This study takes "Text and Textual Value" as the starting point for an extensive analysis of the Greek manuscr
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German Pages 658 [660] Year 2023
Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Teil I: Voraussetzungen
1 Einführung
2 Ausgangssituation
3 Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung
4 Forschungsgeschichtlicher Überblick
5 Methodische Erläuterungen
Teil II: Handschriften und Gruppierungen
1 Bestandsaufnahme
2 Die Papyri
3 Die Majuskeln
4 Die Minuskeln
Teil III: Beobachtungen zur Genese des Apk-Textes
1 Das Kernproblem der Apk-Überlieferung
2 Vorbemerkungen zur Auswertung der Textgenese
3 Die ältesten Textzustände
4 Die Koine- und Andreas-Tradition
5 F1678 als Beispiel eines jungen Mischtextes mit alten Wurzeln
Teil IV: Reflexionen und Schlussbetrachtungen
1 Methodische Folgerungen: CBGM vs. Schmid
2 Paratexte und Ausstattung der Handschriften
3 Handschriften und Gruppierung
4 Textgenese
5 Ausgangstext und Varianten
6 Schlussbemerkungen und Ausblick
Anhänge
Bibliografie
Register
Darius Müller Der griechische Text der Johannesapokalypse und seine Überlieferung
Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung
Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Neutestamentliche Textforschung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster von Holger Strutwolf und David C. Parker
Band 57
Darius Müller
Der griechische Text der Johannesapokalypse und seine Überlieferung
Beobachtungen zur Genese von frühen und späten Textzuständen
ISBN 978-3-11-119255-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-119430-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-119468-4 ISSN 0570-5509 Library of Congress Control Number: 2023939535 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Meiner Frau, Marietta, & meiner Mutter, Wilma
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im März 2022 abgeschlossen und der Kirchlichen Hochschule Wuppertal als Dissertationsschrift vorgelegt. Im Juni 2022 wurde sie durch den Promotionsausschuss als Promotionsleistung angenommen. Für die Drucklegung wurde die Arbeit nur geringfügig überarbeitet. Dabei konnte nach Abschluss der Arbeit erschienene Literatur nur noch im begrenzten Umfang berücksichtigt werden. Mein großer Dank gilt meinem Doktorvater, Martin Karrer, der mich seit meinem Studium über das normale Maß hinaus wissenschaftlich gefördert hat. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Editionsprojekt „Erstellung einer kritischen Edition der Johannesapokalypse“, das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft seit 2011 gefördert wird, hat er mir die Möglichkeit zur textkritischen Forschung gegeben und das Thema der Arbeit angeregt. Durch die anhaltende Auseinandersetzung mit Josef Schmid, dem größten Textkritiker der Apokalypse des 20. Jahrhunderts, und der Tätigkeiten an Text-und-Textwert ist die Idee einer neuen textgeschichtlichen Darstellung der griechischen Apokalypse-Überlieferung zu einem eigenen Forschungsvorhaben herangereift. Stets hat mein Doktorvater die Arbeit mit Rat sowie weiterführender Kritik begleitet und mir gleichzeitig alle Freiheiten eingeräumt, um eine eigenverantwortliche Darstellung der Apokalypse-Überlieferung zu entwickeln. Durch die langjährige gemeinsame Arbeit im Editionsprojekt bin ich meinem Doktorvater zu mehr als nur wissenschaftlichem Dank für die Betreuung meiner Dissertation verpflichtet; er war stets ein Förderer meiner Person und Familie. Ebenso möchte ich Ulrich B. Schmid meinen Dank aussprechen. Er hat das Zweitgutachten erstellt und die Arbeit seit ihren Anfängen mit kritischer Sachkenntnis und großem Interesse begleitet. Desgleichen habe ich der Wuppertaler neutestamentlichen Sozietät zu danken, in der ich diverse Beobachtungen meiner Forschung kritisch und mit großem Wohlwollen an einem ansonsten abseits gelegenen Fachgebiets diskutieren konnte. Namentlich möchte ich hier vor allem Claudia Janssen, Kurt Erlemann und François Vouga erwähnen, die durch ihre problemorientierten Rückfragen meinen Fokus geschärft haben. Neben meiner Tätigkeit im Editionsprojekt hatte ich auch Gelegenheit, in einem Forschungsprojekt zu den Paratexten der Apokalypse („Die Paratexte zur neutestamentlichen Johannesapokalypse in griechischen Handschriften“) mitzuwirken, das von 2019-2021 durch die Thyssen-Stiftung gefördert und gemeinsam von Martin Karrer, Martin Wallraff und Patrick Andrist geleitet worden ist. Durch die intensive Zusammenarbeit bin ich ferner Martin Wallraff und Patrick https://doi.org/10.1515/9783111194301-202
VIII Vorwort Andrist zu großem Dank verpflichtet, die mich einen kodikologischen und paratextlichen Blick auf die Apokalypse-Überlieferung gelehrt haben. Viele Beobachtungen in der vorliegenden Arbeit wären ohne diese glückliche Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Forschungsprojekt der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und der Ludwig-Maximilians-Universität München nicht möglich gewesen. Nicht minder hat das Graduierten Kolleg 2196 „Dokument – Text – Edition“ meinen Horizont erweitert. In der Zeit von 2017–2020 hat mich das Kolleg dankenswerterweise als assoziiertes Mitglied aufgenommen und mir so die Möglichkeit gegeben, über den schmalen Tellerrand der neutestamentlichen Textkritik hinauszublicken. Insbesondere Jochen Johrendt, Wolfgang Lukas und Rüdiger Nutt-Kofoth bin ich zu Dank für viele ausgiebige Gespräche über die Materialität und Geschichte von überlieferten Texten verpflichtet. Auf vielerlei Weise bin ich zudem meinen aktuellen und ehemaligen Kollegen am Institut für Septuaginta und biblische Textforschung in Dankbarkeit verbunden. Viele Anregungen in nicht weniger zahlreichen Gesprächen im Büro, an der Kaffeetheke oder jüngst in Videokonferenzen verdanke ich Marcus Sigismund, der diverse Passagen der Arbeit mit kritischem Auge gelesen hat, Matthias Geigenfeind, Garrick Allen, Peter Malik, der mit kritischem Auge auf meine Analyse der Papyri und Majuskelfragmente geblickt hat, und Oliver Humberg. Neben dem fachlichen Austausch bedanke ich mich an dieser Stelle auch für die großartige kollegiale und freundschaftliche Unterstützung in all der Zeit. Für einen ebenso lehrreichen wie hilfsbereiten Austausch über die Arkana der Kohärenzbasierten Genealogischen Methode (CBGM) möchte ich außerdem Klaus Wachtel und Annette Hüffmeier vielmals danken. Beide haben mich darin geschult, Varianten und Lesarten zu differenzieren, Zeugen-Relationen sachgemäß einzuschätzen und Apparate mit philologischer Präzision zu erstellen. Außerdem möchte ich Holger Strutwolf und David Parker für die Aufnahme meiner Arbeit in die renommierte Reihe „Arbeiten zur Neutestamentlichen Textforschung“ sowie dem De Gruyter Verlag in Person von Albrecht Döhnert für die Möglichkeit der Publikation meinen Dank aussprechen. Außerdem sei Gabriela Rus und Antonia Pohl für die freundliche und kompetente Unterstützung bei der Drucklegung gedankt. Den größten Dank schulde ich meinen engsten Angehörigen. Meine Mutter, die aus einem Arbeitermilieu stammt, hat mir den Weg zum Abitur und Studium gewiesen; ihr verdanke ich meine Entscheidung zu einem akademischen Werdegang. Desgleichen möchte ich meinen Schwiegereltern und Geschwistern danken, die mich auf diesem Weg stets ermutigt und unterstützt haben. Für willkommene Abwechselung und Abenteuer abseits des Schreibtisches möchte ich in Liebe
Vorwort IX
meinen beiden Söhnen, Joschua und Paul Elia, danken. Kaum in Worte fassen lässt sich der Dank an meine Frau, Marietta. Seit dem Studium teilt sie mich mit der Theologie und meinem unbändigen Interesse an der Forschung. Die Stunden, die sie in das Korrekturlesen dieses Buches und all seiner Fußnoten investiert hat, lassen sich kaum zählen. Sie ist die erste und beste Zeugin des Autographen – jeden Buchstaben hat sie als Diorthotis getreulich geprüft und nichts selbst hinzugefügt oder weggelassen; sehr wohl hat sie aber im Manuskript allerlei Fehler ausgemerzt und den Autor dazu ermutigt, sich hier und da kürzer zu fassen oder den einen oder anderen Gedanken genauer darzulegen. Ohne sie wäre dieses Buch nie geschrieben worden. Ihr und meiner Mutter ist es darum in unermesslicher Dankbarkeit gewidmet. Ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ μετὰ πάντων/ μετὰ πάντων τῶν ἁγίων. Hier ist Weisheit für alle, die sich der handschriftlichen Überlieferung annehmen und den bezeugten Text ergründen. Möge dieses Buch seinen bescheidenen Beitrag zum Verständnis der Apokalypse-Überlieferung leisten.
Schwerte, Ostern 2023
Darius Müller
Inhalt Teil I:
Voraussetzungen
Einführung 3
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Ausgangssituation 6 Theorie der Textkritik 10 Textsicherung und Textreproduktion 16 Textsicherung im Spiegel handschriftlicher Überlieferung 16 Die Akteure und Akteurinnen der Überlieferung 20
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Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung 26 Umstrittene Verfasserschaft der Apk 26 Textgeschichtliche Besonderheiten 29 Hier ist Weisheit: Die Spracheigentümlichkeiten der Apokalypse 33 Wortwahl und Wortbildung 34 Syntax und Ausdrucksweise 36 Stilistik und Textkritik 40
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Forschungsgeschichtlicher Überblick 43 Der Diskurs über die Textkonstitution 43 Die Kritik am Textus Receptus und dessen Überwindung 45 Die Apokalypse in den großen kritischen Ausgaben des Neuen Testaments 51 Herman C. Hoskier und die Kollation der ApokalypseHandschriften 57 Der Diskurs über die Textgeschichte 61 Der ältere und der emendierte Apokalypse-Text – Bernard Weiss 61 Die Entdeckung des Andreas-Textes – Wilhelm Bousset 64 Die vier Stämme der Apokalypse-Überlieferung – Josef Schmid 67 Desiderata 73
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Methodische Erläuterungen 76 Begriffliche Voraussetzungen 76
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XII Inhalt .. .. .. .. . .. .. .. .. . . . .. .. .
Der Begriff „Zeuge“ 76 Die Begriffe „Gruppe“ und „Familie“ 77 Der Begriff „Textzustand“ 78 Der Begriff „Texttradition“ 79 Text und Textwert der Apokalypse 80 Die Grundlagen der Teststellen-Methode 80 Auswahl der Teststellen in TuT-Apk 81 Die Lesartenbezifferung in TuT-Apk 84 Die Auswertungslisten in TuT-Apk 86 Bindefehler/-lesarten vs. Übereinstimmungsquoten 89 Zur Verwendung von Gruppensigla 95 Die Kohärenzbasierte Genealogische Methode 95 Die Grundlagen der CBGM 98 Zwei Typen von Kohärenzen 105 Aufbau und Zielsetzungen 108
Teil II: Handschriften und Gruppierungen . . .
Bestandsaufnahme 115 Die Apokalypse-Handschriften ιεʹ und ιϛʹ der Editio Regia 117 Änderungen von GA-Nummern 121 Supplemente mit Apk-Text 124
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Die Papyri 127 Kurzbeschreibung der Apk-Papyri 127 Beobachtungen zum Text von P18, P24 und P115 132 P18 in TuT-Apk 133 P24 in TuT-Apk 134 P115 in TuT-Apk 136
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Die Majuskeln 141 Kurzbeschreibung der Apk-Majuskeln 142 Beobachtungen zum Text von 01, 02, 04, 0169 und 0229 157 01, 02 und 04 in TuT-Apk 157 0169 in TuT-Apk 161 0229 in TuT-Apk 163
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Die Minuskeln 165 Minuskeln mit hohem Anteil an LA-2 165
Inhalt XIII
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Minuskeln mit höchstem Textwert 166 Minuskeln mit höherem Textwert 175 Ständige Zeugen von NA28 in Relation zu TuT-Apk 183 Koine-Gruppe 187 Gruppenbegriff und Textcharakter 188 Untergruppen 191 Andreas-Gruppe 193 Textkritische Bewertung der Andreas-Handschriften 194 Der Lemmatext des Andreas-Kommentars 199 Abgrenzung der Andreas-Gruppe 203 Illuminationen in 2028, 2044, 2054 und 2083 207 Fazit 208 Complutense-Gruppe 209 Geschlossenheit und Textcharakter der ComplutenseGruppe 213 Scholien und Alternativlesarten in ComplutenseHandschriften 218 Zusammenfassung 224 Wichtige Familien 225 Arethas-Handschriften 226 Das Cluster 104 (C104; ehemals F104/R) 232 Die Familie 172 (F172/O) 238 Weitere Zeugen 252 Abschriften von Druckausgaben 252 Philocalia-Fragment und vernakular-griechische Handschriften 256 Einzelzeugen und Paare 258
Teil III: Beobachtungen zur Genese des Apk-Textes
Das Kernproblem der Apk-Überlieferung 277
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Vorbemerkungen zur Auswertung der Textgenese 285 Auswahl der relevanten Zeugen 285 Vorgehen 287 Stellen mit unsicherer Textkonstitution in NA28 289
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Die ältesten Textzustände 291 02 und 04 293
XIV Inhalt .. .. .. . .. .. .. .. . .. .. .. .
Verbindende und trennende Lesarten von 02 und 04 294 Die Familie 2053 in Relation zu 02 und 04 311 Beobachtungen zur Textgenese von 02, 04 und 2053 318 P47 und 01 320 Der Textcharakter von P47 321 Der Textcharakter von 01 327 Beziehung von P47 und 01 339 Beobachtungen zur Textgenese von P47 und 01 345 Weitere frühe Textzustände 352 Der Textzustand 01 353 Der Textzustand 2846 357 Der Textzustand 025 360 Zwischenergebnis 366
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Die Koine- und Andreas-Tradition 369 Entstehung durch Rezension oder Textentwicklung 371 Das Problem der scheinbar eigentümlichen Varianten 375 LA-3: Die Koine-Gruppe 376 LA-4: Die Andreas-Gruppe 388 Entwicklung aus früheren Textzuständen 409 Koine-Tradition 410 Andreas-Tradition 427 Binnenentwicklungen 442 Koine-Tradition 442 Andreas-Tradition 453 Relation 471 Gemeinsame Varianten von 82 und 2081 473 Varianten von 2081 prioritär zu 82 478 Varianten von 82 prioritär zu 2081 482 Varianten ohne direkte Verbindung zwischen 82 und 2081 487 Fazit zur Entwicklung der Koine- und Andreas-Tradition 490
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F1678 als Beispiel eines jungen Mischtextes mit alten Wurzeln 494 Der Textbestand von F1678 und seine Herkunft 495 Erläuterungen zu einzelnen Varianten von F1678 498 Textgeschichtliche Verortung von F1678 507 Binnenentwicklungen F1678 511 Textgeschichtliche Einordnung von F1678 514
Inhalt XV
Teil IV: Reflexionen und Schlussbetrachtungen
Methodische Folgerungen: CBGM vs. Schmid 521
Paratexte und Ausstattung der Handschriften 525
Handschriften und Gruppierung 529
Textgenese 536
Ausgangstext und Varianten 543
Schlussbemerkungen und Ausblick 554
Anhänge 557 Bibliografie 609 Register 627
Teil I: Voraussetzungen
Einführung Wie keine andere Schrift des Neuen Testaments polarisiert die Johannesapokalypse (Apk) durch ihren außergewöhnlichen Inhalt, indem sie auf spektakuläre Weise vom eschatologischen Handeln Gottes erzählt. Wer es wagt, sie zu öffnen, wird durch ihre eigentümliche Bild-, Motiv- und Sprachwelt immer wieder zu einer intensiven Auseinandersetzung herausgefordert. Dies gilt nicht nur für die rezipierende Gegenwart, sondern auch für die unzähligen Kopistinnen und Kopisten,1 die vornehmlich in Form von Handschriften beharrlich ihren Wortlaut über die Jahrhunderte im Bemühen um größtmögliche Sorgfalt reproduzierten und so die Offenbarung Jesu Christi vor allerlei weltlichen Verlustgefahren durch Schimmel, Wurm, Feuer und Wasser bewahrt haben. Bekanntlich zeichnet sich die Überlieferung der Apk durch diverse Eigentümlichkeiten im Vergleich zu den übrigen neutestamentlichen Schriften aus. Alle Nutzer und Nutzerinnen werden unmittelbar in der Einleitung zur wissenschaftlichen Standardausgabe, NestleAland28, des Neuen Testaments auf diesen Umstand hingewiesen:
1 Bislang konnten keine Merkmale zur Differenzierung von weiblichen und männlichen Schreiberhänden ermittelt werden, zumal die bekannten Schreiber soweit ersichtlich Männer waren; vgl. dazu die einschlägigen Verzeichnisse der Kopisten E. Gamillscheg/Harlfinger, Repertorium der griechischen Kopisten 800–1600, 1. Teil Handschriften aus den Bibliotheken Grossbritanniens, A. Verzeichnis der Kopisten, Veröffentlichungen der Kommission für Byzantinistik III/3A, Wien 1981; E. Gamillscheg/D. Harlfinger, Repertorium der griechischen Kopisten 800–1600, 2. Teil, Handschriften aus den Bibliotheken Frankreichs und Nachträge zu den Bibliotheken Großbritanniens, A. Verzeichnis der Kopisten, Veröffentlichungen der Kommission für Byzantinistik III/2A, Wien 1989; E. Gamillscheg/D. Harlfinger/P. Eleuteri, Repertorium der griechischen Kopisten 800–1600, 3. Teil Handschriften aus den Bibliotheken Roms mit dem Vatikan, A. Verzeichnis der Kopisten, Veröffentlichungen der Kommission für Byzantinistik III/3A, Wien 1997. Dagegen weist aber Kim Haines-Eitzen darauf hin, dass Frauen sehr wohl eine Schreibausbildung erhalten konnten und sogar speziell zur Schönschrift trainiert worden sind; siehe dazu die Ausführungen in K. Haines-Eitzen, Guardians of Letters: Literacy, Power, and the Transmitters of Early Christian Literature, Oxford/New York 2000, 41–52. Demnach ist zumindest denkbar, dass auch einzelne neutestamentliche Handschriften von Frauen kopiert worden sind. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit entweder stets von weiblichen und männlichen Schreibern gesprochen oder eine geschlechtsneutrale Umschreibung gewählt, um dem Phänomen bzw. der Unsicherheiten bei der Geschlechtsdifferenzierung von Händen Rechnung zu tragen. In der Handschriften-Tradition finden sich durchaus Anhaltspunkte für Produktionen unter weiblicher Beteiligung. So schlagen z. B. für den Codex Alexandrinus der Patriarch von Alexandrien Kyrillos Loukaris (1572–1638) und ein arabischer Paratext im Codex (Vol. 1, fol. 1v) vor, dass er durch Thekla die Märtyrerin kopiert worden sei. https://doi.org/10.1515/978311119430-001
Einführung Die Überlieferung der Apokalypse weist im Vergleich mit den übrigen neutestamentlichen Schriften viele Besonderheiten auf. Zu diesen Besonderheiten gehört, dass der Text der byzantinischen Mehrheit in zwei unterschiedlichen Traditionssträngen vorliegt.2
Obwohl auch andere neutestamentliche Bücher wie die Apostelgeschichte eine auffällige Textgeschichte haben,3 findet sich in der Einleitung von NA28 nirgendwo ein vergleichbarer Hinweis zur Überlieferungssituation einer Schrift. Allein dieser Umstand verdeutlicht die Sonderrolle der Apk in der neutestamentlichen Texttransmission. Das auffälligste Merkmal ist die Tatsache, dass im Vergleich zu den übrigen Schriften des Neuen Testaments für die Apk kein weitgehend einheitlicher Text durch die Mehrheit der Handschriften überliefert wird. Anstelle eines Mehrheitstextes, der textgeschichtlich als ‚Byzantinischer Text‘ bezeichnet werden darf,4 zerfallen die Apk-Handschriften in mehrere klar differenzierbare Gruppen. Dieser Umstand hat gravierende Auswirkungen auf sämtliche Bereiche der Textherstellung: von der Auswahl der für die Edition
2 Nestle-Aland28, 23*. 3 Siehe z. B. die Diskussion über den sog. „westlichen Text“ der Apostelgeschichte in: G. Büsch, The "Western" Text of Acts Evidenced by Chrysostom?, in: H. Strutwolf/G. Gäbel/A. Hüffmeier/G. Mink/K. Wachtel (Hgg.), Novum Testament Graecum. Editio Critica Maior, III: Die Apostelgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 2017, 186–220; G. Gäbel, „Western Text,“ „D-Text Cluster,“ „Bezan Trajectory,“ Or What Else? – A Preliminary Study, in: H. Strutwolf/G. Gäbel/A. Hüffmeier/G. Mink/K. Wachtel (Hgg.), Novum Testament Graecum. Editio Critica Maior, III: Die Apostelgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 2017, 83–136; K. Wachtel, On the Relationship of the "Western Text" and the Byzantine Tradition of Acts – A Plea Against the Text-Type Concept, in: H. Strutwolf/G. Gäbel/A. Hüffmeier/G. Mink/K. Wachtel (Hgg.), Novum Testament Graecum. Editio Critica Maior, III: Die Apostelgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 2017, 137–148; M. W. Holmes, The "Western" Text of Acts: A Challenge for Historians, in: H. A. G. Houghton/D. C. Parker/H. Strutwolf (Hgg.), The New Testament in Antiquity and Byzantium. Traditional and Digital Approaches to its Texts and Editing – A Festschrift for Klaus Wachtel, Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung 52, Berlin/Boston 2019, 1–22. 4 Mit Klaus Wachtel kann der Mehrheitstext in textgeschichtlicher Perspektive als Byzantinischer Text bezeichnet werden, da er nachweislich in der großen Mehrheit aller Handschriften ab dem 9. Jahrhundert dominiert. Siehe dazu K. Wachtel, Der Byzantinische Text der Katholischen Briefe, Eine Untersuchung zur Entstehung der Koine des Neuen Testaments, ANTF 24, Berlin/New York 1995, 7. So in der Sache auch H. Strutwolf/G. Gäbel/A. Hüffmeier/G. Mink/K. Wachtel, Novum Testamentum Graecum. Editio Critica Maior III: Die Apostelgeschichte, Bd. 1.1: Text, Kapitel 1–14, Stuttgart 2017, 2*. Die Apokalypse ist allerdings aus den genannten Gründen von dieser Definition auszunehmen, da auch in byzantinischer Zeit mehrere Texttraditionen konkurrieren und sich in der Überlieferung keine Textform als unumstrittener Mehrheitstext durchsetzen konnte.
Einführung
maßgeblichen Handschriften bis zur Wiedergabe der Bezeugung einzelner Varianten im kritischen Apparat.5 Die größte Herausforderung besteht allerdings in der Darstellung der Textgeschichte sowie der damit einhergehenden textkritischen Bewertung der Handschriften in ihrer Funktion als Zeugen für den Apk-Text. Obwohl zur Mitte des 20. Jahrhunderts viele Fragen zur Texttransmission der Apk gelöst schienen und deswegen auch von Kurt Aland keine Text-und-Textwert-Auswertung angestrebt worden ist, durchzieht die Textkonstitution des NA28 zahlreiche ungelöste Probleme und fragwürdige Textentscheidungen.6 Trotz aller Bemühungen den Apk-Text zu bereinigen und ihn auf eine verlässliche textgeschichtliche Grundlage zu stellen, konstatiert Martin Karrer angesichts der Fülle an verbliebenen Unwägbarkeiten, „wie unvollendet die im 19. Jh. begonnene Korrekturarbeit“7 letztendlich geblieben ist. Nicht zuletzt ziehen neue Handschriftenfunde wie P98 und die Fortschritte der modernen Informationstechnologie vermeintlich sichergeglaubte Erkenntnisse in Zweifel und lassen nach konsistenteren Erklärungsmodellen für die Textgeschichte der Apokalypse fragen.
5 Beispielsweise kann das in den ECMs der Katholischen Briefe, der Apostelgeschichte und des Markus-Evangeliums prominent verwendete Siglum „Byz“ zur Bezeichnung der Codices Byzantini als Zeugengruppe bzw. als Angabe der Variante des Byzantinischen Textes im Apparat bei der Apk aufgrund der geschilderten überlieferungsgeschichtlichen Besonderheiten in dieser Form nicht weiterbenutzt werden. Analog dazu können auch keine Codices Byzantini nach den bisherigen Prinzipien ausgewählt werden (siehe dazu den Überblick von H. A. G. Houghton, An Initial Selection of Manuscripts for the Editio Critica Maior of the Pauline Epistles, in: H. A. G. Houghton/D. C. Parker/H. Strutwolf (Hgg.), The New Testament in Antiquity and Byzantium. Traditional and Digital Approaches to its Texts and Editing – A Festschrift for Klaus Wachtel, Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung 52, Berlin/Boston 2019, 343– 360, hier 347–353). Stattdessen müssen relevante Zeugen für alle relevanten Überlieferungsströme der Apk gemäß dem Anteil an spezifischen Lesarten zur Darstellung der Textgeschichte des 1. Jahrtausends aufwendig ermittelt werden. 6 Exemplarisch sei auf Apk 18,3 verwiesen. Die Rekonstruktion von πέπωκαν beruht allein auf dem Zeugnis von 2329 und 1006C, wohingegen 01, 02 und 04 mit diversen Minuskeln πεπτώκασιν bezeugen. 7 M. Karrer, Der Text der Johannesapokalypse, in: J. Frey/J. A. Kelhoffer/F. Tóth (Hgg.), Die Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Rezeption, WUNT 287, Tübingen 2012, 43–78, hier 52.
Ausgangssituation Herman C. Hoskier8 und Josef Schmid9 heben durch ihre epochalen Arbeiten zur griechischen Überlieferung der Apk den Weg zur gegenwärtigen Textfassung von Nestle-Aland28 bereitet und die textgeschichtliche Grundkonzeption geschaffen, auf deren Basis seitdem sämtliche Handschriften inklusive neuer Funde profiliert werden.10 Während Hoskier insbesondere das Handschriftenmaterial erschloss und eine umfangreiche Kollation aller ihm erreichbaren Handschriften vorlegte, widmete sich Schmid vor allem Fragen nach der Textgeschichte, um so die Textkonstitution zu begründen. Im Kern besteht Schmids textgeschichtliches Erklärungsmodell – das noch näher zu besprechen sein wird (siehe Teil I: 4.2.3) – aus der Annahme von vier unabhängigen Texttypen, die er gelegentlich auch als „Stämme“ bezeichnete:11
8 Das für die Textkritik der Apokalypse immer noch relevante zweibändige Werk ist H. C. Hoskier, Concerning the Text of the Apocalypse: Collations of all existing available Greek Documents with the Standard Text of Stephen’s third Edition together with the Testimony of Versions, Commentaries and Fathers. A complete Conspectus of all Authorities, vol. 2, London 1929. Die Materialfülle der vollständigen Kollation aller Hoskier bekannten und zugänglichen Handschriften der Apokalypse konnte bis heute durch keine neue Arbeit in ihrem Wert für die Quellenerschließung abgelöst werden. Zwar umfasst Text-und-Textwert über Hoskier hinaus etliche weitere Handschriften, doch beschränkt sich die Kollation auf 123 ausgewählte Teststellen. 9 An dieser Stelle seien nur die wichtigsten Arbeiten Schmids zur Textgeschichte der Apokalypse aufgeführt: J. Schmid, Untersuchungen zur Geschichte des griechischen Apokalypsetextes. I: Der Apokalypsetext des Arethas von Kaisareia und einiger anderer jüngerer Gruppen, TBNGP 17, Athen 1936; J. Schmid, Untersuchungen zur Geschichte des griechischen Apokalypsetextes. II: Der K-Text, Bib. 17 (1936), 11–44.167–201.273–293.429–460; J. Schmid, Studien zur Geschichte des griechischen Apokalypse-Textes, 2. Teil: Die alten Stämme, MThS.HE 1c, München 1955; J. Schmid, Studien zur Geschichte des griechischen Apokalypse-Textes. 1. Teil: Der Apokalypse-Kommentar des Andreas von Kaisareia, Bd. I/1 Einleitung, MThS.HE 1, München 1956. Seine wichtigste Arbeit liegt auch in englischer Übersetzung vor: J. Hernández Jr./G. V. Allen/D. Müller, Josef Schmid: Studies in the History of the Greek Text of the Apocalypse. The Ancient Stems, SBL.TCS, Atlanta, GA 2018. 10 Es sei hier exemplarisch auf zwei Arbeiten von David Parker und Markus Lembke verwiesen, die die wichtigen Handschriften P115 und 2846 je auf der Basis des von Schmid entwickelten textgeschichtlichen Modells profilieren: D. C. Parker, A New Oxyrhynchus Papyrus of Revelation: P115 (P. Oxy. 4499), in: ders. (Hg.), Manuscripts, Texts, Theology. Collected Papers 1977–2007, ANTF 40, Berlin/New York 2009, 73–92, hier 91; M. Lembke, Die ApokalypseHandschrift 2846. Beschreibung, Kollation und Textwertbestimmung eines wichtigen neuen Zeugen, NT 54 (2012), 369–395, hier 394. 11 Ein summarischer Überblick seines textgeschichtlichen Erklärungsmodell findet sich in Schmid, Studien II, 44.85. https://doi.org/10.1515/978311119430-002
Ausgangssituation
Die Hauptzeugen für den sog. A-Text, der in seinen Augen den mit Abstand besten Zeugen der Apokalypse darstellt, sind die Zeugen GA 02 und 04 sowie der Text, den der Ausleger Oecumenius seinem Kommentar zugrunde gelegt hat;12 letzterer ist am besten in der Minuskel 2053 erhalten geblieben. Daneben identifizierte Schmid den S-Text als zweiten alten Stamm der ApokalypseÜberlieferung, der primär durch P47 und 01 bezeugt wird. Da von P47 jedoch ein Großteil des Textes fehlt, lässt sich dieser Texttyp nicht mit derselben Sicherheit feststellen wie der A-Text. Schließlich gibt es noch zwei Texttypen, auf die sich der Großteil der jüngeren Minuskel-Handschriften aufteilt, nämlich den Koine- und Andreas-Text. Durch die Sigla 𝔐𝔐K und 𝔐𝔐A sind sie im Apparat von Nestle-Aland28 nachgewiesen. In Rücksicht auf Schmids Werk schloss Kurt Aland die Apokalypse von den Arbeiten an „Text und Textwert der griechischen Handschriften des Neuen Testaments“ aus, weil diese doppelte Arbeit seiner Meinung nach unnötig war: […] alle Schriftengruppen des Neuen Testaments mit Ausnahme der Offenbarung des Johannes, die bei den Kollationen von vornherein mit Rücksicht auf das dreibändige Werk von Josef Schmid, dessen Arbeit nicht unnötig wiederholt werden sollte, ausgelassen worden war.13
Wie es scheint, hatte Alands Entschluss zur Folge, dass die Textforschung zur Apk weitgehend auf dem Stand von Schmid blieb. Freilich sind weitere Handschriften entdeckt (etwa P115 oder 2846) und textkritisch analysiert worden, doch stets passierte dies auf der Grundlage von Schmids Darstellung der ApkÜberlieferung. Nicht zuletzt liegt hierin der Grund, weshalb der TuT-Band zur Apokalypse erst 2017 erschienen ist.14
12 Obwohl der Autor des mit dem Namen Oecumenius verbundenen Apokalypse-Kommentars nicht mehr mit Sicherheit zu ermitteln ist, verbindet sich mit seinem Namen die älteste erhaltene griechische Auslegungstradition zur Apokalypse. Zu den Hintergründen des OecumeniusKommentars und der Diskussion über die Autorschaft siehe einführend J. Schmid, Ökumenius der Apokalypse-Ausleger und Ökumenius der Bischof von Trikka, BNGJ 14 (1937), 322–330; W. C. Weinrich, Greek Commentaries on Revelation, Ancient Christian Texts, Downers Grove, IL 2001, xix–xxxix. Eine moderne Edition dieses Kommentars ist M. de Groote, Oecumenius Commentarius in Apocalypsin, TEG 8, Leuven 1999. 13 K. Aland, Text und Textwert der griechischen Handschriften des Neuen Testaments. Bd. I/1, ANTF 9, Berlin 1987, V. 14 M. Lembke/D. Müller/U. B. Schmid, Text und Textwert der griechischen Handschriften des Neuen Testaments, VI: Die Apokalypse, Teststellenkollation und Auswertungen, in Verbindung mit Martin Karrer, ANTF 49, Berlin/Boston 2017. Künftig zitiert als „TuT-Apk“.
Ausgangssituation Erst der zunehmende zeitliche Abstand zu Hoskier und Schmid erlaubte einen Neuaufbruch der Forschung; seit den 2010er Jahren nimmt das Interesse am Text der Apokalypse, den griechischen Handschriften sowie den Versionen und der patristischen Rezeption stetig zu. In seinem 2012 publizierten programmatischen Aufsatz zur Textkonstitution der Apokalypse brachte Martin Karrer die Tragweite der textkritischen Problem-felder auf den Punkt: Die Bestandsaufnahme fällt kritisch aus. Der heutige Text der Apk [sc. Nestle-Aland28] ist durch auffällige Reminiszenzen des Textus receptus, bedenkliche Unklarheiten bei der Erschließung und Kollation der Zeugen sowie erhebliche Inkonsistenzen in der Abwägung zwischen den Hauptzeugen belastet.15
Obwohl die Exegese zur Interpretation einen verlässlichen Leittext benötigt, steht sie der kontrafaktischen Spannung gegenüber, dass die aktuelle Textkonstitution der Apokalypse diverse Mängel und Unzulänglichkeiten aufweist. Karrer forderte deshalb nachdrücklich dazu auf, die Arbeiten an der modernen Editio Critica Maior der Apokalypse, die derzeit an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal entsteht, unverzüglich in Angriff zu nehmen.16 Das Ziel besteht darin, der exegetischen Wissenschaft einen validen, auf der Neuauswertung aller relevanten Quellen basierenden Leittext bereitzustellen. Wie komplex und tiefgreifend die auf diesem beschwerlichen Weg zu lösenden textkritischen Rätsel sind, wird freilich erst bei der konkreten Arbeit ersichtlich. Schon Tobias Nicklas beobachtete in seiner Studie zum frühen Text der Apokalypse, dass sich manche Handschriften wie z.B. P98 gegen die Einfügung in Schmids textgeschichtliches Erklärungsmodell sperren. Er wirft daher die wegweisende Frage auf, inwiefern dessen Konzept überhaupt noch tragfähig sei und ob es nicht konsistentere Möglichkeiten zur Darstellung der ApkTextgeschichte gäbe: Even if Schmid’s overall view of the textual history of Revelation withstands further critical research, some other questions arise. How can the relation between Schmid’s two ‘later’ text types, Andrew and Koine, be assessed more clearly than was previously possible? […] Is there any chance today of describing this development more consistently than Schmid was able to do? How can the relationship between Andrew’s text and the Koine be put in clearer terms than Schmid does?17
15 Karrer, Text (2012), 77. 16 So das Schlussvotum bei Karrer, Text (2012), 78. 17 T. Nicklas, The Early Text of Revelation, in: C. E. Hill/M. J. Kruger (Hgg.), The Early Text of the New Testament, Oxford 2012, 225–238, 237.
Ausgangssituation
Die Auswertungsdaten in TuT-Apk bestätigen Nicklas’ Beobachtung und erhärten dessen Bedenken an Schmids Erklärungsmodell der Apk-Textgeschichte. Aus dem Datenmaterial werden neben P98 zahlreiche weitere Handschriften ersichtlich, die offensichtlich keinem von Schmids Texttypen (A-, S-, K- und ΑνText) angehören.18 Außerdem werfen die geringen Übereinstimmungswerte zwischen den Handschriften 01 und P47 einerseits und 02, 04 und 2053 die Frage auf, ob die von Schmid behaupteten Texttypen 01 und 02 tatsächlich existieren.19 Der Befund weckt jedenfalls begründete Zweifel an dessen Thesen und zwingt zu einer Neuuntersuchung des Sachverhalts. Im Rekurs auf Karrer und Nicklas sind die zwei zentralen Fragestellungen nach der Textgenese und der darauf basierenden Textkonstitution inhaltlich umrissen. Die gegenwärtige Forschung steht damit vor einer ebenso relevanten wie beschwerlichen Aufgabe. Dabei führen Nicklas’ Bemerkungen das epistemologische Grundproblem vor Augen, wonach alle erzielten Erkenntnisse wesentlich durch die angewandte Methode bedingt sind. Die vorliegende Arbeit wird die Überlieferung der Apk im Sinne der Kohärenzbasierten Genealogischen Methode (CBGM) betrachten. Das wesentliche Merkmal dieser Methode besteht in der Skepsis gegenüber jeder Art von Texttypen-Hypothesen, mit deren Hilfe die neutestamentliche Überlieferung unsachgemäß vereinfacht und die Textgeschichte einer Schrift als Folge davon nur verzerrt beschrieben wird;20 stattdes 18 Eine exemplarische Untersuchung dieser Frage zu den Handschriften 2329 und 2351 bietet D. Müller, Die Apokalypse-Handschriften GA 2329 und 2351. Textkritische und textgeschichtliche Beobachtungen zu zwei „ständigen Zeugen für die Apokalypse“ in Nestle-Aland28, in: M. Sigismund/D. Müller (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse II, ANTF 50, Berlin/Boston 2017, 367–408. 19 Anders als man nach Schmids Darstellung erwarten könnte, fallen die Übereinstimmungswerte zwischen den Hauptvertretern der vermeintlichen Texttypen gering aus: So liegen die Übereinstimmungswerte zwischen P47 und 01 je nach Auswertungsverfahren lediglich zwischen 58 % und 61 %. Allerdings konnte P47 nur an 34 Teststellen verzeichnet werden, was berechtigterweise die Frage nach der Aussagekraft dieser Prozentwerte aufwirft. Gleichwohl geben sie im Sinne der TuT-Auswertungsmethode einen Eindruck vom Verhältnis dieser Handschriften, die offensichtlich in über einem Drittel des Textes merklich voneinander abweichen. Mit Blick auf die Handschriften 02 und 04 erreichen die Übereinstimmungswerte im Bestfall 75 %, wohingegen 2053 als Hauptzeuge der Oecumenius-Gruppe deutlich dahinter zurückfällt und höchstens zu 57–59 % mit den beiden Majuskeln übereinstimmt. Angesichts dieser relativ niedrigen Übereinstimmungswerte kann Schmids Auffassung über die Textgeschichte der Apokalypse nicht mehr vorbehaltlos akzeptiert werden. Siehe dazu auch TuT-Apk, 66*–67*. 20 Zur Kritik am Versuch die Texttypentheorie in die moderne Textkritik zu retten siehe K. Wachtel, Die kohärenzbasierte Methode und ihre Ergebnisse für die neutestamentliche Textgeschichte, BN 184 (2020), 43–72, 44–50. Auch empirisch lassen sich Texttypen nicht nachweisen, weil dies „nur um den Preis einer fragwürdigen Reduktion der einbezogenen Evidenz möglich“ ist (Wachtel, Methode, 50).
Ausgangssituation sen werden sämtliche überkommene Textzustände auf ihre direkte Abhängigkeit voneinander untersucht – es gilt das uneingeschränkte Primat der einzelnen Textzustände und ihrer Relationen zueinander. Der besondere Reiz dieses Erkenntnisverfahrens liegt darin, dass die Existenz von Texttypen nicht als methodische Hypothese vorausgesetzt wird. Gleichwohl lassen sich Textgruppen – ihre Existenz vorausgesetzt – innerhalb der Überlieferung durch enge genealogische Verbindungen aufspüren und nachweisen. Für die Überprüfung der älteren Forschungsthesen ergeben sich somit zwei Optionen: Entweder sind ebendiese Textgruppen mit Schmids Texttypen identisch, was deren Existenz beweist, oder sie sind genealogisch nicht nachweisbar, wieso sich die Frage der Neubewertung des Befunds stellt. Dabei bleibt zu klären, inwiefern die CBGM ein adäquates Instrumentarium zur Untersuchung der Apk-Überlieferung ist und sie diese konsistent darzustellen vermag.
. Theorie der Textkritik As I have said, the task of editing is to reconstruct the oldest available form of a work by analysis of the texts that appear in the extant witnesses.21
Die Bücher der Antike und des Mittelalters waren Handschriften in Form von Schriftrollen und Codices. Hinsichtlich ihrer materialen und textlichen Beschaffenheit verkörpert jede Handschrift ein Unikat, dem naturgemäß kein zweites Exemplar gleicht. Bis zur Erfindung des Buchdrucks, einem kulturgeschichtlichen Einschnitt ersten Ranges, bestand die einzige Möglichkeit der Reproduktion oder Vervielfältigung eines gegebenen Textes darin, ihn mühsam Buchstabe für Buchstabe abzuschreiben. Zum Wesen solcher handschriftlichen Überlieferungsprozesse gehört die Entstehung von mehr oder minder gravierenden Varianten, die sich im Verlauf der Reproduktionszyklen eingeschlichen haben. Diese scheinbar triviale Feststellung markiert im Vergleich zum modernen Buch eine Fundamentaldifferenz mit folgenschweren Konsequenzen für die Rezeption antiker Literatur. Sobald wir mit mehreren Exemplaren eines antiken Literaturstücks in Berührung kommen, werden wir nicht selten mit dem Phänomen textlicher Varianz zwischen den einzelnen Überlieferungsträgern konfrontiert. Unter dem Begriff ‚Variante‘ lassen sich Stellen eines Textes definieren, an denen er in mehr als einer Form bzw. einem Wortlaut vorliegt. Anders gesagt bietet jede Handschrift eine ihr eigentümliche und einzigartige Gestalt des Tex 21 D. C. Parker, Textual Scholarship and the Making of the New Testament. The Lyell Lectures Oxford, Trinity Term 2011, Oxford 2012, 28.
Theorie der Textkritik
tes. Freilich kann auch der gesamte Text einer Handschrift als eine von vielen vorhandenen Varianten beschrieben werden. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Texte der meisten Handschriften über etliche Passagen hinweg übereinstimmen, d.h. nicht voneinander abweichen. Wenn also der Gesamttext einer Handschrift im Unterschied zu einer anderen Handschrift als ‚Variante‘ definiert wird, lassen sich die tatsächlich variierten Einzelstellen nur noch schwer einfangen. Deswegen wird ‚Variante‘ hier als Bezeichnung für die Einzelstellen verwendet, an derer sich eine Handschrift von einer anderen im Gegensatz zu gleichlautenden Passagen unterscheidet. Es geht darum, die Unterschiede zwischen zwei oder mehreren Handschriften in überschaubare Abschnitte einzuteilen, um so die Relation aller Handschriften bestimmen zu können.22 Des Weiteren ist anzumerken, dass nicht jede Abweichung im Buchstabenbestand zwischen zwei Handschriften als ‚Variante‘ zu definieren ist. Neben Varianten finden sich in den Handschriften auch gedankenlose Fehler wie etwa die Auslassung des Substantivs nach einem Artikel, Orthographica (alternative Schreibweisen desselben Wortes z.B. θάλαττα statt θάλασσα) oder Abkürzungen wie Nomina sacra. All diese Erscheinungen sind keine Varianten im eigentlichen Sinne; gemäß ECM-Definition gilt als Variante, nur „eine von mindestens zwei Lesarten desselben Textabschnitts […], die grammatisch korrekt und im Kontext logisch möglich sind“.23 Laut David C. Parker sind Handschriften grundsätzlich sowohl Träger als auch Tradenten des Textes, den sie überliefern.24 In diesem Sinne verkörpern sie historische Artefakte und geben mitunter reichlich Auskunft über ihre Entstehung, Herkunft und Verwendung, womit sie einen essenziellen Beitrag zur Erforschung der christlichen Sozialgeschichte leisten. Obwohl die realiengeschichtliche Rückfrage nach den Handschriften und den damit verbundenen Implikationen ihres Eigenwertes ebenso relevant wie interessant ist, spielt sie in der vorliegenden Arbeit lediglich eine untergeordnete Rolle. Im Fokus steht vielmehr der Text der Apokalypse, den sie überliefern, weshalb buchorientierte Details nur dann thematisiert werden, wenn sie für das Verständnis des bezeugten Textes unmittelbar von Belang sind.25 In ihrer Funktion als Tradenten trans 22 Die Definition des Begriffs „Variante“ folgt D. C. Parker, An Introduction to the New Testament Manuscripts and their Texts, Cambridge 2008, 4. 23 ECMActa I, 8*. 24 Parker, Introduction, 3. 25 Der beschriebene Umstand kommt auch in der verwendeten Nomenklatur zum Ausdruck. In aller Regel werden die Sigla der neutestamentlichen Handschriftenliste von Gregory-Aland benutzt, da sie nicht die Handschrift als solche, sondern den durch sie überlieferten Text bezeichnen. K. Aland/M. Welte/B. Köster/K. Junack, Kurzgefaßte Liste der griechischen Hand-
Ausgangssituation portieren Handschriften Literatur durch die Zeit und bekunden dabei einen ihnen je eigentümlichen Text. Welche Qualität und Bedeutung dieser Text hat, muss für jede Handschrift eigens ermittelt werden und steht nicht notwendigerweise im unmittelbaren Bezug zu ihrer materialen Erscheinungsform.26 Diese Differenzierung ist nicht zuletzt unter textkritischen Gesichtspunkten stets zu berücksichtigen, da die physische respektive paläografische Datierung einer Handschrift nichts über das Alter des durch sie überlieferten Textes aussagt. Damit sei gesagt, dass auch vergleichsweise junge Handschriften wie Paris, Bibliothèque nationale de France (BNF), grec 977 einen alten und gewichtigen Text der Apokalypse (GA 2846) bezeugen können.27 Als Teil des Neuen Testaments gehört die Apokalypse überdies zu einem besonderen Überlieferungsbereich antiker Literatur, indem sie über die Jahrhunderte durch die massenhafte Produktion von Handschriften und andauernden Kopierprozesse stetig vervielfältigt wurde. Dabei existiert leider nicht die eine autoritative Handschrift, an der sich die Exegese orientieren könnte, sondern aus der Masse der erhaltenen Textzeugen muss erst mühsam ein für die Auslegung verlässlicher Leittext rekonstruiert werden. Anspruch und Funktion der ECM des Neuen Testaments lauten darum wie folgt: Die Editio Critica Maior stellt der Wissenschaft das gesamte Quellenmaterial zur Verfügung, von dem die Textkonstitution und die Darstellung der Textgeschichte des ersten Jahrtausends ausgehen muss, […]. Aufgrund dieses Materials wird der Text der Ausgabe neu konstituiert.28
Der in der ECM rekonstruierte Text markiert den Startpunkt, von dem die Überlieferung ausgeht, und wird durch die Darstellung der Textgeschichte des maßgeblichen ersten Jahrtausends der Texttransmission gewonnen. Mit Gerd Mink
schriften des Neuen Testaments, 2., neubearbeitete und ergänzte Auflage, ANTF 1, Berlin/New York 1994. Sofern physische Aspekte einer Handschrift zur Debatte stehen, wird stets die sie eindeutig als Artefakt ausweisende Bibliotheks- bzw. Archiv-Signatur angegeben. 26 Dies sei an einem kurzen Beispiel verdeutlicht: Der Codex Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana (BML), Plut. 4. 30 beinhaltet eine äußerst prachtvoll gestaltete Teilsammlung des Neuen Testaments aus Apostelgeschichte, Katholischen und Paulinischen Briefen sowie der Apokalypse. Der von dieser Handschrift bezeugte Text, nämlich GA 456 hat jedoch nur geringen textkritischen Wert und gehört bei der Apokalypse zur sog. Koine-Gruppe (siehe Teil II: 4.2). Die aufwendige und kostenintensive Herstellung der Handschrift lässt keineswegs auf ihren Textwert zurückschließen; stattdessen zeugt dieses Beispiel, dass Handschriften als Artefakte und Textzeugen je differenziert zu bewerten sind. 27 Zum Text von GA 2846 siehe Teil II: 4.1.1. 28 ECMActa I, 1*.
Theorie der Textkritik
darf dieser Text als ‚Ausgangstext‘ bzw. ‚Initial Text‘ bezeichnet werden.29 Wenngleich sich die Methoden zur Herstellung des neutestamentlichen Textes seit den Anfängen der kritischen Textforschung erheblich verändert haben, gelten immer noch Fenton J. A. Horts elementare Leitregeln: 1) „KNOWLEDGE OF DOCUMENTS SHOULD PRECEDE FINAL JUDGMENT UPON READINGS“.30 2) „ALL TRUSTWORTHY RESTORATION OF CORRUPTED TEXTS IS FOUNDED ON THE STUDY OF THEIR HISTORY, that is, of the relations of descent or affinity which connect the several documents“.31
Die Beurteilung der Überlieferungsträger fußt neben den Eckdaten aus Alter und Provenienz der Handschriften vor allem auf der „internal Evidence“ als Maßstab für die Textqualität einer gegebenen Handschrift. Sie wird aus den vorhandenen Lesarten und dem allgemeinen Variationsverhalten der Handschrift ermittelt, die wiederum durch eine bestmögliche Kenntnis der Textgeschichte zu fundieren ist. Zu diesem Zweck sind frühe und späte Textzuständen so differenzieren, dass sie in Relation gesetzt und auf Basis ihrer Beziehungen die relevanten Zeugen für die Textkonstitution der Edition bestimmt werden können. Hort spricht explizit von „corrupted texts“,32 d.h. verdorbenen Texten, als wesentliches Kennzeichen der neutestamentlichen Überlieferung. Keine vorhandene Handschrift enthält den originalen Wortlaut einer Schrift des Neuen Testaments, sondern sie stecken infolge unzähliger Kopierprozesse voller Fehler, Korrekturen und Abweichungen. Zudem klaffen aufgrund des Verlustes vieler Überlieferungsträger etliche Lücken unbekannten Ausmaßes in der erhaltenen Überlieferung. Die Diversität der Zeugen hüllt die Beziehung der meisten Textzustände in einen nebulösen Schleier. Die vornehmste Aufgabe der Textkritik und textgeschichtlichen Forschung ist es, diesen Schleier zu lüften. Gerd Mink bezeichnet ihn als „Kontamination“: Die Überlieferung neutestamentlicher Schriften ist im Ergebnis hochgradig kontaminiert. Dieses beruht darauf, dass immer wieder die Kopien der Texte nicht gänzlich auf nur einer einzigen Vorlage beruhen. Zwar sieht es so aus, als 29 G. Mink, Contamination, Coherence, and Coincidence in Textual Transmission: The Coherence-Based Genealogical Method (CBGM) as a Complement and Corrective to Existing Approaches, in: K. Wachtel/M. W. Holmes (Hgg.), The Textual History of the Greek New Testament: Changing Views in Contemporary Research, SBL.TCS 8, Atlanta/GA 2011, 141–216, 143. 30 B. F. Westcott/F. J. A. Hort, The New Testament in the Original Greek: Introduction, Appendix, vol. 1, Cambridge/London 1882, 31. 31 Westcott/Hort, Introduction, 40. 32 Westcott/Hort, Introduction, 40.
Ausgangssituation sei die Zahl der Kontaminationsvorgänge, die zur Vermengung verschiedener Textzustände führten, jeweils von Kopiergeneration zu Kopiergeneration durchschnittlich relativ gering gewesen. Durch die Vielzahl der Kopiervorgänge und die hohe Anzahl der verlorenen Textzustände – namentlich bei den textgeschichtlich älteren Zuständen – ergibt sich der hohe Kontaminationsgrad bei den erhaltenen Textzuständen.33 Welche Größenordnung die Kontamination in kopialen Überlieferungsprozessen hat, wird letztlich durch drei ausschlaggebende Faktoren bestimmt: 1) Abschriften wurden in aller Regel nicht ausschließlich nach einer Vorlage angefertigt, sondern Schreiber haben oftmals Varianten anderer Texte bewusst oder unbewusst in ihre Abschrift eingefügt;34 es kam daher 2) zu einer Vermengung verschiedener Textzustände im Verlauf der Reproduktionszyklen, während 3) die Masse der Kopierprozesse und der Verlust zahlreicher Textzustände den Grad der Kontamination bestimmen. Um das Problem der Kontamination mithilfe moderner Informationstechnik zu lösen hat Gerd Mink die bereits erwähnte Kohärenzbasierte Genealogische Methode entwickelt. Sie zielt auf die Überwindung der „hochgradige[n] Kontamination“, um anhand der erhaltenen Textzustände zur Darstellung der Über 33 Zitat entnommen aus Gerd Mink, Kohärenzbasierte Genealogische Methode – Worum geht es? von: https://www.uni-muenster.de/NTTextforschung/Genealogische_Methode.html (zuletzt abgerufen am 24.03.2023). 34 Welche Lesarten in der Überlieferung bewusst, d.h. mit Absicht und planvoll in den Text des Neuen Testaments eingetragen worden, und welche Lesarten unbewusst, sprich ohne Absicht eingedrungen sind, ist im Einzelfall schwer zu ermessen. In der Literatur finden sich zahlreiche Titel zu dieser Fragestellung. Die Intention besteht zuweilen darin, einzelnen Varianten eine spezifisch theologische Aussageabsicht entnehmen zu wollen. Dies mag in einigen Fällen auch zutreffen (z.B. die Variante λύει anstelle von μὴ ὁμολογεῖ in 1Joh 4,3), doch bleibt für die große Mehrzahl der Varianten weitgehend ungewiss, welche Treibkräfte zur Änderung des Textes geführt haben bzw. es sind verschiedene gleichrangige Erklärungen denkbar. Ein pointierter Vertreter der Theorie, dass Varianten absichtsvoll in den Text des Neuen Testaments eingefügt worden sind, ist Ehrman: B. D. Ehrman, The Orthodox Corruption of Scripture: The Effect of Early Christian Controversies on the Text of the New Testament, New York/Oxford 1993; B. D. Ehrman, The Text as Window: New Testament Manuscripts and the Social History of Early Christianity, in: B. D. Ehrman/M. W. Holmes (Hgg.), The Text of the New Testament in Contemporary Research. Essays on the Status Quaestionis, Second Edition, NTTSD 42, Leiden/Boston 2014, 803–830. Deutlich moderate Überlegungen zur Entstehung von ‚bewussten‘ und ‚unbewussten‘ Varianten finden sich indes bei D. C. Parker, The Living Text of the Gospels, Cambridge 1997, 37–39 Von wenigen Ausnahmen abgesehen spielt diese Fragestellung in der vorliegenden Arbeit allenfalls eine untergeordnete Rolle, da sie keinerlei Einfluss auf die Bestimmung der Relation von Handschriften hat respektive allein die Varianten als solche dafür maßgebend sind.
Theorie der Textkritik
lieferungsgeschichte zu gelangen. Dabei arbeitet die CBGM nicht mit Handschriften als solchen, sondern mit den durch sie bezeugten Texten und bringt diese in Relation zueinander. Die CBGM hat also keine Realiengeschichte im Blick; der Fokus liegt stattdessen auf den bezeugten Textzuständen und deren Abhängigkeitsverhältnis. Die enorme Datenfülle dieses Ansatzes macht den Einsatz von Computern zur Berechnung verschiedener Auswertungen erforderlich. Im Endeffekt entsteht so eine moderne, computergestützte Hypothese über die Textgeschichte einer neutestamentlichen Schrift. Wir werden auf die Einzelheiten dieser hochkomplexen Methode noch im Detail zu sprechen kommen. Wenngleich Kontamination die wesentliche Eigenschaft und zugleich das Hauptproblem der neutestamentlichen Überlieferung ist, kann die CBGM unmöglich in der vollen Bandbreite ihrer Möglichkeiten im gegebenen Rahmen der vorliegenden Arbeit zur Anwendung kommen. Wie im Rahmen der Einleitung noch genauer zu besprechen sein wird, sollen aber zentrale Aspekte der Methode berücksichtigt und zumindest einzelne Schritte auf das zugrunde gelegte Datenmaterial appliziert werden. Gewissermaßen als Vorarbeit zur ECM entwickelte Kurt Aland die sog. Teststellenmethode, deren Ergebnisse in den Textund-Textwert-Bänden der Reihe Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung (ANTF) publiziert werden.35 Sie verfolgt das Ziel, alle bekannten und erreichbaren Handschriften einer neutestamentlichen Schrift an vorher ausgewählten Teststellen zu kollationieren sowie anschließend durch spezifische Analyseverfahren auszuwerten.36 So sollen der Charakter und die Bedeutung des Textes jeder erreichbaren Handschrift ermittelt und darauf basierend die Auswahl der für die Edition relevanten Zeugen begründet werden. Die Arbeit geht von den Kollationen und Auswertungslisten des TuT-Bandes der Apokalypse aus. Im Mittelpunkt stehen dabei die 123 ausgewählten Teststellen, zu denen lokale Stemmata als Hypothesen der Textentwicklung und -konstitution entwickelt werden. Dies ist ein entscheidender Schritt bei der Anwendung der CBGM und bildet eine Erklärungsalternative zur Darstellung der Textgeschichte nach der klassischen Texttypentheorie, die auch Schmid auf die Überlieferung der Apk appliziert hatte.
35 K. Aland/B. Aland, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben und in Theorie wie Praxis der modernen Textkritik, 2., ergänzte und erweiterte Auflage, Stuttgart 1989, 327–342. 36 Aland/Aland, Text, 328–331.
Ausgangssituation
. Textsicherung und Textreproduktion Die Tatsache, dass Handschriften substanziell Produkte menschlicher Bemühungen und Tätigkeiten zur Anfertigung eines Buches sind, mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, und doch bildet sie die grundlegende Voraussetzung der Überlieferung des Neuen Testaments. Jede neutestamentliche Schrift durchlief unzählige Kopierprozesse mit allen dazugehörigen Unwägbarkeiten. Dabei entstanden die Abschriften in einem bemerkenswerten Spannungsfeld aus Bewahrungsanspruch des korrekten Wortlautes, Funktion der Handschriften und Tätigkeiten der Personen, die die Abschrift ausgeführt haben.
.. Textsicherung im Spiegel handschriftlicher Überlieferung Am Schluss betont die Apokalypse in dem Abschnitt 22,18–19 expressis verbis den Wunsch nach inhaltlicher und wohl auch textlicher Integrität: Μαρτυρῶ ἐγὼ παντὶ τῷ ἀκούοντι τοὺς λόγους τῆς προφητείας τοῦ βιβλίου τούτου· ἐάν τις ἐπιθῇ ἐπʼ αὐτά, ἐπιθήσει ὁ θεὸς ἐπʼ αὐτὸν τὰς πληγὰς τὰς γεγραμμένας ἐν τῷ βιβλίῳ τούτῳ, καὶ ἐάν τις ἀφέλῃ ἀπὸ τῶν λόγων τοῦ βιβλίου τῆς προφητείας ταύτης, ἀφελεῖ ὁ θεὸς τὸ μέρος αὐτοῦ ἀπὸ τοῦ ξύλου τῆς ζωῆς καὶ ἐκ τῆς πόλεως τῆς ἁγίας τῶν γεγραμμένων ἐν τῷ βιβλίῳ τούτῳ.
Diese Worte untermauern gleich mehrfach die Autorität des Werkes, indem sie es als „Worte der Prophetie (τοὺς λόγους τῆς προφητείας)“ ausweisen und seine schriftliche wie mediale Verfasstheit (τὰς γεγραμμένας ἐν τῷ βιβλίῳ) als Buch betonen. Zudem soll es vor Modifikationen jeder Art geschützt werden, weshalb sowohl Ergänzungen (ἐπιτίθημι) als auch Tilgungen (ἀφαιρέω) unter Strafe gestellt werden. Die Passage greift auf Formulierungsvorbilder in den Schriften Israels zurück wie DtnLXX 4,2 und 13,1. Mit Michael Tilly lassen sich für Apk 22,18f. prinzipiell drei Funktionsweisen differenzieren:37 – Zunächst betont die Textsicherungsformel auf fundamentaler Ebene die Autorität des Werkes und führt die Konsequenzen bei dessen Nichtbeachtung vor Augen.
37 M. Tilly, Textsicherung und Prophetie. Beobachtungen zur Septuaginta-Rezeption in Apk 22,18, in: F. W. Horn/M. Wolter (Hgg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (FS O. Böcher), Neukirchen-Vluyn 2005, 232–247.
Textsicherung und Textreproduktion
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Zudem zielt sie auf die Verlesung des Textes, die durch den mehrmaligen Hinweis auf das Hören offensichtlich intendiert ist und demgemäß vollständig sowie erweiterungslos zu erfolgen hat. Schließlich dürfte auch die handgeschriebene Reproduktion des Textes im Blick sein, der das Risiko von Textänderungen gewissermaßen ureigen innewohnt.
Welchen Zweck die Textsicherungsformel zur Zeit der Apokalypse hatte, kann unterschiedlich beantwortet werden. Ein Teil der Forschung vertritt die Auffassung, dass es sich um eine „antike[n] Regel der Textkritik“ handelt, „nach der der Edition einer Schrift nichts hinzugefügt oder weggenommen werden darf“.38 Demgegenüber gibt Karrer zu bedenken, dass die Textsicherungsformel vor allem auf Hörerinnen und Hörer abzielt und deswegen in erster Linie als „literarisch-hermeneutische Regel“ anzusehen sei; sie bezwecke – so Karrer – die „inhaltliche[n] Wahrung religiös bedeutsamer Worte in der Lebenswirklichkeit“.39 Die verschiedenen Deutungen müssen nicht notwendigerweise einen Gegensatz bilden, sondern können vielmehr als wechselseitige Ergänzungen angesehen werden. Sofern religiöse Wahrheiten durch verschriftete Worte transportiert werden, dürfte ihre rezipierte Bedeutung jedenfalls wesentlich an der Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit des sie überliefernden Textes hängen. Ungeachtet der Frage, ob es sich im technischen Sinne um eine textkritische Grundregel oder auf literarisch-hermeneutischer Ebene um eine Inhaltsbewahrung handelt, steht jede Textänderung in Opposition zur Forderung der Textsicherungsformel am Ende der Apokalypse. Das Problem sei an einem prägnanten Beispiel verdeutlicht: In Apk 1,1 heißt es nach dem Wortlaut von NA28, dass Gott die Offenbarung Jesu Christi gegeben habe, um seinen Knechten (δούλοις) das in Kürze eintretende Geschehen zu zeigen. Anstelle von δούλοις bietet der Zeuge 01* die Singulärlesart ἁγίοις (Heilige),40 die einen weitreichenden Bedeutungswandel für den Gesamttext nach sich zieht. Laut Aune begegnet der Begriff δοῦλος 14-mal in der Apokalypse und bezieht sich zumeist auf die Gläubigen;41 insofern ist er re-
38 A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus. Gnostische Johannesexegese im zweiten Jahrhundert, WUNT I 142, Tübingen 2002, 115. Diverse weitere Belege aus biblischen und patristischen Quellen sowie der Talmud-Literatur nennt W. C. van Unnik, De la règle „Mήτε προσθεῖναι μήτε άφελεῖν“ dans l’histoire du canon, VigChr 3 (1949), 1–36, bes. 6–32. 39 M. Karrer, Johannesoffenbarung. Teilband 1: Offb 1,1–5,14, EKK XXIV/1, Göttingen/Bristol, CT 2017, 80. 40 Vgl. J. Hernández, Scribal Habits and Theological Influences in the Apocalypse. The Singular Readings of Sinaiticus, Alexandrinus, and Ephraemi, WUNT II 218, Tübingen 2006, 201. 41 D. E. Aune, Revelation 1–5, WBC 52a, Nashville, TN 1997, 13.
Ausgangssituation zipientenbezogen und bezeichnet die Adressaten als Knechte Gottes.42 Die Änderung zu ἁγίοις durch 01* hält Hernández für willkürlich, weil sie zu keinem erkennbaren Modifikationsschema gehört; er verweist dazu auf die parallele Formulierung in 22,6, wo auch 01 δούλοις liest.43 Ob es sich tatsächlich um eine „willkürliche“ Textänderung handelt, sei dahingestellt. Die Modifikation des Sinaiticus zu ἁγίοις steht in 1,1 jedenfalls an herausgehobener Position und bildet mit dem Textschluss, der hier μετὰ τῶν ἁγίων („mit den Heiligen“) lautet, eine kompositorische Klammer um das Gesamtwerk zur Bestätigung der eigenen Identität.44 Karrer merkt deswegen zu Recht an, dass es sich hierbei um die wichtigste Variante des Abschnitt 1,1–3 mit schwerwiegenden Folgen für das Verständnis handelt.45 Inwiefern der Kopist den Schluss μετὰ τῶν ἁγίων bereits in seiner Vorlage vorfand oder es erst im Zuge seiner Abschrift geschaffen hat,46 muss offen bleiben. Die Stelle verdeutlicht jedenfalls exemplarisch, dass die verschiedenen Auffassungen der Textsicherungsformel, die entweder stärker den konkreten Kopierprozess oder allgemein die Wahrung des intendierten Inhalts in den Mittelpunkt rücken, einen Scheinwiderspruch bilden. In der Praxis fallen oftmals beide Dimensionen aufs Engste zusammen, zumal an solchen Stellen, wo Abwandlungen zu folgenschweren Sinnänderungen führen.
Dass Apk 22,18f. im Verlauf der Überlieferung durchaus zum Anlass zur Warnung vor Textänderungen diente, beweist die Auslegung ebendieses Abschnitts durch Andreas von Caesarea:47 42 M. Karrer, Textgeschichte und Demarkationsprozesse der Johannesoffenbarung, in: S. Alkier/T. Hieke/T. Nicklas (Hgg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015, 45–70, hier 50: „Nach dem Archetyp und dem A-Text von Apk 1,1 war es das vornehmste Charakteristikum der Adressaten der Apk, ‚Knechte‘ zu sein“. 43 Hernández, Scribal Habits, 85 mit Anm. 236. 44 Nach Karrer (Textgeschichte, 50) setzen die Varianten von 01 eine regelrechte Trennlinie, indem aus der offenen Binnenperspektive des Ausgangstextes „eine Binnensicht im engeren Sinne“ resultiert. Der Begriff des Heiligen impliziert die Konnotation der Abgrenzung von allem, was nicht „heilige“, sondern „profan“ ist. Siehe zu diesen Varianten auch J. Hernández, Codex Sinaiticus: An Early Christian Commentary on the Apocalypse?, in: S. McKendrick/D. C. Parker/A. Myshrall/C. O’Hogan (Hgg.), Codex Sinaiticus: New Perspectives on the Ancient Biblical Manuscript, London 2015, 107–126, hier 109. 45 Karrer, Johannesoffenbarung I, 181–182. Karrer erwägt, dass die Modifikation von 01* zu ἁγίοις möglicherweise durch 5,8 (προσευχαὶ τῶν ἁγίων) motiviert ist. Obwohl diese Annahme naheliegt, sie ist zur Erklärung der Änderung in 1,1 keineswegs zwingend erforderlich. 1,1 markiert einen wesentlichen Unterschied zwischen den Handschriften 01 und 02: Während 02 – so Karrer – das Knechtsein als herausragendste Eigenschaft der Adressaten betont, setzt 01 bei der Heiligkeit an. 46 Die Variante τῶν ἁγίων in 22,2 ist seit 01 dokumentiert und hat eine große Verbreitung in der Überlieferung erfahren. 47 Nach Oecumenius ist Andreas Caes. (2. Hälfte 6. Jh.–Anfang 7. Jh.) der zweite Ausleger griechischer Provenienz, der sich an eine Kommentierung der Apokalypse wagte. Zu den Lebensdaten des Andreas Caes. siehe G. Podskalsky, Art.: Andreas, RGG 4, Tübingen 1998, 472; E. S. Constantinou, Guiding to a blessed End. Andrew of Caesarea and his Apocalypse Commen-
Textsicherung und Textreproduktion
ὅπερ ἵνα μὴ πάθωμεν, διαμαρτύρεται ἡμῖν τοῖς ἀκούουσι, μήτε προσθεῖναί τι μήτε ἀφελεῖν, ἀλλὰ τὰ γραφικὰ ἰδιώματα τῶν Ἀττικῶν συντάξεων καὶ τῶν διαλεκτικῶν συλλογισμῶν ἡγεῖσθαι ἀξιοπιστότερα καὶ σεμνότερα, ἐπεὶ καὶ ἐν ἐκείνοις πολλά τις εὑρίσκων μὴ κανονιζόμενα ἐπὶ τὸ ἀξιόπιστον τῶν ἐν αὐτοῖς ποιητῶν συγγραφέων παραπέμπεται. Gewiss, damit wir nicht leiden, warnt uns [der Text], weder etwas hinzuzufügen noch wegzunehmen, sondern die geschriebenen Eigenheiten [der Apokalypse] als vertrauenswürdiger und ehrwürdiger zu betrachten als die attische Syntax und dialektische Schlüsse, da, auch wenn jemand viele Dinge in diesen [Schriften] entdeckt, die nicht den Regeln entsprechen, er von der Vertrauenswürdigkeit der Dichter und Autoren in ihnen geführt wird.
Bekanntlich weist die Apokalypse unzählige Eigentümlichkeiten sprachlicher und stilistischer Natur auf. Im Vergleich zur attischen Syntax oder dialektischen Syllogismen, womit die Idealformulierungen der griechischen Schulgrammatik gemeint sind, bewertet Andreas Caes. diese Inkonzinnitäten als „vertrauensund ehrwürdiger“. Diese Bemerkung setzt gleichsam die oppositäre Praxis voraus, dass man während der Überlieferung sprachliche Anpassungen bis hin zu Korrekturen vornahm. Stetig sieht sich die Textkritik mit stilistischen Alternativen konfrontiert und muss entscheiden, welche Sprachgestalt wohl am Anfang der Überlieferung stand. Andreas’ Kommentar darf jedenfalls als ein Plädoyer für die Spracheigentümlichkeiten der Apokalypse gelesen werden, denen er theologischen Gestaltungswillen beimisst. Da der wesentlichste Richtwert für die Textkritik die Sprache des Werkes ist, werden wir auf diesen Problemkomplex noch ausführlich zu sprechen kommen. Wenngleich mit Blick auf die Abfassungszeit der Apokalypse über das genaue Verständnis der Textsicherungsformel noch Unschärfen bestehen,48 demonstriert die Auslegung des Andreas
tary in the Ancient Church, Washington, DC 2013, 49–50. Die Überlieferungsgeschichte seines Werkes zeigt, dass es zur wichtigsten griechischen Auslegung der Apokalypse avancierte. An Zahl und Verbreitung überragen die Handschriften mit Andreas-Kommentar diejenigen anderer griechischer Apokalypse-Auslegungen bei Weitem. Im 10. Jahrhundert verfasste Arethas von Caes. (Mitte 9. Jh.–944/945), ein Nachfolger des Andreas auf dem Bischofsstuhl von Kappadokien, den dritten und letzten bedeutsamen griechischen Apokalypse-Kommentar. Lebensdaten nach H. C. Brennecke, Art.: Arethas, RGG 4, Tübingen 1998, 720. Arethas Caes. steht in der Tradition byzantinischer Gelehrsamkeit, wobei Sprache und Gedankenfülle zuweilen überfordernd wirken. Die Auslegung des Arethas konnte daher nicht an die Breitenwirkung seines Vorgängers, dessen Ideen er vielfach übernommen hatte, heranreichen. Zitiert nach J. Schmid, Studien zur Geschichte des griechischen Apokalypse-Textes. 1. Teil: Der ApokalypseKommentar des Andreas von Kaisareia, Bd. I/2, MThS.HE 1, München 1955, 262, Z. 5–10. 48 Es bleibt offenzuhalten, zu welchem Zeitpunkt die Textsicherungsformel als kritische Leitlinie für die Texttransmission aufgefasst wurde. Das Fehlen und Schweigen der Quellen in
Ausgangssituation Caes., dass ebendieser Passus in der Spätantike als textkritischer Maßstab für die Überlieferung fungieren konnte und offensichtlich als solcher verstehbar war.
.. Die Akteure und Akteurinnen der Überlieferung Durch den Akt des Produzierens von Handschriften hatten die Schreiberinnen und Schreiber naturgemäß einen großen Einfluss auf die Überlieferung eines Textes. Wie noch genauer zu bedenken sein wird, sei einschränkend angemerkt, dass die Kopistinnen und Kopisten nicht die einzigen Individuen waren, die ihren Federabdruck in der neutestamentlichen Überlieferung hinterlassen haben. Als solche, die für nachhaltige Veränderungen am Text gesorgt haben, kommen neben Nutzerinnen und Nutzern auch Auftraggeberinnen und Auftraggeber bzw. Editorinnen und Editoren der Handschriften in Betracht. Es braucht keine große Vorstellungskraft, dass von Auftraggeberseite gewünschte Änderungen oder ehemals auf dem Seitenrand angebrachte Glossen ohne Weiteres zunächst in den Text eingedrungen sind und sich anschließend verstetigt haben. Auch aus sozialgeschichtlicher Perspektive rücken die Kopistinnen und Kopisten des Neuen Testaments zunehmend in den Fokus der Forschung: Wie haben sie über die Jahrhunderte ihre Aufgabe wahrgenommen und welche Schwierigkeiten haben sich ihnen dabei gestellt? Zu Fragen nach der Entstehung von Varianten, die möglicherweise auf spezifische Kopiergewohnheiten („scribal habits“) zurückgehen, gesellen sich nunmehr sozio-kulturelle Untersuchungen, die gezielt das Milieu sowie die generellen Voraussetzungen der Textabschrift in Augenschein nehmen. Als eine der ersten Arbeiten auf diesem Gebiet ist die Monographie „Guardians of Letters“ von Kim Haines-Eitzen zu nennen.49 Die bisherigen Ergebnisse beschränken sich weitgehend auf die ersten Jahrhunderte der Überlieferung, da vor allem ältere Handschriften und spätan-
der Frühzeit der Überlieferung muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Textsicherungsformel nicht auch im engeren Sinne als solche aufgefasst wurde. 49 Haines-Eitzen, Guardians; außerdem K. Haines-Eitzen, The Social History of Early Christian Scribes, in: B. D. Ehrman/M. W. Holmes (Hgg.), The Text of the New Testament in Contemporary Research. Essays on the Status Quaestionis, Second Edition, NTTSD 42, Leiden/Boston 2014, 479–495.
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tike Milieus untersucht worden sind.50 Die Hauptmasse der neutestamentlichen Handschriften stammt jedoch aus byzantinischer Zeit und wurde zwischen dem 10. und 15. Jahrhundert angefertigt. Obwohl die Epoche bis zum 6. Jahrhundert den stärksten formativen Einfluss auf die Textgenese hatte, wären auch die späteren Überlieferungsphasen in derselben Weise zu erforschen. Denn Varianten entwickelten sich während der gesamten Texttransmission und jede Information über den Entstehungshintergrund der Handschriften trägt dazu bei, sie zu verstehen. Als problematisch erweist sich ferner das in vielen Studien postulierte Schreiberbild. In seinem vielbeachteten Beitrag „Scribes and Variants – Sociology and Typology“ kritisiert Ulrich B. Schmid zurecht, dass Schreiberinnen und Schreiber häufig im erweiterten Sinn als „Autoren“ und sie allein als Urheber von Varianten angesehen werden.51 Diese Betrachtungsweise beruhe auf der unsachgemäßen Interpretation von Varianten ohne Berücksichtigung der eigentlichen Überlieferungsträger und der sozialen Umwelt.52 Es gäbe letztlich keinen Grund zu der Annahme, dass ausschließlich Kopisten die vorgefundenen Varianten durch ihre Tätigkeit erzeugt hätten.53 Schmid plädiert sodann dafür, dass Bild der Schreiberinnen und Schreiber deutlich zu erweitern und in Bezug auf die Textproduktion mehrere Akteure zu differenzieren. Prinzipiell unterscheidet er drei Akteure: a) Editoren/Editorinnen der Handschriften, b) Nutzerinnen/Nutzer sowie c) Kopistinnen/Kopisten.54 Selbstverständlich können Schreiberinnen und Schreiber situativ verschiedene überlieferungsgeschichtlich relevante Rollen ausgeübt und ihre eigenen Codices hergestellt bzw. fremde Handschriften annotiert haben; dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass an der Differenzierung der Funktionsebenen in der Textproduktion zum Verständnis der Texttransmission kein Weg vorbei führt. Die Aufgabe der sozialgeschichtlichen Forschung zu den neutestamentlichen Handschriften besteht also darin, die Aktionen der einzelnen Akteurinnen und Akteure, ihre Orte und
50 Exemplarisch sei hier auf den umfangreichen Band von Blumell und Wayment verwiesen: L. H. Blumell/T. A. Wayment, Christian Oxyrhynchus: Texts, Documents, and Sources, Waco, TX 2015. Ebenfalls ist in diesem Zusammenhang zu nennen: S. R. Huebner, Papyri and the Social World of the New Testament, Cambridge 2019. 51 U. B. Schmid, Scribes and Variants: Sociology and Typology Textual Variation: Theological and Social Tendencies?, in: D. C. Parker/H. A. G. Houghton (Hgg.), Textual Variation: Theological and Social Tendencies? Papers from the Fifth Birmingham Colloquium on the Textual Criticism of the New Testament, TaS III 6, Piscataway, NY 2008, 1–23. 52 Siehe Schmid, Scribes, 8–9. 53 Schmid, Scribes, 13. 54 Siehe dazu die gebündelten Ausführungen bei Schmid, Scribes, 14–23.
