesiod vgl. Most (1997). Die Phaenomena des Arat (Arat. Phaen. 94–136) folgen im Grundsatz dem hesiodeischen Deszendenzmodell, beschreiben jedoch eine Abfolge von nur drei Zeitaltern (Gold – Silber – Bronze). Zu Arats Rezeption von Hesiods Zeitaltermythos vgl. van Noorden (2015, 168–203).

Die Entstehung von Städten im Zeitaltermythos

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gesetzt.9 Zur Vorbereitung auf die Analyse der Weltalter-Erzählung in Ovids Metamorphosen sollen zunächst kurz die wichtigsten Referenztexte aus der lateinischen Literatur betrachtet und dabei skizziert werden, inwiefern diese das hesiodeische Modell rezipieren.10 Lukrez lässt keine direkte Bezugnahme auf den Weltaltermythos Hesiods erkennen; insbesondere benennt er keine bestimmten, voneinander abgrenzbaren Zeitalter.11 Im fünften Buch von De rerum natura schildert Lukrez die aufsteigende Entwicklung der Menschheit im Kontext einer mit realistischen Zügen versehenen Kulturentstehungstheorie, ohne jedoch den Fortschritt als uneingeschränkt positiv darzustellen.12 In einer ersten Stufe der Entwicklung (Lucr. 5,925–987) führen die Menschen noch ein primitives Leben in Wäldern und Höhlen (5,955 nemora atque cavos montis silvasque colebant).13 In einer zweiten Stufe (5,1105–1135) gründen mächtige Männer sodann die ersten Städte und fungieren als deren Könige (5,1108 f. condere coeperunt urbis arcemque locare / praesidium reges ipsi sibi perfugiumque).14 In der letzten Stufe der Kulturgeschichte (5,1440–1457) sind vielfältige zivilisatorische Errungenschaften wie

9 Vgl. Kubusch (1986, 9–28) zur Aszendenztheorie bei den Vorsokratikern und in der attischen Tragödie sowie (ebd., 148–154) zur aszendenten Kulturentstehungstheorie in der horazischen Satire 1,3 (vgl. Hor. sat. 1,3,105 oppida coeperunt munire); Labate (2010, 146 f.; 150 f.) zur Uneindeutigkeit bzw. teilweisen Überlagerung von ›Aszendenz‹ und ›Deszendenz‹. 10 Zu Ovids Quellen und zur Begründung der hier vorgenommenen Auswahl vgl. van Noorden (2015, 204–212; 217). Zur Hesiod-Rezeption bei Platon, der in mehreren seiner Werke die vollständige Zeitaltersequenz von Hesiod übernimmt, vgl. van Noorden (ebd., 89–167). 11 Vgl. Beye (1963, bes. 165–168) und Gale (1994, 169–174) zu möglichen lukrezischen Bezügen auf die Zeitalterlehre Hesiods; Lucr. 5,1241–1280 zur Lehre von der Entdeckung der Metalle. 12 Vgl. Beye (1963). Wie Kubusch (1986, 59–86) betont, wägt Lukrez die Vor- und Nachteile der zivilisatorischen Entwicklung gegeneinander ab; ein glückliches Leben wird letztlich nicht durch bestimmte äußere Umstände ermöglicht, sondern durch die Befolgung der Lehren der epikureischen Philosophie. Vgl. Gale (1994, 164–168; 174–177) zu den rationalistischen Elementen in Lukrez’ Darstellung des Goldenen Zeitalters und zu seiner ambivalenten Einstellung zum zivilisatorischen Fortschritt; Gale (2007, 9 f.) für einen kurzen Überblick zu den Positionen in der Frage nach dem ›Optimismus‹ oder ›Pessimismus‹ im Lehrgedicht des Lukrez, für deren Beantwortung sich die Forschung häufig auf das Ende von Buch 5 bezieht. 13 Otten (1984, 41 f.) spricht hier vom »zweiten Stadium der Kulturentwicklung« nach der Urzeit, die partielle Parallelen zum Goldenen Zeitalter aufweise. Vgl. Campbell (2003, z. St.) für Belegstellen in der gesamten antiken Literatur zur Rolle von Höhlen in prähistorischer Zeit. 14 Diese Stufe bezeichnet Otten (1984, 42) als das »eigentliche Kulturstadium«. Bailey (1947, zu Lucr. 5,1108) schreibt (ohne nähere Begründung), Lukrez denke an dieser Stelle eindeutig an die Frühgeschichte Roms.

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Erste Städte

Schifffahrt und Ackerbau etabliert;15 dazu gehört auch der Schutz von Städten durch Türme und Mauern (5,1440 Iam validis saepti degebant turribus aevum).16 In Vergils vierter Ekloge findet sich eine gekürzte und teils nur implizit erkennbare Bezugnahme auf das hesiodeische Zeitaltermodell: Vergil spricht vom Goldenen und vom Eisernen Zeitalter, wobei er die Goldene mit Zügen der Heroischen Zeit versieht.17 In seinen verschiedenen Werken entwirft der Dichter allerdings kein einheitliches Goldzeit-Konzept, sondern passt diesen Topos funktional dem jeweiligen Erzählkontext an.18 Während er das Goldene Zeitalter im ersten Buch der Georgica noch als eine vorlandwirtschaftliche Phase beschreibt (vgl. Verg. georg. 1,125–146), schildert er direkt darauf den Beginn der Feldarbeit und stellt ein ländliches Dasein mit idealisierten Zügen dar, in dem wiederum das Goldene Zeitalter mitschwingt (vgl. 2,536–540).19 Die wichtigste Innovation Vergils in Bezug auf den Goldzeit-Topos besteht in der Idee einer Wiederkehr des Goldenen Zeitalters unter der Herrschaft des Saturn.20 Dieser Gedanke findet sich sowohl in der vierten Ekloge ausgedrückt (Verg. ecl. 4,6 redeunt Saturnia regna; 4,9 toto surget gens aurea mundo) als auch in der Anchises-Prophetie der Aeneis (Verg. Aen. 6,792–794):21 15 Während Lukrez Ackerbau und Schifffahrt direkt nacheinander aufzählt (Lucr. 5,1441 f.), werden diese Errungenschaften in anderen Texten in einen deutlichen zeitlichen Abstand zueinander gebracht: Beispielsweise pflügen die Menschen bei Arat bereits lange Zeit, bevor sie Lebensmittel auf dem Seeweg herbeischaffen (Arat. Phaen. 110 f.). 16 Bailey (1947, z. St.) betrachtet turribus richtigerweise als nahezu synonym zu moenibus. 17 Vgl. Coleman (1977, zu Verg. ecl. 4,6): permixtos heroas (4,16) sowie delectos heroas (4,35) verweisen auf das Heroische Zeitalter mit der Argonauten-Fahrt und dem Trojanischen Krieg. 18 Vgl. Galinsky (1981, 194–197); Kubusch (1986, 91–147) zur zwiespältigen Bewertung der vita urbana in den Georgica; Johnston/Papaioannou (2013, 134 f.); Kersten (2018b, 401– 404) zur Problematisierung des automaton-Motivs in der vierten Ekloge, wo dieses auf die Farbe des Schaffells ausgedehnt ist; Badura (2021, 259). Zur geographischen Verortung des Goldenen Zeitalters in Arkadien und zu literarischen Konstruktionen dieser Gegend (abweichend von deren tatsächlicher Topographie) vgl. Johnston/Papaioannou (ebd., bes. 135–137). 19 Vgl. Erren (2003, zu Verg. georg. 1,118–159) zu Vergils Umgang mit Hesiods Weltaltermythos. – Der erste Dichter, der das Goldene Zeitalter von der Urzeit auf eine spätere Phase verlegt, nämlich auf diejenige eines frühen ländlichen Daseins, ist Arat; vgl. Kubusch (1986, 87–90). 20 Zur Idee einer zyklischen Wiederkehr des Goldenen Zeitalters in der augusteischen Literatur vgl. Groß (2013, 118 f.). Eng damit verknüpft ist die angekündigte Wiederkehr der Dike/Astraea bei Hesiod, Arat, Vergil (vgl. Verg. ecl. 4,6 iam redit et Virgo) und Ovid. 21 Wie Horsfall (2013, z. St.) erläutert, bezeichnet die Junktur saecula condere traditionell den Abschluss eines Jahrhunderts (vgl. z. B. Lucr. 3,1090 vivendo condere saecla), hier jedoch eindeutig den Beginn eines neuen Zeitalters. Auch im Aeneis-Proömium verwendet Vergil das häufig zur Bezeichnung einer Stadtgründung verwendete Verb condere auf innovative Weise, nämlich um die Begründung des römischen Volkes als Ziel seines Epos zu bezeichnen (Verg. Aen. 1,33 Romanam condere gentem).

Die Entstehung von Städten im Zeitaltermythos »Augustus Caesar, divi genus, aurea condet saecula qui rursus Latio regnata per arva Saturno quondam.«

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»Caesar Augustus, der Sohn eines Gottes, wird in den Gefilden, die einst vom latinischen Saturn beherrscht wurden, wieder ein Gol­de­ nes Zeitalter begründen.«

Die Erneuerung einer idealen präurbanen Frühzeit auf dem Boden des kulturell wie städtebaulich hochentwickelten augusteischen Rom erscheint zunächst paradox.22 Dieser offen zutage tretende Widerspruch zwischen Landleben und urbaner Zivilisation lässt sich anhand einer Stelle der Bucolica entschärfen, an der die Permanenz einiger weniger Spuren der gegenwärtigen Entwicklungsstufe auch im neuen Goldenen Zeitalter eingeräumt wird; dazu gehört unter anderem der Schutz von Städten durch Mauern (Verg. ecl. 4,31–33): pauca tamen suberunt priscae vestigia fraudis, quae temptare Thetim ratibus, quae cingere muris oppida, quae iubeant …

Dennoch werden einige wenige Spuren des vorherigen Frevels übrigbleiben, welche [die Menschen] dazu zwingen, das Wasser mit Schiffen zu befahren und die Städte mit Mauern zu umgeben.

Auch innerhalb der Aeneis ist die Darstellung der römischen Frühzeit indes nicht eindeutig: Während es bei der Ankunft der Trojaner in Latium in Buch 7 noch keine Gesetze gibt, weil es ihrer nicht bedarf, wird im achten Buch eine Zivilisation beschrieben, die nicht mehr von derart paradiesischen Zuständen geprägt ist (obwohl die Herrschaft über die Erde noch nicht von Saturn auf Jupiter übergegangen ist).23 Ebenso wie Vergil entwirft auch Ovid in seinem Gesamtwerk kein in sich konsistentes Bild des Goldenen Zeitalters, sondern lobt je nach Erzählkontext entweder die Frühzeit oder den gegenwärtigen Lebensstandard.24 Diese Dichotomie zeigt sich bereits in seiner Liebesdichtung:25 Während Ovid im dritten Amores-Buch zunächst in hesiodeischer Manier die paradiesischen regna Saturni dem entarteten Jetzt gegenüberstellt – insbesondere der Notwendigkeit, Städte mit Mauern zu verteidigen (Ov. am. 3,8,47 turritis incingere moenibus urbes?) –, findet sich kurz darauf ein Gedicht (3,10), das die vorkulturelle Zeit abwertet und stattdessen die Göttin Ceres für die Stiftung der Kulturtechnik des Getreideanbaus preist.26 22 Vgl. Haß (2021, bes. 266) zum Spannungsfeld von Stadt und Land im Rom der augusteischen Zeit. 23 Verg. Aen. 7,203 f. Saturni gentem haud vinclo nec legibus aequam, / sponte sua; 8,321 f. is [sc. Saturnus] genus indocile ac dispersum montibus altis / composuit legesque dedit. 24 Vgl. Galinsky (1981, 197; 204 f.); Kubusch (1986, 185; 211 f.). 25 Vgl. van Noorden (2015, 209 f.). Zur ebenfalls vielschichtigen Deutung der Menschheitsentwicklung in den Fasten vgl. Kubusch (1986, 213–224). 26 3,10,7–14 ante nec hirsuti torrebant farra coloni, / nec notum terris area nomen erat, / sed glandem quercus, oracula prima, ferebant; / haec erat et teneri caespitis herba cibus. / prima

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Erste Städte

In der Ars amatoria greift Ovid zwar den vergilischen Gedanken einer Rückkehr zum Goldenen Zeitalter auf,27 doch er tut dies in einer Weise, die man – ebenso wie sich das gesamte Lehrgedicht als Parodie dieser Gattung interpretieren lässt28 – auch als Karikatur des Goldzeit-Topos verstehen kann.29 Der Sprecher der Ars verwendet das Goldene Zeitalter nicht mehr als Metapher, sondern fasst es wortwörtlich auf, indem er das Gold mit der Stadt Rom und verschiedensten Elementen des urbanen cultus verbindet, den er der unzivilisierten rusticitas gegenüberstellt (Ov. ars 3,113 simplicitas rudis ante fuit; nunc aurea Roma est; 2,277 f. aurea sunt vere nunc saecula: plurimus auro / venit honos, auro conciliatur amor).30 In den Metamorphosen stellt der Weltaltermythos die zweite längere Episode nach der Kosmogonie (Ov. met. 1,5–88) dar. Die Erzählung orientiert sich im Grundsatz an der hesiodeischen Deszendenztheorie,31 sie lässt allerdings das Heroische Zeitalter fort. Ovid schildert also eine Abfolge von nur vier Menschengeschlechtern, die im Goldenen, Silbernen, Ehernen bzw. Eisernen Zeitalter leben. Die folgende Analyse zeigt, wie der Dichter das Aufkommen von Städten zunächst nur indirekt darstellt und insbesondere die ersten bekannten Städte der Menschheitsgeschichte aus seiner Version des Weltaltermythos ausklammert.

Ceres docuit turgescere semen in agris, / …; vgl. Kubusch (1986, 185–199); Ov. fast. 4,393–416. 27 Vgl. Barchiesi (1997, 235–237) zur Nichterwähnung dieses für den augusteischen Diskurs bedeutenden Motivs in den Fasten. 28 Vgl. Effe (1977, 238–248) zu parodistischen Zügen in der Ars amatoria und den Remedia amoris; Steudel (1992). 29 Vgl. Reitz (2003) zur Kulturentstehung (Ov. ars 2,467–492) als ironischer Veränderung der didaktischen Tradition; Miller (2004–2005, 167); van Noorden (2015, 211 f.). 30 Vgl. Galinsky (1981, 198 f.); Kubusch (1986, 199–212; 251); Groß (2013, 115–134) zur rustica simplicitas in Hor. epod. 10. 31 Die ›Deszendenz‹ der Menschheit lässt sich an einer Stelle wörtlich am Text festmachen, wo es heißt, dass im Goldenen Zeitalter noch keine Bäume für den Bau von Schiffen gefällt werden (1,94 f. nondum caesa suis, peregrinum ut viseret orbem, / montibus in liquidas pinus descenderat undas).

Die Entstehung von Städten im Zeitaltermythos

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2.1.1 Analyse Das Goldene Zeitalter (1,89–112) Das erste Zeitalter beschreibt Ovid vornehmlich anhand von Negationen,32 mit denen die Gegenwart zum impliziten Vergleichspunkt erhoben wird.33 Die Rechtschaffenheit der in der Goldenen Zeit lebenden Menschen erscheint als derart vollkommen, dass die Einführung von Gesetzen noch nicht nötig ist (1,89–93):34 Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. … nec verba minantia fixo aere ligabantur, nec supplex turba timebat iudicis ora sui, sed erant sine vindice tuti.

Als erstes entstand das goldene Men­ schengeschlecht, das ohne jeden Beschüt­ zer, von selbst und ohne Gesetze, Treue und Recht pflegte … Und weder las man drohende Worte auf angeschlagenen Erz­ tafeln noch fürchtete die flehende Menge das Antlitz ihres Richters, sondern sie waren ohne Beschützer sicher.35

Die Abwesenheit von ehernen Gesetzestafeln lässt sich als Anspielung auf das römische Rechtswesen, insbesondere auf das Zwölftafelgesetz deuten, das in frührepublikanischer Zeit (451/450 v. Chr.) auf Bronzeplatten in Rom veröffentlicht wurde.36 Als nächstes beschreibt Ovid das Fehlen von Schifffahrt, Städtebau und Krieg (1,94–100). Durch das einleitende Adverb nondum (1,97 nondum praecipites cingebant oppida fossae37) wird das Nichtvorhandensein befestigter Städte auf dieselbe Ebene wie das Fehlen der Schifffahrt gestellt und damit mit einem

32 non; sine (je 4x); nec; nullus (je 3x); nondum (2x); daneben Formen von abesse, intactus und inaratus. 33 Vgl. Gatz (1967, 67; 204) zum Vergleich mit der Vorgehensweise Hesiods; Galinsky (1981, 199 f.); Labate (2010, 142 f.) zu Ovids Übernahme dieser Vorgehensweise von Arat. 34 Vgl. Noorden (2015, 237–239) zur Verschiebung des automaton-Motivs (sponte sua) von der Natur in den Bereich von Moral und Recht. 35 Diese Übersetzung beruht auf der Lesart legebantur in Vers 1,92. 36 Vgl. Newlands (2005, 487); van Noorden (2015, 251 f.); DNP, »Inschriften«. 37 Der Gebrauch von fossae stellt eine gewisse Auffälligkeit dar, weil Ovid sonst zumeist Mauern (moenia/murus) und nicht Gräben als Befestigung von Städten nennt. Die einzigen beiden weiteren Stellen in den Metamorphosen, an denen fossa im militärischen Kontext gebraucht wird, beziehen sich jeweils auf das griechische Heerlager vor Troja, also nicht auf eine feste Stadt (12,149 vigil Argolicas servat custodia fossas; 13,212 [Odysseus] fossa munimina cingo). Für eine textkritische Diskussion zu der letztgenannten Stelle vgl. Rivero García (2018, z. St.). In den Fasten erwähnt Ovid sowohl eine Stadtmauer als auch eine grabenartige Furche im Zuge der Gründung Roms (Ov. fast. 4,839 f. neve quis aut muros aut factam vomere fossam / transeat).

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Erste Städte

der bekanntesten Topoi des Goldenen Zeitalters gleichgesetzt.38 Wie die unmittelbar nachfolgende anaphorische Reihung von vier verneinten Ausdrücken zum Thema ›Militär‹ (1,98 f.) zeigt, steht die Existenz von Städten in engem Zusammenhang mit dem Führen bewaffneter Konflikte – zugespitzt ausgedrückt: Ohne Städte gäbe es keinen Anlass für große Kriege, und ohne Kriege bestünde keine Notwendigkeit, befestigte Städte zu errichten.39 Der nächste Abschnitt (1,101–112) ist der Darstellung des ewigen Frühlings gewidmet; die Natur bietet den Menschen ausreichend Nahrung, es ist noch keine Landwirtschaft nötig.40

Das Silberne Zeitalter (1,113–124) Nach dem Übergang der Weltherrschaft von Saturn auf Jupiter ist das Silberne Zeitalter geprägt vom Ende des ewigen Frühlings (1,116–120) und den Anfängen menschlicher Arbeit (1,123 f.).41 Eines der Kennzeichen der neuen Zivilisationsstufe, die durch die Einleitung des entsprechenden Verses mit tum primum in 38 Auch Ovid stellt den Zug der Argonauten als erste Fahrt mit einem Schiff dar, obwohl er diese Episode erst im mittleren Drittel der Metamorphosen unterbringt (7,1–158). Die Problematik dieser zeitlichen Platzierung wird noch dadurch verstärkt, dass prima … carina pointiert am Buchende steht (6,720 f. vellera cum Minyis … / per mare non notum prima petiere carina), um zur Argonauten-Sage am Beginn von Buch 7 überzuleiten; vgl. Bitto (2019, 145–148; bes. 146); Geitner (2021, 124–129) zur facettenreichen Präsenz von Schifffahrt innerhalb der mythischen Welt der Metamorphosen in der Zeit vor der Argonauten-Fahrt. In den Argonautica des Valerius Flaccus wird die Argo betont am Werkanfang genannt (Val. Fl. 1,1 f. Prima deum magnis canimus freta pervia natis / fatidicamque ratem). 39 Vgl. Barchiesi (2005, zu 1,97–99) mit Vergleichsstellen zu Befestigungsanlagen, die ein zum Goldenen Zeitalter entgegengesetztes Motiv darstellen (Verg. ecl. 4,32 f., vgl. Coleman [1977, z. St.]; Ov. am. 3,8,47 [jeweils oben zitiert]); Verg. Aen. 1,5 (Krieg in Latium als Vorstufe zur Gründung von Rom bzw. Alba Longa und Lavinium); Barchiesi (2005, zu Ov. met. 1,141) betont den Zusammenhang zwischen Krieg und Reichtum in der römischen Welt insgesamt. Vgl. auch Groß (2013, 116); Bach (2020, 52–54) zum engen Zusammenhang von Schifffahrt, Grenzüberschreitung und Kriegen. 40 In der Pythagoras-Rede (15,60–478) greift Ovid die Weltalter-Thematik mehrmals wieder auf. Allerdings zeigt die dortige Darstellung des Goldenen Zeitalters nur wenige Berührungspunkte mit derjenigen in Buch 1; vgl. Galinsky (1981, 200); Hardie (2015, zu 15,96–103); van Noorden (2015, 233 f.). Bach (2020, 60–63) hingegen sieht in Buch 15 eine Wiederkehr des Goldenen Zeitalters unter Augustus, wenngleich nicht als Wiederholung dessen, wie die Welt unter der Herrschaft Saturns war, sondern als »rapprochement asymptotique«. – Pythagoras behauptet, die Menschen des Goldenen Geschlechts hätten sich vegetarisch ernährt (15,96–110); vgl. Lévi (2014, 288–290). Weiterhin dient ihm die Feststellung, dass die Menschheit vom Goldenen zum Eisernen Geschlecht degeneriert sei (15,260 f.), lediglich als einer von mehreren Ausdrücken in einer ganzen Reihe von Umschreibungen für das Prinzip des stetigen Wandels sowie als Einleitung zur Beschreibung von Veränderungen der Erde selbst. Pythagoras scheint indes die Auslöschung des Eisernen Geschlechts durch die Deucalionische Flut (1,414) vergessen zu haben; vgl. Cole (2008, 145). 41 Vgl. Verg. georg. 2,338–342.

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einer Reihe mit dem ersten Wechsel der Jahreszeiten42 und dem notwendigen Beginn der Feldarbeit steht, ist der erstmalige Bau von Unterkünften, welcher durch das Polyptoton von domus besonders betont wird (1,121 f. tum primum subiere domos [domus antra43 fuerunt / et densi frutices et vinctae cortice virgae]). Als Unterschlupf dienen den Menschen also zunächst noch nicht Häuser, sondern natürliche Höhlen oder aus Naturmaterialien errichtete Hütten. Primitive Wohnungen sind ein Motiv, das sich in allen aszendenten wie d ­ eszendenten Kulturentstehungstheorien findet.44 Jedoch fällt an der Stelle in den Metamorphosen eine ungewöhnliche Platzierung auf: In der vorangehenden literarischen Tradition sind ›natürliche‹ Wohnstätten mit dem Motiv der einfachen Nahrung gekoppelt,45 hier jedoch werden sie getrennt davon dargestellt (einfache Nahrung im Goldenen Zeitalter: 1,103 contentique cibis nullo cogente creatis). Im Unterschied nicht nur zu einigen früheren Dichtern, sondern auch zu seiner eigenen Darstellung in der Ars amatoria versetzt Ovid die ersten Behausungen also vom Goldenen Zeitalter in die nächstfolgende zivilisatorische Entwicklungsstufe. Das Aufsuchen von Unterkünften wird als Folge der mittlerweile aufgekommenen Jahreszeiten dargestellt; nach dem Ende des ver ­aeternum können die Menschen nicht mehr ungeschützt in der Natur leben. Der Schutz vor den Naturgewalten erscheint damit komplementär zu demjenigen vor menschlicher Gewalt, wie er im Goldenen Zeitalter evoziert wurde.

Das Eherne Zeitalter (1,125–127) Ovids Beschreibung des dritten Menschengeschlechtes erschöpft sich in der Aussage, dass dieses kriegerischer sei als das vorherige, jedoch nicht verbrecherisch. Somit wird die Bedeutung dieses Zeitalters auf die einer bloßen Zwischenstufe im Verlauf des moralischen Niedergangs der Menschheit reduziert, um sogleich zum letzten, dem Eisernen Zeitalter überzuleiten. Die nahezu gleichrangige Stellung der beiden letzten Geschlechter zeigt sich auch darin, dass der Übergang zwischen ihnen innerhalb eines Verses erfolgt und nicht wie diejenigen zwischen den übrigen Geschlechtern durch einen Verswechsel markiert ist.

42 Vgl. Wolkenhauer (2019, 224). 43 Diese Stelle ist die erste von nicht weniger als 33 in den Metamorphosen, an denen eine Form von antrum vorkommt; diese Stellen sind nahezu gleichmäßig über alle 15 Bücher verteilt. 44 Vgl. Gatz (1967, 76) mit Vergleichsstellen bei Demokrit und Platon; Bömer (1969, z. St.); Campbell (2003, 340) für einen Überblick zum Motiv des Lebens in Feldern, Bergen, Wäldern und Höhlen in der antiken Literatur zur menschlichen Kulturentstehung. 45 Kubusch (1986, 231–236). Vgl. Lucr. 5,937–944 (einfache Nahrung); 5,955 (einfache Wohnstätten); Ov. ars 2,473–475 tum genus humanum solis errabat in agris, / … / silva domus fuerat, cibus herba, cubilia frondes; Ov. fast. 2,289–293; 3,183 f.

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Erste Städte

Das ausgelassene Heroische Zeitalter Wie bereits erwähnt, verkürzt Ovid die bei Hesiod dargestellte Folge von fünf Zeitaltern, indem er das Menschengeschlecht der Heroen fortlässt, das eine vorübergehende positive Zwischenstufe innerhalb der Deszendenztheorie konstituiert.46 Ein möglicher Erklärungsansatz für diese einschneidende Veränderung gegenüber dem wichtigsten Referenztext könnte im Zusammenhang mit dem Stadtmotiv stehen.47 Der Weltaltermythos an sich muss wohl als außerhalb der mythischen Gesamtchronologie der Metamorphosen liegend angesehen werden,48 deren zeitlichen Rahmen Ovid im Proömium als Universalgeschichte von den Anfängen der Welt bis zu seiner Gegenwart absteckt (1,3 f. prima … ab origine mundi / ad mea … tempora).49 Trotz der anachronistischen Tendenzen, die Interpreten immer wieder vor Probleme stellen,50 vermittelt das Gedicht insgesamt den Eindruck eines linear fortlaufenden Geschehens.51 Da Ereignisse wie der Bürgerkrieg in Theben sowie der Trojanische Krieg traditionell in das Zeitalter der Heroen datiert werden (so auch in der oben zitierten Hesiod-Stelle), hätte deren Erwähnung den chronologischen Ablauf der Metamorphosen erheblich stören müssen. Beide Ereignisse schildert Ovid nämlich erst deutlich später (9,403–417; 9,403 f. nam iam discordia Thebae / bella mouent, vgl. Einleitung zu Kap. 3; 12,1–13,622 [›Kleine Ilias‹, vgl. Einleitung zu Kap. 5]), und da man die Kriege um Theben und Troja als konstitutive Elemente des Heroischen Zeit-

46 Vgl. Matthiessen (1977, bes. 176 f.); Labate (2010, 140); van Noorden (2015, 33–39; 225 f.) zu Ovids Umgang mit dem hesiodeischen Heroischen Zeitalter. 47 Eine andere Erklärung liefert Schmidt (2021, 66): Demnach habe Ovid das Heroische Zeitalter bewusst ausgelassen, um den Wandel von concordia zu discordia in der Welt als kontinuierliche Entwicklung darstellen zu können; ähnlich Bach (2020, 50). 48 Dagegen ist z. B. Barchiesi (2005, zu 1,125–150) der Ansicht, das Geschehen im Anschluss an die Weltalter-Episode spiele nach der Eisernen Zeit; Andrae (2003, 111 f.) ordnet es in das Eiserne Zeitalter ein (vor allem aufgrund des weitgehenden Gebrauchs des Präsens für diese Epoche); vgl. 1,414 genus durum sumus; Boyle (2008, 365): »This post-Deucalion world […] is the one inhabited by the reader.« 49 Vgl. Ludwig (1965, bes. 82 f.); Cole (2004); Wolkenhauer (2019, 235 f.) zur Vermischung verschiedenartiger Zeitkonzeptionen in den Metamorphosen. 50 Von Albrecht (2003, 162 f.) plädiert angesichts der Vielschichtigkeit der Metamorphosen sinnvollerweise für einen offenen interpretativen Zugang zum Phänomen der verschiedenen zeitlichen Ebenen. Vgl. Geitner (2021, 90–122) für einen Forschungsüberblick zu den (vermeintlichen) Anachronismen des Werkes. Im Rahmen seiner begrifflichen Differenzierung schränkt Geitner (ebd., 88) die Definition eines literarischen Anachronismus sinnvollerweise auf denjenigen Fall ein, in dem zwei Aussagen, die außertextlich unvereinbar sind, auf derselben diegetischen Ebene als gleichzeitig zutreffend beschrieben werden. 51 Ovid scheint im Wesentlichen den drei von Varro postulierten Epochen zu folgen (obskure – mythische – historische Zeit); vgl. Feeney (1999, 15); Cole (2008, 13).

Die Entstehung von Städten im Zeitaltermythos

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alters bezeichnen kann, hätte dessen Einfügung in den Weltaltermythos ohne ihre Erwähnung zweifellos wenig Sinn ergeben.52

Das Eiserne Zeitalter (1,127–150) Ovids Darstellung des Eisernen Menschengeschlechtes nimmt Motive aus dem Goldenen Zeitalter – diesmal ex positivo – wieder auf und enthält zudem einige Elemente aus der Ehernen und Heroischen Epoche bei Hesiod.53 Die wichtigsten Kennzeichen des ovidischen Eisernen Zeitalters sind das Fehlen aller Tugenden und das Vorkommen jeder Art von Frevel einschließlich Krieg, Raub und dergleichen, daneben Schifffahrt, Landwirtschaft und Bergbau. In der Schilderung des letzten Weltalters finden sich keine direkten Hinweise auf das Vorhandensein von Städten, jedoch scheint die Existenz von Kriegen (1,142 prodit bellum) dies zu implizieren. Zahlreiche Indizien – jedoch wiederum keine direkten Hinweise – ermöglichen einen Vergleich der Eisernen Zeit mit der Gegenwart, nicht aber eine direkte Gleichsetzung.54

2.1.2 Fazit Ovids Weltalter-Episode zeigt zunächst eine Goldzeit-Landschaft, in der Städte nur ex negativo evoziert werden. Im weiteren Verlauf der Menschengeschlechter geht der Text kaum auf die Entwicklung hin zu einer urbanen Zivilisation ein, wie sie römische Leser aus ihrer Gegenwart kennen. Lediglich im Silbernen Zeitalter werden die ersten Häuser erwähnt, die jedoch nur behelfsmäßige Vorrichtungen zum Schutz vor den Naturgewalten sind. Dieses Motiv ist parallel zu Stadtmauern und Gräben, die man eines Tages zum Schutz vor menschlicher Gewalt benötigen wird, die aber im Goldenen Zeitalter noch nicht existieren (1,97 nondum praecipites cingebant oppida fossae). Der Raum wird nicht von Figuren als Anschauungsraum wahrgenommen, sondern nur vom extradiegetischen Erzähler beschrieben.

52 Dasselbe gilt sinngemäß für andere Ereignisse des Heroischen Zeitalters wie die Fahrt der Argonauten, die Ovid in Buch 7 darstellt (7,1–158). 53 Vgl. Ludwig (1965, 88). 54 Vgl. Newlands (2005, 487). Für eine aktualisierende Lesart und eine Auslegung des Zeitaltermythos als Affront gegen Kaiser Augustus plädiert am stärksten Schmitzer (1990, 39–51, bes. 43). Schon Buchheit (1966, 102 f.) sieht insbesondere in den abschließenden Versen 1,144–150 wie an anderen Stellen bei Vergil (in der vierten Ekloge sowie in den Georgica generell) sowie bei weiteren Dichtern (vgl. Hor. epod. 7) ein Zeitkolorit, das eine Identifizierung mit dem Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius erlaube; zurückhaltender äußert sich Kubusch (1986, 237).

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Erste Städte

Interessanter ist die Betrachtung des Aktionsraums. Die Abwesenheit von Städten und schützenden Gräben in der Goldenen Zeit steht für das generelle Fehlen von menschengemachten Grenzen, die erst im Eisernen Zeitalter als Folge der notwendig gewordenen Landwirtschaft entstehen (1,136 humum longo signavit limite mensor).55 Solange es keine Grenzen in der Welt gibt, kann es auch keine Konflikte um deren Übertretung und damit letztlich keine erzählenswerte Bewegung bzw. Handlung geben.56 Somit erschließt sich auch eine wichtige symbolische Funktion des Raumes ex negativo: Der Gegensatz zwischen Stadt und Land entsteht erst im späteren Verlauf der Zivilisation – in der Goldenen Zeit hingegen gibt es schlichtweg keine voneinander unterscheidbaren topographischen Bereiche, die eine unterschiedliche symbolische Wertigkeit erhalten könnten. Insgesamt sind Städte bzw. damit verbundene Aspekte in Ovids Darstellung des Goldenen Zeitalters negativ konnotiert. Sie werden in einen engen Zusammenhang mit Kriegen gebracht, also mit einer potentiell existentiellen Bedrohung, und Elemente der Urbanität wie beispielsweise Gesetze entfalten im Sinne des gestimmten Raumes gleichfalls eine bedrohliche Wirkung auf die Menschen (1,91 verba minantia). Die Erfindung von Häusern im Silbernen Zeitalter könnte man zunächst als positiven Entwicklungsschritt auffassen, doch diese Errungenschaft wird insofern in ein negatives Licht gerückt, als die direkte Neben­ einanderstellung der Begriffe ›Haus‹ und ›Höhlen‹ (1,121 domus antra fuerunt) eine pejorative Gleichsetzung zum Ausdruck bringt.57 Zudem wäre selbst die Entstehung von ›richtigen‹ Häusern hier als Rückschritt zu betrachten, sofern man sie zu der negativen Bewertung von Städten im Goldenen Zeitalter in Bezug setzte.

2.2  Der Untergang von Städten in der Sintflut (1,253–312) Berichte über eine große Flut, die in Vorzeiten über die Erde gekommen sei, finden wir weit über den griechisch-römischen Kulturkreis hinaus.58 In der Literatur der klassischen Antike spiegeln sich drei mythische Fluten wider: Die 55 Vgl. Ov. am. 3,8,41 f. nec valido quisquam terram scindebat aratro, / signabat nullo limite mensor humum; Verg. georg. 1,126 f. ne signare quidem aut partiri limite campum / fas erat; Campbell (2003, 347) für einen Überblick zum Motiv der Grenze in der antiken Literatur zur menschlichen Kulturentstehung. 56 Vgl. das Fehlen von Schiffsreisen, die ein Symbol für die Übertretung von natürlichen, d. h. geographischen, Grenzen sind (1,96 nullaque mortales praeter sua litora norant); Kap. 1.3.1 zur Raumsemantik bei Lotman (1993), der das Überschreiten einer Grenze durch eine Figur als konstitutives Element für eine ›revolutionäre‹ Erzählung betrachtet. 57 Vgl. Steffensen (2018, 315). 58 Vgl. Caduff (1986, 11–15; 122–132) zu Sintflut-Erzählungen im Orient und im Nahen Osten, insbesondere derjenigen in der Bibel (Gen 6,5–8,22), zum Vergleich der ovidischen Erzählung mit dieser auch Griffin (1992); Haubold (2019, 15) zum Einfluss des akkadischen

Der Untergang von Städten in der Sintflut

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Flut des Ogygos, die Deucalionische Flut sowie die Flut des Dardanus.59 Unter diesen hat die mit Deucalion assoziierte Flut die weiteste Verbreitung gefunden, so z. B. schon bei Pindar (Pind. O. 9,41–56) sowie später in Rom bei Horaz (Hor. carm. 1,2,5–12), Vergil (Verg. ecl. 6,41 f.; Verg. georg. 1,60–63) und schließlich in der hier untersuchten Textstelle von Ovids Metamorphosen (vgl. auch Ov. fast. 4,785–794). Die von Lukrez geschilderte Sintflut (Lucr. 5,411–415) wird nicht namentlich als die Deucalionische identifiziert. Eine Gemeinsamkeit vieler Sintflut-Erzählungen besteht in einem Zusammenhang mit dem Motiv der Kulturstiftung: Viele ›Fluthelden‹, die die jeweilige Flut überleben, gelten als Zivilisationsstifter und werden als Gründer von Tempeln oder Städten verehrt.60 Beispielsweise erscheinen Deucalion und Pyrrha bei Pindar als Erbauer des allerersten Hauses (Pind. O. 9,43 f. Πύρρα Δευκαλίων τε Παρνασσοῦ καταβάντε / δόμον ἔθεντο πρῶτον, »Als Pyrrha und Deucalion vom Parnass gestiegen waren, errichteten sie das erste Haus«),61 und ebenso wird Deucalion bei Apollonios von Rhodos als Städtegründer dargestellt (A. R. 3,1088 f. ὃς πρῶτος ποίησε πόλεις καὶ ἐδείματο νηούς / ἀθανάτοις, »Dieser errichtete als erster Städte und erbaute Tempel für die Unsterblichen«).62 In Ovids Metamorphosen ist die Sintflut-Erzählung die erste von zwei kosmischen Katastrophen neben dem Weltenbrand infolge von Phaethons Irrfahrt (Ov. met. 1,750–2,400).63 Der Flutbericht folgt auf die Götterversammlung (1,163–208; 1,240–252), die eine Reaktion Jupiters auf den Frevel der Giganten (1,151–162) bzw. den Mordanschlag des Lycaon (1,209–239) darstellt. Die Sintflut-Episode lässt sich in folgende Abschnitte gliedern: Die einleitende Passage (1,253–261) beschreibt den Weg zu Jupiters Entscheidung, die Menschheit mit einer Flut zu bestrafen; der Hauptteil schildert zunächst (1,262– 292), wie Regen und die über die Ufer tretenden Flüsse und Meere für Zerstörung sorgen, und anschließend (1,293–310) die paradoxalen Auswirkungen der Sintflut auf die Lebewesen. Die beiden abschließenden Verse (1,311 f.) leiten zu der Episode von Deucalion und Pyrrha (1,313–415) über, in der ein neues Menschengeschlecht aus den Steinen entsteht, die diese auf Geheiß der Themis Flutepos Atrahasis auf das Gilgamesch-Epos. Für eine umfangreiche Quellensammlung zu antiken Zeugnissen einer Sintflut vgl. Caduff (ebd., 16–39). 59 Zur Flut des Ogygos vgl. Caduff (1986, 44–53; 159–186); Cole (2008, 63 f.). Vgl. Caduff (ebd., 39–43) zur Flut des Dardanus; West (1996, zu Hes. op. 145 f.) zu Verbindungen zwischen den Weltaltern und der Deucalionischen Flut in den Hesiod-Scholien. Für die Metamorphosen selbst ist auch noch die Flut in der Geschichte von Philemon und Baucis (Ov. met. 8,688–697) zu erwähnen. 60 Vgl. Caduff (1986, 229–239); Speyer (2007, 156). 61 Vgl. Ov. met. 1,316 f. 62 Zur Verbindung von Deucalion mit Athen vgl. Bömer (1969, zu Ov. met. 1,253–312); Caduff (1986, 79; 107–113; 240–243). 63 Auch Lukrez behandelt beide Ereignisse direkt nacheinander, allerdings in umgekehrter Reihenfolge (Lucr. 5,392–415).

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hinter sich werfen (1,414 genus durum).64 Die folgende Analyse zeigt, wie Ovid auch mithilfe des Stadtmotivs eine verkehrte Welt unter Wasser erschafft, in der der im Zeitaltermythos geschilderte zivilisatorische Fortschritt wieder zunichte gemacht wird.

2.2.1 Analyse Unter dem Aspekt des Städtethemas65 sind vor allem einige Textstellen innerhalb des Hauptteils der Episode (1,262–310) relevant. In vielfachen Variationen schildert Ovid die Überflutung des Landes und die Allgegenwart des Wassers (z. B. 1,285 exspatiata ruunt per apertos flumina campos; 1,291 f. iamque mare et tellus nullum discrimen habebant; / omnia pontus erat, deerant quoque litora ponto).66 Das Wasser erscheint als allmächtig, es zerstört selbst Tempel oder überflutet zumindest sämtliche Gebäude (1,287–290): tectaque cumque suis rapiunt penetralia sacris si qua domus mansit potuitque resistere tanto indeiecta malo, culmen tamen altior huius unda tegit pressaeque latent sub gurgite turres.

Die Wassermassen reißen Häuser und Heilig­ tümer zusammen mit den Götterbildnissen mit sich. Wenn irgendein Haus stehenblieb und sich, ohne dabei umgeworfen zu werden, einem solch großen Übel widersetzen konnte, so bedeckte doch eine Woge seinen Giebel, die höher als dieser war, und die Türme lagen niedergedrückt unter der Flut verborgen.

Die veränderte Welt wird zunächst aus menschlicher Perspektive, dann aus derjenigen der Meeresbewohner präsentiert: Die Menschen fahren in Schiffen über ihre ehemaligen Äcker und Landhäuser hinweg (1,294–296 ducit remos illic, ubi nuper ararat / ille supra segetes aut mersae culmina villae / navigat), Meeresnymphen betrachten erstaunt die Häuser und Städte unter der Wasserober­f läche (1,301 f. mirantur sub aqua lucos urbesque domosque / Nereides).67 Das Staunen 64 Vgl. Kap. 3.1 zur Entstehung der thebanischen Urbevölkerung. 65 Zu möglichen zeitgenössischen Bezügen (namentlich zum römischen Heerwesen) vgl. Barchiesi (2005, zu 1,275 auxiliaribus undis). 66 Zum Schauplatz der Deucalionischen Flut bei Ovid sowie zur maximalen geographischen Ausbreitung der Flut (omnia pontus erat) im Gegensatz zu anderen Versionen, die eine regional begrenzte Wirkung beschreiben, vgl. Cole (2008, 47; 65). Das Wort exspatiari ist hier zum ersten Mal in der lateinischen Literatur belegt, vgl. Bömer (1969, z. St.); die nächste Verwendung findet sich in der Phaethon-Erzählung, also ebenfalls bei der Darstellung einer kosmischen Katastrophe (1,202; vgl. auch die dritte und letzte Stelle in der Pythagoras-Rede: 15,454). 67 Die Nereiden leben traditionell in der Grotte ihres Vaters auf dem Grund des Meeres (vgl. Hom. Il. 18,50). Während die Nereiden bei Ovid Städte unter Wasser bewundern, betrachten sie bei Catull die Argo, also das erste Schiff, das ihr Element befährt (Catull. 64,15 aequoreae monstrum Nereides admirantes). Ovids Beschreibung von Städten unter Wasser

Der Untergang von Städten in der Sintflut

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der Nereiden lässt sich als Beispiel für Ovids Nutzung der psychologischen Funktion des Raumes deuten: Diese Figuren werden eines Phänomens gewahr, dessen Auftreten normalerweise nicht an einem solchen Ort zu erwarten wäre. Im Verlauf des Werkes finden sich weitere Stellen, die sich auf die SintflutErzählung zurückbeziehen.68 Die für unser Thema wichtigste Passage steht innerhalb der Pythagoras-Rede in Buch 15: In seiner Beschreibung von Veränderungen der Erdgestalt erwähnt der Philosoph auch die Städte Helice und Buris, deren Ruinen man noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt unter der Wasseroberfläche sehen könne (15,293–295):69 »si quaeras Helicen et Burin, Achaidas urbes, invenies sub aquis, et adhuc ostendere nautae inclinata solent cum moenibus oppida mersis.«

»Wenn du nach Helice und Buris fragst, griechischen Städten, so wirst du sie unter Wasser finden, und noch heute pflegen Seeleute die unzerstörten Städte mit ihren versunkenen Mauern zu zeigen.«

Pythagoras sagt zwar nicht, dass die beiden Städte in der Deucalionischen Flut (oder überhaupt durch eine plötzliche Überflutung) untergegangen seien, doch darf man annehmen, dass hier ebenso ein Rückbezug innerhalb seiner Rede vorliegt, wie wir ihn bezüglich des Goldenen Zeitalters festgestellt hatten.70 Betrachten wir Helice und Buris als ›Opfer‹ der Deucalionischen Flut, so liefert Ovid hier, im letzten Buch des Werkes, zwei konkrete Beispiele für die im Eingangsbuch nur allgemein genannten Städte (1,301 urbes) nach.

scheint eine eigene Erfindung zu sein, zumindest findet sich keine Entsprechung unter den von Horaz genannten Adynata der Deucalionischen Flut (Hor. carm. 1,2,5–12). In der Flutbeschreibung bei Lukrez können wir nur dann einen Hinweis auf den Untergang von Städten sehen, wenn wir eine Konjektur von Pontanus annehmen (Lucr. 5,412 urbis statt undis). 68 Vgl. Myers (1994, 147; 156) zu derartigen Rückbezügen auf frühere Passagen. Im siebten Buch schildert Ovid zu Beginn von Medeas Flug über Griechenland (7,351–356), wie sich Cerambus fliegend auf den Othrys in Thessalien rettete und so der Deucalionischen Flut entkam; vgl. Caduff (1986, 115 f.; 158 f.; 236); Schubert (1989, 179) zur motivischen Verbindung mit der umgebenden Medea-Sage. Die Existenz dieses Überlebenden stellt einen Widerspruch dazu dar, dass Deucalion und Pyrrha gemäß der Feststellung Jupiters die einzigen Flutüberlebenden waren (1,324–327; aber vgl. 1,311 f. [Andeutung von mehreren Überlebenden]); vgl. Kenney (2011, zu 7,353–356). Dasselbe Problem ergibt sich bezüglich Callisto, der Tochter des vor der Flut verwandelten Lycaon (2,401–532); vgl. dazu Cole (2008, 47 f.). 69 Vgl. Caduff (1986, 40) und das dort wiedergegebene Lykophron-Scholion; Hardie (2015, z. St.) zu weiteren literarischen Belegen für den Untergang dieser beiden Städte, die in historischer Zeit (373/372 v. Chr.) durch ein Erdbeben zerstört wurden; Geitner (2021, 160). 70 Vgl. Kap. 2.1; Reitz et al. (2019, 694) zu solchen ›Selbstrekapitulationen‹ Ovids.

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Erste Städte

2.2.2 Fazit Die Sintflut-Episode zeigt eine Welt, in der sich Häuser, Tempel und ganze Städte unter Wasser befinden (1,301 sub aqua … urbesque domosque); sie können daher im Sinne des Anschauungsraums kaum mehr von Menschen, sondern nur noch von Wasserlebewesen wahrgenommen werden. Die Wirkung dieser Phänomene wird durch ihre doppelte Erwähnung intensiviert.71 So werden die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten des Menschen in der von der Flut heimgesuchten Welt betont. Während die Naturgewalt des Wassers als Akteur erscheint (1,285–287 ruunt … flumina … / … / tecta … rapiunt), sind die Menschen nahezu passive Wesen innerhalb des Aktionsraums.72 Ihr erzwungenes Dasein auf dem allgegenwärtigen Wasser verändert ihre Tätigkeit: Anstatt zu pflügen, fahren sie Boot und fischen. Eine wesentliche Veränderung gegenüber der vorher bestehenden Welt offenbart sich in der Aufhebung von Grenzen, wie sie zusammen mit den Städten in die Welt gekommen waren (1,291 iamque mare et tellus nullum discrimen habebant): Die Sintflut beseitigt alle zuvor entstandenen topographischen Abgrenzungen, die symbolische Funktion des Raumes wird an dieser Stelle aufgehoben.73 Die unter Wasser befindlichen Städte sind ein Teil jener ›verkehrten Welt‹, die Ovid mithilfe zahlreicher Adynata wie dem ›Wolf unter Schafen‹ gestaltet (1,301–308).74 Der gestimmte Raum dieser Welt wirkt einerseits bedrohlich aufgrund der Allmacht des Wassers, des Sterbens von Menschen und Tieren (1,311 maxima pars unda rapitur) und der Vergänglichkeit von zivilisatorischen Errungenschaften wie Häusern. Andererseits führt der Untergang von Städten auch zu einem allgemeinen Frieden auf Erden.75 Dieser Friede ist jedoch insofern utopisch, als er zu demjenigen des Goldenen Zeitalters konträr ist, denn während jener Friede in der Zeit vor dem Aufkommen der menschlichen Zivilisation herrschte, ist dieser erst nach ihrer gewaltsamen Zerstörung zu beobachten. 71 1,289 f. culmen tamen altior huius / unda tegit ~ 1,295 supra … culmina villae; 1,288 si qua domus mansit ~ 1,301 sub aqua … domos. Vgl. die durch ein Polyptoton hervorgehobene Bedeutung der ersten Häuser im Silbernen Zeitalter (1,121 subiere domos [domus antra fuerunt]). 72 Vgl. Biggs/Blum (2019, bes. 147; 161) zur Machtlosigkeit der menschlichen Figuren in epischen Seestürmen. 73 Vgl. Biggs/Blum (2019, 145). 74 Holzberg (2005, 129 f.) führt Ovids Unterwasserwelt als Beispiel für die Komik des Dichters an; vgl. jedoch Griffin (1992, 45) unter Bezugnahme auf Hor. carm. 1,2: »The in­ congruities of Ovid’s account of the flood are […] largely conventional and cannot be regarded […] as typical examples of Ovidian frivolity.« 75 Vgl. Kap. 2.1.1 zur Verbindung von Städten und Krieg.

Der Untergang von Städten im Weltenbrand

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2.3  Der Untergang von Städten im Weltenbrand (2,1–400) Die Phaethon-Geschichte erzählt von der Übernahme des Sonnenwagens durch den Sohn des Sol und dessen tragischem Ende, als er die Kontrolle über die Rosse des Sonnengottes verliert und abstürzt. Die Episode stellt die zweite kosmische Katastrophe nach der Sintflut (1,253–312) dar.76 Es werden hier nur einzelne Textstellen untersucht, die für das Städtethema relevant sind. Diese Passagen fügen sich folgendermaßen in die Abschnitte der Phaethon-Erzählung ein: Nach dem Prolog am Ende des ersten Buches (1,750– 779) wird die eigentliche Geschichte mit einer Beschreibung der Regia Solis eingeläutet (2,1–18), die auch eine Darstellung von Städten enthält. Auf die Ankunft Phaethons und die Äußerung seines Wunsches, einen Tag lang die Zügel des väterlichen Sonnenwagens zu übernehmen (2,19–48), folgt Sols warnende Rede an seinen Sohn (2,49–149), in der er diesen vor den Gefahren des Himmelfahrtskommandos sowie insbesondere vor falschen Vorstellungen über die Natur des Himmels warnt, die auch die mögliche Existenz von Städten betreffen. Anschließend schildert Ovid die eigentliche Reise des Phaethon bis zu seinem tödlichen Absturz (2,150–328); die Folgen dieser Fahrt betreffen auch die irdischen Städte. Auf den Epilog der Geschichte (2,329–400), der unter anderem von der Trauer des Sol und der Verwandlung seiner Töchter berichtet, ist hier nicht weiter einzugehen.

2.3.1 Analyse Innerhalb der Ekphrasis von Sols Palast nimmt die Beschreibung der kunstvollen Schnitzereien, die Vulcan dort gefertigt hat, einen breiten Teil ein (2,5–18).77 Die Darstellung der drei Sphären von Weltmeer, Erde und Himmel wird jeweils durch einige Details präzisiert.78 Die Angaben über das genaue Aussehen der Erde beinhalten auch das Vorhandensein von Städten (2,15 terra viros urbesque gerit). Die Funktion der ausführlichen Ekphrasis beschränkt sich nicht auf eine 76 Vgl. Schmidt (2021, 107): »Kosmische Ordnungen müssen immer wieder neu hergestellt werden, so dass der instabile Charakter der Schöpfung zu erkennen ist.« 77 Zu den teils offensichtlichen, teils nur anzunehmenden Referenztexten für die PalastEkphrasis vgl. Norton (2013, 149–152). Speziell zu den epischen Vorbildern Ovids für eine solche Palastbeschreibung vgl. Lausberg (1982, 120 f.); Brown (1987, 211); Barchiesi (2005, zu 2,1–18). Vgl. Ahl (1985, 173) zum Wortspiel caelarat – caelum (2,6 f.). 78 Vgl. Döpp (1992, 152 f.) zur Bedeutung der drei Sphären. Bernsdorff (2000, 15) macht auf die »oppositio in imitando« von Ovid bezüglich Homer aufmerksam: Während in der homerischen Schildbeschreibung (Hom. Il. 18,478–608) der Schwerpunkt auf dem Land und seinen Bewohnern liegt, ist bei Ovid die Beschreibung des Meeres zentral (Ov. met. 2,8–14); vgl. Norton (2013, 149; 217 f.) zu den Implikationen für Ovids Verhältnis zu Homer; Harrison (2019, 776 f.).

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bloße Vorwegnahme der Ehrfurcht, mit der Phaethon kurz darauf das Haus seines Vaters betritt (2,21–24), sondern die dargestellten Elemente antizipieren zugleich auch die Bereiche des Universums, die später durch den Weltenbrand in Mitleidenschaft gezogen werden. Zuvor jedoch sei eine Textstelle innerhalb der Mahnrede des Sol betrachtet. Als dieser versucht, seinen Sohn doch noch von dem fatalen Wunsch abzubringen, weist er ihn unter anderem auf seine möglicherweise vorhandene, aber – vermeintlich – irrige Annahme hin, im Himmel gäbe es Haine, Städte und Heiligtümer der Götter (2,76 f. forsitan et lucos illic urbesque deorum / concipias animo delubraque ditia donis?). Sol scheint also zu befürchten, sein Sohn könnte sein auf der Erde erworbenes ›Weltwissen‹ auf den Himmel übertragen und sich dessen Gestalt genauso wie diejenige der Erde vorstellen. Diese Evokation eines naiven Phaethon zeigt, wie Ovid mit der charakterisierenden Funktion des Raumes arbeitet. Indem Sol seinem Sohn das vorgeblich wahre Bild der zu befahrenden Himmelsroute vor Augen führt (2,78–87), zeigt sich ein Kontrast zwischen Leser- und Figurenwissen: Der um seinen Sohn besorgte Gott betont einseitig die gefahrvollen Seiten des Himmels, doch die Leser erinnern sich, dass es in der mythischen Welt der Metamorphosen durchaus eine urbs deorum gibt,79 nämlich den im ersten Buch als ›Himmels-Palatin‹ umschriebenen Sitz der Götter (1,175 f. hic locus … / … Palatia caeli).80 Sol verschweigt also bewusst diejenigen Merkmale des Himmels, die diesen der menschlichen Erfahrung besser zugänglich machen könnten. Wichtig für unsere Analyse ist auch eine Passage über Städte im Rahmen der Schadensbeschreibung von Phaethons Irrfahrt. Die Darstellung der Brandschäden an Feldern, Bäumen und Gräsern wird durch einen Ausruf ex persona poetae81 unterbrochen (2,214–216): parva queror: magnae pereunt cum moenibus urbes, cumque suis totas populis incendia gentis in cinerem vertunt.

Geringfügiges beklage ich: Große Städte gehen zusammen mit ihren Mauern unter, und zusammen mit ihren Bevölkerungen verwandeln Brände ganze Völkerschaften zu Asche.

79 Vgl. Kap. 4.1 zur Stadt der Unterwelt. 80 Vgl. Ahl (1985, 183 f.) zu anderen Versionen des Mythos, in denen die Milchstraße erst durch die Irrfahrt des Phaethon ihre Gestalt erhält; 2,298 (Rede der Tellus) regia caeli ~ 1,256–258 esse quoque in fatis reminiscitur (sc. Iuppiter) adfore tempus / quo mare, quo tellus correptaque regia caeli / ardeat et mundi moles operosa laboret. 81 Vgl. Kirstein (2015b, 263) zum metaleptischen Effekt derartiger Einwürfe des Erzählers.

Der Untergang von Städten im Weltenbrand

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Der extradiegetische Erzähler beklagt also den Untergang von Städten und bezeichnet diese als etwas Bedeutendes (magnae).82 Sie werden insbesondere den vorher genannten ›kleinen‹ Dingen (parva) gegenübergestellt. Bei der Beschreibung der Brandschäden erhellt sich auch im Nachhinein die narrative Bedeutung der Ekphrasis am Beginn des Hauptteils der Erzählung: »What was an innocent spatial description […] becomes in retrospect a sinister omen.«83 – Es sind eben jene Städte, Wälder und Flüsse, die eingangs in all ihrer Pracht beschrieben wurden und die nun in Flammen aufgehen. Der Untergang von Städten wird allerdings nur generell konstatiert (2,214 magnae pereunt … urbes), d. h., es werden keine spezifischen Städte benannt. Das Adjektiv magnae suggeriert, dass es zu diesem Zeitpunkt der Weltgeschichte bereits bedeutende Städte gibt, obwohl solche erst später (in Form von Athen und Theben) individuell in den Metamorphosen dargestellt werden. Im Kontrast zu dieser unspezifischen Aussage fügt Ovid im Anschluss zwei Kataloge ein, die eine Vielzahl von namentlich benannten Bergen (2,217–226) sowie Quellen und Flüssen (2,238–259) enthalten, die durch die kosmische Katastrophe versengt werden bzw. austrocknen.84 Für das fehlende Vorhandensein eines Städtekatalogs an dieser Stelle lassen sich zwei Gründe anführen: Zum einen spielen konkrete Städte in dieser Phase der ovidischen Weltgeschichte noch keine Rolle, zum anderen wäre ihr Untergang auch weniger plausibel darstellbar – Städte ließen sich nicht ebenso exakt wiederherstellen wie die Elemente der Natur, die Jupiter nach der Vergewaltigung der Callisto erneuert (2,406 f. fontesque et nondum audentia labi / flumina restituit). Am Ende des zweiten Katalogs nennt Ovid die Flüsse Rhone und Po sowie den Tiber (2,257–259):85 fors eadem … siccat Hesperiosque amnes, Rhenum Rhodanumque Padumque cuique fuit rerum promissa potentia, Thybrin.

Dasselbe Schicksal … trocknet die Flüsse Italiens aus, den Rhein, die Rhone und den Po sowie den Tiber, dem die Herrschaft über die Welt versprochen war.

82 Dies ist im Verlauf des Werkes die erste Stelle, an der Städte nicht nur allgemein als urbes genannt, sondern mit einem Adjektiv versehen werden. – Zu 2,214 vgl. 15,295 (Pythagoras) cum moenibus oppida mersis. 83 Brown (1987, 214 f.). Zur proleptischen Funktion der Ekphrasis vgl. Bernsdorff (2000, 15 f.; 31); Norton (2013, 153 f.); Harrison (2019, 790 f.). 84 Vgl. Bach (2020, 105–112) zur möglichen Betrachtung der beiden Kataloge im Sinne eines zurückgelegten Weges bzw. alternativ einer Karte. 85 Andrae (2003, 65) macht auf den logischen Widerspruch (einen vermeintlichen Fehler Ovids) aufmerksam, dass der Po (Eridanus) hier als ausgetrocknet dargestellt wird, Phaethon aber kurz darauf (2,324) in ebendiesen Fluss stürzt; vgl. Bach (2020, 79) zur Problematik der Identifikation von Eridanus und Po. Des Weiteren stellt die Benennung des Tibers zu diesem Zeitpunkt streng genommen einen Anachronismus dar, weil der Fluss diesen Namen erst später erhielt; vgl. Malochet-Turquety (2014, 197 f.).

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Erste Städte

Während die Rhone und der Po traditionelle Elemente in Darstellungen des Phaethon-Mythos sind,86 ist die Erwähnung des Tibers bemerkenswert: Barchiesi (2005, zu 2,259) ist der Ansicht, die Schlussstellung des durch die Gegend des späteren Rom fließenden Tibers wirke wie eine »apostrofe al lettore romano«. Die römischen Leser werden hier mit der Zerstörung eines konstitutiven Elementes späterer römischer Topographie und somit mit der Frage konfrontiert, ob sich eine solche Zerstörung auch in ihrer eigenen Gegenwart wiederholen kann.87

2.3.2 Fazit In der Phaethon-Episode sehen wir Städte im Rahmen einer auktorialen Ekphrasis zur Beschreibung der gesamten Welt,88 als imaginäre Himmelsobjekte in der Vorstellung des naiven Phaethon (hier einzig im engeren Sinne des Anschauungsraums), dann wieder aus der Perspektive des Erzählers im Augenblick ihrer Zerstörung und schließlich durch eine intertextuelle Anspielung. Städte haben in dieser Erzählung keine direkt fassbare Bedeutung als Aktionsraum für die handelnden Figuren. Für den gestimmten Raum sind nur die Städte im Himmel relevant, die Phaethon sich vermeintlich vorstellt; die entsprechende Textstelle (2,76 f. forsitan … urbesque deorum / concipias animo) illustriert die psychologische Funktion des Raumes, da hier der Entschluss der Hauptfigur zu der geplanten Handlung potentiell bestärkt wird. Jenseits der Kategorien des hier verwendeten Raummodells kommt den in der Palast-Ekphrasis genannten Städten jedoch eine Bedeutung zu, die sich analog zu derjenigen der idyllischen Landschaften sehen lässt: Ebenso wie die Darstellung eines locus amoenus in den Metamorphosen oft einer Geschichte von Vergewaltigung und Verwandlung vorangeht,89 so wirkt hier die prächtige Darstellung von Städten auf Vulcans Kunstwerk als erzählerischer Kontrast zu

86 Vgl. den beinahe wortgleichen Flusskatalog in den Fasten (Ov. fast. 4,571 f. nunc adit Hesperios, Rhenum Rhodanumque Padumque / teque, future parens, Thybri, potentis aquae). 87 Vgl. Kap. 6 zur Vorstellung der Roma aeterna. – Die geographische Antizipation der Hauptstadt des Imperium Romanum wirkt indes umso intensiver, wenn man eine nahezu gleichlautende Parallelstelle aus den Fasten zum Vergleich heranzieht (Ov. fast. 6,358 f. Roma … / haec est cui fuerat promissa potentia rerum). Dort wird die zukünftige Macht des römischen Weltreichs mit exakt denselben Worten, aber mit direktem Bezug auf die Stadt Rom und nicht über den narrativen Umweg des durch sie fließenden Tibers gepriesen; vgl. MooreBlunt (1977, zu Ov. met. 2,259). – Zur Rolle des Tibers in den Prophetien der Aeneis vgl. Finkmann et al. (2019, bes. 652). 88 Es handelt sich dabei um eine ›obedient ecphrasis‹ im Sinne der Terminologie von Laird (1993); vgl. Norton (2013, 155). 89 Vgl. Segal (1969a, 15–18).

Schlussfolgerungen: Die ersten Städte als literarische Landschaft

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der nachfolgenden Katastrophe wahrhaft kosmischen Ausmaßes, die die Welt erneut in eine dem ursprünglichen Chaos gleichende Landschaft verwandelt.

2.4  Schlussfolgerungen: Die ersten Städte als literarische Landschaft Wenngleich namentlich bezeichnete ›große‹ Städte erst mit Athen am Ende von Buch 2 und Theben zu Beginn von Buch 3 Eingang in die Welt der Metamorphosen finden, haben ›anonyme‹ Städte auch schon in einigen Episoden der beiden Eingangsbücher eine wichtige Funktion inne. Diese ersten Städte in Ovids mythischem Kosmos besitzen keine individuellen Eigenschaften und werden auch nicht in bestimmten Weltgegenden lokalisiert, sondern sie fungieren gleichermaßen als topographisches Kollektiv, das mit anderen Sphären wie der außerstädtischen Natur kontrastiert. Nach der mythischen Goldenen Zeit als einer Epoche ohne Urbanität treten Städte in den darauffolgenden Zeitaltern in die Entwicklung der Welt ein, werden aber als negatives Element konnotiert. Dort, wo Städte in den weiteren Episoden von Buch 1 und 2 genannt werden, stehen diese jeweils im Kontext von Zerstörung: Die Sintflut sorgt dafür, dass Städte unter der Wasseroberfläche verschwinden und nur noch von nicht-menschlichen Figuren betrachtet werden können, und der von Phaethon verursachte Weltenbrand führt ebenfalls zum Untergang einst prächtiger Städte. Wenngleich die Verbindung zwischen der Nennung einer Stadt und einer anschließenden Katastrophe keine so unmittelbare ist, wie sich dies bezüglich des Verhältnisses zwischen der Beschreibung eines locus amoenus und einem anschließenden Gewaltakt gegenüber einer menschlichen Figur beobachten lässt, so lässt sich hierin eine gewisse Analogie zwischen den ›urbanen‹ und den naturnahen Geschichten der Metamorphosen erkennen. Im Rahmen der nachfolgenden Untersuchungen zu Theben, Troja und Rom werden wir sehen, wie Ovid auch diese namentlich genannten Städte bereits kurze Zeit nach ihrer Entstehung mit ihrer späteren tatsächlichen oder zumindest potentiellen Zerstörung assoziiert (vgl. bes. Kap. 3.4; 5.1; 6.5).

3 Theben

Seit den für uns fassbaren Anfängen der antiken Literatur spielen das böotische Theben und das in Kleinasien gelegene Troja gleichermaßen eine wichtige Rolle.1 Dies zeigt sich beispielsweise bei Hesiod, der die Kriege um diese zwei Städte als prägende Ereignisse des Heroischen Zeitalters aufführt (Hes. op. 161–165; vgl. Kap. 2.1). Da die in und um Theben verorteten Begebenheiten gemäß der mythischen Chronologie vor den mit Troja und dem Trojanischen Krieg verbundenen Geschehnissen liegen, nimmt Theben in der mythologischen Weltgeschichte den Rang einer ersten Stadt ein.2 Der thebanische Sagenkreis beinhaltet Begebenheiten aus drei mythischen Bereichen: Erzählungen über die Gründung Thebens durch den Heroen Cadmus bzw. die Zwillingsbrüder Amphion und Zethus, über das tragische Geschick von Cadmus’ Nachkommen (insbesondere derjenigen seines Enkels Labdacus, also die Geschichten rund um Oedipus, Antigone, Eteocles und Polynices) und schließlich über den in Theben geborenen Helden Hercules. Die Vielfalt der literarischen Bearbeitungen des mythischen Materials hat indessen teilweise divergierende Versionen der thebanischen Sagen hervorgebracht.3 Für Ovids Bearbeitung des thebanischen Sagenzyklus stellen die Werke des sogenannten Epischen Kyklos – bezüglich dessen erweiterter Definition, die nicht allein die Epen aus dem trojanischen Bereich einschließt4 – sowie die attischen Tragödien die wichtigsten Referenztexte dar.5 Aufgrund des fragmentarischen Überlieferungszustandes des Kyklos lassen sich nur bedingt Rückschlüsse auf die Darstellung von Theben und seiner Topographie ziehen.6 Eine 1 Zu Verbindungen zwischen dem Troja der Ilias und dem Theben-Mythos vgl. Lentini (2013, 188). 2 Vgl. Berman (2015, 31); Farrell (2019, 52 f.); Varro rust. 3,1,2 Etenim vetustissimum oppidum cum sit traditum Graecum Boeotiae Thebae. 3 Vgl. Cole (2008, 28–32) zur Chronologie bzw. Genealogie des thebanischen Herrscherhauses; Berman (2013, bes. 37) zur Wechselbeziehung zwischen der literarischen und der frühen mythographischen Tradition. 4 Zur Bedeutungsspanne des Begriffs vgl. Fantuzzi/Tsagalis (2015, 1–7). Im engeren Sinne bezeichnet der Begriff epikos kyklos nur die trojanischen Sagen; vgl. DNP, »Epischer Kyklos«. Die Inhalte des Kyklos sind, abgesehen von den Fragmenten, in den Zusammenfassungen des Proklos (2. Jahrhundert n. Chr.) überliefert. West (2013, 26–40) untersucht die Autorzuschreibungen für die Werke des Epischen Kyklos und bietet eine konzise Übersicht zu Inhalten und Datierung (ebd., 55–306). 5 Rosati (2015, 577) tendiert zu einer positiven Beantwortung der Frage, ob Ovid die Werke des Epischen Kyklos gekannt hat. 6 Vgl. Cingano (2000, 127 f.); Berman (2015, 27); Cingano (2015b, 213 f.): Im Gegensatz zu den trojanischen Epen besitzen wir keine Prosazusammenfassungen der Werke zum

Theben

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frühe literarische Perspektive auf die Stadt lässt sich also (abgesehen von den Werken und Tagen Hesiods) nur aus den homerischen Epen gewinnen.7 Ebenso wie Troja gilt Theben in den antiken Texten als ›heilig‹ (gr. hieros),8 doch damit sind die Gemeinsamkeiten zwischen diesen zwei epischen Städten nicht erschöpft. Wie David (2009, 260–265) und Berman (2015, 36–45) überzeugend herausgearbeitet haben, erfahren Theben und Troja in der nicht-homerischen Epik eine im Wesentlichen identische Beschreibung: Neben Heiligkeit werden ihnen auch Reichtum und militärische Stärke in Form von mächtigen Verteidigungsanlagen zugeschrieben. Da beide Städte immer wieder mit Kriegen und Belagerungen assoziiert werden (Theben mit dem gescheiterten Zug der ›Sieben gegen Theben‹ sowie mit der erfolgreichen Eroberung durch die ›Epigonen‹, Troja mit dem Untergang im Trojanischen Krieg), erscheint Theben aufgrund der zeitlichen Priorität der dort verorteten Ereignisse als Prototyp einer belagerten Stadt.9 Der einzige wesentliche Unterschied in der literarischen Darstellung der beiden Städte besteht in dem Attribut ›siebentorig‹ (gr. heptapylos),10 mit dem sich das böotische Theben nicht nur von Troja abhebt, sondern auch von seinem Namensvetter, dem ›hunderttorigen‹ Theben in Ägypten; dieses Beiwort ist daher konstitutiv für die mythische Identität und Besonderheit Thebens.11 In den Tragödien der klassischen Zeit erfährt Theben eine andere Darstellung als in den vorklassischen Epen.12 Während diese kaum Details aus dem Bereich innerhalb der Mauern oder gar Elemente alltäglichen Lebens schildern, gewähren die griechischen Dramen auch einen Blick auf das Innere der Stadt.13 thebanischen Sagenkreis. Zum Inhalt der Oedipodeia vgl. Cingano (ebd., 215–218) und zu Elementen thebanischer Topographie Berman (ebd., 28); bezüglich der Thebais vgl. analog Torres-Guerra (2015, 226 f.) bzw. Berman (ebd., 28 f.); bezüglich der Epigonoi Cingano (2015a, 246–251) bzw. Berman (ebd., 29). 7 Vgl. Berman (2015, 41–45; 2017, 37 f.) zu Theben in Homers Ilias und Odyssee; Behm (2019a, 263–268) zu Theben in den homerischen Epen, in Ovids Metamorphosen und in der Thebais des Statius; Berman (2015, 33) zu Theben bei Hesiod. 8 Dieses Attribut bezieht sich nicht auf Theben und Troja allein, vgl. Easterling (1989, 7); David (2009, 260 Fn. 19); Berman (2015, 34). Die Heiligkeit besteht schon vor der eigentlichen Stadtgründung, wie Berman (2017, 35 f.) mit Bezug auf den homerischen Apollo-Hymnus ausführt (vgl. Hom. h. 3,226 ἱερῇ ἐνὶ Θήβῃ). 9 Vgl. Berman (2015, 31; 41). Diese Beobachtung deckt sich auch mit der realen Geschichte Thebens: Die Stadt wurde nicht nur in der mythischen Epoche von den Söhnen der ›Sieben‹ erobert, sondern auch in historischer Zeit durch Alexander den Großen (335 v. Chr.) und Demetrius I. Poliorcetes (290 v. Chr.). 10 Vgl. Hom. Il. 4,406; Coray et al. (2017, z. St.) zu möglichen historischen sowie poetischen Hintergründen für die Zuschreibung dieser Anzahl an Toren; Hom. Od. 11,263. 11 Vgl. Cingano (2000, 141–143); David (2009, 263–265); Berman (2015, 29 f.; 36). 12 Vgl. Berman (2015, 149–159, bes. 157 f.). 13 Vgl. Berman (2015, 46 f.; 141), der zur Erklärung für diesen Unterschied den Hintergrund der epischen Dichtung in der oral poetry anführt und mit der Fokalisierung des Geschehens durch den außerhalb der Stadt befindlichen epischen Erzähler argumentiert. – Am Beginn von Euripides’ Bacchantinnen werden mit dem Dirke-Quell und dem Fluss Ismenos

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Theben

Wichtiger erscheint jedoch die jeweils unterschiedliche Funktion Thebens als Vergleichsobjekt für andere Städte: Während Homer die gescheiterte bzw. die geglückte Eroberung der Stadt als Bewertungsmaßstab für die an den thebanischen Kriegen sowie der am Trojanischen Krieg beteiligten Helden verwendet,14 stellt das Theben der attischen Tragödie – so die Hauptthese des fundamentalen Artikels von Zeitlin (1986, bes. 116–123) – auch eine Folie für Athen dar. Theben ist für antike Leser demnach das ›Andere‹ – ein Ort, der für das athenische Theaterpublikum zwar Parallelen zur eigenen Stadt aufweist, aufgrund der dort (in Theben) lokalisierten tragischen Ereignisse jedoch als Kontrastfolie zum positiv konnotierten Athen dient.15 Im Einklang mit der antiken Mythenchronologie erscheint Theben auch bei Ovid als erste große Stadt: Zwar findet sich schon im zweiten Buch der Metamorphosen eine Sage, die in Athen spielt, aber die in Buch 3 beginnende Darstellung der thebanischen Mythen eröffnet den ersten der drei großen, mit den ›Hauptstädten‹ des Werkes verbundenen Sagenzyklen.16 Allerdings ist die Verteilung der mit Theben zusammenhängenden Mythen in den Metamorphosen kaum mit der ersten Buchpentade deckungsgleich. Während der thebanische Zyklus im engeren Sinn das komplette dritte Buch sowie etwa drei Viertel des folgenden Buches umfasst (bis Ov. met. 4,603), finden wir einen ersten Nachtrag in der Erzählung von Niobe und ihren Kindern in Buch 6 (6,146–312). In Buch 7 befindet sich die Geschichte vom teumessischen Fuchs, der in der Gegend um Theben sein Unwesen treibt (7,757–793).17 Die Episoden aus dem Leben des Hercules sowie Anspielungen auf diesen Helden erstrecken sich vom siebten bis zum letzten Buch, mit einem Fokus auf Buch 9 (9,1–272),18 das weitere Anspiezwei bekannte topographische Elemente der thebanischen chora genannt (Eur. Bacch. 5); vgl. Berman (ebd., 28 f.). 14 Vgl. Behm (2019a, 263 f.) zur Rolle von Diomedes im vierten Buch der Ilias; Nethercut (2019, 196). 15 Gegen die Betrachtung Thebens als Antityp zu Athen positioniert sich Easterling (1989, 13 f.). Hardie (1990, 229) hingegen akzeptiert ebenso wie die Mehrheit der Interpreten die These von Zeitlin. Vgl. Berman (2015, 34 f.; 47) zur Rivalität von Theben mit Delphi bzw. Athen. 16 Zur engen Anlehnung von Statius’ Thebais (vgl. bes. Stat. Theb. 1,4–17) an Ovids thebanischen Zyklus vgl. Keith (2004/2005); zur Rezeption von Ovids Landschaftsbeschreibungen in der Thebais vgl. Newlands (2004). Keith (ebd., 182) setzt den Beginn von Ovids Theben-Zyklus schon am Beginn der Geschichte von Jupiter und Europa an (Ov. met. 2,836). 17 Zur Rolle des teumessischen Fuchses im homerischen Apollo-Hymnus bzw. im Epischen Kyklos vgl. Berman (2015, 33 f.); Rosati (2015, 567). Zu der ovidischen Episode vgl. Bernsdorff (2000, 35–44). Zu Beginn des genannten Abschnitts (Ov. met. 7,759–761) findet sich auch eine Erwähnung des von Oedipus gelösten Sphinx-Rätsels. 18 Hercules wird bei Ovid mehrmals mit Tiryns assoziiert, der Geburtsstadt seiner ­Mutter Alcmene (z. B. 9,66 Tirynthius), anstatt mit seinem eigenen Geburtsort Theben. D ­ ieses ­Beiwort verweist auch auf König Eurystheus von Tiryns, der Hercules die berühmten zwölf Aufgaben übertrug. – Vgl. Kenney (2011, zu 7,410) zur Junktur Tirynthius heros.

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lungen auf thebanische Mythen enthält (9,394–449; 9,403–417 Krieg zwischen Eteocles und Polynices). Dies gilt auch für die Ekphrasis mit der Darstellung der thebanischen Pest in Buch 13 (13,675–704; vgl. Kap. 5.7) sowie für die Erwähnung Thebens im Rahmen des pythagoreischen Städtekatalogs (15,418–452; vgl. Kap. 6.5).19 Ovids Darstellung der thebanischen Mythen in den Büchern 3 und 4 wird umrahmt durch die Geschichten über die Gründung von Theben durch Cadmus (3,1–137) und dessen Auszug aus der Stadt (4,563–603).20 Sie umfasst Erzählungen über die Geschicke seiner Kinder und Enkel. Diese Geschichten stehen aber nur in einigen Fällen in einem unmittelbaren räumlichen Zusammenhang zur Stadt: Während Actaeon, der Sohn von Cadmus’ Tochter Autonoe, außerhalb Thebens von der Meute seiner Jagdhunde zerrissen wird, nachdem er die Göttin Diana nackt beim Baden beobachtet hat (3,138–252),21 kommt Semele durch Jupiters Liebesblitz in ihrem Wohngemach zu Tode (3,253–315).22 Der aus ihrem Leib gerettete Bacchus verursacht später den grausamen Tod von Cadmus’ Enkel Pen­t heus, der von seiner Mutter Agave zerrissen wird (3,511–733). Cadmus’ Tochter Ino und deren jüngerer Sohn Melicertes fliehen schließlich aus ihrem Palast, nachdem ihr Gemahl Athamas dort im Wahn ihren erstgeborenen Sohn Learchus getötet hat (4,416–542). Bedeutsam ist nicht allein, welche Sagen des thebanischen Mythenkreises Ovid auswählt, sondern auch, welche Stoffe er fortlässt bzw. worauf er nur indirekt Bezug nimmt. Als Begründung für die oben skizzierte Auswahl von Episoden aus dem thebanischen Sagenkreis lassen sich hauptsächlich zwei Vermutungen vorbringen. Zum einen mussten die Erzählungen ermöglichen, eine Verwandlung einzufügen, zum anderen mussten sie sich darüber hinaus in das Gattungskonzept der Metamorphosen einbinden lassen (vgl. Kap. 1.2.2; 7.4.2). Auch wenn die Verwandlung selbst häufig nur einen Nebenaspekt der jeweiligen Erzählung darstellt (so etwa im Fall der tyrrhenischen Seeleute, einer Binnenerzählung innerhalb der Auseinandersetzung von Pen­t heus mit den Anhängern des Bacchus-Kultes; 3,582–691), ist doch stets eine Metamorphose erkennbar. Die von Ovid ausgelassenen, eigentlich für Theben geradezu konstitutiven Mythen um Oedipus23 und den Zug der ›Sieben gegen Theben‹ sowie denjenigen 19 Vgl. Gildenhard/Zissos (2016, 37 Fn. 46). 20 Zur genealogischen und topographischen Einheit des Theben-Zyklus vgl. Hardie (1990, 224; 231 mit Fn. 37); Videau (1998, 265); Keith (2002, 267 f.); Fabre-Serris (2010, 100); Gildenhard/Zissos (2016, 32 f.) mit einer hilfreichen Übersicht. 21 Der Schauplatz entfernt sich in mehreren Stufen von der Stadt hin zur freien Natur: 3,143 Mons erat …; 3,155 Vallis erat …; 3,161 fons sonat … 22 Dies ist nur indirekt zu erschließen durch 3,274 limen adit Semeles; vgl. Eur. Bacch. 6–9. 23 Vgl. Janan (2007, 109; 123); Janan (2009, 73 f.) zur Verkörperung von Oedipus und weiteren thebanischen Charakteren in anderen Figuren.

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der ›Epigonen‹ enthalten kaum literarisch verwertbare Verwandlungen. Vielmehr handelt es sich hier um Stoffe, die sich vornehmlich für das tragische Genre eignen (auch wenn dies keine hinreichende Begründung darstellt) und die dementsprechend auch in Dramen behandelt wurden.24 Vor der Untersuchung der Episoden mit direktem Bezug zur Stadt Theben ist eine kurze Betrachtung der dazwischengeschalteten Erzählungen hilfreich, die eine solche Bezugnahme dem ersten Anschein nach vermissen lassen.25 Zwischen den oben genannten Episoden, die zumindest einen mittelbaren räumlichen Bezug zu Theben aufweisen, stehen die Geschichten von Tiresias’ Urteil über das unterschiedlich starke Vergnügen von Männern und Frauen am Geschlechtsverkehr (3,316–338),26 von der Selbstverliebtheit des Narcissus (3,339–510), von den Erzählungen der Minyas-Töchter (4,1–415) sowie von der Verwandlung von Inos Gefährtinnen (4,543–562). »Even when the narrative veers off […] Thebes remains an important point of reference«, schreiben Gildenhard/Zissos (2016, 33), die diese Ansicht mit den von Theben ausgehenden ›tragischen Kräften‹ illustrieren, denen auch die im benachbarten Orchomenos situierten Minyas-Töchter nicht zu entkommen vermögen. Auch wenn sich zweifelsohne viele derartige motivische Querbezüge finden, darf man dennoch nicht die bereits oben genannte schlichte Begründung außer Acht lassen, dass Ovid seine Stoffe nicht zuletzt auch aufgrund des Kriteriums ausgewählt hat, ob sie eine Verwandlung enthielten. In den folgenden Einzelkapiteln werden die Episoden um Cadmus und Pen­ theus aus Buch 3 sowie um Pyramus und Thisbe, Juno sowie Cadmus und Harmonia aus Buch 4 untersucht. Es wird jeweils die Darstellung und Funktion der Stadt Theben analysiert und anschließend das daraus entstehende Gesamtbild von Theben in den Metamorphosen ermittelt – auch im Hinblick darauf, inwiefern diese erste ›Hauptstadt‹ als Etappe auf dem Weg des Werkes nach Rom betrachtet werden kann.

24 Vgl. Ambühl (2019, 178 f.). Um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen, sei hier auf Aischylos’ Sieben gegen Theben sowie auf Sophokles’ Oedipus-Tragödien und seine Antigone hingewiesen. Keith (2002, 264) führt aus, wie Ovid in seinem Theben-Zyklus die inhaltlichen Schwerpunkte gegenüber der sonstigen erhaltenen Epik verschiebt. Zu Ovids großer Bedeutung für Senecas Oedipus vgl. Seo (2013, 94–121). 25 Wie Videau (1998, 277 f.) konstatiert, hält sich Ovid außerhalb der Cadmus-Erzählung (3,1–137) nicht an das aristotelische Prinzip der kausalen bzw. konsekutiven Verknüpfung der Teilhandlungen. 26 Vgl. Fantham (2004, 40) zu thematischen Verbindungen zwischen den Erzählungen von Tiresias und Cadmus.

Cadmus gründet Theben

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3.1  Cadmus gründet Theben (3,1–137) Mit der Stadt Theben ist eine doppelte Gründungslegende verbunden: Parallel zu der auch in den Metamorphosen behandelten Sage vom phönizischen Helden Cadmus existiert der Mythos von den Zwillingen Amphion und Zethus, den Erbauern der Stadtmauer.27 Die Sage von Amphion und Zethus scheint die ältere der beiden Legenden zu sein, da sie bereits bei Homer überliefert ist und Cadmus dort noch nicht als Stadtgründer in Erscheinung tritt.28 In den poetischen Versionen der folgenden Jahrhunderte lässt sich dann oftmals eine Vermischung der beiden Sagen beobachten, bevor Aischylos sie in seinen Sieben gegen Theben erstmals als zeitlich und räumlich getrennt und damit komplementär zueinander darstellt.29 In der frühen mythographischen Literatur wird die Koexistenz der beiden Mythen unter chronologischen und genealogischen Gesichtspunkten rationalisierend erklärt.30 Demnach habe Cadmus die Cadmeia genannte Akropolis von Theben errichtet, Amphion und Zethus hingegen die Unterstadt mitsamt dem Mauerring.31 Im Gegensatz zu diesen Versuchen, die beiden Versionen über die Gründung Thebens zeitlich und/oder räumlich getrennt voneinander zu erklären, deutet Berman (2004, 1 f.) sie als zwei verschiedene poetische Traditionen (eine mykenische und eine archaische) zu einem einzigen, einmaligen Ereignis. Die beiden Legenden über die thebanische Stadtgründung stellen eine wichtige Parallele zu den Mythen über die Gründung Roms dar (vgl. Kap. 6.3). Die vielschichtige literarische Tradition ordnet beiden Städten einen einzelnen Helden sowie ein Bruderpaar zu, die jeweils an verschiedenen Stadien der Stadtgründung beteiligt sind. In der ersten Phase kommt mit Cadmus bzw. Aeneas/ Hercules ein Held32 aus der Fremde (Phönizien bzw. Troja/Arkadien) an den Ort der späteren Stadt (Theben bzw. Rom) und beseitigt dort ein ›Monster‹ (Cadmus den Drachen des Mars, Hercules das Ungeheuer Cacus und Aeneas 27 Varro datiert die Gründung von Theben – ohne Bezugnahme auf einen der beiden Mythen – auf die Zeit vor der Ogygischen Flut (vgl. Kap. 2.2), d. h. auf die Zeit um 2150 v. Chr. (Varro rust. 3,1,2 f. Thebae, quae ante cataclysmon Ogygi conditae dicuntur, eae tamen circiter duo milia annorum et centum sunt); vgl. Cole (2008, 68). Zur Bedeutung von Theben vor der eigentlichen Stadtgründung vgl. Berman (2017, 35–42). 28 Hom. Od. 11,260–265; Hes. cat. fr. 125 M.; vgl. Hom. Od. 5,333 (Cadmus als Vater von Ino); Berman (2004, 3 f.; 19; 2015, 31 f.; 42). David-Guignard (2006, 260–265) bietet eine Sammlung aller Stellen zur Amphion-Legende bis in die Kaiserzeit. 29 Vgl. Berman (2004, 6–10; 15–17). 30 Vgl. Berman (2013, 41–49) zur Darstellung der Gründung Thebens bei den Mytho­ graphen Hellanikos und Pherekydes. 31 Vgl. Berman (2004, 1–3). In Euripides’ Bacchantinnen wird Cadmus von Tiresias als Erbauer der thebanischen Unterstadt bezeichnet (Eur. Bacch. 171 f.). 32 Vgl. Nikolopoulos (2006, 73) zur Rolle eines herausgehobenen Individuums in epischen Kolonisationserzählungen.

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in gewisser Analogie dazu den Rutuler-König Turnus). Eine zweite Phase der Stadtgründung ist jeweils mit einem Zwillingspaar verbunden (Amphion und Zethus bzw. Romulus und Remus), dessen entscheidende Leistung der Bau einer Stadtmauer ist. Ein wichtiger Unterschied zwischen den Bruderpaaren besteht in ihrem jeweiligen Verhältnis untereinander: Während Amphion und Zethus zwei unterschiedliche Lebensformen repräsentieren, aber in einer friedlichen Beziehung zueinander stehen,33 kommt es trotz der charakterlichen Ähnlichkeit von Romulus und Remus zu einem tödlichen Streit zwischen ihnen um die Vorherrschaft über die neue Stadt. Auch wenn seit dem einflussreichen Artikel von Hardie (1990) dahingehend Übereinstimmung besteht, dass Ovid den thebanischen Sagenzyklus und insbesondere die Gründungsgeschichte der Stadt mit konstantem Bezug auf Vergils Aeneis gestaltet hat, sind zunächst die Phönizierinnen des Euripides als unmittelbarer Referenztext der Version in den Metamorphosen zu nennen. In dem Drama werden beide Gründungslegenden erwähnt: Im zweiten Stasimon des zweiten Epeisodion wird an den Mauerbau durch Amphions Leierspiel erinnert (Eur. Phoen. 822–827), doch bereits das erste Stasimon des ersten Epeisodion enthält eine ausführliche Darstellung der Cadmus-Legende (638–675).34 Die Grundzüge der euripideischen Schilderung stimmen fast vollständig mit der Version Ovids überein. In der Strophe (638–656) kommt Cadmus aus Phönizien an den Ort der zu gründenden Stadt, den ihm ein Rind gemäß einem offenbar zuvor empfangenen Orakelspruch anzeigt.35 Die Gegenstrophe (657–675) schildert dann den Kampf gegen den Drachen des Mars (allerdings erwähnt Euripides keine Gefährten des Cadmus), das Aussäen von dessen Zähnen auf Geheiß der Pallas sowie den gegenseitigen Vernichtungskampf der aus der Erde hervorsprießenden Krieger. Angesichts des Doppelmythos über die Gründung Thebens ist hier zunächst interessant, welche Variante Ovid in den Metamorphosen darstellt.36 Der Dichter entscheidet sich – so scheint es zunächst – für die Cadmus-Legende und damit gegen die Sage von Amphion und Zethus.37 Diese lässt er jedoch nicht vollends entfallen, sondern trägt sie im Rahmen seiner Niobe-Erzählung nach 33 David-Guignard (2006, bes. 250) evaluiert die symbolische Bedeutung der Legende, insbesondere die Rolle des Zethus, der die thebanische Mauer im physischen Sinne errichtet haben soll und damit als Vertreter einer vita activa gelten kann, sowie diejenige des Amphion, der die Mauersteine durch sein Leierspiel zusammengefügt haben soll und sich dadurch als Vertreter einer vita contemplativa erweist. 34 Vgl. Keith (2002, 263); David-Guignard (2006, 261). 35 Lediglich die hier von Euripides beschriebene Geburt des Bacchus lagert Ovid in die Semele-Episode aus (3,253–315). 36 Zu derselben Episode vgl. auch Behm (2019a, 265–267; 2020, 338–340). 37 In der Exildichtung überlagert Ovid anscheinend beide Versionen miteinander, indem er vom Mauerbau durch Cadmus spricht (Ov. Pont. 1,3,77 f. liquit Agenorides Sidonia moenia Cadmus, / poneret ut muros in meliore loco).

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(Ov. met. 6,146–312), also kurz nach dem Beginn des zweiten, von attischen Sagen geprägten Werkdrittels (6,177–179):38 »me regia Cadmi »Unter meiner [sc. Niobes] Herrschaft sub domina est, fidibusque mei commissa mariti steht die Burg des Cadmus, und die durch moenia cum populis a meque viroque reguntur.« das Leierspiel meines Ehemannes erbauten Mauern werden zusammen mit der Bevölkerung von mir und meinem Mann beherrscht.«

Damit schließt sich Ovids Darstellung indirekt an die frühe mythographische Tradition an, indem die beiden Gründungslegenden chronologisch getrennt und auf zwei verschiedene Phasen der thebanischen Geschichte verteilt werden. Ein zweiter Grund für den Verzicht auf die Amphion-Legende im Rahmen der Gründungserzählung mag darüber hinaus in der Verwendung des Motivs vom ›musikalischen‹ Mauerbau an einer anderen Stelle der Metamorphosen liegen: In der Scylla-Episode im achten Buch (8,6–154; vgl. Kap. 4.6) wird innerhalb einer Ekphrasis der Stadtmauern von Megara an deren Entstehung durch das Leierspiel Apollos erinnert. Somit spart Ovid dieses Motiv in Buch 3 offenbar für einen späteren Zeitpunkt seines Epos auf und versieht die Gründungslegende jener anderen Stadt mit Zügen der thebanischen Sage.39 Die Cadmus-Geschichte stellt nicht nur die erste, sondern auch die längste Gründungserzählung der Metamorphosen dar. In ihren wesentlichen Zügen folgt sie einem Muster griechischer Kolonisationsnarrative, das Dougherty (1993, 8; 15) zusammenfasst.40 Ausgangspunkt für die Gründung einer Kolonie fern vom Mutterland ist gemäß diesem Muster eine Krise ›zu Hause‹, hier in Form der Entführung von Cadmus’ Schwester Europa durch Jupiter; auf seiner Reise wird dem jeweiligen Helden durch das Orakel von Delphi eine verschlüsselte Aufgabe gestellt, hier die Gründung an dem Ort, an dem sich ein Rind niederlassen wird; schließlich kommt es zur eigentlichen Gründung der Kolonie und zu deren Benennung, hier nach eben jenem Rind. Lediglich die übliche Lösung der ursprünglichen Krise in der Heimat des Gründers fehlt bei Ovid: König Agenor, der Vater des Cadmus, erhält seine Tochter Europa nicht von deren göttlichem Entführer zurück.41 38 Amphion wird innerhalb dieser Episode noch zwei weitere Male erwähnt: in Vers 6,221 als Vater von Niobes Söhnen; 6,271 f. anlässlich seines Selbstmordes; vgl. 6,401 f. anlässlich der um ihn trauernden griechischen Städte; Keith (2004/2005, 182); Kap. 6.5. 39 Vgl. Behm (2018). 40 Vgl. Scarsi (1981, 72 f.); Nikolopoulos (2006, 74) zur spärlichen Überlieferungslage der hellenistischen ktisis-Literatur. 41 Im weiteren Verlauf der Metamorphosen beziehen sich andere Figuren analeptisch auf den Europa-Mythos: Arachne webt die Geschichte von Europas Entführung in ihr Werk ein (6,104), Scylla verweist einmal indirekt (8,49) und einmal namentlich auf Europa als Mutter

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Der Beginn der Episode schließt direkt an das Ende des vorherigen Buches an. Dort hatte Ovid erzählt, wie Jupiter in Gestalt eines Stiers die sidonische Königstochter Europa raubt und nach Kreta, also auf einen Teil des später nach ihr benannten Kontinents, entführt (2,833–875). Am Anfang des dritten Buches beauftragt der tyrische König seinen Sohn Cadmus mit der Suche nach ihr. Dieser erhält vom Delphischen Orakel den Auftrag zur Gründung der Stadt Theben, entdeckt nach langer Suche ein sich lagerndes weißes Rind und findet so den ihm verheißenen Ort (3,1–25); damit ist der thebanische Sagenkreis eröffnet. Um Wasser für ein Dankopfer zu holen, schickt Cadmus seine Diener in einen nahegelegenen Wald, wo sie von einem Drachen getötet werden (3,26–49). Der Heros besiegt das Ungeheuer (3,50–94) und streut dessen Zähne auf Geheiß der Athena als Samen seines zukünftigen Volkes aus (3,95–114). Die so aus der Erde hervorsprießenden Krieger töten sich gegenseitig, bis fünf von ihnen, die sogenannten (aber von Ovid nicht als solche bezeichneten) Sparten, übrigbleiben, mit denen Cadmus die neue Stadt errichtet (3,115–130). Die Episode schließt mit einer Prophezeiung des Erzählers über die Zukunft Thebens und seines Gründers (3,131–137), die sich zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt (vgl. Kap. 3.5), bevor Ovid sich dem Schicksal der von Cadmus gegründeten Dynastie zuwendet. Die nachfolgende Analyse zeigt, wie die erste große Stadt in Ovids mythologischer Weltgeschichte im Zuge ihrer Gründung zwar narrativ unterdeterminiert erscheint, wie der Dichter den Kontext der Stadtgründung aber dennoch mit verschiedenen Mitteln unter der Oberfläche der Erzählung präsent hält.

3.1.1 Analyse Auf der Suche nach Europa (3,1–25) Zu Beginn des dritten Buches ruft Ovid mit Kreta (3,2 Dictaea … rura) und Tyrus/Sidon (indirekt durch 3,7 patriam) zwei Orte auf, die als Hintergrundräume für den eigentlichen Schauplatz der Theben-Episode fungieren: Kreta ist der Ort, an den Jupiter Europa entführt hat (3,1 f.), und Tyrus ihr Herkunftsort. Schon in diesen ersten Versen wird das für diese Episode zentrale Motiv von Nicht-Wissen und Suchen evoziert: Agenor weiß nicht, wo sich seine Tochter befindet (3,3 pater ignarus), und beauftragt deshalb Cadmus mit der Suche nach ihr (3,3 f. perquirere raptam / imperat). Mit diesem Auftrag überträgt sich auch die Unsicherheit vom Vater auf den Sohn (3,6 pererrato; 3,9 consulit; requirit). Ovid arbeitet hier mit der psychologischen Funktion des Raumes: Der väterliche Suchauftrag setzt den Helden einem doppelten seelischen Druck aus, denn eine

des Minos (8,120) und damit auf den Fortgang des von Ovid geschilderten Teils der gesamten Sage (2,833–875).

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erfolglose Rückkehr in seine Heimat ist mit einer Strafe bewehrt und die Suche selbst mit der Unkenntnis des Ziels verbunden. In dieser Anfangsszene lassen sich mehrere Anklänge an die Aeneis Vergils beobachten (vor allem an die Bücher 1–3),42 doch die zugrunde liegende Figurenkonstellation ist unterschiedlich. Während bei Vergil der Held Aeneas seine pietas unter Beweis stellt, indem er seinen Vater Anchises aus dem brennenden Troja rettet und mit auf die Reise ins Exil nimmt, kommt es bei Ovid zu einer vom Vater herbeigeführten Trennung vom Sohn. Agenor droht Cadmus gar das Exil als Strafe an und wird dabei als pius (wenn auch zugleich als frevelhaft) bezeichnet (Ov. met. 3,4 f. poenam … addit / exilium, facto pius et sceleratus ­eodem).43 Im Anschluss daran treten die Parallelen zur Aeneis deutlicher hervor: Wie Aeneas, so wird auch Cadmus als Flüchtling bezeichnet (Ov. met. 3,7 profugus ~ Verg. Aen. 1,2 fato profugus); die beiden Helden durchirren jeweils weite Teile der Welt (Ov. met. 3,6 orbe pererrato ~ Verg. Aen. 1,3 multum ille et terris iactatus et alto; 2,295 pererrato … ponto).44 Die Drohung Agenors, Cadmus dürfe nicht in seine Heimat zurückkehren, sofern seine Suche nach Europa ohne Erfolg bleibe, wird auch durch die mittels Alliteration hervorgehobene Aneinanderreihung der Begriffe profugus, patria und parens (Ov. met. 3,7) bekräftigt, zwischen die markant der väterliche Zorn (ira) als Abschreckung vor einer Rückkehr ohne seine Schwester gesetzt ist. Da Cadmus also lediglich weiß, wohin er nicht darf (dass seine Suche erfolglos bleiben wird, teilt Ovid nur indirekt in einer Parenthese mit),45 während ihm das Ziel seines Irrens gänzlich unbekannt ist, wendet er sich an das Orakel von Delphi,46 um sich nach einem Ort für sein Exil zu erkundigen (3,8 f. Phoebique oracula supplex / consulit et quae sit tellus habitanda requirit). Das Orakel des Apollo antwortet Cadmus, er solle nach einem Rind Ausschau halten und dort, wo dieses sich niederlasse, eine Stadt gründen (3,10–13):

42 Vgl. Hardie (1990, 226 f. mit Fn. 16). 43 Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass Cadmus’ Reise primär auf dem Befehl seines Vaters basiert (das göttliche Orakel wird erst während der Reise ins Exil konsultiert), während Aeneas von vornherein eine göttliche Mission erfüllt; vgl. Spencer (1997, 8 f.). 44 Eine wörtliche Parallele findet sich daneben in der Proserpina-Episode der Fasten, wo Ovid beschreibt, wie die Göttin Ceres auf der Suche nach ihrer von Pluto geraubten Tochter verzweifelt die gesamte bekannte Welt durchsucht (Ov. fast. 4,589 orbe pererrato). In beiden Fällen entführt also eine der drei männlichen Hauptgottheiten ein Mädchen (einmal die Tochter eines Königs, einmal die einer Göttin), das danach von einem nahen Angehörigen (Bruder bzw. Mutter) weltweit gesucht wird. 45 3,6 f. quis enim deprendere possit / furta Iovis? 46 Vgl. Nikolopoulos (2006, 78). Das Orakel von Delphi wird erstmals indirekt in der Geschichte von Apollo und Daphne erwähnt (1,515); vgl. Fantham (2004, 36).

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»bos tibi« Phoebus ait »solis occurret in arvis,  … hac duce carpe vias et, qua requieverit herba, moenia fac condas Boeotiaque illa vocato.«

»Ein Rind«, sprach Apollo, »wird dir in einsamen Gefilden begegnen … Unter dessen Führung nimm deinen Weg und dort, wo es sich im Gras niederlässt, gründe Stadtmauern und nenne sie die böotischen.«

Diese Stadt solle die ›böotische‹ heißen (also nicht, wie sonst üblich, nach dem Namen ihres Gründers benannt werden).47 Ovid verwendet hier die thematische Funktion des Raumes, indem er das Finden eines durch ein Orakel vorgegebenen Ortes zum Inhalt dieses Handlungsabschnittes macht. Er verweist dabei implizit auf die Etymologie von Böotien (der Name Thebae selbst erscheint erst am Ende der Episode in 3,131),48 die sich vom griechischen Wort für ›Rind‹ (bous) ableitet (3,10 bos; 3,13 Boeotia). Daneben ist auch vorgebracht worden, Ovid spiele hier zugleich scherzhaft auf eine – wenn auch falsche – lateinische Etymologie an: Der Ort, an dem sich das Rind zur Ruhe legt (3,10–12 bos … / … / … requieverit), hieße demnach Boeotia, da in der Landschaftsbezeichnung der Plural von otium (›Muße‹, ›Stille‹) enthalten sei.49 Nachdem Cadmus Delphi verlassen hat (3,14 Castalio Cadmus descenderat antro), erblickt er tatsächlich das verheißene Rind, folgt dessen Spuren und dankt Apollo für die Erfüllung des Orakelspruchs (3,15–18). Der weitere Weg, den der Held bis zur Stelle der künftigen Stadt zurückzulegen hat, wird nur skizzenhaft in einem einzigen Vers dargestellt (3,19).50 Dass sich das Orakel erfüllt hat, lässt sich an mehreren Rückbezügen zum Anfang der Geschichte erkennen (vgl. 3,12 qua requieverit herba ~ 3,23 procubuit … in herba). Das Erreichen des Zielorts durch Cadmus bedeutet jedoch noch nicht, dass der Held alle Gefahren überstanden hätte. So überträgt sich hier das anfängliche Motiv des Fremden

47 Vgl. Nikolopoulos (2006, 73). Zur zeitlichen Einordnung der Zuordnung des Namens Thebae und zu dessen möglicher Herleitung von der Gattin des Zethus oder vom ägyptischen Theben vgl. Barchiesi/Rosati (2011, z. St.). 48 Vgl. Videau (1998, 265) zur Bezeichnung ›Theben‹ als Antizipation, da Cadmus ja eigentlich die Cadmeia gründet. 49 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, z. St.). Unabhängig vom Umgang Ovids mit der Etymologie Böotiens lässt das Kuh-Orakel an das dritte Buch der Aeneis denken, wo der Seher Helenus im Auftrag Apollos die Gründung von Alba Longa an dem Ort befiehlt, wo Aeneas eine weiße Sau finden werde; vgl. Hardie (1990, 226 f.). Zugleich erinnert das weiße Rind auch an die Gründung Roms in den Fasten, wo der Stadtgründer Romulus ein solches Tier vor seinen Pflug spannt (Ov. fast. 4,826 alba iugum niveo cum bove vacca tulit). 50 Eine ausführliche Darstellung von Cadmus’ Weg nach Theben findet sich in der Version des Nonnos (Nonn. Dion. 4,309–345). Die beiden bei Ovid gegebenen geographischen Bezüge stellen Vorverweise auf den weiteren Verlauf des dritten Buches dar, denn der Flussgott Cephisus (Ov. met. 3,19) ist der Vater des Narcissus (vgl. 3,351) und Panope (3,19) verweist auf die Geschichten um Bacchus; vgl. Barchiesi/Rosati (2011, z. St.).

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und Unbekannten auf das böotische Land (3,24 f. Cadmus agit grates peregrinaeque oscula terrae / figit et ignotos montes agrosque salutat).51

Der Drachenkampf (3,26–94)52 Der nunmehr erreichte Landstrich ist Cadmus nicht nur unbekannt, sondern erweist sich auch als bedrohlich. Dies zeigt sich in der anschließenden Szene, in der Cadmus seine Diener ausschickt, um Wasser für ein Dankopfer an Jupiter zu holen (3,26 f.). Das nun folgende Geschehen findet an einem Ort statt, dessen Beschreibung ihn zunächst als locus amoenus erscheinen lässt. In der Mitte dieses Ortes, also weit entfernt von der Stelle der nachfolgenden Stadtgründung, befindet sich jedoch eine schauerliche Höhle, in der ein Drache des Mars haust (3,28–38; hier 3,28–32): silva vetus stabat nulla violata securi et specus in medio virgis ac vimine densus efficiens humilem lapidum compagibus arcum, uberibus fecundus aquis, ubi conditus antro Martius anguis erat …

Dort gab es einen alten Wald, der noch von keiner Axt verletzt worden war, und eine dichte Höhle mit Strauchwerk und Weiden; diese bildete ein niedriges Gewölbe mit einem Steingefüge und war reich an Quellwasser; dort verborgen in einer Grotte lebte ein Drache des Mars …

Das Ungeheuer tötet sämtliche Gefährten des Cadmus.53 Dass das Betreten des unheimlichen Waldes durch Cadmus’ Männer nicht gut ausgehen kann, wird gleich zu Anfang der Szene deutlich, wo das Überschreiten dieser räumlichen Grenze als unheilvoll bewertet wird (3,36 infausto tetigere gradu).54 Damit erweist sich dieser Ort als locus horribilis.55 So wie Cadmus zuvor auf der Suche nach dem Ort der künftigen Stadt die Kuh aufgespürt hat, hält er nun nach seinen nicht zurückgekehrten Gefährten Ausschau (3,52 vestigat … viros; vgl. 3,17 legit vestigia). Die Art seiner Bewaffnung (3,53 lancea; 3,54 iaculum) lässt Cadmus als epischen Helden erscheinen. Insbesondere das Tragen eines Löwenfells (3,52) erlaubt eine Parallelisierung 51 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, zu 3,24) zum Küssen der Erde eines fremden Landes im Gegensatz zum üblichen Küssen des Heimatbodens nach einer erfolgreichen Rückkehr. 52 Für den gesamten Absatz vgl. Kirstein (2015a, bes. 219–231). 53 Zur notwendigen Tötung eines einheimischen Ungeheuers bzw. menschlichen Gegners als charakteristischem Motiv von griechischen Kolonialdiskursen vgl. Nikolopoulos (2006, 75). Die Reihenfolge des Geschehens weicht von der einer üblichen (epischen) Epiphanie ab: Während normalerweise zuerst eine Gottheit erscheint und dann als Reaktion darauf ein Opfer dargebracht wird, verrichten die Akteure hier zunächst das Opfer und dann erst erscheint der Drache des Mars; vgl. Reitz (2019b, 685–687). 54 Vgl. Kirstein (2015a, 223) zum liminalen Akt der Grenzüberschreitung in dieser Szene. 55 Auch Kirstein (2015a, 230) sieht den ›Umschwung‹ bereits vor dem Eintreffen des Cadmus.

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mit dem prototypischen Heros Hercules, der das Ungeheuer Cacus tötet (vgl. Verg. Aen. 8,184–279) und mittels dieser Tat ebenso wie hier Cadmus den Ort einer zukünftigen Stadt von einem Ungeheuer befreit.56 Als Cadmus den Wald betritt, erblickt er die getöteten Männer und zugleich ihren Bezwinger (Ov. met. 3,55 f.). Indem Ovid die Stärke des Drachens mit dem Zerstören von Stadtmauern in Beziehung setzt (3,61 f. illius impulsu cum turribus ardua celsis / moenia mota forent), ruft er inmitten dieser langen Digression wieder den Kontext der Stadtgründung in Erinnerung.57 Nach einem langen Kampf gelingt es Cadmus schließlich, den Drachen unter Aufbietung all seiner Kräfte zu töten (3,59–94). Doch wie sich später erweisen wird, bedeutet dieser Sieg keineswegs das Ende der ›schlangenhaften‹ Bedrohung für die thebanische Dynastie.

Entstehung und Zukunft Thebens (3,95–137) Nachdem Cadmus den Drachen besiegt hat, wird der Platz der künftigen Stadt von einer übernatürlichen Stimme erfüllt, deren Ursprung für den Helden nicht erkennbar ist (3,96 f. neque erat cognoscere promptum, / unde)58 und deren mysteriöser Charakter durch die Wiederholung von (vox) audita est noch verstärkt wird. Die Stimme offenbart Cadmus, dass er eines Tages selbst in eine Schlange verwandelt werden wird (3,98).59 Direkt nach dieser Prophezeiung erscheint tatsächlich eine Gottheit, nämlich Athena, die Beschützerin des Helden (3,101 f. viri fautrix superas delapsa per auras / Pallas). Durch den Auftrag, die Zähne des toten Drachens auszusäen, aus denen die künftige Bevölkerung hervorgehen werde, wird Cadmus erneut zum Befehlsempfänger (3,102 f. iubet supponere terrae / vipereos dentes, populi incrementa futuri).60 Er gehorcht der Göttin und 56 Ein Unterschied besteht darin, dass der vergilische Cacus die Bevölkerung in Schrecken versetzt, während der Mars-Drache bei Ovid auf unberührtem Land lokalisiert ist. Vgl. Hardie (1990, 227); Schmitzer (1990, 138 f.); Fabre-Serris (2010, 102 mit Fn. 6). Vergleichbar ist auch der Kampf Apollos gegen die Python-Schlange (1,434–451); vgl. Videau (1998, 264 f.). 57 Kirstein (2015a, 232). 58 Bömer (1969, z. St.) bezeichnet es als ein typisches Kennzeichen der römischen Religion, dass die Stimme einer Gottheit vernommen wird, ohne deren Urheber identifizieren zu können, während Barchiesi/Rosati (2011, z. St.) darauf hinweisen, dass der Urheber einer solchen Stimme im Epos normalerweise für die betroffene Figur zu erkennen ist oder zumindest vom Erzähler angegeben wird. Fantham (2004, 37) wendet sich gegen eine Identifizierung der ersten Stimme mit Athena, es handle sich vielmehr allgemein um eine »supernatural voice«. 59 Diese Prophezeiung bewahrheitet sich am Ende des thebanischen Zyklus; vgl. Kap. 3.5. Reitz (2019b, 686) weist darauf hin, dass solche Prophetien im Rahmen einer Epiphanie nicht zwingend der Wahrheit entsprechen müssen. 60 Vgl. 3,4 imperat; 3,105 iussos. Diese passive, sich dem Schicksal fügende Charakterisierung unterstreicht die Ähnlichkeit von Cadmus zum vergilischen pius Aeneas. – Nach einer erweiterten Variante des Mythos muss Cadmus im Anschluss an die Tötung des Drachens zunächst acht Jahre lang Mars dienen, bevor er die Stadt gründet und Harmonia zur Frau erhält; vgl. Videau (1998, 276).

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durchpflügt die bis dahin unberührte Erde (3,104 presso sulcum patefecit aratro; vgl. 3,11 immunis aratri).61 Tatsächlich wachsen daraus nun Männer hervor (3,106–110), deren Erscheinen mit dem Hochziehen eines Vorhangs im römischen Theater verglichen wird, auf dem die abgebildeten Figuren nach und nach sichtbar werden (3,111–114): sic, ubi tolluntur festis aulaea theatris, surgere signa solent primumque ostendere vultus, cetera paulatim, placidoque educta tenore tota patent imoque pedes in margine ponunt.

So erheben sich gewöhnlich im festli­ chen Theater, wenn die Vorhänge herauf­ gezogen werden, die abgebildeten Figuren und zeigen zuerst ihre Gesichter, dann das Übrige, und wenn sie mit sanftem Ziehen hervorgeholt worden sind, sind sie als Ganzes sichtbar und stellen ihre Füße unten auf den Rand.

Indem Ovid Cadmus implizit wie einen Theaterbesucher erscheinen lässt, überblendet er die Ebenen von Leser und Figuren miteinander, denn erstere blicken hier mit den Augen des Protagonisten auf das mythische Geschehen.62 Zugleich verweist Ovid damit auf den tragischen Charakter der nachfolgenden thebanischen Mythen. Als Cadmus aus Angst vor den potentiellen Feinden zu den Waffen greifen will, hält ihn einer der Erdgeborenen davon ab, sich in den Kampf einzumischen (3,115–117). Cadmus sieht zu, wie die gerade entstandenen Männer sich gegenseitig töten, wobei der Charakter des Kampfes als Bürger- bzw. Bruderkrieg mehrfach betont wird (3,117 civilibus bellis; 3,122 f. suo … / Marte cadunt subiti per mutua vulnera fratres;63 vgl. 3,128 fraternaeque fidem pacis). Hierdurch wird der mythenchronologisch spätere Kampf zwischen Eteocles und Polynices um die Herrschaft Thebens evoziert, daneben aber auch die Gründung Roms, die ebenfalls nach einem Brudermord erfolgt.64 Fünf Krieger überleben, unter ihnen der ›Schlangenmensch‹ Echion (3,126), der später durch die Heirat mit Agave zum Schwiegersohn des Stadtgründers werden wird. Auch er gehorcht nun Athena und legt die Waffen nieder (3,127 f.). Mit diesen fünf Gefährten gründet Cadmus, dessen Herkunft hier nochmals betont wird (3,129 Sidonius 61 Vgl. Nikolopoulos (2006, 76); Janan (2009, 76 f.) zur Betonung der Unberührtheit der neuen Umgebung. 62 Von Glinski (2012, 144). Vgl. Bömer (1969, z. St.); von Albrecht (1981b, 2331–2333) zu dieser Stelle sowie zum Verhältnis zwischen Mythos und römischer Realität in den Gleichnissen der Metamorphosen im Allgemeinen; Hardie (1990, 226 Fn. 14; 230) zu einem möglichen vergilischen Vorbild für dieses Gleichnis. 63 Vgl. Ov. trist. 2,319 f. Cur tacui Thebas et vulnera mutua fratrum, / et septem portas, sub duce quamque suo? 64 Vgl. Schmitzer (1990, 140–147); Fantham (2004, 37); Fabre-Serris (2010, 118 f.). Der Kampf der ›Sieben gegen Theben‹ wird in den Metamorphosen nicht behandelt; vgl. Einleitung zu Kap. 3; Hardie (1990, 230); Videau (1998, 269); Janan (2004, 135 f.).

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hospes), die Stadt.65 Auch die Befragung des Delphischen Orakels durch Cadmus wird erneut in Erinnerung gerufen (3,130 posuit iussus Phoebeis sortibus urbem). Nach dieser langen Gründungserzählung konstatiert Ovid abschließend, dass die Stadt nun tatsächlich errichtet ist. Die schweren Spondeen von Iam stabant Thebae (3,131) suggerieren Stabilität, doch es wird sogleich deutlich, dass die Stadt nicht auf Dauer bestehen wird: Obwohl Theben – ebenso wie Rom – Mars und Venus als Schutzgötter hat (3,132) und Cadmus dank seiner zahlreichen Nachkommenschaft selbst im Exil als glücklich gelten könnte, wird er vor einem traurigen Ende gewarnt (3,131–137):66 poteras iam, Cadme, videri exilio felix …  … sed scilicet ultima semper  exspectanda dies hominis, dicique beatus ante obitum nemo supremaque funera debet.

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Schon könntest du trotz deiner Ver­ bannung glücklich scheinen, Cadmus … Doch freilich muss man stets den letzten Tag eines Menschen abwarten, und niemand darf vor seinem Tod und der Bestattung glücklich genannt werden.

Diese Warnung verweist auch auf die folgenden Geschichten, in denen Ovid von den zahlreichen Schicksalsfällen der Cadmus-Nachkommen erzählt.

3.1.2 Fazit Die ursprüngliche Gestalt des einst mächtigen Theben wird in dieser Episode nur spärlich als Schauplatz sichtbar: Im Lauf der gesamten Episode erfolgt keine Beschreibung von Mauern, einer Agora, von Tempeln oder Palästen der neu errichteten Stadt.67 Die Landschaft ist vorrangig von den sich in ihr aufhaltenden Figuren geprägt: Cadmus erblickt die umherlaufende Kuh als ein zunächst bewegliches Element des Anschauungsraums und weiß sich nach ihrem Haltmachen am richtigen Ort angekommen. Es folgt eine Ekphrasis über einen Wald mit einer Höhle, bevor der erfolglose Kampf von Cadmus’ Gefährten 65 Bömer (1969, z. St.) weist darauf hin, dass es fester Bestandteil dichterischer Diktion war, einen Fremden als hospes zu bezeichnen. In der Aeneis verwendet die karthagische Königin Dido diese Bezeichnung mehrmals für Aeneas (Verg. Aen. 1,753; 4,10; 4,323). Die Abkunft des Cadmus aus Tyrus stellt indes eine wichtige Parallele zur Aeneis dar, weil Dido ebenfalls aus Phönizien stammt; vgl. Hardie (1990, 228); Nikolopoulos (2006, 75 f.). – Die Stadt(gründung) wird hier als opus bezeichnet (Ov. met. 3,129 operis comites). Diesen Ausdruck verwendet Ovid auch in den Fasten im Zuge der Gründung Roms (vgl. Ov. fast. 4,830). 66 Vgl. 13,521 (Hecuba über Priamus) felix morte sua est. Vgl. auch die berühmte, unter anderem bei Herodot wiedergegebene Geschichte von Solon, der diese Weisheit in einem Gespräch mit König Croesus geäußert haben soll (Hdt. 1,30–32). 67 Vgl. Fantham (2004, 38). Anders verhält es sich etwa bei Vergils Karthago, wo die Beschreibung der Stadt am Anfang der dort lokalisierten Begebenheiten steht (vgl. Verg. Aen. 1,421–429).

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gegen das dort lebende Ungeheuer und anschließend die erfolgreiche Rache des Helden selbst dargestellt wird. Dabei wird weniger der Ort der Handlung selbst als vielmehr der Drache beschrieben, der den Raum dominiert; abwechselnd werden Cadmus und der Drache selbst zum internen Fokalisierer, der die jeweils andere Figur betrachtet.68 Dazwischengeschaltet sind eine Ansprache an den Leser (3,45 si … spectes) sowie die Prophezeiung an Cadmus (3,97 f. quid … / serpentem spectas? et tu spectabere serpens), wodurch die Perspektive hier zwischenzeitlich wechselt. Die visuelle Beschreibung des Raumes aber bleibt insgesamt stark unterbestimmt, zumal auch die neu gegründete Stadt selbst am Ende der Episode ohne jede Anschaulichkeit beschrieben wird, sodass man sich bestenfalls Stadtmauern vorstellen kann (3,130 f. posuit … urbem. / Iam stabant Thebae).69 Durch das plötzliche ›Auftauchen‹ von Theben fast wie aus dem Nichts wird der Eindruck erzeugt, dass Ovid den eigentlichen Gründungsakt geradezu überspringt.70 Neben dem Hauptschauplatz, der Stelle der Stadtgründung, stellt das in Kleinasien gelegene Sidon als Ursprung des Stadtgründers Cadmus einen Hintergrundraum dar, von dem aus dieser den Aktionsraum in einer langen Reise von Ost nach West71 über Delphi und weitere Stationen bis hin zu seinem Ziel in Böotien durchquert. Cadmus wird dabei streckenweise als rein passive Figur charakterisiert, die sämtliche Wege nur als Befehlsempfänger oder zumindest ohne eigene Kenntnis des Ziels zurücklegt. Er verlässt Sidon auf Geheiß seines Vaters, begibt sich aus Mangel an eigenem Wissen zum Delphischen Orakel und folgt von dort aus den Spuren der ihm beschriebenen Kuh.72 Erst an der Stätte von Theben zeigt sich der Held auch als Anführer, der selbst Befehle erteilt (3,26). Er ergreift nach dem Tod seiner Gefährten – auch diese sind im Angesicht des Drachens völlig passiv, ja vor Schreck bewegungsunfähig (3,39 f.; vgl. 3,47) – die Initiative und wird zum Rächer (3,55 nemus intravit;73 vgl. 3,58 f.). Ebenso mischt er sich von selbst in den Bürgerkrieg der Erdgeborenen ein (3,115). Doch nachdem er bereits die Drachenzähne wiederum auf Geheiß der Athena ausgesät hat und so aktiv die zukünftige Bevölkerung begründet hat,74 wird Cadmus 68 Cadmus: 3,55 vidit; 3,95 considerat – der Drache: 3,44 despicit; 3,69 aspexit. Man beachte auch (analog zum ›sehenden Drachen‹) das ›sehende Rind‹ (3,22 respiciens comites); vgl. Kirstein (2015a, 224–226; 2017, 298 f.). 69 Ebensowenig erwähnt sind die sieben Stadttore als das prägende Charakteristikum Thebens (vgl. Einleitung zu Kap. 3; 5.7). 70 Vgl. Gildenhard/Zissos (2016, 34). 71 Diese Reise ist nur eines von vielen Beispielen für die generelle Ost-West-Bewegung vieler Erzählungen des Werkes; vgl. von Albrecht (2014, 95–102; bes. 96). 72 Vgl. Viehhauser et al. (2017, 297–300), die mit einer computergestützten Analyse des Netzwerks von Orten und Figuren in dieser Episode aufzeigen, dass auch die Kuh und der Drache nahezu ebenso ›mobile‹ Figuren sind wie Cadmus und damit gewissermaßen zu gleichrangigen Akteuren werden. 73 Vgl. Kirstein (2015a, 229 f.) zum Motiv der Liminalität an dieser Stelle. 74 Vgl. Nikolopoulos (2006, 76).

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beim nachfolgenden Gründungsakt wiederum passiv als Befehlsempfänger dargestellt, der den Auftrag des Orakels erfüllt. So wie die Erzählung ihren Ausgang von Sidon nimmt, schwingt die phönizische Herkunft des Helden Cadmus stets mit. Bei der Darstellung von dessen Weg ins Exil wird immer wieder daran erinnert, dass Cadmus durch den unerfüllbaren Auftrag seines Vaters zum Flüchtling geworden ist (3,7 profugus), der nicht mehr in seine Heimat zurückkehren kann. Ovid nennt Cadmus nur an vier Stellen mit seinem Eigennamen, ansonsten bezeichnet er ihn dagegen mit typischen epischen Patronymen als Sohn des Agenor.75 Desgleichen wird wiederholt daran erinnert, dass die Gruppe sich fern ihrer Heimat befindet.76 Die damit verbundene Unsicherheit in der Fremde kommt (im Sinne des gestimmten Raumes) in den zahlreichen Verben des Suchens und Fragens im Eingangsabschnitt zum Ausdruck (3,3 perquirere; 3,4 invenerit; 3,9 requirit). Mehrfach muss sich der Held auf eine Suche begeben: zunächst gemäß dem ursprünglichen Auftrag des Agenor auf die Suche nach seiner Schwester Europa (3,3–5), sodann getreu der Weisung des Delphischen Orakels auf die Suche nach dem Rind (3,10–13), nach dem Verschwinden seiner Gefährten schließlich auf die Suche nach diesen (3,51 f.). Auch nachdem Cadmus das Ziel seiner Suche erreicht hat, ist er noch nicht außer Gefahr, sondern die Unsicherheit seiner vorherigen Reise setzt sich weiter fort. Der Platz der zukünftigen Stadt stellt sich ihm als fremd dar (3,24 f.) und vermittelt einen überaus bedrohlichen Charakter.77 Dieser manifestiert sich nicht allein in der Gestalt des furchterregenden Drachens, der seine Gefährten tötet, sondern auch in Geräuschen, die dieser von sich gibt, nachdem er durch das Wasserschöpfen aufgeweckt worden ist (3,37 f.).78 Ebenso ist zunächst die unbekannte göttliche Stimme für Cadmus ein furchterregender Aspekt der ihn umgebenden Landschaft (3,96). Der Raum verändert sich unter dem Wirken von Menschen und Göttern (3,106 glaebae coepere moveri) und erhält dadurch ebenso wie durch die Figur der Schlange bzw. die Bedeutsamkeit der Drachenzähne einen stark fiktionalen Charakter. Schließlich wird in der mahnenden Schlusssequenz (3,132 exilio felix),79 die an 75 Cadmus: 3,3; 3,14; 3,24; 3,115; Agenorides: 3,8; 3,81; 3,90; Agenore natus: 3,51; 3,97. Zur situationsabhängigen Benennung von Cadmus und anderen Figuren des thebanischen Zyklus vgl. Videau (1998, 264). 76 3,35 Tyria … de gente profecti; 3,46 Phoenicas; vgl. 3,7 f. patriam … / vitat; 3,129 Sidonius hospes. 77 Vgl. Janan (2009, 55); Fabre-Serris (2010, 102); Kirstein (2015a, 211 f.) zur Ambiguität von Idylle und Gefahr in der anfänglichen Beschreibung der Gegend. 78 Man beachte weitere Geräusche wie das Muhen des Rindes (3,21) und das Ächzen des Baumes (3,93 f.). 79 In den Fasten stellt Ovid anlässlich der Beschreibung von Euanders Ankunft in Italien mehrere berühmte mythische Exilanten nebeneinander und preist Latium durch einen Makarismus als Exilort (Ov. fast. 1,540 felix, exilium cui locus ille fuit!; vgl. 1,489 f. Tyriis qui quondam pulsus ab oris / Cadmus in Aonia constitit exul humo).

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eine tragische Peripetie im Sinne der aristotelischen Definition erinnert,80 klar, dass der von Cadmus gegründeten Stadt und vor allem ihrem Gründer selbst kein glückliches Schicksal beschieden ist, wie in den nachfolgenden Episoden deutlich wird (vgl. 3,548 f.; Kap. 3.5). Die Erzählung von Thebens Gründung folgt damit nur bis zu einem bestimmten Grad dem typischen Modus einer griechischen Gründungssage; sie lässt an mehreren Stellen die Vergänglichkeit Thebens und das tragische Geschick seiner prominenten Bewohner erahnen,81 denn insbesondere durch das Vorhang-Gleichnis (3,111–114) wird nicht nur das römische Theater im Besonderen, sondern auch die Welt des griechischen Theaters im Allgemeinen evoziert.82

3.2  Pen­theus verteidigt Theben (3,511–733) Die Sage um den thebanischen König Pen­theus, der sich dem Bacchus-Kult widersetzt und von seiner eigenen Mutter Agave getötet wird, hat eine lange literarische Tradition. Ihre klassische Gestaltung erfuhr sie im fünften Jahrhundert v. Chr. durch die Bacchantinnen des Euripides. Andere Zeugnisse aus der griechischen wie lateinischen Literaturgeschichte sind größtenteils verloren.83 Der Hintergrund des Pen­t heus-Mythos ist jedoch nicht allein in der Literaturgeschichte zu suchen, sondern lässt sich auch im Kontext realer Ereignisse der römischen Historie betrachten. Im Jahr 186 v. Chr. verbot ein senatus consultum die Ausübung des Bacchanalien-Kultes. Dabei ging es vordergründig um die Abwehr der fremden Mysterienreligion mit ihren ekstatischen Praktiken, tatsächlich aber wohl vor allem darum, mit dem römischen Staatswesen konkurrierende Strukturen zu unterbinden. Die maßgeblichen Berichte über dieses Ereignis finden wir in der auf einer Bronzetafel erhaltenen Inschrift des Senatsbeschlusses und bei Livius (Liv. 39,8–19).84 Wie Gildenhard/Zissos (2016, 65–67) feststellen, bietet der Bericht des Historiographen eine Parallele zu Ovids Darstellung der geographischen Ausbreitung des Bacchus-Kultes:85 »Both conceive of the cult’s propagation in terms of territorial encroachment, though Pen­t heus’ 80 Vgl. Videau (1998, 266). 81 Vgl. Hardie (1990, 224). 82 Vgl. Hardie (1990, 226 Fn. 14); Lücht (2019, 135 f.). Curley (2013, 101) spricht von einem »theater of epic«; vgl. Segal (in Barchiesi [2005, cli–clii]) zur Verbindung der Metamorphosen zum Amphitheater; Ambühl (2019, 183). 83 Von einer Pen­theus-Tragödie des Pacuvius (zweites Jahrhundert v. Chr.) haben wir nur durch eine Inhaltsangabe bei Servius Kenntnis; vgl. James (1991–1993, 83); Schierl (2006, 418–422); McNamara (2010, 173 f.). 84 Vgl. Pausch (2011, 213–222). 85 Wie Scheid (2015, 82) ausführt, wurde das Vordringen des Bacchus-Kultes nach Rom von staatlicher Seite lange ignoriert, bevor es im öffentlichen Raum sichtbar wurde.

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metaphor of choice is military conquest, whereas Livy’s is a spreading pestilence« (39,9 huius mali labes ex Etruria Romam veluti contagio morbi penetravit).86 Bei Ovid bildet die Pen­theus-Geschichte den Abschluss des dritten Buches der Metamorphosen, nicht jedoch der Erzählungen aus dem thebanischen Sagenkreis, welcher am Beginn von Buch 4 mit den Binnenerzählungen der MinyasTöchter fortgesetzt wird. Verbindendes Motiv dieser beiden Geschichten ist die Missachtung von Bacchus (Dionysus),87 dem Gott des Weines und der Ekstase. Die Erzählung lässt sich in folgende Abschnitte gliedern: Nachdem er von Cadmus die Herrschaft über Theben übernommen hat,88 wird Pen­t heus mit der Ankunft eines Rivalen besonderer Natur konfrontiert: Bacchus fordert göttliche Verehrung für sich ein und bedroht somit implizit Pen­theus’ Herrschaft über Theben (Ov. met. 3,511–527). Obgleich große Teile der Bevölkerung sich bereits dem neuen Gott unterworfen haben, widersetzt Pen­t heus sich hartnäckig und befiehlt seinen Dienern die Gefangennahme des vermeintlichen Konkurrenten (3,528–581). Diese bringen ihm jedoch nur einen Verehrer des Bacchus, der ihm eine wundersame Geschichte von der Macht des Gottes erzählt, der seine Gegner durch Verwandlungen in Tiere zu bestrafen vermag (3,582–691). Pen­t heus aber schenkt der Geschichte keinen Glauben und will sich persönlich dem neuen Kult entgegenstellen. Daher begibt er sich zum Cithaeron-Gebirge außerhalb der Stadt, wo er von seiner Mutter Agave und anderen Mitgliedern der thebanischen Herrscherfamilie getötet wird (3,692–733). Bei der Untersuchung des Pen­t heus-Mythos in den Metamorphosen ist unter anderem die Frage zu betrachten, welche Veränderungen Ovid gegenüber den erhaltenen Versionen vornimmt, insbesondere auch hinsichtlich der räumlichen Gestaltung der Handlung.89 Ovids wohl maßgeblicher Referenztext ist die bereits erwähnte Euripides-Tragödie.90 Die offensichtlichsten Umgestaltungen bei der Anpassung der dramatischen Form des Mythos an die epische Gattung bestehen in der Einfügung der Binnenerzählung von den tyrrhenischen Seeleuten sowie im Weglassen des Chors der Bacchantinnen; von der euripideischen Version abweichend sind auch die Gestaltung von Pen­t heus’ Todesort und das

86 Vgl. 39,15 Bacchanalia tota iam pridem Italia et nunc per urbem etiam multis locis esse; 39,16 uti sacra externa fieri vetarent, sacrificulos vatesque foro circo urbe prohiberent. 87 Vgl. Schmitzer (1990, 147–166) zur Verbindung von Augustus und Bacchus im Kontext der augusteischen Ideologie. 88 Ovid thematisiert den Regierungswechsel nicht; vgl. Eur. Bacch. 43 f. 89 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, zu 3,511–733). 90 Paschalis (2015, 45–48; 63–69) sieht die Bacchantinnen als Hauptquelle, weist aber auf weitere wichtige Referenztexte wie Vergils Aeneis hin. Fabre-Serris (2010, 110–112) erkennt auch Verweise auf Sophokles’ Oedipus Rex. Spencer (1997, 41–62), der die Unterschiede zwischen den beiden prominenten Versionen des Mythos untersucht, sieht die Bacchantinnen hingegen nicht als Hauptquelle für Ovids Darstellung.

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Übergehen seiner Travestie.91 Die Konsequenzen dieser Veränderungen werden in der nachfolgenden Analyse untersucht.

3.2.1 Analyse Die Prophezeiung des Tiresias (3,511–527) Durch die Erfüllung seiner Weissagung über das Schicksal des Narcissus hat der Seher Tiresias großen Ruhm in den Städten Griechenlands erlangt (3,511 f.). Nach dieser weiträumigen geographischen Angabe aus der Panoramaper­s­ pektive fokussiert sich der Erzähler durch die Nennung des Pen­t heus, der mit einem Patronym als Sohn des Sparten Echion bezeichnet wird, wieder auf Theben (3,513; 3,526; vgl. 3,126). Diese räumliche Verengung spiegelt sich auch in der Konzentration der nun folgenden Geschichte auf Pen­t heus als Hauptfigur wider.92 Gleich zu Beginn der Erzählung wird ein zentrales Motiv angeführt, das des (Nicht-)Sehens bzw. Erkennens. Während Pen­theus noch Tiresias’ Blindheit verspottet (3,515 f. tenebrasque et cladem lucis ademptae / obicit), antwortet dieser ihm, auch er, Pen­t heus, wäre glückselig, wäre er der Kraft seiner Augen beraubt und müsste dadurch nicht die Verehrung des neuen Gottes mitansehen (3,517 f.). Tiresias bezeichnet Bacchus innerhalb ein und desselben Verses zugleich (indirekt bzgl. Semele) als Einheimischen sowie als Ankömmling aus einer allerdings erst später konkretisierten Ferne (3,520 novus huc veniat, proles Semeleia).93 Der Seher legt Pen­t heus zwei Möglichkeiten dar: Entweder müsse er dem neuen Gott in Theben einen Tempel errichten oder aber er werde in den Wäldern zerrissen werden (3,521–523): »nisi templorum fueris dignatus honore, mille lacer spargere locis et sanguine silvas foedabis.«

»Wenn du mich nicht mit der Ehrer­ bietung von Tempeln würdigen soll­ test, wirst du zerrissen werden und an tausend Orten mit deinem Blut die Wälder beflecken.«

Damit führt dieser einleitende Abschnitt die entscheidenden Handlungsorte ein: Die Geschehnisse werden sich teilweise innerhalb der Stadtmauern Thebens, teilweise in der freien Natur außerhalb der Stadt ereignen (die Worte locis 91 Vgl. Otis (1966, 139); Fantham (2004, 41; 43). 92 3,513 ex omnibus unus; vgl. Bömer (1969, z. St.) zu diesen Worten als Übergangsformel zwischen zwei Erzählungen. Diese Verengung ist außerdem daran erkennbar, dass Pen­t heus’ zunächst allgemeine Götterverachtung sich zur Missachtung eines spezifischen Kultes entwickelt (3,514 contemptor superum; 3,518 Bacchica sacra). 93 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, z. St.). Einige Handschriften bieten statt des Konjunktiv Präsens veniat das Futur veniet.

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und silvas zeigen die thematische Funktion des Raumes, denn sie antizipieren Pen­t heus’ Todesort und -art zugleich);94 als Hintergrundraum fungiert die hier noch nicht genau spezifizierte Heimat des Bacchus. Pen­t heus indes weigert sich, die Prophezeiung des Tiresias zu akzeptieren, und lässt den Seher aus seinem Palast entfernen (3,526 proturbat), wo vermutlich ihre Unterhaltung stattfindet.95 Doch damit kann er nicht verhindern, dass sich die Weissagung erfüllt (3,527; vgl. 3,524).

Der Widerstand des Pen­theus (3,528–571) Die Ankunft des Gottes (3,528 Liber adest) wird wie eine Epiphanie beschrieben,96 die das ganze Volk in Aufruhr versetzt, wie Verben der Bewegung zeigen (3,529 ruit; 3,530 feruntur; vgl. 3,561). Außerhalb der Stadtmauern herrscht bereits ein ekstatisches Treiben, das weithin hörbar ist (3,528 festis … fremunt ululatibus agri). Hierauf setzt eine lange Rede von König Pen­t heus ein (3,531– 563). Darin versucht er, letztendlich vergeblich,97 seine Untertanen von der Verehrung des in seinen Augen abartigen Gottes abzubringen, indem er sie an ihre Herkunft und ihre Tugenden erinnert. Die intradiegetische Sicht des Pen­ theus ist mit der Ebene des extradiegetischen Erzählers verknüpft, denn auch er, Pen­t heus, gibt das wilde Durcheinander verschiedenster Geräusche wieder, die durch das Treiben der Bacchus-Verehrer entstehen (3,532–537). Pen­t heus versucht, die Herkunft und den Kult des Bacchus abzuwerten, indem er diesen mit den positiven Ursprüngen der Thebaner kontrastiert, d. h. mit der erfolgreichen Stadtgründung auf fremdem Boden. Der Bacchus-Kult sei etwas Fremdartiges (3,530 ignota … sacra; vgl. 3,561 advena), bringe weibischen Wahnsinn mit sich (3,536 f.) und sein Urheber sei in jeder Hinsicht verweichlicht und exotischen Sitten verfallen (3,553–556; vgl. 3,547 pellite molles).98 Die Thebaner hingegen sollten sich an ihre Herkunft aus dem phönizischen Tyrus erinnern (3,539), das somit als paralleler Hintergrundraum zur Heimat des Bac-

94 Zugleich stellt der Ort von Pen­t heus’ Ermordung eine geographische Verknüpfung zu einer anderen wichtigen Episode aus dem thebanischen Sagenkreis her, denn auch Actaeon stirbt in einem Tal am Cithaeron; bei Euripides wird diese Verbindung explizit gemacht (Eur. Bacch. 1290 f.; vgl. 337–341); vgl. Videau (1998, 269 f.); de Jong (2014, 204). Janan (2007, 107) macht darauf aufmerksam, dass der Schauplatz von Actaeons Verwandlung auch demjenigen von Cadmus’ Drachenkampf ähnelt. 95 Vgl. James (1991–1993, 87). 96 Vgl. Paschalis (2015, 58). 97 Vgl. Tarrant (1995, 64; 70) zu Ovids ironischem Umgang mit rhetorischen Lehren (nicht nur) in den Metamorphosen, wodurch das Überzeugen des jeweiligen Gegenübers scheitert. 98 Vgl. Bömer (1969, z. St.), der (auch im Vergleich mit der Version des Euripides) von der Herkunft des Bacchus aus Gebieten »östlicher Verweichlichung« spricht.

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chus evoziert wird.99 Sie seien ein kriegerisches Volk (3,534 f.), das sich nicht kampflos einem unbewaffneten Fremden ergeben dürfe (3,540 nunc sinitis sine Marte capi?; 3,549 f. utinam tormenta virique / moenia diruerent; 3,553 nunc a puero Thebae capientur inermi).100 Pen­theus ruft den Thebanern ihren Ursprung aus der Saat des von Cadmus getöteten Drachens in Erinnerung (3,543– 546). Doch wie auch Bömer (1969, z. St.) anmerkt, erscheint es fragwürdig, dass der König seine Untertanen nicht an das Verhalten des Stadtgründers erinnert, sondern an dessen Gegner, die Schlange (aus der allerdings die nicht von Cadmus und Harmonia gezeugte Bevölkerung hervorgegangen ist).101 Das Modell ist aber insofern passend, als die Schlange beispielhaft jemanden darstellt, der das eigene Territorium tapfer gegen einen Feind verteidigt hat (3,545 pro fontibus … lacuque).102 Neben den wörtlichen Referenzen auf den Ursprung Thebens lassen sich in Pen­theus’ Rede auch Bezüge zu Rom erkennen.103 Der König spricht die Drachengeborenen wie die vom Mars-Sohn Romulus abstammenden Römer als Nachkommen des Kriegsgottes an (3,531 proles Mavortia). Dies ist zwar sachlich richtig (vgl. 3,32 Martius anguis), jedoch bezieht sich das Adjektiv Martius bzw. Mavortius üblicherweise allein auf Rom und nicht auf eine andere Stadt.104 Die Verbindung zu Rom scheint bewusst hergestellt, denn die Thebaner werden auch mit dem (mythenchronologisch späteren) trojanischen Gefolge des Aeneas gleichgesetzt, der ebenso seine Heimat im Osten verlassen muss und eine neue Stadt im Westen gründet (Ov. met. 3,538 f. vos … qui longa per aequora vecti / … 99 Vgl. Hardie (1990, 225). In der Ilias wird die thebanische Abkunft des Bacchus heruntergespielt und stattdessen seine Kindheit in Nysa betont (Hom. Il. 6,132 f.); vgl. Zeitlin (1986, 106 f.) zu Bacchus’ zwiegespaltener geographischer Gebundenheit zwischen Theben und Kleinasien; Berman (2015, 36). Die Lokalisierung bzw. Identifizierung von Nysa war schon in der Antike umstritten; vgl. DNP, »Nysa«. 100 Bömer (1969, z. St.) macht darauf aufmerksam, dass Dionysus bei Euripides bereits zu Beginn der Handlung gleichsam neuer Herr der Stadt ist; zum vermeintlichen Mangel an ›richtigen‹ Männern in Theben vgl. auch Eur. Bacch. 961 f.; 1036. 101 Während McNamara (2010, 181) hierin sogar eine Ironie zu erkennen vermag, entkräftet Janan (2004, 132 f.) die vermeintliche Absurdität von Pen­t heus’ Berufung auf die Schlange mit Verweis auf die auch von Hardie (1990, 229 f.) hervorgehobene problematische Abkunft des Romulus in der Aeneis (vgl. Verg. Aen. 1,275 f.). Dennoch betont Janan (ebd., 133–136) zu Recht den wesentlichen Unterschied zwischen den jeweiligen ›Ungeheuern‹ bei Ovid und Vergil: Während die Wölfin den Gründer Roms säugte, beruft sich der König Thebens auf den Drachen, der den Gründer Thebens zu töten versuchte. 102 Vgl. James (1991–1993, 86; 89). Wie James (ebd., 91 f.) weiter argumentiert, sind Schlangen in der Literatur auch im Allgemeinen ambiger Natur, und womöglich sieht Pen­t heus sich als Beschützer Thebens hier auch in der Tradition einer positiv konnotierten Schlange wie Asclepius, der als Heilsbringer für die Stadt Rom fungiert (vgl. Kap. 6.7). 103 Vgl. McNamara (2010, 180 f.; 186 f.). 104 Vgl. Paschalis (2015, 67); Bömer (1969, z. St.) zu den entsprechenden Belegen: Die einzige weitere Textstelle außer den beiden hier genannten, in der dieses Adjektiv mit Bezug auf Theben verwendet wird, findet sich in Ovids Amores (Ov. am. 3,6,33 Martia Thebe).

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hac profugos posuistis sede Penates ~ Verg. Aen. 1,376 diversa per aequora vectos; 1,2 fato profugus). Desgleichen erinnert Pen­t heus’ Aussage über das schicksalsbestimmte Ende Thebens (Ov. met. 3,548 f. si fata vetabant / stare diu Thebas) nicht allein an die Gründung seiner Stadt (3,131 Iam stabant Thebae), sondern auch an den Untergang Trojas (Verg. Aen. 8,398 f. Troiam nec fata vetabant / stare decem … alios … per annos).105 Indem Pen­t heus sagt, wenn Theben schon zugrunde gehen müsse, dann möge dies ehrenvoll in einem Krieg geschehen (Ov. met. 3,548–553),106 spielt er unwissentlich auf das spätere Schicksal der Stadt an. Damit weist der Text zugleich auf die Vergänglichkeit von Städten im Allgemeinen hin, wie sie in der Pythagoras-Rede auch am Beispiel Thebens erläutert wird (15,418–433; vgl. Kap. 6.5).107 Neben den Bezügen zu Troja und Rom (die ihre Wirkung nur auf der Leserebene entfalten können) stellt Pen­t heus eine Verbindung zu einer weiteren Stadt her: Er nennt den Thebanern den Argiver Acrisius als Vorbild, weil auch dieser seine Stadt gegen das Eindringen des neuen Gottes verteidigt habe (3,559 f. an satis Acrisio est animi, contemnere vanum / numen et Argolicas venienti claudere portas). Der ansonsten nirgends belegte Widerstand des Königs von Argos gegen Bacchus wird von Ovid später am Anfang der Geschichte von Perseus und Atlas erwähnt (4,604–610).108 Pen­theus’ Bezugnahme auf Acrisius ist insofern ein passendes exemplum, als dieser ein Sohn des tyrischen Königs Agenor und damit ein Bruder von Thebens Stadtgründer Cadmus ist. Die einzige Möglichkeit zur Abwehr des Bacchus, der das personifizierte Theben in Schrecken versetzt (3,561 Penthea terrebit cum totis advena Thebis?), besteht somit für den König in der Abriegelung der Stadt und der Gefangennahme des Feindes, die er ungeachtet des heftigen Tadels von Seiten der gesamten Familie befiehlt (3,562–565).109

Die Gefangennahme des Acoetes (3,572–581) An dieser Stelle weicht Ovids Erzählung am deutlichsten von der Version des Euripides ab: Pen­theus’ Häscher nehmen einen Anhänger des Bacchus-Kultes gefangen, der dem König mittels der Geschichte von den tyrrhenischen Seeleuten von der Wirkmacht des neuen Gottes erzählt.110 Pen­theus will wissen, 105 Vgl. 2,54–56 et, si fata deum, si mens non laeva fuisset, / … / Troiaque nunc staret. 106 Vgl. Glenn (1986, 38 f.). Spencer (1997, 43) bezeichnet es als Anachronismus, dass Pen­ theus von einem Fall Thebens durch römische Waffen (3,549 tormenta) zu sprechen scheint. 107 Vgl. McNamara (2010, 182). 108 4,608 f. Acrisius superest, qui moenibus arceat urbis / Argolicae; vgl. Bömer (1976, z. St.). 109 Vgl. Eur. Bacch. 178–189 bezüglich Cadmus’ Unterstützung für Bacchus. 110 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, zu 3,572–700): Eine mögliche Vorlage für die Erzählung der Verwandlung der Seeleute findet sich im siebten Homerischen Hymnus. Vgl. auch James (1991–1993, 85) zu dieser Einfügung als Abweichung von der Lesererwartung. Bei Euripides gibt Pen­t heus an, einige Bacchantinnen gefangen genommen zu haben (Eur. Bacch. 226 f.).

