Genese und Gültigkeit von Epochenbegriffen: Theoretisch-methodologische Prinzipien der Periodisierung [Reprint 2021 ed.] 9783112502747, 9783112502730

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Genese und Gültigkeit von Epochenbegriffen: Theoretisch-methodologische Prinzipien der Periodisierung [Reprint 2021 ed.]
 9783112502747, 9783112502730

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Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der DDR

Genese und Gültigkeit von Epochenbegriffen

AKADEMIE-VERLAG

BERLIN

Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der DDR

Jahrgang 1973 • Nr. 1

E. Engelberg / W. Bahner W. Dietze / R. Weimann

Genese und Gültigkeit von Epochenbegriffen Theoretisch-methodologische Prinzipien der Periodisierung

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1974

Vorträge und Diskussionsbeiträge der Akademiemitglieder Ernst Engelberg, Werner Bahner, Walter Dietze und von Prof. Dr. Robert Weimann im Plenum der Akademie der Wissenschaften der DDR am 19. April 1973 Herausgegeben im Auftrage des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der DDR von Vizepräsident Prof. Dr. Heinrich Scheel

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 Copyright 1974 by Akademie-Verlag, Berlin Lizenznummer: 202 • 100/227/74 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestellnummer: 7525410(2010/73/1) • L S V 0105 Printed in GDR EVP 4 , -

Inhaltsverzeichnis

Ernst

Engelberg

Theoretisch-methodologische Prinzipien der Periodisierung Thesen Vortrag Werner

5 9

Bahner

Zur Einordnung der „Aufklärung" in die literarhistorische Periodisierung Thesen Vortrag Walter

Dietze

„Renaissance" als Problem kulturhistorischer Periodisierung Diskussionsbeitrag Robert

41

Weimann

Zur historischen Bestimmung des 17. Jahrhunderts Diskussionsbeitrag

i*

25 29

und

Periodisierung

der

Literaturgeschichte 47

3

Ernst Engelberg

Theoretisch-methodologische Prinzipien der Periodisierung

- Thesen 1. Die Periodisierung, fürs erste und in allgemeiner Weise gekennzeichnet als Setzen von Zäsuren und Bestimmen des Inhalts und des historischen Platzes der einzelnen Zeitabschnitte innerhalb der Weltgeschichte, soll uns helfen, tiefer zu dringen im Erkennen des objektiven Geschehens (vgl. These 10). 2. Alle für die Periodisierung relevanten Fakten müssen im Zusammenhang mit der Dialektik von Basis und überbau des gesellschaftlichen Lebens betrachtet und gewertet werden. Dabei wird dem Klassenkampf als „nächster treibender Macht" (MEW, Bd. 19, S. 165) eine besondere Bedeutung zugemessen. 3. Im Klassenkampf tritt die Dialektik von objektiven und subjektiven Faktoren, die für die Geschichte so charakteristisch ist, besonders sichtbar zutage. Ein besonderes Augenmerk ist stets auf die die Entwicklung tragenden und sie vorwärtstreibenden gesellschaftlichen Kräfte zu richten, z. B. im 18. Jahrhundert auf die Bourgeoisie, seit dem 19. Jahrhundert auf die historische Mission der Arbeiterklasse. 4. Naturgemäß werden für die Periodisierung Entwicklungen und Ereignisse des politischen Klassenkampfes - nie zu übersehen: stets auf der Basis der Entwicklung der Produktionsverhältnisse - vorrangig Berücksiditigung finden müssen. Der Systemcharakter der gesellschaftlichen Struktur schließt jedoch nicht aus, sondern erfordert sogar, daß auch Momente aus anderen Bereichen des Klassenkampfes (des ökonomischen, militärischen, ideologischen, kulturellen) für die Zäsuren herangezogen werden und oft besonderes Gewicht haben. 5. Obwohl die einzelnen Teilbereiche der gesellschaftlichen Struktur und Entwicklung relativ selbständig sind, dürfen sie nicht klassenindiiferent periodisiert werden; Klassenstruktur, Klassenbeziehungen und Klassenkampf stellen nun einmal den wesentlichen Zusammenhang von Struktur und Entwicklung

5

der Gesellschaft her. Es gibt keinen noch so speziellen Teilbereich der Gesellschaft, der von den Produktions- und Klassenverhältnissen unabhängig wäre. 6. Bei der Periodisierung der vielgestaltigen Kunst und Wissenschaft sind jeweilig die in der Ökonomie verwurzelten Beziehungen der Klassen untereinander und zum Staat, sowie der Charakter der Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern, zu berücksichtigen. Oft wird das Problem der Kongruenz oder Diskrepanz in dem chronologisch-genetischen Ablauf der verschiedenen Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens besondere Schwierigkeiten bereiten und damit auch Meinungsverschiedenheiten hervorrufen. 7. Wenn bei der Setzung von Zäsuren unter Umständen eine Summe von historischen Fakten zu berücksichtigen ist, dann geht es um jene Fakten, die sich aul die verschiedenen Aspekte der Produktions- und Klassenverhältnisse beziehen. Wir stoßen bei der Periodisierungsarbeit auf Schritt und Tritt auf die Bündelung derartiger Fakten. Dabei bedeutet Bündelung von Fakten nicht einfach ihr summierendes Zusammenfassen, sondern erfordert darüber hinaus die Analyse des spezifischen Gewichts, das die einzelnen Fakten historisch jeweilig besitzen - besonders im Sinne des Weiterwirkens. 8. Wenn Einschnitte in der Geschichte vor allem dort zu sehen und zu fixieren sind, wo mehr oder weniger ausgeprägte qualitative Veränderungen im Wechselspiel von Basis und überbau, von Ökonomie und, Klassenkampf Situation, am augenfälligsten zum Ausdruck kommen, dann sind möglichst konkrete historische Daten oder doch einige mehr oder weniger dicht nebeneinander liegende Daten zu wählen. Die Neigung, Einschnitte im geschichtlichen Verlauf über viele Jahrzehnte und manchmal Jahrhunderte zu erstrecken, kann leicht zur Verwischung der qualitativen Veränderung führen. Um Periodisierungseinschnitte zu fixieren, sind solche charakteristische, d. h. qualitative Veränderungen anzeigende Daten zu wählen, die uns gestatten, im oben angedeuteten Sinne Bündel von Fakten zu erfassen, die in der zeitlichen Nähe dieser Daten liegen. 9. Bei der Periodisierung mit ihren Zäsuren (Einschnitten) besteht die Gefahr, daß geschichtliche Lebensfäden auseinandergerissen werden. Nach dem von Lenin vermittelten Bewußtsein, daß Einschnitte (Zäsuren) relativ sind, sollten wir mehr mit den Begriffen Knoten- und Wendepunkte arbeiten. 10. Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor: Die Periodisierung soll die Entwicklung und Lösung von Widersprüchen, die sich in der Dialektik von Produktivkräften, Produktions- und Klassenverhältnissen und ihren Uberbau6

erscheinungen zeigen, im Zusammenhang mit der gesetzmäßigen Abfolge der Gesellschaftsformationen und deren verschiedenen qualitativen Phasen zum Ausdruck bringen. Stets zielt die Periodisierung darauf ab, qualitative Veränderungen im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts zu kennzeichnen. .11. Um die Bedeutung und den historischen Platz der verschiedenen Periodisierungsabschnitte annähernd adäquat zu kennzeichnen, ist ein System von Begriffen notwendig. Es werden solche Begriffe wie Epoche, Periode, Etappe, Phase angewendet. Wir können von einer Begriffshierarchie im System der Periodisierung sprechen. 12. Die ökonomische Gesellschaftsformation ist der grundlegende Periodisierungsbegriff. Da jedoch während der bisherigen Geschichte die verschiedenen Gesellschaftsformationen niemals in reiner Form existierten, sich weltgeschichtlich selbst nach den bedeutsamsten Revolutionen nur etappenweise durchsetzten, ja auch gleichzeitig nebeneinander existierten, ferner eine Zeit der Entstehung, der Blüte und des Niedergangs hatten, reicht die Einteilung nach Gesellschaftsformationen nicht aus. Es entstand deshalb das Bedürfnis und die Notwendigkeit, den Begriff der Epoche zu verwenden, und zwar a) als Synonym des Begriffs der Gesellschaftsformation, die in den entwicklungsbestimmenden Zentren der Weltgeschichte jeweils dominiert, b) zur Bezeichnung für den Zeitraum des Übergangs von einer Gesellschaftsformation in eine andere, c) für große Entwicklungsstadien innerhalb einer Gesellschaftsformalion oder innerhalb einer Ubergangsepoche. Nur in diesen Zusammenhängen ist die Frage, ob und wie gängige Begriffe wie Epoche (oder Periode) der Renaissance, der Aufklärung etc. wissenschaftlich vertretbar sind, zu beantworten. Auf jeden Fall steht der Begriff der Epoche in unauflöslicher dialektischer Verbindung mit dem Grundbegriff der ökonomischen Gesellschaftsformationen und ihrer Abfolge. 13. Da die Periodisierung die Entwicklung und Lösung von Widersprüchen, die sich in der Dialektik von Produktivkräften, Produktions- und Klassenverhältnissen und ihren Uberbauerscheinungen zeigen, zum Ausdruck bringen soll, stoßen wir notwendigerweise auf das Verhältnis von Evolution und Revolution. 14. Zäsuren (Knoten- und Wendepunkte), die aus qualitativen Wandlungen des Bestehenden erwachsen, dürfen nicht höher bewertet werden als solche, die revolutionäre Höhe- und Wendepunkte setzen; die letzteren sollten nicht ausschließlich als Folge der ersteren, sondern auch unter dem Blickpunkt ihrer weiteren zukunftsweisenden Auswirkung betrachtet werden (vergleiche die Zäsu7

renpaare: 1453 bzw. 1 4 7 0 - 1 5 1 7 ; 1 7 6 3 - 1 7 8 9 ; 1 9 0 0 - 1 9 1 7 ) . Die Frage, wie Höhepunkte des Klassenkampfes oder ihnen vorangehende Strukturwandlungen bei der Zäsurensetzung zu bewerten sind, berührt eine eminent wichtige Grundposition der materialistisch-dialektischen Geschichtsauffassung. 15. Zu den Begriffen, die zusammen mit den unter Nr. 11 erwähnten Begriffen für die Periodisierung zumindest der Klassengesellschaften berücksichtigt werden sollten, gehören u. a.: a) Begriffe des historischen Materialismus, wie Evolution als widerspruchsvolle Entwicklung, d. h. auch als Klassenkampf, Revolution als höchste Form des Klassenkampfes, als „Lokomotiven der Geschichte" (Marx); Verhältnis von Staat - Revolution - Staat; System charakter der Gesellschaftsformation und die wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Bereiche in Basis und überbau; b) Periodisierungsbegrifle, die sich auf die neuere Zeit beziehen, wie Übergangsepoche vom Kapitalismus zum Sozialismus; letztes Stadium des Kapitalismus oder Vorabend der proletarischen Revolution; Übergangsepoche vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus ( 1 8 7 1 - 1 9 0 0 ) ; allgemeine Krise des Kapitalismus und ihre Etappen. 16. Die unter 15 b) erwähnten Begriffe können auch für frühere Epochen und Perioden den konkreten historischen Umständen entsprechend angewendet werden (z. B. Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus). Stets ist dabei der materialistisch-dialektische Historismus zu wahren, indem man die Besonderheiten der jeweiligen historischen Entwicklungsstufe und die Dialektik von Inhalt und Form in den verschiedenen Gesellschaftsformationen berücksichtigt.

8

Ernst

Engelberg

Theoretisch-methodologische Prinzipien der Periodisierung

Die Klasse „ E r b e u n d Gegenwart" stieß w ä h r e n d der Diskussion ü b e r literarhistorische Epochenbegriffe, insbesondere über den der „ A u f k l ä r u n g " , auf die theoretisch-methodologischen Probleme der allgemeinen Periodisierung. Daraus entstand das Verlangen, ein Ausschnitt dieser Problematik möge heute in einem Kurzreferat einleitend behandelt werden. Unter d e m Blickpunkt der ursprünglichen Fragestellung beziehen sich meine Betrachtungen, wie es auch meine Thesen getan haben, auf die Geschichte der Klassengesellschaften oder auf die, wie es f r ü h e r hieß, „geschriebene Geschichte". I m m e r wieder stehen Vertreter der verschiedenen Disziplinen der Natur- u n d Gesellschaftswissenschaften, wenn sie sich über kürzere oder längere Strecken der Geschichte ihrer eigenen Disziplin einen Uberblick verschaffen wollen, vor der Frage, in welchem gesellschaftlichen G e s a m t z u s a m m e n h a n g u n d in welchem R h y t h m u s sich diese Entwicklung vollzog, schließlich, welchen Charakter die einzelnen Zeitabschnitte, Knoten- u n d W e n d e p u n k t e hatten. Die Periodisierung drängt sich nicht allein in solchen speziellen Fällen auf, sondern auch in unserem politischen u n d kulturellen Leben, d e m wir passiv oder aktiv v e r b u n d e n sind. W i r können der Erinnerung an das, was w a r - sagen wir an Krieg u n d Nachkrieg - , u n d des Fragens nach dem, was wohl sein werde kalter Krieg oder dauerhafter Frieden —, schwerlich entraten. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, wir sind n u n einmal durch unzählige F ä d e n mit d e m historischen Geschehen v e r b u n d e n . Aus dem B e m ü h e n , diese unzerreißbaren Fäden doch noch zu zerreißen, ergeben sich ganz vertrackte Konsequenzen. W e r nämlich sein Geschichtsbewußtsein auf die eine oder a n d e r e Weise zu verdrängen oder zu verdunkeln versucht, der wird in Blindheit befangen u n d gefangen, statt d a ß er Freiheit gewinnt in der geschichtlichen Gebundenheit - so wie jeder ein Gefangener u n d Opfer der Politik wird, der nicht ihr bewußter Mitgestalter sein will oder k a n n . Die Reflexion, die sich mit der Vergangenheit wie mit der Z u k u n f t des engeren u n d weiteren Bereichs menschlichen Lebens u n d Wirkens befaßt, gehört n u n einmal z u m vollen, freien Menschentum. 9

Die Periodisierung gehört zu jenen Mitteln, die Ordnung in das geschichtliche Material bringen sollen. Dabei geht es nicht um starre und äußere Schubfachordentlichkeit, sondern um das Eindringen in die Dynamik des geschichtlichen Lebens, um das Erkennen des objektiven Geschehens. Das Resultat dieses notwendigen Bemühens, nämlich das Einteilen des gesamtgeschichtlichen Ablaufs in Epochen, dieser wiederum in Perioden oder Stadien, dann weiter in Etappen und Phasen, schließlich das Setzen von Zäsuren (von Knoten- und Wendepunkten) - das alles zeigt, daß die Periodisierung nicht nur Mittel, sondern auch Zweck ist. Bis zum heutigen Tage ist jedoch die Periodisierung, die nicht deskriptiver Chronologismus sein will, durch die Gewohnheit konventionellen und subjektiven Gutdünkens belastet. Es bieten sich leichter Hand Begriffe an, wie Altertum, Mittelalter, Neuzeit oder Renaissance, Barock, Aufklärung, Romantik. Realismus usw. usw. - Begriffe, die entweder aus großen Zeiten geschichtlichen Selbstverständnisses stammen oder die ursprünglich nur künstlerische Stile bezeichneten, aber dann zu allgemeinen Epochenbegriffen mißbraucht wurden. Besonders übel wird gerade heute wieder der Begriff des Barock überstrapadenn je relativiert werden. Wir sind in der Entwicklung und Verteidigung unseres sozialistischen Geschichtsverständnisses an einen Punkt gelangt, wo uns ein Unbehagen gegenüber den erwähnten Epochenbegriffen erfaßt. Wenn auch einige keineswegs aus dem wissenschaftlichen Gebrauch kommen können, so müssen sie doch stärker den je relativiert werden. Aber nicht die Neufassung der Epochenbegriffe - wie etwa in These 12 macht die eigentliche Schwierigkeit der Periodisierung aus, sondern die historisch adäquate Zusammenschau der verschiedenen Bereiche der Ökonomie, Politik und Kultur (eben der Basis und des Uberbaus einer Gesellschaft) in einem gegebenen Zeitraum. Diese Zusammenschau muß einen klar umrissenen Charakter einer Epoche oder einer Periode oder noch kürzeren Entwicklungsphase erkennen lassen. Hier stoßen wir auf Grundfragen der materialistisch-dialektischen Geschichtsauffassung. Nach dieser Geschichtsauffassung ist ein näher bezeichneter Zeitabschnitt (eine Epoche und in ihr eine der Perioden etc.) mehr als ein chronologischer Begriff, der lediglich durch ein Anfangs- oder Enddatum gekennzeichnet ist. Der rein chronologische Begriff ist auch in der bürgerlichen Wissenschaft nicht zu halten. Das Bedürfnis nach einheitlicher Kennzeichnung ist so übermächtig, daß ideologiegeschichtliche Begriffe herangezogen werden, um diese oder jene Epoche zu kennzeichnen. Und dennoch leugnet die bürgerliche Wissenschaft die sozusagen substantielle Einheit eines Zeitalters; sie hebt vielmehr hervor, daß sich die Einzelbereiche