Ausgangssituation die Zeit ihres Wirkens möglichst für jede Handschrift zu ermitteln und so die Hintergründe der Handschriftenproduktion aufzuklären. Nicht zuletzt betrifft dies die systematische Erfassung, Identifizierung und kritische Darstellung aller paratextlichen Erscheinungen, die die Handschriften enthalten und mitunter einen Rückschluss auf ihre individuelle Geschichte erlauben. Bedauerlicherweise berichten die Schreiberinnen und Schreiber höchst selten über die Ausübung ihres Berufes, vermutlich weil sie ihre Tätigkeit als völlig natürlich empfunden haben. Obwohl etliche Subskriptionen und Kolophone, also Beitexte mit Informationen über die Abschrift des Textes und Herstellung der Handschrift, erhalten geblieben sind, fällt ihre Informationsfülle in Bezug auf den Akt des Kopierens an sich denkbar knapp aus – noch dazu sind sie häufig äußerst mühsam zu entziffern. Eine willkommene Ausnahme bildet der in dieser Hinsicht überaus informative Paratext am Schluss der ins 10. Jahrhundert datierten Apk-Handschrift GA 2329.55 In einem als Bittgebet stilisierten Ko 55 Die Apk-Handschrift 2329 wird ins 10. Jahrhundert datiert und zählt damit zu den ältesten Minuskeln der Apokalypse. Sie befindet sich neben einer weiteren Kopie der Apokalypse, die das Siglum 2351 trägt, in dem Mischcodex Meteora, Metamorphosis 573, der diverse weitere nichtbiblische Texte enthält und ehemals einem gewissen Cassian gehörte: siehe zur Datierung H. C. Hoskier, Concerning the Text of the Apocalypse: Collations of all existing available Greek Documents with the Standard Text of Stephen’s third Edition together with the Testimony of Versions, Commentaries and Fathers. A complete Conspectus of all Authorities, vol.1, London 1929, 637, 653; Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 182. In jüngerer Vergangenheit hat sich vor allem Panagiōtēs Tzamalikos ausführlich mit der Geschichte und Herkunft dieses Codex befasst: P. Tzamalikos, A Newly Discovered Greek Father: Cassian the Sabaite Eclipsed by John Cassian of Marseilles, SVigChr 111, Leiden 2012; P. Tzamalikos, The Real Cassian Revisited: Monastic Life, Greek Paideia, and the Origenism in the Sixth Century, SVigChr 112, Leiden 2012; P. Tzamalikos, An Ancient Commentary on the Book of Revelation. A critical Edition of the Scholia in Apocalypsin, Cambridge 2013. Mit Bezug auf mehrere Paratexte, die den Namen Cassian nennen, argumentiert er, dass ebendieser nicht nur der Eigentümer des Codex war, sondern auch der Autor einiger darin enthaltener Texte wie den durch 2351 überlieferten Scholia in Apokalypsin. Tzamalikos’s Auffassung über die Autorschaft der Scholien ist jedoch keineswegs unumstritten: siehe dazu die kritischen Bemerkungen bei G. V. Allen, The Reception of Scripture and exegetical Resources in the Scholia in Apocalypsin (GA 2351), in: H. Houghton (Hg.), Commentaries, Catenae and Biblical Tradition. Papers from the Ninth Birmingham Colloquium on the Textual Criticism of the New Testament, in association with the COMPAUL project, TaS III 13, Piscataway, NJ 2016, 141–163; E. Gerke/D. Müller, Eine deutsche Übersetzung der Scholia in Apocalypsin mit Einleitung, in: M. Sigismund/D. Müller (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse II, ANTF 50, Berlin/Boston 2017, 477–520. Ohne eine abschließende Antwort auf diese Frage zu finden, brachte schon die ältere Forschung verschiedene Hypothesen über die Autorschaft der Scholien hervor und nannte Schriftsteller wie Origenes oder Didymus den Blinden: C. Diobouniotis/A. Harnack, Der Scholien-Kommentar des Origenes zur Apokalypse Johannis, TU 38, Leipzig 1911; E. Junod, scolies, RSLR 20 (1984), 112–121. Ein Teil
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lophon gewährt der Kopist, ein Mönch namens Theodosios, detaillierten Einblick in seine Tätigkeit: ἐπληρώθη ἡ αποκάλυψις τοῦ ἁγίου ιωάννου του θεολόγου στιχῶν α Κ[ύρι]ε δια πρεσβειων τοῦ ἁγίου ιωαννου τοῦ θεολγου συγχώρησον πασας μου τὰς ἁρμαρτίας καὶ ἔὰν ἔσφαλον ἔντινι ρηματι ἤ λέξει ἤ αντιστοιχω ἤ τόνω ἤ λογω ἤ αλλο τι κατα αγνοιαν ἤ κ[αὶ] γνωση Θεοδοσιος ἁμαρτωλος ὕπερ πάντας Κ[ύρι]ε ἔλεησον και τα πν[ευματ]ικα μου τεκνα φιλος κ[αὶ] αδελφους ΑΜΗΝ: Beendigt ist (die Abschrift) der Offenbarung […]; 1000 Stichoi, Herr, vergib alle meine Sünden; auch wenn ich irgendeinen Fehler machte an der Rede- oder Ausdrucksweise oder der Anordnung einer Linie oder an einem Akzent oder an einem Wort oder bezüglich einer anderen Sache, sei es durch Unwissenheit oder durch Kenntnis. Theodosios, ein Sünder mehr als alle (Sünder), hab erbarmen auch mit meinen geistlichen Kindern, meinen Freunden und meinen Brüdern. AMEN.
Demnach erscheint der Kopierprozess keineswegs als reine Reproduktion einer Vorlage durch Abschrift, indem einzelne Worte und Sätze händisch kopiert wurden. Stattdessen beschreibt Theodosios seine Tätigkeit als hochkomplexen Vorgang. Demnach trug der Kopist gewissermaßen Verantwortung für die Bewahrung der Buchstaben, für den Erhalt der korrekten Ausdrucksweise, der visuellen Darstellung des Textes (z.B. Linierung) sowie der Platzierung performativer Zeichen (etwa Akzente).56 Eine genauere Beachtung verdienen die Hinweise zur Fehlerentstehung von Varianten, die laut Theodosios entweder aus Unwissenheit oder tiefergehender Kenntnis resultieren können. Bei genauerer Betrachtung kommen hierfür ganz verschiedene Ursachen infrage wie unleserliche Stellen der Vorlage, Unaufmerksamkeit oder die Erinnerung des Schreibers an anderslautende Handschriften. Inwiefern es sich dabei um einen unbewussten oder bewussten Eingriff handelt, wäre im Einzelfall zu diskutieren.
der Gelehrten hält die Verfasserfrage deswegen für unlösbar, weil die Scholien überaus disparate Stoffe bieten und Berührungen zu ganz unterschiedlichen Denktraditionen aufweisen. Mit Scholion 5 finden sich darunter ein Zitat aus den Stromata des Clemens Alexandrinus sowie in den Scholien 38 und 39 kompiliertes Material aus den Schriften des Irenaeus von Lyon; näheres dazu bei O. Stählin, Scholion-Kommentar, BPhWS 32 (1912), 132–140; G. Wohlenberg, Scholien-Kommentar, ThLBI 33 (1912), 49–57; A. de Boysson, commentaire d’Origéne, RBI 10 (1913), 555–567; ein summarischer Überblick zur Forschungsgeschichte findet sich in Gerke/Müller, Übersetzung, 482–485. 56 Zu dem zitierten Kolophon siehe auch M. Karrer, Der Text der Apokalypse: Textkritik und Theologiegeschichte, in: A. Yarbro Collins (Hg.), New Perspectives on the Book of Revelation, BETL 291, Leuven/Paris/Bristol, CT 2017, 207–243, hier 218–219.
Ausgangssituation Aus dem Beitext des Theodosios entsteht der Eindruck, dass die Personen, welche die Handschriften angefertigt haben, auch die meisten Varianten der Überlieferung zu verantworten haben. Da Varianten aber nicht unbedingt durchlässig in Hinsicht auf ihre Entstehung sind, kann man nur mit größter Vorsicht vom Produkt auf dessen Entstehungshintergrund zurückschließen. Für das Aufkommen der Varianten ist vielfach ein multikausales Geschehen unter Beteiligung verschiedener Protagonisten und Protagonistinnen vorauszusetzen. Haines-Eitzen geht von einer weitgefassten Vorstellung über Schreiberinnen und Schreiber sowie ihrer Tätigkeit aus, wenn sie schreibt, dass sie interessierte Leser, Exegeten und Schreiber waren, die ihre Spuren in den Handschriften hinterlassen haben.57 Allen vertritt sogar die Auffassung, dass Schreiberinnen und Schreiber miteinander in einer Art informellen, literarischen Netzwerk verbunden waren, das die Abschriften zu einem gewissen Grad kontrolliert hat und in dem über die Tätigkeit des Schreibens hinaus eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Texten angestrebt worden ist.58 Derart weitgefassten Vorstellungen über die Tätigkeit des Abschreibens und der Personen, die die Handschriften hergestellt haben, ist mit Vorbehalten und gewisser Skepsis zu begegnen.59 Denn zum einen ist die bekannte Informationslage in dieser Hin 57 Haines-Eitzen, Social History, 489: „We are forced now to recognize that ancient scribes were not simply copyists—at times (possibly even frequently) they were interested readers, exegetes, and writers who left their mark on the copies they made“. 58 G. V. Allen, Textual History and Reception History. Exegetical Variation in the Apocalypse, NT 59 (2017), 297–319, hier 318: „These variables also speak to the informal nature of scribal and literate networks in early Christianity, a social context in which control over production was intermittent and executed to varying degrees.54 Within these networks scribal behaviour transcended the idealized goal of reproducing the wording of an exemplar, and included exegetical engagement with the substance of scriptural texts“. So faszinierend diese Ansicht klingt, beansprucht sie die zugänglichen Informationen weit über Gebühr und sollte als Schlussfolgerung darum mit gewisser Vorsicht betrachtet werden. 59 Ulrich Schmid gibt nachdrücklich zu bedenken, dass nicht sämtliche Varianten von den Personen stammen müssen, die die Handschriften tatsächlich kopiert haben, sondern gewichtige Evidenzen darauf hindeuten, dass sie zunächst als Notizen (sog. Reader’s Notes) durch Nutzerinnen und Nutzer der Handschriften entstanden; dazu U. B. Schmid, Conceptualizing "Scribal" Performances: Reader's Notes, in: K. Wachtel/M. W. Holmes (Hgg.), The Textual History of the Greek New Testament: Changing Views in Contemporary Research, SBL.TCS 8, Atlanta, GA 2011, 49–64, hier 52–56. Auch Barbara Aland hält grundlegend fest, es sei „als erste Absicht des Schreibers weiterhin anzunehmen, dass er lediglich kopieren will […]“; Aland, B., Sind Schreiber früher neutestamentlicher Handschriften Interpreten des Textes?, in: J. W. Childers/D. C. Parker (Hgg.), Transmission and Reception: New Testament Text-Critical and Exegetical Studies, TaS III/4, Piscataway, NJ 2006, 114–122; hier 118. Das soziokulturelle Umfeld der Personen, die die neutestamentlichen Handschriften angefertigt haben, bleibt
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sicht äußerst schmal und zum anderen basieren die meisten Schlussfolgerungen auf den Handschriften und ihren Varianten selbst, die – wie erwähnt – in Hinsicht auf ihr Aufkommen alles andere als eindeutig sind. Überdies gilt es zu berücksichtigen, dass es auch nicht das „Scheiber/innenbild“ per se geben kann. Die Tätigkeiten und die Anforderungen beim Anfertigen neutestamentlicher Handschriften haben sich über die Jahrhunderte stark verändert und mit ihnen haben sich sicherlich auch die Kopisten und Kopistinnen verändert. Obwohl die sozialgeschichtliche Rückfrage nach den Schreiberinnen und Schreibern sowie dem Entstehungshintergrund einzelner Varianten eine hochspannende Thematik ist, spielt sie in der vorliegenden Arbeit allenfalls eine untergeordnete Rolle. Varianten werden in erster Linie als gegebene Merkmale der Überlieferung betrachtet, die durch die einzelnen Textzustände bezeugt werden. Die zentrale Aufgabe besteht sodann darin, die Filiation der Varianten an den variierten Einzelstellen festzustellen und daraus Aussagen über die Relation der sie bezeugenden Textzustände abzuleiten.
weithin im Dunkeln der Geschichte. Zum einen ist über die Produktionsstätten der Handschriften und den dortigen Gepflogenheiten häufig nur wenig bekannt und zum anderen sind Fundund Produktionsort einer Handschrift nicht zwingend identisch. Den größten Aufschluss über die Herstellung und den Gebrauch einer Handschrift geben die vorhandenen Paratexte, deren Erschließung aber noch in den Kinderschuhen steckt.
Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung Die über weite Strecken umstrittene Kanonizität der Apk hatte erhebliche Auswirkungen auf ihre Rezeption und Überlieferung, die sie in der griechischen Kirche erfahren hat. Athanasius listete sie zwar unter den kanonischen Schriften des Neuen Testaments auf, doch waren längst nicht alle Autoritäten seiner Meinung, sodass ein regelrechter Paradigmenstreit um die Apokalypse entbrannte. Dies führte letztendlich dazu, dass sie mit Ausnahme von Ägypten, wo sie durchgängig anerkannt war, im byzantinischen Gottesdienst kaum mehr eine Rolle spielte.60 Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ist lediglich ein bilinguales Lektionar (Latein-Griechisch) mit Text der Apokalypse bekannt: Der Codex Vatikan, BAV, Vat. gr. 781 beinhaltet das Lektionar L546, das mit Apk 7,1–12 auch einen Abschnitt aus der Apokalypse bietet.61 Der Befund sollte allerdings nicht überbewertet werden, weil die Handschrift augenscheinlich in Italien angefertigt wurde und insofern nicht unmittelbar byzantinischen Gottesdienstgebrauch spiegelt.62
. Umstrittene Verfasserschaft der Apk Die kontroverse Stellung der Apk liegt zu einem erheblichen Teil in der Anzweiflung ihrer apostolischen Verfasserschaft durch Dionysius Alexandrinus (†264/265) begründet. Dionysius Al. bezweifelte die Verfasseridentität von Johannes-Evangelium und Apokalypse und bestritt infolgedessen die apostolische Dignität des zuletzt genannten Werkes. Dem Bericht des Eusebius zufolge brachte er gewichtige philologische und theologische Argumente für seine Auffassung vor, die zum Teil bis heute Gültigkeit besitzen. Was in der historischkritischen Forschung nunmehr weitgehend Konsens ist, nämlich dass Apoka 60 Nähere Angaben dazu bei H. Buchinger, Die Johannes-Apokalypse im christlichen Gottesdienst: Sondierungen in Liturgie und Ikonographie, in: J. Verheyden/T. Nicklas/A. Merkt (Hgg.), Ancient Christian Interpretations of „Violent Texts“ in the Apocalypse, NTOA/SUNT 92, Göttingen 2011, 216–266, 218–219. 61 Zur kodikologischen Einordnung des Lektionars siehe R. Devreesse, Codices Vaticani Graeci. Tomus III. Codices 604-866 (Bibliothecae Apostolicae Vaticanae codices manu scripti recensiti), Vatikan 1950, 298–299; S. Lucà, Interferenze linguistiche greco-latine a Grottaferrata tra XI e XII secolo, in: M. Capasso/M. de Nonno (Hgg.), Scritti paleografici e papirologici in ricordo di Paolo Radiciotti, Papyrologica Lupiensia, Supplemento 24, Lecce/Rovato 2015, 295–331, hier 311–326. 62 Laut Lucà sei die Handschrift mit hoher Eleganz angefertigt worden und handwerklich in Italien (wahrscheinlich Grottaferrata) zu verorten; siehe Lucà, Interferenze, 320–323. https://doi.org/10.1515/978311119430-003
Umstrittene Verfasserschaft der Apk
lypse und Evangelium verschiedene schriftstellerische Ursprünge haben,63 hat die Apokalypse in der Spätantike nachhaltig in Misskredit gebracht. Mit Blick auf die Kritik des Dionysius Al. ist zu beachten, dass sie nicht das Werk als solches, sondern primär dessen Herkunft zur Disposition stellt.64 Besonders anschaulich illustrieren die unterschiedlichen Fassungen des titulus initialis bzw. finalis zur Apokalypse in den griechischen Handschriften die strittige Verfasserfrage. Nach der Übersicht von Hoskier lassen sich fünf Hauptkomponenten erkennen, die den titulus initialis bzw. finalis zur Apokalypse formieren:65 1) die Werkbezeichnung ἀποκάλυψις,66 2) das nomen proprium Ἰωάννης oft mit Heiligkeitsattribut ἅγιος sowie 3) drei mögliche Ehrenbezeichnungen ἀπόστολος, εὐαγγελιστής und/oder θεόλογος. Diese Elemente treten in unterschiedlichen Kombinationen auf, wobei spezifische Verknüpfungen für einzelne Textgruppen aus verschiedenen Gründen nur schwer zu erkennen sind. Als problematisch erweist sich bereits Hoskiers Aufstellung, die ziemlich unübersichtlich wirkt und viele Ligaturen der Handschriften als solche belässt. Infolgedessen bleiben viele inscriptiones für Nutzerinnen und Nutzer, die nicht mit der griechischen Kurzschreibweise vertraut sind, unzugänglich. Zudem fällt die Bezeugung der einzelnen Komponenten wie aller erdenklichen Kombinationen überaus inkonsistent aus: Während ein Teil der Ko 63 Siehe dazu die einhellige Meinung in den Kommentaren H. Kraft, Die Offenbarung des Johannes, HNT 16a, Tübingen 1974, 10–11; Aune, Revelation I, l–liii; H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, RNT, Regensburg 1997, 36–37; G. K. Beale, The Book of Revelation. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids, MI 1999, 36; A. Satake, Die Offenbarung des Johannes, KEK 16, Göttingen 2008, 44; C. R. Koester, Revelation. A New Translation with Introduction and Commentary, AYB 38A, New Haven, CT/London 2014, 68–69; Karrer, Johannesoffenbarung I, 43–48. 64 Karrer, Johannesoffenbarung I, 120. 65 Hoskier, Text II, 24–27. 66 Abweichend von Nestle-Aland28 lautet der titulus finalis im Codex Sinaiticus ἀποκαλύψεις; dieser Text erlaubt mehrere Deutungen: Unter Berücksichtigung des von anderer Hand beigefügten titulus initialis ἀποκάλυψις ließe sich die Fassung des titulus finalis zum einen als itazistische Sonderschreibung interpretieren, wie es üblicherweise geschieht (z.B. Aune, Revelation I, 3). Der Canon Muratori ist indes nicht eindeutig, da er die Offenbarungen des Johannes und Petrus zusammen nennt und der entscheidende Begriff „Apocalypsis“ daher sowohl als Singular wie Plural aufgefasst werden kann (zu dem Problem siehe J. Orth, Das Muratorische Fragment und die Frage seiner Datierung. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen Hahnemans, Wien 2018, 17, gegen Aune, Revelation I, 4). Zum anderen besteht die Möglichkeit, dem Text buchstäblich zu folgen und den Plural „Offenbarungen“ zu lesen. Als Quellennachweis für diese Deutung kann auf Dionysius Al. verwiesen werden, der mit Bezug auf die Apokalypse im pluralen Sinne von ἀποκαλύψεις spricht (Euseb, HE III 28,2; ferner Karrer, Johannesoffenbarung I, 166–167). Berücksichtigt man ferner, dass der Codex Sinaiticus im Anschluss an die Apokalypse noch den Barnabasbrief sowie den Hirt des Hermas enthält, ergibt sich nach Karrer ein bemerkenswerter Nebensinn, wonach der Codex Offenbarungen an Johannes ebenso wie ein Werk mit Offenbarungen an Hermas bietet; siehe Karrer, Johannesoffenbarung I, 227.
Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung ine-Gruppe nur θεόλογος zusätzlich zur Werkbezeichnung und Nomen proprium bietet und die Complutense-Handschriften vielfach alle drei Ehrenbezeichnungen haben, überliefert keine Handschriftengruppe geschlossen dieselbe Form des Initialtitels. Obwohl eine systematische Untersuchung dieses Sachverhaltes fehlt und sie für die Zukunft äußerst wünschenswert ist, lässt die Übersicht zu den inscriptiones dennoch einige basale Beobachtungen zu: Die Handschriften enthalten ganz offensichtlich unterschiedliche und wechselnde Identifikationsmöglichkeiten des Autors. Insofern spiegelt der Befund auf gewisse Art die Auseinandersetzung um die Apokalypse des 3. Jahrhunderts und die durch Dionysius Al. angestoßene Debatte über ihre Verfasserschaft. In der Folgezeit blieb eine einheitliche Lösung dieser Frage aus, wohingegen verschiedene Kompromissversuche unternommen wurden, um den Autor zu bestimmen – den größtmöglichen Kompromiss bietet die Mehrheit der Complutense-Handschriften mit der Aufreihung aller drei zur Auswahl stehenden Ehrenbezeichnungen.67 Völlig ungeklärt ist die Genese der inscriptiones in der byzantinischen Überlieferung. Bei der Textentwicklung werden sicherlich auch geografisch- und zeitbedingte Vorzüge eine Rolle gespielt haben, die es genauso wie etwaige Gruppenspezifika aufzuklären gilt.
Als weitere Besonderheit der Apokalypse-Überlieferung darf die verbreitete Kombination Apk mit nicht-biblischen Texten gelten. In diversen Codices befindet sich die Apokalypse inmitten nicht-biblischer Texte, ohne dass sie weitere neutestamentliche Schriften enthalten würden. Da dieser Umstand abgesehen von wenigen allgemeinen Beobachtungen bislang kaum untersucht wurde,68 bildet er ein Desideratum der Forschung. Neben der Frage, mit welchen anderen Texten die Apokalypse kombiniert wurde, sind vor allem die kodikologischen Begebenheiten zu klären. Grundsätzlich müssen zwei Sammlungsszenarien unterschieden werden, die differenziert zu betrachten und anders zu gewichten sind: a) Apokalypse und Dritttexte gehören zu einer originären Produktionseinheit, d.h. die Kombination aus Apokalypse und nicht-biblischen Texten ist Absicht der ursprünglichen Produktion einer Handschrift; b) Apokalypse und Dritttexte gehen auf verschiedene Produktionseinheiten zurück und wurden erst sekundär zu einer physischen Einheit verbunden, sprich die Kombination
67 Überwiegend bezeugen die Complutense-Handschriften die inscriptio-Komponenten in der bezeichnenden Reihenfolge Werkbezeichnung, Aposteltitel, Evangelistentitel, Eigenname und dann Theologentitel. Dies könnte ein Beleg dafür sein, dass der Theologentitel mit Johannes als dem Autor der Apokalypse etwas fester verbunden ist als der Apostel- und Evangelistentitel, die gesperrt in Mittelstellung erscheinen. Die prononcierte Sperrstellung betont, dass Johannes der Theologe ebenso der Apostel und Evangelist ist; dies musste anscheinend sonderlich hervorgehoben werden, während der Theologentitel seinen üblichen Platz hinter dem Eigennamen hat. 68 Siehe die oberflächlichen und nach heutigen kodikologischen Maßstäben undifferenzierten Beobachtungen bei Schmid, Studien II, 31–43.
Textgeschichtliche Besonderheiten
kann immer noch intentional sein, kann aber ebenso gut von einem Zufall oder bibliothekarischen Zwängen herrühren. Zwar ging die Apokalypse in der griechischen Kirche nie vollkommen verloren, aber ihre Rezeption brach infolge der Streitigkeiten erheblich ein. Ob die Apokalypse deswegen erst mühsam durch die verschiedenen Kommentartraditionen wiedergewonnen werden musste, wie Weinrich meint, ist schwer zu ermessen.69 De facto fristete die Apokalypse in der griechischen Kirche für lange Zeit ein Schattendasein, zumal sie nicht in den Rang vollwertiger liturgischer Schriften aufstieg. All diese Faktoren dürften nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass die Textgeschichte der Apk in völlig anderen Bahnen als die der meisten anderen neutestamentlichen Schriften verlief. Das hervorstechendste Merkmal dieser besonderen Überlieferungsgeschichte ist die ausgebliebene Entwicklung eines weitestgehend einheitlichen Mehrheitstextes, der die Überlieferung spätestens ab dem 11. Jahrhundert dominiert.
. Textgeschichtliche Besonderheiten Im Vergleich zu den anderen Schriften des Neuen Testaments zeichnet sich die Texttradierung der Apokalypse durch zahlreiche Besonderheiten aus. Üblicherweise bezeugt die Hauptmasse der griechischen Handschriften wie bei den Evangelien einen weitgehend gleichförmigen Mehrheitstext, der als Koine- oder Byzantinischer Text bezeichnet wird.70 Die quantitative Bezeichnung „Mehrheit“ und die historische Kategorie „Byzantinischer Text“ sind bei dieser spezifischen Konstellation insofern deckungsgleich, als dass die Zeugen für beide Größen weitgehend identisch sind. Bei der Apokalypse stellt sich die Sachlage jedoch weitaus komplizierter dar, da die Handschriften keinen homogenen Mehrheitstext bezeugen, sondern sich auf verschiedene Texttraditionen aufteilen. Dieser 69 Weinrich, Greek Commentaries, xxxii. Seine Annahme, dass der Text des AndreasKommentars zum Standard Apk-Text der byzantinischen Kirche wurde, trifft sicher nicht zu. Die Andreas-Tradition ist eine von mehreren Überlieferungszweigen, die sich kontemporär verbreitetet haben. Soweit sich aus den erhaltenen Handschriften schließen lässt, liegt die Blütezeit der Andreas-Rezeption im 14.–16. Jahrhundert. 70 In der Literatur finden sich auch andere Bezeichnungen: „Syrischer Text“ (siehe Westcott/Hort, Introduction, 92–95) oder „Mehrheitstext“ (der Begriff kann sowohl eine nummerische Größe als auch eine Überlieferungsform im engeren Sinne bezeichnen). Als Bezeichnung für die textgeschichtliche Dimension des mehrheitlich überlieferten Textes des Neuen Testaments wird mit Aland/Aland (Text, 65.74–75) und Wachtel (Byzantinische Text, 4–8) der Terminus „Byzantinischer Text“ gewählt, um die in byzantinischer Epoche dominierende Texttradition zu bezeichnen.
Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung Umstand wirkt sich auf methodologische Fragen aus und ist in editorischer Hinsicht sowohl textgeschichtlich als auch textkritisch zu beachten. Der angedeutete Problemkreis wird die gesamte weitere Arbeit beschäftigen und sei daher hier kurz verdeutlicht: Im Wesentlichen unterscheidet die Forschung drei markante Textgruppen, und zwar die als Koine- (Schmid: K), Andreas- (Schmid: Αν) und Complutense-Text (Schmid: Com) bezeichneten Überlieferungstraditionen. Zur Gruppe der Koine-Tradition gehören zahlenmäßig die meisten Handschriften, sie enthalten in aller Regel nur den Apk-Text ohne begleitende Kommentare oder Scholien und befinden sich zum überwiegenden Teil in Codices mit weiteren NT-Schriften. Die Gruppe der Andreas-Tradition besteht ebenfalls aus einer großen Zahl an Mitgliedern, fällt jedoch insgesamt etwas kleiner als die Koine-Gruppe aus. Die Andreas-Gruppe trägt ihre Bezeichnung nach dem gleichnamigen Kommentar des Andreas Caes.,71 mit dem der Apokalypse-Text hier häufig verbunden ist und diesem offenbar in einer spezifischen Form zugrunde lag. Die dritte Gruppe wird als Complutense-Gruppe bezeichnet, weil ihr Text in enger Verwandtschaft zu dem der Complutensischen Polyglotte (Complutensis) steht. Obwohl die Vorlage dieses Drucks noch nicht sicher identifiziert werden konnte, steht außer Frage, dass ein verschollenes oder bislang unbekanntes Exemplar dieser Gruppe dem Druck bei der Apokalypse als Vorlage gedient hat. Zahlenmäßig gehören zu dieser Gruppe zwar deutlich weniger Handschriften als zur Koine- oder Andreas-Gruppe, doch liegt die Zahl ihrer Repräsentanten immer noch über dem Niveau einer kleineren Handschriften-Familie. Alle drei Textgruppen sind aufgrund spezifischer Gruppenlesarten zu erkennen und lassen sich dadurch voneinander unterscheiden. Allerdings gehen sie auch an diversen Stellen in wechselnden Konstellationen zusammen und bezeugen dieselben Varianten. Die zentrale textgeschichtliche Frage, auf die es bislang keine befriedigende Antwort gibt, lautet also, wie die Genese und das Verhältnis dieser drei Gruppen zu beschreiben ist. Dass dieses Phänomen erhebliche Auswirkungen auf die Textkritik hat und etliche Folgeprobleme aufwirft, sei kurz an einem griffigen Beispiel verdeutlicht: Bei den Schriften des Neuen Testaments, für die noch keine moderne ECM vorliegt, erscheint das Siglum 𝔐𝔐 im kritischen Apparat von NA28. Laut Erklärung bezeichnet es „die Variante, die von der Mehrheit aller Handschriften, d.h. immer auch der Koinehandschriften im engeren Sinne, bezeugt wird. 𝔐𝔐 be 71 Zur Datierung des Andreas von Caesarea und seines Kommentars siehe Constantinou, Guiding to a blessed End, 48–50.61–71, bes. 71.
Textgeschichtliche Besonderheiten
zeichnet also die Lesart des Koinetextes“.72 Im Apparat zur Apokalypse kommt es zu einer merkwürdigen Vermischung des Siglums mit zwei Exponenten: 𝔐𝔐A als Hinweis auf den Andreas- und 𝔐𝔐K auf den Koinetext. Obwohl durch dieses Vorgehen auf die Differenzen der beiden Textgruppen hingewiesen und ersichtlich wird, an welchen Stellen sie abweichen, bereitet die Interpretation dieses Hybridsiglums im Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten: Zum einen ist nicht mehr nachvollziehbar, welche Lesart von der Mehrheit der Handschriften gelesen wird, wenn 𝔐𝔐A und 𝔐𝔐K für zwei unterschiedliche Varianten im Apparat erscheinen. Die Kernfunktion des Siglums 𝔐𝔐 ist also nur noch an den Stellen gegeben, wo beide Textgruppen zusammengehen und infolgedessen lediglich 𝔐𝔐 im Apparat steht. Zum anderen weist die Notation der Sigla an einigen Stellen gewisse Unschärfen auf: Beispielsweise erscheint bei Apk 1,4 neben einzelnen Minuskeln das Siglum 𝔐𝔐 als Zeuge für den Zusatz θεοῦ; wie die TuT-Daten zeigen, wird diese Variante zwar von der Mehrheit der Handschriften bezeugt – was das Siglum 𝔐𝔐 rechtfertigt –, doch im Wesentlichen nur durch einen bestimmten Überlieferungszweig, während ein anderer, ebenfalls beachtlicher Teil der Handschriften mit 01, 02 und 04 das Wort θεοῦ weglässt. Diese kurze Problemschilderung führt anschaulich vor Augen, wie hochkomplex sich die Apk-Überlieferung darstellt und welche Hürden bereits bei der Verzeichnung einzelner Varianten im kritischen Apparat zu nehmen sind. Schließlich fehlt der Nachweis der Complutense-Gruppe mit einem separaten Siglum im Apparat von NA28, sodass ihr Zeugnis bislang dort nicht ersichtlich wird;73 textgeschichtlich wäre dies aber eine große Hilfe, um zu erkennen, an welchen Stellen sie entweder mit der Koine- oder Andreas-Gruppe zusammengeht und wo sie eigene Gruppenlesarten bezeugt. Um auf die Besonderheiten der Mehrheitsüberlieferung bei der Apokalypse aufmerksam zu machen, wurde ein neuer Terminus eingeführt: relative Mehrheit (rM).74 Der Begriff soll zwei reziproke Sachverhalte verdeutlichen: Erstens verändern sich die Konstellationen, durch die die Mehrheitslesart begründet wird, je nach Teststelle erheblich; infolgedessen haben die Mehrheitslesarten stellenweise ein unterschiedliches textkritisches Gewicht. Zweitens verkörpert 72 So die Erläuterung in NA28, 15*–16*. 73 Die Ursache für den fehlenden Nachweis der Complutense-Tradition im Apparat des NestleAland könnte darin liegen, dass Schmid anders als für die Andreas- und Koine-Tradition keine separate Liste distinktiver Lesarten der Complutense-Gruppe zusammengestellt hat. Eine Übersicht der vermeintlichen Koine- und Andreas-Lesarten findet sich in Schmid, Studien II, 44–62. Es ist für das Editorengremium also äußerst mühsam in Ermangelung einer entsprechenden Zusammenstellung die Complutense-Lesarten eigens im Apparat nachzuweisen. 74 Siehe zur Definition dieses Begriffs TuT-Apk, 12*-13*.
Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung die Mehrheitslesart an etlichen Teststellen keine absolute, sondern eine relative Größe, zumal an Stellen, wo der Mehrheitswortlaut von weniger als 50 % aller verzeichneten Handschriften vertreten wird. In Bezug auf die quantitative Verteilung der Zeugen handelt es sich also oftmals um relative Mehrheitslesarten, die im Vergleich zu den übrigen Varianten einer Stelle von den meisten Handschriften gelesen werden.75 Wie knapp die Mehrheitsverhältnisse ausfallen und wie sehr sich die Apokalypse in dieser Sache von den übrigen Schriften des Neuen Testaments unterscheidet, verdeutlicht insbesondere TST 119; für diese Teststelle gibt es nämlich keine wirkliche Mehrheitslesart, da zwei Varianten zuzüglich ihrer Subvarianten durch exakt dieselbe Anzahl an Zeugen bekundet werden.76 Ob diese Bezeichnung glücklich gewählt ist, lässt sich freilich diskutieren; es galt die Kontinuität zu vorherigen TuT-Bänden zu wahren und gleichzeitig auf die Besonderheiten der Apk-Überlieferung aufmerksam zu machen. Wichtiger als die terminologische Frage erweisen sich die textgeschichtlichen Beobachtungen, die damit einhergehen. Neben Unterschieden und Gemeinsamkeiten, durch die sich die einzelnen Gruppen auszeichnen, wirft das Material die Frage nach ihrer je individuellen Entwicklung auf. Sie treten nämlich keineswegs als monolithische Blöcke auf, sondern es deutet sich vielmehr ein erhebliches Wachstum auch innerhalb der einzelnen Texttraditionen an. Insbesondere die Repräsentanten der Andreas-Gruppe weichen oftmals voneinander ab, weshalb sie überaus inkohärent erscheint.77 Vor diesem Hintergrund wirkt die Bezeichnung „Texttyp“ der älteren Forschung mit Blick auf die Apk inadäquat und sollte vermieden werden. In der vorliegenden wird stattdessen der Begriff „Texttradition“ benutzt, um mehrere einander ähnelnde und verwandte Textzuständen mit einer übergreifenden Bezeichnung zu benennen. Texttraditionen werden dabei als die Summe der einzelnen sie repräsentierenden Textzustände verstanden, d. h. anders als Texttypen werden Texttraditionen nicht durch bestimmte Varianten definiert, sondern sie kristallisieren sich aus dem Primat der Textzustände heraus. Die verschiedenen Textzustände zeichnen sich durch ein bestimmtes Textprofil aus, dass sich aus sämtlichen durch sie bezeugten Varianten ergibt. Je ähnlicher dieses Textprofil in den Text 75 Zur Grundorientierung über die Mehrheitsverhältnisse an den einzelnen Teststellen siehe die Appendizes D, E und F in TuT-Apk, 751–791. 76 Vgl. dazu die Kollation in TuT-Apk, 221–222. 77 Grundlegend dazu siehe D. Müller, Die mehrheitsbildenden Gruppen der ApokalypseÜberlieferung: Textgeschichtliche und editorische Herausforderungen, in: H. A. G. Houghton/D. C. Parker/H. Strutwolf (Hgg.), The New Testament in Antiquity and Byzantium. Traditional and Digital Approaches to its Texts and Editing – A Festschrift for Klaus Wachtel, Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung 52, Berlin/Boston 2019, 385–400, hier 391–393.
Hier ist Weisheit: Die Spracheigentümlichkeiten der Apokalypse
zuständen ausfällt, desto ähnlicher sind sie sich und desto näher sind sie verwandt. Demnach können Textzustände mit ähnlichen Textprofilen als Textraditionen auf einen Nenner gebracht werden. Für die Apk ist dieser Definition gemäß von zwei wesentlichen und die Überlieferung bestimmenden Texttraditionen auszugehen, nämlich der Koine- und Andreas-Tradition. Das Mehrheitsproblem wirkt sich ebenfalls auf die in TuT-Apk angewandte Auswertungsmethodik der Handschriften aus. In der ursprünglich durch Kurt Aland entwickelten Teststellen-Methode bildet die Mehrheitslesart ein zentrales Referenzkriterium, um die Handschriften profilieren zu können. Im Wesentlichen basiert K. Alands Klassifizierung auf zwei Hauptmerkmalen: der Anteil an Mehrheitslesarten (= LA-1) und die Übereinstimmungen mit dem kritischen Text nach Nestle-Aland (= LA-2). Als Zeugen des Mehrheitstextes gelten solche Handschriften, die vorwiegend Lesarten der Kategorie 1 aufweisen, und als wichtige Zeugen für den kritischen Text solche, die eben zumeist Variante 2 haben. Darauf basiert die textkritische Beurteilung, dass vor allem die Handschriften mit hohem Anteil an LA-2 für die Textrekonstruktion ausschlaggebend sind. Diejenigen mit vielen Lesarten der Kategorie 1 werden als Zeugen des Byzantinischen Textes klassifiziert und haben infolgedessen geringeres Gewicht. Dass ein gewisser Zirkelschluss vorliegt und die Handschriften bereits mit einer vorausgesetzten Hypothese bewertet werden, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Der kritische Punkt liegt vielmehr darin, dass dieses Verfahren nicht eins zu eins auf die Apokalypse zu übertragen war. Es musste zur Profilierung der Handschriften an die Besonderheiten der Apk-Überlieferung angepasst werden.
. Hier ist Weisheit: Die Spracheigentümlichkeiten der Apokalypse Seitdem Dionysios Al. die apostolische Verfasserschaft der Apokalypse wegen stilistischer Differenzen zum Johannes-Evangelium in Zweifel zog, werden in der Debatte um ihre Sprachgestalt durchaus konträre zum Teil völlig gegensätzliche Positionen vertreten. Beispielhaft sei dazu auf Johann Albrecht Bengel und Georgius H.A. Ewald hingewiesen: Während Bengel die Sprache der Apokalypse als Diktion sui generis schätzte,78 sah Ewald in ihrer eigentümlichen Stilistik das
78 Bengel schrieb über die Sprachgestalt der Apokalypse, sie „sei auf den ersten Blick rau, in der Tat aber süß und des Stils einer hohen Versammlung würdig“; siehe J. A. Bengel, Apparatus criticus ad Novum Testamentum, Tübingen 1763, 488 („dulcis ac […] stilo curiae dignus“).
Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung Dokument eines zum griechischen Ausdruck unfähigen Autors.79 Bis in die gegenwärtige Forschung konnte keine Einigkeit darüber erzielt werden, wie die Sprache der Apokalypse zu bewerten ist, welches Autorenbild dahinter zu vermuten ist und inwiefern die eigenwillige Stilistik im Dienst einer theologischen Aussageabsicht steht. Dabei betreffen die stilistischen Auffälligkeiten sämtliche Sprachebenen wie Wortwahl, Wortbildung, Grammatik als auch Syntax bis hin zu übergreifenden Ausdrucksmustern. Nach Karrer dienen viele sprachlichen Auffälligkeiten und Inkonzinnitäten der Apk einem übergeordneten Kommunikationsgeschehen und erlauben darum nur bedingt Rückschlüsse über die Herkunft und Identität des Apk-Autors: „Der Autor der Apk will die Identität seiner Leserinnen und Leser vertiefen und verändern. Er nimmt die Sprache in den Dienst dafür, ihre kollektive Identität zu formen.“80
.. Wortwahl und Wortbildung Gemäß Robert Morgenthaler umfasst die Apk ein Vokabular von insgesamt 916 Worten,81 von denen laut David E. Aune 128 innerhalb der kanonischgewordenen Schriften des Neuen Testaments nur in der Apk vorkommen; innerhalb des neutestamentlichen Schriftenkorpus beläuft sich der Anteil an sog. Hapax legomena damit auf 13,97 % des Gesamtwortschatzes der Apk.82 Berücksichtigt man jedoch zusätzlich das Septuaginta-Vokabular, verbleiben lediglich 31 Begriffe, die im Rahmen der griechischen Bibel ausschließlich die Apokalypse benutzt.83 Trotz ihrer sprachlichen Besonderheiten bleibt die Apokalypse 79 Ewald vertrat einen besonders klaren Standpunkt in seinem Apk-Kommentar, indem er dem Autor jedwede Fähigkeit zu einem guten griechischen Ausdruck abspricht und postuliert, dass sich die gesamte Sprachgestalt dieses Werkes aus dem Hebräischen oder Aramäischen ergäbe: „Omnia fere in quibus auctor a dictione bene graeca aberrat, es Hebraismo et Aramaeismo fluunt, […]“, in G. H. A. Ewald, Commentarius in Apocalypsin Johannis exegeticus et criticus, Leipzig 1828, 38. 80 M. Karrer, Sprache und Identität – Beobachtungen an der Apokalypse, in: F. Wilk (Hg.), Identität und Sprache. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike, BThSt 174, Göttingen 2018, 139–198, hier 189. 81 Vgl. die Informationen bei R. Morgenthaler, Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich 1958, 164. 82 Vgl. die Übersicht bei Aune, Revelation I, ccvii. 83 Aune (Revelation I, ccx) führt außerdem 18 Hapax legomena auf, die durch Handschriften als Varianten zum kritischen Text dokumentiert werden. Inwiefern sie tatsächlich als eigenständige Begriffe zu werten sind, bleibt jedoch für manche Lesarten zu diskutieren. So dürften zumindest ἐμμέσω (1,13; 2,1; 4,6; 5,6; 6,6; 22,2 min. mult.), εἱμιώρον (8,1 durch 02),
Hier ist Weisheit: Die Spracheigentümlichkeiten der Apokalypse
gemessen am verwendeten Wortschatz also weitgehend verständlich und beschränkt sich dabei sogar auf ein vergleichsweise überschaubares Vokabular,84 weshalb Karrer zu dem Schluss kommt, dass „sie sich im Wortschatz gut in das Schrifttum ihrer Zeit“ einfügt.85 Wie ein näherer Blick auf die ansonsten in der griechischen Bibel unbelegten Worte zeigt, setzt die Apokalypse vor allem klangliche Akzente: z. B. ἀλληλουιά (19,1.3.4.6), βιβλαρίδιον (10,2.9.10), θειώδης (9,17) und ποταμοφόρητος (12,15). Der Autor hat die wenigen Hapax legomena offenbar zur Steigerung der Aufmerksamkeit genutzt und ist dabei gleichzeitig verständlich geblieben, zumal sich ihr Sinn entweder unmittelbar aus dem Lexem oder dem Kontext erschließt. Erhebliche Schwierigkeiten bereitet die Wortbildung der Apokalypse, weil oft nur mit größter Mühe zu ermessen ist, welche morphologischen oder orthographischen Erscheinungen vom Autor stammen und welche im Zuge der Überlieferung eingetragen wurden. Schmid listet diverse Begriffe auf, deren Wortbildung in der Überlieferung alterniert, und kategorisiert sie als „attisch“, „ionisch“, „hellenistisch (= Koine)“ oder einfache Schreibfehler.86 Inwiefern diese Etiketten die stilistischen Problemstellungen angemessen beschreiben, sei dahingestellt. Der Handschriftenbefund zeichnet jedenfalls ein komplexes Bild hinsichtlich der Überlieferung von Orthographica.
τεσσαρακονταδύο (11,2; 13,5 min. mult.) und τεσσαρακοντατέσσαρες (21,17 min. mult.) im Grunde als Schreibalternativen oder Orthographica zum regulären Text betrachtet werden. Ein weiteres interessantes Phänomen der Handschriften ist die okkasionelle Zusammenschreibung von Worten wie μεταταῦτα (= μετὰ ταῦτα Apk 1,19; 4,1 u.ö.), διατοῦτο (= διὰ τοῦτο 12,12; 18,8), ἀναμέσον (= ἀνὰ μέσον 7,17) oder ἀπομακρόθεν (ἀπὸ μακρόθεν 18,10.15.17), die daran ersichtlich wird, dass die Wortvorverbindung nur einen Akzent trägt. Eine Aufstellung dazu findet sich in M. Lembke, Der Apokalypse-Wortlaut der Koine-Überlieferung in Beziehung zu Text und Apparat des Nestle-Aland, in: M. Sigismund/D. Müller (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse II, ANTF 50, Berlin/Boston 2017, 285–367, hier 305–306. Bedauerlicherweise sind diese Alternativen weder in den kritischen Editionen verzeichnet noch bei Hoskier konsequent erfasst, sodass sie bisher kaum Beachtung erfahren haben. Bei der Transkription der für die ECMApk ausgewählten Handschriften wurde jedoch versucht, diese Phänomene weitgehend zu dokumentieren. 84 Im Vergleich zu den übrigen Schriften des Neuen Testaments erweist sich die Apokalypse als wortarm, da sie zum einen unter sämtlichen neutestamentlichen Werken den geringsten Wortschatz umfasst und zum anderen einen niedrigeren Anteil an Hapax legomena als das Lukas-Evangelium, die Apostelgeschichte, das Corpus Paulinum sowie der Hebräerbrief aufweist. Vgl. die Übersicht bei Aune, Revelation I, ccvii. 85 Karrer, Johannesoffenbarung I, 92. 86 Siehe die Aufstellungen in Schmid, Studien II, 173–190.
Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung Bislang spielt die Erfassung und Auswertung von Schreibalternativen im Editionsprozess des ECM eine untergeordnete Rolle; für gewöhnlich werden alternative Schreibweisen einer Variante normalisiert bzw. als Orthographica der betreffenden Hauptvariante zugeordnet.87 Dabei werden vorrangig solche Orthographica dokumentiert, die auch in einschlägigen Lexika erwähnt werden. In Bezug auf die Apk sollten auch weitere alternative Schreibweisen eines Wortes erfasst werden ‒ sofern es sich nicht um offensichtliche Fehler handelt. Dies gilt insbesondere für die vielen Symbolnamen und symbolhaften Termini in der Apk, die in diversen Schreibalternativen tradiert werden. Außerdem könnte geprüft werden, ob sich die Überlieferungsqualität einzelner Schreibalternativen ermitteln lässt, was ebenfalls eine große Hilfe für die Textkonstitution ist. Denn bislang ist die Forschung der Überzeugung, dass Orthographica keine Überlieferung haben, sondern allenfalls gewissen grammatischen Vorschriften unterliegen oder Modeerscheinungen bestimmter Epochen sind.88 Allerdings ist diese seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts geltende Auffassung nie kritisch überprüft worden. Es wäre also höchste Zeit, dieser Frage genauer auf den Grund zu gehen.
.. Syntax und Ausdrucksweise Die meisten sprachlichen Eigenheiten, die den Apokalypse-Text kennzeichnen, sind stilistischer Natur. Im Fokus der Forschung stehen vor allem Solözismen, worunter singuläre sprachliche Sondererscheinungen zu verstehen sind, und sog. Semitismen,89 die in der älteren Forschung als Indikator starker hebräi 87 Vgl. dazu Strutwolf, et al., ECMActa I, 8*; A. Hüffmeier, Apparatus Construction: Philological Methodolgy and Technical Realization, in: G. V. Allen (Hg.), The Future of New Testament Textual Scholarship, WUNT 417, Tübingen 2019, 447–459, 454 Anm. 20. 88 Siehe dazu J. H. Moulton, A Grammar of New Testament Greek. Vol. I: Prolegomena, 3. Aufl., Edinburgh 1967, 35; P. Maas, III. Abteilung. Bibliographische Notizen und kleinere Mitteilungen. Zu: Arthur Ludwich, Textkritische Noten zu Paulus Silentiarius, ByZ 23, 264 („[…] da es hierfür [sc. Orthographica] wohl Grammatikervorschriften und Schreibermoden, aber keine Überlieferung gibt.“); H. von Soden, Die Schriften des Neuen Testaments in ihrer ältesten erreichbaren Textgestalt, hergestellt auf Grund ihrer Textgeschichte. I. Teil: Untersuchungen, 1. Abteilung: Die Textzeugen, Göttingen 1911, 1388. 89 Wie Gerhard Mussies in seiner umfangreichen Studie zur Morphologie des Griechisch der Apokalypse herausgearbeitet hat, ist mitunter kaum zu eruieren, welche Herkunft semitischkolorierte Erscheinungen haben: G. Mussies, The Morphology of Koine Greek used in the Apocalypse of St. John, NT.S 27, Leiden 1971, 352. Obwohl manche Phänomene wie der multiplikative Dual δισμυριάδες in 9,16 mit hoher Wahrscheinlichkeit durch das Hebräische vermittelt sind, kann im Einzelfall oft nicht differenziert werden, ob sich semitisierende Ausdrucksweisen aus dem Hebräischen, Aramäischen oder hebraisierendem Aramäisch herleiten (siehe Mussies, Morphology, 352–353). Folglich endet Mussies’ Untersuchung mit einem Negativergebnis, dass die morphologischen Daten keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die Herkunft semitisierender Spracherscheinungen im Griechischen der Apokalypse erlauben (Mussies, Morphology, 352).
Hier ist Weisheit: Die Spracheigentümlichkeiten der Apokalypse
scher Reminiszenzen im Griechischen der Apokalypse gewertet wurden. So sieht R.H. Charles in den mutmaßlichen Hebraismen den Schlüssel zur Erklärung ihrer außergewöhnlichen Sprachgestalt; der Vergleich mit der übrigen griechischen Literatur zeige, „dass der linguistische Charakter der Apokalypse absolut einmalig ist“.90 Darum kam Charles zu dem Schluss: „No literary document of the Greek world exhibit such a vast multitude of solecisms“.91 Speziell die unzähligen Solözismen, für die es in der gesamten griechischen Literatur kein zweites Beispiel gäbe, würden belegen, dass der Autor zwar Griechisch schrieb, jedoch Hebräisch dachte.92 Vergleichbare Einschätzungen durchziehen die Kommentarliteratur93 und werden mitunter in modernen Einleitungswerken zum Neuen Testament vertreten.94 Mit Porter lassen sich drei Forschungsmeinungen zur Sprachgestalt der Apokalypse differenzieren: a) Die Apokalypse sei ursprünglich in semitischer Sprache verfasst, entweder Hebräisch oder Aramäisch; b) starke Verstöße gegen 90 „[…] the linguistic character of the Apocalypse is absolutely unique“ (Kursivierung nach dem Original), in: R. H. Charles, The Hebraic Style of the Apocalypse, in: ders. (Hg.), Studies in the Apocalypse. Being Lectures delivered before the University of London, Edinburgh 1915, 79– 102, hier 81. 91 Charles, Hebraic Style, 81. Zu einer ähnlichen Einschätzung kam zuvor T. C. Laughlin, The Solecisms of the Apocalypse, Ph.D. Princeton 1902, in seiner Dissertation über die Solözismen der Apokalypse; auch er sieht die sprachlichen Besonderheiten in erster Linie durch hebräischen Spracheinfluss vermittelt Laughlin, Solecisms, 4: „The following pages present the evidence of this Hebrew influence“). 92 Wörtlich: „The reason clearly is that, while he writes Greek, he thinks in Hebrew“; R. H. Charles, A Critical and Exegetical Commentary on the Revelation of St. John with Introduction, Notes, and Indices. Also the Greek Text and English Translation, Vol. 1, Edinburgh 1920, cxliv. Die Auffassung, hebräische Einflüsse würden die griechische Sprachgestalt der Apokalypse dominieren, wird wiederholt in der Literatur vertreten. So auch Mussies (Morphology, 311) mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Abfassung der Apokalypse: „St. John as a multilingual person was himself acquainted with Hebrew, Aramaic and Greek, and his use of the latter was influenced by his mother tongue. St. John had no mastery of Greek, and composed the Apc. either in Hebrew or in Aramaic. The book was afterwards translated into Greek by another person, […]“. In Anbetracht der eigentümlichen Sprache der Apokalypse kommt Mussies zu dem Schluss, dass sie gar nicht ursprünglich in Griechisch verfasst, sondern auf der Grundlage einer Hebräischen oder Aramäischen Originalschrift übersetzt wurde. 93 Es sei exemplarisch auf W. Bousset, Die Offenbarung Johannis, KEK 16, Göttingen 1906, 159–177; Aune, Revelation I, clxii; Giesen, Offenbarung, 39, verwiesen. Letzterer rekurriert sogar wörtlich auf Charles’ Urteil und schreibt: „Der Seher denkt zudem […] offenkundig hebr., auch wenn er griech. schreibt“ (Giesen, Offenbarung, 39). 94 S. Schreiber, Die Offenbarung des Johannes, in: M. Ebener/S. Schreiber (Hgg.), Einleitung in das Neue Testament, Kohlhammer Studienbücher Theologie 6, Stuttgart 2008, 559–585, hier 563.
Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung die griechische Grammatik und Syntax; c) der Autor schrieb eine spezifische Form von ‚Ghettosprache‘, indem er das Griechisch der jüdischen DiasporaGemeinde benutzte.95 Alle drei Ansätze haben ihren gemeinsamen Fluchtpunkt darin, die griechische Sprachgestalt der Apokalypse als fehlerhaft und ‚ungriechisch‘ zu betrachten. Dagegen gelangt die moderne Forschung zu erheblich differenzierteren Urteilen und erkennt zunehmend, dass sich die Apokalypse durchaus in die literarischen Erscheinungsformen ihrer Zeit einfügt und dabei stilistische Akzente setzt. Die Häufung der Solözismen wurde von Charles deutlich überschätzt und schwankt in aktuellen Zählungen zwischen 27 und 45 Belegstellen.96 Obwohl die genaue Anzahl der sprachlichen Sondererscheinungen der Apokalypse je nach Blickwinkel variiert, halten sie sich gemessen am Gesamtumfang der Apokalypse in Grenzen und lassen den Text weniger eigentümlich wirken, als es die ältere Forschung Glauben machen wollte.97 Weiterhin trägt Karrer eine ganze Fülle sprachlicher Phänomene zusammen, die sich unter Bezugnahme auf die Septuaginta bzw. das griechisch-sprachige Frühjudentum erklären.98 Karrer vertritt damit eine zu Charles völlig konträre Position, wonach „sich die Apk explizit im griechischen Sprachraum ansiedelt“.99
95 S. E. Porter, The Language of the Apocalypse in Recent Discussion, NTS 35 (1989), 582–603, hier 582. 96 Während Beale, Book of Revelation, 105, insgesamt 27 sprachliche Sondererscheinungen im Text der Apokalypse zählt, registriert L. F. Moț, Morphological and Syntactical Irregularities in the Book of Revelation. A Greek Hypothesis, Linguistic Biblical Studies 11, Leiden/Boston 2015, 245. Dabei betont er jedoch, dass die Apokalypse mit Blick auf die Syntax sehr viel regelmäßiger formuliere, als dass sie sprachliche Brüche produziere (Moț, Irregularities, 245). Von einem völlig unsachgemäßen Sprachgebrauch kann also in Bezug auf die Apk keine Rede sein. 97 Schmidt weist darauf hin, dass für die semitische Grundierung der Sprachgestalt der Apokalypse verschiedene Faktoren zu differenzieren sind: D. D. Schmidt, Semitisms and Septuagintalisms in the Book of Revelation, NTS 37 (1991), 592–603. Semitisierende Erscheinungen können entweder direkt durch eine semitische Sprache (Hebräisch oder Aramäisch), der Septuaginta oder allgemeinem biblischen Griechisch vermittelt sein (Schmidt, Semitisms, 596). Besonderes Augenmerk verdienen die jüngeren griechischen Übersetzungen in der Septuaginta-Tradition wie diejenige des Theodotion im Danielbuch (Schmidt, Semitisms, 597) zum Verständnis des Stils der Apokalypse. Diese Übersetzungen bemühen sich im 1./2. Jahrhundert um eine Revision der Septuaginta in Richtung des Hebräischen Textes. Womöglich partizipierte der Autor der Apokalypse an dieser Entwicklung, weshalb seine Ausdrucksweise oft hebräische Syntax nachahmt; siehe dazu S. Thompson, The Apocalypse and Semitic Syntax, MSSNTS 52, Cambridge 1985, 1. 98 Vgl. dazu die Tabelle 8 in Karrer, Johannesoffenbarung I, 92–93. Für Karrer sind die engen Beziehungen der Sprache der Apokalypse zur Septuaginta und die teilweise verstärkten hebräischen Anklänge (etwa Redeeinleitung mit λέγων/λέγοντες im Sinne von ֵלאמֹרoder Relativsatzeinleitung mit ) ֲא ֶשׁרein Indiz dafür, dass der Autor „mit aller Wahrscheinlichkeit zusätz-
Hier ist Weisheit: Die Spracheigentümlichkeiten der Apokalypse
Was hier exemplarisch an Charles und Karrer verdeutlicht wurde, steht sinnbildlich für den übergreifenden Diskurs, wie man die stilistischen Auffälligkeiten des letzten Buches der griechischen Bibel auffassen soll. Es mehren sich derzeit vermittelnde Ansätze mit der Intention, die Stilistik der Apokalypse als originelle Rhetorik mit dezidiert am Inhalt orientierter Funktion begreiflich zu machen.100 Im Gegensatz zu vielen anderen Kommentatoren (siehe Anm. 92) vermochte Heinrich Kraft in der Sprache der Apokalypse weder hebraisierendes Griechisch noch irgendeine Form von Ghettosprache zu erkennen; er bewertet ihre Sprachgestalt stattdessen als „Kunstsprache“, um „in der Weise der Bibel zu sprechen“.101 Diese Linie wird durch mehrere englischsprachige Forscher fortgesetzt, wobei vor allem Gregory K. Beale,102 Daryl D. Schmidt,103 Allen D. Callahan104 zu nennen sind. Als profiliertester Vertreter der neueren Forschung darf Thomas Paulsen gelten, der folgendermaßen über die Sprachgestalt der Apokalypse urteilt: So bestätigt sich eindrucksvoll die Erkenntnis, dass wir es bei Johannes unabhängig von Herkunft und Muttersprache mit einem souveränen Kenner der griechischen Sprache und einem Könner zu tun haben, der mit ihr virtuos zu spielen und sie für die Präsentation seiner Inhalte zu nutzen versteht: Sprache und Stil, vor allem die Signaleffekte der grammatischen Inkongruenzen sollen den Adressaten helfen, sein Anliegen besser zu verste-
lich zum Griechischen des Hebräischen mächtig“ war (Karrer, Johannesoffenbarung I, 93). Da Mehrsprachigkeit für den östlichen Mittelmeerraum zur Zeit der Apokalypse keineswegs außergewöhnlich war, dürfe dies prinzipiell auch für ihren Verfasser angenommen werden. Weiterführende Beobachtungen bei Karrer, Johannesoffenbarung I, 43–49. 99 Karrer, Johannesoffenbarung I, 94 (Zitat aus syntaktischen Gründen geringfügig modifiziert). 100 Die Anfänge dieses Forschungszweiges reichen in die 1970er Jahre, der Epoche des „rhetorical turns“ zurück; man erkannte, dass Offenbarungstexte mitunter nonkonformistische Sprachmuster generierten, um bewusst zu verfremden und so eine Rhetorik eigener Dignität zu erschaffen. Siehe dazu die weiteren Ausführungen bei Karrer, Johannesoffenbarung I, 95. 101 Kraft, Offenbarung, 15. 102 Nach Beale (Book, 100–103) stellen die Solözismen der Apokalypse ein bewusstes rhetorisches Mittel dar, um einen „biblischen Effekt“ hervorzurufen. 103 Schmidt (Semitisms, 602f.) beschreibt den Septuaginta-Einfluss auf die Sprachgestalt der Apokalypse genauerhin als „prophetic septuagintalisms“, die vor allem den Rekurs auf die prophetischen Traditionen der Schriften Israels untermauern und damit den maßgeblichen Deutungshorizont markieren. 104 Callahan rekurriert interessanterweise auf die Textsicherungsformel, die den prophetischen Anspruch des Textes betont, in dessen Dienst die Spracheigenheiten stehen. Siehe dazu die Ausführungen bei A. D. Callahan, The Language of the Apocalypse, HTR 88 (1995), 453– 470, 469–470.
Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung hen, ihnen Gottes und Christi Macht und Größe, aber auch das nach seiner Überzeugung unmittelbar drohende Jüngste Gericht nahezubringen.105
Für Paulsen haben die Spracheigentümlichkeiten der Apokalypse theologischen Sinn, indem die Inkongruenzen wie Signalleuchten wirken und besonders relevante Passagen markieren. Ähnlich äußert sich Craig R. Koester, der die Sprachgestalt der Apokalypse ebenfalls als wohlgeformt einstuft und darin die Absicht erkennt, Leser/Leserinnen „eine eigenartige visionäre Welt“ zu zeichnen.106 Die Rückfrage nach der Sprachgestalt der Apokalypse prägt das Anliegen, ihre sprachlichen und stilistischen Eigenarten theologisch zu erklären bzw. als spezifisches Kommunikationsmittel zum tieferen Verständnis ihres Inhalts zu deuten. Während die ältere Forschung überwiegend semitische Einflüsse im Griechisch der Apokalypse sieht und darin den Schlüssel zu ihrer Sprachgestalt erkennt, macht die neuere Forschung rhetorische Aspekte stark und betrachtet die Stilistik als ein außergewöhnliches, Himmel und Erde übergreifendes Kommunikationsgeschehen.
.. Stilistik und Textkritik Wie auch immer die Sprachgestalt der Apokalypse interpretiert wird, hat das Ergebnis gravierende textkritische Auswirkungen und kann gegebenenfalls zu völlig divergenten Textkonstitutionen führen. Schmid hielt darum fest, dass die Beachtung des Stils „wegen der Eigenart ihrer sprachlichen Form, ihrer Eigenwilligkeiten und Verstöße gegen die griechische Grammatik“ bei der Apokalypse besonders wichtig sei.107 Bei genauerer Betrachtung erweist sich auch Schmid als Vertreter, der die sprachlichen Eigenheiten kritisch bewertete; seiner Auf 105 So das Schlussvotum bei T. Paulsen, Zu Sprache und Stil der Johannes-Apokalypse, in: S. Alkier/T. Hieke/T. Nicklas (Hgg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015, 3–25, 25. Nach näherer Betrachtung treten die stilistischen Besonderheiten vor allem im Konnex mit Gott oder Christus auf, „um deren über alle Regeln der Grammatik und Syntax erhobene Majestät Ausdruck zu verleihen“. Analoges gelte mit umgekehrten Vorzeichen für bedrohliche Szenarien wie die Apokalyptischen Reiter (Apk 6,1‒8) oder den Schreckensengel ‚Abaddon‘ (9,11), „um das Schockierende von deren Auftritten zu unterstreichen“. 106 „The unusual expressions fit to the transcendent character of what John sees. BY using forms of well-crafted speech […], Revelation draws readers into a peculiar visionary world that remains at odds with the familiar patterns of communication in the readers’ world“, Koester, Revelation, 144. 107 Schmid, Studien II, 249.
Hier ist Weisheit: Die Spracheigentümlichkeiten der Apokalypse
fassung nach würden sie „auf den Verfasser selbst zurückgehen“ und können „nicht etwa einem Redaktor oder der Überlieferung zugeschrieben werden“.108 Die Texttransmission lasse eine deutliche Tendenz zur Glättung und Besserung des Ausdrucks erkennen. Als textkritische Grundregel ergibt sich sodann, den Text im Sinne der eigentümlichen Stilistik der Apokalypse zu rekonstruieren. Die Logik lautet: Stehen mehrere Varianten zur Auswahl, wäre diejenige zu bevorzugen, die sich am besten in das postulierte Gesamtbild einer ohnedies merkwürdigen Sprachsituation einfügt. Dass hier eine gewisse textkritische Zirkelbewegung vorliegt, ist offensichtlich; ob und inwiefern diese Art der Rekonstruktion gerechtfertigt ist, hängt nicht zuletzt von der Einschätzung der Überlieferung ab.109 Soweit es die begründete Textkonstitution der Apokalypse betrifft, kumulieren sprachanalytische und überlieferungsgeschichtliche Problemstellungen aufs Engste. Die Rekonstruktion des Textes wird maßgeblich von der Sicht auf die Stilistik der Apokalypse und umgekehrt bestimmt. Die Frage, ob der Autor aufgrund unterdurchschnittlicher Griechisch-Kenntnisse oftmals un- respektive wideridiomatisch formulierte oder die Eigentümlichkeiten das Resultat wohlgeformter Rhetorik sind, kann zu ziemlich unterschiedlichen Textrekonstruktionen führen, zumal wenn auch die Möglichkeit von Abschreibfehlern für die auffällige Variantenbildung einzukalkulieren ist. Aus dem geschilderten Diskussionsstandes folgt für die Textkritik, etwaige Stilvarianten zunächst nach zwei basalen Prinzipien zu beleuchten: – Solözismen und semitisierende Diktionen werden grundsätzlich bevorzugt, sofern sie inhaltlich begründet und dem Sprachmuster anderer unvariierter Stellen entsprechen. Denn es ist wahrscheinlicher, dass die spätere Überlieferung eingegriffen hat und unkonventionelle Sprachformen zu vertrauten umarbeitete. So monierte bereits Andreas Caes. die Tendenz, die eigenwillige Rhetorik der Apokalypse zu konventionellen Ausdrucksweisen umzuformen (siehe Teil I: 2.2.1). – Sobald jedoch eine grammatisch oder syntaktisch auffällige Formulierung nicht aus inhaltlich-rhetorischen Gründen zu plausibilisieren ist und stattdessen eine regelkonforme Variante zur Verfügung steht, kann Prinzip 1 außer Kraft gesetzt werden. Dies gilt insbesondere, wenn die konventionelle
108 Schmid, Studien II, 250. 109 Auf das Phänomen, dass die Überlieferung sprachliche Eigenheiten der Apk mitunter verstärkt hat, weist Karrer hin; Karrer, Sprache, 191. Es gilt darum bei der Textkonstitution stets in einem schwierigen Balanceakt abzuwägen, welche Eigenheiten dem Ausgangstext angehören und welche der Überlieferung anzukreiden sind.
Besonderheiten der Apokalypse-Überlieferung Ausdrucksweise auch an unvariierten Stellen begegnet und sich die normabweichende Variante durch Schreiberfehler oder anderweitigen Paralleleinfluss erklärt. In diesen Fällen ist die Variante mit Folge herkömmlicher Diktion als Ausgangstext der Überlieferung zu wählen. Ferner wäre zu klären, inwiefern die Beachtung von Kohärenz zur Aufklärung und Entscheidung von Stilistika beiträgt. Im Idealfall stellt sie einen weiteren Parameter dar, indem sich genealogische Argumente für die Tradierung einer spezifischen stilistischen Variante zu solchen exegetischer Natur gesellen.
Forschungsgeschichtlicher Überblick In der Literatur finden sich bereits verschiedene Überblicke zur textkritischen Forschungsgeschichte der Apokalypse, die die wichtigsten Beiträge und Personen chronologisch strukturieren.110 Die nachfolgende forschungsgeschichtliche Skizze fokussiert sich auf die beiden Hauptfragen der gegenwärtigen Forschung nach der Textkonstitution und Textgeschichte. Obwohl nach heutigem Verständnis letztere die unabdingliche Voraussetzung zur Rekonstruktion des Textes bildet, werden die Themen in der genannten Reihenfolge entfaltet; denn auch die Forschung richtete ihre Bemühungen zunächst auf die Textkonstitution und bekam erst allmählich einen Sinn für die Überlieferungsgeschichte. Dieser Erkenntnisweg soll im Folgenden schlaglichtartig nachgezeichnet werden, ohne sämtliche Einzelbeiträge im Detail zu thematisieren.
. Der Diskurs über die Textkonstitution Der Startpunkt für die Rückfrage nach dem Text der Apokalypse lässt sich äußerst schwer eruieren. Obwohl textkritische Überlegungen vor dem Aufkommen der modernen Wissenschaft nicht mit der heutigen Textkritik vergleichbar sind, haben gelehrte Menschen schon früh begonnen, sich mit dem Apk-Text in textkritischer Hinsicht zu befassen. Als prominentester Vertreter darf Irenaeus von Lyon (um 135 – um 200) gelten, der beispielsweise im Kontext von Apk 13,18 seine Leserschaft auf Varianten zur Zahl des Tieres aufmerksam macht. Neben der üblichen Ziffer χξςʹ (666) gäbe es ebenso Handschriften, die χιςʹ (616) dokumentieren würden.111 Wie ein Blick in TuT-Apk verrät, gibt es mit P115 und 04 immerhin zwei bedeutsame Handschriften, die Irenaeus Informationen stützen.112 Das Beispiel belegt eindrucksvoll, dass Varianten vergleichsweise früh
110 Exemplarisch genannt seien die forschungsgeschichtlichen Überblicke bei Hernández, Scribal Habits, 10–28; Parker, Introduction, 227-232; Karrer, Johannesoffenbarung I, 72–75. 111 Siehe Iraeneus, haer. V 30,3. 112 Das Zeugnis von P115 lässt sich nicht zweifelsfrei entziffern. Der vorhandene Text lautet […] η χις, wobei die Grapheme η wie χις einen Oberstrich aufweisen. Der Oberstrich markiert typischerweise eine Abkürzung, kann aber auch eine Korrektur anzeigen. Insofern bleibt unklar, ob der Strich auf η eine Zahl oder eine Korrektur anzeigt. Auf die Unsicherheit weisen auch hin P. W. Comfort/D. P. Barrett, The Text of the Earliest New Testament Greek Manuscripts. A Corrected, Enlarged Edition of the Complete Text of the Earliest New Testament Manuscripts, Wheaton, Il 2001, 675. https://doi.org/10.1515/978311119430-004
Forschungsgeschichtlicher Überblick entstanden, sich rasch ausbreiteten und auch als solche wahrgenommen wurden. Das Bewusstsein für Varianten blieb in der Folgezeit erhalten, indem sie gelegentlich in der frühbyzantinischen Kommentarliteratur aufgegriffen wurden. So finden sich bei Andreas Caes. einige Notizen, wonach dem Autor offenbar mehrere Varianten zu einer Stelle bekannt waren. Bezeichnenderweise benannte Andreas sie nicht explizit als Varianten, sondern harmonisierte beide Alternativen zu einer theologischen Gesamtausgabe. So steht in der Auslegung zu Apk 1,5 innerhalb eines Satzes neben λύσαντι (= NA28) die gleichfalls ausgiebig bezeugte Variante λούσαντι zur Aussage verbunden, dass „er [sc. Christus] uns durch seine durch seine Liebe von den Fesseln des Todes befreite (λύσαντι) und die Flecken der Sünde durch sein lebenspendendes Blut abwusch (λούσαντι)“.113 Zwei weitere prägnante Belege für derartige Harmonisierungen von Varianten finden sich im Kommentar zu 3,7 und 15,6. Ob es sich nun um die Alternative zwischen κλεῖν δαυίδ und κλεῖν τοῦ ᾅδου (Apk 3,7)114 oder λίνον und λίθον (Apk 18,21) handelt, bemüht sich Andreas in beiden Fällen um einen Ausgleich der Varianten zugunsten der theologischen Auslegung.115 Dieses Vorgehen bildet einen völlig anderen Ansatz im Umgang mit Varianten als die moderne Textkritik, die sie für gewöhnlich abwägt und sich schließlich für den ‚besseren‘ Wortlaut entscheidet.
113 Originaltext nach Schmid, Studien Ib, 16: […] τῷ διʼ ἀγάπην τῶν δεσμῶν τοῦ θανάτου ἡμᾶς λύσαντι καὶ τῶν τῆς ἁμαρτίας κηλίδων λούσαντι τῇ ἐκχύσει τοῦ ζῳοποιοῦ αὐτοῦ αἵματος […]. 114 Nach Hoskier (Text II, 99) wird die Variante κλεῖν τοῦ ᾅδου nur von einzelnen Minuskeln (oft in margine) bezeugt, taucht aber auch in der armenischen Version auf. Da sie Andreas Caes. ganz selbstverständlich in seinem Kommentar erwähnte, dürfte sie seinerzeit stärker verbreitet gewesen sein. In der überkommenen Handschriftentradition ist ihre Dokumentation jedoch von wenigen Ausnahmen abgesehen (etwa 2050) auf Exemplare des AndreasKommentars beschränkt. 115 Weitere Ausführungen zu den Stellen 3,7 und 15,6 im Andreas-Kommentar finden sich bei J. Hernández, Andrew of Caesarea and His Reading of Revelation: Catechesis and Paranesis, in: J. Frey/J. A. Kelhoffer/F. Tóth (Hgg.), Die Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Rezeption, WUNT 287, Tübingen 2012, 755–774, 758–759. Auch Hernández betont, dass Andreas Caes. Variante nicht im heutigen Sinne wahrnahm, sondern sie als willkommene Anregung zur tiefergehenden Auslegung betrachtete.