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wo sein Gegner sich befindet, doch seine Diener haben den Gott selbst nirgends aufspüren können – ihre Antwort (3,573 Bacchum vidisse negarunt) erinnert an die unheilverkündende Prophezeiung des Tiresias zu Beginn der Geschichte (3,518 ne Bacchica sacra videres; 3,525 me … nimium vidisse). Nachdem Pen­t heus eigentlich Bacchus selbst nicht sehen will, wird er beim Anblick von dessen Anhängern von Zorn erfüllt und droht Acoetes den Tod an (3,577–580); erst danach stellt er die bei einer epischen Begrüßungsszene üblichen Fragen nach Name, Herkunft und Grund des unfreiwilligen Besuchs (3,580 f.).

Die tyrrhenischen Seeleute (3,582–691) Der Gefangene namens Acoetes gibt Pen­theus gegenüber an, aus Mäonien zu stammen (3,582 f.), also aus dem entfernten Osten, wo man auch den Ursprung des Bacchus-Kultes lokalisierte.111 Dieses und weitere Anzeichen lassen auf eine mögliche Identität des Acoetes mit dem Gott selbst schließen, die allerdings nicht eindeutig aus Ovids Darstellung abzuleiten ist.112 Eine umfangreiche Schilderung seiner Segelkunst (3,592–596) dient Acoetes als Einleitung zu der eigentlichen Geschichte, die er erlebt zu haben vorgibt.113 Auf einer Schiffsreise nach Delos sei man zufällig nach Chios gelangt; dort hätten die mit ihm reisenden Seeleute am nächsten Morgen einen Jüngling von weiblicher Gestalt aufgegriffen, den er selbst sogleich für eine Gottheit gehalten habe (3,597–614).114 Nachdem dieser, den er als Bacchus erkannt habe, aus einem rauschhaften Schlaf erwacht sei, habe er den Wunsch geäußert, zu seiner Heimatinsel Naxos gebracht zu werden, wo auch die Segler gastfreundlich empfangen werden würden (3,629–637).115 Diese hätten jedoch – so der Bericht des Acoetes – den Wunsch des Bacchus trotz eines gegenteiligen Schwurs116 nur vorgeblich befolgt, hätten sodann ihn, Acoetes, als Steuermann abgelöst und 111 Mäonien ist eigentlich ein Teil der kleinasiatischen Landschaft Lydien, wurde aber in der Literatur oft mit dieser gleichgesetzt, so auch mehrfach bei Ovid (Ov. met. 6,5; 6,103; Ov. fast. 2,310); vgl. DNP, »Maionia«; Eur. Bacch. 464 (Bacchus gibt Lydien als sein Vaterland an). 112 Paschalis (2015, 71) hält die Identität für plausibel. 113 Paschalis (2015, 86–94) untersucht die Szene in ihrer Natur als Botenbericht. 114 Der Jüngling wird deserto … in agro (3,606) aufgegriffen, ebenso wie Acoetes (wenn auch nicht ausdrücklich so gesagt) auf den agri außerhalb Thebens (3,528) gefangen genommen wird, wo die Bacchus-Riten stattfinden – ein räumliches Indiz für die erwähnte mögliche Identität von Acoetes und Bacchus (vgl. auch die Tatsache, dass beide, Bacchus und Acoetes, in der Binnenerzählung weinen: 3,652; 3,656). 115 Naxos war einer der Hauptorte der Bacchus-Verehrung; vgl. Bömer (1969, z. St.). Die Inseln Naxos und Chios waren in der Antike bekannte Weinanbaugebiete (vgl. DNP, »Naxos«; »Chios«); Dia, der Geburtsort des Bacchus, wurde verschiedentlich mit Naxos gleichgesetzt. – Zur Junktur hospita tellus vgl. Ov. fast. 1,511 (= Italien); Verg. Aen. 3,539 terra hospita (= Italien) mit Horsfall (2006, z. St.). 116 Laut Barchiesi/Rosati (2011, zu 3,638) genießt ein Schwur beim Meer als einem ›flüchtigen‹ Element eine fragwürdige Glaubwürdigkeit.

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seien in die Naxos entgegengesetzte Richtung weitergesegelt (3,640–649). Als der Gott den Trug bemerkt habe (3,652 f.), habe er schließlich die übrigen Seeleute in Delphine verwandelt und ihn, Acoetes, mit der Weiterfahrt nach Naxos betraut (3,660–691).

Der Sieg des Bacchus (3,692–707) Sobald Acoetes seine Erzählung beendet hat, lässt Pen­t heus den Diener des Bacchus in ein Gefängnis innerhalb der Stadt werfen (3,696 f. solidis … / clauditur in tectis) und glaubt, sich somit eines Teils der Gefahr entledigt zu haben.117 Doch der Gefangene kann sich umgehend befreien, und so wie die offenstehenden Türen des Kerkers (3,699 sponte sua patuisse fores)118 ein weiteres Indiz dafür sind, dass Acoetes niemand anderes ist als der Gott selbst, steht nun auch ganz Theben vor der vollständigen Übernahme durch die Bacchus-Verehrer. In einem letzten Akt der Auflehnung gegen den eindringenden Kult beschließt Pen­t heus, sich der Angelegenheit persönlich anzunehmen, indem er sich zum Cithaeron außerhalb der Stadt begibt, wo die Bacchus-Orgien zelebriert werden. An dieser Stelle findet sich wiederum eine deutliche Abweichung vom Drama des Euripides: Während Pen­t heus sich dort in Frauenkleider hüllt, um den neuen Kult zunächst aus einem Versteck heraus zu beobachten, tritt er bei Ovid ohne Verstellung auf (3,701–707).119 Nun, da der König seine Stadt selbst verlässt,120 wird er persönlich mit der fremdartigen, ekstatischen Stimmung konfrontiert, die anfangs nur vom Erzähler wiedergegeben wurde (vgl. 3,528). Der Berg dröhnt von den Stimmen der Bacchus-Anhänger (3,702 f. Cithaeron / cantibus et clara bacchantum voce sonabat), die für Pen­t heus das Signal zum Losstürmen sind wie für ein Pferd, welches das Signal der Kriegstrompete vernommen hat (3,704–707).

117 Vgl. Zeitlin (1986, 120–123) zu Theben als »paradigm of the closed system« in den griechischen Dramen. 118 Zum ›Türwunder‹ bei der Flucht des Bacchus vgl. Eur. Bacch. 443–448; 497 f.; 613–617; 642–659. 119 Vgl. Eur. Bacch. 810–861 (Bacchus überredet Pen­t heus zur Verkleidung, um sich vor der Ermordung durch die Bacchantinnen zu schützen); 912–919 (der verkleidete Pen­theus sieht im Wahn alles doppelt, insbesondere die Sonne und die Stadt Theben), vgl. Dodds (1960, zu 918 f.); 953–956; James (1991–1993, 88); Schierl (2006, 418 f.); McNamara (2010, 183); de Jong (2014, 210 f.; 214). Curley (2013, 184 f.) betrachtet die »absent presence« von Pen­t heus’ Verkleidung als Verweis des ovidischen Textes auf das griechische Drama. 120 Zeitlin (1986, 108–111) vergleicht Pen­t heus’ Verlassen der Stadt in Euripides’ Bacchantinnen mit Eteocles’ analogem Verhalten in den Sieben gegen Theben des Aischylos.

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Der Tod des Pen­theus (3,708–733) Vor der Schilderung der finalen Begegnung zwischen dem widerständigen König und den Anhängern des Bacchus-Kults steht eine Ekphrasis dieses entscheidenden Handlungsortes außerhalb der Stadt, auf den Ovid eingangs nur durch die Erwähnung eines Waldes angespielt hatte (3,522). Während dort noch eine Szenerie wie bei Euripides evoziert wurde, der ein grasbewachsenes Waldtal außerhalb des Bühnengeschehens schildert,121 wo sich Pen­theus auf einer­ Kiefer vor den Bacchantinnen zu verstecken sucht (Eur. Bacch. 1048–1052; 1095–1109),122 weicht Ovid hier erneut von seiner wichtigsten Vorlage ab: Seine durch eine Variation der Formel locus est eingeleitete Ekphrasis nennt eine freie Fläche auf einem Berg als Schauplatz des folgenden Geschehens, auf der ausdrücklich keine Bäume stehen, sondern die von allen Seiten einsehbar ist (Ov. met. 3,708 f. monte fere medio est, cingentibus ultima silvis, / purus ab arboribus ­spectabilis undique campus). Nur im entfernten Umkreis wird sie von Bäumen gesäumt. Diese haben jedoch aufgrund des unverdeckten Vorgehens des Pen­ theus keine handlungstragende Funktion. Stattdessen bietet die freie Fläche Platz für einen offenen Kampf wie bei einem Duell zweier epischer Helden.123 In diesem Abschnitt zeigen sich die erweiterten Möglichkeiten, über die Ovid als nicht-dramatischer Erzähler gegenüber Euripides verfügt. Während die Ermordung des Pen­t heus in den Bacchantinnen aufgrund des außerhalb der Theaterbühne liegenden Handlungsortes (sowie wegen der nicht üblichen Darstellung von sterbenden Menschen) in der Form eines Botenberichts geschildert werden muss,124 lässt sich im Epos auf dieses vermittelnde Erzählelement verzichten. Stattdessen kann Ovid den Cithaeron durch eine Ekphrasis als weiteren Handlungsort einführen und das dortige Geschehen aus auktorialer Perspektive schildern. Das Ende der Geschichte ist schnell berichtet: Wie Actaeon von den eigenen Hunden, so wird Pen­theus von seinen Familienmitgliedern im Wahn getötet (Ov. met. 3,711–731). Seine eigene Mutter hält ihn für einen Eber, der auf den Feldern vor Theben sein Unwesen treibt (vgl. 3,528 agri); die Menge der Bacchantinnen verfällt in einen gleichartigen Wahnzustand (3,714–716): 121 Vgl. de Jong (2014, 109) zum distanced space bzw. extra-scenic space. 122 Auch im 26. Idyll des Theokrit (vgl. Theoc. 26,11) versteckt Pen­t heus sich auf einem Baum; vgl. Dodds (1960, zu Eur. Bacch. 1051 f.); Paschalis (2015, 96); Finkmann (2019b, 388–390). 123 Vgl. z. B. Verg. Aen. 12,771 puro ut possent concurrere campo. 124 Vgl. de Jong (2014, 198–203) zum Botenbericht allgemein; Finkmann (2019a, 514–523) zu dieser epischen Bauform bei Ovid; Paschalis (2015, 40) zu Ovids diesbezüglicher Anlehnung an Euripides. Vgl. auch Curley (2013, 102) zur direkten Wiedergabe von Ereignissen im Epos, die im Drama nur im Nachhinein erzählt werden können; Berman (2015, 145 f.) zur narrativen Verkürzung der in der Realität etwa 15 Kilometer langen Strecke zwischen Theben und dem Cithaeron in Euripides’ Bacchantinnen.

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»ille aper, in nostris errat qui maximus agris, ille mihi feriendus aper.« ruit omnis in unum   turba furens.

»Jenen gewaltigen Eber, der auf unseren Feldern sein Unwesen treibt, jenen Eber muss ich treffen.« Und die ganze Schar stürzt sich im Wahnsinn auf den einen.

Pen­t heus versucht vergeblich, seiner Mutter und den übrigen Rasenden die Augen zu öffnen (3,725 »aspice, mater!«). Obgleich Agave ihren Sohn sieht (visis; vgl. 3,711 videt), vermag sie ihn nicht zu identifizieren, sondern stößt nur ekstatische Schreie aus (3,725). Nach Pen­t heus’ Tod kehrt der Blick des Erzählers nochmals kurz nach Theben zurück, wo die Frauen nun den zivilen Kult des neuen Gottes pflegen (3,732 f.).125

3.2.2 Fazit Die Erzählung vom tragischen Ende des thebanischen Königs Pen­t heus hat zwei wichtige Handlungsorte: In Theben erfährt Pen­theus von den fremden Riten, verhört einen Anhänger des Bacchus-Kultes und versucht diesen gefangen zu halten; im Cithaeron-Gebirge außerhalb der Stadt befinden sich die rasenden Bacchantinnen, zu denen auch Pen­theus’ Mutter und weitere weibliche Verwandte gehören. Als Hintergrundräume der Handlung evoziert der thebanische König Phönizien und Mäonien, die jeweils verschiedene Eigenschaften widerspiegeln sollen: Tyrus ist der Herkunftsort des Cadmus und soll dessen Nachfahren zu einem ähnlich heldenhaften Handeln verleiten, wie es der Stadtgründer beim Kampf gegen ein Ungeheuer bewiesen hat (dies illustriert die charakterisierende Funktion des Raumes), während die kleinasiatischen Gegenden im Osten, von wo aus sich der Bacchus-Kult in Richtung Westen ausgebreitet hat, kontrastierend und abschreckend wirken sollen. Während sich das tragische Geschick des Pen­t heus darin manifestiert, dass er den verhassten neuen Götterkult selbst ansehen muss und die Mahnungen des blinden Sehers Tiresias bei ihm keine Beachtung finden, wird die Stadt Theben in dieser Episode ebenso wenig anschaulich erfahrbar wie in ihrer Gründungserzählung (3,1–137); in ebenso geringem Maße wie die Leser nehmen die Figuren den Raum in seiner Funktion als Anschauungsraum wahr. Die Stadt scheint wiederum nur aus Mauern zu bestehen (3,550 moenia diruerent), nicht aber aus konkreten Plätzen oder Gebäuden wie dem Königspalast, in dem sich vermutlich das Gespräch zwischen Pen­t heus und Tiresias abspielt,126 oder dem 125 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, z. St.). Bei Euripides kehrt die Handlung insofern nach Theben zurück, als Agave dort den Kopf des getöteten Pen­t heus vom Cithaeron in die Stadt bringt (vgl. Eur. Bacch. 1144 f.) – allerdings will Agave nach der Selbsterkenntnis ihrer Tat Theben für immer verlassen (vgl. 1381–1388). 126 In Euripides’ Bacchantinnen stürzt der thebanische Königspalast unter dem Wirken des Bacchus teilweise ein (Eur. Bacch. 582–603).

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zu errichtenden Tempel (vgl. 3,521). Allein der zweite wichtige Handlungsort außerhalb der Stadt am Cithaeron wird in einer Ekphrasis dargestellt (3,708 f.), die sich jedoch bereits darin erschöpft, eine bewaldete Umgebung der Szenerie zu evozieren, während der Schauplatz der finalen Auseinandersetzung zwischen dem König und seinen Gegnern ansonsten gerade durch die Abwesenheit weiterer topographischer Merkmale gekennzeichnet ist. In der Prophezeiung des Tiresias wird deutlich, dass der neue Gott als Eindringling aus der Fremde nach Theben kommt (3,520 novus huc veniat … Liber).127 Pen­t heus versucht den Seher als Boten des nahenden Unglücks von sich zu entfernen (3,526 dicentem proturbat), doch um Bacchus abzuweisen, ist es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät (3,528 Liber adest). Der König ist bereits dabei, einen Teil seiner Macht zu verlieren, da seine Bevölkerung die Stadt verlässt und damit eine wichtige Grenze des Aktionsraums durchquert, um an den Orgien außerhalb teilzunehmen. Pen­theus vergleicht die zunehmende Macht des Bacchus mit einer Stadteroberung, indem er auf die mühselige Gründung Thebens verweist (3,538 f.; 3,553). Da eine Verriegelung der Stadt offensichtlich kein erfolgversprechendes Mittel darstellt, schickt der König seine Diener aus, um den fremden Gott gefangen zu nehmen, doch sie können ihm nur einen vermeintlichen Stellvertreter ausliefern, dessen Ergreifung keinen Sieg über den abzuwehrenden Kult darstellt (3,574 f. famulum … / cepimus; vgl. 3,553 Thebae capientur). Die Binnenerzählung des Acoetes illustriert, dass Widerstand gegen den neuen Kult zwecklos ist: Als die tyrrhenischen Seeleute den Gott zu täuschen versuchen und nicht seine Heimatinsel ansteuern, verwandelt er sie und gelangt schließlich doch nach Naxos. Unbelehrt von dieser Geschichte, versucht Pen­theus, den fremden Kult durch Gefangennahme des Dieners und aktives Eingreifen in das ihm verhasste Treiben zu besiegen, was jedoch, mit tödlicher Konsequenz für ihn selbst, misslingt. Seine ›Geschichte‹ endet exakt so wie die von Acoetes erzählte: Der bzw. die Widersacher sind besiegt (verwandelt bzw. getötet) und die Anhänger des Bacchus pflegen dessen Kult (3,691; 3,732; vgl. 3,581). Das Lärmen der Bacchantinnen auf dem Cithaeron wirkt fremdartig und aggressiv, sodass der Herrscher Thebens den gestimmten Raum als bedrohlich wahrnimmt. Pen­theus will seine Macht gegen den exotischen Gott verteidigen und seine Stadt vor dem Eindringen des Fremden schützen, weshalb er den Ort des Drachenkampfes des Stadtgründers Cadmus aufruft (3,545 pro fontibus … lacuque), um die Thebaner zur Verteidigung ihres Territoriums zu animieren, so wie es der Drache getan hat. Doch unmittelbar darauf antizipiert Pen­theus bereits selbst die möglicherweise vom Schicksal vorhergesehene Eroberung der Stadt (3,548–550). Im Gegensatz von Stadt und Land manifestiert sich die symbolische Funktion des Raumes: Theben mit seinen Befestigungen 127 Vgl. Eur. Bacch. 233; 800.

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ist Sitz des Königs und somit der Ort von Macht und Stabilität, während von draußen – zunächst aus dem fernen Osten, dann aus dem nahen Gebirge – aus Pen­theus’ Sicht Gefahr, Raserei und Verweichlichung drohen. Vergeblich versucht er, deren Eindringen in den geschützten Bereich innerhalb der Mauern zu verhindern. Der König sieht es als einzig verbleibende Möglichkeit an, selbst aktiv gegen den Kult vorzugehen, doch dazu muss er sich hinaus zum Cithaeron begeben, also an den Ort, an dem er laut Tiresias getötet werden wird. Die von allen Seiten her einsehbare Freifläche auf dem Berg (3,709 spectabilis undique)128 zeigt die herausgehobene Bedeutung dieses Ortes, der wie eine Theaterbühne (spectaculum) erscheint:129 Dort kommt es zur finalen Konfrontation zwischen dem König und seinen Gegnern, Pen­t heus ist seinem Schicksal in Form der Zerfleischung durch die Mänaden schutzlos ausgeliefert. Agave und die Frauen, die den Uneingeweihten töten, sind in ihrer bacchantischen Raserei blind (Sehen und Hören stehen hier unmittelbar nebeneinander: 3,725 visis ululavit) und reißen Pen­t heus entsprechend der Prophezeiung in Stücke.130 Im Gegensatz zur Tragödie lassen sich diese Geschehnisse im Epos direkt darstellen, ohne dass eine indirekte Wiedergabe durch einen Botenbericht nötig wäre.

3.3  Pyramus und Thisbe fliehen aus Babylon (4,36–166) Am Anfang des vierten Metamorphosen-Buches berichtet Ovid von den jungen Liebenden Pyramus und Thisbe,131 die sich aufgrund der Feindschaft ihrer Eltern nicht begegnen dürfen und auf tragische132 Weise zu Tode kommen, als sie 128 Vgl. Spencer (1997, 44): »subversion of pastoral landscape as the location of horror«; Hinds (2002, 139). Vgl. Salzman-Mitchell (2005, 53 f.) zu dem von Wald umgebenen Raum im Sinne sexueller Metaphorik. 129 Vgl. Paschalis (2015, 100 f.) zum Schauplatz als Theater oder sogar ›Meta-Theater‹; Finkmann (2019b, 389) zur Panoramaperspektive, wie sie sich Pen­t heus bei Theokrit bietet (vgl. Theoc. 26,4 f.; 26,10 f.) und dabei den Eindruck einer Theaterszene erzeugt. 130 Das abschließende Gleichnis der einem Baum vom Wind entrissenen losen Blätter (3,729–731) erinnert an den Baum, auf dem Pen­t heus in der Version des Euripides sitzt, wie Salzman-Mitchell (2005, 55) treffend beobachtet. 131 Eine frühere Version dieses Kapitels ist an anderer Stelle veröffentlicht, daher erfolgt hier nur eine kürzer gehaltene Darstellung; vgl. Behm (2021). – Thisbe war auch der Name einer kleinen Stadt in Böotien. Ovid erwähnt diese böotische Küstenstadt, die für ihre wilden Tauben berühmt war, im Rahmen der Geschichte von Daedalion und Chione (11,299 f. illius virtus reges gentesque subegit, / quae nunc Thisbaeas agitat mutata columbas; vgl. Hom. Il. 2,502; Paus. 9,32,2). 132 Holzberg (1988, bes. 270 f.) deutet die Erzählung entgegen der communis opinio nicht als tragische Liebesgeschichte, sondern als Parodie einer solchen, was er vor allem an Ovids Verwendung von typischen Handlungselementen der Neuen Komödie sowie des idealisierenden Liebesromans festmacht. Keith (2002, 262 f.) sieht gerade in der tragischen Komponente dieser Geschichte einen wichtigen Bezug zur Cadmus-Erzählung.

Pyramus und Thisbe fliehen aus Babylon

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die schützenden Mauern ihrer Heimatstadt zwecks eines Treffens verlassen.133 Die Geschichte ist Teil einer längeren Digression innerhalb des thebanischen Sagenkreises. Dies lässt sich sowohl auf der erzählerischen als auch auf der inhaltlichen Ebene nachvollziehen: Im Gegensatz zu den umliegenden Episoden über Pen­t heus (3,511–733) bzw. Ino und Athamas (4,416–542) sind die Geschichten der Minyas-Töchter (4,1–415) intradiegetische Erzählungen;134 der Schauplatz wechselt von Theben ins benachbarte Orchomenos,135 das wiederum in der hier betrachteten Episode zum Ort des Erzählens einer Geschichte mit dem Handlungsort Babylon wird.136 Eine Gemeinsamkeit zwischen diesen Episoden besteht in der jeweils von der Stadt in die freie Natur gerichteten Bewegung, wo im Fall des Pen­t heus der Tod bzw. bei Ino die Verwandlung der Hauptfigur den Abschluss der Erzählung markiert. Hinsichtlich des Themas dieser Arbeit ist besonders die Rolle von liminalen Elementen wie der babylonischen Stadtmauer sowie der Mauer zwischen den Wohnhäusern der Protagonisten interessant. Die Episode gliedert sich nach der Einleitung des auktorialen Erzählers (4,36–54) wie folgt:137 Zunächst stellt die Minyas-Tochter Alcithoe die Hauptfiguren Pyramus und Thisbe und den Schauplatz Babylon vor, bevor sie die Wand beschreibt, die eine physisch erlebbare Liebesbeziehung zwischen den Protagonisten verhindert (4,55–80). Anschließend gibt sie deren Entschluss wieder, die Stadt zwecks eines Rendezvous zu verlassen, und beschreibt den vereinbarten Treffpunkt (4,81–92). Der nächste Abschnitt behandelt Thisbes Ankunft und ihre Flucht vor einer Löwin (4,93–104), bevor Pyramus die Stelle erreicht und sich in Verkennung der Umstände das Leben nimmt, wobei sich die Farbe des Maulbeerbaums durch sein emporschießendes Blut verwandelt (4,105–127). 133 Von der doppelten Liebesgeschichte der Quellnymphen Arethusa und Thisbe mit den Flüssen Alpheus und Pyramus berichtet Nonnos (Nonn. Dion. 6,347–355), während Ovid im Rahmen seiner Proserpina-Episode die Geschichte von Alpheus und Arethusa erzählt (Ov. met. 5,572–641). Vgl. Duke (1971, 321); de Trane (2007, 25 f. mit Fn. 17; 19). Zu einer in Kilikien handelnden alternativen Sagenversion, Belegen dazu aus der bildenden Kunst und zu einer möglichen Anspielung Ovids darauf vgl. Knox (2006, bes. 333). 134 Vgl. Kirstein (2017) zu räumlichen Aspekten der Hermaphroditus-Episode (4,271– 388). 135 Paschalis (2015, 112 mit Fn. 313) argumentiert hingegen, der Handlungsort sei weiterhin Theben. 136 Vgl. Holzberg (1988, 275 f.) zur Wahl von Babylon als Schauplatz entsprechend der Gattungstradition des idealisierenden Liebesromans; Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,1–415; 4,31 f.) bezüglich der Verschiebung des Handlungsortes sowie der räumlichen Konnotationen der Verwandlung der Minyaden in Fledermäuse. Paschalis (2015, 129 f.) sieht das setting in ironischem Kontrast zu dem vorherigen Lobpreis von Bacchus’ Eroberung des Ostens. 137 Innerhalb dieser Einleitung erwägt die intradiegetische Erzählerin bei der Suche nach einer geeigneten Geschichte, die Verwandlung der Babylonierin Dercetis in einen Fisch wiederzugeben (4,43–45). Dercetis ist die Mutter der babylonischen Königin Semiramis und mit der syrischen Göttin Astarte gleichzusetzen. Die tatsächlich wiedergegebene Geschichte von Pyramus und Thisbe wird von Alcithoe als ›unbekannt‹ charakterisiert (4,53).

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Schließlich beschreibt Alcithoe Thisbes Rückkehr und ihr Unvermögen, den veränderten Ort zu identifizieren (4,128–146), sowie ihren Selbstmord im Anschluss an das letzte Gespräch mit dem sterbenden Pyramus, bei dem ihr fatales Missverständnis offenbar wird (4,147–163). Die Erfüllung des Wunsches nach einem gemeinsamen Begräbnis durch die Eltern der beiden (4,164–166) schlägt den Bogen zurück zur Einleitung, die diese als Hindernis für eine Liebesbeziehung genannt hatte (vgl. 4,60–62).

3.3.1 Analyse Die trennende Wand (4,55–80) Zu Beginn der Episode lässt sich die typisch ovidische Erzähltechnik einer graduellen Verengung des Blickwinkels beobachten:138 Zunächst wird das Geschehen allgemein im Osten lokalisiert und die Geschichte dadurch mit einem exotischen Flair versehen (4,56 Oriens);139 in einem Relativsatz erfolgt dann die Umschreibung Babylons als Handlungsort (4,58). Die Nennung der von Königin Semiramis erbauten tönernen Stadtmauern (4,57 f. ubi dicitur altam / coctilibus muris cinxisse Semiramis urbem) im Stil einer alexandrinischen Fußnote (dicitur) markiert die Grenze zum Gebiet außerhalb Babylons und verstärkt zugleich die Distanz zwischen dem Aufenthaltsort der intradiegetischen Erzählerin und dem exotischen Handlungsort.140 Es folgt eine Ekphrasis der zweiten zu überwindenden Grenze, nämlich der Wand, welche die beiden Elternhäuser voneinander trennt (4,65 f. fissus erat tenui rima, quam duxerat olim / cum fieret, paries domui communis utrique).141 Ovid beschreibt ausführlich, wie die Wand die Protagonisten an einer körperlichen Begegnung hindert und ihnen lediglich erlaubt, durch ein nur ihnen bekanntes Loch miteinander zu kommunizieren, ohne jedoch einander sehen zu können (4,73–75):142

138 Vgl. von Albrecht (2003, 156). 139 Vgl. de Trane (2007, 25); Fondermann (2008, 40); Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,20–25; 4,55–166; 4,57 f.). 140 Wie Keith (2002, 256) bemerkt, erinnert der Verweis auf die Gründung von Babylon an den Stadtgründungskontext der Cadmus-Erzählung. 141 Vgl. 4,71 constiterant hinc Thisbe, Pyramus illinc; 4,78 diversa nequiquam sede locuti; Bömer (1976, zu 4,57 f.); de Trane (2007, 27 f.). Durch die Verwendung eines Partizips weicht die Einleitung der Ekphrasis (fissus erat … / … paries) von der üblichen Formel nach dem Muster Substantiv + est ab; vgl. de Jong (2014, 112). 142 Perraud (1983, 136) erläutert, wie die Anreden der beiden Figuren an den jeweils anderen ihre Isolation zeigen.

Pyramus und Thisbe fliehen aus Babylon »invide« dicebant »paries, quid amantibus obstas? quantum erat, ut sineres toto nos corpore iungi? aut, hoc si nimium est, vel ad oscula danda pateres!« 

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»Neidische Wand«, sagten sie, »was stehst du uns Liebenden im Weg? Wie wenig würde es für dich bedeuten, uns zu erlauben, uns auch mit dem ganzen Körper zu vereinigen? Oder, wenn das zu viel ist, wenn du doch offenständest, um Küsse auszutauschen!«

Die personifizierende Ansprache der Wand unterstreicht nicht nur ihre prägende Bedeutung in Ovids eigener Erzählung, sondern scheint geradezu ihre demgegenüber noch gesteigerte Funktionalisierung als eigener Charakter bei der Aufführung des Stückes von ›Pyramus und Thisbe‹ in der Shakespeare-­ Komödie Ein Sommernachtstraum vorwegzunehmen.

Der Schauplatz des Treffens (4,81–92) Pyramus und Thisbe entscheiden sich, ihre Eltern und die Bewacher zu hintergehen und aus Babylon zu fliehen. Dieser aus gegenseitiger Liebe getroffene Entschluss unterstreicht die psychologische Funktion des Raumes in dieser Episode. Die Protagonisten verabreden ein Rendezvous am Grab von König Ninus außerhalb der Stadt (4,84–90):143 statuunt ut nocte silenti fallere custodes foribusque excedere temptent, cumque domo exierint, urbis quoque tecta relinquant. neve sit errandum lato spatiantibus arvo, conveniant ad busta Nini, lateantque sub umbra arboris; arbor ibi niveis uberrima pomis, ardua morus, erat, gelido contermina fonti.

Sie beschließen, in der Stille der Nacht ihre Wächter zu umgehen und zu versuchen, aus den Türen zu gelangen, und sobald sie ihr Heim verlassen haben würden, auch die Häuser der Stadt hinter sich zu lassen. Und damit sie sich beim Gang durch das weite Gefilde nicht verirren, wollen sie sich am Grabmal des Ninus treffen, im Schatten eines Baumes; dort gab es einen Baum, überreich an weißen Beeren, einen hohen Maulbeerbaum, neben einer kühlen Quelle.

Diesen Treffpunkt stellt Ovid durch eine weitere, durch arbor … / … erat eingeleitete Ekphrasis dar. Die darin enthaltenen Elemente konstituieren dem ersten Anschein nach einen klassischen locus amoenus mit einem schattenspendenden Baum an einer Quelle, doch tatsächlich entpuppt sich dieser Schauplatz wenig später als dessen Gegenteil, d. h. als locus horribilis.144 143 Vgl. Duke (1971, 323–326) zu den zahlreichen antiken Autoren, die Semiramis und ihren Mann nicht in Ninive, sondern in Babylon verorten; Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,89) zu der Frage, ob das Grab des Ninus tatsächlich in der gleichnamigen Stadt lag. 144 Vgl. de Trane (2007, 29).

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Das tragische Geschehen (4,93–166) Das zum Tod der beiden Protagonisten führende Geschehen lässt sich hier in relativer Kürze darstellen. Zunächst erreicht Thisbe den vereinbarten Treffpunkt (4,95 pervenit ad tumulum dictaque sub arbore sedit), erblickt eine Löwin und sucht daraufhin Zuflucht in einer Höhle (4,99 obscurum … fugit in antrum). Als Pyramus verspätet am vereinbarten Ort eintrifft (4,105 Serius egressus), entdeckt er den blutbefleckten Schleier, den seine Geliebte in der Eile verloren hatte, bevor die Löwin ihn berührte. Dies deutet er als unfehlbares Anzeichen dafür, dass Thisbe ums Leben gekommen ist. Kurz darauf kehrt diese jedoch aus der Höhle zurück und erblickt ihren Liebhaber just in dem Moment, als dieser sich sein Schwert in die Brust stößt, wieder am ursprünglichen Treffpunkt (4,116 ad pactae secum fert arboris umbram). Dabei beschreibt Ovid die Metamorphose des Maulbeerbaums, die als Aition für die dunkle Farbe seiner Beeren dient, mithilfe des Gleichnisses von Pyramus’ Blut, das wie das Wasser145 aus einem geplatzten Bleirohr emporschießt (4,121–124) und somit die Verwandlung mit einem zeitgenössischen technischen Vorgang illustriert.146 Die Verwandlung des Baums verändert zugleich auch das Aussehen des Schauplatzes, sodass Thisbe diesen bei ihrer Rückkehr aus der Höhle nicht wiederzuerkennen vermag (4,129–132): illa redit iuvenemque oculis animoque requirit, quantaque vitarit narrare pericula gestit.    utque locum et visa cognoscit in arbore formam, sic facit incertam pomi color; haeret, an haec sit.

Sie kehrt zurück und sucht den Jüngling mit den Augen und dem Herzen, und sie will erzählen, welch einer großen Gefahr sie entkommen ist. Und wie sie den Ort und die Gestalt des Baumes gesehen und wiedererkannt hat, so macht sie die Farbe der Beere unsicher; sie zögert, ob es der richtige [Baum] ist.

145 Zur Wassermetaphorik und der These, wonach diese auf eine alternative Sagenversion anspielt, in der nicht der Maulbeerbaum, sondern die beiden Hauptfiguren selbst verwandelt werden, vgl. Duke (1971); Shorrock (2003). 146 Vgl. Segal (1969a, 50); von Albrecht (1981b, 2331–2333; 2014, 153); Schmitzer (1992); von Glinski (2012, 143 f.). Reitz (2003, 67) sieht in dem Gleichnis einen ironischen Kontrast zur Inszenierung der gesamten Szene; Holzberg (1988, 269 f.) betrachtet eine Erklärung des Gleichnisses mit dem Kontrast von Pathos und Banalität als unzureichend und bezeichnet die Szene (im Einklang mit seiner Interpretation der gesamten Episode) als absurd und lächerlich; an diese Deutung schließt sich Lücht (2019, 117) an: »Liest man […] die Episode […] als Parodie hellenistischer Liebesromane, symbolisiert der Ausflug in die römische Alltagswelt im Gleichnis nicht nur die Lächerlichkeit des Selbstmords, sondern auch die Lächerlichkeit der gesamten Episode.« Von Albrecht (2014, 152 f.) betont, dass Ovid hier zwar von der vergilischen Gestaltung von Gleichnissen abweicht, dass sich aber entsprechende Vorläufer für solch ›unbefangene‹ Gleichnisse schon bei Homer finden lassen.

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Die Unsicherheit, die der verwandelte Baum auf die Protagonistin ausstrahlt, illustriert die psychologische Funktion des Raumes. Pyramus vermag mit seinen letzten Worten das tragische Missverständnis aufzuklären, bevor auch Thisbe Selbstmord begeht. Die innerhalb der Stadt unmögliche Vereinigung der Liebenden realisiert sich erst im Tode jenseits der Stadtmauern (4,157 componi tumulo … eodem; 4,166 quodque rogis superest, una requiescit in urna).

3.3.2 Fazit Ein wesentliches Element des Schauplatzes dieser Episode sind die Stadtmauern von Babylon (4,58 coctilibus muris). Durch ihre Erwähnung spielt Ovid auf den Status der Stadt als eines der sieben Weltwunder der Antike an.147 Diese Mauern repräsentieren im Großen die räumliche Trennung durch die Mauer zwischen den elterlichen Wohnhäusern im Kleinen. Abgesehen von den Mauern erwähnt Ovid kaum Elemente der städtischen Topographie. Wie zuvor in der Erzählung von Pen­theus’ Tod am Cithaeron ist auch hier der Ort außerhalb der Stadt, an dem die Geschichte ihr Ende nimmt, detaillierter beschrieben als diese selbst (4,88–90; 4,98–100). Der Anschauungsraum tritt hinter andere Komponenten des Raumes zurück. Die Bedeutung der Handlungsorte zeigt sich noch klarer in ihrer Betrachtung als Aktionsraum. Der Gegensatz zwischen der Stadt und dem Gebiet außerhalb ist vielfach markiert. Für die Protagonisten ist es deutlich schwerer, ihre Stadt zu verlassen, als es für Pen­theus in Theben war.148 Die Liebenden müssen mehr als nur eine einzige Grenze überwinden: Zunächst stellen die Häuser ihrer Eltern ein Gefängnis für sie dar; in einem zweiten Schritt müssen sie die Stadtgrenze hinter sich lassen, um einander begegnen zu können. Die Hauswand als das erste Hindernis ermöglicht ihnen allein Gespräche, ohne jedoch einander sehen oder berühren zu können. Die Wand erinnert an die Situation eines elegischen Paraklausithyron – sie steht stellvertretend für alle Hindernisse, mit denen die Protagonisten konfrontiert werden.149 Indem sie den Durchlass von Worten, nicht aber von Küssen erlaubt, ermöglicht die Wand nur ein geringes Maß an jugendlicher Grenzüberschreitung.150 Diese ist durch die Worte transire und transitus explizit markiert, während sich die Überwindung der weiteren Grenzen an Verben der Bewegung wie excedere, exire und relinquere zeigt (4,85 f.; vgl. 4,94; 4,105). Wenngleich das Zuhause für die jungen Liebenden kein befriedigender Aufenthaltsort ist, so ist es doch im Sinne des gestimmten Raumes ihre vertraute 147 Wie Herodot berichtet, betrug die Höhe der legendären Zyklopenmauern über 100 Meter (Hdt. 1,178); vgl. Barchiesi/Rosati (2011, zu Ov. met. 4,57 f.). 148 De Trane (2007, 32). 149 Vgl. Knox (1986, 36 f.); Bach (2020, 116 f.). 150 Vgl. 4,80 oscula … non pervenientia contra; de Trane (2007, 26) zur Wand als literarischem Topos zu allen Zeiten; Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,73).

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Umgebung (locus solitus, vgl. 4,83), dessen thematische Funktion für die gesamte Erzählung immer wieder deutlich wird. Das Elternhaus ist Teil des städtischen Raums, der Sicherheit vermittelt (4,69 tutae) – anders als die Ödnis außerhalb der Stadt, in der sich die Protagonisten angsterfüllt bewegen (4,87 neve sit errandum).151 Obgleich die Überschreitung der Stadtgrenze zunächst erfolgreich zu sein scheint, verschwindet dadurch der gewohnte Schutz des Elternhauses. Pyramus und Thisbe versuchen, einen ähnlich sicheren Treffpunkt im Schatten eines Baumes auszumachen. Zwar erreichen beide den richtigen Ort, jedoch nicht zum selben Zeitpunkt. Thisbe hat sich auf der Flucht vor der gefährlichen Löwin vergeblich auf die Höhle als sichere Zuflucht verlassen; der Wunsch des Paares nach ›räumlicher‹ Zweisamkeit erfüllt sich erst im Grab.152 Der anfängliche Plan, durch ein Treffen am Maulbeerbaum einander nicht verpassen zu können, scheitert aufgrund der Charakteristika des Ortes; das Blut des sterbenden Pyramus verwandelt die Farbe des Baums, sodass Thisbe ihn nach ihrer Rückkehr aus der Höhle nicht mehr wiedererkennt.153 Während das fatale Ende der Geschichte für die Leser jedoch bereits vorauszusehen ist, weil die Protagonisten sich ausgerechnet an einer Grabstätte verabreden,154 erkennt Pyramus diese Implikation zu spät. Erst in den letzten Augenblicken seines Lebens versteht er, dass ein Friedhof kein passender Ort für ein nächtliches Rendezvous sein kann. Im Bewusstsein seiner Schuld an Thisbes Tod bedauert er, den geliebten Menschen an einen solch gefahrvollen Ort geschickt zu haben (4,110 f. ego te, miseranda, peremi, / in loca plena metus qui iussi nocte venires).155

3.4  Juno will Theben zerstören (4,416–542) Der Mythos um den Wahnsinn der Ino, die ihren Sohn Melicertes tötet und anschließend in die Meeresgöttin Leuco­thea verwandelt wird, ist in zwei verschiedenen Versionen überliefert.156 Gemäß der auch bei Ovid wiedergegebenen Sagenvariante zürnt Jupiters Gattin Juno der Cadmus-Tochter, weil diese den 151 Vgl. Fantham (2004, 46–48) zur fehlenden Sicherheit in der Wildnis ebenso wie im Zuhause; de Trane (2007, 33); Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,81–83; 4,84–90). 152 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,84–90; 4,100; 4,158 f.) zum Motiv der Schutzsuche. 153 De Trane (2007, 36) weist auf die Symbolik der Farbe des verwandelten Maulbeerbaums sowie des Wortes permaturuit (4,165) hin: Während die weiße Farbe die Unschuld der kindlichen Figuren symbolisierte, sind sie nun herangewachsen und versuchen, ein ›erwachsenes‹ Leben zu führen, was jedoch letztlich zu ihrem Tod führt. 154 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,89). 155 Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,55–166) sprechen von den »insidie della natura«, die das Schicksal der Liebenden bewirken. Vgl. 10,29 (Orpheus in der Unterwelt) loca plena timoris; Ov. trist. 3,11,10 (Ovid über seinen Exilort) loca plena metus. 156 Vgl. DNP, »Ino«. Der Name der Protagonistin ist teilweise nicht in der Form Leuco­thea, sondern als Leucothoe überliefert; diese ist jedoch die in den Erzählungen der Minyas-Töchter

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von ihrer Nebenbuhlerin Semele geborenen Weingott Bacchus aufgezogen hat. An diese Version hält sich Ovid nicht nur in den Metamorphosen, sondern auch in der parallelen Erzählung in den Fasten (Ov. fast. 6,481–502). Deren Schwerpunkt liegt allerdings nicht auf der Raserei von Ino und ihrem Mann Athamas,157 sondern auf Inos Verwandlung in die römische Göttin des Frühlichts, die Mater Matuta, mit der Ino/Leuco­thea teilweise gleichgesetzt wurde. Nach der alternativen Sagenversion kommt es zum Wahnsinn des Athamas, als Ino versucht, sich auf betrügerische Weise der Kinder aus seiner ersten Ehe, Phrixus und Helle, zu entledigen. In beiden Versionen tötet Athamas Inos erstgeborenen Sohn Learchus im Glauben, er sei auf der Jagd, bevor sie sich mit ihrem zweiten Sohn Melicertes von einer Klippe ins Meer stürzt und beide in Götter verwandelt werden. Für das Thema dieses Buches sind zwei Aspekte der Episode von Ino und Athamas interessant: zum einen die Verwandlung des thebanischen Handlungsorts und zum anderen Ovids innovative, d. h. ›urbane‹ Beschreibung der Unterwelt.158 Seit der Nekyia des Helden im elften, oft nach dieser benannten Buch der homerischen Odyssee stellt der Abstieg in die Unterwelt eine häufig verwendete epische Bauform dar.159 Die hier betrachtete ovidische Szene muss sich vor allem an der für die lateinische Literatur kanonischen Darstellung im sechsten Buch der Aeneis messen lassen (Verg. Aen. 6,264–892), enthält aber auch zahlreiche Bezüge zum Wirken der Furie Allecto in deren siebtem Buch sowie zur Beschreibung der Unterwelt im letzten Buch der Georgica im Rahmen des Orpheus-Mythos (Verg. georg. 4,467–503).160 Während Vergil genaue Angaben über die Topographie der Unterwelt macht (Verg. Aen. 6,548–636), kondensiert und vereinfacht Ovid diese Darstellung,161 erweitert sie aber auch in einem wesentlichen Punkt: Die von Vergil skizzierte Stadt des Totengottes Dis, die Aeneas nur aus der Ferne betrachten kann, weil Sterbliche den Tartarus nicht betreten dürfen (6,563 nulli fas casto sceleratum insistere limen), beschreibt erwähnte Geliebte des Sonnengottes (4,167–270); bei Homer ist diese Figur unter dem Doppelnamen Ino Leuco­t hea bekannt (vgl. Hom. Od. 5,333–353; DNP, »Leuco­t hea«). 157 Wie Bömer (1976, zu 4,416–542) betont, macht auch der von Ovid in den Metamorphosen gesetzte Schwerpunkt auf Juno in der Unterwelt und Tisiphone nicht den eigentlichen Kern des Mythos aus. 158 In den Metamorphosen gibt es zwei weitere Passagen mit Darstellungen der Unterwelt: Wahrend Ovid ausführlich die Katabasis des Orpheus schildert, der die verstorbene Eurydice wiederzugewinnen sucht (10,11–77), lässt sich die überaus kurze Schilderung von Aeneas’ Unterweltsgang im Rahmen von Ovids ›Kleiner Aeneis‹ (14,116–119) als Epitome der entsprechenden umfangreichen Szene bei Vergil betrachten; vgl. Reitz (2019a, 451). 159 Vgl. Reitz (2019a, bes. 433–435; 437–439). 160 Zur Gestaltung von Ovids Tisiphone nach Vergils Allecto vgl. Bömer (1976, zu 4,473– 511); Hardie (1990, 233). Zu den Unterweltsdarstellungen in den Georgica und der Aeneis vgl. Reitz (2019a, 441–449). 161 Vgl. Bömer (1976, zu Ov. met. 4,432–473); Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,432–480); Reitz (2019a, 450); Keith (2020, 148). Vgl. auch von Glinski (2018, 237) zu Ovids Verzicht auf eine topographische Vergil-Rezeption bei der Schilderung von Aeneas’ Unterweltsgang (14,113–117).

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Ovid mit zahlreichen Details. Die erzähllogische Voraussetzung dafür schafft der Dichter mit einem weiteren ›Tabubruch‹ gegenüber der epischen Tradition, indem er das Zugangsverbot zur Unterwelt für Götter aufhebt und Juno sich dorthin begeben lässt.162 Die Ino-Erzählung schlösse sich chronologisch eigentlich direkt an die Sage über Pen­theus am Ende von Buch 3 der Metamorphosen (Ov. met. 3,511–733) an, ist von dieser aber durch die Erzählungen der Minyas-Töchter zu Beginn des vierten Buches (4,1–415) getrennt (die jedoch wiederum durch das Motiv der Bacchus-Verachtung mit den sie umgebenden Geschichten verbunden sind). Die Episode lässt sich wie folgt gliedern: Nach dem einleitenden Abschnitt über das Wirken des Bacchus in Theben und den Schmerz der Juno über die Erfolge des Sohnes ihrer Nebenbuhlerin Semele (4,416–431) beschreibt Ovid den Weg in die Unterwelt sowie die dort gelegene Stadt (4,432–446). Die anschließende Katabasis der Juno (4,447–463) enthält weitere Informationen über die berühmten Bewohner der Unterwelt, bevor die Göttin in einer Rede die Furie Tisiphone zur Vernichtung Thebens auffordert (4,464–480). Der nächste, längere Abschnitt schildert Tisiphones Aufstieg zur Oberwelt und ihr Wirken in Theben (4,481–511), das den Wahnsinn des Athamas sowie den Selbstmord der Ino hervorruft (4,512–530); am Ende wird ihre Verwandlung in eine Meeresgöttin beschrieben (4,531–542).

3.4.1 Analyse Der Schmerz Junos (4,416–431) Der einleitende Abschnitt der Erzählung dient der Motivierung des Geschehens. Der Erzähler berichtet von Junos Unmut über Inos Stolz auf ihren göttlichen Ziehsohn Bacchus, der aus einer Affäre ihres Gatten Jupiter mit der Sterblichen Semele hervorgegangen ist (4,417–422). In dem anschließenden Selbstgespräch (4,422–431) beschließt Juno, ihren eigenen Schmerz in den Inos zu verwandeln (4,426 inultos … dolores ~ 4,418 f. expers / … doloris) und diese ebenso mit Wahnsinn zu schlagen, wie es die Bacchantinnen mit Pen­theus getan haben (4,431 suis … furoribus ~ 4,429 furor). Junos Verweise auf Pen­t heus’ Ermordung und die Verwandlungen der tyrrhenischen Seeleute sowie der Minyaden, die sie als exempla (4,431) für ihr eigenes geplantes Handeln anführt, fassen die vorherigen Geschichten des thebanischen Sagenkreises aus der Sicht einer Figur zusammen und greifen damit die vorherige auktoriale Analepse auf (4,418 f. de totque sororibus expers / una doloris erat – nisi quem fecere sorores). Die Einleitung bezieht sich jedoch nicht nur inhaltlich auf die zuvor erzählten thebanischen Geschichten, sondern nimmt auch geographisch direkt auf die 162 Vgl. Bernbeck (1967, 14 f.; 17 f.); Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,447 f.).

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Stadt Bezug. Der erste Halbsatz der Episode konstatiert die ›erinnerungswürdige‹ Macht des Bacchus in Theben (4,416 f. Tum vero totis Bacchi memorabile Thebis / nomen erat). Dadurch wird klar, dass trotz der zwischenzeitlichen Verlagerung des Geschehens ins benachbarte Orchomenos (wo die Minyas-Töchter situiert waren) der räumliche Fokus der Erzählung weiterhin auf Theben gerichtet ist.163 Das effektvoll zwischen Bacchi und Thebis gestellte Wort memorabile wirkt dabei wie eine alexandrinische Fußnote, die auf eine Hauptfigur und den zentralen Schauplatz des thebanischen Sagenkreises und zugleich auf Ovids eigene vorangehende Darstellung verweist (wenngleich sich das Wort grammatikalisch auf nomen im nächsten Vers bezieht).164

Die Stadt der Unterwelt (4,432–446) Die Einfügung einer Unterweltsszene in die Ino-Geschichte stellt eine Erfindung Ovids gegenüber der literarischen Tradition dar. Während solche Szenen in der antiken Literatur üblicherweise Andeutungen auf das folgende Geschehen enthalten, lässt sich hier aus dem Wechsel des Schauplatzes nicht unmittelbar ableiten, was als nächstes passieren wird.165 Allenfalls kann man aus der Tatsache, dass ein Weg beschrieben wird (4,432 via), darauf schließen, dass ihn anschließend eine Figur begehen wird, ohne dass man jedoch erahnen kann, wer dies sein wird. Zudem signalisiert das wenig später verwendete Wort descendunt (4,435), dass es sich bei der nachfolgenden Szene um eine tatsächliche Katabasis und nicht ›nur‹ um eine Nekyia handelt.166 Die Ekphrasis des Weges in die Unterwelt wird durch eine Variation der typischen Formel est locus eingeleitet.167 Der Pfad selbst wird – traditionellen Unterweltsbeschreibungen entsprechend – in vielfältiger Weise als bedrohlich dargestellt:168 Er ist von unheilverkündenden Eiben gesäumt (4,432 funesta nubila taxo), von unheimlicher Stille erfüllt (4,433 per muta silentia)169 und wird von Nebelschwaden in ein schauriges Licht gehüllt (4,434 Styx nebulas exhalat 163 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,31 f.; 4,416–562). 164 Die Betonung des thebanischen Schauplatzes wird noch verstärkt, da totis … Thebis ein Zitat aus der Rede des Pen­t heus darstellt (vgl. 3,561). 165 Vgl. Hölsken (1959, 177) zur retardierenden Funktion ovidischer Ekphraseis. 166 Zur Unterscheidung dieser zwei Erzählelemente vgl. Reitz (2019a, 434 f.). 167 Vgl. 1,168 est via sublimis … (Ekphrasis der Milchstraße); 7,410 est via declivis … (Hercules’ Weg in die Unterwelt; Tarrant druckt Heinsius’ Konjektur et). 168 Bernbeck (1967, 13 f.; 19 f.) hingegen bezeichnet Ovids Unterwelt im Gegensatz zu derjenigen Vergils als ›harmlos‹. 169 Ovid verwendet den Pleonasmus per muta silentia nicht weniger als drei Mal in den Metamorphosen, einmal in einer anderen Unterweltszene und ein weiteres Mal in einer Szene, die einer solchen sehr nahekommt, vgl. 7,184 (Medea auf dem Weg zum Kräuterholen); 10,53 (Orpheus in Begleitung von Eurydice auf dem Rückweg aus der Unterwelt). Zur Stille und den Stimmen in der Unterwelt vgl. Finkmann (2019c, bes. 776 f.).

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iners). Zu dieser Atmosphäre trägt weiterhin die Unsicherheit bei, mit der die neu angekommenen Seelen der Verstorbenen dort hinabsteigen (4,437 f. qua sit iter, manes … / ignorant; vgl. 4,443 errant … umbrae) – auch wenn sich dies inhaltlich aus der Tatsache ergibt, dass die Seelen diesen Weg naturgemäß erstmalig beschreiten. Die weitere Beschreibung der Unterwelt enthält manche direkte Bezugnahme auf die Aeneis (Ov. met. 4,436 loca senta = Verg. Aen. 6,462), geht aber über die bei Vergil angelegte Topographie hinaus. Während dort nur der Mauerring einer Stadt im Tartarus aus der Perspektive des Aeneas zu sehen ist (6,548 f. Respicit Aeneas subito et sub rupe sinistra / moenia lata videt triplici circumdata muro; vgl. 6,541 Ditis magni sub moenia),170 spricht Ovid explizit von einer ›Stadt der Styx‹, die Juno später betritt (Ov. met. 4,437 Stygiam … urbem; 4,440 urbs; vgl. 4,447 f.).171 Als erstes topographisches Element dieser Stadt nennt Ovid den Königspalast des Unterweltsgottes (4,438 nigri fera regia Ditis),172 doch die weitere Gestaltung weist einige unerwartete Züge auf: Die Stadt der Styx hat demnach tausend Zugänge und nach allen Seiten offenstehende Tore, durch die neu hinzukommende Seelen einströmen können (4,439 f. mille capax aditus et apertas undique portas / urbs habet;173 vgl. 4,442 accedere). Der Eindruck einer unbegrenzten Größe und Aufnahmefähigkeit der Unterwelt, der mit der unzählbaren Menge der Seelen im Einklang steht, wird dabei noch verstärkt durch das anschließende Gleichnis, das die Seelen der Menschen mit ins Meer strömenden Flüssen parallelisiert (4,440–442):

170 Das gemeinsame Auftreten der Begriffe murus und moenia innerhalb eines Verses ist keineswegs unüblich, die Vokabeln können sich dabei sowohl auf ein und dieselbe als auch auf verschiedene Städte beziehen: vgl. z. B. Verg. Aen. 2,234 (bzgl. Troja) dividimus muros et moenia pandimus urbis; Ov. met. 11,204 (bzgl. Troja) aedificat muros pactus pro moenibus aurum; Ov. Pont. 1,3,77 f. (bzgl. Tyrus und Theben) liquit Agenorides Sidonia moenia Cadmus, / poneret ut muros in meliore loco; ThLL, »moenia« 15 II 17 f. Insgesamt finden sich in den Metamorphosen 18 Belegstellen für murus und 54 für moenia. Das sich daraus ergebende Verhältnis von 1 : 3 unterscheidet sich vom Sprachgebrauch Vergils sowie der römischen Epiker bis zur Zeit der Flavier, wo sich die Relation im Bereich zwischen 1 : 1 und 1 : 2 bewegt. – Im Gegensatz zum Tartarus gibt es in den elysischen Gefilden laut Vergil keine Behausungen, sondern deren Bewohner leben in einer dem Goldenen Zeitalter ähnlichen Natur (Verg. Aen. 6,673–675 nulli certa domus; lucis habitamus opacis, / riparumque toros et prata recentia rivis / incolimus); vgl. Kap. 2.1. 171 Vgl. Keith (2020, 143 f.). – Wie die Kommentatoren bemerken, übernimmt Dante in der Commedia (Inferno 8,67 f.) die Vorstellung einer Stadt in der Unterwelt. 172 Bömer (1976, z. St.) hält die hier verwendeten Attribute für austauschbar und nimmt somit eine doppelte Enallage an, Barchiesi/Rosati (2011, z. St.) sehen dies hingegen nicht zwingend so. 173 Vgl. auch Verg. Aen. 6,43 ostia centum (hundert Zugänge zur Höhle der Sibylle von Cumae) vs. 6,127 ianua Ditis (ein einziger Zugang zum Haus des Dis).

Juno will Theben zerstören utque fretum de tota flumina terra, sic omnes animas locus accipit ille nec ulli exiguus populo est turbamve accedere sentit.

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Und wie das Meer die Flüsse der gesamten Erde, so nimmt jener Ort alle Seelen auf, ist für kein Volk zu klein und spürt nicht, dass die Menge herbeiströmt.

Die thematische Funktion des Raumes wird durch die Verwendung des Wortes locus verdeutlicht. Die Vielzahl der Zugänge zur Stadt der Unterwelt erinnert indes an die allegorische Ortsbeschreibung der Domus Famae (12,39–63)174 – die Seelen der Verstorbenen gelangen scheinbar ebenso leicht in den Palast des Totengottes wie Gerüchte in das Domizil ihrer Personifikation.175 Ein zweites interessantes Merkmal der ovidischen Unterwelt besteht in der Angleichung ihrer einzelnen Bauten sowie der Aktivitäten ihrer Bewohner an das Leben in Rom (4,444–446):176 parsque forum celebrant, pars imi tecta tyranni, pars aliquas artes, antiquae imitamina vitae 

[exercent, aliam partem sua poena coercet.]

Und ein Teil bevölkert das Forum, ein Teil das Haus des Unterweltherrschers, ein Teil übt andere Künste aus und ahmt dabei das vorherige Leben nach, ein weiterer Teil verbüßt seine Strafe.

Demnach bevölkern die Seelen der Verstorbenen das Forum oder den Palast des Dis,177 üben dasselbe Handwerk wie in ihrem vorherigen Leben aus oder verbüßen ihre Strafe. Während Bernbeck (1967, 15) die Kontinuität der Gewohnheiten als überraschend bezeichnet, betonen Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,443–445) entsprechende Vorbilder bei Homer und Vergil.178 Eine solche Übertragung römischer Verhältnisse auf die Stadt der Unterwelt erscheint nicht zuletzt aufgrund der engen Verflechtung der Ereignisse der Episode mit Theben sowie der von Hardie (1990) untersuchten vielfältigen Bezüge dieser Stadt zu Rom passend.179 Der Vers 4,446 ist in einem Teil der Handschriften nicht, teilweise als Marginalnotiz überliefert; er wurde daher von Heinsius athetiert und auch von Tarrant nicht übernommen, während Anderson ihn für echt hält. Eine Entscheidung ist schwierig, da grammatikalische Gründe für die Beibehaltung sprechen, 174 Vgl. 12,44–46 innumerosque aditus ac mille foramina tectis / addidit et nullis inclusit limina portis; / nocte dieque patet. Vgl. Bömer (1976, zu 4,439 f.); Reitz (2000, 45–47); Barchiesi/ Rosati (2011, zu 4,439); Ziogas (2014, 338–342); Kersten (2019c, 387). 175 Ein Kontrast besteht jedoch in der Geräuschkulisse der Domus Famae (12,47–52; 12,48 nulla quies intus nullaque silentia parte) gegenüber der Stille des Pfades in die Unterwelt (4,433 muta silentia). 176 Die Verwendung des Wortes imitamina lässt sich auch als betonte Bezugnahme auf Vergil deuten. 177 Eine eventuelle Gleichsetzung der imi tecta tyranni mit dem Haus des Augustus hält Bömer (1976, z. St.) wohl mit Recht für unwahrscheinlich. 178 Vgl. Hom. Od. 11,572–575 (Treibjagd des Orion); Verg. Aen. 6,652 f. (weidende Pferde der zukünftigen Trojaner); Keith (2020, 144). 179 Vgl. Keith (2007, 3); Einleitung zu Kap. 6.

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während inhaltliche Gründe dagegen angeführt werden können.180 Erklärt man den Vers für unecht, muss man das sonst nirgends belegte Zeugma von celebrant akzeptieren, d. h., dieses Verb bezöge sich auf forum und tecta wie gleichermaßen auf artes. Aus der Sicht von Interpreten wie Bömer (1976, z. St.), der eine humanistische Interpolation für »nicht absolut abwegig« hält,181 passt das Bild der Bestrafung hingegen nicht zu den übrigen Analogien zur Oberwelt. Dieses Argument scheint jedoch nicht zwingend zu sein, zumal sich die Erwähnung von strafgeplagten Menschen auch als Antizipation der Beschreibung von bekannten Unterweltsbüßern (4,457–463) im Rahmen von Junos Katabasis lesen lässt.

Die Katabasis der Juno (4,447–463) Bevor Juno jedoch die berühmten Büßer Tityus, Tantalus, Sisyphus, Ixion und die Beliden182 erblickt, muss sie ihren himmlischen Wohnsitz verlassen und auf dem in der vorangegangenen Ekphrasis beschriebenen Weg in die Unterwelt gelangen (4,447 f. Sustinet ire illuc caelesti sede relicta / … Saturnia Iuno). Wie oben erwähnt, stellt das Betreten der Unterwelt durch eine Gottheit eine Abweichung von der epischen Tradition dar,183 für die exemplarisch die vergilische Allecto als Mittlerin zwischen Ober- und Unterwelt angeführt werden kann (Verg. Aen. 7,323–340; 7,324 f. luctificam Allecto dirarum ab sede dearum / infernisque ciet tenebris). Die Tatsache, dass die ovidische Juno die ihr eigentlich gesetzte Grenze überschreitet, verdeutlicht die psychologische Funktion des Raumes: Die Emotionen der Göttin sind so gewaltig, dass sie ausnahmsweise das Betreten des zuvor als bedrohlich geschilderten Ortes auf sich nimmt (Ov. met. 4,448 tantum odiis iraeque dabat). Juno übernimmt hier also selbst die Funktion einer Botin, die sonst ›niedere‹ Figuren wie beispielsweise Iris ausüben.184 Damit findet eine Verschiebung der Rangordnung zwischen Juno und der von ihr beauftragten Tisiphone statt, die im weiteren Verlauf der Erzählung zur Handlungsträgerin wird.

180 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, z. St.). 181 Luck (1969, 60 f.) hält den Vers 4,446 in der überlieferten Form für einen fehlerhaften Rekonstruktionsversuch für drei andere an dieser Stelle ausgefallene Verse. 182 Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,463) merken an, dass die mit Argos verbundenen Figuren (Sisyphus und die Danaiden) an diese von Ovid nicht ausführlich behandelte Stadt erinnern; vgl. Cole (2004, 375–379; 2008, 28–30) zur Rolle von Argos in den Metamorphosen; Kap. 3.2 zu Acrisius als exemplum, das Pen­theus hinsichtlich der Verteidigung Thebens gegen den Bacchus-Kult heranzieht. 183 Vgl. Bach (2020, 124). 184 Vgl. Keith (2020, 145): »Ovid’s Juno outdoes her Vergilian counterpart by descending all the way to the underworld.«

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Zunächst gelangt Juno an den Eingang der eigentlichen Unterwelt,185 wo sie auf den Höllenhund Cerberus trifft, der angesichts des Geräuschs der Türschwelle beim Eintreten der Göttin wie ein Wachhund in der realen Welt aufbellt (4,449–451).186 Als zweites begegnet Juno den drei Furien (die Ovid allerdings nicht namentlich als die später auftretende Tisiphone sowie als ihre Schwestern Allecto und Megaera identifiziert). Betrachtet man allein die räumlichen Aspekte der Passage, so fällt auf, dass das Verhalten der Furien beinahe dem des Höllenhundes zu gleichen scheint: Ebenso wie Cerberus sitzen die Furien zunächst regungslos da (4,453 ante fores … sedebant)187 und bewegen sich erst bei der Ankunft der Göttin (4,456 surrexere deae ~ 4,450 Cerberus extulit ora). Während der Eingang der Unterwelt, an dem Cerberus wacht, nicht beschrieben wird, malt Ovid den Aufenthaltsort der drei Furien etwas genauer aus: Er beschreibt die erzbeschlagenen Türen eines Kerkers (4,453 fores clausas adamante) und ist damit der erste Dichter, der den Tartarus einem Gefängnis angleicht.188 Im Einklang damit nennt Ovid den Ort, an dem die im Folgenden aufgeführten mythischen Sünder ihre Strafe verbüßen, sedes Scelerata (4,456).189

Junos Auftrag an Tisiphone (4,464–480) In ihrer Rede an die Furien greift Juno sowohl das Schicksal der zuvor gesehenen Unterweltssünder als auch den in ihrem Eingangsmonolog geäußerten Unmut über das Wohlergehen von Ino und Athamas wieder auf (4,464–469). Erneut zeigt sich die psychologische Funktion des Raumes, da Juno ihren Hass auf das thebanische Paar und ihren Abstieg in die Unterwelt unmittelbar miteinander verknüpft (4,469 exponit causas odiique viaeque). Die Göttin gibt unverstellt zu erkennen, dass es ihr nicht genügt, Athamas ins Unheil zu stürzen, sondern dass sie auch das thebanische Königshaus als Ganzes zugrunde richten will (4,470 f. quod vellet erat ne regia Cadmi / staret, et in facinus traherent Athamanta furores). Damit bahnt sich in dieser Situation an, was bereits Pen­theus angesichts der ›Eroberung‹ Thebens durch Bacchus gefürchtet hatte (3,548 f. si fata vetabant / stare diu Thebas ~ 3,131 Iam stabant Thebae): Juno will den Untergang Thebens bewirken. Die Unterwelt wird zum realweltlichen Theben in Kontrast 185 Bei Vergil bewacht Tisiphone den ›Vorhof‹ zur Unterwelt: Verg. Aen. 6,555 f. Tisiphone­ que sedens palla succincta cruenta / vestibulum exsomnis servat. 186 Vgl. Bömer (1976, z. St.); Barchiesi/Rosati (2011, z. St.) zum Realismus. 187 Dass Cerberus sich vor dem Eintreffen der Göttin still verhält, geht nur implizit aus dem Text hervor, für einen expliziten Hinweis darauf vgl. dagegen Tibull. 1,3,71 f. Cerberus … / … aeratas excubat ante fores. Zu Ovids Cerberus im Vergleich zu der Darstellung Vergils vgl. auch Otis (1966, 143). 188 Vgl. Bömer (1976, z. St.) zum Motiv der Pforten der Unterwelt, das sich schon bei Homer und in der Bibel findet; Hardie (1990, 233 Fn. 48); Barchiesi/Rosati (2011, z. St.). 189 Vgl. Tibull. 1,3,67 f. At scelerata iacet sedes in nocte profunda / abdita.

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gesetzt, indem regia Cadmi (4,470) ebenso betont am Versende steht wie zuvor regia Ditis (4,438). Zudem lässt sich die Bezeichnung des thebanischen Königspalastes als regia dives (4,468) als Anspielung auf die Etymologie des Unterweltsgottes Dis/Pluto (›der Reiche‹) betrachten, dessen eigene regia sich bald darauf als mächtiger erweisen wird. Nach dem Ende von Junos Rede erklärt die Furie Tisiphone den Auftrag für angenommen und schickt die Göttin wieder in ihre angestammte Sphäre zurück (4,477 f. inamabile regnum / desere teque refer caeli melioris ad auras).190 Junos schnelle Rückkehr aus der Unterwelt und die Tatsache, dass sie von der Götterbotin Iris entsühnt werden muss, betont noch einmal die Überschreitung der Grenze zwischen den verschiedenen Sphären (4,479 f. laeta redit Iuno, quam caelum intrare parantem / roratis lustravit aquis Thaumantias Iris). Die frohe Stimmung bei der Rückkehr (laeta redit) unterstreicht die psychologische sowie die symbolische Funktion des Raumes, der durch den semantischen Gegensatz zwischen inamabile regnum und caeli melioris in zwei gegensätzliche Sphären geteilt erscheint.191

Tisiphone sucht Theben heim (4,481–511) Tisiphones Weg aus der Unterwelt und ihre Rückkehr dorthin rahmen den folgenden Abschnitt ein (4,484 egreditur … domo; 4,510 f. ad inania magni / regna redit Ditis). Auf ihrem Weg nach Theben wird die Furie von den Personifikationen der Übel Luctus, Pavor, Terror und Insania begleitet (4,484 f.). Dies zeigt die charakterisierende Funktion des Raumes, denn Tisiphones Eigenschaften entsprechen denen ihrer Behausung. Nachdem Ovid den Weg in die Unterwelt ausführlich beschrieben hat, kann er auf detaillierte Angaben über den umgekehrten Weg verzichten und ohne Umschweife die Ankunft der personifizierten Übel in der Oberwelt konstatieren (4,486 limine constiterant).192 Der Fokus der folgenden Verse liegt stattdessen auf einer Beschreibung der im wahrsten Sinne des Wortes erschütternden Wirkung, die das Erscheinen der Furie im thebanischen Königspalast entfaltet (4,486–488): postes tremuisse feruntur Aeolii pallorque fores infecit acernas solque locum fugit.

Die Türpfosten des Aeolus sollen gezittert haben, Blässe umgab die Türflügel aus Ahorn, und die Sonne floh von jenem Ort.

190 Vgl. 14,590 f. (Unterweltsbesuch des Aeneas) satis est inamabile regnum / adspexisse semel; Verg. georg. 4,479 tardaque palus inamabilis unda; Verg. Aen. 6,438 tristisque palus ­inamabilis undae; Ov. trist. 5,7,43 (über seinen Exilort Tomis) locus est inamabilis; Keith (2020, 150). 191 Vgl. 4,533 proxima … caelo … potestas als Verweis auf die mittlere Sphäre. 192 Vgl. Bömer (1976, z. St.) zur ›epischen Verkürzung‹.

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Hier zeigt sich auch die psychologische Funktion des Raumes (locum fugit), sofern man Sol als Charakter betrachtet. Die Gebäude erfahren ein göttliches Einwirken noch vor den Figuren selbst.193 Zudem antizipiert die Flucht der Sonne vom Ort des Geschehens die Flucht Inos nach der Ermordung des Learchus durch ihren Mann (vgl. 4,521 [sc. mater] fugit).194

Der Ausbruch des Wahnsinns (4,512–530) Zunächst befällt der Wahnsinn Athamas. Seine Raserei zeigt sich in einer folgenschweren Verwechslung: Obwohl er sich mitten im Königspalast befindet, hält er diesen für einen Wald, in dem man jagen müsse (4,512 f. media furibundus in aula / clamat: »io, comites, his retia tendite silvis!«).195 Hier zeigt sich einmal mehr die psychologische Funktion des Raumes, da Athamas’ Irrglaube über seinen Aufenthaltsort allein durch die mentale196 Extremsituation hervorgerufen wird, in der er sich befindet. In seinem Wahn verfolgt Athamas Ino, als ob sie ein wildes Tier wäre, und zerschmettert ihren gemeinsamen Sohn Learchus an einer Steinwand (4,515 utque ferae sequitur vestigia coniugis amens). Als Ino ebenfalls mit Wahnsinn geschlagen wird, flieht sie mit ihrem Sohn Melicertes zu einer Felsklippe, um sich von dort ins Meer zu stürzen (4,528–530): occupat hunc [sc. scopulum] … Ino seque super pontum … mittit onusque suum. 

Ino … besteigt diesen [Felsen] und wirft sich selbst … und ihre Last hinab ins Meer.

Zwar schildert Ovid nicht, auf welchem Weg Ino von Theben aus zu dem recht weit von der Stadt entfernt liegenden Meer gelangt,197 dafür bietet er jedoch eine recht ausführliche Beschreibung des letzten Handlungsortes der Erzählung (4,525–527):

193 Vgl. Bömer (1976, z. St.) zum Motiv »Die Umgebung reflektiert die Natur der Gottheit«. 194 Vgl. auch zuvor 4,461 volvitur Ixion et se sequiturque fugitque. 195 Bernbeck (1967, 31 Fn. 80) weist auf die Szene in Euripides’ Hercules furens hin, in welcher der Held sich im Wahn in Mykene statt in Theben glaubt (Eur. Herc. fur. 943–1015); vgl. Hardie (1990, 228; 233). 196 Vgl. 4,499 mens est, quae diros sentiat ictus. 197 Die Szene könnte entweder am Golf von Korinth oder am Saronischen Golf lokalisiert sein; vgl. 4,535 (Ionisches Meer); Bömer (1976, zu 4,535); Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,534 f.). Bömer (1958, zu Ov. fast. 6,485) erklärt die Geographie der Szene mit der Doppelnatur von Melicertes/Palaemon: Während ersterer gemäß der mythischen Tradition in Theben lokalisiert ist, gehört Palaemon nach Korinth; der Sprung vom Isthmus von Korinth könne als Verbindung dienen. Die parallele Szene zu Inos und Melicertes’ Todessturz in den Fasten ist eindeutig am Isthmus von Korinth situiert (Ov. fast. 6,495 f. est spatio contracta brevi, freta bina repellit, / unaque pulsatur, terra, duabus aquis).

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imminet aequoribus scopulus; pars ima cavatur fluctibus et tectas defendit ab imbribus undas, summa riget frontemque in apertum porrigit aequor.

Ein Felsen ragt über das Meer hin­ aus; sein unterer Teil wird von der Flut ausgehöhlt und beschützt die von ihm bedeckten Wellen vor Re­ genschauern, und sein oberer Teil steht starr hervor und bietet seine Kante dem offenen Meer dar.

Es handelt sich um einen Felsen, dessen unterer Teil vom anstürmenden Meer ausgehöhlt ist und von dessen oberem Teil es ironischerweise heißt, dass er das Meerwasser darunter vor Regenschauern schütze.198 Der Schauplatz ähnelt dem Hafen von Karthago im ersten Buch der Aeneis;199 seine Bedeutung erscheint jedoch konträr zu derjenigen, die ein solcher Ort für die Aeneaden hat: Während jener Hafen Aeneas und seinen Kameraden Schutz nach der langen Irrfahrt durchs Mittelmeer verspricht, antizipiert die Beschreibung des Felsens bei Ovid das drohende Unheil, d. h. den Sturz Inos mit ihrem Sohn.

Die Verwandlung von Ino und Melicertes (4,531–542) Die wesentliche Handlung des letzten Abschnittes besteht in der Verwandlung von Ino und Melicertes, deren Metamorphose in die Meeresgottheiten Leuco­ thea und Palaemon ausführlich vorbereitet wird. Die Liebesgöttin Venus, die (über ihre Tochter Harmonia) Inos Großmutter ist, erreicht diese Verwandlung durch eine Bitte an Neptun (4,532–536). Sie unterstreicht ihre Verbindung mit dem Machtbereich des Meeresgottes durch einen Hinweis auf die Etymologie ihres griechischen Namens200 (4,536–538): »aliqua et mihi gratia ponto est, »Und das Meer erweist mir eine gewisse si tamen in medio quondam concreta profundo Gunst, sofern ich doch einst Schaum spuma fui Graiumque manet mihi nomen ab illa.« mitten im Meer gewesen bin, der fest geworden ist, und von diesem verbleibt mir mein griechischer Name.«

Aphrodite ist die im Meeresschaum (spuma; gr. aphros) geborene Göttin. Durch diesen Hinweis auf ihre Verbindung zum Herrschaftsraum wird ihr Wunsch erfüllt (4,539–542).

198 Eine vergleichbare Lokalität bietet der Ort, an dem der Trojanerprinz Aesacus verwandelt wird (vgl. 11,783 f.). 199 Verg. Aen. 1,162 f. hinc atque hinc vastae rupes geminique minantur / in caelum scopuli; vgl. Hardie (1990, 226 Fn. 14). 200 Die Etymologie bereitet zugleich darauf vor, dass sich durch die Verwandlung auch die Namen von Ino und Melicertes ändern (4,541 nomenque simul faciemque novavit).

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3.4.2 Fazit Die Ino-Episode enthält drei grundlegend verschiedene Handlungsorte: die Stadt Theben selbst, die gleich im ersten Vers genannt wird (4,416 Thebis), die Unterwelt, die durch eine Ekphrasis sowie im Rahmen von Junos Unterredung mit Tisiphone geschildert wird (4,431–485), sowie den Ort von Inos Verwandlung am Meer, das eine tragende Rolle bei der Metamorphose spielt (4,525–542). Insgesamt prägt vor allem die Beschreibung der Unterwelt die Raumwahrnehmung; Details der thebanischen Topographie erfahren die Leser dagegen ähnlich wie in den vorangegangenen Episoden nicht bzw. die Figuren nehmen solche Elemente nicht im Sinne des Anschauungsraums wahr, die reale Stadt Theben tritt also ganz hinter die Stadt der Unterwelt zurück. Das einzige genannte Gebäude Thebens ist der Königspalast, den Ovid mit vielfachen Umschreibungen evoziert (4,470 regia Cadmi; 4,486 limine … postes; 4,487 fores … acernas; 4,489 tecto; 4,490 aditum; 4,512 aula). Topographische Elemente, wie man sie eigentlich bei der Beschreibung einer realweltlichen Stadt wie Theben erwarten würde, verwendet der Dichter stattdessen im Rahmen seiner Unter­ weltsdarstellung (4,438 regia Ditis; 4,439 portas; 4,444 forum). Die Unterwelt wird dabei mit Elementen des zeitgenössischen Rom versehen: »Hell is thus envisaged as a Roman city.«201 Die somit beschriebene Vertauschung verschiedener Sphären des Kosmos zeigt sich auch bei der Betrachtung des Aktionsraums. Hierbei prägt das Überschreiten von Grenzen die Bewegungen der Figuren: Zum einen begibt sich die Göttin Juno vom Himmel in die Unterwelt und wieder zurück, um die Furien zur Rache an Ino und Athamas aufzustacheln (4,447 f.), zum anderen beseitigt Athamas den Gegensatz zwischen Zivilisation und Natur (im Sinne der symbolischen Funktion des Raumes), als er den Palast mit einem Wald verwechselt (4,513). Seine Gattin externalisiert diese gedankliche Handlung anschließend dadurch, dass sie aus Theben in Richtung des Meeres flüchtet. Zunächst aber verhindert die Furie Tisiphone die Flucht der menschlichen Figuren, indem sie den Ausgang des Palastes blockiert (4,489 f. tectoque exire parabant; / obstitit infelix aditumque obsedit Erinys).202 Tisiphone selbst führt zuvor eine derjenigen Junos entgegengesetzte Bewegung aus, indem sie sich von der Unterwelt nach Theben und von dort wieder zurück in ihre angestammte Sphäre begibt. Die Unterwelt ist – wie nicht anders zu erwarten – im Sinne des gestimmten Raumes als unheilvolle Sphäre markiert. Dieser Eindruck wird gleich zu Anfang der ihr gewidmeten Ekphrasis durch das Adjektiv funesta (4,432) evoziert und später durch die Tisiphone begleitenden Personifikationen negativer psychi 201 Keith (2007, 9). Auch in der Exildichtung spricht Ovid von einem Forum in der Unterwelt (Ov. trist. 4,10,88 et sunt in Stygio crimina nostra foro). 202 Vgl. Verg. Aen. 7,343 (sc. Allecto) tacitumque obsedit limen Amatae.

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scher Zustände wie Trauer, Angst, Schrecken und Wahnsinn (4,484 f.) weiter verstärkt. Indem die genannten allegorischen Figuren Tisiphone an die Oberwelt begleiten, überträgt sich die Atmosphäre der Unterwelt auf den Palast von Theben und dessen Bewohner Ino und Athamas – Theben wird an dieser Stelle in eine Stadt verwandelt, in der infernalische Elemente auf die Bewohner einwirken. Im Gegensatz zur Unterweltsschau der vergilischen Aeneis enthält die hier betrachtete Katabasis keine Vorausschau auf die (positive) Zukunft eines Volkes, sondern Juno hat allein das Ende Thebens im Sinn.203 Die von der Göttin intendierte Zerstörung der Stadt (Ov. met. 4,470 f. ne regia Cadmi / staret) bleibt jedoch aus; diese realisiert sich – auf einer anderen narrativen Ebene – erst kurz vor dem Ende der Metamorphosen (15,429; vgl. Kap. 6.5).

3.5  Cadmus verlässt Theben (4,563–603) Die hier betrachtete Episode berichtet vom Ende des thebanischen Gründerkönigs Cadmus, der angesichts der Schicksalsfälle seiner Nachfahren gemeinsam mit seiner Gattin Harmonia die Stadt verlässt und in eine Schlange verwandelt wird. Nach den Erzählungen der Minyas-Töchter am Beginn des vierten Buches (4,1–415), die nicht nur geographisch (4,416 f. Tum vero totis Bacchi memorabile Thebis / nomen erat), sondern auch durch das Motiv der Bacchus-Verachtung mit dem Ende von Buch 3 verknüpft sind, sowie den Geschichten über Ino und Melicertes und Inos Gefährtinnen (4,416–562) bildet die Geschichte von Cadmus’ zweitem Exil den Abschluss des thebanischen Sagenkreises im engeren Sinne.204 Die Episode beginnt mit der Lebensrückschau des Protagonisten, seinem Gang ins Exil nach Illyrien und seiner Bitte um Verwandlung in eine Schlange, sofern der von ihm getötete Mars-Drachen heilig gewesen sei (4,563–575). Nach der Metamorphose (4,576–589) folgen die letzten Worte von Harmonia und deren Schlangenverwandlung (4,590–597) sowie abschließend eine Beschreibung der neuen Daseinsform des Paares aus der Perspektive ihrer Gefährten (4,598–603). Die Schlusspassage des thebanischen Sagenkreises ist vor allem deshalb interessant, weil die zentrale Figur Cadmus hier über eine mögliche raumbezogene, d. h. mit dem Ort der Stadtgründung verbundene Ursache für die Schicksalsfälle seiner Familie nachdenkt.

203 Vgl. Hardie (2002a, 89). 204 Vgl. Einleitung zu Kap. 3; Scarsi (1981) zur Ringstruktur der Cadmus-Episoden.

Cadmus verlässt Theben

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3.5.1 Analyse Der Beginn der Erzählung knüpft thematisch an den Anfang der Theben-Sage im dritten Buch an. Während dort das Unwissen des Agenor über das Schicksal seiner Tochter Europa als Auslöser für die Verbannung des Cadmus fungierte, ist es hier Cadmus selbst, der vor dem Gang in sein neuerliches Exil noch nichts von der Verwandlung seiner Tochter Ino weiß (3,3 pater ignarus ~ 4,563 Nescit Agenorides; 3,5 exilium ~ 4,565 f. exit / conditor urbe sua).205 Doch auch ohne das Wissen um diesen weiteren Schicksalsfall ist der Gründer Thebens ermattet von der Reihe an Übeln, die seinen Nachkommen widerfahren sind (4,564 f. luctu serieque malorum / victus et ostentis, quae plurima viderat). Bevor die Hauptfigur jedoch selbst zu Wort kommt, wird vermittelt, dass Cadmus’ Konsequenz aus dem Schicksal seiner Nachkommen mit der angenommenen Ursache in keinerlei Zusammenhang steht. Der Erzähler betont, dass Cadmus nicht vom Verhängnis des Ortes belastet ist, an dem er Theben gründete, sondern einzig von seinem eigenen Schicksal (4,566 f. tamquam fortuna locorum, / non sua se premeret). Der Ort von Cadmus’ zweitem Exil indes ist Illyrien an der Ostküste des Adriatischen Meeres (4,568 contigit Illyricos profuga cum coniuge fines), wo er gemäß einer Prophezeiung des Bacchus in Euripides’ Bacchantinnen zum Führer eines Stammes wird, den er gegen griechisches Territorium führen wird.206 Die obskure Etymologie der Encheläer, der Einwohner dieser Gegend (gr. echis, ›Schlange‹),207 ist ein weiterer möglicher Grund für die Lokalisierung der Verwandlung,208 denn das Schlangenthema hat eine zentrale Bedeutung in Buch 3 und 4 der Metamorphosen sowie später im Rahmen der argivischen Sagen.209 Erst im Gespräch mit Harmonia erinnert sich der vormalige König an die Tötung der Schlange vor der Gründung Thebens (Ov. met. 4,571–573):

205 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,563) zum geringeren Figuren- gegenüber dem Leserwissen. 206 Eur. Bacch. 1330–1337; 1354–1360. Bei Euripides erfolgt die Schlangenverwandlung bereits, bevor Cadmus Theben (als Verbannter, also nicht sich selbst exilierend) verlässt; vgl. Bach (2020, 112) sowie (ebd., 75) zu Illyrien als einer der ›Brücken‹ zur Verknüpfung von Osten und Westen innerhalb der Metamorphosen. 207 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,563–603). 208 Zu der unter anderem von Pindar und Euripides überlieferten Tradition, wonach Cadmus und Harmonia bei ihrem Tod auf die Inseln der Seligen versetzt werden (Pind. O. 2,86; Eur. Bacch. 1338 f.), vgl. Videau (1998, 276 mit Fn. 59); David-Guignard (2006, 259). 209 Vgl. Barchiesi/Rosati (2011, zu 4,615–620). Nicht nur das jeweils letzte von Cadmus bzw. Harmonia gesprochene Wort lautet ›Schlange‹ (4,585 anguis; 4,594 anguem), sondern auch das letzte Wort dieser Erzählung (4,603 dracones) sowie das letzte Wort von Buch 4 (4,803 [über das Haar der Medusa] angues).

102 »num sacer ille … serpens … fuerat, tum cum Sidone profectus vipereos sparsi … dentes?«

Theben »War jener … Drache etwa heilig, als ich damals, aus Sidon kommend, die Schlangenzähne … aussäte?«

Cadmus erwägt somit, ob er durch die Tötung des Mars-Drachens, dessen Zähne er als Saat der zukünftigen Bevölkerung ausstreute, einen Frevel begangen haben könnte, der für das düstere Schicksal seiner Nachkommen ursächlich war. Diese Fehleinschätzung (zumindest handelt es sich aus Sicht des Erzählers um eine solche) illustriert die psychologische Funktion des Raumes: In seiner eigenen unglücklichen Lage missdeutet Cadmus das Unglück seiner Familie, indem er es kausal auf Theben als Ort zurückführt. Cadmus’ Wunsch, selbst in eine Schlange verwandelt zu werden, falls der von ihm getötete Drache heilig gewesen sein sollte, wird augenblicklich erfüllt, genauso wie auch Harmonia eine solche Metamorphose erfährt (4,574–597).210 In Anwesenheit einiger Gefährten, die sie offenbar ins Exil begleitet haben (4,598), begibt sich das nunmehr in Schlangen verwandelte ehemalige Königspaar in einen Wald, wo die beiden als zutrauliche Tiere weiterleben (4,601–603). Dies ist somit nicht nur Cadmus’ zweites Exil,211 sondern auch das zweite Mal, dass er in einem entscheidenden Moment seines Lebens einen Wald aufsucht – jedoch dieses Mal nicht, um eine Schlange zu töten, sondern um selbst friedlich als eine solche zu leben (vgl. 3,55 nemus intravit ~ 4,601 in … nemoris subiere latebras).212 Aus der Erfüllung von Cadmus’ Wunsch nach einer Verwandlung ergibt sich die Frage nach der zusammenfassenden Bewertung seines Verhaltens in der Eingangs- und Schlussepisode des thebanischen Zyklus. Wie oben gesehen, weicht die eigene Beurteilung seines familiären Schicksals von derjenigen des Erzählers ab. Cadmus’ Verwandlung muss wohl im Einklang mit Fabre-Serris (2010, 113 f.) als Beweis für die Heiligkeit des getöteten Drachens und somit auch als Ursache (im wörtlichen Sinn) für die Schicksalsfälle der thebanischen Dynastie gesehen werden, während der jeweilige Anlass für das Unglück einer konkreten Figur auf einer anderen Ebene zu suchen ist.213 Letztendlich handelt Cadmus bei der Tötung des Drachens auf ›typisch thebanische‹ Weise und erweist sich in ein und derselben Tat als gut und schlecht zugleich:214 So wie Agenor mit 210 Zur Bewertung von Cadmus’ Schicksal vgl. 4,591 (Harmonia) Cadme … infelix ~ 3,131 f. (Erzähler) poteras iam, Cadme, videri / exilio felix. 211 Vgl. Eur. Bacch. 1350–1387 (auch Agave erwartet das Exil, nachdem sie erkannt hat, dass sie im dionysischen Wahn ihren Sohn Pen­t heus ermordet hat). 212 Vgl. Gildenhard/Zissos (2016, 37). 213 Janan (2004, 143 f.) argumentiert, der Zusammenhang der thebanischen Unglücke mit der anfänglichen Schlangentötung sei nur ein scheinbarer, weil sich Cadmus’ Wunsch nach einer Schlangenverwandlung erfülle. 214 Vgl. Zeitlin (1986, 126–128) zum »law of the Eternal Return« in Theben.

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dem Suchauftrag nach Europa und der Androhung von Cadmus’ Exil treu und frevelhaft zugleich handelt (3,5 facto pius et sceleratus eodem),215 bedeutet auch die Vernichtung des Drachens eine ehrenvolle Rache für den Tod von Cadmus’ Gefährten, zugleich aber mutmaßlich auch die Verletzung eines Gottes. Auch ein richtiges Verhalten kann gleichzeitig falsch sein, wie Glenn (1986, 40) mit Bezug auf diese Passage feststellt.

3.5.2 Fazit In der Erzählung vom Ende des Cadmus hat die visuelle Raumbeschreibung keine nennenswerte Bedeutung. Im Sinne der symbolischen Funktion des Raumes wird indirekt der Gegensatz von Zivilisation und Wildnis bzw. zwischen der Stadt Theben und dem Exil in der Natur evoziert, wo die neuen Schlangen in geeignete Schlupfwinkel entweichen (4,566 urbe; 4,601 nemoris), aber die Figuren nehmen den Raum nicht explizit als Anschauungsraum wahr. Entscheidend sind in dieser Episode wiederum die Bewegungen der Figuren, mit denen sich der Raum als Aktionsraum beschreiben lässt. Wie schon im Rahmen der Gründungserzählung in Buch 3 wird Cadmus als epischer Held stilisiert, der wie der Flüchtling Aeneas nach langen Irrwegen an seinem Bestimmungsort angelangt ist (4,567 f. longisque erroribus actus / contigit Illyricos … fines).216 Daneben wirkt das Betreten des Waldes nach der Verwandlung in eine Schlange wie eine Umkehrung des Schlangenkampfes: Um Theben zu gründen, musste Cadmus den Wald betreten und den dort hausenden Drachen besiegen (3,55), jetzt ist er selbst zur Schlange geworden, die sich in den Wald begibt (4,601) – dieses Mal allerdings, ohne diesen Ort jemals wieder zu verlassen. Dieser Augenblick markiert zwar nicht das Ende Thebens (das erst später von Pythagoras konstatiert wird; vgl. Kap. 6.5), aber den vorläufigen Endpunkt der Erzählungen aus dem thebanischen Sagenkreis, vor den Berichten aus dem Leben des Hercules.217 Der Raum erfüllt damit eine spiegelnde Funktion in Bezug auf das Gesamtnarrativ. Der vorletzte Vers der Episode erhält indes eine zusätzliche Sinnebene, wenn man ihn zunächst nur bis zum Wort fugiunt liest und das Objekt hominem weglässt (4,602 nunc quoque nec fugiunt):218 Im zwei 215 Hölsken (1959, 201) sieht diese Stelle als Beispiel für die »Zerrissenheit der ovidischen Welt«, also nicht als ein Spezifikum des thebanischen Sagenkreises. – Das ovidische Selbstzitat dieser Junktur im neunten Buch (9,408 natus erit facto pius et sceleratus eodem), im Rahmen der Vorverweise auf Theben, scheint bisher nicht von der Forschung beachtet worden zu sein. 216 Vgl. 3,6 f. (Cadmus) orbe perrerrato … / … profugus; 15,771 (Venus über Aeneas) longis erroribus actum; Verg. Aen. 6,532 pelagi … erroribus actus; Sharrock (2019, 287; 297). 217 Vgl. Fantham (2004, 49). 218 Frei übersetzt: »Auch jetzt noch sind sie keine Flüchtlinge mehr.«

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ten Exil, verwandelt in eine Schlange, ist Cadmus an der letzten Station seines Daseins angekommen. Nach dieser neuerlichen Flucht wird ihm keine weitere mehr abverlangt werden. In dieser Beobachtung zeigt sich bereits eine starke Überschneidung mit dem Aspekt des gestimmten Raumes: Am Ende der Episode wird die schützende Funktion des Exils hervorgehoben; die Schlupfwinkel in illyrischen Wäldern (4,601 nemoris … latebras) bedeuten für die Protagonisten der Erzählung eine endgültige Beruhigung nach den tragischen Erlebnissen ihrer Familienmitglieder, worin sich die psychologische Funktion des Raumes erkennen lässt.

3.6  Schlussfolgerungen: Theben als literarische Landschaft Die Bücher 3 und 4 der Metamorphosen (bis Vers 4,603) werden gewöhnlich als ovidische ›Thebais‹ bezeichnet.219 Wie wir gesehen haben, ist der Schauplatz Theben allerdings nur eines der Elemente, die jene etwa 1.300 Verse zu einer erzählerischen Einheit werden lassen. Neben der räumlichen Zusammengehörigkeit sind die betreffenden Episoden vor allem durch die genealogische Komponente, d. h. die gemeinsame Abkunft vom Stadtgründer Cadmus, miteinander verbunden, weswegen Gildenhard/Zissos (2016, 33) als Alternativtitel für Ovids thebanischen Zyklus ›Cadmeis‹ vorschlagen.220 Wie eingangs dargestellt, deckt sich dieser Sagenkreis allerdings kaum mit der ersten Buchpentade der Metamorphosen, sodass von Albrechts (2003, 131 f.) These einer Dreiteilung des Werkes nach den jeweils dominierenden Städten hier nur wenig zu überzeugen vermag. Vielmehr steht die Art und Weise, wie Ovid die mit Theben verbundenen Episoden bzw. die Verweise auf diese Stadt über das Werk verteilt hat, im Einklang mit Schmidts (1991, bes. 79–95) These einer ›symphonischen‹ Struktur der Metamorphosen: Nach einem Schwerpunkt in Buch 3 und 4 pausiert das Thema ›Theben‹ für einige Momente, bevor es noch mehrere Male wieder hervortritt – manchmal nur für eine kurze Andeutung, einmal (im Fall von Niobe) auch für die Dauer einer vollständigen Episode. Zweifellos aber ist Theben – wieder im Einklang mit von Albrecht (2003, 165) – die erste ›Hauptstadt‹ von Ovids Epos: Nach den namenlosen Städten der beiden Eingangsbücher (vgl. Kap. 2) ist Theben die erste Stadt, der ein eigener Mythenkreis gewidmet ist und die zusammen mit ihrer Peripherie zu einem wiederkehrenden Handlungsort wird, dessen Bedeutung für das Gesamtwerk keinesfalls hinter derjenigen von Athen, Troja und Rom zurücksteht.

219 Wie Ovid in seiner Exildichtung schreibt (vgl. Ov. trist. 4,10,47), kannte er Ponticus, den Verfasser einer lateinischen Thebais (vgl. die an diesen gerichteten Elegien Prop. 1,7; 1,9). 220 Vgl. Videau (1998); Fabre-Serris (2010).

Schlussfolgerungen: Theben als literarische Landschaft

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3.6.1  Theben als Schauplatz Theben als literarische Landschaft bzw. die Geschichten des thebanischen Sagenkreises haben von den frühesten Epen über die griechischen Dramen bis hin zu Ovids Metamorphosen einen weiten Weg zurückgelegt. Aufgrund des weitgehenden Überlieferungsverlustes des Epischen Kyklos (Oedipodeia, Thebais, Epigonoi) sowie weiterer mutmaßlich wichtiger Texte wie etwa von Pacuvius’ Pen­theus lassen sich die relevanten ovidischen Episoden nur mit den erhaltenen attischen Tragödien (wie Aischylos’ Sieben gegen Theben und Euripides’ Bacchantinnen) sowie weiteren wichtigen Referenztexten wie Vergils Aeneis vergleichen.221 Die in diesen Werken zu beobachtenden Darstellungen von Theben als Schauplatz sind naturgemäß auch durch die jeweils zugrunde liegende Gattung geprägt,222 und aufgrund der maßgeblichen Bezugnahme Ovids auf das griechische Tragödien-Corpus konstatieren Gildenhard/Zissos (2016, 31) richtigerweise bezüglich der narrativen Gestaltung: »Ovid’s epic takes a ›tragic‹ turn as it turns to Theban myth.«223 Die Wahl der Gattung hat auch Konsequenzen auf formaler Ebene: Sie ermöglicht es Ovid, auf Botenberichte wie im Drama zu verzichten und stattdessen neben Theben selbst weitere Schauplätze in der Umgebung der Stadt oder auch weiter entfernte Gebiete einzubinden.224 Dadurch lässt sich insbesondere der Weg einer Figur an den Ort ihres Todes bzw. ihrer Verwandlung aus der Perspektive des auktorialen Erzählers mitverfolgen. Ein solcher Wechsel zwischen verschiedenen Schauplätzen ließ sich in allen hier untersuchten Episoden beobachten. In der Anfangsepisode des thebanischen Sagenkreises rückt Cadmus zum Kampf gegen den Drachen, der seine Gefährten getötet hat, in den Wald jenseits der späteren Stadt aus; sein Gang ins illyrische Exil, wo er – wiederum in einem Wald – selbst in eine Schlange verwandelt wird, stellt eine dazu parallele Bewegung dar. In beiden Episoden spielt die phönizische Heimat des Helden eine wichtige Rolle als Vergleichspunkt bzw. Hintergrundraum für das Verhalten der Thebaner und wird daher mehrfach im Rahmen von Reflexionen über Vergangenes evoziert. Dasselbe geschieht auch in der Pen­t heus-Erzählung, wo Phönizien als identitätsstiftender Hintergrundraum für die Thebaner aufgerufen wird, was diese zu einem heroischen Handeln motivieren soll. In diesem Aufrufen bestimmter Wesensmerkmale zeigt sich beispielhaft die charakterisierende Funktion des Raumes. Wiederum spielt die eigentliche Episode nicht in Theben allein, sondern der Protagonist Pen­theus 221 Zur Vielfalt der anzunehmenden Referenztexte vgl. Gildenhard/Zissos (2016, 27 f.). Zum vielfältigen Einfluss Euripides’ auf Ovid vgl. Paschalis (2015, bes. 36–41). 222 Vgl. Genette (1993, 382 f.) zur sogenannten Transmodalisation. 223 Vgl. McNamara (2010, 192 f.). 224 Keineswegs aber verhindert die Wahl der epischen Gattung die Verwendung eines solchen Botenberichts, wie die Einfügung der Binnenerzählung von den tyrrhenischen Seeleuten zeigt (vgl. 3,572 f.).

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verlässt die Stadt und kommt am Cithaeron, also einem Teil der thebanischen chora, ums Leben. Auch in der Geschichte von Ino und Athamas lässt sich eine solche Vielfalt an Handlungsorten feststellen: Die Vorbereitung des Geschehens erfolgt durch eine Reise der Göttin Juno in die Unterwelt, bevor es zur finalen Metamorphose in der freien Natur kommt. Dieselbe zentrifugale Tendenz225 hinsichtlich der Bewegungen der Figuren zeigt sich auch in der »urban story«226 von Pyramus und Thisbe, die ihre Heimat Babylon verlassen und in der Ödnis außerhalb der Stadt zu Tode kommen. Wie aber werden nun Theben selbst und die übrigen Handlungsorte im Sinne des narratologischen Raummodells von Haupt (2004) dargestellt? Die Stadt als Anschauungsraum erscheint tendenziell unterdeterminiert, es finden sich kaum Elemente urbaner Topographie. Selbst Mauern als das wesentliche Konstituens einer Stadt werden nur wenige Male innerhalb des thebanischen Sagenkreises erwähnt (Ov. met. 3,13 beim Auftrag des Delphischen Orakels, 3,61 f. in einem Gleichnis beim Drachenkampf sowie 3,549 f. in der Rede des Pen­theus an seine Mitbürger). Auch den königlichen Palast muss man sich mehr erschließen, als dass er direkt im Text erwähnt würde. Dieses Fehlen von elementaren Bestandteilen einer typischen Stadt zeigt sich auch bezüglich dessen, was seit der archaischen Literatur die mythische Identität Thebens ausmacht: Die berühmten sieben Tore der Stadt sind in die Theben-Ekphrasis im dreizehnten Metamorphosen-Buch ausgelagert (vgl. Kap. 5.7). Zwar finden sich zwei Stellen innerhalb des thebanischen Sagenkreises, an denen von Stadttoren die Rede ist, doch diese beziehen sich jeweils auf eine andere Stadt als Theben, nämlich auf Argos bzw. auf die Stadt der Unterwelt. Die visuelle Darstellung Thebens unterstützt somit die Bedeutung der thematischen Funktion des Raumes (besonders insofern, als es um die Gründung und den möglichen Untergang von Theben geht), erzeugt jedoch kaum ein anschauliches Bild der städtischen Topographie. Eine Ekphrasis widmet Ovid regelmäßig nicht Theben selbst, sondern einem zweiten Handlungsort außerhalb der Stadt – meist einem locus amoenus, der sich durch das nachfolgende tragische Geschehen in einen locus horribilis verwandelt.227 Neben der Bedeutung der außerhalb der Stadt liegenden Handlungsorte findet die Unterbestimmtheit von Theben gewissermaßen einen Ersatz in der zumindest etwas höheren Ausführlichkeit, mit der Ovid andere Städte innerhalb des thebanischen Sagenkreises beschreibt, namentlich Babylon (4,57 f.) und vor allem die Stadt der Unterwelt (4,439–445). 225 Vgl. Keith (2004/2005, 184). 226 Fantham (2004, 46). 227 3,28 (Ort der Drachentötung) Silva vetus stabat; 3,708 f. (Ort von Pen­t heus’ Tod) est … / … campus; vgl. 4,432 (Weg in die Unterwelt) Est via declivis. Vgl. Hardie (1990, 224): »Ovid’s fascination with the rural locus amoenus is in tension with the idea of the city«; Fan­ tham (2004, 37).

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In dem beschriebenen Zusammenspiel von Theben als Ausgangsschauplatz und einem zweiten Handlungsort in der freien Natur deutet sich bereits die wichtige Funktion des Aktionsraums im thebanischen Sagenkreis an. Das Überschreiten der Grenze zwischen der Stadt, die Sicherheit suggeriert (daher will z. B. Pen­t heus das bacchantische Treiben von Theben fernhalten), und dem Bereich außerhalb davon, der mit mannigfaltigen Gefahren verbunden ist, zeigt regelmäßig die symbolische Funktion des Raumes.228 Die eben genannte Dichotomie zwischen Zivilisation und Wildnis bestätigt sich in den Episoden über Cadmus, Pen­t heus sowie Pyramus und Thisbe, deren Metamorphose bzw. Tod jeweils außerhalb der Stadt erfolgt. Sie wird jedoch in der Erzählung von Ino und Athamas teilweise aufgehoben, als der männliche Protagonist den thebanischen Königspalast und somit einen Ort innerhalb der Stadt im Wahn mit einem Wald verwechselt. Hier zeigt sich am deutlichsten, dass auch der urbane Raum keineswegs sicher ist, sondern dass Gewalt und Tod auch nach Theben selbst einzudringen vermögen. Im Sinne des gestimmten Raumes präsentiert sich die Stadt somit als Ort, der unter ständiger Bedrohung steht. Dies zeigt sich bereits in der Eingangsepisode am Kampf der erdgeborenen Ureinwohner Thebens, deren Bruderkrieg einen dunklen Schatten auf spätere Ereignisse der thebanischen Geschichte wirft; ­weiterhin an der Gefahr, die in der Pen­theus-Episode von dem ekstatischen ­Treiben der Bacchantinnen außerhalb der Stadt auf diese ausgeht, sowie schließlich am Wahnsinn des Athamas, der seine engsten Verwandten attackiert. Als Juno die Furie Tisiphone mit dem Sturz des thebanischen Königshauses beauftragt, zeigt sich in beispielhafter Klarheit, wie Ovid mit der psychologischen Funktion des Raumes arbeitet, als Athamas in seiner Raserei Stadt und Wald verwechselt und innerhalb des thebanischen Königspalastes sein Kind tötet.

3.6.2  Theben als Etappe auf dem Weg nach Rom Abschließend stellt sich die Frage, inwieweit sich Ovids Theben als kultur­ historische Station auf dem Weg der Metamorphosen von den Anfängen der Zivilisation in den Eingangsbüchern bis ins augusteische Rom in Buch 14 und 15 bezeichnen lässt. Dazu sind zunächst die möglichen Bezugnahmen des thebanischen Sagenkreises zu jener letzten ›Hauptstadt‹ des Werkes herauszuarbeiten. Solche Bezüge lassen sich an mehreren Stellen der untersuchten Episoden beobachten. In Gleichnissen und Ekphraseis stellt Ovid direkt erkennbare Verbindungen zum römischen Alltag bzw. zu Lokalitäten der Stadt her: In der Cadmus-Episode erheben sich die Sparten wie die Figuren auf einem Theatervorhang aus der Erde (3,111–114); der Ort von Pen­t heus’ Tod am Cithaeron weist 228 Vgl. Keith (2004/2005, 183).

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Ähnlichkeiten zu einem römischen Amphitheater auf (3,708 f.); das Blut des Pyramus spritzt wie Wasser aus einem geplatzten Bleirohr empor (4,121–124); in der Ino-Erzählung schließlich ist die Unterwelt nach dem Vorbild Roms mit einem Forum gestaltet (4,444 f.). Neben den genannten Verbindungen zur römischen Alltagswelt sind es vor allem die vielfältigen Parallelen zu Vergils Aeneis, die einen Vergleich des thebanischen Sagenkreises bei Ovid mit der kanonischen Version über die Frühgeschichte Roms geboten erscheinen lassen.229 Wie Hardie (1990, bes. 225 f.) zeigt, lässt sich Ovids Theben-Erzählung als gescheiterte ktisis betrachten. Die strukturellen Parallelen der thebanischen Siedler zu Vergils Aeneaden (beide Gruppen werden als Flüchtlinge auf einer Reise von Ost nach West dargestellt, teils mit wörtlichen Übereinstimmungen) scheinen anfangs eine ähnlich erfolgreiche Stadtgründung wie diejenige Roms zu präfigurieren, zumal beide Städte über dieselben Schutzgötter verfügen.230 Deren genealogische Verbindung zu den Figuren des jeweiligen Sagenkreises ist jedoch eine andere: Während Venus und Mars direkte Vorfahren der römischen Gründer-Heroen Aeneas bzw. Romulus sind (Venus als Mutter, Mars als Großvater), sind Mars und Venus nur über den Umweg Harmonia mit dem Gründer Thebens verwandt; Mars ist zudem über die von Cadmus ausgestreuten Zähne des Drachens mit den thebanischen Sparten verbunden, jedoch nicht mit dem Gründer selbst. Des Weiteren unterscheiden sich die Apotheosen des römischen bzw. thebanischen Sagenkreises erheblich voneinander. Während mit Aeneas und Romulus die beiden Urväter Roms vergöttlicht werden (vgl. Kap. 6.3), sind es in Theben die Nebenfiguren Ino und Melicertes, die zu Göttern werden, während der Stadtgründer Cadmus in eine Schlange verwandelt wird und die zweite Gründerfigur Amphion Selbstmord begeht. Wie Hardie (ebd., 234) zu Recht festhält, sind die thebanischen Apotheosen im Gegensatz zu denjenigen großer Römer also nicht mit der (Neu-)Gründung einer Stadt assoziiert. In dem erneuten Exil des Stadtgründers Cadmus zeigt sich die zyklische Struktur des thebanischen Sagenkreises. Im Gegensatz zum römischen telos der Aeneis lässt sich keine zielgerichtete Entwicklung des ovidischen Theben erkennen, sondern die mit der Stadt und ihrer Herrscherdynastie verbundenen Ereignisse stellen eine kontinuierliche series malorum (vgl. Ov. met. 4,564) dar,231 die mit der Gründung bzw. der Drachentötung durch Cadmus beginnt und sich auch nach dem Ende von dessen Herrschaft in der thebanischen Geschichte fortsetzt. Theben ist eine Stadt, die ab dem Zeitpunkt ihrer Gründung unter der permanenten und aus vielen Quellen herrührenden Bedrohung des Unterganges steht: gegenseitige Vernichtung beim Kampf der Erdgeborenen, 229 Vgl. Janan (2009, 26). 230 Vgl. von Albrecht (2014, 96). 231 Vgl. Hardie (1990, 224 Fn. 5).

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fremde Religion beim Siegeszug der Bacchantinnen, göttliche Intervention bei Junos Rachefeldzug. Daneben ist auch hervorzuheben, dass die Stadtgründung des Cadmus primär in dessen ›privatem‹ Interesse erfolgt, während der Held der vergilischen Aeneis mit seiner Mission den Grundstein zu einem vom obersten Gott gewollten Weltreich legt. Zwar erhält Cadmus ähnlich wie Aeneas durch einen Orakelspruch den Auftrag, eine Stadt zu gründen, aber dies wird nicht mit einem übergeordneten, auf die Zukunft gerichteten Ziel verknüpft.232 Ovids Theben-Erzählung ist somit – sofern man die von Hardie (1990) verwendete Bezeichnung gebrauchen mag – in struktureller und inhaltlicher Hinsicht eine ›Anti-Aeneis‹.233 Wie Karthago in Vergils Aeneis, so stellt das Theben der Metamorphosen eine Zwischenstation dar, die noch nicht die ›richtige‹, d. h. finale Stadt Rom ist – ungeachtet deren eigener Bedeutung (vgl. Kap. 6.10).234

232 Vgl. Andrae (2003, 209–211) zu Ovids Infragestellung des ›göttlichen Determinismus‹. 233 Vgl. Spencer (1997, 8 f.) zu den Kontrasten zwischen den beiden Erzählungen; Janan (2009, 15–17). Vgl. auch die Analogie dieses Kontrastes zwischen zwei Epen mit der von Zeitlin (1986, 116) postulierten Funktion Thebens in der attischen Tragödie (»Thebes functions in the theatre as an anti-Athens, an other place«). 234 Vgl. Hardie (1990, 228 f.); Schmitzer (1990, 140–147).

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Im Hinblick auf die mythische Chronologie der antiken Literatur steht der attische Sagenkreis zu den thebanischen oder trojanischen Mythen nicht in einem vergleichbaren Verhältnis wie jene zueinander.1 Die Sagen um Athen sind nur wenig mehr im Zentrum als diejenigen rund um andere griechische poleis und Landschaften wie etwa Argos bzw. die Argolis, die Heimat des Helden Perseus. Eine Gemeinsamkeit zu Theben besteht jedoch im autochthonen Wesen der Athener:2 So wie die mythische Urbevölkerung Thebens aus den von Cadmus gesäten Drachenzähnen entstand (vgl. Kap. 3.1), gilt der frühe athenische König Erichthonius (bzw. Erechtheus) als ›Erdgeborener‹.3 Er soll aus einem Samen entstanden sein, der nach der versuchten Vergewaltigung der Athena durch Hephaistos auf die Erde fiel. Bekannt ist der Urkönig vor allem für die ihm zugeschriebene Begründung der Panathenäen.4 Neben der Göttin Athena, die der Stadt nach einem Wettstreit mit Poseidon ihren Namen gab, ist der Heros Theseus als zentrale Gestalt des athenischen Mythos hervorzuheben. Mit ihm werden neben anderen Ereignissen der Sieg über den Minotaurus mithilfe der Ariadne sowie der versuchte Raub der Proserpina gemeinsam mit seinem Freund Peirithous verbunden. Den meisten dieser mythischen Taten ist jedoch gemein, dass sie gerade nicht in Athen, sondern an anderen Orten lokalisiert sind (in den genannten Beispielen auf Kreta bzw. in Sparta und in der Unterwelt). Die Heldentaten des Theseus waren Gegenstand zahlreicher als ›Theseides‹ bezeichneter poetischer Bearbeitungen in griechischer wie auch in lateinischer Sprache, von deren Inhalt sich jedoch kaum Spuren erhalten haben.5 In den 1 Im Gegensatz zu Theben oder Troja wird Athen nicht mit einer mythischen Eroberungserzählung verbunden; die historische Stadt wurde im Verlauf des Ersten Mithridatischen Krieges im Jahr 86 v. Chr. durch Sulla erobert, nachdem sie bereits seit 146 v. Chr. unter römischer Herrschaft stand. 2 Vgl. Schmitzer (2014, 138); Bach (2020, 45 Fn. 6); Einleitung zu Kap. 3 zu der von Zeitlin (1986) vorgebrachten These von Theben als (negativer) Folie für Athen im griechischen Drama. 3 Vgl. die Etymologie (gr. chthon, ›Erde‹); für die Quellen dazu vgl. Roscher, »Erichthonios«. Beispielsweise spricht schon Homer von Erechtheus statt Erichthonius als erdgeborenem König Athens (vgl. Hom. Il. 2,546–551). Zur Abgrenzung bzw. Überlagerung der beiden Figuren in der antiken Literatur vgl. Roscher, »Erechtheus«. Auch der als Gründer Athens verehrte Cecrops ist als Mischwesen von Mensch und Schlange eine autochthone Figur. 4 Vgl. Fantuzzi/Tsagalis (2015, 14; 18) und Nagy (2015, 62) zu den Belegen über die Aufführung der homerischen Ilias und Odyssee sowie der Homer zugeschriebenen Werke des Epischen Kyklos beim Panathenäen-Fest. 5 Vgl. DNP, »Theseis«; Roscher, »Theseis« IV. – Der Beginn von Theseus’ mythischer Königsherrschaft ist gemäß dem Marmor Parium auf das Jahr 1259/1258 v. Chr. zu datieren.

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attischen Tragödien erscheint Theseus als Athener par excellence. In den erhaltenen Dramen ist er jedoch nie die Hauptfigur (der euripideische Theseus ist nicht überliefert). Ebenfalls nahezu vollständig verloren sind auch die sogenannten ›Atthides‹.6 Dabei handelt es sich um athenische Lokalgeschichten, die im Zeitraum von etwa 400 bis zur Mitte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts entstanden. Sie behandelten mythische Stoffe, insbesondere aitiologische Erzählungen über die Stadt.7 Aufgrund der spärlichen Überlieferungslage über das Ur-Athen lassen sich über die literarische Darstellung der urbanen Topographie kaum Aussagen treffen, die über das hinausgehen, was aus späteren Werken sowie aus den archäologischen Realien über Orte wie die Akropolis und den Areopag bekannt ist. In Ovids Metamorphosen lässt sich Athen insofern als zweite ›Hauptstadt‹ des Werkes bezeichnen, als die Darstellung ihres Gründungsmythos im Rahmen der Arachne-Erzählung (Ov. met. 6,1–145) das zweite Drittel des Epos eröffnet. Zahlreiche Forscher sehen insbesondere in der auf diese Geschichte folgenden Erzählung von Tereus, Procne und Philomela (6,412–674) den Übergang zu einem neuen Hauptabschnitt innerhalb des Gesamtwerks.8 Allerdings decken sich die mit Athen verbundenen Sagen nur bedingt mit der zweiten Buchpentade: Mit der Liebesgeschichte von Mercur und Herse (2,708–832) befindet sich bereits in Buch 2 ein attischer Mythos, der vor der eigentlichen Stadtgründung spielt,9 also auch vor dem thebanischen Sagenkreis der Metamorphosen; nach dem athenischen Schwerpunkt des sechsten Buches mit der Gründungserzählung der Stadt (6,70–82) sowie der nur teilweise in Athen lokalisierten TereusEpisode verlagert sich das Geschehen immer wieder von der Stadt weg und kehrt meist nur in eher kurzen Textpassagen dorthin zurück. Die Struktur des zweiten Werkdrittels lässt sich somit weniger an einem einheitlichen geographischen Schwerpunkt als vielmehr an den Hauptfiguren wie Jason und Medea (7,1–452) oder Theseus (insbesondere 8,547–9,97) festmachen, deren Taten je 6 Vgl. Harding (2008, 180) zur Überlieferung der Atthides in den Fragmenten der griechischen Historiker. Der Begriff ›Atthis‹ ist indes nicht antik. Gildenhard/Zissos (2004, 49–51) sehen auch Ovid in der Tradition der Atthides, Geitner (2019, 138) ist der gegenteiligen Auffassung. 7 Vgl. Harding (2008, 180–183). Für einen Überblick zu den einzelnen Atthides vgl. Lendle (1992, 146–148). 8 Rosati (2009, zu 6,412–423) sieht hier den Übergang zwischen thebanischen und attischen Sagen. Während Feeney (1999, 18) die Einführung Athens ab Vers 6,421 als trennendes Merkmal zwischen der Epoche der Götter und derjenigen der Heroen bezeichnet, betont Schmidt (1991, 124 f.) den Beginn der menschlichen Geschichte an dieser Stelle des Werkes; vgl. Gildenhard/Zissos (2007, 3: »world of human geopolitics«). Otis (1966) lässt den dritten seiner vier postulierten Großteile schon bei 6,401 beginnen (also mit der Pelops-Erzählung); vgl. Kap. 1.2.1. 9 Vgl. Berman (2017, 32–34; 50 f.) zur allgemeinen Bedeutung von ›prefoundation myths‹.

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weils in mehreren Episoden erzählt werden und somit einen nennenswerten Teil der Buchpentade ausfüllen.10 Die als athenisch bzw. attisch bezeichneten Sagen haben also nur teilweise Athen zum Schauplatz; stattdessen fungiert die Stadt in vielen Fällen lediglich als Hintergrundraum für eine hauptsächlich andernorts lokalisierte Erzählung. Dies trifft beispielsweise auf die Mythen um Triptolemus und Lyncus (5,642– 661), Tereus und Philomela (6,412–674) sowie Scylla und Minos (8,6–154) zu, die ganz oder zumindest hauptsächlich in Skythien, Thrakien bzw. Megara spielen. Die somit auch im Vergleich zu Theben nochmals deutlich stärker wahrnehmbare Verlagerung des Handlungsortes aus der Stadt heraus (vgl. Kap. 3.6) stellt allerdings kein ovidisches Spezifikum dar, sondern scheint im Wesentlichen dem bis zur Entstehungszeit des Werkes überlieferten Inhalt der behandelten Sagen geschuldet. Vor allem der athenische Hauptheld Theseus ist gleichsam per definitionem, d. h. schon durch seine außerhalb Athens lokalisierte Jugend,11 eine aus attischer Sicht teilweise ›externe‹ Figur. Den in der Antike über Athen bekannten Sagenstoff gibt Ovid in den Metamorphosen nahezu vollständig wieder.12 Allerdings behandelt er nicht sämtliches Material innerhalb des attischen Sagenzyklus im zweiten Werkdrittel, sondern schildert bzw. erwähnt diejenigen Begebenheiten, die mit dem trojanischen Mythenkreis zusammenhängen, an der entsprechenden Stelle in der letzten Buchpentade. Dies betrifft z. B. den Kampf der Kentauren und Lapithen (12,210–458). Die letzte Erwähnung Athens findet sich im pythagoreischen Städtekatalog, wo die Stadt gemeinsam mit Theben und weiteren griechischen Städten genannt wird (15,418–452; vgl. Kap. 6.5). Diese und weitere Städte kommen wiederum auch im mittleren Drittel des Werkes wiederholt vor.13 Im Folgenden werden die Episoden über Mercur und Triptolemus in der ersten sowie diejenigen über Minerva, Tereus und Philomela, Medea und Scylla 10 Vgl. Cole (2008, 29 f.) zum Übergang zwischen den Sagen um Theben und Argos mittels der Pen­theus-Figur; Pausch (2016, 279); Sharrock (2019, 293) zur Verkürzung des epischen Argonauten-Stoffes: »[…] not so much an Argonautica as a ›Medeid‹.« 11 Der Sage nach wuchs Theseus, der Sohn der Aethra und des Aegeus (bzw. des Neptun, der als sein göttlicher Vater galt), bei König Pittheus von Troezen auf und kehrte als junger Mann von dort in die Stadt seines Vaters zurück, nachdem er sich auf dem Weg in zahlreichen Abenteuern bewähren musste. Eine vollständige Liste dieser Taten findet sich bei Diod. 4,59,2–5 und Ps.-Apollod. bibl. 3,217 f.; vgl. Roscher, »Theseus« I. 12 Neben den nachfolgend behandelten Episoden finden wir auch die Sagen um Cephalus (7,453–865), einschließlich der in der Umgebung Thebens lokalisierten Geschichte vom teumessischen Fuchs (7,757–793). – Über das Verhältnis von Ovids Medea-Erzählung in den Metamorphosen (7,1–452) zu dem Inhalt seines verlorenen Dramas lassen sich keine Aussagen treffen. 13 Dies gilt insbesondere für Theben: Hierher kehrt die Handlung nicht allein mit dem Schauplatz der Niobe-Geschichte (6,146–312) zurück, sondern auch indirekt durch die Erzählungen über Hercules (9,4–272).

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in der zweiten Pentade analysiert, um die jeweilige Darstellung und Funktion Athens zu ermitteln. Anschließend wird zusammenfassend erläutert, wie Ovid Athen als Schauplatz bzw. Hintergrundraum verwendet und inwiefern sich die Stadt als Etappe auf dem Weg seines Werkes nach Rom betrachten lässt.

4.1  Mercur verliebt sich in Athen (2,708–832) Nach der langen Phaethon-Sage zu Beginn des zweiten Buches (2,1–400) und der anschließenden Callisto-Episode (2,401–532) folgt eine Reihe kürzerer Geschichten, die traditionell eine Verbindung zu Athen aufweisen, welche bei Ovid allerdings kaum spürbar ist.14 Die hier betrachtete Episode bildet den Abschluss dieser Erzählungen; sie geht dem Beginn des thebanischen Sagenkreises unmittelbar voran. Die Mercur-Erzählung lässt sich in vier Abschnitte gliedern: Zunächst wird geschildert, wie der Gott nach Athen gelangt und sich dort in die Prinzessin Herse verliebt (2,708–736). Um diese für sich zu gewinnen, bittet er ihre der Minerva verhasste Schwester Aglauros um Hilfe (2,737–759). Die attische Stadtgöttin begibt sich zum Haus der Missgunst, das in einer Ekphrasis geschildert wird, um Aglauros zu ›vergiften‹ (2,760–786). Invidia führt ihre Mission aus, verhindert somit die Liebe zwischen Mercur und Herse und sorgt schließlich für die Verwandlung der Aglauros (2,787–832). Die folgende Analyse zeichnet nach, wie Mercur Athen weniger hinsichtlich der kulturellen Blüte der Stadt wahrnimmt, sondern vielmehr als einen Ort, an dem er ein junges Mädchen zum Verlieben findet.

4.1.1 Analyse Mercur blickt auf Athen (2,708–736) Die ersten Verse dieses Abschnitts leiten von der Episode um Battus (2,676–707) und deren Handlungsort, dem Gebiet um die Stadt Pylos im Süden von Elis (2,684), zu einem neuen Schauplatz über (2,708 Hinc se sustulerat [sc. Mercurius]). Bei diesem neuen Schauplatz handelt es sich um Athen, das hier zum ersten Mal in den Metamorphosen beschrieben wird. Mercur erblickt die Stadt bei seiner Ankunft aus der Vogelperspektive (2,709–713):15

14 Es handelt sich um die Sagen von Apollo und Coronis (2,533–632) mitsamt der Binnenerzählung von der Krähe und Nyctimene (2,549–595), Ocyroe (2,633–675) und Battus (2,676–707). Vgl. Gildenhard/Zissos (2004, 49–59) zur Ausschaltung des traditionellen athenischen Handlungsortes bei diesen Episoden. 15 Von Glinski (2012, 47 f.) arbeitet die Ähnlichkeiten dieser Szene zur Ankunft Mercurs in Vergils Karthago heraus (vgl. Verg. Aen. 4,251–258).

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Munychiosque volans agros gratamque Minervae despectabat humum cultique arbusta Lycei.  illa forte die castae de more puellae vertice supposito festas in Pallados arces pura coronatis portabant sacra canistris.

Er flog über die Felder von Munichia und blickte auf das von Minerva geliebte Land und die Bäume des gepflegten Lyzeums. Gerade an jenem Tag trugen gesittete Mädchen der Tradition gemäß auf ihrem Scheitel unbefleckte heilige Gegenstände in umkränzten Blumenkörben in die festliche Burg der Pallas.

Der geflügelte Gott erkennt einige charakteristische Orte der Stadt und ihrer Umgebung: die Halbinsel Munichia auf dem Piräus (Munychios … agros),16 den Tempelbezirk der Stadtgöttin Minerva (gratam … Minervae / … humum),17 das von einem Garten umgebene Lyzeum außerhalb Athens sowie die Akropolis und das dort stattfindende Fest der Panathenäen (festas18 … Pallados arces). Die interne Fokalisierung durch Mercur offenbart einen Widerspruch zum extradiegetischen Leserwissen: Bei keinem der genannten Plätze handelt es sich um Orte, die schon während der mythischen Zeit vor der eigentlichen Gründung Athens in der geschilderten Form existiert haben könnten, doch die Tatsache, dass der Gott diese Lokalitäten sieht (despectabat), scheint genau dies zu bekräftigen.19 Beispielsweise ist das mit dem Adjektiv cultus gepriesene Lyzeum vornehmlich mit der erst Jahrhunderte später ins Leben gerufenen peripatetischen Philosophenschule in Zusammenhang zu bringen.20 Die Verlagerung von Elementen, die eigentlich in das klassische Athen gehören, in die mythische Frühzeit der Stadt erscheint als Anachronismus. Während die ältere Forschung hierbei von Fehlern oder zumindest einem Desinteresse Ovids an entsprechenden Details ausging,21 bietet Geitner (2021, 169–178; vgl. 2019, bes. 124–129) einen angemesseneren Erklärungsansatz, indem er von ›Aktualisierungen‹ bzw. ›Zeitmontagen‹22 spricht, mit denen der Dichter bewusst verschiedene Zeitebe 16 Zur Topographie vgl. DNP, »Peiraieus«; Bömer (1969, z. St.). 17 Bömer (1969, z. St.) setzt richtigerweise humus mit regio gleich. Ovid redet nicht explizit vom Parthenon-Tempel. 18 Wie Bömer (1969, z. St.) bemerkt, wird das Adjektiv festus hier zum ersten Mal bezüglich des Ortes einer Festlichkeit verwendet; vgl. 3,111 festis … theatris (Theater-Vergleich in der thebanischen ktisis-Erzählung). 19 Vgl. Geitner (2021, 187). 20 Vgl. z. B. Cic. de orat. 1,98; Bömer (1969, zu Ov. met. 2,710) zum Heiligtum des Apollo Lykeios. Barchiesi (2005, z. St.) weist auf den Kontrast zu dem in der Lycaon-Geschichte beschriebenen, annähernd homonymen wilden Lycaeus-Gebirge in Arkadien hin (1,217 gelidi pineta Lycaei). 21 Vgl. Bömer (1969, zu 2,713): »Über solche chronologischen Fragen hat der Dichter sich den Kopf nicht zerbrochen«; Barchiesi (2005, zu 2,708 f.). 22 Gemäß der Definition von Geitner (2021, 85) wird bei einer Aktualisierung ein fiktives zu einem ›pseudo-realen‹ Objekt. Von dem Begriff ›Zeitmontage‹ distanziert Geitner (ebd., 187 Fn. 81) sich wieder.

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nen miteinander überlagert. Die offensichtliche Präsenz der Panathenäen aber (das Fest wird allerdings nicht namentlich benannt), die gemäß der mythischen Überlieferung erst durch König Erichthonius gegründet werden, der in dieser Geschichte jedoch als Kind beschrieben wird (vgl. 2,748–751), stellt einen offensichtlichen Widerspruch innerhalb der erzählten Welt dar. Dieser lässt sich als ›poetischer Synchronismus‹ bezeichnen, da der Dichter das gleichzeitige Vorhandensein zweier außertextlich unvereinbarer Objekte offenbar zugunsten einer höheren inneren Stimmigkeit seiner Erzählung in Kauf nimmt.23 Das nachfolgende Geschehen konzentriert sich gleichermaßen auf die Stadt und die beteiligten Figuren, was die psychologische Funktion des Raumes zeigt. Bei der Betrachtung des Festzugs fällt Mercurs Blick auf Herse, eine der Töchter des athenischen Urkönigs Cecrops.24 Der Gott unterbricht seinen Vorbeiflug und kreist stattdessen mehrfach um dieselbe Stelle, was wiederholt ausgedrückt wird (2,715 non agit in rectum, sed in orbem curvat eundem; 2,721 inclinat cursus et easdem circinat auras).25 Das Verhalten Mercurs wird mit dem eines Raubvogels verglichen und dann durch einen erneuten Verweis auf die Akropolis (2,720 Actaeas … arces) auf den Handlungsort der Geschichte bezogen. Zusätzlich zu dem Raubvogel-Gleichnis fügt Ovid ein ›geographisches‹ Gleichnis ein: Er setzt das Entflammen des Gottes für Herse mit dem Flugverhalten einer balearischen Bleikugel gleich (2,727–729).26 Nachdem das Geschehen somit in die Zwischenzone zwischen Himmel als Sphäre des Gottes und Erde als Lebensort des Objekts seiner Liebe versetzt worden ist, vollzieht sich der endgültige Übergang zwischen diesen beiden Bereichen auch auf der Handlungsebene (2,730 caeloque petit terrena relicto). Bevor Mercur jedoch versucht, Herses Liebe zu gewinnen, kontrolliert er sein Aussehen wie ein junger Liebender, der sich – mehr oder weniger – an die Empfehlungen in Ovids Ars amatoria zu halten versucht (Ov. met. 2,731–736; vgl. Ov. ars 1,505–524; 1,723–738).27 23 Vgl. Geitner (2021, 186–194). Das mit diesem Begriff umschriebene Phänomen definiert Geitner (ebd., 94–97) als das Zusammenbringen zweier realweltlich unvereinbarer Objekte (im weitesten Sinne) in der Diegese. 24 Nach dem Zeugnis der erhaltenen Fragmente begann die Herrschaft des Cecrops im Jahr 1607 v. Chr.; vgl. DNP, »Kekrops«. 25 Geitner (2021, 155) schlägt für das ungewöhnliche Verb circinare die Übersetzung ›bezirkeln‹ vor und begründet zugleich, dass an der Textstelle insofern kein Anachronismus vorliegt, als nicht explizit auf den erst später von Daedalus erfundenen Zirkel verwiesen wird. 26 Zu diesem Gleichnis vgl. Barchiesi (2005, z. St.); von Glinski (2012, 50). Die Einwohner der Balearen galten als hervorragende Schleuderkämpfer. Vgl. auch Verg. georg. 1,309; Diod. 5,17,1 zur griechischen Etymologie der Balearen; Bömer (1969, zu Ov. met. 2,727–729) zur korrekten Schreibweise gemäß der inschriftlichen Überlieferung. 27 Wie Barchiesi (2005, zu Ov. met. 2,708 f.) bemerkt, ist das Motiv eines Jünglings, der sich bei einem religiösen Fest verliebt, typisch für die attische Komödie, sodass der Schauplatz Athen allein deshalb sehr passend für diese Geschichte sei. Die Schönheitspflege des Gottes hat eine Parallele in der Erzählung vom verliebten Kyklopen (13,730–897).

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Mercur begibt sich zu Aglauros (2,737–759) Der zweite Hauptabschnitt der Geschichte schildert Mercurs Besuch bei Herses Schwester Aglauros, die er für seine Zwecke einspannen will. An dieser Stelle verengt sich der Blick von Athen insgesamt auf einen spezifischen Schauplatz, den Königspalast des Cecrops bzw. denjenigen Teil des Palastes, in dem seine drei Töchter leben (2,737–739): pars secreta domus ebore et testudine cultos Ein abgeschiedener Teil des Hauses tres habuit thalamos, quorum tu, Pandrose, dextrum, hatte drei mit Elfenbein und Schildpatt Aglauros laevum, medium possederat Herse. verzierte Gemächer, von denen du, Pandrosos, das rechte, Aglauros das linke, Herse das mittlere bewohnte.

Der Text evoziert eine geheimnisvolle Atmosphäre, indem von einem abgelegenen Teil des Hauses die Rede ist (pars secreta domus).28 Zugleich wird der Königspalast als ›gepflegt‹ beschrieben und damit auf dieselbe Ebene wie das Athen repräsentierende Lyzeum zu Beginn der Geschichte gestellt (cultos … / thalamos29 ~ 2,710 culti … Lycei). In der Verortung von Aglauros in der zur Linken liegenden Wohnung lässt sich ein Vorverweis auf das folgende Unheil erkennen, da die linke Seite in der griechischen Weissagungslehre traditionell als Richtung des Unglücks galt.30 Diese Deutung, wonach Ovid hier mit der symbolischen Funktion des Raumes arbeiten würde, findet auch dadurch Bestätigung, dass das Wort laevum durch die Epanalepse in Vers 2,740 besonders betont wird. Aglauros fragt den Gott der epischen Tradition gemäß nach seinem Namen und dem Grund seines Besuches (2,742 causam adventus). Mercur antwortet mit einer recht ausführlichen Selbstvorstellung, in der er seine göttliche Genealogie sowie sein Anliegen präsentiert, das sich in einem einzigen Wort zusammenfassen lässt: »Herse« (2,747 Herse causa viae). Als Lohn für ihre potentiellen Dienste bedingt Aglauros sich Gold aus und nötigt den Gott zunächst, ihr Haus zu verlassen (2,751 tectis excedere cogit). Ovid greift dabei mittels einer internen Analepse (2,748 f.) auf die Episode von der Krähe und Nyctimene zurück, in der erzählt wird, wie Aglauros und ihre Schwester Herse entgegen Minervas Verbot den ihnen anvertrauten Korb mit dem neugeborenen späteren König Erichthonius öffneten (2,549–595; bes. 2,755–757).31 Ovid weicht dabei von der bis dahin 28 Barchiesi (2005, z. St.) sieht eine Anspielung auf das gynaeceum, den Bereich der Frauen innerhalb eines griechischen Hauses. 29 Vgl. Bömer (1969, z. St.) zu den Konnotationen von thalamus. 30 Vgl. Barchiesi (2005, zu 2,737–739). 31 Vgl. Gildenhard/Zissos (2004, 57–59). Erichthonius wird hier mit einem Toponym als Sohn des auf Lemnos beheimateten Gottes Vulcan beschrieben (2,757 Lemnicolae stirpem). Der Verweis auf das ›jüngst‹ erfolgte Geschehen (2,748 nuper) trifft im engeren Sinne nur auf den Verlauf der ovidischen Erzählung zu, nicht jedoch auf die Chronologie der mythischen

Mercur verliebt sich in Athen

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meistverbreiteten Sagenversion ab,32 indem er Herse und Aglauros weder von den Schlangen in der Kiste töten noch im Wahnsinn von der Akropolis stürzen lässt. Dadurch, dass er die Cecrops-Töchter literarisch weiterleben lässt, ermöglicht er ihr Vorkommen in der hier betrachteten Mercur-Episode.

Minerva begibt sich zum Haus der Missgunst (2,760–786) Um sich an Aglauros zu rächen, weil diese ihr die Unterstützung verweigert hat, begibt Minerva sich anschließend zur Domus Invidiae. Fünf Verse beschreiben den Weg der athenischen Stadtgöttin zur personifizierten Missgunst sowie deren Haus selbst (2,760–764): protinus Invidiae nigro squalentia tabo  tecta petit. domus est imis in vallibus huius abdita, sole carens, non ulli pervia vento, tristis et ignavi plenissima frigoris et quae igne vacet semper, caligine semper abundet.

Sogleich begibt sie sich zum Haus der Miss­ g unst, das von schwarzem Geifer starrt. Ihr Haus befindet sich abgelegen in tiefsten Tälern, ohne Sonnenlicht, keinem Windhauch zugänglich, trübselig, voll träge machender Kälte und stets ohne Feuer, an Nebel stets überreich.

Nach der kurzen Einleitungsphrase, mit der die Beschreibungen von Weg und Haus miteinander verknüpft werden (2,760 f.), beginnt die eigentliche Ekphrasis der Domus Invidiae mit den Worten domus est, die typische Formel locus est variierend. Während Invidia bei Vergil in der Unterwelt beheimatet ist, wird ihr Haus bei Ovid nicht explizit dort lokalisiert; der Weg zur Göttin und die geographische Lage ihres Hauses verbleiben im Ungefähren.33 Die hervorgerufene Atmosphäre erinnert aber dennoch an Unterweltsdarstellungen,34 da die Umgebung der Invidia geprägt ist von Dunkelheit, Trübsal und Kälte. Die Ankunft Minervas an diesem Ort wird wie folgt geschildert (2,765–768):

Ereignisse, sofern man annimmt, dass Erichthonius als Stifter der Panathenäen zu diesem Zeitpunkt längst König sein muss; vgl. Barchiesi (2005, z. St.). Feeney (1999, 24 f.) und Rosati (2002, 278–280) erläutern richtig, dass sich Zeitangaben wie nuper regelmäßig auf die werkinterne Chronologie der Metamorphosen beziehen. 32 Vgl. z. B. Eur. Ion 268–274. 33 Vgl. Reitz (2000, 37 f.). Bömer (1969, zu 2,760–832) bestreitet, dass es sich beim Wohnsitz der Invidia um ein allegorisches Haus handelt. Vgl. Fondermann (2008, 37 f.) zur schrittweisen Verengung des Blickwinkels (2,761 vallibus – 2,766 domum – 2,767 postes). 34 Vgl. Verg. georg. 3,37–39; Bömer (1969, zu Ov. met. 2,762 f.); Geitner (2019, 132–134) zur Präsenz der römischen Gedankenwelt durch die Gleichnisse in dieser Passage.

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huc ubi pervenit belli metuenda virago,  constitit ante domum (neque enim succedere tectis fas habet) et postes extrema cuspide pulsat. concussae patuere fores.

Sobald die im Kriege zu fürchtende Jungfrau hierhergekommen war, blieb sie vor dem Haus stehen (denn das Recht, die Behausung zu betreten, steht ihr nicht zu) und klopfte mit der Spitze ihrer Lanze ans Tor. Die angestoßenen Türflügel öffneten sich.

Anders als im Fall Junos, die sich in der Ino-Episode – entgegen den Konventionen des Epos – zu Tisiphone in die Unterwelt begibt,35 darf Minerva hier nicht das Heim der Missgunst betreten. Der Text geht im Weiteren detailliert auf das Aussehen, das Wesen und die Funktion der Invidia ein (2,769–782),36 wobei ihre Beschreibung mit der sie umgebenden Landschaft übereinstimmt, d. h., Ovid verwendet hier intensiv die charakterisierende Funktion des Raumes.37 Der Abschnitt schließt mit Minervas Auftrag an Invidia (2,782–786): Sie befiehlt ihr kurz und bündig, Aglauros mit ihrer ›Gabe‹ zu vergiften. Indem sie diese als Cecrops-Tochter bezeichnet, deutet sich bereits die Rückkehr zum athenischen Schauplatz an.

Invidia kommt nach Athen (2,787–832) Die Göttin der Missgunst nimmt den Auftrag Minervas an und begibt sich in Richtung Athen (2,791–794):38 quacumque ingreditur florentia proterit arva exuritque herbas et summa cacumina carpit adflatuque suo populos urbesque domosque polluit.

Wohin sie auch geht, tritt sie blühende Felder nieder, versengt die Gräser und rupft die Spitzen heraus, und mit ihrem Anhauch vergiftet sie Völker, Städte und Häuser.

Zunächst wird das Wirken Invidias aus einer globalen Perspektive geschildert: Obwohl dies gar nicht Teil ihrer Mission ist, vergiftet sie ganze Völker, Städte und Häuser.39 In einem zweiten Schritt verengt sich der Blick dann auf Athen, das von Minerva vorgegebene Ziel von Invidias Reise (2,794–796): 35 Vgl. 4,447 f.; Kap. 3.4. 36 Vgl. Feeney (1991, 243–247) und Barchiesi (2005, zu 2,768–770) zum Fokus auf dem Sehen (vgl. 2,770 visa; 2,773 vidit; 2,778 visi; 2,780 videt … videndo) entsprechend antiken Zeugnissen zu Invidia wie demjenigen Isidors (Isid. diff. 1,610). 37 Vgl. Hölsken (1959, 190–192); Reitz (2000, 37 f.); Barchiesi (2005, zu 2,771). 38 Die Junktur urbesque domosque ist ein Selbstzitat aus Ovids Sintflut-Erzählung, wo die Meeresnymphen versunkene Städte und Häuser unter Wasser bewundern (1,301 f.; vgl. Kap. 2.2). Die Verwendung dieser Worte verdeutlicht somit die über Theben hinausreichende Wirkung von Invidias Handeln. 39 Wie Gildenhard/Zissos (2004, 66) hervorheben, steht die Zerstörung der Agrikultur durch Invidia im Gegensatz zu dem bei den Panathenäen gefeierten Wohlergehen Athens.

Mercur verliebt sich in Athen et tandem Tritonida conspicit arcem ingeniis opibusque et festa pace virentem,  vixque tenet lacrimas, quia nil lacrimabile cernit.

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Und schließlich erblickt sie die Burg der Tritonis, die durch ihre Erfindungen, ihren Reichtum und ihren festlichen Frieden in Blüte steht, und kaum vermag sie ihr Weinen zurückzuhalten, da sie nichts Beweinenswertes sieht.

Diese neuerliche Beschreibung Athens rekurriert auf den Beginn der Episode, denn sie evoziert als wichtigstes topographisches Merkmal die Akropolis zum Zeitpunkt der Panathenäen (2,794 f. Tritonida … arcem / … festa pace virentem ~ 2,712 festas … Pallados arces).40 Erneut wird also die festliche Atmosphäre eines politisch-religiösen Rituals evoziert. Diese Festlichkeit kommt besonders in dem bemerkenswerten Vers 2,796 zum Ausdruck: Mit einem Paradoxon (verstärkt durch das Polyptoton lacrimas – lacrimabile) beschreibt Ovid, dass die Göttin der Missgunst beinahe weinen muss, da sie ›nichts Beweinenswertes‹ in Athen sieht.41 Zuletzt verengt sich der Blick nochmals: Die Panoramaperspektive wird abgelöst durch einen Blick auf den Königspalast. Invidia begibt sich in das Gemach der Aglauros (2,797 thalamos intravit Cecrope natae) und führt ihren Auftrag aus. Die Tochter des Cecrops42 verzehrt sich daraufhin vor Eifersucht auf Herse, die von einem Gott begehrt wird, und versucht, das Zustandekommen dieser Liebe zu verhindern. Aglauros’ Verhalten entspricht dem eines ianitor im Sinne der Konventionen der römischen Liebeselegie, da sie versucht, den Liebhaber ihrer Schwester durch die Blockade der Türschwelle von einem Besuch bei ihr abzuhalten (2,814 f. in adverso venientem limine sedit / exclusura deum).43 Schließlich antizipiert Aglauros in einer aus Lesersicht ironischen Wendung ihre Verwandlung: Sie sagt zu ihrem göttlichen Gegenüber, sie wolle erst von der Stelle weichen, sobald Mercur wieder gegangen sei (2,817 hinc ego me non sum nisi te motura repulso). Dieser jedoch demonstriert ihr, dass ein Gott auf Erden sich nicht in die Situation eines Paraklausithyrons bringen lässt: Durch die göttliche Macht seines Heroldsstabs lässt er die Tür aufspringen (2,819 caelestique fores virga patefecit) und versteinert Aglauros aus Rache. Der Beginn der nachfolgenden Episode von Jupiter und Europa (2,833–875) schließt die hier betrachtete Erzählung von Mercur und Aglauros ringkompositorisch ab: So wie die Ankunft des Gottes in Athen die Erzählung eröffnet hatte, endet diese nun mit seiner Abreise (2,709 f. ~ 2,834 f. dictas a Pallade terras / linquit).44 40 Vgl. Gildenhard/Zissos (2004, 64–67). 41 Galinsky (1975, 196 f.) identifiziert diese Stelle als Beispiel für ein dem antiken Humor entsprechendes Paradoxon, Barchiesi (2005, zu 2,795 f.) als ironische Anspielung auf das übertriebene Athen-Lob in der klassischen griechischen Dichtung. Vgl. Geitner (2019, 132–135) zur Fokalisierung Athens durch die Göttin. 42 Vgl. Bömer (1969, zu 2,806) zum Patronym Cecropis. 43 Vgl. Barchiesi (2005, z. St.) zu den hier verwendeten elegischen Stereotypen. 44 Die Benennung des hier in Buch 2 noch nicht wörtlich genannten Athen nach der Göttin stellt eine Prolepse zum Wettstreit über das Namenspatronat in Buch 6 dar (6,1–145; vgl. Kap. 4.3).

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Gleichzeitig markiert sein Weg nach Sidon (über den Himmel als Zwischenstation) den Übergang der Metamorphosen zum thebanischen Sagenkreis ab Buch 3.