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des geschichtlichen Lebens im Prinzip unabhängig voneinander entwickeln. Nach der nichtmarxistischen Wissenschaft sind die ökonomischen, sozialen, politischen, wissenschaftlichen, religiösen und anderen Bereiche grundsätzlich autonom. Doch ist andererseits das geschichtliche Material so erdrückend, daß keiner der ernsthaften bürgerlichen Wissenschaftler eine Interdependenz der verschiedenen Bereiche (bzw. Faktoren) abstreiten kann. Diese Interdependenz wird auch öfters beschrieben, aber nicht erklärt - aus dem einfachen Grund, weil an der Autonomie der Faktoren (oder Bereiche) grundsätzlich festgehalten wird. Die traditionelle Faktorentheorie wird nicht aufgegeben. Demgegenüber hebt der Marxismus-Leninismus das Relative in der Autonomie der verschiedenen Bereiche hervor. Hier sind zwei Aspekte zu betrachten: Der historische Materialismus ist unerbittlich in der Grundauffassung, daß alle diese Bereiche am Ende, wenn auch durch mehr oder weniger zahlreiche Zwischenglieder vermittelt, in der Produktion und Reproduktion des Lebens der Menschen, d. h. in den verschiedenen Produktionsweisen, verwurzelt sind. Damit ist der grundsätzliche Unterschied zur bürgerlichen Faktorentheorie, die die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nirgends zentriert, gegeben. Andererseits haben bei allem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang und bei aller Verwurzelung in der materiellen Produktion des Lebens die verschiedenen Bereiche der Basis und des Überbaus ihre eigenen inneren Struktur- und Entwicklungsgesetze. Das macht ihre Autonomie aus, auch wenn sie noch so relativ ist. So ist es nicht zuletzt bei den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen oder Kunstgattungen, also bei gesellschaftlichen Bereichen des Uberbaus. Das zieht Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung dieser Bereiche nach sich, was sich wiederum darin ausdrückt, daß sich mitunter wesentliche Periodisierungseinschnilte von wissenschaftlichen Disziplinen oder Kunstgattungen keineswegs decken mit Zäsuren (Knoten- und Wendepunkten) der allgemeinen Geschichte. Dennoch werden wir in unseren weiteren Betrachtungen auch Beziehungen zwischen diesen besonderen und allgemeinen Zäsuren, besonders im Vergleich der qualitativen Umschläge zu Beginn einer vorrevolutionären Periode und einer epochalen Revolution selbst, bemerken. Ich verweise schon jetzt auf solche Perioden wie die von 1763 bis 1789 und von 1900 bis 1917. Die Beziehungen der verschiedenen Bereiche sind in der Dialektik von Basis und überbau eingefangen. Dabei ist im Struktur- und Entwicklungszusammenhang der gesellschaftlichen Totalität die Klasse „als ökonomische und zugleich soziale Kategorie" das Mittelglied zwischen Basis und überbau, sie bestimmt den sozialen Standort im Verhältnis von Gesellschaft und Individuum; als soziale Kategorie ist sie der Schlüssel, der uns den Zugang zum Verständnis für die soziale Funktion aller Bereiche des ideologischen Uberbaus öffnet. Marx wies darauf hin, „daß in einem vermittelten Verhältnis das vermittelnde Glied 11

stets die zentrale Rolle gegenüber den Polen dieser Beziehung spielt". 1 In der Periodisierung müssen je nach den konkreten Struktur- u n d Entwicklungszusammenhängen der jeweiligen Epoche die Widersprüche der gesellschaftlichen Eniwicklung mitunter ganz verschieden zum Ausdruck k o m m e n ; es geht hier vor allem um Widersprüche im Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, ferner um solche in den Beziehungen zwischen den Klassen, Staaten und Völkern. In der Dialektik von Basis und ü b e r b a u ist jedes Zeitalter eine dynamisch bewegte, eine, wenn Sie wollen, substantielle Einheit. Die Anerkennung der Produktions- und Klassenverhältnisse als Basis dieser Einheit (oder Totalität) macht den Materialismus aus. So ist die Periodisierung nicht ein Ordnungsmittel schlechthin, sie übt auch einen Zwang aus, um andere Mittel der historischen Analyse und Synthese zu schärfen und bisherige Ergebnisse der historischen Betrachtung zu überprüfen. Wenn die Periodisierung manchmal zu Recht oder Unrecht als Schema erscheint, so erweist es sich auf der anderen Seite als ein hervorragendes Mittel, u m selbst wieder schematische Vorstellungen oder eingefahrene Traditionen zu überwinden. Setzen wir bei der Periodisierung die verschiedenen Bereiche der Basis und des Überbaus der Gesellschaft, gerade weil ihre Autonomie nur relativ ist, in Beziehung mit der Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Widersprüche, dann sind auch jene geschichtlichen Knoten- und Wendepunkte, in denen sich diese Widersprüche ganz oder teilweise lösen, von großer Bedeutung. Diese Knoten- und Wendepunkte gehen in die Geschichte nicht selten als mehr oder weniger bedeutsame Revolutionen ein. Die bedeutsamsten unter ihnen leiten Epochen ein oder schließen sie ab. Darum ist die vielzitierte These von Marx, daß Revolutionen „Lokomotiven der Geschichte" seien, alles andere als eine belletristische Phrase oder eine Erbauungsformel f ü r sozialistische Gedenktagsreden, sondern ein theoretisch-methodologischer Kernsatz. Dieser ist nicht zuletzt für die Periodisierung konstitutiv. Revolutionen sind in erster Linie Ereignisse, bei denen es um die vollständige oder teilweise Ablösung einer politischen Macht durch eine andere geht. Vom Standpunkt der Periodisierung sind sie zugleich Orientierungspunkte für die vorangehende und nachfolgende Entwicklung. In den letzten fünfzig oder sechzig Jahren haben wir Erfahrungen hinsichtlich der Periodisierung des 19. und 20. Jahrhunderts gemacht, die im Prinzip auch für frühere Jahrhunderte fruchtbar gemacht werden können. Denken wir an Begriffe wie revolutionäre Vorbereitungsperiode oder allgemeine Krise einer Gesellschaftsformation und ihre verschiedenen Etappen. Ich verweise auf die Thesen 15 b und 16. Es wird dabei 1

Marx,

12

Karl,

Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 237.

ein m e t h o d i s c h e s P r i n z i p v o n M a r x a n g e w a n d t , n a c h d e m d i e w i s s e n s c h a f t l i c h e A n a l y s e stets d a s N i e d e r e a u s d e m H ö h e r e n h e r l e i t e n m ü s s e . 2 E s stellt sich f o l g e n d e s h e r a u s : I n allen P e r i o d e n d e r geschichtlichen

Ent-

wicklung, d i e d u r c h die V o r b e r e i t u n g v o n epochalen R e v o l u t i o n e n g e k e n n z e i c h n e t sind, gibt es e i n e a u f f a l l e n d e P a r a l l e l i t ä t v o n q u a l i t a t i v e n U m s c h l ä g e n o d e r K r i s e n e r s c h e i n u n g e n in n a h e z u allen Bereichen d e r Basis u n d des Ü b e r b a u s . Stellen wir u n s n u r v o r , w a s alles u m d a s J a h r 1 9 0 0 u n d d a n a c h in W i s s e n schaft u n d K u n s t q u a l i t a t i v u m s c h l ä g t oder k r i s e n h a f t r u m o r t . H i e r g i b t es w e i t m e h r K o n g r u e n z als D i v e r g e n z i m W e s e n d e r v e r s c h i e d e n e n

Erscheinungen.

E i n i m P r i n z i p gleiches o d e r ähnliches E r s c h e i n u n g s b i l d h a b e n wir, w e n n w i r die gesamtgesellschaftliche S i t u a t i o n v o n etwa 1 7 6 3 bis 1789, v o n 1 4 5 3 (oder gar 1500) bis 1517 b e t r a c h t e n . Auf d i e Zeit v o n 1 9 0 0 bis 1 9 1 7 k o m m e ich noch zu s p r e c h e n . Die O r i e n t i e r u n g auf epochale R e v o l u t i o n e n erweist sich a u c h i m Vergleich z u j e n e n P e r i o d i s i e r u n g s p r a k t i k e n als richtig u n d ü b e r l e g e n , w o stilgeschichtliche B e g r i f f e z u r u m f a s s e n d e n K e n n z e i c h n u n g zeitlich a u s g e d e h n t e r E p o c h e n

der

e u r o p ä i s c h e n Geschichte ü b e r s t r a p a z i e r t , ja m i ß b r a u c h t w e r d e n . D a s a u f f a l l e n d ste Beispiel d a f ü r ist h e u t z u t a g e d e r schon m e h r f a c h e r w ä h n t e Begriff „ Z e i t a l t e r des B a r o c k " , d e r die Z e i t s p a n n e v o n 1 6 0 0 bis 1 7 3 0 u m f a s s e n soll. Selbst auf d i e G e f a h r h i n , d a ß m e i n R e f e r a t z u m B a r o c k h i n s o z u s a g e n k o p f lastig w i r d , m ö c h t e ich a n d i e s e m n e g a t i v e n Beispiel einiges ü b e r d i e M e t h o d i k der

Periodisierung

erörtern.

Das

erscheint a u s

zwei

Gründen

angebracht:

E r s t e n s ist in u n s e r e r K l a s s e d a s I n t e r e s s e f ü r d i e P e r i o d i s i e r u n g , w i e schon gesagt, d u r c h die B e s c h ä f t i g u n g m i t d e m P r o b l e m literar- o d e r stilgeschichtlicher Epochenbegriffe angeregt worden, B a r o c k " gegenwärtig,

zweitens wird der

Begriff

u. a. in d e m seit 1959 in L i e f e r u n g e n

„Zeitalter

des

erscheinenden

österreichischen „ L e x i k o n d e r Geschichte der N a t u r w i s s e n s c h a f t e n " ,

geradezu

e x e m p l a r i s c h ü b e r s p a n n t . D o r t h e i ß t es in d e r E i n f ü h r u n g , b e t i t e l t „ D i e Zeitalter d e r N a t u r f o r s c h u n g " : N i e m a n d h a b e d i e K u n s t des B a r o c k s b e s s e r c h a r a k terisiert als W ö l f f l i n , d e r sie i m G e g e n s a t z z u r „ l i n e a r e n , f l ä c h e n h a f t e n , geschloss e n e n u n d v i e l h e i t l i c h e n " K u n s t d e r R e n a i s s a n c e „als t i e f e n h a f t , r a u m h a f t , offen u n d e i n h e i t l i c h " bezeichnete. Diese A t t r i b u t e , die f ü r die K u n s t gelten w ü r d e n , s t ü n d e n in d i r e k t e r B e z i e h u n g z u r M a t h e m a t i k d e r b e t r e f f e n d e n Zeit. W e n n die R e n a i s s a n c e - M a t h e m a t i k " e u k l i d i s c h " g e s i n n t g e w e s e n sei u n d

die

l i n e a r e K l a r h e i t b e v o r z u g t h ä t t e , so h a b e die B a r o c k z e i t d i e I n f i n i t e s i m a l r e c h n u n g geschaffen u n d d a m i t d i e r e l a t i v u n k l a r e n G r e n z ü b e r g ä n g e legimitiert. D i e v i e l b e s p r o c h e n e B e w e g t h e i t des B a r o c k stelle k e i n e ästhetische W i l l k ü r 3

dar,

Marx, Karl, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd 13, S. 636/ 637.

13

sondern hänge wesentlich mit der Bewältigung des Bewegungs- und Funktionsbegriffs zusammen. Ähnliche Verbindungslinien wie zwischen bildender Kunst und Mathematik werden in diesem Exposé über die Zeitalter der Naturforschung auch zur Literatur und Musik des angeblichen Barockzeitalters gezogen. Dabei werden alle Namen, die gut und teuer sind, angeführt - von Shakespeare über Racine und Molière bis zu Händel und Bach. 3 Was bei dieser hier wiedergegebenen Betrachtungsweise auffällt, ist dies : Der Zeitalterbegriff wird gewiß nicht rein chronologisch, sondern substantiell aufgefaßt. Aber die einzelnen Bereiche der geschichtlichen Erscheinungen werden nicht im Struktur- und Entwicklungszusammenhang der Produktions- und Klassenverhältnisse und des ihnen entsprechenden oder widersprechenden Uberbaus gesehen, sondern als Ausdruck eines im großen und ganzen einheitlichen Zeitgeisles. Dieser Zeitgeist ist einfach da und gleichsam wie durch Zauberkraft in die Welt gekommen. Wir haben es hier mit einem typischen Idealismus in der Geschichtsauffassung zu tun. Auch wenn sich der Historiker in den kunsthistorischen Streit über die Begriffs-Antinomien nicht einmischen möchte, muß er festhalten, daß sich diese Antinomien auf das Formale, nicht auf das Inhaltliche der künstlerischen und geistigen Produktion beziehen. Ich meine hier das Inhaltliche im doppelten Sinne, einmal bezogen auf die sozialen Impulse, zum andern auf die gesellschaftliche Aussage. Gegenüber den Begriffsantinomien m u ß der Historiker doch einige Fakten anführen. Nicht zuletzt in der Periodisierung, die nicht rein chronologisch-deskriptiv sein will, m u ß sich die Einheit von Empirie und Theorie bewähren. Wie m a n auch das Vorherrschen formaler Elemente des Barock in Malerei, Plastik, Architektur, Kunsthandwerk und Mode im 17. Jahrhundert beurteilen mag, wie auch die strukturell-formalen Beziehungen zwischen der barocken Kunstgattung u n d den zeitgenössischen Naturwissenschaften gesehen werden, so kann doch niemand leugnen, daß die sozialen Impulse und Funktionen wie auch die inhaltlichen Aussagen der künstlerischen Produktionen grundverschieden waren. Auf jeden Fall m u ß an der Unterscheidung zwischen höfisch-katholischem Barock, ständisch-kirchlichem Barock einerseits u n d bürgerlich-protestantischem Barock andererseits festgehalten werden. 4 Und innerhalb der höfiseh3

Lexikon der Geschichte der Naturwissenschaften.. . Mit einer Einführung „Die Zeitalter der Naturforschung" und einer Ubersichtstabelle von Dr. Joseph Mayerhöfer unter Mitwirkung von Univ.-Doz. Dr. E. Bannerth, Dr. K. Cehak, Dr. H. Dolezal u. Dr. R. Hink. Geleitwort von DDr. Joseph Stummvoll, Generaldirektor der österreichischen Nationalbibliothek. Erste Lieferung, Wien 1959, S. 80 f.