Der Diskurs über die Textkonstitution
.. Die Kritik am Textus Receptus und dessen Überwindung Als Erasmus 1516 sein Novum Instrumentum omne veröffentlichte,116 hatte er bzw. sein Mitarbeiterkreis lediglich eine Handschrift für die Erstellung des griechischen Textes der Apokalypse zur Verfügung,117 und zwar den heute unter dem Siglum 2814 bekannten Codex Reuchlin des Baseler Dominikaner Klosters.118 Dabei weist der von Erasmus veröffentlichte Apokalypse-Text diverse Sonderlesarten auf, die von keiner griechischen Handschrift vor dem 16. Jh. bezeugt werden.119 Die Sonderlesarten haben verschiedene Ursachen: sie sind zum Teil der Vorlage 2814 selbst geschuldet (etwa 2,22 ἐγὼ βάλλω statt βάλλω NA28)120, gehen auf Rückübersetzungen (z. B. 2,17 ὃ οὐδεὶς ἔγνω εἰ μὴ ὁ λαμβάνων statt NA28 ὃ οὐδεὶς οἶδεν εἰ μὴ ὁ λαμβάνων)121 bzw. Angleichungen an
116 D. Erasmus, Novum Instrumentum omne, diligenter ab Erasmo Roterodamo recognitum et emendatum (…), Basel 1516 Faksimile Neudruck: H. Holeczek, D. Erasmus. Novum Instrumentum omne (Faksimile: Basel 1516), Stuttgart-Bad Cannstatt 1986. Eine kritische Gesamtedition der fünf Ausgaben des Erasmus ist A. J. Brown, Novum Testamentum ab Erasmo recognitum IV: Epistolae Apostolicae (secunda pars) et Apocalypsis Iohannis, ASD V/4, Leiden/Boston 2013. 117 Wiederentdeckt hatte den Codex Theodor Karrer und dessen Identifikation als Vorlage für den Apk-Text des Erasmus gelang F. Delitzsch, Handschriftliche Funde, 1. Heft: Die Erasmischen Entstellungen des Textes der Apokalypse, nachgewiesen aus dem verloren geglaubten Codex Reuchlins, Leipzig 1861. 118 GA 2814 = Augsburg, Universitätsbibliothek, I.1.4°1 (Diktyon-Nummer 8719). Eine umfassende Besprechung des Codex und seiner Geschichte bietet M. Karrer, Der „Codex Reuchlin“ zur Apk (min. GA 2814): seine Geschichte und Bedeutung, in: Martin Karrer (Hg.), Der Codex Reuchlins zur Apokalypse. Byzanz – Basler Konzil – Erasmus, Manuscripta Biblica 5, Berlin/Boston 2020, 17–136. 119 Listen und Besprechungen dieser Sonderlesarten des erasmischen Textes finden sich in M. Heide, Der einzig wahre Bibeltext? Erasmus von Rotterdam und die Frage nach dem Urtext, 5., verbesserte und erweiterte Auflage, Nürnberg 2006, 86–111; 2013, 20–21; D. Müller, Erasmus und die Sonderlesarten des Textus Receptus der Apokalypse, in: J. Elschenbroich/J. de Vries (Hgg.), Worte der Weissagung. Studien zu Septuaginta und Johannesoffenbarung, ABIG 47, Leipzig 2014, 159–187, 164-165.172-183. Detaillierte Hinweise zu allen Lesarten des erasmischen Textes im Vergleich zur Handschriftentradition finden sich in der genannten kritischen Edition von Brown (siehe Anm. 116). 120 In Apk 2,22 weist 2814 eine Korrektur auf, indem ἐγώ nachträglich über der Zeile zu βάλλω ergänzt ist. Diese in der griechischen Handschriftentradition singulär bezeugte Zufügung wurde in den erasmischen Apk-Text übernommen; siehe dazu auch Brown, Novum Testamentum, 530. 121 Die Worte ὃ οὐδεὶς οἶδεν εἰ μὴ ὁ λαμβάνων fehlen in 2814, weshalb sie nach der lateinischen Version für die Drucklegung ins Griechische rückübersetzt werden mussten. Als auffällig
Forschungsgeschichtlicher Überblick den lateinischen Text zurück oder basieren auf schlichten Transkriptionsfehlern122 bei der Textherstellung. Über die meisten Rückübersetzungen, die aufgrund von Lücken oder unlesbaren Passagen in 2814 erforderlich waren, hat Erasmus seine Leserschaft im Unklaren belassen, da er lediglich auf die Reproduktion des Schlusses Apk 22,16ff. in den Annotationes zu seiner Ausgabe näher eingegangen ist.123 Weil Erasmus zunächst selbst und später die ihm nachfolgenden Editoren seines Textes an ebendiesen Sonderlesarten unverändert festgehalten haben – obwohl immer neue Quellen bekannt wurden – fanden sie so ihren Weg in den Textus receptus der Apk, der wiederum die Edition des Neuen Testaments bis ins 18. Jh. (und zum Teil darüber hinaus) hinein dominiert hat. Speziell mit Blick auf die Apokalypse begünstigte die desolate Handschriftenlage diese Entwicklung, da in der Folgezeit kaum bedeutsame Exemplare auftauchten oder bekannte Codices wie 02 und 04 vielfach ignoriert wurden. Eine wegweisende Abhandlung hat Hugo Grotius vorgelegt, der in seinem 1646 erschienen Werk Annotationnes in Novum Testamentum124 bereits viele Varianten des Codex Alexandrinus für die Apokalypse nachweist und diese Handschrift offenbar als textkritische Autorität betrachtet hat.125 Mit dem Druck der Complutensischen Polyglotte liegt eine zweite Edition der Apokalypse aus dem 16. Jh. vor,126 doch weder konnte sich dieser Text in der Editionsgeschichte durchsetzen noch ist er dem Textus receptus qualitativ überlegen. Einen geringen Einfluss auf die Gestalt des Textus receptus hatte die Complutensis dennoch, da Erasmus sie in späteren Ausgaben zur Überarbeitung seines Textes herangezogen hat.127 Ferner gab Stephanus in seiner Editio erweist sich die Rekonstruktion ἔγνω, die in keiner griechischen Handschrift vor dem 16. Jh. bezeugt wird. 122 Häufig fehlt im erasmischen Text der Artikel im Vergleich zu 2814; vgl. Müller, Sonderlesarten, 173. 123 M. L. van Poll-van de Lisdonk, Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami. Annotationes in Novuum Testamentum (Pars Sexta). ASD VI/10, Leiden 2014, 612. Zu den diversen Auffälligkeiten des Abschnitts Apk 22,16–21 im erasmischen Text siehe Brown, Novum Testamentum, 667–670. 124 H. Grotius, Annotationes in Novum Testamentum. Pars tertia ac ultima, Paris 1650. 125 Grotius bezeichnet den Codex Alexandrinus stets als „manuscriptus“. Vgl. beispielsweise die Anmerkung zu Apk 2,10 in Grotius, Annotationes, 150. An dieser Stelle weist er darauf hin, dass das Manuskript (sic. 02) anstelle von ἕξετε die Form ἔχητε liest. 126 G. Jiménez de Cisneros, Biblia complutensis: Vetus Testamentum multiplici lingua nunc primo impressum […], 6 vols., Alcalá 1514-1517. Vol. V: Novum Testamentum Grece et Latine in academia complutensi noviter impressum, Alcalá 1514 (Faksimile: Rom 1983), Alcalá (Complutum) ausgeliefert um 1520 oder später. 127 Dazu Brown, Novum Testamentum, 12–13. Brown zählt insgesamt 144 Änderungen gegenüber der Ausgabe von 1522, die Erasmus in seiner vierten Auflage von 1527 vornahm und
Der Diskurs über die Textkonstitution
regia von 1550128 diverse Lesarten der Complutensis im Marginalapparat der Ausgabe an.129 Was die handschriftlichen Vorlagen der Complutensis betrifft, ließ sich für die Apokalypse anders als bei Erasmus bislang nicht widerspruchsfrei klären, welche Handschriften für die Textkonstitution benutzt wurden. Markus Lembke hat eine hochspezialisierte Studie zu dieser Frage veröffentlicht, die auf Basis eines detaillierten Textvergleiches von zwei für die Drucklegung verwendeten Handschriften der Apokalypse ausgeht: Signifikante Verbindungen zu GA 432 würden nahelegen, dass diese Handschrift zumindest im letzten Textdrittel Verwendung fand, während sich die Vorlage für die Kapitel 1–16 nicht mehr eindeutig ermitteln lässt.130 Das Ergebnis hat einen ziemlichen komplexen Anstrich, zumal er für den Abschnitt 1–16 eine Handschrift als Vorlage postuliert, die wiederum in sich einen Mischtext bekundet.131 Aus diesem Grund gibt Ulrich Schmid zu bedenken, dass die Apokalypse in der Complutensis womöglich nach einer Handschrift hergestellt wurde, die entweder verloren bzw. deren Aufenthaltsort bis heute unbekannt ist.132 Insofern kann über die die mit Lesarten der Complutensis identisch sind. Sie können in drei Gruppen geordnet werden: a) höhere Konformität mit der lateinischen Version (86), b) Differenz zum lateinischen Text (3), und c) Behebung von sprachlichen Ungenauigkeiten (55). Des Weiteren Karrer, „Codex Reuchlin“, 123–124. 128 R. Estienne, Της Καινης Διαθηκης Απαντα (Editio Regia), Paris 1550. Es wurden die Scans der Ausgabe des CSNTM benutzt, die unter folgendem Link abrufbar sind: https://printedbooks.csntm.org/ [zuletzt abgerufen am 16.06.2023]. 129 Das Siglum αʹ bezeichnet Lesarten der Complutensis. Zu den nachgewiesenen Quellen im Marginalapparat der Editio regia siehe J. K. Elliott, Manuscripts cited by Stephanus, NTS 55 (2009), 390–395, bes. 391. 130 Siehe dazu die resümierenden Ausführungen in M. Lembke, Der Apokalypsetext der Complutensischen Polyglotte und sein Verhältnis zur handschriftlichen Überlieferung, in: M. Sigismund/U. B. Schmid/M. Karrer (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse, ANTF 47, Berlin/Boston 2015, 33–133, 127–129. 131 Nach Lembkes Analyse steht die unbekannte Vorlage für die Kapitel 1–16 im ersten Drittel der Familie 1248-1740-2821 und im zweiten Drittel der Familie 1774-2035-2926 nahe (Lembke, Apokalypsetext, 128). Demnach hätte man für die Complutensis bei der Apk ausgerechnet zwei Sonderexemplare verwendet, da weder 432 noch die zweite unbekannte postulierte Vorlage den Text der Complutense-Gruppe sonderlich treu vertreten. Weil die Handschriften-Gruppe ansonsten überaus homogen ausfällt und Lembke leider an keiner Stelle mögliche Einflussnahmen der Editoren auf die Textkonstitution in Betracht zieht, die den Text der Druckausgabe auch unabhängig von der Handschriftentradition modifiziert haben können, wirkt seine Argumentation insgesamt sehr unausgewogen. Wie die Forschung zur Druckpraxis des Erasmus zeigt, muss aber für das 16. Jahrhundert mitunter von tiefgreifenden Editorenrechten bei der Textkonstitution ausgegangen werden; dazu Karrer, „Codex Reuchlin“, 123. 132 Siehe dazu den kurzen Gedankengang mit kritischem Rekurs auf Lembke in U. B. Schmid, Editing the Apocalypse in the twenty-first century, in: T. J. Kraus/M. Sommer (Hgg.), Book of
Forschungsgeschichtlicher Überblick weiteren Hintergründe der Drucklegung der Apokalypse in der Complutensis nur spekuliert werden. Die Kritik am Textus Receptus der Apokalypse entwickelte sich allmählich und bekam vor allem durch den englischen Gelehrten John Stuart Mill, der 1707 kurz vor seinem Tod das erste Neue Testament mit umfänglichem VariantenApparat veröffentlichte,133 frischen Aufwind. Obwohl er keine Textänderungen vornahm, schärfte er allein durch den Nachweis unzähliger Varianten das kritische Bewusstsein gegenüber dem Textus Receptus. Seine Arbeit fand mit Johann Jakob Wettstein einen prominenten Nachfolger.134 Obwohl Wettstein nachdrücklich monierte, dass Erasmus bei der Apokalypse mitunter Lesarten gegen alle griechischen Handschriften und gegen die griechische Ausdrucksweise bietet,135 beließ auch er den Textus receptus weitgehend unverändert in seiner geprägten Form; stattdessen annotierte er mittels textkritischer Zeichen seiner Meinung nach notwendige Korrekturen im Obertext.136 Für die Apokalypse konnte Wettstein immerhin auf drei Majuskeln, nämlich 02 04 und 046, sowie 28 Minuskel-Codices zurückgreifen.137 Die Sichtung seiner textkritischen
Seven Seals. The Peculiarity of Revelation, its Manuscripts, Attestation, and Transmission, WUNT 363, Tübingen 2016, 231–240, 234. 133 J. S. Mill, Novum Testamentum Graecum cum lectionibus variantibus MSS. exemplarium, versionum, editionum, SS. Patrum et scriptorum ecclesiasticorum, et in easdem notis. Editio secunda, Leipzig 1723. 134 J. J. Wettstein, Hē Kainē Diathēkē. Novum Testamentum Graecum editionis receptae cum lectionibus variantibus codicum MSS., Editionum aliarum, Versionum et Patrum nec non commentario pleniore ex scriptoribus veteribus Hebraeis, Graecis et Latinis, Historiam et vim verborum illustrante, Tomus II, Amsterdam 1752. 135 J. J. Wettstein, Hē Kainē Diathēkē. Novum Testamentum Graecum editionis receptae cum lectionibus variantibus codicum MSS., Editionum aliarum, Versionum et Patrum nec non commentario pleniore ex scriptoribus veteribus Hebraeis, Graecis et Latinis, Historiam et vim verborum illustrante, Tomus I, Amsterdam 1751, 127: „contra omnes Codices Graecos, & contra indolem Graeci sermonis“. 136 Welchen hohen Wert Wettstein den Handschriften 02 und 04 zugemessen hat, verdeutlicht besonders anschaulich die vorgeschlagene Änderung von πεπυρωμένοι zu πεπυρωμένης in Apk 1,15; vgl. Wettstein, Novum Testamentum II, 752. Aus heutiger Perspektive ist die Lesart von 02 und 04 an dieser Stelle durchaus kritisch zu betrachten, da sie lediglich von einer weiteren Handschrift bekundet wird (GA 2846) und wahrscheinlich auf einem Fehler der gemeinsamen Vorlagenkette beruht. Bereits Tregelles bewertete die Lesart als Bindefehler von 02 und 04; siehe S. P. Tregelles, The Book of Revelation in Greek, edited from Ancient Authorities, with a new English Version, and Various Readings, London 1844, xxxiii. 137 Vgl. die Liste der Handschriften in Wettstein, Novum Testamentum II, 742–743.
Der Diskurs über die Textkonstitution
Bemerkungen zeigt, dass er die Sonderlesarten des Textus receptus weitgehend ausmerzte und vereinzelt sogar spätere Textkonstitutionen vorbereitete.138 Soweit es die Apokalypse betrifft, schlug Johann Albrecht Bengel einen anderen Weg als Mill und Wettstein ein. Im Gnomon Novi Testamenti gibt er an, dass er wenigstens zwei Apk-Handschriften in Augenschein nehmen konnte, und zwar einen Andreas-Kommentar sowie den berühmten Codex Alexandrinus. Aufgrund dieser Zeugen sei er zu seiner kritischen Sicht auf den Textus receptus gelangt.139 Bahnbrechend ist dabei sein Urteil über den Codex Alexandrinus, den er als ein unvergleichbar altes Exemplar mit enormer Textreinheit eingestuft hat. Diese Bemerkung darf als Präludium für den künftigen Siegeszug des Codex Alexandrinus angesehen werden, der schließlich zur unangefochtenen Leithandschrift der Apokalypse avancierte. Die Überzeugung, auch Erasmus und seine Nachfolger hätten anders rekonstruiert, wenn sie Zugang zu solch hervorragenden Quellen gehabt hätten, ermunterte Bengel dazu, den überkommenen Text in seiner eigenen Edition zu überarbeiten. Obwohl er im Endeffekt nur wenige Stellen modifiziert hat,140 kommt diesen Eingriffen große Bedeutung zu. Für die Apokalypse stellen sie die ersten nennenswerten Textänderungen gegen den Textus receptus seit dessen Fixierung im 16. Jahrhundert aufgrund anderslautender Zeugnisse dar. Im 19. Jahrhundert setzte sich die Überwindung des Textus Receptus endgültig durch,141 wobei mit Blick auf die Apokalypse der Privatgelehrte Samuel P. Tregelles hieran einen beträchtlichen Anteil trägt. Er legte 1844 seine Neuedition unter dem Anspruch vor, dass der Text nach „Ancient Authorities“ rekon-
138 Wettstein (Novum Testamentum II, 752) plädierte beispielsweise für die Tilgung von ἀμήν nach εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων in Apk 1,18 nach dem Zeugnis von 02 und 04. Weil die Auslassung von ἀμήν schließlich durch 01* bestätigt wird, fehlt das Wort im heutigen kritischen Text; vgl. Nestle-Aland28, 737. Wie TuT-Apk dokumentiert, bezeugt die große Mehrheit der Handschriften ἀμήν; vgl. TuT-Apk, 40. 139 Siehe J. A. Bengel, Gnomon of the New Testament, Vol. 3, 7. Aufl. 1877, 174–175. 140 Siehe dazu Hernández, Scribal Habits, 16. 141 Karl Lachmann im Jahr 1830, den Textus Receptus endlich zu bewältigen: „[…] weg vom späten Text des Textus Receptus und zurück zum Text der Kirche des ausgehenden 4. Jahrhunderts!“ Zitiert nach Aland/Aland, Text, 21. Dass Lachmann so präzise für das späte 4. Jahrhundert votiert, mag daran liegen, dass die meisten bekannten Quellen seinerzeit aus dieser Epoche stammen. Für die Apokalypse bedeutete dies eine zuweilen einseitige Favorisierung des Codex Alexandrinus samt vieler seiner Sonder- und Singulärlesarten, wie Lachmanns 1831 publizierte Edition des Neuen Testaments dokumentiert: siehe z.B. 1,13 ποδήρην statt ποδήρη; 1,20 ἐν τῇ δεξιᾷ statt ἐπὶ τῆς δεξιᾶς; 2,7 ταῖς ἑπτὰ ἐκκλησίαις statt ταῖς ἐκκλησίαις (vgl. K. Lachmann, Novum Testamentum Graece. Editio Stereotypa, Berlin 1831, z.St).
Forschungsgeschichtlicher Überblick struiert sei.142 Erwähnenswert ist außerdem eine Liste von 23 Stellen, an denen Tregelles dem gemeinsamen Zeugnis von 02 und 04 misstraute.143 Häufig handelt es sich dabei um orthographische Spezifika wie die Schreibung ἐμμέσῳ (Apk 1,13; 2,1; 6,6), die in NA28 nirgends verzeichnet sind. Daneben begegnen solche durch Tregelles als Fehler beurteilte Varianten wie πεπυρωμένης (1,15) und ἑστός (14,1), die in NA28 wiederum zum kritischen Text gehören. Offensichtlich werden dieselben Varianten in der Forschung unterschiedlich bewertet; während sie Tregelles nach heutiger Terminologie als Bindefehler von 02 und 04 ohne textkritischen Wert einstuft,144 werden sie in NA28 stärker differenziert mit der Folge, dass auf einzelne Orthographica gar nicht hingewiesen wird. Die gegensätzliche Einschätzung der Varianten aus Tregellesʼ Liste macht auf das noch genauer zu thematisierende Problem aufmerksam, wie bestimmte gemeinsame Sonderzeugnisse der Handschriften 02 und 04 textgeschichtlich zu 142 Tregelles, Book of Revelation. Wichtige Folgearbeiten seiner Kritik am Textus Receptus sind S. P. Tregelles, An Account of the Printed Text of the Greek New Testament: With Remarks on its Revision upon Critical Principles. Together with a Collation of the Critical Texts of Griesbach, Scholz, Lachmann, and Tischendorf, with that in Common Use, London 1854; S. P. Tregelles, Collation of Codex Reuchlini of the Apocalypse with the Text of Stephens (1550) as reprinted by Mr. Scrivener (Cambridge 1860), with Reference of the Variations of the Elzevir Edition 1624, in: F. Delitzsch (Hg.), Handschriftliche Funde II, Neue Studien über den Codex Reuchlins und neue textgeschichtliche Aufschlüsse über die Apokalypse aus den Bibliotheken in München, Wien und Rom. Nebst einer Abhandlung von S.P. Tregelles, Zweites Heft, Leipzig 1862, 9–16. 143 Tregelles, Book of Revelation, xxxiii–xxxiv. 144 Zum Terminus Bindefehler siehe Kategorisierung spezifischer Lesartentypen der Überlieferung in P. Maas, Textkritik, 4. Aufl., Leipzig 1960, 26. Maas Ausführungen können als Standarddefinition gelten. Als Bindefehler sind solche Lesarten zu verstehen, die für die Beziehung zweier oder mehrerer Handschriften charakteristisch sind und wodurch sie sich vom Rest der Überlieferung unterscheiden; auf die Bedeutung von Bindefehlern zur Bestimmung des Verwandtschaftsverhältnisses von Handschriften weist auch hin H. J. Vogels, Handbuch der Textkritik des Neuen Testaments, 2. Aufl., Bonn 1955, 157. Die moderne Forschung betrachtet Bindelesarten differenzierter und zieht sie nur mit großer Vorsicht zur Feststellung eines Verwandtschaftsverhältnisses heran. Aufgrund des hohen Kontaminationsgrades der Überlieferung erweisen sich vermeintliche Bindefehler deswegen als problematisch, weil nicht immer mit Sicherheit festzustellen ist, ob das Zusammentreffen bestimmter Handschriften auf genealogische Zusammengehörigkeit hindeutet oder schlicht einem Zufall geschuldet ist. Als Bindelesarten können daher nur solche Lesarten gelten, deren Charakter frei vom Verdacht mehrfach unabhängiger Entstehung ist und die von Handschriften bezeugt werden, die auch ansonsten Lesarten gemeinsam haben. Dazu G. Mink, Problems of a highly contaminated Tradition: The New Testament-Stemmata of Variants as a Source of a Genealogy for Witnesses, in: P. van Reenen/A. Hollander/M. van Mulken (Hgg.), Studies in Stemmatology II, Philadelphia 2004, 13–85, 28-29. Siehe Teil I: 5.3.
Der Diskurs über die Textkonstitution
bewerten sind und welchen Einfluss sie auf die Textkonstitution haben (siehe Teil III: 2.1).
.. Die Apokalypse in den großen kritischen Ausgaben des Neuen Testaments Bis 1911 entstanden zahlreiche kritische Ausgaben des Neuen Testaments, unter denen diejenigen von Brooke F. Westcott und Fenton J. A. Hort, Konstantin von Tischendorf sowie Hermann von Soden herausragen. Diese Editionen unterscheiden sich in etlichen Belangen, was ebenso auf die Rekonstruktion des Apokalypse-Textes zutrifft. ... Tischendorf – 1872 Die ersten großen kritischen Ausgaben des Neuen Testaments, deren Text auf einer Vielzahl an Handschriften und sonstiger Zeugen begründet wurde, gehen auf von Tischendorf zurück. Wie keiner vor ihm bemühte er sich um die Besorgung von Handschriften und unternahm dazu mehrere Forschungsreisen, bei denen er neben dem berühmten Codex Sinaiticus Petropolitanus145 noch weitere bedeutsame Handschriften der gesamten griechischen Bibel entdeckte.146 Insgesamt fertigte Tischendorf bis 1872 acht große kritische Ausgaben des Neuen Testaments an, von denen die letzte mit Blick auf die Apokalypse zugleich die bedeutsamste ist. In der Editio Critica Octava147 dokumentiert Tischendorf erst-
145 K. von Tischendorf, Novum Testamentum Sinaiticum sive Novum Testamentum, cum epistula Barnabae et fragmentis Pastoris ex Codice Sianitico auspiciis Alexandri II. omnium Russiarum imperatoris ex tenebris protracto orbique litterarum traditio accurate descripsit A.F.C.T, Leipzig 1863. Zur Fundgeschichte des Codex Sinaiticus durch von Tischendorf siehe die einschlägige Dokumentation bei D. C. Parker, Codex Sinaiticus. The Story of the World’s oldest Bible, London 2010, 127–166. 146 Neben dem Codex Sinaiticus ist hier vor allem auf folgende Faksimile-Edition hinzuweisen: K. von Tischendorf, Codex Ephraemi Syri Rescriptus sive fragmenta Novi Testamenti e codice graeco parisiensi celeberrimo quinti ut videtur post Christum seculi, Leipzig 1843; K. von Tischendorf, Monumenta sacra inedita. Nova Collectio VI: Apocalypsis et Actus Apostolorum cum quarti Maccabaeorum libri fragmento item quattuor Evangeliorum reliquiae: ex duobus codicibus palimpsestis octavi fere et sexti saeculi altero Porphyrii episcopi, altero Guelferbytano, Leipzig 1869. 147 K. von Tischendorf, Novum Testamentum Graece. Ad antiquissimus testes denuo recensuit. Apparatum criticum omni studio perfectum apposuit commentationem isagogicam, Volumen II, Leipzig 1872.
Forschungsgeschichtlicher Überblick malig den zuvor von ihm entdeckten Codex Sinaiticus und gewährt ihm beträchtlichen Einfluss auf die Textkonstitution, womit die drei Hauptzeugen für die Apokalypse 01, 02 und 04 erstmalig in einer Edition versammelt sind. In der Literatur heißt es gelegentlich, Tischendorf habe 01 übermäßigen Einfluss auf Textkonstitution gegeben.148 Der Vergleich seiner Edition mit den Handschriften 01, 02 und 04 an den für die Apokalypse ausgewählten Teststellen kann diese Behauptung nicht bestätigen. Die Kollation ergibt jedenfalls, dass er allen drei großen Handschriften im Prinzip denselben Einfluss auf die Textkonstitution einräumte. Tatsächlich erscheint die Textkonstitution sogar ausgeglichen, was sich anhand einer kurzen Übersicht verdeutlichen lässt: – 21-mal gegen 01 mit 02 und 04: TST 3, 6, 10, 12, 14, 15, 18, 19, 22, 42, 43, 45, 46, 58, 61, 71, 74, 77, 80, 100, 102. – 12-mal gegen 01 mit 02 oder 04: TST 25, 27, 30, 31, 32, 35, 37, 38, 51, 63, 119, 123. – 18-mal mit 01 gegen 02 und/oder 04: TST 2, 4, 5, 17, 20, 36, 39, 40, 54, 67, 69, 75, 88, 90, 94, 107, 110, 116. Folglich rekonstruierte von Tischendorf den Apk-Text mehr als doppelt so häufig nach dem Zeugnis von 02 und 04 gegen 01 als umgekehrt. Außerdem hat er überwiegend der Versuchung widerstanden, Sonderlesarten von 01 in den Text aufzunehmen (etwa TST 32), und hat dagegen sogar zuweilen Singulärlesarten von 02 bevorzugt (etwa TST). Quantitativ betrachtet wurden die drei Handschriften fast gleichmäßig berücksichtigt, wobei von Tischendorf im Zweifelsfall 02 (TST 37) gegen 01 und/oder 04 bevorzugte und damit augenscheinlich in 02 den besten Zeugen für die Apokalypse sah.149
148 Schmid, Studien II, 1. So noch in der jüngeren Forschungsgeschichte bei Hernández, Scribal Habits, 19. 149 Eine besondere Erwähnung verdient die Textkonstitution in Apk 13,18. Tischendorf bevorzugt hier das Zahlzeichen χξϛʹ anstelle eines der überlieferten Zahlworte von 01 (εξακοσιαι εξηκοντα εξ), 02 (εξακοσιοι εξηκοντα εξ), 04 (εξακοσιαι δεκα εξ) oder 025 (εξακοσια εξηκοντα εξ). Als problematisch erweist sich das Wort für die Hunderterstelle, das genusspezifisch konstruiert wird und damit eine bestimmte Deutung des Tieres präjudiziert. Dagegen sind die griechischen Zahlzeichen seit P47 und zumindest in Variante durch P115 ebenfalls physisch früh belegt und verdienen eventuell den Vorzug bei der Textkonstitution. Jedenfalls wird diese Entscheidung heute wieder ernsthaft diskutiert und setzt sich wahrscheinlich in der ECM der Apk durch: siehe den Vorschlag in Karrer, Text (2017), 232.
Der Diskurs über die Textkonstitution
... Westcott/Hort – 1882 Die Hinweise zur Apokalypse bei Westcott/Hort fallen vergleichsweise knapp aus und beschränken sich auf vier Seiten der Einleitung (260–263) sowie fünf weiteren mit textkritischen Anmerkungen im Editionsband (136–140).150 Ihr Hauptaugenmerk liegt darauf, dass sich die Textgeschichte der Apokalypse offensichtlich von derjenigen der übrigen Schriften des Neuen Testaments weitgehend unterscheidet und infolgedessen die Handschriften neu zu gewichten sind. Sie spekulieren weiterhin, ob die Streitigkeiten um die Autorität der Apokalypse im 4. Jahrhundert einen nachteiligen Einfluss auf ihre Überlieferung hatten.151 Während 01 nach ihrer Auffassung geringeres Gewicht hat, kommt vor allem den Zeugen 02 und 04 höchste Bedeutung zu – „Both MSS [sic. 02 und 04] however acquire a high relative eminence through the want of compeers“.152 Dieser Punkt ist insofern von Bedeutung, als hier expressis verbis die Codices 02 und 04 vom Rest der Überlieferung abgehoben und in den Stand von Leithandschriften für die Textherstellung erhoben werden. Zur Begründung verweisen Westcott/Hort auf die herausragende innere Textqualität beider Zeugen, die ihr enormes Gewicht bestätige.153 Bei Westcott/Hort schlägt sich die Vorliebe für 02 mitunter in Favorisierungen einiger durch den Codex bezeugter Singulärlesarten nieder: z.B. 12,10 κατήγωρ oder 13,10 εἴ τις εἰς αἰχμαλωσίαν εἰς αἰχμαλωσίαν ὑπάγει. Beide Varianten formieren ebenso den kritischen Text in NA28, wobei speziell die Textkonstitution in 13,10 neuerdings mit Skepsis betrachtet wird.154 Ferner zählen Westcott/Hort zu den Vertretern, die der Apokalypse ein „raues palästinisches Griechisch“ als Diktion attestieren.155 Einen plastischen Beleg für die Auswirkung der Bevorzugung von 02 wie 04 und die Annahme eines spröden Sprachgebrauchs bildet die Textkonstitution in 1,15. Westcott/Hort bevorzugten an
150 Es kommt außerdem hinzu, dass ein Großteil der Ausführungen auf die Probleme um den Textus Receptus der Apokalypse entfallen. Von den Paragraphen 344–346, die der Apokalypse gelten, befasst sich allein der § 344 mit dem Handschriftenmaterial und den Schwierigkeiten der Apokalypse-Überlieferung. Vgl. Westcott/Hort, Introduction, 261–262. 151 Westcott/Hort, Introduction, 260. 152 Westcott/Hort, Introduction, 261. 153 Wörtlich: „internal evidence“, Westcott/Hort, Introduction, 261. 154 Gegen die Mehrheit der älteren Forschung lehnen Karrer, Johannesoffenbarung I, 63–64; Karrer, Text (2017), 235; Satake, Offenbarung, 301–302, die Variante von 02 ab und plädieren für eine Neubewertung der Stelle, zumal keine zwingenden exegetischen Argumente für die Favorisierung ebenjener Singulärlesart sprechen würden. 155 Wörtlich: „rough Palestinian Greek“, Westcott/Hort, Introduction, 262.
Forschungsgeschichtlicher Überblick dieser Stelle die durch 02 und 04 dokumentierte Variante πεπυρωμένης,156 die keinen grammatischen Bezugspunkt im Text hat und damit eigentlich als Nonsenslesart einzustufen wäre, wohingegen sie Tregelles zuvor als sinnlosen Bindefehler von 02 und 04 ohne Relevanz für die Textherstellung bewertet hat.157 Obwohl πεπυρωμένης durch 02 und 04 scheinbar stark bezeugt ist und diese Form ebenfalls den kritischen Text in NA28 bildet, gibt es doch starke Argumente, die gegen diese Rekonstruktion sprechen. Die Aufstellung der näher besprochenen Varianten im Editionsband hinterlässt einen geteilten Eindruck und ist erstaunlich kurz:158 Zum einen werden viele Problemstellen (z.B. 18,3) nicht aufgegriffen und zum anderen durch 01* und 02 verhältnismäßig stark bezeugte Varianten wie ἀντεῖπας anstelle von ἀντίπας in 2,13 als irrelevanter Itazismus erachtet.159 Auffällig sind ferner solche Fälle, in denen Westcott/Hort keinem der alten Codices folgen und die Textkonstitution stattdessen aus verschiedenen Beweggründen nach jüngeren Zeugen vornahmen: z.B. 9,10 ἔχουσιν οὐρὰς ὁμοίας σκορπίοις (025 046) oder 19,13 ῤεραντισμένον (025 2019). Während sich die Entscheidung zu 19,13 nicht durchsetzen konnte, gibt NA28 in 9,10 weiterhin ὁμοίας den Vorzug.160 Weitreichende forschungsgeschichtliche Relevanz hat schließlich eine kurze Bemerkung zur fraglichen Textgeschichte der Apokalypse: We are by no means sure that we have done all for the text of the Apocalypse that might be done with existing materials. But we are convinced that the only way to remove such relative insecurity as belongs to it would be by a more minute and complete examination of the genealogical relations of the documents than we have been able to accomplish […].161
156 Siehe B. F. Westcott/F. J. A. Hort, The New Testament in the Original Greek: With Notes on Selected Readings, vol. 2, London 1881, 504. 157 Vgl. Tregelles, Book of Revelation, xxxiii. Bei 1,15 favorisiert Tischendorf die Variante πεπυρωμένῳ von 01. 158 Die Notizen zu den Varianten der Apokalypse finden sich in Westcott/Hort, Introduction, Appendix 136–140. 159 Westcott/Hort, Introduction, 137–138. Dagegen plädiert Karrer (Johannesoffenbarung I, 78, 309–310) dafür, die Schreibung ἀντεῖπας nicht länger als Itazismus, sondern als vollwertige und grammatisch korrekte Variante zu betrachten. Am besten erklärt sich der Text bzw. die Variantenbildung der Stelle, wenn man ἀντεῖπας als Partizip auffasst, dass den Ausgangspunkt für die Entwicklung zum Namen wie zum finiten Verb gut plausibilisiert. 160 Schmid (Studien II, 146 mit Anm. 1) hielt ausdrücklich fest, dass die Koine- und AndreasÜberlieferung mit ὁμοίας in 9,10 gegen 01 und 02 „den ursprünglichen Text erhalten“ haben. 161 Westcott/Hort, Introduction, 262.
Der Diskurs über die Textkonstitution
Dieser Hinweis markiert ein gravierendes Desideratum für die Textherstellung und darf als Erklärung angesehen werden, wieso Westcott/Hort ihre Ausführungen zur Apokalypse auf ein Minimalmaß beschränkten. Die Rückfragen nach der Textgeschichte und den Beziehungen der Handschriften bildeten zu ihrer Zeit noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Weil die Textkonstitution jedoch in ihrem Sinne durch die Überlieferungsgeschichte abgesichert werden muss, bedarf es einer ausführlichen dahingehenden Untersuchung. Mit dieser Notiz gaben sie gewissermaßen den Weg der weiteren Forschungsgeschichte bis zur Mitte des 20. Jahrhundert vor, deren Fokus sich fortan auf die Erhellung der Überlieferungsgeschichte und Auswertung der Handschriften zur Apokalypse richtete. ... Von Soden – 1911–1913 Überdies legte Hermann von Soden Anfang des 20. Jahrhunderts die dritte große kritische Gesamtausgabe des Neuen Testaments vor; sie trägt den Titel „Die Schriften des Neuen Testaments in ihrer ältesten erreichbaren Textgestalt hergestellt auf Grund ihrer Textgeschichte“ und besteht aus insgesamt vier Teilbänden.162 Sein Text basiert von allen großen Editionen mit Abstand auf der elaboriertesten Konzeption der neutestamentlichen Textgeschichte. Gleichwohl nahm die Fachwelt sein Werk mit geteiltem Urteil auf, was mehrere Gründe hat:163 Zum einen führte Soden ein individuelles Sigla-System zur Bezeichnung der Handschriften ein, das sich infolge seiner Komplexität nicht durchsetzen konnte.164 Zum anderen wurde die Textkonstitution mit Skepsis betrachtet, weil 162 Soden, Schriften I/1; H. von Soden, Die Schriften des Neuen Testaments in ihrer ältesten erreichbaren Textgestalt, hergestellt auf Grund ihrer Textgeschichte. I. Teil: Untersuchungen, 2. Abteilung: Die Textformen, A. Die Evangelien, Göttingen 1911; H. von Soden, Die Schriften des Neuen Testaments in ihrer ältesten erreichbaren Textgestalt, hergestellt auf Grund ihrer Textgeschichte. I. Teil: Untersuchungen, 3. Abteilung: Die Textformen, B. Der Apostolos mit Apokalypse, Göttingen 1911; H. von Soden, Die Schriften des Neuen Testaments in ihrer ältesten erreichbaren Textgestalt, hergestellt auf Grund ihrer Textgeschichte. II. Teil: Text mit Apparat, Göttingen 1913. Außerdem publizierte von Soden seinen Text in einer kleineren Handausgabe: H. von Soden, Griechisches Neues Testament. Text mit kurzem Apparat (Handausgabe), Göttingen 1913. 163 Siehe dazu die zusammenfassende Kritik bei Aland/Aland, Text, 32–33. 164 Grob teilte von Soden sämtliche bekannten Handschriften in drei Gruppen auf: In Kategorie δ (διαθήκη) stehen alle Handschriften, die das gesamte Neue Testament mit oder ohne Apokalypse enthalten, in ε (εὐαγγέλιον) die Codices mit den kanonisch-gewordenen Evangelien und in α (ἀπόστολος) solche, die die Apostelgeschichte und die Briefe mit oder ohne Apokalypse bieten. Dazu kommen einige Sonderkategorien für Kommentar-Handschriften zum Neuen Testament und speziell zur Apokalypse. Ferner geben die Nummern nach dem Gruppensigla
Forschungsgeschichtlicher Überblick von Soden die bedeutsamen Codices des vierten und fünften Jahrhunderts (01, 02, 03, 04) als Folge seiner Texttheorie nicht höher gewichtete als alle übrigen Textzeugen. Seine Texttheorie beruht auf der Annahme „zwei sich scharf unterscheidender Texttypen“: K (= Koine) und H (= Hesych-Rezension). Dazu kommt mit I (= Jerusalem-Rezension) ein weiterer Texttyp, der sich allerdings weniger deutlich identifizieren lasse.165 Alle drei Textformen würden auf einen gemeinsamen Archetyp zurückgehen und seien im 2./3. Jahrhundert ausgebildet worden. Durch Ausmerzung der verdorbenen Passagen lasse sich der ursprüngliche Text der Überlieferung wieder herstellen, wobei 01, 02, 03 und 04 zum H-Typ gehören. Trotz der Schwierigkeiten und seiner eigenwilligen Theorie zur Überlieferungsgeschichte markiert von Sodens Arbeit einen tiefgreifenden Forschungswandel, indem er den Akzent von der Suche nach dem Urtext hin zur Textgeschichte verschob. Wie schon die Titelgebung seiner Edition anzeigt, liegt der inhaltliche Schwerpunkt dezidiert auf der Textgeschichte als Basis für die Textkonstitution. Um die Kontamination der Überlieferung zu entwirren, hat sich von Soden vor allem auf vermeintliche Bindelesarten der von ihm angenommenen Typen gestützt. Auf diese Weise sollen die verbindenden Lesarten einer Gruppe klar die Zusammengehörigkeit der zu ihr gehörenden Handschriften aufzeigen und alles Übrige, das sekundär aus anderen Überlieferungszweigen eingedrungen ist, wird abgetrennt. Aus einem Wirrwarr vieler verschiedener Lesarten entsteht dadurch ein scheinbar eindeutiges Bild über die Identifikation spezifischer Zeugenstränge. Wie Wachtel bereits anmerkt, erweist sich jedoch als problematisch, dass immer nur wenige Handschriften diesen signifikanten Kohärenzgrad aufweisen und deswegen die Gruppendefinition weiter gefasst werden muss, um alle Mitglieder einfangen zu können.166 Zwar hilft das herauskristallisieren einer Überlieferungsgruppe anhand eines bestimmten Profils an Bindelesarten
δ, ε oder α zu erkennen, aus welchem Zeitraum eine bestimmte Handschrift stammt. Als problematisch erweist sich vor allem die Behandlung der Apokalypse, deren Zugehörigkeit zu einem Codex aus von Sodens Klassifizierung nicht ersichtlich wird. Abgesehen von diesen Schwierigkeiten ist sein ausführlicher Handschriftenkatalog jedoch von großem Wert für die Forschung, da er den Aufbau eines jeden Codex unter Einbezug diverser parabiblischer Texte wie Kanontafeln, Hypothesen oder Lektionartabellen aufführt; Soden, Schriften I/1, 102–289. 165 Soden, Schriften I/2, 707. Von Soden entwickelte seine Sicht der Textgeschichte vor allem anhand der Evangelien. Dabei würden sich die Rezension K und H verhältnismäßig deutlich nachweisen lassen, wohingegen der I-Typ stark auseinander falle. Die Identifikation der Textformen erfolgte aufgrund von Individuallesarten der verschiedenen Gruppen. Siehe dazu die langen Ausführungen mit unzähligen Kollationslisten in Soden, Schriften I/2, 707–1507. 166 Zur Kritik an von Sodens Texttheorie siehe Wachtel, Byzantinische Text, 16–17.
Der Diskurs über die Textkonstitution
eine erste Ordnung zu schaffen, doch wie von Soden schon selbst auf das Problem hinweist, passt das scheinbar charakteristische Variantenprofil einer Gruppe von Handschriften mitunter zu unterschiedlichen Sequenzen an Bindelesarten anderer postulierter Gruppen.167 In diesem Fall ist die Zuordnung nicht mehr eindeutig und die Abgrenzung einer Gruppe durch eine spezifische Variantenschicht gibt nur vermeintliche Sicherheit über Texttransmission. Die Identifikation von Handschriftengruppen bis hin zu ganzen Überlieferungssträngen aufgrund von Bindelesarten bzw. das Herausschälen einer vermeintlich gruppenspezifischen Variantenschicht bildet letztlich ein Unterfangen mit vielen Unbekannten und kann die Textgeschichte nicht zureichend erhellen, da es sich weniger um feststehende als vielmehr um fließende Größen handelt. Ebendiese Kritik gilt auch für Schmids textgeschichtliche Theorie der Apokalypse, da er dasselbe Prinzip angewendet hat, um seine Stämme der Apk-Überlieferung anhand von spezifischen Bindelesarten herauszubilden (siehe Teil I: 5.3). Von Soden blieb seiner Texttypentheorie auch bei der Apokalypse treu, wo der I-Typ den Andreas-Text bezeichnet. Er bemühte sich dabei um eine Erklärung für die Besonderheiten der Apk-Textgeschichte und untersuchte dazu insbesondere die Koine- und Andreas-Handschriften.168 Im Endeffekt betrachtete von Soden die drei Textformen als völlig unabhängige Rezensionen,169 die wie im übrigen Neuen Testament auch bei der Apokalypse prinzipiell dasselbe textkritische Gewicht haben.
.. Herman C. Hoskier und die Kollation der Apokalypse-Handschriften Die forschungsgeschichtliche Position von Herman C. Hoskier innerhalb der Textkritik zur Apokalypse lässt sich nur schwer bestimmen, da er weder eine kritische Ausgabe vorlegte noch einen signifikanten Beitrag zur Aufhellung der Textgeschichte leistete. Seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt der Vermehrung der Apk-Handschriften und deren detailreicher Dokumentation, worin auch der 167 Siehe Soden, Schriften I/3, 2108. 168 Siehe Soden, Schriften I/3, 2042–2097. Ein kritischer Vergleich seiner Arbeit mit Schmids Studien liegt leider nicht vor und würde sich daher für eine forschungsgeschichtliche Spezialstudie anbieten. 169 Wie eine Spezialstudie zu GA 2053 zeigt, nahm von Soden durchaus Notiz davon, dass sich nicht sämtliche Apk-Handschriften konsistent in sein System einfügen: H. von Soden, Der Apokalypse Text in dem Kommentar-Codex Messina 99, American Journal of Philosophy 35 (1914), 179–191. Diese Beobachtung führte aber letztlich zu keinen Konsequenzen hinsichtlich seines textgeschichtlichen Modells.
Forschungsgeschichtlicher Überblick Verdienst seiner Arbeit liegt.170 Mit der Freiheit eines Privatgelehrten stand Hoskier der Forschung seiner Zeit äußerst kritisch gegenüber; so bezeichnete er beispielsweise Westcott/Horts Ansichten über den Byzantinischen Text als „old bosh about the ‘Syrian’ text“171 und forderte mit markigen Worten die Ablehnung der Edition von Sodens („worthy of the strongest condemnation“).172 Im Jahr 1929 publizierte Hoskier sein Hauptwerk, das den Titel „Concerning the Text of the Apocalypse“ trägt und aus zwei umfangreichen Bänden besteht:173 Das opus magnum versammelt Informationen zu insgesamt 241 Apokalypse-Handschriften,174 die Hoskier weitgehend nach fotografischen Reproduk 170 Zur Würdigung von Hoskiers Leistung für die Textkritik der Apk siehe den Überblicksbeitrag G. V. Allen, “There Is No Glory and No Money in the Work”. H. C. Hoskier and New Testament Textual Criticism, TC 23 (2018), 1–19. 171 H. C. Hoskier, Codex B and its Allies. A Study and an Indictment, London 1914, 270. 172 H. C. Hoskier, The Lost Commentary of Oecumenius on the Apocalypse, The American Journal of Philology 34 (1913), 300–314, hier 314. 173 Darüber hinaus hat Hoskier einige Spezialstudien zu Apk-Handschriften veröffentlicht, deren Inhalt jedoch im Wesentlichen in sein Hauptwerk eingeflossen ist: H. C. Hoskier, Manuscripts of the Apocalypse – Recent Investigations I, Bulletin of the John Rylands Library Manchester 6 (1922), 118–137; H. C. Hoskier, Manuscripts of the Apocalypse – Recent Investigations II, Bulletin of the John Rylands Library Manchester 7 (1923), 256–268; H. C. Hoskier, Manuscripts of the Apocalypse – Recent Investigations III, Bulletin of the John Rylands Library Manchester (1923), 508–525; H. C. Hoskier, Manuscripts of the Apocalypse – Recent Investigations IV, Bulletin of the John Rylands Library Manchester 7 (1923), 235–275; H. C. Hoskier, Manuscripts of the Apocalypse – Recent Investigations V, Bulletin of the John Rylands Library Manchester 7 (1923), 412–443. Erwähnung verdient außerdem seine Arbeit zum OecumeniusKommentar, den er als erster in einer kleinen kritischen Edition veröffentlichte: H. C. Hoskier, The complete Commentary of Oecumenius on the Apocalypse, Now printed for the first Time from Manuscripts at Messina, Rome, Salonika and Athos, Michigan 1928. Hoskier benutzte für diese Ausgabe insgesamt zehn Handschriften (052, 1678, 1778, 1824, 2020, 2053, 2058, 2062, 2080, 2350), von denen lediglich 2053 den vollständigen Kommentartext enthält. Zur Benutzung kann die Edition allerdings nicht empfohlen werden, da sie diverse Unzulänglichkeiten aufweist. Siehe dazu die Kritik bei Groote, Commentarius, 2–8. 174 Für die Benutzung bildet Hoskiers Nummernsystem eine gewisse Hürde. Denn er benutzte nicht die Gregory-Zählung, sondern übernahm diejenige von Scrivener und ergänzte sie um weitere Handschriften. F. H. A. Scrivener, A Plain Introduction to the Criticism of the New Testament, 2. vols, 4. Aufl., Cambridge 1894, 320-326, waren bereits 184 Apk-Handschriften bekannt. Mithilfe einer Sigelkonkordanz lassen sich Hoskiers Nummern jedoch leicht zu den äquivalenten GA-Nummern auflösen: Siehe dazu Hoskier, Text II, 11–21; J. K. Elliott, Manuscripts of the Book of Revelation collated by H.C. Hoskier, in: J. K. Elliott (Hg.), New Testament Textual Criticism: The Application of Thoroughgoing Principles, NT.S 137, Leiden/Boston 2010, 133–144; M. Lembke, Beobachtungen zu den Handschriften der Apokalypse des Johannes, in: M. Labahn/M. Karrer (Hgg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, ABIG 38, Leipzig 2012, 19–69, 62–69. Da sich in der jüngeren Vergangenheit wiederum einige Sigla im
Der Diskurs über die Textkonstitution
tionen kollationierte. Der erste Band bildet einen umfänglichen Handschriftenkatalog bestehend aus paläografischen Beschreibungen und Textuntersuchungen. Darin findet sich ebenfalls eine umfängliche Einleitung, die aber außer vier nützlichen Auflistungen nichts Wesentliches enthält und sich oft in Nebensächlichkeiten verliert: – Aufstellung semantisch bedeutsamer Varianten;175 – Berührungen von 01 mit verschiedenen Versionen;176 – Bezeugung seltener griechischer Synonyme in der Handschriftentradition;177 – Übersicht der allein durch 01, 02, 04, 025 und/oder 046 bezeugten Varianten.178 Der zweite Band beinhaltet die Kollation, für die als Leittext der Textus Receptus nach der Edition von Stephanus gewählt wurde und die Varianten zu 221 im Apparat explizit nachgewiesenen Handschriften bietet.179 Obwohl Hoskier die
Gregory-System geändert haben, bietet auch TuT-Apk als Anhang A eine Synopse, die Handschriftennummern von Gregory-Aland, von Tischendorf, von Soden und Hoskier nebeneinanderstellt und außerdem angibt, in welcher seiner vielen Publikationen Schmid eine bestimmte Apk-Handschrift erwähnt: TuT-Apk, 727–739. 175 Hoskier, Text I, xviii–xx. 176 Hoskier, Text I, xxiii. Das dort zusammengetragene Material wäre durch moderne Editionen der Altlateinischen, Syrischen und Sahidischen Version zu ergänzen bzw. zu korrigieren: R. Gryson, Apocalypsis Johannis, Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel, Bd. 26, Freiburg 2000–2003; C. Askeland, An Eclectic Edition of the Sahidic Apocalypse of John, in: M. Sigismund/D. Müller (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse II, ANTF 50, Berlin/Boston 2017, 33–79; M. Heide, Die syrische Apokalypse oder Offenbarung an Johannes. Kritische Edition der harklensischen Textzeugen, in: M. Sigismund/D. Müller (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse II, ANTF 50, Berlin/Boston 2017, 81–187. 177 Hoskier, Text I, xxix–xxxii. Die Auflistung ist insofern relevant, als sie seltene Varianten zusammenbringt, die in keiner gewöhnlichen Edition notiert oder bestenfalls schwer aufzufinden sind. 178 Hoskier, Text I, xlviii–lxiv. Die Liste der „Majuskel-Lesarten“ ist deswegen sehr hilfreich, weil sie den Befund anders als Weiss in einer übersichtlichen Form darstellt. Für die Codices 01, 02 und 04 sind die darin enthaltenen Singulärlesarten durch Hernández, Scribal Habits, 201–218 zu kontrollieren. 179 Von den ursprünglich 241 Manuskripten sind 19 Objekte aus verschiedenen Gründen nicht im Apparat der Kollation verzeichnet: „Absunt“, Hoskier, Text II, 27; vgl. außerdem J. K. Elliott, The Distinctiveness of the Greek Manuscripts of the Book of Revelation, in: J. K. Elliott (Hg.), New Testament Textual Criticism: The Application of Thoroughgoing Principles, NT.S 137, Leiden/Boston 2010, 146–155, 153 mit Anm. 12; Lembke, Beobachtungen, 27. Es handelt sich um folgende Manuskripte: 886, 1424, 1652, 1685, 1760, 1775, 1776, 1785, 1795, 1806, 1824, 1857, 1870, 1872, 2072, 2087, 2114, 2116, 2259. In Hoskiers Auflistung stehen überdies solche Handschriften mit provisorischer Nummer, die aber letztlich unverfügbar blieben; vgl. z.B. seine 3
Forschungsgeschichtlicher Überblick Handschriften überaus zuverlässig dokumentierte,180 erweist sich an seiner Arbeitsweise problematisch, dass er keine Positivbezeugung für den Leittext nachweist und der Apparat häufig recht unübersichtlich ausfällt. Zur Benutzung seiner Kollation müssen daher stets ein paar Eckpunkte beachtet werden: – Vor jedem Vers stehen unter „Hiant“ diejenigen Handschriften, in denen an entsprechender Stelle eine Lücke klafft; sie sind entsprechend zu ignorieren. – Es muss kontrolliert werden, inwieweit in der Umgebung einer Variante einzelne Handschriften möglicherweise bei Sub-Varianten erscheinen. – Der Hinweis „non“ ist ambivalent. Er besagt zwar, dass eine Handschrift die entsprechende Lesart nicht hat, dies heißt aber nicht, dass sie zwangsläufig die Variante des Textus Receptus hat. Die Angabe weist lediglich darauf hin, dass eine Handschrift die zu erwartende Lesart nicht hat.181 – Hoskiers Angaben zu den Versionen sind generell mit Vorsicht zu benutzen, da sie zum Teil falsch sind bzw. einen veralteten Editionsstand repräsentieren.182 – Trotz Beachtung dieser Punkte sind Fehlschlüsse im Einzelfall nicht auszuschließen, weshalb stets die gesamte Apparateinheit beachtet werden sollte.183 Schließlich gruppierte Hoskier sämtliche Handschriften in 11 Klassen: 1) Erasmian family, 2) Complutensian family, 3) B family, 4) Arethas, 5) Graeco-Latin, 6) Egyptian family, 7) Coptic family, 8) Syriac family und 9) Oecumenius. Dazu kommen 10) Handschriften mit Mischtexten („Composite Mss.“) und 11) solche oder 71. Lembke bietet außerdem eine kurze Übersicht derjenigen Handschriften, die Hoskier noch unbekannt waren. 180 Siehe die äußerst positive Würdigung bei Parker, Introduction, 230. Schmid (Studien II, 8) kritisiert vor allem Hoskiers eigenwillige Sicht auf die Versionen der Apokalypse, deren Verzeichnung in der Kollation darum mit Vorsicht zu begutachten ist. Die zuverlässige Dokumentation der griechischen Handschriften steht hingegen außer Frage und konnte durch die Arbeit an TuT objektiv bestätigt werden: Siehe dazu die Bemerkung in TuT-Apk, VIII. 181 Hoskier, Text II, 10: „Where non such and such a number appears in the lists it is to emphasise that the MS. does not agree where it might be expected to do so“. 182 Siehe zur Kritik Heide, Bibeltext, 91. 183 Bei 5,14 notiert Hoskier beispielsweise die Omission dieses Verses durch 2045*, nennt den Sachverhalt jedoch nicht systemkonform unter Hiant, sondern in einer unerwarteten Notiz am Ende der Apparateinheit: „om. vers. 137“; Hoskier, Text II, 163–164. Wenn man diese letzte Notiz nicht beachtet, kann die Handschrift leicht als Zeuge für die erasmische Einfügung ζῶντι εἰς τοὺς αἰωνας τῶν αἰώνων verbucht werden – so z.B. Gryson, Apocalypsis Johannis, 93.298 –, obwohl 2045* den gesamten Vers auslässt.
Der Diskurs über die Textgeschichte
ohne spezifische Gruppenzugehörigkeit („Important single documents“). Obwohl Hoskier eine konsistente Erläuterung für seine Gruppenbildung schuldig blieb und speziell die nach Versionen benannten Klassen mit Skepsis zu betrachten sind,184 wurde seine Einteilung ansonsten von der weiteren Forschung bestätigt.185 Alles in allem stellt Hoskiers Kollation für die Apokalypse die größte Materialsammlung ihrer Art dar und darf weiterhin unter Berücksichtigung der obigen Benutzungshinweise als Hilfsmittel zur Erforschung der Handschriften konsultiert werden.
. Der Diskurs über die Textgeschichte Am Ende des 19. Jahrhunderts befand sich die Textforschung zur Apokalypse in einer weitgehend unbefriedigenden Situation. Denn trotz verschiedener Bemühungen waren textgeschichtliche Fragen zur Begründung der Textkonstitution weitgehend ungeklärt bzw. in zentralen Punkten wie der Gewichtung einzelner Überlieferungstraditionen umstritten. Womöglich liegt hierin auch der Grund, wieso Hoskier keine eigenständige Rekonstruktion des Apk-Textes in Angriff nahm. Um das Problem der Textgeschichte zu lösen, widmete die Forschung fortan dieser Thematik ihre volle Aufmerksamkeit.
.. Der ältere und der emendierte Apokalypse-Text – Bernard Weiss Die erste Studie zur Textgeschichte der Apokalypse legte Bernard Weiss in seiner 1891 erschienenen Arbeit „Die Johannes-Apokalypse: Textkritische Untersuchungen und Textherstellung“ vor.186 Zu Anfang heißt es: „Der Text der Apoka-
184 Laut Parker (Introduction, 231) bildet das Fehlen einer Erklärung für die Gruppenbildung das größte Defizit an Hoskiers Arbeit. Tatsächlich finden sich in der Einleitung nur verstreute Hinweise, wonach die Gruppierung lesartenbasiert und durch einen genauen Wortvergleich („word by word“) erfolgte; Hoskier, Text I, xv. Als „phantastisch“ kritisiert J. Schmid vor allem einige Sondergruppen (Graeco-Latin, Egyptian family, Coptic family, Syriac family), die Hoskier aufgrund seiner komplizierten „Polyglottentheorie“ gebildet habe, doch für deren Existenz keine ernsthaften Anhaltspunkte existieren würden; Schmid, Studien II, 29 Anm. 2. 185 Einen Vergleich der Gruppierungen von Hoskier und Schmid bietet Lembke, Beobachtungen, 34–41. 186 B. Weiss, Die Johannes-Apokalypse: Textkritische Untersuchungen und Textherstellung, TU 7.1, Leipzig 1891.
Forschungsgeschichtlicher Überblick lypse ist ausserordentlich unsicher.“187 Diese Bemerkung dürfte den Unterschieden zwischen den kritischen Editionen geschuldet sein und zeigt, wie diskussionsbedürftig der Rekonstruktionsstand nach Überwindung des Textus Receptus war. Obwohl Weiss seine Untersuchung auf die damaligen Haupthandschriften 01, 02, 04, 025 und 046 konzentriert, stellt diese materielle Eingrenzung zugleich die größte Schwäche seiner Studie dar. Denn durch die Ausklammerung der Minuskeln erscheint der Befund in einem falschen Licht, was letztlich zu inadäquaten Ergebnissen führt. Als zentrales Resultat hält er fest, dass sich die Handschriften in zwei Gruppen aufteilen lassen: a) einem älteren durch 01, 02 und 04 repräsentierten Text sowie b) einem „jüngeren emendierten“ von 025 und 046 bezeugten Text.188 Der Großteil der Arbeit entfällt sodann auf die Untersuchung der beiden Textgruppen hinsichtlich ihrer Sonderlesarten und ihres gegenseitigen Verhältnisses. Zunächst untersucht Weiss den „jüngeren emendierten Text“, der seiner Meinung nach aus 380 durch 025 und/oder 046 bezeugten Sonderlesarten besteht.189 Bezeichnenderweise umfasst die Besprechung der gemeinsamen Lesarten von 025 und 046 gerade einmal fünf Seiten, während die Besprechung der jeweiligen Individuallesarten über 30 Seiten einnimmt. Trotz dieser enormen Diskrepanz ändert sich nichts an seiner Auffassung, dass beide Manuskripte einen gemeinsamen Texttyp der Überlieferung vertreten. In aller Regel stuft Weiss die Lesarten des jüngeren emendierten Textes als „fehlerhafte Varianten“190 oder „nachweisbar absichtliche Emendationen“ ein.191 Ferner sei offenkundig, „dass es dieselbe Schablone ist, nach der die ungeheure Mehrzahl dieser Emendationen gemacht sind, dass dieselben Kategorien immer wiederkehren“.192 Als Hauptmotiv der Überarbeitung manifestiere sich die „Conformation nach dem unmittelbaren Context oder nach parallelen Stellen“.193 187 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 1.143. Den Hauptgrund für die Besonderheiten der Apk-Überlieferung sieht Weiss in den Streitfragen über Autorschaft und Geltung des letzten Buches des neutestamentlichen Kanons in der griechischen Kirche. Infolgedessen wurde der Text der Apokalypse erst relativ spät fixiert, weshalb 01, 02 und 04 einen sehr disparaten Text bezeugen würden. 188 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 1. 189 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 3–40. Unter „Sonderlesarten“ sind bei Weiss solche Varianten zu verstehen, die von einem Überlieferungszweig oder auch nur einer bestimmten Handschrift gelesen werden und in den übrigen Zeugen nicht auftauchen. In moderner Terminologie ausgedrückt, handelt es sich also um „distinctive readings“. 190 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 3. 191 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 3.40. 192 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 41. 193 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 41.
Der Diskurs über die Textgeschichte
Kurzum waren primär textästhetische Beweggründe für die Ausbildung des jüngeren emendierten Textes maßgeblich, wodurch er im Laufe der Transmission seinen spezifischen Charakter erhalten habe. Textkritisch hat er damit selbstverständlich kaum Bedeutung. Völlig anders verhält sich dagegen das Urteil über den älteren durch 01, 02 und 04 repräsentierten Text. Obwohl auch hier die allermeisten Sonderlesarten als „Conformationen“ an Parallelstellen oder den unmittelbaren Kontext eingestuft werden können,194 geben 01, 02 und 04 anders als die Vertreter des jüngeren Textes keine konsistente Überarbeitung bzw. „emendierende Absichtlichkeit“ zu erkennen.195 Mit anderen Worten bekunden 01, 02 und 04 vielfach arbiträre Textänderungen wobei insbesondere 02 und 04 „den älteren Text noch rein erhalten haben“.196 Auf den Zeugen 01 treffe dies nur mit großen Einschränkungen zu, da er im großen Umfang absichtliche Emendationen enthalte, die „denen in PQ [sc. 025 und 046] genau entsprechen“.197 Folglich bekunde der Zeuge 01 bereits einen starken Einfluss des jüngeren emendierten Textes mit der Folge, dass sein Gewicht erheblich gemindert werde. Letztlich bestätigt Weiss das Urteil von Westcott/Hort, wonach 02 prinzipiell der beste Zeuge für den Apokalypse-Text ist.198 Zusammengefasst bildet Weiss’ Studie eine rudimentäre Annäherung an die textgeschichtlichen Problemstellungen der Apokalypse. Als größtes Manko muss die materielle Einschränkung auf lediglich fünf Manuskripte unter Ausklammerung sämtlicher Minuskeln gelten; aufgrund dessen beraubte sich Weiss selbst der Möglichkeit, den Befund sachgemäß aufzudecken. Gleichwohl ist anzuerkennen, dass er als erster Forscher gezielt die Textgeschichte der Apokalypse zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht hat und um eine dementsprechende Textherstellung bemüht gewesen ist. Weil jedoch seine Grundan-
194 Zusammenfassend Weiss, Textkritische Untersuchungen, 92-93. 195 Weiss (Textkritische Untersuchungen, 90) zählt insgesamt 835 Sonderlesarten (Rechenfehler bei Weiss korrigiert, der nur 830 zählt), von denen 515 auf 01, 210 auf 02 und lediglich 110 auf 04 entfallen. Wenngleich 04 ungefähr ein Drittel der Apokalypse fehlt, bestätigt TuTApk den prozentual geringen Anteil an Sonder- und Singulärlesarten im erhaltenen Text; vgl. die Daten in TuT-Apk, 233, 480. Dies ist ein wichtiges Indiz für die hohe Textqualität, die 04 bei der Apokalypse hat (siehe Teil III: 2.1). 196 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 96. Freilich enthalten auch 02 und 04 einige fehlerhafte Lesarten, weshalb Weiss einschränkend festhält, dass das „blosse Zusammenstimmen zweier unserer ältesten Codices, […], an sich für die Richtigkeit einer Lesart durchaus nicht bürgt (Zitat 103)“. 197 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 92.141. 198 Siehe die abschließende Bemerkung Weiss, Textkritische Untersuchungen, 147.
Forschungsgeschichtlicher Überblick nahme einer zweigeteilten Überlieferungsgeschichte diverse Unschärfen aufweist und den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht wird, trifft dies auch auf viele seiner textkritischen Entscheidungen zu. Karriere machte hingegen seine Charakterisierung des Zeugen 01, der bis dato bei der Apokalypse mit erheblicher Skepsis betrachtet und dessen Wert deutlich geringer als derjenige von 02 und 04 eingeschätzt wird.
.. Die Entdeckung des Andreas-Textes – Wilhelm Bousset Als zweiter Vertreter der textgeschichtlichen Rückfrage darf Wilhelm Bousset gelten, der mit seiner 1894 veröffentlichten Untersuchung „Zur Textkritik der Apokalypse“ unmittelbar an die Arbeit von Weiss anknüpft.199 Seine Arbeit steht im Zusammenhang mit dem wenige Jahre später vollendeten Kommentar zur Apokalypse und ist durch das dezidiert exegetische Interesse geleitet,200 einen für die Auslegung validen Leittext zu erhalten.201 Direkt in den ersten Zeilen kritisiert Bousset die Arbeit seines Vorgängers und die Missachtung der Minuskel-Handschriften, die zu einer gravierenden Fehleinschätzung der ApkTextgeschichte geführt hätten. Tatsächlich sei es viel wahrscheinlicher, dass „in P und Q [sc. 025 und 046] zwei Textrecensionen vorliegen“.202 Um seine These zu untermauern, nimmt Bousset bewusst die bei von Tischendorf verzeichneten Minuskeln auf und stellt fest, dass sie in wiederkehrenden, gleichbleibenden Konstellationen mal mit 025 und mal mit 046 zusammengehen. Folglich hat der Apk-Text zwei unabhängige Rezensionen erfahren, die sich in den Gruppen P al. und Q al. manifestierten.203 199 W. Bousset, Zur Textkritik der Apokalypse, in: ders. (Hg.), Textkritische Studien zum Neuen Testament, TU 11.4, Leipzig 1894, 1–44. 200 Im späteren Apk-Kommentar fasst Bousset seine Sicht der Textgeschichte zusammen: Bousset, Offenbarung, 149–159. 201 Vergleichbar zu Bousset steht auch Karrers Beschäftigung mit dem Text der Apokalypse im Zusammenhang mit seiner Kommentierung des letzten Buches des Neuen Testaments. Weil „gravierende theologische Entscheidungen zur Debatte“ – M. Karrer, Der Text der Johannesoffenbarung. Varianten und Theologie, Neotest. 43 (2009), 373–398, 394 – stünden, führt dies zur Forderung, die ECM der Apokalypse zügig anzugehen: „Die geplante editio maior ist deshalb oder gerade wegen der Schwierigkeiten der Apk möglichst rasch in Angriff zu nehmen“, so 395; ebenso M. Karrer, The Angels of the Congregations in Revelation – Textual History and Interpretation, Journal of Early Christian History 1 (2011), 57–84, 77: „It is time to revise the critical edition of Revelation“. 202 Bousset, Apokalypse, 5. 203 Bousset, Apokalypse, 36.
Der Diskurs über die Textgeschichte
Während Weiss die Q-Klasse schon hinreichend untersucht hat, widmet Bousset seine volle Aufmerksamkeit der P-Klasse.204 Diese Fokussierung führt ihn zu einer wegweisenden Erkenntnis: Die Handschriften P al. sind regelmäßig mit dem Kommentar des Andreas von Caesarea verbunden, weshalb der Schluss naheliegt, dass der durch sie tradierte Apk-Text den „Andreas-Text“ repräsentiere.205 Bousset darf damit als eigentlicher Entdecker des Andreas-Textes gelten.206 Er legt mit seiner Beobachtung das Fundament der bis heute gültigen Auffassung, dass sich die byzantinischen Apk-Minuskeln in zwei Textgruppen aufteilen. Dabei besitzt der Andreas-Text in Boussets Augen hohen textgeschichtlichen Wert, verkörpere er doch ein erstklassiges Dokument der Überlieferung, zumal Andreas, der Erzbischof von Kappadokien, für seine Auslegung wohl kaum einen willkürlichen Text ausgewählt habe – so die Argumentation.207 Gleichwohl weise der Andreas-Text etliche Korrekturen auf, sodass dessen typische Lesarten sekundären Charakter haben und „mit voller Deutlichkeit auf eine bessernde Absicht schliessen“ lassen würden.208 Folglich entspringe der
204 Bousset, Apokalypse, 5. 205 Bousset, Apokalypse, 5; der Terminus „Andreas-Text“ findet sich in Bousset, Offenbarung, 155 passim. 206 Schmid, Studien II, 5, würdigt expressis verbis Boussets Verdienst, den er sich mit Nachweis der P-Klasse für die Forschung erworben hat. Eine forschungsgeschichtliche Würdigung der Arbeit Boussets für die Textkritik der Apokalypse ist: J. Hernández, The Legacy of Wilhelm Bousset for the Apocalypse’s Textual History: The Identification of the Andreas Text, in: M. Sigismund/U. B. Schmid/M. Karrer (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse, ANTF 47, Berlin/Boston 2015, 19–32, 19 passim: „[…] the original idea of drawing Andreas into the task of reconstruction belongs to Bousset“. Dass Boussets Studien deswegen unrechtmäßig im Schatten von Schmid stehen würden, sei dahingestellt. Letztlich konnte erst Schmid dank der Kollation Hoskiers das volle Ausmaß der durch Bousset noch thesenartig formulierten Beobachtung ermitteln und den Charakter des „Andreas-Textes“ näher bestimmen. 207 Bousset, Apokalypse, 6: Andreas Caes. wird für seine Kommentierung sicherlich „einen anerkannt guten Text“ verwandt haben. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass ein „guter Text“ in den Augen des Andreas keineswegs einen textkritisch bedeutsamen Text nach modernen Maßstäben darstellen muss. Boussets Argumentation scheint vielmehr dem Ansehen des Bischofsamtes und seiner Hochschätzung dieses spätantiken Autors geschuldet zu sein. 208 Bousset, Apokalypse, 13. Bei den betreffenden Textfassungen, die charakteristisch für den „Andreas-Text“ sind, handelt es sich um absichtliche Umstellungen, erklärende Zusätze, Verbesserungen von Tempus und Sinn, Vereinfachungen von komplexen Satzkonstruktionen, Konjekturen und grammatische Nachbesserungen: vgl. dazu die Aufstellung Bousset, Apokalypse, 13–35.
Forschungsgeschichtlicher Überblick Andreas-Text – dessen Archetyp Bousset mit dem Kennbuchstaben K benennt209 – nach seiner Auffassung einer bewussten „Rezension“.210 Auch Bousset untersucht das Zeugnis von 01 genauer und meint darin einen textgeschichtlichen Meilenstein ersten Ranges zu erkennen. Aufgrund einiger Berührungen zwischen 01 und dem Andreas-Text behauptet er, dass letzterer mindestens ins 4. Jahrhundert zurückreiche.211 Die Argumentation basiert im Wesentlichen auf den bei von Tischendorf verzeichneten Korrekturhänden 01c und 01cc, die eine Handschrift des Origenes-Schülers Pamphilius212 benutzt hätten, deren Zeugnis schon beträchtliche Spuren des Andreas-Textes aufweise.213 Schmid knüpft an diesen Gedankengang an und erkennt ebenfalls eine Verbindung zwischen den Korrekturen des Sinaiticus und dem Andreas-Text sowie er den von Origenes zitierten Apk-Text in Verwandtschaft zu 01 sieht. Wenngleich Hernández nachgewiesen hat, dass Boussets Datierung des Andreas-Textes ins 4. Jahrhundert auf einer Fehlinterpretation der Informationen zu den Korrekturhänden bei von Tischendorf beruht und damit obsolet ist,214 finden sich in den TuT-Daten durchaus Belege für eine Verbindung zwischen 01 und der Andreas-Tradition (an einigen Stellen bietet 01 Varianten, die später vor allem durch Textzustände der Andreas-Tradition vertreten werden). Der Befund
209 Das Siglum K als Nomenklatur für den vermeintlichen Archetyp der P-Klasse bei Bousset ist entschieden von Schmids Bezeichnung für den Koine-Text der Apokalypse K zu unterscheiden. 210 Bousset, Apokalypse, 13, 21, 26, 29, 41. 211 So Bousset, Apokalypse, 41. 212 Es handelt sich um den berühmten Pamphilius von Caesarea (†309), der in der Nachfolge des Origenes in Caesarea eine theologische Schule begründete und wesentlich zum Aufbau der dortigen berühmten Bibliothek beitrug. Pamphilius gilt als Lehrer des Eusebius von Caesarea und fand wohl während der Diokletianischen Herrschaft einen gewaltsamen Tod. 213 Bousset ging dieser Frage in einer separaten Studie nach: W. Bousset, Der Kodex Pamphili, in: ders. (Hg.), Textkritische Studien zum Neuen Testament, TU 11.4, Leipzig 1894, 45–73. Im Kern stellte Bousset (Bousset, Kodex, 53–67) an einigen Paulus-Stellen fest, dass die Textzeugen 01c 015 Euthcod wiederholt zusammengehen. Ohne Textbelege transferierte Bousset diese Beobachtung auf die Apokalypse. Den Ausgangspunkt für den Gedankengang bildet eine kurze Notiz am Schluss des Esther-Buches in 01, indem Pamphilius namentlich als Bearbeiter des Codex genannt wird (Q37-fol. 3r). Die gegenwärtige Forschung hat jedoch nachgewiesen, dass der besagte Korrektor Pamphilius – bezeichnet als cpamph – überhaupt nicht in der Apokalypse von 01 tätig war. 214 Siehe dazu J. Hernández, The Creation of a Forth-Century Witness to the Andreas Text Type: A Misreading in the Apocalypse’s Textual History, NTS 60 (2014), 106–120, hier 109–114; J. Hernández, Codex Sinaiticus’s Fourth-Century Corrections and the Andreas “Text Type”, in: A. T. Farnes/S. D. Mackie/D. Runia (Hgg.), Ancient Texts, Papyri, and Manuscripts. Studies in Honor of James R. Royse, NTTSD 64, Leiden/Boston 2021, 107–123, hier 114–116, 119-120.
Der Diskurs über die Textgeschichte
wäre daher nochmals differenziert zu betrachten und auf seine textgeschichtlichen Implikationen hin zu untersuchen.215 Zusammengenommen ergibt sich aus Boussets Schilderungen ein viergliedriges Modell der Apk-Textgeschichte: 1) 02 04, 2) 01 Or, 3) 046 Rel und 4) 025 An.216 Damit wird die Schematisierung der Apokalypse-Überlieferung, wie sie Schmid darlegen wird, in wesentlichen Grundzügen vorbereitet. Innerhalb der vier Textklassen hebt Bousset vor allem den Wert von 02-04 Vg hervor, womit er die bisherige Beurteilung dieser Handschriften zusätzlich festigte.217 Der zentrale Forschungsertrag Boussets liegt indessen im Nachweis des Andreas-Textes als spezifischen Überlieferungszweig der Apokalypse.
.. Die vier Stämme der Apokalypse-Überlieferung – Josef Schmid Das seither maßgebliche Referenzwerk zur Textgeschichte der Apokalypse legt Josef Schmid 1955 unter dem Titel „Studien zur Geschichte des Griechischen Apokalypse-Textes, 2. Teil: Die Alten Stämme“ vor.218 Es bildet zugleich eine Zusammenfassung seiner mehr als 20jährigen Beschäftigung mit der ApkÜberlieferung. Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: 1) Einleitung, 2) Die Hauptstämme des griechischen Apokalypsetextes sowie ihre gegenseitige Beziehung und 3) Untersuchungen zum Sprachgebrauch der Apokalypse als Entscheidungshilfen für die Textkonstitution. Bekanntlich teilt Schmid die griechische Überlieferung in vier als Stämme bezeichnete Texttypen ein, auf deren
215 Auf die problematische Verzeichnung der Korrekturhände von 01 in NA28 zur Apk macht Hernández aufmerksam: J. Hernández, Nestle-Aland 28 and the Revision of the Apocalypse’s Textual History, in: D. M. Gurtner/J. Hernández/P. Foster (Hgg.), Studies on the Text of the New Testament and Early Christianity: Essays in Honour of Michael W. Holmes, Leiden/Boston 2015, 71–81, hier 72–77. 216 Vgl. die einschlägige Übersicht in Bousset, Offenbarung, 155.158. 217 Bousset, Offenbarung, 156: „An Wert überragt die Textgruppe AC vg alle anderen Zeugen für den Text der Apokalypse“. Die Bedeutung der Vulgata komme vor allem zum Tragen, wenn 02 und 04 differieren und sie eine der beiden fraglichen Varianten stützt. In welchem Verhältnis die Vulgata-Tradition tatsächlich zu 02 und 04 steht, wäre kritisch zu prüfen. Den textkritischen und geschichtlichen Wert der altlateinischen Überlieferung für die Apokalypse ermittelt derzeit Matthias Geigenfeind in einem ebenfalls am ISBTF entstandenen Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel: Apocalypsis Johannis – Studien zum altlateinischen afrikanischen Text der Johannesoffenbarung (Publikation ausstehend). 218 Schmid, Studien II.
Forschungsgeschichtlicher Überblick Grundlage er versucht, die gesamte Textgeschichte der Apokalypse zu erklären:219 – A-Text bezeugt durch 02, 04 und dem Oecumenius-Kommentar, – S-Text bezeugt durch P47, 01 und dem von Origenes benutzten Apk-Text, – Andreas-Text (Αν), – Koine-Text (K). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass die Darstellung viele Unschärfen aufweist und diverse Fragen offen lässt. Als problematisch erweist sich bereits seine zum Teil ambigue Begrifflichkeit: Was im Einzelfall unter Texttyp, Text, Gruppe und/oder Familie zu verstehen ist, muss aus dem jeweiligen Kontext erschlossen werden.220 Methodisch verfährt Schmid nach dem Prinzip, die Textformen durch Aufstellung ihrer jeweiligen Sonderlesarten zu definieren, die in Kollationslisten als Bindelesarten221 zusammengestellt und erläutert werden. Ihr wesentliches Kennzeichen besteht darin, dass sie ausschließlich durch eine Textform bezeugt werden und als solche für diese formbildend sind. Im Fortgang der Untersuchung werden zunächst der Andreas- und Koine-Text näher beleuchtet.222 Schmid zählt insgesamt 243 eigentümliche Lesarten für den Andreas- und 290 für den Koine-Text,223 sodass beide Textformen „im ganzen mit voller Sicherheit festzustellen“224 seien. Er betrachtet sie als „scharf ausgeprägte Rezensionen“225 bzw. expressis verbis als das „Werk eines Mannes, der den Text durch alle Kapitel durchkorrigiert hat“.226 Obwohl der Andreas- und Koine-Text mitunter dieselben Korrekturen aufweisen, seien sie „in voller gegenseitiger Unabhängigkeit“227 entstanden. Viele gemeinsame Textänderungen lägen unmittelbar auf der Hand und können daher auch je selbstständig erfolgt sein; die „Schöpfer“ der Rezensionen mögen allenfalls einen unbedeutenden Teil der Korrekturen
219 Vgl. Schmid, Studien II, 11–12. 220 Zu diesem Problem siehe auch Hernández Jr./Allen/Müller, Josef Schmid: Studies, xxiii– xxvi. 221 Zu dem Begriff siehe Teil I: 5.3. 222 Die Auflistung der von Schmid identifizierten Sonderlesarten des Andreas- und KoineTextes finden sich in Schmid, Studien II, 44–62. 223 Vgl. Schmid, Studien II, 52.62. 224 Schmid, Studien II, 44. 225 Schmid, Studien II, 146. 226 Schmid, Studien II, 53. Analog spricht Schmid auch vom „Schöpfer“ der Rezensionen (so 63). 227 Schmid, Studien II, 84.
Der Diskurs über die Textgeschichte
als solche bereits vorgefunden haben.228 Unterm Strich zählt Schmid allerdings 43 Varianten, die „nicht ohne die Annahme einer engeren Beziehung“229 plausibel zu erklären seien.230 Anders als von Soden und Bousset schließt Schmid eine Beziehung zwischen den beiden Textformen Andreas und Koine also nicht gänzlich aus, doch beschreibt er diese recht oberflächlich und bleibt letztlich eine textgeschichtliche Erklärung für das Nebeneinander von Differenzen und Gemeinsamkeiten schuldig. Weitaus komplizierter verhält sich die Bestimmung der zwei verbliebenen Stämme: A- und S-Text. Zum einen sind P47 und 04 lückenhaft mit der Folge, dass insbesondere die Feststellung des S-Textes weitgehend auf einer Handschrift beruht (01). Zum anderen vermochte Schmid für den A- und S-Text nur einen geringen Satz an Individuallesarten zu ermitteln, weshalb ihr Nachweis verhältnismäßig schwach ausfällt. So werden für die Definition des A-Textes lediglich 51 Lesarten in Anschlag gebracht,231 wobei „dort, wo C fehlt, neben Oik die wenigen wertvollen Minuskeln das Zeugnis von A unterstützen“ müssen.232 Welche Minuskeln Schmid hier im Blick hat, führt er allerdings nicht aus. Zudem nennt er lediglich 36 eigentümliche Lesarten für diese Textform,233 sodass bereits die quantitative Feststellung der beiden Texttypen unwillkürlich Zweifel an ihrer Existenz aufkommen lässt. Als Ergebnis hält Schmid vier Eckpunkte fest, die die Überlieferungsgeschichte der Apokalypse kennzeichnen und für die Textkonstitution maßgeblich sind:
228 Schmid, Studien II, 53. Laut Schmid hat Andreas den Apk-Text seines Kommentars nicht selbst hergestellt, sondern bereits in dieser Form vorgefunden. Hierfür spricht, dass bereits der Sinaiticus diverse Berührungspunkte mit dem Andreas-Text aufweist. Vermutlich hat Andreas Caes. daher seinem Kommentar eine Handschrift des 5. bzw. frühen 6. Jh. zugrunde gelegt. 229 Schmid, Studien II, 84. 230 Was die Annahme einer gemeinsamen Textgrundlage der Koine- und Andreas-Tradition betrifft, grenzt sich Schmid ausdrücklich von Bousset und Soden ab, die diese Möglichkeit kategorisch ausgeschlossen haben; siehe Schmid, Studien II, 84. 231 Schmid bedient sich hier einer älteren Aufstellung von Charles, um die Individuallesarten des A-Textes zu benennen. Siehe Schmid, Studien II, 85 Anm. 4. 232 Schmid, Studien II, 85. (Zitat aus syntaktischen Gründen geringfügig verändert). 233 Vgl. Schmid, Studien II, 112. Um das Zeugnis von 01 trotz des problematischen Textes fruchtbar zu machen, geht Schmid methodisch so vor, dass er zunächst die gemeinsam in P47 und 01 vorhandenen Passagen unter Feststellung des Variationsverhaltens auswertet. Diese Beobachtungen exploriert er für 01 anschließend auf die Stellen, an denen P47 fehlt. Inwiefern dieses Vorgehen textkritisch zulässig ist, sei dahingestellt. Es zeigt jedenfalls, dass Schmid sowohl argumentativ als auch materiell auf gravierende Schwierigkeiten bei der Identifikation des S-Textes stieß.