4.1.2 Fazit Neben der Domus Invidiae, deren Beschreibung sich etwa in der Mitte der Episode befindet (2,760–764), ist die Stadt Athen ihr Hauptschauplatz, die hier überhaupt zum ersten Mal innerhalb der Metamorphosen zum Handlungsort wird, ohne allerdings bereits namentlich benannt zu werden.45 Die visuelle Beschreibung Athens im Sinne des Anschauungsraums (erblickt wird dieser von den göttlichen Figuren Mercur und Invidia) erfolgt anhand einiger topographischer Merkmale, die nicht alle der Zeit des erzählten Mythos, sondern teilweise erst späteren Epochen zuzuordnen sind: Während man auch der mythischen Zeit eines Erichthonius bzw. Erechtheus einen Königspalast zugestehen mag, gehört das Lyzeum (2,710 cultique arbusta Lycei) eindeutig in das historische Athen der klassischen Zeit, wo es vor allem mit dem Peripatos des Aristoteles in Verbindung zu bringen ist.46 Der Aktionsraum in dieser Episode ist zum einen geprägt durch die teils stattfindende, teils nicht mögliche Überwindung von Grenzen. Während der geflügelte Gott Mercur sich frei zwischen Himmel, Erde und Haus seiner Geliebten Herse zu bewegen vermag (2,730 caeloque petit terrena relicto; 2,819 fores … patefecit), will deren Schwester Aglauros vergeblich den Zutritt des Gottes zum Palast verhindern – erfolglos versucht sie die Rolle eines Türhüters gemäß der römischen Liebeselegie einzunehmen. Doch auch Göttern sind – zumindest räumliche – Grenzen gesetzt: Die Stadtgöttin Minerva vermag zwar zur Domus Invidiae zu gelangen und dort ihren Wunsch zu übermitteln, darf das Haus der Missgunst jedoch nicht selbst betreten. Im Vergleich zu den göttlichen Liebesgeschichten der ersten Bücher der Metamorphosen ist diese Episode insofern atypisch, als Herse keine in der Natur beheimatete Figur wie beispielsweise Daphne ist, sondern in einer urbanen und somit vermeintlich geschützten Umgebung lebt.47 Athen als die Stadt, in der sie lebt, wird in dieser Episode mittels topographischer Merkmale bzw. Aktivitäten der Bürger im Hinblick auf seine in historischer Zeit erworbene kulturelle 45 Die erste namentliche Nennung Athens erfolgt in der Triptolemus-Episode durch den Mund der Hauptfigur (5,652; vgl. Kap. 4.2). 46 Die Aussage von Solodow (1988, 86–89), Ovid stelle Athen aus einer streng zeitgenössischen Perspektive dar, erscheint verfehlt; überzeugender erscheint die Ansicht von Geitner (2019, 129–132), der aufgrund der Existenz von griechischen wie römischen Elementen aus verschiedenen Epochen die gleichzeitige Präsenz mehrerer Zeitebenen im Text postuliert; vgl. Feeney (1999, 24); von Albrecht (2003, 162 f.). 47 Vgl. Aresi (2021, 57).

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Vormachtstellung charakterisiert.48 Paradoxerweise fungiert die dargestellte religiöse Hochkultur jedoch nur als Rahmen für Ereignisse auf einer profaneren Ebene: Im Sinne des gestimmten Raumes ist für den göttlichen Protagonisten Mercur weniger die Bedeutung der Panathenäen interessant als vielmehr das daran teilnehmende Individuum Herse als das Objekt seiner Liebe (2,747 Herse causa viae). Athen wird zur bloßen Umgebung für ein göttliches Liebesabenteuer degradiert – Mercur verliebt sich nicht in die Stadt, sondern in der Stadt Athen.49 Damit erhält das Athen der Metamorphosen im Ansatz eine ähnliche Bedeutung wie das Rom der ovidischen Ars amatoria: Die Stadt wird ein Ort zum Verlieben, wenngleich nicht für Menschen, sondern für einen Gott.

4.2  Triptolemus preist Athen (5,642–661) Die kurze Triptolemus-Episode ist Teil der Binnenerzählungen im Rahmen des Agons zwischen den Musen und den Pieriden im fünften Buch der Metamorphosen (5,294–678). Nach den Berichten über Götterverwandlungen (5,318–331) sowie über Ceres und Proserpina (5,332–571) berichtet die Muse Calliope zuletzt davon, wie Ceres sich nach der Wiedergewinnung ihrer Tochter nach Athen begibt, um dort den Auftrag zur Getreidestiftung an Triptolemus zu übermitteln. Ceres (Demeter) galt bereits seit archaischer Zeit als Göttin des Ackerbaus und wurde besonders im getreidereichen Sizilien verehrt.50 Im homerischen DemeterHymnus wird die Geschichte vom Raub ihrer Tochter Proserpina (Persephone) durch den Unterweltsgott erzählt, weshalb Ceres für das Ausbleiben des Getreidewachstums sorgt. Nach der teilweisen Rückgewinnung ihrer Tochter stiftet Ceres dieser Sagenversion zufolge die Eleusinischen Mysterien. Triptolemus verbreitet die Kunst des Getreideanbaus in der ganzen Welt, woraus Athen in historischer Zeit den Anspruch ableitete, Heimat dieser Kulturtechnik zu sein.51 Im Folgenden wird unter anderem beleuchtet, in welchem Maße Ovid in dieser Episode attische ›Kulturpropaganda‹ abbildet.

48 Vgl. Galinsky (1975, 164 f.). 49 Vergleichbar erscheint die sorgfältige Wiederherstellung der beim Phaethontischen Weltenbrand zerstörten Erde in der Episode von Jupiter und Callisto (2,401–532), die weniger der Sorge um das idyllische Arkadien als vielmehr der Vorbereitung eines neuerlichen Liebesabenteuers des obersten Gottes zu dienen scheint (vgl. Kap. 2.3). 50 Frühe Belege für Ceres’ Funktion finden sich schon bei Homer (vgl. Hom. Il. 5,499– 502) und Hesiod (vgl. Hes. op. 465 f.). 51 Vgl. DNP, »Demeter«; Roscher, »Triptolemos«.

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4.2.1 Analyse Nachdem sie das Ende der Binnenerzählung Arethusas konstatiert hat, beschreibt die Muse Ceres’ Weg nach Athen (5,644 f. medium caeli terraeque per aera vecta est / atque levem currum Tritonida misit in urbem). Wie es der Natur einer Göttin entspricht, gelangt sie auf dem Luftweg dorthin.52 Ceres bezeichnet Athen dabei mit einem »gesto di omaggio« als ›Stadt der Minerva‹.53 In den folgenden beiden Versen unternimmt Ovid den Versuch, die beiden unterschiedlichen literarischen Versionen über den Zeitpunkt der erstmaligen Getreidespende miteinander zu harmonisieren (in manchen Quellen ist das Getreide schon vor der Entführung der Proserpina bekannt, in anderen Texten erst im Anschluss daran). Ovid spricht von zwei Teilbereichen der Welt, von denen bislang nur einer den Getreideanbau kenne (5,646 f. Triptolemo partimque rudi data semina iussit / spargere humo, partim post tempora longa recultae).54 Dadurch gelingt es dem Dichter, einen Widerspruch zu der bereits in seiner Proserpina-Episode (5,332–571) geschilderten Existenz dieser Kulturtechnik zu vermeiden.55 Die folgenden zwei Verse beschreiben die Route von Triptolemus’ zivilisationsstiftender Reise. Wie zuvor Ceres bei ihrer allumfassenden Suche nach ihrer Tochter durchfliegt der Jüngling dabei die gesamte bekannte Welt,56 bevor er an sein Ziel gelangt (5,648 f. iam super Europen sublimis et Asida terram / vectus erat iuvenis; Scythicas advertitur oras).57 Die Verhältnisse in Skythien werden in einem einzigen Vers geschildert: Triptolemus betritt den Palast von König Lyncus (5,650 regis subit ille penates), bevor er sich vorstellt und seine Mission etwas ausführlicher darstellt. Die von seinem Gastgeber verwendete traditionelle epische Frage nach dem Grund seines Kommens, seinem Namen und seiner Heimat (5,651 f.) steht in scharfem Kontrast zum nachfolgenden Bruch der Gastfreundschaft.58 Ovid lässt Triptolemus diese Fragen in umgekehrter Reihenfolge beantworten und schildert die Vorstellung von dessen Heimat mit einem auffälligen Polyptoton (5,652 et patriam, »patria est clarae mihi« dixit »Athenae«). Triptolemus preist Athen als ›berühmt‹, wobei der Vers auch durch den Binnenreim erhaben wirkt.59 In seiner kurzen Rede hebt der Jüngling durch 52 Dieser Bereich des Kosmos steht im Kontrast zu den Handlungsorten der vorangegangenen Erzählungen, vor allem zur Unterwelt als (Teil-)Schauplatz der Proserpina-Episode. 53 Rosati (2009, zu 5,645); vgl. Barchiesi (2002, 193 Fn. 25). 54 Vgl. 5,341–343 Prima Ceres unco glaebam dimovit aratro, / prima dedit fruges alimentaque mitia terris, / prima dedit leges; Cereris sunt omnia munus. 55 Vgl. 5,474–477 terras tamen increpat omnes / ingratasque vocat nec frugum munere dignas, / Trinacriam ante alias, in qua vestigia damni / repperit. 56 Vgl. 5,438 f. pavidae nequiquam filia matri / omnibus est terris, omni quaesita profundo. 57 Vgl. Bömer (1976, z. St.) für Belege zur Deklination des Wortes Europa/Europe. 58 Vgl. Rosati (2009, z. St.). 59 Wie Bömer (1976, z. St.) bemerkt, steht dieses Epitheton hier erstmals für Athen, vgl. aber schon praeclarus bei Lukrez (Lucr. 6,1 f. Primae frugiparos fetus mortalibus aegris / dididerunt

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Negationen hervor, dass er nicht per Schiff oder gar zu Fuß gekommen, sondern durch die Luft gereist sei (5,653 f. veni nec puppe per undas, / nec pede per terras; patuit mihi pervius aether); er betont damit die göttliche Natur seiner Mission. Die weitreichende Wirkung des Getreideanbaus erschließt sich aus seinem Nutzen für die Felder Skythiens (5,655 f. dona fero Cereris, latos quae sparsa per agros / frugiferas messes alimentaque mitia reddant).60 Die Präsentation von Ceres’ Gabe ruft bei König Lyncus allerdings solch großen Neid auf ihren Überbringer hervor, dass er diesen hinterrücks zu ermorden versucht, nachdem er ihm vorgeblich seine Gastfreundschaft angeboten hat (5,657–659): barbarus invidit, tantique ut muneris auctor ipse sit, hospitio recipit somnoque gravatum adgreditur ferro.

Der Barbar neidete ihm das, und um selbst zum Urheber einer solch bedeutenden Gabe zu werden, nahm er ihn gastfreundlich auf und griff ihn mit dem Schwert an, als er in tiefem Schlaf lag.

Ceres jedoch verhindert den Mord an ihrem Schützling und verwandelt den Barbaren Lyncus – im Einklang mit seinem sprechenden Namen – in einen Luchs (5,660 lynca Ceres fecit). Der Auftrag der athenischen Kulturstiftung für den barbarischen Osten ist gescheitert, und Triptolemus muss wieder nach Athen, also in den Westen, zurückkehren (5,660 f. rursusque per aera iussit / Mopsopium iuvenem sacros agitare iugales).61

4.2.2 Fazit Indem Ovid den Protagonisten der Triptolemus-Episode ganze Kontinente passieren lässt (5,648 super Europen … et Asida terram), zeigt sich beispielhaft, dass die Schauplätze der Metamorphosen die gesamte antike Welt umfassen. Wenngleich der Dichter in dieser Episode zwei wichtige und gänzlich voneinander verschiedene Handlungsorte einführt, nimmt keine Figur diese explizit als Anschauungsraum wahr. Der Hauptschauplatz Skythien wird ebenso wenig visuell beschrieben wie Athen, das bei der zentralen Handlung der Geschichte als

quondam praeclaro nomine Athenae). Vgl. auch die Darstellung Athens im pythagoreischen Städtekatalog (Ov. met. 15,430 quid Pandioniae restant, nisi nomen, Athenae?; Kap. 6.5). 60 Vgl. Rosati (2009, zu 5,642–649) zu Skythien als Kornkammer Griechenlands. 61 Ovid verwendet hier das Epitheton Mopsopius, um Triptolemus mittels eines Verweises auf einen alten attischen König als Athener zu bezeichnen; vgl. Bömer (1976, z. St.). Vgl. Rosati (2009, z. St.) zur Abreise einer Figur vom bisherigen Schauplatz als Signal für ›closure‹ (hier für das Ende von Buch 5 und damit des ersten Werkdrittels).

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Hintergrundraum von einer Figur aufgerufen wird.62 Hinweise auf die urbane Topographie fehlen im Fall Athens ganz, für Skythien wird lediglich der Palast des Königs erwähnt, dies aber nur mittels einer Metonymie (5,650 penates). Der wesentliche Aktionsraum dieser Geschichte ist der Himmel (5,644 per aera; 5,654 pervius aether; 5,660 per aera): Sowohl die Göttin Ceres als auch der Königssohn bewegen sich durch die Luft zu ihren jeweiligen Zielen, d. h. nach Athen, Skythien und schließlich wiederum Athen. Der Raum hat somit eine wichtige thematische Funktion. Die genannten Ziele der jeweiligen Fahrten verdeutlichen ein der Erzählung zugrunde liegendes Zickzackmuster: Die Bewegungen der Figuren verlaufen abwechselnd in westöstlicher und in umgekehrter Richtung. Diese beiden Phänomene (Flugreisen sowie räumliches Hin und Her) weisen auf einige der zentralen Episoden des zweiten Werkdrittels voraus. So unternimmt beispielsweise Medea eine Luftreise gen Westen (wie Ceres fährt sie mit einem Schlangenwagen; vgl. Kap. 4.5) und Jason eine Schiffsreise gen Osten, von der er wieder nach Griechenland zurückkehrt (das umgekehrte Muster finden wir verdoppelt in der Tereus-Sage; vgl. Kap. 4.4).63 Auf den Frevel des Tereus an den Töchtern des athenischen Königs Pandion (6,412–674) weist in der hier betrachteten Episode auch das wichtigste Motiv des gestimmten Raumes voraus: Der als Barbar charakterisierte Skythenkönig Lyncus (5,657 barbarus) verletzt in eklatanter Weise das Recht der Gastfreundschaft (5,658 hospitio).64 Indem er Triptolemus zu töten versucht, vergeht er sich an einem Athener, also ausgerechnet an dem Repräsentanten einer Stadt, die in der Antike gerade für ihre philoxenia bekannt war.65 Durch die Verwendung der symbolischen Funktion des Raumes kontrastiert Ovid hier das barbarische Skythenland mit dem zivilisierten Athen. Die Hauptstadt Attikas selbst wird zum einen als berühmt (5,652 clarae), zum anderen in indirekter Weise als Kulturstifterin für die Welt beschrieben (5,655 dona fero Cereris).66 Die athenische ›Kulturpropaganda‹ wird hiermit auf ein Mindestmaß reduziert.67

62 Rosati (2009, zu 5,642–649) sieht in der Verlegung des Schauplatzes von Attika nach Skythien den Versuch der erzählenden Muse, die Verdienste von Athenas Rivalin Ceres nicht überzubetonen. 63 Vgl. von Albrecht (2014, 95–102) zu den Reisen in den Metamorphosen; Pausch (2016, bes. 280–291) zur Verbindung der Technik der Flugreise und der Bauform des epischen Katalogs in der Medea-Erzählung. 64 Vgl. Rosati (2009, z. St.; zu 5,650–661). Man mag hier die psychologische Funktion des Raumes erkennen: Lyncus’ Neid entsteht auch dadurch, dass er, ausgelöst durch eine plötzliche Verlockung, kein Barbar mehr sein möchte, sondern selbst als Zivilisationsstifter gelten will (5,657 muneris auctor). 65 Vgl. Heslin (2008, 121–126) zur Funktion der Gastfreundlichkeit und insbesondere zur athenischen ara clementiae in Statius’ Thebais (Stat. Theb. 12,481–518); Kersten (2019c, 397). 66 Vgl. Vergils berühmte Worte über das Trojanische Pferd als zweifelhafte Gabe der Griechen (Verg. Aen. 2,49 quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentis). 67 Vgl. Bömer (1976, zu 5,647 f.).

Athena verleiht Athen ihren Namen

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4.3  Athena verleiht Athen ihren Namen (6,1–145) Die wichtigste Quelle über die mythische Gründung Athens, auf die Ovid vermutlich zurückgreifen konnte, stellen die Historien des Herodot dar. Im achten Buch seines Werkes schildert der griechische Geschichtsschreiber den Wettstreit zwischen Athena (Minerva) und Poseidon (Neptun) um den Namen der Stadt (Hdt. 8,55). Demnach sollten die beiden Götter den Einwohnern jeweils ein Geschenk darbringen und derjenige zum Namenspatron der Stadt werden, dessen Gabe die bessere sei. Athena stiftete einen Olivenbaum und Poseidon eine Salzwasserquelle; erstere gewann den Wettstreit und die Stadt wurde nach ihr benannt.68 Athen existierte der Sage nach also bereits, bevor es diesen Namen erhielt. Als mythischer Urkönig wird in den meisten Quellen Cecrops angegeben,69 weshalb Cecropia eine alte Bezeichnung für Athenae darstellt.70 Anders als der Gründung Thebens (Ov. met. 3,1–137; vgl. Kap. 3.1) widmet Ovid den Anfängen Athens keine eigenständige Episode, sondern integriert diesen Sagenstoff in eine Ekphrasis innerhalb der wegen ihrer möglichen poetologischen Implikationen viel diskutierten Erzählung von Arachne am Beginn des sechsten Buches,71 also vor der Niobe-Geschichte, der letzten direkten Rückkehr zum thebanischen Sagenkreis (6,146–312).72 Die hier besprochene Episode markiert zwar den Beginn des athenischen Sagenkreises der Metamorphosen im engeren Sinne, doch gegenüber den bereits in der ersten Buchpentade geschil-

68 Vgl. Hor. carm. 1,7,5–7 sunt quibus unum opus est intactae Palladis urbem / carmine perpetuo celebrare / indeque decerptam fronti praeponere olivam. 69 Vgl. z. B. Ps.-Apollod. bibl. 3,177 f. Zur Beteiligung des Cecrops am Namensstreit um Athen sowie zu den fragmentarischen Quellen über seine Herrschaftszeit vgl. DNP, »Kekrops«; Roscher, »Kekrops«. Das Marmor Parium gibt das Jahr 1581/1580 v. Chr. als Zeitpunkt der Stadtgründung an; vgl. Feeney (2007, 80). 70 Vgl. z. B. Catull. 64,79. 71 Die Gewebe von Minerva und Arachne werden häufig als Repräsentation zweier möglicher konträrer Dichtungsarten angesehen. Die communis opinio setzt dabei das unsymmetrische Kunstwerk Arachnes mit der neoterischen Gestalt von Ovids Metamorphosen gleich; vgl. Norton (2013, 182–184); von Albrecht (2014, 115). Lausberg (1982, 112–116) kommt zu dem Ergebnis, die Metamorphosen insgesamt stellten eine Synthese aus den beiden von Minerva (›augusteische Klassik‹ mit Werten wie Symmetrie) und Arachne repräsentierten Kunstidealen dar. Abwägend äußern sich auch Leach (1974, 104); Feeney (1991, 190–194); Spahlinger (1996, 79); Rosati (2002, 292 f.); Salzman-Mitchell (2005, 59 f.); O’Hara (2007, 113); Feichtinger (2008, 315 f.); Beer (2018, 77); vgl. Eickmeyer (2021, 103): »Bei aller poetologischen Reflexivität kann Ovid allerdings kaum eindeutig Minervas oder Arachnes Position zugeordnet werden.« Glei (1998, 93–99) fügt der Diskussion einen neuen Aspekt hinzu, indem er nicht nur das ArachneGewebe als Analogon zu Ovids Metamorphosen deutet, sondern auch das Gewebe von Athena als Verkörperung von Vergils Aeneis; vgl. dazu Andrae (2003, 223–240; bes. 229–240). – Zur metaphorischen Gleichsetzung von Weben und Erzählen vgl. Rosati (2006, bes. 345–350). 72 Zur spärlichen Überlieferung des Arachne-Mythos vor Ovid vgl. Norton (2013, 166 f.).

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derten Mythen, die in der Phase vor der eigentlichen Stadtgründung spielen, stellt sie eine Fortsetzung dar (vgl. Einleitung zu Kap. 4).73 Die Arachne-Erzählung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Zunächst führt Ovid die Figur der Weberin ein, die aus dem Dorf Hypaepa am Tmolus stammt und durch ihre Kunstfertigkeit eine derartige Berühmtheit in Lydien genießt, dass man die Qualität ihrer Werke mit derjenigen Minervas vergleicht (6,1–25; hier 6,11–13):74 Lydas tamen illa per urbes Doch durch ihren Eifer hatte sie sich in den quaesierat studio nomen memorabile, quamvis lydischen Städten einen erinnerungswür­ orta domo parva parvis habitabat Hypaepis. digen Namen erworben, obgleich sie, aus unbedeutendem Hause stammend, im un­ bedeutenden Hypaepa wohnte.

Ovid beschreibt Arachne mithilfe der charakterisierenden Funktion des Raumes als bescheiden und stellt durch die Verwendung der symbolischen Funktion des Raumes einen Kontrast zwischen der unbedeutenden Heimat der Künstlerin (parvis Hypaepis) und ihrem weit verbreiteten Ruhm her (Lydas … per urbes). Aus Neid auf ihre Konkurrentin verlockt die verkleidete Athena diese schließlich zu einem Wettstreit und gibt sich erst dann als Göttin zu erkennen (6,26–52). Nachdem Ovid detailliert den Webvorgang und seine technischen Einzelheiten geschildert hat (6,53–69), beschreibt er die beiden Kunstwerke – zunächst das unten zu analysierende Gewebe der Minerva (6,70–102), das mehrere mythische Wettkämpfe zeigt, sodann dasjenige der Arachne (6,103–128), auf dem einige berühmte Liebesaffären der Götter dargestellt sind.75 Die Episode endet mit dem Selbstmord Arachnes und ihrer Metamorphose in eine Spinne, nachdem Minerva ihr Werk aus Neid zerstört hat (6,129–145). Die folgende Analyse demonstriert, wie Ovid die Topographie und den Namen der neuen Stadt ins Zentrum seiner Erzählung rückt und somit der thematischen Funktion des Raumes hohe Bedeutung verleiht.

73 Dies betrifft insbesondere die Episoden von Mercur und Herse (2,708–832; vgl. Kap. 4.1) sowie von Triptolemus (5,642–661; vgl. Kap. 4.2). 74 Vgl. Dufallo (2013, 168 f.) zu Ovids Angaben über Arachnes Herkunft; von Albrecht (2014, 117 f.); Ramírez de Verger (2021, z. St.) zur Schreibweise des Ortsnamens. – Zu der Junktur nomen memorabile vgl. 4,416 f. (Ino und Melicertes) totis Bacchi memorabile Thebis / nomen erat; 10,607 f. (Hippomenes und Atalanta) habebis / Hippomene victo magnum et memorabile nomen. 75 Die von Arachne dargestellten Göttergeschichten verweisen teils auf frühere Episoden der Metamorphosen zurück; zu derartigen Analepsen vgl. Harrison (2019, 790); Reitz et al. (2019, 694).

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4.3.1 Analyse Die Athen-Passage im Rahmen der Arachne-Episode beginnt mit der Lokalisierung des Geschehens in der Stadt, die durch die Akropolis des Cecrops identifiziert wird (6,70 Cecropia … in arce).76 Durch die Darstellung in einer Ekphrasis macht Ovid Athen im narratologischen Sinne nicht zu einem Schauplatz, sondern zu einem besonderen Beispiel eines Hintergrundraums.77 Vor der Analyse der Athen-Ekphrasis mithilfe der Terminologie von de Jong (2014, 120) sei zunächst der Inhalt von Minervas Gewebe, soweit er den Namensstreit um Athen darstellt, vollständig wiedergegeben (6,70–82):78 Cecropia Pallas scopulum Mavortis in arce  pingit et antiquam de terrae nomine litem. bis sex caelestes medio Iove sedibus altis augusta gravitate sedent. sua quemque deorum inscribit facies: Iovis est regalis imago; stare deum pelagi longoque ferire tridente  aspera saxa facit medioque e vulnere saxi exsiluisse fretum, quo pignore vindicet urbem; at sibi dat clipeum, dat acutae cuspidis hastam, dat galeam capiti, defenditur aegide pectus, percussamque sua simulat de cuspide terram  edere cum bacis fetum canentis olivae mirarique deos.

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Pallas gestaltet den Felsen des Mars auf dem Burgberg des Cecrops und den alten Streit über den Namen des Landes. Zweimal sechs himmlische Götter mit Jupiter in ihrer Mitte sitzen in erhabener Würde auf ihren hohen Thronen. Seine eigene Gestalt prägt einen jeden der Götter. Das Bild Jupiters ist königlich; den Gott des Meeres lässt sie dastehen, wie er mit seinem langen Dreizack die rauen Felsen anstößt und wie mitten aus der Felswunde eine Quelle hervorspringt, ein Unterpfand, mit dem er die Stadt für sich beansprucht. Sich selbst aber gibt sie einen Schild, sie gibt sich eine Lanze mit scharfer Spitze, sie gibt ihrem Kopf einen Helm, die Brust wird von der Aegis geschützt, und sie stellt dar, wie die von ihrem Speer durchstoßene Erde die Frucht der mattgrünen Olive mit ihren Beeren hervorbringt und wie die Götter dies bewundern.

Die Ekphrasis beginnt mit der Skizzierung einer Götterversammlung; nach der Beschreibung Jupiters geht es direkt zu den beiden Protagonisten des folgenden 76 Ovid setzt hier die Existenz des athenischen Urkönigs Cecrops voraus, ohne über dessen Herkunft aufzuklären. Zu den zivilisatorischen Errungenschaften, die Cecrops zugeschrieben werden, vgl. Berman (2017, 47 f.). 77 Zu den Ekphraseis in den Metamorphosen vgl. Solodow (1988, 222–231). 78 Das Wort fretum (6,77) findet sich nur in einem kleinen Teil der Handschriften und selbst dort meist nur von späterer Hand; die übrigen Handschriften rekurrieren (mit teils voneinander abweichendem Wortlaut, meist ferum [sc. equum]) auf eine alternative Variante (vgl. z. B. Verg. georg. 1,12–14), wonach Neptuns Geschenk ein Pferd gewesen sei. Ramírez de Verger (2021, zu Ov. met. 6,77) zeichnet die gesamte Überlieferung nach. – Zu Ovids Umgang mit der epischen Bauform ›Rüstungsszene‹ (ohne Berücksichtigung der hiesigen Stelle) vgl. Reitz (2019c, 23).

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Wettstreites weiter. Zunächst webt Minerva den Meeresgott Neptun mit seinen typischen Attributen und seiner Gabe für die Athener (6,75–77). Darauf folgt die Darstellung ihres eigenen Geschenkes (6,78–81), dem sie einen Vers mehr als demjenigen ihres Konkurrenten widmet; außerdem fügt sie die Bemerkung hinzu, dass die Götter ihr Werk bewundern (6,82 mirarique deos). Die Bildbeschreibung erfolgt durch den auktorialen Erzähler, der den Herstellungsvorgang durch Minerva bzw. Arachne in den Blick nimmt (6,70 f. Pallas … / pingit; 6,103 Maeonis … designat).79 Als Urheberin des hier betrachteten Bildes wird somit Athena angegeben, die jedoch weder an dieser noch an einer späteren Stelle (also nach der Benennung der Stadt nach A ­ thena) mit diesem Namen, sondern als Tritonis oder meistens als Pallas oder Minerva bezeichnet wird. Als Betrachterin des Kunstwerks sind implizit Athenas Gegnerin Arachne und vielleicht auch die vorher genannten Nymphen sowie die übrigen der zwölf Götter anzunehmen.80 Das Kunstwerk selbst zeichnet sich besonders durch seine symmetrische Gestaltung aus, die in der Platzierung jeweils eines Wettkampfes in einer der vier Ecken des Gewebes offenbar wird (6,85 quattuor in partes certamina quattuor addit). Das Hauptthema des Kunstwerks, der athenische Namenswettstreit, wird wörtlich angegeben (6,71 antiquam de terrae nomine litem); dieser in der Bildmitte dargestellte Inhalt wird klar von den im Anschluss geschilderten Geschichten in den Bildecken abgegrenzt (6,82 operis … finis; 6,85 addit).81

4.3.2 Fazit Innerhalb der Ekphrasis des Gewebes der Minerva wird Athen (anstelle des Olymps als dem traditionellen Ort für eine solche Szene) zum Schauplatz einer Götterversammlung,82 die in den Streit über den Namen der bereits physisch existierenden Stadt mündet. Diese bereits bestehende Existenz findet ihren Ausdruck in der Erwähnung der Akropolis des Urkönigs Cecrops (6,70 Cecropia … in arce). Im Einklang mit dem göttlichen Status der Protagonisten im folgenden Agon handelt es sich bei den weiteren Elementen des Anschauungsraums, dessen Wahrnehmung durch die göttlichen Akteure nur mittelbar zu erschließen ist, um topographische Merkmale, die den Zeitgenossen Ovids bekannt sind. 79 Der narratee wird nicht angesprochen, anders etwa als bei der Theben-Ekphrasis im trojanischen Sagenkreis (13,675–704; 13,685 septem posses ostendere portas); vgl. Kap. 5.7. 80 Vgl. Norton (2013, 172 f.). Nur im Anschluss an die Darstellung von Arachnes Gewebe wird eine Reaktion der Konkurrentin wiedergegeben (6,129 f. Non illud Pallas, … carpere … / possit opus). 81 Vgl. Dufallo (2013, 167 f.) zu den Schauplätzen der vier Randgeschichten. 82 Zur Verlagerung der epischen Bauform ›Götterversammlung‹ in eine Ekphrasis vgl. Reitz (2019d, 733), jedoch ohne Hinweis auf den athenischen Schauplatz.

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Sie lassen sich aitiologisch auf das Wirken der Götter zurückführen: Neptun hat der Stadt der Sage nach eine Salzwasserquelle geschenkt, Minerva hingegen einen Olivenbaum,83 der ihr aufgrund seines vielfältigen Nutzens den Sieg im Namenswettstreit gebracht hat. Bei der Schilderung von Minervas Gewebe erkennen wir die thematische Funktion des Raumes, denn die Passage handelt explizit vom Kampf um die namentliche Markierung des urbanen Raumes (6,77 quo pignore vindicet urbem).84 Im Gegensatz dazu sind die Landschaften, in denen die von Arachne dargestellten Göttervergewaltigungen stattfinden, hier bloßer Hintergrund für diese Handlungen (6,121 f. omnibus his faciemque suam faciemque locorum / reddidit).85 Dass es sich bei Minervas Gewebe andersherum verhält, erkennt man auch an der zentralen Stellung der Namensstreitgeschichte, von der die weiteren Agone in die Bildecken gedrängt werden (6,85 quattuor in partes). Der Inhalt von Minervas Gewebe lässt sich auch als mise en abyme der Rahmenhandlung lesen, Ovid nutzt also die spiegelnde Funktion des Raumes:86 Der Namenskampf ist ein Wettstreit im Wettstreit, d. h., es handelt sich jeweils um einen Wettkampf zwischen Athena und einem Konkurrenten bzw. einer Konkurrentin, der in beiden Fällen mit dem vollständigen Sieg der Göttin endet. In der Binnenhandlung kann sie den Namen der Stadt für sich reklamieren, während Neptun nichts erhält; in der Rahmenhandlung verteidigt sie ihre göttliche Macht und ihr Opfer Arachne wird in eine Spinne verwandelt. Da die Anwesenheit der Götter zu Beginn der Episode nur formal konstatiert wird (6,72 f. bis sex caelestes … / … sedent) und keine wesentlichen Bewegungen im Raum erfolgen, erübrigt sich an dieser Stelle eine Untersuchung des Aktionsraums. Das Athen der Arachne-Episode ist von einer mythischen, durch die Anwesenheit von Göttern geprägten Atmosphäre charakterisiert. Diese bestimmen die (erschließbare) Wahrnehmung der Stadt durch die Betrachter der Ekphrasis im Sinne des gestimmten Raumes. Die Erzählung thematisiert ein für die Identität einer Stadt konstitutives Element, ihren Namen. Die Erwähnung von Athenas nützlichem Geschenk als dessen Ursprung87 lässt eine Atmosphäre entstehen, durch die man die Blüte Athens in historischer Zeit erahnen kann, ohne dass Ovid diese jedoch in den folgenden Episoden näher darstellen würde.

83 Die Darstellung des Olivenbaums erfüllt auch eine interne metaliterarische Funktion, da Athena mit diesem Baum ihr Werk abrundet (6,102 operisque sua facit arbore finem); vgl. Lausberg (1982, 121 f.). 84 Vgl. Berman (2017, 47 f.). 85 Mit dieser Aussage ist nicht gemeint, dass die Landschaft in den Geschichten selbst nur eine ornamentale Funktion erfüllen würde, sondern der Verzicht darauf, ihr eine dezidiert thematische Funktion beizumessen. Vgl. zu dieser Stelle auch Lausberg (1982, 114). 86 Zur mise en abyme in Ekphraseis vgl. Harrison (2019, 774). 87 Vgl. Beer (2018, 73).

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4.4  Tereus raubt Philomela aus Athen (6,412–674) Innerhalb von Buch 6, das von den Sagen um Arachne und Minerva (6,1–145) sowie Boreas und Orithyia (6,675–721) gerahmt wird, fügt sich die Episode über Tereus in den durch jene Mythen gegebenen attischen Kontext, da die weiblichen Figuren hier ebenfalls aus Athen stammen. Die Erzählung beendet damit die zwischenzeitliche Verlagerung des Geschehens nach Theben in den Geschichten von Niobe (6,146–312) und Pelops (6,401–411).88 Die Sage von Tereus und Philomela lässt sich wie folgt gliedern: Nach dem Übergang zum Handlungsort Athen in Form eines Städtekatalogs (6,412–423) schildert Ovid die Vorgeschichte des Raubs, d. h. die Verheiratung der athenischen Königstochter Procne mit dem thrakischen König Tereus (6,424–438). Der nächste Abschnitt beschreibt, wie dieser Pandion dazu bewegt, seine andere Tochter Philomela für einen vermeintlichen Besuch bei ihrer Schwester mit nach Thrakien segeln zu lassen (6,438–510). Tereus bringt Philomela von Athen nach Thrakien, vergeht sich dort an ihr und schneidet ihr die Zunge heraus, damit sie niemandem von ihrer Vergewaltigung berichten kann (6,511–570). Nach längerer Zeit gelingt es Philomela, Procne mittels einer geschmuggelten Webarbeit von ihrem Schicksal in Kenntnis zu setzen. Durch den Mord an deren Sohn Itys rächen sich die Schwestern gemeinsam an Tereus, bevor schließlich alle drei erwachsenen Figuren in Vögel verwandelt werden (6,571–674). Die nachfolgende Analyse zeigt, wie Ovid den Ortswechsel seiner attischen Figuren damit verbindet, ihre innere Verwandlung in Barbarinnen nachzuzeichnen.

4.4.1 Analyse Der Städtekatalog (6,412–423) Den Wechsel von der kurzen Pelops-Geschichte (6,401–411) zur Tereus-Episode und damit auch den endgültigen Übergang der Metamorphosen vom thebanischen zum attischen Sagenkreis gestaltet Ovid durch den Einsatz eines Katalogs. Dieser verbindet Theben und Athen durch die Aufzählung von elf griechischen Städten,89 die um den thebanischen König Amphion trauern, der sich aus Gram über den Tod seiner Frau Niobe und ihrer gemeinsamen Kinder das Leben genommen hatte (6,271 f.). Zunächst sei der eigentliche Katalog einschließlich seiner zwei einleitenden Verse wiedergegeben (6,412–420):90 88 Zwischen diesen Episoden befinden sich noch die in Kleinasien lokalisierten Erzählungen von den lykischen Bauern (6,313–381) sowie Marsyas (6,382–400). 89 Vgl. Cole (2008, 22) zur Rekonstruktion der chronologischen Struktur der Metamorphosen mithilfe dieses Katalogs. 90 Für eine Betrachtung von textkritischen Problemen aller aufgeführten Stadtnamen und ihrer Beiworte vgl. Ramírez de Verger (2021, z. St.). – Bömer (1976, zu 6,412) betont, dass finitimi

Tereus raubt Philomela aus Athen Finitimi proceres coeunt, urbesque propinquae oravere suos ire ad solacia reges, Argosque et Sparte Pelopeiadesque Mycenae et nondum torvae Calydon invisa Dianae  Orchomenosque ferax et nobilis aere Corinthus Messeneque ferox Patraeque humilesque Cleonae et Nelea Pylos neque adhuc Pittheia Troezen, quaeque urbes aliae bimari clauduntur ab Isthmo exteriusque sitae bimari spectantur ab Isthmo. 

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Die benachbarten Adligen kommen zusammen, und die Städte der Um­ gebung baten ihre Könige, zu Trost­ bekundungen zu gehen. Argos, Sparta, Mykene, die Stadt des Pelops, das noch nicht der finster blickenden Diana verhasste Calydon, das fruchtbare Orchomenos, das durch sein Erz berühmte Korinth, das unbeugsame Messsene, Patrae, das winzige Cleo­ nae, Pylos, die Stadt des Neleus, Troe­ zen, das noch nicht unter der Herr­ schaft des Pittheus stand, und die übrigen Städte auf der Landenge zwi­ schen den zwei Meeren sowie die außerhalb gelegenen Städte, die man vom Isthmus aus sieht.

Der erste Vers des eigentlichen Katalogs enthält mit Sparta und Mykene zwei Städte, die in der Pythagoras-Rede im letzten Buch als untergegangen bezeichnet werden (15,426–428). Mit dem Bezug zum pythagoreischen Städtekatalog deutet sich bereits ein Charakteristikum des hier gegebenen Katalogs an: Ein Teil der genannten Städte findet sich auch an anderen Stellen der Metamorphosen, sodass ihre Erwähnung hier als interne Pro- bzw. Analepse wirkt. Das prominenteste Beispiel für eine solche Anachronie ist Calydon91, denn die Stadt spielt in den Büchern 8 und 9 eine wichtige Rolle im Rahmen der dort stattfindenden Eberjagd (8,260–546) sowie der Erzählungen des Flussgottes Achelous (8,547–9,97). Andere Städte dieses Katalogs wie Messene und Cleonae wiederum werden innerhalb des gesamten Werkes kein weiteres Mal erwähnt. Ebenso wie im Katalog von Buch 15 werden auch die hier genannten Städte teils mit Epitheta dargestellt, deren ›Wahrheitsgehalt‹ sowohl auf der intra- als auch auf der extradiegetischen Ebene problematisch ist.92 Beispielsweise war und propinquae nur als Variation desselben Ausdrucks zu verstehen sind und keine Bedeutung für die reale Geographie der aufgeführten Städte haben. – Der Vers 6,414 ist nahezu wortgleich mit einem Vers der Ilias: In der Götterversammlung zu Beginn des vierten Buches erwidert Hera die von Zeus geäußerte Vorliebe für Troja mit dem Angebot, ihm für das ihr verhasste Troja die ihr verbundenen Städte Argos, Sparta und Mykene zur Zerstörung zu überlassen (Hom. Il. 4,52 Ἄργός τε Σπάρτη τε καὶ εὐρυάγυια Μυκήνη), also genau die drei hier von Ovid übernommenen Städte; vgl. Coray et al. (2017, zu 4,51–53). Der sich an die Trithemimeres anschließende Versteil ist außerdem mit einer Stelle in den Fasten identisch (Ov. fast. 3,83). – Bömer (1976, zu Ov. met. 6,416) und Rosati (2009, z. St.) betonen, dass sich nicht eindeutig entscheiden lässt, ob Orchomenos in Arkadien oder die gleichnamige Stadt in Böotien gemeint ist. 91 Als einzige der genannten Städte liegt Calydon nicht auf der Peloponnes, sondern in Ätolien. 92 Vgl. Solodow (1988, 79–81); Cole (2008, 55 f.) zum Katalog als einem »potentially achronic mode of composition«; Geitner (2021, 169–174).

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Korinth zwar zu Ovids Zeiten für seine Erzarbeiten bekannt, nicht aber schon in der geschilderten mythischen Epoche. Während einige dieser logischen Widersprüche nur bei näherer Kenntnis von Realien und Mythenchronologie auffallen, weist bei anderen eine Formulierung ex persona poetae explizit darauf hin, dass das betreffende Beiwort zur Zeit der geschilderten Handlung noch nicht gültig ist. Dies gilt bezüglich Calydon sowie Troezen (6,415 nondum torvae Calydon invisae Dianae; 6,418 neque adhuc Pittheia Troezen). Bei diesen zwei Städten verweist der Dichter somit indirekt auf später von ihm selbst erzählte Geschichten, welche die bereits hier verwendeten Beschreibungen vorwegnehmen.93 Wie Geitner (2021, 174–182) überzeugend ausführt, lässt sich aus dem Fehlen derartiger Hinweise des Erzählers jedoch nicht der naheliegende Umkehrschluss ziehen: Bei denjenigen Städten, die der Katalog mit einem Attribut, aber ohne zeitlichen Marker wie nondum aufführt, kann die Geltung dieser Beiworte für die Diegese keineswegs impliziert werden, auch wenn sie gerade durch das Fehlen eines Erzählerkommentars genau diesen Anschein erwecken. Der Katalog endet mit einer Abbruchformel94 (6,419 quaeque urbes aliae),95 um zum weiteren Geschehen überzuleiten. Diesen Übergang wiederum gestaltet Ovid nach dem häufig verwendeten Motiv ›Alle, nur x nicht‹:96 Unter den Trauergesellschaften für Thebens König Amphion fehlen allein die Athener, weil ihre Stadt gerade in einen Krieg verwickelt ist (6,421–423):97 credere quis posset? solae cessastis Athenae. Wer hätte es glauben können? Einzig du, obstitit officio bellum, subvectaque ponto Athen, warst säumig; der Pflichtbezeugung barbara Mopsopios terrebant agmina muros. stand ein Krieg im Wege, und über das Meer gekommene Barbarenheere versetzten die athenischen Mauern in Schrecken.

Genauso wie der eigentliche Katalog Vorverweise auf spätere Textpassagen der Metamorphosen enthält, weist die Bedrohung Athens durch ein Barbarenheer auf die direkt folgende Konfrontation der Stadt mit der Welt der Barbaren in Form des Thrakers Tereus hin.98 93 Diana schickt einen zerstörerischen Eber nach Calydon, weil dessen König Oeneus sie als einzige der Götter nicht verehrt hat (vgl. 8,271–283); der Herrschaftsbeginn von Pittheus in Troezen wird zwar nicht erzählt, ist aber an zwei Stellen indirekt erkennbar (15,296 ~ 15,506 Pittheam … Troezena). 94 Vgl. Reitz et al. (2019, 655). 95 Die ›analogen Module‹ am Katalogende (6,419 bimari clauduntur ab Isthmo ~ 6,420 bimari spectantur ab Isthmo) betrachtet Rosati (2009, z. St.) als ›Ikone‹ von Korinths bekannter Lage zwischen zwei Meeren. 96 Vgl. Solodow (1988, 43 f.). 97 Vgl. Geitner (2021, 184–186) zur rhetorischen Frage als ›diskursiver Metalepse‹, durch die der Erzähler auf den fiktionalen Status seines Textes hinweist; Ramírez de Verger (2021, z. St.) zur Variante Cecropios anstelle von Mopsopios. 98 Vgl. Rosati (2009, zu 6,421–423).

Tereus raubt Philomela aus Athen

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Die Täuschung des Pandion (6,424–510) Der erste Schauplatz der Begegnung zwischen Griechenland und Thrakien in dieser Geschichte ist Athen. Hier gewinnt der thrakische König Tereus Procne, die Tochter des athenischen Königs Pandion, zur Frau, nachdem er den Athenern Waffenhilfe gegen ein ›barbarisches‹ Heer geleistet hat (6,424 f. Threicius Tereus haec [sc. barbara agmina] auxiliaribus armis / fuderat).99 Zu diesem Zeitpunkt hält Tereus sich nicht nur physisch in Athen auf, sondern steht als Verbündeter auch im weiteren Sinne auf der gleichen Seite; die Barbaren sind nicht näher bezeichnete auswärtige Feinde. Tereus’ Hochzeit mit Procne indes findet vermutlich – der Text sagt dies nicht direkt aus – bereits in Thrakien statt,100 verläuft jedoch unter denkbar unheilvollen Voraussetzungen (6,426–438).101 Nach der Reise von Westen nach Osten im ersten Hauptabschnitt der Erzählung erfolgt nun eine Fahrt in umgekehrter Richtung: Procne hat ihren Gemahl überredet, ihre Schwester Philomela zu einem Besuch nach Thrakien zu holen. Daher begibt sich Tereus erneut nach Athen, das aus der Perspektive eines ankommenden Seefahrers anhand seiner Küsten und seines Hafens identifiziert wird (6,444–446):102 iubet ille carinas in freta deduci veloque et remige portus  Cecropios intrat Piraeaque litora tangit.

Er befiehlt, die Schiffe aufs Meer zu ziehen, und mit der Kraft der Segel und Ruder läuft er in den athenischen Hafen ein und landet an den Gestaden des Piräus.

In dem Moment, als Tereus bereits mit Pandion über die Herausgabe seiner zweiten Tochter verhandelt, tritt diese hinzu und der Erzähler vergleicht ihre Anmut mit der von Nymphen (6,452 f. quales audire solemus / Naidas et Dryadas mediis incedere silvis). Der Verweis auf den Wald als deren Lebensraum antizipiert den Ort, an dem Tereus später Philomela in seiner Heimat einsperren wird, um seine Untat zu verbergen (6,546 silvis clausa). Neben diesem Gleichnis erklärt ein weiterer Einwurf des extradiegetischen Erzählers den nachfolgenden sexuellen Missbrauch: Gleichsam als Begründung für die ›angeborene Lüsternheit‹ des Tereus heißt es, eine derartige libido sei in seiner Heimatregion üblich (6,458–460): 99 Gildenhard/Zissos (2007, 4) bezeichnen die Befreiung Athens von Barbaren durch Tereus als »proto-historical gesture«. 100 Vgl. Pavlock (1991, 34). 101 Als Gegenbeispiel zu dieser nicht nach den üblichen Maßstäben verlaufenden Hochzeit vgl. diejenige von Perseus mit Andromeda (4,757–764 ~ 6,428 f.). 102 Die Reise über das weite Meer, während der keine relevanten Ereignisse stattfinden, wird genauso gerafft dargestellt wie ähnliche Fahrten in den Metamorphosen, beispielsweise die Rückkehr des Minos nach Kreta (8,153 f.). – Zur Schreibweise von Piraea vgl. Ramírez de Verger (2021, zu 6,446).

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sed et hunc innata libido exstimulat, pronumque genus regionibus illis in Venerem est; flagrat vitio gentisque suoque. 

Doch ihn treibt auch seine angeborene Lust an, und in jenen Gegenden ist das Menschengeschlecht zum Liebesspiel geneigt, er brennt entsprechend seinem eigenen Laster und dem seines Volkes.

Ovid nutzt hier die charakterisierende Funktion des Raumes, um Tereus’ Verhalten aus seiner ethnographischen Zugehörigkeit heraus zu erklären.103 So wie die Heirat des Thrakerkönigs mit der athenischen Königstochter Procne zur Bekräftigung eines politischen Bündnisses diente, ist auch Tereus’ jetzige Begierde nach Philomela auf einer übergeordneten Ebene zu betrachten, denn der König wäre bereit, sein ganzes Reich für sie aufzugeben bzw. sein Volk in einen Krieg zu führen (6,461–464):104 impetus est illi … 461 … totumque impendere regnum, 463 aut rapere et saevo raptam defendere bello.

Es treibt ihn, sein ganzes Königreich aufzugeben oder sie zu rauben und die Geraubte in einem grausamen Krieg zu verteidigen.

Tereus ist also implizit bewusst, dass ein Raub der Athenerin zur Befriedigung seiner persönlichen Gelüste Konsequenzen nach sich ziehen würde, die über die Bedeutung ihres individuellen Schicksals hinausgehen würden. Gedanklich antizipiert er damit bereits das Aufeinanderprallen von athenischer ›Sitte‹ und thrakischer ›Unsitte‹.

Die Untat an Philomela (6,511–570) Nachdem Tereus Philomelas Vater überredet hat, übergibt dieser ihm seine Tochter. Sie verlassen Athen in Richtung Thrakien. Bereits auf der Fahrt dorthin offenbart Tereus die Gedanken, die er in Athen noch für sich behalten hatte, vor seinen Landsleuten: Er bezeichnet sich als Sieger, der das Objekt seiner Begierde mit sich führt (6,513 »vicimus!« exclamat, »mecum mea vota feruntur!«).105 Im folgenden Abschnitt wird der Herrscher sogar wörtlich als Barbar dargestellt und zudem mit einem Raubvogel verglichen (6,514–518):

103 Die Assoziation von Thrakien mit erotischer Lust vermerkt Pavlock (1991, 34 f.) auch für die Episode von Boreas und Orythia (6,675–721); vgl. von Albrecht (2003, 140). 104 Eine vergleichbare Situation mit vertauschten Rollen findet sich in der Scylla-Episode, wo die Protagonistin erwägt, das Königreich ihres Vaters für den feindlichen Herrscher zu opfern (8,38–42; vgl. Kap. 4.6). 105 Vgl. Pavlock (1991, 36). Für eine gleichermaßen ›unziemliche‹ Verwendung von votum vgl. z. B. 8,71 (Scylla) solus [sc. pater] mea vota moratur; für einen ›geziemenden‹ Gebrauch des Wortes vgl. z. B. 4,164 (Pyramus und Thisbe) vota tamen tetigere deos, tetigere parentes.

Tereus raubt Philomela aus Athen [exultatque et vix animo sua gaudia differt] barbarus et nusquam lumen detorquet ab illa, non aliter quam cum pedibus praedator obuncis deposuit nido leporem Iovis ales in alto; nulla fuga est capto, spectat sua praemia raptor.

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Der Barbar springt vor Freude auf, vermag die Erfüllung seiner Freude kaum in Gedanken aufzuschieben und wendet seinen Blick keinen Augenblick von ihr ab, nicht anders, als wenn ein Raubvogel mit gekrümmten Füßen, der Vogel des Jupiter, einen Hasen in seinem hoch gelegenen Horst abgelegt hat; für den Gefangenen gibt es keine Möglichkeit zur Flucht, der Räuber betrachtet seine Beute.

Die Bezeichnung einer Figur als Barbar verändert sich also entsprechend der jeweiligen Perspektive: Stand Tereus anfangs noch auf Seiten Athens gegen Barbaren aus einer anderen Weltgegend, so ist er jetzt aus der Sicht der Athenerin Philomela (sowie des auktorialen Erzählers) selbst zum Barbaren geworden. Nach der Ankunft in Thrakien sperrt Tereus Philomela in einem Schuppen im Wald ein und missbraucht sie dort, um seine langgehegten sexuellen Wünsche zu erfüllen (6,519–521): iamque iter effectum, iamque in sua litora fessis puppibus exierant, cum rex Pandione natam in stabula alta trahit, silvis obscura vetustis.

Schon ist die Reise zuende, schon waren sie ermüdet aus den Schiffen an ihre Gestade gegangen, als der König die Tochter des Pandion in einen hohen Stall verschleppt, der dunkel in alten Wäldern liegt.

Die unheimliche Atmosphäre der thrakischen Wälder, fernab jeder Zivilisation, wird nicht allein durch ihre Dunkelheit (stabula … obscura) evoziert, sondern die Bezeichnung Philomelas als Tochter des Pandion betont darüber hinaus ihre Isolierung und die Entfernung von der athenischen Heimat. Philomelas Sicht auf ihren Entführer und Vergewaltiger stimmt mit derjenigen des Erzählers überein, denn auch sie spricht ihn nach der Untat als Barbaren an, bevor Tereus sie durch die Verstümmelung ihrer Zunge zum Schweigen bringt (6,553–560; 6,533 o diris barbare factis).106

Die Rache an Tereus (6,571–674) Der letzte Abschnitt erzählt von der grausamen Rache der beiden Schwestern an Tereus. Da Philomela nicht aus der Bewachung entkommen kann (6,572 fugam custodia claudit) und ihr Vergewaltiger ihr durch das Abschneiden der Zunge 106 Die Übersetzung von Albrechts (1987, 141: »Oh Barbar, Übeltäter, Grausamer!«) gibt die Nuance, dass Tereus erst durch seine Untaten vom Verbündeten Athens zum Barbaren geworden ist, nicht wieder.

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die Möglichkeit zur mündlichen Kommunikation genommen hat, webt sie das ihr Angetane in einen Teppich, den sie zu ihrer Schwester in den Königspalast schmuggeln lässt (6,576 stamina barbarica suspendit callida tela).107 Wie die Bezeichnung ›barbarischer Webstuhl‹ anzeigt, bedient sich die Athenerin eines Hilfsmittels, das sie dem Ort ihrer Gefangenschaft entnimmt.108 Procne erkennt den Inhalt der Botschaft und nutzt die Gelegenheit des gerade stattfindenden Bacchusfestes, um in der Nacht den Palast zu verlassen (6,590) und ihre Schwester aus der Bewachung im Wald zu befreien (6,594–600):109 concita per silvas … 594 … venit ad stabula avia tandem 596 … portasque refringit germanamque rapit raptaeque insignia Bacchi induit et vultus hederarum frondibus abdit attonitamque trahens intra sua moenia ducit. 6 00

Rasend eilt sie durch die Wälder … Endlich ist sie an dem entlegenen Stall angelangt. Sie … bricht das Tor auf, reißt ihre Schwester mit sich, legt der [dem Tereus] Entrissenen die Tracht der Bacchantinnen an, versteckt ihr Gesicht hinter Efeublättern, schleppt die wie vom Donner Gerührte mit sich fort und führt sie in ihren Palast.

Indem Procne Philomela gleichsam entführt, handelt sie im Grundsatz nicht anders als zuvor Tereus.110 Dasselbe gilt für ihre anschließenden Rachepläne: Procne erwägt nicht nur, den Palast in Brand zu stecken (6,614 cum facibus regalia tecta cremabo), sondern auch, Tereus ebenso die Zunge herauszuschneiden, wie er es bei ihrer Schwester getan hat.111 Als Procne sich entschieden hat, aus Rache ihren Sohn Itys zu töten, zeigt ein Vergleich auch hier, wie sich ihr Verhalten immer weniger von dem ihres frevelhaften Ehemannes unterscheidet: Sie verschleppt ihren Sohn an einen verborgenen Platz im Palast (6,638 domus altae partem tenuere remotam). Der Verweis auf den Wald innerhalb eines Gleichnisses erinnert wiederum an den Ort von Philomelas vorherigem Versteck (6,636 f. traxit Ityn, veluti Gangetica cervae / lactentem fetum per silvas tigris opacas ~ 6,521 in stabula alta trahit, silvis obscura vetustis). Procne wird mit einer indischen Tigerin verglichen. Daher erscheint es nur folgerichtig, dass sie ihren Mann zum Verspeisen des ge 107 Norton (2013, 185–195) analysiert Philomelas Gewebe und die gesamte Episode als ›implizite Ekphrasis‹. Vgl. Geitner (2021, 322–326) zur möglichen Deutung des Gewebes (lat. textus, vgl. 4,575 notas filis intexuit) als Text. 108 Vgl. Pavlock (1991, 42). 109 Zum Wirken der Bacchantinnen vgl. Kap. 3.2. – Ramírez de Verger (2021, z. St.) schließt die Lesart stabularia statt stabula avia aus; moenia wird von allen Editoren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als richtige Lesart empfunden, während vorherige Herausgeber teils auch limina druckten. 110 Vgl. 6,598 germanamque rapit raptaeque … ~ 6,464 rapere et saevo raptam defendere bello; 6,600 trahens intra sua moenia ducit ~ 6,521 in stabula alta trahit. 111 Vgl. 6,616 f. linguam atque oculos et quae tibi membra pudorem / abstulerunt ferro rapiam ~ 6,556 f. comprensam forcipe linguam / abstulit ense fero.

Tereus raubt Philomela aus Athen

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meinsamen Kindes bringt, indem sie vorgibt, ein Ritual nach heimischer Sitte durchzuführen (6,648 patrii moris sacrum mentita) – die Pervertierung athenischer Werte und Normen findet in der Verführung zum Kannibalismus ihren Abschluss. Im Zuge der abschließenden Metamorphose der drei Hauptfiguren erinnert die Bezeichnung ›Cecrops-Töchter‹ (6,667 Cecropidum) noch einmal an die Herkunft der beiden Schwestern, bevor sie als neuen Lebensraum jeweils einen Ort aufsuchen, der an das Versteck Philomelas im Wald bzw. an Procnes Untat im Palast erinnert (6,668 quarum petit altera silvas ~ 6,521 silvis; 6,669 altera tecta subit ~ 6,614 regalia tecta).

4.4.2 Fazit In der Geschichte von Tereus und den Töchtern des Pandion fungiert die Heimatstadt des athenischen Königs nur kurz als Schauplatz, überwiegend jedoch als Hintergrundraum zum dominanten Handlungsort in Thrakien. Im Sinne des Anschauungsraums wird Athen aus der Sicht des ankommenden Tereus insofern als Stadt mit einem hohen Zivilisationsgrad beschrieben, als die ­Hafenanlagen des Piräus genannt werden. Thrakien hingegen wird vornehmlich durch die Wälder charakterisiert, die sich offenbar in der Nähe des Königspalastes befinden, wo die Rache der zwei Schwestern und die Verwandlung der drei Hauptfiguren stattfindet. Der Aktionsraum ist durch mehrere Seereisen der Protagonisten geprägt: Von seiner ersten Reise nach Athen als Verbündeter des Pandion nimmt der Thraker Tereus dessen Tochter Procne als Frau mit zu sich. Seine zweite Reise in den Westen unternimmt er gewissermaßen als Ersatzhandlung für Procnes Wunsch, die ihn darum bittet, entweder selbst in ihre Heimat reisen oder aber ihre Schwester für einen Besuch zu sich holen zu dürfen. Tereus missbraucht die Arglosigkeit seines athenischen Schwiegervaters, indem er Philomela nicht zurückbringt, sondern sie in Thrakien vergewaltigt und gefangen hält. Für beide Frauen führt die Reise in den Osten also zu einem tragischen Schicksal – einem Komplex aus Vergewaltigung, Mord und Verwandlung. Das Verhalten der Figuren lässt sich auf einer allgemeinen Ebene deuten, die über Einzelschicksale hinausgeht. Der Raum erhält eine symbolische Funktion für das Gesamtgeschehen, da die in Athen bzw. in Thrakien begangenen Handlungen generelle Charakteristika dieser beiden Gegenden widerspiegeln. Während Philomela und Athen die zivilisierte westliche Welt repräsentieren (vgl. 6,454 cultus), steht Thrakien für den barbarischen Osten (vgl. 6,521 silvis obscura vetustis).112 Nachdem sich Tereus bereits zu Beginn der Episode von 112 Vgl. Kap. 4.2 zum frevlerischen Verhalten des Skythen-Königs Lyncus. Vgl. die Belege für barbarus (6,515; 6,533; 6,576); Glenn (1986, 78); Pavlock (1991, 38); Segal (1994, 268; 271).

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einem Verbündeten in einen Barbaren verwandelt hat, werden auch Philomela und ebenso Procne nach und nach von der Atmosphäre ihres Aufnahmelandes ›absorbiert‹ und begehen derart grausame Handlungen, wie sie gerade nicht für Athenerinnen, sondern für barbarische Gestalten aus dem Osten als charakteristisch gelten. Nachdem sie zunächst noch selbst Thrakien im Sinne des gestimmten Raumes als bedrohlich wahrnehmen, gleichen sich die Athenerinnen durch den Mord an Procnes Sohn Itys moralisch weiter ihrem barbarischen Ehemann bzw. Gastgeber an. Am Ende der Welt verlieren die Normen und Werte der griechischen Zivilisation ihre Gültigkeit.113 In Philomelas und Procnes Wesensveränderungen zeigt sich die psychologische Funktion des Raumes in extremo: Mit dem Wechsel ihres Aufenthaltsortes verändert sich ihr psychisches Befinden und damit einhergehend auch ihr Verhalten nahezu vollständig.

4.5  Medea flieht nach Athen (7,1–452) Den von zahllosen antiken Autoren behandelten Medea-Stoff bearbeitet Ovid selbst nicht nur in seiner verlorenen Tragödie, sondern auch in den Metamorphosen. Dort widmet er der Thematik mehr als die Hälfte des siebten Buches, dessen zweiter Teil die auf der Insel Aegina spielenden Sagen um den kretischen König Minos sowie den Athener Cephalus beinhaltet (7,453–865). In seinem Medea-Zyklus erzählt Ovid zunächst von der Fahrt der Argonauten nach Colchis, wo sich die dort beheimatete Prinzessin in den griechischen Helden Jason verliebt und ihm dabei hilft, das Goldene Vlies zu gewinnen (7,1–158). Im Anschluss an die Rückkehr der Argonauten nach Thessalien verjüngt Medea Jasons Vater Aeson sowie die Ammen des Bacchus (7,159–296). Sodann tötet sie durch einen vorgetäuschten Verwandlungszauber Jasons Onkel Pelias (7,297–349) und flieht mit einem Schlangenwagen nach Korinth (7,350–393). Nach der Tötung von Jasons neuer Gemahlin Glauce und ihrer beiden Kinder flüchtet Medea schließlich weiter nach Athen, wo sie König Aegeus heiratet und dessen Sohn Theseus zu töten versucht (7,394–452). Da eine Untersuchung der gesamten Medea-Handlung der Metamorphosen im Rahmen des Themas dieser Arbeit nicht sinnvoll erscheint, werden die ersten rund 400 Verse von Buch 7 summarisch behandelt und nur die in Athen spielende Schlusspassage einer detaillierten Analyse unterzogen.114 Dort zeigt sich unter anderem, welch wichtige Rolle Theseus für das Wohlergehen und die Identität der Stadt spielt. 113 Gildenhard/Zissos (2007, 12 f.); vgl. Pavlock (1991, 45 f.). 114 Wie Pausch (2016, 280) herausstellt, liegt der Schwerpunkt von Ovids Erzählung auf der Handlung in Colchis sowie auf den Verjüngungen, während die Flucht nur im Schlussteil (7,350–403) behandelt wird.

Medea flieht nach Athen

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4.5.1 Analyse Medea entscheidet sich für Griechenland (7,1–158) Im ersten Hauptteil seines Medea-Zyklus erzählt Ovid die Geschichte von der Fahrt der Argonauten, die das Goldene Vlies suchen.115 Der Dichter geht dabei sehr schnell von einer Skizzierung der eigentlichen Mission zu einer ausführlichen Schilderung der erwachenden Liebe Medeas zu Jason über. In ihrem Entscheidungsmonolog fragt Medea sich zunächst, warum sie sich ausgerechnet in einen auswärtigen Heroen verlieben sollte (7,21–23): »quid in hospite regia virgo ureris et thalamos alieni concipis orbis? haec quoque terra potest quod ames dare.«

»Was brennst du für einen Fremden, königliche Jungfrau, und stellst dir die Ehe in einem fremden Erdteil vor? Auch dieses Land kann dir jemanden geben, den du lieben kannst.«

Hier kommt die symbolische Funktion des Raumes zum Tragen, denn die Protagonistin reflektiert die Herkunft eines potentiellen Ehemannes in räumlichen Begriffen: Für einen Moment versucht Medea sich selbst davon zu überzeugen, dass es auch am Schwarzen Meer geeignete Männer gibt, und stellt ihre Heimat der Fremde gegenüber (haec … terra ~ alieni … orbis). Medea ist sich bewusst, dass eine Entscheidung für Jason einen Verrat an ihrem Vaterland bedeuten würde (7,38 prodamne ego regna parentis?).116 Doch alsbald malt sie sich den Ruhm aus, den ihr eine Unterstützung des Helden im Kampf gegen die feuerschnaubenden Stiere in Griechenland einbringen könnte (7,49 f. perque Pelasgas / servatrix urbes matrum celebrabere turba). Schließlich wertet Medea ihre Heimat als barbarisch ab (7,53 nempe est mea barbara tellus)117 und entscheidet sich für die Ehre, die ihr in den griechischen Städten zuteilwerden dürfte (7,55–58): »non magna relinquam,  magna sequar: titulum servatae pubis Achivae notitiamque loci melioris et oppida quorum hic quoque fama viget cultusque artesque locorum.«

»Unbedeutendes werde ich zu­ rücklassen, Bedeutendem werde ich folgen: dem Ruhm für die Rettung der griechischen Heldenmannschaft, der Kenntnis eines besseren Ortes sowie Städten, deren Ruhm auch hier etwas gilt, der Kultur und den Künsten jener Gegend.«

115 Vgl. Sharrock (2019, 293–295) zur weitgehenden Ersetzung der Fahrt der Argonauten durch Medeas Luftreisen. 116 Vgl. Salzman-Mitchell (2005, 105). 117 Diese Perspektive wird später vom Erzähler übernommen (7,144 tu quoque victorem complecti, barbara, velles). Erst ab dem Vers 7,296 wird Medea teilweise auch als Colcherin bezeichnet, teils aber auch weiterhin als Barbarin (z. B. 7,276).

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Medea schwankt also zunächst zwischen Treue zur Heimat und Begierde nach Ruhm in der Fremde. Letztendlich entscheidet sie sich für die Liebe zu Jason und damit für das Letztgenannte. Diese Entscheidung untermauert sie mit Argumenten, die insbesondere den kulturellen Rang betreffen, der Jasons Heimat in der Selbst- wie in der Außenwahrnehmung zukommt: Medea erhebt die Hochkultur Griechenlands (cultusque artesque locorum118) über das Reich ihres Vaters (hic quoque).

Medea kommt nach Griechenland (7,159–296) Nachdem sie die Liebe Jasons gewonnen hat, kehrt Medea gemeinsam mit den Argonauten nach Thessalien zurück.119 Als Jason ihr für die geleistete Hilfe dankt und sie um die Verjüngung seines greisen Vaters Aeson bittet, verlässt Medea den Palast (7,182 egreditur tectis), um die für ihre Zauberkunst benötigten Kräuter zu besorgen. In einem Gebet an die Elemente der Natur dankt sie diesen unter anderem für ihre Rolle bei der Gewinnung des Goldenen Vlieses, das dadurch nach Griechenland gelangen konnte (7,213 f. aurum / vindice decepto Graias misistis in urbes). Die Zauberkräuter sind jedoch nicht in der unmittelbaren Umgebung zu finden, sondern in verschiedenen Gegenden des Landes.120 Um sie einsammeln zu können, erscheint im Anschluss an Medeas Gebet gleichsam als deus ex machina ein geflügelter Schlangenwagen (7,219 aderat demissus ab aethere currus).121 Bei der Schilderung von Medeas Rückkehr wird noch einmal hervorgehoben, dass die magischen Rituale außerhalb des Hauses stattfinden müssen (7,238–240; vgl. 7,182): Constitit adveniens citra limenque foresque et tantum caelo tegitur refugitque viriles contactus. 

Bei ihrer Ankunft machte sie vor der Schwelle und der Tür Halt, war nur vom Himmel bedeckt und mied die Berührung von Männern.

118 Tarrant druckt statt locorum die Variante virorum. 119 Medea überschreitet die Grenzen weiblicher Normen, indem sie Reisen unternimmt, wie es traditionsgemäß männliche epische Helden tun; vgl. Salzman-Mitchell (2005, 104– 108). 120 Beispielsweise kommt Medea auf ihrer Luftreise in die Stadt Anthedon (7,232 f. carp­ sit et Euboica vivax Anthedone gramen, / nondum mutato vulgatum corpore Glauci); diese Station nutzt Ovid, um auf die im trojanisch-römischen Zyklus erzählte Sage von Glaucus (13,898–14,74) vorauszuweisen; vgl. Bach (2020, 205). 121 Diese erste Fahrt mit dem Schlangenwagen stellt eine bedeutende Veränderung gegenüber dem wichtigsten Referenztext, der Medea des Euripides, dar, wo dieser erst am Ende des Stückes bei Medeas Flucht aus Korinth zum Einsatz kommt (Eur. Med. 1317–1322); vgl. Pausch (2016, 280 f.). Ähnlich wird später die Ankunft des Theseus geschildert (Ov. met. 7,404 Iamque aderat Theseus).

Medea flieht nach Athen

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Die durch Zauberkräfte bewirkten Wunder erfolgen also außerhalb des zivilen bzw. häuslichen Bereichs. Die Macht Medeas dringt an dieser Stelle noch nicht in das Allerinnerste eines griechischen Königreiches, hier desjenigen Aesons, vor.

Medea mordet in Iolcos (7,297–349) In der Passage über die Ermordung des Pelias hingegen weitet sich Medeas Einflussbereich auf das Innere eines Königspalastes aus. Nachdem sie die drei Töchter des Pelias durch die Verjüngung eines Widders von ihren Zauberkünsten überzeugt hat,122 wird sie von ihnen in das Gemach ihres Vaters geleitet (7,331 intrarant iussae cum Colchide limina natae) und vollzieht gemeinsam den grausamen Mord (7,348 f. cum verbis guttura Colchis / abstulit). Als durch den Tod des Pelias ihre Täuschung offenbar wird, flüchtet Medea mit dem schon vorher verwendeten Schlangenwagen aus Iolcos (7,350 Quod nisi pennatis serpentibus isset in auras).

Medea flieht nach Korinth (7,350–393) Auf ihrer Flugreise gelangt Medea durch zahlreiche Orte und Gegenden Griechenlands, die in einem umfangreichen Katalog aufgezählt werden. Wie Pausch (2016) herausarbeitet, reflektieren die Orte, die Medea auf ihrer Route sieht, die Entwicklung ihres Charakters und bereiten somit den späteren Kindermord in Korinth vor, d. h., Ovid verwendet die charakterisierende Funktion des Raumes.123 Unter den Etappen von Medeas Flucht befinden sich auch einige Städte, die zusammen mit den mit ihnen verbundenen Mythen – teils wiederum in anachronistisch erscheinender Weise124 – aufgezählt werden.125 Der Katalog endet 122 Indem Medea ein ausdrücklich als ›thessalisch‹ bezeichnetes Instrument verwendet (7,314 f. Haemonio marcentia guttura cultro / fodit), vermengt sie in ähnlicher Weise die in ihrer Heimat gelernten Künste mit den Materialien ihres Gastlandes, wie die in Thrakien eingesperrte Philomela die Geschichte ihrer Vergewaltigung auf einem ›barbarischen‹ Webstuhl festhält (6,576 barbarica … tela; vgl. Kap. 4.4). 123 Zudem stellen die zahlreichen in dem Katalog behandelten Flug- und Fluchtmythen Vorverweise auf Medeas spätere Flucht mit dem Schlangenwagen dar; vgl. 7,354–356 (Cerambus’ Flucht vor der Deucalionischen Flut); 7,379 (Verwandlung des Cygnus in einen Schwan); 7,382 f. (Flucht der Combe vor dem Anschlag ihrer Söhne); 7,385 (Verwandlung des Königspaars von Calaurea in Vögel); 7,390 (Verwandlung von Eumelus’ Sohn in einen Vogel). – Die Feststellung von Glenn (1986, 91), Medea sehe vor allem unbedeutende Orte statt großer Städte, stellt indes keine nützliche Deutung dar. 124 Vgl. z. B. 7,368–370 transit et antiquae Cartheia moenia Ceae, / qua pater Alcidamas placidam de corpore natae / miraturus erat nasci potuisse columbam. Vgl. Kenney (2011, z. St.); Geitner (2021, 180 mit Fn. 54). 125 Ein Musterbeispiel für eine Analepse fügt Ovid gleich zu Beginn des Katalogs ein, als er explizit von der durch die Deucalionische Flut bekannten Gegend spricht (7,353 eventu

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mit der Ankunft Medeas in Korinth (7,391 f. tandem vipereis Ephyren Pirenida pennis / contigit), das Ovid hier als Ephyre bezeichnet.126 Diese Verwendung des alten Stadtnamens steht im Einklang mit dem Verweis auf die Entstehung von Menschen aus Pilzen, die der Dichter explizit in ferner Vergangenheit verortet (7,392 f. hic aevo veteres mortalia primo / corpora vulgarunt pluvialibus edita fungis).

Medea flieht von Korinth nach Athen (7,394–452) Korinth wird in Ovids Erzählung nur für einen kurzen Augenblick zum Handlungsort. Der Dichter stellt die dort lokalisierten, den antiken Lesern vertrauten Ereignisse in maximal verdichteter Form dar und fasst damit den Inhalt der euripideischen Medea-Tragödie in gerade einmal vier Versen zusammen (7,394–397):127 Sed postquam Colchis arsit nova nupta venenis flagrantemque domum regis mare vidit utrumque,  sanguine natorum perfunditur impius ensis, ultaque se male mater Iasonis effugit arma.

Aber nachdem die Frischvermählte an den colchischen Giften verbrannt ist und die beiden Meere das Haus des Königs haben brennen sehen, benetzt sich das ruchlose Schwert mit dem Blut der Söhne, und als sie sich auf furchtbare Weise gerächt hat, flieht die Mutter vor den Waffen des Jason.

Nachdem Medea Jasons neue Frau Glauce sowie seine zwei Kinder ermordet hat (keine dieser Figuren wird von Ovid namentlich erwähnt), wechselt der Handlungsort durch Medeas Flucht schlagartig von Korinth nach Athen (7,398 f. hinc veteris loca nota Cerambi; vgl. Kap. 2.2), doch weil Ovid diese Sage bei der Behandlung der Deucalionischen Flut nicht schildert, handelt es sich um eine externe Analepse. Der Katalog der Reiseroute liefert auch zumindest einen Vorverweis auf den trojanischen Sagenkreis, indem vom Grab des Paris die Rede ist (7,361 quaque pater Corythi parva tumulatus harena est); vgl. Schubert (1989, 179 f.); Kenney (2011, z. St.). Auch hierbei handelt es sich um eine chronologisch problematische Stelle, da die eigentliche Schilderung der trojanischen Sagen erst in der dritten Buchpentade erfolgt. Im nachfolgenden Vers (7,362 quos Maera novo latratu terruit agros) ist möglicherweise von der Verwandlung der Trojanerin Hecuba die Rede (13,399–575; 13,406 novo latratu terruit auras; vgl. Kap. 5.6), jedoch ist die Identifikation von Maera umstritten; vgl. Kenney (2011, zu 7,362); Pausch (2016, 295). 126 Vgl. 2,240 (geographischer Katalog in der Phaethon-Geschichte). 127 Vgl. Paschalis (2015, 413). In ähnlicher Weise komprimiert Ovid die Ereignisse in Karthago innerhalb seiner ›Kleinen Aeneis‹ auf vier Verse (14,78–81; vgl. Kap. 6.1). Das Beispiel Korinth zeigt, dass die ovidische Technik der Verkürzung von Ereignissen, die durch berühmte literarische Vorgänger bekannt waren, kein Phänomen ist, das nur speziell in Bezug auf seinen Umgang mit Vergil oder seinen weiteren epischen Vorläufern zu beobachten ist; vgl. Kap. 7.4.2. – Das Brennen des Königspalastes findet sich nicht bei Euripides, sodass Bömer (1976, zu 7,395) vermutet, dieses Motiv könnte Ovid aus seiner eigenen Medea übernommen haben.

Medea flieht nach Athen

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Titaniacis ablata draconibus intrat / Palladias arces).128 Ohne große Umschweife konstatiert Ovid (nach der Erwähnung von Medeas Heirat mit König Aegeus) die Rückkehr von Aegeus’ Sohn Theseus an seinen Geburtsort (7,404 Iamque aderat Theseus),129 ohne auf dessen bis dahin geleistete Heldentaten einzugehen. Diese in Vers 7,405 nur angedeuteten Taten werden später in einem Katalog aufgezählt (7,431–450). Stattdessen schildert Ovid hier sogleich Medeas Giftmordanschlag auf Theseus (7,406–424). Dabei evoziert er Medeas Heimat Skythien als Hintergrundraum, indem er diese Gegend als Herkunftsort des verwendeten Giftes benennt (7,406 f. quod olim / attulerat secum Scythicis aconiton ab oris).130 Damit wird einmal mehr im Sinne der symbolischen Funktion des Raumes ein Gegensatz zwischen dem zivilisierten, unschuldigen Athen und dem barbarischen, frevlerischen Osten konstruiert. Aegeus kann Medeas List jedoch aufdecken und seinen Sohn vor dem Tod retten: Im letzten Moment erkennt er, dass nicht Theseus, sondern Medea eine Bedrohung aus der Fremde darstellt (7,420 ipse parens ­Aegeus nato porrexit ut hosti; 7,422 f. pater in capulo gladii cognovit eburno / signa sui generis). Diese aber kann wiederum entfliehen (7,424 effugit) – ob auf dem Schlangenwagen oder nicht, bleibt ungesagt.131 Aegeus und die Athener feiern daraufhin die Errettung des Theseus (7,425– 431; 7,430 f. nullus Erecthidis fertur celebratior illo / illuxisse dies).132 Das abgehaltene Dankesfest wird im Vergleich zu früheren Ereignissen der attischen Stadtgeschichte als einzigartig herausgestellt. Das Fest wird nicht nur von den unmittelbar am Geschehen beteiligten Personen begangen, sondern auch von den einfachen Bürgern. Diese feiern gemeinsam mit den patres und besingen die Heldentaten des Theseus, die in einem Katalog dargestellt werden (7,431–450; hier 7,431–433): agitant convivia patres et medium vulgus, nec non et carmina vino ingenium faciente canunt.

Die Patrizier und das einfache Volk feiern Gastmähler und singen auch Lieder, wobei der Wein ihnen das Talent dazu verleiht.

128 Zur Junktur Palladias arces (7,399) vgl. 7,723 Palladias … Athenas. Vgl. Giusti (2018, 124) zur literarischen ›Vernachlässigung‹ von Medeas Aufenthalt in Athen in den meisten antiken Bearbeitungen des Mythos. 129 Die Kürze dieses Ausdrucks spiegelt die unerwartete Ankunft des Theseus wider; vgl. Bömer (1976, z. St.); Kenney (2011, z. St.). Für eine ähnlich dargestellte Ankunft einer bedeutenden Figur vgl. den Moment von Bacchus’ Ankunft in Theben (3,528 Liber adest); Kap. 3.2. Zur Geschichte von Theseus’ Jugend vgl. Einleitung zu Kap. 4. 130 Durch die aitiologische Erzählung über die Entstehung des Giftes Akonit beim Unterweltsgang des Hercules (7,410–419) verweist Ovid auf die Unterweltsschilderung im vierten Buch, deren Ekphrasis er wie hier mit den Worten est via declivis einleitet (7,410 = 4,432); vgl. Kap. 3.4. 131 Vgl. Paschalis (2015, 233 f.). 132 Die Bezeichnung ›Erechthiden‹ wird hier zum ersten Mal in der lateinischen Literatur für die Bevölkerung Athens verwendet.

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Athen

Der Katalog enthält eine Reihe von Orten, an denen Theseus auf seinem Weg nach Athen heroische Taten vollbracht hat:133 Marathon (7,434), Cromyon (7,435), Epidaurus (7,436), Eleusis (7,439) und Megara (7,443). Insbesondere der Verweis auf die letztgenannte Stadt ist wichtig, da er eine interne Prolepse zur Scylla-Erzählung in Buch 8 darstellt (8,6–154; vgl. Kap. 4.6). Zugleich ist die Bezeichnung Megaras mit dem alten Namen Alcathoe aber auch eine externe Analepse, da sie auf den Gründerkönig Alcathous verweist.134 Der Katalog schließt mit der Darbringung von Gelübden für Theseus (7,449 f. pro te, fortissime, vota / publica suscipimus).135 Die Episode endet mit der Bemerkung, das ganze Volk stimme mit den Ehrungen für Theseus überein (7,451 f. consonat adsensu populi precibusque faventum / regia, nec tota tristis locus ullus in urbe est). Wiederum besteht Eintracht zwischen Herrschern und Untertanen, die Hochstimmung in der Stadt wird durch die Litotes betont, wonach kein Ort in ganz Athen von Traurigkeit erfüllt sei. Diese Formulierung erinnert an die Wahrnehmung Athens durch Invidia in der Erzählung von Mercur und Herse (2,708–832; vgl. Kap. 4.1), als die Göttin der Missgunst von Minerva in ihre Stadt gesandt wird (2,794–796): Tritonida conspicit arcem Und schließlich erblickt sie die Burg der ingeniis opibusque et festa pace virentem,  Tritonis, die durch ihre Begabungen, vixque tenet lacrimas, quia nil lacrimabile cernit. ihren Reichtum und ihren festlichen Frieden in Blüte steht, und kaum vermag sie ihr Weinen zurückzuhalten, da sie nichts Beweinenswertes sieht.

Durch das Motiv der uneingeschränkten Fröhlichkeit verbindet Ovid die erste und die letzte in Athen spielende Episode ringkompositorisch. 133 Vgl. Bach (2020, 181) zur Verbindung zwischen dem Thema ›Reise‹ und dem Heldenstatus von Figuren. 134 Vgl. Bömer (1976, zu 7,443); Paus. 1,41,3–42,2. Interessant ist ebenso die Verbindung mit dem Sciron-Mythos: Dessen Gebeine werden ebenso die Sphären von Land und Wasser verweigert wie der Verräterin Scylla durch König Minos (Ov. met. 7,444 f. sparsisque latronis / terra negat sedem, sedem negat ossibus unda ~ 8,98 tellusque tibi pontusque negetur). Eine weitere Verbindung besteht zwischen der Verwandlung des Sciron in einen Felsen und der Gründungslegende von Megara mit dem in der Stadtmauer haftenden Klang von Apollos Leier (7,447 scopulis nomen Scironis inhaeret ~ 8,16 saxo sonus eius inhaesit). Ähnlich wie in der Megara-Geschichte fällt auch hier Ovids gesuchte Verwendung von alexandrinischen Fußnoten auf (7,430 f. nullus Erecthidis fertur celebratior illo / illuxisse dies ~ 7,446 f. quae iactata diu fertur durasse vetustas / in scopulos ~ 8,15 f. in quibus auratam proles Letoia fertur / deposuisse lyram; vgl. Kap. 4.6); vgl. Rosati (2002, 303) zu alexandrinischen Fußnoten als Kennzeichen für die Unzuverlässigkeit des Erzählers. 135 Die Verwendung der Formel vota suscipere aus dem römischen Sakralrecht lässt sich als Aktualisierung im Hinblick auf die Lebenswelt von Ovids zeitgenössischen Lesern bezeichnen.

Medea flieht nach Athen

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4.5.2 Fazit In Ovids etwa 450 Verse umfassendem Medea-Zyklus kommt die Stadt Athen erst ganz am Ende, d. h. in den letzten ca. 50 Versen, als Schauplatz zur Geltung. Sie wird jedoch kaum im Sinne des Anschauungsraums dargestellt. Der einzige genannte Ort der Stadt ist zunächst die Akropolis (7,399 Palladias arces), am Ende der Geschichte auch der Palast von König Erechtheus (7,452 regia). Für das zwischenzeitlich gefeierte Freudenfest ist die gesamte Stadt Schauplatz des Geschehens (tota … in urbe). Der Kern der Geschichte aber präsentiert die außerhalb Athens gelegenen Orte von Theseus’ Taten als Hintergrundräume, mit denen er den heroischen Status erlangt hat, mit dem er in Athen wahrgenommen wird.136 Von der Ankunft des Theseus ist Athen auch im Sinne des Aktionsraums geprägt. Dieses Eintreffen steht pointiert am Anfang des Abschnitts (7,404 Iamque aderat Theseus) und stellt die einzige entscheidende Bewegung einer Figur in dieser Passage dar: Sie ist Auslöser für Medeas Mordversuch sowie für das Dankesfest der athenischen Bevölkerung nach seiner Rettung. Alle anderen Bewegungen stehen im Zusammenhang mit Theseus’ Heldentaten: Durch sie hat Theseus den Bewohnern der von ihm befreiten Orte und Gebiete erst wieder ihre Bewegungsfreiheit zurückgegeben, die zuvor durch verschiedenste Bedrohungen eingeschränkt war.137 Im Sinne des gestimmten Raumes wird in dieser Geschichte die Eintracht der verschiedenen Bevölkerungsschichten hervorgehoben: Adlige und einfaches Volk feiern die Rettung des Theseus und damit einhergehend die Bewahrung der Stadt (7,431 f. agitant convivia patres / et medium vulgus). Das Besingen der heroischen Taten trägt zur Identitätsstiftung der Athener bei.138 Theseus sorgt für das Wohlergehen und die Prosperität der gesamten Stadt, die dadurch in einem ebenso blühenden Zustand verbleibt, wie sie in der ersten Athen-Episode in Buch 2 geschildert wird.

136 Pausch (2016, 300) stellt dar, wie das Aufrufen von bestimmten Orten und mit diesen im literarischen oder lebensweltlichen Gedächtnis verbundenen Geschichten zur Evokation eines ›Assoziationsraums‹ dient. 137 Vgl. 7,435 f. quodque suis securus arat Cromyona colonus / munus opusque tuum est; 7,443 f. tutus ad Alcathoen, Lelegeia moenia, limes / composito Scirone patet. 138 Eine ähnliche Selbstvergewisserung findet sich im achten Buch von Statius’ Thebais, wo die Thebaner während einer nächtlichen Kampfpause an die Ursprünge der Stadt erinnern (Stat. Theb. 8,227 f. nunc facta revolvunt / maiorum veteresque canunt ab origine Thebas).

146

Athen

4.6  Scylla verrät Megara (8,6–154) Die Scylla-Erzählung stellt den Auftakt der zwar außerhalb Athens spielenden, aber unter anderem durch genealogische Beziehungen mit dieser Stadt verbundenen Sagen des zentralen Buches der Metamorphosen dar.139 Nach dem kurzen Epilog zur Aegina-Episode (8,1–5) folgen auf die hier betrachtete Geschichte, die mit der Rückkehr des Minos in seine Heimat Kreta endet, die ebenfalls dort lokalisierten Erzählungen von Theseus’ Sieg über den Minotaurus (8,155–182) sowie von der Flucht des Daedalus und Icarus (8,183–235).140 Die Scylla-Episode lässt sich wie folgt gliedern: Eine kurze Einleitung berichtet vom Stellvertreterkrieg, den der kretische König Minos aus Rache für die Ermordung seines Sohnes Androgeos durch die ihm bei den Panathenäen unterlegenen Athener gegen die Stadt Megara führt,141 und von der purpurfarbenen Locke von dessen König Nisus,142 die den Bestand der Stadt sichert. In einer Mauerschau wird dargestellt, wie Scylla auf das Kriegsgeschehen blickt (8,6–22). Der nächste Abschnitt schildert, wie die Protagonistin sich in den feindlichen Heerführer verliebt und die Argumente für und wider einen Verrat an ihrem Vater abwägt, um Minos’ Liebe zu gewinnen (8,23–80). Im Hauptteil der Geschichte trifft Scylla bei Nacht den Entschluss zur Tat, läuft zu Minos über, wird aber von diesem zurückgewiesen (8,81–107). Scylla verflucht den König, der sich nach der Eroberung Megaras wieder in seine Heimat begibt (8,108–142), und wird schließlich ebenso wie ihr Vater in einen Vogel verwandelt (8,142–154). Die nachfolgende Analyse zeigt unter anderem, wie Ovid in innovativer Weise eine Teichoskopie einsetzt, um die charakterliche und psychologische Entwicklung seiner Protagonistin darzustellen.

139 Dieses Kapitel beruht auf einem früheren Aufsatz, in dem ich gezeigt habe, wie sich Ovids Megara-Erzählung durch eine Vielfalt an intra- und intertextuellen Bezügen zu Darstellungen über Theben und Troja als ›turning point‹ zwischen der Entstehung und dem Untergang großer Städte in den Metamorphosen interpretieren lässt (namentlich in Bezug auf die Schilderung der Gründung Thebens in Buch 3 sowie des Falls von Troja in Buch 13): vgl. Behm (2018). 140 Nach der anschließenden Perdix-Episode (8,236–259) nehmen den größten Teil des achten Buches die in Calydon angesiedelten Erzählungen ein, vor allem die Eberjagd unter der Beteiligung des athenischen Helden Theseus (8,260–884). 141 Vgl. Roscher, »Androgeos« zu abweichenden Versionen über den Tod dieser mythischen Figur. 142 Nisus ist ein Bruder des athenischen Königs Aegeus.

Scylla verrät Megara

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4.6.1 Analyse Die Teichoskopie (8,6–22) In der einleitenden Passage schildert Ovid, wie das kretische Heer unter der Führung des Minos die Stadt Megara angreift, die durch das magische Haar ihres Königs Nisus geschützt wird (8,6–10): Interea Minos Lelegeia litora vastat praetemptatque sui vires Mavortis in urbe Alcathoi, quam Nisus habet, cui splendidus ostro inter honoratos medioque in vertice canos crinis inhaerebat, magni fiducia regni. 

Inzwischen verwüstet Minos die Küsten der Leleger und verausgabt seine Kriegsmacht in der Stadt des Alcathous, die Nisus beherrscht, der unter den ehrwürdigen grauen Haaren mitten auf seinem Scheitel eine von Purpur glänzende Locke hatte, das Unterpfand seines mächtigen Reiches.

Indem er die Stadt dabei mit ihrem ursprünglichen Namen Alcathoe nennt,143 verweist Ovid bereits indirekt auf ihre Gründung. Dasselbe geschieht in der nachfolgenden, durch eine Variation der typischen Formel locus est eingeleiteten Ekphrasis, in der er die Königsburg und die Stadtmauer von Megara beschreibt (8,14–16):144 regia turris erat vocalibus addita muris, in quibus auratam proles Letoia fertur  deposuisse lyram; saxo sonus eius inhaesit.

Ein königlicher Turm war den klingenden Mauern hinzugefügt worden, auf dem der Sohn der Latona [Apollo] seine goldene Leier abgelegt haben soll; ihr Klang blieb im Fels haften.

Mit dieser Beschreibung sind die Stadtmauern als wesentliches Element der urbanen Topographie gegeben.145 Im Stile einer alexandrinischen Fußnote (fertur) verweist Ovid auf das Aition über die Gründung der Stadt, wonach der Gott Apollo mit dem Spiel seiner Leier die Mauern zusammengefügt habe und deren Nachhall dem Fels anhaftete.146 Scyllas Steinwürfe gegen die Mauer zur 143 Alcathous war der Sohn des Pelops und Vorgänger des Nisus als König von Megara. Zu Alcathous als Stadtgründer von Megara vgl. Ov. ars 2,421; Ov. met. 7,443 (Alcathoe als alternativer Name zu Megara); Ov. trist. 1,10,39 f. – Bei den Lelegern handelt es sich um einen Volksstamm, der in der Gegend von Megara gelebt haben soll. 144 Im vorangehenden Vers (8,13 inter utrumque volat dubiis Victoria pennis) wird durch das Hin- und Herfliegen der Göttin Victoria bereits der Grundkonflikt zwischen Treue zur Heimat und Überlaufen zum Feind zwischen beiden Kriegsparteien räumlich antizipiert; vgl. Anderson (1972, zu 8,12 f.). Zur Überlieferung von eius inhaesit vgl. Hollis (1970, zu 8,16). 145 Erst später wird diese durch die mehrfache Nennung der Stadttore ergänzt (8,41 portas; 8,69 f. aditus … / … portarum; 8,87 porta). Anderson (1972, zu 8,17) bezeichnet den Schauplatz als »romantic setting«, Stein (2004, 86 f.) als »liebevoll beschriebene ›Turm-Szenerie‹«. 146 Vgl. Hinds (1998, 5–8); Miller (2009, 298–331) zur ›musischen‹ Funktion von Apollo in der augusteischen Dichtung (jedoch ohne Berücksichtigung der hier besprochenen Episode).

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­Reproduktion von Apollos Leierspiel (8,15 f.) stellen somit eine externe Analepse dar.147 In den folgenden Versen wird das unterschiedliche Handeln der Hauptfigur in der zurückliegenden Friedenszeit und während des gegenwärtigen Krieges beschrieben (8,17–20): saepe illuc solita est ascendere filia Nisi et petere exiguo resonantia saxa lapillo, tum cum pax esset; bello quoque saepe solebat spectare ex illa rigidi certamina Martis. 

Oft stieg die Tochter des Nisus dorthin hinauf und warf mit einem kleinen Steinchen gegen die widerhallenden Felsen, damals, als Frieden herrschte; auch im Kriege schaute sie häufig von ihr herunter auf die Kämpfe des grausamen Mars.

Diese Teichoskopie148 schildert, wie Scylla in der Vergangenheit lediglich deshalb die Mauern bestieg, um mit dem Wurf von Steinchen den Klang der Leier hervorzurufen, nun aber zu dem Zweck, das Kriegsgeschehen zu beobachten.149

Scyllas Entscheidungsmonolog (8,23–80) Der zweite Hauptabschnitt der Erzählung handelt zunächst ausführlich davon, wie Scylla sich in den attraktiven kretischen Heerführer Minos verliebt (8,23–42). Die Bewunderung seiner Schönheit gipfelt darin, dass Scylla mehrere Möglichkeiten überdenkt, um sich mit dem geliebten Feind vereinen zu können (8,38–42): impetus est illi, liceat modo, ferre per agmen virgineos hostile gradus, est impetus illi turribus e summis in Cnosia mittere corpus  castra vel aeratas hosti recludere portas, vel si quid Minos aliud velit.

Es treibt sie dazu, wenn es nur erlaubt wäre, ihre jungfräulichen Schritte durch das feindliche Heer zu lenken, es treibt sie dazu, von der Spitze der Türme ihren Leib in das kretische Heerlager zu werfen oder dem Feind die erzbeschlagenen Tore aufzuschließen oder was auch immer Minos anderes wollen könnte.

Eine Besonderheit der Verwendung des Adjektivs vocalis in Bezug auf eine Stadtmauer liegt auch darin, dass man eher eine visuelle oder materielle Eigenschaft erwarten würde wie etwa bei der Beschreibung von Babylon (4,58 coctilibus muris); vgl. Bömer (1977, zu 8,14); OLD, »resonans«; »resono« 3; »vocalis« 1c. Anstelle von vocalibus hat der Kodex W (Vaticanus 5859, anno 1275) indes resonantibus (von zweiter Hand), vermutlich beeinflusst von resonantia (8,18). 147 Für die Bezüge der Gründung Megaras zur thebanischen Sage um Amphion vgl. Behm (2018, 78 f.). 148 Vgl. Fucecchi (2019, 213–216) zu Scyllas Mauerschau bei Ovid als Rückkehr dieser Bauform ins Epos nach ihrer zwischenzeitlichen Verwendung in anderen Gattungen. 149 Vgl. Stein (2004, 93–102) zu Megara als gedanklichem Bezugssystem in Scyllas Monolog. Durch die Verwendung von petere (8,18) wird bereits der spätere Angriff auf die Mauern von Megara präfiguriert. – Das bisher von allen Kommentatoren unbeobachtete Vergil-Zitat resonantia saxa (Ov. met. 8,18 ~ Verg. Aen. 3,432) wurde von Cowan (2017) erstmals auf seine metapoetische Bedeutung hin ausgewertet.

Scylla verrät Megara

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Scylla erwägt eine Bewegung in zweierlei Richtung, um ein Zusammenkommen mit Minos zu erreichen: Entweder muss sie selbst die Stadt verlassen (ferre per agmen / … hostile gradus; in Cnosia mittere corpus / castra) oder Minos muss diese militärisch erobern (aeratas hosti recludere portas).150 Im folgenden Selbstgespräch, das nach dem Muster eines dramatischen Entscheidungsmonologs verläuft,151 wägt Scylla die Argumente für (8,61 f. cur suus haec illi reseret mea moenia Mavors / et non noster amor?) und wider einen Verrat an ihrer Heimatstadt ab (8,54 tantum patrias ne posceret arces!). Auch der Monolog findet auf der Mauer statt (8,42 f. Utque sedebat / … spectans).152 Im vollen Bewusstsein der Konsequenzen für ihre Heimat entscheidet sie sich, ihre Vaterstadt gleichsam als Mitgift an Minos auszuliefern (8,67 f. stat sententia tradere mecum / dotalem patriam finemque imponere bello).153 Das einzige Hindernis, das Scyllas Entschluss noch entgegensteht, sind die Stadtmauern, die ihr Vater sowohl metaphorisch (durch den Besitz des schützenden Haars) als auch physisch in seiner Gewalt hat (8,69 f. aditus custodia servat / claustraque portarum genitor tenet).154

Die entscheidende Begegnung (8,81–107) Während Nisus zunächst noch die Schlüsselgewalt über die Stadttore innehat und sein magisches Haar den Bestand von Megara sichert, scheinen die Verteidigungsanlagen bereits in dem Moment schwächer zu werden, als diese fiducia auf die Königstochter übergeht (vgl. 8,88).155 Die entscheidenden Handlungen, d. h. der Raub des magischen Haares sowie der Übertritt ins Gebiet des Feindes, werden inhaltlich und räumlich in kürzestmöglicher Form erzählt (8,84–89):156

150 Ein derartiges räumliches Eindringen ließe sich metaphorisch mit einer sexuellen Vereinigung gleichsetzen; vgl. Larmour (1990, 139 f.) für weitere Elemente mit sexueller Symbolik in der Scylla-Erzählung; Salzman-Mitchell (2005, 110 f.); Lovatt (2013, 233 f.). 151 Zu Scyllas Monolog sowie zu Entscheidungsmonologen von Frauenfiguren in den Metamorphosen vgl. Bömer (1977, 15–17); Auhagen (1999, 123–161); Paschalis (2015, 41; 408). 152 Scyllas Wunsch, durch die Luft ins Lager der Kreter zu gelangen, stellt eine räumliche Präfiguration ihrer späteren Verwandlung in einen Vogel dar (8,51 f. si pennis lapsa per auras / Cnosiaci possem castris insistere regis); vgl. Anderson (1972, z. St.); Stein (2004, 96). 153 Vgl. 8,130 scelus hoc patriaeque patrique est. 154 Vgl. 8,10 magni fiducia regni. – Tarrant (1995, 71) erläutert, wie rhetorische Sprache (nicht nur hier) zum Sieg einer Begierde über pietas führt. 155 Vgl. Anderson (1972 zu 8,10 und 8,88: »ironically echoes fiducia in 10«). 156 Der Vers 8,87 fehlt in einigen Handschriften und wird daher seit Heinsius von einem Teil der Herausgeber athetiert, so auch von Tarrant, nicht aber von Anderson; vgl. Luck (1969, 67); Anderson (1972, z. St.); Tarrant (2016, 91).

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thalamos taciturna paternos intrat et (heu facinus!) fatali nata parentem  crine suum spoliat praedaque potita nefanda [fert secum spolium sceleris progressaque porta] per medios hostes (meriti fiducia tanta est) pervenit ad regem.

Schweigend betritt sie das väterliche Schlafgemach und – oh, welch Untat! – raubt die Tochter dem Vater das schick­ salsträchtige Haar, und nachdem sie sich dieser ruchlosen Beute bemächtigt hat […], gelangt sie mitten durch die Feinde (so groß ist das Vertrauen auf ihr Ver­ dienst) zum König.

Genauso verkürzt wie das Überlaufen ins feindliche Lager wird auch der militärische Ausgang des Krieges dargestellt (8,101 f. leges captis iustissimus auctor / hostibus imposuit).157 Minos, der sich den Sieg nicht entgehen lässt, weist Scyllas unmoralisches Angebot zurück und verlässt schnellstmöglich den Kriegsschauplatz, um in seine Heimat zurückzukehren (8,102 f.).158

Die Metamorphose (8,108–154) Als Scylla erkennen muss, dass ihr Plan, Megara zugunsten von Minos’ Liebe aufzugeben, gescheitert ist, stößt sie wüste Beschimpfungen und verzweifelte Anklagen gegen diesen aus. Sie fühlt sich ungerecht behandelt, da er ihr nicht die verdiente Belohnung für ihr ›Opfer‹ hat zukommen lassen (8,108 f. »quo fugis« exclamat »meritorum auctore relicta, / o patriae praelate meae, praelate parenti?«). Scylla argumentiert mit der Ausweglosigkeit, die sich auch in räumlicher Dimension zeigt: Nach dem Überlaufen zum Feind kann sie weder in ihre Vaterstadt zurückkehren noch wird sie von Minos in dessen Heimat mitgenommen (8,113–115): »nam quo deserta revertar? in patriam? superata iacet! sed finge manere: proditione mea clausa est mihi!«

»Denn wohin soll ich Verlassene zu­ rückkehren? In meine Heimatstadt? Sie liegt besiegt darnieder! Aber stelle dir einmal vor, sie stehe noch: Durch meinen Verrat ist sie mir doch verschlossen!«

Insbesondere hebt Scylla in ihrer Wutrede noch einmal die entscheidende Bedeutung der Stadtmauern durch eine Apostrophe hervor (8,126 f. gaudete malis

157 Zu Augustus als iustissimus auctor vgl. 15,833; Gladhill (2012, 33 f.; 38); Kap. 6.8. Sharrock (2019, 283) spricht passend von einem »non-account of the fall of Megara«. Für die Bezüge des Untergangs von Megara zum Fall von Troja vgl. Behm (2018, 81–86). 158 Die Weigerung des Minos, das ›Ungeheuer‹ Scylla in seine Heimat Kreta zu lassen, welche auch als Heimstatt des höchsten Gottes Jupiter gilt (8,99 f. certe ego non patiar Iovis incunabula, Creten, / qui meus est orbis, tantum contingere monstrum), entbehrt nicht einer gewissen Ironie, lebt doch dort mit dem Minotaurus genau solch ein tatsächliches monstrum, als das er hier Scylla bezeichnet.

Scylla verrät Megara

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modo prodita nostris / moenia!).159 Die Protagonistin erkennt auch im Rückblick die entscheidende Rolle dieses Ortes für ihr Handeln, so wie sie dies bereits vor dem Verrat getan hatte (vgl. 8,61). Nach Minos’ Abfahrt werden Scylla und ihr Vater in Vögel verwandelt: Als Scylla versucht, das sich entfernende Schiff160 des kretischen Heerführers durch einen Sprung von der Meeresklippe einzuholen, wird sie entsprechend ihrem anfangs geäußerten Wunsch, durch die Luft zu Minos zu gelangen (vgl. 8,39 f.), zu einem Seevogel, der Ciris.161

4.6.2 Fazit Die visuelle Darstellung des Schauplatzes tritt anfangs (bis 8,19) hinter diejenige einer Geräuschkulisse zurück; Ovids Ekphrasis von Megara ist insgesamt eher skizzenhaft und nennt mit dem klingenden Felsen nur ein einziges Detail (8,14–16). Der Handlungsort lässt sich schematisch in drei aneinander angrenzende Zonen gliedern, welche die grundlegende Topographie der Ilias widerspiegeln:162 Hauptschauplatz der Episode ist die Stadt Megara mit ihren Mauern; davor befindet sich eine Ebene, auf der sich der Kampf mit den kretischen Angreifern abspielt; hinter deren Lager schließlich befinden sich die Küste und das Meer. Die Wahrnehmung dieser verschiedenen Raumbereiche im Sinne des Anschauungsraums ist auf die Protagonistin Scylla zugeschnitten: Diese nimmt die Topographie vom Turm aus mit ihren eigenen Augen wahr (Ov. met. 8,17–20), während ihres Monologs dann aber eher gedanklich (8,23–80). Die Stadtmauer von Megara erfüllt eine wichtige thematische Funktion. Sie fungiert zugleich als Handlungsort, als Ausgangspunkt für ein Aition über die Ursprünge der Stadt und zuletzt auch als Grenze zwischen zwei räumlichen Teilbereichen (erst am Ende der Episode erweitert sich der Schauplatz hin zum Strand, der außerdem durch das Meer, also eine weitere Grenze, von Kreta als Hintergrundraum getrennt ist). Die tatsächlich von den beiden Hauptfiguren ausgeführten sowie die nur intendierten Grenzüberschreitungen unterstreichen die Bedeutung des Aktionsraums:163 Während es Minos gelingt, das Meer zwi-

159 Vgl. die Ansprache an die Hauswand in der Episode von Pyramus und Thisbe (4,73 invide … paries). 160 Vgl. Ripoll (2019, 111–114; bes. 113) zum Motiv der »disappearing vision« und zur subjektiven Fokalisierung durch Scylla an dieser Stelle (8,139 mecumque simul mea terra recedit). 161 Wie Stein (2004, 109) feststellt, erfüllt sich mit der Verwandlung in einen Vogel der Fluch des Minos, dass weder Wasser noch Land Scylla aufnehmen sollten (8,98). 162 Vgl. Behm (2018, 82); Einleitung zu Kap. 5. 163 Vgl. Fucecchi (2019, 215; 231 f.) zu Scyllas Handlung als Überschreitung der Grenzen, die der Protagonistin einer Mauerschau bis dahin durch die epische Tradition gegeben sind.

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schen Kreta und Megara in beide Richtungen zu durchqueren, bleibt Scylla dies versagt. Bis zu ihrer Verwandlung verbleibt die Protagonistin verloren im Niemandsland des Strandes, also in einer weiteren liminalen Zone, von der aus sie wiederum nur einseitig mit Minos kommunizieren kann (8,104–142).164 Beide Aufenthaltsorte Scyllas (Mauer und Strand) verdeutlichen, dass sie keinem üblichen Lebensbereich angehört, ebenso wie die Tatsache, dass sie in ein Wesen verwandelt wird, das in der Luft und somit in keiner menschlichen Sphäre lebt. Nicht minder wichtig als die Sicherheit der Mauern ist im Hinblick auf den gestimmten Raum auch ihre musikalische Eigenschaft. Ovid arbeitet hier mit der psychologischen Funktion des Raumes, um die erste, innere Verwandlung der Scylla vom Mädchen zur Frau darzustellen. Auf der reinen Textebene ist das Hervorrufen des Leierklangs für Scylla ein kindliches Spiel (8,17–19). Das Ende dieser ›akustischen‹ Mauerschau bedeutet aber auch einen Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dies zeigt sich nicht nur im Gegensatz von Frieden und Krieg in bzw. um Megara, sondern auch im Wechsel vom Hören zum Sehen bei Scyllas Teichoskopie (8,19 f.). Die Verlagerung des vorherrschenden Sinneskanals der Raumwahrnehmung illustriert Scyllas Übergang von der Unschuld der Kindheit zum Erwachsenenalter,165 indem sie durch Verrat an ihrer Heimatstadt zur Verbrecherin wird und dafür mit der Verwandlung in ein Tier bestraft wird.

4.7  Schlussfolgerungen: Athen als literarische Landschaft Von Albrecht (2003, 132; 139) betont die zentrale Rolle, die Athen für die zweite Buchpentade der Metamorphosen spielt.166 Wenngleich die Darstellung der Gründung bzw. der Namensgebung der Stadt als Auftakt des sechsten Buches (6,70–82) eine Identifikation des zweiten Werkdrittels mit dem attischen Sagenkreis zunächst nahelegt, lässt sich leicht erkennen, wie problematisch diese These ist. Wie wir gesehen haben, befinden sich bereits in der ersten Buchpentade Stoffe mit ›athenischem‹ Inhalt, die in der mythischen Chronologie allerdings bereits vor dem Zeitpunkt der Benennung Athens nach dem Namen der Stadtgöttin anzusiedeln sind. Je weiter die Erzählung dann vom sechsten bis zum zehnten Buch fortschreitet, desto schwächer scheint die Verbindung zum Schauplatz Athen zu werden. Handeln die Sagen von Tereus, Procne und Philomela sowie von Medea zumindest teilweise in Athen, so nimmt die Präsenz der Stadt als Schauplatz anschließend kontinuierlich ab und ist schließlich in Buch 10, mit 164 Vgl. Stein (2004, 108); Salzman-Mitchell (2005, 110 f.). 165 Vgl. Stein (2004, 88–91); Cowan (2017, 24 f.). 166 Vorsichtiger äußert sich Schmitzer (2011, 110): »Die folgenden Sagen sind durch Athen als geographisches Bindeglied lose miteinander verknüpft.«

Schlussfolgerungen: Athen als literarische Landschaft

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dem der athenische Sagenkreis gemäß der These der pentadischen Gliederung schließen müsste, überhaupt nicht mehr erkennbar. Noch mehr als die thebanischen Sagen durch Cadmus stehen die Sagen in den ersten Büchern der mittleren Pentade durch den Helden Theseus in Beziehung zueinander, sodass man statt von einer ovidischen ›Atthis‹ eher von einer ›Theseis‹ sprechen könnte, um somit die Bedeutung der genealogischen Komponente für den Zusammenhalt der dort erzählten Sagen hervorzuheben.167 Hinsichtlich der Einordnung der als attisch zu klassifizierenden Mythen in die vorgebrachten Gliederungsvorschläge für die Metamorphosen ist ebenso wie im Fall Thebens daher auch hier der These einer ›symphonischen‹ Struktur von Schmidt (1991) zuzustimmen: Das Thema ›Athen‹ klingt zum ersten Mal spürbar in Buch 2 an,168 verschwindet dann für einige Bücher wieder, bis es im fünften Buch wieder aufkommt und nach einem Schwerpunkt in den Büchern 6 bis 7 kontinuierlich abklingt, aber an einzelnen Stellen bis zum Ende des Werkes wiederum erkennbar ist.169 Da Athen aber nachvollziehbar ein eigener Sagenzyklus gewidmet ist, weil insbesondere der Übergang zu Buch 6 durch die epische Bauform eines Städtekatalogs besonders hervorgehoben ist und weil die Stadt nach Theben die zweite namentlich genannte in den Metamorphosen ist, die mehrfach zum Schauplatz einer Episode wird, kann sie – wiederum im Einklang mit der These von Albrechts (ebd., 165) – als zweite ›Hauptstadt‹ des Werkes bezeichnet werden.

4.7.1  Athen als Schauplatz Durch die spärliche Überlieferung der frühen Literatur über Athen, insbesondere der lokalhistorischen Atthides, liegt das Verhältnis von Ovids Behandlung der athenischen Mythen zu seinen möglichen Vorgängern noch stärker im Dunkeln, als wir dies bezüglich Theben konstatieren mussten. Die hier vorgenommene Rekonstruktion von Ovids Athen als literarischer Landschaft stützt sich also vornehmlich darauf, wie dieser selbst die Stadt in den attischen Mythen der Metamorphosen darstellt. Wie wir sehen konnten, fungiert Athen nur in einigen wenigen Textpassagen als Hauptschauplatz. In den von Ovid behandelten Mythen konkurriert die Stadt mit zahlreichen außerhalb gelegenen Handlungsorten. Diese befinden sich weniger in der direkten oder zumindest weiteren Umgebung der Stadt, wie sich dies mehrheitlich bei den thebanischen Mythen beobachten ließ (vgl. 167 Vgl. Gildenhard/Zissos (2004, 51 f.) und Cole (2008, 32; 35 f.) zur genealogischen ­Problematik der ersten athenischen Könige; Walter (2019, 627) zur allgemeinen Bedeutung der Genealogie für die Gestaltung der Metamorphosen. 168 Vgl. Cole (2008, 32 f.) zur Weiterentwicklung Athens im Verlauf der ersten attischen Episoden. 169 Vgl. Schmitzer (2011, 117 f.).

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Kap. 3.6), sondern häufiger auch in entlegeneren Gegenden. Diese Verlagerung von Schauplätzen aus der Stadt heraus ist vermutlich jedoch weniger als ovidische Besonderheit zu sehen als vielmehr auf den Inhalt der überlieferten Sagenstoffe sowie auch auf die realweltliche geographische Lage der Stadt am Meer zurückzuführen (die sich naturgemäß auf die Entstehung eben jener Mythen ausgewirkt haben wird). Dennoch ist festzuhalten, dass Ovid bei der Gestaltung mehrerer Erzählungen bewusst auf Referenzen zur athenischen Topographie verzichtet. Diese von Gildenhard/Zissos (2004, 57) vornehmlich mit Bezug auf das zweite Buch getätigte Beobachtung lässt sich auf weitere Episoden ausdehnen: Beispielsweise verzichtet Ovid auf die Gelegenheit, die von prominenten Vorläufern literarisch bearbeitete Geschichte von der Pest in Athen (430 v. Chr.) in analoger Weise zu verwenden.170 Stattdessen überträgt er dieses Motiv auf die Insel Aegina und schildert die dortige, mit der Entstehung der Myrmidonen endende Pest (7,517–660).171 Das Athen der Metamorphosen steht somit in ständiger Konkurrenz zu anderen Handlungsorten. Ovids attischer Sagenkreis zeigt insofern eine starke zentrifugale Tendenz, als die Hauptbewegungsrichtung in mehreren Sagen von Athen aus an einen anderen Ort fern der Stadt weist. Dies können wir besonders deutlich im Mythos von Triptolemus und dessen Flugreise nach Skythien sowie in der Erzählung von Procnes und Philomelas Schiffsreisen nach Thrakien beobachten. In der in Megara spielenden Scylla- sowie in der Triptolemus-Sage wird Athen zum bloßen Hintergrundraum, der nur kurz im Text aufscheint (wenngleich die Berufung des Helden auf seine athenische Heimat in der letztgenannten Episode eine wichtige thematische Funktion hat). Betrachten wir nun aber Ovids Darstellung Athens sowie der anderen Schauplätze in den hier untersuchten Sagen mithilfe des Raummodells von Haupt (2004). Wie bereits im Fall Thebens erscheint auch die visuelle Beschreibung Athens im Sinne des Anschauungsraums als unterdeterminiert. Im Verlauf der attischen Episoden werden nur wenige Punkte der urbanen Topographie genannt. Dazu zählen die Akropolis, der Königspalast, das Lyzeum sowie die beim Namenswettstreit entstandenen Göttergeschenke, d. h. die neptunische Quelle und der Baum Minervas. Von der athenischen Agora oder von Stadtmauern, wie sie historisch nachweisbar sind,172 ist nirgends die Rede, sodass sich insgesamt kein anschauliches Bild der Stadt gewinnen lässt. Es ist den Lesern lediglich möglich, einige aus der realen Welt bekannte topographische Elemente im Text wiederzufinden. Gerade dort jedoch, wo Ovid die Stadt anschaulich beschreiben könnte, verzichtet der Dichter auf eine Darstellung Athens: In den 170 Vgl. Thuc. 2,47–58; Lucr. 6,1138–1286. 171 Vgl. Kap. 5.7 zur Pest in Theben, dargestellt in der Ekphrasis von Anius’ Mischkrug (13,685–699). 172 Vgl. DNP, »Athenai«.

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Ekphraseis des attischen Sagenzyklus beschreibt er einmal einen allegorischen Ort (2,760–764 Domus Invidiae), einmal eine andere Stadt (8,14–20 Megara) und nur einmal kurz Athen selbst, wobei er jedoch der Beschreibung der Götter Neptun und Minerva mehr Platz zumisst als den von ihnen in Athen installierten Gaben (6,70–82). Dieser Verzicht auf allzu viele visuelle Details der urbanen Topographie steht im Einklang mit der bereits konstatierten Tatsache, dass Athen in vielen Episoden nur ein Handlungsort unter mehreren oder sogar nur Hintergrundraum bzw. Ausgangspunkt für Bewegungen von der Stadt weg ist. Bei der Untersuchung des Aktionsraums zeigt sich: Viele der Figuren in den betrachteten Sagen unternehmen Reisen zwischen Athen (d. h. dem Westen) und einer Region im Osten der bekannten Welt. Ovid nutzt dabei mehrfach die symbolische Funktion des Raumes, um einen Gegensatz zwischen Athen als Zentrum der zivilisierten Welt einerseits und einer anderswo gelegenen ›barbarischen‹ Gegend andererseits zu kreieren: Triptolemus reist als Überbringer athenischer Zivilisation (in Form des Getreideanbaus) nach Skythien, Procne und später Philomela gelangen als Vertreterinnen athenischer Kultur nach Thrakien, wo sie diese Rolle aber nach und nach durch ihre Handlungen ablegen, und in umgekehrter Richtung kommt die ›Barbarin‹ Medea nach Athen, um dort gemäß den ›Sitten‹ ihrer Heimat für Unglück in Form eines Giftmordes zu sorgen. Die genannten Beispiele illustrieren die im attischen Sagenkreis der Metamorphosen zu beobachtende Dichotomie zwischen Zivilisation und Kultur auf der Seite Athens und Wildheit und Barbarei auf der anderen Seite, d. h. in östlichen Weltregionen.173 Diese Opposition zwischen der Hochkultur Athens, wie sie bei verschiedenen Autoren immer wieder topisch gelobt wird, und bedrohlicher Fremde ist auch bei Ovid im Sinne des gestimmten Raumes feststellbar. Während die athenische Zivilisation bestrebt ist, sich in östliche Richtung auszubreiten (z. B. durch die Getreideschenkung an Skythien sowie durch die Verheiratung Procnes mit dem Thraker Tereus), kommt von dorther eine vielfältige Bedrohung für Athen (beispielsweise die Entführung Philomelas durch Tereus oder der Giftanschlag Medeas gegen Theseus). Diese Bedrohungen rühren zwar zunächst einmal von Individuen wie Tereus her, repräsentieren jedoch stets eine allgemeinere Gefahr. Auch wenn sie im Kern gegen einzelne athenische Persönlichkeiten gerichtet sind, strahlt ihre Wirkung letztlich auf die Stadt und ihre Kultur als Ganzes aus. Die Bedrohung von Athens Existenz wird im Text aber nie explizit gemacht, sondern wiederum dort, wo dies möglich wäre, gewisser 173 Zu Athen als erstem und damit zentralem Ort der menschlichen Zivilisation (in Gestalt von Agrikultur, Rechtssystem und Philosophie) vgl. auch den Preis Epikurs im Proömium zum sechsten Buch von Lukrez’ De rerum natura (Lucr. 6,1–42; hier 6,1–4: Primae frugiparos fetus mortalibus aegris / dididerunt quondam praeclaro nomine Athenae / et recreaverunt vitam legesque rogarunt, / et primae dederunt solacia dulcia vitae).

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maßen ausgelagert: Als der kretische König Minos sich für die Ermordung seines Sohnes Androgeos an den Athenern rächen will, schildert Ovid nicht einen Angriff auf Athen, sondern den Stellvertreterkrieg um die Stadt Megara. Athen ist zwar – ebenso wie Theben – wiederholten Gefahren ausgesetzt, doch wie sich an Ovids ringkompositorischer Verwendung des Motivs vom nicht vorhandenen Negativen erkennen lässt,174 kann das Wohlergehen der Stadt zumindest innerhalb der Erzählungen des attischen Sagenkreises bewahrt werden, bevor Athen schließlich genauso wie Theben und andere griechische Städte in der Pythagoras-Rede als untergegangene Stadt dargestellt wird.175

4.7.2  Athen als Etappe auf dem Weg nach Rom Am Ende der Analysen zu Athen steht die Frage, inwieweit diese zweite ›Hauptstadt‹ der Metamorphosen ebenso wie Theben als kulturhistorische Zwischenstation im Verlauf des Werkes vom Chaos des Ursprungs über die ersten Städte hin zu dem im letzten Sagenkreis repräsentierten Rom gelten kann. Bezüge zu jener finalen Stadt des Epos lassen sich an mehreren Stellen der attischen Sagen finden.176 Die wohl auffälligste derartige Bezugnahme findet sich in der hier nicht untersuchten kurzen Erzählung über Apollo und Coronis (2,533–549): Dort vergleicht Ovid die Farbe der Federn des Raben vor der Verwandlung mit derjenigen der Kapitolinischen Gänse (2,536–539): nam fuit haec quondam niveis argentea pennis ales, ut aequaret totas sine labe columbas nec servaturis vigili Capitolia voce cederet anseribus nec amanti flumina cycno.

Dieser Vogel war nämlich einst silber­ glänzend mit weißen Federn, sodass er den völlig fleckenlosen Tauben gleichkam und auch nicht den Gänsen nachstand, die mit ihrer wachsamen Stimme das Kapitol bewahren sollten, und auch nicht dem Schwan, der die Flüsse liebt.

Gerade in der allerersten Sage mit Bezug zu Athen weist also ein proleptischer Vergleich auf Rom voraus, genauer gesagt auf die legendäre Rettung des Kapitols vor den gallischen Eindringlingen im vierten vorchristlichen Jahrhundert. Wie Gildenhard/Zissos (2004, 52 f.) anhand dieser Episode argumentieren, verwendet Ovid Rom als (positive) Folie zu Athen, indem er ein bedeutendes Ereignis der römischen Geschichte zu dem negativen Verhalten einer (wenn auch 174 2,796 (Invidia) nil lacrimabile; 7,452 nec … tristis locus ullus; vgl. Kap. 4.1; 4.5. 175 15,430 quid Pandioniae restant, nisi nomen, Athenae?; vgl. Kap. 6.5. 176 Innerhalb des attischen Sagenkreises finden sich ebenso Bezüge zu den anderen ›Hauptstädten‹ des Werkes, d. h. zu Theben (7,763 f. immittitur altera Thebis / pestis [sc. der teumessische Fuchs]) und Troja (6,95 nec profuit Ilion illi [sc. Antigone]); vgl. Dufallo (2013, 168).

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tierischen) Figur aus der athenischen Mythologie in Beziehung setzt und den Schauplatz des Geschehens in seinem Vergleich von der athenischen Akropolis zum Kapitol in Rom verschiebt.177 Auch an einigen weiteren Stellen verweist Ovid implizit auf die römische Sphäre: In der Götterversammlung innerhalb der Athen-Ekphrasis mag eine Anspielung auf den Prinzeps Augustus zu erkennen sein (6,73 augusta gravitate);178 beim athenischen Dankesfest für die Errettung des Theseus lässt der Text einen Bezug zum römischen Sakralwesen erkennen (7,449 f. vota / publica suscipimus). Diese indirekten Verweise auf Rom sind also an wichtigen Stellen der Handlung platziert, an denen aitiologische Erzählungen über den Ursprung der Stadt oder Geschichten von identitätsstiftenden heroischen Vorfahren stehen.179 Während Gildenhard/Zissos (2004; vgl. 2007, 3) wohl etwas zu einseitig von einer ›Dekonstruktion‹ Athens durch eine ›subversive‹ Behandlung der attischen Mythen sprechen, betont Geitner (2019, 138) das Vorhandensein ›positiver‹ Passagen über Athen. Die attische Geschichte in den Metamorphosen verläuft zwar nicht in Richtung eines bestimmten telos – sie wird sogar mehrfach von der Einblendung der römischen Perspektive überlagert –,180 sondern eher zyklisch, doch dieser Athen-Zyklus erzählt nicht ausschließlich von derart negativ konnotierten Ereignissen, dass diese unmittelbar auf das später von Pythagoras konstatierte Ende der Stadt hindeuten würden, wie sich dies bei Ovids Darstellung von Theben als ›Anti-Aeneis‹ beobachten ließ (vgl. Kap. 3.6). Athen, das Musterbeispiel einer griechischen polis und zugleich eine Stadt, die der Dichter aus eigenen Studienzeiten kannte,181 ist für Ovid zwar keine urbs aeterna, aber eine wichtige Station innerhalb der Weltgeschichte seines Epos.

177 Vgl. Gildenhard/Zissos (2004, 48 f.) zur These von Ovids ›Eroberung‹ seiner griechischen Vorgänger durch die Einfügung einer romzentrierten Sichtweise; Geitner (2019, 135 mit Fn. 89). 178 Vgl. Lausberg (1982, 113). 179 Die Rom-Verweise beschränken sich nicht auf Athen: Beispielsweise wird in Skythien eine Volksversammlung entsprechend der römischen Komitien auf dem ›Marsfeld‹ abgehalten (7,101 conveniunt populi sacrum Mavortis in arvum). 180 Zur römischen Teleologie vgl. Gildenhard/Zissos (2004, bes. 60–64; 71); Geitner (2019, 134–139). 181 Vgl. Ov. trist. 1,2,77 quas quondam petii studiosus, Athenas; White (2002, 4 f.).

5 Troja

Der Beginn der europäischen Literatur in der uns überlieferten Form ist wesentlich mit der Stadt Troja verknüpft. Nicht nur für die archaische Epoche, sondern auch für die gesamte spätere griechisch- und lateinischsprachige Literatur boten die Sagen über den Trojanischen Krieg ein unerschöpfliches Repertoire. In der mythischen Chronologie der literarischen Weltgeschichte ist Troja die ›zweite‹ große Stadt, da die Ereignisse rund um den Trojanischen Krieg den mit Theben verbundenen Sagen zeitlich nachgeordnet werden. Die Stoffe des trojanischen Sagenkreises im engeren Sinne umfassen eine Zeitspanne von etwa vier Jahrzehnten: von der Geburt der Helena, deren Entführung infolge des Paris-Urteils den Anlass für den Trojanischen Krieg darstellt, bis zur Rückkehr des Odysseus nach Ithaka. Dazu kommen weitere Sagen, die nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Krieg stehen, etwa über die Gründung von Troja. Die Ereignisse rund um den Trojanischen Krieg wurden nicht nur in den Epen Ilias und Odyssee, sondern auch in den bis auf Fragmente verlorenen Werken des Epischen Kyklos behandelt.1 In der klassischen Zeit wurden sie in zahlreichen attischen Tragödien bearbeitet, von denen jedoch gleichfalls nur ein geringer Teil erhalten ist.2 Auch die lateinische Literatur griff den TrojaStoff von Beginn an auf, zuerst in der Übertragung der Odyssee durch Livius Andronicus im dritten Jahrhundert v. Chr. (Odusia),3 dann in den weitgehend verlorenen republikanischen Tragödien und schließlich am wirkmächtigsten in Vergils Aeneis, dem wenige Jahrzehnte vor Ovids Metamorphosen entstandenen römischen ktisis-Epos.4 Während die Ilias den Fall Trojas nur mittels Prolepsen thematisiert (vgl. Agamemnons Traum in Hom. Il. 2,1–40), berichtet die Odyssee davon explizit im Gesang des Demodocus (Hom. Od. 8,499–520). Eine ausführlichere Darstellung erhielt dieses Thema in den kyklischen Werken Iliupersis

1 Vgl. Einleitung zu Kap. 3. 2 Besonders relevante Beispiele im ovidischen Kontext sind der Ajax-Stoff (für den wir die sophokleische Aias-Tragödie besitzen; vgl. Kap. 5.5) und das Schicksal der trojanischen Frauen (Hecuba und die Troerinnen des Euripides; vgl. Kap. 5.6). Vgl. West (2013, 18–20) zur episodischen Struktur der Inhalte des Epischen Kyklos, die eine wichtige Voraussetzung für ihre Bearbeitung in verschiedenen Tragödien gewesen sein dürfte. 3 Vgl. Bär/Schedel (2019, 337–340) zur ›Romanisierung‹ des griechischen Stoffes durch den Musenanruf an Camena, der die Anrufung der homerischen Muse ersetzt. 4 Vgl. Schmitzer (2005) zum Troja-Mythos in der gesamten lateinischen Literatur; Jahn (2007, 39–43; 95–107) zu den Quellen vor Vergil.

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und Kleine Ilias;5 in der römischen Literatur fand es schließlich seine kanonische Darstellung im zweiten Buch der bereits erwähnten Aeneis.6 Für die Römer waren die trojanischen Sagen auch deshalb von kaum zu überschätzender Bedeutung, weil sie ihren mythischen Ursprung von den Flüchtlingen der trojanischen Königsdynastie ableiteten.7 In der Aeneis rückt Vergil die trojanischen Legenden ins Zentrum des römischen Gründungsmythos. Die Verbindung zwischen Troja und Rom wird besonders in den zahlreichen Prophezeiungen deutlich, die den Untergang der einen Stadt mit der Neugründung der anderen verknüpfen.8 Weit über Vergil und die Antike hinaus fungiert Troja als Folie für Rom bzw. später das Römische Reich – für das Selbstverständnis der ›ewigen Stadt‹ (urbs aeterna) ist somit paradoxerweise eine untergegangene Stadt konstitutiv.9 Die Topographie der Troas ist in der homerischen Ilias geprägt von einer Dreiteilung zwischen Troja, dem griechischen Heerlager am Meer sowie der Ebene zwischen diesen zwei Bereichen. Für die topographische Gestalt der Stadt selbst sind vornehmlich der Königspalast, die Stadtmauern und die Tore konstitutiv, unter diesen vor allem das Skäische Tor.10 Insgesamt wird Troja in den antiken Texten, soweit sie uns erhalten sind, mit einem heiligen Status, Reichtum und militärischer Stärke assoziiert und damit ähnlich wie Theben dargestellt. Im Sprechen über Troja wird aber auch stets der Untergang miterzählt oder, wie bei Triphiodor, sogar ganz in den Vordergrund gestellt:11 Der Fall der Stadt stellt ein zentrales Motiv dar, auf das sämtliche trojanische Mythen Bezug nehmen, unabhängig davon, ob sie chronologisch vor oder nach diesem Ereignis einzuordnen sind. In Ovids Metamorphosen ist Troja nach Theben und Athen die dritte wichtige Stadt. Die in und um Troja spielenden Sagen setzen etwa 200 Verse nach dem Beginn des elften Buches, also des letzten Werkdrittels, ein und erstrecken sich bis 5 Vgl. Bär/Schedel (2019, 323 f.) zur Rekonstruktion der Darstellung vom Untergang Trojas in der Kleinen Ilias. 6 Vgl. Rossi (2002, 231); Casali (2017, 7–40). – West (2013, 47–51) und Rosati (2015, 577 mit Fn. 52) gehen davon aus, dass Vergil den Epischen Kyklos gekannt hat, skeptischer ist hingegen Gärtner (2015, 559 f.). 7 Schmitzer (2014, 149) zeichnet nach, wie die Römer im dritten und zweiten Jahrhundert v. Chr. nach griechischen und trojanischen Vorfahren suchten. 8 Vgl. Finkmann et al. (2019, 623–630; bes. 628 f.). 9 Vgl. z. B. Prop. 4,1,87 Troia cades, et Troica Roma resurges. Die Inversion dieses Motivs finden wir im Verhalten von Lucans Caesar bei seinem Besuch der Ruinen Trojas (Lucan. 9,999 Romanaque Pergama surgent); vgl. Gossage (1955) für einen Erklärungsversuch des offenbaren Paradoxons (Roms Sieg über Griechenland als ›späte Rache‹ der Trojaner); Edwards (2000, 50 f.; 63–66); Jeppesen (2016, 144 f.); Behm (2019a, 277 f.). 10 Vgl. Strauss Clay (2011, 41) zur limitierten Darstellung trojanischer Topographie in der Ilias; Tsagalis (2012, 129–140); Berman (2015, 36–41); Behm (2019a, 269 f.). 11 Vgl. Rossi (2002) zum literarischen Troja als urbs capta; David (2009, 272).

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über die Mitte von Buch 13. Ovid beginnt seinen trojanischen Sagen­zyklus nicht mit dem frühestmöglichen Ereignis,12 der Gründung von Troja bzw. Ilion durch Ilus, den Vater des Laomedon, sondern mit dem Mauerbau durch letzteren, der unmittelbar auf die erste Zerstörung Trojas hinausläuft (Ov. met. 11,194–220).13 Hierbei handelt es sich um Ereignisse, die noch vor den bei Homer und im Epischen Kyklos geschilderten liegen. Mit der Erzählung von Peleus und Thetis (11,221–265) gelangen die Metamorphosen dann erstmals zu den Stoffen des Kyklos, denn die Hochzeit der späteren Eltern Achills wurde in den Kyprien erzählt. Diese Geschichte hat jedoch nicht Troja zum Schauplatz und wird daher im Folgenden ebenso wenig untersucht wie die sich daran ­anschließenden Episoden von Daedalion und Chione (Ov. met. 11,266–345) sowie vom Wolf und den Rindern des Peleus (11,346–409). Nach der Geschichte von Ceyx und Alcyone (11,410–748), die im Rahmen dieser Studie besonders wegen ihrer Bezüge zum Untergang Trojas auf der Ebene der Gleichnisse relevant ist, kehren die Metamorphosen am Ende des elften Buches mit der Erzählung von Aesacus wieder zum trojanischen Handlungsort zurück (11,749–795). Buch 12 erzählt zunächst von der Sammlung der Griechen in Aulis und der Opferung der Iphigenie (12,1–38); es folgt die allegorische Ortsbeschreibung der Domus Famae (12,39–63), also des Wohnsitzes derjenigen Göttin, durch die die Trojaner vom Heranrücken des griechischen Heeres erfahren.14 Ovid verzichtet nahezu vollständig auf eine direkte Nacherzählung der in Troja bzw. in der trojanischen Ebene spielenden Handlung der Ilias15 und beschränkt sich mit Achills Kampf gegen Cygnus (Ov. met. 12,64–167) auf ein Ereignis am Beginn des Trojanischen Krieges, bevor er dessen zehnjährige Dauer durch die eingeschobene Rede des Nestor narrativ überbrückt (12,168–579). Erst im Schlussabschnitt des Buches tritt die Ebene vor Troja wieder als Schauplatz in Erscheinung, wenn Ovid vom Tod Achills am Ende des Krieges berichtet (12,580–628), der wiederum auch in der Aithiopis dargestellt worden war. Das dreizehnte Buch beginnt mit dem Waffenstreit zwischen Odysseus und Ajax (Ov. met. 13,1–398). In diesem Rededuell, das ebenfalls in der Ebene vor Troja spielt und das auch in der Kleinen Ilias behandelt wurde, nehmen die ovidischen Figuren wiederholt auf wichtige Ereignisse des Krieges oder seiner Vorgeschichte Bezug. Troja selbst rückt wieder in den Blickpunkt, als Ovid zu Beginn der Hecuba-Erzählungen (Ov. met. 13,399–575) vom Abschied der trojanischen Frauen beim Verlassen ihrer Stadt und von deren Untergang berichtet. Er wendet sich damit Ereignissen zu, die durch ihre Darstellung in der 12 Vgl. Horaz’ Kritik an einer zeitlich und thematisch nicht begrenzten epischen Erzählung gegenüber einem Beginn in medias res (Hor. ars 147 nec gemino bellum Troianum orditur ab ouo). 13 In den Fasten wird Ilus als Erbauer der Mauern Trojas genannt (Ov. fast. 6,419). 14 Vgl. Reitz (2000, 45–47); Tissol (2002, 308 f.); Kersten (2019c, 387). 15 Vgl. Dippel (1990, 18–22).

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kyklischen Iliupersis, in den Tragödien des Euripides und im zweiten Buch der Aeneis bekannt waren, gibt sie aber im Gegensatz zu der für römische Leser kanonischen Version Vergils nicht aus der Sicht des Aeneas, sondern aus der auktorialen Perspektive wieder.16 Anschließend kehrt die Erzählung entgegen der zeitlichen Logik noch einmal zum Stoff der Aithiopis bzw. zu einem Ereignis aus Achills Lebenszeit zurück: Ovid schildert, wie der Held am Ende des Krieges den Aurora-Sohn Memnon tötet (Ov. met. 13,576–622). Die Episode von Aeneas’ Besuch in Delos (13,623–704) beginnt mit dem Abschied des Helden von seiner Heimat und handelt somit als letzte noch teilweise am trojanischen Schauplatz. Die nachfolgende Erzählung von Aeneas’ Überfahrt nach Sizilien (13,705–729) ist zwar an verschiedenen Orten des Mittelmeerraums lokalisiert, doch die dabei passierte Stadt Buthrotum stellt insofern einen letzten wichtigen, direkt wahrnehmbaren Bezug zu Troja dar, als diese eine Art Nachbau der untergegangenen Stadt der Aeneaden ist.17

Ovids ›Kleine Ilias‹ Die Mehrzahl der bisherigen, teils fundamental verschiedenen Thesen zur Gliederung der Metamorphosen (vgl. Kap. 1.2.1) stimmt darin überein, dass das elfte Buch eine deutlich markierte, für sich stehende Einheit bildet, isoliert von dem Abschnitt von Beginn des zwölften Buches bis zur Abfahrt des Aeneas aus Troja (d. h. bis 13,622). Die so definierte Passage wird für gewöhnlich als ovidische ›Kleine Ilias‹ bezeichnet.18 Diese Titulierung ist aus zweierlei Gründen problematisch. Zum einen suggeriert sie, dass der so bezeichnete Werkteil auf der homerischen Ilias als einzigem Hypotext im Sinne von Genette (1993) beruht. Wie bei der Zusammenfassung von Ovids trojanischem Sagenkreis dargestellt, enthalten die Metamorphosen jedoch etliche Ante- und Posthomerica aus den Werken des Epischen Kyklos.19 Die Geschehnisse des Trojanischen Krieges, einschließlich des wesentlichen Inhalts von Homers Ilias, überspringt Ovid hingegen in einem einzigen Vers (Ov. met. 12,584 iamque fere tracto duo per

16 Vgl. Musgrove (1997) zu Ovids Kombinationstechnik im Umgang mit den homerischen und vergilischen Erzählperspektiven (mit Fokus auf der Fama-Erzählung in Buch 12 der Metamorphosen). 17 Zu Buthrotum bei Vergil und Ovid vgl. auch Behm (2019a, 272–274; 276 f.). 18 Diese Bezeichnung ist bis in die 1920er Jahre zurückzuverfolgen; vgl. Ellsworth (1980, 24 mit Fn. 5). Vgl. auch Ellsworth (1988) zur ovidischen ›Kleinen Odyssee‹. 19 Vgl. Fabre-Serris (1995, 110–113); Rosati (2015, 568–573); von Glinski (2018, 228–230). Ellsworth (1980, 25) sieht das bestimmende Organisationsprinzip für Ovids Troja-Zyklus dennoch in der homerischen Ilias. Zur Analogie der Gesamtanlage der Metamorphosen mit der Gestalt des Epischen Kyklos vgl. Rosati (ebd., 565–568). Die Kenntnis des Kyklos durch Ovid ist als wahrscheinlich anzunehmen; vgl. Rosati (ebd., 577).

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quinquennia bello).20 Auch wenn man eine intensive Bezugnahme Ovids auf die Epen des Kyklos annimmt, bleibt der Begriff ›Kleine Ilias‹ daneben jedoch auch deshalb problematisch, weil er eine Deckungsgleichheit von Ovids trojanischen Erzählungen mit dem Inhalt der Kleinen Ilias suggeriert.21 Unabhängig von der Bezeichnung des Troja-Teils sieht Otis (1966, 84 f.) das zwölfte Buch als Beginn des letzten von vier Großteilen der Metamorphosen.22 Im Einklang damit erkennen einige Philologen an dieser Stelle den Beginn der ›historischen‹ Epoche des Werkes.23 Die Mehrzahl der Forscher verortet diesen Einschnitt allerdings bereits bei Vers 11,194, also bei der Gründung Trojas.24 Eine derartige scharfe Epochengrenze zwischen dem ›mythischen‹ Teil des Werkes und einem darauffolgenden geschichtlichen Abschnitt erscheint jedoch fragwürdig: Auch die Bücher 11 bis 15 enthalten trotz einiger historisch fixierbarer Ereignisse25 zahlreiche rein mythische Stoffe, und ebenso sind die Bücher 1 bis 10 keineswegs frei von historischen Bezügen bzw. von Ereignissen, die sich geschichtlich datieren lassen.26 Die Metamorphosen sind per se ein mythologisches Gedicht, und ein Übergang zwischen Mythos und Historie lässt sich allenfalls graduell beobachten.27 In den folgenden Einzelanalysen werden die Episoden um Laomedon, Ceyx und Aesacus aus Buch 11, Achill aus Buch 12 sowie Ajax und Odysseus, Hecuba 20 Vgl. Fabre-Serris (1995, 110–113) und Rosati (2015, 568–577) zu Ovids ›Opposition‹ gegen das archaische Wertesystem der homerischen Epen. Baldo (1995, 115–120) weist auf die wichtige Tatsache hin, dass Ovid sich in seiner ›Ilias‹ (genauso wie in seiner ›Aeneis‹) meist streng an die Ordnung der fabula hält, also bei der Gestaltung des plot kaum von der chronologischen Ordnung des traditionellen Mythos abweicht. 21 Vgl. West (2013, 163–222): Ovid behandelt zwar beispielsweise den Waffenstreit und den Diebstahl des Palladiums (vgl. Kap. 5.5), jedoch nicht die Eroberung Trojas mithilfe des Trojanischen Pferdes (vgl. Kap. 5.6). 22 Vgl. Kap. 1.2.1. 23 Vgl. Ellsworth (1980, 23); Hopkinson (2000, 6). Gladhill (2013, 299 mit Fn. 6) sieht die Domus Famae (12,39–63) als Übergangsstelle und bezeichnet Aulis (12,1–38) als mythischen, Troja (ab 12,64) als historischen Raum. 24 Vgl. Wilkinson (1955, 147 f.); Ludwig (1965, 9; 12; 60–62); Kenney (2009, 146). Galinsky (1975, 85 f.) erkennt bereits ab der Midas-Geschichte (11,85–145) Erzählungen über historische Persönlichkeiten. 25 Dazu zählen vor allem der ›Import‹ des Heilgottes Asclepius sowie die Ermordung Caesars; vgl. Einleitung zu Kap. 6; Feeney (1999, 20). 26 Hierzu zählt z. B. die Anspielung auf die Rettung des Kapitols durch die Kapitolinischen Gänse (2,536–539; vgl. Kap. 4.7). 27 Vgl. Due (1974, 134–138; 147 f.). Schmidt (1991, 124 f.) sieht den Einschnitt zwischen dem mythischen und dem historischen Teil der Metamorphosen (wenn überhaupt) bereits bei Vers 6,421. Tissol (2002, 315) betrachtet ebenfalls die Gründung Trojas als erstes historisches Ereignis, betont aber die Mischung aus Mythos und Historie in der dritten Pentade; Farrell (2019, 53) bezeichnet den Trojanischen Krieg als »the last venture of the Heroic Age«. Zum allgemeinen Problem der Abgrenzung von Mythos und Historie in der Antike vgl. Feeney (2007, 77–86).

Laomedon erbaut Troja

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und Aeneas aus Buch 13 hinsichtlich der Darstellung und Funktion der Stadt Troja untersucht. Anschließend wird das daraus entstehende Gesamtbild von Troja in den Metamorphosen herausgearbeitet und erörtert, inwieweit die Stadt als Etappe auf dem Fortschreiten des Werkes nach Rom gelten kann.

5.1  Laomedon erbaut Troja (11,194–220) Der mythischen Überlieferung gemäß wird Troja in zwei Stufen gegründet. Die daran beteiligten Figuren entstammen dem Geschlecht der Dardaniden, dessen Ursprung auf den Zeus-Sohn Dardanus zurückgeht. Auf diesen folgen Erichthonius und Tros, dessen Söhne Ilus, Ganymed und Assaracus sind. Ilus, der älteste der drei Söhne, ist der eponyme Ahnherr von Ilion/Troja und gründet die Stadt im eigentlichen Sinne (die vorherigen Generationen sollen bereits in derselben Region gelebt haben). In einem zweiten Schritt sorgt Ilus’ Sohn Laomedon, der Vater des Priamus, für den Bau der Stadtmauern. Die mythographische Tradition über dieses Thema kennt zwei Varianten: Einer Version zufolge wurde der trojanische König, wie hier bei Ovid, von Apollo und Neptun gemeinsam unterstützt, nach der alternativen Sagenversion errichtete Neptun die Mauern allein, während Apollo infolge einer Bestrafung durch Zeus die Herden des Laomedon im Ida-Gebirge hütete.28 Da der König aber die Götter um den vereinbarten Lohn betrügt, bestrafen diese die Stadt mit einer Flut. Innerhalb der Metamorphosen befindet sich die Geschichte von der trojanischen Stadtgründung an einer bedeutsamen Stelle.29 Nach der Überleitung durch den Tod des Orpheus (11,1–84), die nicht nur die Grenze vom zehnten (von der Gestalt des thrakischen Sängers dominierten) zum elften Buch, sondern auch von der zweiten zur dritten Buchpentade überdeckt, ist dies die erste Episode mit trojanischem Schauplatz.30 Damit leitet die Gründung Trojas den trojanisch-römischen Sagenkreis insgesamt ein (Buch 11–15) und bereitet insbesondere die Erzählungen über den Trojanischen Krieg und das Ende Trojas vor (Buch 12–13; vgl. Einleitung zu Kap. 5).31

28 Vgl. Hom. Il. 7,452 f. (Bau durch Neptun und Apollo, ebenso Eur. Tro. 4–6); Hom. Il. 21,446–449 (Neptun als alleiniger Erbauer, während Apollo die Rinder hütet); Miller (2009, 3) zu Apollo als »god of foundations« in der hellenistischen Tradition. Vgl. außerdem Ov. met. 12,25 f. sunt qui parcere Troiae / Neptunum credant, quia moenia fecerat urbi; 12,587 qui [sc. Apollo] mecum [sc. cum Neptuno] posuisti moenia Troiae; Roscher, »Laomedon«. 29 Die hiesige Analyse baut auf den Ausführungen in Behm (2019a, 275 f.; 2020, 340 f.) auf. 30 Die vorhergehenden Erzählungen von Orpheus, Midas (11,85–145) sowie Phoebus und Pan (11,146–193) sind in Thrakien bzw. Lydien lokalisiert. 31 Vgl. Glenn (1986, 149).

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Ovids nur etwa 25 Verse lange Troja-ktisis lässt sich wie folgt gliedern: Der Übergang von der vorherigen Geschichte schildert die Ankunft Apollos in der Troas (11,194–196). Es folgt eine kurze Ekphrasis topou (11,197 f.). Daraufhin werden zunächst der Mauerbau, der Meineid des Laomedon32 und die Flutstrafe (11,199–210) geschildert. Anschließend befreit Hercules die Königstochter Hesione von dem Seemonster, das Neptun als weitere Bestrafung geschickt hat. Auch ihm verweigert Laomedon den Lohn; zur Strafe erobert Hercules die Stadt und gibt die von ihm befreite Prinzessin seinem Gefährten Telamon, einem Bruder des Peleus, zur Frau (11,211–215). Eine Überleitung zur Episode über Peleus und Thetis (12,221–265) schließt die Laomedon-Erzählung ab (11,216–220).33 Aus der nachfolgenden Analyse wird deutlich, wie Ovid Troja vom Moment seiner Gründung an zum Prototyp einer urbs capta werden lässt.