4

Hauser, Arnold, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, I. Band, München 1953, S. 467ff. u. 493ff. - Brinkmann, A. E., Barock und Rokoko in Süddeutschland, in:

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katholischen Architektur hat der französische Klassizismus eine derart bewußt formulierte Eigenständigkeit 5 in seinen gesellschaftlichen u n d ästhetischen Vorstellungen, daß schwerlich von einem einheitlichen Stil gesprochen werden kann. Auch in der Malerei dieses Zeitalters gibt es genug der Spannungen, ja der Konflikte, die sich sowohl auf die sozialen Impulse und inhaltlichen Aussagen als auch auf formale Unterschiede beziehen. Man halte sich einmal zeitgenössische Gegner vor Augen, wie Caravaggio und Poussin, Ribera und Greco, Hals und Rubens, Rembrandt und van Dyck. 6 Sicherlich erschöpft sich der Barock nicht in der Gegenreformation, u n d sein künstlerischer Wert kann nicht mit dem Etikett „Reaktion" abgetan werden. Aber ebenso sicher ist, daß der Barock in unlöslichem Zusammenhang steht mit dem katholischen, höfisch-aristokratischen Gegenschlag und Selbstbehauptungswilleu gegenüber den bürgerlichen, wenn auch lutherisch u n d kalvinistisch verkleideten Revolutionen des 16. und 17. Jahrhunderts. Dabei war dieser Zyklus von Revolutionen und Konterrevolutionen untrennbar verbunden mit Bürgerkriegen und Kriegen, den Hugenottenkriegen in Frankreich, dem Befreiungskrieg der Niederlande, dem 30jährigen Krieg, nicht zu vergessen die Eroberungskriege Ludwigs XIV. Als eines der wesentlichen Argumente, den Begriff des Barockzeitalters zu begründen, sieht das österreichische „Lexikon der Geschichte der Naturwissenschaften" die Parallele zwischen der barocken Kunst und der „barocken Mathematik", als deren Höhepunkt die Erfindung der Differential- und Integralrechnung angesehen wird, die wiederum zum wirksamsten Werkzeug der mathematischen Physik überhaupt werden sollte. 7 Ich bin nicht so vermessen, über die Mathematik des 17. Jahrhunderts sprechen und urteilen zu wollen - und auch noch vor diesem Gremium. Nur gestatte ich mir vom Standpunkt des Historikers drei Bemerkungen. Auch ein Nicht-Mathematiker darf darauf hinweisen, daß die Differentialund Integralrechnung wohl etwas mit Dialektik zu tun hat. D a r u m liegt meiner Ansicht nach eine Verflachung der Betrachtungsweise vor, wenn in dem erwähnten Lexikon die „euklidisch" gesinnte Renaissaneemathematik u n d die Infinitesimalrechnung der sogenannten Barockzeit durch den Gegensatz von „linearer Klarheit" einerseits und „relativ unklarer Grenzübergänge" andererseits gell. Z., Bd. 136 (1927), S. 263 ff. - Hausenstein, Wilhelm, Kunstgeschichte, Berlin 1927, S. 307. 0 Brinckmann, A. E., a. a. O., S. 258 0

7

Hauser, Arnold, a. a. O., S. 456, 468. - Hausenstein, Wilhelm, a. a. O., S. 307 ff. vgl. Hausenstein, Wilhelm, Vom Geist des Barock, München 1924, S. 47 ff., 95 ff., 102 ff. Lexikon der Geschichte der Naturwissenschaften, a. a. O., S. 75.

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kennzeichnet, d. h. bewußt in das Wölfflinsche Antinomienschema „klar u n k l a r " hineingepreßt werden. M a n kann sich schwer des Eindrucks erwehren, d a ß die Antinomien in ihrem dialektischen Widerspruch, d. h. auch in der Einheit der Gegensätze, nicht oder ungenügend analysiert wurden. D a r ü b e r hinaus m ü ß t e geprüft werden, ob denn durch das Inbeziehungsetzen von Barock-Kunst u n d sogenannter Barock-Mathematik nicht formale Eigenschaften des einen Bereichs mit inhaltlichen Eigenschaften des anderen verglichen werden. Das wäre d a n n methodisch unzulässig. Zweitens möchte ich sagen: Durch das überstrapazieren des Begriffs Barock werden harte Gegensätze der Zeit geradezu harmonisiert. Danach ist Galilei eben ein M a n n des Barocks wie seine Gegner. In Wirklichkeit w a r der Prozeß gegen ihn, mit .lohn D. Bernal gesprochen, „ein Markstein der Epoche". E r „dramatisiert den Konflikt zwischen Wissenschaft u n d kirchlichem Dogma". 8 Es verletzt unser historisch-moralisches Gefühl, Galilei u n d seine klerikalen Gegner ein u n d demselben Zeitgeist subsumiert zu sehen. Die dritte Bemerkung, die ich mir gestatte, bezieht sich auf eine historische Grundtatsache. Die „Renaissance der Mathematik", wie sich w i e d e r u m J o h n D. Bernal in seinem bekannten Buch „Die Wissenschaft in der Geschichte" ausdrückte, ist von dem Vormarsch der kapitalistischen Produktions- u n d Klassenverhällnisse des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s nicht zu trennen. „Die Geburtsstunde der Wissenschaft schlug kurz nach der des Kapitalismus", formulierte Bernal. 9 Natürlich meinte er die moderne, die mit dem Aufstieg der europäischen Bourgeoisie v e r b u n d e n e Wissenschaft, ü b e r d i e s setzte Bernal die Entwicklung der modernen Wisenschaft in direkte Beziehung zur englischen Revolution des 17. J a h r h u n d e r t s . Er unterschied zwischen einem Zeitabschnitt, der v o n 1540 bis 1650 reicht, u n d einem solchen von 1650 bis 1690. Erst in diesen vier Dezennien wurde nach Bernal die Wissenschaft mündig. Damit h a t der marxistische Naturwissenschaftler J o h n D. Bernal die Frage, ob wir von einer „barocken Mathematik u n d P h y s i k " oder von einer „ P h y s i k u n d M a t h e m a t i k im Barock" sprechen können, implicite beantwortet. Alle diese Erscheinungen können ü b e r h a u p t nicht mit einem solchen Zeitgeist in Verbind u n g gebracht werden, der n u r durch ein abstrakt konstruiertes Antinomienschema einheitlich erscheint, in Wirklichkeit aber tief zerrissen war. Offensichtlich können Physik u n d Mathematik des 17. J a h r h u n d e r t s - ihre relativ autonomen Entwicklungen keineswegs außer acht gelassen - historisch n u r im Z u s a m m e n h a n g mit den ökonomischen, sozialen u n d politischen Auseinandersetzungen zwischen Feudalismus u n d Kapitalismus richtig eingeordnet werden. 8 0

Bernal, J.D., Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin 1961, S. 303 Bernal, J, D., a. a. O., S. 344.

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Wenn diese historische Spezifik im Auge behalten wird, kann der scheinbar rein chronologische Begriff, wie etwa Physik der 1. oder der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, doch inhaltlich genügend aussagen, während der talmigoldenc Begriff Barock-Mathematik nichtssagend und irreführend ist. Es bleibt dabei: W i r werden mit den vielfältigen Erscheinungen der Produktion, Politik und Ideologie dieser Jahrhunderte nicht fertig, wenn wir sie nicht einbetten in die große Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. In dieser Ubergangsepoche fanden, wie Friedrich Engels formulierte, die drei großen Entscheidungsschlachten der europäischen Bourgeoisie statt, im 16. Jahrhundert in Deutschland und der Schweiz, im 17. in England, Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich. Der Begriff des Barockzeitalters wird sowohl mit den historischen Grundtatsachen der Epoche als auch mit einer großen Zahl anderer Fakten, selbst mit denen im Bereich der Kunst, nicht fertig. I m übrigen muß daran erinnert werden, daß der Begriff des Barock zum erstenmal im 18. Jahrhundert auftauchte, um ausschließlich diejenigen Erscheinungen der Kunst zu kennzeichnen, die man nach der damaligen klassizistischen Kunsttheorie als maßlos, verworren und bizarr empfand. 10 Barock war also ursprünglich ein polemischer Begriff, der sich ausschließlich auf die bildende Kunst bezog, während der Begriff der Aufklärung von ihren Vertretern selbst geschaffen wurde und Ausdruck ihres Selbstverständnisses und Missionsbewußtseins war. überdies war „Aufklärung" ein umfassender Ideologiebegriff und kein bloßer Stilbegriff. F ü r und wider die Aufklärung wurde während des ganzen 19. Jahrhunderts gestritten; hingegen fand die Kunst des Barock bei den drei Generationen der Kunsttheoretiker um Winckelmann, Wackenroder und J a c o b Burckhardt nur Verachtung. 11 Kurz vor dem ersten Weltkrieg k a m so etwas wie eine Barockmode auf. Schließlich wurde der Begriff des Barock auf immer mehr Erscheinungen ausgedehnt und fast verklärt. Man kann sich schwer des Eindrucks erwehren, daß dies unter dem Einfluß des ideologischen Vordringens des Katholizismus geschah - eines Vordringens, das auch Schleichwege nicht verschmähte. Bis zum heutigen Tage scheint bei dem überstrapazieren des Barock-Begriffs klerikale Pfiffigkeit mit am Werke zu sein. Der Historiker muß sich wehren gegen die Verwendung des Barock-Begriffs zur Kennzeichnung einer ganzen Epoche; er wird jedoch seinerseits nicht so überspannt sein, den vergeblichen Versuch zu unternehmen, den Barock-Begriff überhaupt abzuschaffen. Wahrscheinlich wird man annähernd zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurückkommen - allerdings ohne die polemische Be10 11

2

Hauser, Arnold, a. a. 0., S. 456. Brinckmann, A. E., a. a. 0., S. 253. Engelberg

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lastung durch die Aufklärung und ohne apologetische Belastung durch den Klerikalismus. In dem Bemühen um die Bildung eines neuen Barock-Begriffs wird man verzichten müssen auf einen Formalismus, der vom Inhalt abstrahiert. Ein Kunsthistoriker wie Wilhelm Hausenstein, der sich einerseits in vielen Punkten dem Marxismus näherte, andererseits sich von einem abstrakten Antinomiendenken nicht ganz lösen konnte, verwies einmal auf die sozusagen urtümliche Vorstellung, die die Menschen mit dem Barock verbinden, nämlich die „des Wuchernden, des Ausfahrenden, des Uberspannten". 1 2 Wenn diese oder ähnliche hier erwähnten formalen Elemente im Zusammenhang gesehen werden mit den sozialen Impulsen und Funktionen, wird ein rationeller Begriff des Barock zustande kommen. Er wird dann selbst nur auf die Kunst beschränkt und um einiges eingeengt werden müssen. Die kritische Betrachtung des Periodenbegriffs „Barock-Zeitalter" hat folgende theoretisch-methodologische Prinzipien bekräftigt: Die substantielle Einheit jeglichen Zeitalters kann nicht dadurch geschaffen werden, daß seine vielfältigen Erscheinungen unter einem abstrakten Ideologiebegriff subsumiert werden; diese Einheit k a n n überhaupt nicht von außen in das historische Geschehen projiziert werden, als ob sie von einer spiritualistischen Wunderkraft hergestellt werden könnte. Die Einheit liegt vielmehr in dem Kampf der mannigfach gestuften und ineinander verschränkten Widersprüche der Geschichte selbst. Zunächst geht es einmal um die Herausarbeitung der jeweiligen Hauptwidersprüche, zum anderen um die Herausarbeitung der Rolle der jeweils vorwärtsweisenden, weiterwirkenden Klasse. Dabei ist die Existenz der aufeinander- und gegeneinanderwirkenden Klassen an „bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebündelt",a Mit diesem Blick auf die Basis einer jeweiligen Gesellschaftsformation erkennen wir, was in der Menschheitsgeschichte absolut ist. Unter diesem Gesichtspunkt mag ein Vergleich zwischen Gesellschaft und Natur instruktiv sein. Max Planck schrieb in seiner „Wissenschaftlichen Selbstbiographie": Alles „Relative setzt etwas Absolutes voraus, es hat nur dann einen Sinn, wenn ihm ein Absolutes gegenübersteht. Der oft gehörte Satz: ,Alles ist relativ' ist ebenso irreführend wie gedankenlos." 1 ' 1 Wenn wir diese Erkenntnis auf die Geschichte übertragen, dann können wir sagen, das Absolute ist die während der ganzen Menschheitsgeschichte notwendige Produktion und Reproduktion des Lebens der Menschen, das Relative ist der Wechsel der Produktionsweisen und der mit ihnen zusammenhängenden geistigen Erscheinungen. Das ist die Grundlage des 12 13

w

Hausenstein, Kunstgeschichte, Berlin 1927, S. 317. Marx an Weydemeyer, 5. III. 1852, MEW. Bd 28, S. 508 - Unterstreichung von Marx. Planck, Max, Wissenschaftliche Selbstbiographie, Leipzig 1948, S. 31.

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marxistisch-leninistischen Historismus. Dieser wird gerade in unserem Zeitalter weltrevolutionärer Prozesse stärker denn je sein Augenmerk richten müssen auf die Dialektik von Absolutem und Relativem in der Geschichte. Diese Dialektik wird er theoretisch und praktisch nur auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung beherrschen, während der bürgerlich-idealistische Historismus mit seinem Relativismus nie fertig geworden ist und fertig wird. Das erwähnte Lexikon läßt dem sogenannten Barock-Zeitalter das „Zeitalter des Liberalismus" folgen, das die riesige Zeitspanne von 1730 bis 1890 umfassen solle. Zu jener ideologisch-politischen Verhaltensweise, die sich in der unzulässig erweiterten Anwendung des Barock-Begriffs zeigte, gehört auch, daß die Aufklärung nur kurz behandelt wird und die Große Französische Revolution und der ganze Revolutionszyklus des 19. Jahrhunderts nur beiläufig erwähnt werden. Demgegenüber hat der Marxist Bernal in seinem Werk nicht allein besondere Kapitel über „Die Wissenschaft und die Revolution" und über „Die Französische Revolution und ihre Auswirkungen auf die Wissenschaften" geschrieben, sondern überhaupt die Entwicklung der Wissenschaft u n d der Industrie im 19. Jahrhundert in Beziehung auf den Revolutionszyklus periodisiert. Damit ist die prinzipielle Übereinstimmung mit der allgemeinen Periodisierung gegeben, so wie wir sie konzipieren. Im einzelnen mag es in der Zäsurensetzung und Terminologie Abweichungen geben, die jedoch unerheblich sind. Bernal sieht in den Jahrzehnten zwischen 1690 (unmittelbar nach der glorious revolution) und 1760 eine „Übergangs- oder latente Phase, die zur industriellen Revolution führt". 1 5 Wir sprechen in diesem Falle statt von einer übergangsphase von einer Übergangsperiode. In ihr festigte sich die Wissenschaft des 17. Jahrhunderts und breitete sich in Europa über die Grenzen Frankreichs, Englands und der Niederlande auf Preußen, Schweden und Rußland aus. Die Gründung der Vorläuferin unserer Akademie der Wissenschaften fällt in diese Übergangsperiode. Nach der Methode der Bündelung von Fakten - vgl. These 7 u n d 8 - ziehen wir dem erwähnten 1760 das J a h r 1763 als Knoten- und Wendepunkt vor. Es ist das J a h r des Sieges des fortschrittlichen Englands über das spätabsolutistische Frankreich in Nordamerika und des Endes des 7jährigen Krieges, damit der Behauptung Preußens als deutsche Großmacht und der Verfestigung des Dualismus zwischen Österreich und Preußen. Diese weltpolitischen Ereignisse von 1763 sind besonders geeignet, die revolutionäre Vorbereitungsperiode vor der Großen Französischen Revolution, damit eine Periode international und national wichtiger Entwicklungen in der Basis und im ü b e r b a u anzuzeigen: Beginn 15

Bernal, J. D

a. a. O., S. 359.