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Die griechische Apk-Überlieferung kann in vier Stämme gegliedert werden: A-, S-, Andreas- und Koine-Text.234 Der Andreas- und Koine-Text sind zwei unterschiedliche Rezensionen, deren Sonderlesarten in aller Regel Korrekturen darstellen.235 Beide Texttypen existieren nicht völlig unabhängig voneinander, sondern haben „an einer Anzahl gemeinsamer Korrekturen klar erkennbaren gemeinsamen Grundstock“.236 Der A- und S-Text bilden wiederum zwei eigenständige Formen des älteren Apk-Textes, wobei letzterer ebenfalls „eine nicht geringe Zahl von Korrekturen“ aufweist.237 Es folgt daraus, dass der A-Text den mit Abstand besten Zeugen für die Apokalypse verkörpert, zumal „an einer erheblichen Anzahl von Stellen AC allein den Urtext bewahrt haben“.238
Generell steht für Schmid „am Anfang der Textgeschichte […] ein mit geringer Pietät behandelter und darum wenig einheitlicher Text“.239 In seinen disparaten Zuständen soll er die Grundlage für die späteren Rezensionen gebildet haben. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass die bisherige Darstellung nur einen Teilaspekt seiner Gedankengänge wiedergibt. Die Bemühungen um den Nachweis der vier postulierten Stämme A-, S-, Andreas- und Koine-Text anhand von Texttypen-Lesarten (errores conjunctivi) stehen in einem größeren Zusammenhang. An einigen Stellen gibt Schmid zu bedenken, dass die Daten auf ein weit komplexeres textgeschichtliches Gefüge hindeuten, als es sich auf Grundlage der Texttypen beschreiben lässt. Schon mit Blick auf die gemeinsamen Korrekturen des Andreas- und KoineTextes bleibt zu ergründen, inwiefern diese Übereinstimmungen auf eine vom Ausgangstext unterschiedene Textbasis zurückgehen: Der Tatbestand ist demnach, wenn er nach allen Seiten betrachtet wird, kompliziert und erlaubt keine einfache Erklärung. Eindeutig klar und sicher ist, daß Αν und K nicht, wie
234 Schmid, Studien II, 146. 235 Schmid, Studien II, 146. 236 Schmid, Studien II, 146. 237 Schmid, Studien II, 147. 238 Schmid, Studien II, 147; Zitat aus syntaktischen Gründen geringfügig angepasst. 239 Schmid, Studien II, 149. Diese Theorie der wilden Textüberlieferung wurde genauso von K. Aland vertreten und soll vor allem die Epoche vor der Konstantinischen Wende geprägt haben.
Der Diskurs über die Textgeschichte
Bousset und von Soden behauptet haben, nur vom Original her miteinander verwandt sind.240
Verfolgt man den Gedankengang bei Schmid weiter, so stößt man auf zwei weitere interessante textgeschichtliche Bemerkungen zu dem Problemkomplex: Erstens müssten beide Texttypen aufgrund diverser Verbindungen zu P47 mindestens ins 3. Jahrhundert hinaufreichen.241 Zweitens stehen der Andreas- und Koine-Text an einer Reihe von Stellen zusammen mit P47 und 01 dem A-Text gegenüber; weil es sich hierbei um sekundäre Varianten handeln soll, muss von einer partiellen gemeinsamen Entwicklung ausgegangen werden.242 Es heißt dazu: Aus diesem sekundären Text läßt sich an einer Reihe weiterer Stellen die Grundlage für Αν und K (= Αν K) absondern, und auf dieser dritten Textstufe sind dann durch tiefergreifende Bearbeitungen die zwei Rezensionen Αν und K entstanden.243
Nach diesen Schilderungen postuliert Schmid für die Entstehung beider Textformen ein erhebliches textgeschichtliches Wachstum, das aus nicht weniger als vier Textstufen besteht: – Varianten des Ausgangstextes, – Gemeinsamkeiten mit P47 und 01, – davon unterschiedene gemeinsame Grundlage Andreas/Koine und – Rezensionen zu den Texttypen Andreas und Koine Ferner bekunden auch die Vertreter des S-Textes, allen voran 01 „ein irgendwie geartetes Verwandtschaftsverhältnis“ zu Αν und K.244 Dabei habe der S-Text in einer jüngeren Entwicklungsstufe weitläufige Verbreitung gefunden, wie aus Bezügen zur Koptischen Version und manchen späteren Minuskeln hervorgehe.245 In welchem Verhältnis dieses frühe Entwicklungsstadium des S-Textes zum Andreas- und Koine-Text steht, lässt Schmid offen. Obschon er das Problem der mehrschichtigen Verbindungslinien des S-Textes zu anderen Zweigen der Überlieferung beobachtete, sah Schmid keine Möglichkeit zu dessen Lösung: 240 Schmid, Studien II, 85. 241 Schmid, Studien II, 117. 242 Schmid, Studien II, 114. 243 Schmid, Studien II, 114. 244 Schmid, Studien II, 134. Weil P47 und 01 an etlichen Stellen voneinander abweichen, konstatierte Schmid, dass „der durch P47 S repräsentierte Text keine so streng geschlossene Einheit gewesen sein muß“; Studien II, 118. 245 Schmid, Studien II, 113.
Forschungsgeschichtlicher Überblick Wir können hier wie in anderen Fällen wohl das Problem als solches feststellen, müssen uns aber mit seiner Unlösbarkeit bescheiden.246
Augenscheinlich erweist sich Schmids Texttypen-Hypothese zur vollständigen Darstellung der Apk-Textgeschichte als insuffizient. Ob ihn diese Feststellung zum Überdenken seiner Grundannahme hätte bewegen müssen, ließe sich ausführlich debattieren. Trotz seines vergleichsweise starren Erklärungsmodells war er keineswegs blind für textgeschichtliches Wachstum und Verbindungen der Textformen untereinander. Insofern tritt eine gewisse Spannung zwischen der auf Individuallesarten basierenden formalen Definition der Texttypen und den weiterführenden textgeschichtlichen Beobachtungen innerhalb seiner Arbeit zutage. Letztlich brachte Schmid die entscheidende Frage zur Textgeschichte der Apokalypse gleichsam als Forschungsaufgabe auf den Punkt: Das eigentliche Problem der Apk-Textüberlieferung bildet gerade das gegenseitige Verhältnis der verschiedenen Textformen zueinander.247
Die nachfolgende Forschung hat sich vor allem auf Schmids Kollationslisten und sein Texttypen-System konzentriert und übersehen, dass er selbst vielfach ungelöste Probleme zu seinen Ergebnissen formulierte. So kritisiere Ernest C. Colwell, dass Schmid den Fehler gemacht habe, seine Texttypen als monolithische Blöcke („frozen blocks“) zu betrachten.248 Demgegenüber würden sich Texttypen in Wirklichkeit durch ein erhebliches Textwachstum von frühen zu späten Entwicklungsphasen auszeichnen. Keine Handschrift sei ein perfekter Repräsentant irgendeiner Textform, sondern würde immer auch Quer- und Fremdeinflüsse bekunden. Gegen Colwell bleibt festzuhalten, dass Schmid seine Texttypen keineswegs als monolithische Blöcke betrachtet hat; er geht vielmehr von mehrschichtigen Gebilden aus, deren einzelne Textstufen er allerdings nicht herauszuarbeiten vermocht hat. An diesem Punkt muss die moderne Textforschung einsetzen und der Überlieferungsgeschichte der Apk durch Aufklärung des gegenseitigen Verhältnisses der einzelnen Zeugen weiter auf den Grund gehen – kurzum: Es gilt das Phänomen der Kontamination in Angriff zu nehmen.
246 Schmid, Studien II, 127. 247 Schmid, Studien II, 148. 248 E. C. Colwell, The Origin of Texttypes of New Testament Manuscripts, in: A. Wikgren (Hg.), Early Christian Origins (FS H.R. Willoughby), Chicago/IL 1961, 128–138, 135.
Desiderata
. Desiderata Der Diskurs über die Textkonstitution der Apokalypse war insbesondere geprägt durch die allmähliche Überwindung des Textus Receptus. Obwohl dieser Vorgang aus wissenschaftlichen Beweggründen erforderlich war, ging damit zugleich aus ökumenischer Perspektive ein verbindendes Element verloren. Denn der Textus Receptus darf durchaus als ökumenischer Text des Neuen Testaments angesehen werden, da er bis zum 19. Jahrhundert sowohl im kirchlichen Westen als auch Osten den maßgeblichen liturgischen Referenztext bildet und zudem diversen wirkmächtigen nationalsprachlichen Bibelübersetzungen wie der Lutherbibel oder King James Bible zugrunde lag. Demgegenüber bieten die großen kritischen Editionen von von Tischendorf, Westcott/Hort und von Soden trotz ihrer Differenzen zwar einen mit Abstand fundierteren Text, doch an die Breitenwirkung des Textus Receptus reichen sie in keiner Weise heran. Aufgrund ihrer Komplexität und individuellen textkritischen Prinzipien mit Folge konträrer Textfassungen bleiben sie einem kleinen Nutzerkreis vorbehalten, der die Unterschiede zu deuten vermag. Daneben gibt es noch weitere Editionen, die sich um eine Textkonstitution auf Basis alter und verlässlicher Quellen bemühen.249 Am Ende des 20. Jahrhunderts haben sich vor allem Richard F. Weymouth und Eberhard Nestle darum bemüht, die gewonnenen Erkenntnisse zu bündeln und je eine Handausgabe des Neuen Testaments durch Abwägung der großen kritischen Editionen zu erstellen.250 Anstelle des durch Erasmus geschaffenen Textus Receptus haben sich nach Bekanntwerden sukzessive ältere Manuskripte als maßgebliche Quellen für die Textkonstitution durchgesetzt; für die Apokalypse haben sich in diesem Prozess mit 01, 02 und 04 drei zum Teil stark divergierende Leithandschriften herausgebildet. Das Gros der Forschung schätzt das Gewicht von 02 und 04 höher ein als
249 Es sei hier exemplarisch auf die Ausgaben von Johann J. Griesbach (1775/1777 und 1796/1806) hingewiesen, die den Höhepunkt der ersten Phase der kritischen Textforschung zum Neuen Testament markieren: J. J. Griesbach, Novum Testamentum Graece. Textum ad fidem codicum versionum et patrum recensuit et lectionis varietatem adjecit. Volumen II: Acta et Epistolas Apostolorum cum Apocalypsi, Halle/London 1806. 250 Vgl. die Editionen R. F. Weymouth, The Resultant Greek Testament. Exhibiting the Text in which the Majority of Modern Editors are agreed, and containing the Readings of Stephens (1550), Lachmann, Tregelles, Tischendorf, Lightfoot, Ellicott, Alford, Weiss, the Bâle Edition (1880), Westcott and Hort, and the Revision Commitee. Cheap Edition, London 1892; E. Nestle, Novum Testamentum Graece cum apparatu critico ex editionibus et libris manu scriptis, Stuttgart 1898.
Forschungsgeschichtlicher Überblick das von 01, wohingegen von Tischendorf eine verhältnismäßig ausgewogene Textkonstitution vornahm und alle drei Handschriften nahezu gleichwertig berücksichtigte. Gleichwohl finden sich im gegenwärtigen Text des NA28 immer noch etliche Stellen mit fraglicher Textkonstitution,251 die die Forschung zum Diskurs anregen.252 Es wäre allerdings nochmals zu prüfen, welchen Beitrag jüngere Überlieferungsstränge und Handschriften zur Textkonstitution der Apokalypse leisten. Dass ihr Wert womöglich lange Zeit als Folge der Überwindung des Textus Receptus unterschätzt wurde, deutet sich bereits in der ECM der Apostelgeschichte an, wo die meisten Textänderungen gegenüber NA28 durch den Byzantinischen Text gestützt werden.253 Soweit es die durch Westcott/Hort formulierte Aufgabe über die Aufklärung der Überlieferungsgeschichte betrifft, ist sie zur Mitte des 20. Jahrhunderts trotz beachtlicher Fortschritte nur zum Teil bearbeitet. Schmids Darlegungen lassen zum einen zahlreiche Rätsel ungelöst und werfen zum anderen neue Fragen auf. In heutiger Terminologie ausgedrückt beobachtete Schmid das Phänomen einer hochgradig kontaminierten Überlieferung, deren Verzweigung er jedoch nicht zu lösen vermochte und das Problem damit der Nachwelt hinterließ. Gegen anderslautende Meinung bleibt festzuhalten, dass Schmid sowohl ein Wachstum als auch etwaige Querverbindungen seiner Texttypen beobachtete und insofern den Weg zur modernen Textforschung einleitete. In der Zwischenzeit hat die Wissenschaft allerdings versäumt, der textgeschichtlichen Proble 251 Eine Auflistung einschlägiger Stellen findet sich bei Karrer, Text (2012), 49. 252 Karrer, Text (2012), 50–53. Hingewiesen sei exemplarisch auf J. K. Elliott, A Short Textual Commentary on the Book of Revelation and the „New“ Nestle, NT 56 (2014), 68–100, 76. Der Autor plädiert dafür, in 6,1f.3f.5.7 jeweils den längeren Text ἔρχου καὶ ἴδε gegen Nestle-Aland28 ἔρχου (ohne καὶ ἴδε) mit 01 und der Mehrheit der Handschriften gegen 02 04 zu bevorzugen. Die Stelle ist editionsgeschichtlich insofern vorbelastet, als Erasmus statt καὶ ἴδε die Sonderlesart καὶ βλέπε ohne Rückhalt griechischer Handschriften vor dem 16. Jh. bot. Bereits Lachmann hat nach dem Zeugnis von 02 dieses haltlose καὶ βλέπε an allen Stellen aus dem Text gestrichen (vgl. Lachmann, Novum Testamentum, 437–438); bei dieser Textkonstitution ist es auch nach Bekanntwerden des Codex Sinaiticus geblieben (vgl. Tischendorf, Novum Testamentum II, 938–940). Womöglich wurde die Variante καὶ ἴδε deswegen bislang unter dem falschen Vorzeichen bewertet, weil man zwar das καὶ βλέπε des Textus receptus berechtigt verworfen hat, doch nun nicht wieder zu einem längeren Text zurückkehren wollte. Allerdings kann dem Vorschlag von Elliott nicht ohne Weiteres gefolgt werden, da die Bezeugung der Varianten an den Stellen 6,1–2 und 6,3–4 überaus unterschiedlich ausfällt und im zweiten Fall die Mehrheit der Handschriften die gegenwärtige Textkonstitution stützt; vgl. dazu die Teststellen 42 und 43 in TuT-Apk, 88–92. 253 Vgl. dazu die Auflistung der textlichen Änderungen in Strutwolf, et al., ECMActa I, 34*-35*. Demnach erfolgten 36 Änderungen unter anderem nach dem Zeugnis des Byzantinischen Textes und lediglich vier dagegen.
Desiderata
matik tiefer auf den Grund zu gehen, weshalb der gegenwärtige Apk-Text als unzureichend und inkonsistent empfunden wird. Es ist daher mit Nachdruck zu prüfen, ob die Anwendung der Kohärenzbasierten Genealogischen Methode, die ja gezielt für kontaminierte Überlieferung entwickelt wurde, zur Aufhellung der Textgeschichte beiträgt und im Anschluss an Schmid zu einem konsistenteren Gesamtbild führt, auf dessen Basis sich auch schwierige Varianten zuverlässiger entscheiden lassen.
Methodische Erläuterungen Die textkritische Wissenschaft hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten zunehmend spezialisiert und methodisch ein immer höheres Reflexionsniveau erreicht. Seitdem die Computertechnik diesen Forschungszweig durchdringt, haben sich die Analyseverfahren zur Profilierung der Handschriften und Untersuchung der Überlieferungsgeschichte essenziell verändert. Mit der Teststellenmethode und der Kohärenzbasierten Genealogischen Methode prägen gleich zwei elektronisch gestützte Arbeitsweisen den Text des Neuen Testaments, wie er in der modernen ECM und teilweise auch schon in NA28 ediert wird.254
. Begriffliche Voraussetzungen Eingangs sind aus methodischen Gründen einige zentrale Termini zu definieren, die in spezifischer Konnotation benutzt werden. Die Definitionen dienen der begrifflichen Klarheit und sollen Missverständnissen vorbeugen.
.. Der Begriff „Zeuge“ In textkritischer Hinsicht gilt als „Zeuge“ für die Apokalypse der Text, der durch die eine oder andere Handschrift überliefert wird.255 Die Handschrift selbst wird nicht als Zeuge verstanden, sondern lediglich als Tradent des Textes. Diese Differenzierung ist in mehrfacher Hinsicht zu beachten: Wenn im Folgenden die bekannten GA-Nummern zur Bezeichnung der einzelnen Zeugen benutzt werden, dann bezieht sich diese Nummer auf den überlieferten Text und nicht auf die ihn überliefernde Handschrift als solche. Die textkritische Qualität eines Zeugen bemisst sich ausschließlich an dem überkommenen Text und nicht an 254 Soweit es die Textkonstitution betrifft, weist Nestle-Aland ab der 28. Auflage eine Zweiteilung auf: Während Text und Apparat der Katholischen Briefe auf Grundlage der ECM (K. Aland/B. Aland/G. Mink/H. Strutwolf/K. Wachtel, Novum Testamentum Graece: Editio Critica Maior, Bd. IV: Die Katholischen Briefe, Teil 1: Text, 2. revidierte Auflage, Stuttgart 2013) revidiert wurden, sind die übrigen Teile außer einiger Korrekturen mit der 27. Auflage identisch. Näheres dazu in Nestle-Aland28, Einführung, 3*–4*. 255 Diese Definition folgt G. Mink, Was verändert sich in der Textkritik durch die Beachtung genealogischer Kohärenz?, in: W. Weren/D.-A. Koch (Hgg.), Recent Developments in Textual Criticism, New Testament, other Early Christian and Jewish Literature: Papers Read at a Noster Conference in Münster, January 4–6, 2001, STAR 8, Assen 2003, 39–68, 1. https://doi.org/10.1515/978311119430-005
Begriffliche Voraussetzungen
den physischen Eigenschaften der Handschrift wie Alter oder Erhaltungszustand. Aus diesem Grund können Abschriften aus späteren Jahrhunderten ebenso wertvoll oder sogar noch qualitätvoller sein als Reproduktionen aus der Frühzeit der Überlieferung, weil sie auf eine alte Vorlagenkette zurückgehen und infolgedessen einen alten Text bezeugen. Der Wert eines jeden Textes ergibt sich aus dem Anteil an prioritäreren Varianten, die er in Relation zu allen anderen Texten bietet.
.. Die Begriffe „Gruppe“ und „Familie“ Aufgrund ihrer Übereinstimmungswerte, die aus der Gesamtzahl identischer Varianten resultieren, stehen sich einige Texte näher als andere. Wenn die Übereinstimmungsquoten zwischen mehreren Texten besonders hoch sind, können sie zu spezifischen Gruppen oder Familien zusammengeschlossen werden. Wichtig ist dabei zu beachten, dass die Gruppendefinition nicht auf der Bezeugung gemeinsamer mutmaßlicher Bindelesarten (siehe Teil I: 5.3) beruht, sondern quantitativ aus der Quote gemeinsamer Varianten in Differenz zu ihren jeweiligen Abweichungen fußt. Je höher die Übereinstimmungswerte zwischen verschiedenen Zeugen sind, desto enger sind sie potenziell verwandt und desto stärker fällt die Gruppendefinition aus. Als Gruppen werden größere Textverbünde definiert, die aus mehr als 20 Mitgliedern bestehen. Abgesehen vom numerischen Umfang zeichnen sich Gruppen durch eine größere Toleranz bei der Bewertung der Übereinstimmungswerte einzelner Mitglieder derselben Gruppe untereinander aus. Innerhalb einer Gruppe kann es also ein großes Spektrum an Varianten geben, die viele Mitglieder gemeinsam haben, aber von anderen nur zum Teil bewahrt sind. Insofern haben die verschiedenen Mitglieder den potenziellen gemeinsamen Text der Gruppe in aller Regel mit unterschiedlicher Texttreue erhalten und repräsentieren ihn damit in divergierender Genauigkeit. Jede Gruppe weist also einen gewissen Grad an Kontamination auf, den es bei der Definition der Gruppe zu beachten gilt. Familien bestehen hingegen aus wenigen Mitgliedern (siehe z.B. F172), die sich durch generell hohe Übereinstimmungswerte zueinander auszeichnen. Aufgrund des gemeinsamen Variantenbestands lassen sie sich vergleichsweise sicher von der restlichen Überlieferung abgrenzen.
Methodische Erläuterungen .. Der Begriff „Textzustand“ Wie alle neutestamentlichen Schriften durchlief auch die Apokalypse eine lange Überlieferungsgeschichte, in der sich diverse Varianten ausgebildet haben. Seit der ersten Variantenbildung, auch Filiation genannt, unterliegt die Überlieferung der Apokalypse also einer kontinuierlichen Entwicklung. Dabei treten verschiedene textliche Phänomene auf, die der Überlieferung ihre Gestalt verliehen haben. Neben echten Varianten, die grammatisch korrekte und kontextuell sinnvolle Wortalternativen zu einer Stelle darstellen, gibt es auch Fehler, d.h. unsinnige Varianten, abweichende Schreibweisen, auch Orthographica genannt, und verschiedene Abkürzungen in den Texten. In den überkommenen Handschriften lassen sich die Stadien dieser Entwicklung anhand der Texte mit ihrem jeweils individuellen Gepräge an textlichen Abweichungen beobachten. Jede Handschrift dokumentiert also einen spezifischen Textzustand, der aus dem Vorkommen aller durch sie überlieferten Lesarten resultiert.256 Als Folge der langen Überlieferungskette können darum auch junge Handschriften einen alten Textzustand dokumentierten, den sie aufgrund einer langen Vorlagenkette erfolgreich erhalten haben. D.h. ein Textzustand, den eine Handschrift überliefert, kann unter Umständen wesentlich älter sein als ihr physisches Produktionsdatum. Um den Wert eines Zeugen zu bestimmen, gilt es seinen Textzustand in der Gesamtüberlieferung durch Profilierung seiner Varianten und Relationen zu anderen Textzuständen zu verorten. Von besonderem Wert für die Charakterisierung eines Textzustandes sind dessen Varianten, durch die er sich von anderen Textzuständen unterscheidet oder sich mit diesen als verwandt erweist. Als Resultat der Filiation, d.h. durch ihr Entstehungsverhältnis haben Varianten ein bestimmtes Profil. Das naheliegendste Profil bezeichnet „alte“ und „junge“ Varianten; eine andere Profilierung könnte „sperrig“ und „glatt“ lauten. Durch die Vielzahl an Varianten, die jeder Textzustand aufweist, erhält er sein individuelles Profil, durch das er sich in die Gesamtüberlieferung einfügt. Anders verhält es sich in Bezug auf Fehler, Orthographica und Abkürzungen. Diese bilden in aller Regel Individualerscheinungen des Textes, die zwar gelegentlich aus einer längeren Vorlagenkette des betreffenden Textzustandes herrühren können (z.B. längere Omissionen, die sich verfestigt haben), doch weitaus häufiger sind sie das versehentliche (Fehler) oder gewohnheitsmäßige (Orthographica und Abkürzungen) Produkt der Person, die die Abschrift angefertigt hat, und haben darum nur selten eine Überlieferung mit heuristischem Wert für die 256 Die Definition des Begriffs „Textzustand“ folgt hier Mink, Textkritik, 1–2.
Begriffliche Voraussetzungen
Bestimmung des Textzustandes. Im Sinne dieser Definition richtet sich das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit auf die beschriebene Profilierung der Textzustände der wichtigsten Zeugen für die Apokalypse.
.. Der Begriff „Texttradition“ Als textgeschichtlicher Begriff ist der Terminus „Texttradition“ zu verstehen. Eine Texttradition bildet den Zusammenschluss mehrerer Textzustände, die sich im Textprofil – also der Gesamtschau aller bezeugten Varianten – ähneln. Diese Textzustände können als engverwandt betrachtet werden und haben damit eine gemeinsame textgeschichtliche Verbindung. Demnach besteht eine Texttradition aus der Summe der zu ihr zusammengefassten einzelnen Textzustände. Jede Texttradition bildet ein komplexes Variantenspektrum ab und steht in Beziehung zu anderen Texttraditionen. Die Beziehung zu anderen Texttraditionen ergibt sich aus den Varianten, die sie aufgrund der sie konstituierenden Textzustände miteinander teilen bzw. durch die sie sich voneinander unterscheiden. Auch in dieser Hinsicht ist Kontamination das textgeschichtliche Grundmerkmal der Überlieferung; dies will sagen, dass es keine „reinen“ Textzustände oder Texttraditionen gibt. Vielmehr ist in dem Begriff der Tradition inhärent angelegt, dass sich Textzustände aus einer Vielzahl von Entwicklungslinien speisen, die häufig miteinander verwoben sind. Inwiefern ein Textzustand ein „guter“ Vertreter einer Texttradition ist oder ob ein Textzustand einer bestimmten Texttradition angehört, ist keine Frage der Bezeugung spezifischer Varianten, sondern das maßgebliche Kriterium ist das des Textprofils. Wenn ein Textzustand im Textprofil dem akkumulierten Textprofil der Tradition entspricht, kann er ihr graduell zugeordnet werden. Der Grad der Zuordnung („guter“ Vertreter, „schlechter“ Repräsentant usw.) ergibt sich aus dem Maß, wie sich die Textprofile einander entsprechen. Im Sinne dieser Definition steht der Begriff „Texttradition“ textgeschichtlich in gewissem Kontrast zum vertrauten Terminus „Texttyp“ und versucht die Überlieferung gerade nicht in feste Blöcke einzuteilen. Er bemüht sich vielmehr darum, die Relationen der einzelnen Textzustände in den Blick zu nehmen und will dabei ebenso Gemeinsamkeiten wie Unterschiede berücksichtigen. Gerade durch diesen holistischen Ansatzpunkt bei den einzelnen Textzuständen gewinnt die daraus resultierende textgeschichtliche Darstellung der Texttraditionen an Relevanz und Objektivität, indem sie möglichst viele Aspekte der Überlieferung in Rechnung stellt und sich nicht auf Ausgewähltes beschränkt.
Methodische Erläuterungen
. Text und Textwert der Apokalypse Was die kritischen Ausgaben des Neuen Testaments aus dem 19. und 20. Jahrhundert anbelangt, beruhen sie auf einer verhältnismäßig begrenzten Auswahl handschriftlicher und anderweitiger Quellen. Die gewichtigen Bibelcodices 01, 02, 03 und 04 wurden zwar ausgiebig studiert und gemäß der Qualität ihres Zeugnisses zur Textkonstitution herangezogen, doch die Berücksichtigung vieler anderer Manuskripte erfolgte weitgehend zufällig, insoweit sie bekannt und erreichbar waren. Um diese Limitierung der Zeugen zu überwinden und tatsächlich „alle geeigneten Handschriften herauszufinden“257, auf denen der Text der anstehenden ECM konstituiert werden soll, entwickelten K. und B. Aland die sog. Teststellenmethode.258
.. Die Grundlagen der Teststellen-Methode Die Teststellenmethode verfolgt drei basale Ziele:259 a) Feststellung der Handschriften, die aus unterschiedlichen Gründen irrelevant sind und für die Textkonstitution keinerlei Bedeutung haben. b) Diagnose sämtlicher Handschriften, deren Zeugnis von Bedeutung ist und die einer näheren Untersuchung bedürfen. c) Evaluierung ebendieser Manuskripte im Hinblick auf ihren Textcharakter und ihre gegenseitigen Beziehungen. Um diese Aufgabe zu bewältigen, wurden mit Ausnahme der Apk für sämtliche Schriften des Neuen Testaments entsprechende variierte Stellen ausgewählt, die als Teststellen bezeichnet werden, und an diesen alle zugänglichen Handschriften kollationiert. Die Resultate der Kollation bilden sogleich die Grundlage für mehrere Auswertungslisten, deren Zweck in der Profilierung der Handschriften und Feststellung ihres Textcharakters besteht. Für die Auswertung werden die in der Kollation erfassten Varianten nach einem anwendungsbezogenen Muster beziffert und dadurch sinnträchtig differenziert:260 – Nummer 1 bezeichnet die Variante der Handschriftenmehrheit, die in aller Regel auch den Byzantinischen Text einbegreift; – Nummer 2 den Text der Nestle-Aland-Edition;
257 Aland/Aland, Text, 327. 258 Aland/Aland, Text, 327–342. 259 Siehe dazu Aland/Aland, Text, 328. 260 Vgl. Aland/Aland, Text, 331.
Text und Textwert der Apokalypse
– –
die Kombination 1/2 solche Varianten, bei denen die Handschriftenmehrheit und Nestle-Aland identisch sind; Nummer 3 oder höhere Sonderlesarten, die weder von Nestle-Aland noch der Handschriftenmehrheit gelesen werden.
Auf diesem Wege entsteht zu jeder Handschrift ein individuelles Profil, das ihren Textcharakter und ihre etwaige Verwandtschaft zu Vergleichsobjekten abbildet. Ferner werden die Handschriften nach ihren je spezifischen Anteilen der einzelnen Lesartenkategorien sortiert und in Reihenfolge gebracht, wobei die Verwandtschaft der Handschriften durch Übereinstimmungsquoten kenntlich gemacht wird.261 Als Maßgabe für ihre textkritische Gewichtung gilt, dass vor allem solche Handschriften relevant sind, die einen hohen Anteil an LA-2 und -2mS, d.h. mit dem Text von Nestle-Aland übereinstimmen und damit potenziell alte Lesarten bekunden.262 Dass mit dieser Auswertung gewisse Unsicherheiten verbunden sind, weil der Text des Nestle-Aland an einigen Stellen strittig ist, steht außer Frage. Gleichwohl bildet er mit Abstand die konsensfähigste Referenzgröße zur Evaluierung der Handschriften. Überdies stellen die Ergebnisse der Teststellenmethode auch kein endgültiges Urteil über den Wert eines Zeugen dar, sondern eine reflektierte Annäherung an seinen Textwert. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden tabellarisch gestaltet in den sog. Text und Textwert Bänden der ANTF-Reihe publiziert.263
.. Auswahl der Teststellen in TuT-Apk Der 2017 erschienene TuT-Band zur Apokalypse besteht reihenkonform aus drei Hauptteilen, und zwar einer umfänglichen Einleitung in deutscher und englischer Sprache, den Resultaten der Kollation sowie mehreren darauf aufbauen-
261 So Aland/Aland, Text, 341. In engen Grenzen gilt dies auch für Bindelesarten, die die Verwandtschaft einzelner Handschriftenpaare oder Familien verdeutlichen können, sofern sie von gemeinsamen genealogischen Wurzeln herrühren. Weiteres dazu unter Teil I: 5.3. 262 Nach den spezifischen Anteilen an LA-1, -2 und -1/2 richtet sich die Kategorisierung der Handschriften mit Blick auf ihr textkritisches Gewicht; von hoher Bedeutung sind demnach ebensolche Zeugen mit ausgeprägten Anteilen an LA-2 und -1/2; siehe dazu die Ausführungen bei Aland/Aland, Text, 344–46. 263 Der erste TuT-Band zu den Handschriften der Katholischen Briefe erschien 1987: Aland/Aland/Wachtel, Text und Textwert I/1.
Methodische Erläuterungen den Auswertungslisten.264 In der beigefügten Handschriftenliste sind 310 Objekte erfasst, von denen 285 an wenigstens einer Teststelle dokumentiert und 273 in die Auswertungslisten einbezogen werden konnten.265 Es wurden insgesamt 123 Teststellen ausgewählt, die sich auf neun ebenso textkritisch wie exegetisch relevante Kapitel verteilen:266 Tab. 1: Verteilung der Teststellen über den Text der Apokalypse Kapitel
Inhalt
Anzahl TST
Apk
Eröffnung und Beauftragungsvision
Apk
Sendschreiben an Ephesus, Smyrna, Pergamon und Thyatira
Apk –
Thronsaal- und Schriftrollenvision
Apk
Visionen der Siegel eins bis sechs
Apk
Vision der zwei apokalyptischen Tiere
Apk
Vision des Menschensohngleichen
Apk
Ankündigung und Fall der Hure Babylon
Apk
Vision vom himmlischen Jerusalem
Damit eine Handschrift in die Auswertungslisten einbezogen wird, muss sie mindestens an 10 von den 123 Teststellen verwertbaren Text bieten. Das Minimum an 10 Teststellen bildet die untere Grenze, wo noch eine Evaluierung des Textzeugnisses eingeschränkt möglich ist.267 Diese Untergrenze stellt einen am Quellenmaterial orientierten Kompromiss dar, um möglichst viele Handschriften in Auswertungslisten einzuschließen. Gleichwohl haben quantitative Analysen bei fragmentarischen Textzeugen eine limitierte Aussagekraft, sodass die Ergebnisse im Einzelfall durch Spezialuntersuchungen abzusichern sind und keineswegs überstrapaziert werden sollten. Welche Anzahl an verwertbaren Teststellen für eine solide Profilierung tatsächlich notwendig sind, ist nicht 264 Deutsche und englische Einleitung (TuT-Apk, 1*–81*.83*–150); Handschriftenliste (1–22); Kollationsresultate (25–228); Auswertungslisten (229–723). Dazu kommen insgesamt sechs verschiedene Appendizes (A–F): Sigelkonkordanz (727–739), für den Druck entfallene Teststellen der Wuppertaler Datenbank (741–745), Differenzen zwischen LA 4 und Αν (747–749), Auflistung der Mehrheitslesarten (751–754), Verzeichnis der Handschriften und ihrer Beteiligung an rM (755–782), Teststellen und Handschriften mit hoher relativer Mehrheit (783–791). 265 Zu den Zahlen vgl. TuT-Apk 6*–7*. 266 Zur Auswahl der Teststellen siehe die umfangreichen Informationen in TuT-Apk, 18*–25*. 267 Siehe dazu die Hinweise in TuT-Apk, 38*–39*.
Text und Textwert der Apokalypse
pauschal zu beantworten und hängt bis zu einem gewissen Grad vom jeweiligen Exemplar ab. Die Praxis zeigt, dass sich P47 anhand von 34 geeigneten Teststellen noch einigermaßen profilieren lässt (siehe Teil III: 2.2). Ferner wurden die Teststellen nach sieben textkritischen Kriterien ausgesucht, um möglichst alle Phänomene der Überlieferung in der Auswahl widerzuspiegeln und die Ergebnisse der bisherigen Forschung objektiv überprüfen zu können: Tab. 2: Auswahl der Teststellen nach textkritischen Kategorien268 Textkritische Kategorie
Teststellen (Beispiele)
Differenzen zwischen 𝔐𝔐 laut Apparat von NA und , , , , , , , , , , , , dem kritischen Text von NA , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , Abweichungen zwischen Koine- (𝔐𝔐K) und AndreasText (𝔐𝔐A) nach dem Apparat von NA Differenzen zwischen P- und - Abweichungen zwischen den von Hoskier behaupteten Hss.-Familien
, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,
Unterschiede der Arethas- von der Koine-Gruppe
, , , ,
Weitere forschungsgeschichtlich relevante Stellen
, , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,
Im Greek New Testament, Fourth Revised Edition, als schwierige Problemfälle markierte Stellen
, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,
Grundsätzlich wurde versucht, alle Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen; trotzdem ergibt sich aus den Spezifika der Überlieferung und textkritischen Zielsetzungen des Bandes ein gewisses Ungleichgewicht, wonach Differenzen zwischen NA28 und der Handschriftenmehrheit sowie den Gruppen 𝔐𝔐K und 𝔐𝔐A in der Teststellenauswahl breiteren Raum als Abweichungen zwischen den
268 Manche Teststellen in Tabelle 2 kommen deswegen mehrfach vor, weil sie in verschiedenen Zusammenhängen von Bedeutung sind (z.B. TST 1, 3, 116 und 117).
Methodische Erläuterungen kleineren Handschriften-Gruppen einnehmen.269 Als problematisch erweist sich insbesondere die Arethas-Familie, deren Text weitgehend mit dem der KoineGruppe identisch ist. Da kennzeichnende Differenzen erst am Schluss der Apokalypse auftreten, haben die Teststellen aus Kapitel 21 deshalb für diese Gruppe erhöhtes Gewicht.270
.. Die Lesartenbezifferung in TuT-Apk Dass bei der Apokalypse kein einheitlicher Mehrheitstext vorliegt, wurde schon thematisiert. Stattdessen teilt sich das Gros der Apk-Handschriften auf verschiedene Gruppen auf, was für die Profilierung der Zeugen entsprechend zu berücksichtigen war. Aus diesem Grund mussten einige Modifikationen an dem oben geschilderten Verfahren vorgenommen werden. Die weitreichendste Änderung betrifft die Bezifferung der Lesarten: Weil es keine zu den übrigen TuTBänden äquivalente Handschriftenmehrheit gibt, wurde in TuT-Apk grundsätzlich auf die Verwendung der Nummer 1 als Bezeichnung für die Mehrheitslesart an einer Teststelle verzichtet. Damit dennoch ersichtlich ist, welche Lesart von den meisten Handschriften gelesen wird, steht diese generell am Kopf jeder Teststelle, während ohnedies für alle Lesarten die absolute Zeugenzahl explizit angegeben wird.271 Die Ziffer 2 als Kennzeichnung für den Wortlaut des NA28 wurde hingegen unverändert übernommen. Zudem wurden fortlaufend die Nummern 3, 4 und 5 eingeführt, um dem Phänomen Rechnung zu tragen, dass wiederholt Handschriften in gleichbleibenden und wiederkehrenden Konstellationen zusammengehen. Verglichen zu Schmids Gruppierungen handelt es sich dabei weitgehend um Repräsentanten seines Koine-, Andreas- oder Complutense-Textes, weshalb sie in gewisser Weise auch als Koine-, Andreas- und ComplutenseHandschriften bezeichnet werden können.272 Auf den Terminus „Texttyp“ bzw. semantisch gleichbedeutende Begriffe wird in der vorliegenden Arbeit zur Bezeichnung einzelner Überlieferungszweige der Apk verzichtet; stattdessen wird von „Gruppe“ oder „Tradition“ gesprochen, um der Einsicht gerecht zu werden, dass sich zwar enger verwandte Zeugen erkennen lassen, doch nur die wenigs-
269 TuT-Apk, 18*–25*. 270 Zur Erklärung siehe TuT-Apk, 23*–24*; 67*–69*. 271 Siehe dazu TuT-Apk, 13*–15*; 25*–27*. 272 Auf welchen Handschriften die Definitionen der LA-3, -4 und -5 basieren geht aus TuTApk, 24, hervor. Zur textgeschichtlichen Frage siehe außerdem 15*–18*.
Text und Textwert der Apokalypse
ten eine bestimmte „Textform“ bekunden. In der Regel treten als Folge der Kontamination verschiedene Variantenschichten nebeneinander in einem Zeugen auf, sodass die Gruppenzugehörigkeit nicht immer eindeutig festgestellt werden bzw. die primäre Verwandtschaft durch sekundäre Einflüsse überlagert werden kann. In TuT-Apk gelten als Hauptlesarten einer Gruppe stets diejenigen Varianten, die von der zahlenmäßigen Mehrheit der jeweiligen Gruppenmitglieder an einer Teststelle gelesen werden und deswegen die Nummern 3, 4 und/oder 5 tragen. Ein gewisses Maß an Redundanz ließ sich an dieser Stelle nicht vermeiden, doch die Gruppierung nach Übereinstimmungsquoten, die unabhängig von irgendwelchen spezifischen Lesarten erfolgt, bestätigt objektiv die Zusammengehörigkeit der betreffenden Handschriften. Da einzelne Gruppen oft zusammengehen oder mit dem Text des NA28 übereinstimmen, tragen die Lesarten in TuT-Apk diverse Ziffernkombinationen: z.B. 2/3/5, 3/4, 2/4 usw.273 So wird aus der Bezifferung unmittelbar nachvollziehbar, durch welche ZeugenGruppen eine Variante hauptsächlich gestützt wird und worin ihre Bedeutung liegt. Sonderlesarten, die weder mit dem Text des NA28 übereinstimmen noch durch die Handschriftenmehrheit einer der genannten Gruppen gelesen werden, tragen in TuT-Apk die Nummern 6 oder höher. Die Lesartenbezifferung erfolgt also nach streng quantitativer Feststellung, wobei sie bewusst den Vergleich zur älteren Forschung sucht und so deren Überprüfung ermöglicht. Wie die Varianten des Koine-, Andreas- bzw. Complutense-Textes als Texttypen im Sinne Schmids lauten, steht auf einem völlig anderen Blatt und wäre eigens zu diskutieren. Aus dem Vergleich zwischen Schmids Rekonstruktion des Andreas-Textes (Αν) und den quantitativ ermittelten Gruppen-Varianten der Handschriften aus Gruppe 4 in TuT-Apk geht beispielsweise hervor, dass es durchaus Differenzen zwischen den beiden Instanzen gibt. An insgesamt 11 Teststellen weicht das Mehrheitszeugnis der AndreasHandschriften von Schmids Textkonstitution ab. Für diesen Umstand zeichnen sich bei näherer Betrachtung verschiedene Ursachen verantwortlich: An vier Stellen kam Schmid zu keinem eindeutigen Entschluss, wie der Text zu rekonstruieren sei (TST 44, 70, 76, 91), während er an sechs weiteren (TST 20, 31, 35, 87, 94, 111) definitiv gegen die Mehrheit der Andreas-Handschriften entschied.274 Das Phänomen wirft gewichtige textgeschichtliche Fragen nach dem Verhältnis mutmaßlicher Texttypen und der Handschriften-Tradition auf, die es genauer 273 Eine Übersicht, welche Kombinationen vorkommen und dabei die Mehrheitslesart bilden, findet sich in TuT-Apk, 28*. Eine detaillierte Aufstellung bietet außerdem Appendix D, 751–754. 274 Siehe dazu Appendix C in TuT-Apk, 747–49, mit Auflistung der genannten Stellen.
Methodische Erläuterungen zu untersuchen gilt. Nicht zuletzt weckt der Befund gewisse Zweifel, ob die verschiedenen Textformen der Apokalypse tatsächlich so evident sind, wie es Schmid in seinen Studien behauptet. So stellt die in TuT-Apk vorgenommene Lesartenbezifferung trotz der damit einhergehenden Komplexität ihren hohen Wert unter Beweis, indem sie sowohl die Profilierung der Handschriften als auch die kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung erlaubt.
.. Die Auswertungslisten in TuT-Apk Infolge der Neubezifferung mussten auch die anschließenden Auswertungslisten in TuT-Apk gegenüber Alands ursprünglicher Vorgehensweise modifiziert werden. TuT-Apk bietet insgesamt vier Evaluationslisten mit unterschiedlichen Schwerpunkten: 1) Verzeichnende Beschreibung, 2) Sortierungen nach Anteilen, 3) Vergleichsliste und 4) Gruppierungen nach Übereinstimmungsquoten. Die Listen haben spezifische Funktionsweisen und textkritische Zielsetzungen: 1) Die ‚Verzeichnende Beschreibung‘ bietet zu jeder in den Kollationsresultaten erfassten Handschrift eine Übersicht zu ihrem Variantenprofil. Nach Lesartennummern sortiert wird also ersichtlich, an welchen Teststellen eine gegebene Handschrift Lesarten der Kategorien 2, 3, 4 und 5 bzw. Kombinationen davon aufweist. Außerdem werden Sonder- (LA-6 oder höher), Singulärlesarten, Korrekturen und Lücken teststellengenau aufgeführt. Die Liste zeichnet damit ein übersichtliches Profilbild zu jeder Handschrift. 2) TuT-Apk enthält insgesamt 14 verschiedene ‚Sortierungslisten‘, die die Handschriften nach prozentualen Anteilen bestimmter Lesarten oder anderen Kriterien in absteigende Reihenfolge bringen. Die Listen 1–8 bieten Sortierungen nach den Anteilen an LA-2, -3, -4 und -5. Aus diesen Listen lässt sich ersehen, welche Handschriften besonders häufig mit dem Text des NA28 oder dem Mehrheitszeugnis der Koine-, Andreas-, oder Complutense-Gruppe übereinstimmen. Um den Überblick zu behalten und mühseliges Blättern zu ersparen, stehen in den Nebenspalten zu jeder Sortierung die prozentualen Anteile an LA2mS, LA-3mS, LA-4mS, LA-5mS und Sonderlesarten. Bei den Listen LA-2/ usw. handelt es sich um Berechnungen von Schnittmengen, die sich aus den Stellen ergeben, an denen NA28 bzw. die verschiedenen Textgruppen denselben Text haben. Es folgen zunächst die Sortierungslisten nach den Anteilen an Sonderlesarten (9) und Singulärlesarten (10), dann zwei Sortierungslisten zu Anteilen an mehrheitlich bezeugten Lesarten (11 und 12), die Sortierung nach dem Anteil an LA-2 gegen die relative Mehrheit (13) und schließlich die Sortierung nach Anteil an LA-2 mit Minderheitsbezeugung (14). Anhand dieser Sortierungslisten
Text und Textwert der Apokalypse
lässt sich sowohl der Textcharakter jeder Handschrift zuverlässig offenlegen als auch die Auswahl der textkritisch und -geschichtlich relevanten Objekte für die ECM der Apokalypse realisieren.275 3) Es folgen die sog. ‚Vergleichslisten‘, die zu jeder Handschrift die 70 nächstverwandten Objekte aufführen.276 Der Grad der Übereinstimmung wird in Prozent angegeben, wobei in die Berechnung sämtliche Teststellen mit auswertbarem Text eingeflossen sind. So entsteht ein übersichtlicher Grundriss zur Verwandtschaft der Handschriften. Textgruppen werden in den Vergleichslisten insofern ersichtlich, als sich ihre Mitglieder durch hohe prozentuale Übereinstimmung auszeichnen und von Nichtmitgliedern merklich unterscheiden.277 Ferner bieten die Kopfzeilen der Vergleichsliste zu jeder Handschrift basale Informationen zu ihrem Textcharakter: 1) Anzahl, an wie vielen Teststellen die betrachtete mit verwertbaren dokumentiert ist, 2) Übereinstimmungen mit der relativen Mehrheit (rM), 3) Anzahl bezeugter Singulärlesarten und 4) der prozentuale Anteil, mit welcher der Lesarten-Kategorien (LA-2, -3, -4, oder -5) sie am meisten übereinstimmt. Dadurch werden herausragende Vertreter einer bestimmten Textgruppe bereits in den Kopfzeilen der Vergleichsliste erkennbar. 4) Am Schluss steht die komplexeste und umfangreichste Auswertungsliste: ‚Gruppierung nach Übereinstimmungsquoten‘. Sie stellt das Verhältnis der Handschriften quantitativ dar und schlägt so eine objektive Gruppenbildung vor. Die Liste setzt sich aus insgesamt sieben Unterspalten zusammen, die den Befund aus verschiedenen Richtungen durchleuchten:278
275 Es wurden folgende Handschriften für die ECM der Apokalypse ausgewählt: P18, P24, P43, P47, P85, P98, P115, 01, 02, 04, 025, 046, 051, 052, 0163, 0169, 0207, 0229, 0308, 35, 61, 69, 82, 91, 93, 94, 104, 141, 177, 201, 218, 250, 254, 367, 452, 456, 469, 498, 506, 522, 620, 632, 792, 808, 911, 1006, 1424, 1611, 1637, 1678, 1719, 1732, 1734, 1773, 1780, 1795, 1849, 1852, 1854, 1872, 1888, 2019, 2026, 2028, 2037, 2042, 2048, 2050, 2053, 2056, 2057, 2067, 2070, 2071, 2073, 2074, 2075, 2076, 2081, 2138, 2196, 2200, 2201, 2256, 2286, 2329, 2350, 2351, 2377, 2429, 2432, 2436, 2495, 2582, 2595, 2672, 2681, 2723, 2814, 2845, 2846, 2847, 2886, 2919, 2921. 276 Zur ausführlichen Beschreibung der Vergleichsliste siehe TuT-Apk, 53*‒58*. 277 Besonders gut erkennbar ist die Complutense-Gruppe: So stehen beispielsweise in der Vergleichsliste zur Handschrift 1637, einem hervorragenden Vertreter dieser Gruppe mit Anteilen an 100 % LA-5 und LA-5mS, diverse Handschriften mit Übereinstimmungsgraden von 100 % oder 99 % am Beginn der Aufstellung (vgl. TuT-Apk, 544). Dass 1637 zur ComplutenseGruppe gehört, hat bereits Schmid festgestellt; Schmid, Untersuchungen I, 51; Schmid, Studien II, 28. 278 Eine ausführliche Erklärung zur Benutzung der ‚Gruppierung nach Übereinstimmungsquoten‘ findet sich in TuT-Apk, 60*‒63*.
Methodische Erläuterungen Tab. 3: Ausbau und Erläuterung der Gruppenliste in TuT-Apk Spalte
Kürzel
Erklärung
Sp.
Hs.
In Fettdruck steht in der ersten Spalte jeweils die betrachtete Handschrift.
Sp.
VHs.
Die zweite Spalte listet sämtliche relevanten Vergleichshandschriften (VHs.) zum betrachteten Objekt auf.
Sp.
Ü.ges.
Ausgehend vom betrachteten Objekt bietet die dritte Spalte die ‚Übereinstimmung gesamt‘ zwischen beiden Handschriften in Prozent.
Sp.
Ü.o.rM
Für die Übereinstimmungsberechnung der vierten Spalte wurden nur diejenigen Teststellen zugrunde gelegt, an denen die betrachtete Handschrift mit den Vergleichsobjekten übereinstimmt, ohne dass die betreffende Lesart zugleich von der relativen Mehrheit bezeugt wird. Die Spalte heißt darum treffend ‚Übereinstimmung ohne relative Mehrheit‘.
Sp.
A=
Die fünfte Spalte nennt die Anzahl der Zeugen, mit denen die Vergleichshandschrift denselben Übereinstimmungswert wie mit dem betrachteten Objekt aus Spalte aufweist.
Sp.
A>
Darauf aufbauend gibt die sechste Spalte die Zeugenzahl an, mit denen die Vergleichshandschrift stärker als mit der betrachteten Handschrift aus Spalte übereinstimmt.
Sp.
SoLA
In der siebten und letzten Spalte erscheint die Zusatzinformation, in wie vielen Sonderlesarten der betrachteten Handschrift die Vergleichshandschriften übereinstimmen. Der Wert wird als Quote angegeben: erste Ziffer Übereinstimmung, zweite Ziffer Gesamtzahl der Sonderlesarten der betrachteten Handschrift. Als Sonderlesarten gelten in dieser Auswertung solche Lesarten, die die Kennziffer oder höher in den Kollationsresultaten tragen und durch maximal Handschriften bekundet werden.
Um die für die Spalten ‚Ü.ges.‘ und ‚Ü.o.rM‘ relevanten Vergleichshandschriften herauszukristallisieren und die Informationen so auf das Wesentliche zu begrenzen, werden insgesamt vier Kriterien herangezogen:279 Kriterium 1: Es werden generell sämtliche Vergleichshandschriften aufgeführt, mit denen die betrachtete Handschrift zu 80 % oder höher übereinstimmt. Kriterium 2: Sollte die betrachtete Handschrift mit weniger als acht Vergleichsdokumenten übereinstimmen, die Kriterium 1 erfüllen, werden zumindest die acht mit den höchsten Übereinstimmungswerten aufgelistet.
279 Siehe dazu die Hinweise in TuT-Apk, 63*‒66*.
Bindefehler/-lesarten vs. Übereinstimmungsquoten
Kriterium 3: Falls die nach den Kriterien 1 und 2 aufgeführten Handschriften nicht ebenfalls die acht Vergleichsobjekte umfassen, mit denen die betrachtete Handschrift in der Auswertung ‚Ü.o.rM‘ die höchsten Übereinstimmungsquoten zeigt, werden die fehlenden Dokumente ergänzt. Um diese Ergänzung kenntlich zu machen, sind die entsprechenden Einträge kursiv abgedruckt. Kriterium 4: Außerdem wurden noch diejenigen Vergleichshandschriften berücksichtigt, die in zwei oder mehr Sonderlesarten mit der betrachteten Handschrift aus Spalte 1 zusammengehen. Anhand dieser Parameter lassen sich die Textzeugen der Apk gruppieren und die verschiedenen Gruppen charakterisieren.
. Bindefehler/-lesarten vs. Übereinstimmungsquoten Die Auswertungen von TuT-Apk auf der einen und Schmids Ergebnisse auf der anderen Seite können im technischen Sinne nicht direkt korreliert werden. Dies liegt an den grundverschiedenen methodischen Zugängen, auf die der Erkenntnisgewinn zurückgeht. Während Schmid seine Gruppen und Texttypen in erster Linie auf der Basis von Bindelesarten, die einer bestimmten Textform oder Handschriftengruppe zu eigen sind und anhand derer sie sich vom Rest der Überlieferung unterscheiden, definiert hat, arbeitet TuT-Apk nach dem Modell der quantitativen Analyse, indem sämtliche Handschriften an einer Auswahl von Stellen miteinander verglichen werden und basierend darauf ihre Verhältnisse zueinander durch Übereinstimmungsquoten beschrieben werden. Eine ebenso knappe wie klare Definition des Begriffs „Bindefehler“ legte Maas in seiner Textkritik vor, in der es wie folgt heißt: Die Zusammengehörigkeit zweier Zeugen (B und C) gegenüber einem dritten (A) wird erwiesen durch einen den Zeugen B und C gemeinsamen Fehler, der so beschaffen ist, daß aller Wahrscheinlichkeit nach B und C nicht unabhängig voneinander in diesen Fehler verfallen sein können. Solche Fehler mögen ‚Bindefehler‘ heißen (errores coniunctivi).280
Demnach bezeichnen Bindefehler spezifische Lesarten, die die Zusammengehörigkeit zweier Zeugen gegen einen dritten beweisen sollen. Von entscheidender Bedeutung, welche Fehler als Bindefehler in Betracht kommen, ist die Einschränkung, dass der betreffende Irrtum der beiden Zeugen nicht unabhängig passiert sein kann. So eingängig diese Definition auf den ersten Blick für die 280 Maas, Textkritik, 26.
Methodische Erläuterungen stemmatische Praxis erscheint, so problematisch ist sie mit Bezug auf die neutestamentliche Überlieferung. Zunächst stellt sich die Rückfrage, welche Fehler wirklich unabhängig begangen wurden. Denn mitunter lässt sich dies nicht sicher entscheiden, da die Variantenbildung an einer Stelle oder die vorfindliche Bezeugung verschiedenen Erklärungen ohne klares Urteil zulassen. Des Weiteren bereitet die Menge an variierten Stellen große Schwierigkeiten mittels Bindefehler zu einem eindeutigen Ergebnis über die Relation zweier Zeugen gegen einen dritten zu gelangen. Dies sei an einem einfachen Fall verdeutlicht: Die angenommene Überlieferung besteht aus drei Zeugen und drei variierten Stellen. Im ersten Fall gehen A und B gegen C zusammen, an der zweiten Stelle A und C gegen B und schließlich treffen im letzten Fall B und C gegen A zusammen. An allen drei Stellen liegt nach der Definition von Maas ein Bindefehler vor, d. h. die gemeinsame Abweichung zweier Zeugen gegen einen dritten kann nicht unabhängig voneinander erklärt werden (was in der Praxis selten zutrifft). Diese hypothetische Konstellation führt in das Dilemma, dass nunmehr alle drei Zeugen durch je einen gemeinsamen Bindefehler miteinander verbunden sind. Wie kann das Verhältnis der Zeugen auf der Basis von Bindefehlern nun noch adäquat beschrieben werden? Zugegebenermaßen wirkt die beschriebene Situation artifiziell, zumal sich Maas des Phänomens von Trennfehlern durchaus bewusst ist.281 Gleichwohl veranschaulicht sie ein Kernproblem der Überlieferung des Neuen Testaments: Kontamination. In den seltensten Fällen teilen Zeugen sämtliche Fehler eines anderen, sodass sich ihr stemmatisches Verhältnis eindeutig bestimmen ließe. Viel häufiger tritt als Folge der unzähligen Kopierprozesse der Umstand ein, dass sich die Relation der Zeugen durch putative Bindefehler nicht mehr sicher beschreiben lässt, weil sie sie im unterschiedlichen Ausmaß bewahrt haben. Ferner erweist sich als problematisch, dass sich einmal aufgekommene Fehler mitunter unkontrolliert in der Überlieferung verbreitet haben. Mit Blick auf die Transmission neutestamentlicher Schriften gilt die Regel: Je größer die Zahl angenommener Bindelesarten zweier Zeugen ausfällt, desto höher ist die Wahr 281 Maas, Textkritik, 26: „Die Unabhängigkeit eines Zeugen (B) von einem anderen (A) wird erwiesen durch einen Fehler von A gegen B […]. Solche Fehler mögen ‚Trennfehler‘ heißen (errores separativi)“. Weil Trenn- und Bindefehler sehr wohl nebeneinander auftreten können, entwickelte Maas verschiedene Modelle nach dem Wahrscheinlichkeitsprinzip, um zwei Zeugen stemmatisch zu verorten. Für Texte, die nur durch wenige Zeugen überliefert werden, mag dieser Weg der stemmatischen Praxis noch funktionieren, doch für massenhafte Überlieferungen wie der des Neuen Testaments gelangt er schnell an seine Grenzen. In der Menge der Zeugen mit einem Irrgarten an Binde- und Trennfehlern verliert man schnell die Orientierung und läuft Gefahr, keinen Ausweg zu finden.
Bindefehler/-lesarten vs. Übereinstimmungsquoten
scheinlichkeit, dass einzelne davon ebenso von dritten, vierten, fünften Zeugen usw. bezeugt werden. In etlichen Fällen stellt sich dann die Frage, ob eine gegebene Lesart tatsächlich eine Bindelesart zweier Zeugen oder nicht vielmehr eine breitbezeugte Textänderung darstellt. Schließlich entwickelte Maas seine Theorie im Bezugsrahmen von klassischen Texten, die durch weit weniger Zeugen tradiert werden als eine Schrift des Neuen Testaments. Insofern will die geäußerte Kritik an der Benutzung von Bindelesarten zum Nachweis von Zeugenrelation seinen Ansatz nicht gänzlich zu Grabe tragen, wohl aber dessen Applizierung auf die massenhafte Überlieferung des Neuen Testaments in Frage stellen. Nichtsdestotrotz bemühten und bemühen sich Textforscherinnen und Textforscher bis heute,282 die komplexe Überlieferung des Neuen Testaments mittels Bindelesarten zu gruppieren. Dabei wurde schon lange vor Maas die Überzeugung vertreten, die der große Textkritiker mit Bezug auf den Gruppenbegriff folgendermaßen auf den Punkt brachte: Man versteht darunter eine solche Zeugengruppe, die sich durch Bindefehler als anderen Zeugen gegenüber zusammengehörig erweist, deren innerer Aufbau jedoch als vorläufig belanglos unerörtert bleiben darf.283
Letztendlich war die Praxis, Handschriften aufgrund vermeintlicher Bindefehler zu gruppieren, längst vor Maas ausgeprägt und erfreute sich großer Beliebtheit. Als ihr größter Vertreter darf Soden gelten, der auf diese Weise die gesamte neutestamentliche Überlieferung aller Schriften zu ordnen versuchte.284 An keiner Stelle rekurrierte Schmid auf die Arbeit von Maas, wenngleich sie ihm wohl bekannt gewesen sein dürfte.285 Was die Gruppierung und Ordnung der Apk-Überlieferung angeht, steht Schmid offensichtlich in der Tradition Sodens,
282 Es sei hier exemplarisch auf den methodischen Ansatz der Cluster-Bildung verwiesen, um Zeugen des Neuen Testaments zu gruppieren. Siehe E. J. Epp, Textual Clusters: Their Past and Future in New Testament Textual Criticism, in: B. D. Ehrman/M. W. Holmes (Hgg.), The Text of the New Testament in Contemporary Research. Essays on the Status Quaestionis, Second Edition, NTTSD 42, Leiden/Boston 2014, 519–577, hier 566–567, 571. Wenngleich die Verwendung von Bindefehlern und die Definition von Texttypen hier in ein neues begriffliches Gewand gekleidet wird, stellt der Ansatz in letzter Instanz nichts anderes dar als den Versuch, Texttypen-Bildung durch Bindefehler zu plausibilisieren. 283 Maas, Textkritik, 30. 284 Zur Kritik an Soden siehe Wachtel, Byzantinische Text, 16–17. 285 Die wichtigen Überlegungen zu „Leitfehler und stemmatische Typen“ publizierte Maas das erste Mal im Jahr 1937 (P. Maas, Leitfehler und Stemmatische Typen, Byzantinische Zeitschrift 37 (1937), 289–294) und dann wieder mit der zweiten Auflage seiner Textkritik als Anhang I.
Methodische Erläuterungen ohne ihm dabei terminologisch zu folgen. Jeden seiner vier Hauptstämme der Apk-Überlieferung will Schmid durch die Auflistung ihrer jeweiligen Sonderbzw. Bindefehler begründen. Für den Koine- und Andreas-Text sind diese Listen noch sehr lang und umfassen bis zu 243 (Αν) bzw. 290 (K) mutmaßliche Bindefehler. Die Aufstellungen derselben für den A- und S-Text fallen dagegen schon deutlich kürzer aus oder verfolgen eine irreführende Argumentation. Für den AText gibt Schmid beispielsweise auch solche Lesarten als Bindefehler an, die seiner Meinung nach zugleich den „Urtext“ darstellen.286 Derartige Lesarten können nicht als Beweismittel für die Verwandtschaft von Zeugen angeführt werden; denn die Zeugen bekunden in diesen Fällen lediglich den ursprünglichen Text, den sie auch unabhängig voneinander zu bewahren vermochten, d. h. wie und aus welcher Herkunft sie die ursprünglichen Lesarten aufweisen, bleibt letztendlich völlig ungeklärt. Folglich erbringen sie keinen Nachweis über die Verwandtschaft der Zeugen, sondern sind nur ein Beleg für ihre Textqualität. Als äußerst schwierig erweist sich der Nachweis des S-Textes für den Schmid mit 01 und P47 nur zwei handschriftliche Zeugen anführt, von denen der Papyrus in nahezu der Hälfte des Textes fehlt. Dies hinterlässt bei genauerer Betrachtung den Eindruck, dass Schmid eine vermeintlich große Erkenntnis letztendlich auf der schmalen Basis weniger belastbarer Beweise zu stützen sucht.287 In Schmids Kollationslisten kommt ein weiteres Problem der Gruppendefinition auf der Grundlage von Bindefehlern zum Vorschein. In zahlenlosen Fällen werden mutmaßliche Bindefehler eines Stamms entweder nicht von sämtlichen Gliedern desselben bezeugt oder durch weitere Zeugen, die gar nicht dem betreffenden Stamm angehören und damit auch eigentlich nicht dessen Bindefehler aufweisen dürften. Da diese Bezeugungssituation nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, weckt sie vor allem mit Blick auf den behaupteten A- und S-Text hartnäckige Zweifel an der gesamten Argumentationsgrundlage. Für Zeugen, die ein außerordentlich hohes Maß an Kohärenz aufweisen (etwa die Vertreter der Complutense-Gruppe: siehe Teil II: 4.4), mag sich eine primäre Variantenschicht als Wortlaut des Gruppentyps herauskristallisieren und von sekundären Einflüssen abheben lassen. Allerdings bekunden nur we 286 Schmid, Studien II, 96: „Sind die Αν-K-Lesarten zum größten Teil Korrekturen, so stellen die von AC in ihrer überwiegenden Zahl mit Bestimmtheit oder doch wahrscheinlich den Urtext dar“. 287 Schmid vermochte lediglich 36 Stellen anzuführen, an denen sich P47 und 01 von den drei anderen Stämmen unterscheiden; siehe Schmid, Studien II, 112. Wohl mit der Intention seiner Beweisführung stärkeres Gewicht zu verleihen, extrapoliert Schmid sodann die Zahl der Bindefehler auf 110, wenn P47 vollständig erhalten wäre. Dieses Argument verfügt über keinerlei Beweiskraft, weil sich über das Zeugnis von P47 in den verlorenen Teilen nichts sagen lässt.
Bindefehler/-lesarten vs. Übereinstimmungsquoten
nige Handschriften der Apk ein solches Maß an Kohärenz, dass dies ohne Weiteres möglich ist. Für den weitaus größeren Teil der Überlieferung muss der Gruppenbegriff ausgedehnt werden, indem bereits die Bezeugung einiger Bindelesarten einer spezifischen Gruppe dessen Zugehörigkeit zu ebendieser erweist. In der Realität hat kaum eine Handschrift den vermeintlichen Texttyp, dem sie angehört, in reiner Form bewahrt; stattdessen finden sich in aller Regel auch Querverbindungen zu anderen Zeugen und Gruppen der Überlieferung außerhalb der primären Gruppenangehörigkeit. Wie Wachtel zutreffend festhält, „paßt das Variantenprofil vieler Handschriften zu verschiedenen Sequenzen von ‚Bindelesarten‘ angenommener Gruppen“.288 Abschließend bleibt auch mit Blick auf Schmid das Problem zu klären, welche Lesarten überhaupt als echte Bindefehler gelten können. Wie bereits erwähnt, tauchen viele von Schmids angeblichen Bindefehlern eines Texttyps ebenfalls in Zeugen auf, die er nicht zu den Repräsentanten dieses Stamms zählt. Ob diese Lesarten im methodischen Sinne noch als Bindefehler einer spezifischen Gruppe in Betracht kommen oder sie nicht vielmehr Varianten der Überlieferung sind, die sich auch in den Zeugen der vorausgesetzten Gruppe befinden, hängt nicht unwesentlich vom Betrachtungswinkel ab. Die geschilderte Problematik führt vor Augen, dass Schmids Gruppendefinition durch einen Kernbestand an Bindelesarten auf einem Zirkelverfahren gründet und sich dadurch erst verstetigen konnte. Die Abgrenzung der vier Apk-Stämme erfolgte auf systematischer Ebene so, dass im ersten Schritt eine bestimmte Lesart in einer spezifischen Konstellation von Zeugen auftritt. Was anfangs noch unverdächtig wirkt, nimmt schließlich eine konkrete Form an, indem dieselbe Handschriftenkonstellation auch an anderen Stellen einen identischen Wortlaut bietet und sich dabei wiederholt von anderen Zeugen unterscheidet. Auf diese Weise vermehrt sich der Grundstock an Bindelesarten zunehmend. Dabei wird aus der Zeugenkonstellation eine vermeintlich abgrenzbare Gruppe und die Lesarten der nunmehr vorausgesetzten Gruppe entwickeln sich zur Variantenschicht eines bestimmten Texttyps. Durch dieses Wechselverfahren hat Schmid (und andere vor ihm) die mutmaßlichen Texttypen der Überlieferung und deren Zeugen definiert. Dass die Bezeugung der einzelnen Varianten in der Realität aber viel komplexer ausfällt und längst nicht alle Handschriften an allen Stellen bei der angenommenen Gruppe stehen, tritt definitorisch stark in den Hintergrund bzw. spielt bei der Gruppenbildung kaum eine Rolle. Bei Schmid überwiegen letztendlich die verbindenden Lesarten alle trennenden Elemente im Gruppierungsverfahren. 288 Wachtel, Byzantinische Text, 17.
Methodische Erläuterungen TuT-Apk verfolgt hingegen das Modell der quantitativen Analyse aller Handschriften. Sämtliche Handschriften werden dazu an einer vorher festgelegten Auswahl an Stellen verglichen und ihre Relation durch Übereinstimmungsquoten abgebildet, indem der Grad an Kohärenz zwischen zwei Zeugen in Prozent ausgedrückt wird. Man mag auch mit Blick auf die Apk darüber diskutieren, ob die Zahl der Teststellen groß genug ist oder ob die ausgewählten Stellen sinnvoll und repräsentativ sind.289 Doch bietet dieses Verfahren für die Untersuchung der Apk-Überlieferung einen entscheidenden Vorteil, um Schmids Ergebnisse unabhängig und objektiv zu überprüfen – Bindelesarten spielen zur Bestimmung des Übereinstimmungsverhältnisses der Zeugen keine Rolle. Die Übereinstimmungsquoten bilden lediglich ab, an wie vielen Stellen zwei Zeugen denselben Wortlaut aufweisen bzw. sich durch verschiedene Varianten unterscheiden. Welche Varianten eventuell nur in einem bestimmten Überlieferungszweig auftreten respektive vornehmlich von diesem bezeugt werden, ist eine nachrangige Kategorie, wenngleich die Hauptlesarten der mehrheitsbildenden Gruppen in TuT-Apk im forschungsgeschichtlichen Sinne durch spezifische Kennbuchstaben ausgewiesen werden.290 Insofern lässt die vorliegende Untersuchung die Arbeiten von Schmid und die TuT-Daten in einen hochproduktiven Dialog eintreten, um die Zeugenrelationen und die daraus abgeleitete Textgeschichte der Apk zu überprüfen. Freilich ist auch die quantitative Auswertung der Zeugen in Hinsicht auf ihre Übereinstimmungswerte nur ein Aspekt, um ihre Relation zu ermessen. Gegenüber der Fixierung auf vermeintliche Bindefehler oder- lesarten besitzt die quantitative Auswertung den Vorteil, dass sie gewissermaßen objektiv ohne vorausgehende Selektion der betrachteten Lesarten erfolgt. Allerdings muss im zweiten Schritt die rein quantitative oder auch prägenealogische Übereinstimmung der Zeugen durch die Analyse der qualitativen oder auch genealogischen Relation ergänzt werden. Hierzu sind die bezeugten Varianten der Zeugen genauer zu betrachten und in Bezug auf ihre Entstehung, Bezeugung und Relation zu untersuchen. Erst dadurch ergibt sich ein Gesamtbild über die Abhängigkeiten und Zusammengehörigkeit der verschiedenen Zeugen.
289 P. Malik, P.Beatty III (P47): The Codex, Its Scribe, and Its Text, NTTSD 52, Leiden/Boston 2017, 12, gibt beispielsweise zu bedenken, dass die Zahl der vorhandenen Teststellen mit Blick auf P47 zu gering ausfällt, um den Zeugen sicher einschätzen zu können. Freilich hätte man bei der Auswahl der Stellen stärker berücksichtigen können, in welchen Textabschnitten der Papyrus vorhanden ist. Im Endeffekt besteht jedoch die Gefahr, dass Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn die Teststellenauswahl auf einen bestimmten Zeugen zugeschnitten wird. 290 Siehe dazu TuT-Apk, 13*–18*.
Zur Verwendung von Gruppensigla
. Zur Verwendung von Gruppensigla In TuT-Apk wird auf die Nutzung von Gruppensigla zur Dokumentation der Bezeugung verzichtet. Die vorliegende Arbeit folgt dieser Grundentscheidung prinzipiell, da die einzelnen Textzustände der Überlieferung im Vordergrund stehen sollen. Aus Platzgründen und um der Pragmatik willen, werden zur Wiedergabe der Koine-, Andreas-, und Complutense-Gruppe an manche Stellen im Text und vor allem in Kollationslisten folgende summarischen Sigla benutzt: Tab. 4: Verwendete Gruppen-Sigla Siglum
Bedeutung
KoiG
Koine-Gruppe insgesamt
KoiGHss
Koine-Handschriften (-)
KoiG
Mehrheit der Koine-Gruppe (korrespondiert mit KoiGpt)
KoiGpt
Teil der Koine-Gruppe, ab Handschriften oder mehr (korrespondiert mit KoiGM)
M
Analog zur Koine-Gruppe (KoiG) gilt dasselbe System für die Andreas-Gruppe (AndG) und die Complutense-Gruppe (ComG). Für die Interpretation der Sigla gilt grundsätzlich, dass sie ausdrücklich keine Texttypen repräsentieren. Aus diesem Grund werden auch nicht die von Schmid eingeführten Abkürzungen für den Koine-Text (K) und den Andreas-Text (Αν) benutzt. Die Gruppensigla stellen lediglich quantitative Abstraktionen der Bezeugung dar, um die in TuTApk nachgewiesene Evidenz in übersichtlicher Form darzustellen. Insofern ist ihre Verwendung auch kein Widerspruch zum Primat des Textzustands, da das System nur in Bezug auf die in TuT-Apk vollumfänglich dokumentiert Bezeugung Anwendung findet und somit leicht kontrolliert werden kann. In allen übrigen wird stets die Bezeugung exakt so dokumentiert, wie sie aus dem Referenzwerk ersichtlich ist.
. Die Kohärenzbasierte Genealogische Methode Jeder gegenwärtige Ansatz zu Theorie und Praxis der neutestamentlichen Textkritik basiert auf der Anwendung äußerer und innerer Kriterien („internal“ und
Methodische Erläuterungen „external criteria“) zur Textentscheidung,291 was ohne Einschränkung genauso für die CBGM gilt. Generell lässt sie sich als computergestütztes textkritisches Analyseverfahren definieren, welches äußere und innere Aspekte um ein drittes Kriterium zur Textrekonstruktion erweitert, nämlich das Merkmal von Kohärenz. Die Methode wurde am Institut für Neutestamentliche Textforschung in Münster federführend durch Gerd Mink entwickelt und verfolgt das Ziel, die Relation der überlieferten Texte aufgrund sämtlicher variierter Einzelstellen zu ergründen.292 Durch Nutzung der Computertechnologie und einem hochspezia 291 Während bei der äußeren Kritik bekanntlich das Alter der Handschriften, ihre geografische Herkunft und ihr allgemeines Gewicht eine Rolle spielen, werden im Zuge der inneren Kritik die Varianten philologisch untersucht und bewertet. Eine auf der klassischen Methodik aufbauende Mittelposition zwischen der Überbetonung von äußeren oder inneren Kriterien vertreten Gordon D. Fee und Michael W. Holmes mit dem sog. „Reasoned Eclecticism“; zur Einführung siehe G. D. Fee, Rigorous or Reasoned Eclecticism – Which?, in: E. J. Epp/G. D. Fee (Hgg.), Studies in the Theory and Method of New Testament Textual Criticism, SD 45, Grand Rapids, MI 1993, 124–140; M. W. Holmes, Reasoned Eclecticism in New Testament Textual Criticism, in: B. D. Ehrman/M. W. Holmes (Hgg.), The Text of the New Testament in Contemporary Research. Essays on the Status Quaestionis, Second Edition, NTTSD 42, Leiden/Boston 2014, 771–802. Es soll jede variierte Stelle für sich analysiert werden, wobei äußere und innere Kriterien soweit anwendbar in Kombination benutzt werden. Zudem wird eine Hypothese zur Filiation der Varianten aufgestellt, um die Genese der Einzelstelle zu beurteilen, was weitgehend der Erstellung der lokalen Varianten-Stemmata entspricht. Das Kriterium der Kohärenz spielt in diesem Ansatz allerdings keine Rolle. 292 Die Geschichte der CBGM beginnt in den 1970er Jahren mit der Idee von Kurt Aland eine neue Editio Critica Maior des Neuen Testaments zu erstellen und damit Tischendorfs Editio Octava abzulösen: K. Aland, Novi Testamenti Graeci Edition Critica Maior: Der Gegenwärtige Stand der Arbeit an einer neuen großen kritischen Ausgabe des Neuen Testaments, NTS 16 (1969), 163–177. Von der CBGM ist in diesem frühen Stadium zwar noch keine Rede, doch die Anwendung des Computers als zentrales Hilfsmittel zur Untersuchung aller Handschriften und Feststellung ihres Verwandtschaftsverhältnisses wird eigens betont (Aland, Testamenti, 168). Die erste Arbeit, die sich unter stemmatischen Gesichtspunkten mit der Frage nach den Beziehungen neutestamentlicher Handschriften beschäftigt, legte Gerd Mink 13 Jahre später vor: G. Mink, Zur Stemmatisierung neutestamentlicher Handschriften, in: H. Kunst-Stiftung (Hg.), Bericht der Hermann Kunst-Stiftung zur Förderung der neutestamentlichen Textforschung für die Jahre 1979–1981, Münster 1982. Diese kurze Studie markiert den Startpunkt dessen, was später die CBGM wurde. Während dieser Arbeiten reifte der Gedanke, nicht die Beziehung der Handschriften selbst, sondern die Relation der durch sie dokumentierten Texte zu untersuchen. So entstand die für die CBGM zentrale Differenzierung zwischen den Überlieferungsträgern und den durch sie tradierten Texten, die als eigentliche Zeugen für die Rekonstruktion angesehen werden. Als erste Frucht der neu entwickelten Methode darf das im Jahr 2000 publizierte Faszikel der ECM der Katholischen Briefe mit den beiden Petrusbriefen gelten. Mink gab der Einleitung einige Erklärungen zur neuen Kohärenzmethode bei und ergänzte sie in der Folgezeit durch zahlreiche Spezialaufsätze: G. Mink, Eine umfassende Genealogie der neutes-
Die Kohärenzbasierte Genealogische Methode
lisierten Auswertungsinstrumentarium wirkt die CBGM vergleichsweise komplex und bedarf gewisser Sonderkenntnisse zur Anwendung.293 Den Ausgangspunkt der CBGM bildet das lokale Prinzip, wonach zu jeder variierten Einzelstelle die Filiation der Varianten festgestellt und so eine Hypothese über die lokale Textgeschichte aufgestellt wird. Dieses Prinzip spielt bereits in der klassischen Einführung in die neutestamentliche Textkritik von K. und B. Aland eine große Rolle und wird gleich mehrfach unter den dort aufgeführten „Zwölf Grundregeln für die textkritische Arbeit“ thematisiert:294 Grundregel 6: Bei aller Hochschätzung der frühen Papyri, bestimmter Majuskeln und Minuskeln gibt es doch keine Einzelhandschrift und keine Gruppe von Handschriften, der man mechanisch folgen könnte, wenn auch bestimmte Kombinationen von Zeugen von vornherein mehr Vertrauen verdienen als andere. Vielmehr muß die textkritische Entscheidung von Fall zu Fall tamentlichen Überlieferung, NTS 39 (1993), 481–499; G. Mink, Textkritik; Mink, Problems; Mink, Contamination; G. Mink, Manuscripts, Texts, History, and the Coherence-Based Genealogical Method (CBGM): Some Thoughts and Clarifications, in: H. A. G. Houghton/D. C. Parker/H. Strutwolf (Hgg.), The New Testament in Antiquity and Byzantium. Traditional and Digital Approaches to its Texts and Editing – A Festschrift for Klaus Wachtel, Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung 52, Berlin/Boston 2019, 281–294. 293 Eine umfassende Einleitung in die CBGM mit diversen Anwendungsbeispielen ist T. Wasserman/P. J. Gurry, A New Approach to Textual Criticism. An Introduction to the CoherenceBased Genealogical Method, RBSt, Atlanta, GA 2017. Als profiliertester Kommunikator der neuen Methode ist Klaus Wachtel zu nennen, der ihre Prämissen und Arbeitsweise in diversen Beiträgen dargelegt hat: K. Wachtel, Reconstructing the Initial Text of the Editio Critica Maior of the New Testament Using the Coherence-Based Genealogical Method, oral presentation reported by P. Foster, Recent Developments and Future Directions in New Testament Textual Criticism: Report on a Conference at the University of Edinburgh, JSNT 29 (2006), 229–235; K. Wachtel, Towards a Redefinition of External Criteria: The Role of Coherence in Assessing the Origin of Variants, in: D. C. Parker/H. Houghton (Hgg.), Textual Variation: Theological and Social Tendencies? Papers from the Fifth Birmingham Colloquium on the Textual Criticism of the New Testament, TaS III 6, Piscataway/NY 2008, 109–127; K. Wachtel, The Coherence-Based Genealogical Method: A New Way to Reconstruct the Text of the Greek New Testament, in: J. S. Kloppenborg/J. H. Newman (Hgg.), Editing the Bible: Assessing the Task Past and Present, Atlanta 2012, 123–138; K. Wachtel, Constructing Local Stemmata for the ECM of Acts: Examples, TC 20 (2015), 1–15; K. Wachtel, The Coherence Method and History, TC 20 (2015), 1–6; K. Wachtel, The Development of the Coherence-Based Genealogical Method (CBGM), its Place in Textual Scholarship, and Digital Editing, in: G. V. Allen (Hg.), The Future of New Testament Textual Scholarship, WUNT 417, Tübingen 2019, 435–446; Wachtel, Methode. Wenngleich Mink der Begründer der CBGM ist, demonstrieren diese Beiträge einen enormen Sachverstand, mit dem Wachtel, die CBGM anwendet und erklärt. 294 Aland/Aland, Text, 284–285.