5.1.1 Analyse Die Ortsbeschreibung (11,194–198) Der kurze Eingangsabschnitt beschreibt den Flug Apollos vom lydischen Berg Tmolus über den Hellespont hin zur Landschaft Troas, die als Gefilde ihres Herrschers Laomedon bezeichnet wird (11,196 Laomedonteis … arvis).34 Der Text lokalisiert die Stätte des zukünftigen Troja zwischen den Vorgebirgen Sigeum im Westen und Rhoeteum im Osten.35 Da den zeitgenössischen Lesern die geographische Lage Trojas in etwa bekannt war, erscheint diese Determinierung des Raumes überbestimmt. Ovid leitet dabei zu den Ereignissen um Troja über, indem er auf verschiedene Mythen anspielt, die mit der Region in Verbindung stehen.36 Das Motiv für die Stadtgründung geht jedoch aus dem Text nicht 32 Eine erste Erwähnung Laomedons und Trojas findet sich bereits in Buch 6 innerhalb der Ekphrasis des Gewebes der Minerva (6,93–97; vgl. Kap. 4.7). 33 Vgl. Holzberg (2005, 144–146) zur Verknüpfung des Peleus-Mythos mit der Geschichte der Stadt Troja. 34 Die Verbindung von Troja (und damit auch der Römer) mit dem meineidigen Laomedon kommt bereits bei Vergil zum Ausdruck (Verg. georg. 1,501 f. satis iam pridem sanguine nostro / Laomedonteae luimus periuria Troiae; Verg. Aen. 4,541 f. nescis heu, perdita, necdum / Laomedonteae sentis periuria gentis?). 35 Das Sigeum gehört zur Ägäis, das Rhoeteum zum Hellespont; beide Vorgebirge sind etwa sechseinhalb Kilometer voneinander entfernt. Der Standpunkt ist also derjenige eines Beobachters, der aus der Troas in Richtung Meer blickt; vgl. Griffin (1997, zu 11,195–198); Reed (2013, z. St.). 36 Vgl. Griffin (1997, 8; z. St.). Der Hellespont erinnert an die Sage von Phrixus und Helle, Sigeum und Rhoeteum gelten als die Begräbnisorte von Achill bzw. Ajax; vgl. Reed (2013, zu 11,197 f.). Murphy (1972, zu 11,194–220) bezeichnet die Laomedon-Episode ebenso wie die zuvor erzählte Geschichte von Midas als ahistorisch, was Ovid »wonderfully free in his use of time and space« mache, sodass er deshalb beide Geschichten hintereinander erzählen könne. Vgl. Sharrock (2019, 299) zu Apollos Weg zum Proto-Troja als Beispiel für eine teils

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hervor, anders als etwa bei der Gründung Thebens durch Cadmus nach einem Orakelspruch (vgl. Kap. 3.1). Die Beschreibung, mit der Ovid den Ort der zu gründenden Stadt näher charakterisiert, könnte kürzer nicht sein: Nach den eben erwähnten allgemeinen geographischen Angaben nennt Ovid nur ein einziges topographisches Spezifikum, nämlich einen Jupiter-Altar, um den Hauptschauplatz dieser Episode zu beschreiben (11,198 ara Panomphaeo vetus est sacrata Tonanti).37 Die Nennung dieser Kultstätte erfüllt eine wichtige Funktion, indem sie hervorhebt, dass die Stadtgründung an einem religiös konnotierten Platz erfolgt. Zum anderen erwähnt Ovid nicht nur den Hellespont (11,195 pontum), sondern auch das Meer vor Troja (11,197 profundi) und weist so bereits auf die wichtige Funktion des Wassers im weiteren Verlauf der Erzählung hin: Der Meeresgott Neptun ist am Bau der Stadtmauern beteiligt, und er bestraft den meineidigen König dadurch, dass er seine Stadt überflutet und seine Tochter einem Seeungeheuer aussetzt.38

Der Mauerbau (11,199–205) Nach der kurzen Einleitung beginnt der erste Hauptteil der eigentlichen Handlung mit der Errichtung der trojanischen Stadtmauern. Der erste Vers des Abschnitts (11,199 novae … moliri moenia Troiae) stellt Troja implizit in einen größeren, weltgeschichtlichen Kontext: Ovids Formulierung evoziert eine Verbindung sowohl zu Rom als auch zu Karthago (vgl. Verg. Aen. 1,7 altae moenia Romae; 1,366 moenia … novae Karthaginis).39 Der Vers verweist jedoch nicht allein auf die in den Büchern 14 und 15 behandelte Welthauptstadt und deren Erzfeindin, sondern präfiguriert auch die unmittelbar folgende Handlung, denn das eingeschaltete Adverb primum lässt erahnen, dass die trojanischen Stadtmauern später zerstört werden und demzufolge ein weiteres Mal errichtet werden müssen (vgl. Ov. met. 11,215 bis). Die Gründung wird durch einen Blick aus der Vogelperspektive eingeleitet (11,200 videt).40 Die von Apollo betrachteten Mauern bleiben jedoch der einauf fragwürdige Weise motivierte Bewegung zur Verknüpfung zweier Geschichten in den Metamorphosen. 37 Dieser Altar wird später zum Ort der Ermordung des Priamus (vgl. Kap. 5.6). – Augustus weihte dem Jupiter Tonans 22 v. Chr. einen Altar auf dem Kapitol. 38 Daneben lässt sich der intensive Bezug zum Meer auch als Vorverweis auf den Handlungsort der nachfolgenden Geschichte verstehen, in der Peleus die Meeresnymphe Thetis vergewaltigt und dabei den für das Schicksal Trojas so bedeutsamen ›Zerstörer‹ Achill zeugt (vgl. 12,593 operis nostri populator, Achilles). 39 Vgl. Reed (2013, zu Ov. met. 11,199). Wie Bömer (1980, z. St.) bemerkt, ist die Junktur moliri moenia ohne Parallele. 40 Vgl. Kap. 4.1 zum ersten Blick auf Athen durch die Augen des heranfliegenden Gottes Mercur.

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zige sichtbare Bestandteil trojanischer Topographie innerhalb dieser Erzählung. Als der Gott Laomedon bei seiner Tätigkeit beobachtet, nimmt er vor allem die Mühe und Anstrengung wahr, die dieses Unterfangen für den König bedeutet (11,199–201): moliri moenia Troiae Laomedonta videt susceptaque magna labore  crescere difficili nec opes exposcere parvas.

Er sieht, wie Laomedon die Mauern Trojas errichtet, wie das große Unternehmen mit schwerer Mühe vorankommt und keine geringen Mittel erfordert.

Der Text betont die finanziellen Kosten des Baus und scheint so die Art des Lohns zu begründen, die Apollo sich für seine Mithilfe ausbedingt: Für seine Unterstützung bei der Errichtung der Mauern verlangt der Gott von Laomedon Gold (11,204 aedificat muros pactus pro moenibus aurum).41 Diese Passage lässt sich allerdings auch als Trivialisierung des gedanklichen Hintergrundes verstehen: Indem Ovid betont, wie kostspielig der Bau Trojas ist, unterminiert er die Bedeutung, die der neuen Stadt durch ihre göttlichen Erbauer zukommt. Neben den oben genannten Vorverweisen auf Rom und Karthago enthält Ovids Text aber auch einen Rückbezug auf Theben, indem der Abschluss der Bauarbeiten mit den Worten stabat opus (11,205) ausgedrückt wird. Als Cadmus seine Stadt errichtet hat, heißt es: Iam stabant Thebae (3,131). Wie die antiken Leser wissen, ist Theben nach den Erzählungen aus dem zugehörigen Sagenkreis nicht allein aus dem Text der Metamorphosen verschwunden, sondern auch als reale Stadt aus der Weltgeschichte getilgt worden; dies stellt später auch Pythagoras im Katalog untergegangener Städte fest (15,429 Oedipodioniae quid sunt, nisi nomina, Thebae?; vgl. 15,427; Kap. 6.5). Damit wird schon der Gründungsakt Trojas durch Verweise auf die spätere zweimalige Zerstörung der Stadt überschattet.

Der Meineid Laomedons (11,205–210) Der folgende Textabschnitt schildert den Meineid Laomedons und die Bestrafung durch Neptun. Weil der König den Göttern ihren versprochenen Lohn verweigert (11,205 f.), überflutet der Meeresgott die Gestade Trojas, sodass die Ernte der Bauern und damit die Nahrungsgrundlage der Bevölkerung zerstört wird (11,207–210). Laomedon erhält die Strafe für sein frevelhaftes Handeln (11,205 infitiatur; 11,206 perfidiae … periuria). Diese trifft jedoch weniger den König selbst als seine Untertanen und erweist sich somit als Kollektivstrafe für das trojanische Volk. Das bestätigt sich auch durch die Gleichsetzung von Laomedons 41 Der finanzielle Aspekt wird schon in der Ilias betont (vgl. Hom. Il. 21,441–457). Vgl. Due (1974, 142). – Zur gemeinsamen und daher nicht exakt synonymen Verwendung von murus und moenia innerhalb ein und desselben Verses vgl. S. 92 Fn. 170.

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Charakter mit dem Wesen der ganzen Stadt; Ovid wendet die charakterisierende Funktion des Raumes also nicht auf den Herrscher der Stadt, sondern auf diese selbst an, indem er sie als habgierig personifiziert (11,208 avarae … Troiae).42 Die Flutstrafe wirkt umso eindrücklicher, als drei aufeinanderfolgende Verse mehr oder weniger dieselbe inhaltliche Aussage haben (11,208–210): inclinavit aquas ad avarae litora Troiae inque freti formam terras convertit opesque abstulit agricolis et fluctibus obruit agros. 

Er ließ die Wassermassen sich zur Küste des habgierigen Troja neigen, gab dem Land die Gestalt des Meeres, raubte den Bauern ihren Reichtum und begrub die Felder unter den Fluten.

Diese Verse stellen jeweils die Verbindung der von Natur aus getrennten räumlichen Sphären Land (litora; terras; agros) und Meer (aquas; freti; fluctibus) dar.43 Die Überschwemmung der Troas erinnert nicht nur auf intratextueller Ebene an die Deucalionische Flut (1,253–312; vgl. Kap. 2.2),44 sondern in der Bezeichnung der vom Wasser heimgesuchten Gegend als avarae litora Troiae (11,208) liegt auch eine intertextuelle Verbindung zur Aeneis. Dort wird Thrakien als litus avarum geschildert.45 Der lector doctus, der die Verse der Vergil-Stelle im Gedächtnis hat, erkennt auch hierin bereits einen Vorverweis auf den Trojanischen Krieg und die dadurch notwendige Flucht des Aeneas aus Troja, denn der weitere Kontext der Aeneis-Anspielung lautet: fuge litus avarum: / nam Polydorus ego (Verg. Aen. 3,44 f.). Der getötete trojanische Prinz Polydorus, ein Enkel des Laomedon, mahnt den flüchtenden Aeneas ebenso, nicht im gefährlichen Thrakien zu bleiben, wie der ovidische Text seinen Leser gewissermaßen darauf hinweist, dass Troja kein Ort von Dauer ist.46 Ovid ruft also gleichsam das bei Vergil geschilderte Thrakien als intertextuellen Referenzraum zu den Geschehnissen in Troja auf und verlegt die ›habgierigen Gestade‹ von dort nach Troja. Damit macht Ovid die Heimat der späteren Römer zu einem Ort, der durch die Ermordung eines trojanischen Prinzen in gleicher Weise kompromittiert

42 Vgl. Barchiesi (1997, 144): »A classic narrative method of characterizing a city is to speak of its founder.« 43 Die Formulierung in … freti formam terras convertit (11,209) stellt die zweite, diesmal raumbezogene Metamorphose dieser Geschichte dar (vgl. 11,203 mortalem induitur formam). Zur Marginalisierung von Verwandlungen gegenüber anderen Aspekten einer Erzählung in den Metamorphosen vgl. Galinsky (1975, 3 f.; 61). 44 Ähnlich wie in Buch 1 mit Deucalion und Pyrrha (1,313–415) ein neuer Abschnitt in der Menschheitsgeschichte beginnt, so lässt sich hier an einen narrativen Neubeginn denken, indem der Start des elften Buches und damit des Troja-Zyklus ähnlich wie der des ersten nach einigen hundert Versen mit einer Flut markiert wird. 45 Wie Papaioannou (2007, 218–220) feststellt, wird damit die Habgier des Königs auf das gesamte Land projiziert. 46 Vgl. 13,429–438; 13,533–575 für Ovids Darstellung vom Schicksal des Polydorus.

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wird und deshalb nicht für eine Stadtgründung, geschweige denn für eine urbs aeterna, geeignet erscheint. Bemerkenswert an der Bestrafung Trojas erscheint, dass diese nur durch einen der beiden Götter erfolgt, die am Bau der Stadt beteiligt waren. Nach Ovids Darstellung haben Apollo und Neptun gemeinsam die Mauern der Stadt errichtet (Ov. met. 11,202–204) und sind somit in gleicher Weise um die verabredete Bezahlung betrogen worden, doch letztlich tritt nur Neptun als Rächer auf. Apollo hingegen, der in enger Verbindung zu Rom steht und der persönliche Schutzgott des Augustus ist, hat keinen direkten Anteil an der Bestrafung und späteren Zerstörung der Stadt, die den mythischen Ursprung des Imperium Romanum darstellt (ebenso wie er später derjenige Gott ist, der – im Auftrag Neptuns – für die Tötung Achills sorgt, also von Trojas gefährlichstem Gegner, vgl. 12,597–606).47

Die Rettung Hesiones und die Eroberung Trojas (11,211–215) Auch die zweite Bestrafung Laomedons geht von Neptun aus und steht im Zusammenhang mit dem Meer als dem Herrschaftsbereich dieses Gottes.48 Ein von Neptun gesandtes Ungeheuer bedroht das Leben der Königstochter, die diesem auf einem unwirtlichen Felsen am Meer preisgegeben ist (11,211 f. regis quoque filia monstro / poscitur aequoreo, … dura ad saxa revinctam).49 Die genauen Umstände von Hesiones Rettung lässt der Text im Dunkeln und setzt somit das mythologische Vorwissen um die Zugehörigkeit dieser Episode zur Argonauten-Fahrt voraus.50 Hercules’ Eroberung der als ›zweifach eidbrüchig‹ bezeichneten Mauern Trojas (11,215 bis periura capit superatae moenia Troiae) – erneut wird dem Raum bzw. konkret den Mauern eine charakterisierende Funktion zugeschrieben – rekurriert nicht nur auf die beiden von Laomedon verweigerten Belohnungen, sondern das Numerale bis lässt sich neben periura

47 Vgl. Griffin (1997, zu 11,207); Fratantuono (2011, 313). 48 Auch hierin zeigt sich eine Parallele zur thebanischen Gründungserzählung: Ebenso wie dort ein dem Mars, dem Schutzgott Thebens, zugehöriges Monster vom Gründer Cadmus beseitigt werden muss, was diesen nicht vor dem späteren Verlassen seiner eigenen Stadt bewahren kann, so bedroht hier das von Neptun gesandte Monster die Tochter des Königs, und auch er kann das spätere Schicksal seiner Stadt nicht abwenden. 49 Diese Verse stellen eine verkürzte Nachahmung der Geschichte von Perseus und Andromeda (4,663–771) dar, wo der Held ebenfalls eine Königstochter vor einem Seemonster rettet. 50 Ovid nennt zwar die Pferde als versprochene Belohnung für Hercules’ Rettungstat (11,213 f. promissaque munera dictos / … equos), erläutert aber nicht deren göttlichen Ursprung als Jupiters Entschädigung an Laomedons Vorfahren Tros für den Raub seines Sohnes Ganymed. Vgl. die ausführliche Darstellung von Hercules’ Heldentat bei Valerius Flaccus (Val. Fl. 2,451–578).

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auch auf superatae beziehen und bezeichnet somit zugleich die zweimalige Eroberung Trojas. Im Auftritt des Hercules an dieser Stelle zeigt sich eine Abweichung von M ­ ythen- und Textchronologie: Nachdem zwei Bücher zuvor bereits vom Tod des Helden die Rede war (9,134–272), ist Hercules hier, in Buch 11, plötzlich wieder lebendig. Möglicherweise ist die in Buch 9 auffällig erscheinende Anspielung, dass seine Pfeile ein zweites Mal Troja sehen würden (9,232 regnaque visuras iterum Troiana sagittas), also nicht allein auf der Handlungsebene, d. h. als Vorverweis auf die Rückholung Philoctets zu verstehen (vgl. 13,399–403; Kap. 5.6), sondern auch auf der Ebene des Metamorphosen-Textes in seiner tatsächlichen Anordnung. Das hieße, dass der mythenchronologisch spätere Sachverhalt (Hercules’ Tod) auf das erst später geschilderte, aber eigentlich früher stattfindende Ereignis (die Rettung der Hesione) verwiese.51 Der Verzicht darauf, die Hesione-Geschichte in die Argonauten-Erzählung (7,1–158) einzubinden, ermöglicht Ovid eine größere Einheit der Handlungsorte. Daneben trägt er auch dazu bei, diese Geschichte als weiteren Vorverweis auf die Eroberung der Stadt im Trojanischen Krieg zu instrumentalisieren.

5.1.2 Fazit Der Schauplatz der Laomedon-Erzählung ist im Wesentlichen von zwei Bestandteilen geprägt: dem Meer vor Troja sowie den Stadtmauern, die als pars pro toto für die Stadt fungieren. Erblickt im Sinne des Anschauungsraums werden diese Mauern jedoch allein von Apollo, während der Text nichts Derartiges über die menschlichen Figuren aussagt. Damit sehen auch die Leser die Stadt von oben aus der Vogel- bzw. Götterperspektive (d. h. zunächst derjenigen Apollos). Das Meer wird im Laufe der Episode nicht weniger als acht Mal evoziert52 und in vielfacher Hinsicht mit der Erzählung verknüpft: Es markiert Trojas geographische Lage, es bezieht sich auf dessen göttlichen Erbauer Neptun und es steht im Zusammenhang mit den von diesem gesandten Strafen, der Flut und dem Meeresungeheuer. Ebenso werden die Mauern gleich an mehreren Stellen genannt und kennzeichnen dabei verschiedene Phasen der physischen Geschichte der Stadt: ihre Gründung (11,199 moliri; 11,204 aedificat) bzw. Existenz (11,205 stabat) und schließlich ihre Eroberung (11,215 capit).53 Die Stadt ist also keines 51 Zu Hercules’ Eroberung vgl. Hom. Il. 5,638–642; 20,145–148. Vgl. Griffin (1997, 121); Kenney (2011, zu Ov. met. 9,232); Reed (2013, zu 11,212–215); Kap. 4.1 zur internen Chronologie der Metamorphosen. Geitner (2021, 130) handelt die Stelle nur kurz ab. 52 11,195 pontum; 11,197/11,202 profundi; 11,207 maris; 11,208 aquas; 11,209 freti; 11,210 fluctibus; 11,212 aequoreo. 53 Vgl. Behm (2019a, bes. 295) zu den Unterkategorien der epischen Bauform ›Stadt‹.

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falls nur eine Kulisse, sondern stellt einen Gegenstand der Handlung dar, worin sich die Bedeutung der thematischen Funktion des Raumes zeigt. Diese Phasen werden auch deutlich, wenn man die Erzählung unter dem Aspekt des Aktionsraums betrachtet. Nachdem die Bewegungsverben des Eingangsabschnittes das Ankommen Apollos (11,194 abit; vectus) und sein Haltmachen (11,196 adstitit) angekündigt haben, beschreiben die Verben moliri (11,199) und aedificare (vgl. 11,204) den Mauerbau von Laomedon bzw. Apollo und Neptun als ein Handeln an einem gleichbleibenden Ort. Die Mauern sind ein topographisches Element, das die Beständigkeit der gegründeten Stadt sichern soll – wäre da nicht ihr frevelhafter König. Sein Handeln ist es, das die Überflutung der Troas und somit die Überlagerung der Landmassen durch das eigentlich von ihnen räumlich getrennte Wasser verursacht. Die Vertauschung der Elemente wirkt sowohl in Richtung Meer – Land (11,208 inclinavit; 11,209 convertit; 11,210 obruit) als auch umgekehrt (11,210 abstulit). Auch in der Beschreibung der zweiten Strafe lässt sich eine Opposition von Statik und Bewegung beobachten: Wie das dynamische Meer die eigentlich an einem gleichbleibenden Ort gebundenen Landmassen gefährdet, so droht nun das von Neptun geschickte Seemonster die Königstochter Hesione von ihrer festen Position auf dem Felsen in Richtung Meer zu entführen,54 während die Rettung durch Hercules sie wieder an Land, d. h. in ihren gewöhnlichen Lebensraum zurückbringt.55 Die Eroberung Trojas durch Hercules zeigt schließlich durch das Verb capere (vgl. 11,215) den Gegensatz zum Anfang des Textabschnitts mit dem Bau der Stadtmauern (11,199 moliri). Das Partizip superata (vgl. 11,215) wirkt dabei wie ein festes Beiwort für Troja und unterstreicht damit dessen literarhistorischen Status als Prototyp einer eroberten Stadt.56 Auch im Hinblick auf den gestimmten Raum zeigt sich die Bedeutung des Meeres für diese Episode. Das Wasser ist semantisch mit Gefahr konnotiert und stellt damit die symbolische Funktion des Raumes heraus, indem es jegliche Art von Bedrohung für die Stadt und ihre Bewohner hervorbringt, die sich ohne die Existenz des Meeres in vermeintlicher Sicherheit befänden. Von Beginn der Erzählung an wird der Raum mit einer entsprechenden Atmosphäre aufgeladen. Aus dieser Sphäre stammen die Flut und das Seeungeheuer und damit die beiden Strafen für Troja; zugleich weisen diese existenziellen Bedrohungen für die Stadt auf den Trojanischen Krieg voraus, da die griechischen Angreifer eines Tages ebenfalls von dorther nach Troja kommen werden. Auch die durch einen Jupiter-Altar gekennzeichnete Heiligkeit des Ortes kann das Schicksal Trojas 54 Vgl. die Parallelen in der Erzählung von Perseus und Andromeda: Statik (4,672 ad duras religatam bracchia cautes) – Bewegung (4,689 f. veniensque immenso belua ponto / imminet et latum sub pectore possidet aequor). 55 Dies kommt im Text nicht gleichermaßen deutlich zur Geltung (11,213 vindicat). 56 Vgl. Reed (2013, z. St.); Behm (2019a, 276).

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nicht abwenden, sondern scheint im Vergleich zur Gründungsgeschichte Thebens sogar auf das negative Ende hinzudeuten (vgl. Kap. 3.5). Eine direkte Linie führt scheinbar unausweichlich von der Gründung der Stadt zu ihrem Verderben und somit zu ihrer Eroberung, wie sich an den drei Adjektiven erkennen lässt, die sich jeweils auf den Genitiv Troiae am Ende dreier Verse beziehen: Troja ist kaum gegründet (11,199 novae), als auch schon durch das charakterliche Versagen und den Meineid des Königs das Schicksal der Stadt besiegelt ist (11,208 avarae) und sie infolgedessen schließlich erobert wird (11,215 supe­ ratae).57 Die Erzählung der Gründung dient somit dazu, sogleich über die Zerstörung der Stadt zu sprechen. – Wie in der Generation des Trojanischen Krieges das Schicksal der Stadt mit dem ihres Königs Priamus verbunden ist (13,404; vgl. Kap. 5.6), so ist es bereits in der Gründungsphase unmittelbar an den Charakter des Herrschers Laomedon geknüpft, wie sich am inhaltlichen bzw. grammatikalischen Bezug von periuria bzw. periura auf den König und die Stadtmauern zeigt (11,205 f. rex … addit, / … falsis periuria verbis; 11,215 periura … moenia Troiae).58 Schon im Moment der Gründung Trojas werden Vertragsbruch und Meineid damit zu Ursünden trojanisch-römischer Geschichte.

5.2  Ceyx geht wie Troja unter (11,410–748) Innerhalb des elften Buches fügt sich die Ceyx-Episode in zwei verschiedene übergeordnete Erzähleinheiten ein. Im engeren Sinne ist sie eine der Erzählungen über diesen Helden neben den vorangehenden Geschichten von Daedalion und Chione (11,266–345) sowie vom Wolf und den Rindern des Peleus (11,346– 409). In einem umfassenderen Rahmen gehört sie zusammen mit diesen beiden Erzählungen zu den Geschichten, die das elfte Metamorphosen-Buch als Ganzes zu einem Vorspiel zu den Erzählungen rund um den Trojanischen Krieg machen (12,1–13,622; vgl. Einleitung zu Kap. 5). Zu diesen zählen auch die Episoden von der Gründung Trojas durch Laomedon (11,194–220), von Peleus und Thetis (11,221–265) sowie die Aesacus-Erzählung (11,749–795), die sich der hier betrachteten Episode anschließt. Ovids Ceyx-Episode lässt sich in vier große Abschnitte gliedern: Der erste Teil (11,410–473) stellt die Ausgangssituation dar: Ceyx, der König von Trachis, will das Orakel von Claros59 besuchen; das Gespräch zwischen den Eheleuten 57 Vgl. Glenn (1986, 152 f.) zur prophetischen Funktion der Episode im Hinblick auf den späteren Fall Trojas. 58 Das Vorbild für diese Junktur findet sich bei Vergil (mit minimaler Verschiebung des Bezugs von den Mauern auf Troja selbst: Verg. Aen. 5,811 structa meis manibus periurae moenia Troiae). Die Stelle bezieht sich nur auf den ersten Meineid Laomedons. 59 Vgl. Griffin (1981, 149; 1997, 175–177) zum möglichen Einfluss von Nikander, der in Claros ein Priesteramt ausübte, auf Ovids Wahl dieses Handlungsortes.

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Ceyx und Alcyone mündet im Abschied voneinander. Im nächsten Abschnitt (11,474–582) wird ein Seesturm beschrieben, bei dem Ceyx den Tod findet. Der dritte Teil (11,583–673) beinhaltet Junos Auftrag an Iris, der besorgten Alcyone einen Traum zur Aufklärung von Ceyx’ Schicksal zu senden, die Beschreibung der Domus Somni, das Gespräch zwischen Iris und Somnus sowie das Wirken des Traumgottes Morpheus. Im Schlussabschnitt (11,674–748) begibt sich die erwachte Alcyone an den Strand, wo sie den Leichnam ihres Mannes erblickt und in ihrer Trauer in einen Eisvogel verwandelt wird, der ihren Namen trägt; dieselbe Art der Verwandlung geschieht im Anschluss mit Ceyx.60 Die Erzählung scheint auf den ersten Blick keinerlei Verbindung zu der dritten ›Hauptstadt‹ von Ovids Epos aufzuweisen, handelt es sich doch um eine mit einer Tiermetamorphose endende, tragisch verlaufende Liebesgeschichte, deren Schauplätze das Meer und die Stadt Trachis sind. Jenseits der Handlungsebene weist die Geschichte jedoch einen bedeutsamen indirekten Bezug zum TrojaMythos auf, da Ovid den Untergang von Ceyx’ Schiff in mehreren Gleichnissen mit der Eroberung einer Stadt parallelisiert. Diese Textstellen, auf die sich die folgende Analyse konzentriert, präfigurieren den später relativ kurz erzählten Untergang Trojas (13,399–575) auf der Bildebene.61

5.2.1 Analyse Der Abschied am Strand (11,410–473) Die einleitenden Verse (11,410–418) skizzieren den Grund für Ceyx’ Unternehmung: Nach der wundersamen Verwandlung seines Bruders Daedalion und den darauffolgenden Geschehnissen will er das Orakel des Apollo konsultieren, um Auskunft über die Gründe für diese Schicksalsschläge zu erhalten (11,412–414): consulat ut sacras, hominum oblectamina, sortes, Um das heilige Orakel, das Trostmittel ad Clarium parat ire deum; nam templa profanus für die Menschen, zu befragen, schickt invia cum Phlegyis faciebat Delphica Phorbas. er sich an, zum Gott von Claros zu gehen; denn das Heiligtum von Delphi machte der gottlose Phlegyer Phorbas unzugänglich.

Weil der Phlegyer Phorbas den Apollo-Tempel in Delphi beraubt hat und die Reisenden auf dem Weg dorthin bedroht, muss Ceyx das von Trachis aus viel 60 In einer alternativen Version der Legende sterben Ceyx und seine Gattin, weil sie sich gegenseitig als Zeus und Hera bezeichnen; vgl. Griffin (1981, 149–151). Zu Ovids mutmaßlichen Vorbildern für die Darstellung dieser Sage vgl. Bömer (1980, zu 11,410–748); Reed (2013, z. St.). 61 Vgl. Glenn (1986, 158).

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weiter entfernte Heiligtum des Gottes im ionischen Claros aufsuchen.62 Nachdem Alcyone zunächst mit Tränen und Sprachlosigkeit auf Ceyx’ Pläne reagiert,63 versucht sie ihn davon zu überzeugen, von seinem Vorhaben abzulassen (11,421–443; hier 11,423–429): »iam potes Alcyone securus abesse relicta? iam via longa placet? iam sum tibi carior absens? at, puto, per terras iter est, tantumque dolebo,  non etiam metuam, curaeque timore carebunt. aequora me terrent et ponti tristis imago; et laceras nuper tabulas in litore vidi et saepe in tumulis sine corpore nomina legi.«

»Kannst du etwa abwesend sein und deine Alcyone zurücklassen, ohne dir Sorgen zu machen? Macht dir die lange Reise etwa Freude? Bin ich dir etwa lieber, wenn ich nicht bei dir bin? Doch es gibt, so glaube ich, auch einen Weg über Land, und ich werde zwar leiden, aber keine Furcht empfinden, und meine Sorgen werden frei von Angst sein. Die Meere schrecken mich und auch die betrübliche Vorstellung vom Meer: Erst kürzlich habe ich zerrissene Planken an der Küste gesehen, und oft habe ich Namen auf Grabhügeln gelesen, die keine Körper bargen.«

Wie die effektvoll ans jeweilige Versende gestellten Worte relicta und absens zusammen mit dem Polyptoton abesse – absens verdeutlichen, spürt Alcyone das drohende Verlassenwerden.64 Sie stellt ihrem Mann drei durch anaphorisches iam eingeleitete rhetorische Fragen (11,423 f.), die allesamt einen ähnlichen Aussagegehalt haben: Wie könne Ceyx sie zurücklassen, wenn er sie doch angeblich liebe? Damit inszeniert Alcyone sich als potentielle puella relicta.65 Kurz darauf scheint Alcyone sich jedoch bereits mit der Notwendigkeit der Reise an sich abgefunden zu haben, denn sie ändert ihre Argumentationsstrategie von einem generellen Widerwillen gegen die Wegfahrt ihres Mannes hin zu ›geographischen‹ Überlegungen, was die Bedeutung der thematischen Funktion des Raumes unterstreicht: Es gebe doch auch einen Landweg, und wenn Ceyx diesen einschlage, sei sie zwar immer noch betrübt, müsse sich aber nicht um ihn sorgen. Das Meer dagegen beschreibt Alcyone als furchterregend, wobei der 62 Die Opposition von ire und invia hebt den Kontrast zwischen dem versperrten Delphi und dem zugänglichen Claros hervor. Wie Bömer (1980, z. St.) erwähnt, verwendet Ovid das Adjektiv invius hier erstmals im Sinne von inaccessibilis; vgl. 14,789 f. nondum tamen invia Iani / ora patentis erant; Kap. 6.3. 63 Der Ort dieses Gesprächs wird nicht erwähnt, vgl. Jöne (2017, 163). 64 Griffin (1997, z. St.). 65 Ovids Alcyone steht damit in der Tradition von Catulls Ariadne (vgl. Catull. 64) und Vergils Dido (vgl. Verg. Aen. 4); vgl. Jöne (2017, 177 f.); Ripoll (2019, 96); Ov. met. 11,464 in puppe relicta. – Im Gegensatz zu der von Anderson übernommenen lectio difficilior druckt Tarrant die Variante recurva.

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Pleonasmus aequora – ponti die doppelte Erwähnung ihrer Furcht widerspiegelt (metuam … timore). Analog zu dieser Strategie der Verdoppelung führt Alcyone in den folgenden beiden mit et eingeleiteten Versen (11,428 f.) zwei Beispiele für die Gefahren der Seefahrt an: drohender Schiffbruch und, daraus resultierend, die Unmöglichkeit einer Bestattung an Land (durch den Wechsel von nunc zu saepe findet dabei noch eine innere Steigerung vom Einmaligen zum Häufigen statt). Die beiden letztgenannten Verse verdienen besondere Aufmerksamkeit, da sich hier eine intertextuelle Beziehung zu Vergils Aeneis wahrnehmen lässt. Als die Aeneaden durch einen Seesturm an die Küste Libyens verschlagen werden, zerbricht ein Teil ihrer Flotte in den Wogen, Schiffstrümmer treiben auf dem Wasser (Verg. Aen. 1,118 f. apparent rari nantes in gurgite vasto, / arma virum tabulaeque et Troia gaza per undas).66 Alcyones visuelle Erinnerung an die Spuren vergangener Bootsunglücke (Ov. met. 11,428 vidi) stellt also nicht nur eine externe Analepse einer der Hauptfiguren dieser Geschichte dar, sondern antizipiert auch intertextuell das Ceyx drohende Verhängnis, das demjenigen von Vergils Trojanern gleichkommt. Darüber hinaus evoziert die Anspielung auf den vergilischen Seesturm den Untergang Trojas und weist damit nicht nur auf die entsprechende Erzählung in Buch 13 der Metamorphosen hin, sondern stellt auch (wie unten ausgeführt) eine Vorwegnahme von Trojas Untergang dar. Der Vers 11,429 weist eine noch stärkere intertextuelle Beziehung zum zweiten Buch der Aeneis auf, denn er erinnert an Vergils Schilderung vom unbestatteten Körper des Priamus (Verg. Aen. 2,557 f. iacet ingens litore truncus, / avulsumque umeris caput et sine nomine corpus). Priamus’ Leiche ist bei Vergil zwar physisch an der Küste Trojas präsent, jedoch ist nicht nur der Kopf vom Rumpf getrennt, sondern es fehlt auch die dem Toten zustehende Ehrung durch die Bestattung und die Angabe seines Namens. Ovid nun kehrt das vergilische Motiv in paradoxer Weise um, denn statt von einem Leichnam ohne dazugehörigen Namen erzählt er von Kenotaphen,67 denen jedoch die Namen von Verstorbenen zugeordnet sind. Wiederum entfaltet der intertextuelle Verweis eine doppelte Wirkung: Zum einen antizipiert Alcyone durch ihre Vorahnung die tatsächliche Rückkehr von Ceyx als Leichnam,68 zum anderen ergänzt sich diese erste TrojaReminiszenz mit den Gleichnissen im folgenden Seesturm und bereitet so die spätere Schilderung vom Untergang der Stadt vor. 66 Vgl. Biggs/Blum (2019, 146). Die Junktur arma virum (hier Genitiv) illustriert durch ihre Identität mit den Auftaktworten der Aeneis (1,1 Arma virumque cano) die herausgehobene Bedeutung dieser Stelle als freies Analogon zu Vergils Schilderung vom Untergang Trojas. 67 Vgl. Geitner (2021, 308–310) zur Rolle der Schriftlichkeit anlässlich der Nennung von Kenotaphen. 68 Vgl. auch die Evokation eines bevorstehenden Todes durch den Styx-Vergleich im späteren Seesturm (1,500 Stygia modo nigrior unda); vgl. Griffin (1997, z. St.).

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Im restlichen Teil dieses ersten Hauptabschnitts (Ov. met. 11,430–473) setzt Alcyone ihre Bemühungen fort, Ceyx von der geplanten Seereise abzubringen. Ihre Argumente bezüglich der Gefahren auf dem Meer unterstreicht sie mit dem Spezialwissen, über das sie als Tochter des Windgottes Aeolus verfügt.69 Ceyx lässt sich von ihren Bitten und Vorschlägen zwar rühren, aber nicht umstimmen. Er hat sich von der Gefährlichkeit des Meeres überzeugen lassen, will Alcyone jedoch nicht mitnehmen und damit dem gleichen Risiko wie sich selbst aussetzen (11,446 f. neque propositos pelagi dimittere cursus / nec vult Alcyonen in partem adhibere pericli).

Der Seesturm (11,474–582) Nach dem Abschied der beiden Liebenden (bis 11,473)70 wechselt der Schauplatz vom Land zum Meer (11,474 Portibus exierant).71 Der im Folgenden geschilderte Seesturm ereignet sich denkbar fern von jeder menschlichen Zivilisation (11,478 f. aut minus aut certe medium non amplius aequor / puppe secabatur, longeque erat utraque tellus). Wie zuvor schon durch die Figur der Alcyone (vgl. 11,425–427), so konstruiert Ovid auch hier einen Gegensatz zwischen gefahrvoller See und sicherem Festland, benutzt also wieder die symbolische Funktion des Raumes (aequor und tellus stehen jeweils betont am Versende). Der Seesturm selbst soll nun nicht eingehend untersucht werden, sondern nur im Hinblick auf seine Funktion als Vorbereitung auf den Trojanischen Krieg bzw. als Alternativdarstellung von Trojas Untergang gemäß der Schilderung Vergils.72 Eine solche Deutung legt bereits der ›Krieg der Winde‹ nahe (11,491 bella gerunt venti).73 Derartige Assoziationen verstärken sich durch die Verwendung von militärischem Vokabular, indem Ovid von einem ›Angriff der Wellen‹ spricht (11,496 undarum incursu).74 Diese Tendenz bestätigt sich daraufhin vollends, wenn der Dichter mehrere Gleichnisse zum Thema ›Stadteroberung‹ anführt. Im ersten Beispiel vergleicht Ovid das Ächzen des Schiffes unter den 69 Vgl. 11,431 quod socer Hippotades [sc. Aeolus] tibi sit; 11,437 f. nam novi et saepe paterna / parva domo vidi. 70 Für eine ausführliche Untersuchung der gesamten Szene, einschließlich der Verwendung elegischer Motive, vgl. Jöne (2017, 156–178). Vgl. auch Ripoll (2019, 112 f.). 71 Vgl. Bömer (1980, zu 11,454–456), der von einer »poetische[n] Phantasie-Landschaft« spricht, für eine Karte mit den geographischen Details. 72 Vgl. auch Ov. met. 11,499 cum fulvas ex imo vertit harenas ~ Verg. Aen. 2,625 ex imo verti Neptunia Troia. 73 Zu diesem seit Homer verwendeten rhetorischen Topos (vgl. Hom. Il. 16,765; Hom. Od. 5,295 f.) und entsprechenden Parallelstellen vgl. Bömer (1980, zu Ov. met. 11,491); Griffin (1997, z. St.); Reed (2013, z. St.). Zu sämtlichen Gleichnissen der Episode vgl. jetzt auch Lücht (2019, 105–114, bes. 106–110). – Der Artikel von Fontes (2010) zu dieser Episode war mir leider nicht zugänglich. 74 Vgl. 11,530 impetus undae; 11,730 incursus … aquarum.

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anströmenden Wogen mit demjenigen einer Festung, wenn diese von schweren Kriegswaffen getroffen wird (11,507–509): saepe dat ingentem fluctu latus icta fragorem Oft gibt [das Schiff], an der Seite von der Flut nec levius pulsata sonat quam ferreus olim getroffen, ein gewaltiges Ächzen von sich, und cum laceras aries balistave concutit arces. unter den Stößen hallt es nicht geringer wider, als sonst der eiserne Sturmbock oder die Schleudermaschine eine zerschossene Festung erschüttert.

Der Sturm auf dem Meer wird durch dieses Gleichnis mit dem Anstürmen eines Heeres gegen eine Stadt parallelisiert. Indem er von Waffen redet, wie sie auch in römischer Zeit benutzt wurden, bietet Ovid den zeitgenössischen Lesern eine lebensweltliche Vergleichsebene. Darüber hinaus weckt er aber möglicherweise neuerlich die Assoziation der Belagerung Trojas durch die Griechen, auf die jene seit der zugehörigen ktisis-Erzählung gewartet haben (11,194–220; vgl. Kap. 5.1). Nach der ausführlichen Darstellung einiger weiterer Aspekte des Sturms (11,510–523) führt Ovid den Vergleich zwischen Seesturm und Stadteroberung weiter (11,524–536): dat quoque iam saltus intra cava texta carinae fluctus; et ut miles, numero praestantior omni,  525 cum saepe adsiluit defensae moenibus urbis, spe potitur tandem laudisque accensus amore inter mille viros murum tamen occupat unus, sic, ubi pulsarunt noviens latera ardua fluctus, vastius insurgens decimae ruit impetus undae, 530 nec prius absistit fessam oppugnare carinam quam velut in captae descendat moenia navis. pars igitur temptabat adhuc invadere pinum, pars maris intus erat; trepidant haud setius omnes, quam solet urbs aliis murum fodientibus extra  535 atque aliis murum trepidare tenentibus intus.

Und schon macht die Flut Sprünge in das hohle Gefüge des Schiffes; und wie ein Krieger, der hervorragender ist als die ganze Truppe, wenn er oft genug gegen die Mauern der verteidigten Stadt angestürmt ist, das Erhoffte gewinnt und schließlich in glühendem Verlangen nach Ruhm als einziger von tausend Männern doch die Mauer ersteigt, so hatten die Fluten neunmal an die hochragende Flanke geschlagen, doch mächtiger sich erhebend, stürzt der Angriff der zehnten Welle heran und lässt nicht eher davon ab, gegen das ermüdete Schiff anzustürmen, bis sie gleichsam in den Mauerring des eroberten Schiffes hinabsteigt. Ein Teil des Meeres versuchte noch, in das Schiff einzudringen, ein anderer war schon im Inneren. Nicht anders erzittern alle, als eine Stadt erzittert, deren Mauer die einen von außen zu untergraben und die anderen von innen zu halten versuchen.

Im ersten Teil dieses Komplexes (11,525–532) vergleicht der Dichter das Anrollen der Wogen gegen das Schiff mit dem Anrennen von Soldaten gegen die

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Verteidiger einer Stadt.75 Interessant ist hier vor allem die Behandlung eines von Homer übernommenen Motivs: Während in der Ilias (Hom. Il. 15,381–389) der Angriff der Trojaner gegen die Schiffe der Griechen mit anstürmenden Wellen verglichen wird, kehrt Ovid dieses Verhältnis um.76 Er schließt diesen ersten Vergleich mit der Beschreibung, wie nach dem Anstürmen von neun Wellen die zehnte Woge mit besonderer Kraft gegen Ceyx’ Schiff prallt (Ov. met. 11,529 noviens … fluctus; 11,530 decimae … undae). Diese spezifische, für moderne Leser womöglich als numerische Kuriosität erscheinende Formulierung lässt sich zunächst auf den in der Antike verbreiteten Glauben zurückzuführen, wonach jede zehnte Welle besonders gefährlich sei;77 darüber hinaus kann man aber auch hier einen spezifischen Vorverweis auf den Trojanischen Krieg und die Eroberung der Stadt im zehnten Kriegsjahr sehen, die Ovid auch explizit an anderer Stelle schildert.78 Indem Ovid anschließend von den ›Mauern des Schiffes‹ spricht (11,532 moenia navis), steigert er den Vergleich zwischen Stadt und Schiff weiter.79 Der Dichter evoziert in diesem Vers den Topos der urbs capta (vgl. captae … navis) und somit insbesondere den Untergang Trojas.80 Der zweite Teil der oben zitierten Passage (11,533–536) führt den Vergleich von Sturm und Stadteroberung weiter. Weitere militärische Ausdrücke (11,533 invadere; vgl. 11,531 oppugnare) weisen auf den bevorstehenden Sieg der Wellen bzw. der Angreifer voraus, da sich das Wasser teils noch außerhalb, teils bereits im Innern des Schiffes befindet (temptabat … invadere ~ intus erat).81 Dieser symbolische Gegensatz von Innen und Außen setzt sich im nächsten Verspaar 75 Die Gleichsetzung der Sphären von Meer und Land wirkt dabei besonders prägnant, wenn man bedenkt, dass Ovid das Verb adsilire sonst ausschließlich bezüglich Wasser verwendet; vgl. Bömer (1980, z. St.); von Glinski (2012, 88) zur Identifikation des hier genannten miles mit Hector im Schiffskampf der Ilias (vgl. Hom. Il. 15,630–633). – Pianezzola (2005, 263) deutet die Verse Ov. met. 11,527 f. als Anspielung auf den ersten Bezwinger der Mauerkrone (corona muralis) im römischen Heerwesen. 76 Vgl. Otis (1966, 239–246) zu Ovids Verarbeitung der homerischen und vergilischen Seestürme, insbesondere zur Rolle der Götter; Pianezzola (2005, 261 f.); Reed (2013, zu 11,525–536); Biggs/Blum (2019, 147). 77 Vgl. Ov. trist. 1,2,49 f.; Lucan. 5,672 decimus, dictu mirabile, fluctus; Barratt (1979, z. St.) mit weiteren Parallelstellen; Matthews (2008, z. St.); Biggs/Blum (2019, 147; 149). 78 Vgl. die Prophezeiung des Calchas in Aulis (12,20 f. »Troia cadet, sed erit nostri mora longa laboris« / atque novem volucres in belli digerit annos); Lücht (2019, 109) zur epischen Konvention der Zahl zehn als »Sinnbild für das Ende einer Entwicklung«. 79 Von Glinski (2012, 89) weist darauf hin, dass Ovid innerhalb des durch ut – sic markierten Gleichnisses eine zweite Ebene durch velut einführt. – Die Metapher vom Staatsschiff findet sich zuerst in Aischylos’ Sieben gegen Theben, also in einem Stück, das von der Belagerung einer Stadt handelt; vgl. Pianezzola (2005, 263 f.); Aeschyl. Sept. 1–3; 62–64 mit Hutchinson (1985, z. St.); 652 ναυκληρεῖν πόλιν; 759 f. πρύμναν πόλεως; David (2009, 273; 278) zur Aktualität der Metapher im Athen des fünften Jahrhunderts v. Chr. 80 Vgl. 12,225 captae … urbis imago; 14,578 f. captam / quae deceant urbem (vgl. Kap. 6.2); Rossi (2002); Jolivet (2011). 81 Vgl. Lücht (2019, 110).

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fort. Hier fällt eine extreme Häufung von Parallelen zu Vers 11,534 (intus … trepidant ~ trepidare … intus) sowie vor allem innerhalb der beiden Verse auf (11,535 aliis murum fodientibus ~ 11,536 aliis murum … tenentibus; 11,535 extra ~ 11,536 intra). Die anschließende Beschreibung vom Tod des Ceyx illustriert noch einmal die große Liebe, die dieser zu seiner Frau hegt und die sich auch in räumlichen Vorstellungen ausdrückt (11,537–572; hier 11,544–548): Alcyone Ceyca movet, Ceycis in ore nulla nisi Alcyone est et, cum desideret unam,  gaudet abesse tamen. patriae quoque vellet ad oras respicere inque domum supremos vertere vultus, verum ubi sit nescit.

Ceyx denkt ganz an Alcyone, niemand außer Alcyone ist auf Ceyx’ Lippen, und obwohl er sich nach ihr allein sehnt, ist er doch froh, dass sie fern ist; er hätte auch zu den Küsten seiner Heimat zurückblicken wollen und einen letzten Blick in sein Haus geworfen, doch er weiß nicht, in welcher Richtung sich dieses befindet.

Der König ist froh, dass er seine Gattin nicht in dieselbe Todesgefahr gebracht hat wie sich selbst, doch es verlangt ihn nach seiner Heimat, um Alcyone noch einmal zu sehen. Aufgrund der Position des Schiffes inmitten des sturmumtosten Meeres vermag Ceyx jedoch nicht einmal, seinen Blick in die korrekte Richtung zu wenden, in der Trachis liegt. Ebenso stark wie das Verlangen des Ceyx nach Alcyone ist umgekehrt die Sehnsucht seiner Gattin. Alcyone vergeht in Sorge um ihren Mann und verzehrt sich in der vergeblichen Hoffnung auf seine Rückkehr (11,573–582; 11,576 reditusque sibi promittit inanes).

Das Haus des Schlafes (11,583–673) Im dritten Hauptteil der Episode beschreibt Ovid die Reaktion Junos auf Alcyones flehentliche Gebete. Da die Göttin deren Unwissenheit über das Schicksal ihres Mannes nicht länger erträgt, sendet sie ihre Botin Iris zum Haus des Schlafgottes Somnus, der Alcyone einen aufklärenden Traum schicken soll (11,583–591). Die ausführliche Beschreibung der Domus Somni (11,592–615; 11,592 Est prope Cimmerios longo spelunca recessu) reiht sich in die allegorischen Ortsbeschreibungen der Metamorphosen ein.82 Wie in jenen anderen Ekphraseis solcher Lokalitäten, so drückt sich auch hier das Wesen der personifizierten 82 Vgl. Reitz (2000); Kersten (2019c, 386); Keith (2020, 141 f.) zu den Bezügen zwischen der ovidischen Domus Somni und der vergilischen Unterwelt. – Ovid korrigiert hier Homer, indem er sagt, das Haus des Schlafes habe nicht zwei, sondern keinerlei Türen, vgl. Griffin (1981, 150).

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Gottheit in ihrer Umgebung aus.83 In einer Unterredung mit dem Gott (11,616– 632) teilt Iris diesem den Auftrag Junos mit und gibt dabei auch das räumliche Ziel der zu erfüllenden Mission an, nämlich Trachis, das hier als ›Stadt des Hercules‹ bezeichnet wird (11,627 Herculea Trachine).84 Im Folgenden beschreibt Ovid ebenso ausführlich das Wesen des Traumgottes Morpheus, an den der Auftrag delegiert wird (11,633–649), sowie dessen Erfüllung am benannten Ort (11,650–673; 11,651 f. in urbem / pervenit Haemoniam).85

Der Leichenfund am Strand (11,674–748) Am Ende der Episode erreicht der Traum Alcyone und sie erfährt vom Schicksal ihres Mannes (11,674–709). Am nächsten Morgen begibt sie sich an den Strand, um nach Ceyx Ausschau zu halten, und entdeckt seine im Wasser treibende Leiche (11,710–716):86 egreditur tectis ad litus et illum  maesta locum repetit, de quo spectarat euntem; dumque moratur ibi dumque »hic retinacula solvit, hoc mihi discedens dedit oscula litore« dicit dumque notata locis reminiscitur acta fretumque prospicit, in liquida spatio distante tuetur  nescioquid quasi corpus aqua.

Sie verlässt das Haus und begibt sich traurigen Sinnes erneut zu jenem Ort, von dem aus sie ihm beim Wegfahren hinterhergeschaut hatte, und während sie dort verweilt und sagt: »Hier löste er die Taue, an dieser Küste gab er mir Abschiedsküsse«, und während sie sich die Ereignisse, die mit dieser Gegend in Verbindung stehen, wieder in Erinnerung ruft und auf das Meer schaut, da erblickt sie im klaren Wasser, in einiger Entfernung, etwas, das wie ein Körper aussieht.

Alcyone sucht also den Ort auf, an dem sie ihren Mann zuletzt gesehen hat. Die Identität der Schauplätze kommt dabei durch den relativischen Anschluss (locum … de quo) sowie durch die zahlreichen Deiktika (ibi; hic; hoc … litore) zum Ausdruck. Die Rückkehr zum Ort der Abschiedsszene illustriert, wie Ovid mit der psychologischen Funktion des Raumes arbeitet: Der Wiedererkennungs­ effekt verstärkt die Trauer der Protagonistin (maesta). Die thematische Funktion dieses Raumes zeigt sich in der zweimaligen Verwendung des Wortes locus, das jeweils mit einem Verb des Wiederholens verbunden ist (locum repetit; locis 83 Vgl. Bömer (1980, zu 11,592–673); Reitz (2000, 41–44). 84 Trachis ist bekannt als der Ort, an dem Hercules seine letzten Lebensjahre verbrachte. Vgl. Griffin (1997, z. St.) zu den Details, insbesondere zur Frage eines Anachronismus durch die Verbindung mit Hercules. 85 Während die Stadt im Text und von einigen Kommentatoren der Region Thessalien zugeordnet wird, verortet Bömer (1980, zu 11,410–748) sie in der benachbarten Region Malis. 86 Diese Szene findet sich nicht in Ovids möglichen Vorlagen; vgl. Griffin (1981, 151).

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reminiscitur).87 Nach dem Leichenfund beschreibt Ovid kurz eine bis dahin nicht erwähnte Mole (11,728–730): adiacet undis Am Wasser liegt eine von Menschenhand facta manu moles, quae primas aequoris iras geschaffene Mole, welche die ersten frangit et incursus quae praedelassat aquarum.  Zorneswallungen des Meeres bricht und das Anstürmen der Wassermassen vorher ermüdet.

Dieser Ort hat eine proleptische Funktion, da sich hier im direkten Anschluss die Verwandlung der beiden Hauptfiguren ereignet (11,731–748; 11,731 insilit huc): Zuerst wird Alcyone in dem Augenblick, als sie sich in suizidaler Absicht von der Klippe stürzt, in einen Eisvogel verwandelt, dann geschieht dasselbe mit der Leiche ihres Gatten Ceyx.

5.2.2 Fazit Die Ceyx-Episode ist in topographischer Hinsicht geprägt von den zwei Hauptschauplätzen am Strand von Trachis sowie auf dem Meer;88 dadurch erhält die Erzählung eine ringkompositorische Gliederung (Strand – Meer – Strand). Die Doppelung des Handlungsorts an der Küste wird durch eine interne Analepse am Ende der Geschichte deutlich (11,711 maesta locum repetit; 11,714 notata locis reminiscitur acta).89 Hier und am Beginn stellt das Meer jeweils einen Hintergrundraum dar, den die weibliche Hauptfigur als einen für sie unerreichbaren Teil des Anschauungsraums wahrnimmt. So wie Alcyone anfangs an Land die Gefahren des Wassers antizipiert, bewahrheiten sich später ihre Befürchtungen, als der Leichnam ihres Mannes aus eben jener Sphäre zu ihr getragen wird. Auch die implizit vorhandene Etymologie des Eisvogels, in den Alcyone verwandelt wird (gr. hals, ›Meer‹), unterstreicht die fundamentale Bedeutung des Meeres für diese Episode. In der hier schwerpunktmäßig untersuchten zentralen Partie (11,474–582) tauschen Wasser und Land jedoch ihre Rollen: Das Meer wird zum Schauplatz und das Festland zum unerreichbaren Hintergrundraum (11,479 longeque erat utraque tellus).

87 Zu diesem ›re-enactment‹ vgl. Rudd (2008, 107). 88 Vgl. Griffin (1981, 149). 89 Vgl. Bach (2020, 187–189); 11,472 f. renovat lectusque locusque / Alcyones lacrimas; hierzu sowie zu der textkritischen Entscheidung zwischen locus und torus, der auch von Tarrant gedruckten Variante, vgl. Jöne (2017, 174). Eine Parallelstelle zu lectusque locusque findet sich in Ovids Exildichtung (Ov. trist. 4,3,23).

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Im Mittelstück der Geschichte dominiert die Kriegsmetaphorik des Gleichnisses,90 das Ovid für den Kampf der Winde untereinander sowie denjenigen der Wellen gegen Ceyx’ Schiff verwendet. Indem er die seit Aischylos geläufige Metapher des Staatsschiffes zu der eines Schiffsstaats bzw. einer Schiffsstadt umkehrt (11,526 defensae moenibus urbis; 11,532 velut in captae descendat moenia navis), überträgt Ovid den Kampf der Naturgewalten gegen das von Menschenhand gemachte Schiff auf die Sphäre eines menschlichen Kampfes gegen eine Stadt. Er setzt die Wogen mit Soldaten und das Eindringen des Wassers ins Schiff mit der Eroberung einer Stadt gleich; der Aktionsraum wird dadurch auf die Ebene des Gleichnisses verlagert. Bei der Betrachtung des gestimmten Raumes ist hervorzuheben, wie intensiv Ovid zunächst mit der symbolischen Funktion des Raumes arbeitet, als er Alcyone über die Gefahren einer Schiffsreise reden lässt. Alcyones Wunsch, ihren Mann auf seiner Reise zu begleiten und sich ebenfalls den von ihr vorhergesehen Gefahren auszusetzen, zeigt die charakterisierende Funktion des Raumes. Wie Jöne (2017, 177) festhält, werden Meer und Strand durch das Verhalten der Figuren zum trennenden und verbindenden Ort zugleich. Schließlich demonstriert Alcyones Rückkehr an den Ort des Abschieds die psychologische Funktion des Raumes, da der von Morpheus gesandte Traum von Ceyx’ Tod Alcyone dazu bewegt, erneut den Ort ihrer letzten Begegnung aufzusuchen (11,711 maesta locum repetit). Durch den militärischen Gleichniskomplex weckt Ovid – zumal aufgrund der Position der Ceyx-Episode innerhalb des trojanischen Sagenkreises – Assoziationen an die Eroberung Trojas. Wenngleich er die politischen und historischen Implikationen des Seesturms im ersten Buch von Vergils Aeneis an der Oberfläche beseitigt und diese durch Motive über eheliche Liebe und Verwandlung ersetzt, so lässt sich auf der Ebene der Gleichnisse dennoch ein Stadtbezug dieser Episode ausmachen: Während der Sturm bei Vergil im Zusammenhang mit der Gründung Roms steht, trägt die ovidische ›Romanisierung‹91 durch militärische Gleichnisse dazu bei, die Geschichte mit dem Untergang einer Stadt in Verbindung zu bringen, nämlich mit dem später erzählten Fall Trojas. Ovid invertiert insofern also einen der zentralen Gedanken, die dem vergilischen Seesturm zugrunde liegen.

90 Bömer (1980, zu 11,410–748) und Griffin (1981, 152; 1997, 182–185) machen darauf aufmerksam, in welch starkem Kontrast dieser metaphorische Krieg und überhaupt die Reise des Ceyx zu seiner pietas stehen, die sich sowohl in seiner ehelichen Treue als auch in seinem generell friedlichen Verhalten ausdrückt, das sich wiederum in Opposition zu dem seines kriegerischen Bruders Daedalion befindet; vgl. 11,270 hic [sc. Ceyx] regnum sine vi, sine caede gerebat; 11,297 f. culta mihi pax est, pacis mihi cura tenendae / … fuit, fratri fera bella placebant. 91 Vgl. Pianezzola (2005, 263); Biggs/Blum (2019, 145; 148).

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5.3  Aesacus meidet Troja (11,749–795) Die Erzählung von der Vogel-Metamorphose des Aesacus weist die Merkmale eines Epyllions auf. Sie ist gleichermaßen mit den vorhergehenden wie mit den nachfolgenden Büchern verknüpft: Zum einen umklammert sie zusammen mit der Sage von Daedalion (11,266–345) die Ceyx-Episode (11,410–748), sodass diese von zwei weiteren Vogel-Verwandlungen umgeben ist, und variiert damit die Orpheus-Geschichte (10,1–11,84), indem sie das Motiv ›Tod der Geliebten durch Schlangenbiss‹ wiederholt; zum anderen stellt sie den Höhepunkt der den Troja-Stoff vorbereitenden Erzählungen dar und fungiert dadurch als eine Art »epilogo-preludio« am Ende von Buch 11.92 Zugleich bereitet die Figur der Nymphe Hesperie als Allegorie den Übergang des Werkes nach Italien vor, wie die nachfolgende Analyse zeigt. Die Episode lässt sich in drei etwa gleich lange Abschnitte gliedern: Nach einer kurzen Überleitung (11,749 f.), in der die ewige Liebe als Moral der Geschichte von Ceyx und Alcyone erscheint, präsentiert ein anonymer Erzähler Aesacus als Hauptfigur dieser Episode: Dieser Erzähler schildert Ceyx’ gegenwärtige Erscheinung als Vogel, seine dynastische Abstammung sowie sein weltabgewandtes Wesen (11,751–766). Der zweite Hauptabschnitt (11,767–782) fungiert als Peripetie, in der die vergebliche Liebe des Aesacus, welcher ein Leben auf dem Land außerhalb Trojas führt, zu Hesperie erzählt wird, die mit deren Tod durch einen Schlangenbiss endet.93 Ein Epilog (11,783–795) schildert den Suizidversuch des Prinzen im Meer und beschreibt seine Metamorphose in einen Vogel mit der Bezeichnung ›Taucher‹.

5.3.1 Analyse Abkunft und Charakter des Aesacus (11,751–766) In der Anfangsszene zeigt der anonyme intradiegetische Erzähler94 seinem ebenfalls unbestimmten Gegenüber den stets zum Meer strebenden Tauchervogel (11,752 mare carpentem). Sodann ordnet er den solchermaßen verwandelten, erst in Vers 11,762 namentlich genannten Aesacus in die trojanische Dynastie ein (11,754 f. regia progenies … / … huius origo), indem er Vertreter der drei vo­ 92 Fernandelli (2008, 23 f.); vgl. Myers (1994, 36); Fucecchi (2018, 102). Die Verse 12,1–6 leiten zum Trojanischen Krieg über, indem Ovid sagt, alle Söhne des Priamus mit Ausnahme von Paris seien beim Totenopfer für Aesacus anwesend (einmal mehr lässt sich eine Variation des Motivs ›Alle, nur x nicht‹ beobachten). – Über Aesacus finden sich in der erhaltenen antiken Literatur nur wenige Spuren; einen Überblick bietet Fucecchi (ebd., 103–107). 93 Wichtigstes Vorbild hierfür ist Vergils Schilderung vom Tod der Eurydice (Verg. georg. 4,457–547). 94 Vgl. 11,749; 11,751; Myers (1994, 82).

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rangehenden Generationen benennt und so einen royalen Stammbaum skizziert (Ilus, Assaracus und Ganymed – Laomedon – Priamus).95 Griffin (1997, z. St.) bezeichnet die Verse 11,756–758 als »flashback«, mit dessen Hilfe Ovid Mythos und Geschichte zusammenhalte: Die Erwähnung Ganymeds verweist bis auf die vierte zurückliegende Generation, d. h. auf dessen Vater Tros, den eponymen Ahnherrn Trojas und seiner Bewohner. Die Bezeichnung Laomedons als senex (11,757) lässt vermuten, dass seit dem Mauerbau mit Neptun und Apollo (11,194–220) mehrere Jahrzehnte vergangen sind. Die Charakterisierung von Priamus durch die Phrase novissima Troiae / tempora sortitus (11,757 f.) weist schließlich auf den Untergang der Stadt voraus, der somit bereits evoziert wird, bevor auch nur ein einziges Ereignis aus dem Trojanischen Krieg erzählt worden ist.96 Ovid berichtet von der verborgenen Geburt des Aesacus im Ida-Gebirge (11,762 f. umbrosa furtim peperisse sub Ida / fertur Alexiroe) und seinem zurückgezogenen Dasein (11,764–766): oderat hic urbes nitidaque remotus ab aula secretos montes et inambitiosa colebat rura nec Iliacos coetus nisi rarus adibat.

Er hasste die Städte, und fernab vom prächtigen Hof bewohnte er die abgelegenen Berge und das keinen Ehrgeiz weckende Land, und die Versammlungen in Troja besuchte er nur ganz selten.

Damit parallelisiert Ovid Aesacus mit zwei wichtigen trojanischen Figuren, ­Aeneas und Paris.97 Zum einen bezeichnet er Aesacus als Troius heros (11,773) und die Umstände seiner Geburt erinnern an die Zeugung des Aeneas durch Anchises und Aphrodite auf dem Ida; man kann Hesperie(n)s Verfolgung als Präfiguration von Aeneas’ Suche nach Italien lesen.98 Zum anderen entspricht Aesacu s’ Lebensstil dem Hirtendasein des Paris und weist dadurch unterschwellig darauf hin, dass auch seine eigene Liebe nicht zu einem guten Ende führen wird. Die Konsequenzen sind allerdings in ihrem Ausmaß nicht miteinander zu vergleichen: Während Paris’ Raub von Helena zum vielfachen Sterben

95 Zu 11,756 vgl. Hom. Il. 20,232; Verg. Aen. 6,650. Vgl. Griffin (1997, zu Ov. met. 11,749– 795) zu Ovids Quellen und Abweichungen bezüglich der Genealogie seiner Figuren und deren Namen; Fucecchi (2018, 107 f.); Kap. 5.1 zur Genealogie der ersten trojanischen Könige. – Der kurze genealogische Katalog verweist auf die Möglichkeit epischen Erzählens, wie sie im Proömium der Metamorphosen verhandelt und hier zugunsten eines Epyllions negiert wird (11,754–758 si descendere ad ipsum / ordine perpetuo quaeris … ~ 1,4 perpetuum … carmen). 96 Vgl. Feeney (1999, 20). 97 Vgl. Fucecchi (2018, 111 f.). 98 Vergil verwendet die Junktur Troius heros allein für Aeneas, vgl. z. B. Verg. Aen. 12,502. Reed (2013, zu Ov. met. 11,773) weist auf einen Widerspruch der heimlichen Geburt auf dem Ida zur Darstellung in der Ilias hin: Wie Homer berichtet, wuchsen auch die nicht von Hecuba stammenden Kinder des Priamus innerhalb der Palastmauern auf (vgl. Hom. Il. 24,497).

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im Trojanischen Krieg führt, bewirkt Aesacus’ Verfolgung der Hesperie lediglich deren eigenen Tod.99 Neben den Parallelen zu anderen Figuren der trojanischen Dynastie ist vor allem die mögliche Bedeutung der von Aesacus gewählten ländlichen bzw. elegischen Lebensweise interessant.100 Hierbei erhält der Raum eine thematische bzw. symbolische Funktion, denn die Wahl eines geeigneten Lebensraums wird explizit als Entscheidung für eine jeweils unterschiedliche Lebensart dargestellt. Der trojanische Prinz jedenfalls zieht ein Dasein in der abgelegenen Natur (remotus; secretos montes) dem Leben am Hofe (nitida … aula) nicht nur vor, sondern die Stadt ist ihm geradezu verhasst, sodass er sich nur dann in Troja aufhält, wenn es unbedingt nötig ist (oderat hic urbes; nec Iliacos coetus nisi rarus adibat). Möglicherweise verbirgt sich hinter den hier aufgeführten politischen Schlagworten wie aula, inambitiosa und coetus eine Spitze gegen das Geschehen am römischen Kaiserhof, wenngleich sich die Kommentatoren über einen solchen zeitgenössischen Bezug keineswegs einig sind.101 Festhalten lässt sich, dass Aesacus, der die »antithesis of an urban personality« verkörpert,102 bewusst einen Lebensstil wählt, der demjenigen Hectors und anderer männlicher Heldenfiguren konträr gegenübersteht: Er hat keine politischen oder kriegerischen Ambitionen (das Wort inambitiosa wirkt als hapax legomenon umso emphatischer), wie sie in der archaischen Gesellschaft erwartet werden, die hier durch den anonymen Erzähler verkörpert wird (11,760 forsitan inferius non Hectore nomen haberet). Um ein ruhmvolles Leben wie Hector führen zu können, hätte Aesacus nicht nur ein anderes fatum erlangen müssen, sondern auch die Stadt als Lebensort wählen müssen.

Aesacus’ Liebe zu Hesperie (11,767–782) Ebenso wie der Erzähler und sein Gegenüber anfangs den Taucher als Teil der belebten Natur betrachten (11,752 f. quem … / aspicis), so wird nun in einer Analepse geschildert, wie der noch nicht verwandelte Aesacus Hesperie erblickt und sich in sie verliebt (11,769 aspicit Hesperien). Dieser Teil der Erzählung ist vor allem angesichts des Namens der Nymphe interessant. Das Wort Hesperia und damit verwandte Formen beziehen sich auf den Westen bzw. das Abendland 99 Vgl. Reed (2013, zu 11,749–795). Fratantuono (2011, 328 f.) vergleicht Aesacus’ Lebensstil auch mit dem der Jagdgöttin Diana. Vgl. Ov. epist. 5,13–20, wo Paris’ erste Gefährtin Oenone versucht, ihn zur Rückkehr zu ihr und damit zu einem ländlichen Leben zu bewegen. 100 Vgl. Rosati (2015, 572). ›Elegisch‹ meint hier in etwa ein ›elegisch-bukolisches Leben‹ gemäß Tibull, wo das Landleben den Vorzug vor demjenigen in der Stadt erhält (dem üblichen Lebensort des elegischen Erzählers; vgl. Einleitung zu Kap. 6). 101 Reed (2013, z. St.) sieht einen Bezug zum augusteischen Rom, während Bömer (1980, z. St.) vor leichtfertig hergestellten Parallelen warnt. 102 Fratantuono (2011, 328 f.); vgl. von Glinski (2018, 233).

Aesacus meidet Troja

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und bezeichnen insbesondere in der Aeneis Italien und somit die Destination des Aeneas und seiner Gefährten.103 In der hier betrachteten Erzählung verfolgt Aesacus Hesperie (Ov. met. 11,774 insequitur … urget; 11,778 esse secutum), die vor ihm in die Wälder flüchtet (11,771 fugit; 11,775 fugientis; 11,768 silvas captatam104). In diesem Verhalten zeigt sich die charakterisierende Funktion des Raumes, da das Zurückweichen vor den Avancen des Jünglings den Wunsch der Nymphe nach Jungfräulichkeit ausdrückt. In ähnlicher Weise weicht in der Aeneis Italien scheinbar vor den Trojanern zurück (Verg. Aen. 5,629 Italiam sequimur fugientem; 6,61 iam tandem Italiae fugientis prendimus oras). Damit wird die Verfolgung Hesperies in den Metamorphosen zu einer ›erotischen Allegorie‹ für die Irrfahrten des Aeneas, wie sie auch in Ovids ›Kleiner Aeneis‹ (Buch 13/14) in abgekürzter Form dargestellt werden.105 Betrachtet man Hesperie(n) nicht als Figur, sondern als ›Italien‹, so lässt sich darin die spiegelnde Funktion des Raumes erkennen: Das Objekt von Aesacus’ Liebe stellt das Land dar, das vor seinem Anverwandten Aeneas zurückweicht.

Suizidversuch und Verwandlung des Aesacus (11,783–795) Die Erzählung endet mit einem Ringschluss, denn im Zuge der Darstellung von Aesacus’ Selbstmordversuch und seiner rettenden Verwandlung durch Tethys rekurriert sie wiederholt auf das zu Beginn genannte Meer, den Lebensraum des Verwandelten.106 Auch bei seinem Suizidversuch wird Aesacus nochmals indirekt mit Aeneas parallelisiert, da die Junktur mortem optare (11,786 optatae non est data copia mortis) in der klassischen Dichtung sonst allein bei Vergil vorkommt, als dieser Aeneas’ Todeswunsch angesichts der Verzweiflung im untergehenden Troja beschreibt (Verg. Aen. 2,655 rursus in arma feror mortemque miserrimus opto).107

103 Vgl. Bach (2020, 80–82) zur Ambiguität der Bedeutungen von Hesperia; Verg. Aen. 1,530 = 3,163 est locus, Hesperiam Grai cognomine dicunt; 3,185 et [sc. Cassandram] saepe Hesperiam, saepe Itala regna vocare. 104 Murphy (1972, z. St.) übersetzt captatam … Hesperien passend mit »Hesperie, whom he had often tried to catch«. Die durch Wiederholungen und Intensiva ausgedrückten Bewegungen des Aesacus (insequitur; esse secutum; captatam) finden ihr Pendant in seinem Verhalten nach der Verwandlung (11,792 letique viam sine fine retemptat). 105 Reed (2013, zu Ov. met. 11,769). Vgl. Rosati (2015, 572): »Thus it is a moving love story, and not the blaring of war trumpets, that introduces Ovid’s readers into the Trojan world.« 106 11,783 rauca … unda; 11,784 se dedit in pontum; 11,785 nantem … per aequora; 11,790 corpus super aequora mittit; 11,791 f. in … profundum / pronus abit; 11,795 aequora amat; vgl. 11,752 mare carpentem. 107 Vgl. Fucecchi (2018, 118–120).

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Troja

5.3.2 Fazit Auch in der Aesacus-Erzählung wird Troja selbst nicht zum Handlungsort. Stattdessen rücken mit dem Meer, dem Ida-Gebirge und den Wäldern einige umliegende Örtlichkeiten ins Blickfeld, teils als tatsächlicher Schauplatz, teils nur als Hintergrundraum. Alle drei Phasen im Leben der Hauptfigur spielen ausdrücklich außerhalb der Stadt Troja: Aesacus kommt in den Bergen zur Welt, er verbringt sein Leben als Prinz auf dem Land (11,764–766), sein Suizidversuch ereignet sich am Meer und dieses stellt auch seinen neuen Lebensbereich nach der Verwandlung dar (11,783–795).108 Neben dem Ida-Gebirge werden mit den zwei Flüssen Granicus und Cebrenus sowie den Wäldern weitere Elemente der natürlichen Landschaft rund um die Stadt Troja evoziert, die somit zu einem Hintergrundraum wird, da sie für das Dasein des trojanischen Prinzen unbedeutend ist und die Handlung nicht dort spielt. Es scheint somit, als ob das Leben des Aesacus sich um Troja herum wie um einen nicht greifbaren Ort abspielt – die Stadt präsentiert sich bei der Lektüre nur ex negativo, genauso wie die Hauptfigur sie nicht als Teil des Anschauungsraums wahrnehmen will. Bei der Betrachtung des Aktionsraums dominiert die Bedeutung des Fluchtmotivs: Aesacus flieht vor dem Leben am Hofe (11,764 remotus ab aula; 11,765 f. colebat / rura; 11,766 Iliacos coetus … rarus adibat) und die Nymphe Hesperie kommt auf der Flucht vor seinen liebestollen Nachstellungen ums Leben (11,771–782). Schlussendlich versucht Aesacus die Verantwortung für den Tod seiner Geliebten zu übernehmen, indem er seiner Reue durch Selbstmord den denkbar deutlichsten Ausdruck verleiht (11,778 f. piget, piget esse secutum! / sed non hoc timui, neque erat mihi vincere tanti).109 Unter dem Aspekt des gestimmten Raumes lässt sich nochmals die Gegenüberstellung von Stadt und Land hervorheben. Während Troja durch seinen bevorstehenden Untergang (11,757 f. novissima Troiae / tempora) sowie durch Aesacus’ Hass auf alles Urbane (11,764 oderat hic urbes) negativ konnotiert ist, wird das Land, intern fokalisiert durch diese Figur, nahezu im Tonfall einer bukolischen Idylle geschildert (11,765 f. secretos montes et inambitiosa colebat / rura).110 Das Meer als zweiter Haupthandlungsort der Geschichte stellt sich, wie 108 Vial (2010, 292–294) beobachtet feinsinnig, dass die Begriffe aequor und amor/amare sich im Verlauf der Episode gleichsam zu meiden scheinen und erst im letzten Vers zusammenkommen (11,795 aequora amat): erst in seinem neuen Element, dem Wasser, erfüllt sich das Liebesbedürfnis des nunmehr verwandelten Aesacus. 109 Vgl. Aeneas’ Reue gegenüber Dido in Vergils Unterweltsschilderung (Verg. Aen. 6,463 f. nec credere quivi / hunc tantum tibi me discessu ferre dolorem) sowie die Worte des Bedauerns gegenüber ihrer Schwester Anna in Ovids Fasten (Ov. fast. 3,617 nec timui de morte tamen: metus abfuit iste); vgl. Fucecchi (2018, 117 f.). 110 Vgl. als Gegenbeispiel den Hass Callistos auf den Wald als die Landschaft, in der sie von Jupiter vergewaltigt wurde (2,438 huic odio nemus est et conscia silva).

Achill stirbt vor Troja

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schon in der Laomedon-Episode, als ein Ort der Bedrohung dar: Während in jener Geschichte vom Meer aus die Flut und das Seemonster kommen, von denen die Stadt bzw. die Tochter des Königs bedroht werden, so ist es hier ebenso mit negativen Ereignissen konnotiert als der Ort, an dem mit Aesacus ein weiterer Prinz beinahe zu Tode kommt und nur durch das Eingreifen der Tethys davor bewahrt wird. Neben dem Meer ist vor allem Hesperie als Personifikation eines Ortes, namentlich Italiens, für die Interpretation der Erzählung relevant: Durch die Figur der Nymphe etabliert Ovid eine etymologisch basierte Verbindung zwischen Troja und Rom; auf symbolischer Ebene zerstört Aesacus sich selbst, d. h. Troja, auf der Suche nach Hesperie(n).111 Der Raum hat somit auf vielfache Weise eine symbolisch-allegorische Bedeutung, vor allem dadurch, dass die Bereiche von Stadt und Land zwei konträre Lebensformen darbieten. Ovid präsentiert das Leben das Aesacus beinahe im Stil einer Diatribe, als positive Alternative zu den Gefahren am Hof einer reichen Stadt wie Troja, die feindliche Begierden hervorruft. Aesacus entscheidet sich in der Manier eines römischen Elegikers für das Land und die Liebe, anstatt wie seine männlichen Verwandten eine militärische Karriere zu verfolgen. Diese Entscheidung erweist sich bis zu einem gewissen Grad – d. h., wenn man von Aesacus’ Selbstmordversuch und seiner Verwandlung absieht (wenn man diese also als besseres Schicksal als den Tod bzw. als die Rolle von Aesacus’ Brüdern im Lichte von Trojas Untergang betrachtet) – als opportun, da er nicht dasselbe Schicksal wie Hector und andere erleidet. Möglicherweise nutzt Ovid also die Geschichte des Aesacus, um exemplarisch aufzuzeigen, welche Art von Leben Aeneas, Paris und andere hätten führen können, wenn sie nicht vom fatum dazu bestimmt gewesen wären, ihre aus dem Mythos bekannten Rollen einzunehmen.112

5.4  Achill stirbt vor Troja (12,580–619) Der griechische Held Achill, dessen Zorn das Leitmotiv der homerischen Ilias ist (vgl. Hom. Il. 1,1), nimmt auch in den Metamorphosen eine wichtige Rolle ein. Zwei Episoden, in denen Achill die Hauptfigur ist, umrahmen den Abschnitt über den Trojanischen Krieg: Den Erzählungen Nestors (Ov. met. 12,168–579) gehen diejenigen vom Kampf Achills gegen Cygnus und vom anschließenden Siegesmahl (12,64–167) voran; auf sie folgt die hier zu betrachtende Schilde 111 Vgl. Fratantuono (2011, 330 f. mit Fn. 71). 112 Fucecchi (2018, 109–113; 120 f.) stellt die interessante These auf, dass das ›bukolische‹ Leben des Aesacus das Motiv der ihm bei anderen Autoren zugeschriebenen prophetischen Gabe ersetzt (dem Mythos zufolge soll Aesacus vorausgesagt haben, welches Unheil Paris über Troja bringen würde).

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rung vom Tod dieses Helden.113 In Buch 13 schließen sich das armorum iudicium (13,1–398) sowie die Geschichten von Hecuba (13,399–575) und Memnon (13,576–622) an, mit denen Ovid seine ›Kleine Ilias‹ abschließt. Der Dichter erzählt also von einer Tat Achills aus dem ersten Kriegsjahr, füllt die narrative Ellipse der ›iliadischen‹ Zeit mit der Nestor-Rede und überbrückt so das zehnjährige Kriegsgeschehen,114 um sogleich zu einem nicht mehr bei Homer erzählten Ereignis überzuleiten.115 Unabhängig von der Frage, ob Ovid die Werke des Epischen Kyklos gekannt hat,116 lässt sich der Tod Hectors am Ende der Ilias als klar erkennbares Grundmodell heranziehen; daneben dient aber auch das Ende der Odyssee als Folie für die Schilderung dieses Heldentodes.117 Die Betrachtung von Achills Nachruhm durch den auktorialen Erzähler weist daneben auch unterschwellige Parallelen zur Sphragis der Metamorphosen auf, in der Ovid die Hoffnung auf seinen eigenen ewigen Ruhm zum Ausdruck bringt (vgl. Kap. 6.9). Die Episode lässt sich in drei Hauptabschnitte gliedern: Zunächst erzählt Ovid von der Verdammung Achills durch Neptun, da jener der Mörder seines Sohnes Cygnus ist (Ov. met. 12,580–596), sodann von der Tötung Achills durch Paris auf Befehl Apollos (12,597–608);118 am Ende steht die Bestattung des Helden sowie eine Reflexion über seinen Nachruhm (12,608–619). Die nachfolgende Analyse zeigt, wie Ovid die Verbindung zwischen dem Tod des griechischen Helden und dem Untergang Trojas darstellt.

5.4.1 Analyse Der Grund für die Tötung Achills (12,580–585) In den Eingangsversen dieses Abschnitts werden mit Neptun und Apollo die göttlichen Akteure der Geschichte eingeführt und das Motiv für die Haupthandlung erläutert: Neptun will, dass der Held Achill für die Tötung seines Sohnes Cygnus büßen muss (12,581–583). Während der Meeresgott in der Ilias 113 Vgl. Due (1974, 149); Dippel (1990, 59); Sharrock (2019, 280 f.) für eine Evaluation von Achills Tod als epischem Element der Metamorphosen. Achill hat noch einen weiteren ›Auftritt‹, als er in Buch 13 in Thrakien als Schatten erscheint, der von Agamemnon die Opferung der Priamus-Tochter Polyxena fordert (13,441–449). 114 In der Terminologie von Genette (1993, 66–69) handelt es sich um eine explizite, bestimmte Ellipse. Im Verlauf des Waffenstreits erwähnt Odysseus mehrfach die lange Kriegsdauer (vgl. Kap. 5.5). – Wie Glenn (1986, 167) hervorhebt, spricht Nestor hier von der Zerstörung seiner Heimat und weiterer Städte und antizipiert damit indirekt den nachfolgenden Bericht vom Untergang Trojas. 115 Vgl. Baldo (1986, 111); Papaioannou (2007, 138 mit Fn. 297). 116 Vgl. Rosati (2015, bes. 568–573 zu Cygnus), der zu einer positiven Antwort auf diese Frage tendiert (ebd., 577). 117 Vgl. Papaioannou (2007, 139). 118 Vgl. 13,501 cecidit Paridis Phoebique sagittis.

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eine ambivalente Haltung gegenüber Troja einnimmt und bei Vergil aktiv an der Zerstörung der Stadt beteiligt ist, ist sein Handeln bei Ovid eindeutig gegen die griechischen Angreifer gerichtet.119 Der Schauplatz der Handlung, die Kampffläche vor den Mauern Trojas, lässt sich höchstens indirekt aus dem Zeitmarker fere … duo per quinquennia (Ov. met. 12,584) erschließen. Dass Neptun mit seinem Wunsch nach dem Tod Achills auch im Interesse Trojas handelt, lässt sich nicht nur aus seiner späteren Rede (12,586–596), sondern bereits aus der Formulierung mente dolet patria (12,582) in dieser Eingangspassage ableiten: Während sich das Adjektiv patria rein grammatikalisch allein auf Neptuns vom Tod seines Sohnes erschütterte mens bezieht, kann man es daneben auch in Bezug auf ›sein‹ Troja interpretieren; als Stadtgründer ist Neptun auch Vater im übertragenen Sinn.120 Hierin zeigt sich die psychologische Funktion des Raumes: Der Kummer eines Gottes über den Verlust seines Kindes steht in Verbindung mit dem Schmerz über den bevorstehenden Untergang der von ihm miterbauten Stadt.121 Die Formulierung memores plus quam civiliter iras (12,583) stellt nicht nur im Sinne einer alexandrinischen Fußnote einen Rückgriff auf die Metamorphose des Cygnus dar,122 sondern verweist auch auf die weltgeschichtliche Dimension des Ausgangs des Trojanischen Krieges, durch den sich mehr als nur das Schicksal einer Stadt entscheidet. Für römische Leser klingt hier zudem das Thema ›Bürgerkrieg‹ an, zumal sich das Handeln Neptuns, des Herrschers über die Meere, indirekt auch gegen Achills Mutter, die Meeresnymphe Thetis, richtet.123

119 In der Ilias allerdings steht Poseidon Achill im Flusskampf bei (vgl. Hom. Il. 21,288– 292). Vgl. Verg. Aen. 2,610–612; Fabre-Serris (1995, 105); Urban (2005, 82–85); Reed (2013, zu Ov. met. 12,581–583). Bei Euripides zeigt Neptun ebenfalls ein unerschütterliches Wohlwollen gegenüber Troja (Eur. Tro. 1–25). 120 Vgl. Fabre-Serris (1995, 98 f.; 105 f.). Für patrius, a, um im Sinne von ›vaterländisch‹ vgl. z. B. Cic. parad. 4,27. 121 In der Formulierung saevum … perosus Achillem (12,582) zeigt sich eine intertextuelle Auffälligkeit: Einerseits ist saevum … Achillem ein direktes Aeneis-Zitat (Verg. Aen. 1,458) – im Rückgriff auf das iliadische Zornmotiv –, andererseits kehrt Ovid an dieser Stelle aber auch die im Aeneis-Proömium geschilderte Grundkonstellation um: Dort ist Juno von Grimm gegen die Trojaner erfüllt (1,4 saevae memorem Iunonis ob iram) und Neptun beruhigt den von ihr hervorgerufenen Sturm, hier hingegen wird der Grieche Achill als saevus gegenüber den Trojanern dargestellt; vgl. Fabre-Serris (1995, 97; 111); Janka (2010) zu Ovids Umgang mit dem homerischen Zornmotiv. 122 Sie ist zugleich ein Vorbild für den berühmten Auftaktvers von Lucans Bürgerkriegsgedicht (Lucan. 1,1 Bella … plus quam civilia). Vgl. Galasso (2004, 90); Janka (2010, 113–115) zu den zahlreichen intra- und intertextuellen Bezügen der Verse Ov. met. 12,580–583. Vgl. 13,570 veterumque diu memor illa [sc. Hecuba] malorum. 123 Vgl. Fabre-Serris (1995, 358).

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Neptuns Rede an Apollo (12,586–596) In seiner Rede an Apollo, den Schutzgott der Trojaner in der Ilias, argumentiert Neptun plötzlich nicht mehr mit dem Tod seines Sohnes als Motiv für seinen Wunsch, Achill sterben zu sehen, sondern einzig mit dem Leid, das Apollo beim Anblick des zum Untergang bestimmten Troja empfinden müsse. Die Rede weist ein hohes Maß an stilistischer Ausformung auf. Ovids Neptun gebraucht mehrere Trikola: Zum einen leitet der Gott drei Fragen, die sich stufenweise von der Stadt selbst ab- und dafür menschlichen Schicksalen zuwenden (Ov. met. 12,588 f. Mauern an sich; 12,589 f. Soldaten als Verteidiger der Mauern; 12,590 f. der um Troja geschleifte Hector), jeweils mit einem pathetischem ecquid ein, zum anderen beendet er drei aufeinander folgende Verse mit verschiedenen Ausdrücken für die Stadt bzw. ihre Verteidigungsanlagen (12,587 moenia Troiae; 12,588 arces; 12,589 muros). In Neptuns Rede erhält der Raum eine thematische Funktion, da die Zerstörung der Mauern als Grund für die Bestrafung Achills dient124 und seine Worte auf verschiedene Abschnitte der Stadtgeschichte verweisen: In einer internen Analepse bezieht Neptun sich auf den Bau der Stadtmauern, den er gemeinsam mit Apollo vollbracht hat (12,587 mecum posuisti moenia Troiae; vgl. 11,199–205; Kap. 5.1),125 und in einer internen Prolepse auf den baldigen Untergang der Stadt (12,588 has iamiam casuras … arces; vgl. 13,404 Troia simul Priamusque cadunt).126 Doch aus inhaltlicher Sicht stellt Neptun rhetorische Fragen, da schon das allererste Wort nach der Anrede an Apollo (12,587 inrita) durch den Bezug auf moenia im selben Vers angibt, dass sich der Bau der Mauern für Laomedons Stadt als vergeblich erweisen wird. Indem Ovid Neptun daraufhin Hectors von Achill geschleiften Leichnam erwähnen lässt (12,590 f. ecquid … / Hectoris umbra subit circum sua Pergama tracti?), nimmt er die erst nach Homer entstandene Tradition auf, wonach der trojanische Held nicht nur bis zum Lager der Griechen bzw. rund um Patroclus’ Grab geschleift wurde, sondern auch um die Mauern Trojas.127 Dieses mentale Bild (subit)128 fügt sich umso besser in die Argumentationsstrategie des Gottes, die sich wiederholt auf jene Mauern der Stadt bezieht und wenige Verse später 124 Vgl. Papaioannou (2007, 151). 125 Reed (2013, z. St.) verweist auf Parallelstellen bei Vergil (Verg. Aen. 1,264 moresque viris et moenia ponet) sowie in Ovids Fasten (Ov. fast. 4,811 f. moenia ponere utrique / convenit, ebenfalls in Bezug auf die Gründung Roms). Vgl. Galasso (2004, 90 mit Fn. 24). 126 Vgl. Verg. Aen. 8,375 casurasque inimicis ignibus arces; Ov. met. 12,20 Troia cadet; 13,375 casuraque moenia Troum. 127 Vgl. Hom. Il. 22,463–465; 24,14–18; Eur. Andr. 107; Verg. Aen. 1,483; Reed (2013, zu Ov. met. 12,590 f.). 128 Vgl. Ov. trist. 1,3,1 Cum subit illius tristissima noctis imago; zu Ovids Imitation der trojanischen Untergangsdarstellung in Aeneis 2 in dieser Szene vgl. Huskey (2002, 91–93).

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dementsprechend fortgeführt wird, wenn Neptun Achill operis nostri populator (12,593) nennt.129 Damit stellt er den Helden nicht nur auf eine Ebene mit dem griechischen Heerführer Agamemnon, den er später mit demselben Terminus bezeichnet (vgl. 13,655), sondern bezieht sich vor allem nochmals auf die gemeinsam mit Apollo durchgeführte Errichtung der Stadtmauern, weshalb er auch das Possessivpronomen nostri hinzufügt. Der letzte Schritt in Neptuns Argumentation besteht in der Darlegung des Grundes, weshalb er zum Vollzug der Strafe an Achill die Hilfe Apollos benötigt: Der Gott des Meeres behauptet, die ihm angestammte Sphäre nicht verlassen, also nicht aus dem Wasser an Land gelangen zu können (12,595 f. concurrere comminus hosti / non datur). Gänzlich nachvollziehbar ist dies jedoch nicht, denn bei anderer Gelegenheit war es Neptun durchaus möglich, das Meer zu verlassen: Ausgerechnet der Bau der Mauern Trojas (11,202–204 cumque tridentigero tumidi genitore profundi / … / aedificat muros) lässt sich als Beispiel für eine Szene anführen, in der man sich Neptun aller Logik nach auf dem Festland agierend vorzustellen hat.130 Indem Neptun Apollo gewissermaßen die Aufgabe überträgt, Achill zu töten, wird die Bedeutung Apollos als Schutzgott Trojas, also des Vorläufers von Rom, betont: Apollo verzichtet nicht nur auf eine Bestrafung der Stadt für das Fehlverhalten ihres Königs,131 sondern ist im Gegenzug auch der Hauptakteur bei der Vernichtung ihres ärgsten Feindes.

Die Tötung Achills (12,597–608) Bei Homer wird Achill von Hector prophezeit, er werde am Skäischen Tor sterben.132 Ovid hingegen verzichtet auf eine Angabe des konkreten Todesortes; dieser lässt sich nur implizit mittels einiger textlicher Hinweise erschließen. Der Text nennt die beiden Kriegsparteien, Trojaner und Griechen (12,598 f. agmen / … Iliacum; 12,600 Achivos), und konstatiert die Anwesenheit von Paris inmitten des Kampfgetümmels (12,599–601): mediaque in caede virorum rara per ignotos spargentem cernit Achivos  tela Parin.

Und mitten im Kampf der Helden sieht er, wie Paris vereinzelte Pfeile gegen unbe­ kannte Griechen verschießt.

129 Vgl. 13,500 (Hecuba über Achill) exitium Troiae nostrique orbator, Achilles. 130 Vgl. von Albrecht (1968, 418–420) zu Ovids Umgang mit der anthropomorphen respektive ›geistigen‹ Erscheinungsweise von Göttern als Beispiel für Ovids dicacitas durch allegorisches Spiel; Bömer (1982, z. St.); Janka (2010, 117 mit Fn. 66); 2,508–513 (Juno im Wasser); 12,614 armarat deus idem idemque cremarat zur Darstellung von Vulcan als figürlichem Gott und als Metonymie für Feuer in ein und demselben Vers und dazu Janka (ebd., 118 f.). 131 Vgl. Kap. 5.1. 132 Hom. Il. 22,359 f.; vgl. Hom. Od. 24,36–42 (Agamemnon berichtet in der Nekyia vom Tod Achills vor Troja).

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Paris befindet sich also mutmaßlich irgendwo auf dem Schlachtfeld in der Ebene zwischen den Mauern Trojas auf der einen und dem griechischen Heerlager auf der anderen Seite, so wie es schon bei Homer geschildert wird.133 Irgendwo auf diesem Schlachtfeld muss sich auch Achill befinden, doch die interne Fokalisierung durch den Gott Apollo (12,600 cernit; 12,604 ostendens) ermöglicht es nicht, genaue Rückschlüsse über die Positionen der einzelnen menschlichen Figuren zu ziehen. An die unpräzise Darstellung des Handlungsortes (vgl. 12,598 f. Delius … nebula velatus in agmen / pervenit Iliacum) schließt sich die erneute Erwähnung von Hectors Tod an (12,607 post Hectora), dem die Tötung Achills als Anlass zur Freude für König Priamus entgegengestellt wird – dieses Mal werden auch die vorher evozierten Mauern (vgl. 12,591) nicht mehr genannt. Damit erhält Hector als stärkster Kämpfer und somit wichtigster Repräsentant Trojas, dessen Hoffnung auf Weiterbestand an ihn gebunden ist, an dieser Stelle mehr Gewicht gegenüber der Stadt selbst, deren Untergang er durch seinen Tod vorwegnimmt.

Achills Begräbnis und sein Nachruhm (12,608–619) Die Verlagerung des Erzählfokus vom Handlungsort Troja auf die Hauptfigur Achill setzt sich im Schlussabschnitt der Episode fort. Waren es eingangs die trojanischen Mauern, mit deren baldigem Fall Neptun argumentierte (12,588 casuras … arces), so wird nun dasselbe Verb (cadere) in der Reflexion über den Tod Achills benutzt (12,610 f. at si femineo fuerat tibi Marte cadendum, / Thermodontiaca malles cecidisse bipenni). Nach dem pointierten Hinweis auf Paris, den ›schüchternen Räuber‹ der Helena, als Ursache von Achills Tod (12,609 victus es a timido Graiae raptore maritae!) stellt der Erzähler die rhetorische Frage, ob Achill nicht eher von der Hand einer Amazone hätte sterben wollen, wenn schon in einem Kampf, der in Zusammenhang mit einer Frau stehe (12,610 femineo … Marte).134 Während der Verweis auf Helena noch ganz direkt durch das Adjektiv Graiae (12,609) funktionierte, erfolgt die Bezugnahme auf die Amazonen über den Umweg einer räumlichen Personifikation, mittels des Flusses Thermodon am Schwarzen Meer, der Heimat dieses Kriegerinnenstammes (12,611 Thermodontiaca … bipenni).135 Eine ähnliche Darstellung findet sich auch in den folgenden Versen (12,612–614):

133 Zur Darstellung von Troja in der Ilias vgl. Behm (2019a, 269 f.) mit weiterführender Literatur. Vgl. Eur. Hec. 387 f. zur Tötung Achills durch Paris. 134 Vgl. Dippel (1990, 66; 69); Jouteur (2001, 355 f.); Papaioannou (2007, 139) zur »epic mock­ery« bezüglich Achill. Eine positivere Sichtweise Ovids auf diesen Heros versucht ­Galasso (2004, vgl. bes. 85; 91; 97 f.) anhand einer Analyse aller auf Achill bezogenen ­Episoden zu belegen. 135 Vgl. Ov. Pont. 4,10,51.

Achill stirbt vor Troja

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Iam timor ille Phrygum, decus et tutela Pelasgi Schon war jener Schrecken der Trojaner, nominis, Aeacides, caput insuperabile bello, die Zierde und der Schutz des Namens arserat. ›Griechenland‹, der Enkel des Aeacus, das im Kriege unüberwindbare Haupt, von den Flammen verzehrt worden.

Achill wird als Ursache für die Furcht der Trojaner sowie als Glanz Griechenlands personifiziert und verkörpert dadurch allein den Feind Trojas.136 Der geographische Fokus erweitert sich also schrittweise vom trojanischen Schauplatz aus – zunächst ans Schwarze Meer und nach Griechenland, dann aber gerät der gesamte Erdkreis ins Blickfeld, als die kleine Urne mit der Asche des Helden dem weltweiten Ruhm Achills entgegengesetzt wird (12,616 f. nescioquid, parvam quod non bene compleat urnam. / at vivit totum quae gloria compleat orbem), verstärkt durch die Wiederholung von compleat und die Parallele in Form des Substantivs im Akkusativ (urnam/orbem). Der Raum erhält hier eine symbolische Funktion, da die Größe des Erdkreises (orbis) zum einen der kleinen Urne,137 zum anderen der ›leeren‹ Unterwelt (12,619 nec inania Tartara sentit)138 gegenübergestellt wird. Mit Recht verweist Fabre-Serris (1995, 104) auf den Widerspruch von Ovids Darstellung zu derjenigen Homers, wo Achill nach seinem Tod nicht Eingang ins Elysium oder auf die Inseln der Seligen findet, sondern sich ausdrücklich im Hades befindet (Hom. Od. 11,484–491) und sagt, er hätte ein Leben ohne Ruhm einer Herrschaft über die Völker des Tartarus vorgezogen.

5.4.2 Fazit Wie bereits in der Laomedon-Episode, die von der Gründung Trojas erzählt, wird die Stadt auch in der Erzählung vom Tod Achills, die kurz vor ihrem Untergang spielt, ohne jegliche Details dargestellt. Elemente des Anschauungsraums sind allein die Verteidigungsanlagen, die oft betont am Versende genannt werden und teils metonymisch für die Stadt stehen (12,587 moenia Troiae; 12,588 arces; 12,589 muros; 12,591 Pergama; 12,593 operis). Die Mauern werden nicht nur häufig evoziert, sondern es wird noch einmal an die göttlichen Umstände ihrer Erbauung erinnert. Nicht die Helden Paris oder Achill sehen die Stadt oder das Schlachtfeld vor den Toren, sondern der Raum wird einzig durch die Götter intern fokalisiert. Nur aus ihrer Perspektive ergeben sich einige wenige Hinweise auf den visuellen Ablauf des Geschehens. Neptun und Apollo sind es, 136 Vgl. Kap. 5.5 zu 13,281 Graium murus Achilles. 137 In der Terminologie von de Jong (2014, 105) stellt diese Urne ein Beispiel für ein Requisit (prop) des literarischen Raumes dar. 138 Vgl. Hardie (2002a, 86) zur Mehrdeutigkeit der ›leeren‹ Unterwelt.

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Troja

die auf die untergehende Stadt blicken und die einander auf die Figuren auf der Kampf­f läche hinweisen. Diese ist der einzige Schauplatz, während das mehrfach evozierte Troja nur als Hintergrundraum für den Kampf fungiert.139 Die Analyse des Aktionsraums zeigt, dass in dieser Episode Vokabular aus dem Bereich ›Fallen‹ dominiert, zunächst in Bezug auf Troja (12,588 casuras … arces), dann hinsichtlich des sterbenden Achill (12,610 f. cadendum; cecidisse). Somit wird das Ende des Helden über die sprachliche Ebene in einen inhaltlichen Zusammenhang zum Untergang der Stadt gebracht: Achills Tod stellt eine Vorstufe zum Fall Trojas dar.140 Was die Bewegungen der Figuren angeht, so fällt auf, dass keine direkten Begegnungen stattfinden: Neptun kann überhaupt nicht selbst ins Geschehen eingreifen, aber auch Apollo sieht nur aus der Ferne auf die Kampffläche und veranlasst wiederum die Tötung Achills durch Paris mittels eines Bogenschusses, also ebenfalls aus der Ferne. Aus der Nähe erfolgen nur Handlungen, die mit dem Wirken der Götter in keinem direktem Zusammenhang stehen: der Kampf zwischen Trojanern und Griechen um die Mauern (12,589 defendentia muros) sowie das Morden von Paris bzw. Achill unter ihren jeweiligen Gegnern (12,600 f. per ignotos spargentem … Achivos / tela Parin; 12,604 f. sternentem Troica ferro / corpora Peliden). Der gestimmte Raum konstituiert sich zunächst anhand von Worten, die auf den kommenden Untergang Trojas hinweisen (12,587 inrita; 12,588 casuras). Diese Worte sind Teil der Rede Neptuns, mit deren Hilfe dieser Apollo zur Bestrafung Achills motivieren will. Ein wichtiges Element dieser Rede, mit dem Neptun die emotionale Verbundenheit seines göttlichen Bruders zu Troja stärken will, besteht in der Verwendung von Personalpronomina, die Troja als ihr gemeinsames Werk (12,593 operis nostri) bzw. als die Stadt Hectors darstellen (12,591 sua Pergama). Diese Strategie übernimmt Apollo später, als er Paris zur Tötung Achills veranlasst (12,602 siqua est tibi cura tuorum). In der Nachbetrachtung von Achills Tod verwendet der Erzähler räumliche Verweise, um den Ruhm des Helden zu verherrlichen. Zum einen erscheint Achill im Sinne einer pars pro toto für das gesamte Heer der Griechen, zum anderen als personifiziertes Objekt der Furcht der Trojaner (12,612 f.).141 Diese Schilderung anlässlich der Verbrennung von Achills Leichnam bereitet auf die Abschlussverse vor, in denen es heißt, der Ruhm des Helden breite sich über die ganze Welt aus, sodass

139 Der eher distanzierte Blick der ovidischen Götter auf das untergehende Troja steht im Kontrast zu dem Geschehen in der Aeneis, wo Neptun aktiv die Mauern der Stadt zerstört (Verg. Aen. 2,610–612 Neptunus muros magnoque emota tridenti / fundamenta quatit totamque a sedibus urbem / eruit). 140 Vgl. 13,500 f. exitium Troiae … Achilles. / at postquem cecidit … 141 Vgl. 13,502 f. (Hecuba) »non est metuendus Achilles«; / nunc quoque mi metuendus erat.

Ajax und Odysseus streiten vor Troja

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Achill nicht in den Tartarus gelange (12,616–619)142 – die Enge der Urne und die Leere der Unterwelt werden der Weite des Erdkreises gegenübergestellt.

5.5  Ajax und Odysseus streiten vor Troja (12,620–13,398) Während der Streit um die Waffen des verstorbenen Achill in der Ilias nicht eigens dargestellt wird, wird er in der Odyssee in Form einer externen Analepse wiedergegeben: In der Nekyia erscheint Odysseus der Schatten des Ajax, der jedoch vor der ihm angebotenen Versöhnung zurückweicht (Hom. Od. 11,543– 564). Damit ist auf das Rededuell angespielt, bei dem Odysseus den Sieg über seinen Kontrahenten davontrug, woraufhin ihm die Waffen Achills zugesprochen wurden und Ajax Selbstmord beging. Dieses Thema wurde in den Posthomerica behandelt, namentlich in der Aithiopis sowie der Kleinen Ilias,143 und entfaltete im Anschluss daran eine lange Tradition im Drama und in der Rhetorik. Ebenso wie die nachhomerischen Werke sind jedoch sowohl die entsprechende Aischylos-Tragödie Hoplon krisis als auch die lateinischen Dramen des Pacuvius und des Accius bis auf wenige Fragmente verloren.144 Neben seiner häufigen Verwendung als Tragödienstoff entwickelte sich das armorum iudicium schon früh zu einem beliebten Thema des Rhetorikunterrichts und wurde auch in den Rhetorenschulen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts häufig in der Form einer controversia behandelt.145 Ovid widmet dem armorum iudicium in den Metamorphosen nahezu 400 Verse, wodurch die Erzählung zu einer der längsten zusammenhängenden Episoden des Werkes wird.146 Der hohe Rang, den der Dichter diesem Thema beimisst, wird häufig auf seine Prägung durch die Rhetorikschulung sowie auf die von Seneca dem Älteren bezeugte Behandlung als Kontroversie zurückgeführt,147 lässt sich aber auch textimmanent damit begründen, dass der Inhalt der Reden einen Rückblick auf die Geschehnisse des Trojanischen Krieges erlaubt 142 Vgl. die zweite Nekyia der Odyssee, wo Odysseus auf die Schatten von Agamemnon, Achill und Ajax trifft (Hom. Od. 24,15–22). 143 Vgl. West (2013, 129–222); Rosati (2015, 573). 144 Vgl. Hopkinson (2000, 13–16); Schierl (2006, 131–133). 145 Vgl. Hopkinson (2000, 15). Bereits dem griechischen Philosophen Antisthenes (ca. 445–365 v. Chr.) werden (erhaltene) Deklamationen mit dem Titel Aias bzw. Odysseus zugeschrieben; vgl. Dippel (1990, 71–73 mit Fn. 6); DNP, »Antisthenes«. 146 Zu Ovids möglichen Quellen vgl. Lafaye (1971, 159–166). 147 Vgl. Sen. contr. 2,2,8 in armorum iudicio dixerat Latro: mittamus arma in hostis et petamus. Naso dixit: arma viri fortis medios mittantur in hostis; / inde iubete peti. Vgl. Dippel (1990, 74 f.) zur Debatte über den Charakter der Reden als Kontroversie oder Suasorie sowie zu ihrer potentiellen Zuordnung zum genus iudiciale; Tarrant (1995, 63 f.) für eine kritische Sichtweise auf biographische Deutungen der rhetorischen Gestaltung von Ovids Werken; Due (1997, 353); von Albrecht (2014, 182); Reitz (2019e, 125).

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und somit dessen Auslassung im vorangehenden Buch gewissermaßen ausgleicht.148 Die Episode hat auch deshalb das besondere Interesse der Forschung hervorgerufen, weil sich – ähnlich wie in der Arachne-Erzählung (Buch 6; vgl. Kap. 4.3) sowie in den Sänger- bzw. Seherfiguren des Orpheus (Buch 10–11) und des Pythagoras (Buch 15; vgl. Kap. 6.5) – aus den verschiedenen Redestilen von Ajax und Odysseus Rückschlüsse auf Ovids eigene poetische Präferenzen ableiten lassen.149 Während der Schwerpunkt der meisten Untersuchungen der Episode auf der rhetorischen Gestaltung der Reden liegt,150 sollen die Argumente hier nach ihren Bezügen zu der Stadt Troja betrachtet werden.151 Die Waffenstreit-Episode schließt direkt an das Ende von Buch 12 und die darin enthaltene Darstellung vom Tod Achills an (Ov. met. 12,580–628; vgl. Kap. 5.4). Sie ist ein Teil von Ovids ›Kleiner Ilias‹, die sich in der nachfolgenden Geschichte von Hecuba und ihren Kindern fortsetzt (13,399–575; vgl. Kap. 5.6). Die Grobgliederung der Episode ist simpel: Nach der Einleitung am Ende des zwölften Buches (12,620–628) gibt Ovid zunächst die Rede des Ajax wieder (13,1–122), bevor er in größerer Ausführlichkeit Odysseus zu Wort kommen lässt (13,123–381). Den Schlussteil bilden das Urteil der Schiedsrichter zugunsten des Odysseus, der Selbstmord des Ajax und seine Verwandlung in eine Blume (13,382–398). Die einzelnen Reden lassen sich dann nochmals in kleinere Abschnitte untergliedern; einige davon zeigen die Bedeutung raumbezogener Aspekte für die Argumentation der beiden Kontrahenten: Zunächst prahlt Ajax mit seiner göttlichen Abkunft und schmäht seinen Gegner Odysseus (13,5–62), anschließend 148 Vgl. Ellsworth (1980, 25); Hopkinson (2000, 8); Hardie (2015, zu 13,1–398); Sharrock (2019, 281): »A different sort of battle, an enormous battle of words.« Bach (2020, 131) konstatiert zu Recht: »Ce passage en dit davantage sur l’Iliade homérique que les épisodes devolus à la guerre de Troie.« – Ovids Darstellung der Charaktere von Ajax und Odysseus weicht deutlich von derjenigen Homers ab; vgl. Due (1997, 356 f.); Rosati (2015, 571). 149 Häufig wird das Auftreten des Odysseus mit dem Redeideal Ovids in Verbindung gebracht, vgl. Bömer (1982, zu 13,5–122; 13,128–381); Hopkinson (2000, 18–22) zu den möglichen Bezugspunkten zu Kriterien der antiken Rhetoriktheorie; Andrae (2003, 246–255), die die Rede des Odysseus anhand metrischer Beobachtungen mit Ovids Metamorphosen und diejenige von Ajax mit Vergils Aeneis parallelisiert; Papaioannou (2007, 154 f.; 204); Ov. met. 13,161 rerum tamen ordine ducar; Quint. inst. 4,2,83 Namque ne iis quidem accedo qui semper eo putant ordine quo quid actum sit esse narrandum, sed eo malo narrare quo expedit; 4,2,87 Neque ideo tamen non saepius id facere oportebit ut rerum ordinem sequamur. 150 Vgl. die Analyse von Dippel (1990, 76–91); Hopkinson (2000, 10): »What was, and is, of interest to Ovid’s readers is not the arguments themselves, but the fresh rhetorical variations and emphases imparted to this familiar theme.« Solodow (1988, 89) sieht in Ajax die Verkörperung eines Volkstribuns und in Odysseus die eines Senators, betont allerdings, dass mit dieser Deutung keine politischen Implikationen verbunden seien. Papaioannou (2007, 153–206) führt eine Analyse unter vornehmlich metapoetischen Gesichtspunkten durch und untersucht unter anderem, inwieweit Ajax und Odysseus das traditionelle Epos verkörpern. 151 Vgl. Bach (2016, bes. 13 f.) mit Literaturangaben zu den raumbezogenen Fragen dieser Episode.

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thematisiert er die Frage der Beredsamkeit und die jeweiligen Leistungen im Kampf bei den Schiffen (13,63–97), bevor er am Ende auf den Raub des Palladiums, das den Erhalt Trojas verkörperte,152 und den Schild des Achill zu sprechen kommt (13,98–122). In seiner Replik beginnt auch Odysseus mit seiner Genealogie (13,128–161), rühmt seine Überlistung Achills in Scyrus und seine weiteren Eroberungen (13,162–180), die gemeinsame Mission mit Menelaus in Troja (13,181–215), sodann die Vereitelung der unzeitigen Abfahrt der Griechen, seine Rolle bei der Ergreifung des trojanischen Spähers Dolon, seine Kampferfahrung und seine Bedeutung für die Tötung Hectors (13,216–279); schließlich spricht Odysseus von den Darstellungen auf dem Schild Achills, von Philoctet und vom Palladium (13,280–349), bevor er mit einer Synkrisis über sich und seinen Gegner abschließt und die Eroberung Trojas als sein alleiniges Werk rühmt (13,350–381).

5.5.1 Analyse Die Ausgangssituation (12,620–628) Die Darstellung vom Tod des Achill (12,580–619) geht ohne dazwischengeschaltete andere Erzählungen zu den chronologisch nachfolgenden Ereignissen über, indem sie den Streit um die Waffen des Helden vorbereitet (12,621 bella movet clipeus, deque armis arma feruntur).153 Diese vorbereitende Passage am Ende des zwölften Buches nennt nicht nur die beteiligten Figuren Ajax und Odysseus, sondern lässt auch das griechische Heerlager vor Troja als Schauplatz der nachfolgenden Episode klar werden (12,627 f. Argolicosque duces mediis considere castris / iussit et arbitrium litis traiecit in omnes).154 Damit ist implizit zugleich Troja selbst als Hintergrundraum für den anschließenden Redeagon evoziert.

Die Rede des Ajax (13,1–122) Der Auftakt von Ajax’ Beitrag weist auf den retrospektiven Charakter des Redeagons hin (13,4 respexit): Ovid lässt den griechischen Kämpfer in die Richtung von Achills Grabmal blicken; der Dichter selbst blickt damit auf die Schilderung 152 Vgl. Verg. Aen. 2,163–170; Ov. fast. 6,421–428; 6,427 f. aetheriam servate deam, servabitis urbem: / imperium secum transferet illa loci. 153 Das Polyptoton weist auf einen doppeldeutigen Gebrauch der arma als Kriegswaffen und Reden als Waffen, sodass die Textstelle fast wie ein Titel bzw. eine Themenangabe wirkt. 154 Vgl. 13,1 Consedere duces et vulgi stante corona. Bei Ovid kommt die Entscheidung über den Sieg im Redewettstreit den griechischen Fürsten zu. Dies stellt eine Abweichung von der Version Homers dar, wo trojanische Jünglinge und die Göttin Athena das Urteil fällen (Hom. Od. 11,543–551); zur Zusammensetzung des Richtergremiums bei Homer, Pacuvius und weiteren Autoren vgl. Schierl (2006, 135 f.).

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von Achills Tod im vorangehenden Buch sowie in den Posthomerica zurück (Ov. met. 13,3–6):155 Sigeia torvo litora respexit classemque in litore vultu intendensque manus »agimus, pro Iuppiter!« inquit,  »ante rates causam.«

Mit grimmigem Blick schaute er auf die Küste von Sigeum und auf die Flotte an der Küste zurück, und während er die Hände ausstreckte, sprach er: »Lasst uns – bei Jupiter! – diesen Streit vor den Schiffen austragen.«

Ajax’ Blick auf die Küste von Sigeum und die hinter ihm liegenden Schiffe verweist textextern auf den Kampf an den Schiffen in der Ilias (Buch 15–16) und eröffnet textintern mit dem Meer, das auf die Heimat der Protagonisten hindeutet, einen zweiten wichtigen Hintergrundraum neben der Stadt Troja.156 Ajax’ zornerfüllte Stimmung (Ov. met. 13,3 f. inpatiens irae … torvo / … vultu) zeigt die psychologische Funktion des Raumes: Der Anblick von Achills Begräbnisort löst in ihm eine deutliche Missstimmung aus, von der seine folgende Rede geprägt ist.157 Nach der plakativen Kontrastierung von Odysseus’ Redebegabung und seiner eigenen Kampfkraft (13,11 f. quantumque ego Marte feroci / inque acie valeo, tantum valet iste loquendo) argumentiert Ajax zunächst mit seiner Abstammung und erwähnt die Taten seines Vaters Telamon (13,21–23): »Atque ego … »Und ich könnte auch … durch meine edle nobilitate potens essem, Telamone creatus, Abkunft mächtig sein, als Sohn des Telamon, moenia qui forti Troiana sub Hercule cepit.« der unter der Führung des tapferen Hercules die Mauern Trojas erobert hat.«

Ajax führt die Teilnahme seines Vaters an der ersten Eroberung Trojas unter Hercules an.158 Damit evoziert er einen mustergültigen Präzedenzfall hinsichtlich der gegenwärtig bevorstehenden neuerlichen Einnahme der Stadt. Die genealogische Verbindung soll die Erwartung hervorrufen, der Sohn werde seinem Vater in nichts nachstehen und zum Sieg im Trojanischen Krieg beitragen. Eines der nächsten Argumente in Ajax’ Rede bezieht sich auf die Aussetzung des Griechen Philoctet. Indem er dessen unfreiwilliges Dasein auf der Insel Lemnos

155 Das Sigeum liegt nordwestlich von Troja; als Ort von Achills Grabstätte nennt es unter anderem Strabon (Strab. geogr. 13,1,31 f.). 156 Bach (2016, 3 f. ≈ 2020, 132–134) betont, wie Ajax sich in seiner Rede als wichtiger Teil des griechischen Heeres inszeniert und Odysseus als Flüchtigen daraus bzw. aus dem griechischen Raum auszuschließen versucht. 157 Vgl. Hopkinson (2000, 18–20) zu Ajax’ Rede als ovidischer ›Charakterstudie‹. 158 Diese interne aktoriale Analepse bezieht sich auf die Laomedon-Episode im elften Buch (vgl. 11,215 f.; Kap. 5.1).

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beklagt, ruft er einen weiteren Hintergrundraum zum Ort des Rededuells auf (13,43–46):159 »utinam … nec comes hic Phrygias umquam venisset ad arces hortator scelerum! non te, Poeantia proles,  expositum Lemnos nostro cum crimine haberet!«

»Und wäre er doch niemals als Kriegskamerad zur trojanischen Königsburg gekommen, dieser Anstifter zu Verbrechen! Dann hätte Lemnos dich, Sohn des Poeas, nicht als Ausgesetzten bei sich, uns zum Vorwurf!«

Ajax verwünscht die Teilnahme des Odysseus an der Fahrt nach Troja, das er durch die Nennung der Burg evoziert und in Opposition zu Lemnos rückt (venisset – expositum). Hierdurch entsteht ein symbolischer Gegensatz zwischen der Anwesenheit des Odysseus und der Abwesenheit Philoctets. Diese Gegenüberstellung bewertet Ajax als falsch, indem er dessen Präsenz vor Troja als dem Schicksal geschuldet bezeichnet (13,53 f. volucresque petendo / debita Troianis exercet spicula fatis): Ohne die Pfeile des Philoctet könne Troja nicht erobert werden,160 und die Schuld für das Fehlen dieses Kameraden trage Odysseus.161 Philoctet müsse die schicksalsträchtigen Pfeile zweckentfremdet zur Nahrungssuche einsetzen; diese einer persönlichen Notlage geschuldete Verwendungsweise stellt den größtmöglichen Gegensatz zu dem bedeutenden Unterfangen dar, für das sie eigentlich vorgesehen sind. Ein weiteres wichtiges Argument innerhalb von Ajax’ Rede betrifft seine Leistung im Kampf an den Schiffen (13,91–94):162 »ecce ferunt Troes ferrumque ignesque Iovemque in Danaas classes; ubi nunc facundus Ulixes? nempe ego mille meo protexi pectore puppes, spem vestri reditus; date pro tot navibus arma.«

»Siehe, da tragen die Trojaner Schwerter und Feuer und Jupiters Macht gegen die griechische Flotte: Wo ist jetzt der redegewandte Odysseus? Ich freilich war es, der ich mit meiner Brust die tausend Schiffe bewahrt habe, eure Hoffnung auf Heimkehr; gebt mir für so viele Schiffe die Waffen.«

159 Vgl. Hopkinson (2000, z. St.) zur Umkehrung der üblichen Verwendungsweise von habere + Akkusativ (»wohnen in«); 13,313 Poeantiaden quod habet Vulcania Lemnos. 160 Philoctet hatte die Pfeile vom sterbenden Hercules geerbt. In der zugehörigen Episode (9,134–272) verweist eine interne Prolepse auf ihre Bedeutung für die Einnahme Trojas (9,231–233 arcum pharetramque capacem / regnaque visuras iterum Troiana sagittas / ferre ­iubes Poeante satum); vgl. Kap. 5.6. 161 Bach (2016, 6 ≈ 2020, 132) betont, wie Odysseus Philoctet laut der Darstellung des Ajax räumlich von den Griechen ausgeschlossen hat. 162 Hopkinson (2000, z. St.) erwägt für pro tot navibus auch eine räumliche Bedeutung »vor so vielen Schiffen«, doch die hier gewählte Übersetzung im Sinn von »als Gegenleistung für die Rettung so vieler Schiffe« scheint im Kontext von Ajax’ Herausstellung seiner Leistung bei der Verteidigung der Schiffe naheliegender.

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Der Angriff der Trojaner gegen die Schiffe der Belagerer stellt eine existentielle Bedrohung für das griechische Heer dar, denn ihre Zerstörung nähme ihnen die Option einer Rückkehr in die Heimat (spem … reditus).163 Trotz der Gewichtigkeit dieses Arguments kann unter räumlichen Gesichtspunkten eine entscheidende Schwäche nicht verdeckt werden: Ajax beschreibt einen Angriff der Feinde gegen die eigenen Leute (ferunt Troes ferrum … / in Danaas classes) und dadurch sowie mit der explizit aufgerufenen Rückzugsoption eine defensive Strategie, die zu der intendierten Einnahme Trojas, mithin einer offensiv ausgerichteten Bewegung, im Widerspruch steht. Nicht er selbst vermag Troja zu besiegen, sondern dies kann nur mit externer Hilfe geschehen. Schließlich kommt Ajax noch einmal auf den Schild des Achill als den eigentlichen Streitgegenstand zu sprechen. Er erklärt wortreich, dieser sei eine zu schwere Last für Odysseus, und erwähnt kurz die darauf befindliche Darstellung der Welt, wie die Leser sie aus der Ilias kennen (Ov. met. 13,110 clipeus vasti caelatus imagine mundi ~ Hom. Il. 18,483–489).164 Ajax’ Rede endet mit der Aufforderung, die Probe aufs Exempel zu machen und den Zankapfel unter die Feinde zu werfen, um das Duell mit Odysseus durch Taten statt durch Worte zu entscheiden (Ov. met. 13,120–122).

Die Rede des Odysseus (13,123–381) Auch Odysseus stellt zunächst seine göttliche Abkunft heraus (13,128–161). Danach kommt er auf die condicio sine qua non zu sprechen, wonach Troja nicht ohne die Hilfe Achills erobert werden könne: Er erzählt, wie er den von seiner Mutter in Mädchenkleidern in Scyrus versteckten Achill überlistet und so zur Teilnahme am griechischen Feldzug bewogen habe (13,168 f. »nate dea« dixi, »tibi se peritura reservant / Pergama. quid dubitas ingentem evertere Troiam?«).165 Odysseus personifiziert Troja, indem er es zum Subjekt des Selbstzitats seiner Ansprache an Achill macht. Die doppelte Benennung der Stadt als erstes und letztes Wort von Vers 13,169 hebt die Bedeutung Trojas besonders hervor, zusammen mit der Qualifizierung als ingentem. Direkt im Anschluss an dieses 163 In der Ilias fragt Ajax die Griechen ironisch, ob sie glaubten, nach einer Zerstörung ihrer Schiffe zu Fuß in die Heimat zurückzugelangen (Hom. Il. 15,504 f.). 164 Vgl. die Ekphrasis des Sol-Palastes in der Phaethon-Geschichte (2,5–7 Mulciber illic / aequora caelarat medias cingentia terras / terrarumque orbem caelumque quod imminet orbi); Kap. 2.3. 165 Zu ingentem evertere Troiam vgl. 13,505 iacet Ilion ingens; Verg. Aen. 2,571 eversa … Pergama. Bei der zuerst genannten Stadt handelt es sich nicht um Theben in Böotien, die ›Hauptstadt‹ des ersten Sagenkreises der Metamorphosen, die im pythagoreischen Städtekatalog dargestellt wird (Ov. met. 15,427; 15,429; vgl. Kap. 6.5), sondern um eine gleichnamige Stadt in Mysien; vgl. Rivero García (2018, zu 13,175), der (ebd., zu 13,169) das ebenfalls überlieferte Simplex vertere mit entsprechenden Aeneis-Parallelen erklärt und wohl zu Recht das Kompositum evertere bei Ovid verteidigt.

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Argument zählt Odysseus einen Katalog von eroberten Städten und Gegenden auf (13,173–176):166 »quod Thebae cecidere, meum est; me credite Lesbon, me Tenedon Chrysenque et Cillan, Apollinis urbes, et Scyrum cepisse; mea concussa putate  procubuisse solo Lyrnesia moenia dextra.«

»Dass Theben fiel, ist mein Verdienst; glaubt mir, dass ich Lesbos, Tenedos, Chryse und Cilla, Städte des Apollo, und Scyrus erobert habe; glaubt mir, dass die Mauern von Lyrnesus durch meine Rechte erschüttert wurden und niedersanken.«

Odysseus nimmt die Eroberung dieser Städte in der Gegend von Troja im Vorfeld des Krieges für sich selbst in Anspruch und macht sich damit Leistungen Achills zu eigen.167 Der Katalog endet scheinbar mit einer typischen Abbruchformel (13,177 utque alios taceam), doch diese bezieht sich, wie am Genus von alios zu erkennen ist, nicht auf die zuvor genannten Städte, sondern rekurriert auf die Überlistung des Achill in Scyrus, die Odysseus als ›Lieferung‹ von Hectors Überwinder darstellt (13,177 f.). Das nächste wichtige Argument des Odysseus betrifft seine gemeinsame Mission mit Menelaus, bei der die beiden versuchten, Helena von den Trojanern zurückzugewinnen (13,196–199): »Mittor et Iliacas audax orator ad arces, visaque et intrata est altae mihi curia Troiae, plenaque adhuc erat illa viris. interritus egi quam mihi mandarat communis Graecia causam.«

»Man schickte mich als mutigen Unter­ redner zur trojanischen Königsburg, ich habe die Kurie des hohen Troja gesehen und betreten, und noch war sie voll von Helden; unerschrocken habe ich dort die Sache vertreten, die mir Griechenland gemeinsam aufgetragen hatte.«

Odysseus inszeniert sich als Augenzeuge und – auch als implizite Reaktion auf den Vorwurf des Ajax’, er sei nur im Reden gut – als aktiv Handelnder: Odysseus hat Troja selbst betreten und mit eigenen Augen gesehen (visaque et intrata … curia Troiae) und kann somit den Griechen aus erster Hand von den Verhältnissen in der Stadt berichten: Er kennt die Akropolis (Iliacas … arces), die Empfangshalle für Gesandte (curia) und hat das zu diesem Zeitpunkt noch prosperierende Volk erlebt (plena … adhuc … viris).168 Trotz der von ihm wahrge 166 Vgl. Rivero García (2018, zu 13,175) zur Homonymie von Scyrus, dem Ort von Achills Jugend, und der gleichnamigen, von ihm eroberten Stadt in Phrygien. – Von Albrecht (1987, 297) übersetzt solo falsch als »allein«. 167 Vgl. Bömer (1980, zu 11,171 f.); Reed (2013, zu 12,108–114); Hom. Il. 1,37 f.; 1,366 f.; 20,92. 168 Vgl. Hom. Il. 3,205–224; 11,138–142. In anderen Quellen findet die griechische Mission zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt; das zugehörige Drama des Sophokles ist nicht überliefert.

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Troja

nommenen Stärke und Bedeutung Trojas (altae … Troiae)169 stellt Odysseus sich als unerschrockener Gesandter dar (interritus egi) und hebt seine am griechischen Gemeinwohl orientierte Verhandlungsleistung hervor, worin sich Ovids Verwendung der charakterisierenden Funktion des Raumes zeigt (communis Graecia causam).170 – Der Dichter lässt hier die aus dem Aeneis-Proömium bekannte Junktur altae moenia Romae (Verg. Aen. 1,7) anklingen, bringt diese mit der Vokabel curia in Verbindung und assoziiert so Troja mit Rom. Dadurch stellt er den Empfang der griechischen Gesandtschaft in Troja ähnlich dem Empfang von Staatsgästen in der römischen Kurie dar.171 Als nächstes kommt Odysseus auf die Überlegungen über eine vorzeitige Heimreise zu sprechen. Ajax habe den Vorschlag Agamemnons unterstützt, der wiederum auf einem Traum beruht habe (Ov. met. 13,216–237; hier 13,223–229): »quid quod et ipse fugit? vidi, puduitque videre, cum tu terga dares inhonestaque vela parares. nec mora, ›quid facitis? quae vos dementia‹ dixi  ›concitat, o socii, captam dimittere Troiam? quidve domum fertis decimo nisi dedecus anno?‹ talibus atque aliis, in quae dolor ipse disertum fecerat, aversos profuga de classe reduxi.«

»Was soll ich dazu sagen, dass er auch selbst floh? Ich sah es und schämte mich, es mit anzusehen, als du dich rückwärts wandtest und die ehrlosen Segel vorbereitetest; und ohne zu zögern, rief ich: ›Was tut ihr da, welcher Wahnsinn treibt euch an, oh Kameraden, vom eroberten Troja abzulassen, und was bringt ihr im zehnten Jahr nach Hause, wenn nicht Schande?‹ Mit solchen und weiteren Worten, zu denen mich der Schmerz selbst brachte, führte ich die Fliehenden von der zur Flucht bereiten Flotte zurück.«

Odysseus tadelt Ajax, weil er nicht mit gutem Beispiel vorangegangen sei und die Umkehrwilligen nicht aufgehalten (13,220 cur non remoratur ituros?), sondern sich vielmehr in deren Gruppe eingereiht und damit aus dem räumlichen Bereich seiner Gefährten entfernt habe (ipse fugit ~ profuga … classe).172 Die geplante Abkehr von Troja, das Odysseus als schon so gut wie erobert bezeichnet (captam … Troiam), stellt er in mannigfaltigen Variationen als schändlich dar (puduit; inhonesta; dementia). Odysseus bringt damit ein Totschlagargument,

169 Vgl. z. B. Hom. Il. 9,419 Ἰλίου αἰπεινῆς. 170 Rivero García (2018, zu 13,199) hält Bentleys Konjektur communem (für communis) für unnötig. 171 Diese These findet Unterstützung in der Tatsache, dass Ovid das Wort curia sonst nur noch ein weiteres Mal in den Metamorphosen verwendet, wie Hardie (2015, zu Ov. met. 13,197) bemerkt, und zwar bei der Schilderung des Ortes von Caesars Ermordung (15,802; vgl. Kap. 6.8); vgl. Hopkinson (2000, zu 13,197). Bömer (1982, z. St.) sieht hier nicht unbedingt eine Übertragung römischer Verhältnisse auf Troja. 172 Vgl. Bach (2016, 7 ≈ 2020, 135 f.).

Ajax und Odysseus streiten vor Troja

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indem er seinen Gegner als Defätisten präsentiert, der das Ziel der gemeinsamen Mission konterkariert habe. In seiner Darstellung der Dolon-Episode (13,238–254; vgl. Ilias 10) hingegen konzentriert Odysseus sich dann wieder auf seine eigene Leistung sowie auf die Schlechtigkeit des Gegners. Den von ihm getöteten trojanischen Späher stellt er als Repräsentanten seines Volkes dar, indem er den heimtückischen Charakter von Dolons antigriechischer Mission auf Troja überträgt (Ov. met. 13,244–246): »Phrygia de gente Dolona interimo, non ante tamen quam cuncta coegi prodere et edidici, quid perfida Troia pararet.«

»Ich tötete Dolon vom Volk der Trojaner, nicht eher jedoch, als ich ihn gezwungen hatte, alles zu verraten, und ich von ihm erfahren hatte, was das treulose Troja vorbereitet hatte.«

An dieser Stelle wird Troja also wieder in einem gänzlich anderen Licht dargestellt als bei der Schilderung der griechischen Gesandtschaft: Kamen dort noch Größe und Glanz der Stadt zum Ausdruck, so wird sie hier entsprechend der Ursünde ihres Königs Laomedon als meineidig charakterisiert (13,246 perfida Troia ~ 13,197 altae … Troiae), worin erneut die charakterisierende Funktion des Raumes deutlich wird.173 Der Abschnitt über die Dolonie endet mit der Darstellung von Odysseus’ Triumphzug bei der Rückkehr ins griechische Lager (13,252 ingredior curru laetos imitante triumphos). Die Heimkehr des Helden auf einem Triumphwagen bietet zum zweiten Mal einen Anknüpfungspunkt an das zeitgenössische Rom, zumal sich das hierbei verwendete Verb imitari auch metapoetisch deuten lässt.174 Im Anschluss findet sich ein weiterer Katalog, diesmal über die von Odysseus vor Troja getöteten Gegner (13,261 f. quique minus celebres nostra sub moenibus urbis / procubuere manu). Eher beiläufig bemerkt Odysseus, er wolle die Leistung des Ajax beim Kampf an den Schiffen keinesfalls in Abrede stellen (13,268–270):175 »Quid tamen hoc refert, si se pro classe Pelasga arma tulisse refert contra Troasque Iovemque? confiteorque, tulit.« 

»Doch was tut es zur Sache, wenn er angibt, dass er für die griechische Flotte gegen die Trojaner und gegen Jupiter die Waffen in die Hand genommen hat? Ich gestehe es zu, er hat sie in die Hand genommen.«

Odysseus gesteht seinem Opponenten zu, zwar etwas zur Verteidigung, jedoch nichts zu dem eigentlichen Ziel beigetragen zu haben, Troja zu erobern. Hier 173 Vgl. 11,206 perfidiae cumulum; Kap. 5.1. 174 Vgl. Barchiesi (2002, 199); Geitner (2021, 162 mit Fn. 190). 175 Vgl. 13,352 f. nec tu, cum socia clipeum pro classe tenebas, / solus eras; tibi turba comes. Die Feststellung, dass Ajax’ Waffen nichts genutzt hätten, lässt sich auch metapoetisch als Hinweis auf den Misserfolg seiner Rede deuten: Auch Worte als Waffen haben Ajax nicht geholfen (13,269 arma tulisse ~ 12,621 deque armis arma feruntur).

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Troja

verwendet Ovid die symbolische Funktion des Raumes, um den Gegensatz von Offensiv- und Defensivleistung herauszustellen. Kurz darauf kehrt Odysseus’ Rede wieder zu der Person zurück, um deren Waffen es in dem Rededuell eigentlich geht (13,280–282): »quanto cogor meminisse dolore  temporis illius, quo Graium murus Achilles procubuit!«

»Mit welch großem Schmerz muss ich mich an jene Zeit erinnern, als Achill, die Mauer der Griechen, niedersank!«

Indem er Achill als ›Mauer der Griechen‹176 bezeichnet, stellt Odysseus ihn als personifiziertes Abwehrbollwerk dar. Achill wird dadurch zur übermenschlichen Verkörperung Griechenlands; zugleich ruft diese Form der Benennung auch die zu überwindenden Mauern Trojas in Erinnerung. Diese Beschreibung Achills steht im Einklang mit der Sichtweise Neptuns, als dieser Apollo zur Tötung von Trojas Zerstörer aufruft (12,593 operis nostri populator, Achilles; vgl. Kap. 5.4).177 Nach seiner Bezugnahme auf den Schild des Achill (13,291–294)178 kommt Odysseus auf die Situation des Philoctet zu sprechen. Da dessen Anwesenheit vor Troja für die Eroberung der Stadt erforderlich ist, fordert er die Griechen in einer ironischen Geste dazu auf, keinesfalls ihn selbst, sondern Ajax damit zu betrauen, den auf Lemnos Ausgesetzten zu einer Teilnahme am Kampf zu bewegen (13,320 f. quem quoniam vates delenda ad Pergama poscunt, / ne mandate mihi). Dass die Übertragung einer solchen Überzeugungsmission an Ajax sinnlos wäre, versucht Odysseus mit einem Adynaton zu illustrieren (13,324–327):

176 In der Ilias ist die Bezeichnung ἕρκος Ἀχαιῶν (jeweils am Versende) zumeist Ajax vorbehalten (vgl. Hom. Il. 3,229; 6,5; 7,211), wird jedoch auch einmal (in abgewandelter Form) wie in der Ovid-Stelle für Achill verwendet (1,284 ἕρκος Ἀχαιοῖσιν). Ovids Odysseus stiehlt Ajax also gleichsam das eigentlich ihm vorbehaltene Epitheton. – Das Verb procumbere wird sowohl bezüglich des Todes von Menschen als auch für den Untergang von Städten verwendet; vgl. Ov. met. 13,261 f. qui … / procubuere; 13,176 procubuisse … Lyrnesia moenia. 177 Die Darstellung Achills als ›Mauer Griechenlands‹ lässt sich als komplementär zu der vorherigen Personifikation Trojas betrachten (13,168 f. tibi se peritura reservant / Pergama): Indem Ovid die Stadt Troja vermenschlicht und den griechischen Helden par excellence versachlicht, inszeniert er diese beiden als die eigentlichen Akteure des Trojanischen Krieges. 178 Wie Hardie (2015, z. St.) erläutert, könnte die Lesart urbes in Vers 13,294 (diversosque orbes nitidumque Orionis ensem) eine Anspielung auf die in der Schild-Ekphrasis bei Homer ausführlich beschriebenen zwei Städte im Krieg und im Frieden darstellen (vgl. Hom. Il. 18,490–606) – vgl. dazu Speyer (2007, 165 f.) –, doch sowohl Hardie selbst als auch Hopkinson (2000, zu Ov. met. 13,294) halten die Variante orbes für wahrscheinlicher, da die Erwähnung von Städten inmitten der ringsum genannten Sternbilder unpassend erscheint; mit den diversos … orbes könnten hingegen der orbis solis und der orbis lunae gemeint sein. Rivero García (2018, z. St.) weist jedoch auf die mit der Lesart orbes verbundenen Probleme hin. Die zahlreichen Vorschläge für andere Emendationen verdeutlichen die Schwierigkeit, eine der beiden Varianten als echt zu klassifizieren.

Ajax und Odysseus streiten vor Troja »ante retro Simois fluet et sine frondibus Ide stabit et auxilium promittet Achaia Troiae,  quam cessante meo pro vestris pectore rebus Aiacis stolidi Danais sollertia prosit.«

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»Eher wird der Simois rückwärts fließen, der Ida ohne Laub dastehen und Grie­ chenland Troja Hilfe versprechen, als dass, wenn mein Verstand für eure Sache nachlässt, die Klugheit des dummen Ajax den Griechen nützt.«

Anstatt beliebige Topoi aus dem antiken Repertoire derartiger Adynata auszuwählen, passt Ovid dieses Ausdrucksmittel an die räumliche Umgebung seiner Geschichte an:179 Mit dem Fluss Simois und dem Ida-Gebirge verwendet er zwei der bekanntesten Elemente der Topographie der Troas. Damit ist eine gedankliche Übertragung des Adynaton-Inhalts durch die Leser nicht erforderlich. Dies gilt auch für das zweite Vergleichsobjekt, die potentielle Hilfeleistung der Griechen für Troja, da ein solches Handeln im Kontext der geschilderten Kriegssituation als abwegig erscheinen muss. Das Adynaton erlaubt auch eine metapoetische Lesart: Wenn das darin Geschilderte sich bewahrheitete, führte Odysseus nicht nur den Ablauf der Natur, sondern zugleich auch die von Homer erzählte ›wahre‹ Geschichte ad absurdum. Nach der Vorbereitung durch das Adynaton gelobt Odysseus schließlich die Wiedergewinnung des Philoctet (13,333–349):180 »te tamen adgrediar mecumque reducere nitar, tamque tuis potiar (faveat Fortuna) sagittis, quam sum Dardanio, quem cepi, vate potitus,  quam responsa deum Troianaque fata retexi, quam rapui Phrygiae signum penetrale Minervae hostibus e mediis. et se mihi conferat Aiax? nempe capi Troiam prohibebant fata sine illo. fortis ubi est Aiax? ubi sunt ingentia magni  verba viri? cur hic metuis? cur audet Ulixes ire per excubias et se committere nocti perque feros enses non tantum moenia Troum, verum etiam summas arces intrare suaque eripere aede deam raptamque auferre per hostes?  quae nisi fecissem, frustra Telamone creatus  gestasset laeva taurorum tergora septem. illa nocte mihi Troiae victoria parta est; Pergama tum vici, cum vinci posse coegi.«

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»Dennoch werde ich mich an dich heranwagen und mich anstrengen, dich mit mir zurückzubringen, und mich ebenso (möge Fortuna mir gewogen sein) deiner Pfeile bemächtigen, wie ich den trojanischen Seher gefangen nahm, wie ich die Göttersprüche und das Schicksal Trojas aufdeckte, wie ich das Bildnis der trojanischen Minerva, das im Allerheiligsten stand, aus der Mitte der Feinde raubte. Und mit mir will sich Ajax vergleichen? Verwehrte doch das Schicksal die Eroberung Trojas ohne das Palladium. Wo ist da der tapfere Ajax? Wo sind die gewaltigen Worte des großen Mannes? Warum zeigst du hier Angst? Warum wagt es Odysseus, an den Wachen vorbeizugehen, sich der Nacht anzuvertrauen und zwischen grausamen Schwertern hindurch nicht

179 Neben dieser Feststellung deutet Hardie (2015, z. St.) durch den Verweis auf eine Parallelstelle in den Amores auf mögliche metapoetische Implikationen dieser Stelle hin (Ov. am. 1,15,9 f. vivet Maeonides, Tenedos dum stabit et Ide, / dum rapidas Simois in mare volvet aquas). 180 Den Versschluss moenia Troum (13,343) benutzt Ovid nur hier und in Vers 13,375, an weiteren vier Stellen der Metamorphosen verwendet er hingegen die aus der Aeneis bekannte Junktur moenia Troiae (vgl. z. B. Verg. Aen. 5,811); vgl. Rivero García (2018, zu Ov. met. 13,343) zur Verteidigung der lectio difficilior als Ausnahme zum sonstigen Gebrauch der von Vergil geprägten Junktur.

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Troja nur die Mauern Trojas, sondern auch die Zitadelle zu betreten und aus ihrem eigenen Tempel die Göttin zu rauben und die Geraubte mitten durch die Feinde wegzubringen? Hätte ich dies nicht getan, so hätte Telamons Sohn vergeblich seine sieben Stierhäute getragen. In jener Nacht habe ich den Sieg über Troja errungen: Damals habe ich Troja besiegt, als ich es dazu zwang, besiegt werden zu können.«

Odysseus unterstreicht die Bedeutung Philoctets als notwendige Bedingung für die Eroberung Trojas (capi Troiam prohibebant fata sine illo).181 Die Gewinnung des Palladiums – eine weitere condicio sine qua non für die Bezwingung der Trojaner – hebt Odysseus doppelt hervor. Dabei betont er besonders, dass er sich dafür unter die Feinde wagen musste (rapui Phrygiae signum penetrale Minervae / hostibus e mediis; eripere aede deam raptamque auferre per hostes?). Odysseus weist auf die Gefahr des Entdecktwerdens hin und charakterisiert sich damit selbst als mutig182 – nicht nur im Reden wie bei seiner Mission mit Menelaus, sondern auch im Handeln (cur audet Ulixes / ire per excubias; vgl. 13,196 Mittor et Iliacas audax orator ad arces; 13,378 audax). Auch hier lässt sich Ovids Verwendung der charakterisierenden Funktion des Raumes erkennen. Odysseus misst seinen Erfolg auch in räumlichen Maßstäben: Stufenweise ist er immer tiefer in die gegnerische Stadt eingedrungen und hat dabei zunächst die moenia Troum überwunden, hat sich dann zur Zitadelle durchgeschlagen (summas arces) und schließlich das Allerheiligste erreicht (aede).183 Was Odysseus nicht sagt, ist, wie er dies bewerkstelligt hat, ohne dabei entdeckt zu werden. Seine Zuhörer können sich jedoch erschließen, dass er dieses geographische Wissen über Troja bei seiner zuvor erwähnten Gesandtschaft gewonnen hat. Die Selbstdarstellung vom Raub des Palladiums gipfelt schließlich darin, dass Odysseus die dadurch hergestellte Voraussetzung für den Sieg mit diesem selbst gleichsetzt (illa nocte mihi Troiae victoria parta est; / Pergama tum vici, cum vinci posse coegi), was durch das Polyptoton victoria – vici – vinci und die doppelte Nennung der Stadt (Troiae; Pergama) betont wird. An diese hyperbolische Darstellung seiner Leistung schließt Odysseus auch nach der Synkrisis von seinen und Ajax’ Taten (13,350–369) am Schluss seiner Rede an (13,370–381). Auch hier stellt der Held die – wenngleich faktisch noch ausstehende – Eroberung Trojas als einzig von ihm ermöglichte Leistung dar 181 Vgl. Due (1997, 354). 182 Odysseus verschweigt hier die Anwesenheit des Diomedes, die Ajax in seiner Darstellung vom Raub des Palladiums erwähnt (13,100 [gestum] nihil est Diomede remoto). 183 Man beachte auch das Triplikon verschiedener Ausdrücke für ›trojanisch‹ (13,335 Dardanio; 13,336 Troiana; 13,337 Phrygiae).

Ajax und Odysseus streiten vor Troja

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(13,374 altaque posse capi faciendo Pergama cepi). Das Polyptoton capi – cepi wirkt dabei ähnlich eindringlich wie das zuvor verwendete ›Sieges-Polyptoton‹, und die Bezeichnung alta … Pergama erinnert an Odysseus’ Augenzeugen­ bericht von seinem Besuch in der trojanischen Kurie (13,197 altae … Troiae). Indem Odysseus mit einem beschwörenden Plädoyer endet und für den Fall, dass man die Waffen Achills nicht ihm zusprechen wolle, fordert, diese der Göttin Minerva zu überreichen, demütigt er seinen Gegner Ajax und verweist nochmals eindrücklich auf sein früheres erfolgreiches Eindringen in die gegnerische Stadt (13,381 ostendit signum fatale Minervae).184

Die Entscheidung (13,382–398) Nach der über 250 Verse langen Rede des Odysseus endet die Episode mit einer kurzen Darstellung der Urteilsfindung der Jury, die Odysseus den Sieg zuerkennt (13,382 f.). Darauf folgt eine Beschreibung von Ajax’ impulsiver Reaktion auf die Niederlage im Redeagon (13,384–393). Das auf die Erde tropfende Blut des durch eigene Hand gestorbenen Helden verwandelt sich sodann in eine purpurfarbene Blume, die Hyazinthe (13,394–398).

5.5.2 Fazit Die Waffenstreit-Episode rekapituliert den ansonsten in den Metamorphosen ausgelassenen Trojanischen Krieg. Folgerichtig rekurriert auch ihre räumliche Gestaltung auf die Handlungsorte der Ilias. Während sich das Geschehen dort in den drei Raumbereichen Troja, griechisches Lager und der Ebene dazwischen abspielt, konzentriert sich die ovidische Erzählung auf das Lager als Handlungsort. Troja hingegen stellt einen Hintergrundraum dar, der im Redeagon wiederholt evoziert wird. Ein weiterer mehrmals erwähnter Hintergrundraum ist die Insel Lemnos, wo der auf der Hinfahrt der Griechen ausgesetzte Philoctet darbt, solange er nicht wieder in den Kampf gegen Troja eingebunden wird. Die ständige Thematisierung der anvisierten Eroberung der Stadt unterstreicht die Bedeutung der thematischen Funktion des Raumes. Einen visuellen Eindruck von der Topographie Trojas im Sinne des Anschauungsraums erhält man nur durch die interne Fokalisierung des Odysseus: Allein dieser hat bei der Gesandtschaft mit Menelaus sowie beim Raub des Palladiums mit Diomedes die Stadt betreten 184 Der Vers 13,379 (si Troiae fatis aliquid restare putatis) ist textkritisch umstritten. Sollte er echt sein, so würde Odysseus damit weitere vom Schicksal vorgegebene Bedingungen für die Einnahme Trojas (neben der Anwesenheit Achills, der Herbeiholung der Pfeile des Philoctet sowie dem Raub des Palladiums) suggerieren; vgl. Hardie (2015, z. St.). Tarrant (2000, 430–432) plädiert für eine Athetese der Verse 13,377–379.