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der industriellen Revolution in England, verbunden mit fortschrittlicher Agrarwirlschafi und ihren Auswirkungen auf Deutschland; Einleitung einer Periode der rationalen und quantitativen Chemie und die Revolution in der Gastheorie (Priestley und Lavoisier); Wiederaufleben der Wissenschaft auch in Italien, wo sie so lange darnieder gelegen hat (Galvani u n d Volta); Erweiterung des Interessenkreises der gebildeten Europäer auf China und Indien; klassischer Höhepunkt der Malerei und Kunsttheorie in England (Reynolds, Gainsborough); Beginn und Entwicklung der klassischen deutschen Literatur und Philosophie. Wenn übrigens 1763 auch eine qualitativ neue Entwicklungsphase einleitet, so ist dieses J a h r keine schroffe Zäsur, sondern ein Knoten- und Wendepunkt, der geschichtliche Lebensfäden miteinander verknüpft. Auf kulturellem Gebiet sind dafür kennzeichnend jene Foliobände der französischen Enzyklopädie, die zwischen 1751 und 1772 erschienen. Die Zeit von 1763 bis 1789 kann, ähnlich wie die Zeit von 1898 bis 1917, als Periode der Vorbereitung einer epochalen Revolution bezeichnet werden. Von der vorangegangenen Periode war diese revolutionäre Vorbereitungsperiode in entscheidenden Bereichen der Basis und des Uberbaus qualitativ unterschieden. In ihr vollzog sich durch die Wechselwirkung ökonomischer und wissenschaftlicher Neuerungen eine weltgeschichtlich entscheidende Wende in dem Bemühen der Menschen, die Herschaft über die Natur zu gewinnen. 16 Indem sich gerade dadurch alle Widersprüche im dialektischen System von Basis u n d ü b e r b a u , besonders zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, verschärften, war die Große Französische Revolution notwendig, um die Ergebnisse und Entwicklungsmöglichkeiten dieser weltgeschichtlichen Wende zu sichern. Die revolutionäre Diskontinuität in Staat und Gesellschaft ermöglichte die evolutionäre (aber keineswegs widerspruchslose) Kontinuität in solchen Bereichen wie Wissenschaft und Kunst. Es ist ein unabänderliches historisches Gesetz: Stets gibt es Beziehungen zwischen politischer und sozialer Revolution einerseits und wissenschaftlicher und künstlerischer Evolution andererseits. Doch diese inhaltlichen Beziehungen gestalten sich in verschiedensten Formen. Vom Standpunkt der Periodisierung gibt der Blick auf die Große Französische Revolution Gelegenheit, die Funktion des Begriffs „Phase" zu umreißen (vgl. These 11). In unserer Begriflshierarchie ist „Phase" kein Synonym für „Periode", die einen Zeitraum innerhalb einer Epoche bezeichnet; eher ist der Begriff „Stadium" identisch mit dem Begrid „Periode". Während sowohl „Etappe" wie „Phase" eine Periode unterteilen, ist der Begriff „Phase" besonders geeignet, dramatisch zugespitzte Zeitläufte wie Revolutionen und Kriege 10

20

Bemal, J. D., a. a. O., S. 385 u. 368.

eben in ihren Phasen-Ablaufen zu kennzeichnen. So teilt der französische Revolutionshistoriker Albert Soboul, Korrespondierendes Mitglied unserer Akademie, die Große Französische Revolution in drei Phasen ein (ohne diesen Ausdruck zu gebrauchen), nämlich in die von 1789-1792, 1792-1795, 1795-1799: d . h . er bezieht auch die direktoriale Phase in den Revolutionsprozeß mit ein. 1 ' Die vor allem von Lenin eingeführte Periodisierung des 19. Jahrhunderts unterscheidet zwischen der Epoche der bürgerlich-demokratischen und nationalen Bewegung, die von 1789 bis 1871 reicht, und der Periode von 1871 bis zur Jahrhundertwende, nämlich des Ubergangs vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus. 1871 ist das Jahr der preußisch-deutschen Reichsgründung und der Pariser Kommune. Die Reichsgründung schloß die Pievolution von oben ab und war ihrem sozial-historischen Inhalt nach die kapitalistische Umwälzung unter bonapartistischem Vorzeichen. Wenn auch die deutsche Wissenschaft Frieden mit dem Militarismus und der Großindustrie schloß, übte sie doch gegen Endo des Jahrhunderts die Vorherrschaft in der internationalen Wissenschaft, besonders in Nord-, Mittel- und Osteuropa aus.18 Auf dem Boden der kapitalistischen Produktions- und Klassenverhältnisse der Übergangsperiode von 1871-1898 wuchs um die Jahrhundertwende eine solche Situation heran, daß in auffallend vielen Bereichen der Basis und des Uberbaus qualitativ neue Erscheinungen zutage traten. Sie alle sind bekannt; darum sei nur stichwortartig an sie erinnert: neue Erscheinungen des Imperialismus auf der Basis des Monopolkapitals, d. h. die Verschärfung der Widersprüche zwischen den Klassen und Staaten, neue Erfordernisse der Parteigestaltung in der Arbeitbewegung zur Vorbereitung der sozialistischen Revolution, in der Produktion Konzipierung neuer Technologien, in der Wissenschaft qualitative Umschläge in der experimentellen und theoretischen Physik, bewußtes Auseinanderreißen von Natur- und Gesellschaftswissenschaften in der bürgerlichen Ideologie, Krisenbewußtsein und neue Bemühungen in der Kunst 19 usw. usw. Alle diese parallelen Prozesse scheinen recht disparat zu sein; in der Tat: comparaison n'est pas raison, Vergleich ist kein Beweis. Was haben also die Quantentheorie und die Relativitätstheorie mit dem Imperialismus zu tun? Was haben sie, wenn man die Zeit von etwa 1900 bis 1917 als revolutonäre Vorbereitungsperiode auffaßt, mit der Großen Oktoberrevolution zu tun? Zunächst 17 18 19

Soboul, Albert, Précis d'Histoire de la Révolution Française, Paris 1962. Bernai, J. D., a. a. 0 . , S. 406/407. Vgl. Hamann, Richard/Hermand, Jost, Stilkunst u m 1900, Berlin 1967; ferner: Stilkunst u m 1900 in Deutschland, Herausgegeben von den Staatlichen Museen zu Berlin, Berlin 1972.

21

einmal gar nichls! Also ist die Auffassung von der Autonomie der verschiedenen Bereiche in Basis und Uberbau doch richtig? Gewiß gibt es Wissenschaften, die vom subjektiven Bewußtsein ihrer Vertreter her ganz und gar unpolitisch sind und in der Tat ihrem Inhalt nach kein Klasseninteresse widerspiegeln. Dennoch merken wir gerade hier auf. Selbst die abstraktesten, quasi unpolitischen Wissenschaften sind ohne personelle Organisationen und ohne technischen Apparat, jedenfalls in der neueren Zeit, gar nicht möglich. Organisation und Apparat wiederum stehen in unlöslichem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen und staatlichen System, das jeweils herrscht oder vorherrscht. Aber nicht nur von ihren Voraussetzungen aus, sondern auch von ihren Wirkungen her offenbart es sich, daß es mit der jedenfalls absoluten - Autonomie der Wissenschaften nicht weit her ist. Die Resultate der neuen Physik nämlich gerieten sofort in den philosophischen Streit; das wiederum rief Lenin, das weltgeschichtlich einzigartige Revolutionsgenie, auf den Plan. In seinem „Materialismus und Empiriokritizismus" hat Lenin geradezu demonstriert, daß naturwissenschaftlich-weltanschauliche Grundfragen sehr wohl in den revolutionären Gesamtprozeß verwoben sind. Nichts ist's also mit der absoluten Autonomie der geistigen Bereiche! Alles ist eingebettet in die substantielle Einheit der Zeit mit ihrer Dynamik vielschichtiger und ineinander verschränkter Widersprüche, die sich auf dem Boden der Pr oduktions- und Klassenverhältnisse bewegen und entwickeln. Nach dem weltgeschichtlichen Knoten- und Wendepunkt von 1917 eröffnete sich die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Keine der neuen Erscheinungen in Politik, Wissenschaft und Kunst, die sich in der vorrevolutionären Periode herausgebildet haben, verschwindet mit dem J a h r 1917, im Gegenteil. Für die Entwicklung der inhaltlichen Aussagen jedenfalls der Naturwissenschaft ist das J a h r 1917 kein Epocheneinschnitt. Die junge Sowjetunion hat dies in ihrer Art, d. h. in der Auseinandersetzung mit den vielfältigen Bestrebungen des sogenannten Proletkults, erkannt. Die ultralinke Vorstellung, es gäbe zwei Naturwissenschaften, eine bürgerliche und eine proletarische, wurde von Lenin abgelehnt. Der Klassenstandpunkt in den Naturwissenschaften zeigt sich vielmehr darin, daß ihre Resultate zu Recht oder Unrecht theoretisch in diametral verschiedene Wellanschauungen einmünden und praktisch in entgegengesetzte Gesellschaftsordnungen integriert werden. Von dieser Sicht her kann weder von einer absoluten Autonomie der Naturwissenschaften die Rede, noch kann das Epochenjahr 1917 f ü r ihre Periodisierung gänzlich irrelevant sein - zumal die drängenden Probleme der kommenden Jahrzehnte das Verhältnis von Naturwissenschaften u n d Gesellschaftswissenschaften, wie überhaupt das von Wissenschaft und Politik neu stellen müssen. Vielleicht ist f ü r diese Problematik das Leben von Albert Einstein in mancher Hinsicht typisch. 22

Nach 1917 entwickelten Politik, Wissenschaft und Kunst - theoretisch und praktisch - ihre konstruktiven und destruktiven Möglichkeiten und Konsequenzen. Alles geriet in den Strudel von proletarischer Revolution u n d faschistischer Konterrevolution, von Krieg und Nachkrieg. Eine verzweiflungsvolle und zugleich hoffnungsfrohe Zeit tat sich auf - eine Zeit, die die wissenschaftlich-technische Revolution mit all ihren Gefahren und Erwartungen hervorbrachte. Neue Periodisierungsbegriffe, wie „Zeitalter der Wissenschaft" oder „Atomzeitalter", kommen auf. Die relative Berechtigung dieser Begriffe wird niemand bestreiten können. Doch müssen sie unter den Begriff des epochalen Kampfes zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse subsumiert werden. Es wird unseres ganzen sozialistischen Geschichtsverständnisses und seiner Methodik, der innigen Verbindung von Theorie u n d Praxis, bedürfen, u m die verschiedenartigen Widersprüche zu meistern, die mit der wissenschaftlich-technischen Revolution hüben wie drüben, im Sozialismus wie im Kapitalismus, aufkommen. Ich war bemüht zu zeigen, daß die Periodisierung der Gesamtzusammenhänge des geschichtlichen Lebens nicht schlechthin ein Fachproblem ist, sondern zu unserem Geschichtsbewußtsein gehört. Wir können es nicht entbehren, wenn wir das gesellschaftliche Leben meistern wollen. Die wissenschaftlich-technische Revolution erfordert in ihrer Ausrichtung gerade auf die Zukunft eine neue Besinnung auf die Vergangenheit. Die Erfahrungen der früheren Formwechsel von Evolution — Pievolution - Evolution, die in allen Bereichen der Gesellschaft gemacht wurden, sind neu zu durchdenken. Und wenn man weiß, daß sich auch eino Kulturrevolution, nämlich eine tiefgehende Veränderung im Berufsbild und in der geistigen und sozial-ethischen Physiognomie der Menschen, anzeigt, dann darf erst recht die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität nicht außer acht gelassen werden. Lenin hat kurz vor der größten politischen u n d sozialen Revolution der Weltgeschichte, in die Zukunft blickend, nicht allein an das Negative, sondern auch an das Positive der Vergangenheit erinnert. In der Vision einer umfassenden Gemeinschaft von Gleichberechtigten, Gleichgesinnten und Gleichstrebenden sah er auch die Notwendigkeit, „die elementaren, von alters her bekannten und seit Jahrtausenden in allen Vorschriften gepredigten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens einzuhalten". 20 So darf ich mit Worten von Bertolt Brecht enden, welcher meinte: „Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen. Die Geschichte macht vielleicht einen reinen Tisch, aber sie scheut den leeren." 21 211 21

Lenin, W. I., Staat und Revolution, Werke, Bd 25, S. 476. Brecht, Bertolt, Gedichte, Bd 1, Berlin 1961, S. 206.

23

Werner

Bahner

Zur Einordnung der „Aufklärung" in die literarhistorische Periodisierung

-Thesen1. Auch wenn es sich bei der Literatur und ihrer Entwicklung um einen gesellschaftlichen Teilbereich mit relativer Selbständigkeit handelt, ist bei der Periodisierung literarischer Entwicklungsprozesse niemals der Bezug auf den übergeordneten sozialökonomischen Entwicklungsprozeß außer acht zu lassen. Nur in Korrelation zur universalgeschichtlichen Periodisierung, deren theoretischmethodologische Prinzipien Ernst Engelberg thesenartig zusammengefaßt hat, vermag eine fundierte literarhistorische Periodisierung vorgenommen zu werden. 2. Da sich hinsichtlich der Dialektik von Basis und Uberbau Knoten- und Wendepunkte als eine Bündelung von Qualitätsumschlägen erweisen, die den Beginn einer Epoche oder in begrenzterem Umfang auch den einer Periode oder Etappe anzeigen, gilt es unter diesem Gesichtspunkt auch die in der literarischen Entwicklung anzutreffenden Zäsuren einzubeziehen. Obgleich eine genaue zeitliche Kongruenz solcher Qualitätsumschläge in allen gesellschaftlichen Teilbereichen, einschließlich des literarischen, aufgrund der jeweiligen Spezifik in den seltensten Fällen vorliegen kann, kommt in diesem Zusammenhang den sich auf die jeweiligen Klassenauseinandersetzungen beziehenden qualitativen Veränderungen wegen ihres übergreifenden Charakters eine grundlegende Bedeutung zu. 3. Hierbei ist nicht nur zu zeigen, wie die Literatur ihrer Spezifik und ihrem Entwicklungsstand gemäß in abbildender wie bildender Funktion auf die sozialökonomischen Veränderungen reagiert, sondern es ist zugleich zu verdeutlichen, welche neuen Möglichkeiten für die weitere künstlerische Aneignung der Welt jeweils geschaffen worden sind. 4. Der Versuch zahlreicher Gelehrter, literarische Perioden aufgrund rein literarischer Kriterien zu bestimmen, führte in der Regel zur Eliminierung des übergreifenden Moments der Klassenauseinandersetzung. Stilistisch-formale Krite25

rien oder einzelne Slilrichtungen mit ihren Merkmalen genügen nicht, um Perioden liierarischer Entwicklung mit ihren hauptsächlichen Zügen zu charakterisieren. Auch das spezifisch Literarische ist bei allen Besonderheiten auf eine gegebene historisch-gesellschaftliche Situation bezogen. 5. Verschiedene bürgerliche Literaturwissenschaftler der Gegenwart, die der literarhistorischen Periodisierung rein literarische Kriterien zugrunde zu legen suchen, klammern beispielsweise die Aufklärungsbewegung aus der literarischen Entwicklung des 18. Jahrhunderts völlig aus. Obgleich die Aufklärungsbewegung in fast allen Bereichen des ideologischen Überbaus wirksam war und bei allen Unterschieden und Abstufungen den Kampf der aufsteigenden bürgerlichen Klasse gegen ständische Strukturen, Verhältnisse und Institutionen in der Ausgangsperiode der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus beinhaltete, wird die sich vorwiegend im 18. Jahrhundert vollziehende literarische Entwicklung von diesen Gelehrten als literarhistorische Periode der Klassik bzw. des Klassizismus ausgegegben, die zwischen dem Barock und der Romantik anzusiedeln sei. Zum Teil wird eine weitere Unterscheidung vorgenommen, indem die literarische Entwicklung des 18. Jahrhunderts in die Abschnitte Klassizismus und Vorromantik unterteilt wird. Auch die in der „geisteswissenschaftlichen" bürgerlichen Literaturwissenschaft üblichen Anleihen bei der Kunstgeschichte fehlen hierbei nicht. So wird die kunstgeschichtliche Stilrichtung „Piokoko" zur Charakterisierung der literarischen Entwicklung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verwendet. 6. Diese von vielen bürgerlichen Literaturwissenschaftlern noch heute vorgenommene Ausschaltung der Aufklärung aus der literarhistorischen Periodisierung ist darauf zurückzuführen, daß der gesellschaftliche Charakter der Literatur verkannt oder gar geleugnet wird. Darüber hinaus zeichnet sich im Zuge der ideologisch-methodologischen Auseinandersetzungen ab, daß letztlich weiterhin an der einst von der Romantik vorgenommenen Verketzerung der Aufklärung als einer vorrevolutionären Bewegung, die in Frankreich in entscheidendem Maße die Revolution ideologisch vorbereiten half, festgehalten wird. 7. Unter Aufklärung ist nicht nur eine bestimmte ideologische Strömung zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um mit fortschrittlichen gesellschaftlichen Bewegungen verknüpfte ideologische Prozesse, die in ihrer antifeudalen Stoßrichtung von unterschiedlicher Schärfe ein diesseitsbetontes Weltverständnis ohne jede religiöse Hülle oder Vermittlung und, in unmittelbarem Zusammenhang damit, eine Förderung und Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen anvisieren. Da die Aufklärungsliteratur, besonders ausgeprägt in

26

Frankreich, wie keine andere Literatur vorangehender oder folgender Perioden eine fortlaufende Verflechtung mit philosophischen, ökonomischen, politischen oder soziologischen Gedankengängen in ansprechenden, gesellschaftlich wirksamen Formen zeigt, erscheint es uns durchaus gerechtfertigt, „Aufklärung" sowohl als Periodenbegrifl der Ideologiegeschichte als auch als Periodenbegriff der Literaturgeschichte zu verwenden. 8. Auch wenn von der gesamten literarischen Produktion der als „Aufklärung" gekennzeichneten Periode ein beträchtlicher Teil nicht zur Aufklärung (vgl. Punkt 7) zählt und vielfach zur Rechtfertigung der gegebenen gesellschaftlichen ständischen Struktur beiträgt, wird die vorgenommene Etikettierung dadurch nicht aufgehoben. Entscheidend ist hierbei, daß die auf eine Überwindung der ständischen Ordnung ausgehenden vorwärtsdrängenden gesellschaftlichen Kräfte ihro Stimmen innerhalb der in sich differenzierten Aufklärungsbewegung erhoben, die in zunehmendem Maße Gewicht in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erhielt. Dadurch waren selbst zahlreiche Gegner der Aufklärung und der sich in ihr bekundenden bürgerlichen Emanzipationsbewegung gezwungen, auf das ideologische Arsenal der Aufklärung, auf ihre Begriffe, Themen u n d Fragestellungen zurückzugreifen, um diese dann allerdings f ü r ihre ständischen Legitimationsbedürfnisse und ihre antiaufklärerische Zielstellung zu modifizieren.