Methodische Erläuterungen neu erfolgen (lokales Prinzip). Die Herstellung eines Stammbaums der Lesarten bei jeder Variante (genealogisches Prinzip) ist ein überaus wichtiges Hilfsmittel, denn die Lesart aus der sich die Entstehung der anderen ohne Zwang erklären läßt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit die ursprüngliche. Grundregel 9: Varianten dürfen nicht isoliert behandelt, sondern es muß stets der Kontext der Überlieferung beachtet werden, sonst ist die Gefahr der Konstituierung eines „Textes aus der Retorte“, den es irgendwann und nirgendwo real gegeben hat, zu groß. Das Rückgrat aller Computerberechnungen und daran anknüpfenden Auswertungen bilden die sog. lokalen Stemmata,295 die nichts anderes als einen „Stammbaum der Lesarten“ zu jeder variierten Stelle verkörpern und damit das genealogische Prinzip aufgreifen. Schließlich sind die variierten Einzelstellen und die Gesamtüberlieferung reziprok aufeinander bezogen, indem die Auswertung der Handschriften und ihrer Relationen vom lokalen Befund aller variierten Stellen und diese wiederum aufeinander bezieht. Es wird nach der CBGM also kein „Text aus der Retorte“ konstituiert, sondern im Licht der Gesamtüberlieferung wird an den variierten Einzelstellen ermittelt, welche Varianten bruchloser bzw. kohärenter als andere überliefert werden. Grundregel 8:
.. Die Grundlagen der CBGM Um zu verstehen, warum Mink die CBGM entwickelte, muss man sich die Grundprobleme der neutestamentlichen Überlieferung und Editionspraxis vor Augen führen: Kontamination, zufällige Übereinstimmungen von Zeugen, inkonsistentes Vorgehen bei der Textkonstitution.
295 In Form und Ausmaß können die lokalen Varianten-Stemmata abhängig von der Einzelstelle ganz unterschiedlich ausfallen. In der einfachsten Form wird die Filiation zweier Varianten dargestellt: a > b oder b > a. Für die allermeisten Stellen werden die lokalen VariantenStemmata jedoch deutlich komplexer ausfallen; vielfach lassen sich weder sämtliche Varianten mit demselben Grundstamm verbinden noch für jede Variante eindeutig die Quellvariante ausfindig machen. Erläuterungen zum mitunter komplexen Aufbau eines lokalen VariantenStemmas anhand von 1Petr 5,10 finden sich bei Wasserman/Gurry, Introduction, 31 mit Fig. 2.4. Unklare Quellvarianten werden durch Fragezeichen (?) markiert, von der bestimmte Varianten mit weiteren Untervarianten abhängen können.
Die Kohärenzbasierte Genealogische Methode
... Kontamination und Zufälligkeit Nach Giorgio Pasquali ist bei vielkopierten Werken enorme Kontamination in den überkommenen Textzuständen keine Ausnahme, sondern ganz klar die Regel.296 Sie entsteht zum einen durch Lücken in der Überlieferung, weshalb sich die Zeugen nicht mehr unmittelbar verbinden lassen. Zum anderen kann der Text einer Handschrift auf mehrere unbekannte Vorlagen zurückgehen, wofür verschiedene Szenarien in Betracht kommen: Die Person, die die Abschrift angefertigt hat, kann 1) tatsächlich zwei reelle Vorlagen miteinander kombiniert, 2) Varianten aus der Erinnerung eingefügt oder 3) ursprüngliche Marginalien wie Korrekturen und Alternativlesarten in den Haupttext übernommen haben. Was das Aufkommen von Varianten im Zuge der Transmission betrifft, darf mit Hort davon ausgegangen werden, dass kein Schreiber bewusst („consciously“) eine schlechte anstelle einer guten Lesart in den Text einfügte.297 Nach den Worten des Theodosios waren Kopisten um die Reproduktion eines sinnvollen und korrekten Textes bemüht (siehe Teil I: 2.2.2).298 Anpassungen an den unmittelbaren Kontext einer variierten Stelle oder an Parallelformulierungen sowie Glättungen des Ausdrucks können ‒ müssen aber nicht notwendigerweise ‒ ein Hinweis für die nachrangige Entstehung einer Variante sein. Derartige Eingriffe können sich mehrfach unabhängig voneinander und ohne Benutzung einer reellen Vorlage wiederholt haben. Durch diesen Umstand nimmt der Grad an Kontamination beträchtlich zu, zumal der Ursprung der Varianten vielfach kaum mehr aufzuklären ist. Es gilt daher der Grundsatz: Je größer das Ausmaß der Variantenvermischung ausfällt, desto stärker nimmt der Kontaminationsgrad einer Kopie zu.
296 Siehe dazu die ausführlichen Ausführungen in G. Pasquali, Storia della tradizione e critica del testo, 2. Aufl., Florenz 1972, XV–XIX. 297 So Westcott/Hort, Introduction, 28. 298 Parker differenziert Varianten dahingehend, ob sie durch ‚bewusste (consciously)‘ oder ‚unbewusste (unconsciously)‘ Eingriffe ein den Text entstanden; Parker, Living Text, 37. Obwohl die Frage nach dem Aufkommen der Varianten aus exegetischer Sicht interessant sein kann, spielt sie aus Sicht der CBGM keine Rolle. Denn die Methode geht nicht dem Problem auf den Grund, welche Beweggründe einen Schreiber zur Textmodifikation veranlasst haben, sondern sie untersucht allein die Filiation der Varianten und das darauf basierende Verhältnis der Textzeugen. Theologiegeschichtliche oder stilistische Faktoren, die zu etwaigen Eingriffen in den Text führten, können helfen die Abstammung der Varianten festzustellen; ob die Schreiber dabei bewusst oder unbewusst agierten, steht auf einem anderen Blatt und wäre eigens zu untersuchen.
Methodische Erläuterungen Ein anschauliches Beispiel für das geschilderte Phänomen verkörpert der Codex Sinaiticus, dessen Text unzählige Korrekturen von verschiedenen Akteuren über die Jahrhunderte enthält.299 Nach welchen Quellen die Korrekturen vorgenommen wurden, verdeckt weitgehend das Dunkel der Geschichte. Wachtel beschreibt den Befund als „editing work in progress“, was ein Sinnbild für die „practice of ‘contamination’“ ist.300 Wenn ein Schreiber diesen Codex als Vorlage zur Reproduktion heranzog – was sogar mehrfach geschehen sein dürfte301 –, musste er sich nahezu auf jeder Seite entscheiden, welchen Text er kopierte: die ursprüngliche Abschrift oder die nachträgliche Korrektur. Da er sich wahrscheinlich mal für die eine und mal für die andere Option entschieden hat, verkörpert sein Produkt eine hochgradig kontaminierte Abschrift ohne eindeutige Vorlage. Wenn zwei Handschriften denselben Fehler bekunden und sich infolgedessen von anderen Überlieferungsträgern unterscheiden, spricht diese Übereinstimmung für den Tatbestand einer Abstammung von demselben Vorfahren. Das Schema „gemeinsamer Fehler“ als Beweismittel stemmatischer Abhängigkeiten funktioniert jedoch nur für Überlieferungen, in denen die Textzeugen nicht kontaminiert sind; sobald eine Tradition Kontaminationen aufweist, müssen identische Fehler keineswegs auf dieselbe Herkunft der Überlieferungsträger hindeuten. Zum einen können Textänderungen unabhängig voneinander entstanden sein und zum anderen können offensichtliche Fehler bei der Kopie durch den Schreiber verbessert worden sein, sodass das tatsächliche Abhängigkeitsverhältnis nicht mehr evident ist.302 ... Voraussetzungen und Zeugenrelation Die CBGM darf als Antwort auf die soeben beschriebenen Problemfelder gelten. Mithilfe computergestützter Auswertungsverfahren erforscht sie sämtliche relevanten Textzeugen, setzt sie in gerichtete Beziehungen und trägt so entscheidend dazu bei, Ursprung und Transmission des neutestamentlichen Textes
299 Die Summe der Korrekturen im Sinaiticus betreffen etwa 30 % des originären Textes. Zur Zahl der Korrekturen vgl. die Angaben bei Parker, Codex Sinaiticus, 3. 300 K. Wachtel, The corrected New Testament Text of Codex Sinaiticus, in: S. McKendrick/D. C. Parker/A. Myshrall/C. O’Hogan (Hgg.), Codex Sinaiticus: New Perspectives on the Ancient Biblical Manuscript, London 2015, 97–106, 101. 301 Wachtel (Codex Sinaiticus, 99) vertritt die These, dass der Codex als Zentralkopie zur Anfertigung weiterer Abschriften gedient hat. 302 Vgl. zu diesem Problem die Ausführungen und plastischen Grafiken in Wasserman/Gurry, Introduction, 23–24.
Die Kohärenzbasierte Genealogische Methode
tiefgreifend zu verstehen. Elementare Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen den Handschriften als physische Artefakte einerseits und der durch sie überlieferten Texte andererseits. Die CBGM verfolgt ausschließlich die Absicht, die verschiedenen Textzustände und nicht die Handschriften als solche in Beziehung zu setzen. Insofern ist der Begriff „Textzeuge“ dem Wortsinn nach zu verstehen; er meint den Text einer Handschrift im Unterschied zum Überlieferungsträger als solchem.303 Mit Blick auf die Bewertung der Textzustände geht Mink von vier Axiomen aus:304 – Ein Kopist will in erster Linie getreu überliefern und keine neuen Lesarten erfinden. – Wenn er durch neue Lesarten seine Vorlage verändert, dann am ehesten durch solche, die er aus einer anderen Vorlage kennt. – Ein Kopist wird eher wenige als viele Vorlagen benutzt haben. – Die Vorlagen werden sich eher ähnlich als unähnlich im Texttyp sein. Im Wesentlichen entsprechen diese Regeln der Abschreibpraxis, wie sie sich in der Handschriften-Tradition darstellt. Dass gelegentlich Ausnahmen davon begegnen, steht außer Frage. Allerdings können die Umkehrungen genannter Axiome keinesfalls als Grundlage einer Methode dienen, wie Mink mit Recht festhält.305 Die große Herausforderung besteht darin, die regelwidrigen Sonderfälle der Überlieferung frühzeitig zu erkennen und entsprechend gesondert zu beurteilen.306 Soweit es die Schreibergewohnheiten betrifft, sind die Erkenntnisse der neueren Forschung zu berücksichtigen. So weist James R. Royse anhand der bedeutsamen Papyri P45, P46, P47, P66, P72 und P75 nach, dass deren Schreiber/Schreiberinnen entgegen der allgemeinen Regel, wonach die lectio brevior zu bevorzugen sei, vornehmlich Wörter ausließen statt ergänzten.307
303 Auf die Wichtigkeit der Differenzierung zwischen Handschrift und Text für die Arbeit mit der CBGM und der Interpretation ihrer Ergebnisse weisen auch Wasserman/Gurry (Introduction, 3) hin. 304 Siehe Mink, Genealogie, 488. 305 Mink, Genealogie, 488. 306 Eine bemerkenswerte Ausnahme vom Regelfall bildet die Familie 1678 (F1678): Einige Handschriften dieser Familie enthalten abschnittsweise gegliedert und unmittelbar nacheinander stehend sowohl den Oecumenius- als auch den Andreas-Kommentar. Weil auch der Apk-Text eine Kombination aus Varianten dieser beiden Traditionen darstellt (siehe Teil III: 5), wurden zur Erstellung des Mischtextes F1678 mindestens zwei Vorlagen benutzt. 307 Siehe dazu die Ausführungen in J. R. Royse, Scribal Habits in Early Greek New Testament Papyri, NTTSD 36, Atlanta, GA 2008, 732–734.
Methodische Erläuterungen Folglich ist das Prinzip der kürzeren Lesart mit Vorsicht anzuwenden, da in Einzelfällen auch die längere Lesart den Ausgangstext darstellen kann. Juan Hernández bestätigt diese Tendenz für die Codices 01, 02 und 04 bei der Apokalypse.308 Obwohl diese Beobachtungen die Regel der kürzeren Lesart nicht außer Kraft setzen und sich bislang auf einen kleinen Ausschnitt der Überlieferung beschränken, mahnen sie zur differenzierten Betrachtung der Schreiberpraxis ‒ auch der Minuskeln. Unterm Strich stellt die CBGM ein zusätzliches Kriterium zur Textentscheidung dar, das sich ihrem Namen nach hinter dem Ausdruck „Kohärenz“ verbirgt. Grundsätzlich gibt Kohärenz die Übereinstimmung zweier Zeugen wieder, wobei ihr Verhältnis durch Beachtung ihrer Varianten näher spezifiziert werden kann. Aus diesem Grund untersucht die CBGM sämtliche variierte Stellen zweier Zeugen und nutzt deren Relation, um das Kohärenz-Verhältnis der beiden Textzustände näher zu beschreiben. Die Texte zweier Zeugen A und B können wie folgt in Beziehung stehen: – Sie stimmen überein (A = B), – Zeuge B hängt von A ab bzw. A geht B voraus (A → B) oder umgekehrt (A ← B) oder – das Verhältnis ist unklar (A -?- B). Der Neuansatz der CBGM besteht darin, aufgrund der jeweils bezeugten Varianten die Abhängigkeit, d.h. die Richtung der Textentwicklung zwischen zwei Zeugen zu ermitteln, um letztlich ihre Relation zu bestimmen.309 ... Arbeitsweise und Rekonstruktionsziel Anders als es in Folge der Technisierung den Anschein macht, basiert die CBGM essenziell auf klassischen textkritischen Erwägungen. Die Grundlage aller weiteren Methodenschritte bilden die Entscheidungen, wie die Varianten an den Einzelstellen in Beziehung gesetzt werden. Diese Arbeit erfolgt ohne Mithilfe des Computers allein durch die/den Textkritiker*in, die ein Urteil über die Genese der Varianten durch Anwendung der traditionellen äußeren und inneren Kriterien fällen. Unterstützt durch den Computer werden aufgrund dieser individuellen Entscheidungen zur Relation der Varianten die Verhältnisse der Textzustände erforscht. Das Ziel besteht darin, diese Textbeziehungen zur Profilierung der Zeugen zu nutzen und so zu einer validen Textkonstitution zu
308 Hernández, Scribal Habits, 194–196. 309 Siehe dazu auch die Hinweise bei Wasserman/Gurry, Introduction, 4.
Die Kohärenzbasierte Genealogische Methode
gelangen.310 Insofern kombiniert die CBGM auf einmalige Weise subjektive und objektive Informationen, um durch die Verknüpfung von Texten einen zusätzlichen Faktor – nämlich das Kohärenz-Kriterium – für die Textkonstitution zu gewinnen. Um den Mehrwert der CBGM ermessen zu können, muss definiert werden, was Kohärenz in diesem Zusammenhang meint und welche Zielsetzungen damit verfolgt werden. Mink äußert sich wie folgt dazu:311 Jeder Zeuge einer Überlieferung besitzt eine genealogische Kohärenz mit seinen nächsten Verwandten. Wenn man von Verwandtschaft von Zeugen spricht, definiert man sie durch deren Übereinstimmungen. Sie haben eine prägenealogische Kohärenz, eine Kohärenz, die noch keine genealogische Richtung verrät. Die genealogische Kohärenz wird jedoch definiert durch Übereinstimmungen und Divergenzen. […] Genealogische Kohärenz (oder ihr Mangel) ist damit zunächst einmal eine Eigenschaft von Zeugenpaaren. Mehrere Zeugen (etwa einer Lesart) können durch die genealogischen Kohärenzen von Zeugenpaaren eine Kette oder Netz solcher Kohärenzen bilden. Nicht aufgrund von Übereinstimmungen, sondern aufgrund von Divergenzen läßt sich ein genealogisches Verhältnis von Zeugen qualifizieren. […] Genealogische Kohärenz ist somit auch eine Eigenschaft von Zeugenmengen, die jedoch nur über die Kohärenz von Zeugenpaaren zu ermitteln ist. Genealogische Kohärenz sagt also etwas über die Möglichkeit der engeren genealogischen Abhängigkeit von Zeugen und innerhalb von Zeugenmengen aus. Sie ist nicht identisch mit einer stemmatischen Kohärenz, dem definitiven Zusammenhang von Zeugen in einem Stemma […].
Kohärenz beschreibt also zum einen das Ausmaß der Übereinstimmung zwischen zwei Zeugen und zum anderen ihr genealogisches Abhängigkeitsverhältnis, wie es sich aus der Relation der bezeugten Varianten ergibt. Für die konkrete Beurteilung von Varianten bedeutet dies, dass sie sich aufgrund ihrer Bezeugung als mehr oder minder kohärent überliefert erweisen und dementsprechend zu gewichten sind. Als kohärent überliefert gelten Varianten, deren Zeugen in enger genealogischer Beziehung stehen, d.h. deren Bezeugung durch eine hohe genealogische Kohärenz geprägt ist. Demgegenüber erscheinen Varianten als inkohärent tradiert, wenn ihre Zeugen in schwacher oder keiner genealogischen Verbindung stehen und ihre Bezeugung damit den Stempel gesteuerter oder unzureichender Kohärenz trägt. Als weitere Besonderheiten der CBGM sind der methodische Umgang mit textlichen Unsicherheiten und der Verzicht auf Texttypen zur Bewertung der Handschriften zu nennen. Die Anwendung der CBGM bei den Katholischen Briefen zeigt, dass die den Text verant-
310 Wasserman/Gurry (Introduction, 5) geben das Ziel der CBGM folgendermaßen an: „That goal is to leverage textual relationships to evaluate witnesses and decide between their variants“. 311 Mink, Textkritik, 40.
Methodische Erläuterungen wortenden Personen wiederholt zu keiner eindeutigen Textrekonstruktion gelangte; derartige Stellen sind durch eine geteilte Leitzeile und einem Rautesymbol im Apparat markiert.312 Die Gründe für die offenen Textkonstitutionen mögen unterschiedlich sein, der Umstand markiert jedoch eine paradoxe Entwicklung. Die Beachtung von Kohärenz führt offenbar zu mehr Unsicherheiten bei der Textkonstruktion bzw. zu einem gesteigerten Bewusstsein für die Unwägbarkeiten der Überlieferung, die sich trotz oder gerade wegen der ausgefeilten Methodik nicht bewältigen lassen. Der Verzicht auf TexttypenHypothesen bedeutet einen Bruch mit der bisherigen Textforschung, die diese Modellierungen vorzugsweise zur Aufklärung der Textgeschichte benutzte. Die CBGM verbindet stattdessen die einzelnen Textzeugen direkt miteinander, wobei bestimmte Gruppenbildungen und übergreifende Zusammenschlüsse nicht ausgeschlossen sind; so bestätigt sie etwa den Byzantinischen Text der Katholischen Briefe wie Apostelgeschichte und führt sogar zu einer Aufwertung dieser Texttradition mit stärkerem Einfluss auf die Textkonstitution.313
Insgesamt beschreitet die CBGM einen neuen Weg zur Untersuchung der Handschriften und Rekonstruktion des Textes. Sie bietet damit eine große Chance auch die Textgeschichte der Apokalypse unter anderem Blickwinkel zu betrachten und auf diese Weise dem ungeklärten Verhältnis diverser Textzeugen auf den Grund zu gehen. Dabei wäre ebenfalls zu prüfen, ob und inwiefern die CBGM gegenüber den Unschärfen bei Schmid konsistentere Erklärungen für die Textgeschichte liefert. Zur Vermeidung falscher Erwartungen sei angemerkt, dass die Methode nicht den Entwurf einer Gesamttheorie über die reelle Textgeschichte einer neutestamentlichen Schrift zum Ziel hat; sie fahndet stattdessen nach genealogischen Strukturen in der Entwicklung von frühen zu späteren Textzuständen.314 Insofern deckte die CBGM die genealogische Verbreitung der Varianten innerhalb der Überlieferung auf, um auf diesem Wege zu einem möglichst begründeten Urteil für die Rekonstruktion des Ausgangstextes zu gelangen.
312 Weitere Erläuterungen: Strutwolf, et al., ECMActa I, 9*; ferner Wasserman/Gurry (Introduction, 6–7), die für die Katholischen Briefe insgesamt 155 Stellen mit geteilter Leitzeile zählen. Davon sind allerdings nur fünf Fälle mit unsicheren Textkonstitutionen in Nestle-Aland27 identisch. Demnach haben editorische Unsicherheiten nicht nur zugenommen, sondern sich auch auf andere Stellen verschoben. 313 Die ECM der Apostelgeschichte vollzieht 36 der insgesamt 52 Textänderungen gegenüber Nestle-Aland28 in Übereinstimmung mit dem Zeugnis der Handschriftenmehrheit. Das Editionsteam vertritt die These, dass der Mehrheitstext zwar Textglättungen aufweise, doch stehen dem ebenso viele Fälle gegenüber, in denen „die tatsächlich schwierigere Variante die des Mehrheitstextes“ ist. Siehe dazu Strutwolf, et al., ECMActa I, 15*. 314 Grundlegend dazu Wachtel, Coherence Method, 4–6.
Die Kohärenzbasierte Genealogische Methode
.. Zwei Typen von Kohärenzen Die CBGM arbeitet mit zwei Formen von Kohärenzen, die als Prägenealogische und Genealogische Kohärenz bezeichnet werden. Grundsätzlich gilt, dass nur solche Zeugen genealogische Kohärenz haben können, die auch prägenealogisch kohärent sind, d.h. hohe Übereinstimmungswerte miteinander aufweisen.315 ... Prägenealogische Kohärenz Mit Blick auf die Prägenealogische Kohärenz handelt es sich strenggenommen um keine wirkliche Neuerung, sondern entscheidend ist ihre Verwendung innerhalb der CBGM. Sie untersucht das Verhältnis zweier Zeugen an allen variierten Stellen, wo sie vorhanden sind und lesbaren Text bieten, und gibt ihren Grad der Übereinstimmung in Prozent an. Prägenealogische Kohärenz meint also die quantitative Analyse der Textzeugen im Hinblick auf ihre gegenseitigen Übereinstimmungsverhältnisse und arbeitet rein statistisch ohne Wertung der einzelnen Varianten. Das verglichene Material enthält nach Mink „noch keine positiven genealogischen Informationen“316, doch sie erlaubt eine Aussage über die Nähe und Ferne von Zeugen zueinander. Hierbei handelt es sich um „eine nicht gerichtete, prägenealogische Kohärenz, die besagt, ob hier auch genealogische Kohärenz möglich ist“317. Insofern sind die in TuT-Apk gesammelten Daten in den Vergleichslisten und Gruppierungen nach Übereinstimmungsquoten mit dem vergleichbar, was die CBGM als prägenealogische Kohärenz bezeichnet und lassen sich somit in der vorliegenden Arbeit auch demgemäß verwenden. Die Ermittlung des Übereinstimmungsgrades zwischen zwei Textzeugen bildet jedoch nur einen Teilaspekt der prägenealogischen Kohärenz; es lässt sich auf diesem Wege ebenfalls feststellen, wie kohärent die einzelnen Varianten bezeugt werden. Es gilt der Grundsatz: Je kohärenter eine Variante bezeugt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf eine Quelle zurückgeht und umso größer ist ihre Bedeutung einzuschätzen.318 Um den Grad an Kohärenz der Bezeugung für jede Variante zu eruieren, werden die nächsten Verwandten eines jeden Zeugen betrachtet und geprüft, ob sie dieselbe Variante lesen; auf je weniger nächstverwandte Textzeugen dies zutrifft, desto schlechter 315 Dazu Mink, Problems, 33. 316 Mink, Textkritik, 49. 317 Mink, Textkritik, 49. 318 Siehe Wasserman/Gurry, Introduction, 42–43.
Methodische Erläuterungen ist die Kohärenz einer Variante. Ein niedriger Kohärenzgrad deutet entweder darauf hin, dass die Variante mehrfach unabhängig voneinander entstanden ist oder überaus nachlässig kopiert wurde – sie kann also kein großes Gewicht haben. Insofern leistet die Beachtung von prägenealogischer Kohärenz bereits einen wesentlichen Beitrag im textkritischen Entscheidungsprozess. Sie zeigt an, wie eng zwei Textzeugen in Verbindung stehen, und bezieht dies auf die Bezeugung jeder Variante. Besonders solche Varianten, deren Bezeugung inkohärent ausfällt, sollten kritisch betrachtet werden, da sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach mehrfach unabhängig herausgebildet haben respektive unzuverlässig kopiert wurden. ... Genealogische Kohärenz Die Feststellung Genealogischer Kohärenz baut auf der Prägenealogischen Kohärenz auf, indem sie die Richtung der Beziehung zweier Textzeugen untersucht. Es werden dazu generell vier Modalitäten differenziert, wie sich zwei Textzeugen zueinander verhalten können:319 – Textzeuge A ist mit Textzeuge B identisch (A = B). Dieser Wert entspricht der prägenealogischen Kohärenz. – Textzeuge A hat gegenüber Textzeuge B die prioritäre Variante (A → B); d.h. die Variante von A geht derjenigen von B voraus. – Textzeuge A hat gegenüber Textzeuge B die posterioritäre Variante (A ← B); d.h. die Varianten von A basiert auf derjenigen von B. – Das Verhältnis zwischen Textzeuge A und Textzeuge B ist aus verschiedenen Grün-den unklar (A ? B). Die genealogische Richtung zwischen zwei Zeugen ergibt sich aus den Hypothesen der lokalen Textentwicklungen jeder variierten Stelle. Den lokalen Varianten-Stemmata kommt also eine zentrale Rolle bei Feststellung von genealogischer Kohärenz zu.320 Die Masse der Informationen, die zur Ermittlung der genealogischen Kohärenz erforderlich ist, kann nur auf elektronischem Wege bewältigt werden. In einer computergestützten Datenbank wird für sämtliche variierte Stellen erfasst, inwiefern sich jede Variante prioritär oder posterioritär 319 Zu den obigen Modalitäten zur Beschreibung der genealogischen Relation zweier Textzeugen siehe Mink, Problems, 35‒6; Wasserman/Gurry, Introduction, 28. 320 Nach Mink, Genealogie, 483, sind „mit solchen lokalen Hypothesen über die Entwicklung der Lesarten sehr indirekt auch Aussagen gemacht über die Geschichte der Textzustände, die in den Handschriften repräsentiert sind“.
Die Kohärenzbasierte Genealogische Methode
im Vergleich zu den übrigen Varianten verhält, und welche Zeugen die einzelnen Varianten dokumentieren. Gemäß Wachtel bildet die Genealogische Kohärenz eine textkritischphilologisch fundierte Hypothese über die Beziehung zweier Textzustände auf Basis der Varianten-Relationen, wie sie sich aus sämtlichen variierten Einzelstellen ergibt.321 Im Detail kann das Verhältnis zweier Textzustände wie folgt beschrieben werden:322 Tab. 5: Mögliche Verhältnisse zweier Textzeugen Lesartenrelation an einer variierten Stelle
Beziehung der Textzustände (Tz)
Zwei Handschriften xHs und yHs bezeugen dieselbe Variante.
Die Textzustände xTz und yTz sind an dieser Stelle Prägenealogisch verwandt.
Die von yHs bezeugte Variante ging aus der von xHs bezeugten Variante hervor.
Der Textzustand xTz verhält sich an dieser Stelle prioritär zu yTz. Daraus folgt: Feststellung der Priorität von xTz und Posteriorität von yTz.
Umgekehrt: Die von xHs bezeugte Variante ging aus der von yHs bezeugten Variante hervor.
Der Textzustand yTz verhält sich an dieser Stelle prioritär zu xTz. Daraus folgt: Feststellung der Priorität von yTz und Posteriorität von xTz.
Die Lesartenrelation zwischen xHs und yHs ist unklar bzw. nicht gegeben.
Diese Stelle leistet keinen Beitrag zur Aufklärung der Relation der beiden Textzustände xTz und yTz.
Die Variante von zHs ist eine Mischform und basiert auf zwei Varianten von xHs und yHs.
Der Textzustand zTz verhält sich an dieser Stelle sowohl zu xTz als auch zu yTz posterioritär; beide prioritären Textzustände xTz und yTz sind zur genealogischen Erklärung von zTz heranzuziehen.
Für das genealogische Verhältnis resultieren daraus drei mögliche Szenarien: Wenn Situation a) eintrifft, ist xTz der potenzielle Vorfahre von yTz; wenn Situation b) eintrifft, ist das Verhältnis genau umgekehrt; und bei Situation c) besteht im genealogischen Sinne kein eindeutiges Verhältnis, da es sich in keine bestimmte Richtung bewegt. Die Intensität des gerichteten Verhältnisses bestimmt den Grad der Kohärenz: Je höher der Grad an Übereinstimmung zwischen zwei Zeugen ausfällt und je weniger das Verhältnis in eine bestimmte Richtung weist, desto höher liegt die Wahrscheinlichkeit von Kohärenz zwischen den betrachteten Textzeugen: 321 Siehe dazu Wachtel, Coherence Method, 3. 322 Mit einigen Modifikationen basiert die Tabelle auf Wachtel, Byzantinische Text, 489.
Methodische Erläuterungen Tab. 6: Schema zur Zeugenrelation Situation
Zeuge x
Textfluss
Zeuge y
Verhältnis
a
Qv+
→
Qv-
Zx → Zy
b
Qv-
←
Qv+
Zx ← Zy
c
Qv+/-
=
Qv+/-
Zx = Zy
Als potenzielle Vorfahren eines Zeugen A kommen also vor allem solche Zeugen B in Betracht, die ein hohes Maß an Übereinstimmung zu A aufweisen und die zugleich einen höheren Anteil an prioritären als posterioritären Varianten gegenüber A bekunden.323 Zweifellos handelt es sich bei der Feststellung genealogischer Kohärenz um ein komplexes Verfahren. Dabei liefert genealogische Kohärenz keine absoluten, sondern in jeder Hinsicht relative Ergebnisse. Schon die Filiation der Varianten auf Ebene der lokalen Varianten-Stemmata wird nach klassischen textkritisch-philologischen Erwägungen ermittelt und ist damit zu einem Großteil durch menschliche Entscheidungen bestimmt. Schließlich bildet Genealogische Kohärenz eine Form von Evidenz zur textkritischen Beurteilung; andere auf konventionellem Wege erzielte Einsichten zur Überlieferung werden dadurch keineswegs obsolet. Beide Bereiche müssen aufeinander bezogen werden und sich nach Möglichkeit ergänzen; die Daten der Genealogischen Kohärenz sind in unser Wissen über die Textgeschichte, das Schreiberverhalten und die Rezeption des Neuen Testaments zu integrieren bzw. umgekehrt, sodass ein wechselseitiger Diskurs stattfindet.
. Aufbau und Zielsetzungen Der Aufbau der Arbeit ist denkbar simpel: Im ersten Analyseteil werden die Handschriften der Apk im Hinblick auf ihren Zeugenwert erschlossen und zur Vorstrukturierung der Überlieferung soweit möglich gruppiert. Als materielle Basis dienen dazu die beschriebenen Auswertungslisten von TuT-Apk. Dabei wird hier keine eigenständige Gruppierung der Handschriften vorgeschlagen, sondern das bestehende und bewährte System von Schmid grundsätzlich über-
323 Sobald sämtliche relevanten Daten erhoben sind, können die nächsten Verwandten zu jedem Zeugen inklusive der Textflussdaten in tabellarischer Form aufgelistet werden: Wasserman/Gurry, Introduction, 83.
Aufbau und Zielsetzungen
nommen. Das Ziel besteht sodann darin, diese Gruppierung anhand der Daten aus TuT-Apk kritisch zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Es werden sich viele Details von der Bewertung einzelner Zeugen bis zu ihrer Gruppierung ändern. Zum einen sind im TuT-Band diverse Handschriften berücksichtig, die Schmid noch unbekannt waren, und zum anderen stellt die quantitative Auswertung des Materials die Einschätzung der Zeugen auf eine neue Grundlage. Die Auswertung von TuT-Apk demonstriert gewissermaßen, dass das darin versammelte Datenmaterial weitaus mehr Möglichkeiten für die textkritische Forschung bereithält, als nur die Auswahl der für die ECM der Apk relevanten Zeugen zu fundieren. Zudem bereitet die Analyse der Textzustände und ihre Gruppierung inhaltlich den zweiten Analyseteil vor. Im zweiten Analyseabschnitt steht die Entwicklung des Apk-Textes im Mittelpunkt. Dazu wird die CBGM in Teilen angewendet, fungiert aber in erster Linie als erkenntnisleitendes Prinzip. Die methodischen Voraussetzungen der CBGM sowie ihre textgeschichtlichen Prämissen (Skepsis gegenüber Bindelesarten und Verzicht auf Texttypen) sind der ideale Wegbereiter, um zu einer neuen Darstellungsweise der Apk-Überlieferung zu gelangen. Wie Schmid schon festgestellt hat, betrifft das Kernproblem der Apk-Überlieferung die Relation der Zeugen zueinander. Schmid ist dabei von vier Texttypen ausgegangen, die offensichtlich in vielfältigen Verbindungen stehen. Er hat das Phänomen wohl feststellen können, aber es wegen der Komplexität der Beziehungen nicht lösen können. Die Ursache für seine Schwierigkeiten, das Beziehungsgeflecht zu lösen, liegt in seiner Texttypentheorie selbst begründet. Das System wird der Überlieferung schlicht nicht gerecht, weil es die vorherrschende Kontamination zu stark vereinfacht. Aus diesem Grund folgt die vorliegende Arbeit den denkerischen Voraussetzungen der CBGM und verzichtet zur Erklärung der Textgenese auf die Annahme irgendwelcher Texttypen. Stattdessen setzt sie bei den einzelnen Textzuständen an und geht von deren verschiedenen Relationen aus, um eine konsistentere Darstellung der Apk-Überlieferung zu entwickeln. Im gegebenen Rahmen ist nicht möglich, sämtliche Textzustände in dieser Hinsicht zu untersuchen. Dies ist auch gar nicht erforderlich, um die wesentlichen Leitlinien der Textgenese herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck genügt es, für den Entwicklungsverlauf maßgebliche Textzustände auszuwählen und diese eingehend zu untersuchen. Auf der Grundlage von TuT-Apk und der fundierten Durchsicht des gesamten Handschriftenmaterials im vorangegangenen Hauptteil lässt sich diese Auswahl gut realisieren und plausibel begründen. Dass zu dieser Auswahl die mutmaßlich ältesten Textzustände P47, 01, 02 und 04 gehören, liegt auf der Hand und bedarf keiner näheren Begründung. Ebenso wird 025 zur Auswahl der wichtigsten Textzustände der Apk-Überlieferung zählen,
Methodische Erläuterungen da der Zeuge einen alten und überlieferungsgeschichtlich zentralen Text bietet. Dazu kommen von den Minuskeln mit einem hohen Anteil an potenziell alten Lesarten (LA-2 und LA-2mS) primär solche Textzustände, die möglichst vollständig erhalten sind und durch ihre besonderen Textprofile herausstechen (1006, 1611, 2053 und 2846). Außerdem werden noch 2019 und 2351 berücksichtigt, obwohl sie nicht vollständig erhalten sind. Ihre Auswahl begründet sich dadurch, dass sich ihr Zeugnis für den Entwicklungsverlauf zur Koine- und Andreas-Tradition als besonders relevant erweist. Aus der Koine-Tradition werden die beiden Textzustände 82 und 367 ausgewählt, da sie das obere bzw. untere Ende des Variantenspektrums dieser Texttradition abbilden. Um dasselbe für die Andreas-Tradition zu gewährleisten, werden mit 1876, 2055 und 2081 insgesamt drei wesentliche Textzustände ausgewählt – je einer für die drei Hauptphasen der Traditionsbildung. Um die Apk-Überlieferung auf diese Weise darzustellen, müssen einige basale Vorarbeiten erledigt werden. Zunächst gilt es die lokalen VariantenStemmata zu allen 123 Teststellen zu erstellen. Dabei wird die Textkonstitution von NA28 als vorläufige Hypothese über den Ausgangstext anerkannt und darauf basierend das Stemma zu jeder Einzelstelle konstruiert. Bei Stellen mit unentschiedener Textkonstitution, wird der Ausgangstext im Stemma ebenfalls offengelassen. Die Wahl von NA28 bietet zwei wichtige Vorteile für die Untersuchung. Zum einen gewährleistet sie die allgemeine Kontrollierbarkeit der Ergebnisse. Zum anderen fungiert NA28 als Referenzpunkt, auf dessen Grundlage eigene Entscheidungen den neuen Erkenntnissen gemäß profiliert werden können. Aus diesem Grund werden zu einigen Teststellen alternative Stemmata mit einem neuen Vorschlag über den Ausgangstext konstruiert. Anschließend werden sämtliche ausgewählte Textzustände an den Teststellen auf Basis der konstruierten Varianten-Stemmata miteinander verglichen, um im Sinne der CBGM ihre gegenseitige Relation zu erheben. Die Dokumentation der Relation erfolgt in tabellarischer Form nach dem Vorbild Minks bzw. des Tools „Comparison of Witnesses“.324 Alle genannten Vorarbeiten werden zur Entlastung des Leseflusses im Anhang vorgehalten. Schließlich wird die Entwicklung aller ausgewählten Textzustände ausgehend von dem Ergebnis der genannten Vorarbeiten ausführlich beleuchtet und dargestellt. Wie den Ausführungen entnommen werden kann, verfolgt die Arbeit keine vollumfängliche Anwendung der CBGM. Vielmehr bedient sie sich diesem Verfahren als erkenntnisleitendes Prinzip und benutzt gezielt ausgewählte Metho 324 Für ECM der Apostelgeschichte ist das besagte Tool über folgenden Link im Internet zugänglich: http://intf.uni-muenster.de/cbgm/actsPh3/Comp4.html, zuletzt abgerufen 24.03.2023.
Aufbau und Zielsetzungen
denschritte, um eine neue Darstellung der Apk-Überlieferung zu entwerfen. Es handelt sich also gewissermaßen um eine an der Textgeschichte orientierte Teilanwendung der CBGM. Eine zentrale Rolle kommt dabei den lokalen Varianten-Stemmata zu, die zu den Teststellen erstellt werden. Das lokale VariantenStemma fällt in seinem Aufbau vergleichsweise simpel aus und hat die Funktion, sämtliche Varianten einer variierten Stelle in Verbindung zu setzen, d.h. die wahrscheinliche Filiation der Varianten abzubilden. Auf diese Weise entsteht eine Hypothese über die lokale Textentwicklung. Wenn also alle lokalen Varianten-Stemmata zusammengenommen werden, bilden sie gewissermaßen die gesamte Textgeschichte einer neutestamentlichen Schrift ab. Die Filiation der Varianten wird zu jeder Einzelstelle maßgeblich aufgrund philologischer Arbeit im Sinne der inneren Kritik durchdacht, d. h. die Erstellung der lokalen Varianten-Stemmata bedient sich substanziell der klassischen textkritischen Arbeitsweise.325
Abb. 1: Bsp. für lokale Varianten-Stemmata
In Form und Ausmaß können die lokalen Varianten-Stemmata abhängig von der Einzelstelle ganz unterschiedlich ausfallen. In der einfachsten Form wird die Filiation zweier oder dreier Varianten wie in der obigen Grafik dargestellt; für die allermeisten Stellen werden die lokalen Varianten-Stemmata jedoch deutlich komplexer ausfallen. Vielfach lassen sich weder sämtliche Varianten mit demselben Grundstamm verbinden noch für jede Variante eindeutig die Quellvariante bestimmen.326 Unklare Quellvarianten werden durch Fragezei 325 Siehe dazu die deutlichen Worte gegen das Missverständnis der CBGM als textkritischer Datenautomat in Wasserman/Gurry, Introduction, 31. 326 Ein Beispiel zu einem komplexen lokalen Varianten-Stemma in Wasserman/Gurry, Introduction, 31 mit Fig. 2.4.
Methodische Erläuterungen chen (?) markiert. Wenngleich der Ausgangspunkt der Überlieferung für eine ganze variierte Stelle oder einen Teil der bezeugten Varianten unklar ist, kann die Filiation der übrigen, davon abhängigen Varianten soweit möglich dennoch festgestellt werden. Die Arbeit lässt also eine in vielerlei Hinsicht neue Darstellung der ApkÜberlieferung erwarten. Insgesamt wird sie zu einer konsistenteren Erklärung über den Entwicklungsverlauf der Apk führen, indem präjudizierte Texttypen für die Argumentation keine Rolle spielen und stattdessen die vielfältigen Verbindungen der einzelnen Textzustände als textgeschichtliche maßgebliche Kennzeichen der Überlieferung ausgewertet werden. Dabei zeichnen sich die Textzustände durch ein ihnen spezifisches Profil an Varianten aus. Dieses Textprofil erlaubt wiederum, sich ähnelnde Textzustände zu erkennen und diese mitunter in einem gemeinsamen Traditionsstrom zu verorten. Der Aspekt des Textprofils besitzt vor allem mit Blick auf die Genese der Koine- und AndreasTradition große Relevanz. Sämtliche Ausführungen stehen natürlich im ständigen Dialog mit Schmid, um die hier vorgeschlagene Darstellungsweise der ApkÜberlieferung auch forschungsgeschichtlich zu fundieren.
Teil II: Handschriften und Gruppierungen
Bestandsaufnahme Eine unverzichtbare Voraussetzung der neutestamentlichen Textkritik ist die möglichst genaue Kenntnis der Dokumente, auf denen die Textkonstitution aufbaut. David C. Parker bringt diesen Sachverhalt und die damit verbundenen Implikationen folgendermaßen auf den Punkt: The text of the New Testament exists only as a number of physical representations [...]. We know that there is, or was, an original text, or a text better than any we have, which we are seeking to establish. But it does not exist physically. We have then to encounter a number of attempts to reproduce this text, all of them books that are handwritten. The point is that the individual text must be taken seriously as physical object. [...] But it is necessary to study a text in conjunction with its material representatives.1
Die Erforschung des Textes einer neutestamentlichen Schrift geschieht notwendigerweise in Verbindung mit den physischen Objekten, durch die er überliefert wird. Unter diesen Artefakten sind in erster Linie die griechischen Handschriften zu verstehen,2 die aus einer vom 2/3. bis zum 19. Jahrhundert reichenden Zeitspanne stammen, aus verschiedenartigen Beschreibstoffen angefertigt wurden (Papyrus, Pergament und Papier), mal fragmentarisch, mal vollständig erhalten blieben, variierende Inhalte haben und von zahllosen, meist unbekannten Schreibern angefertigt wurden. Für handgeschriebene Reproduktionen eines Textes ist es charakteristisch, dass Abschreibfehler Varianten erzeugt haben und die einzelnen Tradenten darum im Wortlaut abweichen. Kurzum: Handschriften sind sowohl Textträger, die als Artefakte je spezifische physische
1 D. C. Parker, Codex Bezae. An early Christian manuscript and its text, Cambridge/UK 1992, 32–33. 2 Zu den physischen Objekten oder Artefakten, die neutestamentlichen Text enthalten und infolgedessen für die Textkritik potenziell von Interesse sind, gehören auch Inschriften, Amulette und Ostraka. Bislang haben sie in der textkritischen Forschung kaum eine Rolle gespielt, zumal sie aufgrund ihres begrenzten Umfangs als nicht-kontinuierliche Zeugen allenfalls okkasionell Relevanz für die Textkonstitution haben. Zum Problem der textkritischen Auswertung und Nutzung von Amuletten siehe B. C. Jones, New Testament Texts on Greek Amulets From Late Antiquity, LNTS 554, London/ New York 2016, 1–6, 43–56. Weder Brice noch das Wuppertaler Forschungsprojekt konnten Amulette oder vergleichbare Textträger mit Apk-Text zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit ausfindig machen. Gemäß der Analyse von Brice wurden vor allem Texte der Evangelien und paulinischen Briefe für die Beschriftung von Amuletten benutzt. Als wichtigste Erkenntnis der Untersuchung ist schließlich festzuhalten, dass ein beachtlicher Teil der 24 besprochenen Amulette, im Text eng der Handschriften-Tradition folgt und sie insofern durchaus textkritisch zu beachten sind (siehe Jones, Texts, 186–187). https://doi.org/10.1515/978311119430-006
Bestandsaufnahme Eigenschaften haben, als auch Textzeugen für einen Text, der bisweilen von Exemplar zu Exemplar in abweichenden Fassungen überliefert wird.3 Als Textträger vermitteln die Handschriften einen Eindruck davon, zu welchen Zeiten, in welcher Form und unter welchen Bedingungen die Apokalypse tradiert wurde.4 Die materiellen Eigenschaften einer Handschrift müssen aber nicht zwangsläufig etwas über die Qualität des vorhandenen Textes aussagen. Auch Textträger von schlechter materieller Qualität können zuweilen herausragende Texte überliefern und umgekehrt aufwendig präparierte Codices nicht selten zweit- oder drittklassige Texte bekunden. Gelegentlich wirkt sich die physische Beschaffenheit einer Handschrift allerdings direkt auf ihre Verwertbarkeit als Textzeuge aus; dies trifft insbesondere auf Fragmente oder anderweitig mutilierten Handschriften wie Palimpsesten zu, da der Text häufig an vielen Stellen nicht mehr sicher zu entziffern ist.5 3 Die Definition folgt Parker (Introduction, 33): „The focus will be on two ways of studying a document: as a physical item [...], and as what will be called a ‘tradent’ of text or texts which it contains“. 4 Grundsätzliche Beobachtungen dazu in Karrer, Text (2017), 214–222. Weiterführende Überlegungen zu den Handschriften als Textträger des Neuen Testaments äußert M. Wallraff, Kodex und Kanon. Das Buch im frühen Christentum, Hans-Lietzmann-Vorlesungen 12, Berlin/Boston 2013, 37–53. Von zentraler Bedeutung sind die Gedanken zur künstlerischen Ausgestaltung der Codices nach innen (z.B. Miniaturen in den Handschriften) und außen (Buchdeckel). Infolgedessen werden sie zu einem Gesamtkunstwerk und verleihen schließlich der christlichen Buchfrömmigkeit besonderen Ausdruck. Die aufwendige Verzierung der Textträger stand hoch im Kurs, stieß aber auch auf innerkirchliche Kritik: Gegen eine übermäßige Prachtentfaltung bei der Gestaltung neutestamentlicher Handschriften wenden sich z.B. Chrysostomos, hom. in Io. 32,3 (PG 59,187) und Hieronymus, ep. 107: 12,1 (CSEL 55, 302, 16–18). Ein Aspekt der Handschriften, der in der Erschließung der Handschriften bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, ist ihre Bedeutung für den Aufbau des Neuen Testaments. Die strittigsten Fragen der Handschriftentradition betreffen die Stellung der Paulus Briefe (nach Apg oder nach Katholische Briefe) sowie die Position des Hebräerbriefs im Corpus Paulinum (nach 2Thess oder nach Phlm). Für beide Linien lassen sich jeweils starke Argumente finden; siehe dazu M. Karrer, Von den Evangelien bis zur Apk. Die Ordnung der Schriften in der Edition des Neuen Testaments, in: H. A. G. Houghton/D. C. Parker/H. Strutwolf (Hgg.), The New Testament in Antiquity and Byzantium. Traditional and Digital Approaches to its Texts and Editing – A Festschrift for Klaus Wachtel, Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung 52, Berlin/Boston 2019, 249–264, hier 262–263. 5 Das berühmteste Beispiel für ein biblisches Palimpsest ist Codex Ephraemi rescriptus (04). Schon aus der Bezeichnung geht hervor, dass die Pergamentseiten, welche ursprünglich die griechische Bibel aus Septuaginta und Neuem Testament enthielten, abgeschabt und mit Schriften Ephraems des Syrers wiederbeschrieben wurden. Die Neubeschriftung der Pergamentseiten erfolgte laut Cavallo im 12. oder 13. Jahrhundert; siehe G. Cavallo, Ricerche sulla maiuscola biblica, Studi e testi di papirologia 2, Firenze 1967, 90. Zur Struktur des ursprünglichen Codex vor der Neubeschriftung siehe P. Andrist, Au croisement des contenus et de la
Die Apokalypse-Handschriften ιεʹ und ιϛʹ der Editio Regia
Für die Apokalypse liegen durch Hoskier und Schmid schon ausführliche Beschreibungen der griechischen Handschriften vor.6 Allerdings sind hier einige Aktualisierungen notwendig, da die jüngere Forschung zahlreiche neue Erkenntnisse zu den Apk-Handschriften erzielte. Überdies wurden inzwischen immerhin 26 Objekte entdeckt, die J. Schmid nicht bekannt waren. Darunter befinden sich auch Dokumente von erheblicher Bedeutung wie z.B. die beiden Papyri P98 und P115 sowie die Minuskel 2846. Schließlich bedingen die Auswertungen von TuT-Apk einige Korrekturen an Schmids Einschätzungen und Gruppierungen der Handschriften.
. Die Apokalypse-Handschriften ιεʹ und ιϛʹ der Editio Regia Die ersten Sigla für Apokalypse-Handschriften führte Stephanus 1550 mit seiner dritten Ausgabe des griechischen Neuen Testaments ein. In dieser auch als Editio Regia bezeichneten Prachtausgabe notierte er zusätzlich zum Haupttext in margine Alternativlesarten aus fünfzehn Handschriften sowie der Complutensischen Polyglotte.7 Für die Apokalypse benutzte er zwei Exemplare, die er mit den Sigla ιεʹ und ιϛʹ bezeichnete. Um welche Manuskripte es sich dabei handelt, ist schwer zu bestimmen. Seit Wettstein identifiziert die Forschung das Siglum ιεʹ mit der heutigen Minuskel 82.8 Eine detaillierte Untersuchung zu dieser Frage liegt allerdings nicht vor, weswegen die Identifikation mit Vorsicht zu betrachten ist.9 Zum
matière : les structures des sept pandectes bibliques grecques du premier millénaire, Scrineum Rivista 17 (2020), 3–106, 39–45.91–102. 6 Anders als Schmid behauptet, sind die umfänglichen Beschreibungen der Apk-Handschriften im ersten Band von Hoskier durchaus hilfreich, um eine Handschrift zu erschließen (gegen Schmid, Studien II, 8 Anm. 2). Das gilt ausdrücklich auch für etliche Paratext-Elemente, die Hoskier erwähnt, da sich zu diesen Erscheinungen in den einschlägigen Listen von Gregory und Aland kaum Hinweise finden. Die Datierungen von Hoskier sind allerdings mit Vorsicht zu betrachten und stets kritisch zu hinterfragen. 7 Eine Übersicht über die vermutlich von Stephanus benutzten Handschriften mit Angabe der GA-Nummer bietet Elliott, Manuscripts, 391. 8 Für eine Identifizierung von ιεʹ mit GA 82 votieren Wettstein, Novum Testamentum II, 13; C. R. Gregory, Textkritik des Neuen Testamentes, 1. Bd, Leipzig 1900, 316; Hoskier, Text I, 13; Elliott, Manuscripts, 391. 9 Wenn man Apk 3,8 und 19,4 εʹ als Druckfehler für ιεʹ einrechnet, zitiert Stephanus letztere an 240 Stellen bei der Apokalypse. Stephanus führt den Zeugen ε´ zwar im gesamten Neuen Testament an, jedoch in der Apokalypse nur an diesen beiden Stellen. Sollte es sich bei ε´ – wie vorgeschlagen – um GA 6 handeln (vgl. Elliott, Manuscripts, 391), konnte Stephanus den Zeu-
Bestandsaufnahme einen zeigt ein exemplarischer Vergleich von Stephanusʼs Zitationen der Complutensischen Polyglotte mit der spanischen Ausgabe selbst, dass ihm gelegentlich Fehler unterliefen bzw. er vom gedruckten Text der Edition abweicht.10 Wenn Stephanus aber bei der Zitation einer gedruckten Ausgabe Fehler unterliefen, ist dies auch für eine Handschrift vorauszusetzen. Folglich kann die benutzte Handschrift durch Falschzitationen überlagert werden. Zum anderen gehört 82 – sofern sie wirklich als Vorlage fungierte – zur Koine-Gruppe. Dies bedeutet, dass ihr Text nur wenige Sonderlesarten aufweist und infolgedessen die Identifizierung besonders schwierig ist. Selbst geringbezeugte Varianten bzw. partielle Textgruppenlesarten werden in der Regel von mehreren Vertretern gelesen, sodass neben 82 noch andere Koine-Handschriften als Vorlage des Stephanus infrage kommen: Tab. 1: Zur Identifikation von ιεʹ11 Stelle Marginaltext ιεʹ
Bezeugung laut Hoskier
,
ου μη ευρησωσιν
,
επλατυναν
,
ιππου μυριαδες
,
τω δρακοντι τω δεδωκοτι
, ειχεν ,
εκραξεν ισχυρα φωνη λεγων
, κλαυσουσι και πενθησουσιν
gen für die Apokalypse gar nicht angeben, weil der Codex sie gar nicht enthält; vgl. Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 47. 10 Beispielsweise gibt Stephanus den Wortlaut der Complutensischen Polyglotte an folgenden Stellen unzutreffend wieder: 5,6 βασιλεύουσιν statt βασιλεύσουσιν; 7,1 ἐπὶ τί statt ἐπὶ πᾶν; 9,6 οὐ μὴ εὑρήσωσιν statt οὐ μὴ εὑρήσουσιν; 18,2 ἔκραξεν ἰσχυρᾷ φωνῇ λέγων statt ἔκραξεν ἐν ἰσχυρᾷ φωνῇ λέγων. Die Liste ließe sich durch zahlreiche weitere Beispiele ergänzen. An zwei Stellen soll die Complutensis je eine Auslassung bieten, obwohl sie in 11,17 καὶ ὁ ἐρχόμενος und in 13,11 δύο liest. 11 Angaben gemäß Editio Regia (1550). Bezeugung laut Hoskier: GA [Hoskiernummer]: 61 [93]; 69 [14]; 82 [2]; 93 [19]; 325 [9]; 337 [52]; 456 [75]; 468 [55]; 517 [27]; 582 [102]; 620 [180]; 628 [69]; 699 [89]; 1597 [207]; 1719 [210]; 1734 [222]; 1849 [128]; 1918 [39]; 2186 [208]; 2200 [245]; 2814 [1]; 2919 [44].
Die Apokalypse-Handschriften ιεʹ und ιϛʹ der Editio Regia
Stelle Marginaltext ιεʹ , add. ονοματα γεγραμμενα και
Bezeugung laut Hoskier
, αυτου
Was die Auswertung des Textzeugnisses betrifft, kommen neben 82 auch 93 und 337 als Vorlagen für ιεʹ in der Edition des Stephanus in Betracht.12 Allerdings fehlt 337 der Abschnitt Apk 10,4–11,1 im heutigen Erhaltungszustand. Ob diese Lücke bereits im 16. Jahrhundert vorlag, spielt keine Rolle, da Stephanus für den betreffenden Abschnitt Lesarten mit dem Siglum ιεʹ angibt. Die Handschrift 93 ist hingegen vollständig13 und weicht lediglich an zwei zusätzlichen Stellen gegenüber 82 vom angegebenen Wortlaut des Zeugen ιεʹ in der Editio Regia ab. Auf der anderen Seite finden sich diverse Fälle, bei denen die durch Stephanus zitierten Lesarten von ιεʹ und 82 divergieren: Tab. 2: Differenzen zwischen ιεʹ14 und GA 82 Stelle Marginaltext ιεʹ
GA
,
εδιδαξε τον βαλαακ
εδιδαξε τον βαλακ
,. επι σε αλλα εχεις
επι σε αλλ ολιγα εχεις
,. κλεισει αυτην ει μη ο ανοιγων και ουδεις ανοιξαι οιδα
κλεισει αυτην ει μη ο ανοιγων και ουδεις ανοιξει οιδα
,
σαρδιω
σαρδειω
,
προσκυνησουσι
προσκυνησουσιν
,
λεγοντα αμην
λεγοντα το αμην
,
εκραξα
εκραξαν
, om. χριστου
ιησουν
,
αγγελος δευτερος
δευτερος αγγελος
,
εστι και παρεστι
εστιν και παρεστι
12 Die Zeugen 82 93 und 337 sind eng miteinander verwandt. Alle drei Handschriften gehören zur Koine-Gruppe (siehe Teil II: 4.2). 13 Der Abschnitt Apk 1,1–2,5 bildet ein späteres Supplement, das aber bereits im 14. oder 15. Jahrhundert in den Codex eingefügt wurde: siehe dazu R. Devreesse, Catalogue des manuscrits grecs. 2, Catalogue des manuscrits grecs. II. le fonds Coislin/Bibliothèque nationale, Départment des manuscrits, Paris 1945, 183–184. 14 Angaben gemäß Editio Regia (1550).
Bestandsaufnahme
Stelle Marginaltext ιεʹ
GA
, κλαυσουσι και πενθησουσιν
κλαυσουσι και πενθησουσι
, απωλοντο
απωλετο
, ο επι των πλοιων πλεων
ο επι τοπον
,
απ αυτων
om. ο θεος
Obwohl die Handschrift 93 in 12,17 sowie 18,11 mit dem Text von ιεʹ nicht übereinstimmt, liest sie ansonsten denselben Text wie 82. Folglich geht auch 93 in der Summe nicht öfters mit ιεʹ als 82 zusammen. Einige Änderungen wie 2,14 (orthographische Änderung von βαλαακ zu βαλακ), 4,3 (Korrektur der Schreibweise σαρδεις) oder 4,10 (Auslassung des Ny-ephelkystikon) haben sicherlich editorische Beweggründe, wohingegen die Diskrepanzen bei 3,3.4; 18,17 und 21,4 zwischen ιεʹ und 82 schwerer zu erklären sind. Obwohl sich nicht sämtliche Abweichungen zwischen ιεʹ und 82 auflösen lassen und damit ein gewisser Restzweifel an der Identifikation besteht, hat Stephanus entweder wie bisher angenommen 82 oder 337 benutzt. Beide Handschriften gehörten zur Zeit des Stephanus bereits zum Bestand der königlichen Bibliothek, zu der er Zugang hatte.15 Eine noch größere Herausforderung bildet die Bestimmung der Vorlage für die unter dem Siglum ιϛʹ gebotenen Zitationen. Stephanus führte die Handschrift insgesamt an 77 Stellen als Zeuge auf, wobei sie lediglich dreimal alleinstehend erscheint (Apk 3,1; 15,2; 20,3).16 Das Hauptproblem besteht in der bei 15,2 angegebenen Singulärlesart τῶν ὀνομάτων, die laut Hoskier keine weitere Handschrift bezeugt. Angesichts der bisherigen Beobachtungen stellt sich die Frage, ob Stephanus hier überhaupt den richtigen Wortlaut seiner Quelle wiedergibt. Gleichwohl geben die übrigen Lesarten nach Schmid eindeutig zu erkennen, dass ιϛʹ weitgehend den Text der Koine-Gruppe bekundet.17 Aus textkritischen Gesichtspunkten lässt sich die mangelnde Identifikation des von Stephanus zitierten Zeugen ιϛʹ mit einem uns bekannten Exemplar leicht verschmerzen.
15 Siehe H. Omont, Inventaire sommaire des manuscrits grecs de la bibliotheque nationale. Premiere partie, Paris 1886, 9.27 (Nr. 56 und 237). 16 An elf Stellen steht ιϛʹ gemeinsam mit ιεʹ, an fünf mit der Complutensischen Polyglotte und in insgesamt 57 Fällen zusammen mit ιεʹ und der Complutensischen Polyglotte. 17 Siehe dazu Schmid, Studien II, 18.
Änderungen von GA-Nummern
. Änderungen von GA-Nummern Im Laufe der Zeit haben zahlreiche Apk-Handschriften eine Umnummerierung erfahren. Ausgehend von den aktuellen GA-Nummern, wie sie in der Handschriftenliste von TuT-Apk erscheinen, fasst die nachfolgende Synopse die wichtigsten Änderungen zusammen:18 Tab. 3: Übersicht über die Umnummerierungen von Apk-Handschriften GA-Nummer Hoskier Schmid GA-Nummer Hoskier Schmid
(b)
/
r
b
abs
-S
a abs
-S
Außer bei den drei Handschriften 2814 2886 und 2891, wo je listentechnische Vereinheitlichungen den Ausschlag für die Umbenennung gaben, haben die übrigen Umnummerierungen einen kodikologischen Hintergrund. Die Änderungen von 1r zu 2814, 205abs zu 2886 und 2036abs zu 2891 erfolgten in der KGFL II, um störende Doppelungen zu vermeiden und eine durchgängige Zählung der griechischen Handschriften des Neuen Testaments zu erhalten.19
18 Vgl. dazu die Übersichten in TuT-Apk, 10–11. 19 Die ältere Forschung betrachtete 2886 als Abschrift von 205 und 2891 als direkte Kopie von 2036, weshalb sie noch in der KGFL I und KGFL II als 205abs und 2036abs erscheinen: K. Aland, Kurzgefaßte Liste der griechischen Handschriften des Neuen Testaments, 1. Aufl, ANTF 1, Berlin 1963, 71.167; Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 59.163. Ob die zwei Handschriften 2886 und 2891 direkte Abschriften ihrer vermeintlichen Vorlagen 205 und 2036 verkörpern, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Für 2886 vertreten Hoskier und Schmid die Auffassung, dass es sich um eine Schwesterhandschrift von 205 handelt und beide Exemplare auf dieselbe Vorlage zurückgehen (Hoskier, Text I, 307; Schmid, Studien Ia, 287–288). A. Welsby, A Textual Study of Family 1 in the Gospel of John, ANTF 45, Berlin 2014, 85.127, hingegen betrachtet 205
Bestandsaufnahme Bei 911, 1795, 1835/2004 und 1918 resultiert der Gebrauch verschiedener Sigla aus dem Umstand, dass ursprünglich zusammengehörige Teile eines Codex zeitweise aufgespalten waren oder immer noch in materiell getrennten Einheiten vorliegen: Die mit 911 bezeichnete Handschrift „London, British Libr. Add. 39599 und 39601“ besteht aus Praxapostolos und Apokalypse, wobei letztere getrennt vom Rest des Codex zuerst nach England kam. Die Apokalypse wurde deswegen temporär von Gregory und Schmid als 2040 bezeichnet.20 Ab KGFL I stehen aber wieder beide Teile zusammen unter dem Siglum 911.21 Die Handschriften 2349 und 1795 gehören ursprünglich zu derselben Produktionseinheit, die aus Praxapostolos und Apokalypse bestand. Heute befindet sich der Hebräerbrief mit Offenbarung in New York (Morgan Libr., 714) und der übrige Praxapostolos in Sofia, Centăr za slavjano-vizantijski proučvanija «Ivan Dujčev», D. gr. 369. Als Folge der Aufspaltung des Codex wurde der aus Hebr und Apk bestehende Teil vorübergehend als 2349 bezeichnet,22 was man aber mit der KGFL I zumindest listentechnisch korrigierte und so beide Teile virtuell unter dem Siglum 1795 zusammenfasste.23 Mit Blick auf 1835 und 2004 stellt sich der codexgeschichtliche Sachverhalt folgendermaßen dar: Beide Handschriften gehören zu dem Codex Escorial, Bibl. de El Escorial, T.III.17, der aus zwei ursprünglich eigenständigen Produktionseinheiten zusammengesetzt ist. Die Bucheinheit 2004 umfasst die Paulusbriefe (mit Hebr), zu der auch zeitweise die Apokalypse gerechnet wurde.24 Eine Neuuntersuchung des Befundes durch U. Schmid führt jedoch zu dem Ergebnis, dass die Apk zu der mit 1835 bezeichneten Produktionseinheit aus Apostelgeschichte und Katholische Briefe gehört.25 Außerdem bildet der Abschnitt Apk 14,10–15,2 ein Supplement innerhalb der Bucheinheit 1835, dass das Siglum 2924 trägt. Die Produktionseinheit 1918 wurde nachträglich aufgespalten und konnte erst durch die aufmerksamen Augen Hoskiers wieder zusammengeführt werden. Der Sammelkodex Vati als Kopie von 2886; diese Meinung scheint sich nunmehr in der Forschung durchzusetzen: siehe A. T. Farnes, Simply Come Copying. Direct Copies as Test Cases in the Quest for Scribal Habits, WUNT II 481, Tübingen 2019, 149. Mit Blick auf 2891 und 2036 stimmen beide Manuskripte nach TuT-Apk zwar zu 99 % im Text überein, teilen aber nur 7 von 8 Sonderlesarten. 20 Weitere Hinweise zu dem Codex und seiner Geschichte bei C. R. Gregory, Textkritik des Neuen Testamentes. 3. Bd, Leipzig 1909, 1191; Schmid, Studien Ia, 71–73. 21 Vgl. Aland, Kurzgefaßte Liste I, 110. 22 Etwa Schmid, Studien II, 19.23 mit Anm. 2. 23 Vgl. Aland, Kurzgefaßte Liste I, 154. 24 Vgl. Schmid, Untersuchungen II, 23–24. 25 U. B. Schmid, Die Apokalypse, überliefert mit anderen neutestamentlichen Schriften – eapr-Handschriften, in: M. Sigismund/M. Karrer/U. Schmid (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse, ANTF 47, Berlin/Boston 2015, 421–441, 431–432. Da der geschilderte Sachverhalt erst während der Arbeit an TuT-Apk bekannt wurde, wird die Apk dort noch unter dem Siglum 2004 geführt; im NT.VMR findet sie sich hingegen unter der Nummer 1835.
Änderungen von GA-Nummern
kan, BAV, Vat. gr. 1882 enthält neben diversen anderen Texten ein Fragment des MatthäusEvangeliums (Folios 10–16 mit 7,25–10,26), das mit dem Siglum 866 bezeichnet wird, sowie das Stück einer griechisch-lateinischen Abschrift der Apokalypse (6,17b–13,12a), welches bei Gregory die Kennziffer 866b trägt.26 Darüber hinaus bewahrt die Vatikanische Bibliothek die Produktionseinheit Vat. gr. 1136 auf, die ebenfalls eine in griechischer und lateinischer Sprache kopierte bilinguale Abschrift der Apokalypse darstellt. Sie bietet den Text von Apk 3,17– 6,17a und 13,12b–22,21 und wird mit dem Siglum 1918 bezeichnet. Wie Hoskier richtig erkannte, passte das Fragment 866b exakt in die Lücke von 1918 und gehört demgemäß ursprünglich zu dieser Bucheinheit.27 Seit der KGFL II wird die gesamte Produktionseinheit wieder unter dem Siglum 1918 in der Handschriftenliste geführt.28
Bei den Handschriften 2595, 2821, 2824, 2909, 291729, 2918, 2919, 2920, 2921, 2922, 2923 und 2926 aus Tabelle 8 liegt jeweils derselbe Sachverhalt für die Umbenennung vor: Die Apokalypse bildet ein Supplement, das nachträglich dem bestehenden Grundbestand einer Produktionseinheit beigefügt wurde. Manche dieser Ergänzungen wie 2595, 2821 und 2824 sind schon länger bekannt und haben bereits in der KGFL I (so 2595) bzw. KGFL II eine neue Kennziffer erhalten.30 Die restlichen Supplemente identifizierte Ulrich Schmid während seiner Arbeit an der online-Ausgabe der Handschriftenliste.31 Dabei können die Beifügungen der Apk 26 Gregory, Textkritik III, 1112. 27 Hoskier, Text I, 102.388. 28 Vgl. Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 156. In der KGFL I führte Aland das Apk-Fragment 866b noch getrennt von 1918 auf (KGFL I, 107). 29 In TuT-Apk GA 94. Die Inkonsistenz beruht auf der Beobachtung, dass sich der Codex Paris, Bibl. Nat., Coislin Gr 202.2 aus zwei ursprünglich separaten Produktionseinheiten zusammensetzt. Die auf Pergamentseiten kopierte Apokalypse steht an erster Position und wird sowohl von Devreesse (Catalogue II, 181) als auch Gregory (Textkritik I, 264.317) ins 12. Jahrhundert datiert. Es folgt eine zweite aus Papier bestehende Produktionseinheit, die den Praxapostolos umfasst. Da die Apokalypse den älteren Teil der zusammengesetzten Umlaufeinheit repräsentiert und um den Praxapostolos ergänzt wurde, trägt sie in TuT-Apk die Kennziffer 94. 30 Das Supplement 2595 befindet sich im Codex Venedig, Bibl. Marc, 331, fol. 248–263, der neben diversen anderen Texten außerdem das Lukas-Evangelium enthält. Schmid bezeichnete die Handschrift noch mit der älteren Kennziffer 598 (Schmid, Studien Ia, 39–40). 2821 verkörpert eine jüngere Ergänzung im Codex Cambridge, Univ. Libr., Dd.9.69, der ansonsten die vier kanonischen Evangelien unter dem Siglum GA 60 enthält. Schließlich ist 2824 ein Supplement in dem Codex Jerusalem, Orthod. Patriachat, Stavru 94, der zuvor die Evangelien und Praxapostolos unter der Kennziffer 1352 bietet. Zur Umnummerierung dieser drei ApokalypseHandschriften siehe Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 212. 31 Über die Hintergründe für die Umbenennungen von 2909, 2917, 2918, 2919, 2920, 2921, 2922, 2923 und 2926 klärt Schmid, eapr-Handschriften, passim, auf. Das Ausmaß der einzelnen Supplemente variiert: 2919, 2920, 2921, 2922, 2923 umfassen ausschließlich die Apokalypse, wohingegen 2909 auch Abschnitte der Evangelien und Paulusbriefe sowie 2926 noch die Apostelgeschichte und Paulusbriefe umfasst. Das umfänglichste Supplement bildet 2918, das aus dem gesamten
Bestandsaufnahme zu einer bestehenden Produktions- bzw. Umlaufeinheit folgendermaßen differenziert werden: (1) Zusammenfügung zweier ehemals selbstständigen Produktionseinheiten zu einem Codex und (2) gezielte Anfertigung der Apokalypse für einen vorhandenen Codex. Nach den Beobachtungen von Ulrich Schmid verkörpern 94/2917, 180/2918, 209/2920 und 429/2921 einen zusammengesetzten Codex aus zwei vormals eigenständigen Produktionseinheiten, während für 2909, 2922, 2923 und 2926 davon ausgegangen werden darf, dass die Apokalypse hier gezielt als Supplement für einen vorhandenen Codex konzipiert wurde.32 Der geschilderte Befund hat sowohl in textkritischer als auch rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht weitreichende Konsequenzen: Weil es sich de facto um divergente bzw. erst sekundär verknüpfte Produktionseinheiten handelt, sind die einzelnen Handschriften als Textzeugen und Buchdokumente zunächst getrennt zu beurteilen. Natürlich sind auch die kompilierten Umlaufeinheiten von Interesse und geben mitunter Auskunft zu sammlungstechnischen oder buchhistorischen Vorlieben. So wurden 180 und 2918 womöglich mit der Absicht zusammengefügt, dass der Codex Bibl. Vat., Borg. Gr. 18 eine Gesamtausgabe des Neuen Testaments verkörpert. Insofern sind aus buchgeschichtlicher Sicht die je besonderen Konstellationen aus separaten Produktionseinheiten und kompilierten Umlaufeinheiten zu erforschen und aufeinander zu beziehen. Nach dem Ansatz von Patrick Andrist ist die Geschichte eines gegenwärtigen Codex durch Identifikation und Skizzierung seiner internen Entwicklung aus den einzelnen Produktions- und Umlaufeinheiten, die hier in Kompilation erscheinen, aufzuhellen.33
. Supplemente mit Apk-Text Einige Apokalypse-Handschriften enthalten Seiten, die nicht der ursprünglichen Produktionseinheit angehören, sondern nachträglich eingebunden wur-
Praxapostolos und Apokalypse besteht. Es handelt sich hierbei um eine ehemals selbstständige Produktionseinheit, die nachträglich mit einer aus den Evangelien bestehenden Produktionseinheit zu einer kompilierten Umlaufeinheit zusammengebunden wurde. 32 Einen Sonderfall bildet 2919, da der Befund ambivalent ausfällt. Es ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob es sich um die Zusammenfügung zweier vormals getrennter Produktionseinheiten oder die gezielte Supplementierung einer vorhandenen Bucheinheit unter Beteiligung der Apokalypse handelt (Schmid, eapr-Handschriften, 426–427). 33 Siehe dazu P. Andrist, Syntactical Description of Manuscripts, in: A. B. Bausi/P. G. Borbone/F. Briquel-Chatonnet/P. Buzi/J. Gippert/C. Macé/M. Maniaci/Z. Melissakis/L. E. Parodi/W. Witakowski (Hgg.), Comparative Oriental Manuscript Studies. An Introduction 2015, 511–520, 513–515.