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Troja

und kennt daher ihr Inneres, insbesondere die Zitadelle (Ov. met. 13,196 Mittor … Iliacas … ad arces; 13,344 summas arces). Odysseus hat Troja also sowohl im Sinne des Anschauungs- wie auch des Aktionsraums wahrgenommen (13,197 visaque et intrata est altae mihi curia Troiae). Seine doppelte Troja-Erfahrung prägt daher auch die Darstellung der Bewegungen in seinem Redebeitrag: Odysseus stellt sich selbst als mutiger, ­offensiv ausgerichteter Charakter dar, der in keiner Lage vor dem Betreten der Stadt der Feinde zurückschreckt.185 Sein Kontrahent Ajax dagegen kann nicht auf derartige eigene Erfahrungen, sondern nur auf die Teilnahme seines Vaters an der ersten Eroberung Trojas verweisen (13,22 f. Telamone creatus, / moenia qui forti Troiana sub Hercule cepit); seine sonstigen Leistungen sind primär defensiver Natur, da er sich bei der Verteidigung der griechischen Schiffe ausgezeichnet hat. Ajax verliert das Rededuell auch deshalb, weil sein Wortbeitrag zeitlich und räumlich rückwärtsgewandt ist. Odysseus hingegen weiß – im Sinne einer metapoetischen Deutung – schon, wie die Geschichte ausgeht: Er wird tatsächlich wieder in Troja stehen. Die jeweils mehrfach erwähnten wesentlichen Leistungen der beiden Opponenten prägen auch ihre Wahrnehmung des gestimmten Raumes in dieser Episode. Letztendlich trägt Odysseus den Sieg im Redeagon nicht allein wegen seiner höheren facundia im Allgemeinen davon (vgl. 13,382 f.),186 sondern insbesondere auch deshalb, weil es ihm gelingt, Ajax als Feigling darzustellen, dessen Gedanken auf die Rückkehr in die Heimat anstatt auf das Ziel gerichtet sind (13,223 f. quid, quod et ipse fugit? vidi, puduitque videre, / cum tu terga dares inhonestaque vela parares). Odysseus selbst hingegen inszeniert sich als alleiniger Garant der Eroberung Trojas: Seinen Worten zufolge vermag nur er sämtliche Bedingungen für den Erfolg der Griechen sicherzustellen.

185 Vgl. Bach (2016, 11): »La force d’Ulysse n’est pas de rester dans l’espace des Grecs, mais d’entrer pour eux dans les espaces des autres. Ulysse est bien l’homme de l’hors-espace, en accord avec les accusations d’Ajax, mais il s’agit de sorties toujours positives de l’espace grec, qui permettent au fils de Laerte de donner la victoire à son camp. L’envoyé est ainsi celui qui quitte l’espace physique auquel il appartient sans jamais quitter l’espace moral de son propre camp«; Bach (2020, 134–137). 186 In der Literatur zu dieser Episode wird vielfach anerkannt, dass die Rede des Ajax nicht per se schlechter ist und der Sieg des Odysseus daher keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt; vgl. z. B. Due (1997, 354). Dippel (1990, 92–101; bes. 92 f.) erläutert, wie die beiden Redner im Verlauf des Krieges verschiedene ›Wahrheiten‹ kreieren.

Hecuba wird aus Troja verschleppt

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5.6  Hecuba wird aus Troja verschleppt (13,399–428) Die Hecuba-Episode enthält einige Verse über den Untergang Trojas und stellt insofern das Gegenstück zum Bericht über die Gründung der Stadt im elften Buch dar (11,194–220).187 Die Erzählung findet sich kurz vor dem Ende des trojanischen Abschnitts der Metamorphosen (13,622), eingebettet zwischen die ausführlichen Erzählungen vom Streit um Achills Waffen (13,1–398) und von der Ermordung von Polyxena und Polydorus (13,429–575). Die zuletzt genannten Ereignisse finden allerdings nicht mehr in Troja statt, wohin die Erzählung anschließend aber noch einmal anlässlich des Todes des Aurora-Sohnes Memnon (13,576–622) und der Abfahrt des Aeneas (13,623–642) zurückkehrt.188 Die hier betrachtete Episode setzt nach den letzten in Homers Ilias dargestellten Ereignissen des Trojanischen Krieges ein.189 Angesichts der Vertrautheit der zeitgenössischen Leser mit den Ereignissen rund um den Untergang Trojas begnügt Ovid sich mit einer Kurzfassung der Iliupersis und verzichtet darauf, das aus Homer, dem Epischen Kyklos, einigen griechischen Tragödien sowie aus Vergils Aeneis Bekannte ausführlich zu wiederholen.190 Stattdessen konzentriert er sich auf das Leiden der Einwohner der geplünderten Stadt, das von Hecuba repräsentiert wird.191 Die Episode lässt sich in folgende Abschnitte gliedern: Nach einer kurzen Überleitung, in der die Rückholung der Pfeile des Philoctet durch Odysseus als letzter Akt des Trojanischen Krieges geschildert wird (Ov. met. 13,399–403), konstatiert ein Zwischenstück den Untergang Trojas; in einer internen Prolepse resümiert dieses die im Anschluss erzählte Verwandlung der Hecuba (13,404– 407). Der folgende Abschnitt (13,408–417) fasst einige bedeutende Ereignisse am Ende des Krieges zusammen: den Brand der Stadt, die Ermordung des Priamus, die Versklavung der Seherin Cassandra und der trojanischen Frauen sowie 187 Eratosthenes datiert den Untergang Trojas auf das Jahr 1184/1183 v. Chr.; vgl. Feeney (2007, 82). 188 Die Verwandlung der Hecuba hat eine lange Tradition in der lateinischen Dichtung (Ennius, Hecuba; Accius, Hecuba; Pacuvius, Iliona; Seneca, Troerinnen). – Während die Verwandlung der Königin in einen Hund bei Ovid in Thrakien stattfindet (Ov. met. 13,567–571), geschieht dies in anderen Quellen noch auf trojanischem Boden (vgl. Q. Smyrn. 14,346–351; Tryphiod. Ilii excidium 401 f.); vgl. Augoustakis (2016, 104). Zur Wechselwirkung von Tragödie und Rhetorik bei Ovid, speziell in dieser Episode, vgl. Lafaye (1971, 153–159). 189 Die Schilderung des Krieges selbst ersetzt Ovid vor allem durch den Kampf der Lapithen und Kentauren (12,210–458; vgl. Hom. Il. 1,260–272); vgl. Ellsworth (1980, 25 f.); Einleitung zu Kap. 5. 190 Vgl. Paschalis (2015, 314) zu Ovids Rezeption von Euripides’ Hecuba und anderen euripideischen Referenztexten. 191 Vgl. Bömer (1982, zu Ov. met. 13,399–428); Stok (1990, 96–100); Hopkinson (2000, z. St.); Curley (2013, 102 f.); Hardie (2015, z. St.). Die Kommentatoren setzen unterschiedliche Schwerpunkte bezüglich der Quellen von Ovids möglichen literarischen Vorlagen.

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die Ermordung des Astyanax. Im Anschluss daran werden die letzten Momente der Trojanerinnen auf heimischem Boden dargestellt (13,418–421), bevor etwas ausführlicher der Abschied Hecubas geschildert wird (13,422–428). Die nachfolgende Analyse zeigt, wie Ovid entgegen epischen Konventionen nicht Priamus, den König von Troja, sondern dessen Gattin und ihr Erleben des Stadtuntergangs zum Kern seiner Erzählung macht.192

5.6.1 Analyse Die Pfeile des Philoctet (13,399–403) Die zunächst referierten Ereignisse bilden den Kern von Sophokles’ PhiloctetTragödie: Odysseus begibt sich nach Lemnos, um seinen ehemaligen Kameraden für die Mission zurückzugewinnen, denn ohne dessen Pfeile kann Troja einem Orakel zufolge nicht erobert werden.193 Der Schauplatz dieser Digression wird hier jedoch nicht wörtlich genannt,194 sondern durch die Beschreibung eines Mythos als Hintergrundraum evoziert: Die Insel Lemnos ist verrufen als Ort, an dem die heimischen Frauen einst sämtlich ihre Männer umbrachten (13,400 veterum terras infames caede virorum). Einzig Hypsipyle sticht unter den männermordenden Einwohnerinnen der Insel hervor, hatte sie doch ihren Vater Thoas von dem Massaker verschont (13,399 Hypsipyles patriam clarique Thoantis). – Die zweifach erwähnte Rückholung der Pfeile (13,401 referat; 13,402 revexit) stellt zugleich einen Kontrapunkt zu dem im Folgenden Erzählten dar: Die Fahrt der Griechen von Lemnos nach Troja steht im Gegensatz zum erzwungenen Verlassen der zerstörten Stadt durch Hecuba und die Trojanerinnen am Ende der Episode (13,421). Die Rückholung von Philoctets Pfeilen markiert damit einen Anfang und ein Ende zugleich: den Beginn der Hecuba-Erzählung und den Abschluss des Trojanischen Krieges.195 192 Vgl. Dippel (1990, 104 f.). Vergil hingegen erwähnt Hecubas Tod nur kurz (Verg. Aen. 2,501 vidi Hecubam; 2,515). 193 Ovid verzichtet in seiner knappen Schilderung auf zahlreiche Elemente von Sophokles’ Werk: So erwähnt er beispielsweise nicht die Rolle von Achills Sohn Neoptolemus und die List, mit der Odysseus Philoctet zur Rückgabe seiner Waffen bewegt; vgl. Jouteur (2001, 131 f.). 194 Vgl. aber die wörtliche Erwähnung des Ortes im Waffenstreit (13,46; 13,313); Kap. 5.5. 195 Ovid benutzt hierfür die Metapher der letzten Hand (13,403 imposita est sero tandem manus ultima bello); vgl. Papaioannou (2007, 209): »Ovid apologizes for the length of the Trojan War by humorously tying together authorial self-consciousness and narrative fact.« Diese metapoetisch deutbare Wendung verwendet Ovid in der Exildichtung bezüglich der vorgeblich fehlenden Vollendung der Metamorphosen (Ov. trist. 2,555 f. dictaque sunt nobis, quamvis manus ultima coeptis / defuit, in facies corpora versa novas); vgl. Hinds (1999, 51) zu Ovids ›Neubewertung‹ der Metamorphosen aus der Perspektive seines Exils. Vgl. außerdem Ov. met. 8,200 f. (Daedalus vollendet die Flügel für Icarus und sich) postquam manus ultima

Hecuba wird aus Troja verschleppt

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Der Fall Trojas und die Verwandlung der Hecuba (13,404–407) Die nachfolgenden vier Verse sind textkritisch umstritten:196 [Troia simul Priamusque cadunt; Priameia coniunx perdidit infelix hominis post omnia formam  externasque novo latratu terruit auras, longus in angustum qua clauditur Hellespontus.]

Zugleich fallen Troja und Priamus. Nach all den Geschehnissen verlor die unglückselige Frau des Priamus ihre menschliche Gestalt und erschreckte mit ihrem neuentstandenen Gebell fremde Lüfte, dort, wo der lange Hellespont durch eine Meerenge verschlossen wird.

Eine ungewöhnliche narratoriale Prolepse bietet eine Kurzfassung dessen, was im Anschluss noch einmal erzählt wird. Ovid erwähnt zum einen den Untergang Trojas und den Tod des Priamus, obwohl diese Ereignisse kurz danach – jedoch kaum ausführlicher – nochmals wiederholt werden (13,408–410): Ilion ardebat, neque adhuc consederat ignis, exiguumque senis Priami Iovis ara cruorem conbiberat. 

Troja brannte, und das Feuer hatte sich noch nicht gelegt, und Jupiters Altar hatte das spärliche Blut des alten Priamus aufgesogen.

Zum anderen schildert Ovid in den oben zitierten umstrittenen Versen die Verwandlung von Priamus’ Gattin Hecuba in eine Hündin; diese Metamorphose wird später ein weiteres Mal, dann sogar in großer Ausführlichkeit dargestellt (13,429–575). Aufgrund dieser zweifachen inhaltlichen Doppelung werden die Verse 13,404–407 seit Bentley von vielen Herausgebern athetiert.197 Zu diesen zählt auch Tarrant, der für seine Entscheidung im kritischen Apparat ausschließlich auf Bentley verweist, während Anderson diese Verse übernimmt, ohne seine Ent-

coepto / imposita est; Verg. Aen. 7,572 f. (Juno) extremam Saturnia bello / imponit regina manum; Petron. 118,6; Schmitz (2017, 24 f.). – Zur problematischen Überlieferung dieses Verses und zu den angegebenen Parallelstellen vgl. Rivero García (2018, zu Ov. met. 13,402–404). Metapoetisch deutbares Vokabular findet sich in Ovids Passage auch in Form des Wortes clauditur. Die Stelle aus den Metamorphosen ist daneben durch eine intertextuelle Referenz zum Heroides-Brief von Paris an Helena interessant, wo Ovid mit ähnlichen Worten die Fertigstellung der trojanischen Flotte beschreibt, die durch ihre Unternehmung ja gerade den hier als zu Ende gehend geschilderten Krieg auslöst (Ov. epist. 16,117 imposita est factae postquam manus ultima classi). 196 Zu urbes und weiteren Varianten für auras vgl. Rivero García (2018, z. St.). 197 Eine umfassende textkritische Diskussion der Passage findet sich bei Rivero García (2018, z. St.).

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scheidung näher zu begründen.198 Die verschiedenen Kritiker halten die fraglichen Verse entweder für eine ovidische Doppelfassung, die der Autor bei einer finalen Revision des Manuskripts entfernt hätte,199 für eine Interpolation200 oder aber für eine Randglosse.201 Bömer (1982, z. St.) und Rivero García (2018, z. St.) kommen allerdings zu dem Schluss, dass Phraseologie und Grammatik der Passage keineswegs für eine Athetese sprechen.202 Weder an der hiesigen Ovid-Stelle noch im Allgemeinen spreche demnach etwas dagegen, eine später ausführlich erzählte Geschichte an einer früheren Stelle desselben Werkes bereits kurz zusammenzufassen. Zudem könne man insbesondere für diese Stelle auch Vergil zum Vergleich anführen, der Aeneas in seiner intradiegetischen Erzählung unmittelbar vor der Darstellung von Priamus’ Tod genau dieses Ereignis kurz vorwegnehmen lässt (Verg. Aen. 2,499–505). Eine plausible, diese Ausführungen Bömers stützende Begründung für die Echtheit der betreffenden Verse liefert Stok (1990, 89; 96): Er weist darauf hin, dass die Passage Ov. met. 13,404–407 den ab 13,429 behandelten Inhalt der Euripides-Tragödie Hecuba zusammenfasst und damit einen erzählerischen Rahmen um die Verse Ov. met. 13,408–428 bildet, die den Inhalt von Euripides’ Troerinnen thematisieren.203 Doch betrachten wir nun den Inhalt der Passage. Selbst im Vergleich zum folgenden Textabschnitt (Ov. met. 13,408–417), der meist in jeweils zwei bis drei Versen von einem Ereignis am Ende des Trojanischen Krieges berichtet, wird hier der Untergang der Stadt in größtmöglicher Verdichtung erzählt (13,404 Troia simul Priamusque cadunt). Damit erfüllt sich die Prophezeiung des Calchas vor der Abfahrt in Aulis (12,20 Troia cadet).204 Ovid verzichtet auf jegliche Ausschmückung, darunter auch auf das berühmte Mittel der Eroberung, das Trojanische Pferd. Damit liefert er insbesondere einen Gegenentwurf zu der langen Vorgeschichte des Untergangs im zweiten Buch der Aeneis. Mittels einer Syllepse verknüpft Ovid das Schicksal der Stadt auf engstmögliche Weise mit dem Tod ihres Königs (und der Verwandlung von dessen Gattin).205

198 Papaioannou (2007, 209 mit Fn. 443) behauptet jedoch fälschlicherweise: »Both Anderson and Tarrant embrace Bentley’s suggestion.« 199 Vgl. z. B. Due (1974, 155). 200 Vgl. z. B. Mendner (1939, 43 mit Fn. 139). 201 Vgl. z. B. Hopkinson (2000, z. St.), der allerdings auch eine Doppelfassung Ovids nicht ausschließt. 202 Vgl. auch Marahrens (1971, 232–237); Papaioannou (2007, 209 mit Fn. 443). 203 Vgl. Stok (2008, 503–505). 204 Vgl. Hom. Il. 4,164 f. (Agamemnons Voraussage von Trojas Untergang). 205 Eine derartige Koinzidenz vom Tod eines Herrschers und der Zerstörung seiner Stadt findet sich auch später, als Ovid vom Schicksal des Turnus und der Verwandlung von dessen Heimatstadt Ardea erzählt (Ov. met. 14,573 f.; vgl. Kap. 6.2). Vgl. Rossi (2002, 239); Hardie (2015, z. St.); Hom. Il. 6,448 f.; Eur. Tro. 730; Eur. Hec. 1208–1210; Verg. Aen. 2,554–558; Sen. Tro. 29–31.

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Indem Ovid den Tod des Priamus in lediglich zwei Worten (›Priamus fällt‹), das Schicksal seiner Frau jedoch in dreieinhalb Versen (Ov. met. 13,404b–407) und später nochmals deutlich ausführlicher darstellt, etabliert er ein narratives Ungleichgewicht zwischen dem einstigen Beherrscher einer Weltmacht und dessen nach den Konventionen des Genres eigentlich unbedeutenderer Gattin. Die Wirkung dieser Verschiebung verstärkt er noch durch die geographischen Konnotationen der beiden unterschiedlichen Schicksale dieses Königspaares. Denn während der Tod des Priamus ›lediglich‹ im Zusammenhang mit dem Untergang seiner Stadt steht, der scheinbar lapidar konstatiert wird (›Troja fällt‹), ohne dass die damit verbundenen welthistorischen Implikationen erwähnt würden, hat die Verwandlung Hecubas Konsequenzen, die über das trojanische Territorium hinausreichen: Hecubas in zwei Versen dargestelltes Leiden (13,405 f.) sorgt nicht nur für Schrecken in Thrakien, sondern intensiviert auch das Pathos der Szene, indem durch externas ihr Exil, die räumliche Entfernung, als Teil des allgemeinen Leids der Trojanerinnen evoziert wird.206 Die genaue Ortsangabe durch einen gesamten Vers (13,407 longus in angustum qua clauditur Hellespontus)207 steht dabei in größtmöglichem Kontrast zu Troia am Beginn dieses Abschnitts (13,404), wo die Stadt ohne ein charakterisierendes Attribut beschrieben wird. Ovid reduziert den Untergang Trojas damit zu einem bloßen Prolog für seine Hecuba-Erzählung.208

Das Ende des Trojanischen Krieges (13,408–417) Die an die textkritisch umstrittene Passage anschließenden zehn Verse bieten eine Art Best-of  der Ereignisse am Ende des Trojanischen Krieges und nehmen dabei inhaltlich vor allem auf Euripides’ Troerinnen, aber auch auf Vergils Aeneis sowie auf einige Stellen von Homers Ilias Bezug.209 Die ersten gut zwei Verse (Ov. met. 13,408–410a) stellen den wohl stärksten Einwand gegen die Echtheit der oben diskutierten Passage (13,404–407) dar, weil sie nur wenig ausführlicher als in Vers 13,404 den Untergang Trojas und denjenigen von dessen Herrscher schildern. Der Brand Trojas wird hier durch die Verwendung des Imperfekts (13,408 Ilion ardebat) zur Hintergrundkulisse für die nachfolgend geschilderten Ereignisse, deren erstes der Tod des Priamus ist. Die Ermordung des trojanischen Königs wird (wie bei Euripides und Vergil) am Jupiter-Altar lokalisiert

206 Vgl. Hardie (2015, z. St.). 207 Wie Bömer (1982, z. St.) bemerkt, wird longus nur bei Ovid zu einem typischen Attribut für den Hellespont. 208 Curley (2013, 102 f.). Vgl. Jouteur (2001, 132). 209 Vgl. Döpp (1968); Stok (1990, bes. 87; 89: »sorvolare sulla caduta di Troia«; 95). Auch die Verse Ov. met. 13,409–417 werden ganz oder teilweise für unecht gehalten, vgl. Rivero García (2018, z. St.).

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(13,409 Iovis ara).210 Während dieses Ereignis nicht zu den von Euripides näher behandelten zählt, stellt Vergil es sehr ausführlich dar (Verg. Aen. 2,507–558). Die nächste Szene (Ov. met. 13,410 f.) handelt von der Verschleppung der ­Cassandra durch Ajax (der ebenso wenig wie der Mörder des Priamus genannt wird). Der Ort dieses Geschehens wird nicht mit derselben Deutlichkeit wie der des vorher geschilderten Mordes benannt; er ist aber durch die Kennzeichnung Cassandras als Seherin (13,410 antistita Phoebi) als der bei Vergil auch genannte Minerva-Tempel erschließbar. Möglicherweise ist die Etymologie von antistita ein versteckter Hinweis darauf, dass Cassandra vom Altar des Tempels fortgerissen wird.211 Die folgenden drei Verse (13,412–414) nehmen teilweise die später (13,418/420– 421) geschilderte Verschleppung der Trojanerinnen vorweg. Wie schon bezüglich Priamus (und indirekt bezüglich Cassandra), so wird auch hier eine enge Verbindung zu den heiligen Orten der untergehenden Stadt hergestellt: Die trojanischen Frauen flüchten sich an die Altäre und umklammern, solange es ihnen möglich ist, die Götterbilder in den Tempeln (13,412 f. patriorum signa deorum, / dum licet, amplexas succensaque templa tenentes).212 Die Götter haben sich von der untergehenden Stadt abgewendet und können den Einwohnern nicht mehr den Schutz bieten, den sie vorher in Troja fanden und von dem sie wissen, dass es ihn in der Fremde nicht für sie geben wird. Dies illustriert einmal mehr einen Gegensatz im Sinne der symbolischen Funktion des Raumes. Die enge Bindung der Frauen an ihre Heimat wird indes im Sinne der charakterisierenden bzw. psychologischen Funktion des Raumes noch intensiviert durch ihre Bezeichnung als Dardanidas matres (13,412), die auf den trojanischen Urahn Dardanus verweist, sowie durch die Attribuierung der Götterstatuen als patriorum. So kehrt die Flucht der Trojanerinnen an den Altar den »Gegensatz zwischen der einstigen Blüte der Stadt und ihrer jetzigen Bedrängnis«213 umso stärker hervor. Auch die folgenden drei Verse zeigen den Kontrast zwischen ruhmreicher Vergangenheit und beklagenswerter Gegenwart Trojas, in der sich die Hoffnung auf eine Kontinuität der Herrschergenerationen zerschlägt: Hectors Sohn Astyanax, von dem die Griechen fürchten, er könnte ein neues Troja gründen und 210 Vgl. Eur. Tro. 16 f.; 482–484; Verg. Aen. 2,550 altaria ad ipsa. Einen Jupiter-Altar hatte es laut Ovid schon vor der Erbauung Trojas an der Stelle der späteren Stadt gegeben (vgl. Ov. met. 11,198); nach der anfänglichen Erwähnung im Zuge der Gründungserzählung kommt dieser Altar bis zum hier geschilderten Untergang Trojas nicht mehr in der Erzählung vor. Wie Bömer (1982, z. St.) erläutert, besteht die poetische bzw. historische Tradition eines Altars des Zeus Herkeios (d. h. Zeus/Jupiter in seiner Funktion als Beschützer des umzäunten Hofes) bereits seit der Iliupersis (vgl. auch Ov. Ib. 282 Hercei … ara Iovis); vgl. Roscher, »Zeus« IV. 211 Hopkinson (2000, z. St.). Vgl. Verg. Aen. 2,403–406; 2,404 a templo … adytisque Minervae; zur Verbindung mit Athena/Minerva vgl. DNP, »Kassandra«; Roscher, »Kassandra«. Vgl. auch Eur. Tro. 294–461. 212 Vgl. Verg. Aen. 2,489 f.; 2,515–517. 213 Döpp (1968, 128 f.); zu diesem Topos vgl. Rossi (2002, 241).

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damit einen neuerlichen Krieg hervorrufen (vgl. Eur. Tro. 1160–1165),214 wird von den Mauern der Stadt gestürzt (Ov. met. 13,415–417):215 mittitur Astyanax illis de turribus, unde  pugnantem pro se proavitaque regna tuentem saepe videre patrem monstratum a matre solebat.

Astyanax wird von jenem Turm gestürzt, von dem aus er oft seinen Vater, der ihm von seiner Mutter gezeigt wurde, zu beobachten pflegte, als dieser für ihn kämpfte und für das Reich seiner Vorfahren schützte.

Zum einen deutet die Astyanax-Szene auf den Abschnitt über Hecubas Trauer um Hector hin (13,422–428). Zum anderen verweist Ovid aber auch durch die Konkretisierung des Handlungsorts (illis de turribus, unde) auf intratextueller Ebene auf die Zeit des Krieges und zugleich intertextuell zurück auf die Ilias, wo das Skäische Tor Schauplatz eines familiären Beisammenseins von Andromache, Hector und Astyanax ist; dort sieht Andromache später, kurz vor dem Ende des Epos, in einer externen aktorialen Analepse den bei Homer nicht mehr geschilderten Tod ihres Sohnes voraus.216 In der Aeneis wird der Ort dieses Geschehens in einem vergleichbaren Moment als derjenige beschrieben, an dem die Frau des trojanischen Prinzen bei ihrem Sohn verweilte, solange dies möglich war (Verg. Aen. 2,453–462). Doch Ovids Version ist nicht nur kürzer als die betreffenden Vergil-Verse, sondern auch sehr viel knapper als der betreffende Abschnitt von Euripides’ Troerinnen. Dort wird die Ermordung des Astyanax (neben der Verschleppung der Cassandra) zwar sehr ausführlich behandelt,217 jedoch kann der Tod des Kindes im Drama nur durch einen Botenbericht erzählt werden, da ein solches Ereignis nicht auf der Theaterbühne darstellbar ist. – Innerhalb der Metamorphosen selbst bietet sich daneben ein Vergleich mit der Teichoskopie der Nisus-Tochter Scylla und der dort verwendeten Motive an (Ov. met. 8,17–20):218 saepe illuc solita est ascendere filia Nisi et petere exiguo resonantia saxa lapillo, tum cum pax esset; bello quoque saepe solebat spectare ex illa rigidi certamina Martis. 

Oft stieg die Tochter des Nisus dorthin hinauf und warf mit einem kleinen Steinchen gegen die widerhallenden Fel­sen, damals, als Frieden herrschte; auch im Kriege schaute sie häufig von ihr her­unter auf die Kämpfe des grausamen Mars.

214 Vgl. Eur. Hec. 1136–1144, wo Polymestor den Mord an Polydorus mit der Gefahr durch ein neues Troja begründet, das dieser in Thrakien hätte errichten und das dann von den Griechen hätte angegriffen werden können. 215 Vgl. Hardie (2015, z. St.). 216 Vgl. Hom. Il. 6,390–496; 24,734–738. 217 Eur. Tro. 568/709–798; 1117–1122. Vgl. Stok (1990, 90–92). 218 Vgl. Kap. 4.6; Behm (2018, 73–78).

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Auch hier wird auf einen vorher genannten Teil der Mauer verwiesen (illuc; vgl. 8,14 regia turris erat) und die sprachliche Gestaltung des aktuell dargestellten Zeitabschnitts ist sehr ähnlich (bello … solebat / … certamina Martis; 13,416 f. pugnantem … / saepe videre … solebat). Allerdings rekurriert die Mauerschau im achten Buch während des Krieges auf die Vorkriegszeit, während sich diejenige in Buch 13 am Ende des Krieges auf den Krieg selbst bezieht. Die kindlichen Figuren blicken jeweils auf einen Mann, doch während die jugendliche Scylla den feindlichen Kriegsherrn Minos betrachtet, in den sie sich verliebt hat, schaut der kindliche Astyanax seinen Vater Hector an, der – letztlich vergebens – für seine Heimatstadt kämpft.

Der Abschied der Trojanerinnen (13,418–421) Der Abschied der trojanischen Frauen von ihrer Heimat wird in dramatischer Verdichtung dargestellt: Da günstige Winde die Griechen zum Aufbruch bewegen (13,418 f.), bleibt den Frauen nur Zeit für einen flüchtigen Abschiedsgruß und das Küssen des Heimatbodens (13,420 »Troia, vale! rapimur« clamant, dant oscula terrae), wie es normalerweise bei der Ankunft oder Rückkehr geschieht,219 dann müssen sie auch schon die zerstörte Heimat verlassen (13,421 patriae fumantia tecta relinquunt). Indem er die Frauen als Troades bezeichnet, verweist Ovid unmittelbar auf seine wohl wichtigste Quelle, das gleichnamige Drama des Euripides. Er versieht die Szene mit einem hohen Maß an Pathos, indem er diese Titulierung ebenso wie den Vokativ Troia (Ov. met. 13,420) an den Anfang zweier aufeinander folgender Verse stellt.220 Der Text stellt auf mehrfache Weise eine emotionale Verbindung zwischen den Protagonistinnen und dem Handlungsort her: Er bezeichnet den Abschied als gewalttätigen Raub (rapimur), lässt die Verzweiflung und Trauer zum Ausdruck kommen (clamant;221 oscula). Insbesondere wird immer wieder der Rauch der brennenden Gebäude (fumantia tecta), ein wiederkehrendes Element auch bei Euripides, als sichtbares Zeichen des Untergangs genannt.222

219 Vgl. Hardie (2015, z. St.); Hom. Od. 13,351 f.; Ov. met. 3,24 f.; Kap. 3.1. 220 Hardie (2015, z. St.). Vgl. 13,538 Troades exclamant. 221 Hier zeigt sich am stärkten die Äquivalenz von Ovids trojanischen Frauen zum Chor der euripideischen Tragödie, vgl. Eur. Hec. 905–952; Hardie (2015, zu Ov. met. 13,412–414). 222 Vgl. Eur. Tro. 8 f.; 144 f.; 587 f.; Eur. Hec. 475–479; 823; 1215; Verg. Aen. 2,624 f. Tum vero omne mihi visum considere in ignis / Ilium et ex imo verti Neptunia Troia; 3,2 f. ceciditque superbum / Ilium et omnis humo fumat Neptunia Troia; Sen. Tro. 19–21. – Während Ovid nur mehr von rauchenden Ruinen spricht, steht Troja am Ende von Euripides’ Troerinnen noch lichterloh in Flammen; vgl. Elliger (1975, 246), der Troja als »landschaftlichen Hintergrund, aber […] nicht in optischer, sondern in geistiger Hinsicht« in Euripides’ Troja-Dramen sieht; Stok (1990, 93).

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Der Abschied Hecubas (13,422–428) Im Gegensatz zu den übrigen trojanischen Frauen verbleibt die Königin nicht in der Anonymität, sondern ihr Abschied von Troja wird in sieben (statt nur vier) Versen geschildert (vgl. Eur. Tro. 1272–1332). In abbildender Wortstellung nennt Ovids Text den exakten Ort, an dem die Griechen Hecuba aufgreifen: Sie hält sich an den Gräbern ihrer ermordeten Kinder auf (Ov. met. 13,423 in mediis Hecabe natorum inventa sepulcris; vgl. 13,510 tumulis avulsa meorum). Der Raum erhält eine psychologische Funktion, denn die Häufung von Vokabeln aus dem Bereich ›Bestattung‹ (sepulcris; 13,424 tumulos; 13,427 tumulo) unterstreicht Hecubas Trauer um ihren Sohn Hector. Sie gräbt dessen Urne aus, küsst diese, nimmt einen Teil von Hectors Asche mit sich und hinterlässt ihre Tränen und eine Haarsträhne als Totenopfer in seinem Grab (13,424–428; 13,426 cineres secum tulit Hectoris haustos).223 Auf den ersten Blick erscheint Hecubas Abschied von Troja wie derjenige der anderen Frauen, da die entsprechenden Verse einige Parallelen aufweisen,224 doch bei näherem Hinsehen zeigen sich feine Unterschiede: Während die trojanischen Frauen dem Heimatboden Küsse spenden und die Häuser ihres Vaterlandes zurücklassen (13,420 f.), gelten Hecubas Küsse ihrem Sohn bzw. dessen Gebeinen (13,424); aus ihrer Sicht ist es nicht Troja, das sie zurücklässt,225 sondern ihre eigenen Gaben (13,428 crinem lacrimasque reliquit). Die Gefühle der Königin beim Abschied von ihrer Stadt gelten also vor allem ihrem verstorbenen Sohn, während die einfachen Frauen vornehmlich den Verlust ihrer Heimat betrauern.226

223 Hopkinson (2000, z. St.) bietet Vergleichsstellen zum Ausgraben der Gebeine einer geliebten Person. Stok (1990, 94) weist darauf hin, dass Hecuba bei Euripides – ebenso wie die Trojanerinnen bei Ovid – die Erde (und nicht die Gräber) berührt. Augoustakis (2016, 106 f.) bemerkt, dass Hecuba das Grab ihres Sohnes zu einem Kenotaph macht, das an das leere Grab des Helden in Buthrotum erinnert (vgl. Verg. Aen. 3,300–305), und weist darauf hin, dass durch die Lokalisierung der Gräber von Hector in Troja sowie von Achill in Thrakien die beiden Heroen einander gegenübergestellt werden. 224 13,420/424 oscula im sechsten Versfuß; 13,421/428 relinquunt bzw. relinquit am Vers­ ende. Vgl. Hopkinson (2000, 168) zu Wiederholungen als Mittel zur Darstellung von ritueller Klage. 225 Vgl. jedoch 13,483 f. o modo regia coniunx, / regia dicta parens, Asiae florentis imago; Solodow (1988, 141); Papaioannou (2007, 222 f.) meint, Hecuba verkörpere Troja als imago. 226 Dies kommt auch durch die Stellung von Troia/Troades (13,420/421) sowie durch die Nähe von Hecabe (13,423) zu Formen von Hector (13,426/427) zum Ausdruck. Vgl. FabreSerris (1995, 112) zur Darstellung des Schmerzes von Individuen (statt dem eines Kollektivs); Paschalis (2015, 342 f.); Augoustakis (2016, 105; 109).

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Troja

5.6.2 Fazit Die geographische Lage Trojas, das einige Male namentlich genannt wird (13,404; 13,408; 13,420), wird in der Schilderung vom Untergang der Stadt nicht erneut beschrieben, wie es bei der Erzählung von der Stadtgründung geschehen war (vgl. 11,195–197), sondern durch die Gegenüberstellung mit dem Schauplatz der Verwandlung Hecubas erst im Nachhinein implizit angegeben (13,406 f.; 13,429 ubi Troia fuit, Phrygiae contraria tellus).227 Die topographischen Elemente, die in dieser Episode genannt werden, betreffen zum einen die Sphäre des Religiösen (13,409 ­Jupiter-Altar; 13,412 f. Tempel und Götterbilder), zum anderen zivile (13,421 tecta) und militärische Bauwerke (13,415 turribus) und zuletzt die Gräber von Hector und anderen königlichen Kindern (13,423 f.; 13,427). Überwiegend wird das Geschehen extern fokalisiert (z. B. 13,422 miserabile visu); nur bei der Schilderung des zu Tode gestürzten Astyanax blickt der Leser durch dessen Augen von der trojanischen Mauer als einem Teil des Anschauungsraums auf das Kriegsgeschehen zurück.228 Betrachtet man die Episode unter dem Aspekt des Aktionsraums, so wird augenfällig, dass die Handlungen der Trojaner entweder im Passiv stehen, da sie durch ihre Feinde bewirkt werden, oder aber selbst dann, wenn sie im Aktiv geschildert werden, durch die Einwirkung der Griechen erfolgen. Das Passiv wird beim Mord an Astyanax (13,415 mittitur) sowie bei der Entführung der Trojanerinnen (13,420 rapimur), Hecubas (13,423 inventa) und Cassandras (13,410 tractata) verwendet;229 ebenso wie die Seherin werden auch die Frauen und die Königin gewaltsam von den Griechen von ihrem Aufenthaltsort entfernt (13,414 invidiosa trahunt victores praemia Grai; 13,425 Dulichiae traxere manus); das gegenständliche Festhalten an Troja bleibt ebenso erfolglos (13,412 f. patriorum signa deorum, / dum licet, amplexas succensaque templa tenentes; 13,424 prensantem tumulos) wie Cassandras Gebete (vgl. 13,411). Die dreifache Verwendung von Formen von trahere bzw. des Intensivums tractare im Laufe dieses Abschnitts (13,410; 13,414; 13,425) unterstreicht die Haupthandlung, nämlich dass die Trojanerinnen ihre Stadt gegen ihren Willen verlassen müssen.230 227 Augoustakis (2016, 117) sieht in der Nähe von Thrakien zu Troja eine Markierung des narrativen Fortschreitens nach Rom, da dies auch die erste Station von Aeneas’ Reise sei. Vgl. Paschalis (2015, 315 f.; 366) zur Verlagerung des Handlungsortes nach Troja, wohingegen die Verwandlung Hecubas bei Euripides auf dem Meer erfolgt. Vgl. Rivero García (2018, z. St.) zur Verteidigung der Variante contraria gegenüber contermina. 228 Vgl. Stok (1990, 91) zur ›Flashback‹-Technik in dieser Episode. 229 Eine Nuance lässt sich höchstens bezüglich der Verschleppung der trojanischen Frauen gegenüber der ihrer Königin ausmachen: Während die Frauen buchstäblich geraubt werden, wie das Passiv hervorhebt, betritt Hecuba selbstständig das Schiff der Griechen (13,420 rapimur; 13,422 conscendit classem). 230 Vgl. 13,510 nunc trahor exul.

Aeneas besucht Delos

219

Der gestimmte Raum steht im Spannungsfeld zwischen den trojanischen Kriegsverlierern und den griechischen Siegern. Diese werden sowohl den trojanischen Frauen (13,412 Dardanidas matres – 13,414 victores … Grai) als auch der Königin gegenübergestellt (13,423 Hecabe – 13,425 Dulichiae … manus), ebenso wie Troja bezüglich Hecubas Verwandlung zweimal geographisch mit Thrakien kontrastiert wird. Die vier Szenen in den Versen 13,409–417 illustrieren das schreckliche Los der einst blühenden Stadt.231 Den trojanischen Frauen, die ihrer Heimat affektiv verbunden sind und sich buchstäblich an deren Tempel klammern (13,413 templa tenentes), bietet sich beim Verlassen der Stadt die ›apokalyptische Atmosphäre‹ des untergehenden Troja.232 Die geschilderte ­Geräuschkulisse verdeutlicht ihr Leiden und unterstreicht die symbolische Funktion des Raumes: Während die Geräusche von Wind und Segeln für die Griechen positiv konnotiert sind, was auf eine erfolgreiche Heimkehr nach langen Kriegsjahren hindeutet, bringt das laute Wehklagen der trojanischen Frauen den Jammer ihrer gewaltsamen Verschleppung aus der Heimat zum Ausdruck (13,418 f. flatu … secundo / carbasa mota sonant ~ 13,420 »Troia, vale! rapimur« clamant).

5.7  Aeneas besucht Delos (13,623–704) Der hier betrachtete Textausschnitt behandelt eine relativ kurze Station auf der Flucht der Aeneaden aus Troja. Während die meisten Etappen ihrer Irrfahrt gen Westen nur kurz genannt, aber nicht näher beschrieben werden, erfährt der Aufenthalt bei König Anius auf der Insel Delos eine ausführlichere Darstellung. Städte kommen dabei zum einen direkt als Handlungsort zur Geltung (so beim Rundgang durch Delos), zum anderen als Bildinhalt auf einem Kunstobjekt (so bei der Darstellung von Theben auf einem Krater). Im Vergleich zur Bedeutung der sakralen Handlungen, die in der Aeneis im Vordergrund stehen (Verg. Aen. 3,80–120),233 dominiert bei Ovid das Thema der Gastfreundschaft. Die Textpassage lässt sich in drei Abschnitte gliedern: Der erste Teil (Ov. met. 13,623–642) skizziert die Flucht des Aeneas aus Troja und seine Reise über Thrakien nach Delos (13,623–631), wo er von König Anius empfangen und durch die Stadt geführt wird, bevor man sich nach der Darbringung eines Opfers zum königlichen Palast begibt und Anchises den Gastgeber nach dem Schicksal seiner Töchter befragt (13,632–642). Anius berichtet daraufhin in einer Binnenerzählung von deren Verwandlung (13,643–674). Der dritte Teil (13,675–704) schildert die Befragung des apollinischen Orakels am nächsten Morgen sowie 231 Vgl. Döpp (1968, 130). 232 Jouteur (2001, 132). 233 Vgl. Döpp (1991, 334 f.); Papaioannou (2005, 19 f.); Sharrock (2019, 307 f.).

220

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den Austausch von Abschiedsgeschenken vor der Weiterreise der Aeneaden;234 dieser Abschnitt wird dominiert von der eingeschalteten Ekphrasis eines Kraters, den Aeneas von Anius erhält. Im Folgenden wird unter anderem gezeigt, wie der Bildinhalt jener Ekphrasis zum ›urbanen‹ Gesamtkontext des Werkes in Beziehung steht und implizite Verbindungen zu Troja und Rom hergestellt werden.235

5.7.1 Analyse Aeneas’ Flucht aus Troja (13,623–631) Mit dem Fall der Mauern Trojas (13,623 eversam Troiae … moenibus)236 schließt Ovid ringartig den in Buch 11 mit dem Bau der Stadtmauern (11,199 moliri moenia Troiae) eröffneten Sagenkreis. Die ersten Verse des hier betrachteten Abschnitts (13,623 f.) dienen als Übergangspassage, die den Wechsel von Troja zu den italischen Schauplätzen bzw. allgemein zu den römischen Mythen markiert.237 Der Text rekurriert auf zwei Aspekte der Vergangenheit Trojas: die Geburt des Aeneas im Ida-Gebirge, indem dieser über ein Toponym als Sohn der Venus bezeichnet wird (13,625 Cythereius heros), sowie den einstigen Wohlstand der Stadt (13,626 tantis opibus), deren überlebende Bewohner nun zur Flucht gezwungen sind.238 Aeneas kann nichts von diesem Reichtum mitnehmen. Stattdessen führt der Held die Götter der Stadt, seinen Vater Anchises und seinen Sohn Ascanius mit sich ins Exil (13,624–627): sacra et, sacra altera, patrem fert umeris, venerabile onus, Cythereius heros  (de tantis opibus praedam pius eligit illam Ascaniumque suum).

Das Geheiligte und das andere Heiligtum, seinen Vater, eine ehrwürdige Last, trägt der von Venus geborene Held auf seinen Schultern (und von solch großen Schätzen wählt der Fromme dies als Beute und dazu seinen Ascanius).

Die Bezeichnung der Penaten und seines Vaters als ›Beute‹ (praedam) – zudem alliterativ neben das topische Attribut pius gestellt, das einzig an dieser Stelle innerhalb der Metamorphosen für Aeneas verwendet wird – wirkt zunächst paradox oder gar ironisch, da man diesen Begriff normalerweise mit einem Sieger

234 Vgl. den Geschenkeaustausch in der vergilischen Buthrotum-Episode (Verg. Aen. 3,463–469; 3,482–485). 235 Vgl. Bach (2020, 92). 236 Vgl. 13,169 evertere Troiam? 237 Von Albrecht (1981a, 107) betont das im Text erkennbare Leitmotiv der Erwartung eines neuen Troja. 238 Vgl. Verg. Aen. 1,118 f. apparent … / Troia gaza per undas.

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und nicht mit einem Flüchtling verbinden würde.239 Möglicherweise spielt Ovid hier auf die alternative Sagenversion an, wonach Aeneas mit den Griechen kollaborierte und diese ihm eine ehrenhafte Abfahrt gewährten.240 Thomas (2009, 300 f.) macht darauf aufmerksam, dass Ovid so die bereits in Vergils Schilderung angelegte Ambiguität noch erhöht, da er den Abzug mit dem Vokabular einer Plünderung präsentiert und beispielsweise die in der Aeneis dargestellte Rückkehr des Aeneas zur Stadt auf der Suche nach seiner Gattin Creusa auslässt (vgl. Verg. Aen. 2,738–744).241 Die folgende Reise der Aeneaden hebt die Suche der Trojaner nach einer neuen Heimat hervor. Während Vergil den Aufenthalt in Thrakien ausführlich darstellt (3,13–68), erwähnt Ovid diese Station nur beiläufig (Ov. met. 13,628– 630),242 gibt dabei aber eindeutige Hinweise auf die Ruchlosigkeit der Thraker, wenn er deren Land aufgrund des Mordes am Trojanerprinzen Polydorus als verbrecherisch bezeichnet (13,628 scelerata … limina Thracum; 13,629 Polydoreo manantem sanguine terram).243 Somit lässt er an dieser Stelle das bei Vergil breit ausgeführte Motiv aus, dass die Trojaner auch auf fremdem Boden mit dem Unheil ihrer Vaterstadt konfrontiert werden.244 Der Raum erhält eine symbolische Funktion, indem die negativen Attribute des Thrakerlandes mit den positiven Adjektiven utilis und secundus kontrastiert werden, mit denen während der Weiterfahrt nach Delos Wind und Meer und damit der Naturraum beschrieben wird (13,630 utilibus ventis aestuque secundo). Diese pointiert zwischen die gegensätzlichen Verben linquit (13,630) und intrat (13,631) gestellten Worte bewirken einen Stimmungsumschwung, der den Kontrast zwischen dem verbrecherischen Land Thrakien und der mit Apollo verbundenen Insel Delos bzw. der dort befindlichen Stadt (Apollonineam … urbem) zeigt.245 239 Vgl. Hopkinson (2000, z. St.). Bernbeck (1967, 122) hält die gesamte Episode für parodistisch. 240 Vgl. Galinsky (1975, 219); Bömer (1982, z. St.); Junod (1991, 52–56); Baldo (1995, 41–43); Andrae (2003, 166 f.); Jahn (2007, 97 f.); Casali (2017, 21–27) mit Diskussion der antiken Quellen (die Mehrzahl der Quellen spricht allerdings nicht von einem Verrat, sondern von einer Übereinkunft zwischen Aeneas und den Griechen). 241 Vgl. Casali (2006, 144–148). 242 Schon die Verse 13,623–627 bezeichnet Galinsky (1975, 220) als »summary«, da Ovid nicht mit Vergil über die Darstellung von Aeneas’ Flucht aus Troja habe konkurrieren wollen. Otis (1966, 286) betont, dass die wenigen Verse 13,623–635 einen Großteil des Materials der ersten drei Aeneis-Bücher umfassen. 243 Vgl. Verg. Aen. 3,28 f. atro liquuntur sanguine guttae / et terram tabo maculant; 3,43 cruor hic de stipite manat; 3,60 scelerata excedere terra; Kap. 5.1 zur Übertragung von litus avarum vom vergilischen Thrakien ins ovidische Troja. 244 Döpp (1991, 334 f.). Casali (2007, 182–188) arbeitet heraus, wie Ovid die bereits bei Vergil erkennbare Vermischung zweier verschiedener Sagenversionen über den Tod des Polydorus imitiert, jedoch das Verhältnis der beiden Mythen zueinander umkehrt. 245 Vgl. Verg. Aen. 3,79 egressi veneramur Apolloninis urbem. Der enge Bezug von Apollo zu Delos stellt eine zusätzliche Verbindung zu Troja her, dessen Schutzgott Apollo ebenfalls ist.

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Aeneas’ Ankunft in Delos (13,632–642) Der folgende Abschnitt gibt die Ereignisse in Delos bis zur Binnenerzählung des Anius wieder. Der König führt seinen Gast durch die Stadt (13,634 urbem … os­ tendit delubraque nota), doch entsprechend seiner Funktion als Apollo-Priester beschränkt er sich dabei im Wesentlichen auf die örtlichen Heiligtümer, d. h. die Tempel für Apollo, Diana und Latona, welche die Zwillinge der Legende nach auf Delos zur Welt gebracht hat. Nach der Durchführung eines Opferrituals begibt man sich zum königlichen Palast (13,638 regia tecta), der somit als weiterer Bestandteil der städtischen Topographie neben den zuvor erwähnten Tempeln genannt und als prunkvoll beschrieben wird (tapetibus altis). Die in der Aeneis in lediglich vier Versen erwähnten grundlegenden Fakten (Verg. Aen. 3,80–83: Anius in seiner Funktion als Priesterkönig,246 seine alte Freundschaft zu Anchises, das Betreten des Palastes) werden von Ovid also auf etwa zehn Verse ausgedehnt.247

Die Verwandlung der Anius-Töchter (13,643–674) Die nun folgende Binnenrede des Anius soll hier nur kurz betrachtet werden; sie stellt die Antwort auf eine Frage des Anchises dar, der sich nach den Kindern des Königs erkundigt, die er bei seinem ersten Besuch an diesem Ort gesehen hat.248 Anchises bezieht sich mit der zeitlichen Einordnung seines früheren Besuchs in einer externen Analepse (13,641 cum primum haec moenia vidi) auf die Mauern der Stadt. Dadurch wird das Schicksal von Anius und seinen Nachkommen bereits einleitend mit demjenigen ihrer Heimat in Verbindung gebracht.249 Wie Anius berichtet, übt sein Sohn Andros an seiner Stelle die Herrschaft auf der gleichnamigen Kykladeninsel aus (13,647–650); der Schwerpunkt seiner Erzählung liegt jedoch auf dem Schicksal seiner Töchter (13,650–674). Im Gegensatz zu der nur kurz erwähnten Geschichte des Polydorus werden die Trojaner hier ausführlich an das Schicksal ihrer Heimatstadt und an den Trojanischen Krieg erinnert:250 Agamemnon, den Anius als ›Zerstörer Trojas‹ 246 Die Doppelfunktion des Anius als Priester und König könnte auf die ähnlich geartete Rolle des Augustus in Rom verweisen; vgl. Papaioannou (2005, 36 f.). 247 Vgl. Ludwig (1965, 65 f.); Galinsky (1975, 220 f.); Ov. met. 13,632–704 ~ Verg. Aen. 3,79–120. 248 Der Kontrast zwischen Einst und Jetzt, erkennbar am Tempusrelief der Erzählung (13,645–647 vidisti natorum quinque parentem, / quem nunc [tanta homines rerum inconstantia versat] / paene vides orbum), verhält sich analog zur Wendung des trojanischen Schicksals; vgl. von Albrecht (1981a, 109). 249 Vgl. Bömer (1982, z. St.). An dieser Stelle wird nicht – wie regelmäßig bei Vergil und auch am Anfang des Textabschnitts bei Ovid (13,626) – Aeneas, sondern Anchises als pius (13,640) bezeichnet. 250 Döpp (1991, 335 f.).

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apostrophiert (13,655 Troiae populator Atrides),251 habe von der wundersamen Gabe seiner Töchter erfahren, alles, was sie berührten, in Getreide, Wein und Olivenöl zu verwandeln. Unter Androhung eines Krieges habe er die Mädchen entführen und die Gabe des Bacchus zur Versorgung des griechischen Heeres ausnutzen wollen. Nochmals verweist Anius explizit auf den Trojanischen Krieg, als er darlegt, Andros und Delos hätte über keinen solch guten Verteidiger wie Troja in Gestalt von Aeneas verfügt (13,665 f. non hic Aeneas, non, qui defenderet Andron, / Hector erat, per quem decimum durastis in annum).252 Anius’ Erzählung, die mit der Schilderung der Verwandlung seiner Töchter in Tauben endet (13,673 f.), thematisiert die Frage der korrekten pietas gegenüber Verwandten und Vaterstadt: Den Griechen wird durch ihr gewaltsames Verhalten (13,662) indirekt ein Mangel an pietas zugeschrieben;253 die gewaltsame Bedrohung macht verständlich, weshalb Andros seine Schwestern dem Feind preisgab (13,663 f.) und ihr Wohlergehen dem seiner Stadt unterordnete. Die Verwandlung der Schwestern nach einem Gebet verhindert schließlich, dass der Feind den erhofften Vorteil nutzen kann; sie liefert ein Modell von pietas, das auf die Geschichte der Coronen vorbereitet, da diese sich in ähnlicher Weise für das Wohl ihrer Stadt Theben geopfert haben.254

Die Ekphrasis des Gastgeschenks (13,675–704) Der dritte Teil der Episode enthält die Haupthandlung von Aeneas’ Aufenthalt auf Delos, nämlich die Konsultation des Apollo-Orakels, um Aufschluss über das Ziel der weiteren Reise zu erlangen (13,675–679; 13,677 adeunt … oracula Phoebi). Das Orakel verweist die Aeneaden auf Latium als ihre ›Urmutter‹ (13,678 f. petere antiquam matrem cognataque iussit / litora),255 die Urheimat des Trojaners Dardanus. Der zweite Handlungsschritt vor der Weiterfahrt besteht im Austausch von Geschenken zwischen Gastgeber und Gästen (13,679–704). Eine zentrale Rolle hierbei nimmt die Ehrengabe für Aeneas ein. Es handelt sich

251 Wie Bömer (1982, z. St.) bemerkt, ist dies die einzige Stelle in der klassischen Dichtung, in der Agamemnon so genannt wird. 252 Vgl. Casali (2007, 202). 253 Glenn (1986, 175). 254 Zum Aspekt der pietas vgl. Fabre-Serris (1995, 115–120). 255 Vgl. Verg. Aen. 3,96 antiquam exquirite matrem. Bach (2020, 92) stellt korrekt fest, dass Ovid Anchises’ Fehler gegenüber dem Referenztext minimalisiert, aber die Aussage von Baldo (1995, 48 f.), Ovids Aeneaden wüssten sofort, was mit der geographischen Allegorie antiqua mater gemeint sei, ohne diese erst deuten zu müssen, ist nicht korrekt, da sie auch in der Version der Metamorphosen zunächst nach Kreta weiterreisen. Zu Anchises’ Fehldeutung des Begriffs antiqua mater vgl. Horsfall (2006, z. St.).

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um einen Krater (13,681; 13,701),256 dem eine ausführliche Ekphrasis gewidmet ist, die im Folgenden gemäß der Analysekategorien von de Jong (2014, 120) narratologisch ausgewertet werden soll (13,685–699): urbs erat, et septem posses ostendere portas.  685 (hae pro nomine erant, et quae foret illa, docebant.) ante urbem exequiae tumulique ignesque rogique effusaeque comas et apertae pectora matres significant luctum; nymphae quoque flere videntur siccatosque queri fontes; sine frondibus arbor  690 nuda riget, rodunt arentia saxa capellae. ecce facit mediis natas Orione Thebis, hanc non femineum iugulo dare vulnus aperto, illam demisso per fortia pectora telo pro populo cecidisse suo pulchrisque per urbem  695 funeribus ferri celebrique in parte cremari. tum de virginea geminos exire favilla, ne genus intereat, iuvenes, quos fama Coronas nominat, et cineri materno ducere pompam.

Dort war eine Stadt, und sieben Tore hätte man zeigen können; sie ersetzten den Namen und verrieten, um welche Stadt es sich handelte. Vor der Stadt ist ein Leichenzug, Grabhügel, Feuer, Scheiterhaufen, und Frauen mit aufgelöstem Haar und offener Brust bezeichnen so ihre Trauer. Man sieht auch Nymphen weinen und um ihre ausgetrockneten Quellen klagen. Ohne Laub steht ein kahler Baum mit starrenden Ästen da, und Ziegen nagen an ausgedörrten Steinen. Sieh, mitten in Theben stellt er Orions Töchter dar, hier, wie die eine ihrer offenen Kehle eine keineswegs weibische Wunde zufügt, dort, wie die andere sich tapfer die Waffe in die Brust stößt: So sind beide für ihr Volk gefallen. In einem prächtigen Leichenzug werden sie durch die Stadt getragen und an einer belebten Stätte verbrannt. Dann sieht man aus der Asche der Jungfrauen zwei Jünglinge ans Licht treten, damit das Geschlecht nicht untergehe, die man der Sage nach Coronen nennt, und sie schreiten dem Trauerzug für die Asche ihrer Mütter voran.

Der Bildinhalt, die Verwandlung der Orion-Töchter in die sogenannten Coronen in Theben, wird einleitend durch den auktorialen Erzähler als ›lange Geschichte‹ bezeichnet (13,684 longo … argumento).257 Hinzu kommen Hintergrundinformationen zum Ursprung des Kruges: Einst hat Anius ihn von dem Thebaner Therses erhalten;258 nicht nur der Akt der Übergabe an Anius, son 256 Vgl. Norton (2013, 160–163) zu potentiellen Gründen für Ovids Wahl eines Mischkessels (anstatt eines Schildes wie bei Homer und Vergil) als Inhalt der einzigen Ekphrasis innerhalb seines Troja-Zyklus. 257 Vgl. ThLL, »argumentum« II B zu diesem Begriff in Bezug auf bildliche Darstellungen; 6,69 (Athen-Ekphrasis) vetus in tela deducitur argumentum; Kap. 4.3; 8,745 (Gedenktafeln an der von Erysichthon gefällten Eiche) voti argumenta potentum; Verg. Aen. 7,791 (Schild des Turnus) argumentum ingens; Papaioannou (2005, 29–32) zur symbolischen Bedeutung von Weben (Orion-Töchter) als Erzählen (wie die Minyas-Töchter in Buch 4); Kap. 3.3. 258 Therses ist nicht weiter als mythologische Figur bekannt; vgl. Hardie (2015, z. St.).

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dern auch die böotische Herkunft des Therses werden jeweils durch zweifache Nennung hervorgehoben (13,681 miserat = 13,683 – 13,682 hospes ab Aoniis Therses Ismenius oris); mit dem Künstler Alcon wird auch der Urheber des Objekts genannt.259 Der Beginn der Ekphrasis selbst ist durch eine Formel des Typs locus est (urbs erat) erkennbar. Unmittelbar danach wird der Leser direkt vom Erzähler angesprochen (septem posses ostendere portas).260 Das Numerale septem  lässt dabei für einen Moment offen, um welche Stadt es sich handelt – möglich wäre die Nennung der sieben Hügel (colles) Roms, doch das Wort portas am Vers­ende offenbart, dass es sich um Theben handelt.261 Die Antonomasie der Stadt in visuellen Termini erlaubt einen Verzicht auf die tatsächliche Nennung ihres Namens (hae pro nomine erant et quae foret illa docebant) – seit Homer ist ›siebentorig‹ das topische Attribut für Theben, mit dessen Hilfe sich die Stadt eindeutig identifizieren lässt.262 In der Bildbeschreibung lassen sich recht klar mehrere getrennte einzelne Szenen mit erkennbaren Übergängen ausmachen:263 Nach der Nennung der thebanischen Stadttore (septem … portas) beschreibt Ovid Trauer, Klagen und Beerdigungen infolge der Pest in der Stadt (exequiae tumulique ignesque rogique),264 bevor er den aufopferungsvollen Selbstmord von Orions Töchtern und ihre abschließende Verwandlung in die Coronen darstellt.

259 Vgl. Norton (2013, 164); Hardie (2015, z. St.) zu Alcon in der antiken Literatur und zum umstrittenen Adjektiv Hyleus (13,684); vgl. dazu auch den textkritischen Apparat bei Tarrant, der Lindius druckt. 260 Vgl. Solodow (1988, 208–210) zu derartigen Anreden in der zweiten Person Singular (Konjunktiv). 261 Hardie (2015, z. St.). Vgl. Ahl (2018, 43) zu dem ähnlichen Phänomen im Proömium der Aeneis, wo durch den Hinweis auf phönizische Siedler kurz offenbleibt, ob möglicherweise von Theben die Rede ist, bis der Text klarstellt, dass es sich bei der erwähnten Stadt um Karthago handelt (Verg. Aen. 1,12 f. Urbs antiqua fuit [Tyrii tenuere coloni] / Karthago). 262 Vgl. Einleitung zu Kap. 3; Behm (2019a, 264). Die sieben Tore fungieren als immigrant object aus der Realwelt par excellence, vgl. Kap. 1.3.5; Kirstein (2015b, 260). – Ein bisher kaum beachteter Referenztext für Ovids Theben-Ekphrasis könnte die pseudo-hesiodeische Aspis sein, wo eine nicht namentlich genannte Stadt mit sieben Toren auf dem Schild des Hercules beschrieben wird, bei der es sich ebenso wie hier nur um Theben handeln kann (Hes. scut. 270–272 παρὰ δ᾽εὔπυργος πόλις ἀνδρῶν, / χρύσειαι δέ μιν εἶχον ὑπερθυρίοις ἀραρυῖαι / ἑπτὰ πύλαι, »Daneben war eine Stadt von Menschen mit stattlichen Türmen; sieben goldene Tore, eingepasst in die Segmentbögen, beschützten sie«); die fröhliche Atmosphäre jener Stadt in der Aspis kontrastiert mit dem im Grundsatz düsteren Thema der ovidischen Ekphrasis. Vgl. Berman (2015, 32 f.). 263 Hopkinson (2000, 32–34). Hardie (2015, z. St.) betont die Erhöhung der Anschaulichkeit durch ecce (13,692). 264 Papaioannou (2005, 34) betont, wie sich die Hilflosigkeit in der Darstellung der Landschaft manifestiert.

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Die Schlusspassage dieses Erzählabschnitts (13,700–704) schildert keine unmittelbare Reaktion des Empfängers Aeneas auf den Bildinhalt,265 sondern erwähnt nur das reziproke Überreichen von Gastgeschenken an Anius (13,702–704), nachdem in zwei Versen noch einmal die Güte des Materials des Mischkessels, sein Glanz und seine goldene Umrandung dargestellt worden sind (13,700 f.).

5.7.2 Fazit Im Eingangsabschnitt dieser Episode wird Troja einmal mehr nur über seine Mauern als Schauplatz greifbar. Der Text stellt jedoch klar, dass die Identität des trojanischen Volkes nicht allein in der physischen Existenz seiner Heimat besteht (13,623 f. non tamen eversam Troiae cum moenibus esse / spem quoque fata sinunt).266 Die verschiedenen Stationen auf dem Weg der Aeneaden nach Delos werden fast nur dem Namen nach genannt und nicht detailliert dargestellt: Von Antandrus in der Troas aus verläuft die Flucht über das Meer und über Thrakien nach Delos.267 Dieser Ort aber gehört zu den wenigen in den Metamorphosen, die tatsächlich explizit von einem Protagonisten im Sinne des Anschauungsraums betrachtet werden: Aeneas sieht die Stadt beim Rundgang mit den Augen eines Touristen.268 Die Stadt selbst wird durch die Erwähnung von Tempeln sowie des Königspalastes (13,633–635; 13,638) skizzenhaft beschrieben, jedoch nicht hinsichtlich ihrer topographischen Lage oder weiterer urbaner Details fassbar. Etwas anders verhält es sich mit Theben, das in einer längeren Ekphrasis dargestellt wird. Durch die Nennung von Lokalitäten vor der Stadt (13,687 ante urbem),269 in der Stadt (13,692 mediis … Thebis) und wiederum außerhalb der Stadt (13,695 per urbem)270 gewinnt der Leser eine etwas präzisere Vorstellung von deren Größe und Aufteilung. Interessant erscheint insbesondere, wie Ovid hier Bild- und Erzählebene miteinander verbindet: Die 265 Vgl. Norton (2013, 163 f.) zur Vagheit des Texts bezüglich des Betrachters des Kraters. 266 Vgl. Hui (2011, 148) zu einem allgemeinen Merkmal von Stadtbeschreibungen: »Their meaning resides not so much in the sites themselves but their stories contained therein.« 267 Vgl. die Ausrüstung der trojanischen Flotte in Antandrus bei Vergil (Verg. Aen. 3,5–6). Ovids Vokabular (Ov. met. 13,627 profuga) erinnert programmatisch an das Kernthema der Aeneis (Verg. Aen. 1,2 Italiam fato profugus). 268 Wie von Albrecht (1981a, 108) meint, evoziert die Nähe von Tempel und Haus des Königs (13,633 temploque domoque) die Topographie des augusteischen Rom mit dem Haus des Kaisers auf dem Palatin. Vgl. Casali (2007, 192). 269 Die vor der Stadt gelegenen Gräber sorgen für eine zusätzliche Parallele zwischen Theben und dem untergehenden Troja; vgl. Baldo (1995, 70–72). 270 Bömer (1982, z. St.) übersetzt per urbem mit »vor die Tore«. Allerdings gibt Ovid den Ort der Leichenverbrennung nicht genau an (celebri … in parte cremari), sodass unklar bleibt, ob dieser sich tatsächlich außerhalb der Stadt befindet.

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Worte über das thebanische ›Stadtzentrum‹ stehen genau in der Mitte der 15 Verse langen Ekphrasis in Vers 13,692.271 Alle weiteren genannten physischen Objekte stellen keine dauerhaften Elemente thebanischer Topographie dar, sondern stehen in zeitlichem und kausalem Zusammenhang zu der gerade in der Stadt grassierenden Pest. Der Aktionsraum in dieser Episode ist zunächst von Gegensätzen geprägt. Aeneas wird als aktive Figur charakterisiert, indem er seinen Vater auf den Schultern aus dem brennenden Troja trägt, und zugleich als passiv, also vom Schicksal abhängig, weil er darauf angewiesen ist, dass das Schiff der Flüchtenden ihn sicher über die Meere trägt (13,624 f. patrem / fert umeris ~ 13,627 f. profugaque per aequora classe / fertur). Aeneas wird als entschlossene Persönlichkeit dargestellt, die negativ konnotierte Orte wie Thrakien hinter sich lässt und stattdessen Delos und somit einen Ort anvisiert, der ihm Auskunft und letztlich auch Erfolg verheißt. Auch die weiteren Bewegungsverben zeigen, wie Aeneas bei seinem Aufenthalt zielstrebig von einer Station zur nächsten gelangt, um dem Ende seiner Flucht näherzukommen (13,638 regia tecta petunt; 13,677 adeunt … oracula Phoebi; 13,678 petere antiquam matrem). Das Orakel selbst wie auch das auf dem Mischkessel dargestellte Geschehen haben sowohl eine pro- als auch eine analeptische Funktion, beide verweisen also zugleich in die Vergangenheit und in die Zukunft: Der Orakelspruch bezieht sich auf das Ziel der Reise der Aeneaden, meint damit aber deren Urheimat; der Bildinhalt erzählt von einem vergangenen Geschehen, präfiguriert aber zugleich die Pest auf Kreta, der die Trojaner unmittelbar nach dieser Episode ausgesetzt sein werden (13,705–708).272 Die Ekphrasis ersetzt damit möglicherweise die ausführliche Deutung des Orakels durch Anchises bei Vergil (Verg. Aen. 3,103–117). Dadurch vermitteln die unterschiedlichen Erzählmodi (erläuternde intradiegetische Erzählung bei Vergil, Ekphrasis bei Ovid) den Figuren verschiedene Niveaus von Zuverlässigkeit und Einsichtigkeit des in unterschiedlichen Medien dargestellten Inhalts. Auch wenn die Stadt Apollos innerhalb der Rahmenhandlung nicht in direkter Verbindung zu Troja steht, erweist sich die über sie erzählte Geschichte als wichtig, um die Handlung im Sinne der spiegelnden Funktion des Raumes zu deuten, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des gestimmten Raumes. Während Troja für die Aeneaden mit Zerstörung und Untergang konnotiert ist und Thrakien mit Verbrechen und Frevellosigkeit, ist die auf dem Krater dargestellte Episode aus der thebanischen Geschichte zwar ebenso mit Unheil und 271 Hardie (2015, z. St.). Papaioannou (2005, 21 Fn. 3) weist zudem darauf hin, dass dieser Vers nicht nur in der Mitte des Abschnitts steht, sondern zugleich auch dessen Zusammenfassung darstellt. 272 Zu der ovidischen, aber schon bei Vergil angelegten Instrumentalisierung des Doppelsinns von ›Jupiter‹ als Gott bzw. zur Beschreibung des ungünstigen Klimas auf Kreta vgl. Casali (2007, 192–197).

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Trauer verbunden wie die zuvor erzählte Geschichte der Anius-Töchter, doch beide liefern ein Modell für das richtige Verhalten gegenüber einer Heimatstadt. Wie die Töchter des Anius nicht dem Feind helfen wollten, so opferten sich die Kinder des Orion für ihr Volk, um die Pest, eine andere Art der Bedrohung, abzuwenden.273 Die dargestellte Situation erinnert nicht allein an die Seuche auf Kreta, sondern illustriert auch das Überleben Trojas aufgrund der von Aeneas gezeigten pietas erga patriam. Troja wird wie die Coronen aus seiner eigenen Asche wieder auferstehen.274 Die moralische Essenz der Erzählung liegt in der Selbstopferung einiger Bürger für die Rettung der eigenen Stadt.275 Dennoch ist anzumerken, dass Theben trotz des vorbildlichen Verhaltens seiner Einwohner schließlich niedergehen wird, wie wir später aus der Pythagoras-Rede erfahren (Ov. met. 15,429; vgl. Kap. 6.5).276 Neben dem konkreten Bildinhalt kann indes auch der verschenkte Gegenstand selbst als Bedeutungsträger angesehen werden, stellt der Krater doch ein Symbol für Fruchtbarkeit und Gedeihen dar, das als Voraussage eines positiven Schicksals für die Aeneaden deutbar ist. Auf einer noch allgemeineren Ebene thematisiert der Austausch von Geschenken selbst im Sinne der charakterisierenden Funktion des Raumes das Motiv der Gastfreundschaft. Daneben symbolisiert die gastliche Aufnahme der Trojaner durch den Apollo-Priester Anius auch den engen Bezug zwischen der künftigen Stadt Rom und diesem Gott.277

5.8  Aeneas besucht das falsche Troja (13,720–723) In Vergils Aeneis erhält der Besuch der Aeneaden in Buthrotum die ausführlichste Darstellung aller Reisestationen (Verg. Aen. 3,294–505). Der Dichter schildert, wie Aeneas das nachgebildete Troja an der Küste von Epirus besucht, dort einigen Landsleuten begegnet und durch den Seher Helenus neue Informationen über das Ziel seiner Flucht erhält. Ovid hingegen widmet den in Buthrotum lokalisierten Ereignissen keine eigene Episode, sondern resümiert sie nur kurz im Rahmen von Aeneas’ Überfahrt von Delos nach Sizilien (Ov. met.

273 Vgl. Döpp (1991, 336 f.). 274 Vgl. Galinsky (1976, 6); Glenn (1986, 175 f.); Papaioannou (2005, 24–28; 32). Norton (2013, 162) interpretiert das Geschehen in Theben, wie es in Ovids Ekphrasis dargestellt wird, als »worst case scenario« für die Zukunft Roms, analog zu den Geschehnissen im Theben der Tragödie als ebensolches Szenario für Athen im Sinne der Hauptthese von Zeitlin (1986). 275 Vgl. Galinsky (1975, 221); Döpp (1991, 336); Myers (1994, 100). 276 Harrison (2019, 790) meint, der Bildinhalt spiele auch auf den von Ovid nicht behandelten Mythos der ›Sieben gegen Theben‹ an. 277 Glenn (1986, 175 f.).

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13,705–729). Die folgende kurze Analyse zeichnet Ovids intertextuelle ›Komprimierungstechnik‹ nach.278

5.8.1 Analyse Zunächst seien die zentralen Verse der Buthrotum-Passage wiedergegeben (13,720–723): Epiros ab his regnataque vati  Buthrotos Phrygio simulataque Troia tenetur. inde futurorum certi, quae cuncta fideli Priamides Helenus monitu praedixerat, ...

Sie bewohnen Epirus und Buthrotum, das vom trojanischen Seher regiert wird, das nachgestaltete Troja; als sie dort Gewissheit über ihre Zukunft erlangt haben, die ihnen der Priamus-Sohn Helenus in treulicher Ermahnung vollständig vorhergesagt hatte, ...

Buthrotum wird in größtmöglicher Kürze präsentiert, indem Ovid die Bezeichnung der Gegend und den Ortsnamen angibt. Als einzige dort ansässige Person nennt er den Seher Helenus und verweist durch die Angabe vati … / … Phrygio auf Troja als Hintergrundraum, der die gemeinsame Heimat von Helenus und Aeneas darstellt. Ovid fasst die detaillierte topographische Schilderung des vergilischen Buthrotum prägnant zusammen,279 indem er die Stadt als simulata … Troia bezeichnet. Ein ähnlicher Effekt lässt sich hinsichtlich der HelenusProphetie als dem wesentlichen Ereignis beobachten, das den Aufenthalt der Trojaner in der Aeneis zu einer bedeutsamen Etappe werden lässt: Während der Seher ihnen dort mehrere Einzelheiten über die Zukunft bekanntgibt, bündelt der ovidische Erzähler diese Angaben durch die Angabe futurorum … cuncta (Ov. met. 13,722).

5.8.2 Fazit Ovid evoziert in dieser Passage einen Gegensatz zwischen der tatsächlichen Heimat der Aeneaden und deren bloßer Nachbildung an einem anderen Ort. So nutzt er wie Vergil die symbolische Funktion des Raumes. Allerdings lässt Ovid sämtliche in der Aeneis-Passage vorhandenen topographischen Merkmale fort, die Aeneas die Identifizierung der Stadt ermöglichen und die Buthrotum 278 Vgl. Behm (2019a, 272–277). 279 Vgl. Verg. Aen. 3,349–351 parvam Troiam simulataque magnis / Pergama et arentem Xanthi cognomine rivum / agnosco, Scaeaeque amplector limina portae; Hardie (2002a, 87 f.) zu Hectors Kenotaph und zu Buthrotum als »fake Troy«, das der Unterwelt ähnelt.

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zu einem Spiegelbild des ursprünglichen Troja werden lassen, namentlich den Königspalast, die Stadtmauern mit dem Skäischem Tor, den Apollo-Tempel sowie die Flüsse Simois und Xanthus. Durch diese Kürzung wird das ovidische Buthrotum nicht als Anschauungsraum erfahrbar und die Leser werden nur implizit auf die dystopische Darstellung der Stadt in der Aeneis verwiesen.280 Desgleichen verzichtet Ovid auf eine Beschreibung der bei Vergil geschilderten Bewegungen der Figuren, namentlich auf das Aufeinandertreffen von Aeneas mit Andromache am Kenotaph Hectors an der Küste sowie auf den Empfang durch Helenus in der Stadt selbst. Damit bleibt Ovids Buthrotum auch im Sinne des Aktionsraums unterdeterminiert. Einen geradezu paradoxalen Lektüreeffekt übt die Stadt als gestimmter Raum aus: Während die Einzelheiten aus der Rede des vergilischen Helenus kein gesichertes Gesamtbild der Zukunft ergeben,281 erhalten Ovids Trojaner nicht nur vage Hinweise, sondern exakte Informationen und damit scheinbar Gewissheit über ihre Zukunft. Damit gewinnt die psychologische Funktion des Raumes bei Ovid eine andere Bedeutung als bei Vergil. Der Text verschweigt jedoch den eigentlichen Inhalt der Prophezeiung, die bei Vergil darin kulminiert, dass Helenus Aeneas mit der Gründung eines neuen, großen und bedeutenden Troja beauftragt und sogar die einstige friedliche Vereinigung der Trojaner mit ihren griechischen Kriegsgegnern in Aussicht stellt (Verg. Aen. 3,462 vade age et ingentem factis fer ad aethera Troiam; 3,504 f. unam faciemus utramque / Troiam animis: maneat nostros ea cura nepotes).282 Mit dem Verzicht darauf, die Bedeutung von Buthrotum als Zwischenstation auf dem Weg der Aeneaden vom untergegangenen Troja zum neuen Troja in Rom zu markieren, entkernt Ovid die vergilische Episode weitgehend ihres ideologischen Gehalts.283

5.9  Schlussfolgerungen: Troja als literarische Landschaft Wie wir in den vorangegangenen Kapiteln beobachten konnten, werden die auf Troja bezogenen Mythen der Metamorphosen größtenteils in der ersten Hälfte der letzten Buchpentade erzählt. Die Bezeichnung ›trojanischer Sagenzyklus‹ erscheint dabei unproblematischer als der zumeist für den Abschnitt 12,1–13,622

280 Vgl. Bettini (1997, 27); Horsfall (2006, zu Verg. Aen. 3,393–395); Nelis (2015, 37). 281 Verg. Aen. 3,377–380 pauca tibi e multis, … / … / expediam dictis; prohibent nam cetera Parcae / scire Helenum. 282 Heyworth/Morwood (2017, zu 3,500–505) interpretieren die Gründung von Nikopolis durch Augustus als Erfüllung der durch cognatas urbes (3,502) ausgedrückten Prophezeiung. 283 In der Pythagoras-Rede im letzten Buch verlegt Ovid die Worte des Helenus von Buthrotum nach Troja, von der nachgebildeten in die gerade untergehende Stadt (15,439–449; vgl. Kap. 6.5).

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verwendete Titel ›Kleine Ilias‹ (vgl. Einleitung zu Kap. 5).284 Da die Gründung Trojas kurz nach dem Beginn von Buch 11 geschildert wird und die trojanischen zusammen mit den römisch-italischen Sagen bis zum Ende von Buch 15 reichen, findet die These von Albrechts (2003, 131 f.) zur pentadischen Gliederung der Metamorphosen für die dritte Pentade ihre stärkste Bestätigung. Nichtsdestotrotz hat aber auch die These einer ›symphonischen‹ Struktur von Schmidt (1991) ihre Berechtigung im Hinblick auf diesen Sagenkreis, denn das Thema ›Troja‹ wird bereits in der mittleren Buchpentade an einigen Stellen vorbereitet.285 Besonders auffällig unter jenen ersten Anklängen an Troja erscheint bereits die allererste Erwähnung der Stadt in der Ekphrasis von Minervas Gewebe, auf dem die Gründung Athens dargestellt ist (6,1–145; vgl. Kap. 4.3): Ausgerechnet im Rahmen der ›offiziellen‹ Einführung Athens, also der zweiten ›Hauptstadt‹ des Werkes, verweist Ovid zum ersten Mal auf die Stadt, mit der das letzte Werkdrittel beginnt. Sämtliche Passagen lassen die spätere Bedeutung Trojas erahnen und unterstützen dessen Rolle als dritte und insbesondere im Vergleich zu Rom zumindest in quantitativer Hinsicht wichtigste ›Hauptstadt‹ der Metamorphosen (vgl. Kap. 6.10).

5.9.1  Troja als Schauplatz Aufgrund des nahezu vollständigen überlieferungsbedingten Verlustes des Epischen Kyklos lässt sich Ovids Troja im Wesentlichen mit der homerischen Ilias und Vergils Aeneis als bestimmenden epischen Referenztexten vergleichen, die denselben Handlungsort aufweisen (wenngleich im Fall der Aeneis nur in einem begrenzten Teil des Werkes). Die grundsätzliche Übernahme der durch Homer vorgegebenen Topographie der Troas mit den drei Teilbereichen von griechischem Heerlager, trojanischer Ebene und Stadt bzw. Stadtmauern überrascht naturgemäß wenig. Besonders die Episoden über Laomedon, den Streit um die Waffen Achills sowie über Hecuba sind von diesen drei Handlungsorten geprägt. Gegenüber den homerischen Werken fügt Ovid jedoch im Einklang mit den Möglichkeiten der epischen Gattung (vgl. Kap. 3.6) einige weitere Schau 284 Der durch diese Verse definierte Werkteil ließe sich wegen der dominanten Rolle des griechischen Helden Achill alternativ auch als ovidische ›Achilleis‹ bezeichnen. Achill ist nicht nur bis zum Ende von Buch 12, sondern auch nach seinem dort geschilderten Tod allgegenwärtig, so vor allem im Zuge des Streits um seine Waffen, aber auch in den anschließenden Erzählungen über Hecuba, wo Achill als Schatten auftritt, sowie über Memnon, dessen Tötung durch Achill als Analepse eingefügt wird. 285 Vgl. 6,95 f. (Athena bildet auf ihrem Gewebe die Trojanerin Antigone ab); 8,365–368 (Nestor rettet sich vor dem calydonischen Eber und wäre sonst vor dem Trojanischen Krieg umgekommen); 9,232 (Hinweis auf die Pfeile des sterbenden Hercules als Voraussetzung für die Eroberung Trojas in den Händen ihres neuen Besitzers Philoctet); 10,159 f. (Entführung Ganymeds, der als ›Knabe von Troja‹ bezeichnet wird).

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plätze wie beispielsweise die Wälder um Troja in der Aesacus-Erzählung hinzu. Nicht nur hier, sondern auch in einigen weiteren Episoden zeigt sich wiederum eine gewisse zentrifugale Tendenz, wie wir sie bereits bei der Beschreibung von Theben und Athen beobachten konnten: Oftmals spielt sich das Geschehen nicht in der Stadt selbst, sondern in deren Umgebung ab (so z. B. bei Achills Tod und beim Waffenstreit), und die Handlung entfernt sich explizit von der Stadt (so bei Aeneas’ bzw. Hecubas Abschied von Troja).286 Im Vergleich zur Darstellung bei Vergil vermittelt der ovidische Text einen wesentlich weniger umfangreichen Einblick in die urbane Topographie Trojas. Während die Heimatstadt des Aeneas innerhalb der in Karthago situierten ­Binnenerzählung des Helden im zweiten Buch der Aeneis zum evozierten Schauplatz wird und das Geschehen innerhalb der von den Eroberern durchbrochenen Stadtmauern geschildert wird, fehlt ein solcher Blick hinter die Mauern bei Ovid weitgehend. Nur in der Episode vom Streit um Achills Waffen berichtet Odysseus von seinen Erlebnissen in der Stadt, die er einmal als griechischer Gesandter und einmal als Räuber des Palladiums betreten hat. Diese Perspektive ergänzt somit die durch den vergilischen Aeneas repräsentierte trojanische Sichtweise auf die Stadt. Eine Gemeinsamkeit beider Texte besteht darin, dass es sich jeweils um eine Rückblende auf vorherige Ereignisse handelt – das Innere Trojas wird nur in der erzählten Vergangenheit räumlich vorstellbar. Betrachten wir nun die Darstellung Trojas im Sinne des Raummodells von Haupt (2004). In den untersuchten Episoden wird Troja auf zweierlei Weise geographisch verortet: zum einen ›positiv‹ durch die Nennung von Elementen der Umgebung wie dem Ida-Gebirge und den Vorgebirgen Rhoeteum und Sigeum, zum anderen ex negativo, etwa durch die Kontrastierung mit dem der Troas gegenüberliegenden Thrakien. Ein wesentlicher Bestandteil des Anschauungsraums der trojanischen Landschaft ist das Meer vor Troja; nicht nur sein göttlicher Erbauer Neptun stammt von dort, sondern auch verschiedenste Gefahren für die Stadt. Daneben werden als weitere Elemente die Wälder und das Gebirge in der Umgebung genannt, insbesondere in der Erzählung vom trojanischen Prinzen Aesacus. Die Stadt selbst wird weitgehend unanschaulich dargestellt: Troja scheint nur aus seinen Mauern zu bestehen, deren Erbauung mithilfe der Götter in der Laomedon-Episode beschrieben und deren Funktion für den ­Bestand der Stadt an zahlreichen weiteren Stellen thematisiert wird. In der Geschichte von Aeneas’ Auszug aus Troja wird jedoch klargestellt, dass Troja mehr ist als seine Mauern, dass also nicht allein die Verteidigungsanlagen die Identität der Stadt ausmachen. Dies deutet sich auch schon in der zuvor erzählten Hecuba-Geschichte an: Nur hier werden auch zivile und insbesondere

286 Dieselbe Bewegungsrichtung lässt sich auch in der Ceyx-Episode feststellen, in der sich der Protagonist über das Meer von seiner Heimatstadt Trachis entfernt; vgl. Kap. 5.2.

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religiöse Gebäude innerhalb der trojanischen Stadtmauern genannt, sodass der Text zumindest ansatzweise einen Blick auf die Stadt als solche ermöglicht. Von diesen Beobachtungen ausgehend, lässt sich das Fazit bezüglich des Schauplatzes in der Aesacus-Geschichte auf Ovids trojanischen Zyklus insgesamt übertragen: Die Stadt Troja wird kaum visuell beschrieben, sondern eher von Episode zu Episode aus einer Außenperspektive erzählerisch umkreist. Bei der Gründung durch Laomedon steht die Errichtung der Mauern und deren Bedrohung vom Meer her im Mittelpunkt; der Tod Achills erfolgt in der freien Fläche zwischen der Stadt und dem Meer, wo sich auch die Kämpfe des Trojanischen Krieges ereignet haben und wo sich das anschließende Rededuell um die Waffen des getöteten Helden abspielt; die Königin Hecuba und weitere Überlebende des Krieges werden aus der Stadt zu den am Strand liegenden Schiffen der griechischen Sieger verschleppt; Aeneas schließlich kämpft gleichfalls nicht innerhalb der Stadt für das Überleben Trojas, sondern wird ausschließlich dabei beschrieben, wie er die untergehende Stadt als Flüchtling über das Meer in Richtung Westen verlässt. Betrachtet man die Darstellung Trojas unter dem Gesichtspunkt des Aktionsraums, so ergibt sich ein Befund, der mit der Analyse des zuvor behandelten Raumaspekts in Einklang steht: Ebenso wie die Stadt in den untersuchten Episoden kaum als visuell beschriebener Schauplatz fassbar wird, sind auch die Handlungen der Figuren in den seltensten Fällen in Troja selbst verortet. Eine Ausnahme hiervon stellt, wie erwähnt, nur die Waffenstreit-Episode dar, aber da der Blick in die Stadt hinein im Rahmen einer aktorialen Analepse erfolgt, wird Troja auch hier nicht zum Schauplatz der Haupterzählung. Vielmehr lohnt es sich daher, die verschiedenen Richtungen zu betrachten, entlang derer sich das Geschehen abspielt. Nachdem die gerade gegründete Stadt in der LaomedonErzählung durch die strafende Flut zerstört worden ist (welche auf die spätere zweite Zerstörung im Trojanischen Krieg vorausweist, die durch die über dasselbe Meer kommenden Griechen bewirkt werden wird), lässt sich in einigen der folgenden Episoden eine gegensätzliche Richtung der Handlung beobachten: In den Geschichten von Aesacus sowie Hecuba und den Trojanerinnen sowie von Aeneas orientiert sich das Geschehen jeweils vom Ausgangspunkt Troja weg. Der Prinz Aesacus wählt einen Lebensstil, der demjenigen der späteren Helden des Trojanischen Krieges entgegengesetzt ist, und flieht gleichsam aus der Stadt. Damit nimmt er symbolisch die spätere Flucht der überlebenden Trojaner vorweg. Eine weitere Grundkonstante der Troja-Episoden zeigt sich in der Dominanz von passiven gegenüber aktiven Handlungen der Trojaner. Nach dem Bau der Mauern mit Unterstützung der Götter Neptun und Apollo werden die Stadt und ihre Einwohner in den übrigen Episoden vorwiegend in der Opferrolle dargestellt: Zunächst wird ihre Stadt ein erstes Mal durch Hercules erobert, dann durch die Griechen in Brand gesteckt und die Trojaner werden entweder von

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diesen oder aber zumindest durch das fatum von ihrer Heimatstadt weggeführt. Weitere Handlungen, die einen dementsprechend negativen Charakter haben, sind beispielsweise der Sturz des Astyanax von den Mauern, deren letztlich nur kurz erwähnte Zerstörung den Untergang der Stadt bedeutet. Lediglich die Fluchtbewegungen der Prinzen Aesacus und Aeneas stellen aktive und somit zumindest teilweise positiv deutbare Handlungen von trojanischen Figuren dar: Dass diese Figuren sich aus Troja entfernen, erfolgt jeweils aus eigenem Antrieb, doch die Flucht des Aesacus endet schließlich in einer unglücklichen Liebe, auf die (als Errettung aus einem Selbstmordversuch) die Verwandlung in ein Tier folgt; die Flucht des Aeneas wird weitere gefahrvolle Ereignisse auf dem Weg nach Italien mit sich bringen. Auf der Ebene des gestimmten Raumes lässt sich eine Verbindung der verschiedenen Schauplätze und evozierten Hintergrundräume mit einer jeweils spezifischen Atmosphäre beobachten. Troja selbst, oft durch seine Mauern als pars pro toto repräsentiert, wird bereits bei der ersten Darstellung der Stadt in der Laomedon-Episode über die Figur seines betrügerischen Königs mit Meineid und Vertragsbruch in Verbindung gebracht (diese Sichtweise wird später aus der Perspektive des Odysseus erneuert). Diese negativen Charaktereigenschaften werden erzählerisch vom Herrscher auf seine Untertanen übertragen. Sie stellen die Ursünde desjenigen Volkes dar, aus dem später die römische Nation hervorgehen wird. Der Untergang Trojas, der im römischen Denken eine Vorstufe und damit auch Vorbedingung für die Entstehung von Rom darstellt, zieht sich in direkten und versteckten Vorverweisen durch alle hier betrachteten Episoden. Schon in der Laomedon-Erzählung etabliert Ovid Troja als Prototyp einer eroberten Stadt, bevor er ihre Eroberung im Zuge des Trojanischen Krieges schließlich im Rahmen der Hecuba-Episode kurz erwähnt, wobei er ebenso die apokalyptische Atmosphäre in der Stadt wie einige der traurigen Begebenheiten rund um ihren Untergang schildert. Das Meer vor Troja ist ein wichtiger Nebenschauplatz bzw. Hintergrundraum für die hier betrachteten Episoden. Es ist mit Gefahren aller Art konnotiert: Aus diesem Bereich stammen auch das Seemonster, das in der Laomedon-Episode die Prinzessin Hesione bedroht, sowie natürlich die griechischen Angreifer. Desgleichen ist das Meer der Ort von Aesacus’ Suizidversuch. Es markiert die Richtung, in die sich auch andere Figuren bewegen, die Troja aus verschiedenen Gründen verlassen, wie beispielsweise Hecuba. Als Hintergrundräume zu Troja fungieren auch weitere Lokalitäten. Nachdem Thrakien bereits in der Erzählung der Stadtgründung in Form einer Anspielung auf das Schicksal des trojanischen Prinzen Polydorus als negativ konnotierter Ort eingeführt worden ist, bewahrheitet sich dies gleichermaßen in der Hecuba-Episode, in der die Verwandlung der trojanischen Königin in jenem Land referiert wird. Ein ebenso wichtiger Nebenschauplatz wie die Umgebung Trojas ist Delos, eine Station auf der Reise des Aeneas. Dort erfährt der trojanische Held Gastfreundschaft, die dadurch

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als Tugend der Trojaner bzw. der zukünftigen Römer evoziert wird. In dieser Episode, die von Aeneas’ Flucht aus Troja berichtet, spielt auch die Stadt Theben, die in einer Ekphrasis beschrieben wird, eine bedeutsame Rolle als Hintergrundraum; durch den Vorbildcharakter eines Selbstopfers wird den Trojanern buchstäblich ein exemplum dafür vor Augen gestellt, welche pietas demjenigen abverlangt wird, der seine Stadt vor dem Untergang bewahren muss. Ein letzter, aber fundamental wichtiger Hintergrundraum ist schließlich Italien, das in der Aesacus-Episode in der Gestalt der Hesperie mythologisch verspielt angedeutet wird. Die Nymphe wird von dem trojanischen Prinzen verfolgt, doch er kann sie nicht erreichen. Diese Geschehnisse präfigurieren in verschlüsselter Form die Schwierigkeiten, denen sich Aeneas nach seiner Flucht aus Troja ausgesetzt sehen wird. In beiden Episoden (Theben-Ekphrasis und Verfolgung Hesperiens) zeigt sich somit die Bedeutung der spiegelnden Funktion des Raumes für die Gesamterzählung.

5.9.2  Troja als Etappe auf dem Weg nach Rom Die lateinische Literatur im Allgemeinen und Vergils Aeneis, das römische Nationalepos, im Besonderen haben Troja als bedeutsame kulturhistorische Station im Verlauf der Weltgeschichte für jegliche weitere Bearbeitung des Mythos vorgegeben. Ovid nimmt diesen Themenkomplex insofern auf, als er Troja zur klar erkennbaren dritten ›Hauptstadt‹ der Metamorphosen macht, die gemeinsam mit Rom die Schlusspentade des Epos prägt. An der Oberfläche orientiert der Dichter sich an dem vergilischen Rahmen, indem er Troja als Etappe auf dem Weg seines Werkes nach Rom einschaltet und die Aeneaden nach dem Ende seines trojanischen Zyklus in Richtung Westen aufbrechen lässt. Wenngleich in einzelnen Textpassagen eine römische Atmosphäre evoziert wird – z. B. eine Seeschlacht der römischen Flotte beim Untergang des Ceyx, das Leben am Hof des Prinzeps in der Aesacus-Episode oder das römische Rhetorikwesen im Agon zwischen Ajax und Odysseus –, so entfalten derartige Aktualisierungen keine Wirkung, die mit der vergilischen Deutung der römischen Gegenwart aus der Vergangenheit vergleichbar wäre.287 Ovids Troja ist von seiner Gründung an auf den Untergang der Stadt ausgerichtet, wenngleich dieses Ereignis selbst derart verkürzt dargestellt wird, dass Sharrock (2019, 281) von einem »non-narrative of the fall of Troy« spricht. Der Fall Trojas erscheint wie ein negatives telos für die Stadt. Bis zur Abfahrt des Aeneas aus Troja (Ov. met. 13,623) variiert diese Perspektive kaum, nur selten findet sich ein positiver Ausblick auf die Wiederauferstehung Trojas in Rom. Stattdessen weisen die trojanischen Sagen oftmals eine zyklische Struktur auf, die zur Perpetuierung des Leids einzelner 287 Vgl. Schmitzer (2005, 35).

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Figuren führen. Dies zeigt sich exemplarisch in der Figur des Prinzen Aesacus, der auch nach seiner Verwandlung in einen Vogel dieselbe Bewegung vollzieht wie bei seinem versuchten Selbstmord (11,792 letique viam sine fine retemptat). Statt einer unbegrenzten römischen Herrschaft wie in der Jupiter-Prophetie der ­Aeneis (Verg. Aen. 1,279 imperium sine fine) propagiert Ovid eine ewige Wiederkehr von Trojas Scheitern, die sich ebenso in einzelnen Figuren wie für die Stadt als Ganzes realisiert.288 Durch die Ausrichtung der ovidischen Troja-Episoden auf Leiden, Fallen und Sterben ist das Troja der Metamorphosen – die Stadt, die der Dichter nach eigener Aussage als Tourist besucht hat289 – das Gegenteil einer urbs aeterna.

288 Vgl. die Aitiologie für die bis zur Erzählgegenwart anhaltende Permanenz von Auroras Trauer über den Tod Memnons (13,622 nunc quoque dat lacrimas et toto rorat in orbe). 289 Ov. Pont. 2,10,21 (an Aemilius Macer) te duce magnificas Asiae perspeximus urbes; vgl. Schmitzer (2005, 33 f.; 38), auch zu Troja als Touristenziel bei Lucan (Lucan. 9,964–979).

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Römischer Mythos und römische Geschichte lassen sich keinesfalls klar voneinander trennen.1 Insbesondere der Verlust vieler früher Werke der Literatur sowie außerliterarischer Quellen erlaubte es den römischen Autoren, über die Ursprünge ihrer Stadt mit einiger Freiheit zu berichten.2 Die erste Phase der lateinischen Literatur ab dem dritten vorchristlichen Jahrhundert ging zunächst nicht mit einem besonderen Interesse für genuin stadtrömische Themen einher. Wie Schmitzer (2016a, 54–80) zeigt, wurde Rom als gebaute Stadt während der republikanischen Epoche nur in wenigen Fällen zum Gegenstand der heute als ›römisch‹ bezeichneten Literatur.3 Im Gegensatz etwa zur engen Verbindung der griechischen Dramen mit Athen wiesen die lateinischsprachigen Dramen kaum Berührungspunkte zu Rom auf, und selbst in der Fabula praetexta kam dem römischen Schauplatz in der Regel nur eine untergeordnete Rolle zu. Ein dezidiertes Interesse an der Geschichte der Römer lässt sich jedoch in der Gattung des historischen Epos ausmachen:4 Das verlorene Bellum Poenicum des Naevius behandelte ein wichtiges Ereignis der republikanischen Geschichte, den Ersten Punischen Krieg (264–241 v. Chr.). Indem Naevius zugleich aber auch die Geschehnisse von der Flucht des Aeneas bis zur Gründung Roms durch Romulus beschrieb, wurde er zum ersten Autor, der Zeitgeschichte und legendäre Vergangenheit in einem Werk zusammenbrachte.5 Die nur noch fragmentarisch erhaltenen Annalen des Ennius zeichneten die römische Historie von ihren mythischen Ursprüngen bis zur Gegenwart des 169 v. Chr. gestorbenen Dichters nach.6 Eine weitergehende Beschäftigung mit Rom und seiner Geschichte setzt

1 Für einen Abriss der historischen Stadtentwicklung Roms vgl. Coarelli (2000, 9–16). 2 Vgl. Liv. praef. 6 f. 3 Zu den Beziehungen zwischen Rom als gebauter Stadt und literarischen Darstellungen Roms vgl. auch Edwards (2000). 4 Vgl. Nethercut (2019) zur Frage der Differenzierung zwischen historischem und mythologischem Epos. 5 Bär/Schedel (2019, 340 f.). Zum Verhältnis von Mythos und Geschichte bei Naevius vgl. Häußler (1976, 113–120). 6 Vgl. Häußler (1976, 229) zur strukturellen Bezugnahme der Metamorphosen auf die Annalen; Skutsch (1985, 15 f.) zu Ovids ambivalenter Gesamtbeurteilung von Ennius; Jahn (2007, 80–83; 89 f.) zum Troja-Mythos bei Ennius und Naevius; Schmitzer (2014, bes. 137 f.) zur Konstruktion des trojanischen Ursprungsmythos in Rom sowie (ebd., 150–152) zur Vielschichtigkeit der römischen Gründungsgeschichte; Bär/Schedel (2019, 346) zu Ennius’ Bezugnahmen auf Naevius; Nethercut (2019, 195) zur literargeschichtlichen und gattungsbezogenen Einordnung der Epen von Naevius und Ennius.

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im ersten vorchristlichen Jahrhundert mit Varro (116–27) ein;7 der antiquarische Teil seines umfangreichen Werkes ist jedoch bis auf die Sekundärüberlieferung bei anderen Schriftstellern verloren. Ab diesem Zeitpunkt wird Rom immer mehr zu einem wichtigen Thema in verschiedenen literarischen Gattungen.8 Als umfangreichste Gesamtdarstellung der römischen Geschichte ist das rund um die Zeitenwende entstandene, nur teilweise erhaltene Großwerk Ab urbe condita des Livius zu nennen.9 Der Historiograph zeichnet nach, wie Rom geschaffen wird und expandiert, von Auslöschung bedroht ist und je nach den vorherrschenden mores wieder auf- und absteigt.10 Durch das zugrunde liegende annalistische Schema11 geht die Erzählung nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich von Rom aus, wohin sie mit dem Beginn eines jeden Konsulatsjahres stets wieder zurückkehrt; Rom wird damit auch in solchen Epochen zum Zentrum der Erzählung, in denen dies historisch gesehen weniger zutreffend ist.12 – Das erste Buch berichtet von Ereignissen vor der eigentlichen Stadtgründung, z. B. von der Kindheit von Romulus und Remus, und sodann von der etwa 250 Jahre umfassenden Königszeit.13 Am Ende der ersten Pentade erzählt Livius, wie Sicinius und Camillus über den Stellenwert der römischen Topographie für die Identität der Stadt streiten:14 Nach dem Ansturm der Gallier im Jahr 387 v. Chr. kommt der Vorschlag auf, die Stadt in Veji wieder neu aufzubauen. Aus der Rede des Camillus (Liv. 5,51–54) lässt sich eine geopolitische Deutung entnehmen: ›Romanness‹ ist für viele ideell an einen bestimmten Ort gebunden, daher kann Rom nicht einfach an eine andere Stelle verlegt werden.15 Ebenso wie hier auf räumlicher Ebene betont Livius insgesamt die Kontinuität der römischen Geschichte.16 Trotz eines allgemeinen römischen Ethnozentrismus räumt 7 Vgl. Edwards (2000, 4–6). 8 Ax (2007, 90) bietet eine Liste von Rom-Enkomien in unterschiedlichen Gattungen. 9 Vgl. Pausch (2011, 9; 14) zum Spannungsfeld zwischen faktualer Wissensvermittlung und fiktionaler Literatur in der antiken Historiographie; Malochet-Turquety (2014, 211 f.). 10 Vgl. Mineo (2015, bes. 140 f.) zum zyklischen Geschichtsbild von jeweils 360 bzw. 365 Jahren zwischen Romulus und Camillus bzw. letzterem und Augustus. 11 Vgl. Pausch (2011, 75–123) zur annalistischen gegenüber der monographischen Geschichtsdarstellung sowie insbesondere zu Livius’ Umgang mit dem annalistischen Schema. 12 Pausch (2011, 129–136). 13 Vgl. Cornell (2015, 247) zur narrativen Gewichtung der römischen Geschichte bei Livius im Vergleich zu anderen Historiographen wie Dionysios von Halikarnassos. 14 Vgl. Jaeger (2015, 66; 69) zu den wichtigsten topographischen Merkmalen Roms, die in der ersten livianischen Pentade in die Erzählung eingeführt werden und auch danach wichtig bleiben. 15 Vgl. Edwards (2000, 45–52; 65 f.); Eigler (2008, 160–163); Jaeger (2015, 67); Oakley (2015, 238 f.); Behm (2019a, 291 f.) mit weiterer Literatur. Vgl. außerdem Mineo (2015, 146– 148) zur typologischen Verbindung zwischen Romulus, Camillus und Augustus bei Livius; Liv. 5,49,7 [sc. Camillus] Romulus ac parens patriae conditorque alter urbis haud vanis laudibus appellabatur; Ogilvie (1965, z. St.). 16 Vgl. Edwards (2000, 82–85).

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Livius indes auch nicht-römischen Sichtweisen Platz ein, vor allem durch die Einfügung von ›Barbaren-Reden‹ und durch den Wechsel der fokalisierenden Instanz: In bedeutsamen Passagen wie beispielsweise Hannibals Alpenüberquerung (21,31–38) wird das Geschehen weitgehend aus der Perspektive der römischen Feinde geschildert.17 Vergil lässt in seinen Werken einen jeweils unterschiedlichen Umgang mit Rom erkennen: In der ersten Ekloge schwärmt der Hirte Tityrus von seinem Besuch in der aus seiner Perspektive unvergleichlichen Hauptstadt, während die neunte Ekloge die Landverteilungen nach dem Bürgerkrieg thematisiert. Insgesamt aber beziehen sich die Bucolica eher aus der Außenperspektive auf Rom.18 Ein im Ansatz ähnlicher Blick auf die Stadt lässt sich in den Georgica beobachten: Vergils Gedicht über den Landbau verweist vielfach auf das Festhalten an der altitalischen Lebensweise als Grundlage für Roms Wohlergehen.19 Vergils Aeneis ist zweifellos der einflussreichste epische Referenztext für Ovids römische Geschichte in den Metamorphosen (vgl. Kap. 6.3 zu Ovids Quellen für die römische Frühzeit). Die Gründung Roms stellt zwar das narrative telos der Aeneis dar, liegt jedoch jenseits der erzählten Zeitspanne des Epos. Bereits aus dem Proömium geht hervor, dass das Gedicht ein inhaltliches Ziel hat, das über die urbs20 als gebaute Stadt hinausweist (Verg. Aen. 1,5 dum conderet urbem [sc. Lavinium]; 1,33 Romanam condere gentem).21 Das achte Buch der Aeneis wird häufig als ›Rom-Buch‹ bezeichnet, denn hier skizziert Vergil Pallanteum, die Stadt des arkadischen Königs Euander, als Vorgängerin der einstigen Hauptstadt des Imperium Romanum.22 Die dabei zutage tretenden Ausblicke auf das Rom des Augustus fügen sich in die übergreifende Konzeption des Epos als Hinführung zur erlebten Gegenwart aus der Perspektive des Mythos. Euanders Stadtführung erlaubt eine topographische Rekonstruktion, doch nichtsdestotrotz enthält das dabei evozierte Proto-Rom eine Vielzahl t­ opographischer Leerstellen.23 Wie Döpp (2003, 36) betont, erhält Rom seine Bedeutung nicht aus den genannten Bauwerken, sondern aus der Gegenwart des Numinosen. Die verschiedenen dargestellten Zeitebenen (Goldenes Zeitalter unter der Herrschaft Saturns – Ursprünge der modernen Zivilisation unter 17 Vgl. Pausch (2011, 125; 149–152; 170–189). 18 Vgl. von Albrecht (2007, 45) zur ›geistigen Topographie‹ der Bucolica; Schmitzer (2016a, 31; 103–110). 19 Vgl. Döpp (2003, 31 f.); Kersten (2018a, 230): »Die römische Gegenwart erscheint in den Georgica sehr viel deutlicher als im bukolischen Arkadien oder in der mythischen Vorzeit der Aeneis.« 20 Zur Identifizierung von Roma und urbs vgl. Kap. 6.3. 21 Vgl. Austin (1971, zu 1,5; 1,33); Behm (2019a, 286–289) mit weiterführender Literatur. 22 Vgl. Schmitzer (2014, 141 f.) zur Stiftung geographischer Kontinuität durch den arkadischen Urkönig Roms. 23 Vgl. Schmitzer (2001, 526–528; 2016a, 114–123); Kap. 1.3.5 zu Leer- und Unbestimmtheitsstellen.

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­Euander – hochzivilisiertes Rom unter Augustus) verflechten das hoch entwickelte Rom mit seinen bäuerlichen Ursprüngen. Sie vermitteln so zwischen zwei Polen, die häufig zu den offenkundigen Selbstwidersprüchen der augusteischen Ideologie gerechnet werden.24 Weitere Dichter der Jahrzehnte vor Ovids Schaffenszeit sind wichtige Vorläufer für die Rom-Darstellungen in seinem Œuvre. Zu ihnen zählen insbesondere Horaz, Tibull und Properz. Eine innovative Perspektive bietet beispielsweise das Rom der horazischen Satiren: Hier stellt der Dichter die Stadt jenseits ihrer Monumentalität dar, schildert Alltagserlebnisse aus einem satirischen Blickwinkel und zeigt Rom als Lebensraum gewöhnlicher Menschen – jedoch nicht ohne gleichzeitig das italische Land als Alternativraum für die Führung eines tugendhaften Lebens sowie für dichterische Muße zu entwerfen.25 Das ›offizielle‹ Rom mit seinen Bauten und politischen Ereignissen hingegen dominiert das Bild der Stadt in Horazens Oden. Das anlässlich der römischen Jahrhundertfeier des Jahres 17 v. Chr. verfasste Carmen saeculare stellt insofern einen Spezialfall dar, als bei diesem staatlichen Auftragswerk Handlungs- und Aufführungsort zusammenfallen (vgl. z. B. Hor. carm. saec. 65 Palatinas … aras).26 Ein allgemeines Merkmal der lateinischen Liebeselegie besteht in der Polarität zwischen ›innen‹ und ›außen‹, zwischen Rom selbst und seiner Peripherie.27 Teils fungiert die Stadt als Kulisse für Liebesverhältnisse, die mit elegischen Topoi wie demjenigen des exclusus amator oder der militia amoris beschrieben werden (dabei erfahren die normale Bevölkerung und ihr Lebensraum allerdings wenig Aufmerksamkeit). Daneben aber eröffnet sich gerade im Leben fernab von den Pflichten der Stadt – also insbesondere jenseits der Teilnahme am politischen Leben sowie der Zugehörigkeit zum Militär – für das elegische Ich eine zumeist utopisch bleibende Alternative zum konformistischen Lebensstil.28 Tibull etwa evoziert die Stadt Rom vor allem durch ihre Abwesenheit:29 Wiederholt wird das Leben auf dem Land, das Ideal der rusticitas, als Gegenentwurf zu den Nachteilen des städtischen Lebens konzipiert, doch die Vereinigung der Liebenden jenseits der Stadt bleibt meist ein unrealistischer Traum.30 Auch bei Properz ist das Leben in der Stadt voller Gefahren für die Liebe.31 Im vierten Buch seiner Elegien findet der Dichter zu einem neuartigen Blick auf Rom: Hier verbindet er erotische und aitiologische Themen miteinander. Properz lässt die Stadt zur Kulisse für die elegische Handlung werden; in mehreren Passagen 24 Vgl. Eigler (2008, 152–154). 25 Vgl. Döpp (2003, 36–40); Schmitzer (2016a, 99). 26 Vgl. Schmitzer (2016a, 100–103). 27 Vgl. Monella (2005b). 28 Vgl. Monella (2005a, 159; 171); Pinotti (2015, 37; 51). 29 Vgl. Schmitzer (2016a, 125–127) zur elegischen Roma absens. 30 Vgl. Monella (2005a, 169). 31 Vgl. Walde (2005, 160 f.).

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t­reten archaisches und gegenwärtiges Rom einander gegenüber, wobei ebenso wie bei Tibull die Vergangenheit den Vorzug erhält.32 Als Zwischenfazit vor dem Übergang zu Ovid lässt sich festhalten, dass sich die Darstellung Roms bei den lateinischen Autoren je nach Gattung und Ausrichtung ihres jeweiligen Werkes unterscheidet, auch innerhalb der verschiedenen Werke eines einzelnen Autors wie beispielsweise Vergil.33 Eine Gemeinsamkeit, die aus dem bis hierher erfolgten skizzenartigen Überblick zwar nicht hervorgeht, jedoch kaum überraschen kann, besteht in der Auswahl jener Lokalitäten und Monumente, von denen die Rom-Darstellungen insgesamt dominiert werden: Immer wieder werden die bis heute sprichwörtlichen sieben Hügel Roms genannt, vor allem das Kapitol mit dem Jupiter-Tempel und der Palatin mit dem Tempel des Apollo, daneben unter anderem das Forum Romanum und das Marsfeld jenseits des Tibers.34 In sämtlichen Werken Ovids spielen die Stadt Rom, ihre Geschichte und ihre Mythen eine wichtige Rolle.35 Sie sollen hier kurz als Bezugsrahmen für die Untersuchung über den römischen Abschnitt der Metamorphosen überblickt werden. Wie in den zuvor kurz angesprochenen Rom-Texten anderer Autoren entwirft auch Ovid kein einheitliches Bild der Stadt. Je nach den literarischen und insbesondere gattungsspezifischen, aber auch den historischen Bedingungen – ohne damit einer biographischen Deutung verfallen zu wollen –36 bestimmt die poetische Funktion des einzelnen Werkes den jeweiligen Blick des Erzählers auf die Stadt.37 In Ovids Erstlingswerk, den Amores, wird Rom meist implizit als Handlungsort vorausgesetzt. Bewusst angesprochen wird die Stadt jedoch nur, wenn die Handlung gerade nicht dort spielt.38 Größere Aufmerksamkeit – sowohl vom Dichter selbst als auch von Seiten der Forschung – erfährt Rom dagegen in der Ars amatoria. Das erotische Lehrgedicht lässt sich als explizite Rom-Dichtung bezeichnen, denn hier misst Ovid der römischen Topographie eine wichtige

32 Vgl. Pinotti (2015, 38–43; 50); Schmitzer (2016a, 133–142). 33 Vgl. Schmitzer (2016a, 72). 34 Vgl. Döpp (2003, 30). 35 Zu Elementen römischer Geschichte bei Ovid vgl. Syme (1978), der jedoch die Metamorphosen nicht explizit behandelt. Alle ovidischen Textstellen zu römischen Bauwerken behandelt Boyle (2003, bes. 174–279). 36 Vor einer biographischen Deutung der Liebeselegien warnt beispielsweise Monella (2005a, 164). 37 Vgl. Schmitzer (2016a, 143; 172–174). Einen wichtigen Unterschied zu den Darstellungen Roms bei Ovids Vorgängern identifiziert Eigler (2008, 163–165) darin, dass dieser in seinem Gesamtwerk nicht allein Rom und sein direktes Umland, sondern das Römische Reich insgesamt in den Blick nimmt. 38 Schmitzer (2016a, 143 f.).

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Stellung zu:39 Im Anschluss an von Catull und Properz gelegte Grundlagen wird die Stadtlandschaft didaktisch für das Gelingen der Liebe funktionalisiert.40 Exemplarische Bedeutung kommt dabei zwei Textpassagen zu, an denen der ovidische Liebeslehrer namentlich römische Lokalitäten aufzählt, die er Männern und Frauen als ›Jagdrevier‹ auf der Suche nach einer bzw. einem Geliebten empfiehlt (Ov. ars 1,67–88; 3,387–394).41 Die Liste, die der inventio des Objekts einer Liebschaft gilt (Ovid nennt z. B. Säulenhallen, Foren und Theater), erlaubt allerdings keinen nachvollziehbaren Stadtspaziergang wie die Führung des Euander in Vergils Aeneis (vgl. Kap. 5.7), sondern ist unabhängig von der geographischen Anordnung der genannten Monumente gestaltet.42 Wie seine Vorläufer stellt der Dichter der Ars amatoria Gegenwart und Vergangenheit einander gegenüber. Wenn er vom ›goldenen Rom‹ schwärmt, gibt er dem cultus seiner Epoche den Vorzug gegenüber der rusticitas der bäuerlichen Frühzeit (Ov. ars 3,113 simplicitas rudis ante fuit; nunc aurea Roma est; 3,127 f. sed quia cultus adest nec nostros mansit in annos / rusticitas priscis illa superstes avis).43 Das Lob der Gegenwart kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ovids auf stadtrömischem Boden verortete Liebeslehre offenkundig schwer mit der Sittenpolitik des Prinzipats in Übereinklang zu bringen ist. Der vermeintliche ›Missbrauch‹ der augusteischen Stadt für die Lehre tugendloser Liebe hat mit dazu beigetragen, Ovid in Teilen der Forschung zum ›Anti-Augusteer‹ zu erheben und seine Relegation ans Schwarze Meer zu erklären (vgl. die berühmte Selbstaussage des Dichters in den Tristien: Ov. trist. 2,207 perdiderint cum me duo crimina, carmen et error).44 Gegen eine derart ausgerichtete Interpretation der Ars amatoria lassen sich allerdings gewichtige Argumente ins Feld führen: Am überzeugendsten erscheint die Tatsache, dass die Verbannung des Dichters erst etwa ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung des vermeintlich anstößigen Werkes erfolgte.45 Die Schilderung der Liebe im Kontext augusteischer Bauten mag zwar – nicht nur unter literarischen Gesichtspunkten – revolutionär gewesen sein, sollte aber nicht einfach als Verspottung des Herrschers gedeutet

39 Vgl. White (2002, 12); Bach (2020, 88 Fn. 41) zum Unterschied der Rom-Darstellungen in Ovids verschiedenen Werken: »Alors que le poète de l’Ars Amatoria inclut le monde dans Rome, c’est davantage la ville qui s’étend sur le monde dans les Métamorphoses.« 40 Vgl. Edwards (2000, 23–25) zur nicht kontrollierbaren Wirkung von Bauwerken analog zu derjenigen von Literatur; Ax (2007, 100); Schmitzer (2016a, 144–149). 41 Vgl. Monella (2005a, 160); Ax (2007, 98–105); Pinotti (2015, 47–49). 42 Schmitzer (2001, 525). 43 Vgl. Döpp (2003, 41–43); Walde (2005, 160 f.); Kap. 2.1. 44 Beispielsweise erkennt Ax (2007, 103–105) in der Nichtachtung der augusteischen Ideologie eine »adversativ-kritische Haltung« des Dichters; konträr dazu sieht Millar (1993, bes. 6) Ovid bis zu dessen Lebensende als einen explizit loyalen ›Augusteer‹. Einführend zur Thematik vgl. Volk (2012, 42–47). 45 Vgl. Barchiesi (1997, 24–34).

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werden, sondern kann durchaus in hohem Maße der gelebten Realität zu Ovids Zeiten entsprochen haben.46 Die Fasten, die wahrscheinlich zeitgleich zu den Metamorphosen entstanden,47 gelten als Ovids ›römischstes‹ Werk.48 In dem Gedicht über den römischen Festkalender entwirft der Dichter ein umfassendes Gesamtbild der Stadt mit ihren Monumenten und den dahinterstehenden Mythen, religiösen Bräuchen und Geschichten.49 Ovid behandelt zahlreiche Bauwerke, die in der Regierungszeit des Augustus entstanden oder erneuert wurden, wie beispielsweise den Tempel des Mars Ultor.50 Der konstante Bezug auf Traditionen ruft einen Kontrast zwischen dem aktuellen und dem früheren Rom hervor. Er kreiert einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der im Ansatz analog zu dem entsprechenden Dualismus in der Ars amatoria erscheint.51 Geradezu undenkbar ohne den wiederkehrenden Bezug auf Rom sind auch die Gedichte, die der in Sulmo geborene Dichter nach der Verbannung aus der Hauptstadt während seines Exils am Schwarzen Meer verfasste. In den Tristien und den Epistulae ex Ponto dient die Hauptstadt als wiederkehrende Folie für die Schilderung des Lebens an der Außengrenze des Römischen Reiches.52 Von dort aus demonstriert Ovid ein emotionales Verhältnis zu Rom, indem er seinen früheren Lebens- und Schaffensort gegenüber dem Exilort Tomis idealisiert (Ov. Pont. 1,3,37 quid melius Roma?).53 Die enge geistige Verbindung des Dichters zu Rom als Ort der Literatur zeigt sich besonderes in denjenigen Gedichten, in denen Ovid seine im Exil verfassten Bücher an seiner statt zu einem imaginären

46 Döpp (2003, 43). Hinsichtlich einer Deutung der Ars amatoria als Affront gegen das Kaiserhaus vgl. beispielsweise die gemäßigten Positionen von Labate (1984, 37–39) und Schmitzer (2016a, 151–153). 47 Vgl. Bömer (1986, zu Ov. met. 15,492–546): wahrscheinlich Priorität der Fasten; Bömer (1988); Pasco-Pranger (2006, 23–26) zum heute weitgehend etablierten Konsens über die ­parallele Abfassung beider Werke. 48 Nichtsdestotrotz hat auch die Rom-Darstellung der Fasten die Frage nach Ovids Position gegenüber der augusteischen Ideologie aufgeworfen; vgl. Millar (1993, 7) zum vermeintlichen ›Augusteismus‹ jenes Werkes; Barchiesi (1997). 49 Vgl. Edwards (2000, 44 f.) zur Verknüpfung von Orten und religiösen Handlungen; Barchiesi (1997, 47–51) zur Vielschichtigkeit des Rom-Bilds der Fasten; Volk (2012, 122); Malochet-Turquety (2014, 195 f.). 50 Vgl. Döpp (2003, 43 f.); Schmitzer (2016a, 154–159). Eine Liste der von Caesar und Augustus errichteten bzw. restaurierten römischen Monumente bietet Boyle (2003, 35–37). 51 Vgl. Barchiesi (1997, 214 f.) zu den verschiedenen kulturellen Gegensätzen hinsichtlich der Konstruktion der Vergangenheit in den Fasten; Eigler (2008, 155–160). 52 Vgl. Walde (2005, 158), die (ebd., 163 f.) darauf hinweist, dass das Wortfeld ›Stadt‹ (in Form von Vokabeln wie urbanus etc.) außerhalb der Fasten in keinem ovidischen Werk so häufig vorkommt wie in der Exildichtung. 53 Vgl. Edwards (2000, 116–125); Döpp (2003, 44–47); Walde (2005, 163 f.); Volk (2012, 122 f.); Pinotti (2015, 51–53); Schmitzer (2016a, 163–174).

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Besuch dorthin sendet (Ov. trist. 1,1; 3,1).54 Obgleich Ovid hier und an anderen Stellen der Exildichtung (vgl. z. B. Ov. Pont. 1,8) eine Vielzahl römischer Bauwerke auflistet, enthalten seine Beschreibungen nur wenige visuelle Details der Stadt.55 Der Fokus liegt auf topischen Aussagen über die Dichotomie zwischen Rom und Tomis, die – sofern man hier eine biographische Deutung erlaubt – mutmaßlich im Rahmen seiner Gesamtstrategie zu sehen sind, vom Kaiser an die einstige Wirkungsstätte zurückberufen zu werden. In den Metamorphosen fungiert Rom als vierte und letzte, zugleich aber auch insgesamt als dominierende Hauptstadt des Werkes: Während sich die eigentlichen Erzählungen aus dem römischen Sagenkreis und der römischen Geschichte in Buch 14 und 15 befinden, weisen insbesondere die beiden Eingangsbücher explizite Anknüpfungspunkte zur römischen Lebenswelt von Ovids Zeitgenossen auf. Rom existiert also schon implizit im Text, bevor es tatsächlich in die Handlung eingeführt wird.56 Der immer wieder zitierte locus classicus für diese Tendenz des Werkes zur Aktualisierung oder ›Romanisierung‹57 des Geschehens ist der Vergleich des Himmelspalastes mit der Residenz des Augustus auf dem Palatin (Ov. met. 1,175 f. hic locus est quem, si verbis audacia detur, / haud timeam magni dixisse Palatia caeli).58 Durch derartige Formulierungen, die Zissos (2019, 54 Vgl. Ov. trist. 1,1,1 sine me, liber, ibis in urbem; 3,1,1 Missus in hanc venio timide liber exulis urbem; von Albrecht (2008, 229); Haß (2021, 270) zur Opposition von Stadt und Land als »poetologische[r] Verklammerung des ovidischen Gesamtwerks«. 55 Vgl. Reitz (2013, 285–289). Ein wichtiger Unterschied zur Stadtführung im achten Buch der Aeneis liegt in der zeitlichen Ebene: Während Euander (zumindest an der Oberfläche) das Rom seiner Zeit, also aus der Sicht der Leser die Stadt der Vergangenheit, zeigt, liegt der Fokus der ovidischen Stadtführung auf der römischen Gegenwart; vgl. Schmitzer (2001, 528–530). 56 Vgl. Malochet-Turquety (2014, 195 f.; 203 f.), auch für derartige Beispiele eines ›Rom vor Rom‹ innerhalb der römischen Sektion der Metamorphosen; La Penna (2018, 261 f.) zur Landschaft von Rom vor der Gründung der Stadt in den Fasten. Feeney (2007, 103) bemerkt, dass Rom in Buch 1 und 2 ausgerechnet in existentiell bedrohlichen Situationen dargestellt wird (z. B. beim Weltenbrand am Tiber sowie beim Gallier-Ansturm). 57 Vgl. allgemein von Albrecht (2008). Geitner (2021, 81) bewertet den Begriff ›Aktualisierung‹ im Vergleich zu ›Romanisierung‹ oder ›Modernisierung‹ als neutraler. 58 Vgl. Barchiesi (2005, z. St.) zu dieser deutlichsten aller Rom-Anspielungen in den Eingangsbüchern, bevor die Stadt in Buch 14 und 15 zum Schauplatz wird, sowie zu Stellen bei Homer, die den Götterhimmel in analoger Weise als griechische polis erscheinen lassen; Keith (2007, 2 f.; 10 f.) zu politischen und architektonischen Bezügen auf das augusteische Rom; Schmitzer (2016a, 159–162); Kersten (2019a, 419 f.); Reitz (2019d, 731–733) zur Götterversammlung in dieser Szene. – Der Vergleich wirkt über die Bezeichnung ›Himmels-Palatin‹ hinaus auch durch die Junktur hic locus: Diese wird auch im fünfzehnten Buch an entscheidenden Stellen verwendet, nämlich einmal bei der Stadtgründung Crotons, das gewissermaßen als Ersatz für Rom fungiert (15,18 hic locus urbis erit), und einmal in der an den Toren Roms spielenden Cipus-Erzählung (vgl. 15,581 f.); vgl. Kap. 6.4; 6.6. Weitere Rom-Bezüge im ersten Buch finden sich unter anderem beim Vergleich von Lycaons Frevel mit einem Anschlag auf Caesar (1,201–208) sowie beim Verweis auf die Residenz des Prinzeps nach Daphnes LorbeerVerwandlung (1,558–565).

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548) als »seemingly off-hand and quirky anticipations of Roman history« bezeichnet, wirkt die Gegenwart des Dichters immer wieder in die mythische Vergangenheit des Textes hinein. Im Verlauf der fünfzehn Bücher kreieren topographische und andere Analogien wiederkehrend eine römische Atmosphäre. Beispiele dafür lassen sich in allen Sagenkreisen finden: Auch wenn Ovid von Theben, Athen oder Troja erzählt, weist der Text dabei bisweilen auf Rom voraus. Beispielsweise evoziert das Theater-Gleichnis in der Cadmus-Erzählung eine römische Schauspielaufführung (vgl. Kap. 3.1)59 oder die Gestaltung der Domus Famae (12,39–63) erinnert an das soziale und politische Leben in Rom.60 Indem die Stadt immer wieder unter der Oberfläche der zeitlich und räumlich entfernten Erzählungen durchscheint, erweist Rom sich in oberflächlicher Analogie zu Vergils Aeneis als telos des Werkes. Dass ein solcher Vergleich jedoch hinkt, zeigen einige entscheidende Unterschiede (vgl. Kap. 7.3): Ovid verzichtet auf Prophetien, um die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit zu deuten (diese werden erst am Ende des Werkes ›nachgeholt‹; vgl. Kap. 6.5), und anders als das vergilische Epos erreichen die Metamorphosen nicht allein die dort nur angedeutete Gründung Roms, sondern ihr zeitlicher Rahmen erstreckt sich darüber hinaus bis in die Gegenwart des Dichters (Ov. met. 1,4 ad mea … tempora).61 Doch betrachten wir nun den genuin römischen Abschnitt der Metamorphosen. Wie bereits erwähnt, bilden Rom und Troja einen gemeinsamen Erzählabschnitt, indem die zugehörigen Episoden sich grob mit der dritten Buchpentade decken. Nach dem Troja-Block ab Vers 11,194 und Ovids ›Kleiner Ilias‹ (12,1–13,622) folgt die als ›Kleine Aeneis‹ bezeichnete Auseinandersetzung des Dichters mit Vergils Epos (13,623–14,580/608).62 Sie enthält bereits einen Teil der auf italischem und insbesondere römischem Boden spielenden Erzählungen (13,705–15,870). Als Bezugspunkte zu Rom sind auch Karthago (14,75–84) und Ardea (14,566–580) von Bedeutung; die entsprechenden Untersuchungen werden daher hier aus pragmatischen Gründen in das Rom-Kapitel integriert. Während Aeneas eine prägende Gestalt für die ovidische ›Aeneis‹ ist, gibt es im anschließenden Rom-Teil keine vergleichbare Hauptfigur wie beispielsweise mit Cadmus im Theben-Zyklus. Der hier nicht näher behandelte Katalog 59 Noch expliziter ist ein Vergleich in der Episode über den Tod des Orpheus (11,25 f. structoque utrimque theatro / ceu … cervus). 60 Vgl. Keith (2007, 3); Gladhill (2013, 303–305); Ziogas (2014, 338–342); Bach (2020, 177). 61 Malochet-Turquety (2014, 199) weist auf die erstaunliche Tatsache hin, dass Ovid die Begriffe Roma bzw. Romanus in den Metamorphosen nur zwei bzw. zehn Mal verwendet, während sie in der Aeneis sieben bzw. 22 Mal vorkommen, obwohl die Gründung der Stadt jenseits der erzählten Zeit des Epos liegt. 62 Der Begriff ›Kleine Aeneis‹ für den hier besprochenen Teil ist unproblematischer als die Bezeichnung ›Kleine Ilias‹ für den vorangehenden Teil der Metamorphosen; vgl. dazu sowie zur Abgrenzung dieser Abschnitte Einleitung zu Kap. 5.

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der Könige von Roms Vorläuferstadt Alba Longa (14,609–621)63 stellt zwar den Übergang von Aeneas (Apotheose in 14,581–608) zu Romulus her, dessen Gründungsakt in der Schlussepisode von Buch 14 dargestellt wird (14,772–851), doch das fünfzehnte Buch enthält wiederum mehrere verschiedene Protagonisten. Die Geographie gewinnt gegenüber den einzelnen Figuren an Bedeutung, denn der Handlungsort rückt tendenziell immer weiter in Richtung Rom: Die ersten Episoden um den griechischen Auswanderer Croton (15,1–59) und den Naturphilosophen Pythagoras (15,60–478) spielen noch in Unteritalien, die hier nicht näher betrachteten Geschichten um Hippolytus-Virbius (15,479–546) und Tages (15,547–564), einschließlich des Nachtrags zur Lanze des Romulus, in einem Hain nahe Rom; die Cipus-Erzählung (15,565–621) ist direkt an den römischen Stadtmauern verortet, und schließlich gelangen die Metamorphosen mit den Geschichten von Asclepius (15,622–744) sowie Caesar und Augustus (15,745–870) nach Rom und damit an ihr geographisches Ziel, das im Epilog (15,871–879) sogar zum Ort des Erzählers wird. Ovids stoffliche Auswahl für den als ›römisch‹ zu bezeichnenden Schlussabschnitt seines umfangreichsten Werkes ist einmal mehr auffällig. Im Anschluss an die Troja-Sage behandelt er eine selektive, keinesfalls repräsentative Auswahl der römischen Geschichte. Dazu zählen lediglich drei Ereignisse, die sich konkreten Jahresangaben zuordnen lassen: Die Erzählung springt von der Gründung Roms im Jahr 753 v. Chr. über Cipus als Vertreter der frührepublikanischen Zeit (fünftes Jahrhundert) und Asclepius als Repräsentant der mittleren Phase der Republik (drittes Jahrhundert) zu Caesar und Augustus und damit zur Gegenwart um die Zeitenwende. Ovid übergeht damit eine Vielzahl an bedeutenden Ereignissen der römischen Historie wie z. B. die Punischen Kriege und zahllose weitere Themen der republikanischen Zeit. Als Grund für dieses Vorgehen lassen sich mindestens zwei Erklärungen anführen: Zum einen bildet Ovids Stoffauswahl trotz aller Eigenwilligkeit eine Tendenz der römischen Historiographie ab. Auch in dieser Gattung wird die römische Frühzeit meist intensiv behandelt, während die direkt darauffolgenden Jahrhunderte teils – nicht zuletzt aufgrund der spärlichen Quellenlage – nur wenig Beachtung finden.64 Zum anderen ist auch die Metamorphosenthematik ein ausschlaggebendes Kriterium: Je mehr sich das Werk aus dem Bereich der in Griechenland wie anderswo lokalisierten Mythen der historiographisch überlieferten römischen Geschichte annäherte, desto weniger Material bot sich, in dem sich eine Verwandlung fand bzw. an passender Stelle unterbringen ließ. Die fragwürdige Glaubwürdigkeit von angeblich wundersamen Ereignissen, die nahe an der Gegenwart des Dichters liegen, schlösse deren Behandlung eigent 63 Vgl. dazu Kyriakidis (2002); Reitz et al. (2019, 698 f.). 64 Vgl. Hardie (2002b, 197) zu ausgelassenen historischen Themen vor der Caesar-Episode sowie (ebd., 194 f.) zum »hourglass effect« in der römischen Annalistik.

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lich beinahe von vornherein aus, doch mit den Apotheosen von Caesar und Augustus fand Ovid hier einen Kompromiss, um den Schlusspunkt seines Werkes ohne Verzicht auf die jüngste Vergangenheit zu gestalten.

Ovids ›Kleine Aeneis‹ Die intensive Bezugnahme von Ovids Metamorphosen, speziell von Buch 13 und 14, auf Vergils Aeneis ist von der philologischen Forschung seit langem beachtet worden.65 Während frühe Studien zu diesem Thema sich vorwiegend auf eine Analyse des Aufbaus bei Ovid beschränkten, die genaue Art des Umgangs mit seinem Vorgänger aber nur vorsichtig evaluierten,66 betonten Forscher in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bereits die deutlich erkennbare Diskrepanz beider Großwerke: So bezeichnet Otis (1966, 2) die Metamorphosen als eine »deliberate antithesis« der Aeneis und Bernbeck (1967, 117 f.) spricht von einem »dichterischen Agon« Ovids mit seinem Vorbild. Grundsätzlich lassen sich bestimmte Kriterien erkennen, nach denen Ovid Stoffe aus der Aeneis ausgewählt und bearbeitet hat.67 Entsprechend der Thematik der Metamorphosen zählt dazu etwa die vergilische Sage über die Verwandlung von Aeneas’ Schiffen in Nymphen (Verg. Aen. 9,77–122 ~ Ov. met. 14,527–565). Davon abgesehen geht Ovid sehr selektiv vor. Wichtige Inhalte des zugrunde liegenden Textes lässt er aus oder handelt sie in kurzen Paraphrasen ab, so beispielsweise die Dido-Geschichte (14,75–84; vgl. Kap. 6.1). Andere Elemente des römischen Ursprungsmythos hingegen führt er deutlich breiter aus oder verschiebt den inhaltlichen Fokus, so z. B. bei der Erzählung über die Sibylle von Cumae (14,101–153). Angesichts dieses Vorgehens hat man teilweise eine parodistische Wirkung in Hinsicht auf bestimmte Aspekte oder das Verhältnis zur Aeneis im Ganzen gesehen.68 Galinsky (1975, 186; 222 f.) identifiziert eine solche Intention in der Platzierung epischer ›Bausteine‹ an unpassenden Stellen; er spricht jedoch ausdrücklich nicht von einem ›Anti-Epos‹ oder einer ›Anti-Aeneis‹.69 Dippel (1990, 65 Vgl. Kroll (1924, 172); Baldo (1995, 29–37) für einen ausführlicheren Forschungsüberblick; Casali (2009, 352) zu Vergils Aeneis als Hypotext für den siebten Heroides-Brief sowie für die ›Kleine Aeneis‹; Thomas (2009, 294–296) zu Ovids Nennungen von und Bezügen auf Vergil in seinem Gesamtwerk. 66 Stitz (1962, 3) spricht vom »offene[n] und ausweichende[n] Konkurrieren« mit dem Vorgänger; Guthmüller (1964, 133) meint, Ovid sei daran gelegen, »sein Gedicht nicht zu feierlich werden zu lassen, zu virgilisch, zu un-ovidisch«. 67 Vgl. Galinsky (1976, 4); Ellsworth (1986); Baldo (1995, 253–265). 68 Vgl. Bernbeck (1967, 122). 69 Vgl. Galinsky (1976, bes. 10–18); Baldo (1995, 108): »Ovidio ripercorre l’Eneide senza intenti dissacranti.« Bereits von Albrecht (1968, 426–432) bezeichnet die epischen Elemente in den Metamorphosen nicht einfach als Parodie oder Travestie, sondern rechnet sie der urbanitas des Dichters zu.

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59–70) sieht unter anderem in der Kritik an der heroischen Statur epischer Helden eine Parodie auf die Gattung des Epos im Ganzen. Solodow (1988, 126 f.; 154–156) hingegen klassifiziert den Umgang mit Vergil nicht als Parodie, sondern meint, Ovid biete in erster Linie eine alternative Version zu derjenigen der Aeneis.70 Wie beispielsweise Tissol (1997, 179–183) hervorhebt, lässt sich Ovids Umgang mit Vergil zwar durchaus unter die Definition einer Parodie fassen (z. B. aufgrund der Auslassung der Prophetien), doch damit sei keinesfalls ein Lächerlichmachen des großen Vorläufers impliziert.71 Wie bereits bezüglich der Ars amatoria angesprochen, ist in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder die Frage eines potentiellen ›Anti-Augusteismus‹ Ovids aufgeworfen worden, ohne dass hierüber Einigkeit erzielt worden wäre.72 Beispielsweise geht Andrae (2003, 71 f.; 183; 195–197) von einer bewussten und subversiven Dekonstruktion zentraler Aussagen der Aeneis aus und bezeichnet die Metamorphosen aufgrund der verweigerten Unterstützung für das politische Programm des Augustus nicht nur als ›antivergilisch‹,73 sondern auch als explizit ›anti-augusteisch‹, genauso wie schon Otis (1966, 339) sie »fundamentally anti-Augustan« nennt.74 Eine vorsichtigere Haltung vertritt Döpp (1991, 345 f.), der zwar von einer inneren Distanz Ovids zum augusteischen Regime spricht, die Metamorphosen aber nicht direkt gegen Augustus gerichtet sieht und Ovid gleichermaßen gegen den Verdacht einer Vergil-Parodie in Schutz nimmt. In ähnlicher Weise hält Due (1997, 356) eine Parodie für »far from the truth«.75 Im Einklang mit dem Konsens, der sich in der jüngeren Forschung abzeichnet, bewertet Barchiesi (2001, 76 f.) die Frage nach Ovids (Anti-)Augusteismus insgesamt als falsch gestellt, da sie vom jeweiligen Augustus-Bild abhängig und 70 Vgl. Galinsky (1975, 4 f.) zur Idee des referre idem aliter; Galinsky (1976, 13–18). 71 Vgl. Galinsky (1976, 10); Most (1993, 34) zur Kenntnis der jeweiligen Vorlage als Bedingung für den ›Genuss‹ einer Parodie; Baldo (1995, 257–260); DNP, »Parodie«, wo die Ridikülisierung jedoch in der Definition enthalten ist; die gegenteilige Ansicht vertritt Edmunds (2001, 141). Vgl. auch Krupp (2009, 147–150) zum Verhältnis der Begriffe ›Parodie‹ und ›Ironie‹. 72 Einen kurzen Forschungsüberblick bietet Feichtinger (2008, 297). 73 Glei (1998, 91) nennt die Metamorphosen dagegen in erster Linie ›unvergilisch‹. 74 Schmitzer (1990, bes. 298–320) versucht, in Ovids Werk mythologische Allegorien zeitgeschichtlicher Ereignisse in verschiedenen ›Verschlüsselungsgraden‹ nachzuweisen. Vgl. Lundström (1980, bes. 105), der allenthalben eine Polemik gegen die Politik des Prinzeps zu erkennen vermag. Cole (2008, 167 f.) hingegen hält Ovid für »a monarchist of sorts and a loyal supporter of the Augustan establishment«. Gall (2013, 144 f.) bezeichnet die Metamorphosen als »eher« anti-augusteisch, betont aber zugleich den unpolitischen Tenor des Werkes. 75 Vgl. Bömer (1986, zu Ov. met. 15,1), der alle anti-augusteischen Lesarten von Grund auf verwirft; Bömer (1982, zu 13,623 ff.), wo er als Totschlagargument gegen jegliche entsprechende Interpretation die Empfehlung des exilierten Dichters an den Prinzeps anführt (vgl. Ov. trist. 2,555–260); Tissol (1997, 179–183); Steffensen (2018, 320). Millar (1993, 8 f.) sieht insbesondere auch die Metamorphosen als ein dem Prinzeps gegenüber loyales Werk, sogar in höherem Maße noch als Vergils Aeneis.

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damit zu subjektiv sei und Subversion sich nicht zwischen den Zeilen eines Textes entdecken lasse.76 Unabhängig von der Frage nach politischen Aussagen tendiert die neuere Forschung klar dazu, Ovid einen kritischen Umgang mit seinen epischen Vorgängern, insbesondere mit Vergil, zuzuschreiben. Hinds (1998, 106) hat die von Papaioannou (2005, 8 f.) aufgenommene wichtige These aufgebracht, Ovid sehe sich nicht einfach im Sinne der Konzepte von aemulatio und imitatio als Nachfolger Vergils, sondern konstruiere diesen nachträglich zu einem »hesitant precursor of the Metamorphoses«.77 Eine ähnliche Bewertung kommt auch zum Ausdruck, wenn Papaioannou (ebd., 1) Ovids Vorgehen als »paradigm of critical analysis« bezeichnet. Neben der Einschätzung von Ovids Umgang mit der Aeneis als ›tendenziös‹ oder ›kritisch‹ wird jedoch auch häufig unter Bezugnahme auf die Two-Voices-Theorie der Vergil-Forschung auf die möglicherweise bereits in der Aeneis vorhandenen ›dunklen‹ Untertöne hingewiesen.78 So postuliert etwa Casali (2009, 352 f.; vgl. 2006) eine ›negative‹ Interpretation der Vielstimmigkeit der Aeneis und Thomas (2009, 298–303) spricht aufgrund Ovids Thematisierung ambivalenter Aspekte von Vergils Werk von einer ›subversiven Profanisierung‹ von Teilen der Aeneis (z. B. der Aeneas-Figur), wobei diese Tendenz jedoch schon im Original angelegt sei. Unabhängig von der Frage, wie Ovids Umgang mit Vergil und Homer letztlich inhaltlich zu interpretieren ist, lassen sich die wesentlichen Veränderungen in formaler Hinsicht unstrittig festhalten: Ovid vermeidet eine direkte Nacherzählung der bereits in den großen vorangehenden Epen behandelten Stoffe, insbesondere eine Rekapitulation des Trojanischen Krieges, wie Homer ihn dargestellt hatte.79 Im Vergleich zu Vergil fasst Ovid sich dort kurz, wo die 76 Zu den Forschern, welche die Metamorphosen als ›Anti-Aeneis‹ betrachten, gehört unter anderem Segal (in Barchiesi [2005, cxlix; vgl. clx–clxi]). Vgl. Kennedy (1992, bes. 40 f.; 46) zur allgemeinen Problematik von Begriffen wie ›(Anti-)Augusteismus‹ (nicht zuletzt am Beispiel von Ovids Werken); Galinsky (1975, 210–217); Barchiesi (1997, 5–8; 83 f.). Auch ­neuere Deutungen wie diejenigen von Williams (2009, 155 f.) und Gauly (2021, 23) betonen, dass man Ovid weder als ›pro-‹ noch als ›anti-augusteisch‹ bezeichnen kann. 77 Galinsky (1975, 246) verneint eine Vergil-aemulatio ebenso wie La Penna (2018, 123), während Baldo (1986, 109) diese als vorhanden ansieht und als »operazione critica e creativa che corrisponde all’esigenza di razionalizzazione e dilatazione retorica« bezeichnet, während er bezüglich imitatio von einer »ricerca di ›garanzie epiche‹« in Kombination mit einem »diverso orientamento« spricht (d. h. einer radikalen Loslösung von Moral und Inhalt). 78 Vgl. Lyne (1987) zur Two-Voices-Theorie; Most (1993, 40 [bezüglich der Batrachomyomachie]) zum Hervorgehen einer Parodie aus einem kanonischen Text: »So gesehen wird die Parodie nicht so sehr von außen her an einen kanonischen Text herangetragen, sondern sie wächst aus diesem selbst heraus und wird durch seine Diskrepanzen, Spannungen, Paradoxien erzeugt. […] Jede Parodie […] erfüllt als ihre Hauptabsicht eine Nebenabsicht ihrer Vorlage; was in der Vorlage als nebensächlich mitenthalten war, wird in der Parodie zur Hauptsache.« 79 Vgl. Due (1997, 353).

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ser eine ausführliche Darstellung liefert, und umgekehrt, sodass sich die zwei grundlegenden quantitativen Prinzipien seiner Veränderung mit den Begriffen ›Kompression‹ und ›Expansion‹ beschreiben lassen.80 Die Metamorphosen stellen einige in der Aeneis nur kurz erzählte Aspekte und Verwandlungssagen ausführlich dar und bauen damit auf dem dort bereits Angelegten auf (so z. B. hinsichtlich des Schicksals der Hecuba) oder aber sie erzählen Geschichten und insbesondere Verwandlungen, die Vergil ›verschweigt‹.81 Nach dem Überblick über die Inhalte des italisch-römischen Teils der Metamorphosen und insbesondere über die Forschung zur darin enthaltenen ›Kleinen Aeneis‹ erfolgt nun die Einzelanalyse der relevanten Stadt-Kapitel. Dabei werden die Darstellung und Funktion von Ovids Karthago, Ardea und Croton sowie natürlich vor allem von Rom untersucht, wie es sich in den Episoden rund um Romulus, Pythagoras, Asclepius und Caesar darstellt. Keine eigenständige Behandlung erfahren die auf italischem Boden spielenden, aber keinen direkten Bezug zu Rom aufweisenden Episoden in Buch 14, namentlich diejenigen um Aeneas’ Ankunft in Latium mit den eingeschobenen Erzählungen von den Gefährten des Diomedes und vom wilden Ölbaum (Ov. met. 14,441–526), von der Schiffsverwandlung (14,527–565), von Aeneas’ Apotheose (14,581–608), von den Latiner-Königen (14,609–621) sowie von Vertumnus und Pomona einschließlich der Binnenerzählung von Iphis und Anaxarete (14,622–771). In Buch 15 ist einzig die Episode um Hippolytus (15,479–546) nicht direkt für das Thema dieser Untersuchung relevant. Nach der abschließenden Analyse des Epilogs soll in den Schlussfolgerungen ein Gesamtbild von Ovids Rom ermittelt und dieses in den Kontext der anderen ›Hauptstädte‹ des Werkes eingeordnet werden.

6.1  Aeneas besucht Karthago (14,75–84) Bereits im Proömium von Vergils Aeneis erscheint Karthago an prominenter Stelle (Verg. Aen. 1,12 f. Urbs antiqua fuit … / Karthago). Die dort lokalisierte Handlung umrahmt das komplette erste Werkdrittel (Buch 1–4) und stellt damit die bedeutendste Etappe auf der Flucht der Aeneaden von Troja nach Italien dar.82 In Ovids Metamorphosen hingegen ist die Karthago-Episode – wie andere Erzählungen seiner ›Kleinen Aeneis‹ auch – nur eine recht beiläufig erzählte Geschichte inmitten verschiedener Verwandlungserzählungen: Die wenigen Verse mit der dort lokalisierten Handlung sind als Teil der Weiterfahrt der Trojaner nach Italien (Ov. met. 14,75–90) zwischen die Geschichten über Glaucus und Circe (14,1–74) sowie die Cercopen (14,91–100) eingeschoben. 80 Vgl. Döpp (1968, 131); Hinds (1998, 106); Papaioannou (2005, 1 f.; 9 f.; 44). 81 Vgl. Döpp (1968, 140). 82 Vgl. Behm (2019a, 280–283).

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Die Handlung lässt sich in drei kurze Abschnitte gliedern: Zunächst wird ­ eneas an die Gestade Libyens verschlagen (14,75–77), dann folgt eine synA optische Darstellung seiner Liebesaffäre mit der karthagischen Königin Dido (14,78–81), schließlich flüchten die Trojaner von dort nach Sizilien (14,82–84). Die folgende Analyse demonstriert, wie Ovid nach der Buthrotum-Episode (vgl. Kap. 5.8) die Technik der literarischen Kompression ein weiteres Mal ins Ex­ treme führt, indem er den Inhalt vieler hundert Vergil-Verse bzw. ganzer AeneisBücher in einem einzigen Wort oder in wenigen Versen zusammenfasst.