27

Werner

Bahner

Zur Einordnung der „Aufklärung" in die literarhistorische Periodisierung

Die literarische Entwicklung zu periodisieren, erweist sich immer wieder als ein schwieriges Unterfangen. 1 In der gegenwärtigen Literaturwissenschaft, insbesondere im Bereich der Komparatistik, erfreut sich diese Aufgabe nichtsdestoweniger wachsender Aufmerksamkeit. Die in Angriff genommenen literarhistorischen Gesamtdarstellungen, das Herausarbeiten literarischer Prozesse und das Aufdecken der vorhandenen Wechselbeziehungen von nationaler und internationaler Entwicklung haben eine stärkere Zuwendung zur Periodisierungsproblematik erforderlich gemacht. 2 Nur für eine Reihe von Literaturwissenschaftlern formalistischer, ahistorisch orientierter Richtungen wie der Stilkritik, des New Criticism stellt die Periodisierung kein Problem dar. Für sie existiert es nämlich überhaupt nicht, da sie eine literarische Schöpfung ausschließlich als sich selbst genügendes Wortkunstwerk betrachten, das stets gegenwärtig sei und zu seiner Erhellung keiner Bezüge auf andere literarische Werke oder gar auf nichtliterarische Erscheinungen bedürfe. Der Gedanke von der Autonomie des Literarischen zeitigte hier seine unüberbietbaren Konsequenzen. Wirft man einen Blick auf die bisher unternommenen Versuche, literarische Entwicklungen längerer Zeiträume auf nationaler oder übernationaler Ebene zu periodisieren, dann ergibt sich ein recht buntes Bild voller Widersprüche. Es zeigt sich, daß je nach der bezogenen methodologischen Position sehr unterschiedliche Prinzipien und Kriterien zugrunde gelegt werden. Abgesehen von der in zahlreichen Kompendien noch anzutreffenden pragmatischen wie nichtssagenden Gliederung nach Jahrhunderten, geht es in diesem Zusammenhang meistens darum, ob die Periodisierung nach rein literarischen Kriterien oder 1

Vgl. H. P. H. Teesing, Das Problem der Perioden in der Literaturgeschichte, Groningen 1948 sowie Problèmes de périodisation dans l'histoire littéraire (Colloque, Prague 29 n o v e m b r e - l e r décembre 1966), Romanistica Pragensia V, Praha 1968 (Acta Universitatis Carolinae, Philologica 4).

2

Vgl. D.l)urisin,

Vergleichende Literaturforschung, Berlin 1972, S. 120 ff.

29

nach den mit der literarischen Entwicklung verknüpften geistigen, politischen, historischen und gesellschaftlichen Wandlungen vorgenommen werden soll. Die Forderung, die literarische Entwicklung nach ausschließlich literarischen Maßstäben zu periodisieren, ist nicht neu. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß sie seit reichlich zwei Jahrzehnten in der literaturwissenschaftlichen Forschung unüberhörbar geworden ist und neue Akzente erhalten hat. Darin drückt sich das Bemühen aus, den spezifischen Charakter der Literatur in den Mittelpunkt zu rücken, sich auf das zu konzentrieren, was den eigentlichen Gegenstand der Literaturwissenschaft zu bilden habe. Nicht zuletzt war diese Orientierung milbedingt

durch

die

offensichtlichen

Fehlschläge

der

„geistesgeschichtlichen"

Methoden 3 , die mit ihren epochalen Idealtypen vom gotischen Menschen, vom Renaissanceindividuum usw. großen Wirrwarr gestiftet hatten. Auch ihre in Typologien gepreßten Weltanschauungs- oder Denkformen, die als letzter Beweggrund erschienen, versagten völlig. Sie führten eher von der Literatur weg als zu ihr hin. Die Methode der wechselseitigen Erhellung der Künste hatte ebenfalls allen Erwartungen zum Trotz keine gesicherten Ergebnisse gezeitigt. Die angenommene künstlerische Einheit mit ihrem daraus abgeleiteten hypertrophen Epochenstil offenbarte rasch ihre Widersprüchlichkeit. Auch hierbei gelang es nicht, die literarische Spezifik genügend sichtbar hervortreten zu lassen. J a , indem sie nur als Analogie zu Erscheinungen der bildenden Künste begriffen wurde, verlor sie ihre Ursprünglichkeit. In Opposition zu den genannten Methoden wollen viele zeitgenössische Literarhistoriker

auch

bezüglich

der

Periodisierung

ausschließlich

literarische

Aspekte berücksichtigt wissen. Insbesondere die von den russischen Formalisten der zwanziger J a h r e ausgehenden Verfechter struktureller Methoden in der Literaturwissenschaft betonen' 1 , daß der Gegenstand der Literaturgeschichte nicht die Genese der literarischen Erscheinungen sei, vielmehr die Wandelbarkeit der Literatur, d. h. die Veränderung der literarischen Verfahren, des Beziehungsgeflechts der literarischen Formen. Dabei wird davon ausgegangen, daß sich ein zur Vorherrschaft gelangtes System literarischer Ausdrucksformen und Normen mit der Zeit abnutzt und schließlich durch ein anderes sich formierendes System ersetzt wird. Einzelne Veränderungen lösen allmählich einen durchgreifenden Wandel aus. da sie das bestehende System beeinträchtigen, indem eine Veränderung andere nach sich zieht. Auf der E b e n e der Litcraturkritik findet dies seinen Niederschlag in heftigen Debatten, Auseinandersetzungen und Richtungskämp3

4

30

Vgl. YV. Iirauss, Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, in: Studien und Aufsätze, Berlin 1959, S. 19-71 sowie Periodisierung und Generationstheorie, in: Grundprobleme der Literaturwissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 119-130. Vgl. 0. Ducrot, T. Todorov, Dictionnaire encyclopédique des sciences du langage, Paris 1972, S. 188-192.

fen. In jenen Phasen der sich vollziehenden Ablösungen literarischer Systeme zeichnen sich Wendepunkte ab, die zugleich zu entscheidenden Marksteinen für die literarhistorische Periodisierung werden. Von solchen innerliterarischen Wandlungen her wird eine literarhistorische Periode als ein Zeitabschnitt gekennzeichnet, „der durch ein System von literarischen Normen, Maßstäben und Konventionen beherrscht wird und dessen Beginn, Ausbreitung und Veränderung, Integration und Verschwinden verfolgt werden kann '. ' Die Geschichte einer Periode wird darauf reduziert, den Wandel von einem Normensystem zum anderen anzuzeigen, wobei stets mehr oder minder ausgeprägt ein bestimmtes Normenschema dominiert, neben dem Elemente der vorangehenden Periode und dann in zunehmendem Maße solche des sich in der folgenden Periode durchsetzenden Normenschemas vorliegen. Diese Betrachtungsweise bleibt ohne Zweifel im Deskriptiven befangen. Die Frage nach den tieferen Ursachen dieser literarischen Wandlungen wird zwar als legitim zugelassen, doch meistens sehr eklektisch behandelt und letztlich als über die Literaturgeschichte hinausweisend abgetan. Literarische Veränderungen nur aus der Literatur heraus erklären zu wollen, führt zweifelsohne zu einem Kurzschluß. Derartige Konzeptionen resultieren vielfach aus einer Abwehrhaltung gegenüber materialistischer Geschichtsbetrachtung, die bar jeder Dialektik erscheint und so verhältnismäßig leicht zu denunzierende Angriffsflächen bietet. In ihrem Buch „Theory of Literature", das heute unter den gängigen Handbüchern der bürgerlichen Literaturwissenschaft als Standardwerk gilt, folgern beispielweise Wellek und W a r r e n : „Die Literatur darf nidit als eine lediglich passive Widerspiegelung oder Kopie der politischen, gesellschaftlichen oder auch intellektuellen Entwicklung der Menschheit verstanden werden. Die literarischen Perioden sollten daher aufgrund rein literarischer Kriterien festgesetzt werden." 6 Die hier aus dem verzerrt dargestellten Verhältnis von Literatur und historischgesellschaftlicher Entwicklung gezogene Schlußfolgerung führt nicht weiter, sie bietet keine Lösung. Bei der Literatur handelt es sich um eine spezifische Form der ästhetischen Aneignung der Welt, clie als solche wiederum Teil der übergreifenden Auseinandersetzung des Menschen mit den Bedingungen seiner gesellschaftlichen und natürlichen Existenz ist. 7 Sie spiegelt nicht mechanisch etwas wider, sondern entwickelt im Anschluß an von literarischen Vorgängern bereits Geleistetes ein produktives Verhältnis zu den vorgefundenen gesellschaftlichen Daseinsbedingungen und zielt auf menschliche Selbstverständigung. Zwar handelt es sich bei den literarischen Erscheinungen um relativ eigenständige Gebilde. R. Wellek, A. Warren, Theorie der Literatur, Bad Homburg 1959, S. 302. Ebenda. ' Vgl. R. Weimann, Literaturgeschichte und Mythologie, Berlin/Weimar 1971 sowie M. Kagan, Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik, Berlin 1971.

5 6

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docli empfangen sie ihre letztlich entscheidenden Impulse aus der jeweiligen sozialökonomischen Entwicklung. Bei allen möglichen Traditionsbeziehungen, bei aller Speicherung von Ideen, Erfahrungen und technisch-gestalterischen Mitteln, bei allen dominierenden ästhetischen Grundsätzen und allen vorherrschenden literarischen Normen, Maßstäben und Konventionen erfolgt der literarischen Spezifik gemäß eine Auseinandersetzung mit den vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnissen, indem deren Probleme aufgeworfen und Antworten hierauf gesucht werden. In diesem Zusammenhang kommt es in recht unterschiedlichem Maße zur Erschließung neuer Wirklichkeitsbereiche, Themen und Sichtweisen sowie zu damit verknüpften gestalterischen Neuerungen. Die besonderen Merkmale einer literarischen Periode können deshalb weder durch ein vorherrschendes System literarischer Normen, Maßstäbe und Konventionen noch durch eine einzelne Stilrichtung umfassend charakterisiert werden. Ohne diese Erscheinungen in ihrer literarhistorischen Relevanz einschränken zu wollen, ist es erforderlich, sie in Korrelation zur jeweiligen Epochenproblematik zu setzen, die wiederum von der sich abzeichnenden Klassenauseinandersetzung ihre Dynamik und ihre geschichtsbestimmenden Konturen erhält. Wir halten fest: Bei der Periodisierung literarischer Entwicklungen ist der Bezug auf den sozialökonomischen Prozeß niemals außer acht zu lassen, mag der Grad der relativen Eigenständigkeit noch so ausgeprägt erscheinen. Die in dei' Literaturgeschichte zur Kennzeichnung der einzelnen Zeitabschnitte verwendeten Periodenbegriffe beziehen sich stets auf etwas Abgeleitetes, auch wenn dieses auf die Basis wieder zurückwirkt. Sie besitzen keinen universalgeschichtlichen Charakter. Beschäftigen wir uns näher mit dem Periodenbegriff der Aufklärung, dann stoßen wir zunächst auf einen charakteristischen Umstand: Die Kennzeichnung des 18. Jahrhunderts als Zeitalter der Aufklärung geht auf die geschichtliche Selbstbestimmung der gesellschaftlichen Kräfte im 18. Jahrhundert zurück, die selbstbewußt die aufkommende weltimmanente Betrachtungsweise aller Erscheinungen der Natur und Gesellschaft als neuen Grundzug herausstellten und diesem auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene zum Durchbruch verhelfen wollten. In der darin zum Ausdruck kommenden Befreiung von jedweder theologischer Vormundschaft und Befangenheit erblickten sie die Anfänge einer mündigwerdenden Menschheit. Kants berühmte Definition der Aufklärung in der Berlinischen Monatsschrift von 1784 entstammte einem geschichtlichen Selbstverständnis, das sich erstmals in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in der englischen und französischen Aufklärungsbewegung Bahn gebrochen hatte. 8 R

32

Vgl. E. Cassirer,

Die P h i l o s o p h i e cler A u f k l ä r u n g , T ü b i n g e n 1 9 3 2 ; W. Krauss,

Der

M a n macht es sich ohno Zweifel zu einfach, w e n n m a n die Aufklärung nur als eine relativ einheitliche geistige Strömung versteht, die i m Hinblick auf den gesellschaftlichen Fortschritt im 18. Jahrhundert eine dominierende Rolle spielte und daher zugleich als Periodenbegriff der Ideologiegeschichte zu fungieren vermag. Es handelte sich liier u m komplexere Erscheinungen. D a m i t waren in sich differenzierte fortschrittliche B e w e g u n g e n und vielfältige ideologische Prozesse verknüpft. Diese zielten auf ein diesseitsbetontes Weltverständnis ohne jede religiöse Hülle u n d Vermittlung, das wiederum mit den v o n antifeudaler Stoßrichtung geprägten bürgerlich-kapitalistischen

Emanzipationsbestrebungen

in

Verbindung stand und in den einzelnen europäischen Ländern, entsprechend der historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen, ein unterschiedliches Profil und mehrere Entwicklungsphasen aufwies. Diese Richtungen erstreckten sich v o n kompromißlerischen Varianten gegenüber der Offenbarungsreligion wie auch der ständischen Ordnung bis hin z u prononciert antiklerikalen Einstellungen, konsequent materialistischen Positionen und radikalen naturrechtlichen Auffassungen v o n der Volkssouveränität. 9 Auch w e n n sich hier viele Unterschiede und A b s t u f u n g e n feststellen lassen, bekundete sich in allen diesen ideologischen Bestrebungen der Kampf der auf-

,J

3

Jahrhundertbegriff im 18. J a h r h u n d e r t , i n : Studien zur deutschen u n d französischen Aufklärung, Berlin 1963, S. 9 - 4 0 ; R. Mortier, «Lumière» et «Lumières», histoire d'une image et d'une idée, i n : Clartés et Ombres du Siècle des Lumières, Genève 1969, S. 13-59. Vgl. D. Mornet, Les origines intellectuelles de la Révolution française, Paris 1933; P. Iiazard, La pensée européenne au X V I I I e siècle, 2 Bde, Paris 1946; M. Leroy, Histoire des idées sociales en France de Montesquieu à Robespierre, Paris 1946; F. Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung, Wien/München 1961. E. Winter, Der Josefinismus, Berlin 1962; F. Diaz. Filosofia e politica ncl Scttecento francese, Torino 1962; P. Francastel (Herausgeber), Utopie et institutions au X V I I I e siècle. Le Pragmatisme des Lumières, Paris/La H a y e 1963 ; W. Krauss, Studien zur deutschen u n d französischen Aufklärung, Berlin 1963; W. P. Wolgin, Die Gesellschaftstheorien der französischen Aufklärung, Berlin 1965 ; L. Gershoy, L'Europe des Princes éclairés, Paris 1966; A. Adam, Le m o u v e m e n t philosophique dans la première moitié du X V I I I e siècle, Paris 1967; P. Gay, The Enlightenment: An Interpretation, 2 Bde., London 1967/1970; Les lumières et la formation de la conscience nationale chez les peuples du sud-est européen (Colloque, Paris 11-12 avril 1968), Bucarest 1970; Les lumières en Hongrie, en Europe centrale et en Europe orientale (Colloque, Mâtrafûred 3 - 5 novembre 1970), Budapest 1971; G. Gusdorf, Les principes de la pensée au siècle des lumières, Paris 1971; W . Krauss, Literatur der französischen Aufklärung, Darmstadt 1972 sowie Der komparatistische Aspekt der Aufklärungsliteratur, i n : Werk u n d Wort. Aufsätze zur Literaturwissenschaft und Wortgeschichte, Berlin 1972, S. 61-72. Engelberg