Supplemente mit Apk-Text
den und beschädigtes bzw. verlorenes Material ersetzen. Es konnten bislang insgesamt fünf solcher Kleinsupplemente erfasst werden: Tab. 4: Supplemente innerhalb von Apokalypse-Handschriften Supplement Apk-Text
Anschluss zum originären Teil
S
,–,
S
καὶ κινήσω τὴν λυχνίαν σου ἐκ τοῦ τόπου αὐτῆς, ἐὰν μὴ μετανοήσῃς
S
,–,
S
καὶ ἦλθεν εἷς ἐκ τῶν ἑπτὰ ἀγγέλων τῶν ἐχόντων τὰς ἑπτὰ φιάλας
S
,–,
εἰς αὐτὴν πᾶν κοινὸν καὶ S ποιοῦν βδέλυγμα
S
,–
κἀγὼ Ἰωάννης ὁ ἀκούων S καὶ βλέπων ταῦτα. καὶ ὅτε ἤκουσα
S
,–,
καὶ τὸ τεῖχος τῆς πόλεως ἔχων S ἔχει θεμελίους δώδεκα καὶ ἐπʼ αὐτῶν δώδεκα
S
,–; ,–; ,–
Aus der Übersicht geht klar hervor, dass sämtliche Supplemente speziell für die jeweilige Zielhandschrift angefertigt wurden. Mit Ausnahme der Verknüpfung 1852/1852S, wo ἔχων bzw. ἔχει offenbar infolge eines Lapsus gewissermaßen doppelt auftaucht, erfolgt der Anschluss ansonsten nach vorne oder hinten stets wortgenau. Die Kombination 2075/2075S stellt in zweifacher Hinsicht einen Sonderfall dar: Zum einen umfassen sowohl der ursprüngliche Teil der Handschrift als auch das Supplement je zusätzlich den Kommentartext. Zum anderen besteht das Supplement aus mehreren Seiten, die an verschiedenen Stellen in den Codex eingefügt wurden. Gleichwohl davon ausgehend, dass die supplementierten Seiten gezielt für 2075 angefertigt wurden.34 Im Gegensatz dazu bie 34 Der Codex Athos, Iviron, 546 (= GA 2075) ist infolge einer Neubindung, in deren Rahmen wohl auch die beschädigten respektive verlorenen Seiten ersetzt wurden, stark in Unordnung geraten. Die korrekte Textabfolge muss erst mühsam wieder hergestellt werden, zumal die ursprüngliche Produktionseinheit überdies zum Apk-Text den Arethas-Kommentar auf über 161 Folios enthält. Eine kurze Beschreibung des Codex in seinem gegenwärtigen Erhaltungszustand mit Rekonstruktion der korrekten Textabfolge bietet D. Müller, Abschriften des Erasmischen Textes im Handschriftenmaterial der Johannesapokalypse. Nebst einigen editionsgeschichtlichen Beobachtungen, in: M. Sigismund/U. B. Schmid/M. Karrer (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse, ANTF 47, Berlin/Boston 2015, 165–268, 182–186. Wie Marcus Sigismund
Bestandsaufnahme ten die supplementierten Blätter jedoch die zum Apk-Text passenden Abschnitte aus dem Andreas-Kommentar, wobei man wahrscheinlich eine der Untergruppe f35 nahestehende Vorlage dafür benutzte.36 Von den übrigen Supplementen sind 757S und 1852S an acht bzw. fünf Teststellen in TuT-Apk dokumentiert.37 Weil sie damit aber die Mindestanzahl von zehn Teststellen für die Evaluation unterschreiten, konnten beide Supplemente nicht in die Auswertungslisten einbezogen werden.38 Anders verhält sich die Sachlage bei 93S. Der Teilzeuge ist an insgesamt 14 Teststellen nachgewiesen (1–14), was seinen Einschluss in Auswertungslisten ermöglicht. Dabei ist die Besonderheit zu beobachten, dass 93S als einzige Apokalypse-Handschrift zu 100 % mit der relativen Mehrheit und dem Zeugnis der Koine-Gruppe übereinstimmt.39 Wie es zu dieser Gegebenheit kommt, hängt mit einer einmaligen Konstellation aus dem Supplement 93S, den ausgewählten Teststellen und den bezeugten Varianten zusammen. Denn in den ersten 14 Teststellen, die 93S lediglich bezeugt, sind die Wortlaute der Handschriften-Mehrheit und der Koine-Gruppe identisch.40 Folglich darf 93S als hervorragender Vertreter der KoineGruppe gelten, zu der genauso 93 zählt (siehe Teil II: 4.2).
außerdem nachweisen konnte, wurde für die supplementierten Seiten 2075S kein Arethas-, sondern ein Andreas-Kommentar als Vorlage benutzt. Siehe dazu die Ausführungen in M. Sigismund, Quaestiones Arethae I, in: M. Sigismund/D. Müller (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse II, ANTF 50, Berlin/Boston 2017, 411–432, 422–426. Obwohl dieses Vorgehen im Ergebnis zu gewissen Textbrüchen führt, kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Seiten 2075S eigens für die bestehende Produktionseinheit 2075 angefertigt wurden. 35 Zur Untergruppe f des Andreas-Kommentars siehe Schmid, Studien Ia, 239–307. Schmid unterscheidet mit Blick auf den Andreas-Kommentar Untergruppen für den Lemmatext sowie den Kommentar, wobei die Zuordnungen nicht notwendigerweise identisch sein müssen. 36 Zu diesem Schluss gelangt Sigismund, Quaestiones Arethae I, 423–426. 37 Laut Verzeichnender Beschreibung (TuT-Apk, 278) ist 757S an den Teststellen 116–123 dokumentiert und stimmt dabei in sieben Fällen mit dem Zeugnis der Koine-Gruppe überein. Lediglich in Teststelle 117 weist 757S eine Sonderlesart auf. Insbesondere die drei von 757S bezeugten LA 3 in den Teststellen 118, 120 und 123 belegen, dass das Supplement der KoineTradition nahesteht. Außerdem konnte 1852S an den Teststellen 119–123 verzeichnet werden (TuT-Apk, 311), wobei das Textzeugnis in diesem Fall weniger eindeutig ausfällt. Das Supplement zeigt zwei Übereinstimmungen mit Nestle-Aland28, drei mit der Koine-Gruppe (darunter an einer Stelle LA-3), vier mit der Andreas-Gruppe und zwei mit der Complutense-Gruppe. Der dargelegte Befund legt die Vermutung nahe, dass 1852S einen Mischtext bekundet. Ob diese Einschätzung tatsächlich zutrifft, wäre aber noch eigens zu untersuchen. 38 Vgl. dazu die Übersicht TuT-Apk, 38*. 39 Vgl. die Sortierungslisten in TuT-Apk, 442.489. 40 Eine detaillierte Beschreibung von 93S findet sich in TuT-Apk, 47*–48*.
Die Papyri Für rezeptions- und textgeschichtliche Fragestellungen besitzen die Papyri der Apokalypse naturgemäß einen hohen Stellenwert. Ihre textkritische Relevanz ist aufgrund des oftmals fragmentarischen Erhaltungszustandes nur schwer zu ermessen. Für die Apk sind nach gegenwärtigem Stand insgesamt 7 Papyri aktenkundig, die in der nachfolgenden Übersicht zusammengestellt sind:41 Tab. 5: Übersicht über die Apk-Papyri GA (LDAB)
Edition
Apk-Text
Datierung42
Provenienz
P ()
P.Oxy. VIII
,–
-
Oxyrhynchus, Ägypten
P ()
P.Oxy. X
,–; ,–
-
Oxyrhynchus, Ägypten
P ()
P. Lond. Lit.
,–; ,–, ./. Jh.
Wadi Sarga, Ägypten
P ()
P.Beatty III
,–,
-
? Ägypten
P ()
Straßburg, P. Gr. ,–,; ,–
-
? Ägypten
P ()
P.IFAO II
,–
-
? Ägypten
P ()
P.Oxy. LXVI
–; –; –
-
Oxyrhynchus, Ägypten
. Kurzbeschreibung der Apk-Papyri P18, P.Oxy VIII 1079 (London, Brit. Mus. 2053v), LDAB 2786, Apk 1,4–7: Es handelt sich um ein einzelnes Papyrusblatt in den Abmessungen von 9,8 × 15,1 cm43, das auf beiden Seiten beschrieben ist. Während sich auf der Seite mit waagerechtem Faserlauf die letzten Verse des Exodusbuches samt Buchun 41 Eine ausführliche Beschreibung der Artefakte bietet auch P. Malik, The Greek Text of Revelation in Late Antique Egypt: Materials, Texts, and Social History, Zeitschrift für antikes Christentum 22 (2018), 400–421. 42 Die Datierungen der Apk-Papyri folgen mit Ausnahme von P43 den Angaben von P. Orsini/W. Clarysse, Early New Testament Manuscripts and Their Dates. A Critique of Theological Palaeography, ETL 88 (2012), 443–474, 469–472. Die Datierung von P43 folgt Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 8. 43 Diese und alle weiteren Maßangaben erfolgen nach dem Schema Breite × Höhe in cm. https://doi.org/10.1515/978311119430-007
Die Papyri terschrift εξοδος befinden,44 trägt die Seite mit senkrechtem Faserlauf Apk 1,4– 7. Ob es sich um das Stück einer wiederbenutzten Rolle oder um ein Codexblatt handelt, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Nach Mehrheitsmeinung verkörpert das Fragment einen Opistographen,45 wohingegen Brent Nongbri die Auffassung vertritt, dass es sich um den Rest eines Codex handelt.46 Peter Malik hält Nongbris Argumente nicht für stichhaltig und sieht unser Fragment weiterhin als wiederverwendete Schriftrolle an.47 Die Verbindung von Exodusschluss und Apokalypse ist in jedem Fall bemerkenswert, wobei sich ein inhaltlicher Zusammenhang nur schwer ausmachen lässt.48 P24, P.Oxy. X 1230 (NewtonCentre/Mass., F. Trask Libr., Andover Newton Theol. School, OP 1230), LDAB 2791, Apk 5,5–8; 6,5–8: Dieses Stück stellt das Überbleibsel (4,1 × 7 cm) eines Codex dar, dessen ursprüngliche Dimensionen auf 18 cm Breite und 28–30 cm Höhe kalkuliert werden.49 Das Blatt enthält auf recto und verso Apk 5,5–8; 6,5–8 von informeller, dokumentarischer Hand kopiert.50 Angesichts des vergleichsweise großen Seitenzuschnitts wird die These vertreten, dass es sich um den Rest eines alten Vorzeigecodex handelt.51 Da sich dem vorhandenen Material keine belastbaren Informationen – es fehlen z.B die Seitenränder – über Umfang und Inhalt entnehmen lassen, müssen diese Überlegungen spekulativ bleiben. 44 Es handelt sich um die Septuaginta-Handschrift RA 909 (= P.Oxy. VIII 1075); vgl. A. Rahlfs/D. Fraenkel, Verzeichnis der griechischen Handschriften des Alten Testaments. Septuaginta, Vetus Testamentum Graecum, Bd. I,1: Die Überlieferung bis zum VIII. Jahrhundert, Göttingen 2004, 295. In der Beschreibung wird erwogen, ob es sich um eine vormals jüdische Rolle handelt, die erst von Christen zur Kopie der Apokalypse benutzt wurde. 45 So A. S. Hunt, The Oxyrhynchus Papyri, vol. VIII, Graeco-Roman Branch 11, London 1911, 13; J. van Haelst, Catalogue des papyrus littéraires Juifs et Chrétiens, Paris 1976, 557 (Nr. 559); Comfort/Barrett, Manuscripts, 103; Blumell/Wayment, Christian Oxyrhynchus, 91. 46 B. Nongbri, Losing a Curious Christian Scroll but Gaining a Curious Christian Codex: An Oxyrhynchus Papyrus of Exodus and Revelation, NT 55 (2013), 77–88, 78. 47 P. Malik, P.Oxy. VIII.1079 (P18): Closing on a ‘Curious Codex’?, NTS 65 (2019), 94–102, 99–100 48 Eldon J. Epp sucht nach inhaltlichen Anhaltspunkten, die den Zusammenhang beider Texte erklären: E. J. Epp, The Oxyrhynchus New Testament Papyri: „Not without Honor except in their Hometown“?, in: ders. (Hg.), Perspectives on New Testament Textual Criticism: Collected Essays 1962-2004, NT.S 116, Leiden/Boston 2005, 743–801, 758–759. Dabei ist zu bedenken, dass inhaltliche Aspekte selten den Ausschlag für die Kombination zweier oder mehrerer Texte bei einem Opistographen geben – so die Kritik bei Nongbri, Scroll, 88. 49 Vgl. B. P. Grenfell/A. S. Hunt (Hgg.), The Oxyrhynchus Papyri, vol. X, London 1914, 18; Blumell/Wayment, Christian Oxyrhynchus, 141. 50 So die Einschätzung laut Blumell/Wayment, Christian Oxyrhynchus, 141. 51 So z.B. Comfort/Barrett, Manuscripts, 115.
Kurzbeschreibung der Apk-Papyri
P43, P.Lond. Lit. 220 (London, Brit. Mus., 2241), LDAB 2824, Apk 2,12–13; 15,8–16,2: Obwohl P43 schon 1922 durch Crum/Bell erstediert wurde,52 stellt das Fragment die Forschung immer noch vor zahlreiche ungelöste Rätsel. Es besteht aus einem erhaltenen Papyrusblatt in den Dimensionen 7 × 3 cm, das auf beiden Seiten von unterschiedlichen Händen beschrieben ist und die entlegenen Textabschnitte Apk 2,12–13; 15,8–16,2 bietet. Es werden verschiedene Theorien über seine ursprüngliche Funktion diskutiert, von denen aber letztlich keine wirklich zu überzeugen vermag.53 Jüngst brachte Jeff Cate einen weiteren Vorschlag in die Diskussion ein, wonach P43 eventuell die Reste einer Schriftrolle in RotulusFormat (gerollt von oben nach unten) verkörpert.54 Welche Funktion ein solcher Rotulus mit Textpassagen der Apokalypse gehabt haben mag (Proklamation?), liegt völlig im Dunkeln. Um das Papyrusstück besser einordnen zu können, mangelt es schlicht an Informationen und Vergleichsobjekten, die auf seine Verwendung schließen lassen. Sachlich und unverfänglich katalogisiert Haelst P43 als „isoliertes Fragment“, wobei er auf jede Spekulation über die Frage nach seiner Funktion verzichtet.55
52 W. E. Crum/H. I. Bell, Wadi Sarga. Coptic and Greek Texts from the Excavations Undertaken by the Byzantine Research Account, Hauniae 1922, 43–45. 53 Die Erstherausgeber Crum/Bell, Wadi Sarga, 43, sowie H. J. M. Milnes, Catalogue of the Literary Papyri in the British Museum, London 1927, 185, vermuten, dass P43 eher den Rest einer Rolle als das Überbleibsel eines Codex darstellt. Dagegen macht Hedley auf den Umstand aufmerksam, dass die Zeilen von P43 für ein Rollenformat zu lang seien, und bringt stattdessen drei neue Erklärungsmodelle in die Diskussion ein: 1) P43 war ein einzelnes Blatt mit unterschiedlichen Exzerpten, 2) eine Zusammenstellung zufälliger Zitate, 3) eine Textsammlung für den liturgischen Gebrauch. Siehe P. L. Hedley, The Egyptian Texts of the Gospels and Acts, CQR 118 (1934), 227. Außerdem beschreibt E. M. Schofield, The Papyrus Fragments of the Greek New Testament, Ph.D. diss., Southern Baptist Theological Seminary 1936, 293, P43 als „ein einzelnes Blatt, auf das zu unterschiedlichen Zeiten und von verschiedenen Schreibern Teile der Apokalypse zur Lesung kopiert wurden“. Für diese These fehlen jedoch eindeutige Indizien; nicht zuletzt sprechen sogar zwei gewichtige Argumente gegen sie: 1) Es sind ansonsten keine vergleichbaren Textträger mit Apk-Text, die für den liturgischen Gebrauch bestimmt waren, bekannt. 2) Die vorhandenen Textabschnitte scheinen wenig für die gottesdienstliche Lesung geeignet. 54 J. Cate, The Curious Case pf P43. Another New Testament Opisthograph?, in: T. J. Kraus/M. Sommer (Hgg.), Book of Seven Seals. The Peculiarity of Revelation, its Manuscripts, Attestation, and Transmission, WUNT 363, Tübingen 2016, 33–49, hier 48. Cate beschäftigt sich in der Hauptsache mit den physischen Eigenheiten von P43, bietet aber auch eine kurze Analyse des Textes auf der Grundlage des INTF-Transkripts im NT.VMR (a. a. O. 35–37). 55 van Haelst, Catalogue, 196–197. Dieser Katalogisierung folgt auch die LDAB und listet P43 als „sheet (Blatt)“.
Die Papyri P47, P.Beatty III (Dublin, Chester Beatty Libr.), LDAB 2778, Apk 9,10–17,2: Der mit Abstand umfangreichste und bedeutsamste Papyrus der Apokalypse ist P47.56 Er besteht aus zehn erhaltenen Blättern (13 × 24 cm) eines antiken, christlichen Codex,57 die das mittlere Textdrittel Apk 9,10–17,2 tragen. Die oberen und unteren Seitenränder sind weitgehend zerstört, sodass sich keine Paginierungen oder Lagenzählungen vorfinden. Der Text ist in einer gut lesbaren Majuskel geschrieben und gelegentlich mit Korrekturen versehen (z.B. 9,20 χαλκα P47*; χαλκεα P47C). Ob P47 zusätzlich zur Apokalypse weitere Schriften enthielt, stellt eine Frage dar, auf die sich nur schwer eine Antwort finden lässt. Insofern ist sich der Einschätzung Peter Maliks anzuschließen, wonach P47 den Rest eines ‚nicht-formalen‘ aus Einzellagen bestehenden Codex (‚single-quire codex‘) verkörpert, der die Apokalypse und eventuell einige unbeschriebene Blätter am Ende umfasste.58 P85, Straßburg, P. Gr. 1028 (Straßburg, Bibl. Nat. et Univ.), LDAB 2794, Apk 9,19–10,1r; 10,5–9v: Unter dem Siglum P85 steht ein stark mutiliertes Fragment – bestehend aus drei Bruchstücken – in der Handschriftenliste, welches Jacques Schwartz ohne paläografische Beschreibung und Datierung in der Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik erstedierte (4/1969).59 Die überkommenen Teile enthalten auf recto und verso Apk 9,19–10,1; 10,5–9. Sie gehören am wahrscheinlichsten zum Blatt eines ehemaligen Codex, wofür der kontinuierliche Textverlauf spricht. Der Text war pro Seite in einer Kolumne zu 37 Zeilen geschrieben. Die Ausmaße des Papyrusblattes lassen sich nur schwer rekonstruieren. Während K. Aland und Haelst die Abmessungen 11 × 23 cm für wahrscheinlich halten,60 verzichtet Pasquale Orsini auf jeden Rekonstruktionsversuch.61 Zu Umfang und Inhalt des Codex lassen sich keine validen Aussagen treffen.
56 Zur wichtigsten Literatur siehe Malik, P.Beatty III, 2–5. 57 Zur paläografischen Einordnung von P47 siehe Malik, P.Beatty III, 21–71. 58 Malik, P.Beatty III, 70–71. 59 J. Schwartz, Papyrus et tradition manuscrite, ZPE 4 (1969), 175–182. 60 K. Aland, Repertorium der griechischen christlichen Papyri, Bd. 1: Biblische Papyri, Berlin 1976, 277; van Haelst, Catalogue, 564. 61 P. Orsini, Manoscritti in maiuscola biblica. Materiali per un aggiornamento, Collana scientifica 7, Cassino 2005, 128.251.275.
Kurzbeschreibung der Apk-Papyri
P98, P.IFAO II 31 (Kairo, Französ. Inst. für orientalische Archäologie, inv. 237v), LDAB 2776, Apk 1,13–20: Hinter der Kennzeichnung P. IFAO inv. 237 verbirgt sich das Fragment einer Schriftrolle – genauer gesagt eines Opistographen. Das Bruchstück misst 7 × 13 cm. Auf der Seite mit waagerechtem Faserlauf (= 237a) steht ein unbekannter Text, wobei die entzifferbaren Buchstaben auf eine Urkunde hindeuten.62 Die Seite mit senkrechtem Faserlauf (= 237b) wird auch als P98 bezeichnet und bietet den Abschnitt Apk 1,13–20. Es ist eine Kolumne mit dreizehn Zeilen erhalten. Auch wenn die Datierung ins zweite Jahrhundert zurzeit kritisch betrachtet wird,63 dürfte P98 dennoch den ältesten erhaltenen griechischen Textzeugen der Apokalypse darstellen. Welchen Umfang die Abschrift ursprünglich hatte, können wir nicht mehr sicher feststellen. Hagedorn rechnet damit, dass vor dem erhaltenen Textstück zumindest noch die erste Hälfte des Kapitels (1,1–12) stand.64 Ob und was danach folgte, bleibt im Dunkeln der Geschichte. Das Schriftbild des Apk-Textes lässt sich nur schwer charakterisieren: Es fehlen eindeutige kursive Elemente, die bei einer Geschäftsschrift zu erwarten wären. Allerdings kann die Handschrift auch nicht als Buchhand qualifiziert werden, da die Linienführung und Buchstabenformung zu unregelmäßig ausfallen. Allem Anschein nach wurde die Kopie von einem ungeübten Schreiber angefertigt und war für den Privatgebrauch bestimmt, wofür nicht zuletzt die Tatsache spricht, dass eine wiederverwendete Rolle benutzt wurde.65
62 So die Einschätzung von D. Hagedorn, P.IFAO II 31: Johannesapokalypse 1,13-20, ZPE 92 (1992), 243–247, 243. Als Folge der Verstümmlung des Materials fällt die Bestimmung des Textes überaus schwer, wenngleich es sich zweifellos um nichtbiblischen Text handelt. 63 Für eine Datierung ins 2. Jh. votieren G. Wagner, Papyrus grecs de l’Institut Français d’Archéologie Orientale, vol. 2, Bibliothèque d'étude 55, Kairo 1971, 47, und Hagedorn, P.IFAO II 31, 244, der sich dieser Einschätzung grundsätzlich anschließt, aber eine spätere Niederschrift im 3. Jh. nicht prinzipiell ausschließt. Neben P98 wird lediglich noch für P52 (Joh 18,31– 33.37–38) und P90 (Joh 18,36–19,1; 19,2–7) mit einer Datierung ins 2. Jh. gerechnet. Insofern gehört P98 zu den ältesten erhaltenen Handschriften des Neuen Testaments überhaupt und steht dabei auf einer Ebene mit dem Johannesevangelium. Die Erstedition von P98 befindet sich in einem Band, der ansonsten ausschließlich dokumentarische Quellen beinhaltet, weil Wagner den Text des Fragments nicht richtig identifiziert hat. 64 Es „läßt sich mit einiger Sicherheit schließen, daß die erhaltenen Reste aus der zweiten Kolumne stammen“, Hagedorn, P.IFAO II 31, 244. 65 Eine umfängliche Untersuchung des Papyrus und seines Textes nach modernsten Maßstäben ist P. Malik, Another Look at P.IFAO II 31 (P98). An Updated Transcription and Textual Analysis, NT 57 (2015), 1–14.
Die Papyri P115, P.Oxy. LXVI 4499 (Oxford, Ashmolean Mus.), LDAB 7161, Apk 2–3; 5–6; 8–15: Der letzte bekannte Papyrus mit Apk-Text ist P115, ein Fragment bestehend aus neun Blättern im Format von 15,5 × 23,5 cm.66 Die Seiten enthalten Passagen aus Apk 2–3; 5–6 und 8–15, was auf den ersten Blick die Vermutung nahelegt, dass ein relativ umfangreicher Textträger vorliegt. Doch die Blätter sind sehr schwer beschädigt; oft stehen auf den überkommenen Schnipseln lediglich wenige Buchstaben, während mehrere vollständige aufeinanderfolgende Worte die Ausnahme bilden. Aufgrund der massiven Beschädigungen gestaltet sich die Rekonstruktion des Textes häufig äußerst diffizil und bleibt ausgesprochen unsicher, zumal wenn variierte Stellen von einer Lücke betroffen sind. P115 bezeichnet den Rest eines Codex, dessen originärer Umfang nicht mehr zu ermitteln ist.67 Nach Parkers Einschätzung waren die Papyrusblätter zum Zeitpunkt der Beschriftung schon gebunden;68 dies würde erklären, warum die linken schmaler als die rechten Seiten beschrieben sind. Ungeachtet der diversen paläographischen Schwierigkeiten darf P115 neben P47 in textkritischer Hinsicht als wichtigster Papyruszeuge der Apokalypse gelten.
. Beobachtungen zum Text von P18, P24 und P115 Mit Ausnahme von P47 konnte kein weiterer Apk-Papyrus in die Auswertungen von TuT-Apk einbezogen werden. Des Weiteren ließen sich von den übrigen Papyri lediglich P18, P24 und P115 an einzelnen Teststellen verzeichnen. Daher sollen hier wenigstens die in den Kollationsresultaten dokumentierten Varianten der drei Zeugen näher beleuchtet werden, zumal sie mitunter bisherige Ansichten über ihren Textcharakter auf den Prüfstand stellen.
66 Erstedition: J. Chapa/W. Cockle/N. Gonis/D. Obbink/P. J. Parsons/J. D. Thomas, The Oxyrhynchus Papyri LXVI, Graeco-Roman Memoirs 86, London 1999, 11–39. 67 Blumell/Wayment, Christian Oxyrhynchus, 143, halten es grundsätzlich für denkbar, dass der Codex über die Apokalypse hinaus weitere Texte enthielt. Allerdings verhält sich das Problem analog zu P47 – da die oberen und unteren Seitenränder mit etwaigen Paginierungen oder vergleichbaren Informationen verloren sind, gibt es keine sicheren Anhaltspunkte für einen Rückschluss auf den originären Umfang des Codex und noch viel weniger auf dessen Inhalte. 68 Siehe Parker, Oxyrhynchus Papyrus, hier 73.
Beobachtungen zum Text von P18, P24 und P115
.. P18 in TuT-Apk Der Zeuge P18 ist an einer Teststelle (TST 2; Apk 1,6) dokumentiert: Tab. 6: P18 in Apk 1,6 (TST 2) NA Apk ,:
Varianten (TST ):
αὐτῷ ἡ δόξα καὶ τὸ κράτος εἰς τοὺς αἰῶνας [τῶν αἰώνων]· ἀμήν
a) των αιωνων rM b) om. P
NA28 bietet in Apk 1,6 eine gespaltene Textkonstitution, indem eckige Klammern um die Worte τῶν αἰώνων stehen und damit ein komplexes textkritisches Problem markieren.69 Es steht zur Debatte, ob die eingeklammerten Worte zum Ausgangstext der Apokalypse gehören oder eine spätere Ergänzung darstellen. Dies hat zum einen seinen Grund in der diffizilen Zeugenkonstellation70 und zum anderen darin, dass die Wendung mehrfach in der Apokalypse begegnet und an den Parallelstellen stets stereotyp in der Form εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων begegnet (vgl. 1,18; 4,9.10; 5,13; 7,12; 10,6; 11,15; 15,7; 19,3; 20,10; 22,5). In Apk 1,6 lässt P18 mit 02 im Gegensatz zu 01, 04 und der relativen Mehrheit τῶν αἰώνων aus. Obwohl P18 und 02 auch an anderen Stellen zusammengehen (z. B. 1,6 ἡμῖν anstelle von ἡμᾶς)71, ist ihre überlieferungsgeschichtliche Verbindung dennoch schwer zu ermessen. Im Vergleich zu 01 und 04 steht P18 auch nach den Beobachtungen von Malik trotz vereinzelter Abweichungen72 zwar insgesamt 02 am nächsten,73 doch wegen des geringen Umfangs von P18 und
69 In UBS5 ist die Stelle im Apparat mit dem Kennbuchstaben „C“ für besonders schwierige Textentscheidungen markiert, an denen das Komitee zu keinem eindeutigen Urteil gelangt ist. Vgl. UBS5, 8*.805. 70 In Apk 1,6 ist mit Blick auf die Auslassung τῶν αἰώνων von einer kontaminierten Bezeugung auszugehen. Dies zeigt sich allein schon daran, dass einige Handschriften der Koine- und AndreasGruppe vom Zeugnis der relativen Mehrheit abweichen und ebenfalls die Omission aufweisen. 71 04 liest eine dritte Variante: ἡμῶν. Nach Hoskier (Text II, 34) wird ἡμῖν neben P18 und 02 nur von wenigen Minuskeln bezeugt. Darunter befinden sich mit 2053 und 2062 zwei Zeugen des Oecumenius-Kommentars. Schmid (Studien II, 108) bestimmt ἡμῖν deswegen als Variante des A-Stammes, von dem 04 in diesem Fall abweicht. 72 In Apk 1,4 liest P18 vermutlich wie NA28 ἃ vor ἐνώπιον, aber sicherlich nicht τῶν wie 02 und 01; in 1,5 lässt 02 das Pronomen ἡμῶν aus (Schreibfehler?), das P18 jedoch bezeugt. 73 Zusammengenommen weist P18 fünfzehn variierte Stellen auf, an denen der Zeuge 13-mal mit 02, 11-mal mit 04 und 9-mal mit 01 übereinstimmt.
Die Papyri den mitunter wenig aussagekräftigen Varianten im erhaltenen Textstück erlauben diese Zahlen weder ein abschließendes Urteil über seinen textgeschichtlichen Ort noch über dessen textkritischen Wert. Dies gilt nicht zuletzt auch für Schmids Auffassung, wonach P18 ein Vertreter des von ihm bezeichneten AStammes sei. Bis das Zeugnis von P18 abschließend bewertet ist, sollte er als eigenständiger Zeuge mit gewisser Nähe zu 02 betrachtet werden. Letztlich bietet P18 zu wenig Text, um ihn stemmatisch glaubhaft in einer Zeugengenealogie lokalisieren zu können.
.. P24 in TuT-Apk Desgleichen ist P24 an einer Teststelle (TST 35; Apk 5,6) in den Kollationsresultaten dokumentiert: Tab. 7: P24 in Apk 5,6 (TST 35) NA Apk ,
Varianten TST :
καὶ ὀφθαλμοὺς ἑπτὰ οἵ εἰσιν τὰ [ἑπτὰ] πνεύματα τοῦ θεοῦ ἀπεσταλμένοι εἰς πᾶσαν τὴν γῆν
a) επτα πνευματα του θεου rM b) πνευματα του θεου c) ζʹ πνα του θεου P
Analog zum vorherigen Fall betrifft auch Teststelle 35 eine gespaltene Textkonstitution in NA28. Als problematisch erweist sich wiederum die Zeugenkonstellation (01 und 02 lesen unterschiedliche Varianten) sowie die Tatsache, dass der Sachverhalt durch die Frage verkompliziert wird, ob der kürzere Text eventuell aus einer irrtümlichen in verschiedenen Zeugen unabhängig vorkommenden Auslassung von ἑπτά resultiert. P24 bekundet die Singulärlesart ζʹ πνα του θεου,74 die aufgrund der eigentümlichen Schreibung einer genaueren Erläuterung bedarf. Bei dem Graphem ζʹ handelt es sich um ein Zahlzeichen für das Zahlwort ἑπτά. Derartige Zahlzeichen begegnen häufig in den Handschriften und sind normalerweise mit einem Oberstrich markiert.75
74 Die Minuskeln 250, 2017, 2019, 2051, 2058, 2656 lesen ἑπτὰ πνεύμα τοῦ θεοῦ und damit eine zu P24 ähnliche Textfassung. Von einer genealogischen Verbindung zwischen den genannten Handschriften und P24 kann deswegen aber nicht ausgegangen werden. 75 Auch größere Zahlen werden durch entsprechende Zahlenzeichen wiedergegeben: z. B. ἑκατὸν τεσσαράκοντα τέσσαρες als ρμδʹ oder ἑξακόσιοι ἑξήκοντα ἕξ als χξϛʹ. Zur Schreibung
Beobachtungen zum Text von P18, P24 und P115
Erklärungsbedürftig ist außerdem das nomen sacrum πνα (πνεῦμα) im Singular, da in Kombination mit ἑπτά eigentlich der Plural πνεύματα bzw. in kontrahierter Form πνατα stehen müsste. Vermutlich geht die Singularschreibung auf einen simplen Fehler zurück, indem versehentlich die Endsilbe -τα ausgelassen worden ist. Dass sich dieser Lapsus im Verlauf der Überlieferung offenbar mehrfach wiederholte, belegen die sechs einander fernstehenden Zeugen 250, 2017, 2019, 2051, 2058, 2656 für die ungrammatische Lesart ἑπτὰ πνεῦμα τοῦ θεοῦ,76 die abgesehen vom Verzicht auf Abkürzungen mit dem Zeugnis P24 identisch ist. Es spricht also einiges dafür, die grammatikalisch fehlerhafte Lesart von P24 im breiteren Strom der Überlieferung zu betrachten und sie unter die Mehrheitsvariante ἑπτὰ πνεύματα τοῦ θεοῦ (01 und rM) zu subsumieren. Denn im Vergleich zu 02 und einigen Minuskeln, die ἑπτά auslassen, stützt P24 in jedem Fall das Zahladjektiv. Dem entspricht die Verzeichnung von P24 an dieser Stelle in NA28, wo er als Zeuge für ἑπτά im Apparat erscheint.77 Dies führt zu der Frage nach dem allgemeinen Textcharakter von P24 und dessen Relation zum Rest der Überlieferung. Im Gegensatz zu Schmid, der das Zeugnis des Papyrus als mit „A identisch“ ansieht,78 zeigt er tatsächlich die höchste Übereinstimmungsrate mit 01.79 Um Maliks Beobachtung zu unterstreichen, sei auf eine weitere Variante in 5,6 hingewiesen. Zu Beginn des Verses liest P24 wie 01 und die Mehrheit der Handschriften καὶ εἶδον, wohingegen 02 die Singulärlesart καὶ ἰδοὺ καί bietet. In der Literatur wird kontrovers diskutiert, wie die Lesart von 02 entstand. Während Hernández und Weiss als Ursache eine Anpassung an 5,5 ἰδού annehmen,80 kann es sich nach Aune auch um eine Verschreibung der durch 2053 und einigen anderen Minuskeln bezeugten Variante καὶ εἶδον καί handeln.81 Gleichgültig welcher Schreibfehler für die Singulärlesart der Zahl des Tieres in Apk 13,18 siehe Z. J. Cole, Numerals in Early Greek New Testament Manuscripts. Text-Critical, Scribal, and Theological Studies, NTTSD 53 2017, 192–194. 76 Vgl. zur Bezeugung TuT-Apk, 78. 77 Anders als in Nestle-Aland28 angegeben bekundet die Mehrheit der Andreas-Handschriften nicht die von Schmid als Andreas-Text angegebene Auslassung von ἑπτά, sondern stützt wie P24 und 01 das Zahladjektiv. Während lediglich 19 Handschriften der Andreas-Gruppe ἑπτά auslassen, wird es von insgesamt 35 bezeugt; vgl. TuT-Apk, 78–79. 78 Schmid, Studien II, 171. 79 P24 stimmt in sieben von acht Varianten mit 01, aber nur in fünf von acht mit 02 überein. Bedauerlicherweise lässt sich nicht entscheiden, ob P24 in 5,6 απεσπα[λμενοι] oder απεσπα[λμενα] liest. Aus diesem Grund kann die markante Stelle nicht zur Beurteilung seines Textzeugnisses herangezogen werden. 80 Hernández, Scribal Habits, 108 mit Anm. 55; Weiss, Textkritische Untersuchungen, 71. 81 Aune, Revelation I, 323. In diesem Fall wäre 02 als Subzeuge für die Variante des Lemmatextes des Oecumenius-Kommentars zu werten.
Die Papyri in 02 Verantwortung trägt, weicht P24 davon ab und entspricht zugleich der gemeinsamen Tradition von 01 und rM. Wie also die zwei Varianten in 5,6 und Maliks grundsätzliche Beurteilung nahelegen, wäre Schmids Behauptung – P24 sei mit 02 identisch – auf den Prüfstand zu stellen und das Zeugnis von P24 gegebenenfalls neu zu bewerten.
.. P115 in TuT-Apk An immerhin drei Teststellen konnte P115 dokumentiert werden, wobei er an einer Stelle eine Singulärlesart bekundet und an einer weiteren sein Zeugnis nicht eindeutig ist: Tab. 8: Dokumentation von P115 in TuT-Apk TST/Apk
NA
Varianten
/,82
καὶ πλανᾷ τοὺς κατοικοῦντας ἐπὶ τῆς γῆς διὰ τὰ σημεῖα
a) txt P P rM b) πλανα] + τους εμους min. mult.
/,83
ἀριθμὸς γὰρ ἀνθρώπου ἐστίν, καὶ ὁ ἀριθμὸς αὐτοῦ ἑξακόσιοι ἑξήκοντα ἕξ
a) εξακοσιοι εξηκοντα εξ b) εξακοσιαι εξηκοντα εξ c) εστιν εξακοσιαι δεκα εξ d) [...] η χιϛʹ P
/,84
Καὶ εἶδον ἄλλον ἄγγελον πετόμενον ἐν μεσουρανήματι, ἔχοντα εὐαγγέλιον
a) αλλον αγγελον CC min. mult. b) αγγελον P * rM c) αλλον ιδον αγγελον P
Die textkritische Analyse und Beurteilung von P115 stellt eine Herkulesaufgabe dar. Weil infolge der massiven Beschädigungen der Papyrusblätter Lesarten oftmals nicht sicher zu ermitteln sind bzw. etliche signifikante Varianteneinheiten fehlen, stehen letztlich nur wenige belastbare Stellen für die Auswertung zur Verfügung. Bereits die in TuT-Apk erfassten Lesarten zeigen (bes. Apk 13,18), dass sich das Zeugnis P115 trotz vorhandenem Text keineswegs immer zweifelsfrei auswerten lässt. Auch die durch Parker vorgelegte Analyse des 82 Vgl. TuT-Apk, 120–122. 83 Vgl. TuT-Apk, 130–133. 84 Vgl. TuT-Apk, 139–140.
Beobachtungen zum Text von P18, P24 und P115
Textes P115 kämpft mit diesem Problem und argumentiert gezwungenermaßen zum Teil mit Varianten, die nicht vollständig erhalten sind respektive auf vorausgesetzter Rekonstruktion beruhen.85 Ungeachtet seines Alters und seiner grundsätzlichen Bedeutung bleibt P115 ein problematischer Zeuge, dessen Wert für die Textkonstitution nur mühsam zu erschließen ist. In Teststelle 61 bezeugt P115 genauso wie P47, 01, 02, 04 und rM die Variante a), die zugleich den kritischen Text des NA28 bildet. Dagegen bekundet ein ebenfalls großer Teil der Handschriften nach πλανᾷ den Zusatz τοὺς ἐμούς (Variante b). Mit Blick auf die Profilierung von P115 lässt sich zumindest festhalten, dass der Zeuge τοὺς ἐμούς auslässt und gleichsam von der Mehrheit der Koineund Complutense-Handschriften abweicht. In Teststelle 66 ist P115 mit der merkwürdigen Lesart […] η χιϛʹ dokumentiert, die einer genaueren Erklärung bedarf. Nach einer Lacuna steht der vorhandene Text am linken Rand des Bruchstücks und beginnt mit dem Buchstaben η, der zusätzlich einen markanten Oberstrich trägt. Generell hat der Oberstrich in P115 unterschiedliche Funktionen, wobei sie dem visuellen Eindruck nach nicht immer zu differenzieren sind – mal zeigt er eine Korrektur an und mal dient er als Kennzeichnung für eine Abkürzung wie Ziffern oder nomina sacra (z.B. ιηλ fol. 1v.l.4).86 Es folgt ein Spatium halber Buchstabenbreite und dann die Ziffern χιϛʹ (= 616), bei denen es sich um eine Variante für die Zahl des Tieres handeln kann. Im Gegensatz zu „666“ liest zumindest 04 die Zahl „616“, die ansonsten noch Iraeneus wohl aus einigen Handschriften bekannt war. Die Herausgeber des Papyrus wie auch Parker interpretieren den kurzen Strich auf dem Buchstaben η als Korrekturzeichen zu dessen Tilgung.87 Weil jedoch der vorstehende Textteil fehlt und das verbliebene η aus keiner anderen Variante bekannt ist, bleibt zum einen der ursprüngliche Text im Dunkeln und zum anderen erlaubt der vorhandene mehrere Deutungen. Eine Möglichkeit wäre ἤ („oder“) zu lesen, sodass P115* eventuell beide Tiereszahlen kannte und parallel χξϛʹ η χιϛʹ („666 oder 616“) bekundete. Andererseits könnte das fragliche η den Artikel ἡ darstellen, um die genusindifferenten Zahlzeichen wie in 01 oder 04 (je 85 Siehe Parker, Oxyrhynchus Papyrus, 82.84.86–87. 86 Laut Parkers Aufstellung markiert der Oberstrich z.B. in Apk 2,27 die Streichung von αυτου[ς] oder die Löschung des ersten [τ]ους zur Beseitigung einer Dittographie ([τ]ους τ̣ [ους]) in 3,10; siehe Parker, Oxyrhynchus Papyrus, 74. Einen zu 13,18 analogen Beleg, wo lediglich die Löschung eines einzelnen Buchstabens durch einen Oberstrich angezeigt wird, gibt es nicht. In Apk 11,12 vermutet Parker zwar, dass durch den Oberstrich die Streichung eines Buchstabens angezeigt wird, doch ist der Befund auch hier überaus unklar (P115, 74 mit Anm. 6). Es lassen sich lediglich Schemen erkennen, die scheinbar einen Oberstrich tragen. 87 Vgl. Chapa, et al., Oxyrhynchus Papyri LXVI, 34; Parker, Oxyrhynchus Papyrus, 75.
Die Papyri εξακοσιαι) eindeutig als Femininum auszuweisen.88 Mit Comfort/Barrett ließe sich sogar erwägen, ob das Graphem η eine weitere Zahl darstellt und damit auf eine sonst unbekannte Variante hindeutet.89 Folglich hätte das Zeichen über η nicht – wie Chapa und Parker voraussetzen – die Bedeutung eines Korrekturmarkers, sondern würde den Oberstrich eines weiteren Zahlzeichens darstellen. Dass gelegentlich Sonderfassungen zur Tiereszahl überliefert werden, beweisen die Handschriften 582 mit ἑξακόσια ἑξήκοντα (= 660) und 2344 mit ἑξακόσια ἑξήκοντα πέντε (665).90 Aufgrund der geschilderten Probleme haben sich die Herausgeber von TuT-Apk entschieden, für P115 in TST 66 eine unbestimmte Lesart anzugeben.91 Darüber hinaus wäre der Apparat in NA28 bei 13,18 zu präzieren: Bislang erscheint P115 dort unter Hinweis auf die Zahlzeichenschreibung χιϛʹ als Zeuge für die Lesart εξακοσιαι δεκα εξ neben 04 und Irmss. Um auf das problembehaftete Zeugnis P115 aufmerksam zu machen, sollte der Eintrag wie folgt angepasst werden: P115*incert.; P115c vid. χιϛʹ. Auf diese Weise wird unmittelbar erkennbar, dass die ursprüngliche Lesart von P115 fraglich ist und die Korrekturhand nur anscheinend die Variante χιϛʹ bezeugt. Zwar bezeugt P115 in TST 71 (Apk 14,6) wiederum eine Singulärlesart ἄλλον ἴδον ἄγγελον, doch erlaubt die Wortstellung einen Rückschluss auf die potenzielle Vorlage. Im Vergleich zu den übrigen Varianten dieser Stelle dürfte P115 auf dieselbe Vorlagenkette wie 02 und 04 zurückgehen, die den Wortlaut εἶδον ἄλλον ἄγγελον überliefert. Demnach liegt in P115 eine Transposition der Worte ἄλλον und ἴδον vor, wobei letzteres zusätzlich in itazistischer Orthographie für εἶδον geschrieben wurde. Ob diese Änderungen bei der Anfertigung von P115 erfolgte oder sie bereits aus der Vorlage übernommen wurde, ist kaum zu ent-
88 Zu diesem Problem siehe Karrer, Text (2017), 232. Anders als deklinable Zahlwörter geben Zahlzeichen kein spezifisches Genus zu erkennen. Mit Blick auf 13,18 kann darum für die Mehrheit der Handschriften, die Zahlzeichen aufweisen, nicht entschieden werden, ob die Zahl des Tieres im Femininum oder Maskulinum steht. 89 In der Anmerkung zur Stelle heißt es, dass ein Punkt über η erscheine und er entweder eine Korrektur oder eine unbekannte Zahl („some unknown numeral“) anzeige; siehe Comfort/Barrett, Manuscripts, 675. 90 In GA 110 lässt sich die Lesart für die Tiereszahl ebenfalls nicht sicher entziffern, da die Stelle auch hier von einer Beschädigung betroffen ist. Gleichwohl lässt das vorhandene Material durchblicken, dass 110 wohl bei der Tiereszahl eine Sonderfassung bekundete. Dabei bezeugt 110 die Mehrheitsvariante χξϛʹ sicher nicht, sondern dem graphemischen Befund nach kommen χμςʹ (= 646), χρςʹ (= 1106) oder χιςʹ (= 616) als mögliche Lesarten in Betracht. 91 Siehe dazu die Erläuterungen zur Verzeichnung von P115 in TuT-Apk, 34*.
Beobachtungen zum Text von P18, P24 und P115
scheiden.92 Entscheidend für die Profilierung des Zeugnisses P115 ist stattdessen die Tatsache, dass der Text wie 02 und 04 ἄλλον liest. Hierdurch ergibt sich eine signifikante Abweichung gegenüber P47 und 01*, die beide ἄλλον auslassen. Freilich erlauben die drei Teststellen kein abschließendes Urteil über die Textqualität des Zeugen P115. Als Referenzpunkt für dessen Bewertung ist weiterhin Parkers Untersuchung anzusehen, der zu folgendem zweiteiligen Fazit gelangt:93 (1) P115 gehöre zum A-C-Typ und sei dessen ältester Vertreter; (2) Die Übereinstimmung von P115 mit A und/oder C gegen P47 und/oder 01 bestätige über weite Strecken dessen hohe Textqualität. Beide Schlussfolgerungen setzen die Ergebnisse von Schmid voraus, indem sie P115 in Bezug zum A-C-Texttyp setzen und dabei dessen mutmaßliche textkritische Überlegenheit gegenüber P47 und 01 zur Beurteilung von P115 in Anschlag bringen.94 Obwohl P115 eine signifikante Nähe zu den Zeugen 02 und 04 respektive deren Vorlagenkette aufweist (vgl. Teststelle 71), sollte Parkers Urteil angesichts der neueren Forschung dennoch mit Vorsicht betrachtet werden. Es steht zum einen die Neubestimmung des Verhältnisses 02 und 04 mit der Folge aus, dass auch die Zeugenrelation P115 dementsprechend zu aktualisieren wäre.95 Wie zum anderen die Diskussion zur Singulärlesart in 13,18 beispielhaft vor Augen führt, ist die Textanalyse von P115 häufig eine Gratwanderung. Daher sollte bei der Beurteilung eines Fragments wie P115 scharf zwischen tatsächlich vorhandenen und rekonstruierten Varianten differenziert werden. Um das Problem an einem Beispiel zu veranschaulichen, sei auf drei bei Parker als „very uncertain restorations“ bezeichnete Fälle hingewiesen: βιβλαρίδιον (10,8), τοῦ θυ (12,10) und γάρ (14,5).96 Obgleich von dem Wort βιβλαρίδιον gar keine Spuren erhalten sind und diese Lesart lediglich qua hypothetischer Rekonstruktion angenom-
92 Im Sinne Royse könnte es sich bei der Singulärlesart von P115 in Apk 14,6 um eine unmittelbare Korrektur nach einem Augensprung handeln. Die Person, die die Abschrift angefertigt, hat das Wort εἶδον zunächst aus Versehen übersprungen, diesen Fehler sofort bemerkt und das ausgesparte Wort einfach nach ἄλλον kopiert. Da es für diesen Fehler keine weiteren Zeugen gibt, lässt sich trotzdem nicht beantworten, ob er bei Kopie von P115 oder schon in der Vorlagenkette passiert ist. Zur Theorie der Augensprung-Korrekturen siehe Royse, Scribal Habits, 157–161. 93 Siehe dazu Parker, Oxyrhynchus Papyrus, 91. 94 Vgl. Parker, Oxyrhynchus Papyrus, 79–81.91. 95 Bemerkenswerterweise zählt auch Parker insgesamt 14 Stellen, an denen P115 sowohl von 02 als auch 04 abweicht (Parker, Oxyrhynchus Papyrus, 86–87). Trotz der graduellen Nähe von P115 zu den beiden letztgenannten Zeugen gibt es offenbar auch signifikante Abweichungen, die ebenfalls ins Gewicht fallen sollten und möglicherweise eine entscheidende Rolle bei der textkritischen Neubewertung des Papyrus spielen. 96 Dazu Parker, Oxyrhynchus Papyrus, 86.
Die Papyri men wird,97 möchte Parker dennoch aufgrund des Zeugnisses P115 den Text in 10,8 von βιβλίον zu βιβλαρίδιον ändern.98 Prinzipiell sollten wiederhergestellte Varianten mit textkritischen Vorbehalten betrachtet werden, zumal unsichere Rekonstruktionen wohl kaum die Textkonstitution hinreichend abzusichern vermögen; bestenfalls können sie als Begleitzeugen mit entsprechender Kennzeichnung im Apparat angegeben werden.
97 Vgl. dazu die bruchstückhafte Seite fol. 5v unter folgendem Link im Internet: http://ntvmr.unimuenster.de/community/modules/papyri/?site=INTF&image=10115/12084/100/10/15, zuletzt abgerufen am 24.03.2023. 98 Siehe dazu die Liste der Stellen, für die Parker eine Textänderung gegenüber dem derzeitigen kritischen Text aufgrund des Zeugnisses P115 in Erwägung zieht: Parker, Oxyrhynchus Papyrus, 91.
Die Majuskeln Es sind insgesamt zwölf Majuskeln aktenkundig, die den griechischen Text der Apokalypse enthalten und in der nachfolgenden Tabelle 12 überblicksweise aufgeführt werden – wie bei den Papyri mit einem kurzen Hinweis zum Buchproduktionstyp: Tab. 9: Überblick Majuskel-Handschriften mit Apk-Text Objekt Ort/Edition
Datierung Buchgattung
London, BL, Add.
ca.
Pandekt
London, BL, Royal D.VIII
.–. Jh.
Pandekt
Paris, BnF, Gr.
. Jh.
Pandekt (Palimpsest)
St. Petersburg, RNB, Gr. . Jh.
NT-Teilcodex (Palimpsest)
Vatikan, BV, Vat, Gr.
. Jh.
Teil eines Codex mit nicht-biblischen Texten
Athos, Pantokratoros,
. Jh.
Fragment eines Codex mit unklaren Inhalten
Athos, Panteleimonos, , . Jh.
unspezifisches Fragment
P.Oxy. VI
. Jh.
Fragment eines Codex in Kleinformat
P.Oxy. VIII
. Jh.
Fragment eines Codex in Kleinformat
PSI X
. Jh.
Fragment eines Codex mit unklaren Inhalten
PSI XIII b
. Jh.
unspezifisches Fragment
P.Oxy. LXVI
.–. Jh.
Apk-Codex in Kleinformat
Demnach stammen die erhaltenen Handschriften aus dem Zeitraum vom 4. bis 10. Jahrhundert und repräsentieren ganz verschiedene Buchproduktionstypen. Besonders auffällig sind zwei Manuskripte, die je zu einem umfänglichen Mischcodex gehören (046 und 051), und drei sehr kleinformatige Exemplare (0163, 0169 und 0308); letztere fallen bei Eric G. Turner in die Kategorie „Miniatur-Buch“, weil sie in der Seitenbreite ein Maß von 10 cm unterschreiten.99 Dass sich die Apokalypse sowohl in Voll- oder Teilcodices des Neuen Testaments als auch in Codices mit überwiegend nichtbiblischen Inhalten befindet, ist ein Charakteristikum, welches das gesamte Handschriftenmaterial prägt. Von den in Tabelle 12 aufgeführten zwölf Handschriften enthalten nur drei die Apokalypse im vollständigen respektive fast vollständigen Textumfang (01, 02 und 99 Vgl. dazu die Aufstellung in E. G. Turner, The Typology of the Early Codex, Eugene, OR 2011, 29. https://doi.org/10.1515/978311119430-008
Die Majuskeln 046). Bei allen übrigen Exemplaren handelt es sich um Palimpseste oder Fragmente, die mehr oder minder große Textlücken aufweisen bzw. nur wenige Verse überliefern.
. Kurzbeschreibung der Apk-Majuskeln 01, London, BL, Add. 43725, LDAB 3478, Apk 1,1–22,21:100 Der berühmte Codex Sinaiticus Petropolitanus (01) trägt seinen Namen nach dem Fundort im Katharinen-Kloster auf dem Sinai und seiner zwischenzeitlichen Archivierung in St. Petersburg. Zu den auffälligsten textlichen Merkmalen gehören die zahllosen Korrekturen, die verschiedene Akteure über die Jahrhunderte eingetragen haben.101 Die Johannesapokalypse befindet sich auf den Folios 325v (Lage 90, Blatt 1v) bis 334r (Lage 91, Blatt 2r) und wurde durch zwei Kopisten abgeschrieben: Der Schreiber D kopierte die ersten 34 Zeilen bis 1,5 νεκρῶν und Schreiber A den gesamten Rest bis 22,21.102 Neben den im Skriptorium erfolgten Verbesserungen (01S1) haben vier weitere Hände die ursprüngliche Abschrift der Apokalypse mit Korrekturen versehen (01c, 01ca, 01cc, 01d).103 Die allermeisten Änderungen gehen auf den textgeschichtlich wichtigen Korrektor 01ca zurück.
100 Fotographische Reproduktionen und Transkripte aller Textseiten des Codex Sinaiticus sind unter folgendem Link im Internet einsehbar: http://codexsinaiticus.org/de/, zuletzt abgerufen am 24.03.2023. Über die Erstellung der Transkriptionen informiert: T. A. E. Brown, The Digital Sinaiticus Transcription: Process and Discovery, in: S. McKendrick/D. C. Parker/A. Myshrall/C. O’Hogan (Hgg.), Codex Sinaiticus: New Perspectives on the Ancient Biblical Manuscript, London 2015, 253–260. 101 Außer den Schreiberkorrekturen differenzieren Milne/Skeat sechs Korrekturhände (CA, Cb1, Cb2, Cb3, Cc, Cc*), die zwischen dem 4. und 12. Jahrhundert an dem Manuskript gearbeitet haben; siehe H. J. M. Milne/T. C. Skeat, Scribes and Correctors of the Codex Sinaiticus, London 1938, 40–50. Der mit Abstand wichtigste Korrektor ist CA, dessen Aktivitäten sich über den gesamten Codex erstrecken. Insofern birgt der Sinaiticus eine kleine Textgeschichte der griechischen Bibel in sich, was seine Sonderstellung nochmals unterstreicht. 102 Zu den Schreibern des Codex Sinaiticus und der Apk im speziellen siehe Milne/Skeat, Scribes and Correctors of the, 22–29; D. Jongkind, Scribal Habits of Codex Sinaiticus, TaS III 5, Piscataway, NY 2007, 48–51. 103 In TuT-Apk sind insgesamt 25 Korrekturen dokumentiert; vgl. TuT-Apk, 231.
Kurzbeschreibung der Apk-Majuskeln
02, London, BL, Royal 1 D.VIII, LDAB 3481, Apk 1,1–22,21104:105 Der Codex Alexandrinus (02) verkörpert ebenfalls ein Pandekt der gesamten griechischen Bibel. Vom Alexandrinus blieben 773 Blätter erhalten; es fehlen lediglich elf Folios der Septuaginta und fünfunddreißig des Neuen Testaments (vac. Mt 1,1–25,6; Joh 6,50–8,52; 2Kor 4,13–12,6). Die Bögen bestehen aus feinem, vergleichsweise dünnem Pergament und machen einen hochwertigen Eindruck. Die Abmessungen betragen 26,4 × 31,6 cm pro Seite, die je zweispaltig mit 49 bis maximal 52 Zeilen beschrieben wurden.106 Aufgrund der teilweise erhaltenen originären Lagenzählung lässt sich rekonstruieren, dass der Alexandrinus ehemals aus 105 Lagen zu jeweils vier Bögen bestand. Das Manuskript liegt heute in vier Einzelbänden vor, drei entfallen auf die Septuaginta und einer auf das Neue Testament. Die Bindung wurde mehrfach erneuert, sodass sich die ursprüngliche Gestalt des Alexandrinus nicht mehr mit Sicherheit feststellen lässt. Nach Smith deuten die Gebrauchsspuren darauf hin, dass der Alexandrinus relativ früh zu zwei Bänden gebunden wurde (Bd. 1 Gen–4Makk; Bd. 2 Mt–2Klem); eventuell war dies schon die Einteilung des Skriptoriums.107 In seiner heutigen Gestalt enthält das Manuskript diverse Paratexte, unter anderem auch in lateinischer und arabischer Sprache. Besonders interessant ist eine Anmerkung in Bd. 1 fol 3r, wonach die Abschrift des Bibeltextes „von der Hand der Thekla, einer vornehmen ägyptischen Frau“ erfolgt sein soll.108
104 Im Codex Alexandrinus fehlen von der Apokalypse einzelne Worte bzw. Wortendungen, weil sämtliche Folios am oberen, inneren Seitenrand minimale Beschädigungen aufweisen. Gelegentlich sind davon leider auch wichtige Varianten betroffen, sodass der Text 02 an diesen Stellen nicht als Zeuge zur Verfügung steht bzw. nur bedingt herangezogen werden kann. In Apk 13,16 bleibt beispielsweise ungewiss, ob er die Variante χάραγμα oder χαράγματα las. Da sämtliche Zeichen nach χα- infolge der Beschädigung fehlen, lässt sich der Text 02 hier nicht zweifelsfrei bestimmen. Infolgedessen erscheint 02 in TST 64 unter der Kennzeichnung „Lücke“; vgl. TuT-Apk, 128. 105 Über die British Library ist eine fotographische Reproduktion des neutestamentlichen Teils zugänglich: http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Royal_MS_1_d_viii, abgerufen am 24.03.2023. Eine zum Sinaiticus vergleichbare Internetpublikation steht allerdings noch aus und wäre für die Zukunft wünschenswert. Laut Parker (Introduction, 72) wäre vor allem die kodikologische und paläografische Erschließung der Handschriften voranzutreiben. Eine erste diesbezügliche Studie ist W. A. Smith, A Study of the Gospels in Codex Alexandrinus: Codicology, Palaeography, and Scribal Hands, NTTS 48, Leiden/Boston 2014. 106 Nach Turner (Typology, 26.134) zählt der Alexandrinus zu den größeren Vertretern seiner Zeit und fällt in die Kategorie II der Pergamentcodices (Seitenhöhe 30–35 cm). 107 Siehe dazu die weiteren Informationen bei Smith, Study, 44–48. 108 Siehe dazu Smith, Study, 16.32–34.
Die Majuskeln Soweit es die Identifikation der Schreiberhände betrifft, konkurrieren in der Literatur zwei Positionen: Während Kenyon insgesamt fünf Hände (I, II, III, IV, V) festmacht, gehen Milne/Skeat lediglich von zwei Kopisten aus (A/A‘, B). Die Apokalypse betrifft diese Frage insofern, als sie nach Kenyons Meinung durch den separaten Schreiber V und folglich von einem anderen als der Rest des Neuen Testaments kopiert wurde. Auch neuere Studien von Sigismund109 und Smith110 kommen in dieser Frage zu keinem Konsens: Sigismund beobachtet gewisse schreibtechnische Differenzen bei der Apokalypse gegenüber den vorherigen Büchern. Zum einen sind die Kolumnen breiter gestaltet und zum anderen hinterlässt der Schriftduktus durch weitläufigere Buchstaben insgesamt einen anderen Eindruck.111 Doch deuten diese Indizien seiner Meinung nach nicht zwingend auf einen anderen Schreiber hin, sondern denkbar wäre auch, dass die Abschrift der Johannesoffenbarung zeitverzögert zum Rest des Neuen Testaments angefertigt wurde.112 Demgegenüber vertritt Smith die Auffassung, dass die Johannesoffenbarung von einem anderen Schreiber (III) als die vorstehenden Texte stammt.113 Unabhängig davon welcher Interpretationslinie man folgt, sind zwei weitere Aspekte zu beachten: (1) Vor der Apokalypse befindet sich eine Leerseite und (2) der Textbeginn setzt auf einer neuen Lage ein.114 Allerdings trägt auch dieser nicht wesentlich zur Lösung bei, weil er sich für beide Auffassungen vereinnahmen lässt. In der vorliegenden Arbeit spielt diese Frage insofern keine Rolle, als nicht die Codexgeschichte im Fokus steht und die Apokalypse ohnedies aus der Hand eines Schreibers stammt. Dass die Apokalypse zudem als integraler Bestandteil der Bindeeinheit aufgefasst wurde, geht aus einem wenig später ergänzten Inhaltsverzeichnis her 109 M. Sigismund, Schreiber und Korrektoren in der Johannes-Apokalypse des Codex Alexandrinus, in: M. Karrer/S. Kreuzer/M. Sigismund (Hgg.), Von der Septuaginta zum Neuen Testament: Textgeschichtliche Erörterungen, ANTF 43, Berlin/New York 2010, 319–338. 110 Smith, Study, 187. 111 Sigismund, Schreiber, 326–327. 112 Sigismund, Schreiber, 329. Für den Umstand, dass die Apokalypse nicht im kontinuierlichen Produktionsprozess kopiert wurde, sind verschiedene Szenarien denkbar. Womöglich war man mit der Vorlage nicht zufrieden oder hatte zum gegebenen Zeitpunkt keine zur Hand, sodass erst ein entsprechendes Exemplar besorgt werden musste. 113 Smith, Study, 121–122. Das stärkste Argument seiner Beurteilung bildet die Verwendung einer spezifischen καί-Ligatur, die im gesamten Codex nur bei der Apokalypse auftritt und damit auf eine individuelle Hand hindeutet. Aufgrund erneuter Durchsicht des Apk-Textes im Rahmen des ECM-Projektes konnte ein solches Graphem nicht nachgewiesen werden, weshalb paläografisch keine zwingenden Gründe für die Annahme eines separaten Schreibers als Kopisten der Apokalypse vorliegen. 114 Smith, Study, 72; Andrist, croisement, 33–34.
Kurzbeschreibung der Apk-Majuskeln
vor.115 Dort erscheint die Johannesoffenbarung ebenso wie die beiden Klementinen als Schriften des Neuen Testaments, ohne dass sich aus der Auflistung eine Statusdifferenz zu den übrigen 26 Schriften erkennen ließe. Die Apokalypse steht im vierten Band auf den Folios 125r–133v, wobei die Abschrift durch Interpunktion und Spatia auffällig gegliedert ist.116 Manche Blätter weisen an den oberen Rändern kleine Beschädigungen auf, weshalb einige Lesarten nicht sicher zu entziffern sind. Laut Sigismund wurde der ApkText an 39 Stellen korrigiert, indessen sich neben dem Schreiber drei oder vier Korrekturhände unterscheiden lassen.117 Es handelt sich bei den Korrekturen in erster Linie um punktuelle Eingriffe, die orthographische Änderungen vornehmen oder andere Kleinigkeiten korrigieren. Eklatante Problemstellen wie die Auslassung ganzer Verse (Apk 5,4) bleiben dagegen erstaunlicherweise unkorrigiert. Innerhalb der Teststellenkollation weist der Alexandrinus lediglich bei Apk 2,3 (TST 13) eine Korrektur auf.118 04, Paris, BnF, Gr. 9, LDAB 2930, Apk 1,2–3,19; 5,14–7,14; 7,17–8,4; 9,17–10,10; 11,3–16,13; 18,2–19,5:119 Wie der Name zu erkennen gibt, stellt der Codex Ephraemi rescriptus ein Palimpsest dar. Ursprünglich enthielt der Ephraemi die Septuaginta und das 115 Siehe dazu Transkript in Smith, Study, 67. 116 Eine erste Untersuchung der Gliederungsmerkmale von 02 bei der Apk bietet J. M. Oesch, Die grafischen Textgliederungen der Johannesoffenbarung in den ältesten griechischen Bibelhandschriften, in: K. Huber/R. Klotz/C. Winterer (Hgg.), Tot Sacramenta quot Verba. Zur Kommentierung der Apokalypse der Johannes von den Anfängen bis ins 12. Jahrhundert, Münster 2014, 59–97. Für die ECMApk werden sämtliche Segmentierungsmerkmale von 02 mit weiteren Zeugen in einem eigens dazu konzipierten Segmentierungsapparat für die Edition dokumentiert. 117 Sigismund, Schreiber, 329–332. Außerdem begegnen in Apk 21,14 und 22,18 zwei Überarbeitungen in akzentuierter Minuskelschrift. Die Einträge sind durch die deutlich schwärzere Tinte mühelos auszumachen. 118 Die raue Perfektform καὶ οὐ κεκοπίακες wurde zu der morphologisch eigentümlichen Konstruktion και ουκ εκοπιακες modifiziert. Vermutlich war die Korrektur zum breitbezeugten Aorist ἐκοπίασας beabsichtigt, wodurch sich eine Anpassung an das Mehrheitszeugnis ergäbe: καὶ οὐκ ἐκοπίασας. 119 Die BnF stellt eine fotographische Reproduktion des Codex Ephraemi unter folgendem Link im Internet zur Verfügung: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8470433r, zuletzt abgerufen am 16.06.23. Zudem konnte der Autor der vorliegenden Arbeit als assoziiertes Mitglied des GRK 2196 „Dokument – Text – Edition“ an der Bergischen Universität Wuppertal auf hochauflösende Multispektral-Aufnahmen des Codex Ephraemi zurückgreifen, die hier maßgeblich verwendet wurden und anhand derer die auf dem Transkript von Tischendorfs beruhende Teststellenkollation nochmals eigens überprüft sowie gegebenenfalls korrigiert wurde.
Die Majuskeln Neue Testament, doch wurden die Pergamentblätter im zwölften Jahrhundert abgeschabt und mit Schriften Ephraems des Syrers wiederbeschrieben. Im heutigen Zustand haben die Seiten ein Maß von 27 × 33 cm und entsprechen damit den Dimensionen des Alexandrinus;120 ursprünglich dürfte der Seitenzuschnitt jedoch etwas größer ausgefallen sein, weil sämtliche Seitenränder beschnitten sind. In welchem Zeitraum die Produktion des Majuskeltextes zu datieren ist, wird in der gegenwärtigen Forschung kontrovers diskutiert und schwankt zwischen dem 5. und 6. Jahrhundert.121 Unter Einsatz von Chemikalien konnte der Majuskeltext im 19. Jahrhundert sichtbar gemacht werden,122 den von Tischendorf daraufhin transkribierte und 1843 in der einzigen bis heute zugänglichen Edition veröffentlichte.123 Der Bibeltext ist in einer Kolumne mit einheitlichem Blocksatz kopiert und wird augenscheinlich durch regelmäßige Interpunktion wie Spatia gegliedert. Im 20. Jahrhundert studierte Lyon den Codex erneut und vermochte zumindest einige Korrekturen an von Tischendorfs Transkript vorzunehmen. Es fehlen jedoch umfassende kodikologische und paläografische Untersuchungen des Codex, sodass seine Neuerschließung nach modernen Standards dringend erforderlich ist. Dies gilt auch für die Identifizierung der Schreiber- und Korrekturhände, die an dem Codex gearbeitet haben. Der Kenntnisstand beschränkt sich bislang auf die Erläuterungen von Tischendorfs und einigen Ergänzungen durch Lyon, die von mehreren (drei?) Schreibern und insgesamt drei Korrektoren ausgehen.124 120 Zu den Ausmaßen des Codex Ephraemi rescriptus siehe Turner, Typology, 26.134. 121 W. H. P. Hatch, The Principal Uncial Manuscripts of the New Testament, Chicago/IL 1939, Plate XX; Gregory, Textkritik I, 40; Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 19 Hatch, Gregory, KGFL II datieren ins 5. Jahrhundert, wohingegen Cavallo, Ricerche, 91–93, als Produktionsdatum das 6. Jahrhundert annimmt. 122 Es wurde wohl ein eisensulfathaltiges Gemisch aus Galläpfeln verwendet, das auch unter dem Namen Giobertinische Tinktur bekannt ist. Der Einsatz geschah auf Veranlassung des Leipziger Professors Ferdinand F. Fleck sowie des Bibliothekars Karl B. Hase und sorgte zunächst für eine erhebliche Verbesserung der Lesbarkeit des untenliegenden biblischen Majuskeltextes. Siehe Gregory, Textkritik I, 42. Doch im Nachhinein sorgte die Tinktur für eine zunehmende Beschädigung, in dem sich die übergossenen Pergamentblätter stark bläulich einfärbten. 123 Obwohl von Tischendorfs Transkript mit gewisser Skepsis betrachtet wird und als fehlerhaft gilt (so Aland/Aland, Text, 118), zeigen die TuT-Daten zumindest mit Blick auf die Apokalypse, dass es weiterhin als Grundlage für die Texterschließung verwendet werden kann. Denn aus dem Vergleich der Teststellenkollation, die noch auf von Tischendorfs Transkript basiert, und den neuen in der vorliegenden Arbeit verwendeten Multispektral-Aufnahmen geht hervor, dass von Tischendorf von wenigen Ausnahmen abgesehen den Text zuverlässig transkribierte. 124 Das Desiderat einer validen paläografischen Analyse wirkt sich besonders schwer bei der Identifikation der Schreibhände aus. In der bisherigen Forschung kursieren verschiedene Vermutungen über die Zahl der Hände, wobei lediglich Einigkeit darüber herrscht, dass unter-
Kurzbeschreibung der Apk-Majuskeln
Vom Neuen Testament fehlen restlos der zweite Thessalonicher- sowie der zweite Johannesbrief, sie dürften aber zum ursprünglichen Schriftenbestand des Codex gezählt haben. Vermutlich gingen die Blätter im Zuge der Umarbeitung verloren, bei der die originären Lagen aufgelöst und anschließend neu geordnet wurden.125 Von der Apokalypse blieben acht Blätter mit 1,2–3,19; 5,14– 7,14; 7,17–8,4; 9,17–10,10; 11,3–16,13; 18,2–19,5 erhalten; es ging also circa ein Drittel des Textes verloren.126 Schließlich konnte 04 immerhin an 87 Teststellen dokumentiert werden,127 was eine solide Bewertung des Textzeugnisses und dessen Relationen erlaubt.
schiedliche Schreiber die erhaltenen Septuaginta-Teile und das Neue Testament kopierten. Ob auch innerhalb des Neuen Testaments verschiedene Hände zu erkennen sind, lässt sich sehr viel schwerer bestimmen. Von Tischendorf machte darauf aufmerksam, dass die Schreibung des nomen sacrums ισλ (= ἰσραήλ) in der Apostelgeschichte vom Rest des Neuen Testaments (ιηλ) abweicht. Traube vermutete deswegen, dass die Apostelgeschichte möglicherweise von einer anderen Hand geschrieben wurde. L. Traube, Nomina Sacra - Versuch einer Geschichte der christlichen Kürzungen, Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 2, München 1907, 70–71. Lyon konnte bei seiner Untersuchung des Codex jedoch keine weiteren Indizien für diese Annahme finden und schlägt stattdessen vor, dass eventuell das Johannesevangelium und die Apokalypse aus einer anderen Hand als das übrige Neue Testament stammen. R. W. Lyon, A Re-Examination of Codex Ephraemi Rescriptus, NTS 5 (1958), 260–272, 264. Seine Argumentation basiert auf wenigen orthographischen Eigenheiten wie der Schreibung θε für θαι, τε für ται und η für ει sowie der konzeptionellen Besonderheit, dass der titulus initialis des Johannesevangeliums in zwei statt wie sonst einer Zeile geschrieben wurde. Für eine gesicherte paläografische Identifizierung der Schreiberhände des Codex Ephraemi im modernen Sinne reichen diese Beobachtungen jedenfalls nicht aus, zumal die genannten Auffälligkeiten auch ohne Weiteres auf die verwendeten Vorlagen zurückgehen können und damit nur bedingt einen Indikator für verschiedene Kopisten darstellen. Mit Blick auf die Korrekturen differenziert von Tischendorf drei Stufen: C1 bilden die Schreiberkorrekturen und stammen aus dem Skriptorium, wohingegen C2 einen späteren Bearbeiter aus dem 6. Jahrhundert markiert. Dazu kommt der Korrektor C3, der vor allem Akzente wie Spiritus zum Majuskeltext ergänzte und ins 9. Jahrhundert datiert wird. Vgl. Tischendorf, Codex Ephraemi, 22–28. Doch auch diese Klassifikation bedarf einer kritischen Überprüfung und sollte daher mit Vorbehalt betrachtet werden. Denn abhängig von der angenommenen Produktionszeit des Codex wären gegebenenfalls auch die Korrektoren neu zu datieren. 125 Im NT.VMR wurde die Ordnung nach Nestle-Aland28 artifiziell hergestellt, um die Benutzung der Handschrift zu erleichtern. Dies darf aber nicht zu dem Fehlschluss führen, der Ephraemi enthalte abzüglich der verlorenen Blätter das Neue Testament in unserer gewohnten Ordnung. 126 Die Blätter mit Apk-Text sind: fol. 66 73 120 123 128 187 192 197. 127 Vgl. TuT-Apk, 232.
Die Majuskeln 025, Codex Porfirianus (St. Petersburg, Russ. Nat. Bibl., Gr. 225), Apk 1,1–16,11; 17,2–19,20; 20,10–22,5:128 Der Codex Porfirianus ist ein Palimpsest, das sowohl in der unteren wie oberen Textschicht neutestamentliche Schriften bietet: Unten befindet sich der mit 025 bezeichnete Majuskeltext (von Soden α 3; Hoskier P), der ins 9. Jahrhundert datiert wird, und oben steht der im Jahr 1301 angefertigte Minuskeltext (GA 1834).129 Während 025 den Praxapostolos mit Apokalypse enthält, fehlt letztere in 1834. Laut Kurt Treus Beschreibung sind die Pergamentblätter in einem desolaten Zustand und infolge chemischer Behandlung vergleichbar zu 04 weitgehend blau eingefärbt.130 Der Codex bestand ursprünglich aus 42 Quaternionen, wobei von der Apokalypse aus Lage 41 der erste sowie aus Lage 42 der zweite, siebte und achte Bogen verlorengingen; es fehlen somit 16,12–17,1; 19,21–20,9 und 22,6–21.131 Die Abschrift der Apk ist ferner mit der vorangestellten Kapitelliste und den Kephalaia-Nummern in margine aus dem Andreas-Kommentar ausgestattet. Da zu 025 keine nutzbaren fotographischen Reproduktionen existieren oder die Handschrift auf andere Weise zugänglich war, basieren die Textdaten in TuT-Apk auf von Tischendorfs Transkript.132 046, Vatikan, Bibl. Apost. Vat., gr. 2066, Apk 1,1–22,21: 046 bezeichnet eine zwanzig Blätter umfassende Pergamenthandschrift der Apokalypse, die sich auf den Folios 249r–268r in dem Mischcodex Bibl. Apost. Vat., gr. 2066 befindet. Die Handschrift wurde zwischen dem 9. und 10. Jahrhundert produziert.133 Neben der Apokalypse enthält der Codex diverse Kirchenväterschriften, darunter zwei von Basilius d. Gr. und acht des Gregor von Nyssa.134 Die Seiten sind auf 19 × 27,5 cm zugeschnitten und zu 35 Zeilen bei einer Spalte beschrieben. Die Buchstaben sind sehr gleichmäßig, beinahe quadratförmig gestaltet und der Text trägt durchgängige Akzente. Weitere nennenswer-
128 Apk: Tischendorf, Monumenta sacra inedita. Nova Collectio VI, 1–88. 129 Vgl. zu 025 und 1834 die Angaben bei Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 22.151. 130 K. Treu, Die griechischen Handschriften des Neuen Testaments in der UdSSR: Eine systematische Auswertung der Texthandschriften in Leningrad, Moskau, Kiev, Odessa, Tbilisi und Erevan, TU 91, Berlin 1966, 101–104. 131 Abgesehen von den fehlenden Seiten konnte von Tischendorf den Apk-Text an einigen Stellen nicht entziffern und markierte diese Passage durch Punkte im Transkript. 132 Siehe TuT-Apk, 7*. 133 Datierung laut Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 23. 134 Vgl. das vollständige Digitalisat des Codex im Internet unter folgendem Link: http://digi.vatlib.it/mss/detail/Vat.gr.2066, abgerufen am 16.06.23.
Kurzbeschreibung der Apk-Majuskeln
te Ausstattungsmerkmale weist die Abschrift der Apokalypse nicht auf und darf damit als vergleichsweise schlichte Textkopie gelten. Bei 051 und 052 handelt es sich um zwei fragmentarische Handschriften aus Pergament, die jeweils den Apk-Text in Kombination mit dem AndreasKommentar enthalten: 051, Athos, Pantokratoros, 44, 92 Bl., 18 × 23 cm, 1 Sp., Apk 13,1; 13,3–22,7; 22,15–21135; 052, Athos, Panteleimonos, 99,2, 4 Bl., 23 × 29 cm, 2 Sp., Apk 7,16–8,12136. Nach derzeitigem Kenntnisstand werden beide Handschriften ins 10. Jahrhundert datiert und würden damit die ältesten erhaltenen Exemplare des Andreaskommentars verkörpern. Ob diese Datierung sich als zutreffend erweist oder stattdessen von einer späteren Produktionszeit auszugehen ist, wäre paläografisch nochmals kritisch zu überprüfen. Es kommen bei diesen Handschriften nämlich verschiedene Faktoren zusammen, die sowohl ihre Klassifikation wie auch Datierung erheblich verkomplizieren. In der bisherigen Forschung wurden beide zumindest temporär auch als Minuskeln eingeordnet: Während von Tischendorf 052 unter dem Siglum 183137 aufführte, listete Gregory 051 zunächst als Minuskel 1526138. Als Ursache für die schwankende Klassifikation darf die Besonderheit gelten, dass in beiden Handschriften Apk-Text und Kommentar in unterschiedlichen Schrifttypen kopiert sind. Im Gegensatz zum Kommentar, der in zeitgenössischen Minuskelbuchstaben steht, wurde der Apokalypsetext in sog. Auszeichnungsmajuskel kopiert.139 Die Verwendung 135 Vgl. Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 24. 136 Vgl. Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 24. 137 In den Prolegomena zur editio octava führt Gregory das Manuskript 183 als letzte Minuskel der Apokalypse auf; dieses Objekt ist mit 052 identisch; vgl. C. R. Gregory, Novum Testamentum Graece. Ad antiquissimus testes denuo recensuit. Apparatum criticum omni studio perfectum apposuit commentationem isagogicam. Volumen III: Prolegomena pars altera, Leipzig 1890, 686; Gregory, Textkritik III, 1046–1047. 138 Gregory erhielt Kunde von der Handschrift durch Lake und gab ihr zunächst die Kennziffer 1526, womit er sie als Minuskel klassifizierte. Erst später, nachdem er das Fragment selbst in Augenschein genommen hatte, änderte Gregory seine Meinung und ordnete sie als Majuskel 051 ein; vgl. Gregory, Textkritik III, 1046. 139 Zu diesem bislang eher vernachlässigtem Phänomen der griechischen Paläografie siehe H. Hunger, Epigraphische Auszeichnungsmajuskel. Beitrag zu einem bisher kaum beachteten Kapitel der griechischen Paläographie, Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 26 (1977), 193–210; H. Hunger, Minuskel und Auszeichnungsschriften im 10.-12. Jahrhundert, in: Glénis-
Die Majuskeln zweier Schrifttypen dient augenscheinlich der besseren Unterscheidung zwischen dem eigentlichen Text der Apokalypse und den jeweiligen Kommentarabschnitten. Neben 051 und 052 begegnet dieselbe Praxis der Textdifferenzierung in drei weiteren Handschriften, und zwar 91140, 1773141 sowie partiell 2351 (Abbildungen sind über den NT.VMR zugänglich). Obwohl Befund paläografisch in allen drei Handschriften vergleichbar ist, werden sie listentechnisch unterschiedlich erfasst – mal als Majuskeln (051. 052) und mal als Minuskeln (91. 1773. 2351). Ungeachtet der Frage in welche Kategorie die Handschriften mit artifizieller Großschrift eingeordnet werden, sollte die Klassifizierung für alle betreffenden Objekte gleichermaßen erfolgen. Da zumindest 051 in NA28 zu den „ständigen Zeugen für die Apokalypse“142 zählt sowie 051 und 052 außerdem als Majuskeln für die ECM der Apk ausgewählt wurden, ist ihre Klassifizierung keineswegs unerheblich und hat unter Umständen direkte Auswirkungen auf ihre Beurteilung. Denn anders als bei 01 oder 02 rechtfertigen weder das Alter noch die Textqualität der Handschriften 051 und 052 ihre Zugehörigkeit zu den ständigen Zeugen der Apk. Aufgrund des geringen Textbestands konnte 052 an keiner TST in TuT-Apk verzeichnet werden. Was 051 betrifft hat der Zeuge einen hohen Anteil an LA-4 und Sonderlesarten. Die Rate an LA-4mS liegt bei 71 %, womit die Zugehörigkeit der Handschrift zur Andreas-Gruppe außer Frage steht. Bei einer Quote von 0 % an LA-2 und lediglich 31,2 % an LA-2mS ist die Wiedergabe der Handschrift als ständiger
son J./J. Bompaire/J. Irigoin (Hgg.), La paléographie grecque et byzantine. Paris, 21-25 octobre 1974 (Colloques internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique), Éditions du Centre National de la Recherche Scientifique, Paris 1977, 201–220; P. Orsini, La maiuscola distintiva ‘liturgica ornata’, in: M. D’Agostino/P. Degni (Hgg.), Alethes Philia. Studi in onore di Giancarlo Prato. Tomo secondo (Collectanea), vol. 2, Fondazione Centro italiano di studi sull’alto medioevo, Spoleto 2010, 525–540; P. Orsini, Scrittura come immagine. Morfologia e storia della maiuscola liturgica bizantina, Rom 2013; A. Rhoby, Epigraphica-Palaeographica. Weitere Überlegungen zur epigraphischen Auszeichnungsmajuskel in byzantinischen Handschriften, vor allem auf Basis der Analyse von Texten in Versform, Scripta: An International Journal of Codicology and Palaeography 11 (2018), 75–91. 140 Das ins 11. Jahrhundert datierte Dokument GA 91 (Paris, Bibl. Nat., Gr. 219) stellt einen umfänglichen aus 313 Pergamentblättern bestehenden Codex dar, der den Praxapostolos und die Apokalypse jeweils mit Kommentaren enthält. Der Apokalypsetext steht hier in Verbindung mit dem Kommentar des Arethas Caes.; siehe Sigismund, Quaestiones Arethae I, 430. 141 Die Handschrift GA 1773 (Athos, Vatopediu, 17) besteht aus 188 Pergamentblättern und beinhaltet den Andreas-Kommentar mit Apk-Text im Wechsel. 142 Nestle-Aland28, 23*.