6.1.1 Analyse Nachdem die Trojaner vor Sizilien Scylla und Charybdis entronnen sind, werden sie von einem Sturm an die afrikanische Küste verschlagen (14,76 f. cum iam prope litus adessent / Ausonium, Libycas vento referuntur ad oras).83 Die Nebeneinanderstellung der geographischen Bezeichnungen ›Ausonien‹ und ›Libyen‹ markiert den Kontrast zwischen dem Ziel der Reise und der Gegend, in der sich die Trojaner tatsächlich wiederfinden. Die gesamten Begleitumstände, die zu diesem unfreiwilligen Zwischenstopp führen, werden durch die bloße Angabe vento zusammengefasst: Ovid komprimiert den ausführlich dargestellten Seesturm aus dem ersten Aeneis-Buch in einem einzigen Wort.84 Den Handlungskern von Aeneis 4 fasst Ovid daraufhin in nur vier Versen zusammen, indem er die gastliche Aufnahme des Aeneas durch Dido, deren euphemistisch dargestellte Trauer über die Abreise des Helden sowie ihren Selbstmord aufführt (Ov. met. 14,78–81):85 excipit Aenean illic animoque domoque non bene discidium Phrygii latura mariti Sidonis, inque pyra sacri sub imagine facta  incubuit ferro deceptaque decipit omnes.

Dort nimmt die Sidonierin Aeneas in ihr Herz und in ihr Heim auf, sie, die die Trennung von ihrem trojanischen Mann nicht gut vertragen sollte; und nachdem sie unter dem Trugbild eines Opferrituals einen Scheiterhaufen er­ richtet hat, stürzt sie sich in ihr Schwert, und die Getäuschte täuscht alle.

83 Vgl. Verg. Aen. 1,158 Libyae vertuntur ad oras; Hesekamp (2021, 219 mit Fn. 561) zur randständigen Behandlung von Africa in den Metamorphosen. 84 Ovid ersetzt den vergilischen Seesturm durch denjenigen in der Episode von Ceyx und Alcyone (Ov. met. 11,410–748; vgl. Kap. 5.2 zu den Bezügen zur Troja-Handlung); vgl. Hardie (2015, zu 15,75–77). 85 Vgl. Hardie (2011, 3); Hardie (2015, z. St.) zu ähnlichen Résumés ganzer Bücher oder Werke (nicht nur) bei Ovid (vgl. z. B. Ov. fast. 3,545 f. ≈ Verg. Aen. 4). Due (1997, 357) hält die vier Verse zu Karthago für »a perfectly loyal, though very Ovidian, summary of the fourth Aeneid«.

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Das Verb excipit resümiert die anfänglichen Szenen am lybischen Strand, den Weg nach Karthago und das Erblicken der Stadt bei Vergil. Anstelle einer Beschreibung Karthagos verwendet Ovid lediglich das Lokaladverb illic als Hinweis auf den Schauplatz des Geschehens. Allein das Wort domo deutet Karthago als gebaute Stadt an, konkret den Palast der ebenfalls nicht namentlich genannten Königin. Die Wendung animoque domoque suggeriert für einen Augenblick eine positive Stimmung in dem für Aeneas fremden Land, die aber durch den mit non beginnenden nächsten Vers sogleich wieder gebrochen wird. Anstatt die beiden Protagonisten beim Namen zu nennen, verweist Ovid durch die Toponyme Phrygius bzw. Sidonis auf das kleinasiatische Troja bzw. die in Phönizien gelegene Stadt Tyrus als ihre jeweilige Herkunft.86 Dies unterstreicht einerseits den Zusammenprall zweier Kulturen, der den späteren Dauerkonflikt zwischen Rom und Karthago vorwegnimmt (vgl. 14,77 Ausonium – Libycas), evoziert andererseits jedoch auch die Tatsache, dass beide Figuren einen ähnlichen Mi­ grationshintergrund als Flüchtlinge aus einer nahöstlichen Heimat haben. Indem Didos Tod direkt mit Aeneas’ Abreise aus Karthago (discidium) verknüpft wird, erscheint ihr Selbstmord zumindest indirekt als notwendige Vorbedingung für die spätere Gründung Roms.87 Der letzte Abschnitt der hier untersuchten Passage beschreibt die Abreise der Trojaner aus Afrika (14,82–84): Rursus harenosae fugiens nova moenia terrae ad sedemque Erycis fidumque relatus Acesten sacrificat tumulumque sui genitoris honorat.

Auf der Flucht von den neuen Mauern des sandigen Landstrichs gelangt er wieder zur Stätte des Eryx und zum treuen Acestes, bringt ein Opfer dar und ehrt das Grab seines Vaters.

Das Adverb rursus verdeutlicht die Kürze des Aufenthalts und leitet die Wegfahrt ein.88 Erst hier, im Augenblick der Abkehr von Karthago, erfährt die Darstellung der Topographie eine Ergänzung: Durch harenosae … terrae benennt Ovid den sprichwörtlichen Sandreichtum der afrikanischen Küste.89 Das Wort moenia erlaubt noch einmal einen zumindest schematischen Blick auf Karthago. Doch während der vergilische Aeneas die Mauern der Stadt vor deren Betreten erblickt (Verg. Aen. 1,437 quorum iam moenia surgunt), wird ihre Neuheit bei 86 In der Aeneis wird die Junktur Phrygius maritus von Juno verwendet (Verg. Aen. 4,103 liceat Phrygio servire marito) – die Parallelstelle deutet darauf hin, dass Ovid einmal mehr eine romfeindliche Sichtweise aus der Perspektive des Erzählers wiedergibt; vgl. Baldo (1995, 63 f.); Casali (2006; 2007; 2018) zu analogen Stellen, in denen sich eine romkritische Betrachtung erkennen lässt. 87 Vgl. Augoustakis et al. (2019, 497). 88 Vgl. Hardie (2015, z. St.); die Verse Ov. met. 14,82–90 entsprechen im Wesentlichen dem Inhalt von Aeneis 5. 89 Vgl. z. B. 4,617 (Perseus-Episode) Libycas … harenas.

Aeneas besucht Karthago

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Ovid erst im Moment der Abfahrt durch das Attribut nova evoziert. Durch diesen impliziten Hinweis auf die landessprachliche Etymologie von Karthago als ›neue Stadt‹ ersetzt Ovid die Nennung des Stadtnamens.90 – Wenngleich Aeneas auf der Suche nach demjenigen Land ist, in dem er selbst derartige nova moenia errichten soll, stellen die karthagischen Mauern nicht den Zielort seiner Irrfahrten dar. Die Verbform fugiens verdeutlicht, dass Karthago eine weitere ›falsche‹ Stadt ist und dass die Flucht eine nochmalige Fortsetzung erfahren wird, wie sie in Form der Weiterfahrt nach Sizilien auch sogleich geschildert wird.91

6.1.2 Fazit Ganz im Gegensatz zur Version Vergils, der seinen Helden Aeneas auf die entstehenden Bauten der Stadt blicken lässt, wird Karthago bei Ovid weder namentlich benannt noch ausführlich beschrieben. Die wichtigen Handlungsorte der Aeneis wie der Palast Didos und der Ort ihres Todes werden in den Metamorphosen nur indirekt evoziert; der Protagonist nimmt Karthago nicht im Sinne des Anschauungsraums wahr.92 Auch die Untersuchung des Aktionsraums zeigt, wie Ovid die KarthagoHandlung auf ihren inhaltlichen Kern reduziert und die bei Vergil spürbare historische Dimension des Geschehens ausklammert:93 Er konstatiert die Ankunft der Trojaner, ihren Aufenthalt und die abrupte Abreise derart kurz, dass der Eindruck entsteht, es handele sich nur um wenige Tage. Damit erweist sich die Karthago-Episode in noch stärkerem Maße als Epitome eines epischen Referenztextes,94 als wir dies hinsichtlich der Darstellung des Trojanischen Krieges in der homerischen Ilias beobachten konnten. Der Verweis auf die Hintergrundräume Troja und Phönizien vermittelt gleichermaßen eine Parallele zwischen den Protagonisten Aeneas und Dido wie auch einen Kontrast zwischen ihren aktuellen bzw. zukünftigen Städten Rom und Karthago. Die Betrachtung des gestimmten Raumes verdeutlicht, dass Karthago noch nicht das Ziel von Aeneas’ Reise ist. Zum einen wird der Held durch einen Sturm unfreiwillig von Italien nach Libyen verschlagen, zum anderen steht Karthago im Sinne der symbolischen Funktion des Raumes auch in einem Spannungsfeld zu Sizilien als nächster Etappe auf dieser Reise: Sowohl durch das neutrale Bewegungsverb relatus (im Gegensatz zu fugiens) als auch durch 90 Vgl. Verg. Aen. 1,298 novae … Karthaginis arces; Austin (1971, z. St.); Papaioannou (2005, 12). 91 Zu den gescheiterten Stadtgründungen der Aeneaden in Thrakien und auf Kreta vgl. Behm (2019a, 272 Fn. 57) mit weiterführender Literatur. 92 Vgl. Hardie (2015, zu Ov. met. 14,78–81; 82–90). 93 Vgl. Döpp (1968, 134). 94 Vgl. Hardie (1993, 106).

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die eng mit Aeneas verbundenen Gestalten Eryx und Acestes wird jener Ort in ein positiveres Licht gerückt. Hieran zeigt sich unmittelbar die psychologische Funktion des Raumes, da Aeneas sich von der negativ konnotierten Zwischenstation Karthago abwendet und stattdessen zu dem für ihn positiv besetzten Ort Sizilien strebt. Sowohl der Protagonist als auch der Dichter lassen Karthago also schnellstmöglich hinter sich, doch ohne dass Ovid den Erzählabschnitt zu einer tiefergehenden Charakterisierung seiner Figuren nutzen würde, wie Vergil dies tut. Auch die Gesamtdimension der späteren Rivalität der Stadt mit Rom scheint bei Ovid nicht derart durch wie bei Vergil, sodass man festhalten kann, dass Karthago nur eine geographische Station auf der Reise des ovidischen Aeneas ist.95

6.2  Turnus fällt zugleich mit Ardea (14,566–580) Ardea bezeichnet sowohl einen Ort an der Küste von Latium als auch einen Vogel, den Reiher.96 Die so benannte Stadt der Rutuler97 ist in der lateinischen Literatur vor allem durch ihren König Turnus bekannt, den Widersacher des trojanischen Helden Aeneas bei den Kämpfen in Italien in der zweiten Hälfte der vergilischen Aeneis. Der Fisch- bzw. Graureiher (ardea cinerea) wiederum wird bereits bei Aristoteles und später unter anderem bei Plinius dem Älteren erwähnt.98 Wie sich aus einer Stelle der Georgica ersehen lässt, war dieser auch mergus genannte Vogel auch Vergil nicht unbekannt (Verg. georg. 1,363 f. notasque paludes / deserit atque altam supra uolat ardea nubem).99 In der Aeneis hingegen erwähnt der Dichter nicht den Vogel, aber die gleichnamige Stadt, als er das Wirken der Furie Allecto beschreibt, die Turnus zum Krieg gegen den Ankömmling Aeneas aufstachelt (Verg. Aen. 7,411–414): locus Ardea quondam dictus avis, et nunc magnum manet Ardea nomen, sed fortuna fuit. tectis hic Turnus in altis iam mediam nigra carpebat nocte quietem.

Der Ort wurde einst von den Vorfahren Ardea genannt, und auch jetzt noch bleibt ihm sein bedeutender Name Ardea, doch seine Blüte ist vergangen. Hier verbrachte Turnus in seinem hohen Palast gerade den mittleren Teil des Schlafes in schwarzer Nacht.

95 Vgl. Baldo (1995, 63 f.); Fabre-Serris (1995, 137–141). 96 Bei einer Majuskelschreibweise ist eine Unterscheidung von Ort und Tier also nur im entsprechenden Kontext möglich. 97 Ardea war seit 442 v. Chr. eine römische Kolonie (vgl. Liv. 4,9–11) und verfiel in spätrepublikanischer Zeit. 98 Vgl. DNP, »Reiher«. 99 Vgl. Erren (2003, zu 1,364).

Turnus fällt zugleich mit Ardea

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Allecto findet den König der Rutuler schlafend in seiner Stadt vor, über die es heißt, von ihrer einstigen Blüte sei nicht mehr als der Name geblieben. Das Wort avis steht hier im Dativ Plural, doch unter Missachtung der metrischen Quantitäten des Hexameters (sowie des maskulinen Genus) ließe es sich auch als Nominativ Singular des (femininen) lateinischen Wortes für ›Vogel‹ (avis, is) interpretieren. Eine derartige ›pervertierte‹ oder ›ornitophile‹ Lesart ist bereits von der antiken Vergil-Exegese in den Blick genommen worden.100 Dem Aeneis-Kommentar des Servius zu den Worten magnum tenet101 ardea nomen haben wir eine Lesart von Vers 7,411 zu verdanken, die auch in einigen jüngeren Handschriften überliefert ist, nämlich ardua statt Ardea (Serv. Aen. 7,412):102 bene adlusit: nam Ardea quasi ardua dicta est, id est magna et nobilis, licet Hyginus in Italicis urbibus ab augurio avis ardeae dictam velit. illud namque Ovidii in metamorphoseos [XIV 574] fabulosum est, incensam ab Hannibale Ardeam in hanc avem esse conversam. sciendum tamen ardeam avem κατὰ ἀντίφρασιν dictam, quod brevitate pennarum altius non volat: Lucanus [V 553] »quodque ausa volare ardea sublimis pennae confisa natanti.«

Er macht eine geschickte Anspielung: Denn Ardea ist nach ardua (›hochragend‹) benannt worden, d. h. bedeutend und edel, mag auch Hygin behaupten, es sei in den italischen Städten nach einem Vogelzeichen des Vogels ardea benannt worden sein. Denn es ist auch in den Metamorphosen des Ovid nach Art eines Mythos gesagt worden, dass Ardea von Hannibal in Brand gesteckt worden und in diesen Vogel verwandelt worden sei. Wissen sollte man aber auch, dass der Vogel ardea durch eine Antiphrase benannt worden ist, weil er durch die Kürze seiner Flügel nicht allzu hoch fliegt. Lucan sagt: »Und weil der Reiher es gewagt hat, hoch zu fliegen im Vertrauen auf seinen schwankenden Flügel.«

Servius erklärt also, Vergil spiele auf eine etymologische Ableitung des Namens der Stadt Ardea von dem Adjektiv arduus (›steil‹, ›hochragend‹) an; nach der Interpretation Hygins sei die Stadt nach dem Vogel ardea benannt worden, nicht aber umgekehrt dieser nach der Stadt, wie Ovid in den Metamorphosen fälschlicherweise behaupte.103 Des Weiteren weist Servius auf die Antiphrase bei der Benennung des Vogels hin: Dieser sei nicht etwa aufgrund seiner großen möglichen Flughöhe ardea genannt worden, sondern sei gerade nicht dazu in der Lage, allzu hoch aufzusteigen.

100 Horsfall (2000, z. St.); vgl. Andrae (2003, 193); Casali (2006, 162). 101 Zu den Textvarianten an dieser Stelle vgl. Horsfall (2000, z. St.); Casali (2006, 162 Fn. 23). 102 Vgl. Horsfall (2000, zu Verg. Aen. 7,412). – Servius verlegt das Geschehen versehentlich von der Zeit nach dem Trojanischen Krieg (zwölftes Jahrhundert v. Chr.) in den Zweiten Punischen Krieg (218–201 v. Chr.), vgl. Haynes (2016, 218 f.). 103 Vgl. Ahl (1985, 265 Fn. 29); Casali (2006, 162). Zur Ovid-Rezeption bei Servius vgl. Haynes (2016, bes. 216 f.) und Delvigo (2019, bes. 51–54).

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Jenseits der möglichen Anspielung auf die Etymologie von Ardea104 bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass Vergil die Stadt zeitgleich mit ihrem König in seine Erzählung einführt. Er berichtet nicht, wann und weshalb Ardea verschwindet, sondern deutet den Untergang der Stadt nur an, indem er vom Gegensatz zwischen ihrem einstigen Wohlergehen und ihrem gegenwärtigen Schattendasein berichtet (Verg. Aen. 7,411 quondam – 7,412 nunc).105 – Der Tod des Turnus indes bildet den Schlusspunkt der Aeneis; er ist für die Gesamtinterpretation des Werkes von entscheidender Bedeutung und muss vielleicht als dessen am schwierigsten zu beurteilende Szene gelten: Aeneas’ unerbittliche Rache für den Tod des jungen Pallas, dessen Wehrgehenk er an dem schutzlos vor ihm liegenden Turnus erblickt (12,938–952; 12,946 f. furiis accensus et ira / terribilis), wirft die Frage nach der moralischen Bewertung des trojanischen Helden und damit der geschichtlichen Mission der Römer insgesamt auf (vgl. die berühmten Worte aus der Anchises-Prophetie: 6,853 parcere subiectis).106 Die Ardea-Episode in den Metamorphosen beinhaltet eine der merkwürdigsten Erzählungen des gesamten Werkes, handelt sie doch von der Verwandlung einer Stadt in ein Tier.107 Daneben ist sie vor allem interessant, weil sie eine Art intertextuellen Raum eröffnet, in dem die Deutung der Aeneis teilweise neu verhandelt wird: Ovid nimmt eine gewichtige Veränderung gegenüber der vergilischen Ardea-Szene vor, indem er die laut Servius von Vergil allusiv evozierte aitiologische Beziehung zwischen der Stadt und dem gleichnamigen Vogel in ihr Gegenteil verkehrt: Demnach ist nicht Ardea nach dem Reiher benannt, sondern dieser nach der untergehenden Stadt.108 Diese Veränderung des vergilischen Referenztextes sieht Casali (2006, 163 f.) als Beispiel für eine kritische Bezugnahme Ovids auf die vermeintlich kanonische Version seines Vorläufers.109

104 Horsfall (2000, zu Verg. Aen. 7,412) äußert sich eher skeptisch zur Wahrscheinlichkeit eines Wortspiels bei Vergil, da diese Annahme allein auf späteren Quellen basiere. 105 Vgl. Casali (2006, 161 f.). 106 Vgl. einführend Suerbaum (2011, 345–353) zur kritischen Sichtweise der Harvard School sowie zu gegensätzlichen Forschungspositionen, in denen die Rache des pius Aeneas im Gesamtkontext positiver bewertet wird. 107 Tissol (2002, 324). Vgl. auch die Erwähnung des Reihers in Ov. fast. 2,721–730 (Beginn der Lucretia-Erzählung). Sharrock (2019, 283) bewertet diese Episode als eine (weitere) ›AntiAeneis‹ innerhalb der Metamorphosen. 108 Damit zählt die Geschichte zu den geographischen Aitien über die Entstehung von Ortsbezeichnungen; vgl. Ov. met. 8,233–235 (Icaria); 14,89 f. (Pithecusae); Myers (1994, viii– ix; 39). Ähnliche Vogelverwandlungen wie hier stellen auch die Metamorphose der Memnoniden (13,600–619) sowie die des Phoenix (15,391–407) dar. 109 Zu den sprachlichen Parallelen zwischen der Metamorphosen- und der Aeneis-Passage zu Ardea vgl. Andrae (2003, 192 f.).

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Die nur 15 Verse lange Ardea-Erzählung besteht aus drei Abschnitten: Eine kurze Einleitung verbindet sie mit der vorher erzählten Schiffsverwandlung (Ov. met. 14,566 f.), bevor der Hauptteil das Ende des Krieges in Latium und den Fall von Turnus und Ardea schildert (14,568–575). Am Ende folgt die Verwandlung der Stadt in einen Reiher mit dem Aition seines Namens (14,576–580). Innerhalb des vorletzten Metamorphosen-Buches steht die Episode im Kontext der geographischen Annäherung an Rom, sie folgt auf die Verwandlung der trojanischen Schiffe (14,527–565). Für viele Interpreten markiert sie das Ende der ›Kleinen Aeneis‹. Sie bereitet auf die von Ovid im Folgenden erzählten, bei Vergil hingegen nicht mehr dargestellten Ereignisse nach dem Tod des Turnus, die Gründung Roms und die Apotheose des Romulus (14,772–851) vor.

6.2.1 Analyse Das Ende des Krieges in Latium (14,566–575) Nachdem Ovid einleitend konstatiert hat, dass auch die von Cybele bewirkte Verwandlung der trojanischen Schiffe in Meeresnymphen Turnus nicht zur Aufgabe seines Widerstandes hat bewegen können (14,566 f.),110 schildert er den unerbittlichen Fortgang des Krieges (14,568–572). Die dreifache Anapher von nec (14,569 f.) unterstreicht die Aufgabe der eigentlichen Kriegsziele durch beide Kriegsparteien – sowohl für die Trojaner als auch für die Rutuler geht es nur noch um den Sieg um des Sieges willen (14,571 vicisse petunt).111 Der Raum verliert damit seine thematische Funktion, da die Kontrahenten nicht mehr um Lavinia und die dotalia regna (14,569) ihres Vaters kämpfen. Als finales Ereignis des Krieges in Latium schildert Ovid sodann den Fall von Turnus und Ardea (14,572–575):112 tandemque Venus victricia nati arma videt, Turnusque cadit; cadit Ardea, Turno sospite dicta potens. quam postquam barbarus ignis abstulit et tepida latuerunt tecta favilla … 

Und endlich sieht Venus die Waffen ihres Sohnes siegen, und Turnus fällt; es fällt Ardea, das mächtig genannt wurde, solange Turnus am Leben war; nachdem das Feuer der Barbaren diese [Stadt] zerstört hatte und die Dächer unter der noch warmen Asche begraben lagen, …

110 Indem Ovid ohne große Umschweife von der Verwandlung der Schiffe zum Tod des Turnus übergeht, überspringt er in wenigen Versen die Ereignisse von mehreren Büchern der Aeneis (von Buch 9 geht er direkt zu den Ereignissen am Ende von Buch 12 über); vgl. Kap. 6.1; Behm (2019a, 283). 111 Vgl. Galasso (2006, 268). 112 Statt latuerunt ist fast einhellig patuerunt überliefert.

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Bereits der Auftakt von Vers 14,573 weckt Assoziationen an Vergils Aeneis, da die ersten drei Silben arma vi- identisch mit deren Anfang sind (Verg. Aen. 1,1 Arma virum). Darauf fällt das Schlagwort Turnus, und mit dessen Tod (Ov. met. 14,573 Turnusque cadit)113 weiß der Leser sich inhaltlich am Finale von Vergils Epos angekommen. Indem Ovid das Ende des Rutuler-Königs jedoch mitten im Vers platziert (zwischen Trit- und Hephthemimeres), lässt er den Schluss seiner Aeneis-Nachbildung mindestens ebenso unerwartet erscheinen wie Vergil den Stimmungswandel des Aeneas in dem Moment, als dieser durch den Anblick von Pallas’ Wehrgehenk an Turnus davon abgehalten wird, seinen Gegner zu verschonen (Verg. Aen. 12,940 f. iam iamque magis cunctantem flectere sermo / coeperat). Ovids ›Kleine Aeneis‹ bricht damit noch abrupter ab als Vergils Epos.114 Mit dem Tod des Turnus endet bei Ovid jedoch kein Buch oder zumindest ein Erzählabschnitt,115 sondern er verknüpft dieses Ereignis eng mit einem weiteren elementaren Geschehen: Wie durch die Anadiplose von cadit (Ov. met. 14,573) und die chiastische Stellung von Turnus und Ardea um diese Worte herum emphatisch betont wird, stehen der Tod des Rutuler-Königs und der Untergang seiner Stadt in einer unmittelbaren Verbindung zueinander.116 Damit zeigt sich an dieser Stelle ein typisches Muster, das wir bereits bei der Darstellung vom Fall Trojas beobachten konnten, der mit dem Ende des Königs Priamus verknüpft wurde (13,404 Troia simul Priamusque cadunt; vgl. Kap. 5.6). Ovid unterstreicht die Analogie am Ende seiner ›Kleinen Aeneis‹ also durch eine weitere Referenz auf Troja (14,573 f. Ardea, Turno / sospite dicta potens).117 Die oben zitierten Verse 14,574 f. werfen mehrere textkritische Probleme auf: 1) Zunächst ist der grammatikalische Bezug des Relativpronomens zu diskutieren. Die Mehrzahl der bisherigen Herausgeber hat sich anstelle von quam, der zuletzt von Tarrant gedruckten lectio facilior, für quem entschieden.118 Das maskuline Pronomen bezöge sich auf den absoluten Ablativ Turno / sos­ pite, die feminine Variante auf das nähere Ardea … / … dicta potens und somit auf die diesen Ablativ einrahmenden Wörter. Die Entscheidung darüber, ob Ovid den Schwerpunkt auf den Fall der Stadt oder den Tod der Figur legt, 113 Vgl. Verg. Aen. 12,926 f. incidit … / … Turnus; Hardie (2015, zu Ov. met. 14,572 f.). 114 Glei (1998, 101) deutet dies als Parodie; vgl. Andrae (2003, 189). 115 Vgl. Casali (2018, 359) zu Ovids Verweigerung von ›closure‹. 116 Vgl. Bach (2020, 178): »Turnus est sa ville« [Hervorhebung im Original]. 117 Vgl. 15,440 non tota cadet te sospite Troia; Papaioannou (2005, 193 f.) zur Verbindung von Hector und Troja. 118 Die Schreibweise quam könnte unter anderem durch das nachfolgende postquam beeinflusst sein – ein solches Versehen eines Abschreibers lässt sich allerdings nicht als saut du même au même definieren.

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hängt auch von der Wahl des Substantivs des Relativsatzes (und damit von Punkt 2) ab sowie davon, wie man das zugehörige Prädikat abstulit versteht. Die Verwendung von auferre zur Beschreibung eines menschlichen Todes ist gängig;119 der Bezug des Verbs auf den Untergang einer Stadt ist zwar ungewöhnlich, kann aber mit Blick auf eine Parallelstelle in den Fasten nicht ausgeschlossen werden.120 2) Neben der Hauptüberlieferung ensis existiert auch die Variante ignis. Die Sinnhaftigkeit dieser beiden Substantive steht und fällt mit dem vorherigen Relativpronomen: ensis bezöge sich auf die Ermordung des Turnus (quem), ignis hingegen auf den Untergang Ardeas (quam). Anderson druckt in seiner Edition quem barbarus ensis, wohingegen Tarrant sich für quam barbarus ignis entscheidet, um sich davon jedoch im kritischen Apparat sogleich wieder zu distanzieren (»ensis … fort. recte«). Auch Casali (2018, 359; vgl. 2006, 164 f.) hält barbarus ensis für die wahrscheinlich richtige Lesart,121 mit der Ovid auf das problematische Ende der Aeneis anspiele (hiermit steht wiederum Punkt 3 in Verbindung). Während die Entscheidung für ignis bedeuten würde, dass Ovid den Brand der Stadt in beinahe zwei Versen ausführen würde und sich nicht weiter auf Turnus bezöge, würde ensis dazu beitragen, die beiden zuvor genannten Aspekte (Stadt und König) in ausgeglichener Weise auszuführen. 3) A ls Adjektiv zu ensis bzw. ignis ist in sämtlichen Handschriften barbarus überliefert. Die Attribuierung des Aeneas bzw. der Trojaner (unabhängig von der in Punkt 2 getroffenen Entscheidung für das Substantiv) als ›fremd‹ bzw. ›barbarisch‹ haben einige Philologen als problematisch empfunden; deswegen schlug Heinsius die Konjektur Dardanus vor.122 Zwar lässt sich eine Parallelstelle aus Buch 14 anführen, in der die Trojaner ebenfalls mit diesem Adjektiv bezeichnet werden (14,163 f. »cur« inquit »barbara Graium / prora vehit?«), doch ist es dort der Grieche Macareus, der gegenüber seinem Landsmann Achaemenides von einem ›barbarischen Schiff‹ spricht.123 An der hier betrachteten Stelle stammen die Worte ›barbarisches Schwert/Feuer‹, so man sie denn als richtige Lesart akzeptiert, jedoch aus dem Mund des Erzählers, der damit die Perspektive der Feinde Trojas einnimmt. Insofern scheint Ovid hier also eine kritische Sichtweise auf die trojanischen Zerstörungen in Ita-

119 Vgl. z. B. 8,709 (Philemon und Baucis) auferat hora duos eadem; Hor. carm. 2,16,29 abstulit clarum cita mors Achillem; ThLL, »aufero« II B 2 b. 120 Vgl. Myers (2009, zu Ov. met. 14,574 f.); Ov. fast. 4,873 f. (Vinalien) utque Syracusas Arethusidas abstulit armis / Claudius et bello te quoque cepit, Eryx. 121 Ebenso Junod (1991, 73 f.); vgl. Thomas (2009, 303). 122 Allein Bömer (1986, z. St.) scheint von einem ›indifferenten‹ Gebrauch von barbarus auszugehen. Hardie (2015, z. St.) beurteilt Heinsius’ Konjektur als gelungen. 123 Vgl. auch Tibull. 2,5,48, wo gerade Turnus als barbare apostrophiert wird.

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lien abzubilden.124 Es muss aber andererseits auch festgehalten werden, dass die Römer mit dem Wort barbarus alle Menschen bezeichneten, die weder griechischer noch römischer Herkunft waren.125

Die Verwandlung von Ardea (14,576–580) Die Metamorphose von Ardea wird direkt mit der vorangehenden Beschreibung des Untergangs der Stadt verbunden (14,575 f.).126 Die Worte tum primum (14,576) machen auf den aitiologischen Charakter der nachfolgenden Schilderung aufmerksam. Ovid beschreibt die Entstehung des Graureihers (ardea cinerea; vgl. 14,577 cineres), der sich aus dem Aschehaufen der zerstörten Häuser erhebt und somit gleichermaßen die untergegangene Stadt verlässt.127 In den folgenden drei Versen gibt er die Gemeinsamkeiten von ardea und Ardea an (14,578–580): et sonus et macies et pallor et omnia captam quae deceant urbem, nomen quoque mansit in illa urbis, et ipsa suis deplangitur Ardea pennis. 

Sowohl die Stimme als auch die Magerkeit, die Blässe und alles, was zu einer eroberten Stadt passt, auch der Name der Stadt ist ihm geblieben, und der Reiher [Ardea] bejammert sich selbst mit seinen eigenen Flügeln.

Ovid benennt zwar drei Eigenschaften des neuen Vogels (Klagegeräusch, Magerkeit, Blässe), fasst aber alles Weitere in der Sammelformel omnia captam / quae deceant urbem zusammen. Indem er abschließend die Permanenz des Namens beschreibt (nomen quoque mansit), betont der Dichter die Kontinuität zwischen Ausgangs- und Zielobjekt der Verwandlung. Eine letzte Parallele besteht in dem klagenden Geschrei des Vogels – auch dieses erinnert zwar an eine Stadt, doch anders als ein typischer Stadtuntergang hat die Trauer des Reihers keine Zuschauer (ipsa suis deplangitur Ardea pennis).128

124 Vgl. Casali (2006, 164 f.); Myers (2009, z. St.); Kap. 4.4 zur Verwandlung von Procne und Philomela von Athenerinnen in ›Barbarinnen‹ im Laufe ihres Aufenthalts in Thrakien (6,412–674). 125 Vgl. ThLL, »barbarus« I B; II A; Cic. rep. 1,58 (Scipio) num barbarorum Romulus rex fuit?; Giusti (2018, bes. 22–48) zum Barbaren-Konzept in der Zeit des Augustus. 126 Erneut entstehen Assoziationen zum Untergang Trojas (vgl. 13,421 patriae fumantia tecta); vgl. Papaioannou (2005, 191 f.). Wie Hardie (2011, 5) herausarbeitet, enden die ovidische ›Ilias‹ und ›Aeneis‹ zueinander parallel mit dem Untergang von Troja bzw. Ardea. 127 Vgl. Jolivet (2011, 8 f.) zur Bedeutung dieses Aufsteigens; 15,391–407 zur Metamorphose des Phoenix. 128 Vgl. Jolivet (2011, 6).

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6.2.2 Fazit Der einzige Schauplatz der Ardea-Episode ist die Stadt der Rutuler. Ihr Fall stellt gewissermaßen ein italisches Äquivalent zum Untergang Trojas dar.129 Das Ende von Ardea wird mit dem seines Königs Turnus verknüpft; allerdings wird an keiner Stelle eine räumliche Koinzidenz dieser Ereignisse explizit gemacht, man erfährt also nicht den genauen Todesort des Königs.130 Im Fokus steht der Untergang der Stadt und nicht der Tod des Turnus als der berühmte Schlusspunkt der Aeneis. Die Stadteroberung beschreibt Ovid ohne Details; er erwähnt nur summarisch rußbedeckte Häuser als Bestandteil des Anschauungsraums und ruft dann im Zuge der Verwandlung der Stadt den Topos der urbs capta auf, der zuallererst auf Troja im vergilischen Referenztext verweist, ohne diesen weiter auszuführen.131 Statt Einzelheiten zu schildern und damit Anschaulichkeit zu erzeugen,132 verwendet Ovid eine Sammelformel (Ov. met. 14,578 omnia), die dem Leser abverlangt, sich das Bild einer untergehenden Stadt vorzustellen, wie der Dichter es in seiner Erzählung von der Schlacht der Centauren und Lapithen evoziert hatte (12,225 captae … urbis imago). Eine Betrachtung des Aktionsraums dieser Episode erweist sich als weitgehend unergiebig, da das Aufsteigen des Vogels aus der Asche der zerstörten Stadt (14,577 subvolat)133 die einzige erkennbare räumliche Bewegung ist.134 Im Sinne der symbolischen Funktion des Raumes lässt sich festhalten, dass der vertikale Aufstieg des Verwandelten im Gegensatz zum Untergang der Stadt steht. Turnus steigt ebenso wie in der anschließenden Episode Aeneas (14,581–608) nach oben auf, doch wird die positive Bedeutung dieses Aufstiegs dadurch gemildert, dass es sich im Fall des Rutuler-Königs um eine Vogelverwandlung handelt und nicht etwa um eine Apotheose. 129 Fabre-Serris (1995, 130). 130 Otis (1966, 291 f.). 131 Vgl. Baldo (1995, 45 f.); Andrae (2003, 191); Jolivet (2011, 6) zu den möglichen Behandlungsweisen des Topos im Epos und in der Historiographie gemäß Quintilian, also im Sinne einer umfassenden Beschreibung oder alternativ als bloße Tatsachenerwähnung (Quint. inst. 8,3,67–70; 8,3,67 Sine dubio enim qui dicit expugnatam esse civitatem complectitur omnia quaecumque talis fortuna recipit, sed in adfectus minus penetrat brevis hic velut nuntius); vgl. dazu Rossi (2002, 235 f.); Webb (2009, 62 f.) zu der Quintilian-Passage als Beispiel für den rhetorischen Terminus der evidentia (gr. enargeia). In den Tristien instrumentalisiert Ovid den Topos als hyperbolischen Vergleichsmaßstab für sein Exilantenschicksal (Ov. trist. 1,3,26 facies Troiae, cum caperetur). 132 Vgl. Jolivet (2011, 5 f.). 133 Vgl. 14,577 subvolat et cineres plausis everberat alis ~ 14,507 (Gefährten des Diomedes) subvolat et remos plausis circumvolat alis. 134 Vgl. Papaioannou (2005, 187–197 ≈ 2003) zu einer weiteren Parallele zwischen der ovidischen ›Aeneis‹ und seiner ›Ilias‹: Ebenso wie aus der Stadt Ardea entsteht aus der Asche des Memnon etwas Neues (13,576–622).

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Der gestimmte Raum ist geprägt von einer Atmosphäre des Untergangs (14,573 cadit; cadit; 14,575 favilla; 14,578 f. captam / … urbem). Die Merkmale des Vogels ardea (14,578 sonus et macies et pallor; 14,580 deplangitur) illustrieren den Zustand der Stadt Ardea nach ihrer Zerstörung durch die Trojaner. Indem Ovid ein Tier mit den Eigenschaften einer menschlichen Stadt beschreibt, verwendet er die charakterisierende Funktion des Raumes auf so eigentümliche Weise wie vielleicht an keiner anderen Stelle der Metamorphosen. Eine bedeutsame Parallele zum wichtigsten Referenztext besteht in der Permanenz des Namens (nomen) Ardea: Genauso wie in der Aeneis bleibt auch in Ovids Text der Ruhm der Stadt erhalten, jedoch nicht im abstrakten Sinn, sondern ganz konkret in einem Lebewesen, auf das dieser Begriff übertragen wird. Während die Weiterexistenz des Namens Ardea bei Vergil allein auf die historische Vergänglichkeit der entsprechenden Stadt hinweist, signalisiert diese bei Ovid darüber hinaus auch den permanenten Aspekt einer Metamorphose. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Ovid das urbane Grundschema der vergilischen Aeneis geradezu ins Gegenteil verkehrt: Während die Gründung einer Stadt das zugrunde liegende Ziel von Vergils Epos ist, endet Ovids ›Kleine Aeneis‹ mit dem Untergang einer Stadt, wenngleich es sich bei dieser um Ardea handelt und nicht um Rom.135

6.3  Romulus gründet Rom (14,772–851) Die Ursprünge der Hauptstadt des Imperium Romanum zählen zu den meistbehandelten Themen der antiken Literatur.136 Wichtige Ereignisse der römischen Geschichte hatte man schon seit frühester Zeit in den Annales maximi festgehalten. Die reichhaltige auf diesen Pontifikalannalen sowie auf mündlicher Überlieferung basierende griechischsprachige Literatur über die Frühzeit Roms ist größtenteils verloren gegangen. Auf Griechisch ist auch noch das vermutlich um 200 v. Chr. entstandene Geschichtswerk des ersten als ›römisch‹ zu bezeichnenden Historiographen Fabius Pictor verfasst, das jedoch bis auf wenige Testimonien ebenfalls verloren ist.137 Fabius Pictor behandelte sowohl die Aeneas- als auch die Romulus-Sage,138 die er verschiedenen Epochen zuordnete. Sein Werk beeinflusste maßgeblich die Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnassos sowie die Bücher Ab urbe condita des Livius, die jeweils um die Zeitenwende entstanden. Vom genannten Livius und von Cato stammen die wichtigsten lateinischsprachigen in Prosa verfassten Berichte über die Früh-

135 Vgl. Hardie (2011, 3). 136 Vgl. Einleitung zu Kap. 6. 137 Vgl. DNP, »Fabius«. 138 Für einen Überblick zur literarischen Entwicklung der Legende von Romulus und Remus vgl. Gosling (2002, 64–66).

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geschichte Roms, entsprechende Dichtungen von Ennius und Vergil. Auf diese vier Referenztexte soll nun überblicksartig eingegangen werden. Im ersten Buch seiner größtenteils verlorenen Annalen (entstanden ca. 184–169 v. Chr.) behandelte Ennius die Flucht der Aeneaden aus Troja (Enn. ann. fr. 11–26 Sk.) ebenso wie die Sagen über die Geburt von Romulus und Remus (fr. 27–46 Sk.) sowie die Frühzeit von Romulus’ Herrschaft, einschließlich des Krieges gegen die Sabiner und der Apotheose des ersten Königs (fr. 47–57 Sk.). Ennius macht Romulus zu einem Enkel des Aeneas, sodass die Gründung Roms bei ihm auf etwa 1100 v. Chr. datiert.139 Das umstrittene Augurium, das zum Tod des Remus führt und über die Benennung der Stadt entscheidet, kennen wir durch die Sekundärüberlieferung bei Cicero (Cic. div. 1,48,107 = Enn. ann. fr. 47 Sk.):140 … In monte Remus auspicio sedet atque secundam solus avem servat. at Romulus pulcer in alto  75 quaerit Aventino, servat genus altivolantum. Certabant urbem Romam Remoramne vocarent.  … et simul ex alto longe pulcerrima praepes  86 laeva volavit avis. simul aureus exoritur sol, cedunt de caelo ter quattuor corpora sancta avium, praepetibus sese pulcrisque locis dant. Conspicit inde sibi data Romulus esse propritim  90 auspicio regni stabilita scamna solumque.

… Remus lässt sich auf dem Murcus zur Vogelschau nieder und erwartet einsam einen günstigen Vogel. Der schöne Romulus aber sucht vom hohen Aventin aus nach dem Volk hochfliegender Vögel. Sie stritten darum, ob sie die Stadt Roma oder Remora nennen sollten … Zugleich flog weit in der Höhe ein schöner Vogel zur Linken vorbei. Zugleich ging die goldene Sonne auf, und vom Himmel kamen dreimal vier heilige Vögel, und sie nahmen Kurs auf günstige und schöne Orte. Romulus meinte daraus zu erkennen, dass durch die Vogelschau der Thron und der Boden des Reiches ihm eigentlich gegeben worden waren.

Ennius lokalisiert die Vogelschau der Zwillingsbrüder auf dem Aventin141 und verbindet sie mit der Frage nach dem Namen der Stadt, die nach dem Sieg des Romulus Roma genannt wurde und andernfalls Remora geheißen hätte.142 139 Vgl. Skutsch (1985, 311–315); Schmitzer (2014, 139 f.) zur ›Aufsplittung‹ der römischen Gründungsfigur auf Aeneas und Romulus, um die verschiedenen Legenden miteinander zu vereinbaren; Ahl (2018, 44); Rebello (2019, 27). 140 Vgl. Rebello (2019, 30–36). Zur Ennius-Rezeption bei Cicero vgl. Skutsch (1985, 26–29). 141 Zur Überlieferung von Vers 74 vgl. Skutsch (1968; bes. 63–71; 1985, z. St.): Demnach befand sich Remus beim Augurium auf einem Felsen (Remuria) auf dem südwestlichen Aventin, der vormals als eigener Hügel namens Murcus bekannt war, Romulus hingegen auf dem eigentlichen Aventin. In der späteren literarischen Tradition wurde der Standort des Romulus auf den Palatin verlegt, da der Murcus nicht mehr als vom Aventin getrennt galt und die Brüder sich sonst nicht mehr auf zwei verschiedenen Hügeln gegenübergestanden hätten. – Zur komplizierten Frage der Bezeichnung der richtigen/günstigen Seite im antiken Rom vgl. Skutsch (ebd., z. St.); Kap. 4.1 zur Lage des Zimmers der Aglauros. Vgl. Coarelli (2000, 295–297) zur archäologischen Geschichte des Aventins. 142 Dieser hypothetische Alternativname für Rom ist wahrscheinlich eine Erfindung des Ennius; vgl. Skutsch (1985, z. St.).

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Die Gründung der Stadt und die römische Urgeschichte sind auch das Thema des ersten Buches der Origines von Cato dem Älteren, die er bis zu seinem Tod 149 v. Chr. verfasste und die jedoch nahezu vollständig verloren sind. Cato behandelte auch Roms Vorgänger Lavinium und Alba Longa.143 Die Gründung von Rom lässt sich in seinem Werk auf 752 v. Chr. datieren, das erste Jahr der siebten Olympiade, und weicht damit nur geringfügig von dem durch Varro kanonisierten Datum 753 v. Chr. (440 Jahre nach dem Fall Trojas) ab.144 Dieses Datum übernimmt auch Livius in seinem umfangreichen Geschichtswerk, das nicht nur – wie zahlreiche andere historiographische Werke der Römer – mit der Gründung Roms beginnt, sondern diese bereits in seinem in den Handschriften überlieferten Titel trägt. Das erste Buch von Ab urbe condita entstand um 27–25 v. Chr. und stellt vermutlich den wichtigsten Referenztext für Ovids Darstellung der römischen Frühgeschichte dar.145 Livius schildert die Gründung von Lavinium durch Aeneas, den siegreichen Krieg gegen die Rutuler und die Apotheose des Helden am Numicus. Sodann erzählt er von der Gründung der Kolonie Alba Longa146 durch Ascanius, von der Herrschaft der nachfolgenden latinischen Könige, vom Bruderstreit zwischen Numitor und Amulius sowie von der Aussetzung und Rettung der neugeborenen Zwillinge Romulus und Remus. Außerdem berichtet Livius auch von der Stadt Pallanteum auf dem Palatin,147 bevor er zum eigentlichen Moment der römischen Stadtgründung übergeht (Liv. 1,6,3–7,3):

143 Eine Besonderheit der sieben Bücher umfassenden Origines besteht darin, dass Cato keine romzentrierte Sichtweise einnimmt, sondern auch über die anderen Völker und Städte Italiens schreibt. 144 Vgl. Feeney (1999, 14); Feeney (2007, 86) zu abweichenden Datierungen der Gründung Roms in der griechischen Literatur bis zum dritten vorchristlichen Jahrhundert. Polybius und Nepos datieren die Gründung auf 751/750 v. Chr. 145 Zur literarischen Gestaltung der Darstellung Roms in der ersten Livius-Pentade vgl. Zenk (2022). 146 Eine Stelle im Aeneis-Kommentar des Servius lässt vermuten, dass auch Ennius die Zerstörung von Alba Longa behandelt hat (Serv. Aen. 2,486 zu At domus interior: de Albano excidio translatus est locus); vgl. Rossi (2002, 236–238); Keith (2016, 157–162). 147 Zur archäologischen Geschichte des Palatins vgl. Coarelli (2000, 136–139).

Romulus gründet Rom Ita Numitori Albana re permissa Romulum Remumque cupido cepit in iis locis ubi expositi ubique educati erant urbis condendae. Et supererat multitudo Albanorum Latinorumque; … qui omnes facile spem facerent parvam Albam, parvum Lavinium prae ea urbe quae conderetur fore. (1,6,4) … inde foedum certamen coortum a satis miti principio. Quoniam gemini essent nec aetatis verecundia discrimen facere posset, ut di quorum tutelae ea loca essent auguriis legerent qui nomen novae urbi daret, qui conditam imperio regeret, Palatium Romulus, Remus Aventinum ad inaugurandum templa capiunt. (1,7,1) Priori Remo augurium venisse fertur, sex voltures; iamque nuntiato augurio cum duplex numerus Romulo se ostendisset, utrumque regem sua multitudo consalutaverat: tempore illi praecepto, at hi numero avium regnum trahebant. (1,7,2) … Volgatior fama est ludibrio fratris Remum novos transiluisse muros; inde ab irato Romulo, cum verbis quoque increpitans adiecisset, »Sic deinde, quicumque alius transiliet moenia mea«, interfectum. (1,7,3) Ita solus potitus imperio Romulus; condita urbs conditoris nomine appellata.

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Nachdem so Numitor die Herrschaft in Alba übertragen worden war, ergriff Romulus und Remus das Verlangen, in der Gegend, wo sie ausgesetzt und erzogen worden waren, eine Stadt zu gründen. Und in der Tat war die Menge der Albaner und der Latiner zu groß; … sie alle zusammen erwarteten, dass Alba und Lavinium zweifellos klein sein würden im Vergleich mit der Stadt, die man gründen wollte. … Es entwickelte sich daraus ein hässlicher Streit, der aus einem ziemlich harmlosen Anlass hervorging. Weil sie Zwillinge waren und die Rücksicht auf das Recht des Älteren nicht die Entscheidung herbeiführen konnte, sollten die Götter, unter deren Schutz die Gegend stand, durch ein Vogelzeichen bestimmen, wer der neuen Stadt den Namen geben und wer sie nach ihrer Gründung regieren sollte; Romulus nahm den Palatin, Remus den Aventin als Beobachtungspunkt für den Vogelflug. Zuerst soll Remus ein Zeichen erhalten haben, sechs Geier; als das Zeichen bereits gemeldet worden war, hatte sich Romulus die doppelte Anzahl gezeigt, und beide hatte ihre Anhängerschaft als König begrüßt. Die einen leiteten den Anspruch auf die Königswürde von dem früheren Zeitpunkt ab, die anderen dagegen von der Anzahl der Vögel. … Bekannter ist die Überlieferung, Remus sei, um sich über seinen Bruder lustig zu machen, über die neuen Mauern gesprungen; daraufhin habe Romulus ihn im Zorn erschlagen und dabei auch noch mit den Worten verhöhnt: »So soll es künftig jedem ergehen, der über meine Mauern springt.« So gewann Romulus allein die Herrschaft; die neugegründete Stadt wurde nach ihrem Gründer benannt.

Die eigentliche Gründung von Rom, d. h. der zugehörige kultische Vorgang, wird kaum beschrieben.148 Livius’ Darstellung betont die Identität des Ortes der Stadtgründung mit demjenigen, an dem die Zwillinge ausgesetzt worden waren. Die Größe der neuen Stadt wird gegenüber den Vorläuferinnen Lavinium und Alba Longa herausgestellt und ihre Besonderheit auch durch die Gegenwart der Götter hervorgehoben. Livius verändert die Tradition über die Lokalisierung 148 Vgl. Zenk (2022, 132).

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des Bruderstreits: Indem er den Sieger Romulus vom Palatin aus die Vögel beobachten lässt und nur den Verlierer Remus vom Aventin aus, bereitet er die herausgehobene Bedeutung des Palatins als Wohnsitz des Prinzeps in seiner eigenen, der augusteischen Zeit, vor. Bevor er die Benennung der neuen Stadt nach Romulus konstatiert, legt Livius den Schwerpunkt auf den Mauerstreit,149 weist aber durch die Angabe fama est darauf hin, dass die Sage von Remus’ Übertreten der von Romulus gezogenen Stadtmauer nicht die einzige, unumstrittene Überlieferung darstellt.150 Im Anschluss schildert er die weiteren Ereignisse aus Romulus’ Regierungszeit wie die Errichtung des Jupiter-Tempels auf dem Kapitol,151 den Krieg gegen die Sabiner und den Tod des Gründerkönigs (1,8–16). Auch bezüglich dieses Ereignisses weist Livius auf die Parallelexistenz verschiedener Versionen hin und erwähnt neben der Apotheose auch die Theorie einer Ermordung durch die Senatoren.152 Neben Livius’ Geschichtswerk als historiographischer Quelle ist die nach dem Tode Vergils im Jahr 19 v. Chr. herausgegebene Aeneis zweifellos der wichtigste Referenztext für die römische Frühgeschichte bei Ovid. Die Gründung Roms selbst liegt zwar jenseits der erzählten Handlung des vergilischen Epos, doch der Dichter bereitet dieses Ereignis auf zweierlei Weise vor: zum einen durch bedeutungstragende Vorausblicke (vor allem die Jupiter-Prophetie in Buch 1, die Heldenschau in Buch 6 sowie die Schildbeschreibung in Buch 8), zum anderen durch die Behandlung der ›Vorgängerstädte‹ Roms. In der zweiten Werkhälfte erzählt Vergil von der Ankunft und den Kämpfen der Aeneaden in Italien. Dabei spielen auch Lavinium und Alba Longa (Buch 7) sowie vor allem Pallanteum (Buch 8), das Ur-Rom des Arkaders Euander, eine wichtige Rolle.153 Ovid selbst erzählt in den Fasten ausführlich von den Ursprüngen Roms (Ov. fast. 4,721–862; 4,807 Urbis origo). Dort erwähnt der Dichter auch die Vogelschau durch die Zwillingsbrüder, exkulpiert jedoch Romulus vom Vorwurf des Brudermords:154 Romulus gibt zwar den Auftrag, jeden zu töten, der seine

149 Vgl. Jaeger (2015, 67) zur Bedeutung von Stadtmauern und Toren in Ab urbe condita. 150 Zur Präsenz von ›Erzählerstimme‹ und ›auktorial gefärbter Stimme‹ bei Angaben zu Überlieferungsvarianten im Livius-Text vgl. Pausch (2011, 11); Rebello (2019, 157–164; 161 f. zur hier besprochenen Stelle). 151 Zur archäologischen Geschichte des Kapitols vgl. Coarelli (2000, 38–44). – Zenk (2022, 330) deutet die sukzessive Einführung neuer Handlungsorte als Erzählstrategie, mit der Livius Rom bereits in der Frühphase seiner Existenz als relativ große Stadt beschreibe, während Levene (2019, bes. 11; 15) die Rolle der physischen Monumente im Vergleich zur bisherigen Forschung als weniger dominant ansieht. 152 Vgl. Ogilvie (1965, zu 1,16). 153 Vgl. Behm (2019a, 287–289) mit weiterführender Literatur. 154 Vgl. Galasso (2006, bes. 261 f.); Deremetz (2013, 239–243); Casanova-Robin (2016, 143 f.); Rebello (2019, 261–300) zur ambigen Darstellung des Romulus in den Fasten. Im zweiten Buch findet sich ein stärkerer Hinweis auf Romulus als aktiven Mörder seines Bru-

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Stadtgrenze überschreite, doch als Remus dies tut, ist es Celer und eben nicht Romulus selbst, der ihn dafür zur Rechenschaft zieht (4,839–844):155 »neve quis aut muros aut factam vomere fossam 840 transeat; audentem talia dede neci.«  … nec mora, transiluit: rutro Celer occupat ausum;  843 ille premit duram sanguinulentus humum.

»Und damit niemand die Mauern oder den mit der Pflugschar gezogenen Graben überschreitet, töte denjenigen, der solches wagt!« ... Und ohne zu zögern, sprang er darüber hinweg; Celer erschlägt den, der solches gewagt hat, mit einer Schaufel, und er stürzt blutend auf den harten Boden.

Den Bericht über den Mauerbau selbst bereitet Ovid in den Fasten detailliert vor, indem er Rituale wie die Bestimmung eines geeigneten Tages und ein Gebet an die Götter vorschaltet, bevor er den schnellen Ablauf des eigentlichen Ereignisses knapp konstatiert (4,836 et novus exiguo tempore murus erat). In den Metamorphosen nimmt die römische Frühgeschichte etwa die zweite Hälfte des vorletzten Buches ein (Ov. met. 14,441–851). Die ›vergilischen‹ Städte Lavinium, Alba Longa und Pallanteum nennt Ovid nur pro forma: Während der Besuch des Aeneas bei König Euander in Pallanteum eine der prominentesten Episoden der Aeneis ist (Verg. Aen. 8,90–369), evoziert Ovid dieses Ur-Rom nur kurz als Hintergrundraum, indem er die geglückte Suche der Trojaner nach Verbündeten erwähnt (Ov. met. 14,456 neque Aeneas ­Euandri ad moenia frustra [sc. venerat]). Auch Alba Longa wird nur ein einziges Mal genannt, nämlich als Ovid im Anschluss an die Apotheose des Aeneas (14,581–608) einen Katalog der latinischen Könige an jenem Ort einfügt, beginnend mit dessen Sohn Ascanius (14,609–621; 14,609 f. Inde sub Ascanii dicione binominis Alba / resque Latina fuit).156 Die Stadt Lavinium wird im Rahmen von Aeneas’ Ankunft in Italien überhaupt nicht erwähnt, sondern erst kurz vor dem Ende des Werkes innerhalb des Katalogs der von Asclepius auf dem Weg nach Rom passierten italischen Küstenstädte (15,727 f. sacrasque / Lavini sedes). Nicht nur gegenüber Vergil, sondern auch gegenüber der gesamten literarischen Tradition verschiebt Ovid die Gewichtung der Ereig-

ders (Ov. fast. 2,143 te Remus incusat). Vergil indes erwähnt den Bruderstreit in der Aeneis überhaupt nicht; vgl. Pollmann (2013, 18). 155 Vgl. 4,848 sic … meos muros transeat hostis; Rebello (2019, 265–267) zum Gegensatzpaar Schnelligkeit/Langsamkeit in der römischen Gründungserzählung der Fasten sowie etymologischen Hintergründen in den Namen Celer und Remus. 156 Vgl. 14,583 bene fundatis opibus crescentis Iuli. Die Auslassung des vergilischen SauProdigiums lässt sich, wie Bach (2020, 115 f.) überzeugend darlegt, auch so deuten, dass Ovid die Gründung einer Stadt infolge der Führung eines Helden durch ein Tier durch diejenige Thebens ersetzt (vgl. Kap. 3.1).

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nisse, indem er die Gründung Roms am Ende von Buch 14 nur sehr kurz schildert, diejenige Crotons am Beginn des nächsten Buches jedoch in größerer Ausführlichkeit (15,1–59; vgl. Kap. 6.4). Nach der zwischengeschalteten Geschichte von Vertumnus und Pomona (14,623–771) schließt sich die Romulus-Episode an den latinischen Königskatalog an. Sie bereitet auf das abschließende ›Rom-Buch‹ vor, das weitere Geschichten mit römischem Schauplatz enthält. Der hier untersuchte Textabschnitt (14,772–851) konzentriert sich auf einige Geschehnisse rund um die Figur des Romulus, behandelt jedoch auch weitere Ereignisse aus der römischen Frühgeschichte. Neben der Gründung Roms berichtet Ovid vor allem vom Kampf gegen die Sabiner und der Verwandlung einer Quelle auf dem Kapitol, bevor er die Apotheosen von Romulus und seiner Gattin Hersilia erzählt. Die Episode lässt sich in drei Abschnitte gliedern: Der erste Teil (14,772– 804) schließt den Katalog der latinischen Könige ab, erwähnt kurz die eigentliche Stadtgründung und berichtet dann vom Krieg der Römer gegen die Sabiner (ohne direkten Hinweis auf den Raub der Sabinerinnen, den Ovid in der Ars amatoria explizit dargestellt hatte),157 vom Verrat Roms durch Tarpeja sowie von der ersten Belagerung der Stadt. Diesen auch auf der göttlichen Ebene (zwischen Juno und Venus) stattfindenden Konflikt verbindet Ovid mit einer Metamorphose, indem er die Verwandlung einer Quelle zur Abwehr der Feinde schildert. Die Quelle wird somit zum wichtigsten Handlungsort dieses Teils, bevor der Krieg beendet wird und die Römer mit den Sabinern Frieden schließen. Der zweite Hauptteil der Episode (Ov. met. 14,805–828) schildert dann die Vergöttlichung des Romulus, für die Ovid in den Fasten ebenfalls eine nur geringfügig längere Parallelversion bietet (Ov. fast. 2,481–512). Die im dritten Hauptteil (Ov. met. 14,829–851) dargestellte Apotheose von Romulus’ Gattin scheint eine Erfindung Ovids zu sein, sofern nicht entsprechende Quellen verloren sind. Die nachfolgende Analyse zeigt, wie der Dichter bei seiner römischen Gründungserzählung immer wieder völlig unerwartete Aspekte hervorhebt.

157 Vgl. Ov. ars 1,89–134; Hemker (1985, 44 f.) zum Schauplatz; Galasso (2006, 263 f.) zu den wenigen Andeutungen auf den Raub der Sabinerinnen.

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6.3.1 Analyse Die Gründung Roms (14,772–804) Nachdem die Geschichte von Vertumnus und Pomona den erwarteten Übergang von Aeneas zu Romulus und damit zur Gründung Roms verzögert hat,158 setzt Ovid den Katalog der Latiner-Könige mit Proximus (14,772) fort, als ob es keine derartige Unterbrechung gegeben hätte.159 In den folgenden Versen komprimiert der Dichter das bei Livius in größerer Ausführlichkeit dargestellte Geschehen rund um die Stadtgründung: Der Katalog findet seinen Abschluss mit Numitor, der die Macht vom unrechtmäßigen König Amulius zurückgewinnt, und Romulus. Dieser wird hier jedoch ebenso wenig namentlich genannt160 wie der Name der Stadt, sondern Ovid konstatiert geradezu lapidar (14,774 f.): festisque Palilibus urbis / moenia conduntur.161 Die zeitliche Markierung der Stadtgründung durch die Erwähnung des Palilien-Festes stellt eine Besonderheit dar: Die Gründung der späteren Hauptstadt des Imperium Romanum gehört zu den wenigen Ereignissen in den Metamorphosen, die – wenn auch indirekt – mit einem konkreten Tagesdatum zu verknüpfen sind (d. h. mit dem 21. April 753 v. Chr.).162 Diese Tatsache steht aber keineswegs im Vordergrund der Handlung, sondern es ist vielmehr zu bemerken, dass Ovid auf eine historische Einordnung der Stadtgründung verzichtet. Mit der skizzenartigen Gründungserzählung enttäuscht Ovid die Erwartung römischer Leser, die möglicherweise einen ausführlicheren Bericht über die Gründung der urbs aeterna erwarten würden. Die Vermeidung einer allzu ähnlichen Parallelversion zu der Schilderung in den Fasten kann kaum das einzige Motiv für die Knappheit von Ovids Rom-ktisis darstellen,163 zumal auch die anschließend beschriebene Verwandlung einer Quelle und die Apotheose des Romulus in beiden Texten Raum finden. Wäre das Fehlen einer mit der Stadtgründung verbundenen Verwandlung der Grund für die Kürze der Darstellung, so hätte die Möglichkeit bestanden, an dieser Stelle die erst in der Cipus-Episode

158 Vgl. Bach (2020, 70) zur Gestaltung der römischen Landschaft als locus amoenus in den Geschichten von Picus und Canens (14,308–440) sowie Vertumnus und Pomona (14,622–771). 159 Vgl. Wheeler (2000, 110 f.); Myers (2009, z. St.). 160 14,773 nepotis; 14,781 Iliades; erst 14,799 Romulus. Darüber hinaus wird die Existenz von Remus im ganzen Gedicht verschwiegen und dessen Rolle somit noch stärker geschwächt als in den Fasten. Vgl. Janan (2007, 109); Wheeler (2000, 111–113): »He leaves Romulus and Rome nameless, sandwiched unceremoniously between Numitor and Tatius.« 161 Vgl. Ov. fast. 3,69 (Gründung Roms) moenia conduntur; Barchiesi (1997, 154 f.) zur traditionellen Verbindung zwischen den Palilien und der Gründung Roms. 162 Vgl. Feeney (1999, 22); Casanova-Robin (2016, 139); Kap. 6.7; 6.8. 163 Vgl. Tissol (2002, 328).

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im folgenden Buch geschilderte Verwandlung der hasta Romuli einzufügen (Ov. met. 15,560–564).164 Auf die Gründung der Urbs165 folgt unmittelbar der Krieg gegen das Nachbarvolk der Sabiner (14,775 f. Tatiusque patresque Sabini / bella gerunt). Dabei beschränkt Ovid sich jedoch auf ein spezifisches Ereignis, nämlich die Verwandlung einer Quelle an einem Stadttor. Zuvor erwähnt er aber noch den Verrat der Tarpeja (14,776 arcisque via Tarpeia reclusa). Der Hinweis auf diese vor allem aus Properz bekannte Geschichte (vgl. Prop. 4,4) dient jedoch nicht nur der indirekten Erwähnung zweier bedeutender städtischer Lokalitäten (der Burg auf dem Kapitol und des Tarpejischen Felsens), sondern antizipiert die folgende Handlung, denn genauso wie in ihrem Fall geht es dabei um das Öffnen bzw. Verschließen eines für Feinde geeigneten Zugangs zur Hauptstadt (Ov. met. 14,776 via … reclusa ~ 14,781 unam [sc. portam] … reclusit). Romulus versucht das Stadttor gegen die Angreifer aus der sabinischen Stadt Cures zu verteidigen (14,778–781):166 inde sati Curibus …  778 Dann fallen die Leute aus Cures … ein invadunt portasque petunt, quas obice firmo  780 und attackieren die Tore, die der Sohn der clauserat Iliades. Ilia mit festem Riegel verschlossen hatte.

Dieser Aktion entspricht eine parallele Handlung im Himmel: Während Juno den Römern hier noch feindlich gesonnen ist und das Tor für die Angreifer öffnet, versucht Venus, die Römer vor der Attacke zu schützen (14,781 f. reclusit / … Saturnia ~ 14,783 f. Venus … / … clausura fuit). Ebenso wie zuvor Romulus wird sie damit im Sinne der charakterisierenden Funktion des Raumes als Beschützerin Roms dargestellt. Da es Venus nicht möglich ist, Junos Handeln rückgängig zu machen (14,784 f.),167 greift sie zu einer List in Form der Verwandlung einer Quelle, um

164 Eine kurze Analyse der Verwandlung bietet Granobs (1997, 77 f.). Vgl. die narratologische Interpretation von Wheeler (2000, 113 f.), der mit Ovids Fokus auf ›closure‹ in Buch 14 argumentiert und eine positive Deutung der Episode liefert. Roms Gründung basiere bei Ovid stärker auf der Ehe zwischen Romulus und Hersilia als auf dem Brudermord an Remus oder auf dem Bürgerkrieg. 165 Die Gleichsetzung von Urbs und Roma erläutert später Quintilian (Quint. inst. 6,3,103). 166 Wie Hardie (2015, z. St.) feststellt, ist inde hier wörtlich zu verstehen, während es in einer Parallelstelle in den Fasten räumliche Bedeutung hat (Ov. fast. 1,263 f. »inde, velut nunc est, per quem descenditis«, inquit / »arduus in valles per fora clivus erat«). – Vgl. Bömer (1986, zu Ov. met. 14,778) zur ungewöhnlichen Herkunftsangabe durch eine Form von satus (sati Curibus) mit einem lokalen Ablativ (statt dem einer Person). 167 Vgl. 3,336 f. (Tiresias) neque enim licet inrita cuiquam / facta dei fecisse deo.

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die Cureten aufzuhalten.168 Dieser kurz beschriebene Ort169 hat für Ovids Episode eine doppelte Funktion: Auf der Ebene der Erzählung stellt er ein Element des Raumes dar, das eine Handlung zu verhindern vermag, auf der Ebene des Erzählers liefert die Passage ein Aition für den römischen Ritus, das Janus-Tor nur in Friedenszeiten zu schließen. Die Najaden gewähren Venus ihre Hilfe und lassen das Wasser ihrer Quelle losströmen (14,787–789): nec nymphae iusta petentem sustinuere deam venasque et flumina fontis elicuere sui.

Und die Nymphen hielten der gerechten Bitte der Göttin nicht stand und lockten die Wasseradern und die Ströme ihrer Quelle hervor.

Diese Hilfestellung durch ein Element der Natur wird sodann mehrfach betont (14,789 f. nondum tamen invia Iani / ora patentis erant, neque iter praecluserat unda). Die Umkehrung der örtlichen Gegebenheit in ihr Gegenteil, die Verwandlung von eiskaltem in siedend heißes Wasser, wird durch die Apostrophe der Quelle hervorgehoben (14,794 f.). Die Verwandlung des Ortes erfüllt den von Venus intendierten Zweck:170 Das nunmehr heiße Wasser verhindert das Eindringen der Sabiner in die Stadt, indem es das Passieren des von Juno geöffneten Tores unmöglich macht (14,797 f. portaque nequiquam rigidis promissa Sabinis / fonte fuit praestructa novo). Erst jetzt kehrt Ovid wieder kurz zum Kern des als historisch überlieferten Geschehens zurück, d. h. zum Krieg gegen die Sabiner. Nachdem die Verwandlung des Tores ein Zusammentreffen von Römern und Sabinern auf römischem Boden verhindert hat, ereignet sich dieses außerhalb der Stadt. Das Aufeinandertreffen beider Völker wird durch Nebeneinanderstellung der entsprechenden Bezeichnungen hervorgehoben (14,800 f. strata est tellus Romana Sabinis / corporibus strata estque suis). Nach diesem Blutvergießen wird der Krieg unvermittelt beendet und die Römer verbinden sich mit ihrem Nachbarvolk, indem ihr Gründerkönig seine Macht mit deren Herrscher teilt (14,803 f. pace tamen sisti bellum nec in ultima ferro / decertare placet Tatiumque accedere regno).171 Damit wird 168 Heinze (1919, 35–37) meint, die allgemeine Darstellung einer Metamorphose des Ortes wie in den Fasten (Ov. fast. 1,274 quae fuerat, tuto reddita forma loco est) hätte genügt, doch Ovid habe wegen der Metamorphosenthematik eine richtige Verwandlung eingefügt. Vgl. Granobs (1997, 50–53) zu novus (Ov. met. 14,798 fonte … novo) als Signalwort der Verwandlungsterminologie, die aber nicht darüber hinwegtäusche, dass keine Metamorphose im eigentlichen Sinn vorliege. 169 Granobs (1997, 49 f.) bezeichnet die Verse 14,785 f. (Iano loca iuncta tenebant / Naides Ausoniae gelido rorantia fonte) als kurze Ekphrasis. Bömer (1986, z. St.) identifiziert den Handlungsort mit den Lautulae nahe der Porta Ianualis; vgl. Myers (2009, z. St.). 170 Granobs (1997, 48 f.) macht darauf aufmerksam, dass in den Fasten Janus (Ov. fast. 1,271 f.), in den Metamorphosen jedoch Venus selbst als Helferin der Römer agiert. 171 Zu den textkritischen Problemen dieser Stelle vgl. Galasso (2006, 269).

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der bisherige Gegensatz zwischen beiden Völkern im Sinne der symbolischen Funktion des Raumes aufgehoben.

Die Apotheose des Romulus (14,805–828) Ovids Darstellung der Frühphase Roms endet mit der Vergöttlichung des Stadtgründers und seiner Frau. Alternativ zur Apotheose des Romulus existiert auch die Tradition einer Ermordung durch die Senatoren,172 doch Ovid basiert seine Erzählung auf der dominierenden Legende einer Vergöttlichung, wie sie sowohl in epischen Quellen (vor allem bei Ennius) als auch in der Historiographie überliefert ist.173 Seine eigene, etwas längere Parallelversion befindet sich im zweiten Buch der Fasten.174 Entsprechend der insgesamt in der Metamorphosen-Episode zu beobachtenden Tendenz rückt Ovid auch bei der Beschreibung von Romulus’ Apotheose die kriegerischen Aspekte von dessen Biographie in den Hintergrund, indem er ihn zum Zeitpunkt seiner Vergöttlichung bei der Beschäftigung mit zivilen Tätigkeiten, genauer gesagt bei der Rechtsprechung, darstellt (Ov. met. 14,805 f.; 14,823 f. reddentemque suo non regia iura Quiriti / abstulit Iliaden; vgl. Ov. fast. 2,492).175 Als Mars den Göttervater Jupiter um die Aufnahme seines Sohnes in den Himmel bittet, argumentiert er mit der nunmehr gefestigten Macht Roms (Ov. met. 14,808 f. quoniam fundamine magno / res Romana valet nec praeside pendet ab uno).176 Damit stellt er Romulus in eine Reihe mit seinem Vorgänger Aeneas, dessen Vergöttlichung der Erzähler mit einer ähnlichen Wortwahl begründet hatte,177 und markiert den erfolgreichen Abschluss der Gründung der künftigen Hauptstadt des Imperium Romanum. Romulus wird im Sinne der charakterisierenden Funktion des Raumes als erfolgreicher Stadtgründer dargestellt, dessen Leistung mit einer Apotheose belohnt wird.178 172 Vgl. Dion. Hal. ant. 2,56,3–5; Plut. Rom. 27; Liv. 1,16,4; Val. Max. 5,3,1; Myers (2009, zu Ov. met. 14,805–828); Rebello (2019, 164–166). 173 Enn. ann. fr. 105 Sk.; 110 Sk. Romulus in caelo cum dis genitalibus aevum degit. Vgl. Granobs (1997, 54–57) zu Romulus/Quirinus in der Literatur vor Ovid. 174 Ov. fast. 2,475/481–512; vgl. Gosling (2002) für einen ausführlichen Vergleich der zwei unterschiedlichen Romulus-Darstellungen Ovids. 175 Vgl. Gosling (2002, 59–63; 66 f.). Galasso (2006, 271) interpretiert Romulus als typologischen (und nicht allegorischen) Vorläufer des Augustus. 176 Vgl. die Verschiebung des räumlichen Fokus von Latium nach Rom: 14,610 res … Latina ~ 14,809 res Romana. 177 Vgl. 14,583 bene fundatis opibus crescentis Iuli. Ähnlich – aber mit Verweis auf die kriegerischen Taten von Romulus – schreibt Ovid auch in den Fasten (Ov. fast. 2,481–483 pater armipotens postquam nova moenia vidit, / multaque Romulea bella peracta manu, / »Iuppiter«, inquit »habet Romana potentia vires«). 178 Vgl. Rebello (2019, 268 f.); anders Eickmeyer (2021, 104): »Nicht die Gründung Roms qualifiziert Romulus zur Vergöttlichung, sondern die Intervention des Mars bei Iuppiter.«

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Mars’ Feststellung, Rom bedürfe nicht mehr eines einzigen ›starken Mannes‹, sehen Interpreten mitunter als Kritik am augusteischen Prinzipat.179 Hier sollen jedoch allein die räumlichen Aspekte der Vergöttlichung behandelt werden. Ovid leitet die Apotheose mit dem Zitat eines bekannten EnniusVerses ein (14,814 unus erit quem tu tolles in caerula caeli), das wegen seiner metapoetischen Deutbarkeit häufig in Studien zur Intertextualität thematisiert wird.180 Ovid kürzt das Zitat jedoch um das Wort templa am nächsten Versanfang.181 Granobs (1997, 98–102)182 weist darauf hin, dass Ovid – anders als Ennius – die Götterversammlung zur Entscheidung über die Apotheose nicht vor, sondern erst nach der Stadtgründung stattfinden lässt. Dadurch ist in den Metamorphosen der Bezug von unus erit auf Romulus eindeutig, während in der ennianischen Originalstelle offenbleibt, welcher der zwei Brüder gemeint ist.183 Während die Apotheose in der elegischen Version der Fasten traditionsgemäß im Ziegensumpf auf dem Marsfeld lokalisiert wird, verlegt Ovid das Ereignis in den Metamorphosen auf den Palatin (Ov. met. 14,822 in summo nemorosi colle Palati; Ov. fast. 2,491 est locus, antiqui Caprae dixere paludem).184 Indem der künftige Wohnsitz des Augustus als bewaldet charakterisiert wird, bietet der Schauplatz »la solita visione rurale della Roma primitiva«;185 die Urbanität Roms wird von ländlichen Details überdeckt. Dies unterstreicht die Enthebung des Romulus aus der Sphäre des Militärischen. Außerdem wird so die Apotheose in 179 Bömer (1986, z. St.) sieht die Stelle gar als eine »außerordentlich gehässige Ablehnung augusteischer Thesen«. Für eine textkritische Diskussion von nec in der Phrase nec praeside pendet ab uno (14,809) vgl. auch Galasso (2006, 270 f.); Myers (2009, z. St.); Hardie (2015, z. St.). 180 Enn. ann. fr. 54 Sk. Unus erit quem tu tolles in caerula caeli / Templa; vgl. Skutsch (1985, 16) zum Bedeutungsspektrum von templum; Varro ling. 7,2,6; Conte (1986, 60–63); Casali (2009, 341–343). Fabre-Serris (1995, 158) interpretiert das Ennius-Zitat verkürzend als Beitrag zur Erhöhung der Feierlichkeit der Passage, Bömer (1986, zu Ov. met. 15,745–870) als ›seriöse‹ und ›loyale‹ Bezugnahme auf den Vorgänger und Edmunds (2001, 136 f.) als humorvoll bzw. ironisch, da Ovid zwei poetische Fiktionen miteinander kombiniere (Ovid zitiert Ennius, Mars zitiert Jupiter). 181 Dieselben Worte verwendet Ovid auch in den Fasten (Ov. fast. 2,487). 182 Die Studie von Granobs (1997) ist berechtigterweise von mehreren Rezensenten sehr kritisch beurteilt worden; vgl. Schmitzer (2002, 159 f.). 183 Vgl. Rebello (2019, 28). Galasso (2006, 270) erläutert den Bedeutungswandel von unus zwischen der Ennius-Stelle (›einer von beiden‹) und derjenigen bei Ovid (›jener eine‹). 184 Vgl. Liv. 1,16,1 cum … contionem in campo ad Caprae paludem haberet; Heinze (1919, 39–41); Ogilvie (1965, z. St.); Granobs (1997, 110). Vgl. Myers (2009, zu Ov. met. 14,817) zu der Frage, ob in diesem Vers orbem oder Urbem stehen muss, und zu den »imperial implications« dieser Stelle; vgl. das Unwetter Ov. met. 14,816 f. mit Bömer (1986, z. St.) ~ Ov. fast. 2,489–496. Gosling (2002, 55) weist auf den geringeren Grad an visueller Beschreibung in der FastenSzene hin. 185 Hardie (2015, zu Ov. met. 14,822).

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den bekannten Rahmen eingeordnet, wonach sich die Verwandlungen in Ovids Epos gewöhnlich außerhalb von Städten ereignen.186

Die Apotheose der Hersilia (14,829–851) Die wahrscheinlich von Ovid erfundene Vergöttlichung der Hersilia findet zwar ebenso wie die ihres Gatten Romulus auf dem Palatin statt, jedoch ist die vorbereitende Handlung auf dem Quirinal lokalisiert (14,845 f. Romuleos … / ingreditur colles; 14,836 f. lucum pete, colle Quirini / qui viret).187 Dieser Zwischenschritt stellt jedoch nicht ausschließlich eine räumliche und inhaltliche Digression von der Haupthandlung dar, sondern stärkt die Verknüpfung zwischen Hersilia und Romulus einerseits sowie die Verbindung des Stadtgründers mit zwei der berühmten sieben Hügel Roms andererseits. Hersilia, die durch ihre Abstammung die im Krieg antizipierte Vermischung von Römern und Sabinern verkörpert (14,832 f. o et de Latia, o et de gente Sabina / praecipuum, matrona, decus),188 wird zunächst von Junos Botin Iris in einen heiligen Hain auf dem Quirinal geleitet, der einen Tempel ihres Gatten beherbergt (14,837 templum Romani regis). Die Neuerrichtung dieses Tempels durch Augustus im Jahr 16 v. Chr. beschreibt Ovid in den Fasten, gleich nach der Entrückung des Romulus (Ov. fast. 2,511 templa deo fiunt: collis quoque dictus ab illo est),189 doch an der hier betrachteten Metamorphosen-Stelle steht wiederum der ländliche Aspekt im Vordergrund der Beschreibung. Erst in einem zweiten Schritt (Ov. met. 14,836 duce me [sc. Iride] ~ 14,842 duc, o duc) erreicht Hersilia den Palatin und somit den Ort, an dem auch die Vergöttlichung des Romulus stattgefunden hat. Die Verknüpfung zwischen Ort und Figur wird durch die Bezeichnung als ›Romulus-Hügel‹ (vgl. 14,845) hervorgehoben. Dort also findet nun auch die Apotheose der Hersilia statt, die im Himmel wieder mit ihrem Gatten vereint wird.190 Durch die emphatische Beschreibung von Romulus als Romanae conditor urbis (14,849) parallelisiert Ovid diesen mit Euander, den Vergil als Romanae conditor arcis bezeichnet (Verg. Aen. 8,313).191 Damit setzt er das Rom des Romulus in Beziehung zu dem in 186 Vgl. Granobs (1997, 108–112) zur Rechtsprechung im Rahmen der Gründung von Städten gegenüber der Anwendung bestehender Gesetze in einer späteren Phase. 187 Vgl. Granobs (1997, 61 f.; 67–70; 117–120) zu Hersilia und Ovids potentiellen Quellen; Coarelli (2000, 218–222) zur archäologischen Geschichte des Quirinals. 188 Vgl. 14,800 f. tellus Romana Sabinis / corporibus. 189 Vgl. Granobs (1997, 63–65). 190 Hersilia verkennt allerdings ironischerweise die räumliche Bedeutung ihrer Vergöttlichung und versteht diese in einem metaphorischen Sinn (14,842–844 offer / coniugis ora mihi; quem si modo posse videre / fata semel dederint, caelum accepisse fatebor), wie Bach (2020, 199) trefflich beobachtet. 191 Vgl. Ov. fast. 3,24 Romanae conditor urbis; Ov. met. 15,736 [sc. Aesculapius] Romanam intraverat urbem.

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der Aeneis beschriebenen idyllischen Proto-Rom, in das Aeneas, der wichtigste mythische Vorgänger des Gründerkönigs, nach seiner Ankunft auf italischem Boden gelangt. Zugleich kann man hierin aber auch einen Hinweis auf das Rom seiner Gegenwart erkennen, das von der Bautätigkeit des Augustus als neuem conditor geprägt war.192

6.3.2 Fazit Ovids Kurzversion der Gründung Roms verzichtet auf jegliche Anschaulichkeit: Die maximale Verdichtung des eigentlichen Gründungsakts auf gerade einmal fünf Worte setzt die Stadt buchstäblich mit ihren Mauern gleich (die zwei Sub­ stantive dafür stehen pointiert am Versende bzw. -anfang: 14,774 f. urbis / moenia).193 Erst im weiteren Verlauf der Episode wird der Anschauungsraum durch die Nennung von drei der sieben Hügel Roms ergänzt: Das Kapitol, der Palatin und der Quirinal dienen als Kulisse für die Erwähnung der Tarpeja-Legende sowie für die Apotheosen des Stadtgründers und seiner Frau.194 Diese drei Handlungsorte erfahren jeweils durch eine Ergänzung eine vertiefende Beschreibung: Auf dem Kapitol gibt es ein Stadttor, das ein potentielles Ziel für Invasoren darstellt;195 der Palatin und der Quirinal werden als bewaldet und damit vorzivilisatorisch beschrieben (14,822 nemorosi … Palati; 14,836 f. lucum … / qui viret et … obumbrat); beide Hügel werden zusätzlich mit Romulus verknüpft (14,837 templum Romani regis; 14,845 f. Romuleos … / … colles).196 Während hier also eine explizite Verbindung zwischen der einstigen Weltstadt und ihrem Gründer hergestellt wird, wird Romulus zu Beginn der Erzählung nicht als handelnde Figur auf dem Kapitol kenntlich gemacht. Vielmehr wird die Stadtgründung im Passiv dargestellt (14,775 moenia conduntur) und er selbst handelt erst nach der Quellverwandlung aktiv. Diese Metamorphose und der Ort ihres Ursprungs stellen den räumlichen Fokus der Episode dar: Die Quelle am Janus-Tor wird nicht weniger als fünf Mal wörtlich genannt; dazu kommt die Erwähnung von Wasser mit anderem Vokabular.197 192 Vgl. Boyle (2003, 248 f.). 193 Vgl. Schmitzer (1990, 250–297); Casanova-Robin (2016, 138). Diese kürzestmögliche Schilderung des Mauerbaus hat eine mittelbare Analogie in den Fasten (Ov. fast. 4,836 exiguo tempore). 194 14,776 arcis … via; 14,822 colle Palatini; 14,836 colle Quirini. 195 14,780 portas; 14,783 portae; 14,797 porta. 196 Malochet-Turquety (2014, 204 f.) sieht im Palatin eine Andeutung auf die Verbindung zwischen Romulus und Augustus. 197 14,785 Iano loca iuncta; vgl. 14,786 gelido … fonte; 14,788 venas et flumina fontis; 14,791 fecundo … fonti; 14,793 f. ima / fontis; 14,798 fonte … novo; außerdem: 14,790 unda; 14,795 aquae.

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Die Bedeutung dieses Hauptschauplatzes zeigt sich auch bei der Analyse des Aktionsraums. Hier nimmt die auf Geheiß der Venus verwandelte Quelle diejenige Rolle an, die das von Juno geöffnete Stadttor nicht mehr erfüllen kann: Während die Sabiner in die Stadt eindringen wollen und Juno sie dabei unterstützt (14,778–782), versucht Venus mithilfe der Najaden, eben diese Bewegung aufzuhalten (14,783–795); die nunmehr heiße Quelle verhindert den Zugang zur Stadt (14,797 f.). Erst die Metamorphose macht es möglich, dass sich das Kriegsgeschehen nicht in die Stadt hinein verlagert. Sie sorgt schlussendlich für eine friedliche Vereinigung der beiden Nachbarvölker. Daneben antizipiert der auf die Erde verlagerte Konflikt von Juno und Venus auch die anschließenden Verhandlungen um die Vergöttlichungen: Mars spricht im Himmel mit Jupiter über die Apotheose von Romulus, bevor dieser von der Erde enthoben wird; in ähnlicher Weise verhandelt Hersilia mit Junos Botin Iris über ihre eigene Versetzung in den Himmel, bevor diese tatsächlich erfolgt. Zum einen wird also in dieser Episode die potentiell destruktive Bewegung auf Rom hin durch eine Göttin verhindert, zum anderen ermöglichen Gottheiten die belohnende ›Reise‹ von Rom weg in den Himmel. Diese Bewegung zwischen Himmel und Erde führt zur Analyse des gestimmten Raumes. Abgesehen von der Erwähnung der römischen arx und der Mauern der neuen Stadt werden in dem untersuchten Textabschnitt kaum genuin urbane Elemente beschrieben, sondern die Topographie des frühen Rom ist vielmehr von einer ländlich-sakralen Atmosphäre geprägt. Eine solche Charakteristik wird bereits eingangs durch die Angabe evoziert, dass die Stadtgründung an einem Hirtenfest stattfindet (14,774 festis … Palilibus), und anschließend durch die räumliche Fokussierung auf den bewaldeten Palatin und den Hain auf dem Quirinal weiter verstärkt (14,822 in summo nemorosi colle Palati; 14,836 colle Quirini). Rom wird also nicht als Ort städtischen Lebens präsentiert, sondern vielmehr als Lokalität mit einer göttlichen Atmosphäre, wo sich Metamorphosen in Form von Apotheosen vollziehen, die nicht zum ›rationalen‹, zivilen Leben innerhalb der Mauern einer Stadt passen würden. Doch auch dort, wo ein stärkerer Fokus auf Elemente städtischer Topographie möglich erschiene, stellt Ovid mit der Quelle am Janus-Tor eine außerhalb der Stadt gelegene Lokalität in den Mittelpunkt, an der sich übernatürliche Geschehnisse ereignen. Das für die römische Identität wichtige Kriegsgeschehen zwischen Römern und Sabinern wird damit zur bloßen Rahmenhandlung für die Erzählung einer Verwandlung, wobei die blutigen Schilderungen aber dennoch eine Atmosphäre evozieren, die unterschwellig bis auf die Ermordung Caesars in Rom als letzte Geschichte des römischen Sagenkreises vorausweist (vgl. Kap. 6.8). Wie Granobs (1997, 93–97; 108–112) hervorhebt, harmonisiert Ovid in dieser Episode die römische Früh-

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geschichte,198 auch indem er die Vereinigung von Römern und Sabinern durch die doppelte Apotheose ihrer jeweiligen Repräsentanten symbolisch überhöht. Insbesondere im Vergleich mit den Prosa-Quellen zur frühen römischen Geschichte wird deutlich, in welchem Ausmaß Ovid unerwartete Aspekte gegenüber dem politisch bedeutsamen Hintergrund der dargestellten Ereignisse hervorhebt; dies gilt auch für die Auswahl von Schauplätzen des frühen Rom.

6.4  Myscelus gründet Croton (15,1–59) Über die Gründung der unteritalischen Stadt Croton existieren verschiedene Varianten. Als Gründer wird entweder ein Grieche namens Myscelus, der Held Hercules oder eine Figur mit demselben Namen wie die Stadt genannt.199 Bei Myscelus handelt es sich möglicherweise um eine historische Person,200 denn gemäß den fragmentarischen Belegen gründete ein Oikist mit diesem Namen,201 der aus dem griechischen Rhypes stammte, die Stadt im achten Jahrhundert v. Chr. als Kolonie.202 In einem Teil der Überlieferung befragt Myscelus das Delphische Orakel, während ein anderer Sagenstrang davon berichtet, wie Hercules versehentlich den Heros Croton erschlägt und deshalb die Errichtung einer Stadt an dessen Grabstelle gelobt.203 In der Literaturgeschichte ist Croton als Wirkungsstätte des Pythagoras gegen Ende des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts bekannt;204 in den nach Ovids Lebenszeit entstandenen Satyrica des Petron ist dort ein wichtiger Teil der Handlung lokalisiert. In der ovidischen Version der Stadtgründung kommen alle drei oben genannten Figuren vor: Hercules, Myscelus und der eponyme Croton. Ovid schildert jedoch nicht einen Totschlag des Hercules an Croton, sondern einen friedlichen Besuch in dessen Heim, der in der Prophezeiung über die Entstehung einer

198 Glenn (1986, 192) betont den realistischen Charakter von Ovids Darstellung der römischen Frühgeschichte (anstelle einer möglichen Glorifizierung). 199 Vgl. Bömer (1986, zu 15,12–59); Berman (2017, 42–46; bes. 42 f.). 200 Vgl. Nikolopoulos (2006, 77 f.) zur Verbindung von Mythos und Historie in Gründungserzählungen von süditalischen Orten, die auch in der Realität schon vor der Ankunft der Kolonisten von Einheimischen bewohnt waren. 201 Zur Rekonstruktion der Schreibweise vgl. Luck (2017, zu 15,20). 202 Vgl. Leschhorn (1984, 31). Als genaues Jahr der Gründung ist 733 v. Chr. anzunehmen; vgl. DNP, »Kroton«. Zu den Belegen bei Antiochos von Syrakus, Diodor und Strabon vgl. Leschhorn (ebd., 27 f.); Dougherty (1993, 18); Berman (2017, 42). Im Jahr 277 wurde Croton erstmals von den Römern besetzt und ab 194 v. Chr. zu einer römischen Kolonie. 203 Vgl. Diod. 4,24,7; Leschhorn (1984, 28 f.). 204 Vgl. Liv. 1,18,2; Kap. 6.5 zum anachronistischen Zusammentreffen von Numa und Pythagoras.

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Stadt am selben Ort mündet.205 Der eigentliche Gründer206 Myscelus gelangt zu einem späteren Zeitpunkt dorthin, jedoch nicht nach der Befragung eines Orakels, sondern nachdem Hercules ihn in einem Traum zur Auswanderung aus seiner Heimat aufgefordert hat. Ovid verbindet die Erzählung mit einer sonst nirgends belegten Metamorphose: Er berichtet von einem Prozess gegen Myscelus in dessen griechischer Heimatstadt, bei dem sich die Stimmsteine der Richter durch das Eingreifen des Hercules so verfärben, dass Myscelus von der Anklage wegen des geplanten Verlassens seiner Heimat freigesprochen wird. Außerdem verbindet Ovid seine ktisis-Erzählung mit der Gestalt des zweiten römischen Königs Numa, dessen Besuch in Croton er zum Anlass für die intradiegetische Erzählung von den Ursprüngen der Stadt durch einen anonymen Anwohner nimmt. Die Episode ist an einer bedeutsamen Stelle von Ovids Epos platziert: Sie folgt nicht nur hinsichtlich der Werkgliederung, sondern auch inhaltlich durch den Rückgriff auf das Motiv ›Stadtgründung‹ auf die zuvor erzählte Romulus-­ Geschichte (Ov. met. 14,772–851) und leitet das fünfzehnte und damit finale Buch der Metamorphosen ein. Sie bereitet nicht allein die Pythagoras-Rede an dessen Beginn vor (15,60–478), sondern weist durch das Thema ›Herrschernachfolge‹ auch auf dessen Ende, namentlich auf die Behandlung von Caesar und Augustus, voraus (15,745–870).207 Die Erzählung lässt sich in fünf etwa gleich lange Abschnitte gliedern: Die Einleitung führt Numa als Nachfolger von Romulus ein und beschreibt sein wissenschaftliches Interesse, das ihn nach Croton führt (15,1–10). Dort berichtet ihm ein Einwohner von Hercules’ einstigem Besuch bei dessen eponymen Ahnherrn und von der Prophezeiung des Helden, dass dort einst eine Stadt entstehen werde (15,10–18). Dann erzählt der Einwohner von der Traumerscheinung des Griechen Myscelus, die diesen zum Verlassen seiner Heimat aufgefordert habe (15,19–35). Schließlich berichtet er vom Prozess gegen Myscelus, den Hercules auf wundersame Weise zu dessen Gunsten entschieden habe (15,35–48). Die Geschichte endet mit der Reise des Myscelus nach Italien und der eigentlichen Stadtgründung (15,48–59). Die nachfolgende Analyse macht deutlich, wie Ovid durch seine ausführliche Schilderung über Croton die sehr kurze römische Gründungserzählung ersetzt (vgl. Kap. 6.3).

205 Vgl. Berman (2017, 44–46) zu »Croton-before-Croton« sowie in diesem Zusammenhang Kap. 4.3 zur Topographie Athens in der Phase vor der Benennung bzw. eigentlichen Gründung der Stadt. 206 Vgl. Leschhorn (1984, 115–117) zur generellen Unterscheidung von Oikist und eponymem Held. 207 Vgl. Hardie (1997, 182 f.; 196 f.; 2002b, 208 f.).

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6.4.1 Analyse Numas Besuch in Croton (15,1–10) Ovid eröffnet das fünfzehnte Buch der Metamorphosen mit der Frage, wer dem vergöttlichten Stadtgründer Romulus als Herrscher über Rom nachfolgen soll. Hierdurch sowie durch die Verwendung der bekannten Junktur tantae molis aus dem Aeneis-Proömium (Ov. met. 15,1 f. Quaeritur interea quis tantae pondera molis / sustineat tantoque queat succedere regi ~ Verg. Aen. 1,33 tantae molis erat Romanam condere gentem) evoziert er Rom als Hintergrundraum für die nachfolgende Geschichte. Sodann benennt er Numa Pompilius als neuen Regenten und zugleich als Hauptfigur der Rahmenerzählung.208 Um die intradiegetische Erzählung zu motivieren, ruft Ovid zwei weitere Räume auf, nämlich Numas Heimatstadt Cures im Land der Sabiner sowie Croton in Unteritalien, das er als Stadt von Hercules’ Gastfreund bezeichnet (Ov. met. 15,4–8): non ille satis cognosse Sabinae gentis habet ritus; animo maiora capaci  concipit et quae sit rerum natura requirit. huius amor curae, patria Curibusque relictis, fecit ut Herculei penetraret ad hospitis urbem.

Dieser begnügt sich nicht damit, die Sitten des Sabinervolkes zu kennen; mit seinem empfänglichen Geist trachtet er nach Größerem und fragt nach dem Wesen der Dinge. Diese Wissbegierde brachte ihn dazu, nachdem er seine Heimat und die Cureten verlassen hatte, die Stadt von Hercules’ Gastfreund zu betreten.

Indem er Numas Wissensdrang dadurch illustriert, dass dieser seine Heimat verlässt, benutzt Ovid die charakterisierende Funktion des Raumes. Numas Herkunft wird gleich doppelt umschrieben (als ›Stamm der Sabiner‹ sowie als ›Heimat der Cureten‹).209 Damit stimmt Ovid auf das für die nachfolgende ­Binnenerzählung zentrale Thema ›Verlassen des Vaterlandes‹ ein. Der ­Hauptschauplatz Croton wird nicht wörtlich benannt, sondern durch eine Anspielung auf den Mythos von Hercules’ Besuch in jener Stadt aufgerufen.210 Dieser Hinweis des poeta doctus bereitet auf die nachfolgende aitiologische E ­ rzählung vor,211 in der Numa Auskunft auf seine Frage nach dem Ursprung von Croton erhält (15,9 f. Graia quis Italicis auctor posuisset in oris / moenia 208 Vgl. Deremetz (2013, 233 f.) zu den antiken Quellen über Numa. 209 Gemäß Deremetz (2013, 236–238) verkörpert Numa durch die zwei möglichen Etymologien seines Namens (gr. nomos – lat. nemus; vgl. Ov. fast. 4,667–670 zum Konnex Numa – nemus) die Verbindung zwischen östlicher/griechischer und westlicher/italischer Welt; vgl. Maltby (1991, »nomos«); Geitner (2021, 207–212) zu Numa als ›liminaler Figur‹. 210 Zu der Junktur penetrare ad urbem vgl. Verg. Aen. 7,207; 9,10. 211 Wie Hardie (2015, zu 15,4–11) bemerkt, evoziert Ovid auch hier erneut eine römische Atmosphäre, da es sich bei der von Hercules besuchten Stadt theoretisch auch um das UrRom aus dem achten Aeneis-Buch handeln könnte, wo der griechische Held das Monster Cacus beseitigt (vgl. Verg. Aen. 8,190–279).

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quaerenti).212 Die chiastische Überkreuzung von Griechischem und Italischem weist über die hier erzählte Geschichte hinaus auch auf die weiteren Begegnungen zwischen Griechenland und Italien bzw. auf die Ost-West-Bewegungen innerhalb des trojanisch-italischen Sagenkreises hin.213

Hercules’ Besuch bei Croton (15,10–18) Von einer derartigen Reise zwischen Osten und Westen berichtet auch der intradiegetische Erzähler, als er die zehnte Tat von Hercules’ Dodekathlon erwähnt, d. h. den Sieg des Helden über den Riesen Geryoneus am westlichen Ende der Welt. Die alexandrinische Fußnote fertur (15,14) verweist auf den legendenhaften Charakter dieser Erzählung und stellt zugleich das vermeintlich sichere Wissen des anonymen einheimischen Berichterstatters infrage (15,11 veteris non inscius aevi).214 Jenem alten Mann zufolge stattete Hercules bei seiner Rückkehr aus dem Westen Croton einen Besuch ab und ruhte sich dabei von seinen Heldentaten aus (15,15–18): ipse domum magni nec inhospita tecta Crotonis  intrasse et requie longum relevasse laborem, atque ita discedens »aevo« dixisse »nepotum hic locus urbis erit«, promissaque vera fuerunt.

Er soll selbst das Haus und die nicht ungastliche Heimstatt des großen Croton betreten haben und dort Erholung von seiner langen Mühsal gefunden haben, und beim Abschied soll er gesagt haben: »Zur Zeit unserer Enkel wird dies der Ort für eine Stadt sein«, und sein Versprechen bewahrheitete sich.

Dieser Textabschnitt ist von bedeutsamen intra- und intertextuellen Verweisen durchzogen. Zum einen erinnert die Betonung von Crotons Gastfreundschaft im Sinne der charakterisierenden Funktion des Raumes an deren Verletzung durch Lycaon (nec inhospita tecta Crotonis ~ 1,218 Arcadis … sedes et inhospita

212 Zu der Junktur moenia ponere vgl. 5,408 (Korinth); 12,587 (Troja). Numa demon­s­ triert gleichermaßen ein Interesse für Aitien (quis … auctor … / … quaerenti) wie auch für naturwissenschaftliche Fragen (15,6 quae sit rerum natura requirit; vgl. den Titel von Lukrez’ Lehrgedicht De rerum natura; z. B. Lucr. 1,25); Knox (1986, 66–68); Myers (1994, 81; 141); Ov. met. 15,68 (Pythagoras) rerum causas et quid natura docebat. – Die Sperrung von Graia und moenia über die Versgrenze hinweg bewirkt einen ähnlichen Effekt wie das Hyperbaton von nova und corpora im Proömium der Metamorphosen: Bei einer linearen Lektüre könnte man zunächst den Eindruck gewinnen, es handle sich um einen Transfer von ideellem Gut (Graia), erst beim Weiterlesen erfährt man, dass es sich um die Gründung einer Stadt (moenia) handelt; vgl. Hardie (2015, zu 15,9 f.). 213 Vgl. vor allem die dementsprechenden Reisen des Aeneas (vgl. Kap. 5.7) sowie des Asclepius (vgl. Kap. 6.7); Hardie (1997, 198; 2015, zu 15,4–11). 214 Vgl. Nikolopoulos (2006, 77).

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tecta tyranni)215 und unterstreicht damit die ringkompositorische Gestaltung der Metamorphosen mit ihren motivischen Verbindungen zwischen dem ersten und dem letzten Buch (vgl. Kap. 6.10). Zum anderen zitiert Ovid aus dem Sau-Prodigium im dritten Buch der Aeneis (Verg. Aen. 3,393 is locus urbis erit, requies ea certa laborum).216 Damit wird nicht allein die Atmosphäre des frühen Rom evoziert, sondern es wird verdeutlicht, dass Ovid mit der ktisis von Croton auch die vergilische Euander-Geschichte ersetzt.217

Myscelus’ Traum (15,19–35) Die Aeneis-Reminiszenzen setzen sich fort, als der intradiegetische Erzähler berichtet, wie der Grieche Myscelus in einem Traum von Hercules zum Verlassen seiner Heimat aufgefordert wird. Denn dieser Traum ersetzt nicht nur das Orakel, das die Geschichte in anderen Versionen des Mythos voranbringt, sondern erinnert vor allem auch an die Traumerscheinung des Hector im zweiten Buch der Aeneis, durch die Aeneas zum Verlassen Trojas aufgefordert wird (vgl. Verg. Aen. 2,268–295).218 Ein wesentlicher Unterschied zu Vergils Erzählung besteht allerdings in der Motivierung des Geschehens: Während Aeneas aus Troja flüchten muss, weil die Stadt dem Untergang geweiht ist, gibt es in der Heimat des Myscelus keine solche oder andersartige Krise; die spiegelnde Funktion des Raumes zeigt sich hier also nicht im gleichen Sinne (Ov. met. 15,22–24):219 »lapidosas Aesaris undas, i, pete diversi; patrias, age, desere sedes!« et, nisi paruerit, multa ac metuenda minatur.

»Gehe fort und begib dich zu den steinigen Wassern des Aesar; wohlan, verlasse die Stätten deiner Väter!« Und für den Fall, dass er nicht gehorchen sollte, droht er ihm viel Furchtbares an.

Der träumende Myscelus erfährt nicht den Grund, weshalb der Halbgott ihn zum Verlassen von Rhypes auffordert, sondern dieser droht ihm eine harte Bestrafung an, falls er dem Aufruf nicht nachkomme.220 Das Ziel der zu absol 215 Vgl. 11,284 (Ceyx zu Peleus) nec inhospita regna tenemus. Eine ›hospitality scene‹ wird hier nur angedeutet, vgl. Nikolopoulos (2006, 77; 79) und allgemein Bettenworth (2019). 216 Wie Horsfall (2006, z. St.) erläutert, wird durch die Angabe nicht klar, ob das Trojanerlager am Tiberufer oder Lavinium gemeint ist. Vgl. 8,46 (derselbe Vers mit dem Beginn hic; dieser Vers wird meist athetiert). Der Aeneis-Kommentar des Servius enthält keine Bemerkung zu dieser Stelle. Vgl. Ov. fast. 2,280 hic, ubi nunc urbs est, tum locus urbis erat. 217 Vgl. Schmitzer (1990, 252). 218 Vgl. Leschhorn (1984, 28 f.); Nikolopoulos (2006, 78); 2,289 »heu fuge, nate dea, teque his« ait »eripe flammis.« 219 Vgl. Hardie (1997, 196). 220 Die Drohung erinnert auch an den Auszug des Cadmus aus seiner tyrischen Heimat, vgl. 3,4 f. poenam … addit / exilium; Kap. 3.1.

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vierenden Reise wird ihm nicht direkt genannt, sondern nur als das Gebiet der Aesar-Mündung umschrieben. Als Myscelus erwacht, sinnt er über den Traum nach und wägt zwischen Gehorsam gegenüber der Gottheit und den Gesetzen seiner Stadt ab, die ihm einen ›Umzug‹ an einen anderen Ort verbieten (15,28 f. numen abire iubet, prohibent discedere leges / poenaque mors posita est patriam mutare volenti). Der Widerstreit zwischen Gesetzestreue und Befolgen der göttlichen Anweisungen kommt auch auf sprachlicher Ebene zum Ausdruck, da die entsprechenden Ausdrücke chiastisch angeordnet sind (numen – leges; abire – discedere; iubet – prohibent). Außerhalb dieser Geschichte ist eine Strafe für das Verlassen der Heimat in der Antike nicht bekannt;221 sie könnte daher eine Erfindung Ovids sein. Der ungewöhnliche Ausdruck patriam mutare motiviert die spätere Metamorphose der Richtersteine (15,46) und stimmt auf die Verwandlungsthematik ein, indem sie den Ortswechsel durch die Verwendung des Verbs mutare terminologisch wie eine Metamorphose behandelt (vgl. 15,34 f. patrium … transferre parabat / in sedes penetrale novas).222

Der Prozess gegen Myscelus (15,35–48) Die nächste Szene spielt sich in der Stadt des Myscelus ab, deren Bewohner sich über seine Entscheidung zum Verlassen der Heimat empören (15,35 fit murmur in urbe)223 und einen Prozess gegen ihn anstrengen. Der Angeklagte wird seines Vergehens überführt und ruft Hercules um Hilfe an (15,39 f.). Indem er den Halbgott dabei als (criminis) auctor bezeichnet, macht er ihn indirekt zu seinem Vorgänger in der stufenweisen Gründung von Croton (vgl. 15,9 f. quis … auctor posuisset … / moenia). Durch dessen Eingreifen wird Myscelus auf wundersame Weise von seinem offensichtlichen Verbrechen freigesprochen, indem sich die schwarzen Abstimmungssteine der Richter, die eine Verurteilung bedeuten würden, durch das Wirken der Gottheit in weiße Steine verwandeln (15,43–48).224 221 Bömer (1986, z. St.) weist daraufhin, dass eine solche Strafe in offensichtlichem Widerspruch zu den griechischen Koloniegründungen stünde. 222 Zu der Junktur patriam mutare vgl. Verg. georg. 2,511 f. (Lob des Landlebens) exsilioque domos et dulcia limina mutant / atque alio patriam quaerunt sub sole iacentem; Prop. 2,32,31 Tyndaris externo patriam mutavit amore; Ov. fast. 4,802 f. (Gründung Roms) transferri iussos in nova tecta Lares, / mutantesque domum; 6,665 (Tibur) exilio mutant Urbem. Hardie (1997, 196–198) sieht in dem hier verwendeten Vokabular einen Hinweis auf die Veränderungen in der Endphase der Römischen Republik, die eine Revolution ohne den äußeren Anschein einer solchen darstellten. 223 Vgl. 15,603–606 (Reaktion auf die Rede des Cipus); Verg. Aen. 12,618 f. (Turnus erfährt vom Selbstmord Amatas) arrectasque impulit auris / confusae sonus urbis et inlaetabile murmur. 224 Vgl. Jahn (2007, 87).

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Die Gründung von Croton (15,48–59) Die Episode endet mit der eigentlichen Stadtgründung. Um an den verheißenen Ort zu gelangen, muss Myscelus das Ionische Meer überqueren. Ein Katalog der auf der Reise passierten Orte und Gegenden (15,49–54) ersetzt dabei die geographischen Indikationen, die der Held in anderen Versionen des Mythos bzw. die Figuren in ähnlichen Erzählungen durch das Orakel erhalten.225 Die Überfahrt nach Italien verläuft unproblematisch – im Unterschied zu den Aeneaden wird Myscelus nicht mit einem Seesturm konfrontiert, sondern von günstigen Winden an die vom Schicksal bestimmte Stätte geleitet (15,53 f. vixque pererratis quae spectant litora terris / invenit Aesarei fatalia fluminis ora).226 Als Myscelus die Mündung des Aesar erreicht, entdeckt er in der Nähe das Grabmal Crotons und gründet dort eine Stadt (15,55–57): nec procul hinc tumulum, sub quo sacrata Crotonis  ossa tegebat humus; iussaque ibi moenia terra condidit et nomen tumulati traxit in urbem.

Und nicht weit von dort [fand er] einen Grabhügel, unter dem die Erde die heiligen Gebeine des Croton bedeckte; und dort, auf dem verheißenen Land­ strich, gründete er die Mauern und übertrug den Namen des Be­statteten auf die Stadt.

Der Held findet also einen lieu de mémoire vor, der durch ein Heldengrab als heilig gilt (sacrata Crotonis / ossa). Hier führt er den Auftrag des Hercules aus (15,56 iussa … terra ~ 15,28 numen abire iubet) und benennt die neue Stadt nach dem dort begrabenen Croton.227 Die abschließenden zwei Verse verbinden das Ende der Episode ringkompositorisch mit ihrem Anfang (15,58 f. talia constabat certa primordia fama / esse loci positaeque Italis in finibus urbis ~ 15,9 Italicis … posuisset in oris).

225 Nikolopoulos (2006, 78 f.); vgl. 3,8 f.; Kap. 3.1. Vgl. Luck (2017, zu 15,50–52) zu textkritischen Problemen; Geitner (2021, 196 f.) zu den aktualisierenden Epitheta der im Katalog genannten Städte, die aus der Perspektive des intradiegetischen Erzählers eine Wahrheit vermitteln zu wollen scheinen, die sich aus extradiegetischer Sicht als falsch erweist. 226 Myscelus scheint demnach erst nach dem Hauptteil der Überfahrt, als er sich bereits an der italischen Küste befindet, Mühe zu haben, das Ziel zu finden. Vgl. Bömer (1986, zu 15,50–52) für eine Karte sowie zu geographischen und textkritischen Problemen der Reisebeschreibung. 227 Hardie (2015, z. St.) weist auf den Doppelsinn von condere (›begründen‹/›begraben‹) an dieser Stelle hin. Vgl. Myers (1994, 63–67) zu Aitien von Städtenamen. Zur Benennung einer Lokalität nach einer dort bestatteten Person vgl. 14,156 f. (Caieta); 14,620 f. (Aventinus); Varro ling. 5,7,43; Bach (2020, 179).

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6.4.2 Fazit Ovids Croton-Episode ist eine ungewöhnliche ktisis-Erzählung. Sie folgt dem von Dougherty (1993, 8; 15) untersuchten Grundmuster typischer griechischer Kolonisationsnarrative nur bedingt bzw. läuft diesem teilweise sogar zuwider. Der Anlass für die Gründung Crotons durch Myscelus ist keine Krise in seiner Heimat, sondern eine solche entsteht gerade erst dadurch, dass der Held seine Stadt verlassen will. Hinweise auf die zu bewältigende Aufgabe erhält der Protagonist nicht, wie üblich, vom apollinischen Orakel in Delphi, sondern vom Halbgott Hercules in einem Traum. Lediglich die eigentliche Gründung der Stadt sowie die Benennung nach ihrem Gründer entsprechen einer typischen Gründungserzählung. Der Aufruhr in Crotons Heimatstadt Rhypes wird durch das gegen ihn angestrengte Gerichtsverfahren nicht beigelegt, sondern löst sich erst durch die Umwandlung des Urteils auf künstliche Weise auf. Die Episode hat zwei Schauplätze, Rhypes und Croton. Beide Orte werden nie namentlich genannt. Während der erste Schauplatz überhaupt nicht als Anschauungsraum beschrieben wird (15,35 urbe), ist Croton zunächst durch das Haus (15,15 tecta Crotonis), sodann durch das Grabmal des gleichnamigen Helden als bedeutsamer Ort markiert (15,55 tumulum … Crotonis) und wird schließlich durch den Bau von Mauern zur Stadt im eigentlichen Sinne (15,56 f. moenia / … condidit). Der Übergang zwischen diesen beiden Handlungsorten erfolgt durch eine Schiffsreise des Helden; die dabei passierten Orte werden als Hintergrundräume in einem Katalog genannt.228 Auch Croton fungiert zunächst nur als Hintergrundraum, da der Ort in Myscelus’ Traum als Ziel seiner zu absolvierenden Reise angegeben wird, umschrieben durch die Angabe eines topographischen Merkmals der Umgebung (15,22 Aesaris undas). Die Untersuchung des Aktionsraums zeigt die Bedeutung der thematischen Funktion des Raumes für diese Episode. Ein zentrales Motiv ist das Verlassen der Heimat, das sich zum einen im Wissensdurst Numas, zum anderen in ­Myscelus’ Entscheidung zur Stadtgründung äußert. Die Aktionen dieser beiden Figuren sind jedoch räumlich unterschiedlich orientiert: Numa verlässt zwischenzeitlich seine Heimat, um mit kulturellem Wissen aus der Fremde dorthin zurückzukehren, während Myscelus seiner Heimat für immer den Rücken kehrt, um seine Hausgötter an einen anderen Ort zu verlegen. Bei der Untersuchung des gestimmten Raumes zeigt sich die symbolische Funktion des Raumes: Während Myscelus’ in Griechenland gelegene Heimatstadt ihn mit einer Strafe bedroht und somit negativ konnotiert ist (15,24 multa ac metuenda minatur; 15,33 plura ac graviora minari), wird der Ort der künftigen Stadt in Italien durch die Gastfreundschaft des Croton (15,8 hospitis; 15,15 nec inhospita tecta) sowie später durch die Heiligkeit seiner Grabstelle als etwas 228 Zu anderen Städtekatalogen vgl. Kap. 4.4; 4.5; 5.5.

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Positives dargestellt (15,55 f. sacrata Crotonis / ossa). Durch die zahlreichen Referenzen zum Rom der Aeneis, insbesondere die Parallelen zum Besuch des Hercules bei Euander, dem König des ›Ur-Rom‹ in Pallanteum, wird Croton motivisch mit Rom gleichgesetzt. Die Bezüge zum achten Aeneis-Buch wirken umso stärker, als dort wie hier verschiedene Zeitebenen dargestellt werden (Vorzeit: Ov. met. 15,11 veteris … aevi – Gegenwart: 15,20 illius … aevi; Zukunft: 15,17 aevo … nepotum). Damit wird die ktisis-Erzählung von Croton, das einst in Italien eine dem späteren Rom vergleichbare Führungsposition innehatte, innerhalb der Metamorphosen zum Ersatz für die nur sehr kurz abgehandelte Gründungserzählung Roms im vorherigen Buch.229

6.5  Pythagoras prophezeit die Zukunft Roms (15,418–452) Der Pythagoras-Episode insgesamt (15,60–478) wird in der Ovid-Forschung besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Hierfür gibt es mehrere offensichtliche Gründe: Zum einen stellt dieser über 400 Verse lange Abschnitt die umfangreichste zusammenhängende, d. h. nicht von einer Buchgrenze unterbrochene Erzählung der Metamorphosen dar;230 zum anderen suggeriert auch seine Position als Ringschluss zum kosmologischen Eingangsabschnitt im Auftaktbuch sowie als gewichtigster Teil des finalen ›Rom-Buches‹ eine herausgehobene Bedeutung.231 Vor allem aber lässt sich eine solche aus dem Inhalt der Episode ableiten, in der Ovid den Philosophen Pythagoras über das universale Gesetz des stetigen Wandels erzählen lässt (15,165 omnia mutantur) und somit eine metaliterarisch deutbare Aussage über das Wesen der Metamorphose liefert. Während die Verwandlung im Regelfall den Abschluss einer Episode bildet – oft mit einem völlig anderen inhaltlichen Schwerpunkt –, wird sie hier ausführlich um ihrer selbst willen diskutiert. Die Deutungen der Pythagoras-Rede indes gehen diametral auseinander; sie reichen von metapoetischen bis hin zu parodistischen Lesarten:232 Einige Interpreten betrachten die Episode nicht nur als Höhepunkt des Werkes oder zumindest als Hinführung zu diesem,233 sondern gar als mise en abyme der Metamor 229 Vgl. Hardie (1997, 195 f.); Kap. 6.3. 230 Die Phaethon-Erzählung (1,750–2,400) ist zwar etwas länger als die Pythagoras-­ Episode (430 vs. 419 Verse), allerdings auf zwei Bücher verteilt (30 + 400 Verse). Griffin (1981, 147) fasst den gesamten Komplex um die Figur des Ceyx (11,266–748) als eine zusammengehörige Episode auf, die demnach mit insgesamt 483 Versen die längste des Werkes wäre (Griffin gibt jedoch fälschlicherweise die Zahl 482 an). 231 Vgl. Solodow (1988, 162 f.). 232 Einen Überblick über die verschiedenen Forschungsansätze bieten Myers (1994, 133– 136); Schmitzer (2006, 13 f.); Schmidt (2021, 252–261). 233 Vgl. Otis (1966, 296).

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phosen und somit als Schlüssel zu deren Gesamtverständnis durch Pythagoras als Sprachrohr Ovids.234 In jüngerer Vergangenheit lassen sich Positionen beobachten, die zwischen den Extremen vermitteln: In dem Bewusstsein, dass die Interpretation eines Werkes aus einem einzigen, mehr oder weniger willkürlich herausgegriffenen Abschnitt grundsätzlich problematisch ist,235 dass aber die Pythagoras-Erzählung eine herausgehobene Stellung in den Metamorphosen einnimmt, wird sie häufig zusammen mit dem Proömium, dem Epilog sowie den übrigen Passagen mit Künstlerfiguren an den Übergängen zwischen den drei Werkdritteln (Musen und Pieriden in Buch 5 sowie Minerva und Arachne in Buch 6, Orpheus in Buch 10–11) als eine aufschlussreiche Episode zum Verständnis von Ovids Dichtungskonzept gedeutet.236 Die nachfolgende Untersuchung konzentriert sich auf eine Textpassage, die sich wenige Verse vor dem Ende der Pythagoras-Episode befindet: den sogenannten Städtekatalog über den Aufstieg und Fall Trojas und der berühmten Städte Griechenlands (15,418–436) sowie die unmittelbar damit verbundene Weissagung des Helenus über die Zukunft Roms (15,436–452). Diese zwei Hauptabschnitte der hier zu analysierenden Verse lassen sich folgendermaßen weiter untergliedern: Nach einer kurzen Überleitung (15,418–420) vom vorherigen Teil seiner Rede über unterschiedliche Naturphänomene kommt Pythagoras auf das Schicksal von Völkern zu sprechen (15,420–422) und führt als erstes und längstes Beispiel den Untergang Trojas an (15,422–425). Daran anschließend kontrastiert er die einstige Größe von Sparta, Mykene, Athen und Theben mit ihrem zwischenzeitlichen Untergang (15,426–430), bevor er dieser Auflistung den gegenwärtigen Aufstieg Roms gegenüberstellt (15,431–435). Dieses Motiv weiterführend, zitiert er nach einer kurzen Überleitung (15,435–438) die Worte des Priamus-Sohnes Helenus über das Emporkommen der Stadt (15,439–449) 234 Dem steht die Trivialisierung oder zumindest ungewöhnliche Schwerpunktsetzung bezüglich der pythagoreischen Lehrinhalte entgegen: Mit dem Vegetarismus und der Seelenwanderung rückt Ovid zwei vergleichsweise unbedeutende Aspekte des Pythagoreismus in den Fokus seiner Darstellung; vgl. Wilkinson (1955, 144): »Ovid was no philosopher«; Solodow (1988, 164–166); von Albrecht (2003, 164): »Ovid ist kein Philosoph, sondern ein Dichter«; Papaioannou (2011, 32); Schmidt (2021, 332): »Außerdem gehört der ovidische Pythagoras genau wie die epische Erzählinstanz nicht einer bestimmten philosophischen Schule an, so dass er viel mehr Spielraum hat als die einer bestimmten philosophischen Lehrmeinung verpflichteten Vorgänger.« – Gegen die These als Schlüsselepisode wenden sich auch Myers (1994, 133–136) und Vial (2008, 397). Entgegen der Mehrheitsmeinung spricht Porte (1985, 182) von einer »recherche philosophique approfondie«, die Ovid in der Pythagoras-Episode demonstriere. 235 Vgl. Schmitzer (2006, 15–17). 236 Vgl. Solodow (1988, 163 f.); Myers (1994, 162–165); Hardie (1997, 189); Bernsdorff (2000); Schmitzer (2006, 14 f.). Pillinger (2019, 186 mit Fn. 92) warnt ebenfalls vor der Vereinnahmung einer einzelnen Figur als Sprachrohr Ovids: »There is barely a single speaker within Ovid’s poetry who does not channel elements of the self-conscious and pseudo-autobiographical external narrator.«

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und endet mit einer eigenen Einschätzung zum Ausgang des Trojanischen Krieges (15,450–452). Der 35 Verse lange Abschnitt enthält mehrere interessante Aspekte, die in der nachfolgenden Analyse behandelt werden: Zunächst einmal ist die Echtheit der fünf Verse über die griechischen Städte (15,426–430), die zwischen Pythagoras’ Worten über den Untergang Trojas und den Aufstieg Roms stehen, aufgrund zahlreicher sprachlicher, stilistischer und inhaltlicher Auffälligkeiten umstritten, sodass eine textkritische Untersuchung dieses Katalogs notwendig ist. Daneben, aber nicht getrennt davon ist die Frage zu behandeln, in welcher Beziehung die von Pythagoras und Helenus gepriesene zukünftige Größe Roms zum Verfall sämtlicher vorher von Pythagoras genannter Städte steht. Schließlich ist die ovidische Helenus-Prophetie insbesondere im Vergleich mit der entsprechenden Passage im dritten Buch der Aeneis zu interpretieren. Vor der Analyse des hier ausgewählten Textabschnittes ist noch kurz auf die Erzählerfigur einzugehen. Der historische Pythagoras von Samos lebte im sechsten vorchristlichen Jahrhundert, doch die Rede der gleichnamigen Figur in den Metamorphosen ist an den römischen König Numa gerichtet, der gemäß der mythischen Chronologie um 700 v. Chr., also mehr als einhundert Jahre vor der Geburt des griechischen Philosophen lebte. Die Begegnung dieser beiden Gestalten ist allerdings keine Erfindung Ovids, sondern wurde bereits vor seiner Zeit literarisch thematisiert. Die einschlägigen Diskussionen bei Cicero und Livius (vgl. Cic. rep. 2,27–29; Cic. Tusc. 4,1,3; Liv. 1,18,2) belegen, dass die anachronistische Natur dieses vermeintlichen Zusammentreffens in Rom wohlbekannt war.237 Daher ist ein Fehler des Dichters auszuschließen.238 Vielmehr muss Ovid Numa und Pythagoras bewusst, also aus literarischen Gründen, innerhalb ein und derselben zeitlichen und räumlichen Situation platziert haben.239 Auf die problematische Chronologie der Episode wird im Rahmen der Helenus-­Prophetie und der Untersuchung von deren erzählerischer Zuverlässig 237 Vgl. Ogilvie (1965, zu Liv. 1,18,2); Geitner (2021, 13–20). 238 Vgl. auch die Distanzierung des Dichters vom Wahrheitsgehalt der Aussagen an anderen Stellen wie 15,480 (ferunt) und dazu O’Hara (2007, 122 f.) sowie die Unterscheidung von zwei möglichen Arten von Anachronismen im Vergil-Kommentar des Servius (Serv. Aen. 6,359 ergo anticipatio est, quae … si ex poetae persona fiat, tolerabilis est; si autem per alium, vitiosissima est). 239 Vgl. Barchiesi (1989, 74–76); Geitner (2021, 194; 211 f.). Schmitzer (1990, 256–260) deutet den vates Pythagoras und den Friedenskönig Numa als zwei exemplarische Figuren, die mit Ovid und Augustus gleichzusetzen sind und somit ein Idealverhältnis zwischen Dichter und Prinzeps kreieren. Geitner (ebd., 202–207) klassifiziert die Begegnung zwischen Numa und Pythagoras als poetischen Synchronismus. Der Widerspruch steht nicht im Vordergrund der Erzählung, zumal Pythagoras nicht namentlich genannt wird (15,60 Vir … Samius), ist aber nicht zu übersehen, da die beschriebenen Umstände eine Zuordnung durchaus erlauben (ähnlich der Situation hinsichtlich der Panathenäen und ihres Gründers Erichthonius; vgl. Kap. 4.1).

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keit genauer einzugehen sein,240 da Pythagoras sich als Reinkarnation eines trojanischen Kriegers und somit als Ohrenzeuge von Helenus’ Weissagung ausgibt.

6.5.1 Analyse Der Auftakt zum Städtekatalog (15,418–422) Nach der Einleitung (15,60–74) und beinahe 350 Versen wörtlicher Rede des Pythagoras (15,75–417) scheint die Episode sich ihrem Ende zu nähern (15,418–420): »Desinet ante dies et in alto Phoebus anhelos aequore tinguet equos, quam consequar omnia verbis in species translata novas.« 

»Der Tag wird zu Ende gehen und Apollo seine keuchenden Rosse ins tiefe Meer tauchen lassen, bevor ich alles in Worte fassen kann, was in eine neue Gestalt verwandelt worden ist.«

Die Abbruchformel mit dem Unsagbarkeitstopos ante … / … quam consequar omnia verbis241 lässt erwarten, dass nach den zahlreichen Beispielen, mit denen Pythagoras bis hierhin das Wesen der Metamorphose illustriert hat, keine weiteren Bereiche mehr folgen werden. Auch die zum Proömium nahezu synonymen Worte omnia … / in species translata novas (vgl. 1,1 f. In nova … mutatas dicere formas / corpora) scheinen auf einen Abschluss der umfangreichen Aufzählung hinzudeuten.242 Stattdessen aber leitet das nachfolgende sic ein neues Themenfeld ein, das wie ein Addendum zur Pythagoras-Rede wirkt, die bereits an sich wie ein Kataloggedicht erscheint (15,420–422): »sic tempora verti  cernimus atque illas adsumere robora gentes, concidere has.«

»So sehen wir auch, wie die Zeiten sich wandeln und die einen Völker an Kraft zunehmen, während andere untergehen.«

Laut Pythagoras ist der ›Lebenszyklus‹ von Völkern ein weiterer Bereich, in dem sich Verwandlungsprozesse beobachten lassen.243 Das Schicksal dieser Völker 240 Feeney (1999, 22–24) macht darauf aufmerksam, dass die genannte Cicero-Passage das Thema der fiktionalen Plausibilität behandelt, und kommt zu dem Schluss, Ovid wolle – als Gegenposition zu Ciceros Vorstellung einer ursprünglichen Romanitas – zeigen, dass die römische Kultur von ihrem Anbeginn an durch die hellenistische Kultur beeinflusst gewesen ist. Spahlinger (1996, 49) betont zu Recht, dass die Vermittlung über zwei Ebenen (Ovid – Pythagoras – Helenus) keine Aufschlüsse über die Identität der gemachten Aussagen mit der persönlichen Ansicht Ovids erlaubt. 241 Vgl. Hom. Il. 2,487–493 (Schiffskatalog) und dazu Brügger et al. (2010, zu 2,488–492); Hom. Od. 11,328–330 (Katalog der Unterweltsfiguren in der Nekyia). 242 Vgl. Wheeler (2000, 122); Hardie (2015, z. St.). 243 Vgl. Lucr. 2,77 augescunt aliae gentes, aliae minuuntur; Lushkov (2020, 60) zu Herodots programmatischer Aussage über den Aufstieg und Niedergang von Städten (Hdt. 1,5,4).

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ist mit dem der jeweils von ihnen bewohnten Städte gleichzusetzen, zumal auch die Metaphorik des Niedersinkens bereits auf den später dargestellten Untergang von Städten hindeutet (concidere; vgl. 15,428 cecidere).

Der Untergang Trojas (15,422–425) Das erste und ausführlichste Beispiel für den Umschwung des Schicksals einer Stadt ist Troja, dessen Untergang Ovid in Buch 13 dargestellt und daneben an zahlreichen weiteren Stellen evoziert hatte (vgl. Kap. 5.6): »sic magna fuit censuque virisque perque decem potuit tantum dare sanguinis annos, nunc humilis veteres tantummodo Troia ruinas et pro divitiis tumulos ostendit avorum.« 

»So war Troja einst reich an Besitz und an Helden und konnte zehn Jahre hindurch so hohen Blutzoll entrichten, jetzt aber liegt es am Boden, bietet nur die alten Trümmer dar und anstelle der Schätze die Gräber der Ahnen.«

Der Dichter stellt den Gegensatz zwischen der einstigen Bedeutung der Stadt und ihrem nunmehr verheerten Zustand dar,244 der sich auch im Tempusrelief zeigt (fuit/potuit – nunc ostendit). Dabei klingt die literarische Erinnerung an andere einst große Städte wie das vergilische Karthago an (Ov. met. 15,422 magna fuit [sc. Troia] ~ Verg. Aen. 1,12 f. Urbs antiqua fuit … / Karthago). Der Kontrast zwischen einstiger Größe und jetzigem Niedergang (Ov. met. 15,422 magna ~ 15,424 humilis) lässt sich an den Faktoren ›Reichtum‹ (15,422 censu ~ 15,425 pro divitiis) und ›bedeutende Einwohner‹ (15,422 viris ~ 15,425 tumulos … avorum) konkretisieren. Der Grund für diese Schicksalswende, der zehnjährige Trojanische Krieg, wird in einem vollständigen Vers zwischen diesen Gegensätzen platziert (15,423). Gemäß Pythagoras’ Worten hat Troja sich also von einer blühenden und mächtigen Stadt zu einer unbedeutenden Ruinenlandschaft entwickelt, die nur noch durch ihre Vergangenheit von Bedeutung ist (15,424 veteres … ruinas; 15,425 avorum). Bei einer wortgenauen Lektüre wird an dieser Stelle eine erste historische Unstimmigkeit der hier untersuchten Passage augenscheinlich: Trotz ihrer Eroberung im Trojanischen Krieg war die Stadt, soweit sie archäologisch greifbar ist, sowohl zur Lebenszeit des Pythagoras im sechsten Jahrhundert v. Chr. als auch zur Schaffenszeit Ovids um die Zeitenwende noch bewohnt, galt sie doch in der klassischen Antike sogar als Touristenattraktion.245 An dieser 244 Vgl. Rossi (2002, 241–243) zum Kontrast zwischen einstiger Größe und gegenwärtigem Untergang als Grundmuster der ›tragischen‹ Geschichtsschreibung. 245 Vgl. Hardie (2015, z. St.). Nach Ovid entwickelt Lucan den Ruinentopos bei der Gestaltung von Caesars Besuch in Troja weiter (Lucan. 9,961–999; 9,969 etiam periere ruinae); vgl. Behm (2019a, 277 f.) mit weiterführender Literatur.

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Stelle ist daher zum ersten Mal zu betonen, dass Ovids Darstellung auf den poetisch ausgedrückten Kontrast zwischen einstiger Blüte der Stadt und daran anschließendem Verfall und nicht auf eine historisch-archäologisch korrekte Wiedergabe ihrer Siedlungsgeschichte angelegt ist.

Der Untergang der griechischen Städte (15,426–430) Im Anschluss an Troja folgt eine Reihe weiterer Städte, die Ovids Pythagoras als exempla für Blüte und Niedergang anführt. Wie einleitend erwähnt, wird die Echtheit dieser Passage vielfach bezweifelt, doch soll sie zunächst unabhängig von diesem Problem auf inhaltlicher Ebene in der von Anderson gedruckten Gestalt betrachtet werden: »clara fuit Sparte, magnae viguere Mycenae, nec non et Cecropis, nec non Amphionis arces: vile solum Sparte est, altae cecidere Mycenae; Oedipodioniae quid sunt, nisi nomina, Thebae? quid Pandioniae restant, nisi nomen, Athenae?« 

»Berühmt war Sparta, stark das große Mykene und auch die Burgen des Cecrops und des Amphion. Ein wertloses Stück Land ist Sparta, gefallen ist das hohe Mykene; was ist Oedipus’ Theben mehr als ein Name? Was bleibt von Pandions Athen außer seinem Namen?«

Diese Verse handeln von vier untergegangenen griechischen Städten: Sparta, Mykene, Theben und Athen. Ungewöhnlich ist, dass diese nicht – wie in einem Katalog üblich – linear nacheinander aufgeführt werden, sondern dass jede Stadt gleich zwei Mal genannt ist. Sparta und Mykene teilen sich jeweils die Verse 15,426 und 15,428. Die Namen der Städte stehen dort jeweils an gleicher Position. Athen und Theben werden zunächst gemeinsam in Vers 15,427 und dann einzeln in den Versen 15,429 f. genannt. Diese beiden Städte werden mit jeweils zwei unterschiedlichen mythischen Figuren assoziiert. Betrachten wir zunächst, wie der Untergang der vier Städte im Einzelnen dargestellt wird. Für Sparta konstatiert Pythagoras einen Gegensatz zwischen einstiger Berühmtheit und jetziger Bedeutungslosigkeit, da die Stadt nur noch ein leeres Stück Land sei (clara ~ vile solum); bezüglich Mykene stellt er Größe und Fall einander gegenüber (magnae viguere ~ altae cecidere). Der erste Vers rekurriert dabei auf die für Troja verwendete Diktion (15,426 fuit; magnae ~ 15,422 magna fuit); der zweite Vers greift nur indirekt bzw. kontrastierend die Darstellung der trojanischen Gegenwart auf (15,428 vile solum ~ 15,424 ruinas; 15,428 altae ~ 15,424 humilis). Analog zu der parallelen Gestaltung der beiden Verse über Sparta und Mykene, die auch von der metrischen Gestalt unterstrichen wird, lassen sich auch bei der Betrachtung der insgesamt drei auf Athen und Theben bezogenen Verse zahlreiche Parallelen beobachten. Der Vers 15,427 enthält die Anapher nec non und anschließend jeweils den Genitiv eines Eigennamens, einmal vom athenischen Urkönig Cecrops und einmal von Amphion,

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dem mythischen Erbauer der thebanischen Stadtmauern.246 Die Verse 15,429 f. enthalten jeweils ein von einem Eigennamen abgeleitetes Adjektiv, einmal bezüglich des berühmten Thebaners Oedipus, einmal des athenischen Königs Pandion. Die Verse enden mit dem Reim der beiden Stadtnamen, vor denen sich das Polyptoton nisi nomina / nisi nomen befindet. Diese zwei Verse weichen damit von den vorherigen Beispielen ab: Während bei den zuerst genannten Städten (einschließlich Troja) äußerliche Merkmale wie Reichtum und Größe thematisiert worden waren, ist es hier der Name der jeweiligen Stadt, der das einzige Relikt ihrer vergangenen Bedeutung darstellt. Den Namen der untergegangenen Städte kommt also eine besondere Bedeutung zu.247 Durch die emphatische Wiederholung von Sparte und Mycenae, die Platzierung von Mycenae, Thebae und Athenae am Versende sowie durch die steigernde Hinführung zu den beiden letztgenannten Städten (erst metonymische Umschreibung als arces ihres jeweiligen Königs, dann direkte Nennung) stehen die Stadtnamen im Zentrum der Darstellung. Der Untergang einer Stadt führt zur Vernichtung ihrer physischen Spuren, die einzige bleibende Erinnerung an ihre frühere Existenz ist demnach der Name. Schon die bloße Länge der Adjektive Oedipodioniae und Pandioniae, die (im letzten Fall zusammengerechnet mit dem einleitenden quid) bis zur Penthemimeres der Verse über Theben und Athen reicht und die Länge der eigentlichen Stadtnamen übertrifft, unterstreicht diese Aussage. Einen wichtigen Referenztext zu der ovidischen Städteliste finden wir in einer der wirkmächtigsten Passagen der lateinischen Literatur, der Prophetie des Anchises im sechsten Buch der Aeneis. Dort findet sich ein Katalog zukünftiger albanischer Kolonien (Verg. Aen. 6,773–776):248 »hi tibi Nomentum et Gabios urbemque Fidenam, hi Collatinas imponent montibus arces, Pometios Castrumque Inui Bolamque Coramque; haec tum nomina erunt, nunc sunt sine nomine terrae.«

»Diese [Männer] werden dir No­ mentum und Gabii und die Stadt Fidenae gründen, diese auf den Bergen die collatinischen Burganlagen errichten, Pometii und Castrum Inui werden sie gründen, Bola und Cora. Berühmte Namen werden dort sein, wo jetzt namenloses Land ist.«

246 Vgl. 6,178 f. fidibusque mei commissa mariti / moenia; Einleitung zu Kap. 3. 247 Vgl. 15,876 nomenque erit indelebile nostrum; Kap. 6.9. 248 Zum Wortspiel Nomentum – nomina vgl. Horsfall (2013, z. St.). Vgl. Ov. met. 15,727 f., wo Ovid Castrum Inui im Katalog der von Asclepius passierten Orte nennt.

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Die Auflistung von acht Städten in drei Versen schließt mit der Aussage, dass jene Orte, die bereits vor der Abfassung der Aeneis untergegangen waren,249 in der Erzählgegenwart noch namenlose Landstriche sind, eines Tages aber existieren und daher auch einen bekannten Namen haben werden.250 Implizit ist damit auch gesagt, dass die für Aeneas noch namenlosen Städte nach ihrer zukünftigen, aber nur vorübergehenden Existenz für die Leser in Vergils Epoche wiederum nur mehr bloße Namen sein werden.251 Schon Vergil thematisiert also den ›Lebenszyklus‹ einer Stadt: von einem noch namenlosen Stück Land über eine Stadt mit Namen hin zu einem Landstrich im Sinne von ›Nicht-mehr-Stadt‹ mit dem erhalten gebliebenen Namen. An der Stelle in den Metamorphosen finden wir die letzten zwei dieser drei Phasen ausgedrückt.252 Die fünf ovidischen Verse – so sie denn echt sind – enthalten genauso wie die drei Aeneis-Verse acht Städtenamen, jedoch reduziert sich diese Anzahl durch die Doppelungen um die Hälfte. Während Vergil die Sentenz über die Bedeutung der Namen als separates Fazit an das Ende seines Katalogs stellt, integriert Ovid seine Reflexion über die Namen in die letzten zwei Katalogverse. Auch geht er über die bloße Auflistung von Ortsnamen bei Vergil hinaus, indem er den Städten teilweise Epitheta hinzufügt.253 Während Vergil nur solche Städte als untergegangen bezeichnet, denen auch tatsächlich ein derartiges Schicksal widerfahren ist, ruft Ovids Städtekatalog wegen seiner offenbaren Anachronismen Verwunderung hervor: Ebenso wenig wie im Fall Trojas kann man bezüglich der vier griechischen Städte von einer zeitlich korrekten Darstellung ihres Untergangs sprechen. Einzig Mykene wurde bereits vor Pythagoras’ Lebzeiten zerstört, wohingegen Sparta, Athen und Theben damals noch in Blüte standen.254 Ein ähnlich problematisches Bild ergibt sich, wenn man die Abfassungszeit der Metamorphosen als Referenzpunkt für die historische Stimmigkeit ansetzt: Auch um die Zeitenwende herum kann man nicht einheitlich den Untergang der aufgeführten Städte konstatieren. Insbesondere Athen existierte bekanntlich noch und war ein beliebter Studienort für die römische Oberschicht, nicht zuletzt für Ovid persönlich. Die rhetorische Frage des Pythagoras, was von Athen außer seinem Namen geblieben sei, ergibt

249 Vgl. Rossi (2002, 244 f.); Horsfall (2013, z. St.) für Informationen zu den einzelnen Städten. 250 Horsfall (2013, zu 6,776) spricht passenderweise von einer »metonomasia ante litteram«. 251 Vgl. Barchiesi (1989, 87; 2001, 71 f.); Labate (1991, 167) zum ›Tod‹ von Städten als alltagsweltlich bekanntem Thema für zeitgenössische Leser. 252 Vgl. Labate (1991, 174 f.; 177–179). 253 Vgl. Horsfall (2013, zu Verg. Aen. 6,773–776) zum Fehlen von Epitheta der aufgeführten Städte. 254 Vgl. Hardie (2015, zu Ov. met. 15,426–430).

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also historisch betrachtet keinen Sinn, sodass sie nur aus der beabsichtigten poetischen Wirkung heraus erklärt werden kann.

Der Aufstieg Roms (15,431–436) Die folgenden Verse über die Zukunft Roms stehen sowohl mit dem Troja-Block (15,422–425) als auch mit dem vielfach diskutierten Abschnitt über die griechischen Städte (15,426–430) in Verbindung (15,431–433): »nunc quoque Dardaniam fama est consurgere Romam, »Nun aber, so heißt es, erhebt sich Appenninigenae quae proxima Thybridis undis das dardanische Rom, das dicht an mole sub ingenti rerum fundamina ponit.« den Wogen des im Apennin entsprungenen Tibers unter gewaltiger Mühe den Grund zu einem Weltreich legt.«255

Einerseits nimmt das einleitende nunc quoque das bezüglich Troja verwendete Wort nunc (15,424) wieder auf, andererseits fügt sich das am Versende stehende Romam in die Reihe der zuvor an gleicher Position genannten Städte ein (15,426–430). Die exakte Bedeutung der Einleitungsformel ist nur schwer zu ermitteln. Üblicherweise dienen die Worte nunc quoque als Hinweis auf ein Aition, häufig (im Sinne von ›auch jetzt noch‹) zur Angabe eines bis in die Gegenwart hinein bestehenden Sachverhaltes – so auch vielfach in den Metamorphosen.256 Eine solche Bedeutung ist an der vorliegenden Textstelle jedoch schwer auszumachen, sodass verschiedene alternative Übersetzungsvorschläge gemacht worden sind. Beispielsweise schlägt Bömer (1986, zu 15,431) die Bedeutung »jetzt jedoch« vor, um den Umschwung zwischen niedergegangenen Städten und dem sich erhebenden Rom anzuzeigen.257 Andererseits lässt sich aber die Entstehung Roms aus dem untergegangenen Troja (Dardaniam … consurgere Romam) als implizite, da ungewöhnlicherweise auf die Gegenwart und Zukunft bezogene Aitiologie betrachten – ebenso wie das erstmals bei Ovid belegte Adjektiv Appenninigena (15,432 Appenninigenae … Thybridis undis) die Quellregion des Tibers und somit einen Ursprung angibt. Die Nennung des Tibers als eines zusätzlichen geographischen Markers neben dem Stadtnamen selbst stellt zwar gegenüber den vorherigen Versen ein 255 Die Übersetzung von mole sub ingenti basiert auf den Ausführungen von Luck (2017, z. St.). 256 Vgl. Myers (1994, 65 f.) zur Verwendung dieser Formel in parodistischer Weise; Walter (2019, 610; 626). 257 Granobs (1997, 125 f.) erklärt seinen nachvollziehbaren Übersetzungsvorschlag »genauso« damit, dass Ovid hier die allgemeine These vom Aufstieg und Fall von Städten ausbreite.

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Novum dar, aber das diesen Fluss charakterisierende Beiwort Appenninigenae steht wiederum in einer Linie mit den für Theben und Athen verwendeten, bis zur Penthemimeres reichenden gelehrten Epitheta (vgl. 15,429 f.). Desgleichen steht das auf den Ur-Trojaner Dardanus bezogene Beiwort Dardanius258 (vgl. 15,431) in einer Reihe mit den zuvor genannten mythischen Repräsentanten Athens und Thebens. Zudem schlägt die Erwähnung des Tibers einen Bogen zur Phaethon-Geschichte in Buch 2, wo dieser Fluss prominent im Katalog der beim Weltenbrand zerstörten Gegenden aufgeführt wird und mit einer Antizipation von Roms einstiger Größe verbunden ist (2,259 cuique fuit rerum promissa potentia, Thybrin ~ 15,433 rerum fundamina; vgl. Kap. 2.3). Hier nun, bei der ersten direkten Nennung von Rom in den Metamorphosen überhaupt,259 werden Stadt und Fluss gemeinsam erwähnt. Die Verse 15,431–433 verweisen auf eine ganze Reihe von bedeutenden Texten, die sich mit der Entstehung Roms auseinandersetzen. Insbesondere erinnert Ovids Formulierung für den mühsamen Aufstieg der römischen Nation zu einem Weltreich an den bekannten Endvers des Aeneis-Proömiums (Ov. met. 15,433 mole sub ingenti ~ Verg. Aen. 1,33 tantae molis erat) sowie an Ovids eigene Darstellung der Apotheose des ersten Königs Romulus, die Mars unter Berufung auf das erfolgreiche Gründungsprojekt einfordert (Ov. met. 15,433 rerum fundamina ponit ~ 14,808 f. quoniam fundamine magno / res Romana valet). Daneben rekurriert Ovid vorher mit dem Verweis auf die trojanischen Vorfahren der Römer auf den Topos der Troia resurgens, wie er exemplarisch im ersten Gedicht von Properzens ›Rom-Buch‹ zum Ausdruck kommt (Ov. met. 15,431 Dardaniam … consurgere Romam ~ Prop. 4,1,87 Troica Roma resurges).260 Damit ist implizit auch die Anknüpfung an den Abschnitt über Troja am Beginn des Katalogs (Ov. met. 15,422–425) wiederhergestellt. In der anschließenden Helenus-Prophetie wird das Motiv des in Rom wiedererstehenden Troja mehrfach wiederaufgenommen. Vor jene Passage hat Ovid noch folgende Verse gesetzt, in denen Pythagoras zunächst eine Art Fazit seiner bisherigen Ausführungen zieht (15,434–436): »haec igitur formam crescendo mutat et olim immensi caput orbis erit. sic dicere vates  faticinasque ferunt sortes.«

»Diese [Stadt] verändert im Wachsen die Gestalt und wird einst das Haupt des unermesslichen Erdkreises sein. So sagen es, wie es heißt, die Seher und die schicksalsverkündenden Orakel.«

258 Vgl. Schmitzer (2014, 138 f.) zur artifiziellen Konstruktion einer italischen Vergangenheit des Dardanus. 259 Ein zweites Mal wird die Stadt nur noch im Rahmen der Cipus-Episode namentlich genannt (15,597; ebenfalls im Akkusativ; vgl. Kap. 6.6); vgl. Kap. 1 zur Häufigkeit der Nennungen und Verweise auf die einzelnen ›Hauptstädte‹ der Metamorphosen. 260 Vgl. auch Ov. fast. 1,523 eversaque, Troia, resurges.