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steigenden bürgerlichen Klasse gegen ständische Strukturen, Verhältnisse und Institutionen am Ausgang der Ubergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus. Dies gilt selbst für die Fälle, bei denen entwicklungsbedingt noch kein in politisch-ideologischer Hinsicht selbstbewußtes Bürgertum hervortrat. Die Aufklärungsbewegungen in den einzelnen Ländern beanspruchten, für eine unbedingt erforderliche allgemeingesellschaftliche Emanzipation zu wirken. Sie vermochten damit partiell alle gesellschaftlichen Schichten anzusprechen und mitzureißen. Verschiedensten gesellschaftlichen Kräften, die an einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse von inhaltlich recht unterschiedlichen Zielstellungen her interessiert waren, bot sieh eine gemeinsame Plattform. Mit dem Anwachsen der Aufklärungsbewegung konnten auch die erklärten Gegner der Aufklärung nicht umhin, auf die neu aufgeworfenen Fragen einzugehen. Diese knapp angedeuteten und als Aufklärung gekennzeichneten ideologischen Prozesse gehören sozialökonomisch zur letzten Periode der sich auf mehrere Jahrhunderte erstreckenden Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus, deren wesentliche Markierungspunkte nach Friedrich Engels die frühbürgerliche Revolution des 16. Jahrhunderts, die englische Revolution im 17. Jahrhundert und die 1789 einsetzende französische Revolution waren. Audi wenn bestimmte ideologische Prozesse, die mit der Säkularisierung oder mit der Freisetzung des Individuums aus ständisdien Bindungen unmittelbar zusammenhingen, sich bereits zu Beginn dieser Ubergangsepodie manifestierten und dann allmählich schärfere Konturen erhielten, gelangten sie doch erst im 18. Jahrhundert auf einer wesentlich breiteren Ebene zu voller Entfaltung. Innerhalb der Ideologiegeschichte bildet die Periode der Aufklärung im allgemeinen einen sich vom Ausgang des 17. bis zu den Anfängen des 19. Jahrhunderts erstreckenden Zeitabschnitt. Die den Beginn und das Ende markierenden Wendepunkte sind bei aller Berücksichtigung der Phasenverschiebungen und spezifisch nationalen Aspekte die auf einem Klassenkompromiß zwischen Adel und Bourgeoisie beruhende englische Revolution von 1688 und die Französisdie Revolution von 1789. Innerhalb der aufklärerischen Bestrebungen erlangte die Literatur eine Schlüsselstellung. Es kam zu einer umfassenden Verflechtung des literarisdien Lebens mit dem gesamtgesellschaftlichen Geschehen, wobei die Massenwirksamkeit und der Kampfwert der Literatur ebenso wie das Engagement des Schriftstellers für den gesellsdiaftlidien Fortsehritt in eine neue Beleuchtung rückten und als wesentliche Merkmale galten. „Die Literatur erwirbt damit die Kompetenz zur Vermittlung und zur Vertretung aller Wissensbereiche, sie ist der Nenner für alle Geislesbemühungen - in ihr ist das Bewußtsein der gesellsdiaftlichen Verpflichtung aller Wissenschaften lebendig geworden . . . Ihre Vormacht wird aber vor allem durch ihre Herrschaft über die öffentliche Meinung begründet, die 34

selbst nicht nur als Objekt, sondern als spezifisches Produkt der Aufklärung begriffen werden muß." 1 0 In einem 1794 abgeschlossenen und postum veröffentlichten geschichtsphilosophischen Werk „Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain" gab sich Condorcet Rechenschaft darüber, welche bedeutsame Rolle die aufklärerischen Schriftsteller gespielt hatten. Seine Bilanz lautete: „Sehr bald entstand in Europa eine Klasse von Menschen, die weniger damit beschäftigt waren, die Wahrheit zu entdecken oder zu ergründen, als sie zu verbreiten. Sie widmeten sich der Aufgabe, all die Vorurteile bis in die Schlupfwinkel hinein zu verfolgen, in denen Klerus und Schulen, Regierungen und althergebrachte Korporationen ihnen Zuflucht gewährten und sie gehegt hatten; sie suchten ihren R u h m mehr darin, die im Volk verbreiteten Irrtümer auszurotten, als darin, die Grenzen des menschlichen Wissens zu erweitern. Sie dienten dem Fortschritt der Erkenntnis mittelbar, was weder ungefährlicher noch nutzloser war." 1 1 Weiterhin hob Condorcet hervor, daß sich diese Aufklärer sämtlicher Waffen zu bedienen wußten und sich durch Gelehrsamkeit, Philosophie, Geist und schriftstellerische Begabung auszeichneten: „. . . sie schlugen jeden Ton an, gebrauchten alle Formen des Ausdrucks vom Scherz bis zum Pathos, v o m gelehrtesten und weitschweifigsten Sammelwerk bis zum Roman oder zur Spottschrift, die für den Tag berechnet war." 12 Obgleich die Literatur in der Aufklärungsbewegung eine unübersehbare Schlüsselposition einnahm, was wiederum für die literarische Entwicklung selbst entscheidende Konsequenzen hatte, taucht in verschiedenen Literaturgeschichten eine Periode der Aufklärung überhaupt nicht auf. Zahlreiche bürgerliche Gelehrte sparten in der von ihnen vorgenommenen literarhistorischen Periodisierung die Aufklärung als eigentlich nichtliterarisches Phänomen einfach aus. Ihr periodengeschichtliches Schema für die sich vom 16. J a h r h u n d e r t bis zum 19. Jahrhundert erstreckende literarische Entwicklung lautete: Renaissance, Barock, Klassizismus und Romantik. Man ließ sich in bezug auf das 18. Jahrhundert ausschließlich davon leiten, daß die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelten literarischen Normen des Klassizismus bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein vorherrschten. Auf diese Weise konnte natürlich nur eine recht ungenügende Aussage über die tatsächlichen, sich im Laufe des 18. Jahrhunderts vollziehenden literarischen Prozesse zustande kommen. Zwei Aspekte durften hier keinesfalls übersehen werden. Erstens schloß 10

11 12

3*

W. Krauss, Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963, S. 419. Herausgegeben von IV. Alff, Frankfurt a. M. 1963, S. 275. Ebenda, S. 277.

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der grundsätzlich neue gedankliche Einsatz, der literarisch u. a. zu neuen Themen und Sichtweisen führte, nicht die Zertrümmerung der überlieferten Ausdrucksformen ein und die konsequente Negierung der damit in einem wechselseitigen Verhältnis stehenden ästhetischen Normen und Prinzipien. Zweitens wurden im Verlauf des 18. Jahrhunderts in zunehmendem Maße neue literarische Ausdrucksformen und Genres hervorgebracht, in denen Probleme zur Darstellung gelangten, für die sich die überlieferten Formen als wenig ergiebig erwiesen. Die Prosaformen, vor allem die Erzählung und der Roman, wurden umfassend für die literarische Bewältigung der bewegenden Gegenwartsprobleme genutzt. Nach den Grundsätzen der klassizistischen Poetik waren ja diese literarischen Bereiche von geringem künstlerischen Belang, und es existierten hierfür auch keine streng verbindlichen Regeln. Voltaire beispielsweise hielt an den klassizistischen Grundsätzen unbeirrt fest und behandelte aufklärerische Themen in den hohen Gattungen. Zugleich nahm er sich aber auch zunehmend der von der klassizistischen Kunstdoktrin nicht beachteten kleinen literarischen Genres an, als er die von seinen „Contes philosophiques" ausgehende Wirksamkeit erkannt hatte. Nicht zufällig lautete eine Äußerung von ihm, daß alle Genres gut sind außer den langweiligen. Wo die klassizistischen Normen den gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen zuwiderliefen, wurden sie umgangen oder modifiziert und schließlich offen attackiert, wie es die Thealerentwicklung im 18. Jahrhundert deutlich bekundete. Besonders die durch strenge Stiltrennung auf starre Erhaltung der Ständeordnung ausgerichtete klassizistische neoaristotelische Poetik bot der literarischen Gestaltung des selbstbewußt gewordenen Bürgers keinen Raum. Neben den klassizistisch orientierten Werken entstand das bürgerliche Schauspiel, ohne daß immer zugleich auch frontal gegen den Klassizismus zu Felde gezogen wurde, wie dies in Deutschland wirkungsvoll Lessing tat. Die radikalste Abrechnung mit dem klassizistischen Theater indessen nahm S. Mercier in Frankreich vor. Bereits 1773 verkündete er in seiner Streitschrift „Du théâtre ou Nouvel essai sur l'art dramatique", daß das klassische französische Theater auf verstaubten aristokratischen Grundsätzen beruhe. Ein Drama könne nur dann wahrliche Vollendung erreichen, wenn es überzeugend zu den Massen zu sprechen verstehe. Verschiedene Literarhistoriker meinten das erwähnte Periodisierungsschema dadurch aufzulockern, daß sie das 18. Jahrhundert teilten in eine noch zum Klassizismus gehörende erste Hälfte und eine Präromantik genannte zweite Hälfte. 13 Die Aufklärung blieb also weiterhin ausgeklammert. In der Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überwiegt nach ihrer Ansicht statt Ver13

Vgl. W . Schröder,

Die Präromantiktheorie - eine Etappe in der Geschichte der

Literaturwissenschaft?, in: Weimarer Beiträge 1967, S. 723—764.

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n u n f t und kritischer Verstandeshaltung das Moment der Empfindsamkeit. Es kündigt sich eine Revolte der Leidenschaften an, die Flucht in die Natur, der Hang zur Melancholie und Einsamkeit werden zu literarischen Modeerscheinungen. Wenn man mit J.-J. Rousseau nicht schon die Romantik beginnen ließ, so wurde er mindestens zu einem wesentlichen Stammvater der Präromantik erkoren. Führende Komparatisten erblickten in der Präromantik eine Slrömung europäischer Literaturentwicklung. 14 Was in der englischen und französischen Literatur auf diese Weise zur Präromantik deklariert worden war, dafür fand man eine Parallele im Sturm u n d Drang der deutschen Literatur und im Sentimentalismus der osteuropäischen Literaturen. Hier zeichneten sich charakteristische Fehleinschätzungen ab. Vor allem übersah man die elementare Tatsache, daß die französische Aufklärung, besonders ausgeprägt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dem philosophischen Sensualismus verhaftet war, Vernunft und Empfindsamkeit stets als Einheit faßte und der Sinnlichkeit volles Recht verlieh. 10 Auch bildeten Rousseau und seine Anhänger keine antiaufklärerische Gruppierung, vielmehr bezeugten sie auf der gedanklichen Basis der Spätaufklärung eine durch plebejische Akzente gekennzeichnete nonkonformistische Lebenshaltung gegenüber den herrschenden gesellschaftlichen Normen, den von den naturrechtlichen Prinzipien der Aufklärung getragenen Protest des aus ständischen Bindungen freigesetzten Individuums gegenüber bestehenden Konventionen. Das gleiche trifft auch auf die Bewegung des Sturm und Drang zu. Darin manifestierte sich nicht der Aufbruch zum Irrationalismus, der radikale Bruch zu einer fälschlich mit dem Piationalismus gleichgesetzten Aufklärung, wie das bis heute immer wieder behauptet wird. Werner Krauss hat überzeugend herausgearbeitet, daß der Sturm und Drang eine „Vorhut von stärkster Sprengkraft gegenüber allen Positionen und Werten der bestehenden Ständegesellschaft" 16 bildete und so die Vollendung der deutschen Aufklärung darstellte. Statt zahlreiche der Vorromantik zugeschriebene literarische Erscheinungen in die Aufklärungsbewegung einzuordnen, wo sie als neue vorrevolutionäre Momente hingehörten, wurden sie mit anderen offen reaktionären und antiaufklärerischen Phänomenen zu einer vorromantischen Einheit zusammengefügt, die der im 18. Jahrhundert vorgenommenen geschichtlichen Selbstbestimmimg widersprach. Die Aufklärung wurde so u m 14

15

16

Vgl. besonders P. Van Tieghem, Le préromantisme, Études d'histoire littéraire européenne, 3 Bde, Paris 1924-1930. W. Krauss, Französische Aufklärung und deutsche Romantik, in : Perspektiven und Probleme, Neuwied/West-Berlin 1965, S. 266 ff. W. Krauss, Uber die Konstellation der deutschen Aufklärung, in: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung. S. 382. Vgl. ferner E. Braemer, Goethes Prometheus und die Grundpositionen des Sturm und Drang, Weimar 1963.

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wesentliche vorrevolutionäre Partien gebracht, welche in die schiefe Perspektive einer nachrevolutionären Vorläuferschaft gerieten. Schließlich fehlten in der bisherigen Periodisierung der literarischen Entwicklung des 18. Jahrhunderts auch nicht aus der Kunstgeschichte übernommene Stilbegriffe. Insbesondere der Stilbegriff Rokoko erfreute sich in jüngeren Studien großer Beliebtheit zur Kennzeichnung der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts oder gar des gesamten Zeitalters. 1963 erschien von R. Laufer ein Buch mit dem charakteristischen Titel „Style rococo - style des lumières", worin Rokoko als Gesamtbezeichnung für den formalen Aspekt jener Literatur gewählt wurde, deren ideeller Aspekt als Aufklärung zu kennzeichnen ist. Ursprünglich war Rokoko nur für eine kurzlebige Mode der Ornamente in den Regierungsjahren Ludwigs X V . verwendet worden. Wir fühlen uns nicht kompetent, darüber zu befinden, ob Aufklärung auch als Periodenbegriff in der Musik- oder Kunstgeschichte Verwendung finden sollte. Für die literarische Entwicklung indessen besitzt unseres Erachtens dieser Periodenbegriff seine volle Berechtigung, da es sich bei der Aufklärung, wie knapp skizziert, um übergreifende ideologische Prozesse handelt, die aus einer epocheprägenden Klassenauseinandersetzung resultierten und gerade durch das Medium der Literatur instrumentiert wurden. Der Umstand, daß Aufklärung auch in verschiedenen anderen Bereichen der Ideologiegeschichte als gängiger Periodenbegriff für den annähernd gleichen Zeitraum benutzt wird, braucht keine Vernachlässigung der literarischen Besonderheiten einzuschließen. Eine auf größere Zusammenhänge bedachte literarhistorische Forschung ist vielmehr bemüht, diese herauszuarbeiten. Die mit den Aufklärungsbestrebungen verknüpfte neue Funklionsbestimmung der Literatur half literarische Prozesse auslösen, die unmittelbar zu der im 18. Jahrhundert hervortretenden literarischen Spezifik hinführten. Durch Periodenbegriffe wie Klassizismus, Präromantik oder Rokoko werden diese literarischen Prozesse nicht nur völlig ungenügend erfaßt, sondern auch aus ihrem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gerissen. Selbstverständlich war nicht die gesamte literarische Produktion in der Periode der Aufklärung von aufklärerischen Bestrebungen erfüllt. Im Gegenteil. Ein beträchtlicher Teil trug zur Legitimation der gegebenen ständischen Struktur bei, besaß apologetischen Charakter oder rief gar zum Kreuzzug gegen aufklärerische Gesinnung auf. Zahlreiche andere Werke hingegen bezeugten zwar keine unmittelbar aufklärerischen Züge, doch kündeten sie in ihrer abbildenden wie bildenden Funktion von den sich abzeichnenden bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen. Sie beleuchteten vor allem die Freisetzung des Individuums aus ständischen Bindungen sowie den sich innerhalb der aristokratischen Gesellschaft vollziehenden Zersetzungsprozeß. Auch wenn seitens des Autors kein ausdrückliches Bekenntnis zur Aufklärungsbewegung erfolgte, war hier in

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vielen Fällen durch den Zusammenhang mit bügerlichem Emanzipationsbemühen ein Verbindungsglied zur Aufklärung gegeben. Wenn für die vielfältige literarische Entwicklung im 18. Jahrhundert zum Periodenbegriff der Aufklärung gegriffen wird, dann geschieht dies deshalb, weil unter Beachtung der sozialökonomischen Bezüge die antifeudal orientierten ideologischen Prozesse und literarischen Erscheinungen als epocheprägend und damit als dominierend bezüglich ihrer historischen Bedeutsamkeit erscheinen.