Kurzbeschreibung der Apk-Majuskeln
Zeuge in NA28 nicht mehr zu rechtfertigen.143 Analog zu 052 sollte auf die Zitation von 051 in zukünftigen Auflagen der Handedition verzichtet werden. Mit Blick auf 051 kommt außerdem hinzu, dass sich das allgemeine Erscheinungsbild des Textes und der Stil beider Schrifttypen ab Folio 70v deutlich ändert im Vergleich zu den vorherigen Seiten. Neben dem Verschwinden der Zierinitialen zu Beginn jeden Abschnitts fallen insbesondere die breiteren Buchstaben und die deutlich nach rechts geneigten Schriftzüge auf. Diese Indikatoren sprechen entweder für einen Schreiberwechsel während des originären Produktionsprozesses oder für die Fortsetzung der Abschrift zu einem späteren Zeitpunkt. Die Teilhandschrift 051 befindet sich in einem Mischcodex, der außer dem Andreas-Kommentar mit Apk-Text diverse nicht-biblische Schriften enthält. Im Anschluss an den Andreas-Kommentar (fol. 89r) beginnt auf der Folgeseite (fol. 89v) eine neue Schrift unter dem Titel Ἰωάννου τοῦ Δαμασκηνοῦ Περὶ τῶν ἐν πίστει κεκοιμημένων (Johannes von Damaskus, Über die im Glauben Verstorbenen); die Abschrift dieses Textes wurde durch denselben Kopisten angefertigt, der auch den Andreas-Kommentar ab fol. 70v abschrieb. Die Kopie des zweiten Textes bleibt unvollständig und endet auf fol. 93v, obwohl der Codex noch mindestens ein weiteres, unbeschriebenes Blatt enthält.144 Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass es sich bei Athos, Pantokratoros, 44 um eine sekundäre Umlaufeinheit handelt und keineswegs um die originäre Sammlungssituation, in der die Apokalypse eingebettet war. Mit Blick auf 052 lassen sich aus Mangel an Informationen gar keine Aussagen über das vorhandene Fragment treffen.145 Im NT.VMR sind ausschließlich die Abbildungen zum Andreas-Kommentar mit Apokalypse eingestellt, wonach die Seitenränder der Handschrift abgeschnitten sind und die Folios keine Blattzählung enthalten.
143 Vgl. zu den genannten Zahlen TuT-Apk, 427.430.519. 144 Vgl. dazu die kurze Beschreibung des Codex bei S. P. Lampros, Catalogue of the Greek Manuscripts on Mount Athos. Vol. 1, Cambridge 1895, 97 Nr. 1078. Siehe die online Beschreibung unter folgendem Link im Internet: Description ParaTexBib by Darius Mueller (2021), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=29063, access date: 16.06.2023. 145 An zu erwartender Stelle fehlt das Dokument Athos, Panteleimonos 99,2 im Katalog S. P. Lampros, Catalogue of the Greek Manuscripts on Mount Athos, vol. 2, Cambridge 1900, 292 Nr. 5605.
Die Majuskeln 0207, PSI X 1166 (Florenz, Bibl. Medicea Laur., PSI 1166), LDAB 2792, Apk 9,2–15:146 Das Fragment 0207 stellt abgesehen von zwei Löchern in der Seitenmitte ein völlig intaktes Pergamentblatt dar, dessen Abmessung 15,2 × 18,7 cm betragen. Es enthält auf beiden Seiten zu zwei Spalten von je neunundzwanzig Zeilen kopiert den Text von Apk 9,2–15.147 Die Majuskel-Schrift wird in die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts datiert, sodass die Produktion der Handschriften wohl etwas später als die des Sinaiticus erfolgte.148 An den oberen Rändern des Blattes steht auf beiden Seiten die ursprüngliche Paginierung: Fleischseite υοζ̣ʹ (477) und Haarseite υοηʹ (478).149 Demnach handelt es sich bei 0207 zweifellos um das verbliebene Blatt eines umfänglichen Codex; zur Frage, welche Schriften er möglicherweise enthielt, diskutieren Malik/Müller mehrere Optionen:150 – Es könnte sich um die Reste eines Codex handeln, der ursprünglich auch nichtbiblische Texte enthalten hat.151 In diesem Fall lassen sich keine näheren Aussagen über seinen originären Inhalt treffen. – Nach Pintaudis Ansicht könnte der Codex das gesamte Neue Testament umfasst haben.152 Bei diesem Szenario müsste sich die Apokalypse inmitten des Codex zwischen den vier kanonischen Evangelien und dem Praxaposto-
146 Editionen: G. Vitelli, Papiri greci e latini: Volume decimo, ni. 1097–1181, Pubblicazioni della Società Italiana per la ricerca dei Papiri greci e latini in Egitto, Florenz 1932, 118–119; R. Otranto, PSI X 1166, in: G. Cavallo/O. Cremer/R. Pintaudi (Hgg.), Scrivere libri e documenti nel mondo antico: Mostra di papiri della Biblioteca Medicea Laurenziana, Firenze, 25 agosto–25 settembre 1998, Florenz 1998, 121. 147 Aufgrund des geringen Textbestands konnte 0207 an keiner Teststelle in TuT-Apk erfasst werden. Nach Schmid steht das Fragment einerseits 02 und andererseits der Koine-Gruppe nahe. Siehe J. Schmid, Der Apokalypse-Text des Kodex 0207 (Papiri della Societa Italiana 1166), BZ 23 (1936), 187–189, hier 188. Ob 0207 eventuell eine frühe Vorstufe der Koine-Tradition erhalten hat, wäre noch genauer zu untersuchen. 148 Der Schreibstil zeichnet sich durch eine ebenso regelmäßige wie feine Strichführung aus und wird von Cavallo als „la maiuscola ogiviale diritta“ beschrieben; siehe Cavallo, Ricerche, 66. Auf der Fleischseite ist der Text weitgehend ausgewaschen und daher nur mühsam zu entziffern. 149 Der erste Hinweis auf die Paginierung findet sich bei R. Pintaudi, Note codicologiche su due codici tardoantichi: PSI X 1166 (Apocalisse 9,2–15) e PSI X 1171 (Aristofane, Nuvole 577– 635), Analecta Papyrologica 21–22 (2009), 127–128. 150 P. Malik/D. Müller, Recovering the lost Contents of PSI X 1166 (GA 0207): Codicological Reflections on a Fourth-Century de Luxe Copy of the Apocalypse, JThS 69 (2018), 83–95, hier 88–92. 151 Es existiert eine lange Reihe an Mischcodices, die vom Neuen Testament nur die Apokalypse unter diversen nicht-biblischen Texten enthalten. Häufig sind dabei Kombinationen mit Schriften der drei Kirchenväter Basilius von Caesarea, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa (vgl. z.B. 046. 2018. 2038. 2060. 2069. 2286. 2429. 2436). 152 Pintaudi, codicologiche, 128.
Kurzbeschreibung der Apk-Majuskeln
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los befunden haben. Obwohl diese Möglichkeit nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, ist sie doch eher unwahrscheinlich, zumal der Codex dazu über 480 Blätter stark gewesen sein müsste.153 Eventuell beinhaltete der Codex eine Teilsammlung des Neuen Testaments. Am häufigsten ist in griechischen Handschriften die Verbindung aus Praxapostolos (Acta, Katholische Briefe, Paulusbriefe) und Apokalypse.154 Doch auch gegen dieses Szenario sprechen Platzkalkulationen, wonach der zur Verfügung stehende Raum für den gesamten Praxapostolos vor der Apokalypse zu gering ausfällt. Demgegenüber wäre die Kombination mit den vier kanonischen Evangelien der wahrscheinlichere Sammlungsbestand an neutestamentlichen Schriften, obwohl auch diese Lösung einige Probleme bereitet: (1) Ab dem elften Jahrhundert sind überhaupt nur acht griechische Handschriften aktenkundig, die die Apk ausschließlich in Kombination mit den Evangelien enthalten: 792 1006 1551 1685 2323 2643 2656 2794.155 Folglich handelt es sich um eine ebenso späte wie seltene Schriftenverknüpfung, wozu 0207 eine bemerkenswerte Ausnahme darstellen würde. (2) Es muss vorausgesetzt werden, dass der Codex tatsächlich die vier kanonischen Evangelien umfasste, was für das 4. Jahrhundert keineswegs zwingend ist. (3) Ungelöst bleibt die Frage, ob auf die Apokalypse noch weitere Schriften – vielleicht kürzere Beigaben – folgten.
Unter Beachtung verschiedener Möglichkeiten lässt sich also über den originären Schriftenbestand von 0207 nur spekulieren, wobei die Kombination mit den vier kanonischen Evangelien basierend auf Platzberechnungen das denkbarste Sammlungsszenario darstellt. Obwohl die vorhandenen Daten lediglich mit Sicherheit auf einen umfänglichen Codex schließen lassen, ist der Befund für das 4. Jahrhundert dennoch beachtenswert. Das Blatt belegt nämlich, dass etwa zeitgleich zum Sinaiticus weitere umfangreiche Handschriften existierten, die unter anderem auch die Apokalypse enthielten. 153 Zum Vergleich: Der Codex Sinaiticus enthielt ursprünglich 743 Blätter und der Alexandrinus 824 Blätter, wobei sie die gesamte griechische Bibel umfassten. 154 Beginnend mit 025 existieren ab dem neunten Jahrhundert zahlreiche Handschriften, die Apostelgeschichte, Katholische und Paulinische Briefe sowie die Apokalypse enthalten: z.B. 82. 91. 93. 104. 110. 172. Dabei kann die Apk mal mit einem Kommentar verbunden sein und mal nicht. 155 Auf die möglichen christologischen Implikationen, die zu dieser Sammlung geführt haben, weist hin M. Sommer, What do Revelation’s handwritings tell us about its post-canonical role and function in the Bible, in: T. J. Kraus/M. Sommer (Hgg.), Book of Seven Seals. The Peculiarity of Revelation, its Manuscripts, Attestation, and Transmission, WUNT 363, Tübingen 2016, 175–197, 191.
Die Majuskeln 0229, PSI XIII 1296b (Florenz, Bibl. Medicea Laur., PSI 1296b), LDAB 2839, Apk 18,16–17; 19,4–6:156 Das Fragment 0229 stellt wiederum ein Palimpsest dar.157 Es besteht aus zwei mutilierten Pergament-Bifolia in den Abmessungen 24 × 12 cm. Der untenliegende Text ist zweispaltig und in koptischer Sprache geschrieben, während der obere griechische Text in einer Kolumne steht. Die Datierung des jüngeren griechischen Textes schwankt zwischen dem 6. bis 8. Jahrhundert.158 Auf dem ersten Bogen befindet sich eine kalendarische Aufstellung ägyptischer Monate sowie ein von anderer Hand kopierter Dialog zwischen Gregor von Nazianz und Basilius von Caesarea. Der zweite Bogen bietet schließlich Apk 18,16–17 und 19,4–6; die Niederschrift des Apk-Textes stammt scheinbar aus derselben Hand, die auch den vorhergehenden Dialog kopierte. Weil dahingehende Informationen fehlen, kann weder der Umfang des Fragments näher bestimmt noch ermittelt werden, in welcher Form die vorhandenen Blätter möglicherweise zusammengebunden waren oder als lose Blattsammlung aufbewahrt wurden. Ebensowenig lässt sich einschätzen, ob die Abschrift der Apokalypse vollständig oder nur exzerptartig erfolgte. Die Verknüpfung aus Apokalypse mit kalendarischen und patristischen Texten dürfte dem persönlichen Interesse einer Privatperson geschuldet sein; auszuschließen ist jedenfalls, die Herstellung einer dezidiert neutestamentlichen Handschrift. Die drei nachfolgenden Handschriften werden zusammen besprochen, da es sich um auffällig kleinformatige Reproduktionen der Apk handelt: 0163, P.Oxy. VI 848 (Chicago, IL, Univ. Libr., Orient. Inst. 9351), LDAB 2799, Apk 16,17–20:159 Das Pergamentblatt hat die Maße 3,8 × 8,6 cm und enthält auf Vorder- und Rückseite Apk 16,17–18.19–20.160 Der Text ist in einer Spalte geschrieben, wobei je-
156 Editionen: M. Naldini, Documenti dell’Antichità cristiana. Papiri e pergamene greco-egizie della Raccolta Fiorentina, Florenz 1965, 20 (Nr. 23) u. 25 (Nr. 30). 157 Im NT.VMR befindet sich derzeit keine fotographische Reproduktion zu 0229; es sind aber einfache Farbaufnahmen unter folgendem Link im Internet zugänglich: http://www.psionline.it/documents/psi;13;1296, abgerufen am 24.03.2023. 158 Zur problematischen Datierung von 0229 vgl. die Angaben in G. Cavallo/H. Maehler, Greek Bookhands of the Early Byzantine Period, A.D. 300-800, BICS 47, London 1987, 64; Cavallo, Ricerche, 120–121; Turner, Typology, 163. 159 Edition: B. P. Grenfell/A. S. Hunt, The Oxyrhynchus Papyri. Part VI, Egypt Exploration Society, London 1908, 6. 160 Eine fotographische Reproduktion von 0163 findet sich im Internet unter folgendem Link: http://goodspeed.lib.uchicago.edu/ms/index.php?doc=9351, zuletzt abgerufen am 24.03.2023.
Kurzbeschreibung der Apk-Majuskeln
weils drei vollständige und die Reste dreier weiterer Zeilen erhalten blieben. Dies lässt eine relativ genaue Rekonstruktion der originären Dimensionen des Blattes zu, die sich circa auf 4 × 12 cm belaufen dürften. Nach Turner gehört 0163 zur Gruppe Pergamentcodices in Miniaturformat (= Gruppe XIV).161 Die Produktionszeit der Handschrift lässt sich schwer bestimmen, wird aber allgemein für das 5. bis 6. Jahrhundert angenommen.162 0169, P.Oxy. VIII 1080 (Princeton, NJ, Theol. Sem., Speer Libr., Pap. 5), LDAB 2793, Apk 3,19–4,3:163 Das überkommene Pergamentblatt, das auf recto und verso Apk 3,19–4,3 enthält, ist abgesehen vom unteren Drittel erstaunlich gut erhalten und hat ein Format von 9 × 7 cm. An den oberen Seitenrändern ist zudem die originäre Paginierung λγʹ bzw. λδʹ, wonach das Blatt eindeutig zu einem umfangreicheren Codex gehörte.164 Orsini/Clarysse gehen von einer Produktion der Abschrift im 4. Jahrhundert aus,165 wonach das Blatt in einer Reihe mit den ältesten Textzeugen der Apokalypse steht. Insgesamt kann 0169 damit ebenfalls zu den Miniaturbüchern gerechnet werden. 0308, P.Oxy. LXVI 4500 (Oxford, Ashmolean Museum), LDAB 7162, Apk 11,15–18:166 Bei weitgehendem Verlust aller Seitenränder belaufen sich die Ausmaße des erhaltenen Pergamentstücks auf 5,9 × 4,8 cm, dessen originären Dimensionen bei circa 8 × 8 cm liegen.167 Es bietet auf Vorder- und Rückseite Apk 11,15–18 in einspaltiger Beschreibung. Weil die Seitenränder fehlen, gibt es anders als bei 0169 keine sicheren Anhaltspunkte für seine Funktion. Mit Rücksicht darauf, 161 Nach Turner ist ein Pergamentcodex als Miniaturhandschrift zu definieren, wenn das Seitenmaß in der Breite geringer als 10 cm ausfällt; vgl. Turner, Typology, 29.31. 162 Zur Datierung von 0163 siehe van Haelst, Catalogue, 564, Nr. 566. 163 Editionen: Hunt, Oxyrhynchus Papyri VIII, 14; Blumell/Wayment, Christian Oxyrhynchus, 310–320. 164 Unter der Annahme, dass der Codex ausschließlich die Apokalypse enthielt, rekonstruiert Malik seinen ursprünglichen Umfang auf 48 Bifolia, die möglicherweise zu 12 Quaternionen gebunden waren. Vgl. P. Malik, P.Oxy. VIII 1080. A Fresh Edition and Textual Notes on a Miniature Codex of the Apocalypse, APF 63 (2017), 310–320, hier 311. 165 Orsini/Clarysse, Manuscripts, 472. Diese Datierung vertritt auch Malik, wobei er die Hand gegenüber dem klassischen ‚strengen Stil‘ als stärker serifenhaft und ornamental beschreibt. Folglich müsse die Handschrift aus der Übergangphase vom strengen Stil zur späteren ogivalen Majuskel stammen. Vgl. dazu die Beschreibung der Hand bei Malik, P.Oxy. VIII 1080, 312. 166 Editionen: Blumell/Wayment, Christian Oxyrhynchus, 160–162; Chapa, et al., Oxyrhynchus Papyri LXVI, 35–37. 167 Vgl. Blumell/Wayment, Christian Oxyrhynchus, 161.
Die Majuskeln dass der Text auf beiden Seiten kontinuierlich verläuft, dürfte es sich wiederum um das verbliebene Blatt eines Miniaturcodex handeln.168 Das Material ist so fein, dass die Schrift von der Gegenseite durchschimmert, und das gleichmäßige Schriftbild verleiht dem Text eine gut lesbare Gestalt.169 Insgesamt deuten die Qualität des Pergaments sowie die Schreiberleistung auf eine hochwertige Handschrift hin. Laut Orsini/Clarysse wurde die Textabschrift im Zeitraum zwischen 250 und 300 produziert,170 wohingegen sie die Editio princeps etwas später ins 4. Jahrhundert datiert.171 Damit stellt 0308 entweder einen Zeitgenossen des Sinaiticus dar oder stammt sogar aus noch früherer Zeit – jedenfalls gehört auch dieses bemerkenswerte Exemplar zu den ältesten Textzeugen der Apokalypse.
168 Der vorhandene Text über das Erschallen der siebten Posaune als Ankündigung der Herrschaft Christi über die Welt ließe auch an ein Amulett denken. Auf dem Pergament finden sich allerdings keine Spuren wie Kordellöcher oder Faltlinien, die auf eine solche Verwendung hindeuten würden. Denkbar wäre noch, dass das Blatt in einem kleinem Hohlzylinder um den Hals hängend getragen wurde. In dem Fall würde es sich um das Exemplar einer seit ägyptischer Zeit belegten Sondergattung der Amulette handeln. Obwohl eine Verwendung von 0308 nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, ist sie letztendlich doch ziemlich unwahrscheinlich. In seiner Untersuchung spätantiker Amulette mit neutestamentlichem Text nennt Brice C. Jones einige Merkmale, die solche Textträger in aller Regel auszeichnen: Demnach bestehen sie vorwiegend aus Papyrus, bieten keinen kontinuierlichen Text, sind nur einseitig beschrieben und das Schriftbild hat flüchtige bis unprofessionelle Züge. Siehe Jones, Texts, 26–40; M. J. Kruger, P. Oxy. 840: Amulet or Miniature Codex?, JThS 53 (2002), 81–94, hier 85–89; T. J. Kraus, P.Oxy. V 840 – Amulett oder Miniaturcodex?, ZAC 8 (2005), 485–497, hier 491–494. Daran gemessen ist das Blatt 0308, das aus Pergament besteht, beidseitig fortschreitenden Text aufweist und offenbar aus der Hand eines professionellen Schreibers stammt, wohl kaum als Amulett benutzt worden; stattdessen sprechen alle Charakteristika dafür, dass es sich um das Blatt eines äußerst kleinformatigen Codex handelt. Siehe dazu Kruger, Amulet, 91–92; Blumell/Wayment, Christian Oxyrhynchus, 161. 169 Der Text bezeugt zwei nomina sacra (κυ, χρυ) und eine Zahl in Ziffernschreibung (κδ), die jeweils durch Oberstrich als Abkürzungen markiert sind (Fleischseite, Zeilen 2.3.6). 170 Orsini/Clarysse, Manuscripts, 465.472. Als Vergleichsobjekte zur Bestimmung der Produktionszeit von 0308 werden P23 (LDAB 2770) und PSI VIII 980 (LDAB 3134) angeführt. 171 Chapa, et al., Oxyrhynchus Papyri LXVI, 37.
Beobachtungen zum Text von 01, 02, 04, 0169 und 0229
. Beobachtungen zum Text von 01, 02, 04, 0169 und 0229 .. 01, 02 und 04 in TuT-Apk Während die Zeugnisse von 01 und 02 weitgehend bekannt sind und ihr hoher Wert für die Apk außer Frage steht, ist der Text von 04 weit weniger erschlossen und seine Bedeutung noch nicht abschließend geklärt. Die geläufigen Schwächen von 01 werden durch TuT-Apk bestätigt: 01 bietet neun Singulärlesarten an 123 verglichenen Teststellen, was eine Quote von 7,3 % ergibt.172 Davon erklären sich die meisten als Fehler oder selbstständige Eingriffe in den Text, die auf das Konto der Person gehen, die die Kopie anfertigte: etwa die eigentümliche Doppelung ὡς ὅμοιον aufgrund des dreimaligen ὅμοιον in 4,7, die Fehler προσκυνιν (προσκυνεῖν) in 13,12 und τω πατρι ησαντι statt τῷ ποιήσαντι in 14,7 sowie die unsinnige Änderung von πρῶτα zu πρόβατα in 21,4 durch Paralleleinfluss.173 Gleichwohl ist 01 einer der wichtigsten Zeugen für die Apk mit einem Anteil von 55,9 % an LA-2 und 59,6 % an LA-2mS.174 Es fällt jedoch auf, dass der Anteil an potenziell alten Lesarten von 01 im Vergleich zu 02 um bis zu 27 Prozentpunkte niedriger ausfällt. Gemäß TuT-Apk bekundet 02 eine Rate von 83 % an LA-2 sowie 83,9 % an LA-2mS und steht damit zumindest in der Sortierung nach LA-2 an der Spitze.175 Das Zahlenmaterial sollte jedoch mit Vorsicht interpretiert werden, da der gegenwärtige kritische Text von NA28 vielfach Sonder- und Singulärlesarten von 02 gegen den Rest der Überlieferung favorisiert.176 Hierin spiegelt sich die in den Editionen seit Lachmann angelegte, seit Weiss textgeschichtlich explizit postulierte und seitdem allgemein akzeptierte Ansicht über den hohen Wert der Handschrift 02, die „den überlieferten Text treuer bewahrt hat, auch in seinen Fehlern“177 als andere Zeugen und auch „als der wertvollere Zeuge des Typs AC bezeichnet werden“178 muss. Inwiefern diese mitunter einseitige Bevorzugung von 02 gerechtfertigt oder ob sie mithin in manchen Aspekten zu korrigieren ist, bleibt zunächst im
172 Vgl. TuT-Apk, 231. 173 Die eine oder andere Singulärlesart mag durchaus erklärbar sein oder auf ein durchdachtes Textverständnis hindeuten (siehe zu den erwähnten Singulärlesarten Hernández, Scribal Habits, 66 [Anm. 99], 64 [Anm. 87]), doch dokumentieren sie vor allem die Nachlässigkeiten der Person, die den Text niederschrieb. 174 Vgl. TuT-Apk, 422. 175 Vgl. TuT-Apk, 422. 176 Z. B. Apk 5,9 τῷ θεῷ oder 13,10 ἐν μαχαίρῃ ἀποκτανθῆναι αὐτὸν ἐν μαχαίρη. 177 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 144. 178 Schmid, Studien II, 109.
Die Majuskeln Detail an den betroffenen variierten Stellen zu prüfen und anschließend textgeschichtlich zu analysieren. Nun stellt sich aber die Frage, wo der Zeuge 04 in Bezug auf seinen Textwert nach TuT-Apk einsortiert werden muss. Bedauerlicherweise fehlt 04 ungefähr ein Drittel der Apk, sodass die Handschrift lediglich an 87 von 123 Teststellen dokumentiert werden konnte. Obgleich eine größere Menge an Vergleichsstellen immer wünschenswert ist, erlaubt die durchgeführte Kollation eine fundierte Analyse des Textes. Die wichtigsten Auswertungsdaten lauten wie folgt:179 Tab. 10: Textzusammensetzung 04 nach TuT-Apk Hs
LA- LA-mS LA-mS LA-mS LA-mS
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Die vorangehende Tabelle spiegelt die Daten der Sortierungsliste nach dem Anteil an LA-2 aus TuT-Apk, wobei 01 und 02 als Referenzhandschriften ebenfalls wiedergegeben sind. Demnach steht 04 in Sortierung nach LA-2 an zweiter und in der Sortierung nach LA-2mS sogar an erster Position der Rangfolge. Dieser Befund bestätigt in erster Linie, dass das Zeugnis von 02 im Zweifel gegen nahezu alle übrigen Handschriften favorisiert wird: z.B. TST 27 (Apk 4,7) τὸ πρόσωπον ὡς ἀνθρώπου oder TST 36 (Apk 5,6) ἀπεσταλμένοι.180 Da diese Varianten den aktuellen kritischen Text bilden, sind sie als LA-2 eingestuft; im Endeffekt handelt es sich aber um nichts anderes als Sonderlesarten von 02 und wenigen anderen Zeugen, die sich durch Textverderbnis erklären und mitnichten den Ausgangstext der Überlieferung darstellen. Sofern die Textkonstitution an den genannten und diversen anderen Stellen gegen 02 revidiert wird, erhöht sich demgemäß die ohnedies auffällig hohe Rate an Sonderlesarten von 02 um einige weitere Fälle und die Quote an LA-2 wird entsprechend zahlenmäßig abnehmen. Obwohl bereits in der Forschungsliteratur mehrfach auf den Umstand aufmerksam gemacht wurde, dass 04 im Gegensatz zu 01 und 02 „weit sorgfältiger
179 Vgl. TuT-Apk, 422. 180 Vgl. TuT-Apk, 64, 80.
Beobachtungen zum Text von 01, 02, 04, 0169 und 0229
geschrieben ist […] und viel weniger mechanische und orthographische Fehler“181 aufweist,182 wurden bislang aus dieser Beobachtung keine Konsequenzen für die Bewertung des Zeugen 04 gezogen. In TuT-Apk sind lediglich drei Sonderlesarten für 04 dokumentiert: TST 90 (Apk 18,3) πέπτωκαν, TST 95 (Apk 18,12) μαργαρίτας und TST 100 (Apk 18,14) αὐτὰ οὐ μὴ εὑρήσουσιν.183 Die Variante πέπτωκαν bezeugt 04 gemeinsam mit 02 und 2031. Da 2031 zur AndreasGruppe gehört und in keiner signifikanten Verbindung zu 02 sowie 04 steht, muss das Zusammentreffen als zufällig eingestuft werden. Vermutlich handelt es sich um einen auf der Hauptlesart der Koine-Gruppe πεπτώκασιν (versehentliche Auslassung der Buchstaben σι oder Angleichung an die Aoristformen im unmittelbaren Kontext) basierenden Schreibfehler, den 02 und 04 unabhängig oder aufgrund einer noch genauer zu bestimmenden gemeinsamen Vorlagenkette bieten. In 18,12 liest 04 den ungrammatischen Akkusativ μαργαρίτας, während 02 μαργαρίταις wohl durch Angleichung an 17,4 und 18,6 bezeugt. Die Lesart von 04 geht entweder auf den Wortlaut von 02 zurück oder auf eine eigenständige, aber missglückte Anpassung an die Parallelstellen. Schließlich weist 04 in 18,14 eine Umstellung des durch 01 und 02 gesicherten Ausgangstextes (οὐ μὴ αὐτὰ εὑρήσουσιν) auf.184 In allen drei Fällen liegen nebensächliche Schreibfehler vor, die entweder den Ausgangstext voraussetzen oder ein möglicher Indikator für die gemeinsame Vorlagenkette von 02 und 04 sind. Insgesamt haben die Sonderlesarten keine maßgebliche Auswirkung auf die Bewertung des Zeugen 04, sondern er bietet in vielerlei Hinsicht eine zuverlässige und treue Abschrift der Apk von hohem textkritischem Rang. Über diese Feststellung kann auch der scheinbar höhere Anteil an LA-3mS, -4mS und -5mS gegenüber 01 und 02 hinwegtäuschen. In der Summe bekundet 04 lediglich an fünf Teststellen (Sonder- und Singulärlesarten nicht inbegriffen) eine vom gegenwärtigen kritischen Text abweichende Variante; in
181 Schmid, Studien II, 97. 182 Auch Weiss (Textkritische Untersuchungen, 144) weist ausdrücklich auf die im Vergleich zu 01 und 02 erheblich geringere Anzahl an Sonderlesarten und Schreibfehler in 04 hin. 183 Vgl. TuT-Apk, 168, 180, 190. 184 Die Mehrheit der Handschriften liest in 18,14 αὐτὰ οὐ μὴ εὕρῃς; vgl. TuT-Apk, 188–189. Dem entspricht 04 zwar in der Wortfolge, aber nicht in der Verbform (εὑρήσουσιν). Gleichwohl ist die Verschmelzung der Ausgangs- und Mehrheitslesart im Zeugnis von 04 nicht gänzlich auszuschließen: Beibehaltung der Verbform des Ausgangstextes und Anpassung an die Wortstellung der Mehrheit.
Die Majuskeln allen fünf Fällen trifft 04 dabei mit der Mehrheit der Handschriften zusammen:185 TST 2 (Apk 1,6): εις τους αιωνας [των αιωνων] NA28] εις τους αιωνας των αιωνων 04 01 KoiGM AndGM ComG TST 49 (Apk 6,11): ινα αναπαυσονται NA28] ινα αναπαυσωνται 04 01 KoiGM AndGpt ComG TST 58 (Apk 13,10): αποκτανθηναι αυτον εν μαχαιρη NA28] αποκτανθηναι αυτον εν μαχαιρη 04 (μαχαιρα) KoiGHss AndGM ComG TST 84 (Apk 14,16): της νεφελης NA28] την νεφελην 04 KoiGHss AndGM ComG TST 85 (Apk 14,18): φωνη NA28] κραυγη 04 (κραυη) P47 KoiGpt AndGM ComG
Mit Ausnahme von 14,16 hinterlässt die derzeitige Textkonstitution von NA28 an den übrigen stellen einen fraglichen Eindruck, wobei 04 bei der Revision der Stellen hohes Gewicht zukommen sollte. In 14,16 haben P47, 01 und 02 den Ausgangstext bewahrt und bekunden τῆς νεφέλης,186 wohingegen 04 mit der Mehrzahl der Handschriften τὴν νεφέλην liest und damit als ältester Zeuge dieser Variante gelten darf. Inwiefern die mehrheitsbildenden Gruppen die Lesart durch Verbindung zu 04 bezeugen oder die Textänderung mehrfach unabhängig erfolgte, ist schwer zu ermessen und kann nur durch umfängliche genealogische Analysen festgestellt werden. Da der Wortlaut τὴν νεφέλην bereits in 14,14 steht und in 14,16 der Ausdruck ἐπὶ τὴν γῆν folgt, kann die Änderung ohne Weiteres häufiger aufgekommen sein, d.h. eine genealogische Verbindung zwischen allen Zeugen zur Verbreitung der Lesart muss nicht zwingend vorausgesetzt werden. Mit Blick auf die Bewertung von 04 bleibt in aller Deutlichkeit festzuhalten, dass der scheinbar erhöhte Anteil an LA-3mS, 4mS und -5mS im Kontrast zu 01 und 02 keineswegs die Anzeichen eines zweitklassigen Textzeugnisses sind, sondern 04 außer in 14,16 höchstwahrscheinlich jeweils den Ausgangstext mit der Mehrheit der Handschriften bewahrt hat. Demnach stellen die umstrittenen Stellen Apk 1,6; 6,11; 13,10 und 14,18 den hohen Wert von 04 unter Beweis, da der Zeuge hier ein wichtiges Argument für die Textänderung liefern kann.
185 Vgl. TuT-Apk, 27, 99, 114, 156–157. 186 Nur Bousset gibt τὴν νεφέλην den Vorzug, weil der Akkusativ nach ἐπί dem normalen Sprachgebrauch der Apk entspreche; siehe Bousset, Offenbarung, 165–166. Dieses Argument vermag in letzter Instanz nicht zu überzeugen, zumal es den Genitiv als schwierigere Lesart und den Akkusativ als leicht erklärbare Anpassung an den sonstigen Sprachgebrauch erweist. Vor Bousset haben noch Westcott/Hort τὴν νεφέλην als gleichwertige Alternativlesart in margine ihrer Edition aufgeführt; vgl. Westcott/Hort, New Testament, 525.
Beobachtungen zum Text von 01, 02, 04, 0169 und 0229
In der Vorbereitung zum ECM-Projekt plädierte Karrer für eine textkritische Aufwertung des Zeugen 04.187 Wie nun TuT-Apk zeigt, hat diese Aufwertung bereits ungeahnt stattgefunden, da 04 in den erhaltenen Partien den Text von NA28 am stärksten bestimmt. Mit 85,7 % weist 04 den höchsten Anteil an LA2mS auf, d.h. der Zeuge übertrifft in dieser Sortierung auch 01 und 02. Im Endeffekt bestätigt also die Testellenkollation von TuT-Apk den offensichtlich schon anerkannt hohen Wert von 04 für die Textkonstitution und gibt zugleich Anlass an etlichen umstrittenen Stellen, wo bislang eigentümliche Sonder- und Singulärlesarten von 02 bevorzugt wurden, den Text auf eine neue Grundlage zu stellen. Zusammengefasst steht 04 auf einer Stufe mit den hinlänglich bekannten Zeugen 01 und 02. Dabei wird 04 seinem hohen Wert geschuldet die Textkonstitution künftig wohl noch etwas weitreichender prägen. Der Codex Ephraemi darf in vielerlei Hinsicht als herausragender Zeuge für die Apk gelten, wobei seine Bedeutung hauptsächlich durch die verlorenen Textstücke eingeschränkt wird.
.. 0169 in TuT-Apk Anders als 01, 02, 04, 025, 046, 051, die in die Auswertungen von TuT-Apk einbezogen werden konnten, ließen sich 052, 0163, 0207, 0308 an gar keiner und 0169 sowie 0229 jeweils nur an einer Teststelle verzeichnen. Analog zu den Papyri (siehe Teil II: 2.2) sollen zumindest kurze Anmerkungen zur Verzeichnung von 0169 und 0229 geboten werden. Der Zeuge 0169 ist an TST 25 zu Apk 4,3 verzeichnet, wobei der ursprüngliche Text korrigiert ist: Apk 4,3: και ο καθημαενος NA28 0169*] και ο καθημενος επι τον θρονον 0169C
Abgesehen von dieser Stelle weist 0169 sechs weitere Korrekturen auf, von denen die meisten aus anderer Hand stammen.188 Wie im obigen Fall erzeugte der Korrektor auch in 4,1 eine ansonsten unbezeugte Singulärlesart, in dem er am unteren Seitenende einen längeren, aber nur noch schwer zu entziffernden Zusatz ergänzte.189 Die Hinzufügung ἐπὶ τὸν θρόνον erklärt sich als Anpassung an 4,2 und geht deswegen nicht auf eine spezifische Vorlage zurück, sondern kann allein der Motivation des Korrektors entsprungen sein. Die Lesart καὶ ὁ
187 Siehe Karrer, Text (2012), 77: „Der Codex Ephraemi (C) ist aufzuwerten […]“. 188 Zur Beurteilung der Korrekturen siehe Malik, P.Oxy. VIII 1080, 312. 189 Zur Ergänzung in 4,1 siehe Malik, P.Oxy. VIII 1080, 314.
Die Majuskeln καθήμενος der ersten Hand stimmt mit dem kritischen Text überein und wird ebenfalls durch 01 02 025 046 sowie 35 Minuskeln bezeugt (darunter 1611, 2329, 2846). Laut Schmid sei 0169 am engsten mit 01 verbunden.190 Wie er zu dieser Einschätzung gelangte, bildet ein Rätsel. Malik vermutet, dass er bei seiner Bewertung des Textzeugen wohl auch die Korrekturen von zweiter Hand berücksichtigt hat.191 Anders als die obige Stelle nahelegt, hat 0169* weder mit dem kritischen Text noch mit 01 die größte Übereinstimmung. Denn nach Maliks Kollation geht 0169* an 12 variierten Stellen 8mal mit dem Zeugnis der KoineHandschriften zusammen, woraus sich eine Übereinstimmungsquote von 66,7 % ergibt.192 Demnach kann 0169* als ein früher Zeuge der Koine-Tradition eingestuft werden. Diese Beobachtung ist von hohem textgeschichtlichem Wert, da sie zum einen die frühe Entwicklung der Koine-Überlieferung dokumentiert und zum anderen auch in Einzelfällen hilft, die ursprüngliche Lesart der KoineTradition besser bestimmen zu können. In Apk 4,3 geht die Koine-Gruppe entgegen ihrem gewöhnlichen Variationsverhalten auseinander und verteilt sich auf die Auslassung von καὶ ὁ καθήμενος sowie die Bezeugung der Worte: 59 Koine-Handschriften bekunden die Omission und 17 den längeren Text.193 Da die Mehrheit der KoineHandschriften die Auslassung bietet, wird diese Lesart entsprechend als KoineLesart gewertet.194 Setzt man jedoch die Ergebnisse der Studie von Malik und die Bezeugung von καὶ ὁ καθήμενος durch 0169* in Korrelation, so ergibt sich eine bemerkenswerte Hypothese über die Entwicklung der Koine-Tradition. Womöglich bilden die Worte καὶ ὁ καθήμενος nach dem Zeugnis von 0169* den Ausgangspunkt der Koine-Überlieferung, während die Auslassung erst später entstand und sich dann permanent in den Handschriften verbreitet hat. Obwohl angesichts der Kürze des erhaltenen Textes von 0169* derartige Schlussfolgerungen mit Vorsicht zu betrachten sind, demonstriert das Beispiel dennoch die textgeschichtliche Bedeutung des Zeugen in Hinblick auf die Ursprünge der Koine-Tradition.
190 Schmid, Studien II, 172. 191 Malik, P.Oxy. VIII 1080, 313. 192 Vgl. Malik, P.Oxy. VIII 1080, 320. 193 Vgl. TuT-Apk, 60–61. 194 Siehe dazu auch Lembke, Apokalypse-Wortlaut, hier 310. Bedauerlicherweise weist Lembke an keiner Stelle seiner Arbeit darauf hin, dass die Koine-Gruppe auch in Apk 4,3 in Bezug auf die Bezeugung respektive Auslassung von καὶ ὁ καθήμενος auseinander geht.
Beobachtungen zum Text von 01, 02, 04, 0169 und 0229
.. 0229 in TuT-Apk Der Zeuge 0229 konnte zu TST 101 in Apk 18,16 verzeichnet werden: μαργαριτη txt] μαργαρειτη 0229 Im Gegensatz zur großen Mehrheit der Handschriften, die im Plural μαργαρίταις liest, stimmt 0229 an dieser Stelle mit den bedeutsamen Zeugen 01, 02, 04, 025, 1006, 1611, 2053, 2329, 2846 überein,195 denen auch der kritische Text folgt. Allerdings liest 0229 nicht die lexikalische Schreibweise mit Iota, sondern bekundet mit μαργαρειτη einen unerheblichen Itazismus. Wie ein Blick in die Transkription des NT.VMR verrät, hat 0229 nur wenige echte orthographische Fehler. Eine Ausnahme bildet die verunglückte Schreibung κ̣[…]χρυσωμενη für κεχρυσωμένη in Apk 18,16. Da etwa zwei Buchstaben in die Lücke passen, schlägt Naldini καιχρυσωμενη als ursprüngliche Lesart vor,196 die sich wiederum als Itazismus für den herkömmlichen Wortlaut κεχρυσωμένη verstehen lässt. Die Annahme einer ansonsten unbezeugten Singulärlesart an dieser Stelle ist also nicht erforderlich, sondern der Befund lässt sich als weitere orthographische Auffälligkeit erklären. Dasselbe gilt in 18,16 für die Schreibung περιβεβημενη, bei der es sich nur um einen ungeschickten Fehler von περιβεβλημένη handeln kann. Eine andere Variante kommt jedenfalls nicht in Betracht und die missratene Abschrift wurde in der Handschrift selbst zu περιβεβλημένη verbessert. Wie κδʹ und δʹ in 19,4 belegen, bevorzugte der Schreiber Zahlzeichen anstelle von Zahlwörtern.197 Überhaupt bezeugt 0229 nur wenige signifikante Varianten, die nachfolgend aufgeführt werden:198 18,16: εν 0229 01 04 1611 min. mult. [NA28]] om. 02 025 046 min. mult.199 18,16: χρυσιω NA28] χρυσω 0229 01 025 1611 2053 2329 min. mult. 18,17: οτι NA28] add. εν 0229 19,5: φωνη απο του θρονου εξηλθεν λεγουσα NA28] φωναι εξηλθον απο (εκ 01*) του θρονου λεγουσαι 0229 01* 19,5: και2 0229 NA28] om. 01 04 025200
195 Vgl. TuT-Apk, 192. 196 Siehe Naldini, Documenti, 20. 197 Zur Verwendung von Zahlzeichen an dieser Stelle siehe Hoskier, Text II, 516. 198 Die Bezeugung der einzelnen Varianten wurde in diesem Fall aus NA28 entnommen, da die Stellen nicht zu den Teststellen in TuT-Apk gehören. Wenn NA28 in eckigen Klammern steht, liegt an der betreffenden Stelle eine unsichere Textkonstitution vor. 199 Nestle-Aland28 bietet die Präposition in Klammern. 200 Nestle-Aland28 bietet και in Klammern.
Die Majuskeln Nach dieser kurzen Kollation bekundet 0229 in 18,7 durch die Ergänzung von εν vor μια eine ansonsten unbezeugte Singulärlesart.201 In drei bedeutsamen Fällen geht 0229 mit dem Zeugnis von 01* zusammen, weicht aber auch einmal ab (19,5 καί). Vor allem mit Blick auf die pluralische Formulierung in 19,5 erhärtet sich der Verdacht, dass 0229 eine engere Verbindung zu 01* hat.202 Aufgrund der wenigen belastbaren Stellen und der Tatsache, dass die Varianten in 18,16 ebenso durch diverse andere Handschriften bezeugt werden, sollte der Befund allerdings textgeschichtlich nicht überbewertet werden. Am trefflichsten lässt sich das Zeugnis von 0229 als Mischtext klassifizieren, der 01* insgesamt am nächsten steht.203 Insofern kann 0229 mit gewisser Vorsicht als verwandter Zeuge von 01* eingestuft werden.
201 Hoskier listet keine weitere griechische Handschrift für diesen Zusatz; vgl. Hoskier, Text II, 498. 202 In 19,5 liest 01* zwar ἐκ statt 0229 ἀπό, doch ist diese Abweichung weit weniger gravierend als die Übereinstimmung der beiden Zeugen in der Formulierung φωναί […] λέγουσαι. Denn während die Bezeugung für ἀπό oder ἐκ in der Überlieferung geteilt ist, findet sich der Plural neben 0229 laut Hoskier lediglich in 01*; vgl. Hoskier, Text II, 517. 203 Zu diesem Urteil gelangt auch J. Schmid, Unbeachtete und unbekannte griechische Apokalypsehandschriften, ZNW 52 (1961), 82–88, hier 6.
Die Minuskeln Wie bei allen Schriften des Neuen Testaments machen die Minuskeln auch bei der Apk einen Großteil der Zeugen aus. Dabei können die Handschriften aufgrund von Übereinstimmungsquoten bzw. dem Anteil spezifischer Lesarten in verschiedene Gruppen geordnet werden. Da durch Hoskier und Schmid bereits zwei Gruppierungen der Apk-Handschriften vorliegen,204 wird die Gruppierung nach TuT-Apk mit der wirkmächtigsten von Schmid verglichen und wesentliche Unterschiede herausgestellt.
. Minuskeln mit hohem Anteil an LA-2 Mithilfe der Sortierungslisten nach den Anteilen an LA-2 und -2mS in TuT-Apk können auch die vielen Minuskeln in Bezug auf ihren Wert für die Textherstellung eingeschätzt werden.205 Dabei gilt die Grundregel: Je höher die Quote an LA-2 und -2mS ausfällt, desto wahrscheinlicher hat der Zeuge eine breite Schicht alter Lesarten bewahrt, selbst wenn sich die Textkonstitution an einzelnen Stellen ändern mag. Insofern ermöglicht TuT-Apk zum einen die Auswahl der für die Textkritik maßgeblichen Minuskeln und zum anderen die Neueinschätzung bislang unbekannter oder überschätzter Zeugen. Die Handschriften mit ausgeprägten Anteilen an LA-2 bzw. -2mS bilden keine geschlossene Gruppe, sondern sind zumeist für sich stehende Einzelzeugen. Freilich finden sich darunter kleinere Familien wie F1006, F1678 und F2053, doch bilden sie die Ausnahme. Als maßgeblich erweist sich die erhöhte Quote an potenziell alten Lesarten im Vergleich zu den allermeisten anderen Handschriften. Insofern haben diese Handschriften im Unterschied zu den restlichen Minuskeln einen potenziell größeren Wert für die Textkritik und ihr Votum verdient in etlichen Zweifelsfällen, in denen die ältesten Handschriften kein einheitliches Zeugnis abgeben, durchaus Gehör und sie können die Textkonstitution in die eine oder andere Richtung maßgeblich beeinflussen.
204 Vgl. Hoskier, Text I, 7–11; Schmid, Studien II, 24–29. Korrekturen an der Gruppierung von Schmid, die sich in vielen Aspekten nicht durchsetzen konnte, finden sich bei Schmid am genannten Ort. Das größte Problem besteht darin, dass Hoskier die Methode seines Gruppierungsverfahrens nirgends näher erläutert (so schon Parker, Introduction, 231). Völlig überraschend finden sich zwar einige Anmerkungen in Hoskier, Text I, xxxii-xxxvii, doch bleiben diese meist sehr oberflächlich und schwer nachvollziehbar. 205 Siehe TuT-Apk, 422–435. https://doi.org/10.1515/978311119430-009
Die Minuskeln .. Minuskeln mit höchstem Textwert Im Vergleich zu Schmid ergeben sich wichtige Änderungen an der Einschätzung der für die Textkritik maßgeblichen Minuskeln. Gemäß TuT-Apk besitzen die folgenden 13 Handschriften, die in Reihenfolge ihrer jeweiligen Rate an LA-2 aufgeführt sind, den höchsten Textwert von allen Minuskeln der Apk:206 – 2846 – 2053 2403 1824 2062 2350 (F2053; Oec207) – 1611 – 1678 1778 2080 (F1678) – 2344 – 2329 – 2050 ... Textwert Laut Vergleichsliste ist der Anteil an LA-2mS in diesen Handschriften die am stärksten ausgeprägte Textschicht.208 Von allen Minuskeln haben sie die größte textkritische Bedeutung, wobei 2846 der mit Abstand bedeutsamste Zeuge aus dieser Reihe ist.209 2846 hat einen Anteil von 51,7 % an LA-2 und 64,6 % an LA2mS und überwiegt damit sogar P47 und 01 gemessen am derzeitigen kritischen Text, worauf sich die Werte von TuT-Apk stets beziehen.210 Die Produktion der Handschrift wird ins 12. Jahrhundert datiert, womit 2846 immer noch zu den älteren Minuskeln der Apk zählt. Unglücklicherweise blieb der Text dieses wichtigen Zeugen nicht vollständig erhalten, da im gegenwärtigen Erhaltungszustand Apk 9,8–10,8 infolge eines Blattverlustes fehlen.211 206 Zur Sortierung der Handschriften vgl. TuT-Apk, 422. 207 Schmid (Studien II, 24) nennt die Familie F2053 „Oikumenios“, weil die Handschriften mit dem Apk-Text verbunden auch den Oecumenius-Kommentar enthalten. Abgesehen von einer kleinen Lücke in Apk 7,5–8 ist 2053 der einzige Zeuge der F2053, der den Lemmatext des Oecumenius-Kommentars in fast vollständigem Umfang bietet. Siehe dazu M. de Groote, Die handschriftliche Überlieferung des Oecumenius-Kommentars zur Apokalypse, SacEr 35 (1995), 5–29, hier 7; Groote, Commentarius, 9–13. Alle weiteren Handschriften haben größere Lücken bzw. nur Teile des Kommentars. 208 Vgl. TuT-Apk, 543, 545, 550, 551, 568, 569, 572, 577, 583, 584, 585, 595. 209 Das Urteil von Lembke, Apokalypse-Handschrift 2846, hier 395, wird durch TuT-Apk bestätigt. 210 Vgl. TuT-Apk, 422.429. 211 Zur kodikologischen Beschreibung der Handschrift siehe J. Stanojević, Description ParaTexBib (GA 2846), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=50568, zuletzt abgerufen am 24.03.2023.
Minuskeln mit hohem Anteil an LA-2
Die Handschriften 1678, 1778 und 2080 sind im Apk-Text eng verwandt und bilden eine Familie, und zwar F1678. Ihre Übereinstimmungsrate schwankt zwischen 88 %–93 %, wobei sie aufgrund erheblich abfallender Übereinstimmungswerte von anderen Handschriften sicher abgegrenzt werden können.212 Die Mitglieder dieser Familie zählte Schmid zu den Zeugen der AndreasTradition und listet sie in seiner Untergruppe Ανl gemeinsam mit 052 auf.213 Tab. 11: Textzusammensetzung F1678 Hs
LA- LA-mS LA-mS LA-mS LA-mS
SoLA
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Der Text von 052 konnte in TuT-Apk nicht überprüft werden, da die Handschrift lediglich Apk 7,16–8,12 enthält und damit an keiner ausgewählten Teststelle vorhanden ist. Obwohl Schmid 1678, 1778 und 2080 in die Andreas-Gruppe einsortierte, war er sich ihres augenfälligen Textzeugnisses bewusst. Nach seiner Einschätzung können drei Schichten differenziert werden: „der Αν-Text als Grundlage, eine starke Schicht ‚alter‘ Lesarten […] und eine geringe Anzahl von K-Lesarten.“ Mit Blick auf die Anteile an LA-2mS und 4mS, die sich bei allen Mitgliedern der Familie 1678 ungefähr die Waage halten, bestätigen die TuTDaten Schmids Charakterisierung. Seine Annahme, dass die Andreas-Tradition die Grundschicht des gemeinsamen Textbestandes von F1678 bildet, muss allerdings differenziert betrachtet werden. Es überwiegen zwar insgesamt Lesarten, die auch durch die Andreas-Tradition bezeugt werden, im Text von F1678, doch machen die gemeinsamen Lesarten mit der Oecumenius-Tradition ebenfalls eine breite Schicht aus (siehe Teil II: 5). Um den Apk-Text der Familie zu verstehen, muss man sich die besondere Ausstattung der Handschriften 1678 und 1778 vor Augen führen. Beide Exemplare enthalten zum Apk-Text eine aus dem Oecumenius- und AndreasKommentar kompilierte Katene. Bei der Zusammenfügung war das weitreichende Problem zu lösen, dass die zwei an sich unabhängigen Kommentartraditio-
212 Vgl. TuT-Apk, 652, 661, 697. 213 Die Untergruppe l des Andreas-Textes besteht zum größten Teil aus Mitgliedern der F1678; vgl. Schmid, Studien II, 26.
Die Minuskeln nen grundverschiedene Lemmatexte bekunden; der des OecumeniusKommentars stand in der Tradition der Handschrift 2053 und der des AndreasKommentars ist durch die Andreas-Gruppe bekannt. Es liegt daher auf der Hand, dass der Apk-Text der F1678 im Zuge der Kompilation der beiden Kommentare mit dem Ziel geschaffen worden ist, auch die abweichenden Lemmata zu vereinen. Wie dabei im Einzelnen vorgegangen wurde, lässt sich durch einen Textvergleich relativ genau nachvollziehen. Für das Verständnis des Apk-Textes der Familie 1678 ist dieser Tatbestand jedenfalls von inhärenter Bedeutung, da er den Mischtext aus alten und Andreas-Lesarten erklärt. Für die Bewertung von F1678 sind also in erster Linie die Anteile an LA-2mS und 4mS ausschlaggebend. Im Gegensatz zu Schmid werden 1678, 1778 und 2080 nicht mehr im engeren Sinne als Andreas-Handschriften klassifiziert, weil zum einen der Anteil an LA-2mS – wenn auch nur geringfügig (vgl. Tabelle 11 oben) – überwiegt und zum anderen die Quote an LA-4mS im Vergleich zu ursprünglichen Andreas-Handschriften erheblich niedriger ausfällt. Aus diesem Grund werden 1678, 1778 und 2080 als eigenständige Familie mit hohem Anteil an potenziell alten Lesarten eingestuft. Welche textkritische und textgeschichtliche Bedeutung der Familie 1678 in letzter Instanz zuzumessen ist, hängt zu einem beträchtlichen Maß davon ab, wo und wie sich ein gewissermaßen durch bewusste Kompilation geschaffener Apk-Text genealogisch verorten lässt. Hoskier überspannt den Bogen jedenfalls beträchtlich, wenn er den Apk-Text von F1678 ins 3. Jh. datieren will.214 Weil 1678 und 2080 je aus dem 14. Jahrhundert stammen und es davor keine Belege für die Kompilation der Kommentare mit einhergehender Verschmelzung der Apk-Lemmatexte gibt,215 darf angenommen werden, dass der eigentümliche Apk-Text dieser Familie historisch nicht wesentlich früher entstand. Als Folge der Übernahme bzw. Bewahrung etlicher alter Lesarten nach dem Zeugnis von F2053 geht F1678 textgeschichtlich respektive genealogisch jedoch der historischen Entstehung deutlich voraus. Obgleich die Textschöpfung der Familie 1678 als historischer Vorgang spät anzusetzen ist,216 bekundet sie dennoch aus textgeschichtlicher Perspektive einen Textzustand mit diversen alten Lesarten (LA-2 und LA-2mS). Folglich kann der Apk-Text von F1678 trotz oder gerade im Wis-
214 Hoskier, Text I, 728: „Our 240 (= 1678) […] goes behind them both to a date somewhere in the third century“. 215 Vgl. zu Datierung von 1678 und 2080 Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 141, 166. 216 Der geografische Ort und der historische Zeitpunkt, wo bzw. wann der Apk-Text von F1678 entstand, sind nicht bekannt; doch wäre ins Auge zu fassen, ob das Zeugnis dieser Familie nicht im engeren Sinne als „Rezension“ bezeichnet werden kann.
Minuskeln mit hohem Anteil an LA-2
sen um seine außergewöhnliche Entstehung als bedeutsamer Zeuge für die Apk angesehen werden, zumal er die Hochschätzung diverser alter Lesarten im 14. Jahrhundert gegen jüngere Überlieferungszweige dokumentiert und zeigt, wie diese auch auf Seitenpfaden der Überlieferung erhalten blieben. Des Weiteren sind Schmids Urteile über die Handschriften 1611, 2050, 2329 und 2344 in mancher Hinsicht zu präzisieren. Seiner Ansicht nach ist 2344 der wichtigste Zeuge aus dieser Reihe.217 Insgesamt ist aber die Variantenschicht an LA-2mS gemäß TuT-Apk in 1611, 2050 und 2329 stärker ausgeprägt als in 2344.218 Nach 2846 und 2053 besitzt auch 1611 bei einer Quote an LA-2 von 39,6 % beträchtliches textkritisches Gewicht.219 Der Zeuge 2050 steht zwar begründeterweise in der Reihe der oben genannten Handschriften, doch bietet er einen überaus komplexen Mischtext, der abseits von diversen Sonderlesarten (insgesamt an 8 TST220) eine deutliche Entwicklungstendenz in Richtung der AndreasTradition aufweist.221 Die letzte Beobachtung trifft auf die meisten der oben genannten Zeugen zu; auch in 1611, F1678, F2053, 2329 und 2846 ist die Teilmenge an LA-4mS je erkennbar größer als an LA-3mS und LA-5mS.222 Das Textzeugnis von 2329 wurde bereits ausführlich auf Grundlage der Auswertungen von TuT-Apk untersucht mit dem Resultat, dass die Handschrift einen komplexen Mischtext bezeugt.223 Die größte Variantenschicht besteht aus prioritären Lesarten, die 2329 in erster Linie mit 02 gemeinsam hat. Daneben finden sich markante Sonderlesarten und ein bedeutender Anteil an LA-4mS, nach denen 2329 ebenso klar erkennbare Entwicklungen in Richtung AndreasTradition bekundet.224 Während die Grundschicht an potenziell alten Lesarten für die textkritische Bewertung höher zu gewichten ist, haben die Berührungen mit der Andreas-Tradition beträchtlichen textgeschichtlichen Wert; sie sind 217 Siehe Schmid, Studien II, 25. 218 Die Auswertungsdaten lauten wie folgt: 1611 – 54,8 % LA-2mS; 2050 – 51,9 % LA-2mS; 2329 – 50,8 % LA-2mS gegen 2344 – 50,5 % LA-2mS; vgl. TuT-Apk, 429. 2344 hat zwar eine minimal höhere Quote an LA-2 als 2050 und 2329, doch ändert sich die Rangfolge wieder, sobald die LA-2mS berücksichtigt werden (vgl. TuT-Apk, 422). Die schwankende Position von 2344 in den Auswertungslisten von TuT-Apk ist dem Umstand geschuldet, dass die Handschrift aufgrund ihres schlechten Erhaltungszustandes nur an 98 der 123 Teststellen kollationiert werden konnte (vgl. TuT-Apk 382). 219 Vgl. TuT-Apk, 422. 220 Vgl. TuT-Apk, 347. 221 Die Rate an LA-4mS in 2050 liegt bei 50,8 % und übersteigt diejenigen an LA-3mS und 5mS deutlich; vgl. TuT-Apk, 459. 222 Vgl. TuT-Apk 429. 223 Müller, Apokalypse-Handschriften, 404. 224 Vgl. die Analyse in Müller, Apokalypse-Handschriften, 390–403.
Die Minuskeln nicht nur im Fall von 2329 ein wichtiger Indikator für den Sachverhalt, dass die jüngeren Texttraditionen der Apk-Überlieferung durch eine konstante und fortschreitende Entwicklung von frühen zu späten Textzuständen entstanden sind. Obwohl die Handschrift 2344 durch Wasser stark beschädigt wurde und einige Blätter mit Apk-Text verlorengingen, konnte der Zeuge an 98 von 123 dokumentiert werden.225 Demnach ist 2344 wie die vorherigen Zeugen ein bemerkenswerter Textzustand, dessen Profil in erster Linie aus einer Grundschicht an prioritären LA-2mS und einem bereits beträchtlichen Anteil an LA-4mS besteht: Bei einer Quote von 50,8 % LA-2mS und 50 % LA-4mS sind die beiden Schichten etwa gleichstark ausgeprägt.226 Im Einzelfall steht freilich zur Diskussion, welcher Schicht eine Variante zuzuweisen ist, die sowohl den Ausgangstext bildet als auch durch die Andreas-Tradition überliefert wird.227 Wie ein Blick auf die in TuT-Apk kollationierten Singulärlesarten verrät, muss das Zeugnis von 2344 mitunter differenziert beurteilt werden: – In TST 1 (Apk 1,4) bietet 2344 den Text θεοῦ καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος und lässt ὁ ὤν irrtümlich aus. Diese Singulärlesart setzt eindeutig die Variante θεοῦ als Einfügung vor ὁ ὤν voraus und erklärt sich damit als simpler Schreibfehler. – Dasselbe gilt für die längeren Auslassungen in TST 2 (Apk 1,6) om. εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων ἀμήν, TST 54 (Apk 13,3) om. καὶ ἐθαύμασεν ὅλη ἡ γῆ ὀπίσω τοῦ θηρίου und TST 69 (Apk 14,4) om. ὅπου ἂν ὑπάγῃ οὗτοι ἠγοράσθησαν ἀπὸ τῶν ἀνθρώπων ἀπαρχὴ τῷ θεῷ καὶ τῷ ἀρνίῳ, die je einer fehlerhaften Abschrift durch Parablepsis entspringen. – In TST 27 (Apk 4,7) fehlt zudem der Artikel τό vor πρόσωπον ὡς ἀνθρώπου. Die Singulärlesart entpuppt sich als falsche Wiedergabe der Variante τὸ πρόσωπον ὡς ἀνθρώπου der Andreas-Tradition, die so gesehen eine weitere Stütze erhält. – Die orthographischen Besonderheiten και ειδε και ειδων in TST 42 (Apk 6,3– 4) setzen die durch 01 und einige Andreas-Handschriften bezeugte Variante καὶ ἴδε καὶ εἶδον voraus, die damit eine weitere Stütze gegen den Wortlaut καὶ εἶδον (ἴδον) von 02, 04 und der Handschriftenmehrheit bekommt.
225 Über den Text von 2344 ist bislang wenig bekannt, da die Handschrift Hoskier noch unbekannt war und durch Schmid nur einzelne Lesarten besprochen werden, sofern sie im Dienst seiner Texttheorie stehen; siehe Schmid, Studien II, 111–112. 226 Vgl. TuT-Apk, 422. 227 Die Verzeichnende Beschreibung zu 2344 gibt zu erkennen, dass 2344 vor allem LA-4mS bekundet, die auch als potenzieller Ausgangstext in Betracht kommen; vgl. TuT-Apk, 382–383.
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AN TST 66 (Apk 13,18) bietet 2344 die Singulärlesart ἐστὶν ἑξακόσια ἑξήκοντα πέντε, bei der es sich entweder um einen Schreibfehler der Variante ἐστὶν ἑξακόσια ἑξήκοντα ἕξ handelt, der evtl. durch eine defektive Zahlabkürzung der Vorlage bedingt ist, oder um eine ansonsten unbezeugte Deutung des Tieres.228 Schließlich basiert die Lesart τοῦ θυμοῦ τοῦ θεοῦ εἰς τὴν μεγάλην in TST 87 (Apk 14,19) auf dem Wortlaut der Andreas-Tradition τοῦ θυμοῦ τοῦ θεοῦ τὴν μεγάλην im Unterschied zur Variante τοῦ θυμοῦ τοῦ θεοῦ τὸν μέγαν des Ausgangstextes und der Handschriftenmehrheit.
Wie die kurze Übersicht verdeutlicht, hat der Zeuge 2344 seine Vorlage des Öfteren nachlässig reproduziert, sodass manche Verbindungen zu bestimmten Texttraditionen erst rückerschlossen werden müssen. Wenngleich für die Zahl des Tieres in Apk 13,18 nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich hinter der Variante eine ansonsten unbekannte Deutungstradition verbirgt, können alle Singulärlesarten von 2344 als banale Fehler oder sprachliche Bearbeitung (14,19) erklärt und einer spezifischen Vorlagenvariante zugeordnet werden. Folglich bekundet 2344 in den Singulärlesarten keine anderweitig verlorene Texttradition. 2344 ist ein für sich stehender Einzelzeuge, dem mitunter hohe Bedeutung zukommt und der keine engen Verwandten hat.229 Die höchste Übereinstimmungsquote zeigt 2344 im Verhältnis zu 1854,230 einem ebenfalls singulären Zeugen. Wenn man allerdings die Übereinstimmung mit der Mehrheit von der Auswertung ausschließt, steigt die Übereinstimmungsrate von 2344 mit 04 auf beachtliche 70 % an.231 Ohne hier notwendigerweise auf einzelne Varianten eingehen zu müssen, beweist schon die statistische Auswertung, dass 2344 eine spezifische Variantenschicht mit 04 gemeinsam bezeugt. Die Verbindung zu 04 muss also für die textgeschichtliche Einordnung von 2344 berücksichtigt werden. Obwohl Schmid bei der Zuordnung von 2344 zum S-Text den Bogen mit
228 Auch Blumell/Wayment halten eine Verschreibung bei der Lesart von 2344 für wahrscheinlich; siehe L. H. Blumell/T. A. Wayment, The „Number of the Beast“. Revelation 13:18 and Early Christian Isopsephies, in: T. J. Kraus/M. Sommer (Hgg.), Book of Seven Seals. The Peculiarity of Revelation, its Manuscripts, Attestation, and Transmission, WUNT 363, Tübingen 2016, 119–135, hier 125. Die Ursache für die Zahl πέντε liegt vermutlich in einem visuellen Fehler aufgrund der ähnlichen Erscheinung der beiden Grapheme: Verschreibung von ϛ zu ε. 229 Den beachtlichen textkritischen Wert von 2344 erwähnt schon Schmid; Schmid, Studien II, 25. 230 Vgl. TuT-Apk, 704. 231 Vgl. TuT-Apk, 704.
Die Minuskeln Blick auf das Urteil über die Textaffinitäten deutlich überspannt,232 beobachtete er durchaus richtig, dass 2344 ebenso signifikante Varianten mit 01 teilt: TST 36 (Apk 5,6): απεσταλμενοι NA28] απεσταλμενα 01 2344 TST 38 (Apk 5,10): βασιλειαν και ιερεις NA28] βασιλειαν και ιερατειαν 01 2344 TST 64 (Apk 13,16): δωσιν αυτοις χαραγμα NA28] δωσιν αυτω χαραγμα 01 2344 TST 77 (Apk 14,8): αγγελος δευτερος NA28] δευτερος 01 2344
Alle aufgelisteten Sonderlesarten werden zwar ebenfalls durch andere Handschriften als 01 und 2344 bezeugt,233 doch überwiegt die Verbindung von 2344 zu 01 diejenige zu allen übrigen Zeugen an diesen Stellen, weshalb die Sonderlesarten auf die Verbindung zu 01 zurückzuführen sind. Insgesamt spielen also sowohl 01 als auch 04 eine maßgebliche Rolle, um den Textzustand von 2344 zu erklären. ... Buchgeschichtliche Beobachtungen Was die kodikologischen Begebenheiten betrifft, sind folgende Beobachtungen zu den Handschriften interessant: 2050 und 2846 befinden sich in Sammlungseinheiten, die neben der Apk ausschließlich nicht-biblische Texte enthalten.234 Laut der Beschreibung von Gregorio de Andrés besteht der Codex Escorial, Bibl. de El Escorial, X.III.6 aus 37 Quaternionen und setzt sich aus zwei ehemals unabhängigen Produktionseinheiten zusammen: Der erste Block umfasst 34 einspaltig im 16. Jahrhundert beschriebene Papierblätter (fol. 1–34), während der zweite Block (fol. 35–292) aus 258 Pergamentblättern mit zweikolumnigem Text besteht, der einem Kolophon zufolge im Jahr 1107 kopiert wurde.235 Als interessanter Spezialfall stellt sich 2329 dar, da dieser Apk-Kopie (fol. 210r–245r) in dem Codex Meteora, Metamorphosis, 573 unmittelbar eine zweite folgt, nämlich die berühmte Handschrift 2351 (fol. 245v–290r; siehe Teil II: 4.6.3). 232 Siehe Schmid, Studien II, 113. 233 Vgl. TuT-Apk, 81, 84, 127, 147. Analog zu den Singulärlesarten geben auch einige Sonderlesarten die Beziehung zur Andreas-Tradition zu erkennen: so TST 3 (Apk 1,8) ἀρχὴ καὶ τέλος und TST 8 (Apk 1,16) δεξιᾷ αὐτοῦ; vgl. TuT-Apk, 30, 37. 234 Im NT.VMR befinden sich leider jeweils nur Digitalisate zu den Seiten mit Apk-Text (Stand: 24.03.2023). Der Codex Paris, Bibl. Nat., Gr. 977 (2846, fol. 226–243) enthält zuerst diverse Schriften des Gregor von Nazianz und anschließend die Apk; siehe Lembke, Apokalypse-Handschrift 2846, 372; Stanojević, Description ParaTexBib GA 2846. 235 Siehe G. de Andrés, Catálogo de los Códices Griegos de la Real Bibliotheca de El Escorial. II: Códices 179–420, Madrid 1965, 304–307; E. van Elverdinghe, Description ParaTexBib (GA 2050), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=15000, zuletzt abgerufen 23.04.2023.
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Der Codex Athêna, Ethnikê Bibliothêkê tês Hellados (EBE), 94 umfasst die Apostelgeschichte, die Katholischen wie Paulinischen Briefe und die Apk in eleganter zweispaltiger Abschrift.236 Die paratextliche Ausstattung der Apk ist durchaus bemerkenswert und unterstreicht die Bedeutung des Codex: Der Apk geht ein Text des Athanasius voraus, der hier offenbar die Funktion eines Prologs einnimmt. Nach der Apk steht zunächst ein stichometrischer Hinweis ἔχει δὲ δὲ βιβλίον ἡ Ἀποκάλυψις Ἰωάννου τοῦ θεολόγου στίχοι ͵αυʹ, deren Autorangabe Ἰωάννου τοῦ θεολόγου sich vom Initialtitel mit dem Wortlaut Ἀποκάλυψις τοῦ ἁγίου Ἰωάννου τοῦ εὐαγγελιστοῦ auffällig unterscheidet. Ob beide Angaben in Diskrepanz stehen oder komplementär aufzufassen sind, ist schwer zu ermessen. Jedenfalls spiegeln die verschiedenen Attribute θεόλογος und εὐαγγελιστής die bekannte Varianz der Überlieferung, wie der Autor der Apk in den Handschriften genannt wird (siehe Teil I: 2.1). Im Anschluss an die Stichometrie folgen zunächst das Nicänische Symbolon mit Prolog und danach das Bekenntnis des Photios I, Patriarch von Konstantinopel (810/820–893)237.238 Die beiden Bekenntnistexte sind nicht unmittelbar auf die Apk bezogen, erlauben aber trotzdem einen nicht uninteressanten Rückschluss auf ihre Rezipierbarkeit in der griechischen Kirche. Offensichtlich wird sie in diesem Codex als integraler Bestandteil der neutestamentlichen Schriften verstanden und liegt im Rahmen orthodoxer Rechtgläubigkeit; denn die beiden autoritativen Symbola stehen gleichsam allen Schriften des Codex nach und untermauern damit auch die Stellung der Apk als maßgebliche Schrift des Glaubens, zumal sie bei synoptischer Lektüre von Initialtitel und Stichometrie ein Werk des Theologen und Evangelisten ist. Schließlich bieten die zwei Codices Athos, Panteleimonos, 770 (GA 1678) aus dem 14. Jh. und Theassaloniki, Vlatadon-Kloster, 35 (GA 1778)239 mit Datierung ins 15. Jh. eine Kombination aus Oecumenius- und Andreas-Kommentar zur Apk, wobei sich der Kommentar in 1678 auf den Seitenrändern befindet und in 1778 der Apk-Text kontinuierlich mit den kompilierten Kommentaren alter-
236 Zur Beschreibung der Handschrift siehe J. Stanojević, Description ParaTexBib (GA 1611), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=2390, zuletzt abgerufen 24.03.2023. 237 Zur Edition des Photius-Textes siehe O. Delouis, La profession de foi pour l’ordination des évêques (avec un formulaire inédit du patriarche Photius), in: O. Delouis/S. Métivier/P. Pagès (Hgg.), Le saint, le moine et le paysan. Mélanges d'histoire byzantine offerts à Michel Kaplan, Byzantina Sorbonensia 29, Paris 2016, 119–138. 238 Am Ende ist der Codex mutiliert und enthält einige supplementierte Blätter, die auch zum Teil die Apk und Symbola betreffen; siehe Stanojević, Description ParaTexBib (GA 1611). 239 Der Anfang von 1778 ist leider verloren; es fehlen Apk-Text und Kommentar bis Apk 1,9.
Die Minuskeln niert.240 Die Einteilung der Textabschnitte scheint sich weitgehend – nicht ausnahmslos – an der Gliederung des Andreas-Kommentars zu orientieren, während auf die Wiedergabe von Logoi oder Kephalaia der ursprünglichen Kommentare verzichtet wurde.241 In beiden Handschriften wurde die Kompilation der zwei Kommentare zu einer Katene erreicht, indem die jeweiligen KommentarAbschnitte zu dem betreffenden Apk-Text separat nacheinander geboten werden: Auf ein Apk-Stück folgt stets zunächst der fragliche Passus aus dem Andreas-Kommentar und dann die Auslegung des Oecumenius; die jeweiligen Kommentarabschnitte werden sauber durch Marginalien mit namentlicher Nennung der Kommentatoren (Ἀνδρέου bzw. Ὀικουμενίου) ausgewiesen. Wenngleich die verketteten Kommentare in 2080 fehlen, unterstreicht die ebenso eigentümliche wie seltene Kombination der drei Texte in 1678 und 1778 die Zusammengehörigkeit der Mitglieder von F1678 eindrücklich.242 Der Codex Paris, BNF, Coisl. 18, zu dem 2344 gehört, umfasst nach diversen Septuaginta-Schriften243 die Apostelgeschichte, die Katholischen und Paulinischen Briefe sowie die Apk als originäre Produktionseinheit.244 Nach Devreesse ist er ins 11. Jh. zu datieren.245 Da der Anfang des Codex verloren ist, lässt sich zumindest spekulieren, dass ursprünglich wohl weitere Schriften der Septuaginta zu seinem Inhalt gehörten (evtl. sogar alle Schriften der Thora und der historischen Bücher). Die paratextliche Ausstattung ist mit Ausnahme von Initialtiteln spärlich, da sich der Inhalt weitgehend auf die biblischen Bücher beschränkt. Die integrale Zugehörigkeit der Apk zu diesem Codex steht in gewisser Analogie zu den großen Vollbibeln des 4. und 5. Jh., zumal die Abschrift der 240 Zur Beschreibung der Handschriften siehe Groote, Commentarius, 12–13. Beide Handschriften zeichnen sich nach Groote durch eine zuverlässige und präzise Textwiedergabe aus. Was die Abschrift des Apk-Textes betrifft, wird diese Einschätzung durch TuT-Apk bestätigt. Beide Handschriften bekunden keine auffälligen Fehler und lediglich 1678 bietet in TST 108 (Apk 21,3) eine Singulärlesart: μετ᾽ αὐτῶν ἔσται [αὐτῶν θεός] NA28] ἐστιν αὐτῶν θεός 1678; vgl. TuT-Apk, 204.294.306. Die Singulärlesart von 1678 basiert auf einem Schreibfehler infolge von Parablepsis bedingt durch das doppelte θεός in dem Vers und ist damit textgeschichtlich ohne Bedeutung. 241 Die Lektüre von 1678 ist besonders schwierig, da der Apk-Text auf der Seitenmitte und der Kommentar auf den Rändern durch keinerlei koordinierende Zeichen miteinander verknüpft sind. 242 Neben 1678 und 1778 findet sich die Verkettung von Andreas- und OecumeniusKommentar einzig in Zagora, Öffentliche Historische Bibliothek, 9 (GA 2433) einer Handschrift von 1736. In 2433 fehlt allerdings der Apk-Text fast restlos; siehe Groote, Commentarius, 13. 243 Das beinhaltet Jdt, 1–4 Makk, Jes, Jer, Bar, Thr, EpJer, Ez, Dan, Hi, Prov, Cant, Koh, Sap, Sir in dieser Reihenfolge. 244 Siehe dazu die Katalogbeschreibung Devreesse, Catalogue II, 13–15. 245 Devreesse, Catalogue II, 13. Dem folgt Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 182.
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Apk unmittelbar an den Hebräerbrief auf derselben Seite anschließt (fol. 223r). Insofern darf 2344 kanongeschichtlich als weiterer Beleg für die rezeptionsweisende Einreihung der Apk in die Schriftengruppe der griechischen Bibel angesehen werden.