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Der Philosoph klassifiziert den Aufstieg Roms als Verwandlung durch Wachstum. Durch die verwendete Terminologie wird explizit gemacht, dass die Metamorphose der Stadt ein weiteres Beispiel für das im Proömium in ähnlichen Worten angekündigte Phänomen ist (15,434 formam crescendo mutat ~ 1,1 mutatas dicere formas). Das Ziel dieses Wachstumsvorganges wird laut ­Pythagoras in dem Moment erreicht sein, in dem Rom zur Hauptstadt der Welt geworden ist (15,434 f. olim / immensi caput orbis erit).261 Die künftige Weltherrschaft Roms wird in der Rede des Pythagoras implizit als Höhepunkt der geschichtlichen Entwicklung dargestellt. Jedoch mildert der Philosoph diese Aussage sogleich wieder ab, indem er sich auf die Autorität von Seher- und Schicksalssprüchen beruft. Durch die Vielzahl derartiger Verweise am Beginn des Rom-Abschnitts (15,431 fama est; 15,435 f. sic dicere vates / faticinasque ferunt sortes) wird ein klarer Gegensatz zwischen den als historisch betrachteten Vorgängen rund um Troja und die griechischen Städte auf der einen Seite und der Vorausschau auf Rom auf der anderen Seite hervorgerufen. Die so bewirkten Zweifel am Wahrheits- bzw. Wahrscheinlichkeitsgrad von Pythagoras’ Zukunftsprognose verstärken sich in der nun zu betrachtenden HelenusProphetie (15,451 mente memor refero).262

Die Prophetie des Helenus (15,436–452) Die zweite Hälfte der Reflexion über Städte nimmt ein konkretes Beispiel für die zuvor genannten Sehersprüche ein, nämlich die Weissagung des Helenus über die Zukunft der Trojaner, die Pythagoras mit folgenden Worten einleitet (15,436–438):263 »quantumque recordor, dixerat Aeneae, cum res Troiana labaret, Priamides Helenus flenti dubioque salutis: ...«

»Und soweit ich mich erinnere, hatte Priamus’ Sohn Helenus, als die trojanische Macht wankte, zu Aeneas, der weinte und an der Rettung zweifelte, gesagt: …«

Die Prophezeiung wird Aeneas übermittelt, als er, noch in Troja, über den Untergang der Stadt trauert, was die psychologische Funktion des Raumes unterstreicht. Die raumzeitliche Situierung der Weissagung erscheint fragwürdig: 261 Zur Junktur caput orbis (›Haupt der Welt‹) vgl. Liv. 1,16,7; Ov. am. 1,15,26; Ov. fast. 5,93. Zum futurischen olim vgl. 1,517 montibus his olim totus promittitur orbis. 262 Vgl. Solodow (1988, 68–73) zu Markern wie fertur als Hinweisen auf den subjektiven Charakter von Dichtung. 263 Otis (1966, 300 f.) betont die Rolle der Helenus-Prophetie als Kulmination des Abschnitts 15,252–417 und insbesondere des hier betrachteten historischen Passus 15,418–452. Vgl. Papaioannou (2011, 34–37) zur literarischen Tradition über Helenus ab Homer und dem Epischen Kyklos. – Zur Umstellung der Verse 15,437 und 15,438 (zuerst bei Heinsius) vgl. Luck (2017, z. St.) sowie (ebd., zu 15,433) zur Bedeutung von res (Troiana).

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Der Sprecher behauptet, sich persönlich an die Worte erinnern zu können, die Helenus an Aeneas gerichtet habe. Pythagoras beruft sich damit auf die zuvor von ihm skizzierte Seelenwanderungslehre und exemplifiziert diese an sich selbst, indem er auf sein vorgebliches früheres Dasein als trojanischer Kämpfer verweist, welches er zu einem früheren Zeitpunkt seiner Rede erläutert hatte (15,160–164): »ipse ego (nam memini) Troiani tempore belli  Panthoides Euphorbus eram, cui pectore quondam haesit in adverso gravis hasta minoris Atridae; cognovi clipeum, laevae gestamina nostrae, nuper Abanteis templo Iunonis in Argis.«

»Ich selbst (ich kann mich nämlich erinnern) war zur Zeit des Trojanischen Krieges der Sohn des Panthus, Euphorbus, den einst die schwere Lanze des jüngeren Atriden von vorn in die Brust traf. Den Schild, den einst meine Linke trug, habe ich kürzlich im Juno-Tempel in Argos, der Stadt des Abas, wiedererkannt.«

Im Vergleich mit der homerischen Ilias als dem entscheidenden Referenztext für die ›faktische‹ Überprüfung von Pythagoras’ Aussage ergibt sich eine schwerwiegende Unstimmigkeit: Der Trojaner Euphorbus wird bereits vor dem Fall der Stadt getötet (vgl. Hom. Il. 17,43–60), während er dieses Ereignis in der ovidischen Version noch miterlebt (Ov. met. 15,437 cum res Troiana labaret),264 bevor er zu einem unbestimmten späteren Zeitpunkt von der Hand des Menelaus stirbt (15,161 quondam). Die paradox anmutende Erinnerung des Pythagoras (15,160 ipse ego … memini; 15,436 recordor)265 – seine Identität besteht gerade darin, dass er vorgibt, einstmals ein anderer gewesen zu sein – muss aber aus der Sicht von Ovids Lesern noch aus einem zweiten Grund problematisch erscheinen: Indem der Dichter die Helenus-Prophetie in Troja verortet, widerspricht er nicht nur der kanonischen Version Vergils, wo dieses Ereignis erst während der Reise der Aeneaden in Buthrotum stattfindet (vgl. Verg. Aen. 3,294–505), sondern auch seiner eigenen Darstellung, wo die Prophetie gleichfalls in jenem ›falschen‹ Troja lokalisiert ist (Ov. met. 13,720–723; vgl. Kap. 5.8).266 Wenngleich Pythagoras’ 264 Hardie (2015, zu 15,450) deutet auch die wörtliche Bedeutung von penatigero als Hinweis auf die Erstürmung Trojas, also auf einen Zeitpunkt, an dem Euphorbus laut Homer schon tot ist. 265 Hardie (1997, 188) interpretiert das ovidische memini als poetische Erinnerung des Dichters an den Helenus der Aeneis (und damit weniger als persönliche Erinnerung des Euphorbus an seine frühere Existenz); vgl. Conte (1986, 40–52) zur rhetorischen Funktion derartiger poetischer Erinnerungen; Barchiesi (1989, 84 f.); Jouteur (2001, 226 f.); Hardie (2002a, 278 mit Fn. 40). Papaioannou (2011, 39 f.) stellt heraus, wie Pythagoras seine Autorität geradezu überbetont, und interpretiert die Erinnerung an seine frühere poetische Existenz in anderen Werken als Spezialfall einer alexandrinischen Fußnote. 266 Vgl. Lévi (2014, 238 f.) zur möglichen Deutung dieser Verlegung als literarisches Spiel oder alternativ als ›subtile Denunziation‹ der augusteischen Ideologie.

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Zuhörer Numa weder die homerische Ilias noch den Bericht des primären Erzählers im dreizehnten Metamorphosen-Buch kennen kann,267 ergibt sich für antike wie für moderne Leser ein komplexes Problem hinsichtlich der zeitlichen und räumlichen Angaben, das die Glaubwürdigkeit von Pythagoras’ Bezeugung grundsätzlich infrage stellt (abgesehen von der Voraussetzung eines Glaubens an die Metempsychose). Betrachten wir nun aber die von Pythagoras zitierten Worte des Helenus (Ov. met. 15,439–449): »nate dea, si nota satis praesagia nostrae mentis habes, non tota cadet te sospite Troia. 440 flamma tibi ferrumque dabunt iter; ibis et una Pergama rapta feres, donec Troiaeque tibique externum patrio contingat amicius arvum. urbem etiam cerno Phrygios debere nepotes, quanta nec est nec erit nec visa prioribus annis. 4 45 hanc alii proceres per saecula longa potentem, sed dominam rerum de sanguine natus Iuli efficiet; quo cum tellus erit usa, fruentur aetheriae sedes, caelumque erit exitus illi.«

»Sohn der Göttin, wenn du die Vorahnungen meines Geistes hinreichend kennst, so wird Troja nicht ganz fallen, solange du am Leben bist. Feuer und Schwert werden dir den Weg freimachen; du wirst gehen, Pergamum zusammen mit dir selbst dem Untergang entreißen und es forttragen, bis Troja und dir ein Land in der Fremde zuteilwird, das dir freundlicher gesonnen ist als dein Heimatboden. Auch sehe ich, dass die Enkel der Trojaner dem Schicksal eine Stadt schuldig sind, so groß, wie es sonst keine gibt noch geben wird und wie man sie auch in früheren Jahren nicht gesehen hat. Diese [Stadt] werden durch lange Menschenalter hindurch andere große Männer zur Macht führen, doch zur Herrin der Welt wird sie der Sohn aus dem Blut des Julus machen. Wenn dieser dann die Erde beglückt hat, werden die Sitze im Äther sich seiner erfreuen, und der Tod wird für ihn das Tor zum Himmel sein.«

Helenus’ Anrede an Aeneas als Sohn der Venus demonstriert von Beginn an den Bezug des ovidischen Textes zu der entsprechenden, deutlich längeren Passage in der Aeneis (Verg. Aen. 3,374–462; 3,374 Nate dea).268 Auch der Aufruf des Priesters, seinen ›bekannten‹ (Ov. met. 15,439 nota … praesagia) Ausführungen Folge zu leisten, weist nicht allein auf seine anschließenden Worte voraus, sondern zugleich auch auf diejenigen seines vergilischen alter ego zurück.

267 Vgl. Kersten (2018a, 10–34; 2019b, bes. 143–145) zum Konzept des ›metapoetischen Realismus‹; Kersten (2018a, 15 Fn. 27) zu der hier betrachteten Stelle. 268 Papaioannou (2011, 41 f.) bietet zahlreiche Parallelen. Zur paradoxen Zusammen­ fassung von Vergils langem Bericht in Ovids ungleich kürzerer Wiedergabe der HelenusProphetie in Buch 13 vgl. Behm (2019a, 276 f.); Kap. 5.8.

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Der Kern von Helenus’ Aussage besteht in einem dreistufigen Prozess, den er der Stadt prophezeit: Der Untergang Trojas bedeutet nicht das vollständige Ende der Stadt (15,440 non tota cadet … Troia), Troja wird aus dem Untergang zu etwas Neuem geführt werden (15,442 Pergama rapta feres),269 und schließlich wird die Stadt an anderer Stelle eine Wiederauferstehung erleben (15,442 f. Troiae … / externum … contingat … arvum). Jeder dieser drei Schritte ist auf das Engste mit der Figur des Aeneas verbunden: Das Überleben des Helden ist die Voraussetzung für ein zumindest partielles Fortbestehen der Stadt (15,440 te sos­pite); nur gemeinsam mit ihm kann Troja den Weg zu etwas Neuem beschreiten (15,441 una).270 Der Ort für die zukünftige Stadt wird wiederum mit Aeneas verknüpft (15,442 Troiaeque tibique). Nach dem Untergang Trojas nimmt der Held damit eine ebenso wichtige Funktion für die Trojaner ein, wie sie König Priamus bis zu diesem Ereignis innehatte (vgl. 13,404 Troia simul Priamusque cadunt). Der Vers 15,443 stellt die endgültige Überleitung zwischen Vergangenheit und Zukunft dar. Durch den Komparativ amicius werden Troja und Rom im Sinne der symbolischen Funktion des Raumes in einen Gegensatz zueinander gebracht, der durch die Nebeneinanderstellung der Begriffe von Fremdheit und Heimat (externum patrio) intensiviert wird. Der Umschwung zwischen der Flucht aus Troja und der Ankunft in der neuen Heimat drückt sich auch im Wechsel von Verben der Bewegung (15,441 ibis; 15,442 feres; 15,443 contingat) zu solchen des Sehens aus, mit denen der Prophet die zukünftige Stadt im Geiste entwirft (15,444 cerno; 15,445 visa; vgl. 15,421 cernimus). Helenus betont die kaum vorstellbare Größe der Stadt (quanta nec est nec erit nec visa prioribus annis); seine Worte greifen damit Pythagoras’ eigene Prophezeiung wieder auf (15,435 immensi caput orbis erit). Sie eröffnen eine universalhistorische Perspektive auf Rom: Die kommende Welthauptstadt wird laut Helenus größer sein als jede vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Stadt – mithin auch größer als jene Städte, die Pythagoras in seinem Katalog aufgezählt hatte. Zwischen die Gegenwart und jene ferne Zukunft setzt Helenus eine Übergangsphase des Wachstums, in der Rom stetig an Macht gewinnt (15,446 hanc alii proceres per saecula longa potentem [sc. efficient]; vgl. 15,434 formam cres­ cendo mutat). Das Fernziel einer römischen Weltherrschaft wird demnach erst unter einem Nachfahren des Aeneas-Sohnes Julus erreicht werden (15,447 f. dominam rerum de sanguine natus Iuli / efficiet).271 Die Identität dieses einstigen 269 Vgl. Verg. Aen. 1,68 Ilium in Italiam portans victosque penatis. 270 Als sprachliches wie inhaltliches Gegenbeispiel kann Ardea dienen: Die Stadt geht in dem Moment unter, in dem auch ihr König Turnus sein Ende erlebt (14,573 f. cadit Ardea, Turno / sospite dicta potens); vgl. Kap. 6.2; Labate (1991, 173). 271 Vgl. Verg. Aen. 1,282 (Jupiter-Prophetie) Romanos, rerum dominos; 3,97 f. (ApolloOrakel auf Delos) hic domus Aeneae cunctis dominabitur oris / et nati natorum et qui nascentur ab illis.

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Nachfahren der Trojaner ist nicht zweifelsfrei dargestellt, denn die Prophezeiung seiner späteren Vergöttlichung (15,448 f.) kann gleichermaßen auf Caesar wie auf Augustus, also auf die letzte Passage der Metamorphosen vorausweisen, die Ovid noch zwischen die Pythagoras-Rede und den Epilog mit der Ankündigung seiner eigenen Apotheose gesetzt hat (vgl. Kap. 6.8; 6.9). Die Tatsache aber, dass die zukünftige Vergöttlichung des Augustus den Schlusspunkt des Werkes bildet (vor eben jenen Versen des Epilogs), den Ovid im Proömium indirekt angekündigt hatte, spricht für eine Identifizierung mit dem ersten Prinzeps.272 Die Apotheose des römischen Herrschers bildet also den Abschluss der ­Helenus-Prophetie (15,449 caelum … erit exitus illi), doch lässt sie eine wichtige Frage offen: Der Seher sagt nichts darüber aus, welches weitere Schicksal Rom nach dem Ende jenes Herrschers erwartet, sei es nun Julius Caesar oder Augustus.273 Ebenso wie zuvor Pythagoras prognostiziert Helenus zwar das Wachstum Roms und dessen Vorrangstellung gegenüber allen anderen Städten, nicht aber die ewige Dauer seiner Weltherrschaft (vgl. Kap. 6.9). Obgleich Ovid in der Helenus-Prophetie nicht nur die dementsprechende Passage bei Vergil, sondern auch andere prophetische Passagen verarbeitet,274 vermeidet er dort ebenso wie im pythagoreischen Städtekatalog Aussagen über ein römisches imperium sine fine, wie es in der vergilischen Jupiter-Prophetie verkündet wird (Verg. Aen. 1,279).275 Die Idee einer Roma aeterna – Ovid selbst gebraucht den Ausdruck in den Fasten (vgl. Ov. fast. 3,72 aeternae ... urbis) – wird in den Metamorphosen allenfalls implizit erkennbar.276 An das Ende seiner Wiedergabe von Helenus’ Prophezeiung fügt Ovids ­Pythagoras folgende Worte an (Ov. met. 15,450–452):

272 Zu dieser Einschätzung tendiert auch Hardie (2015, zu 15,447–449); anders zuvor Hardie (1997, 187). Vgl. die ebenfalls problematische Identität des Angesprochenen in der JupiterProphetie der Aeneis (Verg. Aen. 1,286–288 nascetur pulchra Troianus origine Caesar, / imperium Oceano, famam qui terminet astris, / Iulius, a magno demissum nomen Iulo). 273 Barchiesi (1989, 89) führt das allgemeine Problem epischer Prophetien aus, deren ­Prognosen im Regelfall maximal bis zur Gegenwart des Dichters reichen können. 274 Vgl. Fabre-Serris (1995, 346–348); Granobs (1997, 127); Wheeler (2000, 124–126); Lévi (2014, 239 f.). Zur Selektivität von Ovids Helenus vgl. Papaioannou (2011, 37–39). 275 Vgl. Wheeler (2000, 123 f.). 276 Pollmann (2013, 12–15) erläutert ausführlich die Entwicklung des Konzepts eines ›ewigen Rom‹ ab Cicero, die Prägung des Begriffs Roma aeterna durch Tibull (vgl. Tibull. 2,5,23) sowie die Verwendung dieses Gedankens in der Kaiserzeit. Vgl. Labate (1991, 170) zur literarischen Verwendung des Motivs; Hardie (1992, 61); Edwards (2000, 86–88); Pinotti (2015, 43). Wolkenhauer (2019, 217 Fn. 8) führt ergänzend die Vorstellung an, wonach sich die Ewigkeit Roms auch aus dem zeitlosen Glanz der Tempel in Augustus’ Regierungszeit ergibt (Ov. fast. 2,61 sub quo delubris sentitur nulla senectus).

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»haec Helenum cecinisse penatigero Aeneae  mente memor refero cognataque moenia laetor crescere et utiliter Phrygibus vicisse Pelasgos.«

»Dass Helenus dies Aeneas geweissagt hat, als der die Hausgötter mit sich trug, daran erinnert sich mein Geist, und ich freue mich, dass die verwandten Mauern wachsen und dass es für die Trojaner nützlich gewesen ist, dass die Griechen gesiegt haben.«

Der Philosoph weist also erneut auf die nötige Voraussetzung für seine Erinnerung an die Weissagung hin (mente memor refero) und greift damit seine vorherige Berufung auf die Autorität der vates wieder auf (15,431 fama est; 15,436 faticinasque ferunt sortes).277 Auch seine Umschreibung Roms als cognata … moenia nimmt erneut auf seine frühere Existenz Bezug: Die Bezeichnung der römischen Stadtmauern als ›verwandt‹ weist auf sein einstiges Trojanertum hin und bildet den Schlusspunkt der Verweise auf den Topos der Troia resurgens, wie ihn Helenus ausgeführt hatte. Pythagoras stellt erneut die Verwandlung Roms mit dem Wachstumsmotiv dar (moenia laetor / crescere ~ 15,434 [sc. Roma] formam crescendo mutat). Hierbei benutzt Ovid wiederum die psychologische Funktion des Raumes, um die Emotionen seiner Figur zu illustrieren (laetor). Die letzten Worte dieses Abschnittes (15,452 utiliter Phrygibus vicisse Pelasgos) stellen, wie Granobs (1997, 130) zu Recht betont, eine »recht kühne Umwertung« der Sichtweise auf den Untergang Trojas dar,278 wie sie beispielsweise in der Perspektive von Vergils Aeneas zum Ausdruck kommt, als dieser von Dido zur Nacherzählung seiner traumatischen Erlebnisse in den letzten Momenten der Stadt aufgefordert wird (Verg. Aen. 2,3 Infandum … dolorem).279 Rom aber ist auch insofern nicht das Ziel von Pythagoras’ Rede, als diese nicht mit der Prophezeiung von der ewigen Weltherrschaft der Stadt, sondern mit einem Ringschluss endet: Nach dem Städtekatalog und der Helenus-Prophetie kehrt Pythagoras zu seinem Schwerpunktthema Vegetarismus zurück (Ov. met. 15,456–478).280

277 Zu Pythagoras als vates, auch in Auseinandersetzung mit Lukrez, vgl. Myers (1994, 142–147). Vgl. Miller (2009, 360) zum Verzicht auf eine Berufung auf die Autorität des Apollo wie in der vergilischen Helenus-Prophetie, die mit dem Tempel dieses Gottes verbunden ist. 278 Vgl. die gleichermaßen utilitaristischen Überlegungen der Nisus-Tochter Scylla (8,56 f. quamvis saepe utile vinci / victoris placidi fecit clementia victis); Kap. 4.6. 279 Granobs (1997, 130) zieht die problematische Schlussfolgerung, dass Rom dadurch zum positiven telos der geschichtlichen Entwicklung werde. 280 Vgl. Wheeler (2000, 126 f.).

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Textkritische Analyse (15,426–430) Nach der linearen Analyse soll nun wie angekündigt eine Rekapitulation der umstrittenen Verse über die griechischen Städte unter textkritischem Blickwinkel erfolgen.281 Wie bereits mehrfach erwähnt, ist die Echtheit des ovidischen Katalogs Gegenstand einer jahrhundertelangen Debatte. Diese beruht weniger auf der Überlieferung dieser Verse selbst als vielmehr auf sprachlichen, stilistischen und inhaltlichen Beobachtungen, die teilweise bereits in diesem Kapitel angeklungen sind und diese Passage ›verdächtig‹ erscheinen lassen. Die wichtigsten Aspekte sollen nun der Reihenfolge nach analysiert werden. Die Überlieferung der Metamorphosen ist zwar sehr reichhaltig – es gibt mehrere hundert Manuskripte – aber im Unterschied etwa zu Vergils Aeneis besitzen wir keine Handschriften aus der Spätantike. Aus der vorkarolingischen Zeit gibt es praktisch keine relevanten Fragmente, sondern erst vom neunten Jahrhundert an. Vollständige Manuskripte sind sogar erst ab der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts erhalten. Für die Textgestalt entscheidend sind einige wenige Handschriften aus dem elften und zwölften Jahrhundert (am einflussreichsten ist der Kodex Vaticanus Pal. lat. 1669), doch unglücklicherweise brechen viele von diesen gegen Ende von Buch 14 ab. Für das finale Buch der Metamorphosen sind auch etliche andere Manuskripte (vor allem aus dem zwölften Jahrhundert) von Bedeutung, sodass hier einmal mehr der Lehrsatz recentiores[,] non deteriores gilt, wonach Lesarten aus sekundären Kodizes nicht stemmatisch ausgeschlossen werden können.282 Unabhängig von der speziellen Überlieferungsgeschichte von Buch 15 enthalten viele Metamorphosen-Handschriften Hinzufügungen, die nicht vom Autor stammen. In der Praefatio seiner kritischen Edition schildert Tarrant (2004, xxxiii–xxxiv) die möglichen Gründe, weshalb solche Interpolationen in der Antike vorgenommen worden sein könnten: Si causas interpolationis quaeris, duae in mentem veniunt, scilicet ut mentio fiat rerum alibi notarum sed ab Ovidio omissarum […] vel ut narratio uberior eveniat et commotior [Hervorhebung: TB].

Etliche Beispiele für derartige Interpolationen finden sich einheitlich in allen Kodizes; Tarrant (2000, 426 f.) nennt dieses Phänomen »collaborative interpolation«.283 Als eine spezielle Form davon versteht er die Erweiterung einer Aufzählung oder eines Katalogs, wie er hier diskutiert wird. Im Folgenden sollen 281 Einen Überblick zu den einzelnen textlichen Auffälligkeiten der Passage bietet Luck (2017, zu 15,426–430). 282 Vgl. Marahrens (1971, 274–280). Zur besonderen Überlieferung von Buch 15 vgl. Tarrant (1983, 278 f.); Luck (2017, 11–15). 283 Vgl. Tarrant (1983, 279 f.).

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vier mögliche Szenarien für die Textgestaltung der Verse Ov. met. 15,426–430 betrachtet werden. Szenario 1: keine Athetese Anderson hält die Überlieferung der umstrittenen Verse für echt und druckt sie daher in seiner Ausgabe ab, ohne zu der seit Jahrhunderten im Raum stehenden Möglichkeit einer Athetese Stellung zu nehmen. Argumente anderer Philologen zur Verteidigung der Textstelle versuchen vor allem, den jeweils konstatierten Status der im Katalog aufgeführten Städte zu rechtfertigen.284 Derartige Passagen, die beim Abgleich mit historischen Fakten anachronistisch wirken, finden sich auch an zahlreichen anderen Stellen von Ovids Epos. Als Paradebeispiel lässt sich eine mit dem hier besprochenen Passus direkt vergleichbare Stelle innerhalb der Pythagoras-Rede anführen, in welcher der Philosoph von den versunkenen Städten Buris und Helice spricht (15,293–295),285 die jedoch erst im vierten Jahrhundert v. Chr., also mehrere Jahrhunderte nach seinem Tod, tatsächlich zerstört wurden. Bömer (1986, zu 15,426–430) hält alles an der umstrittenen Stelle für »ovidisch« und moniert insbesondere, dass die ungewöhnlichen Parallelismen als Argumente in beide Richtungen benutzt worden sind, und fügt hinzu: »Jeder beweist alles, und alle haben recht.« Wenngleich es für einen Katalog ungewöhnlich erscheint, dass ein und dasselbe Element an zwei voneinander getrennten Stellen auftritt, lässt sich argumentieren, dass ein hypothetischer Fälscher die inhaltlich zusammengehörigen Verse 15,426 und 15,428 (zu Sparta und Mykene) bzw. 15,427 und 15,429 f. (zu Athen und Theben) wohl kaum voneinander getrennt hätte.286 Luck (2017, z. St.) plädiert dementsprechend für einen Tausch der Verse 15,427 und 15,428 sowie der Verse 15,429 und 15,430. Eine spezielle Ansicht, die im Zusammenhang mit dem hier analysierten ersten Szenario zu erwähnen ist, vertritt Granobs (1997, 124 f.): Er hält die fraglichen Verse zwar nicht für die Hinzufügung eines Dritten, nimmt aber an, dass Ovid sie nachträglich eingefügt hat, um eine größere inhaltliche Geschlossenheit zu erreichen. In den Versen 15,421 f. spreche Pythagoras von mehreren gentes, sodass Troja und Rom allein nicht genügend Beispiele darstellen würden. Granobs gehört auch zu denjenigen, die in der Auflistung zahlreicher ›fallender‹ Städte keinen Widerspruch zu der Idee einer Roma aeterna sehen. Demnach sei die These vom Aufstieg und Niedergang der Städte eher allgemein zu verstehen und nicht so, dass auch Rom eines Tages untergehen werde. Wenn man den Fokus von Pythagoras’ Argument nicht im Werden und Vergehen der Städte sieht, 284 Vgl. Barchiesi (2001, 88). 285 Vgl. Solodow (1988, 243 Fn. 37); Strab. geogr. 1,3,17–19. Vgl. die Aufzählung ›verstorbener‹ Städte (einschließlich Helice) bei Marc Aurel (M. Aur. 4,48,1); Kap. 2.2. 286 Gemäß Helm (in Marahrens [1971, 267]).

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sondern in ihrer Metamorphose im Allgemeinen, dann lässt sich der Aufstieg Roms geschichtsphilosophisch als Verwandlung durch Wachstum interpretieren (15,434 formam crescendo mutat). Rom wird in der anschließenden HelenusProphezeiung als neues Troja dargestellt, aber wie auch Granobs konzediert, gelingt es Ovid zumindest nicht ganz, die problematische Assoziation mit Roms Fall zu überdecken. Szenario 2: Athetese 15,426–430 Das zweite Szenario besteht in der vollständigen Athetese der Verse 15,426– 430. Dieser Vorschlag wurde erstmals im 17. Jahrhundert vom bedeutenden ­Metamorphosen-Herausgeber Heinsius vorgebracht und seitdem von mehreren Philologen wiederholt, unter anderem in der Edition von Tarrant. Insbesondere in der älteren Sekundärliteratur wurden Sprache und Stil der Textstelle als Argument für ihre Unechtheit benutzt, wobei allerdings teils recht subjektive Wertungen ins Feld geführt wurden: Beispielsweise bezeichnet Mendner (1939, 16) Vers 15,426 als »schwächlich« neben Vers 15,422 und die Wiederholung in Vers 15,429/430 als »recht kümmerlich«. Letztendlich lässt sich nicht objektiv entscheiden, ob z. B. die Parallelismen in diesen Versen ovidisch oder sogar ›hyperovidisch‹ sind – hier ist sich sogar Hardie (2015, zu 15,426–430) unsicher. Auch Marahrens (1971, 269; 278) gesteht zu, dass etwa ein Polyptoton eines Wortes wie nomen auch in anderen Werken Ovids zu finden sei;287 Endreime seien zwar selten, aber kein Kriterium für Unechtheit. Auch die auffälligen Adjektive zu mythischen Figuren vermögen keinen definitiven Aufschluss über die Echtheit der Verse zu geben. Während das in Vers 15,429 verwendete Oedipodionius ein ovidisches hapax legomenon darstellt und später erst ab Lucan und Statius belegt ist,288 finden wir das Adjektiv Pandionius nicht nur zahlreiche weitere Male innerhalb der Metamorphosen selbst,289 sondern auch schon vor Ovid, unter anderem bei Properz.290 Die Formen der Namen Cecrops und Amphion (15,427) sind hinsichtlich ihrer vorherigen Verwendung unauffällig,291 Cecrops wird jedoch an allen anderen Stellen innerhalb der Metamorphosen mit langem e gemessen, weshalb Luck (2017, zu 15,426–430) hier eine Textänderung erwägt, ohne jedoch einen plausiblen Vorschlag machen zu können. 287 Mendner (1939, 16) bezeichnet nomina als einen falsch gewählten Plural; Luck (2017, z. St.) plädiert für die Lesart fabula und hält nomina für einen Fehler durch Verschreibung, die durch das darunter stehende nomen zustande gekommen sein könnte. 288 Vgl. Lucan. 8,407; Stat. Theb. 2,505. Farrell (2019, 70 Fn. 54) halt die Lucan-Stelle für einen offensichtlichen Bezug zu der hier diskutierten Ovid-Passage; dies wäre ein Argument für deren Echtheit. 289 6,426; 6,436; 6,495; 6,520; 6,634; 6,666; 6,676. 290 Vgl. Prop. 1,20,31. 291 Formen von Cecrops: 2,555; 2,784; 2,797; Formen von Amphion: 6,221; 6,271; 6,402.

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Der entscheidende Punkt ist inhaltlicher Natur: Wie unter anderem Mendner (ebd., 15 f.), Marahrens (ebd., 269 f.), Tarrant (2000, 434) und Hardie (ebd., z. St.) feststellen, wird durch die Verse 15,426–430 der rhetorische Kontrast zwischen dem Fall Trojas und dem Aufstieg Roms zer- oder zumindest gestört. Diese beiden Städte sind gemeinhin eng miteinander verbunden, da die Vorstellung, dass die Weltstadt Rom aus dem untergehenden Troja hervorgeht, ein zentrales Element der römischen Gedankenwelt ist. Darauf aufbauend hält Tarrant (ebd., 433–435) die fünf fraglichen Verse für eine Hinzufügung, die man unter anderem deshalb vorgenommen habe, weil besonders in den Büchern 3–6 der Metamorphosen schließlich von Theben und Athen in der Heroischen Zeit die Rede sei. Hardie (ebd., z. St.) hingegen steht der Interpolationsthese skeptischer gegenüber. Er meint zum einen, dass die Formel nunc quoque (15,431), mit der sich die Verse über Rom an das Vorherige anschließen, nach mehr als nur einem Beispiel sinnvoller gewählt erscheine, und zum anderen, dass hier noch gar nicht vom wiedererstehenden Troja die Rede sei, sondern erst später in der HelenusProphetie (15,440 non tota cadet te sospite Troia). Szenario 3: Athetese 15,428–430 Die nächsten beiden Szenarien ähneln sich insofern im Ansatz, als beide nur einen Teil der umstrittenen Verse tilgen. Lachmann (in Marahrens [1971, 267]) athetierte die Verse 15,428–430, da er sie für eine Dublette der beiden vorangehenden Verse hielt. Dieser Vorschlag erscheint einerseits nachvollziehbar, da er den Städtekatalog von den auffälligen Doppelungen befreit. Andererseits würden dann die Beispiele anders als Troja in den vorangehenden Versen präsentiert, denn auch dort wird ja zunächst die einstige Blüte angesprochen. Szenario 4: Athetese 15,426–428 Ein ähnliches Szenario stellt die Tilgung der Verse 15,426–428 dar. Diese ­Variante beseitigt nicht nur die Doppelungen im Katalog (wie in Szenario 3), sondern brächte einen zusätzlichen Gewinn im Hinblick auf das gesamte Epos: Wie bereits einleitend konstatiert, enthalten die Metamorphosen schwerpunktmäßig Episoden aus dem thebanischen, dem attischen sowie dem trojanisch-­ römischen Sagenkreis, während Sparta und Mykene im gesamten Werk praktisch keine Rolle als Handlungsort spielen.292 Unter diesem inhaltlichen Gesichtspunkt erschiene es passend, wenn gerade diejenigen Städte im Katalog aufgeführt würden, die auch von größerer Bedeutung für die Handlung sind. Dass dieses Argument jedoch nicht zielführend ist, erkennt man beim Vergleich mit anderen Katalogen, beispielsweise mit dem Katalog der Bäume in der 292 Sparta und Mykene werden jedoch (an derselben Versposition wie hier) in Ovids anderem großen Städtekatalog genannt (6,414; vgl. Kap. 4.4), Sparta dazu zwei weitere Male in der Hyacinthus-Episode (10,170; 10,217).

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Orpheus-Episode (10,86–105). Einige der Bäume rekurrieren analeptisch auf andere Stellen des Werkes, wo ihre Verwandlung geschildert wird. Eine Tilgung all jener Verse, deren Elemente andernorts keine Rolle in dem Epos spielen, ist an dieser Stelle bisher nicht erwogen worden und hätte auch einschneidende Konsequenzen für den Umgang mit der Textgestalt insgesamt. Demnach kann auch die Nennung bzw. die Bedeutung der einzelnen Städte in den Metamorphosen kein gültiges Kriterium dafür sein, ihr Vorhandensein im Städtekatalog entweder zu rechtfertigen oder infrage zu stellen.

6.5.2 Fazit Als Ergebnis der textkritischen Analyse der Verse 15,426–430 lässt sich festhalten, dass weder die Überlieferung noch die auffälligen Befunde bezüglich einzelner Worte und Verse eine vollständige oder teilweise Athetese dieser Textstelle rechtfertigen können. Daher muss die Entscheidung über die Verteidigung der Passage nach inhaltlichen Kriterien vorgenommen werden. Die augenscheinliche Problematik der Katalogstelle liegt in den aus extradiegetischer Perspektive offensichtlich anachronistischen Aussagen des Pythagoras über den Aufstieg und Niedergang der genannten griechischen Städte, die in dieser Form weder auf die Epoche des Philosophen noch auf die Lebenszeit Ovids zutreffen. Dieses Fehlen einer diachronen Konsistenz lässt sich nur mit poetischen Erwägungen rechtfertigen. Cole (2004, 410) klassifiziert Kataloge grundsätzlich als »potentially achronic literary mode« und erläutert die Stimmigkeit der hier besprochenen Textstelle folgendermaßen (ebd., 412): The cities […] are more likely to be Oedipodean Thebes after its sack by the Epigonoi, Pandionid Athens after the line of Pandion had come to an end, and Sparta after its conquest by the Heraclidae […]

Die im Katalog aufgeführten Städte sind also nicht in einer bestimmten historischen Epoche fixiert, sondern in einem zeitlich unbestimmten Gegensatz zwischen ›einst‹ und ›jetzt/später‹ gedacht.293 Die so skizzierte poetische Technik ist keineswegs eine Eigenart der Welt der Metamorphosen, sondern findet eine bekannte Präzedenz in Vergils Aeneis, wo bekanntermaßen die Entstehung Karthagos um mehrere Jahrhunderte vorverlegt ist, um das Zusammentreffen zwischen Dido und Aeneas zu ermöglichen.294 Ergänzend zu den obigen Betrachtungen ist hinzuzufügen, dass die Textstelle in ihrer hier angenommenen Gesamtheit nicht allein die Wiedergeburt Trojas in Rom verkündet, sondern von der schrittweisen Übertragung der Weltherrschaft 293 Vgl. Gaßner (1972, 119–121). 294 Ebenso verfährt schon Naevius im zweiten Buch des Bellum Poenicum.

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erzählt, wofür die Herrschaft Griechenlands nach dem Sieg im Trojanischen Krieg ein konstitutiver Zwischenschritt ist. Die translatio imperii von Troja nach Rom (vgl. Ov. met. 15,442 f.) benötigt die zwischenzeitliche Dominanz der griechischen poleis, bevor das Imperium Romanum zur Weltherrschaft aufsteigt.295 Es ist anzunehmen, dass Ovid den Städtekatalog ebenso wie den Rest der Metamorphosen in erster Linie nach poetischen Erwägungen und nicht im Streben nach historischer Korrektheit gestaltet hat. Das entscheidende Kriterium für seine mythologische Weltgeschichte ist poetische Stimmigkeit, wie trotz seiner historischen bzw. politisch-allegorischen Deutung bereits Schmitzer (1990, 253) anerkennt.296 Diese Feststellung über den Ansatz des Dichters gilt analog auch für seine Figur des Pythagoras: Der Philosoph – selbst eine Art Zeitreisender – überblickt das Schicksal der großen Städte der Weltgeschichte gleichermaßen aus der Vogelperspektive und muss aufgrund seiner Verkörperung in verschiedenen Seelen innerhalb verschiedener Epochen nicht um eine historisch gültige Chronologie der evozierten Ereignisse besorgt sein. Wie die Pythagoras-Episode insgesamt, so ist auch deren hier betrachteter Ausschnitt zweifellos eine inhaltlich besonders bedeutsame Passage der Metamorphosen. Der pythagoreische Städtekatalog und die von dem Philosophen wiedergegebene Rom-Prophetie des trojanischen Sehers Helenus sind für das hier untersuchte Städtethema aufschlussreich. Wie die textkritischen Betrachtungen gezeigt haben, kann die Unechtheit der umstrittenen Katalogsektion nicht erwiesen werden. Vielmehr zeigt sich in dieser Passage im Kleinen die Relevanz der Städte für Ovids Epos als Ganzes. Das Thema ›Aufstieg und Fall berühmter Städte‹, das nicht allein für die Epik, sondern auch für andere Gattungen der antiken Literatur sowie in der Alltagswelt eine Rolle spielte,297 wird im ovidischen Katalog in verdichteter Form aufgegriffen,298 wodurch sich die Bedeutung der thematischen Funktion des Raumes im Rahmen der universalhistorischen Konzeption des Werkes zeigt. Ausgehend von Croton als im Wortsinn utopischem299 Schauplatz des Gesprächs zwischen Numa und Pythagoras lässt sich eine universale Perspektive 295 Vgl. Verg. Aen. 2,326 f. (Panthus) omnia Iuppiter Argos / transtulit; Hardie (1992, 60; 1993, 95); Papaioannou (2011, 34) und Farrell (2019, 70 mit Fn. 56) zum Motiv der translatio imperii in Buch 13–15. 296 Vgl. Lafaye (1971, 191–223) und Schmitzer (2006, 17) zum Fehlen einer festen philosophischen Anschauung Ovids als Prinzip in der Gestaltung der Metamorphosen. 297 Vgl. Labate (1991, 167 f.); Horsfall (2000, zu Verg. Aen. 7,413) für weitere Parallelstellen zu den untergegangenen Städten von Latium wie vor allem Prop. 2,8,7–10 omnia vertuntur … / … / … / et Thebae steterant altaque Troia fuit; Barchiesi (2001, 71) zu diesem Thema in einem Brief des Sulpicius an Cicero (Cic. fam. 4,5,4). 298 Zur Spiegelung der quasi-katalogartigen Makrostruktur der Metamorphosen in einzelnen Katalogen vgl. Reitz et al. (2019, 693 f.). Vgl. auch Gaßner (1972, 104 f.) zur Spiegelung der Ost-West-Thematik der Bücher 13–15 in den dort enthaltenen Routenkatalogen. 299 Vgl. Geitner (2021, 201 f.).

Pythagoras prophezeit die Zukunft Roms

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auf Rom und die anderen Städte konstatieren. Diese werden nicht zum Objekt des Anschauungsraums im eigentlichen Sinne, sondern nur mittelbar über die Sprecherinstanz des Pythagoras bzw. über dessen Wiedergabe von Helenus’ Worten als Hintergrundräume evoziert. Pythagoras stellt die einstige Größe von Troja, Athen, Theben, Sparta und Mykene ihrem Verfall gegenüber. Das Bild, das er von diesen Städten in diametral entgegengesetzten ›Lebensphasen‹ zeichnet, ist geprägt von der Opposition zwischen Höhe/Größe und Auslöschung der physischen Existenz,300 von der einzig der jeweilige Name erhalten bleibt.301 Rom bildet eine Ausnahme der zuvor genannten Städte, da nicht nur auf eine Prognose seines Untergangs verzichtet, sondern auch eine stärker visuell geprägte Perspektive evoziert wird, indem Pythagoras ein schematisches Bild der Stadt am Tiber skizziert. Da der erste Teil der untersuchten Passage eine katalogartige Aufzählung ist, kann hier keine Handlung im Sinne des Aktionsraums beobachtet werden. Pythagoras verzichtet auf die Benennung von Kriegen und anderen Ursachen als Grund für den Untergang der Städte, sodass keine handelnden Figuren beteiligt sind. Eine solche tritt erst mit Aeneas im Rahmen der Helenus-Prophetie hervor: Mithilfe dieses Helden wird die entscheidende Phase des Übergangs zwischen den Städten Troja und Rom gestaltet. An dieser Stelle ist der Wechsel der Weltherrschaft gegenüber dem Katalogteil – so er denn echt ist – verkürzt dargestellt, da die zwischenzeitliche griechische Dominanz, vor der einstigen Herrschaft Roms, nicht nochmals evoziert wird. Im Sinne des gestimmten Raumes wirft der betrachtete Abschnitt die grundsätzliche Frage auf, ob die von Pythagoras genannten Beispiele für den Untergang von Städten die Größe Roms betonen sollen oder aber auf das letztlich notwendige Ende einer jeden Stadt hindeuten. Der Philosoph Pythagoras und der Priester Helenus verkünden zwar die einstige Weltherrschaft Roms, machen aber beide keine Aussage zu deren Dauer. Daher ist wohl der Mehrheit der Interpreten zuzustimmen, die darin einen Hinweis auf den zumindest möglichen, wenngleich in ferner Zukunft liegenden Untergang der Stadt zu erkennen glauben. Stellvertretend für diese Ansicht fragt Hardie (1993, 95): »When change is king, what prove that Rome will be the only exception?«302 Ebenso wie die zuvor 300 Vgl. Labate (1991, 172) zur Opposition zwischen Vertikalität und Horizontalität. Dies illustriert die symbolische Funktion des Raumes. 301 Zum Verschwinden des Namens ›Troja‹ vgl. Eur. Tro. 1322–1324; Verg. Aen. 12,828 occidit, occideritque sinas cum nomine Troia; Labate (1991, 181). 302 Cole (2008, 160) betont – wohl nicht zu Unrecht – dass die Ambiguität bezüglich Roms Schicksal in der Intention des Dichters liegen könnte. Vgl. Solodow (1988, 167 f.); Hardie (1992, 60 f.); Myers (1994, 166); Fabre-Serris (1995, 348–350); Jouteur (2001, 228); Rossi (2002, 246); Schmitzer (2006, 11 f.), mit revidierter Auffassung gegenüber Schmitzer (1990, 259); Papaioannou (2011, 32 f.; 42 f.); Giusti (2018, 257 f.); Lushkov (2020, 60–63). Für eine tendenziell entgegengesetzte Sichtweise vgl. Bömer (1986, zu 15,420–422; 15,431–433); Bach (2020, 68); Schmidt (2021, 333).

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in Pythagoras’ Lehrvortrag behandelten Naturphänomene sind auch Städte dem Prinzip des ewigen Wandels unterworfen. Wenngleich eine Verwandlung nicht zwangsläufig mit dem Tod gleichzusetzen ist (vgl. 15,165 omnia mutantur, nihil interit),303 kann es sich im Fall von Städten langfristig nur um den Abstieg in die Bedeutungslosigkeit handeln. Bevor dieses Schicksal aber eines Tages Rom ereilen kann, steht der Stadt laut Helenus eine lange Herrschaft über die Welt bevor. Diese Voraussage gründet auf dem Hervorgehen Roms aus dem zerstörten Troja. Die Kontinuität zwischen diesen beiden Städten wird auf das Engste mit der Figur des Aeneas verknüpft, dessen Mission den Transfer der untergegangenen Heimat in ein neues Land sichert.

6.6  Cipus verweigert sich Rom (15,552–621) Die nicht sicher als historisch zu bestimmende Figur des Cipus wird bei der Rückkehr von einem Kriegszug nach Rom durch ein Vorzeichen vom Betreten der Stadt abgehalten. Dem siegreichen Feldherrn wachsen Hörner auf der Stirn, deren Bedeutung ihm zunächst unklar ist. Ein Priester verkündet Cipus, das Omen signalisiere seine Herrschaft als König.304 Er beruft daraufhin eine Versammlung von Volk und Senat ein, hält das Vorzeichen aber zunächst verborgen und führt der Menge die Gefahren einer möglichen Königsherrschaft vor Augen. Cipus ruft zur Vertreibung des potentiellen Alleinherrschers auf und offenbart schließlich sich selbst als die gesuchte Person. Um seine Verdienste für Rom zu ehren, schenkt der Senat Cipus ein Stück Ackerland und lässt an einem Stadttor ein ehernes Hörnerpaar zu seinem Andenken befestigen. Die vor Ovid nirgends überlieferte Geschichte wird sonst nur kurz bei Plinius dem Älteren erwähnt, hat aber eine ausführliche Parallele bei Valerius Maximus (vgl. Plin. nat. 11,45,123; Val. Max. 5,6,3).305 Dieser identifiziert die bei Ovid nicht näher bestimmte Figur des Cipus mit einem Prätor aus der gens Genucia, womit jedoch noch genügend Unsicherheit über das konkrete historische Vorbild verbleibt.306 Valerius ordnet seine Erzählung in die Kategorie de pietate erga parentes et fratres et patriam ein. Dies entspricht auch dem Thema von Ovids 303 Vgl. Labate (1991, 171 f.). 304 Vgl. Porte (1985, 194) zu Hörnern als Indikator für einen Herrscher; Steffensen (2018, 324 f.) zu Hörnern als Symbol für Frieden und eine goldene Zeit, worin sich die Ambivalenz der Gegenwart zeige (und daher nicht eine Kritik an Augustus). 305 Vgl. Granobs (1997, 131–133) zu den Unterschieden der ovidischen Version gegenüber den anderen Bearbeitungen dieses Stoffes. 306 Eine historische Einordnung der Episode im Rahmen der Ständekämpfe zwischen Patriziern und Plebejern versucht Lundström (1980, 71–73); vgl. Santini (1987, 296–298); Pairault-Massa (1990, 293–296); Wheeler (2000, 128); Engels (2007, 717 f.); Martin (2009, 271–273).

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Darstellung: Der Text verhandelt das pflichtgemäße Verhalten gegenüber der Heimat, wie aus der vielfachen Bezugnahme auf räumliche Aspekte, insbesondere auf die Stadtmauern als Grenze, deutlich wird. Die Forschung hat versucht, die Episode einer politischen Deutung zu unterziehen: Die Figur des Cipus ist vielfach mit Caesar oder Augustus und die dargestellte Zurückweisung einer Königsherrschaft mit den historischen Situationen identifiziert worden, in denen sich diesen die Möglichkeit zur Alleinherrschaft bot, namentlich also, als Caesar die Königswürde angetragen wurde bzw. als Augustus vorgeblich die Wiederherstellung der res publica betrieb.307 Jenseits dieser Interpretationsansätze und ihrer möglichen Implikationen für eine Rekonstruktion von Ovids politischer Einstellung lässt sich die Episode auch unter raumnarratologischem Fokus gewinnbringend deuten, zumal wenn man ihre Parallelen zu ähnlichen Erzählungen ›vor der Stadt‹ ins Blickfeld rückt: So erscheint vor allem der Vergleich mit dem trojanischen Prinzen Aesacus (Ov. met. 11,749–795; vgl. Kap. 5.3) interessant, der sich in ähnlicher Weise wie Cipus dem Betreten seiner Heimatstadt verweigert. Die Episode gliedert sich wie folgt: Zunächst wird beschrieben, wie Cipus das Horn-Prodigium an sich erblickt und durch eine Eingeweideschau zu interpretieren versucht (15,565–576), bevor die Deutung des Vorzeichens durch die zuvor eingeführte Figur des Tages dargestellt wird (15,577–585). Danach schildert Ovid, wie der verwandelte Cipus eine Rede vor Volk und Senat hält (15,586– 602). Den Abschluss bildet die Reaktion dieser beiden Gruppen einschließlich der aitiologischen Erklärung für das Abbild von Cipus’ Hörnern an einem der römischen Stadttore (15,603–621). Der eigentlichen Cipus-Episode sind zwei kurze Textabschnitte über den etruskischen Priester Tages (15,552–559) und die Lanze des Romulus (15,560–564) vorgeschaltet.308

307 Eine Übersicht zu möglichen religionsgeschichtlichen oder politischen Erklärungsansätzen (die sich allerdings nicht gegenseitig ausschließen müssen) liefert Bömer (1986, zu Ov. met. 15,565–621). Hardie (2015, z. St.) bietet eine aktuelle Forschungsübersicht. Vgl. Schmitzer (1990, 262–264; 272); Wheeler (2000, 129 f.); Urban (2005, 120–134) zu historischen Parallelen zu Caesar bzw. Augustus; Martin (2009, 274 f.). Fucecchi (2020, 259–261) erwägt – insbesondere im Lichte von Senecas 86. Brief – eine mögliche allusive Identifikation des Cipus mit Scipio Africanus, der keine Figur in den Metamorphosen ist. 308 Die drei Passagen stehen insgesamt in Verbindung zu der vorher erzählten Verwandlung der Egeria, der Gattin des Numa (15,547–551). Schmitzer (1990, 270–272) betrachtet die Cipus-Episode als Gegenstück zum Numa-Pythagoras-Komplex: Während es dort um das Bild des idealen Herrschers im Allgemeinen gehe, werde hier das richtige Handeln in der politischen Praxis thematisiert.

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6.6.1 Analyse Tages und Romulus (15,552–564) Die kurzen Episoden über Tages und die hasta Romuli sind mit der längeren Cipus-Erzählung nicht nur formal verbunden, sondern bereiten in mehrfacher Hinsicht auf diese vor. Mit dem etruskischen Priester Tages wird nicht allein die Nebenfigur der nachfolgenden Episode eingeführt, sondern mit Romulus auch die Rolle, die deren Hauptfigur Cipus dort einnehmen könnte, nämlich die eines Königs von Rom.309 Die vorbereitende Funktion der kurzen Geschichten lässt sich auch an räumlichen Gesichtspunkten festmachen: Während die Erzählung von Romulus’ Lanze mit dem Palatin das politische Zentrum des augusteischen Rom zum Schauplatz hat (15,560 Palatinis … collibus) und somit den Ort nennt, den Cipus als König betreten würde,310 kündigt die Tages-Geschichte das fatum als wichtiges Thema der späteren Erzählung an311 und weist darüber hinaus durch die Beschreibung ihres Protagonisten als Landwirt (15,553 Tyrrhenus arator) auf das Land als den Ort voraus, an dem sich die Hauptfigur der späteren Erzählung nach der Zurückweisung des römischen Königtums aufhalten wird (15,617–619).

Das Prodigium (15,565–576) Der Schauplatz der eigentlichen Episode wird nicht direkt genannt. Vielmehr verweist das Erblicken des eigenen Spiegelbildes im Wasser eines Flusses nur indirekt auf den Tiber als denjenigen Ort, an dem Cipus seiner Verwandlung gewahr wird (15,565 f. fluminea cum vidit Cipus in unda / cornua).312 Während die jeweils im Zusammenhang mit dem Akt des Erblickens genannte Lokalität die Parallele zu den zuvor erzählten Sagen verstärkt (15,554 mediis … in arvis; 15,560 Palatinis … collibus; 15,565 fluminis … unda), betont die dreifache Nen 309 Galinsky (1967, 183). Galinsky (1998) indes revidiert seine in dem älteren Artikel vertretene Auffassung zu einem »latent anti-Augustanism« in der Cipus-Episode. 310 Vgl. Bömer (1986, z. St.) zur ungewöhnlichen Art der Ortsbezeichnung. Wie Schmitzer (1990, 261) mit Bezug zu einer entsprechenden Erläuterung bei Servius (vgl. Serv. Aen. 3,46) bemerkt, müsste die Erzählung von der verwandelten Lanze gemäß der historischen Chronologie direkt nach der Gründungserzählung Roms stehen (also an der Stelle Ov. met. 14,772– 777), da Romulus sie kurz nach dem Vogelzeichen geschleudert haben soll. Vgl. auch Marks (2004, 108–111) zu Romulus’ Lanzenentwurf als Geste zum Gebietsanspruch. Wie Schmitzer (ebd., 261 Fn. 60) weiter bemerkt, kann die Stelle des Lanzenwurfs genauer mit den scalae Caci identifiziert werden, also mit dem Ort, an dem Hercules, welcher in der Literatur oft als Präfiguration des Augustus gesehen wird, bei Vergil das Monster Cacus besiegte (Verg. Aen. 8,193–305); vgl. Bömer (1986, zu Ov. met. 15,560); Plut. Rom. 20,6. 311 Vgl. 15,554 fatalem glaebam; 15,557 venturis … fatis ~ 15,584 sic fata iubent; 15,602 fatalis … tyranni. 312 Vgl. Pairault-Massa (1990, 296).

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nung des Sehens313 die Besonderheit der Metamorphose, die der Verwandelte an sich selbst bemerkt. Erst nach der Schilderung der Hörner wird die konkrete Situation nachgetragen, in der Cipus sich befindet: Der Feldherr kehrt als Sieger von einem Kriegszug nach Rom zurück (15,569 ut victor domito veniebat ab hoste).314 Sein erschrockenes Anhalten beim Anblick des eigenen Spiegelbildes bewirkt einen abrupten Stopp seiner Bewegung in Richtung Heimat, was durch die paradoxe Nähe von restitit zu veniebat im selben Vers (15,569) verstärkt wird. Aus Unwissenheit über die Bedeutung des Vorzeichens wendet Cipus sich an die Götter und bittet sie, das Omen möge, falls positiv, seiner Heimatstadt gelten, andernfalls aber ihm selbst (15,571–573): »quidquid« ait, »superi, monstro portenditur isto, »Was auch immer durch dieses Vorseu laetum est, patriae laetum populoque Quirini, zeichen angezeigt wird, ihr Götter«, so sive minax, mihi sit.« sprach er, »falls es glückverheißend ist, so sei es glückverheißend für das Vaterland und das Volk des Romulus, falls es bedrohlich ist, so sei es das für mich.«

Indem Cipus das Wohl des Vaterlandes über sein eigenes stellt, nimmt er sein späteres »autosacrificio per il bene pubblico« und damit auch sein Exil vorweg.315 Mithilfe der charakterisierenden Funktion des Raumes beschreibt Ovid Cipus als tugendhaften Bürger, der sein Verhalten vom Wohl Roms abhängig macht.

Die Eingeweideschau (15,577–585) Cipus versucht, das Vorzeichen nicht allein zu deuten, sondern konsultiert dazu den etruskischen Eingeweideschauer Tages. Die wiederholte Erwähnung von dessen Herkunft betont die Bedeutung der Etrusker für das römische Auguralwesen (15,577 Tyrrhenae gentis haruspex; vgl. 15,553 Tyrrhenus arator; 15,558 f. Etruscam / … gentem).316 Der Priester sieht in den Eingeweiden von geopferten Tieren die Vorzeichen einschneidender politischer Veränderungen (15,578 mag­na quidem rerum molimina vidit), wie er Cipus verkündet (15,581–585):

313 vidit: 15,565; 15,566; 15,568; vgl. 15,554 adspexit; 15,561 vidit. 314 Bei Valerius Maximus ist die Situation umgekehrt: Cipus will gerade zum Krieg ausziehen. 315 Hardie (2015, z. St.); vgl. Fucecchi (2020, 259 f.). 316 Die Bedeutung des Ankömmlings zeigt sich auch in einer sprachlichen Parallele zum Beginn der Aeneis: Ov. met. 15,558 f. Tagen, qui primus Etruscam / … gentem ~ Verg. Aen. 1,1 f. Troiae qui primus ab oris / Italiam fato profugus ... venit.

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»rex« ait, »o salve! tibi enim, tibi, Cipe, tuisque hic locus et Latiae parebunt cornibus arces. tu modo rumpe moras portasque intrare patentes adpropera; sic fata iubent. namque urbe receptus rex eris et sceptro tutus potiere perenni.« 

»Oh König«, rief er, »sei gegrüßt! Denn dir, Cipus, und deinen Hörnern werden dieser Ort und die Königsburg von Latium gehorchen. Zögere nur nicht und beeile dich, durch die offenen Tore einzuziehen! So befiehlt es das Schicksal; und wenn du in die Stadt aufgenommen bist, wirst du König sein und gefahrlos die ewige Herrschaft innehaben.«

Die Bestimmung des Feldherrn zum rex führt der Priester auch in räumlichen Termini aus, wobei die Bezeichnung seines Herrschaftsgebietes als hic locus bzw. Latiae … arces (15,582) allerdings nicht eindeutig zu verstehen ist: Während Pairault-Massa (1990, 292 f.) annimmt, mit der ersten Formulierung sei Rom und mit der zweiten auch die anderen latinischen Städte gemeint, glaubt Santini (1987, 291–293), hic locus bezeichne das Gebiet außerhalb der Stadt, wo die hier dargestellte Handlung stattfindet, die Latiae … arces hingegen den stadtrömischen Raum selbst.317 Während die genaue Bedeutung der letztgenannten Formulierung schwieriger zu bestimmen ist, erscheint die Identifizierung der ersten mit der Stadt Rom umso wahrscheinlicher, wenn man die Parallelstelle aus dem Sau-Prodigium der Aeneis zum Vergleich heranzieht, wo mit denselben Worten die Stelle der zu gründenden Stadt bezeichnet wird (Verg. Aen. 8,46 hic locus urbis erit).318 Von der geschilderten Problematik bezüglich des Vokabulars abgesehen, lässt sich konstatieren, dass Ovid hier und im weiteren Verlauf des Textes eine sichtbare Opposition zwischen Stadt und Land herstellt und somit die symbolische Funktion des Raumes verwendet. Er betont die Grenze zwischen zivilem und militärischem Bereich, der im antiken Rom das pomerium entsprach.319 Tages spricht ausdrücklich von einer Überschreitung dieser Grenze: Er ruft Cipus zum Betreten der Stadt auf, weil sich dort das ihm bestimmte Schicksal erfüllen werde (Ov. met. 15,583–585).320

317 Der Identifizierung von Latiae … arces mit Rom stimmt auch Luck (2017, z. St.) zu, der auch weitere in der Forschung vorgebrachte Deutungen bzw. Übersetzungen wie ›Kapitol‹ oder ›latinische Burgen‹ verwirft. 318 Dieselbe Formulierung findet sich auch in Vers 15,18 bezüglich der Gründung Crotons; vgl. Kap. 6.4. 319 Vgl. Granobs (1997, 137). 320 Wie Hardie (2015, z. St.) betont, antizipiert urbe receptus die Aufnahme von Asclepius in Rom (vgl. 15,736 Romanam intraverat urbem; Kap. 6.7).

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Die Rede des Cipus (15,586–602) Indem Tages in seiner Prophezeiung explizit mit der Bestimmung des Schicksals argumentiert (15,584 sic fata iubent), rückt er das sonst in den Metamorphosen nebensächliche, in der vergilischen Aeneis jedoch so entscheidende fatum in den Blick. Doch im ovidischen Text, wo der Priester das Schicksal zu einem handlungsbestimmenden Element machen will, erhält es eine im Vergleich zu Vergil konträre Rolle.321 Wie Schmitzer (1990, 268 f.) herausarbeitet, beweist Cipus seine pietas nämlich gerade dadurch, dass er das fatum – im Gegensatz zum pius Aeneas Vergils – nicht befolgt (Ov. met. 15,586–589):322 rettulit ille pedem torvamque a moenibus urbis avertens faciem, »procul, a! procul omnia« dixit »talia di pellant! multoque ego iustius aevum exul agam quam me videant Capitolia regem.«

Er trat einen Schritt zurück, wandte sein finsteres Antlitz von den Mauern der Stadt ab und sagte: »Weit, ah, weit fort mögen die Götter all solches vertreiben! Und ich werde ein weit gerechteres Leben als Verbannter führen, als wenn das Kapitol mich als König sähe.«

Das Zurückweichen vor den Mauern der Stadt greift Cipus’ frühere Reaktion auf den Anblick der Hörner wieder auf (rettulit ille pedem ~ 15,569 restitit) und wird im Text durch die mehrfache Distanzierung von Rom verstärkt. Seine Entschlossenheit zur Abwendung des Orakels gipfelt in der Bereitschaft, das Leben in Rom gegen ein freiwilliges Exil einzutauschen.323 Dies wird eindrucksvoll durch die weite Antithese von exul und regem am Anfang bzw. Ende von Vers 15,589 hervorgehoben und durch die Personifikation des Kapitols im selben Vers zusätzlich unterstrichen.324 Die Versammlung von Volk und Senat, die Cipus im Folgenden einberuft (15,590 f.), hat bei den Interpreten einige Verwunderung hervorgerufen, da eine solche gemeinsame Zusammenkunft beider Organe an einem Ort nicht der historischen Praxis entspricht. Während Volksversammlungen in Rom unter freiem Himmel stattzufinden pflegten, kam der Senat stets in einem geschlossenen Gebäude zusammen. Immerhin aber war eine solche Versammlung auch 321 Vgl. Fabre-Serris (1995, 132–136); Tissol (2002, 309) und Feichtinger (2008, 303 f.) zur nicht-teleologischen Funktion des fatum in den Metamorphosen. Vgl. auch den Verweis auf das gänzlich individuelle Schicksal des Aesacus (Ov. met. 11,759 prima nova fata iuventa); Kap. 5.3. 322 Vgl. Urban (2005, 170 f.). 323 Vgl. Val. Max. 5,6,3 quod ne accideret, voluntarium ac perpetuum sibimet indixit exilium. 324 Vgl. die soziokulturelle Interpretation von Santini (1987, 295). Die Bezeichnung als exul (15,589) verbindet Cipus auch mit Pythagoras, der Hauptfigur der ersten Buchhälfte, der mit demselben Terminus eingeführt wird (15,61); auch Lévi (2014, 257) weist auf die Dominanz von Exilfiguren wie Myscelus, Pythagoras, Hippolytus und Cipus in Buch 15 hin.

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außerhalb der durch das pomerium markierten Stadtgrenze möglich.325 – Bevor Cipus zur versammelten Menge spricht, präpariert er sowohl sich selbst, indem er das Vorzeichen an seinem Kopf unter einem Lorbeerkranz verbirgt,326 als auch den Ort seiner Ansprache, indem er seine Soldaten einen Wall als provisorische Rednerbühne aufschütten lässt (15,592 aggeribus factis). In seiner Rede fordert der Feldherr die Zuhörer dann zum Gegenteil dessen auf, was der Priester ihm aufgetragen hatte (15,594–600): »est« ait »hic unus, quem vos nisi pellitis urbe, rex erit. is qui sit signo, non nomine, dicam;  cornua fronte gerit. quem vobis indicat augur, si Romam intrarit, famularia iura daturum. ille quidem potuit portas inrumpere apertas, sed nos obstitimus, quamvis coniunctior illo nemo mihi est. vos urbe virum prohibete, Quirites.«

»Hier ist einer«, so sprach er, »der, wenn ihr ihn nicht von der Stadt fernhaltet, König sein wird; wer derjenige sein wird, werde ich euch durch ein Zeichen, nicht durch seinen Namen mitteilen: Er trägt Hörner auf seiner Stirn! Dieser Mann wird euch, so gibt es ein Vogelschauer an, die Rechte von Sklaven zuteilen, wenn er Rom betreten sollte. Er hätte freilich durch die offenen Tore eindringen können, aber ich habe mich ihm entgegengestellt, obwohl mir niemand nähersteht als er; vertreibt diesen Mann aus der Stadt, Quiriten!«

Nachdem er die Anwesenheit eines potentiellen Königs angekündigt hat (rex erit; vgl. 15,585 rex eris), verlangt Cipus, die gesuchte Person von Rom fernzuhalten,327 und wertet dabei die Worte des Tages von einem ›freundlichen‹ Betreten der Stadt zu einem feindlichen Eindringen um (portas inrumpere apertas ~ 15,583 portas … intrare patentes).328 Cipus präzisiert die Gefahr eines drohenden Königtums, indem er sagt, wenn der neue Herrscher Rom betrete, werde die Stadt ›versklavt‹ werden (15,597).329 Damit wird jedwede mögliche positive Konnotation einer Königsherrschaft negiert, da die Formulierung famularia iura einen eindeutigen Kontrast zu Roms erstem Alleinherrscher, dem ›guten‹ König Romulus, herstellt (14,823 f. reddentemque suo non regia iura Quiriti / … Iliaden).330 325 Vgl. Hardie (2015, z. St.). 326 Der Lorbeerkranz (15,591 f. pacali cornua lauro / velat) hat viel Aufmerksamkeit hervorgerufen: Zum einen unterstreicht Ovid mit diesem Element die Ringkomposition der Metamorphosen (vgl. 1,557–567 zur Aitiologie des Lorbeerbaums in der Erzählung von Daphne und Apollo), zum anderen weist er auf die ara Pacis und damit auf die pax Augusta hin; vgl. Galinsky (1967, 185–191); Santini (1987, 294 f.); Schmitzer (1990, 267). 327 Bömer (1986, zu 15,594) erklärt pellitis richtig mit prohibetis, da sich Cipus ja außerhalb der Stadt befindet; vgl. Galinsky (1967, 184 f.); Lundström (1980, 74). 328 Hardie (2015, z. St.). 329 Vgl. Bömer (1986, z. St.). 330 Vgl. Bömer (1986, zu 15,581).

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Die Reaktion von Volk und Senat (15,603–621) Trotz der von Cipus vorgeführten Gefahren einer Königsherrschaft ist die Reaktion des Auditoriums ambivalent.331 Während der Feldherr das Volk dazu bringen wollte, sich selbst als den potentiellen König von der Stadt fernzuhalten, versuchen die Zuhörer genau dies zu verhindern, indem sie Cipus vom Abnehmen des Lorbeerkranzes abhalten (15,610). Nur durch die Frage eines Einzelnen kommt es zur Enthüllung des Vorzeichens,332 und die Volksmenge versucht, die Bloßstellung zu kompensieren (15,615 festam imposuere coronam ~ 15,610 dempta capiti … corona). Der Senat versieht Cipus mit einer weitergehenden Ehrung (vgl. 15,614 nec honore carere). Die Zuteilung von Ackerland außerhalb der Stadt soll augenscheinlich den ›Verlust‹ Roms kompensieren (15,616–619): at proceres, quoniam muros intrare vetaris, ruris honorati tantum tibi, Cipe, dedere quantum depresso subiectis bobus aratro complecti posses ad finem lucis ab ortu.

Doch weil es dir verboten ist, die Mauern zu durchschreiten, gaben dir die Aristokraten so viel Land als Ehrengeschenk, Cipus, wie du vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne mit dem Pflug umrunden konntest, als du ihn in die Erde drücktest und die Rinder angespannt hattest.

Die Quantifizierung des zugeteilten Landes ist nicht immer richtig verstanden worden: Während Engels (2007, 717) meint, Cipus erhalte »so viel Ackerland, wie er an einem Tag bearbeiten konnte«, erklärt Bömer (1986, z. St.) die Bedeutung von complecti richtig mit circumarare (und nicht: exarare), es handelt sich also um so viel Land, wie der Beschenkte an einem Tag mit dem Pflug umrunden konnte.333 Durch diese staatliche Ehrengabe wird Cipus in eine Reihe mit republikanischen Helden wie Horatius Cocles gestellt, dem laut Livius dieselbe Art der Belohnung für die Bewahrung der Freiheit Roms zuteilwurde.334 331 Die durch das Gleichnis im Wind schwankender Bäume oder eines aus der Ferne wahrgenommenen Meeresrauschens (15,603–606) geschilderte unklare Reaktion des Volkes (15,606 f. confusa frementis / verba … vulgi) lässt sich mit der Situation beim illegitimen Auszug von Myscelus aus seiner Heimatstadt vergleichen (15,604 murmura pinetis fiunt ~ 15,35 fit murmur in urbe); vgl. Hardie (2015, z. St.). Bezüglich des Auditoriums von Cipus’ Rede (15,607 vulgi) meint Bömer (1986, z. St.), es handle sich bei der ersten Reaktion um diejenige von Volk und Senat zusammen; auch eine getrennte Darstellung der Reaktionen von Volk und Senat erscheint jedoch plausibel, da die Senatoren später explizit der vorher genannten Menge gegenübergestellt werden (15,616 at proceres). 332 Der ungenannte Mann aus dem Volk, der die entscheidende Frage stellt, ragt dabei in ähnlicher Weise aus der Volksmenge heraus wie Cipus als potentieller König (15,607 vox eminet una ~ 15,594 est … hic unus). 333 Pairault-Massa (1990, 300) betrachtet die Feldziehung außerhalb des pomerium als eine »transposition des gestes du colon«; desgleichen sieht Marks (2004, 125 f.) eine Parallele zur Landziehung bei der Stadtgründung durch Romulus. 334 Liv. 2,10,12 agri quantum uno die circumaravit, datum; 2,13,5; vgl. Lundström (1980, 74); Glenn (1986, 199); Wheeler (2000, 129 f.). Hardie (2015, zu Ov. met. 15,616–619) verweist

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Rom

Diese erste Ehrung wird durch die Schaffung eines lieu de mémoire komplementiert: An einem Stadttor wird ein ehernes Abbild von Cipus’ Hörnern angebracht. Durch diesen abschließenden Verweis auf eine weitere spezifische Lokalität erhält die Episode eine raumbezogene Ringkomposition (15,620 f. cornuaque aeratis miram referentia formam / postibus insculpunt longum mansura per aevum ~ 15,566 cornua). Während Santini (1987, 298) die in diesen Versen angelegte aitiologische Verbindung zu einem römischen Stadttor für arbiträr hält, sehen andere Interpreten historische Bezüge zu den Mauern Roms. Sie identifizieren das von Ovid nicht näher bezeichnete Stadttor als die bei Valerius Maximus genannte, jedoch nicht in den Hexameter einfügbare porta Raudus­ culana und teils auch die Ehrenskulptur von Cipus’ Hörnern mit dem tatsächlichen Bildnis einer gehörnten Schutzgöttin.335 Uneinigkeit besteht jedoch über die Zugehörigkeit des genannten Tores zur servianischen oder zur republikanischen Stadtmauer.336

6.6.2 Fazit Die vielfache Erwähnung Roms in der Cipus-Episode lässt die thematische Funktion des Raumes deutlich werden.337 Der Protagonist aber wendet seinen Blick explizit von der Stadt als Anschauungsraum ab (15,586 f. a moenibus urbis / avertens faciem). Die einzige neben den Stadtmauern erwähnte innerrömische Lokalität ist das Kapitol, von dem sich die Hauptfigur jedoch ausdrücklich distanziert (15,589 quam me videant Capitolia regem). Die entscheidenden Vorgänge ereignen sich stattdessen außerhalb der Stadt. Wie oben dargestellt, wird der Schauplatz, also vermutlich das Gebiet bei einem Stadttor auf dem Aventin (der sich bis zur Kaiserzeit außerhalb des Stadtgebiets befand) nahe dem Tiber, durch indirekte Hinweise am Beginn und am Schluss der Episode angegeben (15,565 fluminea … unda; 15,620 f. aeratis … / postibus); zusätzlich verweisen deiktische Pronomina auf den Handlungsort (15,582 hic locus; 15,594 hic).338 auch auf Didos Grenzziehung bei der Gründung von Karthago (Verg. Aen. 1,367 f. mercatique solum, facti de nomine Byrsam, / taurino quantum possent circumdare tergo); vgl. Austin (1971, z. St.). 335 Val. Max. 5,6,3 cuius testandae gratia capitis effigies aerea portae, qua excesserat, inclusa est dictaque Rauduscula: nam olim aera raudera dicebantur; Varro ling. 5,34,163. Vermutlich ist die fehlende namentliche Erwähnung dieses Stadttores bei Ovid auch der Grund dafür, dass es in der Monographie von Boyle (2003) keine Beachtung findet. 336 Vgl. Lundström (1980, 69–71); Myers (1994, 129 f.); Martin (2009, 270 f.). 337 15,572 patriae; 15,582 Latiae arces; 15,584 urbe; 15,586 urbis; 15,594 urbe; 15,597 Romam; 15,600 urbe. 338 Außerdem wird ein Altar erwähnt, den Cipus jedoch spontan errichtet und dessen genaue Lokalisierung daher nicht angegeben wird (15,574 herbosas … aras); ähnlich verhält es sich mit der kurzfristig errichteten provisorischen Rednerbühne (15,592 aggeribus). Santini

Cipus verweigert sich Rom

317

Dessen Abgrenzung vom Inneren der Stadt wird durch mannigfache Verweise auf das pomerium, die Grenzlinie zwischen zivilem und militärischem Bereich, betont. Immer wieder werden die Mauern und Tore Roms genannt, die den Schauplatz außerhalb der Stadt von Rom selbst trennen339 – die Hauptstadt wird von keiner Figur betreten und bleibt damit letztlich ein Hintergrundraum der Erzählung. Demgemäß stellen die römischen Stadtmauern auch das entscheidende Element des Aktionsraums dar.340 Ihre wiederholte Nennung illustriert die symbolische Funktion des Raumes, denn die Mauern unterteilen den Raum in zwei Teilbereiche, von denen einer als Schauplatz und einer nur als Hintergrundraum fungiert. Die Stadtmauern fungieren buchstäblich als das Tor zwischen zwei Welten – ›dentro le mura‹ vs. ›fuori le mura‹.341 Diese zwei Sphären (namentlich diejenige des zivilen Lebens und die des auswärtigen Krieges) lassen sich nicht miteinander in Verbindung bringen.342 Die Unmöglichkeit, Soldat in der Stadt zu sein, wird intensiv diskutiert, indem immer wieder aus verschiedener Per­ spektive die Frage aufgeworfen wird, ob der Protagonist die Stadt betreten soll oder nicht: Während der Priester Tages ihn hierzu auffordert, handelt Cipus dem zuwider und veranlasst auch das Volk und den Senat zu entsprechenden Handlungen.343 Der mit der entsprechenden Bewegung verbundene symbolische Übergang von einem Status zum anderen, vom Feldherrn zum Bürger, findet nicht statt.344 Durch die nahezu vollständige ›Negierung‹ Roms von Seiten sämtlicher heimischer Figuren bzw. Gruppen (dem Feldherrn Cipus, dem römischen Volk und Senat im Gegensatz einzig zu dem etruskischen Priester Tages) erscheint die Stadt für Cipus im Sinne des gestimmten Raumes in negativem Licht (15,586 f. rettulit ille pedem torvamque a moenibus urbis / avertens faciem). Es erscheint schwierig, die Episode in irgendeiner Weise als positive Folie zu deuten, sofern (1987, 291) betont die fehlende Erwähnung antiquarischer Elemente in Ovids Darstellung (im Gegensatz zu derjenigen bei Valerius Maximus). Schmitzer (1990, 263 f.) sieht ein Indiz für den Bezug der Geschichte auf die Krise des Prinzipats im Jahr 23 v. Chr. darin, dass Augustus damals das Konsulat beim Latinerfest vor den Toren der Stadt niederlegte. Zu möglichen historischen Bezügen vgl. auch Steffensen (2018, 324). 339 15,583 portas; 15,586 moenibus; 15,598 portas; 15,616 muros; 15,621 postibus; vgl. Lund­ström (1980, 74). 340 Vgl. Bach (2020, 68). 341 Vgl. Santini (1987, 291–294). 342 Marks (2004, 119 f.) erläutert die generelle Ambivalenz von Toren zwischen ihrer Funktion als Einlasspunkt und als Schutz; vgl. Guillaumin (2008, 169). 343 Tages: 15,583 f. portas intrare patentes / adpropera; 15,584 urbe receptus – Cipus: 15,586 rettulit … pedem; 15,587 avertens faciem; 15,588 f. aevum / exul agam; 15,594 quem vos nisi pellitis urbe; 15,597 si Romam intrarit; 15,598 portas inrumpere apertas; 15,599 nos obstitimus; 15,600 urbe virum prohibete – Senat: 15,616 muros intrare vetaris. 344 Vgl. Santini (1987, 291–293).

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Rom

man das Geschehen auf historische Vorgänge um Augustus oder Caesar bezieht und den Protagonisten als exemplum republikanischer Tugend versteht.345 An Cipus zeigt sich die charakterisierende Funktion des Raumes: Seinem positiv gezeichneten Verhalten entspricht die Zuteilung von Land als ehrende Belohnung am Ende der Episode, wodurch das Land zum positiven Gegenbild der Stadt erhoben wird. Schließlich wird das Problem der Überschreitung des pomerium durch einen militärischen Amtsträger nicht allein durch die Cipus-Handlung an sich erörtert, sondern bereits der Name des Protagonisten könnte eine Anspielung auf das Thema ›Stadtgrenze‹ sein, weil darin möglicherweise ein Hinweis auf die Etymologie von Cipus liegt: Laut Varro war ein cippus ein Stein, der die Grenze einer Stadt markierte.346 Diese sprachliche Beobachtung stellt möglicherweise auch einen Teil der Erklärung für die Aufnahme der weitgehend unbekannten Cipus-Episode in den Rom-Zyklus der Metamorphosen dar.

6.7  Asclepius wird nach Rom gebracht (15,622–744) Der historisch belegte ›Import‹ des Asclepius (Aesculapius)347 nach Rom ist von mehreren Autoren der klassischen Zeit behandelt worden. Die wichtigsten Referenztexte stammen von Livius und Valerius Maximus.348 Gemäß deren Berichten konsultierte der römische Senat im Jahr 293 v. Chr. anlässlich des Ausbruchs einer Seuche in Rom349 die Sibyllinischen Bücher, woraufhin eine Gesandtschaft die Kultstatue des Heilgottes in die Stadt brachte und am ersten Tag des Jahres 291 einen Tempel für den Gott weihte. Dieser galt als Sohn des Apollo350 und 345 Vgl. Lundström (1980, 79): »Geschickt verhüllte, aber tief liegende und konsequent durchgeführte Kritik am Prinzipat«; Guillaumin (2008, 170 f.): »Rome est faite pour glisser à la monarchie«; Martin (2009, 274–276). Marks (2004, 123; 128) argumentiert, es gehe in Ovids Text nicht um eine spezifische Gestalt, also weder um Cipus noch um Augustus, sondern um das allgemeine Dilemma, das der Gründungsakt durch den König Romulus der Stadt als Teil ihrer Identität hinterlassen habe. – Wheeler (2000, 128) nimmt eine narratologische Deutung der Episode vor und betrachtet sie als Antizipation des Problems der ›closure‹, also als Beitrag zu der Frage nach einem geeigneten Ende für Ovids carmen perpetuum. 346 Varro ling. 5,32,143 Post ea qui fiebat orbis, urbis principium; qui quod erat post murum, postmoerium dictum, eo usque auspicia urbana finiuntur. Cippi pomeri stant … et circum Romam … ideo coloniae et urbes conduntur, quod intra pomerium ponuntur. Vgl. Wheeler (2000, 129 f.). 347 Die Schreibweise Asclepius findet sich unter anderem bei Hygin und Laktanz, die Form Aesculapius wird hingegen von Varro, Cicero, Livius und Valerius Maximus verwendet. 348 Vgl. Lundström (1980, 80–89); Granobs (1997, 80–82) zu den Unterschieden der ovidischen Version. 349 Über die Herbeiholung desselben Gottes nach Athen gibt es nur eine einzige Quelle, das sogenannte Telemachus-Monument; vgl. Papaioannou (2006, 141 f.). 350 Vgl. Suet. Aug. 94,4 zu der Legende, wonach Augustus durch Apollo gezeugt wurde, der seine Mutter Atia in Gestalt einer Schlange schwängerte; Papaioannou (2006, 135–139);

Asclepius wird nach Rom gebracht

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der Nymphe Coronis; sein charakteristisches Attribut ist ein Stock mit einer Schlange.351 Im Geschichtswerk des Livius hat die Erzählung über Asclepius einen wichtigen Platz am Übergang vom zehnten zum elften Buch.352 Aufgrund des Überlieferungsverlusts der zweiten Buchdekade besitzen wir jedoch nur eine Kurzdarstellung, die lediglich die basalen Fakten enthält (Liv. 10,47,6 f.). Der ausführlichere Bericht des Valerius Maximus hingegen (Val. Max. 1,8,2) erwähnt darüber hinaus einige Details wie den Namen des römischen Legaten Quintus Ogulnius sowie den Besuch des Gottes am Apollo-Tempel von Antium. Der Mythos um den Heilgott gehört zu den Themen, die Ovid in mehreren Werken behandelt hat. Eine summarische Darstellung findet sich am Ende der Passage zum 1. Januar in den Fasten (Ov. fast. 1,289–294; 1,291 f. accepit Phoebo nymphaque Coronide natum / insula, dividua quam premit amnis aqua); in den Metamorphosen hat Ovid den Stoff in über einhundert Versen ausgestaltet. Dort ergänzt sich die als Aition erzählte Geschichte mit derjenigen über die Pest auf der Insel Aegina (Ov. met. 7,517–660). Gegenüber der oben skizzierten Hauptüberlieferung nimmt Ovid eine wichtige Veränderung vor: Er ersetzt die Konsultation der Sibyllinischen Bücher durch eine Befragung des Apollo-Orakels in Delphi.353 Außerdem verzichtet er auf eine genauere historische Einordnung, indem er den Namen des Führers der Gesandtschaft nicht erwähnt. Innerhalb der Gesamtkonzeption des ovidischen Epos nimmt die AsclepiusEpisode eine bedeutende Stellung ein. Zunächst einmal repräsentiert sie zusammen mit der Cipus-Erzählung (15,552–621) die Geschichte der republikanischen Zeit und stellt damit den Übergang von der römischen Frühgeschichte in Form der Stadtgründung durch Romulus (14,772–851) zur Gegenwart des Dichters in Gestalt der Erzählung von Caesar und Augustus (15,745–870) her. Mit den vorangehenden Episoden, also auch mit denjenigen über Myscelus (15,1–59), Pythagoras (15,60–478) und Hippolytus (15,479–546), ist sie durch das Thema ›Reisen von Griechenland nach Italien‹ verbunden.354 Mit der bereits erwähnten Cipus-Episode ist die Asclepius-Geschichte noch spezifischer verknüpft, da in beiden Fällen Rom als Zielpunkt der Bewegung einer Figur fungiert.355 Darüber Schmitzer (1990, 273–278) für eine politische Deutung dieser Episode, die Asclepius (ebenso wie andere Charaktere wie Numa und Cipus) als positive exempla betrachtet, die zur Beurteilung von Augustus’ Herrschaft herangezogen werden könnten. 351 Vgl. LIMC II 1, »Asclepius«; Ov. met. 2,533–632 (Episode von Apollo und Coronis). In Rom gab es insgesamt nur zwei Tempel, die im Zusammenhang mit der Beendigung einer Seuche errichtet wurden: den des Asclepius sowie den 433 v. Chr. geweihten Tempel für Apollo als Heilgott; vgl. Papaioannou (2006, 134 f.). 352 Vgl. Hardie (2002b, 199). 353 Vgl. Granobs (1997, 81). 354 Vgl. Papaioannou (2006, 126 f.; 154 f.). 355 Ovid betont mehrfach das Ende der Pest in Rom (15,633 urbis mala finiat; 15,646 f. funera gentis / finiat; 15,743 f. finem … / luctibus imposuit). Ein ähnliches Vokabular verwenden auch Livius und Valerius Maximus (Liv. 10,47,6 finis … eius mali; Val. Max. 1,8,2 finem …

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Rom

hinaus hat die Episode dadurch einen Sonderrang, dass sie mit einem Musenanruf beginnt und die letzte eigentliche Verwandlung des Gedichtes enthält, abgesehen von den Apotheosen von Caesar, Augustus und Ovid selbst. Nach dem einleitenden Musenanruf (15,622–625) gliedert sich die Episode gemäß ihren verschiedenen Handlungsorten in vier wesentliche Abschnitte. Die erste Szene schildert die Aussendung der Gesandtschaft nach Delphi nach dem Ausbruch der Pest in Rom (15,626–640). Der zweite Hauptteil berichtet von den Ereignissen in Epidaurus, zunächst von den Verhandlungen der Römer und vom Traum ihres Legaten (15,641–664), sodann davon, wie Asclepius seinen Tempel verlässt (15,665–696). Die letzten Teile der Episode beinhalten die Überfahrt nach Italien (15,697–728) und die Ankunft des Heilgottes in Rom mitsamt der Verwandlung der Tiberinsel (15,729–744).356 Die nachfolgende Analyse zeichnet die Bedeutung der zahlreichen räumlichen Bewegungen nach, die letztlich zu einer Verwandlung Roms von einem pestverseuchten Ort zu einer Stadt in Hochstimmung führen.

6.7.1 Analyse Der Musenanruf (15,622–625) Wenngleich die Musen auch im fünften und im zehnten Buch erwähnt werden und zusammen mit ihrer Nennung an der hier zu besprechenden Stelle die These einer pentadischen Gliederung des Werkes unterstützen,357 stellt die hiesige Textpassage eine Besonderheit dar:358

mali). Diese Vokabeln verstärken den ›closure‹-Charakter der Episode. Diese metapoetische Deutung wird durch die eingangs evozierte Genealogie des Asclepius noch verstärkt: Der Heilgott stammt von der Nymphe Coronis ab (vgl. Ov. met. 15,624 Coroniden); der Begriff coronis bezeichnet jedoch auch einen Schnörkel, den man setzte, um das Ende eines Buches zu markieren; vgl. z. B. Mart. 10,1,1 f. Si nimius videor seraque coronide longus / esse liber, legito pauca: libellus ero. Zu solchen metapoetischen Effekten vgl. Barchiesi (1997, 194 f.); Papaioannou (2006, 155 f.). 356 Zur Archäologie der Tiberinsel vgl. Coarelli (2000, 309–314). 357 Vgl. 5,294–678 (Musen vs. Pieriden); 10,148 f. (Orpheus). Vgl. außerdem die Bitte um Beistand an die Götter im Proömium (1,2 f. di, coeptis [nam vos mutastis et illa] / adspirate meis). 358 Das wichtigste Vorbild für Ovid ist der Aeneis-Vers Pandite nunc Helicona, deae, cantusque movete (Verg. Aen. 7,641 = 10,163), der wiederum auf den Urtyp des Musenanrufs vor dem Schiffskatalog in der Ilias zurückgeht; vgl. Hom. Il. 2,484–487; Brügger et al. (2010, zu 2,484–493); Schindler (2019, 513 f.). Ein weiterer Bezug zum Truppenkatalog im siebten Aeneis-Buch besteht darin, dass der dort erwähnte Hippolytus (vgl. Verg. Aen. 7,761–782) von Asclepius wiederbelebt wird.

Asclepius wird nach Rom gebracht Pandite nunc, Musae, praesentia numina vatum, (scitis enim, nec vos fallit spatiosa vetustas) unde Coroniden circumflua Thybridis alti insula Romuleae sacris adlegerit urbis. 

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Offenbart nun, ihr Musen, hilfreiche Gottheiten der Sänger (denn ihr wisst dies, und euch trügt die ferne Vergangenheit nicht), von wo die umspülte Insel des tiefen Tiber den Sohn der Coronis zu den Heiligtümern der Stadt des Romulus hinzufügte.

Die Anrufung der Musen vor dem durch unde markierten Aition über den ­Asclepius-Kult auf der Tiberinsel erscheint zunächst einmal paradox, da sie nicht der Inspiration für die Schilderung eines lange zurückliegenden (vgl. spatiosa vetustas), sondern eines historischen Ereignisses dient, über das Ovid glaubwürdige Berichte vorlagen.359 Darüber hinaus scheint der Musenanruf weder als generischer Marker360 für den epischen Charakter der Metamorphosen zu dienen noch befindet er sich an einer exponierten Stelle wie dem Anfang des Werkes oder eines Buches.361 Gemäß der Klassifikation von Schindler (2019, 494 f.; vgl. 522) muss die Stelle unter die schwer fassbare Kategorie der »turning points of the action« fallen. Worin ein solcher Wendepunkt hier bestehen könnte, ist allerdings aufgrund der zahlreichen motivischen Bezüge zu den vorherigen Episoden nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Am plausibelsten erscheint es daher, den Musenanruf als Beitrag zur Vorbereitung der Herrscherpanegyrik in der finalen Episode über Caesar und Augustus zu verstehen.362

Die Gesandtschaft nach Delphi (15,626–640) Die eigentliche Asclepius-Episode setzt mit der Schilderung der Pest in Rom ein (15,626–629). Obwohl es sich dabei um ein historisch datierbares Ereignis handelt, wird es durch die Zeitangabe quondam (15,626) in der unbestimmten Vergangenheit verortet. Durch diese Wortwahl stellt Ovid seine Pestbeschreibung in eine Reihe mit denjenigen bei Lukrez und Vergil, die mit demselben Adverb 359 Papaioannou (2006, 147 f.) sieht den Musenanruf als allgemeinen Hinweis darauf, dass Mythos und Geschichte in verschiedenen Versionen existieren können. Granobs (1997, 83) interpretiert ihn als Ablenkung von der Historizität des Ereignisses in Richtung einer ›phantastischen‹ römischen Frühgeschichte; vgl. Hardie (2002b, 198 f.; 204 f.), der den Musenanruf als keineswegs paradox empfindet, da aufgrund der zahlreichen Querverweise zwischen den verschiedenartigen Episoden von Buch 15 ohnehin keine scharfe Trennung von Mythos und Geschichte vorliege. 360 Vgl. dazu allgemein Schindler (2019, 492), ohne Behandlung Ovids. 361 In der Ilias Latina findet sich ein Musenanruf am Werkende; vgl. Schindler (2019, 492). 362 Bömer (1986, z. St.) sieht keinerlei zufriedenstellende Erklärung, während Wheeler (2000, 131 f.) den Musenanruf als Teil der Ringkomposition zwischen Buch 1 und Buch 15 deutet. Lundström (1980, 82 f.) betrachtet die Asclepius-Geschichte mit ihrem ›leicht komischen‹ Duktus als ein ›seltsames Ereignis‹ und begründet dies mit der Einordnung in die Kategorie De miraculis bei Valerius Maximus.

322

Rom

eingeleitet werden.363 Bei der geographischen Einordnung der Seuche hält Ovid sich an die Beschreibung der römischen Pest bei Livius, indem er ganz Latium als ihr Verbreitungsgebiet angibt (Latias … auras).364 Anschließend beschreibt Ovid die Gesandtschaft des römischen Senats zum Orakel des Apollo in Delphi, mit der er die von der Tradition vorgegebene Konsultation der Sibyllinischen Bücher ersetzt (15,630–633): mediamque tenentes  orbis humum Delphos adeunt, oracula Phoebi, utque salutifera miseris succurrere rebus sorte velit tantaeque urbis mala finiat orant.

Sie begeben sich nach Delphi, das in der Mitte des Erdkreises liegt, zum Orakel des Apollo, und beten darum, dass er mit seinem heilbringenden Schicksalsspruch ihrer schrecklichen Lage abhelfe und das Übel ihrer so bedeutenden Stadt beende.

Ovid verwendet die symbolische Funktion des Raumes und stellt Delphi, den ›Nabel der Welt‹,365 dem als bedeutend bezeichneten Rom gegenüber (Delphos … / … salutifera – miseris … / … tantae … urbis). Trotz ihrer Größe benötigt die Stadt also fremde Hilfe. Die hier noch weit voneinander getrennten Worte salutifera und urbis werden am Ende der Erzählung direkt nebeneinanderstehen (15,744 salutifer Urbi) und damit die Überwindung der räumlichen Trennung von Asclepius und Rom demonstrieren. An der hiesigen Stelle aber weist salutifer als Attribut des Gottes zunächst einmal auf die Prophezeiung seiner einstigen Wohltaten in der Ocyroe-Episode im zweiten Metamorphosen-Buch hin (2,633–675; 2,642 f. salutifer orbi / cresce, puer). Das Delphische Orakel gibt den Römern eine unerwartete Antwort, indem es ihnen kundtut, sie hätten sich an den falschen Ort begeben (15,637–640): »quod petis hinc propiore loco, Romane, petisses, et pete nunc propiore loco; nec Apolline vobis, qui minuat luctus, opus est, sed Apolline nato. ite bonis avibus prolemque accersite nostram.« 

»Was du hier suchst, hättest du an einem näheren Ort suchen sollen, Römer, und suche es jetzt an einem näheren Ort; denn nicht Apollo benötigt ihr, um eure Trauer zu mindern, sondern den Sohn des Apollo.«

Entgegen ihrer Erwartung benötigen die Römer demnach nicht die Hilfe Apollos, sondern die seines Sohnes. Indem das Orakel den nicht genannten Ge 363 Lucr. 6,1138 (Pest in Athen); Verg. georg. 3,478 (Norische Viehseuche); vgl. auch Ov. met. 7,515 f. (Pest auf Aegina) multos tamen inde requiro, / quos quondam vidi vestra prius urbe receptus. – Eine tiefergehende Analyse von Ovids Bezugnahme auf die Pestdarstellungen bei Lukrez und Vergil bietet Schmidt (2021, 234–245). 364 Vgl. Liv. 10,47,6 pestilentiae urentis simul urbem atque agros. 365 Vgl. 10,167 f. (Hyacinthus-Erzählung) orbe / in medio … Delphi; Reed (2013, z. St.) zu den Quellen dieser Vorstellung.

Asclepius wird nach Rom gebracht

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sandtschaftsleiter allgemein als ›Römer‹ adressiert, erinnert die Weissagung an das berühmte Finale der Anchises-Prophetie in der Aeneis (Verg. Aen. 6,851 tu regere imperio populos, Romane, memento). Die Bedeutung des Ereignisses wird damit in den Kontext der vom Schicksal vorherbestimmten Ausbreitung des Imperium Romanum gestellt. Die emphatisch wiederholte geographische Angabe propiore loco hat bei den Kommentatoren Irritationen hervorgerufen, denn das damit gemeinte Ziel, Epidaurus auf der Peloponnes, liegt weiter von Rom entfernt als Delphi.366

Die Gesandtschaft nach Epidaurus (15,641–664) Da die Kultstätten der Asclepius-Verehrung dem römischen Senat bekannt gewesen sein dürften, kann mit der im Folgenden beschriebenen Nachforschung über den Wohnsitz des Gottes nur gemeint sein, dass man überlegte, von welchem der ihn verehrenden Orte man Asclepius holen solle (15,641–647): iussa dei prudens postquam accepere senatus, quam colat explorant iuvenis Phoebeius urbem, quique petant ventis Epidauria litora mittunt. quae simul incurva missi tetigere carina, concilium Graiosque patres adiere darentque  oravere deum, qui praesens funera gentis finiat Ausoniae.

Nachdem der verständige Senat die Befehle des Gottes erhalten hatte, forschte man aus, in welcher Stadt der Sohn des Apollo beheimatet war, und man schickte Gesandte aus, die mit dem Wind zur Küste von Epidaurus segeln sollten; als die Gesandten diesen Ort mit ihrem gekrümmten Schiff erreicht hatten, begaben sie sich zur Ratsversammlung und zu den griechischen Senatoren und baten sie darum, ihnen den Gott zu übergeben, damit er mit seiner Anwesenheit das Sterben des italischen Volkes beende.

Ovid beschreibt den römischen Senat als prudens, gibt jedoch nicht an, wie dieser zu der Entscheidung gelangt, Asclepius aus seinem Tempel in Epidaurus herbeizuholen. Nachdem das Schiff der Römer in der argolischen Stadt angekommen ist, bittet man den dortigen Senat um die Überlassung des Heilgottes.367 Da dieser nicht aus der Ferne, sondern nur als deus praesens368 wirken kann, muss er 366 Vgl. Bömer (1986, zu Ov. met. 15,637 f.); Wheeler (2000, 133 f.); Hardie (2015, z. St.). Papaioannou (2006, 137 f.) weist auf den Apollo-Tempel auf dem Palatin hin, in dem seit 28 v. Chr. die Sibyllinischen Bücher aufbewahrt wurden. Demnach könnte in der geographischen Indikation des Orakelspruchs auch eine Anspielung auf die von Ovid unterdrückte Sagenversion liegen. 367 Valerius Maximus bietet genaue geographische Angaben über die Lokalisierung des Asclepius-Tempels von Epidaurus (Val. Max. 1,8,2 templum Aesculapii, quod ab eorum urbe v passuum distat). 368 Vgl. Kap. 6.8 zu Augustus als deus praesens bzw. absens.

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Rom

von Griechenland nach Italien ›importiert‹ werden (15,650 numina tradere); die beiden Länder werden erneut einander gegenübergestellt (Graios – Ausoniae). Die Griechen sind zunächst unentschlossen, ob sie den Römern ihren Gott überlassen sollen,369 und der Senat gelangt bis zum Ende des Tages zu keiner Entscheidung (15,648–650). Im Anschluss kommt es zu einem plötzlichen Szenenwechsel, der Schauplatz ändert sich vom öffentlichen Versammlungsort zu einem privaten Schlafgemach: In der Nacht erscheint Asclepius dem römischen Legaten im Traum (15,653–664).370 Der Gott verkündigt Quintus Ogulnius (der ein zweites Mal emphatisch als ›Römer‹ apostrophiert wird, vgl. 15,654) seine Bereitschaft, seinen angestammten Sitz zugunsten Roms aufzugeben (15,658 veniam simulacraque nostra relinquam);371 dabei kündigt er seine Verwandlung in eine Schlange an (15,661 vertar in hunc [sc. serpentem]).

Asclepius verlässt seinen Tempel (15,665–696) Die Unsicherheit unter den griechischen Senatoren hat sich auch am nächsten Morgen noch nicht aufgelöst; sie steht im Kontrast zu der unzweideutigen Aussage des Orakelspruchs, mit dem die Römer ihren Anspruch auf Asclepius untermauern (15,666 incerti quid agant ~ 15,647 certas ita dicere sortes). Letztendlich plädiert man dafür, den Gott selbst über seinen präferierten Wohnsitz entscheiden zu lassen (15,667 f. quaque ipse morari / sede velit … indicet orant);372 insofern kommt dem Raum hier eine thematische Funktion zu. Wie zuvor in der Traumerscheinung angekündigt, erscheint Asclepius als Schlange in seinem Tempel (15,670–674):

369 In den Fasten berichtet Ovid von einem vergleichbaren Ereignis, der im Jahr 204 v. Chr. erfolgten Herbeiholung des Kultes der Magna Mater (Ov. fast. 4,265 f. mittuntur proceres. Phrygiae tum sceptra tenebat / Attalus; Ausoniis rem negat ille viris). 370 Asclepius wird hier als deus … opifer (15,653) bezeichnet, so wie an der einzigen anderen Stelle des Werkes, an der dieses Attribut benutzt wird, sein Vater Apollo (1,521 f. inventum medicina meum est opiferque per orbem / dicor); vgl. die drei Verwendungen von salutifer für Asclepius. Vgl. La Penna (2018, 125) zu Asclepius als Heilsbringer im Kontext der augusteischen Ideologie; Khoo (2019, 578 f.) zur Traumszene der Asclepius-Episode als Paradigma für die Spannungen zwischen Fakten und Fiktion in den Metamorphosen. 371 Das bei der Beschreibung von Asclepius’ Bart verwendete Verb deducere (15,656 caesariem longae dextra deducere barbae) erscheint in metapoetischer Hinsicht bedeutsam, weil es hier zum letzten Mal innerhalb der Metamorphosen verwendet wird. Zusammen mit dem Musenanruf am Beginn der Asclepius-Erzählung wirkt die Passage damit wie ein Beitrag zur ringkompositorischen Gestaltung des Werkes, in dem deducere zum ersten Mal beim Götteranruf im Proömium verwendet wird (1,4 perpetuum deducite … carmen). 372 Vgl. 15,738 sedesque sibi circumspicit aptas.

Asclepius wird nach Rom gebracht in serpente deus praenuntia sibila misit  adventuque suo signumque arasque foresque marmoreumque solum fastigiaque aurea movit pectoribusque tenus media sublimis in aede constitit.

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Der Gott in Schlangengestalt ließ eine zischelnde Vorankündigung vernehmen, und bei seiner Ankunft bewegte er das Götterbild, den Altar, die Türen, den marmornen Boden und die goldenen Giebel und richtete sich in der Mitte des Tempels bis zur Brust auf.

Der adventus dei macht sich in der Erschütterung des gesamten Gebäudes bemerkbar.373 Der Priester erkennt und verkündigt die Anwesenheit des Gottes (15,677–679) und die Anwesenden verehren dessen Erscheinung (15,681 f. piumque / Aeneadae praestant … favorem). Die Bezeichnung der Römer als Aeneaden, die Ovid nur an dieser Stelle sowie nochmals kurz darauf in derselben Episode verwendet (15,695),374 parallelisiert die Mission der römischen Gesandtschaft mit der welthistorisch bedeutsamen Flucht der Trojaner. Ovid verschiebt dabei den Fokus vom Individuum auf das Kollektiv, indem er pius, das topische Attribut des Helden Aeneas, auf die Römer als Ganzes überträgt.375 Anschließend wird geschildert, wie Asclepius seinen Tempel verlässt und sich durch die Stadt zum Hafen begibt (15,685–690): tum gradibus nitidis delabitur oraque retro  flectit et antiquas abiturus respicit aras adsuetasque domos habitataque templa salutat. inde per iniectis adopertam floribus ingens serpit humum flectitque sinus mediamque per urbem tendit ad incurvo munitos aggere portus. 

Dann gleitet er die glänzenden Stufen hinab, wendet seinen Blick und schaut im Fortgehen noch einmal auf den altvertrauten Altar und seine gewohnte Behausung zurück und grüßt den von ihm bewohnten Tempel. Von dort schlängelt er sich riesengroß über den mit hingestreuten Blumen bedeckten Boden, krümmt sich in Windungen und strebt mitten durch die Stadt zum Hafen, der von einer gekrümmten Mole geschützt ist.

Die Darstellung von Asclepius’ Abschied von Epidaurus enthält Topoi wie den letzten Blick eines Exilierten auf seine Heimat.376 Ovid vermenschlicht den Gott 373 Vgl. 15,694 pressa estque dei gravitate carina. – Vgl. 15,673 f. media sublimis in aede / constitit ~ 15,843 f. (Caesar-Episode) media cum sede senatus / constitit alma Venus. 374 Vgl. Lucr. 1,1 Aeneadum genetrix = Ov. trist. 2,261 = 2,262; Verg. Aen. 8,648 (Schildbeschreibung); Luck (2017, zu Ov. met. 15,682). 375 Vgl. z. B. Verg. Aen. 1,378 sum pius Aeneas; Feeney (1991, 209 f.); Andrae (2003, 191) zu Ovids Umgang mit dem Konzept des pius Aeneas. 376 Vgl. Hardie (2015, z. St.); Ripoll (2019, 95 f.) zu Abschiedsszenen in den Metamorphosen sowie (ebd., 116–118) zum Beitrag solcher Szenen zur Charakterisierung des jeweiligen Helden; Ov. fast. 3,566 (Annas Abschied aus Karthago) moenia respiciens, dulce sororis opus; Ov. trist. 1,3,15 alloquor extremum maestos abiturus amicos; 1,3,33 f. dique relinquendi, … / este salutati.

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und beschreibt mithilfe der charakterisierenden Funktion des Raumes dessen enge Bindung an seine angestammte Kultstätte. Der eigentliche Abschied wird dann nochmals ausführlich dargestellt (15,691–696): restitit hic agmenque suum turbaeque sequentis officium placido visus dimittere vultu corpus in Ausonia posuit rate; numinis illa sensit onus pressa estque dei gravitate carina. Aeneadae gaudent caesoque in litore tauro  torta coronatae solvunt retinacula navis.

Hier hielt er inne, schien seine Anhängerschaft und das Ehrengeleit der ihm nachfolgenden Menge mit freundlichem Blick zu entlassen und legte seinen Leib in das italische Schiff; dieses spürte die Last der Gottheit, und der Kiel wurde vom Gewicht des Gottes niedergedrückt; die Aeneaden freuen sich, schlachten an der Küste einen Stier und lösen die gewundenen Haltetaue ihres bekränzten Schiffes.

Auf seinem Weg zum Hafen zieht der Gott große Aufmerksamkeit auf sich.377 Dann begibt er sich auf das ›italische Schiff‹ (Ausonia … rate; vgl. 15,742 Latia pinu), das durch diese Bezeichnung auf das Ziel der Reise vorausweist: Von diesem Moment an können die Römer gewiss sein, dass ihrer Stadt Hilfe zuteilwerden wird, und sind in dementsprechender Feststimmung (Aeneadae gaudent). Ovid nutzt hier die psychologische Funktion des Raumes, um die Gemütslage der Römer zu beschreiben.

Asclepius reist nach Italien (15,697–728) Die zweimalige Bezeichnung der Römer als Aeneaden (15,682 Aeneadae = 15,695) hat bereits auf die Reise des Asclepius gen Italien hingedeutet. Im Gegensatz zu der von zahlreichen Unbilden geprägten Flucht der Trojaner verläuft die Rückfahrt der römischen Gesandtschaft mit dem Gott an Bord zunächst völlig problemlos und man erreicht schnell Italien (15,699–701): modicisque per aequor Ionium Zephyris sextae Pallantidos ortu  Italiam tenuit.

Und mit sanften Winden gelangte er über das Ionische Meer und erreichte am Beginn der sechsten Morgenröte Italien.

Die weitere Fahrt entlang der italischen Küste schildert Ovid nun durch die Einfügung eines Katalogs der dabei passierten Orte und Gegenden, der sich in die Vielzahl der Reisekataloge im italisch-römischen Zyklus der Metamorpho-

377 Lundström (1980, 86 f.) vergleicht diese Abschiedsszene mit dem Auszug eines römischen Prokonsuls aus seiner Provinz. Segal (1969b, 275–278) bezeichnet den Tonfall der Episode insgesamt als ›leicht komisch‹ bzw. auch als teils grotesk bis parodierend.

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sen einreiht.378 Im ersten Teil des Katalogs (15,701–718) kommen die Römer an einigen heute unbekannten Orten vorbei, sodass die Route geographisch schwer nachzuvollziehen ist.379 Der Katalog wird unterbrochen, um einen Zwischenhalt beim Apollo-Tempel in Antium zu schildern (15,719–722; 15,718 spissi litoris Antium).380 Als Grund dafür wird eine schlechte Wetterlage genannt (15,720 asper enim iam pontus erat). Indem Ovid lediglich in einer Parenthese auf einen Sturm verweist, betont er nicht nur die vergleichsweise unproblematisch verlaufende Reise der Gesandtschaft, sondern verzichtet auch auf die Darstellung eines Seesturms und somit einer wichtigen epischen Bauform, wie sie für die Gattung nahezu konstitutiv ist.381 Nach dieser Unterbrechung setzt Ovid den Katalog bzw. die Reisebeschreibung fort und lässt die Römer schließlich nach Lavinium und zur Tibermündung gelangen (15,727 f. donec Castrumque sacrasque / Lavini sedes Tiberinaque ad ostia venit).382

Asclepius verwandelt (sich und) Rom (15,729–744) Die letzte Etappe der Reise vor der Ankunft in Rom ist die Fahrt den Tiber flussaufwärts (15,729–731): huc omnis populi passim matrumque patrumque obvia turba ruit, quaeque ignes, Troica, servant,  Vesta, tuos, laetoque deum clamore salutant.

Hierher stürzt ihm die Menge des ganzen Volkes, der Mütter und Väter von überallher entgegen, und auch diejenigen, die dein Herdfeuer bewachen, trojanische Vesta, und sie begrüßen den Gott mit frohem Rufen.

Das einleitende Pronomen huc stellt die Verbindung zum vorherigen Katalog her. Der ankommende Gott wird von allen Volksschichten begrüßt. Die Apo­ strophe der ›trojanischen Vesta‹ und die Evokation des bei Vergil geschilder 378 Vgl. von Albrecht (2014, 99–102); 13,709–727 (Aeneas; vgl. Kap. 5.7); 14,1–10 (Glaucus); 14,82–105 (Aeneas; vgl. Kap. 6.1); 15,50–57 (Myscelus; vgl. Kap. 6.4). Fränkel (1956, 108) sieht die Ortsangaben in den Versen 15,699–736 als Konkretisierung des Kulturtransfers, wie er in den letzten Metamorphosen-Büchern zum Ausdruck kommt; Wheeler (2000, 134 f.) deutet die im Katalog genannten Orte als Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart und erläutert einige Etymologien der Ortsnamen. 379 Vgl. Hardie (2015, zu 15,701–705). Während die Mehrzahl der Reisestationen im Rest der Metamorphosen kein weiteres Mal vorkommt, stellt die Erwähnung von Cumae (15,712) eine interne Analepse zur Erzählung von der cumaeischen Sibylle dar (15,101–153). 380 Ovid weicht hier von der Tradition ab und spricht von einem Apollo- anstatt von einem Asclepius-Tempel; vgl. Miller (2009, 365). 381 Die Metamorphosen enthalten dafür einen Seesturm in der Episode von Ceyx und Alcyone (11,410–748; vgl. Kap. 5.2). 382 Vgl. Verg. Aen. 1,13 f. Karthago, Italiam contra Tiberinaque longe / ostia.

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ten ersten Blicks der Aeneaden auf Italien (Verg. Aen. 3,524 Italiam laeto socii clamore salutant) parallelisieren den Einzug des Asclepius erneut mit der Ankunft des Aeneas am Ort des künftigen Rom.383 Die gesamte Passage zeigt die römische Bevölkerung in religiöser Feststimmung und macht Rom mit allen Sinnen erfahrbar: Die Ankunft des neuen Gottes lässt sich nicht allein visuell (Ov. met. 15,730 ignes), sondern auch akustisch (15,731 clamore; 15,734 sonant) und geschmacklich erfahren (odorant). Der Leser wird auf mehreren Sinneskanälen angesprochen und wie das im Text dargestellte Publikum in das Spektakel hineingezogen.384 Der endgültige Übergang zum finalen Schauplatz Rom erfolgt durch einen feierlichen Vers, der die Erfüllung von Pythagoras’ Prophetie und der darin enthaltenen Weissagung des Helenus verkündet (15,736 iamque, caput rerum, Romanam intraverat urbem ~ 15,435 caput orbis; 15,447 dominam rerum),385 wenngleich die Bezeichnung von Rom als Welthauptstadt zu diesem Zeitpunkt aus historischer Sicht einen Anachronismus darstellt.386 Der Einzug des As­ clepius bewirkt eine wundersame topographische Metamorphose (15,739–741): scinditur in geminas partes circumfluus amnis (Insula nomen habet) laterumque a parte duorum  porrigit aequales media tellure lacertos.

Der Fluss spaltet sich in zwei Teile und umströmt in seiner Mitte ein Stück Land (es heißt ›Insel‹) und vom linken Teil der beiden breitet er seine gleich langen Arme aus.

Der Tiber spaltet sich an einer Stelle in zwei Hälften und lässt eine Insel entstehen. Durch ihre Benennung als Insula, ohne jedwedes Beiwort, erscheint diese Tiberinsel als Prototyp einer Insel überhaupt.387 Sie illustriert zudem die in der Pythagoras-Rede erwähnten Verwandlungen von Elementen der natürlichen Landschaft.388 Der Übergang von der kurzen Ekphrasis der Tiberinsel zum 383 Vgl. Hardie (2015, zu Ov. met. 15,729 f.), der auch den Kontrast zwischen der freundlichen Aufnahme des Asclepius und dem Selbstausschluss des Cipus aus Rom betont (vgl. Kap. 6.6). Vgl. auch die positive Darstellung Roms bei Valerius Maximus (Val. Max. 1,8,2). 384 Vgl. Reitz (2013, 285). 385 Einige Textzeugen haben die Lesart mundi statt rerum; vgl. Luck (2017, z. St.). Vgl. Ov. fast. 6,683 (Kleine Quinquatren) iamque per Esquilias Romanam intraverat urbem; Ov. met. 14,849 (Romulus und Hersilia) Romanae conditor urbis. 386 Vgl. Wheeler (2000, 135); Myers (1994, 166) zur Erfüllung der Prophezeiungen in den Metamorphosen. 387 Vgl. von Albrecht (1964, 182–184) zur Parenthese in topographischen Ekphraseis. Hardie (2015, z. St.) hält die Bezeichnung als ›Insel‹ für humoristisch. – In der Formulierung media tellure könnte eine Anspielung auf die Verschiebung des Zentrums der Welt von Delphi nach Rom liegen; vgl. 15,630 f. mediamque tenentes / orbis humum Delphos adeunt, oracula Phoebi; Galinsky (1975, 253 f.); Lundström (1980, 88 f.). 388 Vgl. 15,262 f. vidi ego, quod fuerat quondam solidissima tellus, / esse fretum, vidi factas ex aequore terras; 15,287 f. fluctibus ambitae fuerant Antissa Pharosque / et Phoenissa Tyros, quarum nunc insula nulla est. – Die bei Valerius Maximus erwähnte Weihung eines Tempels

Asclepius wird nach Rom gebracht

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Schlusspunkt der Erzählung erfolgt erneut durch das Pronomen huc (15,742– 744; vgl. 15,729): huc se de Latia pinu Phoebeius anguis contulit et finem specie caeleste resumpta luctibus imposuit venitque salutifer Urbi.

Aus dem latinischen Schiff begab sich die Schlange des Apollo hierher und machte, nachdem sie wieder ihr göttliches Aussehen erlangt hatte, der Trauer ein Ende und kam als Heilbringer für die Stadt.

Das Schiff der Römer hat Asclepius aus Epidaurus in ihre eigene Stadt gebracht; der Gott macht der todbringenden Seuche ein Ende, nachdem er sich wieder aus der Schlange in seine ursprüngliche Gestalt zurückverwandelt hat. Ovid stellt einen Ringschluss zum Beginn der Episode her, wo vom ›heilbringenden Götterspruch‹ Apollos die Rede war (15,632 f. salutifera … / sorte). Vor allem aber stellen die letzten zwei Worte der Asclepius-Episode die Erfüllung von Ocyroes Prophezeiung dar (15,744 salutifer Urbi ~ 2,642 salutifer orbi). Indem Ovid demgegenüber das Wort orbis durch urbs ersetzt, stellt er die Stadt und den Erdkreis auf ein und dieselbe Ebene: Rom ist im Laufe der in den Metamorphosen geschilderten Weltgeschichte zum Zentrum der Welt geworden und letztendlich mit dem Erdkreis gleichzusetzen.389

6.7.2 Fazit Die Asclepius-Episode ist durch eine ungewöhnliche Vielzahl an Schauplätzen geprägt. Rom dient als rahmender Handlungsort, von dem die Geschichte ihren Ausgang nimmt und an den sie in extenso zurückkehrt (15,624 f. circumflua Thybridis alti / insula; 15,739 f. circumfluus amnis / [Insula nomen habet]). Weitere Schauplätze innerhalb dieses Rahmens sind Delphi, Epidaurus und Antium, dazu kommen die in einem Katalog genannten Städte und Landschaften als weitere Hintergrundräume. Die außerhalb Roms gelegenen Handlungsorte sind maßgeblich durch ihre religiöse Bedeutung bestimmt. Delphi als Anschauungsraum ist geprägt durch den dortigen Apollo-Tempel und die typischen props, die mit diesem Gott verbunden werden (15,630–636 Lorbeer, Köcher, Dreifuß). Noch ausführlicher wird der Asclepius-Tempel von Epidaurus beschrieben, wo die Gegenwart des dort wohnenden Gottes ebenfalls die dort befindlichen Gegenstände in Bewegung versetzt (15,665–687 Altar, Türpfosten, Marmorboden, Goldgiebel, glänzende Treppen). Aber auch die Stadt selbst wird mit einer gewissen Anschaulichkeit dargestellt, denn anlässlich von Asclepius’ Weg zum erwähnt Ovid allerdings nicht (Val. Max. 1,8,2 [sc. Asclepius] in insulam, ubi templum dicatum est, tranavit). 389 Vgl. Wheeler (2000, 52; 130–137); von Albrecht (2014, 102); Bach (2020, 69).

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Strand beschreibt Ovid auch blumengeschmückte Straßen und einen Hafen mit einer Mole (15,688–690). In Antium dagegen verzichtet er auf jedwedes Detail und nennt nur den Tempel von Asclepius’ Vater Apollo (15,719–722). Im Sinne des Aktionsraums sind die in gegensätzliche Richtungen orientierten Fahrten der römischen Gesandtschaft aufschlussreich.390 Zunächst bewegen diese sich von ihrer pestverseuchten Stadt in Richtung Delphi bzw. Epidaurus fort; sobald man dort den Heilgott für sich gewonnen hat, sind alle Bewegungen auf die Rückkehr nach Italien ausgerichtet. Durch die Einfügung eines topographischen Katalogs wird die Rückkehr deutlich ausführlicher dargestellt als die Hinfahrt. Die Heimreise verläuft in mehreren Etappen, die den Römern ihr Ziel jeweils einen Schritt näherbringen: Durch die dreimalige Verwendung des Pronomens huc nähert sich der Schauplatz sukzessive der Hauptstadt des Römischen Reiches an (15,719 Antium; 15,729 Tibermündung; 15,742 Rom selbst). Nicht nur der Katalog der auf der Reise passierten Gegenden, sondern vor allem auch der Zwischenhalt in Antium verzögern die Ankunft in Rom. Dieser Eindruck wird insbesondere durch die zweimalige Schilderung der Besteigung des Schiffes durch Asclepius hervorgerufen (15,693 corpus in Ausonia posuit rate; 15,726 f. navis in alta / puppe caput posuit). Der gestimmte Raum in dieser Episode konstituiert sich maßgeblich durch die religiöse Atmosphäre an den verschiedenen Handlungsorten. Das Wirken des Asclepius (bzw. beim Besuch in Delphi dasjenige Apollos) macht sich nicht nur in Tempeln physisch bemerkbar (15,671 f.), sondern an jedem Ort, den der Gott besucht, beispielsweise beim Betreten des römischen Schiffes (15,693 f.). Nicht nur das Meer zwischen Italien und Griechenland zeigt sich überwiegend freundlich (15,697 levis aura; 15,699 f. modicis … / … Zephyris; 15,723 aequore placato) – auch der entscheidende Schauplatz Rom verwandelt sich von einem Teil der grässlichen Pestlandschaft (15,626 dira lues … Latias vitiaverat auras) zu einem Ort, der von Freude, religiöser Hochstimmung und der heilbringenden Wirkung eines deus praesens geprägt ist (15,731 laeto … clamore; 15,744 salutifer Urbi). Mit Asclepius ist das Wohlergehen nach Rom zurückgekehrt.

6.8  Caesar stirbt in Rom (15,745–870) Der Mord an Julius Caesar an den Iden des März im Jahre 44 v. Chr. zählt zu den wichtigsten Ereignissen der römischen Geschichte. Im Verlauf des sukzessiven Untergangs der Römischen Republik im ersten vorchristlichen Jahrhundert markiert dieser Moment einen Einschnitt: Die Ermordung des Mannes, der sich Anfang 44 zum dictator perpetuus hatte ernennen lassen, mündete schließlich in der Entstehung des Prinzipats unter seinem Adoptivsohn Octavian, dem spä 390 Vgl. Wheeler (2000, 133).

Caesar stirbt in Rom

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teren Augustus. – Kurz nach Caesars Tod, im Sommer desselben Jahres, wurde in Rom ein Komet beobachtet, dessen Erscheinen später entweder als Ankündigung des folgenden Bürgerkriegs oder als Zeichen für die Vergöttlichung des Verstorbenen gedeutet wurde.391 Diese wurde am 1. Januar des Jahres 42 offiziell vollzogen; im Jahr 29 v. Chr. wurde Caesar tatsächlich ein Tempel auf dem Forum Romanum geweiht, und Augustus ließ sich als Divi filius verehren.392 Erstaunlicherweise wurden diese historischen Geschehnisse in der bis zur Zeitenwende entstandenen Literatur jedoch kaum thematisiert.393 Ovid aber stellt die Ermordung Caesars in seinen beiden erzählenden Dichtungen dar. In den Fasten behandelt er dieses Ereignis im Anschluss an das Fest der Anna Perenna (Ov. fast. 3,523–696), das man am 15. März eines jeden Jahres beging, mit einer auffälligen Einleitung (3,697–699):394 Praeteriturus eram gladios in principe fixos,      cum sic a castis Vesta locuta focis: »ne dubita meminisse.«

Ich war schon daran, die gegen den Prinzeps gezückten Dolche zu übergehen, als Vesta vom heiligen Herd Folgendes sagte: »Zögere nicht, dich daran zu erinnern.«

Sowohl der auktoriale Erzähler als auch die intradiegetische Erzählerin Vesta scheinen auf die ›Vernachlässigung‹ von Caesars Ermordung in der Literatur anzuspielen. Die Göttin des Herdfeuers berichtet von der Vergöttlichung Caesars und reklamiert diese Tat für sich (3,701 ipsa virum rapui). Durch die Apotheose wird eine Verbindung zwischen Himmel und Erde geschaffen, denn der tote Caesar erblickt im Himmel den Palast Jupiters, der einer römischen Wohnanlage gleicht, und zugleich wird ihm im irdischen Rom ein Tempel geweiht (3,703 f. ille quidem caelo positus Iovis atria vidit, / et tenet in magno templa dicata foro). Nicht nur in den Fasten, sondern auch in den Metamorphosen stellt Ovid den Mord an Caesar dar. Hier kommt der entsprechenden Erzählung eine herausgehobene Position zu, denn die Passage über Caesar und Augustus ist die letzte Episode vor dem Epilog (Ov. met. 15,871–879). Die Geschichte gehört nicht nur zu den wenigen Erzählungen, die sich einem konkreten historischen Datum 391 Vgl. Verg. ecl. 9,47 Caesaris astrum; Prop. 4,6,59 pater Idalio miratur Caesar ab astro; Boyle (2003, 188). 392 Vgl. Ov. fast. 3,697–710; Cass. Dio 51,22,2; Coarelli (2000, 86) zur Archäologie des Caesar gewidmeten Tempels. 393 Vgl. Fink (2005, 11 f.): Cicero kommentiert die Ermordung Caesars eher verhalten (vgl. z. B. Cic. Att. 14,6,1), Horaz behandelt das Ereignis auf mythologisch-gelehrsame Weise (vgl. bes. Hor. carm. 1,2,13–20), Vergil geht nur relativ kurz auf den Bürgerkrieg ein (vgl. Verg. Aen. 6,832 f.), Livius’ Darstellung des Ereignisses ist nur in der Epitome überliefert. 394 La Penna (1999, 641). Eine Synkrisis der beiden ovidischen Versionen bietet Voit (1985). Egelhaaf-Gaiser (2012) analysiert die Anna-Perenna-Episode mithilfe des raumtheoretischen Modells von Bachtins Chronotopos (vgl. Kap. 1.3.1).

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zuordnen lassen,395 sondern sie schließt vor allem den universalhistorischen Bogen, den Ovid im Proömium skizziert (1,3 f. primaque ab origine mundi / ad mea perpetuum deducite tempora carmen):396 Wie viele Interpreten angemerkt haben, endet das Werk des nach unserer Zeitrechnung am 20. März des Jahres 43 v. Chr. geborenen und mithin vermutlich im Juni 44 gezeugten Dichters durch die Erwähnung des sidus Iulium397 wahrhaftig mit dem Beginn seiner eigenen (Lebens-)Zeit.398 Die Caesar-Episode der Metamorphosen weist einige grundlegende Unterschiede zu der Version in den Fasten auf. Beispielsweise ist Venus – und nicht Vesta – die Urheberin der Apotheose.399 Vor allem aber hat dieser Textabschnitt in der Forschung aufgrund der möglichen Rückschlüsse auf die politische Einstellung Ovids Beachtung gefunden. Vor allem die intensive Betonung von Caesars leiblicher Vaterschaft des Augustus sowie die Darstellung und Bewertung ihrer jeweiligen Taten und Leistungen lässt sich für eine politisch orientierte Deutung des Schlussteils der Metamorphosen verwenden.400 Im Einklang mit der unter anderem von La Penna (1999, 641–643; vgl. 638) vertretenen Position, wonach die Suche nach den persönlichen Ansichten des Dichters über die historischen Geschehnisse wenig zielführend ist, liegt der Fokus der nachfolgenden Analyse einmal mehr auf einem literarischen Motiv, nämlich der Darstellung und Funktionalisierung der Stadt Rom. Die Episode lässt sich in folgende Abschnitte gliedern: Zunächst zählt Ovid die Taten Caesars auf, kündet von seiner Apotheose und stellt die Tatsache, dass er der ›Vater‹ des Augustus ist, als seine bedeutendste Leistung dar (Ov. met. 15,745–759). Laut Ovid musste Caesar zum Gott werden, damit sein ›Sohn‹ Augustus kein Normalsterblicher war; um diese Vergöttlichung bittet Venus, die 395 Ovid verzichtet jedoch auf jedweden konkreten Bezug zu den politischen Maßnahmen, mit denen Caesars Vergöttlichung 42 v. Chr. in Rom ins Werk gesetzt wurde, vgl. Boyle (2008, 370). 396 Wheeler (2000, 143 f.) betont die motivischen Verbindungen dieser Episode zum Rest der Metamorphosen sowie die Elemente, die zur Ringkomposition mit dem ersten Buch beitragen. 397 Diese Bezeichnung basiert auf den Worten des Horaz (vgl. Hor. carm. 1,12,47); vgl. Verg. Aen. 8,680 f.; Voit (1985, 52), wo die Horaz-Stelle mit falscher Versangabe zitiert ist. 398 Vgl. Barchiesi (1989, 91). 399 Fink (2005, 17) sieht in der faktenorientierten Version der Metamorphosen eine mythische Überhöhung des historischen Geschehens, während er die Parallelepisode in den Fasten aufgrund der Berufung auf eine göttliche Offenbarung als »fabulöser« bezeichnet. 400 Beispielsweise spricht Schmitzer (1990, 283 f.) diesbezüglich von einer ›taktlosen‹ Darstellung. Während z. B. Galinsky (1975, 260 f.; 268 f.) die literarischen Probleme der Schlussepisoden betont, kritisiert Feeney (1991, 218) eine derartige Herangehensweise als simplifizierend. Bömer (1986, zu Ov. met. 15,745–870) erklärt, Ovid wolle in dieser Episode verschiedene politische, psychologische und poetische »Tendenzen« in Übereinklang bringen. Vgl. Barchiesi (1997, 141–144) zu Augustus’ intensivem Gebrauch von Adoptionen zur Erweiterung seines Stammbaums in verschiedene Richtungen.

Caesar stirbt in Rom

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mythische Ahnherrin der Julier, Jupiter in einer Rede (15,760–778). Die nächste Szene schildert den Zeitraum vor Caesars Ende: Unheilvolle Vorzeichen weisen auf die grausame Mordtat voraus (15,779–806). In seiner Antwort auf Venus’ Ersuchen rechtfertigt der oberste Gott die Notwendigkeit von Caesars Tod, prophezeit dessen Apotheose und sodann die Taten des Augustus (15,807–842). Die eigentliche Vergöttlichung wird danach in nur wenigen Versen geschildert (15,843–851). Die Episode endet mit einer Synkrisis von Caesar und Augustus anhand mythischer exempla sowie einem Gebet, in dem Ovid die Apotheose des Augustus vorhersieht (15,852–870).

6.8.1 Analyse Die res gestae Caesars (15,745–759) Der Beginn der Episode stellt einen kontrastierenden Anschluss zu der vorangehenden Erzählung über den ›Import‹ des Heilgottes Asclepius nach Rom dar (15,745 f. Hic tamen accessit delubris advena nostris; / Caesar in urbe sua deus est; vgl. Kap. 6.7):401 Die Gemeinsamkeit beider Geschichten besteht darin, dass sie jeweils von einer göttlichen Hauptfigur handeln, doch während der Sohn des Apollo als Fremdling nach Rom kam, geht es nun um einen einheimischen Gott.402 Ebenso wie bei der ersten (und bis zu dieser Stelle auch letzten) Erwähnung eines Caesar bei der Schilderung des Mordanschlags auf einen römischen Herrscher im ersten Buch (1,201 sanguine Caesareo)403 bleibt die Identität des Gemeinten zunächst unklar: Es könnte sich ebenso um Gaius Julius Caesar wie um den späteren Augustus handeln.404 Die Antwort auf diese Frage ergibt sich erst aus Vers 15,749, denn die dortigen Angaben zur Verwandlung in einen Stern 401 Vgl. Knox (1986, 75) zum Einzug von Asclepius als Folie für die Apotheose von Caesar. Wie Hardie (2002b, 194 f.) bemerkt, ist der zeitliche Sprung von Asclepius (Anfang drittes Jahrhundert v. Chr.) zu Caesar und Augustus (zweite Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts) mit der Chronologie der vergilischen Schildbeschreibung vergleichbar, wo nach dem Gallier-Ansturm von 387 v. Chr. (vgl. Verg. Aen. 8,655–662) als nächstes historisches Ereignis die Schlacht von Actium im Jahr 31 genannt wird (8,675); Hardie (ebd.) identifiziert Ovids Vorgehen als Analogon zum »hourglass effect« in der frühen römischen Annalistik, der sich definieren lässt als »the tendency to concentrate on remote and recent Roman history, eliminating or attenuating the narrative of the intervening stretch of time«. Vgl. Steffensen (2018, 321). 402 Die Junktur urbe sua suggeriert durch eine Parallele zum thebanischen Sagenkreis (4,565 f. exit / conditor urbe sua), dass Caesar für Rom so wichtig wie ein Stadtgründer ist, wirft aber damit auch einen dunklen Schatten voraus, da Caesar ebenso wenig wie Cadmus ein dauerhaftes Glück in ›seiner‹ Stadt beschieden ist. 403 Vgl. Barchiesi (2005, z. St.) zur einzigen Apostrophe an Augustus (1,204 Auguste) vor Buch 15. 404 Vgl. Barchiesi (1989, 94) zum Problem der Homonymie im Kontext von Caesars Apotheose.

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machen klar, dass es nur um ersteren gehen kann. Zunächst aber werden die res gestae des Gerühmten summarisch aufgerufen (15,746–750): quem Marte togaque praecipuum non bella magis finita triumphis resque domi gestae properataque gloria rerum in sidus vertere novum stellamque comantem, quam sua progenies. 

Obwohl er im Krieg und in der Toga [d. h. in der ›Innenpolitik‹] vortrefflich war, haben ihn nicht eher die Kriege, die mit Triumphen endeten, seine in der Heimat verrichteten Taten und ein frühzeitiger Ruhm für seine Leistungen in ein neues Gestirn, einen Kometen, verwandelt, als vor allem sein Nachkomme.

Durch eine zweifache Umschreibung wird an Caesars Erfolge in auswärtigen Kriegen (Marte; bella) und in Rom selbst (toga; domi) erinnert. Diese Leistungen rechtfertigen seine Verwandlung in das sidus Iulium, für die Ovid mit den Worten vertere novum eine übliche Metamorphosenterminologie verwendet. Danach schlägt die Darstellung in überraschender Weise um: Ovid relativiert Caesars zuvor erwähnte Taten, indem er die Tatsache, dass er zum pater des Augustus wurde, als seine größte Leistung bezeichnet (15,750 f. neque enim de Caesaris actis / ullum maius opus quam quod pater exstitit huius).405 Dabei verwendet der Dichter die bedeutsame Junktur maius opus (›bedeutenderes Werk‹), die das Binnenproömium der Aeneis anklingen lässt,406 mit dem Vergil die zweite, ›iliadische‹ Werkhälfte gegenüber den ersten, der homerischen Odyssee analogen Büchern hervorhebt (Verg. Aen. 7,45 maius opus moveo). Wie Vergil seiner Leistung bei der Gestaltung der zweiten Aeneis-Hälfte bzw. den Taten seines Protagonisten Aeneas in Italien einen größeren Wert beimisst als der erfolgreichen Flucht aus Troja, so stellt Ovid die Adoption Octavians über Caesars militärische Erfolge, die durch mehrere Triumphe, mithin durch die größtmögliche Ehre der Römischen Republik, Anerkennung fanden (Ov. met. 15,747 triumphis; 15,757 triumphos). Die folgenden Verse wiederholen im Grundsatz dieselbe Aussage, präzisieren aber Caesars außenpolitische Erfolge, indem sie zunächst seine vier Triumphe des Jahres 46 v. Chr. (über Gallien, Ägypten, Pontus und Afrika) evozieren und

405 Zur Begriffsproblematik vgl. Lundström (1980, 97), der auch auf die Verwendung des Wortes pater auf dem Monumentum Ancyranum verweist. 406 Vgl. Hardie (2015, zu Ov. met. 15,750 f.). Ovid verwendet die Junktur maius opus nicht weniger als sieben Mal in seiner Dichtung, in den Metamorphosen außer an der hier besprochenen Stelle auch zur Ankündigung der calydonischen Eberjagd (8,328 maius opus magni certaminis urget). Vgl. Kyriakidis (2013, 10–12) zur Interpretation von maius opus als Bezeichnung für die Metamorphosen in Ovids Brief an Augustus (Ov. trist. 2,63).

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dann wiederum bekräftigen, dass die ›Vaterschaft‹ des Augustus eine größere Leistung als diese gewesen sei (15,752–758):407 scilicet aequoreos plus est domuisse Britannos perque papyriferi septemflua flumina Nili victrices egisse rates Numidasque rebelles Cinyphiumque Iubam Mithridateisque tumentem  nominibus Pontum populo adiecisse Quirini et multos meruisse, aliquos egisse triumphos, quam tantum genuisse virum?

Bedeutet es etwa mehr, die Britannier in Übersee bezähmt zu haben und siegreiche Schiffe über den siebenarmigen Strom des papyrusbewachsenen Nils geführt zu haben, die aufständischen Numider, den cinyphischen Juba und Pontus, das stolz auf den Namen Mithridates war, zum Volk des Quirinus hinzugefügt, viele Triumphe verdient, nur einige gefeiert zu haben? Ist dies alles mehr, als der Vater eines so großen Mannes zu sein?

Diese Aufzählung von Caesars Triumphen scheint oberflächlich zwar das globale Ausmaß seiner Taten abzubilden, aber nicht nur politische Deutungen wie diejenige Schmitzers (1990, 279–282) heben auch die problematischen Aspekte dieser auf einer tieferen Ebene nur vermeintlichen Erfolge hervor:408 Es ist beispielsweise auffällig, dass Ovid nicht Caesars Siege in Gallien betont, sondern seine faktisch gescheiterte Britannien-Expedition des Jahres 55/54 v. Chr. als Eroberung darstellt (domuisse Britannos) und statt von der Einnahme Alexandrias im Jahr 47 von einer in diesem Kontext nicht bekannten Seeschlacht zu sprechen scheint (victrices egisse rates). Interpreten wie Wheeler (2000, 137) betonen jedoch nicht zu Unrecht auch die Bedeutung der zeitgenössischen Sichtweise: Aus dem Blickwinkel des Jahres 8 n. Chr. seien die Jahrzehnte zurückliegenden Taten Caesars tatsächlich weniger wichtig gewesen als die Adoption des späteren Augustus.

Die Bitten der Venus (15,760–778) Die nächsten Verse dienen der Begründung von Caesars Apotheose: Caesar musste ein Gott werden, damit Augustus eine göttliche Abstammung erhielt (15,760 f. Ne foret hic igitur mortali semine cretus, / ille deus faciendus erat). Diese seltsam anmutende Darstellung wird häufig als gewichtiges Argument für einen

407 Ähnlich verhält es sich bei Junos Hauptargument für die Bitte um die Apotheose des Aeneas: Die Göttin versucht Jupiter weniger mit den Kriegstaten des Helden zu überzeugen als vielmehr mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass dieser ihn zum Großvater gemacht habe (14,588 f. Aeneaeque meo, qui te de sanguine nostro / fecit avum). Vgl. Casali (2018, 365) zur ›Vergesslichkeit‹ der Götter im Kontrast zu ihrer ›Erinnerung‹ an ihre Versprechen in den Annalen des Ennius sowie in Vergils Aeneis. 408 Vgl. Hardie (2015, zu 15,752–756). Gänzlich in Richtung einer Bewertung als herabsetzende Darstellung geht Lundström (1980, 92–96).

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›Anti-Augusteismus‹ Ovids betrachtet.409 Losgelöst von einer solchen Deutung muss jedoch zuerst festgehalten werden: Ovids Worte konzentrieren sich auf die historischen Fakten und stellen damit keineswegs einen Passus dar, der gegenüber anderen Stellen des letzten Werkteils in einzigartiger Weise hervorsticht.410 Der folgende Wortwechsel erinnert an das Gespräch zwischen Jupiter und Venus im ersten Buch der Aeneis (vgl. Verg. Aen. 1,227–296): Die Bitte der Göttin um Verschonung Caesars bei Ovid lässt sich mit ihrem Einsatz für Aeneas und die Trojaner bei Vergil parallelisieren. Venus ordnet das bevorstehende Leid in den Kontext der Entstehung Roms aus dem Untergang Trojas ein (Ov. met. 15,765–767): »adspice« dicebat »quanta mihi mole parentur  insidiae quantaque caput cum fraude petatur, quod de Dardanio solum mihi restat Iulo.«

»Schau dir an«, so sprach sie, »mit welch ungeheurer Gewalt man eine List gegen mich schmiedet und mit wieviel Heimtücke man das Haupt angreift, das mir als einziges vom Stamm des trojanischen Julus bleibt!«

Venus spricht von den Mühen, die sie für ihr Volk erdulden müsse (quanta … mole; vgl. Verg. Aen. 1,33 tantae molis). Sie stellt Caesar als einzigen ihr noch verbliebenen Nachkommen des Aeneas-Sohnes Julus dar und suggeriert, dass seine Ermordung mit der Auslöschung der Trojaner gleichzusetzen sei. Ovid arbeitet also mit der psychologischen Funktion des Raumes, indem er Venus um ein dauerhaftes ›Troja-Souvenir‹ bitten lässt. Das flehende Verhalten der Göttin (Ov. met. 15,764 cunctis, ut cuique erat obvia, divis), mit dem sie sich im Himmel für ihr Anliegen einsetzt, erinnert geradezu an eine Wahlkampagne im irdischen Rom.411 Die folgenden Worte der Venus intensivieren den Verweis auf Caesars trojanische Abstammung, indem sie die Flucht des Aeneas nachzeichnen (15,769–774): »quam … nunc male defensae confundant moenia Troiae,  quae videam natum longis erroribus actum iactarique freto sedesque intrare silentum bellaque cum Turno gerere, aut, si vera fatemur, cum Iunone magis?«

»Mich, die … bald die Mauern des erfolglos verteidigten Troja betrüben, die ich mitansehen muss, wie mein Sohn auf langen Irrfahrten umhergetrieben, auf dem Meer hin- und hergeworfen wird, das Reich der stummen Schatten betritt und gegen Turnus Krieg führt oder, um die Wahrheit zu sagen, vielmehr gegen Juno?«

409 Glenn (1986, 203) bezeichnet den Grund für Caesars Apotheose als lächerlich, aber vgl. die abwägende Position von Schmitzer (2011, 137). 410 Vgl. Feeney (1991, 224): Ovid nimmt Augustus’ Beharren auf seiner quasi-göttlichen Abstammung wörtlich. 411 Galinsky (1976, 9); Hardie (2015, zu 15,761–764).

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Wieder lässt sich die Verwendung der psychologischen Funktion des Raumes beobachten: Das Leiden der Venus bzw. des Aeneas manifestiert sich an dessen Irrfahrten auf dem Mittelmeer.412 Zugleich stellen diese Verse eine grobe Zusammenfassung von Vergils Aeneis dar, indem sie auf den Untergang Trojas (Buch 2),413 auf die Irrfahrten der Trojaner (Buch 1, 3 und 5), auf den Besuch des Aeneas in der Unterwelt (Buch 6) sowie auf den Konflikt mit den Rutulern in der zweiten Werkhälfte verweisen.414 Weiterhin deklariert Venus den geplanten Mordanschlag auf Caesar als Attacke auf das Priesteramt der Vesta (Ov. met. 15,777 f.). Hierbei handelt es sich allerdings um eine Rückprojektion Ovids, da erst Augustus dieses Amt ausübte.415 Das im römischen Vesta-Tempel brennende ewige Herdfeuer (vgl. Ov. fast. 6,297 ignis inexstinctus) galt in der Antike als Garant für den dauerhaften Bestand der Stadt.416 Venus argumentiert in ihrer Suasorie also mit einer Bedrohung der Ewigkeit Roms und schließt damit an ihre vorherigen Ausführungen zum Untergang Trojas an (vgl. Ov. met. 15,767).417

Vorzeichen in Rom (15,779–806) Venus vermag durch ihre Worte zwar die anderen Götter zu bewegen, aber auch diese können das Schicksal nicht ändern (15,779–781). Als Zeichen ihres Mitgefühls sorgen sie jedoch für Prodigien, die das bevorstehende Unheil ankündigen (15,782 signa … luctus … futuri). Beispielsweise weisen merkwürdige Geräusche und eine seltsame Färbung des Himmels auf den Mord voraus. Der von Ovid gewählte Zeitpunkt dieser Vorzeichen ist im Vergleich zur literarischen Tradition interessant: Nicht nur in Vergils Georgica, sondern auch in den Dichtungen von Horaz, Tibull und anderen ereignen sich diese Prodigien erst nach Caesars Ermordung, während Ovid sie (dies aber im Einklang mit der historiographischen Tradition) vor diesem Ereignis stattfinden lässt.418 412 Vgl. 4,567 (Weg des Cadmus von Theben nach Illyrien) longis erroribus actus; Kap. 3.5; Ov. trist. 4,10,109 longis erroribus acto (Ovids Weg von Rom nach Tomis in seiner ›Autobiographie‹). 413 Die Wendung male defensae … moenia Troiae (Ov. met. 15,770) schließt zugleich den mit der ersten Eroberung Trojas in Buch 11 eröffneten Ring der dritten Buchpentade (11,215 superatae moenia Troiae). 414 Schmitzer (1990, 284) nennt die Verse Ov. met. 15,769–774 humorvoll eine »Aeneis ohne Liebschaften«, da Ovid auf eine Erwähnung von Aeneas’ Aufenthalt bei Dido in Karthago verzichtet; vgl. Kap. 6.1. 415 Vgl. Hardie (2015, z. St.). 416 Vgl. La Penna (1999, 635–637); DNP, »Vesta«. 417 Vgl. Wheeler (2000, 141). 418 Vgl. Verg. georg. 1,466–488; Tibull. 2,5,71–78; Hor. carm. 1,2; Schmitzer (1990, 285 f. mit Fn. 189); Gladhill (2012, 6). Wie La Penna (2018, 147 f.) anmerkt, reduziert Ovid dabei den ›kosmischen Hintergrund‹ der Prodigien.

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Das Geschehen verlagert sich schrittweise vom Himmel, dem Ort von Venus’ Bittreden, zur Erde, dem Schauplatz des bevorstehenden Verbrechens (Ov. met. 15,779 caelo; 15,786 terris). Zugleich lässt sich eine Präzisierung der Ortsangaben beobachten: Ist zunächst noch von Omina an ›tausend Orten‹ die Rede (15,791; 15,792),419 so werden alsbald konkrete Lokalitäten genannt, an denen sich diese Vorzeichen beobachten lassen (15,796–798): inque foro circumque domos et templa deorum Wie es heißt, bellten des Nachts auf dem nocturnos ululasse canes umbrasque silentum Forum und rings um Häuser und Tempel erravisse ferunt motamque tremoribus Urbem. der Götter die Hunde, Schatten der Toten irrten umher und die Stadt wurde von Erdbeben erschüttert.

Mit dem Forum, den Häusern und den Tempeln sind sowohl die Sphäre des politischen, des privaten als auch des religiösen Raums von der Ankündigung des kommenden Unheils erfüllt. Das Jaulen der Hunde und die Anwesenheit von Schatten der Toten, die in einem Atemzug kolportiert werden (ferunt), verstärken die gespenstische Atmosphäre in der von Erdbeben erschütterten Stadt, stehen aber streng genommen in einem inneren Widerspruch zueinander, da Lärm und Stille zugleich evoziert werden.420 Die Schilderung der Vorzeichen endet mit dem Wort Urbem (15,798), um die Stadt Rom als Schauplatz des folgenden Geschehens festzuhalten. Nachdem Ovid die Vergeblichkeit auch dieser göttlichen Prodigien konstatiert hat (15,799 f.), präzisiert er den Handlungsort (15,800–802): strictique feruntur  in templum gladii; neque enim locus ullus in Urbe ad facinus diramque placet nisi Curia caedem.

Und gezückte Schwerter werden zum Tempel getragen; denn keinen anderen Ort in der Stadt wählt man für die Untat und den grässlichen Mord als die Kurie.

Die Ermordung Caesars wird sich im Versammlungsgebäude des Senats, d. h. in der Kurie des Pompeius421 ereignen, die zunächst als templum und erst danach als Curia bezeichnet wird. Durch diese Erhebung des Tatorts in den Bereich des Religiösen (vgl. 15,796 templa deorum) erscheint der Mord am Herrscher

419 Vgl. 3,522 f. (Tiresias’ Warnung an Pen­t heus) mille lacer spargere locis et sanguine silvas / foedabis; Kap. 3.2. 420 Vgl. 15,772 (Aeneas in der Unterwelt) sedes … silentum. Vgl. auch das Schweigen der Hunde, wie Ovid es in seinem Exilbrief über den Abschied von Rom beschreibt (Ov. trist. 1,3,27 iamque quiescebant uoces hominumque canumque). – Die Übersetzung von Albrechts (1987, 367 »Schatten der Toten«) für umbras … silentum (Ov. met. 15,797) gibt den akustischen Aspekt nicht wieder. 421 Vgl. Coarelli (2000, 254–256) zum Pompeius-Theater auf dem Marsfeld.