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Walter

Dietze

„Renaissance" als Problem kulturhistorischer Periodisierung

Diskussionsbeitrag 1 In der Auseinandersetzung über Fragen der Periodisierung, über wesentliche Abschnitte der neueren europäischen Geschichte ist es unumgänglich, dem viel und vielschichtig verwendeten Begriff „Renaissance" wenigstens einige Bemerkungen zu widmen. „Renaissance" als historischer Vorgang bezeichnet Inhalt und Formen ideologischer Prozesse am Vorabend der frühbürgerlichen Revolution in Europa. Da diese Prozesse in der Spätphase des voll entfalteten Feudalismus beginnen, ursächlich und erscheinungsmäßig mit der absteigenden Entwicklung des Feudalismus verbunden sind, im wesentlichen bereits die Bedürfnisse sich neu herausbildender bürgerlicher Schichten und Klassen zum Ausdruck bringen und substantiell wie chronologisch bis in den Verlauf frühbürgerlicher Revolutionen hineinreichen, verkörpern sie in ihren wichtigsten Momenten die ideologische Ausprägung einer historischen Übergangsperiode. Im Klasseninhalt dieser Prozesse dominiert eine komplizierte Dialektik zwischen Einheitlichkeit und Uneinheitlichkeit. Der Klasseninhalt der neu entstehenden Renaissance-Ideologie ist insofern einheitlich, als er die Einheit der Widersprüche einer frühbürgerlichen Bewußtseinsbildung in ihrem frühesten Stadium u m f a ß t ; er ist insofern uneinheitlich, als er viele nationale, soziale, ökonomische, kulturelle und durch unterschiedliche Traditionswahl spezifizierte Sonderinteressen stets mitverkörpert und in besonderer Weise artikuliert. Die präzise Herausarbeitung dieser Dialektik ist als eine der künftigen Hauptaufgaben marxistisch-leninistischer Renaissance-Forschung anzusehen. Von den umfangreichen, bis heute in ihrem theoretischen Reichtum noch nicht genügend ausgeschöpften Äußerungen der Klassiker des Marxismus haben vor allem zwei stichwortartige Charakteristiken von Friedrich Engels grundlegende Bedeutung, nämlich seine Kennzeichnung der Renaissance als große 1

In ausgearbeiteter Form erschien dieser Diskussionsbeitrag unter dem Titel „Raum, Zeit und Klasseninhalt der Renaissance'" in: ,Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR', 11/1973.

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„Umwälzung" und sein Hinweis auf die in der Renaissance entstehende neue „ Ge&am tanschauung". Textkritische Untersuchungen lassen eindeutig erkennen, daß Engels bei der stichwortartigen Kennzeichnung der Renaissance eine aufschlußreiche Sinnveränderung vornahm: anstelle der ursprünglichen Formulierung „ . . . die größte Revolution, die die Erde bis dahin erlebt hatte" tritt später die allgemein bekanntgewordene Fixierung die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte". Diese Substituierung verweist sowohl auf den Ubergangscharakter der Renaissance, wie - vor allem - auf die Notwendigkeit, die renaissancistischen Ideologiebildungen bei retrospektiver Begriffsbestimmung nicht zu isolieren oder zu verabsolutieren, sondern sie prinzipiell im Zusammenhang mit der „Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens" als dem „in letzter Instanz bestimmende(n) Moment der Geschichte" wissenschaftlich zu erforschen. Auch der Hinweis auf die Entstehung einer neuen „Gesamtanschauung" hat methodologisch wichtige Bedeutung. Er macht deutlich, daß die bis heute allgemein gängige Behauptung, die Renaissance nehme in erster Linie einen „Bruch" mit dem „mittelalterlichen" Weltbild vor, nur die unzureichende Aufdeckung der negativen Seite des Sachverhalts darstellt, und regt dazu an, auf dessen positive Seite das Hauptaugenmerk zu legen, also in der Renaissance eine dialektische Aufhebung des feudalen Welt- und Menschenbildes zu sehen. Aus der Einheit beider durch die Stichworte „Umwälzung" und „Gesamtanschauung" gekennzeichneten Gesichtspunkte folgt, daß es nicht nur zulässig, sondern notwendig ist, der Renaissance in ihrer Gesamtheit die Qualität einer gesellschaftlichen Bewegung zuzuerkennen. Dies bedeutet zugleich, daß der dynamische, in stürmischer Entwicklung sich ausdrückende Inhalt dieser Bewegung alle starren, metaphysischen Begriffsbestimmungen von vornherein unmöglich macht. Wesen und Erscheinungsformen der Renaissance werden demzufolge primär gekennzeichnet durch ihren Doppelcharakter als gesellschaftliche Bewegung und historische Übergangsperiode. Es ist falsch und führt zu wissenschaftlichen Irrtümern kleinerer oder größerer Dimension, eine der beiden Seiten dieses Doppelcharakters übermäßig zu betonen oder zu vernachlässigen oder beide Seiten als kategorial miteinander nicht vereinbar anzusehen. Unter der Voraussetzung aber, daß dieser Doppelcharakter anerkannt wird, ergibt sich für künftige Forschungen die Chance, ihn so mit einem Ensemble von Erkenntnissen anzureichern, daß der Terminus „Renaissance" einen der historischen Wirklichkeit tatsächlich entsprechenden Inhalt erhält, weswegen das Postulat zurückgewiesen werden kann, diesen Begriff (als zu stark „geistesgeschichtlich" vorbelastet) radikal zu verwerfen. 42

Dagegen ist die Anwendung des Terminus ..Renaissance" im Sinne eines normativen oder kategorialen Begriffs wissenschaftlich unzulässig („ottonische" oder „karolingische" Renaissance, „Renaissance des 12. Jahrhunderts" elc.). Alle bisherigen Versuche einer solchen Erweiterung des Renaissance-Begriffs führten nolens volens zu einer Enthistorisierung und damit zu genereller Untauglichlceit. Die Frage, wieviele Renaissancen es gibt, kann kategorisch beantwortet werden: eine. In der ideologischen Auseinandersetzung der Gegenwart hat die Aufdeckung „normativer" Renaissance-Verfälschungen besonders deshalb große Bedeutung, weil sie innerhalb regressiver oder reaktionärer Geschichtsklitterungen und Legendenbildungen (Europazentrismus, .,Abendland"-Ideologie u. a.) einen funktionell wichtigen Stellenwert besetzt. Die Aufgabe, eine zuverlässige Chronologie und Pcriodisierung der Renaissance vorzulegen, ist auch von der marxistisch-leninistischen Forschung bisher nur sehr unvollständig gelöst. Wegen des raschen Voranschreitens der Forschung in internationalem Maßstab, besonders innerhalb des letzten Jahrzehnts, ist f ü r die Gesellschaftswissenschaftler der DDR auf diesem Felde ein beträchtlicher Nachholebedarf entstanden. Als problemaufschließende Fragen f ü r die nächsten Arbeitsschritte könnte die Untersuchung der Gleichzeitigkeit (Synchronie) der internationalen Renaissancebewegung bei Ungleichzeitigkeit (Diachronie) im nationalen Rahmen sowie definitorisclie und funktionelle Bestimmungen f ü r die „Vorgeschichte" und „Nachgeschichte" der Renaissance gelten. Mit der allgemeinen Charakteristik der Renaissance als historische Ubergangsperiode und gesellschaftliche Bewegung stimmt gut zusammen, daß sie, wenngleich nicht in absoluter Vollständigkeit, so doch in zentralen Momenten ihrer Kulminationsphase, auch als ideologische Vorbereitung politisch ausgefochtener Klassenkämpfe fungiert. In dieser Hinsicht (also nicht allgemein-paradigmatisch oder gar modellartig, sondern nur in dieser spezifischen Funktionsbestimmung) erhält sie in der gesamten historischen Ubergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus einen wichtigen Platz, indem sie erstmalig kulturgeschichtliche Konturen eines ideologiegeschichtlichen Vorgangs sichtbar werden läßt, der später in dem Verhältnis von Aufklärung und „klassischer" bürgerlicher Revolution auf höherer Stufenleiter reproduziert erscheint. Als eine Art Schlüsselfrage gewinnt in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Renaissance und Reformation zunehmend Bedeutung. Beginn, Höhepunkt(e) und Ausgang der Renaissance lassen in ihrer multinationalen Entfaltung einen polyzentrischen Entwicklungsgang erkennen, der von bisheriger Forschung nur mit ungenügender Intensität untersucht wurde. Als nicht regional, sondern wesensmäßig bestimmter Differenzierungsversuch böte sich an, sorgfältige vergleichende Untersuchungen anzustellen in bezug auf a) die vier „Hauptländer" Italien, Frankreich, Deutschland und England, 43

b) die relative Einheit des skandinavischen Bereichs sowie c) einige stark ausgeprägte Sonderentwicklungen in Spanien, Portugal und den Niederlanden, und d) in begrenzten Teilen der slawisch-osteuropäischen Region. Gehörige Beachtung der dargelegten Gesichtspunkte vermöchte den Vorwurf zu entkräften, dieser Difterenzierungsversuch sei als simpler Geographismus oder als verschleierte, vulgärmatcrialistische Neuauflage spätbürgerlicher Kulturkreistheorien zu hegreifen. Die Annahme einer Renaissance im gesamten eurasischen R a u m ist nicht haltbar. Anerkennung der wellhistorischen Bedeutung der Renaissance bedeutet nicht, ihr die Eigenschaft einer durchgängigen welthistorischen Erscheinung zuzumessen. Trotz dieser eindeutigen Grundsatzentscheidung kann weder behauptet werden, daß die Diskussion dieser Fragen unter sowjetischen Wissenschaftlern schon abgeschlossen wäre, noch daß diese Diskussion bereits in den Gesellschaftswissenschaften der DDR die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfahren hätte. Aber auch der Verwerfung einer Theorie von der Renaissance als „welthistorischer Erscheinung" lassen sich heute schon positive Aspekte abgewinnen. Als wichtige Fragestellungen zeichnen sich ab: einerseits die Aufgabe einer wünschenswerten Differenzierung östlicher Literaturen in Hinsicht darauf, ob in ihnen einzelne Elemente einer Gesellschaftsstruktur ausgebildet (oder abgebildet) sein mögen, die tvpologische Vergleichsmöglichkeiten zur Renaissance in Europa (partiell) zulassen, andererseits die Erörterung der Frage, ob etwa der arabischen Kultur in ihrer ,.vermittelnden" Funktion zwischen Ost und West innerhalb dieser Problematik eine besondere Rolle zukommt, deren Anerkennung eventuell sogar die soeben gekennzeichnete generelle Verwerfung zu modifizieren hätte. Es ist nicht möglich, die Uberwindung europazentristischer Positionen in der Renaissance-Forschung durch eine .,eurasische" Erweiterung des Untersuchungsobjektes zu bewerkstelligen. Die Einbeziehung ausgewählter Literaturen des Ostens in den Diskussionsbereich erscheint dennoch dringend geboten, weil auf diesem Wege (vorzüglich unter Anwendung komparativer Methoden) eine Reihe von Fragen der Einordnung der Renaissance in die übergeordnete Epochenproblematik sicherer beurteilt werden kann. Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Verwendung des Begriffs „Renaissance" als Epochenbezeichnung möglich, weil

ist nicht

a) damit nicht die gesamte Basis-Uberbau-Dialektik der Ubergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus erfaßt werden könnte, 44

b) alle entscheidenden Objcktivationen der Renaissance „nur" als scheinung zu qualifizieren sind,

Überbauer-

c) die Renaissance zwar an der Einleitung und Eröffnung dieser Ubergangsepoche funktionell beLeiligt ist, aber weder allein als ursächliclics Element für diese Eröffnung angesehen werden kann, noch (trotz eminent weitreichender Wirkung) als wesensbestimmend für die gesamte Epoche. Aus der methodologischen Notwendigkeit, die „Einmaligkeit" (Größe und historische Unwiederholbarkeit) der Renaissance zu betonen, folgt keineswegs, daß es berechtigt wäre, ihre Stellung gegenüber anderen gesellschaftlichen Bewegungen und revolutionären Prozessen in der Ubergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus als die einer mehr oder weniger abgetrennten Isolation einzuschätzen. Im Gegenteil: Es ist ein eklatanter Mangel bisheriger Forschungen (in eingeschränktem Sinne auch marxistisch-leninistischer), daß sie die weitausgespannte, in sich widersprüchliche Einheit von Renaissance, Humanismus, Reformation und letztlich auch ¡rühbärgerlicher Revolution durchaus ungenügend berücksichtigt haben. Sachliche, politische, methodologische und aktuell verwertbare Bedeutung der Diskussionen um die Renaissance müssen gerade in der Übergangsepoche vom Kapitalismus zum Sozialismus generell und einschränkungslos anerkannt werden. Diese Feststellung bedeutet für die Gesellschaftswissenschaften der DDR, daß der in den letzten Jahrzehnten eingetretene Forschungsrückstand nicht allein durch den (fortzusetzenden) Prozeß theoretischer Selbstverständigung über die Renaissance-Problematik bei eindeutiger Vernachlässigung wissenschaftsorganisatorischer Maßnahmen aufgeholt werden kann: Die Notwendigkeit einer zu konzentrierenden, nach gegebenen Möglichkeiten auch zu institutionalisierenden Organisation der Kräfte ist nicht länger bestreitbar.

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Robert

Weimann

Zur historischen Bestimmung und Periodisierung der Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts

Diskussionsbeitrag

Die in der Arbeit der Klasse „Erbe und Gegenwart" herbeigeführte intensive Korrelation von Literaturgeschichte und Realgeschichte fördert interdisziplinär vertiefte Periodenbestimmungen, wobei vom progressiven Standpunkt der marxistischen Geschichtsauffassung nicht zufällig die Aufklärung, aber auch die Renaissance die von Ernst Engelberg dargelegten „theoretisch-methodologischen Prinzipien" am fruchtbarsten zu integrieren verstehen. Doch die Integration dieser Prinzipien wirft auch Fragen und Probleme auf, die die historisch-materialistische Literaturgeschichte, sofern sie die Grenzen der Nationalliteraturen übersteigt, bislang schwerlich gelöst hat. Das gilt vor allem für die Periodisierung und literarhistorische Bestimmung des 17. Jahrhunderts, jene mittlere und doch relativ eigenständige Periode in der Ubergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus, die zwischen der Renaissance und der Aufklärung liegt: ein ungemein ereignisreicher Geschichtsraum, im äußersten bewegt durch Klassenkampf und wachsende Naturbeherrschung, durch jähe Widersprüche im Aufeinanderprall sozialer, klerikaler und nationaler Aktion und Reaktion, überreich an großer Dichtung von Milton, Bunyan, Góngora und Calderón, Corneille. Racine und Molière bis Gryphius und Grimmelshausen, voll widerstreitender Religiosität und irrationaler Ideologie, aber auch voll des materialistischen oder dialektischen forschenden Geistes eines Bacon, Hobbes, Descartes, Spinoza, Leibniz, Grotius und anderer Denker. Der Versuch einer literarhistorischen Bestimmung und Abgrenzung dieses Zeitraumes steht vor Problemen und Schwierigkeiten, die vielfach gravierender sind als im Fall der Renaissance und der Aufklärung - jenen literarhistorischen Perioden, zu denen sich die marxistische Literaturgeschichte (anders als gegenüber dem 17. Jahrhundert) stets als zu ihrem Erbe bekannt hat. Hier ist zunächst mit einiger Betroffenheit zu konstatieren, wie stiefmütterlich die marxistische Historie und Literarhistorie diese Periode doch behandelt hat. Trotz einzelner Beiträge von DDR-Forschern wie Kuczynski, Schilfert, Bahner, Dietze, Ley, trotz Samarin und Vipper, Klaniczay, Szarota und Hill in der SU, Ungarn, 47

Polen und England sind die übergreifende Bewegung und die innere Spannung in der historisch-literarischen Physiognomie des 17. Jahrhunderts wenig erhellt. Gerade die Frage nach der Periodisierung - als höchste Verallgemeinerung eines Systems zeitlicher Abläufe - bringt das an den Tag: Offene Fragen und widersprüchliche Antworten werden dort evident, wo die Literaturgeschichte die spezifischen Kriterien ihrer Periodisierung in den Veränderungen von Basis u n d Uberbau sucht - und noch nicht gefunden hat. Sie werden gerade dort sichtbar, wo die von Ernst Engelberg hervorgehobene Dialektik objektiver und subjektiver Faktoren auch für die Literatur relevant wird als eine den literarischen Prozeß bestimmende Wechselwirkung von künstlerischer Aneignung der Welt und Vergegenständlichung der historisch realisierten Potenzen und Sinneskräfte des vergesellschafteten Menschen. Die Schwierigkeit beginnt damit, daß sich - im Gegensatz zur Renaissance und Aufklärung - f ü r das 17. Jahrhundert kein wirklich akzeptabler Periodenbegriff anbietet. Auf der einen Seite hat sich die Literaturgeschichte in der DDPi in hellhöriger Erinnerung an das geistesgeschichtliche „Geklapper der stiltypologischen Antithesen" (W. Krauss) bislang nicht zum Barock als epochenstilistischer Verallgemeinerung entschließen können. Zur Problematik dieses Begriffs, der doch in Ungarn und anderen sozialistischen Ländern eine erstaunliche Resonanz fand und findet, ist bereits von E. Engelberg, W. Bahner und, in der Klasse, von G. Knepler Wesentliches gesagt worden, woraus hervorgeht, warum wir, die wir Begriffe wie „Renaissance" und „Aufklärung" übernommen haben, nicht auch ,,Barock" akzeptieren können. Zweifellos erweist der Terminus „Barock" die von Georg Knepler treffend kritisierte „Rückbildung des Verständnisses für den Zusammenhang von allgemeiner Geschichte und Kullurgeschichte", eben den konzeptionellen Verlust der Hegeischen „Totalität gleichzeitiger Ereignisse und Produkte". Darüber hinaus muß gesagt werden, daß die von Wölfflin entworfene stiltypologischc Abstraktion nicht lediglich die universalgeschichtliche Bewegung vom 15. bis 17. Jahrhundert preisgibt bzw. ersetzt durch das Polaritätsund Pendelschlagprinzip von Strenge und Freiheit, Einfachheit u n d Komplexität, von Fläche und Tiefe, Geschlossenheit und Offenheit, Klarheit und Unklarheit usw. Vielmehr wird damit eine Diskrepanz zwischen dem Reichtum geschichtlicher Bewegung und den bloß ästhetischen Kriterien ihrer Periodidisierung eingeführt, die eine neuartige Beziehungsarmut zwischen dem gegenwärtigen Historiker und den vergangenen Quellen seines Gegenstandes bezeugt. Eine für jede Periodisierung grundlegende methodologische Interrelation wird dadurch vergeben oder reduziert: die Interrelation zwischen dem Objekt der Periodisierung (also der Periode selbst) und dem Subjekt der Periodisierung (also dem zeitgenössischen oder historischen Bewußtsein dessen, der das Jahrhundert bezeichnet oder eben periodisiert). 48

In der Genesis und dem Inhalt des Renaissance- und Aufklärungsbegriffs war ein historisches Selbstbewußtsein geronnen, das die geschichtliche Bewegung der bezeichneten Periode in eine objektiv bestimmte Relation zur Gegenwart stellte, also Bewegtheit, nicht Statik, in der methodologischen Konzeption erlaubte und das Ausschreiten der Periode als Fortschreiten im historischen Prozeß bejahte. Es war ein Fortschreiten, zu dem wir uns - wie Werner Bahner und Walter Dietze zeigten - noch heute (und erst recht heute) in eine historiographisch produktive Beziehung setzen können. Das war und das ist eine Beziehung, die ein funktionales Moment im gesellschaftlichen Bewußtsein der Gegenwart erfüllt, eine Beziehung, die den Vorgang der Periodisicrung und den Inhalt der Nomenklatur selbst nicht nach Kategorien der Anschauung, sondern nach Kategorien der Praxis, als einen Aspekt wirklicher geschichtlicher Tätigkeit, realisiert. Doch der Barockbegriff verweigert diese funktionale Bczüglichkeit als objektives Moment des geschichtlichen Prozesses oder ersetzt sie durch die Analogie regressiver Züge zwischen dem 17. Jahrhundert und der bürgerlichen Gegenwart. Da das 17. Jahrhundert tatsächlich bestimmte Tendenzen der geschichtlichen Regression aufweist, ergeben sich in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Periodisierung dieses Jahrhunderts zwei Arten von Widerspruch: Der eine ist subjektiv, im Bewußtsein des gegenwärtigen Historikers gelagert und widerspiegelt sich in der Funktion der überlieferten historiographischen Terminologie (wie Barock, Manierismus usw.). Der andere ist objektiv gelagert, insofern das Objekt der Periodisierung, also das 17. Jahrhundert selbst, neben revolutionären Vorstößen in Holland und England und neben einer großen Tradition des materialistischen und dialektischen Denkens unübersehbare Regression aufweist: fortgesetzte Gegenreformation, Tendenzen der Refeudalisierung und ökonomische Rückbildung in Italien, Spanien und Deutschland, schließlich die Katastrophe des 30jährigen Krieges. Hier liegen grandiose Leistungen, aber auch Krisen und Stagnation, zu denen sich eine progressive Lilcraturgeschiclitsauffassung nur in widerspruclisreiche Beziehung setzt. Auf der anderen Seite ist es nicht zufällig das modernistische Bewußtsein heutigen bürgerlichen Perspektivverlusts, das gerade dem literarischen Ausdruck ambivalenter und regressiver Tendenzen ganz bestimmte ideologisch-ästhetische Bestätigungen seines eigenen Krisenbewußtseins abverlangt - wodurch eben die modernistische Rezeption des Manierismus, aber auch schon das ältere Interesse am Barock lebhaft stimuliert wurden. Wie soll nun aber angesichts dieser objektiv epochengeschichtlichcn Problematik und angesichts dieser Widersprüche in der Iiis tomographischen Reflexion des 17. Jahrhunderts eine historisch-materialistische Periodisierung und Bestimmung der Literaturgeschichte dieses Zeitraumes verfahren? 4

Engelberg

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Zur Diskussion dieser Frage bleibt hier nur Zeit, um - thesenhaft verknappt fünf Gesichtspunkte zu unterbreiten. Diese Gesichtspunkte, die keinerlei Anspruch auf eine erschöpfende oder auch nur ausgewogene Bestimmung der Periode erheben, sind vor allem unter dem Aspekt der Korrelation von Realgeschichte und Literaturgeschichte konzipiert. Sie verstehen sich wahrhaftig nur als ein erster Versuch und Diskussionsbeitrag zu einem wenig erforschten Gegenstand: Erstens wird vorgeschlagen, die dem 17. Jahrhundert eigentümlichen schroffen Antinomien zwischen bürgerlicher Revolution und feudalaristokratischer Restauration und das im ideologisch-ästhetischen Ausdruck noch viel komplexere Bild der sich überlagernden und zugleich hin- und herwogenden Gegensätze nicht als bedauerliche Verwischung oder leidige Verunklarung des l'eriodeuprofds zu sehen, sondern im Gegenteil als charakteristischen und epochenspezifischen Ausdruck der erstmals in voll entfalteter Aufspaltung vollzogenen Ausprägung der widerstreitenden Tendenzen der Ubergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus. Als die mittlere Periode im Rahmen dieser Ubergangsepoche kann dann auch die Literatur des 17. Jahrhunderts als Reflex und Agens der im europäischen Maßstab ganz unterschiedlich entwickelten Klassenkämpfe und geistigen Auseinandersetzungen verstanden werden. Diesem G rund Widerspruch des Jahrhunderts widerspricht auch nicht die auf absolutistischer merkanlilistischer Modiiikation des Feudalismus beruhende französische Klassik, deren überständisch-harmonisierendes Menschenbild des honnête homme die einzige große Synthese der realgeschichtlichen Divergenzen des Jahrhunderts verkörpert also ebenfalls auf diese Divergenzen unbedingt bezogen ist. Zweitens gewinnen die sich entwickelnden Nationalstaaten eine für die literarische und künstlerische Entwicklung ganz neuartige Bedeutung als Plattform, Reflex und Instrument der Epochenkämpfe. Durch verstärkte innere Marktbildung, durch absolutistische oder bürgerlich-revolutionäre Konsolidierung und entsprechende Sonderentwicklungen werden die großen Antagonismen in nationaler Abgrenzung spezifiziert und gerade dadurch auf neue Weise zugleich auch universalisiert, also in Literatur und Kunst in höherem Maße abstrahierbar, stilisierbar, konkretisierbar. Der Absolutismus, einstmals Vorkämpfer gegen den Feudaladel und Bringer gesellschaftlicher Einheit, verliert seine Macht an das Parlament oder entmachtet das Parlament, womit neuartige Klassenkonstellationen einhergehen, die die relativ geschlossene freischwebende Schicht der literarisch-humanistischen Intelligenz auflösen und wiederum integrieren und Literatur und Kunst in neuartige Wirkungs- und Funktionszusammenhänge stellen. Drittens wird der für die Kunst und Literatur entscheidende Inhalt dieser Entwicklungen durch die gewandelte Rolle der Volksmassen und ihr veränder-

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tcs Verhältnis zur Bourgeoisie mitbestimmt. Der in England und Spanien so fruchtbar ausgeprägte Kontakt humanistischer und volkstümlich-plcbejischer Kräfte zerfällt, und die sich emanzipierende oder aber mit dem Adel allürende Bourgeoisie trennt sich in Wirtschafte-, Lebens- und Denkweisen von den Volksmassen, deren revolutionärer Kraft sie 1520 und noch 1640 bedurfte. Im voll entfalteten Absolutismus verbleibt zwischen la cour et la ville kein offizieller Raum mehr für den künstlerisch-literarischen Ausdruck der Interessen und Traditionen der Volksmassen, ebenso wie schon vor der glorreichen Revolution der „grundherrlichen und kapitalistischen Plusmachcr" die revolutionäre Linke und die antirestaurative Vorhut der Good Old Cause im Monmouth-Aufstand 1685 vernichtete und die plebejische Kultur und Dichtung vorerst in den puritanischen Dissent zurückverwiesen wird. Nur in den zurückgebliebenen Ländern, wo die Entwicklung der Bourgeoisie stagniert, gewinnt dalier - wie in Spanien und Deutschland - clio Tradition volkstümlicher Erfahrung ein die späthumanistische und klassizistische Poetik überschattende Bedeutung für die Literatur. Viertens findet diu dem Jahrhundert eigene gesellschaftliche Antinomie zwischen Revolution und Restauration charakteristische Entsprechungen im steten Widerspruch ideologisch-literarischer Vorgriffe und Rückgriffe, wodurch die Literatur des 17. Jahrhunderts in ihrer Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität stets einerseits auf die Renaissance zurückweist, andererseits zur Aufklärung hin gerichtet ist. Sehen wir von der Synthese der französischen Klassik ab, so muß hervorgehoben werden gerade das für die mittlere Periode der großen Ubergangsepochc so charakteristische Vor- und Rückläufige realgeschichllicber und literarischer Prozesse, aber auch der Vorgriff durch Rückgriff. Die im Ausgang der Renaissance und bei Einsatz der (Früh-)Aufklärung am Anfang bzw. am Ende des Jahrhunderts auftretende Diskontinuität im Umschlag evolutionärer Kontinuität verweist auf realgesehichtliche Prozesse, die eben nicht im 17. Jahrhundert beginnen und nicht im 17. Jahrhundert enden. Das betrifft gerade auch die Quellen der Wasserscheide zwischen Revolution im Norden und Regression in Italien, Spanien und Deutschland: Sie entspringen spätestens im 16. Jahrhundert der Verlagerung der Handelswege in den Atlantik, in so folgenschweren Ereignissen wie der Niederlage der deutschen Bauern, dem Sieg über dio spanischen Communeros und dem Niedergang bürgerlicher Wirtschaftsformen in Italien, Spanien und Deutschland sowie politisch-klerikalen Reaktionen wie dem Konzil von Trient und anderen Faktoren. Auf der anderen Seite basieren aber auch die revolutionären Vorstöße in England und den Niederlanden auf einem schon im 16. Jahrhundert voll einsetzenden, kontinuierlichen Prozeß der Entfeudalisierung städtischer und vor allem auch agrarischer Lebens- und Produktionsverhältnisse. Diese Vorstöße,

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gerade weil sie kontinuierlich an den Aufstieg des Bürgertums im 16. Jahrhundert anknüpfen, schlagen im England des 17. Jahrhunderts um in revolutionäre Diskontinuität: der Bürgerkrieg und seine ideologische Vorbereitung eröffnen das Tor zur Aufklärung und zur industriellen Umwälzung des 18. und 19. Jahrhunderts. Die englischen Quellen der Aufklärung und die wissenschaftlich-ideologischen Voraussetzungen der industriellen Revolution liegen im 17. Jahrhundert. Erst die Revolution und die protestantische Republik führen nach dreißigjähriger Vergessenheit Sir Francis Bacons Ideen (wie auch William Ilarveys Entdeckung des Blutkreislaufs) erstmals zu wirklich öffentlicher Ausstrahlung und Anerkennung. Schließlich - fünftens - besitzt das Jahrhundert bei all seinen zentrifugalen Energien einen entschiedenen Knoten- und, Wendepunkt: Das ist zugleich der Höhepunkt der Klassenkämpfe, den wir um 1648 ansetzen, dem Jahr der endgültigen Anerkennung der Generalstaaten, des Westfälischen Friedens, zugleich der parlamentarischen Fronde und des Aufstandes in Sizilien und in Neapel unter Masaniellos Führung. Berücksichtigen wir das Vor- und Rückläufige, die sich überlagernden, wechselseitig verschlingenden, aber auch zeitweilig harmonisierten Linien der literarischen Reflexion der Klassenkämpfe, so erfüllt diese Zäsur eine unmittelbare Funktion in der Realgeschichte, aber eine nur mittelbare (und noch genauer zu erforschende) Funktion in der Literaturgeschichte: Sie trennt die kontinentale Hegemonie Spaniens in der ersten Jahrhunderthälfte von der Frankreichs in der zweiten Jahrhunderthälfte, aber sie trennt das Nachspiel der Renaissance vom Vorspiel der Aufklärung viel weniger deutlich, weil ja so bedeutende Erscheinungen wie die französische Klassik oder das Werk eines Gryphius oder Grimmelshausen (Simplicissimus, 1669) aus der Jahrhundertmitte gar nicht wegzudenken sind. Für die Literaturgeschichte wird daher die realgeschichtliche Zäsur als kulminierender Knotenpunkt der mittleren Periode der großen Übergangsepoche erst dann aufschlußreich, wenn das größte revolutionäre Ereignis des Jahrhunderts, die englische Revolution und Republik von 1649, in seinen Voraussetzungen und Fernwirkungen als periodenbestimmend erkannt wird. Dann nämlich wird sichtbar, daß die zweite der großen Entscheidungsschlachten gegen den Feudalismus mitten aus ihren heroischallteslamentarischcn Losungen heraus das Tor zur Aufklärung aufstößt: Die von Bacon verkörperte Zuwendung zu den wirklichen Dingen der Welt eröffnet eine auf Naturbeobachtung und Naturnachahmung beruhende dichterisch-prosaische Weltaneignung, die über das 17. und auch noch über das 18. Jahrhundert hinausweist. Die siegreiche Revolution Nr. 2 macht diese Perspektive möglich, und sio macht sie unverlierbar, aber sie verwirklicht sie nicht. Das größte dichterische Werk der englischen Revolution, das Werk John Miltons, erringt seine poetische Kraft und die geistige Reichweite seines Vorgriffs durch Rückgriff: 52

Die große Vision der revolutionären Emanzipation des Individuums von Vormundschaft und Sündenfall erfolgt im Zeichen des Alten Testaments. J o h n Milton, begeisterter Schüler der Naturwissenschaften, Freund u n d Förderer der späteren Gründer der Royal Society, ist doch zugleich der Schöpfer von Paradise Lost und Paradise Regained. Der späte protestantische Humanist wird zum Revolutionär, der - über die englische Renaissance hinausgehend - der europäischen Aufklärung den Weg freimacht, ohne selbst aber diesen Weg zu betreten. Gerade diese Position kennzeichnet die spezifische Signatur der mittleren Periode der Ubergangsepochc vom Feudalismus zum Kapitalismus, u n d in diesem Sinne ist die englische bürgerliche Revolution - realhislorisch wie literarhistorisch - der Kulminationspunkt der periodenbestimmenden, vor- und rückläufigen gesellschaftlichen Bewegungen dieses Jahrhunderts.

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