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wie eine Attacke auf die römische Religion.422 Der besondere Charakter dieses Schauplatzes wird besonders betont, indem er vor allen anderen möglicherweise denkbaren Orten der Stadt herausgestellt wird (neque … locus ullus in Urbe). Indem Ovid den Vers mit der Angabe der Kurie durch zwei Synonyme für das Wort ›Mordanschlag‹ rahmt (facinus … Curia caedem), rückt er den Tatort in ein denkbar düsteres Licht. Als letzten Versuch der Venus, ihren Schützling vor dem Tod zu bewahren, beschreibt Ovid dessen Entrückung durch Einhüllen in eine Wolke (15,803– 806). Das dabei verwendete Vokabular erinnert zum einen an Vergils Worte über die Gründung Roms im Proömium der Aeneis (Ov. met. 15,804 Aeneaden423 molitur condere nube ~ Verg. Aen. 1,33 tantae molis erat Romanam condere gentem), zum anderen bezieht sich Venus damit auf die Entrückung des Aeneas vor Diomedes im Trojanischen Krieg. Damit stellt Ovid ein weiteres Mal die Bedeutung des Geschehens in den Kontext der Kontinuität zwischen Troja und Rom, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.424

Die Antwort Jupiters (15,807–842) In seiner Replik auf Venus’ Bitten verweist der oberste Gott darauf, dass selbst er dem Schicksal unterworfen sei (15,807 insuperabile fatum). Jupiters Beleg für diese Behauptung mutet wenig ›metaphysisch‹ an, denn er verweist die Stammmutter der Aeneaden auf die durchaus irdisch anmutende Behausung der drei Parzen, die sie zur Überprüfung der Richtigkeit seiner Aussagen aufsuchen möge (15,808–814): »intres licet ipsa sororum tecta trium; cernes illic molimine vasto ex aere et solido rerum tabularia ferro,  quae neque concussum caeli neque fulminis iram nec metuunt ullas tuta atque aeterna ruinas. invenies illic incisa adamante perenni fata tui generis.«

»Du magst selbst das Haus der drei Schwestern betreten; dort wirst du in riesiger Größe aus Erz und gediegenem Eisen das Archiv der Weltgeschichte sehen, das weder den Zusammensturz des Himmels noch die Wut des Blitzes fürchtet noch sonst eine Zerstörung, sicher und ewig, wie es ist. Dort wirst du, in dauerhaften Stahl eingeritzt, das Schicksal deines Geschlechtes finden.«

Diese Beschreibung der tecta trium sororum erinnert an die Archive mit öffentlichen Dokumenten, wie es sie in verschiedenen römischen Tempeln gab, insbesondere das im Jahr 83 v. Chr. nach einem Brand wiedererrichtete Tabularium (tabularia publica) auf dem Westteil des Forums (15,810 tabularia; vgl. 422 Hardie (2015, z. St.). 423 Zur Konjektur Aeneaden vgl. Luck (2017, z. St.). 424 Vgl. Hardie (2015, zu Ov. met. 15,804).

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Verg. georg. 2,502 populi tabularia).425 Laut Jupiter sind die Schicksalssprüche für das römische Volk fest und unabänderlich, was durch die zweifache Nennung ihrer Dauerhaftigkeit (Ov. met. 15,812 aeterna; 15,813 perenni) sowie durch den dreifachen Verweis auf ihre Materialität betont wird (15,810 aere; ferro; 15,813 adamante; vgl. 15,781 ferrea … decreta sororum).426 Durch die Kombination von Schriftlichkeit und römischer Topographie lässt sich von einem Musterbeispiel einer ›Romanisierung‹ der Erzählung sprechen.427 Daneben stellt die Erwähnung von Gesetzestafeln auch einen Rückverweis auf den Weltaltermythos dar: Wie Ovid im Eingangsbuch schreibt, waren in der Goldenen Zeit noch keine Gesetze vonnöten (1,91 f.; vgl. Kap. 2.1). Hierin lässt sich ein weiteres Indiz dafür sehen, dass die von Ovid geschilderte Gegenwart keine Rückkehr in das Goldene Zeitalter darstellen kann.428 Jupiter verweist die rangniedere Göttin aber nicht allein auf die Möglichkeit eines Besuchs im Schicksalsarchiv, sondern behauptet auch, er selbst habe dort nachgesehen und gebe lediglich das Gelesene wieder (15,814 f. legi ipse animoque notavi / et referam). Die Worte an dieser Stelle entfalten einen doppelten Rückbezug: Zum einen rekurrieren sie textintern auf die Szene, in der Mars bei Jupiter auf die Einhaltung seiner Zusage pocht, er werde den Stadtgründer vergöttlichen (14,813 nam memoro memorique animo pia verba notavi), zum anderen wirken sie durch jene Stelle hindurch als window reference zur entsprechenden Passage bei Ennius (vgl. Kap. 6.3). Auf der Textebene bewirken die Worte also eine Bekräftigung der an irdische Politik erinnernden Verhandlungen der Götter untereinander und in intertextueller Hinsicht beruft sich Ovid hier erneut auf den bis zum Erscheinen der Aeneis kanonischen Grundtext über die römische Geschichte. Eine metapoetische Lesart dieser Passage wird darüber hinaus auch durch die Worte nahegelegt, mit denen die Vollendung von Caesars Lebenszeit beschrieben wird (Ov. met. 15,816–818): »hic sua complevit pro quo, Cytherea, laboras tempora, perfectis quos terrae debuit annis. ut deus accedat caelo templisque colatur …«

»Er, für den du dich einsetzt, Venus, hat seine Zeit erfüllt und die Jahre vollendet, die er der Erde schuldig war. Damit er nun als Gott zum Kreis der Himmlischen hinzutrete und in Tempeln verehrt werde, …«

425 Vgl. Erren (2003, z. St.); Coarelli (2000, 50–56) zum Forum Romanum aus archäologischer Sicht sowie (ebd., 46 f.) zum Tabularium mit dem Staatsschatz. 426 Tissol (1997, 190) spricht hinsichtlich der bürokratischen Anklänge von einer »grotesque absurdity«. Vgl. Wickkiser (1999, 126), Hardie (2002b, 204), White (2002, 14 f.) und Gladhill (2012, 26 f.) zur Materialität der von Ovid beschriebenen tabularia und der damit einhergehenden ›Romanisierung‹ des fatum; Hardie (ebd., 202 f.) zu den Bezügen zu Augustus’ Res gestae; Geitner (2021, 314–316) zum hohen Konkretheitsgrad der Szene insbesondere im Vergleich zur beinahe identischen Situation im ersten Aeneis-Buch, wo Jupiter und Venus über das Schicksal des Aeneas verhandeln (Verg. Aen. 1,261 f.). 427 Vgl. Geitner (2021, 317–319). 428 Vgl. Feeney (1991, 221–224).

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Wie einleitend dargelegt, reichen die Metamorphosen bis zu dem Zeitpunkt, an dem aus der Perspektive des Dichters mea … tempora (1,4) beginnen, also zugleich bis zum Ende der hier genannten sua … / tempora Caesars (15,816 f.). Ovid beschreibt diesen Moment als den Übergang des zu Vergöttlichenden von der Erde in den Himmel. Dabei antizipiert er bereits die Errichtung eines Tempels für den Divus Iulius (templis … colatur). Anders als etwa die Herbeiholung des Asclepius nach Rom wird die Apotheose Caesars nicht als kollektive Aktion dargestellt, sondern erscheint eher als ›Familienaffäre‹:429 Die Vergöttlichung wird nicht auf allgemeinen Wunsch hin geschehen, sondern allein auf das Betreiben von Venus und Augustus (15,819 tu facies natusque suus). Damit geht der Text von Caesar zu Augustus über. Jupiter prophezeit zunächst dessen Siege in Mutina, Pharsalus und Philippi, also Schlachten in Thessalien und Makedonien im Kontext der Fortsetzung des Bürgerkriegs nach der Ermordung Caesars (15,822–824): »illius auspiciis obsessae moenia pacem »Unter seiner Führung werden die Mauern victa petent Mutinae, Pharsalia sentiet illum, des belagerten Mutina besiegt werden und Emathiique iterum madefient caede Philippi.« um Frieden bitten, Pharsalus wird seine Macht spüren, und das emathische Philippi wird erneut vom Blut feucht werden.«

Neben der problematischen Erwähnung der Schlacht von Mutina (April 43 v. Chr.), in der Octavian gegen seinen späteren Co-Triumvirn Marcus Antonius kämpfte,430 erstaunt vor allem die Nennung von Pharsalus vor dem Bezug auf die Doppelschlacht von Philippi im Oktober 42, in der Octavian die Mörder Caesars besiegte.431 Pharsalus war der Ort der Entscheidungsschlacht zwischen Caesar und Pompeius sowie den Anhängern des römischen Senats im Jahr 48. Als Schauplatz des bedeutendsten Sieges von Caesar scheint der Name daher nicht in die Aufzählung der Erfolge Octavians zu passen, zumal die aufgeführten Städte explizit durch die Verwendung von Personifikationen als dessen persönliche ›Opfer‹ dargestellt werden (illius … / … petent Mutinae, Pharsalia sentiet illum). Ovid scheint sich hier eng an eine Stelle im Finale des ersten Georgica-Buches anzulehnen, an der Vergil auf das Bürgerkriegsgeschehen in Philippi abhebt (Ov. met. 15,824 Emathiique iterum madefient caede Philippi ~ Verg. georg. 1,489 f. ergo inter sese paribus concurrere telis / Romanas acies iterum uidere Philippi). Schon das vergilische iterum … Philippi lässt mehrere Interpretationen zu, wie Poletti (2018, bes. 94–99) herausarbeitet: Es könnte nicht allein der zweimalige Kampf in Philippi innerhalb weniger Wochen im Oktober des Jahres 42 gemeint 429 Hardie (2015, zu 15,819–821). 430 Vgl. Bömer (1986, z. St.); Schmitzer (1990, 286–290); Hardie (2015, z. St.). 431 Vgl. Ov. fast. 3,707 testes estote, Philippi.

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sein, sondern (wenn man ›Philippi‹ gewissermaßen als Schlagwort für den Ort eines einzigen Ereignisses versteht) auch ein Bezug zur Schlacht von Pharsalus sechs Jahre zuvor vorliegen, um entweder auf das wiederholte Aufkommen des Bürgerkriegs oder auch auf eine Identität beider Schlachtfelder hinzudeuten. Hinsichtlich Ovids offensichtlicher Zitierung der Vergil-Verse stellt sich daher die Frage, ob auch dieser die beiden Schlachten an ein und demselben Ort lokalisiert und wenn ja, weshalb.432 Die Metamorphosen-Verse scheinen bewusst zwischen Gleichheit und Verschiedenheit der beiden Orte zu schwanken: Durch die enge Anbindung an die vorher genannten Taten Caesars scheint einerseits ein impliziter Verweis auf dessen tatsächlichen Sieg in Pharsalus vorzuliegen, durch die Nennung des Ortes inmitten der Stätten von Octavians Erfolgen wird suggeriert, dass dieser am selben Ort wie einst sein Adoptivvater kämpfte.433 Die folgenden Verse führen die Erzählung vom Ende der 40er Jahre hin zur Schlacht von Actium im Jahr 31 v. Chr. (Ov. met. 15,826–828): »Romanique ducis coniunx Aegyptia taedae »Die ägyptische Gattin des römischen Feldnon bene fisa cadet, frustraque erit illa minata herrn wird sich ohne Erfolg der Hochzeitsservitura suo Capitolia nostra Canopo.« fackel anvertrauen, stürzen und vergeblich gedroht haben, unser Kapitol werde ihrem Kanopus dienen.«

Der Konflikt zwischen den einstigen Verbündeten Octavian und Marc Anton wird symbolisch überhöht und als Kampf zwischen Rom und einer auswärtigen Macht dargestellt. Stellvertretend für die beiden Protagonisten stehen – ganz im Einklang mit der ikonographischen Propaganda der augusteischen Zeit – die mit ihnen verbundenen Orte, das römische Kapitol und die ägyptische Handelsmetropole Kanopus.434 Der Text evoziert einen Gegensatz zwischen Einheimischem und Fremdem, wie die den Örtlichkeiten hinzugefügten Possessivpronomina unterstreichen (Capitolia nostra – suo … Canopo; vgl. 15,841 Capitolia nostra). Ovid führt die räumliche Gegenüberstellung nicht weiter aus, sondern lässt Jupiter mit einer Abbruchformel enden (15,829–831):

432 Zur Identität von Pharsalus und Philippi in der lateinischen Dichtung vgl. auch Bömer (1986, zu Ov. met. 15,824); Hardie (2015, z. St.). Vgl. Nauta (2018, 125–129) zu Lucans Rezeption der Georgica-Passage im Proömium seines Bürgerkriegsgedichts (Lucan. 1,1 Emathios … campos), um die Wiederkehr der Bürgerkriege zu betonen. Zu den geographischen Realien vgl. Erren (2003, zu Verg. georg. 1,490). 433 Vgl. Poletti (2018, 99–105; bes. 104). 434 Vgl. Malochet-Turquety (2014, 206; 208).

Caesar stirbt in Rom »quid tibi barbariam gentesque ab utroque iacentes Oceano numerem? quodcumque habitabile tellus  sustinet, huius erit; pontus quoque serviet illi!«

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»Was soll ich dir die Barbarenwelt und die an beiden Ozeanen liegenden Völkerschaften aufzählen? Jeder beliebige bewohnbare Landstrich, den die Erde hat, wird ihm gehören; auch das Meer wird ihm dienen.«

Nicht nur Ägypten, sondern alle Gebiete der Erde, zu Lande und zu Wasser (tellus – pontus) werden dem späteren Augustus untertan sein (vgl. 15,746 Marte togaque).435 Diesem verheißt Jupiter die Weltherrschaft, die Cleopatra (die nicht namentlich genannt wird) und ihr römischer Verbündeter nicht haben erringen können (serviet; vgl. 15,828 servitura).436 Nach diesem Ausblick auf das außenpolitische Wirken des Augustus klingt die später als pax Augusta bezeichnete augusteische Friedensordnung an (15,832 pace data terris).437 Jupiter spricht sodann über die innenpolitischen Leistungen des Augustus. Dessen Wirken umspannt die gesamte Welt und Rom im engeren Sinn zugleich (terris – civilia). Er wird als gerechter Urheber von Gesetzen (15,833 iustissimus auctor) sowie als exemplum für das moralische Verhalten seiner Untertanen dargestellt (vgl. 15,834).438 Die Prophezeiung des obersten Gottes schließt mit einem Ausblick auf die einstmalige Apotheose auch des Augustus; der Sache entsprechend wird hier erneut eine überirdische Perspektive eröffnet (15,839 aetherias sedes cognataque sidera tanget). Wenn Jupiter aber sogleich auf die nun unmittelbar bevorstehende Vergöttlichung von Julius Caesar zurückkommt, stellt er eine Verbindung zwischen dessen zukünftigem Dasein im Himmel und dem Ort seines vorherigen Lebens her: Der vergöttlichte Caesar soll von oben auf Rom und seine bedeutenden Gebäude hinabblicken, d. h. auf das schon vorher genannte Kapitol sowie auf das Forum (15,841 f. ut semper Capitolia nostra forumque / Divus ab excelsa prospectet Iulius aede) – nicht aber auf den Palatin, der als Herrschaftssitz des Augustus eine örtliche Verbindung zu der in dieser Episode vielfach angesprochenen Vater-Sohn-Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren herstellen würde.

435 Vgl. Verg. Aen. 1,287 imperium Oceano; Gladhill (2012, 16). 436 Bömer (1986, z. St.) bezeichnet die Verse 15,829–831 und die folgenden Verse als eine »barocke variatio« zur Kulmination der Jupiter-Prophetie bei Vergil (vgl. Verg. Aen. 1,278 f.). 437 Vgl. Buchheit (1966, 106 f.). Schmitzer (2016b, 438) weist auf den bedingten Realitätsgehalt dieser Bezeichnung angesichts der Bedrohung des Reiches durch den Aufstand in Dalmatien und Pannonien hin. Als ersten Beleg für die Junktur pax Augusta vgl. Ov. Pont. 2,5,18; außerdem Verg. Aen. 1,291–296; Ov. fast. 1,709–714 (ara Pacis). 438 Vgl. 8,101 (Scylla-Episode) iustissimus auctor [sc. Minos]; Hardie (2002b, 205 f.).

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Die Apotheose Caesars (15,843–851) Von der langen Rede über die zukünftigen Taten des Augustus geht Ovid unmittelbar zum gegenwärtigen dramatischen Geschehen um Julius Caesar über, indem er das Senatsgebäude als den Schauplatz seiner Ermordung angibt (15,843 f. media cum sede senatus / constitit alma Venus). Der eigentliche Akt der Vergöttlichung wird – im Unterschied zu anderen Verwandlungsvorgängen in den Metamorphosen – in großer Kürze dargestellt (15,844 f.). Ovid nimmt eine genaue Unterscheidung der höheren Sphären vor: Damit Caesars Seele sich nicht einfach im Bereich des aer auflöst, trägt Venus sie zu den Sternen des caelum (15,845 f.).439 Es folgt – nun wieder in größerer Ausführlichkeit – das Emporsteigen der anima und die Verwandlung in einen Kometen (15,847–850).

Der Ruhm des Augustus (15,852–870) Nachdem die Taten des Augustus schon vorher über die seines Adoptivvaters gestellt worden waren (15,850 f.), wird dieses Motiv nun in einer Reihe mythologischer exempla weitergeführt.440 Der kurze Vergleichskatalog mündet in der Gegenüberstellung des princeps mit dem höchsten Gott (15,857–860): ut exemplis ipsos aequantibus utar, sic et Saturnus minor est Iove. Iuppiter arces temperat aetherias et mundi regna triformis, terra sub Augusto est; pater est et rector uterque. 

Um Beispiele zu gebrauchen, die diesen gleichkommen: So steht auch Saturn niedriger als Jupiter. Jupiter beherrscht die Höhe des Äthers und die drei Weltbereiche, die Erde ist Augustus untertan; Vater und Herrscher sind beide.

Nicht nur ist Augustus besser als Caesar, sondern er wird sogar mit Jupiter gleichgesetzt.441 Der einzige Unterschied zwischen diesen zwei Herrschern ist demnach geographischer Natur: Der oberste Gott herrscht über Himmel, Erde und Unterwelt (nur der Himmel wird explizit genannt: arces / … aetherias), die Erde selbst aber (terra) ist Augustus untertan. Dieser wird hier zum ersten Mal

439 Caesars Seele fliegt laut Ovid über den Mond hinaus (15,848 luna volat altius) – in der Wortwahl lässt sich eine kritische Bezugnahme auf andere Verwandlungserzählungen sehen, deren Protagonisten bei ähnlichen ›Flugversuchen‹ auf schmerzliche Weise zu Fall kommen, so Phaethon (2,136 altius egressus; vgl. Kap. 2.3) und Icarus (8,225 altius egit iter). Zugleich steigt Caesar damit auch höher auf als der Stadtgründer Romulus, der laut dem bei Livius zitierten Augenzeugen Proculus Julius ›nur‹ in den Himmel gelangt (Liv. 1,16,7 sublimis abiit). 440 Vgl. Schmitzer (1990, 292–295); Gladhill (2013, 314) betont die tragischen Untertöne in den exempla jeweils besserer Nachfolger. 441 Zum Diskurs über Machtverhältnisse zwischen Göttern und Menschen in den Metamorphosen vgl. Rosati (2001, hier 53).

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nach der Götterversammlung im ersten Buch namentlich angesprochen (vgl. 1,204). Ein problematischer Aspekt ergibt sich indes aus der Analogie von Caesar und Augustus zu Jupiter und Saturn. Wenn der Vater jeweils dem Sohn nachsteht, so vermag dies insbesondere ein fragwürdiges Schlaglicht auf die verheißene Wiederkehr eines Goldenen Zeitalters in der Gegenwart des Dichters zu werfen. Ovid stellt Augustus über Caesar, bezeichnet den Prinzeps aber zugleich als gerechten Gesetzgeber (15,832 f. animum ad civilia vertet / iura suum legesque feret iustissimus auctor). Da er im Eingangsbuch das Goldene Zeitalter als Epoche beschrieben hat, in der die Rechtschaffenheit der Menschen noch ohne Gesetze auskam, lässt sich ein impliziter Widerspruch erkennen. Die Gegenwart der Metamorphosen erscheint auch unter diesem Blickwinkel nicht wie eine Neuauflage der Goldenen Zeit.442 Die Episode – und damit abgesehen vom Epilog auch das Gesamtwerk443 – schließt mit einem Gebet an die Götter ex persona poetae. Zu den Adressaten der Bitte um eine Vergöttlichung des Augustus zählt neben Jupiter auch Romulus, der als ›Vater der Stadt‹ bezeichnet wird (15,862 f. genitor … Quirine / Urbis), Ovid spricht also die mit der Gründung Roms verbundenen Gottheiten an.444 Während der Göttervater mit seinem römischen Sitz auf dem Kapitol in Verbindung gebracht wird (15,866 quique tenes altus Tarpeias Iuppiter arces), werden die beiden letztgenannten Gottheiten eng mit dem augusteischen Herrschersitz auf dem Palatin assoziiert (15,864 f. Vestaque Caesareos inter sacrata Penates / et cum Caesarea tu, Phoebe domestice, Vesta): Die Apostrophe Apollos als ›heimischer Phoebus‹ verweist auf den Apollo-Tempel nahe der Residenz des Prinzeps,445 und auch die Verbindung der Vesta mit den Hausgöttern des Herrschers stellt eine explizite Verbindung mit diesem Ort her. Um nicht in der regia auf dem Forum residieren zu müssen, hatte Augustus im Jahr 12 v. Chr. ein VestaHeiligtum in der Nähe seines Hauses errichten lassen, als er das entsprechende Priesteramt antrat;446 Ovids Wortwahl betont diese Verflechtung von öffentlichem und privatem Kult als Teil von Augustus’ religionspolitischer Strategie.447

442 Feeney (1991, 221); vgl. entsprechende – als Parodie oder Ironie deutbare – Evokationen in Ovids Ars amatoria (Ov. ars 2,277 aurea … saecula; 3,113 nunc aurea Roma est); Kap. 2.1. Porte (1985, 190) hingegen sieht in den Apotheosen von Königen in Buch 15 die Ankündigung eines neuen Goldenen Zeitalters. 443 Vgl. Kap. 6.9 zur Frage, inwieweit man bei der Gesamtinterpretation die Abschlussverse der Metamorphosen als Paratext vom Rest des Werkes trennen darf. 444 Vgl. Spahlinger (1996, 41 f.); Zissos (2019, 549). Vgl. auch Spahlinger (ebd., 44 f.) zu dem Gebet als Pendant zum Finale von Vergils erstem Georgica-Buch. 445 Vgl. Coarelli (2000, 145 f.); Boyle (2003, 114–117). Nach einer möglichen Ironie von domesticus fragt Malochet-Turquety (2014, 201 f.). 446 Vgl. Ov. fast. 4,949–954; DNP, »Vesta«. 447 Vgl. Feeney (1991, 215–217).

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Wenngleich die aus dem Munde des Dichters kommende Bitte um eine Apotheose des Augustus oberflächlich den Erwartungen an ein solches Gebet nachzukommen scheint, wird die abschließende Passage der letzten Erzählung des Werkes von vielen Interpreten als Kritik gedeutet. Der Vorausblick auf die Vergöttlichung des Prinzeps berücksichtigt zwar die Allmacht des Herrschers, erfolgt mit einer konventionellen Terminologie der Herrschaftsbereiche von Himmel und Erde (15,869 f. qua caput Augustum, quem temperat, orbe relicto / accedat caelo) und rückt das unvermeidliche Ereignis in eine ferne Zukunft, doch insbesondere in Relation mit dem anschließenden Epilog der Metamorphosen und im Vergleich mit anderen als stärker ›augusteisch‹ eingestuften Texten erscheint die Darstellung des Augustus als deus absens (15,870 faveat … precantibus absens) problematisch. Während Horaz den Prinzeps als deus praesens preist (Hor. carm. 3,5,2 f. praesens divus habebitur / Augustus),448 schließt Ovid sein Gedicht mit der selbstbewussten Prognose seines dauerhaften Überlebens als Dichter (Ov. met. 15,879 vivam; vgl. Kap. 6.9) und rückt den Prinzeps in weite Ferne von seinen Untertanen.449

6.8.2 Fazit Mit der letzten Episode vor dem Epilog erreichen die Metamorphosen Rom als ihren geographischen Zielpunkt. Das Geschehen oszilliert zwischen konkret benannten Orten wie dem Senatsgebäude (15,802 Curia) oder dem Haus des Augustus auf dem Palatin (15,864 Caesareos … Penates) einerseits und dem gesamten Erdkreis von Britannien bis Ägypten (vgl. 15,752–756; 15,822–831; hier 15,830 tellus; 15,831 pontus) sowie allen Bereichen des Kosmos (15,859 mundi regna triformis) andererseits. Ähnlich wie bei einem Triumphzug im Bild wird hier im Text gleichsam der Erdkreis nach Rom geholt. Das irdische Geschehen wird von einer ausführlichen Götterhandlung im Himmel sowie von Verweisen auf teils weit von Rom entfernt liegende Hintergrundräume begleitet, die im Hinblick auf die Taten Caesars und seines Adoptivsohnes Octavian aufgerufen werden. Indem Caesars ›Vaterschaft‹ von Augustus als seine größte Leistung deklariert wird, wird eine räumliche Perspektive auf seine politischen und militärischen Taten aufgegeben, d. h., die thematische Funktion des Raumes tritt hier in den Hintergrund (15,746–751). Ein durch räumliche Aspekte dominierter Blick auf das Geschehen zeigt sich jedoch wiederum, wenn es um den Mord 448 Vgl. Schmitzer (2016b, 429); Ov. trist. 2,53 f. (an Augustus) iuro, / per te praesentem conspicuumque deum. 449 Vgl. Schmitzer (1990, 296 f.). Gladhill (2012, 2 f.) weist darauf hin, dass Vergils Aeneis mit dem problematischen Tod des Turnus (vgl. Kap. 6.2) und die Metamorphosen in gewisser Analogie dazu mit dem Tod des Augustus und der durch seine Abwesenheit entstehenden Lücke enden.

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an Caesar und seine Vergöttlichung geht: Jupiter weist Venus auf die sichtbar niedergeschriebenen Schicksalssprüche im Himmelsarchiv hin (15,809 f. cernes illic … / … tabularia);450 der neue Daseinsbereich, in dem sich Caesar nach seiner Apotheose befinden wird, ermöglicht ihm einen Blick von oben auf Rom, der eine enge Verbindung zu ›seiner‹ Stadt herstellt (15,841 f. ut semper Capitolia nostra forumque / Divus ab excelsa prospectet Iulius aede). Der irdische und himmlische Anschauungsraum dieser Episode wird also vornehmlich von den beteiligten Göttern wahrgenommen. Diese Beobachtung leitet bereits zur Betrachtung des Aktionsraums über. Wie Fink (2005, 15) treffend ausdrückt, beinhaltet die hier untersuchte Episode eine »Himmel und Erde bewegende Haupt- und Staatsaktion«. Die Bewegungen der Figuren umfassen das gesamte Spektrum auf der horizontalen wie auf der vertikalen Achse: Caesar und Augustus sind römische Herrscher, die den Einflussbereich ihrer Stadt auf nahezu die gesamte bekannte Welt auszuweiten versuchen (z. B. 15,756 nominibus Pontum populo adiecisse Quirini) und ebenso dafür Sorge tragen, dass Rom nicht unter die Herrschaft auswärtiger Mächte fällt (15,827 f. frustraque erit illa minata / servitura suo Capitolia nostra Canopo). Der angemessene Ruhm für derlei Taten – wenngleich diese, wie gezeigt, gegenüber der überbetonten Vater-Sohn-Beziehung in den Hintergrund treten – ist die Vergöttlichung, d. h. der Aufstieg vom irdischen Rom in den Himmel (15,846 animam caelestibus intulit astris; 15,869 f. orbe relicto / accedat caelo);451 im Sinne der symbolischen Funktion des Raumes ist hier einmal mehr der höhere Bereich (Himmel) positiv konnotiert im Vergleich zur niedrigeren Sphäre (Erde), die neutral bis negativ zu bewerten ist. Die Stadt selbst wird im Sinne des gestimmten Raumes in ein düsteres Licht gerückt. Angesichts der zu Beginn der Episode bevorstehenden Ermordung Caesars weisen unheilvolle Omina auf dieses einschneidende Ereignis für das Römische Reich voraus. In dem Moment, in dem die Leser – kurz vor dem Schluss des gesamten Werkes – einzelne römische Lokalitäten wie das Kapitol, die Kurie und das Forum Romanum in den Blick nehmen können,452 lassen die dunklen Vorzeichen, die dort beobachtet werden, Rom nicht als die prächtige Hauptstadt der Welt erscheinen, sondern als einen Ort, an dem sich grauenvolle, den gesamten Kosmos verändernde Ereignisse zutragen werden. Die grenzenlose Bedeutung dieser Geschehnisse zeigt sich nicht nur in den Himmel und Erde umfassenden Handlungsorten, sondern auch durch die mehrfach betonte 450 Ihr Eingreifen wird gerade dadurch plausibilisiert, dass sie für die menschlichen Akteure nicht sichtbar ist (15,844 nulli cernenda). 451 Wheeler (2000, 140) macht darauf aufmerksam, dass an den Enden der Sagenzyklen zu Theben, Troja und Rom Figuren in relativ zueinander höhere Sphären versetzt werden: Ino und Melicertes werden zu Meeresgöttern, Aeneas zum Landgott Indigetes und Caesar wird in den Himmel versetzt. 452 Vgl. Schmitzer (2016a, 163) zur geringen ›Sichtbarkeit‹ der Stadt.

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Ausdehnung jener Vorzeichen weit über den späteren Ort der Ermordung Caesars hinaus (15,791 f. tristia mille locis Stygius dedit omina bubo, / mille locis lacrimavit ebur). Einen weiteren bemerkenswerten Aspekt stellt die Tatsache dar, dass die Stadt in dieser Episode weniger als öffentlicher Raum dargestellt wird, sondern vielmehr als persönliches Besitztum ihres jeweiligen Herrschers. Dies zeigt sich gleich zu Beginn in der dezidierten Zuordnung Roms an Caesar durch ein Possessivpronomen (15,746 urbe sua), aber auch am Ende in Bezug auf Augustus, denn der Text betont mehrfach, wie dieser die Sphäre des öffentlichen Kultes mit seinem privaten (Wohn-)Bereich verbindet (15,864 Caesareos … Penates; 15,865 Phoebe domestice).

6.9  Ovid erhebt sich über Rom (15,871–879) Im Epilog der Metamorphosen postuliert Ovid das Überleben seines Werkes nach seinem eigenen Tod, unabhängig von allen äußeren Einflüssen (15,871– 874).453 Er imaginiert seine eigene Apotheose und insbesondere das dauerhafte Weiterleben seines Namens (15,875 f.). Der Dichter endet mit einem Ausblick auf die künftige Rezeption seines Werkes im Römischen Reich, eingeschränkt lediglich durch dessen räumliche Begrenzung sowie durch die Voraussetzung, dass derartige Aussagen von Dichtern ihren Wahrheitsgehalt erweisen müssten (15,877–879). Neben dem immer wieder ausführlich in der Ovid-Forschung diskutierten, in dieser Arbeit aber nur en passant besprochenen Proömium (1,1–4; vgl. Kap. 6.5; 6.8) stellt die nun zu analysierende Sphragis454 die poetologisch bedeutsamste Passage der Metamorphosen dar. Dieser Paratext455, in dem der Dichter am stärksten als ›Ovid‹ spricht,456 steht jedoch nicht gänzlich außerhalb des eigent 453 Wichtige Referenztexte für Ovids Anspruch auf poetische Unsterblichkeit stellen vor allem die Oden des Horaz dar, insbesondere das Abschlussgedicht der ersten drei Bücher (Hor. carm. 3,30); eine Auflistung aller Parallelen zum Metamorphosen-Epilog bietet Wheeler (2000, 147 f.); vgl. Hardie (2015, zu Ov. met. 15,871–879). Zugleich knüpft Ovid mit dem Ende seines Epos auch an eigene Texte an, unter denen vor allem das letzte Gedicht des ersten Amores-Buches (Ov. am. 1,15) zu nennen ist (vgl. auch Ov. trist. 3,7,49–54); vgl. Bömer (1986, zu Ov. met. 15,871 f.). 454 Für einen Überblick zu Epilogen und Sphragides im antiken Epos vgl. Zissos (2019). Peirano (2014) untersucht die Verbindung von literarischer und physischer Sphragis, jedoch ohne Betrachtung des Metamorphosen-Epilogs. 455 Zur Definition des Begriffs ›Paratext‹ vgl. Genette (1989, 9–21; bes. 9 f.; 228–230 zu Nachworten); im engeren Sinne handelt es sich beim Metamorphosen-Epilog um einen Peritext, also einen werkinternen Paratext. 456 Angesichts der fehlenden Erwartbarkeit einer derart persönlichen Stellungnahme des epischen Dichters spricht Segal (1969b, 290) von einem »striking, even shocking effect, of Ovid’s epilogue«; bei vergleichbaren Texten wie der Coda von Horazens drittem CarminaBuch liege der Fall aufgrund der unterschiedlichen Gattung anders.

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lichen Gedichtinhaltes, sondern ist motivisch auf mehrfacher Ebene mit diesem verknüpft:457 Die figurierte Apotheose des Dichters setzt die Serie von Vergöttlichungen fort, die von Hercules (Buch 9) über Aeneas und Romulus (Buch 14) bis hin zu Caesar und Augustus (Buch 15) reicht; diese können als ein Beispiel für das vielfältige Spektrum an Verwandlungsarten gelten, das Ovid nun durch seine eigene Metamorphose ergänzt.458 Der postulierte Übergang des Dichters in eine höhere Existenzform steht insbesondere mit dem pythagoreischen Prinzip der Metempsychose im Einklang. Schließlich enthebt Ovids dauerhaftes Überleben den Dichter von dem Problem der Nachfolgefrage, die im finalen Buch der Metamorphosen ein zentrales Thema bei der Darstellung der Herrscherfiguren ist.459 Wenngleich im Epilog überhaupt nicht genannt, ist Augustus auch ein zen­ traler Bezugspunkt für eine politische Interpretation dieses Werkteils.460 In der selbstbewussten Behauptung des Dichters gegenüber dem Prinzeps und in seinen diskussionswürdigen Worten über die Zukunft Roms sieht eine politisch ausgerichtete Ovid-Forschung gewichtige Belege für eine wahlweise als regimekritisch, subversiv oder anti-augusteisch zu bezeichnende Deutung der Metamorphosen.461 Auch wenn derartige Aspekte bei einer literarisch orientierten Interpretation nicht gänzlich ignoriert werden können, soll der Fokus der nachfolgenden Analyse auf einer raumnarratologischen Untersuchung von Ovids letzter Rom-Darstellung im Kontext der fingierten Dichterapotheose liegen.

457 Vgl. Hardie (2015, zu 15,871–879). Dezidiert gegen die Auffassung als Paratext wendet sich Wickkiser (1999), die stattdessen zahlreiche Verbindungen dieses Abschnitts zum übrigen Text des Werkes herausarbeitet, insbesondere zum Proömium und der Schöpfungserzählung der Metamorphosen. 458 Allerdings lässt sich der vom Dichter formulierte Ewigkeitsanspruch auch als Ausnahme von der ansonsten allumfassenden Metamorphosenthematik deuten (vgl. bes. 15,876 nomen … indelebile nostrum). 459 Ein weiteres Kontinuum zwischen dem Epilog und dem vorherigen Gedichtabschnitt besteht in der Verwendung der ersten Person Singular, die bereits mit dem Gebet für die Apotheose des Augustus einsetzt (15,861–870; 15,861 precor). Diese Zweiteilung des Schlusses der Metamorphosen (zunächst Gebet für den Herrscher, dann Sphragis des Dichters) hat die nicht belegbare Vermutung aufkommen lassen, Ovid habe die letzten neun Verse mit seinem überaus selbstbewussten Anspruch gegenüber dem Prinzeps erst nach seiner Exilierung angefügt; vgl. Mainero (2007, 171); Zissos (2019, 558 Fn. 98). 460 Vgl. exemplarisch Segal (1969b, 292), der am Ende der Metamorphosen nur eine ›augusteische Fassade‹ zu erkennen mag, die er für eher ironisch als ›höflich‹ hält. 461 Zur Gegenposition vgl. exemplarisch Bömer (1986, zu 15,877–879), der die Beweisbarkeit einer dezidiert anti-augusteischen Einstellung des Dichters vehement negiert; ähnlich O’Hara (2007, 128–130). Treffend fasst Eickmeyer (2021, 104) das zugrunde liegende Problem zusammen: »Ovid zeigt, dass er Affirmation und Subversion beherrscht, und bewegt sich damit souverän im literarischen Feld augusteischer Dichtung.«

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6.9.1 Analyse Die Unvergänglichkeit des Werkes (15,871–874) Nach dem Gebet für die Unsterblichkeit des Prinzeps setzt der Epilog mit der Feststellung des Dichter-Ichs ein, mit den Metamorphosen ein unzerstörbares Werk erschaffen zu haben: Iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec ignis nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas. cum volet, illa dies, quae nil nisi corporis huius ius habet, incerti spatium mihi finiat aevi.

Und nun habe ich ein Werk vollendet, das weder Jupiters Zorn noch Feuer noch Eisen noch das nagende Alter wird vernichten können. Wann er will, mag jener Tag, der allein auf meinen Leib Anspruch hat, die ungewisse Zeitspanne meines Lebens beenden.

Ovid antizipiert zwar sein unvermeidliches eigenes Ende, hält aber das von ihm geschaffene opus462 für derart gelungen, dass weder materielle Einflüsse wie das Klima (Iovis ira), Feuer (ignis) oder gewaltsame Zerstörung (ferrum) noch altersbedingter Verfall (vetustas) seine fortwährende Existenz gefährden könnten.463 Der erstgenannte Faktor, der als ›Zorn Jupiters‹ umschriebene Blitz, wird häufig allegorisch mit der Macht des Prinzeps gleichgesetzt.464 Eine solche Identifizierung des obersten Gottes mit dem römischen Herrscher erscheint vordergründig vor allem durch die entsprechende Parallelisierung nur wenige Verse vor dieser Stelle naheliegend, mit der das Gebet für letzteren endet (15,860 pater est et rector uterque). Eine solche ›kritische‹ Lesart beruht jedoch ganz entscheidend auf einer ex-post-Betrachtung der Textstelle aus der Perspektive der ovidischen Exildichtung, wo der Dichter in der Tat an zahlreichen Stellen die Allmacht des Augustus mit der Junktur Caesaris ira zum Ausdruck bringt.465 Die Entschei 462 Zur Verwendung von opus im Sinne von ›Kunstwerk‹ in den Metamorphosen vgl. ­Wickkiser (1999, 127). 463 Hardie (2015, zu 15,871) meint, Ovids opus sei gemäß der Schilderung des Dichters noch beständiger als die in der vorherigen Episode geschilderten Archive mit den Schicksalssprüchen über die Zukunft Roms (15,810 tabularia; vgl. Kap. 6.8). Ob die Bezeichnung der Metamorphosen als opus zwangsläufig zu einem Vergleich mit den in den vorherigen Episoden genannten römischen Monumenten einlädt, wie Hardie weiterhin meint, erscheint fraglich, wenngleich auch Wickkiser (1999, 121–128) diese These detailliert ausführt. Solodow (1988, 220–222) charakterisiert aufgrund Ovids Wahl von opus (anstatt des horazischen monumentum; vgl. Hor. carm. 3,30,1 Exegi monumentum aere perennius) den Anspruch Ovids im Vergleich zu seinem Vorläufer als ›privater‹. Vgl. Vasaly (2015, 217) zur Metapher eines physischen monumentum als ›Geschichtsschreibung‹ bei Livius (vgl. Liv. praef. 6 incorruptis … monumentis; 10). 464 Vgl. z. B. Boyle (2003, 10). 465 Für diese Wendung finden sich nicht weniger als 14 Belegstellen in den Tristien und den Epistulae ex Ponto; vgl. Bömer (1986, zu Ov. met. 15,871 f.); Mainero (2007, 171); Hardie (2015, z. St.). Vor einer Beurteilung des Augustus der Metamorphosen aus der Sicht des verbannten Dichters warnt auch Barchiesi (2005, 156 f.).

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dung über die als richtig empfundene Deutung dieses Herrscherbezugs hängt letztlich unvermeidlich von der Gesamtansicht eines individuellen Interpreten über den potentiell politischen Gehalt der Metamorphosen bzw. über die vermutete politische Einstellung ihres Dichters ab.466

Die Apotheose des Dichters (15,875 f.) Nachdem Ovid zwar die Unvermeidbarkeit seines eigenen Todes und damit das Ende seiner physischen Existenz auf Erden eingeräumt hat, postuliert er das Weiterleben seiner als ›besserer Teil‹ seiner selbst bezeichneten Seele und den fortdauernden Ruhm seines Namens (parte tamen meliore mei super alta perennis / astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum).467 Ovids anima überschreitet die räumliche Grenze ihrer irdischen Existenz und sichert so den Nachruhm des Dichters. Auch in einem ganz materiellen Sinn gibt der Dichter damit vor, sich über den ›Zorn der Witterung‹ hinaus in höhere Sphären zu begeben.468 Wie Hardie (2015, z. St.) beobachtet, besteht der Passus von parte bis ferar ausschließlich aus Daktylen; dies unterstreicht die Schnelligkeit und Leichtigkeit des Aufstiegs und damit das poetische Selbstbewusstsein. Eine erstaunliche Beobachtung ergibt sich bei der Betrachtung des Zielorts von Ovids imaginierter Apotheose im Vergleich zu den in den vorherigen Episoden geschilderten Vergöttlichungen: Seine Seele werde bis über die Sterne hinaus aufsteigen, so das Dichter-Ich (super … / astra) – damit würde sie eine höhere Himmelsregion erreichen als Caesar und Augustus, die jeweils nur bis in die Sphäre des caelum gelangen (15,846 animam caelestibus intulit astris; 15,449 caelumque erit exitus illi).469 Auch aus dieser Stelle ließe sich bei einer politischen Interpretation wieder eine prinzipatskritische Haltung Ovids ableiten, doch bei einer poetologischen Deutung ist vor allem das wahrhaftig grenzenlose Selbstbewusstsein des Dichters hervorzuheben: Durch das Aufsteigen bis in kosmische Dimensionen reicht der proklamierte andauernde Wert des eigenen opus über die entsprechenden Bekundungen früherer Dichter wie etwa Horaz oder Properz hinaus (vgl. Hor. carm. 3,30; Prop. 3,2).470 Hier nutzt der Dichter die charakterisierende Funktion des Raumes in Bezug auf sich selbst. Analog dazu 466 Eine vermittelnde Position nimmt beispielsweise Feeney (1991, 219 f.) ein, der von einer Analogie anstatt einer Identifikation von Jupiter und Augustus spricht. 467 Vgl. Kap. 6.5 zur Bedeutung der Namen von Städten in ihren verschiedenen ›Lebensphasen‹. 468 Willms (2019, 151) betrachtet die Sterne bei Ovid als Analogon zum Pyramiden-­Vergleich bei Horaz (Hor. carm. 3,30,2 regalique situ pyramidum altius); vgl. West (2002, z. St.). 469 Von Albrecht (2008, 227 f.); Hardie (2015, z. St.). Vgl. Hardie (2018, 221 f.): »This concluding hyperbole extends still further the traditional reach of Fame from earth to the sky.« 470 Vgl. Buchheit (1966, 108); West (2002, zu Hor. carm. 3,30); von Albrecht (2003, 163); Groß (2013, 214–218); Willms (2019, 151 f.).

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lässt sich die aufsteigend gestaltete Reihe Caesar – Augustus – Ovid auch als Priamel lesen, sodass der für sich selbst postulierte Ruhm des Dichters keinesfalls eine Schmälerung der Leistungen der Herrscherfiguren implizieren muss, wie Wickkiser (1999, 136–139) nachvollziehbar ausführt.

Die Rezeption des Werkes (15,877–879) Ovids dichterisches Selbstvertrauen zeigt sich abschließend in der Erwartung der zukünftigen Rezeption der Metamorphosen: quaque patet domitis Romana potentia terris Und so weit sich die römische Macht über ore legar populi, perque omnia saecula fama den unterworfenen Erdkreis erstreckt, werde (siquid habent veri vatum praesagia) vivam. ich vom Mund des Volkes gelesen werden und durch alle Jahrhunderte hindurch (sofern an den Vorahnungen der Dichter auch nur irgendetwas Wahres ist) durch meinen Ruhm fortleben.

Ovid antizipiert die künftige Lektüre seines Werkes, durch seine fama werde er weiterleben (vivam).471 Diese auf die Ewigkeit zielende Prognose (per … omnia saecula) knüpft der Dichter lediglich an zwei Bedingungen: zum einen (explizit durch einen Konditionalsatz) an den Wahrheitsgehalt von Prophezeiungen der vates,472 zum anderen (mit anscheinend größerer Selbstverständlichkeit) an die geographische Ausbreitung des Römischen Reiches (qua … patet domitis Romana potentia terris).473 Bemerkenswert an dieser Passage ist – wie nahezu die gesamte Forschungsliteratur anmerkt –, dass Ovid seinen Ewigkeitsanspruch allein auf sein literarisches Werk bezieht. Hinsichtlich des Römischen Reiches aber spricht der Dichter nur von dessen geographischer Ausdehnung,474 nicht jedoch von einem zeitlich unbegrenzten Fortbestehen im Sinne der Ideologie einer Roma aeterna 471 Vgl. Ov. am. 1,15,7 f. mortale est, quod quaeris, opus; mihi fama perennis / quaeritur, in toto semper ut orbe canar; 1,15,41 f. ergo etiam cum me supremus adederit ignis, / vivam, parsque mei multa superstes erit; Schmitzer (2011, 139); Kap. 6.8 zum Kontrast zwischen dem Überleben des Dichters und der ›Abwesenheit‹ des vergöttlichten Prinzeps. 472 Zu den ›Verhandlungen‹ über den Wahrheitsgehalt von Prophetien in Buch 15 vgl. Hardie (2015, zu 15,878 f.); Kap. 6.5. 473 Die Belegstellen für die Junktur Romana potentia vor und bei Ovid repräsentieren gleichsam eine Geschichte der verschiedenen Stadien Roms: vom Proto-Rom des vergilischen Euander (Verg. Aen. 8,99) über Rom zur Zeit des Romulus in den ovidischen Fasten (Ov. fast. 2,483) bis zum gegenwärtigen Rom unter Augustus (Ov. trist. 5,2,35) sowie dem zukünftigen Rom an der hier behandelten Metamorphosen-Stelle. 474 In seiner auf einem kartesischen Koordinatensystem als narratologischer Grundlage basierenden Untersuchung spricht Willms (2019, 153) von der horizontalen Achse hinsichtlich der geographischen Extension sowie der vertikalen Achse bezüglich des Aufstiegs der Seele.

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(vgl. Ov. trist. 3,7,51 f. dumque suis victrix omnem de montibus orbem / prospiciet domitum Martia Roma, legar; Hor. carm. 3,30,8 f. dum Capitolium / scandet cum tacita virgine pontifex),475 wie Lushkov (2020, 63) festhält: »Ovid’s sphragis, indeed, tacitly implies a time beyond Rome’s empire.« Dieses Vorgehen erscheint im Übrigen analog zu den Aussagen des ovidischen Pythagoras über die Zukunft Roms (vgl. Kap. 6.5).476 Bei einer rein ›logischen‹ Betrachtung wirkt der Sachverhalt relativ unproblematisch: Der literarische Anspruch auf Dauerhaftigkeit des Werkes beruht in erster Linie darauf, dass es eine Leserschaft für dieses gibt. Die Existenz eines solchen Kulturkreises, in dem die zukünftige Rezeption erfolgen kann, muss aus der Perspektive des Dichters jedoch notwendigerweise mit derjenigen des Römischen Reiches zusammenfallen; letztlich also stellt eine Roma aeterna die Voraussetzung dafür dar.477

6.9.2 Fazit Der Epilog der Metamorphosen hebt sich grundsätzlich bereits dadurch vom Rest des Werkes ab, dass der Raum der Erzählung identisch mit dem Raum des Erzählers ist.478 In diesen letzten Versen wird Ovid (ebenso wie im Proömium) zum autodiegetischen Erzähler:479 Er macht sich zu einer Figur der Handlung und schreibt sich damit in den zeitlich und räumlich universellen Rahmen seines Werkes ein.480 Eine derart erkennbare Sonderstellung der letzten Verse des Werkes wird von der Mehrheit der Forschung in verschiedenster Weise betont, während sich etwa Wickkiser (1999) explizit gegen eine solche Tendenz wendet. Der Dichter jedenfalls beschreibt hier keinen Anschauungsraum, den er im eigentlichen Sinne wahrnähme, sondern spricht vom gesamten Römischen Reich (15,877 quaque patet domitis Romana potentia terris) sowie von den himmlischen Sphären (15,875 f. super … / astra) als Hintergrundräumen, mit deren Hilfe er seine Apotheose und die Rezeption seines Epos lokalisiert. Doch 475 Vgl. Barchiesi (1989, 90); Schwindt (2005, 17 f.): »Dichter mit Ewigkeitsperspektive vermessen mit Vorliebe Räume«; Speyer (2007, 163) zum Kapitol als Garanten für den Fortbestand Roms gemäß dem Selbstverständnis seiner Einwohner; Kyriakidis (2013, 9). – Vgl. auch Ovids eigene, in eine solche Richtung zielende Affirmation von Roms Status als Haupt der Welt in den Amores, wo er über die zukünftige Rezeption der drei vergilischen Werke spricht (Ov. am. 1,15,25 f. Tityrus et fruges Aeneiaque arma legentur, / Roma triumphati dum caput orbis erit). 476 Vgl. auch die etwas schwer nachvollziehbaren Ausführungen von Schmitzer (1990, 259; 296 f.) zu einem nicht erkennbaren »Antiromanismus« Ovids und dazu Andrae (2003, 108). 477 Vgl. Schmidt (1991, 137 f.); Spahlinger (1996, 49 f.). 478 Vgl. de Jong (2014, 106 f.). 479 Vgl. Geitner (2021, 51 mit Fn. 129). 480 Vgl. de Jong (2014, 41 f.) zum Phänomen der Metalepse.

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Rom

während die vergöttlichte Seele des Dichters jenseits der Sterne verortet wird, bleibt die erwartete Lektüre der Metamorphosen in geographischer Hinsicht beschränkt: Ovids Werk wird nur bzw. genau dort gelesen werden, wohin sich auch die römische Macht erstreckt – nicht in der gesamten Welt und damit auch nicht einmal an jedem Ort, den der Dichter zu einem Schauplatz oder Hintergrundraum seiner Erzählung gemacht hat.481 Die umfassende räumliche Dimension der Aussagen des Epilogs zeigt sich auch bei der Betrachtung des Aktionsraums. Wie bereits angeklungen, erhebt sich das Dichter-Ich von ganz unten (Erde) entlang der vertikalen Achse nach ganz oben (über die Sterne) und entfernt sich damit nicht nur von normalen Sterblichen, sondern auch von vergöttlichten Helden und Menschen wie Julius Caesar und Augustus (15,875 f. super alta perennis / astra ferar). Diese letzte Apotheose der Metamorphosen erscheint dadurch nicht nur gegenüber den anderen Erzählungen von solchen Vergöttlichungen herausgehoben, sondern stellt auch ein weiteres Gegenbeispiel zu Figuren wie Phaethon oder Icarus dar, deren erfolglose ›Aufstiegsversuche‹ in der ersten Hälfte des Werkes geschildert worden waren.482 Der Gegensatz zwischen ›unten‹ und ›oben‹ im Sinne der symbolischen Funktion des Raumes wird nirgends im gesamten Werk so deutlich zum Ausdruck gebracht wie hier, wo der Dichter von sich selbst spricht. Hinsichtlich des gestimmten Raumes bleibt festzuhalten, dass Ovid seine Leistung als Dichter mit größtem Selbstbewusstsein hervorhebt und noch über die Bedeutung des Prinzeps sowie insbesondere diejenige Roms stellt.483 Durch seinen Verzicht auf eine explizite Betonung von dessen Ewigkeit erscheint die Hauptstadt des Imperium Romanum einmal mehr nicht dezidiert als Ziel oder Höhepunkt der kulturhistorischen Entwicklung (vgl. Kap. 7.3).484 Dennoch lässt sich der Epilog auch derart lesen, dass der fortwährende Bestand des Römischen Reiches für Ovid als eine selbstverständliche Gegebenheit erscheint. Seine Aussagen machen eine intentionale Kritik an Augustus bzw. am Prinzipat nicht beweisbar,485 betonen aber den Primat der Dichtung vor allen anderen Bereichen des Lebens.486 Aus der Perspektive der Ovid-Forschung des 21. Jahrhunderts kann konstatiert werden, dass die Aussagen des Dichters im Epilog seines bedeutendsten Werkes das Ausmaß seiner eigenen Nachwirkung sogar noch 481 Gemäß Lyne (2001, 196) antizipiert Ovid im Epilog die Ironie, dass sein Gedicht schon hinsichtlich seiner weltweiten Handlungsorte über das römische Machtgebiet hinausreiche. 482 Vgl. Hardie (2018, 222); Willms (2019, 149) zum Aufstiegsgedanken im Epilog zum dritten Oden-Buch des Horaz (Hor. carm. 3,30). 483 Vgl. Segal (1969b, 289 f.): »It is in his fame as a poet, that Ovid believes, and it is with himself, not with Rome or Augustus, that he ends his poem […] It is the poet’s work, and not Rome, which is eternal«; Galinsky (1975, 44). 484 Vgl. Galinsky (1975, 43 f.; 254). 485 Vgl. Döpp (1992, 128); Volk (2012, 128–134) für eine allgemeine Skizze der hermeneutischen Probleme bei der Auslegung der panegyrischen Passagen in Ovids Werk. 486 Vgl. Schmitzer (2011, 140).

Schlussfolgerungen: Rom als literarische Landschaft

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unterschätzen: Im Zuge der Globalisierung auch der Klassischen Philologie hat die Rezeption der Metamorphosen nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich alle vom Dichter ausgemachten Grenzen überschritten.487

6.10  Schlussfolgerungen: Rom als literarische Landschaft Troja und Rom sind bei Vergil und anderen Autoren unauflöslich miteinander verbunden. Im Einklang damit lässt sich auch bei Ovid keine klar definierte Grenze zwischen genuin trojanischen und römischen Sagen ziehen; zudem lassen sich die mit Rom verbundenen Geschichten auch als Teil eines übergeordneten italischen Sagenkreises sehen. Zusammen betrachtet dominieren die mit Troja und Rom verbundenen Erzählungen das letzte Drittel der Metamorphosen (vgl. Einleitung zu Kap. 5). Durch die nahezu vollständige Deckungsgleichheit dieser Erzählungen mit den Büchern 11 bis 15 wird von Albrechts (2003, 165) These einer pentadischen, vom Fokus auf bestimmte Städte getragenen Gliederung des Werkes hier am deutlichsten gestützt. Daneben aber sind die ›Rom-Bücher‹ 14 und 15 auch das stärkste Indiz für eine ringkompositorische Gliederung der Metamorphosen,488 da sie die beiden Eingangsbücher spiegeln, die einige auffällige direkte Bezüge zum augusteischen Rom enthalten. In jedem Fall unterstreicht dieser ›römische‹ Rahmen die Bedeutung der thematischen Funktion des Raumes für das gesamte Werk. Im Rom-Abschnitt spielt die Geographie eine wichtigere Rolle für die Gliederung der Handlung, als wir dies bei den ersten Sagenkreisen beobachten konnten: Es gibt keine zentrale Heldengestalt wie Cadmus oder (in Ansätzen) Theseus, sondern ähnlich wie beim Fall Trojas übt der Schauplatz einen stärkeren Einfluss auf die Auswahl der Episoden aus als die Figuren. Da die Metamorphosen mit Bezügen auf Rom einsetzen und die Stadt auch als Schauplatz der letzten Episoden fungiert, erscheint Rom auf den ersten Blick nicht nur als chronologisch vierte Station nach Theben, Athen und Troja, sondern sogar als die wichtigste ›Hauptstadt‹ des Werkes. Eine quantitative Auswertung aller direkten Nennungen dieser Städte ergibt jedoch ein anderes Bild (vgl. Kap. 1): Während Troja 42 Mal, Theben zehn und Athen immerhin sechs Mal genannt wird, erscheint das Substantiv Roma innerhalb der etwa 12.000 Verse lediglich zwei Mal.489 Unter diesem Blickwinkel wird Rom zur unbedeutendsten und stattdessen Troja zur wichtigsten ›Hauptstadt‹ des Werkes (vgl. Kap. 5.9). Diese Bewertung lässt sich durch die Vielzahl der auf Rom bezogenen 487 Dies wird gerne in einführenden Darstellungen zu Ovid hervorgehoben, vgl. z. B. Volk (2012, 9). 488 Vgl. von Albrecht (2003, 155). 489 15,431 (vgl. Kap. 6.5); 15,597 (vgl. Kap. 6.6).

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Rom

Episoden im Schlussabschnitt zwar relativieren – damit erscheint Rom zumindest bei einer linearen Lektüre der Metamorphosen wieder als gleichberechtigt neben den drei anderen großen Städten –, aber dennoch weist das Gesamtbild dieser Stadt einige Auffälligkeiten auf, die am Ende dieses Kapitels ausgewertet werden sollen.

6.10.1  Rom als Schauplatz Das Bild der Stadt Rom in der Literatur vor Ovids Zeit konstituiert sich aus den bis heute allgemein bekannten sieben Hügeln sowie den Tempeln, Foren und anderen berühmten Bauwerken, die in den verschiedenen Phasen der römischen Geschichte hinzukamen. In den verschiedenen Gattungen und selbst unter den Autoren einer bestimmten Gattung wie etwa der Liebeselegie gibt es jedoch keine einheitliche Sichtweise auf die Stadt (vgl. Einleitung zu Kap. 6). Stattdessen wird Rom je nach Zweck eines Werkes ganz unterschiedlich dargestellt und funktionalisiert. Dieses Phänomen lässt sich beispielsweise bei der Betrachtung des Gesamtwerks von Ovids wichtigstem Vorläufer Vergil beobachten und findet sich analog in seinem eigenen, breitgefächerten Werk wieder: Während etwa die Ars amatoria und die Fasten einen unmittelbaren Blick auf Rom und seine Monumente ermöglichen, betrachtet Ovid in der Exildichtung eine idealisierte Version der Stadt aus der Ferne und schildert dabei gar einen fiktiven Besuch seines Gedichtbuches. Auch die Metamorphosen bieten eine eigene und neuartige Perspektive auf Rom. Diese erweist sich als ebenso vielfältig wie das Werk als Ganzes: Die Stadt fungiert sowohl als Schauplatz in den beiden finalen Büchern wie auch als Hintergrundraum, der in den Eingangsbüchern durch recht explizite Analogien, aber auch im weiteren Verlauf des Werkes immer wieder implizit (vorwiegend mittels aktualisierender Vergleiche) aufgemacht wird. Damit reichen die Metamorphosen sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht über den wichtigsten epischen Referenztext, die Aeneis, hinaus: Sie umfassen die gesamte römische Geschichte bis zur Lebenszeit des Dichters (also nicht nur bis zur Ankunft des Aeneas am Ort der späteren Stadt oder bis zu ihrer Gründung durch Romulus) und schildern Rom nicht nur in Form der seiner Vorläufer wie Pallanteum, sondern auch als real existierende Stadt der Gegenwart unter dem Prinzeps Augustus. Dass Rom schlussendlich zum Schauplatz eines Werkes über die Mythologie wird, muss dabei fast paradox erscheinen: Indem die finalen Verwandlungen (häufig handelt es sich um Apotheosen) in die Stadt verlegt werden, die Ovids Zeitgenossen als realweltlichen Ort kennen, wird Rom zu

Schlussfolgerungen: Rom als literarische Landschaft

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einem ebensolchen mythischen Ort wie andere Städte sowie die außerurbanen, teils rein fiktiven Handlungsorte.490 Wie genau stellt sich Ovids Rom also im Sinne des triadischen Raummodells von Haupt (2004) dar? Die Topographie der Stadt, wie sie sich den Lesern in den Metamorphosen bietet, ist zum einen bestimmt vom Tiber (dieser wird schon in Buch 2 genannt, danach weitere fünf Male in den beiden Schlussbüchern),491 zum anderen von den sieben Hügeln. Diese nehmen – im Einklang mit ihrer jeweiligen realweltlichen Bedeutung – jedoch keine gleichrangige Position ein, sondern werden mit unterschiedlicher Häufigkeit genannt und verschieden instrumentalisiert:492 Das Kapitol und der Palatin, wo sich der Jupiter-Tempel bzw. die Residenz des Augustus befanden, kommen je fünf Mal vor; sie dienen zunächst der Evokation einer römischen Atmosphäre in den Eingangsbüchern und später in Buch 14 und 15 als markanteste Stellen Roms.493 Der Aventin und der Quirinal hingegen haben jeweils nur einen einzigen ›Auftritt‹ im vorletzten Buch,494 die übrigen drei Hügel werden überhaupt nicht erwähnt. Ab den Geschichten von Daphne, Lycaon, Apollo und Coronis sowie Phaethon in den ersten zwei Büchern unterstützen der Tiber, das Kapitol und der Palatin also den stadtrömischen Bezugsrahmen der Metamorphosen insgesamt, sodass sich Stück für Stück ein Gesamtbild der Stadt ergibt, das im Schlussteil von einigen politisch bedeutsamen Orten wie dem Forum und der Kurie ergänzt wird.495 Der Tiber markiert die Stelle der einstigen Stadt, bevor an diese auch nur zu denken ist, und die zwei Berge zu beiden Seiten des Forum Romanum stellen über ihre Erwähnung im Zusammenhang mit den Kapitolinischen Gänsen bzw. dem Mordanschlag auf den römischen Herrscher den Bezug zur römischen Geschichte und insbesondere zur ovidischen Gegenwart her. Wie MalochetTurquety (2014, 211 f.) erläutert, konstruiert Ovid damit eine überzeitliche Version der Stadt Rom mit ihren zentralen topographischen Gegebenheiten wie Kapitol, Palatin und Tiber.496 Die genannten topographischen Marker können indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass Rom in den Metamorphosen erst ganz

490 Bach (2020, 70 f.) beschreibt Rom in diesem Zusammenhang als einen Raum, der mit Unsterblichkeit bzw. Ewigkeit assoziiert wird. 491 2,259; 14,426; 14,448; 14,615 f.; 15,432; 15,624. 492 Vgl. Malochet-Turquety (2014, 197–199). 493 Kapitol: 1,561; 2,538; 15,589; 15,828; 15,841; Palatin: 1,176; 14,333; 14,622; 14,822; 15,560. 494 Aventin: 14,620; Quirinal: 14,836. 495 Vgl. Malochet-Turquety (2014, 198 f.). Casanova-Robin (2016, 137) spricht von einer ›mäandernden‹ Konstituierung der römischen Topographie. 496 Vgl. Geitner (2019) zu derartigen ›Zeitmontagen‹. Auch bei Historiographen wie Livius nehmen der Palatin als Ort der Stadtgründung und das Kapitol als religiöses Zentrum Roms eine zentrale Rolle in der Erzählung ein, vgl. Zenk (2022, 330).

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am Ende als gebaute Stadt im Sinne des Anschauungsraums sichtbar wird.497 Im Moment der Gründung wird diese allein durch ihre Mauern repräsentiert (Ov. met. 14,774 f. urbis / moenia conduntur), doch konkrete Bauwerke werden danach erst in den Episoden von Asclepius sowie Caesar und Augustus erwähnt (z. B. der Tempel auf der Tiberinsel sowie das Senatsgebäude und das Domizil des Prinzeps auf dem Palatin), sodass eine zumindest geringe Anschaulichkeit erreicht wird.498 Insgesamt bleibt die Stadt also topographisch unterdeterminiert, insbesondere im Vergleich zu den Fasten, wo eine Vielzahl von Monumenten genannt wird, die mit der Bau- und Religionspolitik von Caesar und Augustus in Zusammenhang stehen. Als exemplarischer Vertreter von Ovids Perspektive auf Rom in den Metamorphosen – auch im Sinne der spiegelnden Funktion des Raumes – kann die Figur des Cipus dienen: Dieser scheint zwar zunächst der Stadt zuzustreben, wendet dann aber willentlich seinen Blick von ihr ab (Ov. met. 15,586 f. a moenibus Urbis / avertens faciem). Die Cipus-Episode unterstreicht sogleich eine weitere grundlegende Beobachtung zum römischen Zyklus der Metamorphosen: Die räumlichen Bewegungen der Figuren sind von einer zentripetalen Tendenz geprägt. Die Charaktere streben ebenso nach Rom, wie sich schon in früheren Episoden des Werkes eine generelle Ost-West-Bewegung zeigt (z. B. im Fall des Cadmus, der sich von Phönizien aus auf die Suche nach seiner Schwester Europa macht). Zugleich illustriert die Weigerung des Prätors Cipus, Rom zu betreten (unabhängig von einer eventuellen politischen Deutung dieser Geschichte), jedoch auch eine gegenläufige Tendenz, die Wheeler (2000, 131) mit Blick auf die letzten Episoden des Werkes zu Recht betont: Auch andere Figuren wie Numa, Egeria und die Gesandtschaft zur Herbeiholung des Asclepius verlassen Rom, zumindest vorübergehend.499 Dem Aktionsraum in Form dieser beiden Raumbereiche (demjenigen innerhalb und dem außerhalb der Stadt) kommt also eine tragende Rolle für die Handlung zu, denn das Geschehen spielt bisweilen auf der einen Seite (beispielsweise beim Mord an Caesar), dann auf der anderen (wie bei der Rückkehr des Cipus). Doch nicht nur der Stadtmauer als Grenze auf der horizontalen Ebene wohnt eine wichtige Bedeutung inne, sondern auch der vertikalen Barriere zwischen Erde und Himmel: Sowohl der Stadtgründer Romulus als auch die letzten beiden Protagonisten Caesar und Augustus werden vergöttlicht und somit über Rom als irdische Sphäre erhoben. All diesen Figuren wird also im Sinne der charakterisierenden Funktion des Raumes grundlegend eine positive Bewertung 497 Auch Bach (2020, 67–71) konstatiert, dass Rom nicht detailliert beschrieben wird, sondern das Bild der Stadt schrittweise durch die Evokation einiger charakteristischer Orte entsteht. 498 Vgl. Reitz (2013, 289–292) zur evidentia/enargeia bei Ovid; Schmitzer (2016a, 163); Behm (2019a, 289–291). 499 Wheeler (2000, 152) interpretiert die ›verzögerte‹ Ankunft des Gedichts in Rom als Mittel, um die Stellung der Stadt als ›stolzer Zielpunkt‹ des Werkes hervorzuheben.

Schlussfolgerungen: Rom als literarische Landschaft

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zugesprochen, wenngleich sich diese durch die im Epilog imaginierte Apotheose des Dichters selbst wieder teilweise relativiert. Betrachten wir zuletzt Rom als gestimmten Raum, so weisen die Metamorphosen an der Oberfläche insofern eine Parallele zur Aeneis auf, als weder hier noch dort die gebaute Stadt im Vordergrund steht. Doch während Vergil von der Entstehung der gens Romana kündet (vgl. Verg. Aen. 1,33), erzählt Ovid mit einer scheinbaren Beliebigkeit von Verwandlungen, wie sie sich im Grundsatz auch in jeder anderen Stadt oder an jedem anderen Ort seiner mythischen Welt hätten ereignen können. Schlussendlich stellt etwa die Apotheose Caesars im Zentrum Roms (Ov. met. 15,801 f.) kein grundlegend anderes Geschehen dar als die rein mythische Vergöttlichung des Hercules im thessalischen Oeta-Gebirge (9,204 f.). Durch diese Gleichbehandlung Roms als Schauplatz von Verwandlungen erscheint die Stadt als ein mythischer Ort bzw. ein literarisches Motiv unter vielen.500 Die Vorzeichen, die den Mord an Caesar verheißen, verwandeln Rom in einen Platz mit einer unheilvollen Atmosphäre. Diese fügt sich in das negativ konnotierte Gesamtbild der Stadt, das diese in der Mehrzahl der relevanten Episoden ausmacht: Nur vorübergehend lässt sich ein Wandel vom Negativen zum Positiven, von der Krise zur Feststimmung ausmachen, nämlich als Asclepius die Stadt von der Pest befreit (15,744 salutifer Urbi).501 Ansonsten erscheint Rom tendenziell als negatives Gegenbild zum Bereich des Ländlichen (z. B. erhält Cipus ein Stück Land außerhalb der Stadt als Belohnung für seine Weigerung, eben jene als König zu betreten), und jene Sphäre wird auch schon bei der Gründung der Stadt zumindest gleichberechtigt neben das Bild der Stadtmauern gestellt, indem die Stimmung eines Hirtenfestes evoziert wird (14,774 Palilibus). Der Blick des Dichters auf Rom insgesamt wird häufig an der Rolle der Stadt in der Rede des Pythagoras festgemacht – dass aber die gedankliche Nähe Roms zu den untergegangenen oder zumindest derart dargestellten Städten Griechenlands auch vom einstigen möglichen Ende der urbs aeterna kündet, kann zwar als wahrscheinlich gelten (vgl. Kap. 6.5), muss aber keinesfalls notwendigerweise mit der persönlichen Ansicht Ovids übereinstimmen.

500 Vgl. Schmitzer (2016a, 163). 501 Dieses Beispiel zeigt, dass sich die symbolische Funktion des Raumes nicht nur im Hinblick auf verschiedene Raumbereiche für die Deutung heranziehen lässt, sondern auch hinsichtlich ein und desselben Raumes zu verschiedenen Zeitpunkten: Ein Ort kann zunächst negativ konnotiert sein und anschließend positiv (wie Rom in der Asclepius-Episode) oder umgekehrt.

360

Rom

6.10.2  Rom als Schlussetappe der Metamorphosen Unterschiede zwischen der Darstellung von Rom und den anderen ›Hauptstädten‹ der Metamorphosen zeigen sich bereits hinsichtlich der jeweils zugehörigen Stadtgründungsepisode: Nachdem Ovid das thebanische Kolonisationsnarrativ, den göttlichen Namensstreit um Athen sowie die bereits mit Katastrophen behafteten Anfänge Trojas dargestellt hat, geht er über die Gründung der Hauptstadt des Imperium Romanum in zwei Halbversen hinweg (14,774 f. festisque Palilibus urbis / moenia conduntur). Die zugrunde liegende Motivation ist allerdings schwerlich mit Sicherheit zu ergründen: Sie könnte mit der Parallelversion in den Fasten (Ov. fast. 4,721–862) in Verbindung stehen oder auch mit der Absicht, das Motiv ›Stadtgründung‹ im Verlauf des Werkes nicht vielfach zu wiederholen, sondern in jeweils abnehmender Ausführlichkeit zu behandeln.502 Einer solchen Vermutung widerspricht jedoch die lange Erzählung der Gründung von Croton am Beginn von Buch 15, die mit einem Umfang von 59 Versen wieder deutlich länger ist als die Rom-ktisis. Eine weitere Auffälligkeit steht im Zusammenhang mit dem Namen der Stadt: Wenngleich urbs auch schon zur Entstehungszeit der Metamorphosen ein Synonym für Roma war, erscheint es doch bezeichnend, dass Ovid den Namen der Stadt bei der Erzählung von ihrer Gründung zu unterdrücken scheint (ebenso wie beispielsweise den Namen Karthago). Der Name Thebens hingegen fällt genau an der Stelle, an der man ihn erwarten würde, nämlich sobald die Stadt im physischen Sinne errichtet ist (Ov. met. 3,131 Iam stabant Thebae); und die Bezeichnung Troiae steht sogar mehrfach ostentativ am Versende der dazugehörigen Gründungserzählung (11,199; 11,208; 11,215). Die Position Roms am Ende des Werkes wird also in mehrfacher Hinsicht relativiert, wenn man die Behandlung der anderen drei ›Hauptstädte‹ oder auch diejenige der weiteren Städte innerhalb des römischen Sagenkreises betrachtet: Städte wie Ardea, Croton und Epidaurus sind keine bloßen Hintergrundräume zum Hauptschauplatz Rom, sondern zeitweise gleichberechtigte Handlungsorte. Während das Geschehen im thebanischen sowie im trojanischen Sagenkreis stärker in der unmittelbaren Umgebung der jeweiligen Stadt verortet ist, treten in gewisser Analogie zum athenischen Sagenkreis auch im Fall Roms andere, geographisch weit entfernte Städte in Konkurrenz zur ›Hauptstadt‹. Das Rom von Ovids Metamorphosen wird somit zu einer Stadt unter vielen.

502 Theben: 137 Verse (3,1–137); Athen: 12,5 Verse (6,70–82a) im Rahmen der ArachneEpisode mit 145 Versen; Troja: 27 Verse (11,194–220).

7 Schluss

Die Darstellung und Funktion der Städte in den Metamorphosen wurde eingangs dieser Arbeit als ein Desiderat der Ovid-Forschung identifiziert. Die Wahl dieses Themas wurde gleichermaßen mit qualitativen wie mit statistischen Beobachtungen begründet: Im Verlauf des Werkes zeigt sich eine zunehmende ›Urbanisierung‹, d. h. eine stetige Zunahme von Episoden oder einzelnen Textstellen, die sich mit Städten beschäftigen. Besonders bemerkenswert erschien der Schwerpunkt der drei Buchpentaden auf thebanischen, attischen bzw. ­trojanisch-römischen Sagen. Insgesamt ließ sich dabei eine enorme Spannbreite an Verweisen auf und Darstellungen von Städten beobachten: Städte werden gegründet, befinden sich in Kriegen oder gehen unter; der Dichter rekurriert auf sie in Gleichnissen, Katalogen und anderen traditionellen epischen Bauformen, und mit Ardea wird schließlich sogar eine Stadt zum Objekt einer Verwandlung. Ziel dieser Studie war es daher, eine systematische Untersuchung all jener Textpassagen vorzunehmen, die sich mit Theben, Athen, Troja und Rom als den ›Hauptstädten‹ der Metamorphosen beschäftigen. Darüber hinaus wurden auch Episoden über ›kleinere‹ Städte wie Babylon, Megara und Karthago in die Analysen einbezogen. Ein lineares close reading großer Teile des Werkes, das den Schwerpunkt auf räumliche Aspekte legte, zeigte dabei zunächst an Einzelbeobachtungen, welchen Stellenwert und welche jeweilige Bedeutung das Stadtthema besitzt. Mit der Analyse des Textes anhand von Einzelepisoden wurde eine ganzheitliche Betrachtung des Werkes verbunden. Dabei wurde nicht nur die jeweilige Gesamtdarstellung der vier ›großen‹ Städte, sondern auch ihre mögliche Bedeutung als kulturhistorische Zwischenstationen auf dem Weg zum vermeintlichen telos Rom erörtert. In diesem Schlusskapitel blicke ich zunächst kurz auf das verwendete narratologische Begriffsinstrumentarium und dessen Stärken und Schwächen zurück. Danach versuche ich, aufbauend auf den Zusammenfassungen der inhaltlichen Hauptkapitel sowie auf den zahlreichen individuellen Erkenntnissen zu den einzelnen Städten und Episoden, die hier naturgemäß nicht resümierend dargestellt werden können, zu einem ganzheitlichen Blick auf das Stadtmotiv in den Metamorphosen zu gelangen: Wie gestaltet Ovid die literarische Stadt und inwiefern können die ersten drei ›Hauptstädte‹ des Werkes als Etappen auf dem Weg zur finalen Stadt Rom gesehen werden? Abschließend ordne ich die bei der mikroperspektivischen Analyse gewonnenen Erkenntnisse in übergreifende Diskurse der Ovid-Forschung ein: Was lässt sich aus den erzielten Beobachtungen für die Antwort auf die Frage nach der Gliederung des Werkes, der narrativen Technik und der Gattung der Metamorphosen ableiten?

362

Schluss

7.1  Rückblick auf die verwendete Terminologie und Methodik Wie eingangs bei der Vorstellung der methodischen und begrifflichen Grundlagen gezeigt wurde, lässt sich die vorliegende Untersuchung im Kontext des sogenannten spatial turn verorten. Diese Tendenz der geisteswissenschaftlichen Forschung hat für die Literaturwissenschaft im Allgemeinen und zunehmend auch in der Klassischen Philologie in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Wegweisende Studien zu raumbezogenen Fragestellungen über Ovids Metamorphosen entstanden bereits in den 1960er Jahren, also lange bevor die so bezeichnete forschungsgeschichtliche Wende konstatiert wurde. Die Einzelanalysen dieser Arbeit beruhen auf der maßgeblich von de Jong (2014) geprägten raumnarratologischen Terminologie. Ihre grundsätzliche Unterscheidung von in der Erzählung vorkommenden Räumlichkeiten in settings (›Schauplätze‹ oder ›Handlungsorte‹) und frames (hier übersetzt als ›Hintergrundräume‹) erwies sich als sinnvolles Mittel, um die tatsächlichen urbanen Schauplätze von solchen Orten zu differenzieren, die sich in großer räumlicher Entfernung dazu befinden und nur von Figuren oder dem auktorialen Erzähler evoziert werden, ohne dass die Handlung dort lokalisiert wäre. Als ein nützliches Instrument zur Deutung einzelner Handlungen bzw. Beschreibungen zeigten sich die gleichfalls von de Jong definierten functions of space: An zahlreichen Stellen wurde erörtert, auf welche Weise Ovid die thematische, symbolische, spiegelnde, charakterisierende oder psychologische Funktion des Raumes einsetzt. Ein wichtiges Hilfsmittel, das bei den Zusammenfassungen einzelner Kapitel sowie bei der Gesamtbetrachtung der vier ›Hauptstädte‹ angewendet wurde, ist das dreigliedrige Raummodell von Haupt (2004). Dieses Modell differenziert zwischen Räumen der Erzählung als Anschauungsraum, Aktionsraum bzw. gestimmtem Raum. So war es möglich, die einzelnen Episoden dahingehend zu betrachten, wie Figuren städtische und stadtnahe Räume durch ihr Sehen, Handeln oder Fühlen wahrnehmen bzw. welchen Einfluss der Raum hinsichtlich dieser drei Komponenten auf die Figuren ausübt. Die Verwendung des Modells half also – zusammen mit der Terminologie de Jongs – dabei, den keinesfalls nur ornamentalen Charakter der Raumdarstellung zu belegen und vor allem auch die mannigfaltigen Beziehungen zwischen Städten und Figuren zu untersuchen. Gleichwohl führte der strukturalistische Ansatz zu einer künstlichen Trennung der einzelnen Raumbereiche, die einer ganzheitlichen Raumwahrnehmung entgegensteht, wie sie nicht nur bei literarischen Figuren, sondern auch im realen Leben vorauszusetzen ist.

Die Städte der Metamorphosen als literarische Landschaften

363

7.2  Die Städte der Metamorphosen als literarische Landschaften Am Schluss der Hauptkapitel über Theben, Athen, Troja und Rom wurde erörtert, welches Gesamtbild der jeweiligen Stadt sich aus den zugehörigen Episoden ergibt. Auf diesen Zusammenfassungen aufbauend soll nun beschrieben werden, welche übergeordneten Erkenntnisse sich daraus über die Städte der Metamorphosen ableiten lassen: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen der Darstellung der vier ›Hauptstädte‹ und wie stellt Ovid in diesem Werk die Stadt im Allgemeinen als literarische Landschaft dar? Hierzu werden wiederum die drei Kategorien des Raummodells von Haupt (2004) verwendet.

7.2.1  Anschauungsraum – der verweigerte Blick auf die Stadt Ebenso wie die Naturlandschaften erscheinen auch die Städte der Metamorphosen zunächst häufig aus der Vogelperspektive.1 Während es im Fall Thebens und Roms jedoch der allwissende, aber distanzierte Blick des extradiegetischen Erzählers ist, der in großer Kürze die Gründung der jeweiligen Stadt konstatiert (3,131 Iam stabant Thebae; 14,774 f. urbis / moenia conduntur), blicken im Fall Athens und Trojas zunächst göttliche Figuren auf die gerade in die Erzählung eingeführte bzw. entstehende Stadt (2,714 deus aspicit ales [sc. Mercurius]; 11,199 f. novae primum moliri moenia Troiae / Laomedonta videt [sc. Apollo]). Menschliche Figuren hingegen nehmen die Städte kaum jemals visuell wahr: Im ersten Buch sind es die Meeresnymphen, welche die in der Sintflut versunkenen Städte unter der Wasseroberfläche betrachten (1,301 f. mirantur sub aqua lucos urbesque domosque / Nereides), und in Buch 15 trägt gerade die Tatsache, dass der Prätor Cipus seinen Blick von der Stadt abwendet (15,586 f. rettulit ille pedem torvamque a moenibus urbis / avertens faciem), zu seiner Charakterisierung bei. Diese Einzelbeobachtungen sind symptomatisch für Ovids Darstellung der Stadt in den Metamorphosen insgesamt: Zum einen werden die jeweiligen Städte meist nicht in synoptischer Form eingeführt, sondern ihr jeweiliges Bild kon­ stituiert sich erst im Lauf der Erzählung aus mehreren einzeln aufgeführten Elementen. Ekphraseis von Städten sind zwar durchaus vorhanden, doch befinden diese sich entweder gerade nicht bei der ersten Erwähnung einer Stadt (Athen: Buch 6 vs. Buch 2; Theben: Buch 13 vs. Buch 3) oder sie betreffen ›zweitrangige‹ Städte (wie etwa Megara in Buch 8). Zum anderen lässt sich beobachten, wie Ovid eine konkrete, anschauliche Beschreibung einer Stadt geradezu zu verweigern scheint: Oft fungieren allein die Mauern als pars pro toto für die Stadt selbst oder sie stellen zumindest ihr relevantestes topographisches Element dar.

1 Vgl. Hölsken (1959, 170); Segal (in Barchiesi [2005, cliii]).

364

Schluss

Über die Stadtmauern hinaus finden sich – anders als bei Ovids Schilderungen eines locus amoenus – keine weiteren räumlichen Elemente, die in der Gesamtschau einen topischen Charakter erhalten.2 Die optische Darstellung einer Stadt bleibt bis auf Ausnahmen unterdeterminiert: Der Text erzeugt meist keine anschauliche Raumwahrnehmung im Sinne des antiken rhetorischen Konzepts der evidentia,3 und wie Fondermann (2008, 20) richtig feststellt, entsteht die Anschaulichkeit der Metamorphosen nicht aus der Nähe zu realen Vorbildern wie etwa den Bauwerken des augusteischen Rom. Zwar kann die Darstellung eines literarischen Raumes – wie eingangs konstatiert – notwendigerweise niemals vollständig sein, aber es fällt dennoch auf, dass Ovid nur an wenigen Stellen einen Blick hinter die Mauern einer Stadt erlaubt wie etwa Vergil im zweiten Buch der Aeneis, wo die Handlung an festen, lokalisierbaren Punkten Trojas verortet ist. Die Rückschau des ovidischen Odysseus während des armorum iudicium (Ov. met. 13,123–381) reicht in ihrer Detailliertheit bei weitem nicht an diejenige des vergilischen Aeneas heran. Ein aufschlussreiches Beispiel für Ovids Umgang mit den vergilischen Städtedarstellungen liefert auch die Bearbeitung der Buthrotum-Episode: Während Vergil im dritten Buch der Aeneis zahlreiche topographische Elemente benennt, die die Stadt zu einem nachgebildeten Troja werden lassen, fasst Ovid diese prägnant in dem Ausdruck simulata … Troia (Ov. met. 13,721) zusammen. Die Beobachtungen zu den genannten Städten gelten auch für die Darstellung Roms in den Metamorphosen. Im Rahmen eines Vergleichs mit der Beschreibung der elegischen Geliebten Corinna äußert sich Reitz (2013, 291) folgendermaßen zum Anschaulichkeitsgrad Roms in der ovidischen Exildichtung: The main point is (am. 1,5,23): nil non laudabile vidi. The details (singula quid referam?) do not matter, it is the desirability and the availability which count. Corinna is the incorporation of desire fulfilled, and every reader can make his own image of that. It is in the same sense that the reader is prompted to fill in his own picture of Rome – or alternatively, to leave it empty. The poet is able, if he chooses so, to decline describ­ ing the object of his desire. The text hides more than it reveals [Hervorhebung: TB].

Dieses Fazit lässt sich auf den Großteil der Stadtdarstellungen in den Metamorphosen übertragen (das Kapitel zu Rom hat die wenigen Ausnahmen gezeigt):4 Ovid nennt zumeist nur eine minimale Auswahl realweltlich wiedererkennbarer

2 Vgl. Haupt (2004, 82 f.) zur literaturgeschichtlichen Konventionalisierung derartiger Elemente. 3 Vgl. Lausberg (1990, 399–407; bes. 399–401; 406 f.); Quint. inst. 9,2,44 Locorum quoque dilucida et significans descriptio eidem virtuti [sc. evidentiae] adsignatur a quibusdam, alii topographian dicunt; Reitz (2013, 289–292). 4 Vgl. insbesondere Kap. 6.7 zur Anschaulichkeit von Rom in der Asclepius-Episode.

Die Städte der Metamorphosen als literarische Landschaften

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Elemente einer Stadt, deren Gesamtbild aber muss der Leser gegebenenfalls eigenständig mental (re-)konstruieren.5

7.2.2  Aktionsraum – die Abkehr von der Stadt Die Mauern einer Stadt stellen nicht allein das wichtigste Merkmal ihres Anschauungsraums dar, weil sie diese oft metonymisch repräsentieren, sondern haben auch eine entscheidende Funktion für ihre Darstellung im Sinne des Aktionsraums. Zunächst einmal teilen sie den Raum in drei grundlegende Sphären: den Bereich innerhalb einer Stadt, die Mauern selbst als liminale Zone sowie den Bereich außerhalb. In der raumsemantischen Theorie wird Grenzen eine entscheidende Bedeutung zugemessen. Dies lässt sich in nahezu jeder hier untersuchten Episode nachvollziehen: Zahllose Figuren sind einer zentrifugalen Bewegung unterworfen, sie übertreten die Grenze zum Außenbereich und entfernen sich von ihrer jeweiligen Stadt.6 Diese Tendenz scheint sich von einer ›Hauptstadt‹ zur nächsten zu verstärken: Während sich die thebanischen Charaktere in die nähere Umgebung ihrer Stadt begeben (z. B. Pen­t heus zum Cithaeron), unternehmen die attischen Figuren Reisen in entferntere Gegenden (z. B. Philomela nach Thrakien) und die Trojaner fliehen gen Italien. Erst im römischen Abschnitt der Metamorphosen verändert sich dieses Muster teilweise: Hier gibt es ebenso Figuren, die einer zentripetalen Bewegung in Richtung Rom unterworfen sind, doch folgen die Geschichten teils vielmehr einer Zickzacklinie als einer eindeutigen Zielrichtung:7 Beispielsweise müssen die Römer erst nach Griechenland reisen, bevor sie von dort mit dem Heilgott Asclepius zurückkehren. Die Figuren der Metamorphosen sind also beständig unterwegs. Die Handlung verweilt nur selten innerhalb der Mauern einer Stadt. Analog zum ›verweigerten‹ Blick von Erzähler und Charakteren auf die Stadt lässt sich beobachten, wie einzelne Figuren die Stadt als Aufenthaltsort geradezu zu meiden scheinen: Aesacus und Aeneas fliehen (wenn auch auf jeweils ganz unterschiedliche Weise) aus Troja, Cipus verweigert sich Rom; dazu treten nur wenige Ausnahmen wie etwa das Freudenfest zur Rettung Athens durch Theseus oder die Ermordung Caesars mitten in Rom. Insgesamt repräsentieren die Bewegungen der Charaktere, insbesondere diejenigen von Osten nach Westen, den Wechsel der Erzählung von einer ›Hauptstadt‹ zur nächsten. Sie realisieren damit im Kleinen 5 Vgl. Kap. 1.3.5 zum rezeptionsästhetisch orientierten Konzept der Raumwahrnehmung durch mental maps. 6 Vgl. Bach (2020, 220); Kap. 1.3.1 zu ›revolutionären‹ Erzählungen gemäß der Raumtheorie Lotmans. 7 Vgl. Bach (2020, 76; 130; 138) zur zwischenzeitlichen Unterbrechung der generellen Ost-West-Dynamik an mehreren Stellen des Werkes.

366

Schluss

die translatio imperii, den schrittweisen Übergang der Weltherrschaft von Troja über Griechenland nach Rom.8

7.2.3  Gestimmter Raum – die wandelbare Wahrnehmung der Stadt Während die Beschreibung des städtischen Anschauungsraums im Allgemeinen unterdeterminiert erscheint und der Aktionsraum innerhalb einer Stadt meist wenig differenziert wird, ist der gestimmte Raum häufig der dominierende Faktor der Raumwahrnehmung. Die vermittelte Stimmung weist jedoch eine hohe Variationsbreite auf – anders etwa als bei der Evokation eines locus amoenus ist die Nennung einer Stadtmauer kein Mittel eines schematischen foreshadowing, das eine Atmosphäre kreieren würde, die auf einen spezifischen Handlungstypus der nachfolgenden Erzählung hindeuten würde.9 Zwar besteht eine vordergründige Analogie zwischen den topologischen Bereichen ›innen‹ und ›außen‹ einerseits und den semantischen Bedeutungen ›sicher‹ vs. ›gefahrvoll‹ andererseits (ein prägnantes Beispiel dafür ist die Reaktion der Bevölkerung angesichts der Bedrohung durch den calydonischen Eber: 8,298 f. Diffugiunt populi nec se nisi moenibus urbis / esse putant tutos), doch diese Dichotomie wird wiederholt aufgehoben: Athamas etwa macht den thebanischen Königspalast zu einem ebenso bedrohlichen Ort wie die Wildnis außerhalb (4,512 f. media furibundus in aula / clamat: »io, comites, his retia tendite silvis!«) und die Verschwörer gegen Caesar erheben sich ausdrücklich innerhalb des politischen Zentrums von Rom (15,801 f. neque enim locus ullus in Urbe / ad facinus diramque placet nisi Curia caedem). Die Städte der Metamorphosen sind mannigfaltigen Bedrohungen unterworfen. Deren Ursprung kann gleichermaßen göttlicher (z. B. Neptun vs. Troja in Buch 11) wie menschlicher Natur sein (z. B. Tereus vs. Athen in Buch 6). Diese Angriffe können sich wie im Beispiel Trojas gegen die gesamte Stadt oder auch nur gegen einzelne ihrer vornehmlich königlichen Bewohner richten wie im Fall der Entführung Philomelas; sie geschehen unabhängig davon, ob sich die Stadt bzw. ihr Herrscher eines Vergehens schuldig gemacht haben (so wiederum der trojanische König Laomedon) oder nicht (wie Philomela und ihr Vater Pandion). Die Bedrohungen können vollkommen objektiver Natur sein wie der Angriff der Griechen gegen Troja, sie können individuell verursacht sein wie die Einnahme Megaras in Buch 8 infolge von Scyllas Frevel gegen Vater und Vaterland oder auch nur eingebildet wie die von Bacchus ausgehende Bedrohung für Theben in 8 Vgl. Farrell (2019, 70 mit Fn. 56); Sharrock (2019, 292); Zissos (2019, 548); Bach (2020, 11). 9 Eine Ausnahme hiervon ließ sich in der Phaethon-Geschichte beobachten (vgl. Kap. 2.3).

Die Städte der Metamorphosen als Etappen auf dem Weg zum telos Rom?

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der Wahrnehmung des Pen­t heus. Die Vielfalt dieser Gefahren spiegelt letztlich die sich wandelnde, für einzelne Figuren wie für Landschaften oder die gesamte Erde (so bei der Sintflut und beim Weltenbrand) bedrohliche Welt der Metamorphosen wider. Obwohl oder gerade weil der gestimmte Raum – wie oben gesagt – die interessanteste Analysekategorie des hier verwendeten Modells ist, zeigt seine Bedeutung sich vor allem an einzelnen Textstellen, wohingegen sich weniger leicht Erkenntnisse über die Stadt im Allgemeinen ableiten lassen.

7.3  Die Städte der Metamorphosen als Etappen auf dem Weg zum telos Rom? Das Prinzip des ewigen Wandels, wie es der ovidische Pythagoras erläutert (15,165 omnia mutantur) und wie es die etwa 250 Verwandlungssagen der Metamorphosen illustrieren, steht in offenkundigem Widerspruch zu einer möglichen teleologischen Konzeption des Werkes.10 Die vergilische Aeneis ist bekanntlich auf Rom als Fernziel der weltgeschichtlichen Entwicklung ausgerichtet. Während jener Text aus der Vergangenheit auf die augusteische Stadt vorausblickt, betrachten die Metamorphosen umgekehrt die Vergangenheit aus der Perspektive des zeitgenössischen Rom. Beim Vergleich mit dem wichtigsten epischen Referenztext ergibt sich daher die bedeutsame Frage, inwiefern man hinsichtlich der Metamorphosen ebenfalls von einem römischen telos sprechen kann. Sharrock (2019, 311) stellt zutreffend fest, dass die Metamorphosen in einem gewissen Sinne ›teleologischer‹ sind als die Aeneis, da Ovids Erzählung die Gründung Roms nicht nur erreicht, sondern sogar über diese hinaus bis in die augusteische Gegenwart führt (Ov. met. 1,4 ad mea … tempora), während die Stadtgründung jenseits der erzählten Zeit der Aeneis liegt.11 Um die Frage nach dem telos der Metamorphosen genauer zu beleuchten, ging diese Studie von der These von Albrechts (2003, 165) aus, wonach Theben, Athen und Troja kulturhistorische Stationen auf dem Weg zur Weltstadt Rom am Ende des Werkes darstellen. Es wurde daher untersucht, ob und wie die ersten drei ›Hauptstädte‹ zielgerichtet auf Rom als finalen Schauplatz des Werkes hinführen und ob dieser sich grundlegend von jenen ersten Handlungsorten unterscheidet. Zwischen den Thebanern, den geflüchteten Trojanern einerseits und den römischen Schutzgöttern andererseits lassen sich Parallelen beobachten. Daraus könnte man vorschnell ableiten, Ovids Theben sei eine Präfiguration Roms. Angesichts der zyklischen Struktur des thebanischen Sagenkreises in den Metamorphosen, der mit dem Exil des Stadtgründers Cadmus endet, habe ich die ovidische Theben-Erzählung jedoch übereinstimmend mit Hardie (1990) als 10 Vgl. Schmidt (1991, 38–47); Bach (2020, 87). 11 Vgl. Galinsky (1975, 244 f.).

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Schluss

›Anti-Aeneis‹ bewertet, also als negatives Vorbild für die Gründung Roms. Auch der athenische Sagenkreis weist im Grunde eine zyklische Struktur auf, jedoch ließ sich eine ›Dekonstruktion‹ Athens in den Metamorphosen, wie Gildenhard/ Zissos (2004) sie postulieren, nicht eindeutig belegen. Daher ist die Stadt nicht spezifisch als Vorläuferin oder Gegenbild zu Rom, sondern eher als ›neutrale‹ kulturhistorische Zwischenstation beim Fortschreiten des Werkes zu sehen. Troja wiederum erschien aufgrund seiner dominierenden Präsenz in der Gesamterzählung als die ›heimliche Hauptstadt‹ der Metamorphosen. Die Stadt wird häufiger genannt als alle anderen; getreu der in Vergils Aeneis zutage tretenden römischen Ideologie stellt Ovid sie als Vorstufe für die Hauptstadt des Imperium Romanum dar, ohne aber die welthistorische Bedeutung des Bezugs zu Rom derart hervorzuheben, wie es mittels der berühmten Durchblicke in der Aeneis geschieht (Jupiter-Prophetie in Buch 1, Unterweltsschau in Buch 6 und Schildbeschreibung in Buch 8). Ovids Troja erweist sich als Prototyp einer eroberten Stadt: Jede einzelne Episode des zugehörigen Sagenkreises liefert neben der eigentlichen Handlung auch ein bisweilen explizites, bisweilen implizites foreshadowing des künftigen Untergangs. Das Rom der Metamorphosen hat nur vordergründig eine besondere Stellung inne, weil es als Schauplatz der finalen Episoden zum Schlusspunkt der ovidischen Weltgeschichte wird. Wie jedoch die Einzelanalysen gezeigt haben, unterscheiden sich die römischen Episoden keinesfalls grundlegend von denjenigen in und um andere Städte. Diese Beobachtung bestätigt sich in paradigmatischer Form im sogenannten Städtekatalog der Pythagoras-Rede: Rom wird darin zwar formal von Theben, Athen, Troja und weiteren griechischen Städten abgehoben, steht letztendlich aber doch in einer Reihe mit diesen und scheint damit nicht zwangsläufig von dem normalen ›Lebenszyklus‹ einer Stadt ausgenommen – von der Gründung über eine Phase der Blüte bis zum einstigen Untergang.12 Als Teil eines geschichtlichen Kontinuums ist Rom zwar die vorerst letzte Station der translatio imperii in den Metamorphosen, erscheint jedoch keinesfalls als zwangsläufiger, vom Schicksal oder von den Göttern vorherbestimmter Höhe­ punkt der Weltgeschichte. Ovids Rom fungiert somit als Antiklimax:13 Das Werk endet gerade nicht mit einer expliziten Bezugnahme auf den Palatin als Sitz der Residenz des Prinzeps oder auf das Kapitol als Garanten der Roma 12 Diese These steht im Einklang mit den dominierenden Forschungsansichten zu dieser Stelle; vgl. Kap. 6.5. 13 Vgl. Haupt (2004, 78–80) zu den möglichen Relationen zwischen den Teilbereichen eines Raums. – Die ›Hauptstädte‹ der Metamorphosen sind vornehmlich additiv miteinander verknüpft (wie es typisch ist für Werke mit episodenhaftem Charakter), d. h., sie stellen eine Aufreihung voneinander unabhängiger Orte dar; nur Troja und Rom sind – zumindest oberflächlich – kausal bzw. konsekutiv-final miteinander verbunden, da die zweite Stadt aus der ersten hervorgeht und mit Aeneas eine Figur den Weg zwischen diesen beiden Orten zurücklegt.

Die Städte der Metamorphosen als Etappen auf dem Weg zum telos Rom?

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aeterna. Stattdessen verlassen mythische und historische Figuren wie Romulus, Caesar und Augustus bei ihrer Apotheose die Stadt. Diese wird damit letztlich zu einem Ausgangspunkt reduziert und der städtische Raum öffnet sich in eine vertikale, kosmische Dimension.14 In gleicher Weise erhebt sich der Dichter selbst über die Stadt, wenn er im Epilog seine eigene Vergöttlichung imaginiert. Rom ist in den Metamorphosen ein Motiv unter vielen. Die Stadt stellt kein kulturhistorisches telos dar, sondern nur eine von mehreren Etappen in Ovids poetischer Weltgeschichte. Der Dichter prophezeit nicht die Ewigkeit Roms im Sinne eines imperium sine fine wie Vergil in der Aeneis (Verg. Aen. 1,279),15 sondern er schildert einen wechselvollen, nicht zielgerichteten Verlauf der Geschichte. Zahllose Interpreten der Metamorphosen haben darauf hingewiesen, in welch merkwürdiger Weise – besonders im Vergleich zur Aeneis – Ovid den römischen Mythos und die römische Geschichte im Einzelnen behandelt (vgl. Einleitung zu Kap. 6). Exemplarisch dafür kann die Tatsache angeführt werden, dass der Dichter sich dafür entscheidet, die Namen von 36 Jagdhunden des Actaeon anzuführen (Ov. met. 3,206–236),16 im Gegenzug dazu aber die Gründung Roms in einem einzigen Hexameter abhandelt (14,774 f.).17 Die so skizzierten augenscheinlichen Auffälligkeiten auf der Mikro- ebenso wie auf der Makro­ ebene haben – insbesondere in der Forschung der 1980er Jahre – dazu Anlass gegeben, Ovid zu einem Kritiker des augusteischen Prinzipats zu erklären und insbesondere auch seine Relegation so zu begründen.18 Als Gegenpol dazu wird die Ansicht vertreten, der Dichter sei ein treuer Anhänger des Regimes gewesen und habe römische Stoffe in seinem Werk systemkonform dargestellt.19 Abwägendere Positionen der jüngeren Forschung betonen zunächst, dass Ovids Rombild weniger politisch orientiert ist als dasjenige der Aeneis.20 Im Anschluss an diese überzeugende Tendenz wurde auch in dieser Arbeit versucht, eine ­biographisch-politische Deutung der römischen Episoden zu vermeiden und sie stattdessen primär unter literarischen Gesichtspunkten zu interpretieren.21 14 Vgl. Hardie (2018, 221 f.) zur Bedeutung der »vertical axis« angesichts der Apotheosen in den Metamorphosen. 15 Vgl. Rosati (2002, 281 f.). 16 Zum Katalog der Hunde vgl. Reitz (1999, 364 f.). 17 Vgl. Segal (in Barchiesi [2005, cxlviii]). 18 Vgl. vor allem Schmitzer (1990), der in verschiedenen Figuren der Metamorphosen politische Allegorien sieht. Für Kritik an einem solchen Zugang vgl. exemplarisch Miller (2004–2005, 166). 19 Vgl. exemplarisch Glenn (1986, 193 f.), der in Buch 15 der Metamorphosen »a serious glorification of Rome« sieht. 20 Vgl. O’Hara (2007, 130): »The poem may at once be said to be both subversive and curiously anti-subversive«; von Albrecht (2008, 228; in Lafaye [1971, xvi]). 21 Zur allgemeinen Problematik vgl. Kennedy (1992, 40): »The potentiality for subversion is inscribed in every use of every word.« Edwards (2000, 25) warnt (Bezug nehmend auf die Rom-Darstellungen der Ars amatoria und der Tristien) zu Recht: »The readings of a poem […]

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Schluss

7.4  Einordnung der Ergebnisse in übergeordnete Fragestellungen Wie in der Einführung erläutert, war es ein weiteres Ziel dieser Arbeit, neben der linearen räumlichen Analyse des Werkes implizit auch übergeordnete Fragestellungen zur Metamorphosen-Forschung zu behandeln. Die Erkenntnisse zur Diskussion um den Aufbau und die Gattung von Ovids längstem Werk sollen daher nun in den beiden abschließenden Teilkapiteln dargestellt werden.

7.4.1  Beitrag der Studie zur Frage nach dem Aufbau der Metamorphosen Die Gliederung dieses Buches und mithin sein grundlegender Zugang zu den ›Hauptstädten‹ der Metamorphosen beruhte auf der Annahme einer pentadischen Struktur des Werkes (vgl. Kap. 1.2.1), wie sie der ovidische Pythagoras zu bestätigen scheint (15,431–433):22 »nunc quoque Dardaniam fama est consurgere Romam, »Nun aber, so heißt es, erhebt sich Appenninigenae quae proxima Thybridis undis das dardanische Rom, das dicht an mole sub ingenti rerum fundamina ponit.« den Wogen des im Apennin entsprungenen Tibers unter gewaltiger Mühe den Grund zu einem Weltreich legt.«

Die parallele Stellung von Theben, Athen und Rom (zusammen mit dem in Vers 15,424 explizit genannten und in 15,431 durch Dardaniam mitgedachten Troja) scheint nahezulegen, dass diese Städte bewusst den geographischen Rahmen der drei Buchpentaden abstecken.23 Wie die Untersuchungen zur Präsenz dieser Städte gezeigt haben, decken sich die jeweiligen expliziten Stadtdarstellungen jedoch nur teilweise mit den Werkdritteln: In den ersten zwei Büchern ist vornehmlich von namenlosen Städten die Rede (wobei Vorverweise einen Bezug zu Rom herstellen), erst ab Buch 3 dominiert Theben die Erzählung (allerdings über das Ende der ersten Pentade hinaus); die Gegenwart Athens ist trotz der Gründungserzählung zu Beginn von Buch 6 nicht mit der mittleren Buchpentade identisch. Die Erzählungen über Troja und Rom hingegen weisen eine hohe Deckungsgleichheit zur Schlusspentade auf. Das Stadtmotiv lässt sich also in geringerem Maße als die poetologisch deutbaren Passagen in den Schlussbüchern der Werkdrittel als Hinweis auf eine cannot be controlled by the author; the interpretations of a monument cannot be controlled by the builder.« 22 Vgl. Kap. 6.5 zur Echtheitsfrage und zur Interpretation dieser Verse. 23 Vgl. Feeney (1999, 18) zu Städten als Motiv am Übergang zwischen den Pentaden; von Albrecht (2014, 92) zur Pythagoras-Rede als Bestätigung für die Pentaden-These.

Einordnung der Ergebnisse in übergeordnete Fragestellungen

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pentadische Gliederung anführen. Nehmen wir aber umgekehrt eine solche Werkstruktur an, erweisen sich die Städte zumindest im Ansatz als stützendes Argument dafür. Zugleich aber haben wir gesehen, wie dieses Motiv auch zur Illustration der These einer ›symphonischen‹ Struktur der Metamorphosen dienen kann, wie sie von Schmidt (1991) vorgeschlagen worden ist. Die ›Hauptstädte‹ finden sich teilweise – sei es durch implizite Verweise, sei es durch explizit auf sie bezogene Episoden – bereits vor den eigentlich ihnen ›zugewiesenen‹ Werkdritteln: Rom wird in Buch 14 gegründet, doch die römische Realität scheint von Beginn des Werkes an durch; Trojas Gründung wird in Buch 11 erzählt, der erste Bezug auf die Stadt findet sich jedoch bereits im sechsten Buch (ausgerechnet im Zuge der Gründung Athens); der eigentliche attische Zyklus beginnt in Buch 6, die erste in Athen spielende Episode aber steht schon in Buch 2 (also vor der Gründung Thebens). Ähnliches gilt für das ›Verklingen‹ der jeweiligen Städte: Der thebanische Sagenkreis endet nicht im fünften, sondern im sechsten Buch, und noch in den Büchern 9 und 13 wird auf Geschehnisse um diese Stadt verwiesen; die Bezüge zu Athen scheinen sich im Lauf der zweiten Pentade zu verlieren; Troja bleibt auch nach dem Untergang der Stadt in Buch 13 ein wichtiger Bezugspunkt der Erzählung. Alle drei genannten Städte bleiben insofern bis zum Schluss des Werkes präsent, wo sie in der vielfach zitierten Pythagoras-Rede aufgeführt werden. Bereits Due (1974, 138) konstatierte hinsichtlich der Debatte um den Aufbau der Metamorphosen: But it is not the case that there is only one correct solution to the problem of composition in the Metamorphoses. There are many. And which one is relevant depends upon the approach […]

Diese auf den ersten Blick unbefriedigend erscheinende These konnte durch die Untersuchung der Stadtmotivik bekräftigt werden: Wie die Darstellungen, Nennungen und Verweise von bzw. auf Theben, Athen, Troja und Rom zeigen, lassen sich auch anhand der Städte mehrere einander überlagernde Gliederungsprinzipien beobachten.24 Angesichts des auch anderweitig konstatierten metamorphischen Charakters des Werkes muss ihre parallele Existenz keinesfalls einen logischen Widerspruch darstellen.

24 Vgl. Rosati (2002, 277–281); von Albrecht (2003, 155); Vogel (2014, 279).

372

Schluss

7.4.2  Beitrag der Studie zur Frage nach der narrativen Technik und Gattung der Metamorphosen Die Gründung von Städten, der Kampf um sie und ihr Untergang sind seit jeher ein bedeutendes Thema der antiken Epik.25 Gerade die beiden prototypischen Epen der griechischen und lateinischen Literatur der Antike handeln in entscheidender Weise von Städten: Die homerische Ilias erzählt vom Krieg um Troja, Vergils Aeneis ist perspektivisch ganz auf die Entstehung Roms ausgerichtet. Da der generische Status der ovidischen Metamorphosen nach wie vor als höchst umstritten gilt, erschien es sinnvoll, diesen exemplarisch auch danach zu evaluieren, wie Ovid in diesem Werk von Städten erzählt.26 Im Zuge ihrer exemplarischen Untersuchung einiger wichtiger epischer Bauformen bemerkt Sharrock (2019, 295 f.): The narrative of Aeneas’ journey from the dying Troy to proto-Rome – on the one hand really present, but on the other hand, abbreviated and subordinated to Ovidian stories, and yet, on the third hand, playing a crucial role alongside other East-West journeys towards the telos of the poem – may stand symbolically for a crucial element in Ovid’s epic technique. He ticks the boxes, but decorates them in such complex and idiosyncratic ways that we sometimes lose sight of the tick [Hervorhebung: TB].

Diese Feststellung über ein Kernelement des vergilischen Mythos und dessen Wiedergabe bei Ovid, namentlich über die Reise der Aeneaden von Troja nach Rom, gilt ebenso für den Umgang des Dichters mit diesen Städten selbst: Beispielsweise ist Troja von der Gründung bis hin zum Untergang in den Metamorphosen präsent, doch die Stadt und ihre weltgeschichtliche Bedeutung treten großenteils hinter die Darstellung individueller Schicksale zurück.27 Der Dichter schildert den Fall Trojas, doch hat er für dieses Ereignis nur wenige Worte übrig, während er etwa der Verwandlung von Königin Hecuba mehrere hundert Verse widmet. Ähnliches gilt für das ovidische Rom: Die Metamorphosen gehen – wie oben beschrieben – zeitlich sogar über das telos der vergilischen Aeneis hinaus, doch die wichtigsten Ereignisse der römischen Geschichte werden entweder derart kurz (so etwa die Stadtgründung) oder auch gar nicht (so beispielsweise die Punischen Kriege) abgehandelt, dass eine inhaltlich und stilistisch völlig andersartige Stadthistorie entsteht, als man sie aus anderen epischen und historiographischen Texten kennt. Statt einer Roma aeterna stehen im letzten Werkteil Verwandlungssagen im Mittelpunkt. Ovid nimmt also hinsichtlich des Städtethemas extreme Verschiebungen gegenüber Homer, Vergil und anderen Autoren vor. Dabei gilt das Gleiche wie 25 Vgl. Bachvarova (2016, 36–38). 26 Vgl. Kap. 1.2.2 zu anderen möglichen Kriterien wie Schlachtszenen, Gleichnistechnik etc. 27 Vgl. Solodow (1988, 137–142).

Einordnung der Ergebnisse in übergeordnete Fragestellungen

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für seinen generellen Umgang mit bedeutenden Referenztexten verschiedener Gattungen: Je bekannter ein Mythos in der literarischen Tradition ist, desto kürzer behandelt Ovid ihn meist.28 Häufig entfernt er einen essenziellen Faktor aus einer Geschichte oder verwendet einen solchen im Zusammenhang mit einer epischen Bauform, in der man ihn am wenigsten erwarten würde. Dies zeigt sich wiederum paradigmatisch im Umgang mit den Stoffen des Trojanischen Krieges, etwa wenn Ovid – wie eben angeführt – den faktischen Untergang der Stadt nur kurz resümiert, ihn dafür aber zuvor im Rahmen einer elegisch geprägten Liebesgeschichte ohne einen direkten Bezug zu dieser Stadt durch ein Gleichnis präfiguriert (Ov. met. 11,507–536; vgl. Kap. 5.2). Einerseits lässt sich somit ein konventioneller Umgang mit epischen Bauformen beobachten, da deren Teile sämtlich vorhanden scheinen, doch andererseits verwendet Ovid diese Teile in so innovativer Weise, dass man sie nur indirekt wiedererkennt. Durch diese fehlende ›Balance‹ behauptet und unterminiert der Dichter den epischen Status der Metamorphosen zugleich, wie Sharrock (ebd., 275 f.) anhand anderer Motive ausführt. Dieser Umgang mit der literarischen, insbesondere epischen Tradition – namentlich die Verkürzung, Erweiterung oder Gewichtsverlagerung von bekannten Stoffen – sollte jedoch nicht vorschnell als Kritik des Dichters an seinen Vorgängern oder gar an der augusteischen Ideologie gedeutet, sondern in erster Linie als eine literarische Technik gesehen werden, die Ovid auf Städte genauso wie auf andere Motive anwendet.29 Die unterschiedliche Darstellung und Funktionalisierung von Städten in den verschiedenen Mythen der Metamorphosen fügt sich überdies in den Variantenreichtum, mit dem Ovid die Stadt im Allgemeinen und Rom im Besonderen in seinen verschiedenen Werken behandelt. Schon bei der Untersuchung des Weltaltermythos haben wir gesehen, dass diese jeweils unterschiedliche Bearbeitung des Stadtthemas im Grundsatz keine ovidische Besonderheit darstellt, sondern dass auch Dichter wie Vergil urbane Motive je nach Ausrichtung des jeweiligen Werkes funktionalisieren (vgl. Kap. 2.1).

Ausklang: Ovids Städte als literarische Landschaften Nach dem zweiten Buch der Metamorphosen verschwinden die unmittelbaren Vorverweise auf Rom aus der Erzählung. Die Suche nach dem Grund hierfür bezeichnet Feeney (1999, 27) als ungelöste Forschungsfrage. Einen Teil der Antwort auf diese Frage hat die vorliegende Studie dadurch zu geben versucht, 28 Vgl. Solodow (1988, 29–34); Farrell (2019, 69 f.) zu Ovids Umgang mit vorhandenen Mythenstoffen. 29 Tissol (1997, 181) betont demgemäß, dass Ovid seinen Erzählstil auch bei der Behandlung der trojanischen und römischen Stoffe in den letzten Metamorphosen-Büchern nicht ändert.

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Schluss

dass nachgezeichnet wurde, in welch vielfältiger Weise Ovid die Stadtthematik auch in den restlichen Büchern des Werkes bearbeitet. Theben, Athen, Troja und Rom spielen jeweils eine zentrale Rolle für die Mythen aus den zugehörigen Sagenkreisen. Die Bedeutung dieser und weiterer Städte für die ganzheitliche Interpretation des Werkes ist bisher in der Forschung eher unterschätzt worden. Durch paradox anmutende Verschiebungen wie die Darstellung einer ›urbanen‹ Unterwelt in Buch 4 sowie durch Gleichnisse und andere narrative Mittel bleibt die römische Realität einerseits im gesamten Werkverlauf präsent,30 andererseits nehmen bis zum Ende des 14. Buches andere Städte zwischenzeitlich die urbane ›Hauptrolle‹ des Werkes ein. Zugleich aber substituiert der Dichter in gewisser Weise alle vier ›Hauptstädte‹ der Metamorphosen, wenn er etwa statt von einer genuin thebanischen Tragödie von einer Liebesgeschichte in Babylon berichtet, die Belagerung Athens durch diejenige Megaras ersetzt, den Fall Trojas zugunsten einer Darstellung der Verwandlung der italischen Stadt Ardea verkürzt oder statt der Gründung Roms lieber ausführlich von derjenigen Crotons erzählt. Die bei der Betrachtung des Stadtmotivs gewonnenen Erkenntnisse auf der Mikro- wie auf der Makroebene, insbesondere zur polymorphen Werkstruktur sowie zum innovativen Umgang mit traditionellen epischen Bauformen, bestätigen übergreifende Sichtweisen der Forschung bezüglich der Gestaltung der Metamorphosen. Diese Ergebnisse rechtfertigen damit auch den für diese Untersuchung gewählten literarischen Zugang zu Ovids wohl vielschichtigstem Werk: Die Städte der Metamorphosen sind in erster Linie nicht realweltlich, historisch oder politisch deutbare, sondern literarische Landschaften.

30 Vgl. Bach (2020, 82–89) zur beständigen Funktionalisierung italischer und römischer Orte als Hintergrundräume (lieux dans l’histoire); Geitner (2021, 108 mit Fn. 122) zur Präsenz des ›Römischen‹ auch in den Büchern 3–13.

8 Literaturverzeichnis

Es werden nur Editionen solcher Werke angeführt, die wörtlich zitiert sind; alle anderen Verweise beziehen sich auf gängige Ausgaben der Bibliotheca Teubneriana oder der Oxford Classical Texts. Die Abkürzungen für Zeitschriften richten sich nach der Année Philologique.

8.1 Primärliteratur 8.1.1 Ovid Dörrie, H. (1971), P. Ovidii Nasonis Epistulae Heroidum (TuK 6), Berlin. Anderson, W. S. (21982), P. Ovidii Nasonis Metamorphoses, Leipzig. Owen, S. G. (1984 [Orig. 1915]), P. Ovidi Nasonis Tristium libri quinque. Ibis. Ex Ponto libri quattuor. Halieutica. Fragmenta, Oxford. Alton, E. H. / Wormell, D. E. W. / Courtney, E. (31988), P. Ovidi Nasonis Fastorum libri sex, Leipzig. Kenney, E. J. (1995 [Orig. 1961]) P. Ovidi Nasonis Amores. Medicamina faciei femineae. Ars amatoria. Remedia amoris, korr. Ndr., Oxford. Tarrant, R. J. (2004), P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, Oxford.

8.1.2  Andere Autoren in alphabetischer Reihenfolge Page, D. L. (2009), Aeschyli septem quae supersunt tragoedias, Oxford. Seaton, R. C. (31954), Apollonii Rhodi Argonautica, Oxford. Mynors, R. A. B. (91958), C. Valerii Catulli carmina, Oxford. Giomini, R. (1975), Marcus Tullius Cicero, De divinatione. De fato. Timaeus, Leipzig. Powell, J. G. F. (2006), M. Tulli Ciceronis De re publica. De legibus. Cato maior de senectute. Laelius de amicitia, Oxford. Skutsch, O. (1985), The Annals of Quintus Ennius. Ed. with introd. and commentary, Oxford. Solmsen, F. / Merkelbach, R. / West, M. L. (31990 [Orig. 1970]), Hesiodi Theogonia. Opera et dies. Scutum. Fragmenta selecta, Oxford. West, M. L. (1998), Homeri Ilias, 2 Bde., Berlin. Allen, T. W. / Halliday, W. R. / Sikes, E. E. (1963 [Orig. 1936]), The Homeric hymns, Amsterdam. Shackleton Bailey, D. R. (42008), Q. Horatius Flaccus, Opera, Berlin. Conway, R. S. / Walters, C. F. (1951 [Orig. 1914]), Titi Livi ab urbe condita, Bd. 1: Libri I–V, Oxford. Conway, R. S. / Walters, C. F. (1961 [Orig. 1919]), Titi Livi ab urbe condita, Bd. 2: Libri VI–X, Oxford. Walsh, P. G. (1999), Titi Livi ab urbe condita, Bd. 6: Libri XXXVI–XL, Oxford. Shackleton Bailey, D. R. (21997), M. Annaei Lucani De bello civili libri X, Stuttgart.

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9 Register 9.1 Ortsregister Actium  342 Adriatisches Meer  101 Aegina  138, 146, 154, 319 Aesar  282 f. Afrika  251 f., 334 Agora  68, 154 Ägypten  55, 334, 342 f., 346 Akropolis  59, 111, 114 f., 117, 119, 127 f., 145, 154, 157, 201 Alba Longa  246, 264–267 Alcathoe  siehe Megara Alexandria  335 Alpen  239 Andros  222 f. Antandrus  226 Antium  319, 327, 329 f. Ardea  18, 245, 250, 254–262 passim, 360 f., 374 Areopag  111 Argolis  110, 323 Argos  76, 106, 110 Arkadien  25, 59, 239, 266 Athen  passim Aulis  160, 212 Ausonien  251 Aventin  263, 266, 316, 357 Babylon  82–88 passim, 106, 361, 374 Balearen  115 Böotien  54 f., 64 f., 69, 225 Britannien  335, 346 Buris  47, 302 Buthrotum  161, 228–230 passim, 251, 296, 364 Cadmeia  59 Calydon  20, 131 f., 366 Cebrenus  186 Chios   77 Cithaeron  72, 78–82, 87, 106 f., 365 Claros  171, 173 Cleonae  131 Colchis  138 Cromyon  144 Croton  18, 30 f., 250, 268, 277–285 p ­ assim, 306, 360, 374

Cumae  247 Cures  270, 279 Delos 20, 77, 161, 219–228 passim, 234 Delphi, Delphisches Orakel  61–64, 68–70, 106, 172, 277, 284, 319 f., 322 f., 329 f. Domus Famae  93, 160, 245 Domus Invidiae  113, 117 f., 120, 155 Domus Somni  172, 178 Eleusis, Eleusinische Mysterien  121, 144 Elis  113 Ephyre  siehe Korinth Epidaurus  144, 320, 323, 325, 329 f., 360 Epirus  228 Etrurien  309–311, 317 Europa  62 Forum  93, 108, 242 Forum Romanum  241, 331, 338 f., 343, 345, 347, 357 Gallien  334 f. Granicus  186 Griechenland  passim Helice  47, 302 Hellespont  164 f. Hesperien  183, 185, 187, 235 Himmel  49 f., 52, 99, 115, 120, 124, 270, 272, 274, 276, 331, 336–338, 341, 343 f., 346 f., 351, 358 Himmelsarchiv  347 Himmelspalast  244 Hypaepa  126 Ida  163, 183, 186, 205, 220, 232 Ilion  160, 163  siehe auch Troja Illyrien  100 f., 104 f. Imperium Romanum  8, 168, 239, 262, 269, 272, 306, 323, 354, 360, 368 Indien  136 Iolcos  141 Ionien  173 Ionisches Meer  283

Ortsregister Italien  passim, siehe auch Ausonien, ­Hesperien Janus-Tor  271, 275 f. Kanopus  342 Kapitol  156 f., 241, 266, 268, 270, 275, 313, 316, 342 f., 345, 347, 357, 368 Karthago  98, 109, 165 f., 232, 245, 250–254 passim, 289, 305, 360 f. Kleinasien  54, 69, 80, 252 Korinth  132, 138, 141 f. Kreta  62, 110, 138, 146–148, 151, 155, 227 f. Kurie  202, 207, 338 f., 347, 357 Latium  37, 223, 250, 254, 257, 264, 267 f., 312, 322 Lavinium  264–267, 327 Lemnos  198 f., 204, 207, 210 Libyen  174, 251, 253 Lydien  126, 164 Lyzeum  114, 116, 120, 154 Makedonien  341 Mäonien  77, 80 Marathon  144 Marsfeld  241, 273 Megara  18, 30, 61, 112, 144, 146–152 ­passim, 154–156, 361, 363, 366, 374 Messene  131 Mittelmeer  98, 161, 337 Munichia  114 Mutina  341 Mykene  131, 286, 290, 292, 302, 304, 307 Naxos  77 f., 81 Numicus  264 Oeta  359 Orchomenos  58, 83, 91 Palatin  50, 241, 244, 264, 266, 273–276, 310, 343, 345 f., 357 f., 368 Pallanteum  239, 264, 266 f., 285, 356 Parnass  45 Peloponnes  323 Pharsalus  341 f. Philippi  341 f. Phönizien  21, 59 f., 70, 74, 80, 105, 252 f., 358

399

Piräus  114, 137 Po  51 f. pomerium  312–314, 317 f. Pontus  334 porta Raudusculana  316 Pylos  113 Quirinal  274–276, 357 regia 96, 345 Regia Solis 31, 49 Rhoeteum  164, 232 Rhone  51 f. Rhypes  277, 281, 284 Rom  passim sieben Hügel  225, 241, 274 f., 356 f. Samos  287 Schwarzes Meer  139, 192 f., 242 f. Scyrus  197, 200 f. Sidon  62, 69 f., 120  siehe auch Tyrus Sigeum  164, 198, 232 Simois  205, 230 Sizilien  121, 161, 228, 251, 253 f. Skäisches Tor  159, 191, 215, 230 Skythien  112, 122–124, 143, 154 f. Sparta  110, 131, 286, 290, 292, 302, 304, 307 Styx  92 Sulmo  243 Tabularium  339 Tarpejischer Felsen  270 Tartarus  89, 92, 95, 193, 195 Tempel Apollo  172, 222, 230, 241, 319, 327, 329 f., 345 Asclepius  318, 320, 323–325, 329 f., 358 Bacchus  73, 81 Caesar  331, 341 Diana  222 Jupiter  241, 266, 357 Latona  222 Mars Ultor  243 Minerva  114, 214 Romulus/Quirinus  274 Vesta  337, 345 Theben (Ägypten)  55 Theben (Böotien)  passim sieben Tore  31, 55, 106, 225 Thermodon  192 Thessalien  138, 140, 341, 359

400

Register

Thrakien  30, 112, 130, 132–135, 137 f., 154 f., 163, 167, 213, 219, 221, 226 f., 232, 234, 365 Tiber  51 f., 241, 293 f., 307, 310, 316, 327 f., 357 Tiberinsel  320 f., 328, 358 Tibermündung  327, 330 Tmolus  126, 164 Tomis  243 f. Trachis  171 f., 178–180 Troas  159, 164, 167, 170, 205, 226, 231 f. Troezen  132

Troja  passim Tyrrhenien  57, 72, 76, 81, 90 Tyrus  62, 74, 76, 80, 252  siehe auch Sidon Unterwelt  89–96, 99 f., 106, 108, 110, 117 f., 121, 193, 195, 337, 344, 368, 374  siehe auch Tartarus Veji  238 Xanthus  230

9.2 Sachregister Aufgrund der Vielzahl von zugehörigen Belegstellen sind die folgenden Begriffe nur außerhalb der Einzelanalysen indiziert: Aktionsraum / Anschauungsraum / gestimmter Raum; Raumfunktion; Handlungsort / Hintergrundraum / Schauplatz. Begriffsdefinitionen sind durch Fettdruck hervorgehoben. Abbruchformel  132, 201, 288, 342 Aition, Aitiologie  86, 111, 129, 147, 151, 157, 240, 256 f., 260, 271, 279, 293, 309, 316, 319, 321 Aktionsraum  23, 28, 107, 155, 233, 358, 362, 365 f. Aktualisierung  114, 235, 244, 356  siehe auch Romanisierung alexandrinische Fußnote  84, 91, 147, 189, 280 allegorische Ortsbeschreibung  25, 93, 154 f., 160, 178  siehe auch Domus Famae, Domus Invidiae, Domus Somni Anachronie  131 Anachronismus  42, 114, 141, 287, 292, 302, 305, 328 Analepse  90, 116, 131, 144, 148, 174, 180, 184, 190, 195, 215, 222, 227, 233, 305 Anschauungsraum  28, 106, 154, 232, 358, 362, 365 f. Anti-Augusteismus  242, 248, 336, 349 Apotheose  108, 246 f., 250, 257, 261, 263 f., 266–269, 272–277, 279, 294, 299, 320, 331–333, 335, 340 f., 343–349, 351, 353 f., 356, 358 f., 369 Atthis  111, 153

Bacchanalien  71 Barbaren  30, 123 f., 130, 132–139, 143, 155, 239, 259 Botenbericht  79, 82, 105, 215 Buchpentaden  8, 10, 15 f., 19 f., 56, 104, 111–113, 125, 152 f., 163, 230 f., 235, 245, 320, 355, 361, 370 f. Bukolik  siehe Gattung Bürgerkrieg römisch  189, 239, 331, 341 f. thebanisch  42, 67, 69 Chronotopos  23 cognitive trigger  32 Drama  siehe Gattung Ekphrasis  19 f., 30 f., 49, 51 f., 57, 61, 68, 79, 81, 84 f., 91, 94, 99, 106 f., 113, 117, 125, 127–129, 147, 151, 154, 157, 164, 178, 220, 224–227, 231, 235, 328, 363 Elegie  siehe Gattung Entscheidungsmonolog  139, 149, 151 Epischer Kyklos  54, 105, 158, 160–162, 188, 209, 231

Sachregister Epos  siehe Gattung Epyllion  siehe Gattung Erinnerungsort  siehe lieu de mémoire Erzähler auktorial 79, 83, 105, 128, 135, 161, 188, 224, 297, 331, 362 autodiegetisch  353 extradiegetisch  30 f., 43, 51, 74, 133, 363 intradiegetisch  31, 74, 84, 182, 280 f., 331 evidentia  364 exemplum  76, 90, 235, 290, 318, 333, 343 f. Exil  63, 68, 70, 100–105, 108, 213, 220, 243, 311, 313, 367  siehe auch Verbannung fatum 184, 187, 234, 310, 313 Flugreise  124, 141, 154 Fokalisierung  30, 239 anonym 31 extern  218 hypothetisch  31 intern  69, 114, 186, 192 f., 207 Gallier-Ansturm  156, 238 Gastfreundschaft  122–124, 219, 228, 234, 280, 284 Gattung  16–18, 22, 24, 57, 241 Bukolik  17, 186 Drama/Komödie/Tragödie  17, 55 f., 58, 72, 78 f., 82, 105, 158, 195, 209, 215 f., 237 Elegie  17, 87, 119 f., 184, 187, 240 f., 273, 356, 373 epische Bauform  17 f., 89, 153, 327, 361, 372–374 Epos  13, 16–18, 20, 23, 55, 72, 77, 79, 82, 90, 94, 103, 118, 210, 231, 237, 239, 245, 247–249, 253, 272, 306, 321, 356, 367, 372 f. Epyllion  182 Fabula praetexta  237 Historiographie  246, 264, 272, 337, 372 Kreuzung der Gattungen  17 Lehrgedicht  38, 241 gestimmter Raum  28, 107, 155, 234, 359, 362, 366 f. Gleichnis  20, 71, 86, 92, 106 f., 115, 133, 136, 160, 172, 174–176, 181, 245, 361, 373, 374  siehe auch Vergleich Goldenes Zeitalter  siehe Zeitaltermythos Götterversammlung  127 f., 157, 273, 345

401

Grabmal  85, 88, 190, 197, 217 f., 277, 283 f. Grenze  passim Handlungsort  8, 26 f., 29 f., 104, 106 f., 112, 153–155, 160, 231, 241, 246, 357, 360, 362, 367  siehe auch Schauplatz Häuser  34, 41, 43–46, 48, 83 f., 87, 118, 217, 260 f., 338 Heroisches Zeitalter  siehe Zeitaltermythos Heterotopie  22 Hintergrundraum  26 f., 29, 105, 112 f., 154 f., 234 f., 356, 360, 362 Historiographie  siehe Gattung immigrant object  31 imperium sine fine  236, 299, 369 intradiegetische Erzählung  83, 212, 227, 278 f. Katabasis  90 f., 94, 100  siehe auch Nekyia Katalog  19 f., 51, 141, 143 f., 201, 203, 245, 267–269, 283, 294, 301 f., 304 f., 307, 326, 344, 361 Kataloggedicht  288 Städtekatalog  16, 19 f., 51, 57, 112, 130–132, 153, 166, 201, 268, 284, 286 f., 290–292, 294, 298–302, 304–307, 326 f., 329 f., 368 Kenotaph  174, 230 Kleine Aeneis  185, 245, 250, 257 f., 262 Kleine Ilias  42, 161 f., 188, 196, 231, 245 Kolonie  61, 264, 277, 291 Kolonisationsnarrativ  61, 284, 360 Königszeit  238 ktisis  108, 158, 164, 176, 269, 278, 281, 284 f., 360  siehe auch Stadtgründung Kultur Kulturentstehung  34 f., 41, 45, 123 f. Kulturhistorie  8, 35, 107, 156, 235, 354, 361, 367–369 Kulturpropaganda  121, 124 Kulturtechnik  37, 121 f. Landleben  37, 182, 240 Landwirtschaft  36, 40, 43 f. Leerstelle  32, 239 lieu de mémoire  283, 316 Liminalität  23, 29, 83, 152, 365 locus amoenus  52 f., 65, 85, 106, 364, 366

402

Register

locus est  79, 117, 147, 225 locus horribilis  65, 85, 106 Mauerschau  siehe Teichoskopie mental map  32 Metapoetik  203, 205, 208, 273, 285, 340 Musenanruf  320 f. Mythenchronologie  42, 54–56, 59, 61, 67, 75, 110, 132, 152, 158 f., 169, 287, 355 Mythographie  59, 61, 163 Nekyia  89, 91, 195  siehe auch Katabasis Oikist  277  siehe auch Stadtgründer Orakel  60, 63 f., 70, 109, 165, 171 f., 210, 219, 223, 227, 278, 281, 283, 313, 322, 324  siehe auch Delphi, Delphisches Orakel Palilien  269 Panathenäen  110, 114 f., 119, 121, 146 Panoramaperspektive  31, 73, 119  siehe auch Fokalisierung Paraklausithyron  87, 119 Parodie  38, 247 f., 285 pax Augusta  343 Pentade  siehe Buchpentade Personifikation (räumlich)  76, 85, 93, 167, 187, 192 f., 200, 204, 313, 341 Pest auf Aegina  154, 319 auf Kreta  227 in Athen  154 in Rom  320–322, 330, 359 in Theben  20, 57, 225, 227 f. philoxenia  siehe Gastfreundschaft pietas  63, 220, 223, 228, 235, 313, 325 polis  34, 110, 157, 306 Prinzipat  242, 273, 330, 351, 354, 369 Prolepse  131, 144, 156, 158, 190, 209, 211, 227 props  26, 329 Punische Kriege  237, 246, 372 Raumfunktion  362 charakterisierend  30, 105, 358, 362 ornamental  29 psychologisch  30, 107, 362 spiegelnd  29, 235, 358, 362 symbolisch  29 f., 107, 155, 362

thematisch  29, 106, 154, 355, 362 Relegation  siehe Verbannung republikanische Zeit  39, 158, 237, 246, 315 f., 318 f., 330 Rhetorik  195 f., 235, 304, 364 Roma aeterna  299, 302, 352 f., 368 f., 372  siehe auch urbs aeterna Romanisierung  181, 244, 340  siehe auch Aktualisierung Ruinen  47, 289 rusticitas  38, 240, 242 Schauplatz  8, 18, 20, 23, 25 f., 29, 104 f., 107, 112 f., 152–154, 157, 160 f., 232–234, 237, 355 f., 359 f., 362, 367 f.  siehe auch Handlungsort Schifffahrt  36, 39, 43, 77, 124, 154, 181, 284 Seesturm  172, 174–176, 181, 251, 283, 327 Senat  71, 308 f., 313, 315, 317 f., 322–324, 338, 341, 344, 346, 358 setting  26 f., 29, 362 Sieben gegen Theben  55, 57, 59, 105 spatial frame  26 f., 29, 362 spatial turn  21–24, 29, 362 Staatsschiff  181 Stadt Gründer  45, 59, 61 f., 64, 67, 69, 71, 75 f., 80 f., 100 f., 104, 108, 144, 189, 266, 271 f., 274 f., 277–279, 284, 340, 358, 367 Gründung  9, 18 f., 29 f., 34, 54, 57, 59–62, 65–71, 74, 76, 80 f., 100 f., 103, 106, 108 f., 111, 114, 125 f., 147, 152, 158–160, 162–166, 168–171, 181, 193, 209, 218, 230 f., 233–235, 237–239, 245 f., 252, 257, 262–264, 266, 268–270, 272 f., 275–278, 282–285, 294, 312, 319, 339, 345, 356, 358–360, 363, 367–372, 374  siehe auch ktisis Mauer passim Name  61, 110, 125–129, 142, 152, 154, 253, 255 f., 262, 269, 291–293, 307, 360 Untergang  9, 18 f., 33, 47 f., 51, 53, 55, 76, 95, 106, 109, 131, 156, 158–160, 166, 168– 177, 181, 183, 186–190, 192–194, 209–213, 216, 218, 220, 227 f., 234 f., 256–262, 264, 281, 286 f., 289–292, 295 f., 298, 300, 302, 306 f., 336 f., 359, 368, 371–374 Subversion  157, 248 f., 349 symphonische Struktur  16, 104, 153, 231, 371

403

Stellenregister Synchronismus  115

urbs capta  18, 164, 177, 260 f.

Teichoskopie  146, 148, 152, 215 f. Teleologie, telos  18, 108, 157, 235, 239, 245, 361, 367, 369, 372 Theater  56, 67, 71, 79, 82, 107 f., 215, 242, 245 Toponym  21, 32, 220, 252 Tragödie  siehe Gattung translatio imperii  306, 366, 368 Triumph  203, 334 f., 346 Troia resurgens  294, 300 Trojanischer Krieg  passim Trojanisches Pferd  212

Vaterland  139, 217, 279, 311, 366 Verbannung  101, 242 f., 369  siehe auch Exil Vergleich  20, 156 f., 175–177, 205, 244, 344, 356  siehe auch Gleichnis Vergöttlichung  siehe Apotheose Vogelperspektive  113, 165, 169, 306, 363  siehe auch Fokalisierung

Unbestimmtheitsstelle  32 Unterweltsschau  100, 368  siehe auch ­Katabasis Urbanisierung  9, 19, 361 Urbanität  44, 53, 273 urbs aeterna  157, 159, 168, 236, 269, 359  siehe auch Roma aeterna

Weltaltermythos  siehe Zeitaltermythos Zeitaltermythos  33–44 passim, 46, 373 Goldenes Zeitalter  47 f., 53, 240, 340, 345 Heroisches Zeitalter  54, 304 zentrifugal  106, 154, 232, 365 zentripetal  358, 365 Zwölftafelgesetz  39

9.3 Stellenregister Aeschyl. Sept. 652 759 f. A. R. 3,1088 f. Catull. 64,15 Cic. div. 1,48,107 Cic. rep. 1,58 Enn. ann. fr. 47 Sk. fr. 54 Sk. fr. 110 Sk. Hes. op. 131 150 161–165 189 Hes. scut. 270–272 Hom. h. 3,226

177 177 45 46 263 260 263 273 272 34 34 34 34 225 55

Hom. Il. 1,284 3,229 4,52 6,5 7,211 9,419 Hor. ars 147 Hor. carm. 1,7,5–7 2,16,29 3,5,2 f. 3,30,1 3,30,2 3,30,8 f. Hor. carm. saec. 65 Hor. epod. 16,64 Hor. sat. 1,3,105 Liv. praef. 6

204 204 131 204 204 202 160 125 259 346 350 351 353 240 34 35 350

404 Lucan. Lucr. Mart. Ov. am. Ov. ars Ov. epist. Ov. fast.

Register 1,6,3–7,3 1,16,1 1,16,7 2,10,12 5,49,7 10,47,6 39,9 39,15 39,16

265 273 295, 344 315 238 320, 322 72 72 72

1,1 5,672 9,969 9,999

189, 342 177 289 159

1,1 1,25 2,77 3,1090 5,412 5,955 5,1108 f. 5,1440 6,1 f. 6,1–4

325 280 288 36 47 35 35 36 122 f. 155

10,1,1 f. 14,192,2

320 15

1,5,23 1,15,7 f. 1,15,9 f. 1,15,25 f. 1,15,26 1,15,41 f. 3,6,33 3,8,41 f. 3,8,47 3,10,7–14

364 352 205 353 295 352 75 44 37 37 f.

2,277 2,277 f. 2,473–475 3,113 3,127 f.

345 38 41 38, 242, 345 242

16,117

211

1,263 f. 1,274 1,291 f.

270 271 319

Ov. Ib. Ov. met.

1,489 f. 1,511 1,517 1,523 1,540 2,61 2,143 2,280 2,481–483 2,483 2,487 2,491 2,511 3,24 3,69 3,72 3,83 3,566 3,617 3,697–699 3,701 3,703 f. 3,707 4,265 f. 4,571 f. 4,589 4,802 f. 4,807 4,811 f. 4,826 4,830 4,836 4,839 f. 4,839–844 4,848 4,873 f. 6,297 6,358 f. 6,427 f. 6,495 f. 6,665 6,683

70 77 295 294 70 299 267 281 272 352 273 273 274 274 269 299 131 325 186 331 331 331 341 324 52 63 282 266 190 64 68 267, 275 39 267 267 259 337 52 197 97 282 328

282

214

1,1 f. 288 1,2 f. 320 1,3 f. 8, 42, 332 1,4 16 f., 183, 245, 324, 341, 367 1,89–150 33–44

405

Stellenregister 1,121 48 1,168 91 1,175 f. 50, 244 1,201 333 1,204 333 1,217 114 1,218 280 f. 1,253–312 44–48 1,301 f. 118, 363 1,414 42, 46 1,521 f. 324 2,1–400 49–53 2,1 31 2,5–7 200 2,136 344 2,259 294 2,406 f. 51 2,438 186 2,536–539 156 2,642 329 2,642 f. 322 2,708–832 113–121 2,714 363 2,794–796 144 2,796 156 2,834 f. 119 3,1–137 59–71 3,3 101 3,4 f. 281 3,5 101, 103 3,6 f. 103 3,55 102 3,111 114 3,131 76, 95, 166, 360, 363 3,131 f. 102 3,143 57 3,155 57 3,161 57 3,336 f. 270 3,511–733 71–82 3,522 f. 338 3,528 143 3,548 f. 31, 95 3,708 f. 106 4,36–166 82–88 4,58 148 4,73 151 4,164 134 4,416–542 88–100 4,416 f. 126



4,432 106, 143 4,512 f. 366 4,563–603 100–104 4,565 f. 333 4,567 337 4,575 136 4,608 f. 76 4,617 252 4,672 170 4,689 f. 170 4,803 101 5,341–343 122 5,474–477 122 5,642–661 121–124 6,1–145 125–129 6,73 157 6,95 156 6,177–179 61 6,178 f. 291 6,412–674 130–138 6,576 141 6,720 f. 40 7,1–452 138–145 7,101 157 7,410 56, 91 7,449 f. 157 7,452 156 7,515 f. 322 7,723 143 7,763 f. 156 8,6–154 146–152 8,15 f. 144 8,16 144 8,17–20 215 8,56 f. 300 8,71 134 8,98 144 8,101 343 8,200 f. 210 f. 8,225 344 8,298 f. 366 8,328 334 8,709 259 9,66 56 9,231–233 199 9,232 169 9,403 f. 42 9,408 103 10,29 88 10,167 f. 322 10,607 f. 126

406

Register 11,25 f. 245 11,194–220 163–171 11,199 220, 360 11,199 f. 363 11,202–204 191 11,204 92 11,208 360 11,215 337, 360 11,270 181 11,284 281 11,297 f. 181 11,299 f. 82 11,410–748 171–181 11,749–795 182–187 11,759 313 11,792 236 12,20 190, 212 12,20 f. 177 12,25 f. 163 12,44–46 93 12,48 93 12,149 39 12,225 177, 261 12,580–619 187–195 12,584 161 f. 12,587 163 12,593 165, 204 12,620–13,398 195–208 13,169 220 13,212 39 13,281 193 13,375 190 13,399–428 209–219 13,404 190, 258, 298 13,406 142 13,421 260 13,429 218 13,483 f. 217 13,500 191 13,500 f. 194 13,501 188 13,502 f. 194 13,505 200 13,510 217, 218 13,570 189 13,622 236 13,623–704 219–228 13,685 31, 128 13,686 31 13,720–723 228–230 13,721 364



14,75–84 250–254 14,163 f. 259 14,416 18 14,456 267 14,507 261 14,566–580 254–262 14,573 f. 298 14,578 f. 177 14,583 267, 272 14,588 f. 335 14,590 f. 96 14,609 f. 267 14,772–851 262–277 14,774 359 14,774 f. 358, 360, 363 14,789 f. 173 14,808 f. 294 14,813 340 14,823 f. 314 14,849 328 15,1–59 277–285 15,18 244, 312 15,35 315 15,60 287 15,68 280 15,160–164 296 15,165 285, 308, 367 15,262 f. 328 15,287 f. 328 15,293–295 47 15,295 51 15,296 132 15,418–452 285–308 15,429 166 15,430 123, 156 15,431 32 15,431–433 370 15,435 328 15,440 258 15,447 328 15,449 351 15,506 132 15,552–621 308–318 15,586 f. 358, 363 15,622–744 318–330 15,727 f. 267 15,736 274, 312 15,744 359 15,745–870 330–348 15,771 103 15,801 f. 366

Stellenregister 15,833 150 15,843 f. 325 15,846 351 15,860 350 15,861 349 15,871–879 348–355 15,876 291 15,879 346 Ov. Pont. 1,3,37 243 1,3,77 f. 60, 92 2,10,21 236 Ov. trist. 1,1,1 244 1,1,117 15 1,2,77 157 1,3,1 190 1,3,15 325 1,3,26 261 1,3,27 338 1,3,33 f. 325 2,53 f. 346 2,63 334 2,207 242 2,261 325 2,262 325 2,319 f. 67 2,555 f. 210 3,1,1 244 3,7,51 f. 353 3,11,10 88 3,14,19 15 4,3,23 180 4,10,88 99 4,10,109 337 5,2,35 352 5,7,43 96 Pind. O. 9,43 f. 45 Prop. 2,8,7–10 306 2,32,31 282 4,1,87 159, 294 4,6,59 331 Quint. inst. 4,2,83 196 4,2,87 196 8,3,67 261 9,2,44 364 Sen. contr. 2,2,8 195

407

Serv. Aen. 2,486 264 6,359 287 7,412 255 Stat. Theb. 8,227 f. 145 Tibull. 1,3,67 f. 95 1,3,71 f. 95 2,5,48 259 Val. Fl. 1,1 f. 40 Val. Max. 1,8,2 320, 323, 329 5,6,3 313, 316 Varro ling. 5,32,143 318 Varro rust. 3,1,2 54 3,1,2 f. 59 Verg. Aen. 1,1 174, 258 1,1 f. 311 1,2 63, 76, 226 1,3 63 1,4 189 1,5 239 1,7 165, 202 1,12 f. 225, 250, 289 1,13 f. 327 1,33 36, 239, 279, 294, 336, 339 1,68 298 1,118 f. 174, 220 1,158 251 1,162 f. 98 1,264 190 1,279 236, 299, 369 1,282 298 1,286–288 299 1,287 343 1,298 253 1,366 165 1,367 f. 316 1,376 76 1,378 325 1,437 252 1,458 189 1,530 185 1,753 68 2,3 300

408

Register 2,49 2,54–56 2,234 2,289 2,295 2,326 f. 2,404 2,501 2,550 2,557 f. 2,571 2,610–612 2,624 f. 2,625 2,655 3,2 f. 3,28 f. 3,43 3,44 f. 3,60 3,79 3,96 3,97 f. 3,163 3,185 3,349–351 3,374 3,377–380 3,393 3,432 3,462 3,504 f. 3,524 3,539 4,10 4,103 4,323 4,541 f. 5,629 5,811 6,43 6,61 6,127 6,438 6,462 6,463 f. 6,532 6,541

124 76 92 281 63 306 214 210 214 174 200 194 216 175 185 216 221 221 167 221 221 223 298 185 185 229 297 230 281 148 230 230 328 77 68 252 68 164 185 171, 205 92 185 92 96 92 186 103 92

6,548 f. 6,555 f. 6,563 6,673–675 6,773–776 6,792–794 6,851 6,853 7,45 7,203 f. 7,324 f. 7,343 7,411 7,411–414 7,412 7,572 f. 7,641 7,791 8,46 8,99 8,313 8,321 f. 8,375 8,398 f. 10,163 12,502 12,618 f. 12,771 12,828 12,926 f. 12,940 f. 12,946 f. Verg. ecl. 4,6 4,9 4,16 4,31–33 4,35 9,47 Verg. georg. 1,126 f. 1,363 f. 1,489 f. 1,501 f. 2,502 2,511 f. 4,479

92 95 89 92 291 37 323 256 334 37 94 99 256 254 256 211 320 224 312 352 274 37 190 76 320 183 282 79 307 258 258 256 36 36 36 37 36 331 44 254 341 164 340 282 96