.. Minuskeln mit höherem Textwert Obwohl bei den nächsten Handschriften die Quote an potenziell alten Lesarten (2 und 2mS) weniger ausgeprägt ist als in den vorherigen und sie insgesamt je eine höhere Quote an LA-3mS oder -4mS bekunden, können sie immer noch zu den wertvolleren Textzeugen für die Apk gerechnet werden und übertreffen mit Blick auf ihren jeweiligen Anteil an LA-2 und -2mS alle übrigen Minuskeln außer den oben genannten um ein Vielfaches. Generell haben sie aber geringeres textkritisches Gewicht als die zuvor genannten Handschriften: – 1006 1841 2582 2625 2794246 (F1006) – 1854 – 2019 – 2020 ... Textwert Die Zeugen 1006, 1841 und 2794 sind eng verwandt und bilden wie schon Hoskier und Schmid erkannten, eine Familie (F1006).247 Dazu kommen noch 2582 und 2625, die Hoskier wie Schmid noch unbekannt waren. Während Schmid den Textcharakter der Familie nicht näher bestimmt, bewertet ihn Hoskier als Zusammensetzung aus 01 und 02.248 Grundsätzlich bestätigt TuT-Apk die direkte Verwandtschaft der Zeugen, die sich durch hohe Übereinstimmungswerte zwischen 82 % und 95 % auszeichnen und mindestens 6 von 8 bzw. 8 von 8 Sonderlesarten teilen.249 Das Textzeugnis der Familie ist allerdings erheblich komplexer, als Hoskier meinte. Neben Gemeinsamkeiten mit 01 und 02 treten deutliche Verbindungen zur Koine- und Andreas-Tradition auf, wobei die Schicht aus LA4mS in allen Mitgliedern der Familie am stärksten ausgeprägt ist: Anteil LA-4mS 55–56 %. Als ebenfalls bedeutsam erweist sich der Anteil an LA-3mS von 51,2% 246 Bei Schmid ist 2794 noch als GA 2040 gelistet (Schmid, Studien II, 25). 247 Siehe Hoskier, Text I, 294; Hoskier, Text II, 24 (Nr. 95 127 215); Schmid, Studien II, 25. 248 Hoskier, Text II, 24: „composite of ℵ and A“. 249 Vgl. TuT-Apk, 645. 2582 gehört nur eingeschränkt zur F1006, da die Handschrift einen leicht abgewandelten Text im Vergleich zu 1006 1841 2625 und 2794 bezeugt.
Die Minuskeln wie in 1006.250 Der Anteil an LA-2mS liegt deutlich darunter und beläuft sich auf eine Quote von 44,7 % (anders 2582 mit 37,7 %).251 Wenngleich zumindest die Verbindung zu 02 durch zwei gemeinsame Sonderlesarten dokumentiert wird,252 lässt sich das Textzeugnis der Familie 1006 keineswegs allein auf Basis von 01 und 02 verstehen. Keine der gemeinsamen Sonderlesarten von F1006 und 02 ist signifikant genug, um das Verhältnis der Zeugen näher bestimmen zu können. In TST 92 (Apk 18,6) lässt F1006 den Artikel vor διπλᾶ, was sich auch als zufällig gemeinsamer Schreibfehler erklären lässt, und in TST 123 (Apk 21,27) lässt F1006 wohl ebenfalls zufallsbedingt gemeinsam mit 02 den Artikel vor ποιῶν aus. Jedenfalls genügt der Befund zweier omittierter Artikel nicht, um eine eindeutige Verbindung zwischen 02 und F1006 im Sinne Hoskiers erhärten zu können. Auch die Lesarten, auf die Hoskier explizit hinweist, um seine These über die Verwandtschaft von F1006 und 01 bzw. 02 zu untermauern, sind in aller Regel kürzere oder längere Omissionen mit geringer Beweiskraft, da das Zusammentreffen ebenso akzidentelle Ursachen haben kann.
Die beiden wichtigsten Kennziffern in Form von Anteilen an LA-2mS und 4mS geben die Richtung vor, in die das Zeugnis der Familie zu erschließen ist: F1006 bietet einen Textzustand, der sich aus einer Grundlage an potenziell alten Lesarten und jüngeren Entwicklungen zusammensetzt. Dazu ist das Textprofil der Familie durch eine Vielzahl an Sonderlesarten geprägt. Damit besitzt F1006 vor allem textgeschichtlichen Wert, um die Entwicklung jüngerer Textzustände (vor allem der Koine-Tradition) aufzuhellen. Textkritische Relevanz kommt F1006 in erster Linie in solchen Fällen zu, wo die älteren Zeugen 01, 02 oder 04 divergieren und sie mit mindestens einem davon zusammengeht. Die Handschriften 1854, 2019 und 2020 sind für sich stehende Einzelzeugen, die weder miteinander noch mit anderen Zeugen in einer engen Verbindung stehen. 2020 ist am ehesten noch mit dem Text von F1678 verbunden, kann aber dieser Familie keinesfalls ohne Abstriche zugeordnet werden.253 Die Übereinstimmungsquoten von 2020 mit Mitgliedern der F1678 erreichen höchstens 69 %, wobei 2020 nur wenige ihrer Sonderlesarten teilt.254 Der durch 2020 im Vergleich zu F1678 bezeugte deutlich höhere Anteil an LA-3mS (nämlich 55,2 %)
250 Vgl. zu den genannten Prozentangaben TuT-Apk, 540, 552, 588–589, 593. 251 Vgl. TuT-Apk, 429. 252 Siehe Hoskier Text II, 304–306. 253 Schon Hoskier weist darauf hin, dass 2020 einen ausgeprägten Mischtext bekundet: „a pot pourri of all recensions“; Hoskier, Text I, 92. 254 Vgl. TuT-Apk, 677.
Minuskeln mit hohem Anteil an LA-2
spricht dafür,255 dass in dieser Handschrift der ursprüngliche Text von F1678 in erheblichem Umfang durch die Koine-Tradition sekundär beeinflusst ist.256 Obwohl die Abstammung des Textzustandes von 2020 aus F1678 nicht von der Hand zuweisen ist, sollte auf eine Zuordnung der Handschrift zu dieser speziellen Familie aufgrund der offensichtlichen Unterschiede verzichtet werden, um beide Textzeugnisse letztendlich unabhängig und damit besser erfassen zu können.257 In 1854 überwiegt wiederum der Anteil an LA-4mS mit 54 %, wobei die Handschrift keiner Gruppe oder einem näheren Verwandten zugeordnet werden kann.258 Der textkritische Wert des Zeugen ist generell schwer einzustufen. Zum einen bekundet 1854 diverse Sonder- und Singulärlesarten, von denen die meisten ohne textgeschichtliche Bedeutung auf Schreiberfehler zurückgehen.259 Zum anderen hat 1854 einen durchaus bedeutsamen Anteil an LA-2 von 30,5 %, der denjenigen von F1006 übersteigt, doch nimmt die Quote an potenziell alten Lesarten in Relation zum Gesamttext merklich ab, sobald die LA-2mS berücksichtigt werden.260 Demnach gehört 1854 zwar immer noch zu den wertvolleren Zeugen für die Apk, hat aber in der Summe nicht denselben Wert wie F1006 oder andere oben erwähnte Handschriften.261 Wie Hoskier schon richtig diagnostizierte, konnte 1854 einen beschränkten Grundstock alter Lesarten bewahren, die vorrangig durch 01, 02 und 04 bezeugt werden;262 darüber hinaus ist der Textzustand aber hochgradig kontaminiert, wobei etliche Lesarten tatsächliche Verunreinigungen aufgrund von Schreiberfehlern sind und nur wenige genealogischen Wert durch nachweisbare Verbindungen zu jüngeren Überlieferungs-
255 Vgl. TuT-Apk, 446. 256 Laut Schmid (Studien Ia, 68) wurde der Text von 2020 nach einer der Koine-Untergruppe 498 nachstehenden Handschrift redigiert. 257 Anders Schmid (Studien II, 26), der – trotz seiner zutreffenden Beobachtung einer verstärkten Beeinflussung von 2020 durch die Koine-Tradition – die Handschrift in seine Untergruppe l der Andreas-Gruppe einordnet. So irrtümlich auch Hoskier (Text I, 89–91), der vor Schmid denselben Fehler gemacht hat. 258 Vgl. TuT-Apk, 553. Hoskier (Text I, 442) betont wiederholt, dass 1854 viele einzigartige Lesarten bezeugt („many unique readings“). 259 Allein in TuT-Apk, 312, sind vier Singulärlesarten kollationiert, die die mitunter nachlässige bzw. eigenwillige Arbeit des Schreibers dokumentieren: TST 5 (Apk 1,9); TST 9 (Apk 1,18); TST 37 (Apk 5,9); TST 49 (Apk 6,11). Eine umfängliche Liste mit auffälligen Lesarten in 1854 bietet Hoskier, Text I, 447–453. 260 Vgl. TuT-Apk 422. 261 Zu den genannten Werten vgl. TuT-Apk, 429. 262 Siehe Hoskier, Text I, 446.
Die Minuskeln stufen haben. Folglich muss 1854 sowohl textkritisch als auch textgeschichtlich mit größter Sorgfalt bewertet werden. Die Handschrift 2019 konnte an 103 Teststellen kollationiert und dementsprechend verlässlich in TuT-Apk ausgewertet werden.263 Nach der Einschätzung von Schmid bietet 2019 einen überaus eklektischen Text der AndreasTradition, der vor allem unter „K-Einfluß“ stehe und daneben auch Beziehungen zur F1006 zeige.264 Was TuT-Apk betrifft, lässt sich der besagte Einfluss der Koine-Tradition auf das Zeugnis von 2019 nicht nachweisen, zumal der Wert an LA-3mS mit 34,3 % deutlich geringer als in vielen anderen AndreasHandschriften ausfällt.265 Generell stimmt 2019 nur in solchen Fällen mit dem mehrheitlich bezeugten Wortlaut der Koine-Tradition überein, wenn dieser zugleich durch andere dem Ausgangstext verbundene Zeugen (etwa 01, 02 oder 04) oder der überwiegenden Zahl der Andreas-Handschriften bekundet wird.266 Dazu kommen fünf Teststellen (4, 6, 34, 51, 68), an denen 2019 eine gleichermaßen von der Koine- und Complutense-Gruppe bezeugte Lesart aufweist. Da sich für all diese Varianten nicht sicher entscheiden lässt, nach welcher Grundlage sie 2019 bezeugt, können sie auch nicht a priori der Koine-Tradition zugeschlagen werden. Schließlich bezeugt 2019 überhaupt keine Lesart 3, also eine Variante, die mehrheitlich allein von der Koine-Gruppe gegen die Andreas- und Complutense-Gruppe gelesen wird, womit der vermeintliche Einfluss der KoineTradition auf das Zeugnis von 2019 überaus unwahrscheinlich erscheint und demzufolge auch die Varianten mit Mischbezeugung in 2019 tendenziell aus anderer Herkunft stammen dürften. Im Kontrast dazu hat Schmid aber richtig beobachtet, dass der Zeuge 2019 der Familie 1006 nahesteht. Wie die nachstehende Tabelle zeigt, befindet sich 2019 im Hinblick auf seine textkritische Bedeutung prinzipiell auf einer Stufe mit F1006 und ist dementsprechend aufzuwerten:267
263 Der Handschrift 2019 fehlen 19,11–22,21. 264 So Schmid, Studien Ia, 316. 265 Vgl. TuT-Apk, 423. Selbst die erste vollständig erhaltene Handschrift 2286 mit dem höchsten Anteil an LA-4 von 87,5 % bekundet bei einer Rate von 35,7 % an LA-3mS immer noch einen größeren Anteil an Koine-Lesarten als 2019; vgl. TuT-Apk, 449. 266 Vgl. dazu TuT-Apk, 326. Demnach bietet 2019 ausschließlich Lesarten der Koine-Tradition, die auch von anderen Überlieferungszweigen bekundet werden: LA-2/3 (1 von 5), LA-3/4 (1 von 4), LA-3/5 (5 von 18), LA-2/3/4 (3 von 4), LA-3/4/5 (22 von 39) und LA-2/3/4/5 (2 von 3). 267 Vgl. zu den angegebenen Daten TuT-Apk, 423.
Minuskeln mit hohem Anteil an LA-2
Tab. 12: Textzusammensetzung 2019 Hs
LA- LA-mS LA-mS LA-mS LA-mS
SoLA
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Der direkte Vergleich mit 1006 stellt den hohen Wert des Zeugen 2019 eindrücklich unter Beweis: In der Sortierung nach LA-2 erscheint 2019 unmittelbar nach den Mitgliedern der Familie 1006 und der Sortierung nach LA-2mS sogar direkt über ihnen.268 Während in 2019 die Werte an LA-4mS und 5mS stärker ausgeprägt sind, weist 1006 eine erhöhte Quote an LA-3mS auf. Schlussendlich stehen aber beide Zeugen in ihrer textkritischen wie textgeschichtlichen Bedeutung auf einer Stufe. Laut Schmid wurde 2019 von einem „höchst sorglosen Schreiber“ angefertigt, dem etliche orthographische Fehler und Omissionen durch Parablepsis unterliefen.269 Die TuT-Kollation bestätigt diesen Eindruck, wie einige Singulärlesarten demonstrieren.270 Dieser Umstand ändert aber nichts daran, dass 2019 alles in allem eine alte und mitunter bedeutsame Textgrundlage bewahrt hat. Obwohl 2019 LA-4mS (63,7 %) in etwas größerem Umfang als die Mitglieder der Familie 1006 (55,2 %) bekundet und die Handschrift nachweislich den Andreas-Kommentar enthält,271 klassifizierte Schmid den Zeugen in Bezug auf den Apk-Text fälschlicherweise als Andreas-Handschrift.272 Stattdessen bestätigt 2019 die generelle Tendenz der Minuskeln mit erhöhtem Textwert, dass sich die noch erkennbare alte Textgrundlage deutlich in Richtung jüngere Textzustände entwickelt hat und in diesem Fall mit einer ausgeprägten Schicht an Varianten der Andreas-Tradition vermengt ist. Die Verbindung mit dem Andreas-Kommentar bleibt zwar ein gewisses Rätsel, das aber die Einstufung der Handschrift 2019 als Zeugen für den Apk-Text im engeren Sinne nicht beeinträchtigt, zumal der Andreas-Kommentar in der Überlieferung häufiger mit anderen Texttraditionen verbunden wurde.273 Insgesamt ist der Zeuge 2019 in 268 Vgl. TuT-Apk, 423, 429. 269 Schmid, Studien Ia, 73–74, Zitat 73. 270 In der Summe bekundet 2019 fünf Singulärlesarten: vgl. TuT-Apk, 327. Exemplarisch sei auf die versehentliche Dittografie τοῦ θυμοῦ τοῦ θυμοῦ τοῦ μεγάλου in Apk 14,19 (TST 87) hingewiesen; vgl. TuT-Apk 163. 271 Vgl. TuT-Apk, 458. 272 Schmid, Studien Ia, 73–74, 316. 273 Exemplarisch sei hier auf die Handschrift 82 hingewiesen, die im Apk-Text zur KoineGruppe gehört (siehe Teil II: 4.2) und zugleich den Andreas-Kommentar enthält (siehe auch
Die Minuskeln Anbetracht der Quote an LA-2 und -2mS textkritisch aufzuwerten und in dieser Hinsicht von allen übrigen Handschriften mit dem Kommentar des Andreas zu differenzieren.274 ... Buchgeschichtliche Beobachtungen Aus rezeptionsgeschichtlicher und kodikologischer Perspektive erlauben die Handschriften der F1006 sowie 1854 und 2020 einige interessante Beobachtungen zur Apk. Mit Ausnahme von 2020 und 2582 enthalten alle Handschriften ausschließlich neutestamentliche Schriften mit dazugehörigem paratextlichem Material. In den Codices Athos, Iviron, 56 (Lampros 4176; GA 1006)275 datiert ins 11. Jh. und Durham, Duke University, David M. Rubenstein Rare Book and Manuscript Library, K. W. Clark collection, MS. 100 (GA 2794)276 mit Datierung der Produktion ins 10./11. Jh. ist die Apk allein mit den vier kanonischen Evangelien verbunden – eine Zusammenstellung, die ansonsten noch durch 792 1064 1328 1551 1685 2323 2643 2656 und sekundär geschaffen durch 2821 sowie 2864 dokumentiert wird.277 Die Kombination aus Evangelien und Apk dürfte christologischen Implikationen Rechnung tragen, um das irdische und himmlische Wirken von Jesus Christus als universale Heilsgestalt unmittelbar aufeinander zu beziehen. Besondere Beachtung verdient vor diesem Hintergrund das florale Schmuckornament vor der Apk, zumal vergleichbare Verzierungen am Beginn der Evangelien fehlen.278 Das ornamentale Dekor weist über dem kurzen Initialtitel (Ἰωάννου Ἀποκάλυψις) die Darstellung eines eingeschlossenen Baums auf, der sich als visuelle Anspielung auf den Ausdruck τοῦ ξύλου τῆς ζωῆς, ὅ ἐστιν Schmid, Studien Ia, 74–75). Nach Schmid (a. a. O.) ist 82 sogar einer der besten Repräsentanten der Koine-Gruppe; von Soden (Schriften I/3, 2043) spricht mit Bezug auf 82 (= O1) sogar von „singulärer Reinheit“. Die Bedeutung von 82 als Leithandschrift der Koine-Tradition wird durch TuT-Apk bestätigt: siehe Teil III: 4.3.1. 274 Wie es zu der Verbindung des durch 2019 bezeugten Apk-Text mit dem AndreasKommentar kam, wäre eigens zu untersuchen, spielt aber für die Bewertung des Zeugen 2019 für den Apk-Text keine Rolle. 275 Siehe auch die Beschreibung S. Kim, Description ParaTexBib (GA 1006), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=23653 (zuletzt abgerufen am 06.11.2021). 276 Weitere Informationen zur Handschrift bietet die Beschreibung E. van Elverdinghe, Description ParaTexBib (GA 2794), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=73001, zuletzt abgerufen 24.03.2023. 277 Aus dieser Reihe bilden 792 und 2643 ein Sonderpaar, das sich durch diverse gemeinsame Eigentümlichkeiten auszeichnet (siehe Teil II: 4.6.3). 278 Von Mt und Joh fehlt leider jeweils der Anfang, aber vor Mk und Lk erscheint nachweislich kein Schmuckornament.
Minuskeln mit hohem Anteil an LA-2
ἐν τῷ παραδείσῳ τοῦ θεοῦ Apk 2,7 und 22,18 deuten lässt. Auf diese Weise könnte die soteriologische Relevanz der Apk rezeptionssteuernd nach dem Evangelium versinnbildlicht sein. Ansonsten enthalten die beiden Handschriften keine nennenswerten Paratexte oder anderweitigen Informationen zur Apk. Obwohl die Codices Mytilene, Leimonos, 55 (GA 1841; 10. Jh.)279, Ochrid, Naroden Muzej, 43 (GA 2625; 12. Jh.) und Athos, Iviron, 25 (Lampros 4145; GA 1854; 10. Jh.)280 im Detail sehr unterschiedlich sind, bekunden sie durch Zusammenstellung von Apostelgeschichte, Katholischen und Paulinischen Briefen sowie Apk dasselbe Sammlungsszenario einer Teilhandschrift des Neuen Testaments.281 Für 1841 ist die Verbindung der Apk zum Rest des Codex physisch gesichert, da der Beginn der Apk auf demselben Folio steht wie das Ende des vorangehenden Judas-Briefs (fol. 186r). Nichtsdestotrotz sticht die zu den übrigen Schriften des Codex abweichende paratextliche Ausstattung der Apk heraus, da nur hier auf die Voranstellung eines Prologs verzichtet wurde. Im Fall von 2625 geht der Apk der Pseudoprolog des Arethas und die Kapitelliste des Arethas-Kommentar voraus,282 wohingegen 1854 wiederum von einer Anmerkung zu Apk 13,18 mit dem Inhalt λατεῖνος (λατίνος) als Deutung der Tiereszahl und dem Initial- wie Finaltitel (Ἰωάννου Ἀποκάλυψις bzw. Ἀποκάλυψις Ἰωάννου)283 abgesehen keine Paratexte zur Apk enthält.284 279 Siehe auch die Beschreibung von G. Mighali, Description ParaTexBib (GA 1841), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=45377, zuletzt abgerufen 24.03.2023. 280 Siehe die online Beschreibung von J. Stanojević, Description ParaTexBib (GA 1854), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=23622, zuletzt abgerufen24.03.2023. 281 Nach Elliott (Distinctiveness, 154) ist die Kombination aus Apostelgeschichte, Katholischen und Paulinischen Briefen und Apk die zahlenmäßig größte Gruppe von NTTeilhandschriften unter Beteiligung der Apk. 282 Der Arethas-Kommentar hatte wohl ursprünglich keinen Prolog oder der originäre Prolog ging verloren, weshalb die Überlieferung die Lücke mit Versatzstücken aus dem Oecumeniusund Andreas-Kommentar schloss; siehe dazu M. de Groote, Die σύνοψις σχολική zum Apokalypse-Kommentar des Arethas. Nebst einem Anhang: Die handschriftliche Überlieferung des Apokalypse-Kommentars des Arethas, SE 34 (1994), 125–134, hier 131–132. 283 Die Umstellung der Wortfolge in Anfangs- und Endtitel bildet eine bemerkenswerte Klammer um den Apk-Text, an dessen Beginn und Schluss jeweils Johannes, der Offenbarungsempfänger steht. 284 Alle Angaben nach der Transkription von Stanojević, Description ParaTexBib (GA 1854). Zur antilateinischen Tendenz mancher Glossen zu Apk 13,18 siehe G. V. Allen, Manuscripts of the Book of Revelation. New Philology, Paratexts, Reception 2020, 135–140. Allen untersucht in erster Linie eine verbreitete Glosse zu Apk 13,18 aus einer Reihe von Scholien, die auf dem Oecumenius-Kommentar basieren; vgl. Groote, Commentarius, 307. Die Anmerkung in 1854 rekurriert wohl auf diese Scholien-Tradition, wobei von den Deutungsmöglichkeiten λαμπέτις, τειτάν, λατεῖνος, βενέδικτος lediglich λετεῖνος vorhanden ist.
Die Minuskeln Die beiden Codices Vatikan, BAV, Vat. gr. 1908 (GA 2582) und Vatikan, BAV, Vat. gr. 579 verkörpern zwei beachtenswerte Sammelhandschriften, welche die Apk mit ausschließlich nicht-biblischen Texten umfassen.285 Der Codex Vat. gr. 1908 bietet Texte ganz unterschiedlicher Sujets, wozu auch philosophische Schriften des Aristoteles und medizinische des Galen gehören. Die Abschriften wurden von verschiedenen Kopisten angefertigt und die Kombination der Texte offenbar erst sekundär im 17. Jh. hergestellt. Welche Intention sich hinter der Zusammenstellung der Schriften verbirgt oder ob sie schlicht archivarischen Beweggründen geschuldet ist, muss offen bleiben. Gleichwohl tritt hier ein seltenes Phänomen vor Augen, indem die Apk mit außerchristlichen Texten zusammengebunden wurde. Bislang ist nur ein vergleichbares Objekt bekannt, und zwar der Codex Florenz, BR, 84 (GA 368), der die Apk mit JohannesEvangelium und Briefen sowie einigen Briefen Platons enthält.286 Auskunftsfreudiger zeigt sich schließlich Vatikan, BAV, Vat. gr. 579, dessen diverse Inhalte auch von verschiedenen Kopisten oder Kopistinnen angefertigt und wohl im 15. Jh. endgültig zusammengestellt worden sind.287 Abgesehen von der Apk versammelt der Codex vorrangig byzantinische Autoren und theologische Texte, die mitunter eine deutliche antilateinische Haltung erkennen lassen (bes. fol. 157–182). Die Sammlungsidee des Codex könnte in der Absicht der Bewahrung und Verteidigung byzantinischer Tradition gegen lateinischen Einfluss sein, dabei dürfte die Apk – zumal vor dem Hintergrund der antilateinischen Deutungstradition von Apk 13,18 – als herrschaftskritische Schrift nach antikem Vorbild gelesen worden sein. Der Befund ist jedoch mit Vorsicht zu interpretieren, da die genaue Formation des Codex Vat. gr. 579 bislang nicht erschlossen ist und auch noch nicht sämtliche Inhalte identifiziert werden konnten.
285 Beschreibungen der Handschriften bieten R. Devreesse, Codices Vaticani Graeci. Tomus II: Codices 330–603, Bibliothecae Apostolicae Vaticanae codices manuscripti recensiti, Vatikan 1937, 490–496, zu Vat. gr. 579 und P. Canart, Bibliothecae Apostolicae Vaticanae Codices manu scripti recensiti. Codices Vaticani graeci. Codices 1745–1962, T. I Codicum enarrationes, Vatikan 1970, 639–645, zu Vat. gr. 1908. 286 Nach Einschätzung von Speranzi wurde der Codex im 15. Jh. als eine Produktionseinheit geschaffen; siehe D. Speranzi, Esplorazioni riccardiane. Il „Vangelo“ di Marsilio Ficino, in: G. Garelli/A. Rodolfi (Hgg.), Fructibus construere folia. Omaggio a Vittoria Perrone Compagni, Biblioteca Palazzeschi 29, Florenz 2020. 287 Vgl. Devreesse, Codices Vaticani Graeci. Tomus II, 490. Die Abschrift der Apk wurde von dem Kopisten Θεόδωρος angefertigt; siehe Gamillscheg/Harlfinger/Eleuteri, RGK III, Nr. 225.
Minuskeln mit hohem Anteil an LA-2
.. Ständige Zeugen von NA28 in Relation zu TuT-Apk NA28 bietet eine Auswahl von sog. „ständigen Zeugen für die Apokalypse“, die durchgängig im Apparat der Edition nachgewiesen werden und zu denen auch eine Reihe von Minuskeln gehören.288 In der Einleitung werden folgende Minuskeln aufgelistet: 1006, 1611, 1841, 1854, 2030, 2050, 2053, 2062, 2329, 2344, 2351 und 2377. In Rekurs auf Schmid ist diese Zeugenauswahl folgerichtig und dementsprechend begründet.289 TuT-Apk gestattet sowohl eine kritische Überprüfung dieser Auswahl als auch Vorschläge, welche Minuskeln in künftigen Auflagen als ständige Zeugen für die Apk im Apparat nachgewiesen werden sollten. Zu diesem Zweck folgt eine kurze Aufstellung der potenziellen ständigen Zeugen für die Apk, und zwar basierend auf der TuT-Auswertung mit kurzer Erläuterung: 1006
1611
1678
Die F1006 besteht aus diesen Mitgliedern: 1006 1841 2582 2625 2794. Da die Wiedergabe aller Handschriften in der Handedition den gegebenen Rahmen sprengen dürfte, empfiehlt sich entweder die Zitation mit dem Familien-Siglum F1006, wobei die Handschriften in einzelnen Fällen durch Bezeugung verschiedener Lesarten diese Art der Zitation erschweren, oder die Auswahl eines Exemplars aus der Familie für den Nachweis im Apparat. Da 1006 den Familienkopf bildet und im Schnitt den höchsten Anteil an LA-2 und 2mS der fünf Mitglieder aufweist, sollte auch diese Handschrift weiterhin im Apparat zitiert werden. Auf die Wiedergabe des Zeugen 1841 könnte dementsprechend als unnötige Doppelung aus der Familie 1006 in Zukunft ohne Beschwer verzichtet werden. Nach TuT-Apk gehört 1611 zu den wertvollsten Zeugen für die Apk (siehe Teil II: 4.1.1) und wäre demgemäß auch weiterhin im Apparat der Handedition anzugeben. Die F1678 besteht aus drei Mitgliedern (siehe Teil II: 4.1.1), von denen 2080 insgesamt den höchsten Anteil an LA-2mS bekundet. Mit Blick auf den Textwert steht diese Familie auf einer Stufe mit 1611 oder F2053 und sollte daher unter den ständigen Zeugen für die Apk in künftigen Auflagen der Handedition repräsentiert sein. Im Gegensatz zu F1006 empfiehlt es sich aber in diesem Fall nicht den Familienkopf 1678, sondern
288 Siehe NA28, 23*. 289 Siehe Schmid, Studien II, 24–25. Schmid stellt in diesem Abschnitt die seiner Meinung nach wichtigsten Zeugen für die Apk zusammen. Vor allem im Hinblick auf die Minuskeln bleiben Schmids Aussagen recht oberflächlich und vage, sodass der tatsächliche Wert der Zeugen nur schwer einzuschätzen ist.
Die Minuskeln
1854 2019
2030
2050
2053
2329
die Handschrift 2080 aufgrund des höheren Wertes an LA-2mS für die Zitation im Apparat zu wählen – sofern die Familie nicht als Ganze unter F1678 genannt werden soll. Wenngleich der Zeuge 1854 insgesamt weniger bedeutsam als 1611 ist, behält auch er das Recht zu den ständigen Zeugen für die Apk zu gehören. Wie F1678 zählt auch 2019 bislang nicht zu den ständigen Zeugen für die Apk. Die Auswertung von TuT-Apk begründet jedoch eine Neubewertung der Handschrift, die demnach einen erhöhten Anteil an LA-2 und 2mS aufweist und hinsichtlich ihres Textwertes auf einer Stufe mit F1006 steht. Schmid hob die Handschrift 2030 zwar von den meisten anderen Minuskeln der Apk ab, hielt aber zugleich fest, dass sie nur von geringem Wert sei.290 Dieses Urteil wird durch TuT-Apk bestätigt, weil 2030 lediglich einen Anteil an LA-2mS von 35,4 % hat und sich damit in der entsprechenden Sortierungsliste inmitten von Andreas-Handschriften befindet.291 Folglich hat der Zeuge 2030 vor allem textgeschichtliche Bedeutung, indem er vermutlich einen fortentwickelten Textzustand bekundet, der noch einen gewissen Anteil alter Lesarten bewahrt hat und daneben bereits viele jüngere Varianten aufweist. Für die Zitation in der Handedition, die einen Überblick der wichtigsten Varianten im Apparat geben möchte, eignet sich die Handschrift allerdings weniger und sollte darum fortan nicht mehr nachgewiesen werden. Die Handschrift 2050 ist aufs Ganze gesehen weniger bedeutsam als 1611, 1678 (bzw. 2080), 2053, 2344, 2329 und 2846, zählt aber immer noch zu den gewichtigsten Zeugen für die Apk (siehe Teil II: 4.1.1). Insofern sollte die Handschrift auch weiterhin als ständiger Zeuge für die Apk in künftigen Auflagen der Handedition erscheinen. Die Familie 2053 besteht aus fünf Mitgliedern, von denen allerdings nur 2053 weitgehend vollständig ist. Da die Handschrift 2062 in den vorhandenen Abschnitten mit 2053 vielfach identisch ist,292 genügt auch in diesem Fall der Nachweis von 2053 als ständiger Zeuge für die Oecumenius-Tradition im Apparat der Handedition. Die Bedeutung des Zeugen 2329 steht bei einem Anteil an LA-2mS von 50,8 % außer Frage, weshalb die Handschrift auch in Zukunft unbedingt zu den ständigen Zeugen für die Apk zählen sollte.
290 Siehe Schmid, Studien II, 25. 291 Vgl. TuT-Apk, 430. 292 Vgl. TuT-Apk, 691. Demnach stimmt 2062 zu 86 % im Text mit 2053 überein.
Minuskeln mit hohem Anteil an LA-2
2344
2351
2377
Dasselbe trifft auf 2344 zu. Wenngleich die Handschrift in der Sortierung nach LA-2mS in geringem Abstand von 0,3 Prozentpunkten hinter 2329 aufgeführt wird, steht 2344 in der Sortierung nach LA-2 mit einem 0,5 % höherem Wert vor 2329.293 Demnach haben beide Zeugen in Etwa dieselbe Bedeutung, wobei 2344 nur bis 22,1 erhalten ist und aufgrund eines Wasserschadens viele Varianten nicht mehr sicher zu entziffern sind. Daraus lässt sich ableiten, dass 2344 insgesamt eine größere Menge an alten Lesarten als 2329 bewahrt hat. Mit Blick auf den Textwert ging Schmid also richtig in der Annahme, dass 2344 die wertvollere Handschrift ist und ihr Zeugnis dementsprechend im Zweifelsfall mehr Beachtung verdient.294 Schon Schmid attestierte 2351 nur geringe Bedeutung. Diese Einschätzung wird durch TuT-Apk bestätigt, da sie lediglich einen Anteil an LA2mS von 24,6 % aufweist und damit in der entsprechenden Sortierungsliste erst im letzten Drittel erscheint.295 Die Quote an LA-2 beläuft sich zwar auf 12,1 % und lässt erahnen, dass die Handschrift noch einen Textzustand mit Reminiszenz an altem Text bewahrt hat, doch steht sie letztendlich der Koine-Gruppe deutlich näher (siehe Teil II: 4.6.3). Die Aufnahme in Apparat hängt also davon ab, welchen Schwerpunkt man setzen möchte. Gegen die Aufnahme spricht die geringe textkritische Relevanz, während die textgeschichtliche Bedeutung des Textzustandes ein Argument für dessen Wiedergabe ist. Auf die Handschrift 2377 trifft dasselbe zu, was schon zu 2030 gesagt wurde, wobei der Anteil an LA-2mS mit 30 % noch geringer ausfällt und sie dahingehend von den allermeisten Andreas-Handschriften übertroffen wird.296 Mit gewisser Vorsicht ist allerdings zu berücksichtigen, dass 2377 aufgrund des schlechten Erhaltungszustands und der weiträumigen Lücken (vorhanden sind nur 13,10–14,4; 19,21–20,6; 20,14–22,21) nur an 25 Teststellen ausgewertet werden konnte. In Anbetracht dessen ließe sich spekulieren, ob das Zeugnis von 2377 ursprünglich nicht doch größere Bedeutung besessen hat. Weil aber nur vorhandene Varianten eine Rolle spielen, ist diese Überlegung für den Nachweis der Handschrift im Apparat letztendlich belanglos. Vor diesem Hintergrund sei empfohlen, in Zukunft von der Wiedergabe des Zeugen 2377 als ständigen Zeugen in der Handedition abzusehen.
293 Vgl. TuT-Apk, 422, 429. 294 Siehe Schmid, Studien II, 25. 295 Vgl. TuT-Apk, 433. 296 Vgl. TuT-Apk, 431.
Die Minuskeln 2846
Eine Aufnahme in die Reihe der ständigen Zeugen für die Apk verdient hingegen 2846 als die mit Abstand bedeutsamste Minuskel-Handschrift der Apk-Überlieferung (siehe Teil II: 4.1.1). Der Zeuge steht weitgehend auf einer Stufe mit P47 und 01, wobei er in der Sortierung nach LA-2mS ausschließlich von 02 und 04 übertroffen wird.
Folglich könnte die Liste der ständigen Zeugen in der Handedition für die Apk gemäß TuT-Apk in Bezug auf die Minuskel-Handschriften in Zukunft wie folgt lauten: 1006, 1611, 1854, 2019, 2050, 2053, 2080, 2329, 2344, (2351) und 2846. Freilich ist dieser Vorschlag durch die CBGM-Auswertung der ECM zu überprüfen. Über die Minuskeln mit alten Textzuständen hinaus sind außerdem noch einige Vertreter für die byzantinischen Texttraditionen der Apk zu berücksichtigen. Aufgrund der TuT-Auswertung empfehlen sich dazu folgende Zeugen: 82 als Hauptvertreter der Koine-Gruppe, 2081 als Hauptvertreter der AndreasGruppe, 1637 als Repräsentant für die Complutense-Gruppe, 91 für die ArethasFamilie, 250 oder 1888 für die Familie 172, um die weitere Textgeschichte der Apk im Apparat zu dokumentieren. Eine andere Möglichkeit bestünde mithilfe der CBGM darin, die Lesarten der Textfamilien neu zu bestimmen, indem für jede der vorgenannten Gruppen zwei oder drei Mitglieder an allen Stellen elektronisch verglichen werden und der je gemeinsame Wortlaut als Familientext betrachtet wird.297 Für eine transparente Dokumentation muss der Grundsatz gelten, dass an Stellen, an denen die Vertreter derselben Gruppe abweichen, der Familientext nicht bestimmt werden kann. In diesen Fällen können nur die Einzelzeugen angegeben werden. Im Sinne von Nestle-Aland könnten für diese Familien Gruppensigla eingeführt werden, die immer dort im Apparat erscheinen, wo die Zeugen derselben Gruppe dieselbe Variante bezeugen. Durch dieses Vorgehen hätte man den Nachweis der byzantinischen Texttraditionen auf eine neue Basis gestellt und sie objektiv nach dem Befund der handschriftlichen Überlieferung dokumentiert.
297 Zur Feststellung der Familientexte empfehlen sich folgende Zeugen aus den verschiedenen Gruppen: Für die Koine-Gruppen kämen außerdem 1849 und 2138 in Frage, für die Andreas-Gruppe 2814 und 2595, für Arethas 2077, für die Complutense-Gruppe 2723. Ferner könnten 104 und 620 zur Definition des gemeinsamen Textbestandes des Clusters 104 herangezogen werden.
Koine-Gruppe
. Koine-Gruppe Durch Hoskier298 und Schmid liegen bereits zwei Gruppierungen der KoineHandschriften vor, die durch TuT-Apk von einzelnen Ausnahmen abgesehen weitgehend bestätigt werden: Tab. 13: Vergleich Koine-Gruppe Schmid299 vs. TuT-Apk300 Koine-Gruppe nach Schmid
Koine-Gruppe nach TuT-Apk
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Die meisten Abweichungen zwischen den beiden Gruppierungen, die in der Tabelle durch Kursivierung kenntlich gemacht sind, beschränken sich auf Handschriften, die Schmid noch unbekannt waren und er sie deswegen nicht untersuchen konnte: 1626 1760 2672 2843 2845 2847 2864. Obwohl die Handschrift Sofia, Ivan Dujcev Center for Slavo-Byzantine Studies, D. gr. 176 Schmid grundsätzlich bekannt war, konnte er ihren Apk-Text nicht untersuchen, da sie zu seiner Zeit noch als verschollen galt.303 Gemäß TuT-Apk haben alle sieben 298 Hoskier nennt die Koine-Gruppe „B family“ nach der Handschrift 046, die auch mit dem Siglum B bezeichnet wurde; siehe Hoskier, Text I, 8; Hoskier, Text II, 1. 299 Nach Schmid, Studien II, 27. Außerdem: Schmid, Apokalypsehandschriften; J. Schmid, Neue griechische Apocalypsehandschriften, ZNW 59 (1968), 250–258. 300 Vgl. TuT-Apk, 24. 301 Die Verzeichnung von 241 in TuT-Apk basiert auf der Kollation von Hoskier, da die Handschrift zur Zeit der Publikation als verbrannt galt; vgl. TuT-Apk, 7*. Nunmehr ist aber bekannt, dass sich die Handschrift in einem schlechten Erhaltungszustand als Folge einer Beschädigung durch Wasser in Moskau befindet. 302 Die Notation von 2039 in TuT-Apk basiert auf der Kollation von Hoskier, da die Handschrift als verbrannt gilt; siehe TuT-Apk, 7*. Anders als 241 gelang es auch in der Zwischenzeit nicht zu verifizieren, ob der Codex tatsächlich zerstört ist oder sich ebenfalls in Moskau befindet. 303 Siehe Hoskier, Text I, 636 (Nr. 199).
Die Minuskeln Handschriften einen hohen Anteil an LA-3 und können darum sicher der KoineGruppe zugeordnet werden.304 Die Zeugen 241 468 2256 ordnete Schmid der Koine-Gruppe zu, was durch TuT-Apk allerdings nur eingeschränkt bestätigt wird, weshalb die Handschriften in Klammern erscheinen. Im Gegensatz zu den übrigen Koine-Handschriften haben diese drei einen deutlich niedrigeren Anteil an LA-3: 241 (44,1 %), 468 (73,0 %) und 2256 (72,7 %).305 Für 241 ist die Einordnung in die Koine-Gruppe besonders strittig, lässt sich aber vertreten, da der Wert an LA-3mS von 71,5 % dem vieler anderer Koine-Handschriften entspricht.306 Für die Definition der Lesart 3 wurde keine der drei Handschriften berücksichtigt.307 .. Gruppenbegriff und Textcharakter Zunächst erlaubt die Gruppenbildung von TuT-Apk wichtige Korrekturen, wie die Auswertung der Handschriften 469, 2436 und 2794 zeigt. Während Schmid 469 zur Koine-Gruppe zählte,308 bietet sie zwar nach TuT-Apk einen Mischtext mit hohem Anteil an LA-3mS (66,1 %309), bildet aber mit 2716, einer Schmid noch unbekannten Handschrift, ein für sich stehendes Paar (siehe Teil II: 4.6.3). Ebenso gehört 2436 nicht zur Koine-Gruppe,310 sondern steht offenbar der Complutense-Gruppe näher: 2436 bekundet eine Quote von 63,1 % an LA-5mS, wohingegen sich der Anteil an LA-3mS lediglich auf 60,6 % beläuft. Ferner zeigt der Text von 2436 eine hohe Übereinstimmung mit 2078, die als der ComplutenseTradition nahestehendes Paar eingeordnet werden können (siehe Teil II: 4.6.3). Die größte Bedeutung hat die Neueinschätzung von 2794 (Schmid 2040), weil die bedeutsame F1006 dadurch ein weiteres Mitglied erhält (siehe Teil II: 4.1.2). Obwohl sich Schmid bewusst war, dass 2794 einen beachtenswerten Mischtext bietet, fügte er den Zeugen am Ende mit Abstrichen der Koine-Gruppe bei.311 Realiter bekundet 2794 aber einen signifikanten Anteil an LA-2mS und hat die 304 Die Anteile an LA-3 belaufen sich auf 80,6 % (2864) bis 90,9 % (2672); vgl. TuT-Apk, 436–437. 305 Vgl. TuT-Apk, 439. 306 Vgl. TuT-Apk, 444. 307 Siehe TuT-Apk, 24 mit Anm. 1. 308 Siehe Schmid, Untersuchungen II, 433. 309 Vgl. TuT-Apk, 445. 310 Vgl. Schmid, Studien II, 27. 311 Siehe Schmid, Untersuchungen II, 14–15. In der Liste der Koine-Handschriften steht 2040 (= 2794) in Klammern, womit die problematische Gruppierung des Zeugen angezeigt werden soll; vgl. Schmid, Studien II, 27. Welche Schwierigkeiten 2794 bereitet, wird an dieser Stelle allerdings nicht klar, zumal ein entsprechender Hinweis auf seine frühere Arbeit fehlt.
Koine-Gruppe
höchsten Übereinstimmungswerte mit den übrigen Mitgliedern der F1006.312 Des Gleichen lässt sich der von Schmid beobachtete Blockmix in 2794 nach TuT-Apk nicht verifizieren. Laut Schmid steht 2794 in der ersten Hälfte der Apk den Koine-Handschriften 920, 1859, 1872, 2027 und 2256 nahe, wobei er den vermeintlichen Vorlagenwechsel in Apk 11,7 lokalisiert.313 Dagegen zeigt die TuT-Kollation sehr deutlich, dass 2794 auch im ersten Teil der Apk in solchen Fällen mit F1006 zusammengeht, wenn diese vom Zeugnis der Koine-Gruppe abweicht: Exemplarisch sei auf die folgende signifikante Variante verwiesen: TST 5 (Apk 1,9): om. 02 04 F1006 2794 NA28] δια KoiG TST 33 (Apk 5,5): ανοιξαι NA28 01 02 F1006 2794 NA28] ο ανοιγων KoiG TST 34 (Apk 5,6): οι 01 02 F1006 2794 NA28] α KoiG TST 35 (Apk 5,6): [επτα] πνευματα του θεου 01 KoiG NA28] πνευματα του θεου 02 F1006 ¦ πνευματα τα του θεου 2794 TST 36 (Apk 5,6): απεσταλμενοι 02 NA28] τα απεσταλμενα F1006 2794 ¦ αποστελλομενα KoiG
Nach dieser kurzen Kollation steht 2794 offenbar auch im ersten Teil der Apk dem Zeugnis der F1006 entschieden näher als dem der Koine-Gruppe. Als äußerst beweisträchtig erweist sich in diesem Zusammenhang der Fehler in 5,6 (Dittografie von τά), der eindeutig die Variante von F1006 (πνεύματα) und nicht diejenige der Koine-Gruppe (ἑπτὰ πνεύματα) voraussetzt. Zudem wird dieselbe dittographische Verschreibung durch 2625 bezeugt, einer Handschrift, die ebenfalls zur Familie 1006 gehört. Schließlich lassen die hohen Übereinstimmungswerte zwischen 2794 und 1006 sowie 1841 von 94 % bis 98 % keinen Zweifel daran, dass 2794 der F1006 angehört und sich die Bezüge zur Koine-Gruppe allein durch die Verbindungslinien erklären, die F1006 ohnedies zur KoineTradition hat. Ansonsten weisen die Mitglieder der Koine-Gruppe im Mittel einen Anteil von 80 % oder mehr an LA-3 auf und zeichnen sich zugleich durch ähnlich hohe Übereinstimmungswerte miteinander aus. Mit Ausnahme der oben genannten Zeugen (241, 468 und 2256) bereitet die Abgrenzung der Koine-Gruppe aufgrund ihrer beständigen Geschlossenheit keine Schwierigkeiten. Der durchschnittliche Wortlaut der Gruppe wird stabil bezeugt und auch in der Spätzeit der Überliefe-
312 Vgl. TuT-Apk 429, 715. Die Übereinstimmungsquote von 2794 mit 1006 erreicht beachtliche 94 %, wohingegen andere Koine-Handschriften in der Gruppierungsliste von 2794 gar nicht erscheinen. Ferner teilt 2794 den Großteil der Sonderlesarten von F1006. 313 Siehe Schmid, Untersuchungen II, 14.
Die Minuskeln rung verlässlich reproduziert, wie die Handschriften 149 (91,1 % LA-3), 2021 (88,2 % LA-3) und 2024 (94,1 % LA-3) je mit Datierung ins 15. Jh. sowie 2071 (88,2 % LA-3) aus dem 17. Jh. in Anbetracht ihrer hohen Anteile an LA-3 augenfällig demonstrieren.314 Die beschriebene Charakteristik verdeutlicht exemplarisch der Zeuge 1955:315 Tab. 14: Textcharakter von 1955 nach Anteilen an LA LA- %
LA-mS LA-mS LA-mS LA-mS %
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rM SoLA
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1955 ist ein herausragender Repräsentant der Koine-Gruppe bei einem Anteil von 100 % bzw. 95 % an LA-3mS im Unterschied zu 44,5 % LA-4mS, die sich primär aus den Schnittmengen LA-3/4 ergeben. Die niedrige Rate an LA-2mS von 19,5 % illustriert, dass Koine-Handschriften schlechte Zeugen des derzeitigen kritischen Textes sind und ihre Schicht an prioritären Varianten vergleichsweise schmal ausfällt. Generell sieht Schmid den Andreas- und KoineText als textkritisch gleichwertig und in demselben Maße emendiert an,316 doch nach TuT-Apk haben Andreas-Handschriften in der Regel einen wesentlich höheren Anteil an LA-2mS als Koine-Handschriften.317 Zu den Charakteristika der Koine-Gruppe zählt ferner die geringe Quote an Sonderlesarten, die bei den einzelnen Mitgliedern selten 5 % übertrifft, sondern wie im Fall von 1955 meistens signifikant darunter liegt. Um das Zeugnis der Koine-Gruppe einschätzen zu können, besitzt ebenfalls der Anteil an Mehrheitslesarten gewisse Relevanz, zumal sie ebendiese von allen mehrheitsbildenden Gruppen am häufigsten bezeugt. Insgesamt sind LA-3 und solche der relativen Mehrheit an 98 Teststellen identisch, wobei die Variante der Mehrheit an 10 Teststellen sogar ausschließlich durch die Koine-Gruppe gegen Andreas- und Complutense-Gruppe definiert wird. Allerdings sind die relative Mehrheit und die Koine-Gruppe mitnichten deckungsgleiche Größen, wie letztlich das Missverhältnis von ca. 14 % bzw. 19 % zwischen beiden Antei 314 Vgl. TuT-Apk, 436. Zur Datierung der Handschriften siehe Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 149.162.166. 315 Die nachfolgende Tabelle findet sich auch in Müller, Gruppen, 391. Einzelne Beobachtungen, die hier beschrieben werden, sind dort zuerst veröffentlicht. 316 Siehe Schmid, Studien II, 62–63. 317 Vgl. TuT-Apk, 435–436 mit 449–450.
Koine-Gruppe
len im Zeugnis von 1955 dokumentiert. Aus dem Vergleich der KoineHandschriften geht hervor, dass sie primär aufgrund individuell schwankender Anteile an LA-4 divergieren. Insofern besteht eine wesentliche textgeschichtliche Differenz zwischen der relativen Mehrheit aller Handschriften und denen der Koine-Gruppe im engeren Sinne.
.. Untergruppen Auf eine Differenzierung in Untergruppen, wie Schmid sie vorgenommen hat,318 wird generell aus methodischen Gründen verzichtet. Denn zum einen sind die Koine-Handschriften zu eng miteinander verwandt, um allein mittels der quantitativen Auswertung von TuT-Apk gesichert Untergruppen abgrenzen zu können und zum anderen ist dies auch gar nicht erforderlich, um die Entwicklung der Koine-Tradition aufs Ganze gesehen zu beleuchten. Gleichwohl legen die TuT-Daten die Vermutung nahe, dass Schmids Untergruppen kritisch zu überprüfen sind und mit entsprechender Vorsicht betrachtet werden sollten. Die Schwierigkeiten lassen sich am Beispiel von 141, 1424 und 1719 anschaulich unter Zuhilfenahme einer Übereinstimmungsmatrix verdeutlichen: Laut Schmid würden diese drei Handschriften eine Untergruppe bilden und seien entsprechend eng verwandt.319 In Wirklichkeit verhalten sich die Handschriften wie folgt zueinander: Tab. 15: Übereinstimmungsmatrix 141, 1424 und 1719 Übereinstimmung mit rM
Übereinstimmung ohne rM
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Nach dieser Gegenüberstellung weisen die drei Handschriften weder bei Inklusion noch Exklusion der Mehrheitslesarten (rM) herausragende Übereinstim 318 Schmid unterscheidet im Endeffekt 16 Untergruppen der Koine-Tradition und weitere 11 Handschriften, die sich keiner spezifischen Untergruppe zuordnen lassen; vgl. Schmid, Studien II, 27. 319 Siehe Schmid, Untersuchungen II, 35–38.
Die Minuskeln mungswerte auf, die eine nähere Verwandtschaft vermuten ließen, als sie durch die veranlagten Gemeinsamkeiten als Mitglieder der Koine-Gruppe ohnedies haben. Dass die Verwandtschaft der Zeugen in erster Linie auf solchen KoineLesarten basiert, die auch von der relativen Mehrheit aller Handschriften bekundet werden (Übereinstimmung mit rM), geht aus der allgemeinen Reduktion der Übereinstimmungsquoten nach Abzug der Mehrheitslesarten hervor (Übereinstimmung ohne rM). Wenn 141, 1424 und 1719 tatsächlich aufgrund gemeinsamer Bindefehler abseits der Koine-Tradition enger verwandt wären, könnte man damit rechnen, dass die Übereinstimmungswerte zwischen ihnen bei Ausschluss der Mehrheitslesarten erkennbar ansteigen würden. Da aber genau das Umgekehrte der Fall eintritt und die Werte bei Exklusion der Mehrheitslesarten beträchtlich abfallen, beruht Schmids Untergruppenbildung in diesem Fall offenbar auf einer zu einseitigen Betrachtung ihres Zeugnisses; augenscheinlich sind die drei Handschriften lediglich durch die gemeinsame Angehörigkeit zur Koine-Gruppe verwandt, bekunden aber darüber hinaus keine quantitativ nachweisbare nähere Beziehung. Dies soll nicht besagen, dass Schmid in seiner Beobachtung gänzlich falsch geht. Die Ursache des Problems verbirgt sich vielmehr in der Gruppendefinition auf der Basis von vermeintlichen Bindelesarten als solcher, zumal wenn ebenjene wie im Fall von 141, 1424 und 1719 genauso durch etliche und stets wechselnde andere Zeugen geboten werden.320 Die Beweiskraft mutmaßlicher Bindefehler in solchen komplexen Bezeugungsszenarien ist allenfalls marginal und letztlich äußerst fraglich. Da Schmids Untergruppen der Koine-Gruppe durch TuT-Apk nicht bestätigt werden können, wäre die Differenzierung insgesamt durch ein größeres Datenset – idealerweise das der ECMApk – zu überprüfen. Ferner bildet der skizzierte Fall ein anschauliches Beispiel für die problematische Gruppenbildung unter Einsatz von angeblichen Bindefehlern, von der ohne Bestätigung durch quantitative Auswertungen, die das gesamte Zeugnis der Handschriften berücksichtigen, abzuraten ist.321 Das Grundproblem besteht in der banalen Beobachtung, dass die Gruppierung von Handschriften quasi durch die Vorauswahl bestimmter Lesarten, die herangezogen werden im Gegensatz zu einer Vielzahl an ausgeschlossenen Varianten, vordefiniert wird – ändert sich schließlich die Voraus-
320 Vgl. dazu Schmids irreführende Kollationsliste zu vermeintlichen Bindefehlern von 141, 1424 und 1719 in Schmid, Untersuchungen II, 36–37. 321 So auch schon Wachtel mit seiner Kritik an Gruppierung nach bestimmten vorausgewählten Lesarten in K. Wachtel, Colwell Revisited: Grouping New Testament Manuscripts, in: C.-B. Amphoux/J. K. Elliott (Hgg.), The New Testament in Early Christianity. Proceedings of the Lille Colloquium, July 2000, HTB 6, Lousanne 2003, 31–43, hier 35, 42.
Andreas-Gruppe
wahl an Varianten, kann dies einen beachtlichen Einfluss auf die Gruppenbildung haben.322
. Andreas-Gruppe Wie für die Koine- liegen auch für die Andreas-Tradition bereits zwei Gruppierungen durch Hoskier und Schmid vor.323 Analog zur Koine-Gruppe soll hier auch die Gruppenbildung der Andreas-Handschriften von Schmid mit derjenigen aus TuT-Apk verglichen und wesentliche Unterschiede kurz besprochen werden:324 Tab. 16: Vergleich Andreas-Gruppe Schmid vs. TuT-Apk Andreas-Gruppe nach Schmid
Andreas-Gruppe nach TuT-Apk
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Im Vergleich zu Schmid, der in Summe 71 Handschriften zur Andreas-Gruppe zählte, reduziert sich die Zahl ihrer Mitglieder in TuT-Apk erheblich auf 58 Handschriften. Für den Rückgang sind verschiedene Faktoren verantwortlich: 322 Wachtel, Grouping, 35: „It goes without saying that a different basis of places of variation leads to different groupings“. 323 Siehe Hoskier, Text II, 1; Schmid, Studien II, 26. Eine ausführliche Besprechung der Zeugen des Andreas-Textes bietet Schmid, Studien Ia, 1–78. 324 In der nachstehenden Tabelle wurden auch spätere Publikationen von Schmid berücksichtigt: Schmid, Apokalypsehandschriften; Schmid, Neue griechische Apocalypsehandschriften. 325 Siehe Schmid, Neue griechische Apocalypsehandschriften, 254. 326 Siehe Schmid, Neue griechische Apocalypsehandschriften, 253. 327 Siehe Schmid, Neue griechische Apocalypsehandschriften, 255–256. 328 Siehe Schmid, Neue griechische Apocalypsehandschriften, 256.
Die Minuskeln –
– –
–
Die Handschriften 052 und 2361 konnten aufgrund von zu wenigen Teststellen nicht ausgewertet werden, weshalb sie in der obigen Gruppen-Liste nach TuT-Apk fehlen. Ferner war 2435 in Ermangelung einer fotografischen Reproduktion für die Kollation erst gar nicht zugänglich. Über die Neubewertung der Handschriften 1678, 1778, 2020, 2071 und 2080 wurde bereits ausführlich gesprochen (siehe Teil II: 4.1 und 4.2). In den folgenden Handschriften fällt die Quote an bezeugten LA-4 zu gering aus, um sie nach TuT-Apk-Kriterien als Andreas-Handschriften gruppieren zu können: 88 (33,3 %), 1732 (37,5 %), 2065 (50 %), 2429 (18,7 %) und 2432 (43,7 %).329 Sie können zwar eingeschränkt als Zeugen für die weitere Verbreitung der Andreas-Tradition angesehen werden, doch ist aufgrund ihres Textprofils keine klare Zuordnung zur Andreas-Gruppe möglich. Dasselbe gilt für die Handschriften 35 (86,9 % LA-5mS), 1384 (76,2 % LA-5mS) und 2023 (95,9 % LA-5mS), die jeweils einen höheren Anteil an LA-5mS als LA-4 bzw. -4mS aufweisen.330 Wenngleich die Complutense-Tradition größtenteils mit der Andreas- oder Koine-Tradition identische Lesarten bekundet, lässt sich für die Handschriften trotzdem nicht a priori entscheiden, wo sie einzuordnen sind. Wie die zuvor genannten Handschriften gehören auch sie zu den erweiterten Zeugen für die Andreas-Tradition ohne definitive Gruppenzugehörigkeit.331 Neu hinzugekommen ist im Vergleich zu Schmid lediglich 2931 (Paris, BNF, Suppl. gr. 475, fol. 1–40), eine Abschrift aus dem Jahr 1643. Das Zeugnis ist mit Vorsicht zu betrachten, da die Handschrift im Verdacht steht, nach einer gedruckten Vorlage des Andreas-Kommentars kopiert worden zu sein.332
.. Textkritische Bewertung der Andreas-Handschriften Um die beträchtliche Divergenz der Andreas-Handschriften und die daraus resultierenden Probleme für Gruppendefinition aufgrund der quantitativen Analyse zu verdeutlichen, stellt die nachfolgende Tabelle 20 drei Mitglieder der 329 Vgl. TuT-Apk, 450–451. 330 Vgl. TuT-Apk, 469–470. 331 Vgl. TuT-Apk, 24 Anm. 2. 332 Siehe Schmid, Studien Ia, 77. Da sich allein aufgrund der Teststellenkollation der Verdacht nicht bestätigt, wurde 2931 aufgrund der hohen Rate an LA-4 (100 %) in die Gruppenliste aufgenommen. Dieses Vorgehen bedarf jedoch einer kritischen Überprüfung, weil der Verdacht von Schmid begründet erscheint und 2931 auch nur an wenigen Teststellen verglichen werden konnte (18 von 123).
Andreas-Gruppe
Andreas-Gruppe mit hohem, mittlerem und geringem Anteil an LA-4 gegenüber:333 Tab. 17: Vergleich von Andreas-Handschriften Hs.
LA- LA-mS LA-mS LA-mS
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Alle drei Handschriften bekunden im Vergleich zur Quote an LA-3mS einen entschieden höheren Anteil an LA-4mS, sodass sie sich von der Koine-Gruppe klar abgrenzen (siehe Tabelle 17 oben) und als Repräsentanten der AndreasGruppe klassifizieren lassen. Laut Schmid sind diverse Andreas-Handschriften im Apk-Text nach der Koine-Tradition überarbeitet und erscheinen deswegen als schlechte Repräsentanten ihrer eigenen Gruppe.334 Im Hinblick auf die Daten in der obigen Tabelle sind die Beobachtungen insofern zu präzisieren, als antiproportional zur abnehmenden Rate an LA-4 und -4mS nicht nur die Quote an LA-3mS zunimmt, sondern ebenso der Anteil an Sonderlesarten (SoLA). Demzufolge trägt neben der offensichtlichen Kontamination durch die Koine-Tradition ebenso eine signifikante interne Variantenbildung wesentlich zur Divergenz der Andreas-Gruppe bei und verstärkt ihre Inhomogenität. Das beschriebene Variationsverhalten der Andreas-Handschriften lässt sich anschaulich anhand der Teststelle 64 (Apk 13,16) skizzieren: Tab. 18: Lesarten der Andreas-Gruppe in TST 64 (Apk 13,16) LA-Ziffer Lesart /
δωσι(ν) αυτοις χαραγμα
δωσωσιν αυτοις χαραγματα
Anzahl Andreas-Hss. 335
333 Daten nach TuT-Apk, 449–450. 334 Siehe z.B. Schmid, Studien Ia, 23, 68, 279 passim. 335 In TuT-Apk, 127, erscheint die von zwei Andreas-Handschriften (2186C 2428) bezeugte Lesart δῶσειν αὐτοῖς χάραγμα mit der Kennziffer 14, bei der es sich um einen schlichten Itazismus für die Lesart 2/4 δῶσιν αὐτοῖς χάραγμα handelt und die beiden Zeugen deswegen dahin normalisiert wurden. Dementsprechend erhöht sich die Zahl der Andreas-Handschriften mit der Lesart δῶσιν αὐτοῖς χάραγμα von 21 auf 23.
Die Minuskeln
LA-Ziffer Lesart
Anzahl Andreas-Hss.
δωσουσιν αυτοις χαραγματα
δωσωσιν αυτοις χαραγμα
δωσουσιν αυτοις χαραγμα
δωσει αυτοις χαραγμα
δωση αυτοις χαραγμα
δωσει αυτοις χαραγματα
Demnach geht ein Teil der durch Andreas-Handschriften bezeugten Lesarten auf eine gruppeninterne Variantenbildung zurück (10, 12, 14) und ein anderer Teil entstand offenbar unter Einfluss der Koine-Tradition (7, 8, 13). Grafisch lässt sich der Befund wie links im Teilausschnitt eines lokalen Varianten-Stemmas zu TST 64 abgebildet darstellen. Ergänzend sind zwei weitere Lesarten zu nennen:
Abb. 1: Varianten-Stemma TST 64 für Andreas-Gruppe
Das lokale Varianten-Stemma vermittelt einen anschaulichen Eindruck von der Komplexität der Andreas-Gruppe. Wieso die Andreas-Handschriften in aller Regel mit knapp über 50 % einen wesentlich geringeren Anteil an Mehrheitslesarten haben, zeigt das Beispiel ebenfalls: Zum einen bekundet die AndreasGruppe generell seltener Mehrheitslesarten und zum anderen weichen einzelne Mitglieder wegen diverser Sonderlesarten sowohl von der Hauptlesart der Andreas-Gruppe (LA-2/4 oben) als auch von der Lesart der relativen Mehrheit ab
Andreas-Gruppe
(LA-3 oben). Da sich dieses Szenario einer mehrfachen Aufspaltung der Andreas-Gruppe an diversen variierten Stellen wiederholt, reduziert sich sowohl der Anteil an Mehrheitslesarten als auch die Quote an LA-4 in einzelnen Textzuständen der Andreas-Gruppe mitunter erheblich. Wie sich dies auf den Wert der Andreas-Gruppe auswirkt und welche textkritischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind, lässt sich mithilfe der nachfolgenden Tabelle erörtern: Tab. 19: Ausgewählte Andreas-Handschriften sortiert nach LA-2 Zeuge
LA- LA-mS
LA- LA-mS LA-mS
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Die Übersicht verdeutlicht noch einmal das enorme Variantenspektrum, das durch die Mitglieder der Andreas-Gruppe bezeugt wird. Das Zeugnis der Gruppe ist äußerst vielfältig und nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Gleichwohl bestätigen die Übereinstimmungswerte, die die Mitglieder untereinander haben, und die Differenz zu gruppenfremden Zeugen, dass die AndreasHandschriften zusammengehören und eine gemeinsame Überlieferungstradition des Apk-Textes bewahrt haben. Die Werte an LA-4 und -4mS sind im Regelfall wesentlich ausgeprägter als der Anteil an Varianten anderer Traditionsströme. Es bestätigt sich zunehmend, dass die Gruppendefinition allein auf der Grundlage einer spezifischen Variantenschicht – Schmid nannte sie eigentümliche Lesarten des Αν-Textes – der Andreas-Tradition insgesamt nicht gerecht wird. Um die Bandbreite der durch die Andreas-Gruppe bezeugten Varianten einzufangen und ihre Mitglieder zusammenzuhalten, müssen sich quantitative Auswertungen und Beweismittel in Form von Bindefehlern reziprok verhalten und so die Gruppendefinition sichern. Ferner zeigt sich, dass der textkritische Wert der einzelnen AndreasHandschriften erheblich schwankt. Dies wirft nicht nur die Frage nach der textkritischen Bedeutung einzelner Andreas-Zeugen auf, sondern auch das Problem, wie der ursprüngliche Lemmatext des Andreas Caes. zu rekonstruieren ist. Haben die Zeugen Vorrang, die einen hohen Anteil an LA-4 bzw. -4mS bieten,
Die Minuskeln oder solche, die einen erhöhten Anteil an LA-2 bzw. -2mS aufweisen? Während dieser Fragenkomplex für die Rekonstruktion des Ausgangstextes der Apk insgesamt nur eine untergeordnete Rolle spielt, da das Zeugnis der Einzelzeugen maßgeblich ist und kein hergestellter Hyparchetyp der Überlieferung, kann seine Bedeutung für den Lemmatext des Andreas Caes. als historisches und textgeschichtliches Dokument kaum überschätzt werden. Nach den in der obigen Tabelle dargestellten Daten lassen sich die Mitglieder der Andreas-Gruppe nach ihrem Anteil an prioritären Lesarten grosso modo in drei Unterabteilungen einstufen:336 1) Anteil an LA-2 zw. 10 %–16 %: 254 1773 2026 2037 2038 2046 2052 2059 2060 2081 2186 2302 2428 2595 2743 2814 2919 (17 Handschriften) 2) Anteil an LA-2 zw. 5 %–9 %: 1685 1876 2014 2028 2029 2033 2034 2036 2042 2043 2044 2047 2054 2057 2067 2068 2069 2073 2074 2082 2083 2091 2286 2594 2626 2759 2891 (27 Handschriften) 3) Anteil an LA-2 zw. 0 %–4 %: 051 205 743 2015 2031 2045 2051 2055 2056 2064 2886 2920 2931 (13 Handschriften) An letzter Stelle stehen die Andreas-Handschriften mit der geringsten Rate an LA-2; sie haben für die Rekonstruktion des Ausgangstextes im Prinzip keine Relevanz, obwohl 051 mit Datierung ins 10. Jh. zu den ältesten erhaltenen Andreas-Kommentaren gehört (ins 10. Jh. werden ansonsten noch 052 und 2074 datiert). Trotz des niedrigen Anteils an LA-2 und der überschaubaren Quote an LA-2mS, die kaum 30 % übersteigt oder regelmäßig deutlich darunter liegt,337 können die Handschriften dieser Abteilung auch nicht als herausragende Zeugen der Andreas-Tradition gelten. Wie ein Blick auf den Text von 743 und 2015 verrät, sind vor allem die Raten an LA-3mS oder Sonderlesarten im Vergleich zu
336 In der Aufstellung fehlt das Fragment 2259 (Athos, Stavronikita, 25), das lediglich Apk 13,14–14,16 enthält und infolgedessen nur an 23 Teststellen dokumentiert werden konnte. Damit konnte die Handschrift zwar grundsätzlich in die Auswertungen einbezogen werden, doch sind die Ergebnisse nicht hinreichend gesichert. Beispielsweise stimmt 2259 an 2 von 9 Teststellen mit der Variante von NA28 überein, woraus sich eine Quote von 22,2 % an LA-2 ergibt. Wenngleich 2259 mit diesem Wert vergleichsweise weit oben in der Sortierung nach LA-2 steht (direkt nach 2019; vgl. TuT-Apk, 423), erlauben diese Daten in letzter Instanz keine belastbare Aussage über den Textwert des Zeugen. Davon abgesehen enthält 2259 eine bemerkenswerte kryptografische Glosse zu Apk 13,18 mit bekannter antilateinischer Deutung der Tiereszahl unter Rekurs auf den Oecumenius-Kommentar; siehe dazu die online Beschreibung J. Stanojević, Description ParaTexBib (GA 2259), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=30086, zuletzt abgerufen 24.03.2023. 337 Vgl. TuT-Apk, 426–427.
Andreas-Gruppe
den übrigen Andreas-Handschriften erhöht,338 weshalb sie weder für die Herstellung des Ausgangstextes an sich noch für die Rekonstruktion des Lemmatextes des Andreas-Kommentars im engeren Sinne von ausnehmender Bedeutung sind. Dies wird bestätigt durch den Umstand, dass dieselben Handschriften auch in der Sortierung nach LA-4 vornehmlich im mittleren Teil bzw. am unteren Ende der Liste von Andreas-Handschriften auftauchen.339 Anders verhält es sich im Hinblick auf die Handschriften in den Unterabteilungen 1) und 2). Während zahlenmäßig die zweite Abteilung am größten ausfällt, haben die Handschriften in der ersten Division mithin einen erstaunlich hohen Anteil an prioritären Lesarten: So folgen beispielsweise 1773 und 2060 mit einer Rate von je 39,4 % in der Sortierung nach LA-2mS kurz hinter den Mitgliedern der Familie 1006 sowie 1854.340 Gleichzeitig haben sie einen geringen Anteil an LA-3mS und eine ausgeprägte Quote an LA-4mS; letzteres gilt auch auf die Handschriften in der zweiten Unterabteilung, wobei hier die Rate an Sonderlesarten zuweilen erheblich höher ausfällt.
.. Der Lemmatext des Andreas-Kommentars Was die Rückfrage nach dem Text des Andreas betrifft, stehen sich zwei unbestreitbare Fakten diametral gegenüber: Aus historischer Perspektive ist davon auszugehen, dass Andreas Caes. im Moment der Abfassung seines ApkKommentars einen spezifischen Textzustand der Apk gewissermaßen aus dem Überlieferungsstrom herausgriff und diesen mit seiner Auslegung versah. Danach stand dieser spezielle Apk-Text in Verbindung mit dem Kommentar des Andreas Caes., der augenblicklich eine Überlieferungsline in Gang setzte. Welchen Apk-Text Andreas Caes. herausgriff und ob er Varianten aus anderen Vorlagen einwebte, spielt letztendlich keine Rolle; ebenso wenig führt die Annahme weiter, dass Andreas Caes. seinen Kommentar eventuell zunächst ohne direkte physische Verbindung zum Apk-Text verfasst hat. Selbst wenn diese unwahrscheinliche Annahme – Belege in der Überlieferung finden sich jedenfalls nicht – zutreffen sollte, hat eben die Überlieferung diese hergestellt und dazu spätestens bei der Erstkombination einen spezifischen Apk-Text und einen speziellen Textzustand des Andreas-Kommentar mit einhergehendem Anbruch 338 Während 2015 einen Anteil von 16 % an Sonderlesarten bekundet, bietet 743 eine Quote von 50 % an LA-3mS; vgl. TuT-Apk, 425. 339 Vgl. TuT-Apk, 449–450. 340 Vgl. TuT-Apk, 429.
Die Minuskeln eines eigenen Überlieferungsflusses verbunden. Unbenommen der Frage welchen historischen Ausgangspunkt man für wahrscheinlicher hält, legt die Kommentierung der Apk durch Andreas Caes. die Benutzung eines bestimmten Lemmatextes nahe, der sozusagen einen Hyparchetyp der Apk-Überlieferung bildet. Als erster hat Bousset diese Textform mit dem Begriff Andreas-Text bezeichnet.341 Dem steht jedoch die Überlieferung der Apk gegenüber, die den mutmaßlichen Andreas-Text außerordentlich unzuverlässig und inkohärent tradiert hat. Selbst die Zeugen, die der Andreas-Gruppe noch einigermaßen sicher zugeordnet werden können, haben den Lemmatext des AndreasKommentars äußerst inkonsistent bewahrt (siehe Teil II: 4.3.3). Im Endeffekt wird die Gestalt des von Andreas Caes. zur Auslegung benutzten Lemmatextes durch die Handschriften der ersten beiden Unterabteilungen bestimmt, was mitunter zu gravierenden Unterschieden bei der Textherstellung führen kann. Überaus anschaulich lässt sich dies am Beispiel von Apk 5,1 verdeutlichen, da die Variantenbildung und Überlieferungssituation hier einen bemerkenswerten Einblick in die Entwicklung der Andreas-Tradition erlauben. In Apk 5,1 werden zwei für die Textkonstitution maßgebliche Varianten überliefert: a εσωθεν και οπισθεν 02 2329 2344 AndGHss b εσωθεν και εξωθεν 025 F1006 F1678 2019 2846 KoiG AndGM ComG (= rM)
Im Gegensatz zur Mehrheit, die ἔσωθεν καὶ ἔξωθεν bietet, liest eine Reihe von Andreas-Handschriften mit 02 die Variante ἔσωθεν καὶ ὄπισθεν: gemeint sind 2057 2059 2060 2081 2186 2286 2302 2428 2814 2919. Mit Ausnahme der Handschriften 2057 und 2286, die nach obiger Sortierung zur Unterabteilung 2) gehören, befinden sich alle übrigen aus dieser Reihe in Unterabteilung 1), wohingegen die meisten Mitglieder der Andreas-Gruppe wie die Mehrheit ἔσωθεν καὶ ἔξωθεν bezeugen.342
341 Siehe Bousset, Apokalypse, 5–6: „Dieser Text aber wäre ein höchst wichtiges Dokument zur Textkritik der Offenbarung. Denn dass er etwa erst von Andreas für seinen Kommentar recensiert sei, darauf führt uns nicht die geringste Spur. Wir werden weiter vermuten dürfen, dass wenn ein Bischof von Cäsarea einen Kommentar zu schreiben unternimmt, er nicht irgend eine beliebige Hndschr. dazu wählte, sondern einen anerkannt guten Text. Der Archetypus unsrer Klasse ist also nicht irgend eine beliebige Hndschr. des 5. Jahrhunderts, sondern er tritt durch jene Überlegung sofort in ein andres Licht, er ist ein Dokument von hohem geschichtlichen Wert für die Textgeschichte der Offenbarung.“ 342 Vgl. TuT-Apk, 72–73.
Andreas-Gruppe
Nach Abwägung der Varianten stellt ἔσωθεν καὶ ὄπισθεν den schwierigeren Wortlaut dar und ist demgemäß wie in NA28 als Ausgangstext zu bevorzugen.343 Dagegen folgte Schmid bei der Rekonstruktion des Lemmatextes im AndreasKommentar dem Zeugnis der mehrheitlich bezeugten Variante der AndreasGruppe und bietet ἔσωθεν καὶ ἔξωθεν.344 Da der Ausdruck im anschließenden Kommentarabschnitt weder aufgegriffen noch wiederholt wird, besteht kein zwingender Anlass für diese Textkonstitution. Es sei für den Moment angenommen, ἔσωθεν καὶ ἔξωθεν stünde am Beginn der Andreas-Überlieferung, wieso sollten die Kopisten/Kopistinnen der Handschriften 2057, 2059, 2060, 2081, 2186, 2286, 2302, 2428, 2814, 2919, diese sprachlich einwandfreie Variante zu dem eigentümlichen Gegensatzpaar ἔσωθεν καὶ ὄπισθεν verändert haben? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass dieser Wortlaut den Ausgangspunkt der Andreas-Tradition bildet und er im Zuge der Überlieferung an das Zeugnis der Mehrheit angepasst wurde? Für diese Entwicklung sprechen auch einige verschmolzene Varianten, die durch Andreas-Handschriften bezeugt werden:345 εσωθεν και εξωθεν και εμπροσθεν και οπισθεν 2056 2073 εσωθεν και εμπροσθεν και οπισθεν 2031 εσωθεν και εξωθεν και οπισθεν 2038 2595
Die Argumente sprechen gegen Schmids Rekonstruktion des Lemmatextes von Apk 5,1 für einen dreischrittigen Entwicklungsverlauf: Am Beginn der AndreasÜberlieferung hat der Wortlaut ἔσωθεν καὶ ὄπισθεν gestand, dieser ist dann mit der Mehrheitslesart ἔσωθεν καὶ ἔξωθεν verschmolzen und schließlich hat sich die Variante der Mehrheit unter Verdrängung der ursprünglichen Lesart in der Andreas-Tradition durchgesetzt.346 Begünstigt wurde diese Entwicklungslinie vermutlich dadurch, dass die Variante ἔσωθεν καὶ ἔξωθεν allmählich als Mehrheitslesart die Überlieferung dominiert und den Lemmatext der Andreas-Handschriften zunehmend beeinflusst hat. Wie dieser Fall aus Apk 5,1 zu demonstrieren vermag, ist die derzeitige Gestalt des durch Schmid hergestellten Apk-Lemmatextes im AndreasKommentar keineswegs gesichert, zumal die Überlieferung der Andreas-
343 Sämtliche Editionen seit Lachmann bevorzugen ἔσωθεν καὶ ὄπισθεν. 344 Siehe Schmid, Studien Ib, 53. 345 Vgl. TuT-Apk, 74. 346 Das Schaubild ist eine Abwandlung aus D. Müller, Der Apokalypsetext der Handschrift GA 2814: textkritische und textgeschichtliche Beobachtungen, in: M. Karrer (Hg.), Der Codex Reuchlins zur Apokalypse. Byzanz – Basler Konzil – Erasmus, Manuscripta Biblica 5, Berlin Boston 2020, 137–154, hier 143.
Die Minuskeln Tradition abhängig davon, welche Binnenentwicklung man voraussetzt, ganz unterschiedliche Textkonstitutionen erlaubt.347 Die aus dem obigen Vorschlag abzuleitende Konsequenz ist textgeschichtlich nicht unerheblich und lautet, dass der Lemmatext des Andreas-Kommentars anfänglich den Ausgangstext der Gesamtüberlieferung bewahrt und sich erst allmählich zur Mehrheitslesart entwickelt hätte.
347 Nach Schmid sind vor allem die Handschriften aus seinen Untergruppen e, f und h sowie 2595 (Schmid 598) als „maßgebende Zeugen für Αν“ einzustufen. Siehe Schmid, Studien Ia, 338. Das umfasst folgende Handschriften der Andreas-Gruppe: 051 2026 2031 2038 2057 2060 2073 2091 (2254) 2286 2302 2595. Hierbei handelt es sich um eine sehr disparate Reihe von Zeugen. Die Handschrift 2254 zählt in TuT-Apk nicht zur Andreas-Gruppe, weil sie gleichhohe Anteile an LA-4mS und -5mS bezeugt und ihr Textcharakter infolgedessen nicht eindeutig bestimmt werden konnte. Laut Schmid (Studien Ia, 28) ist 2254 ein Kopie von 2073, wohingegen Hoskier (Text I, 691) offen lässt, ob es sich um eine Abschrift oder Schwester von 2073 handelt. Wie TuT-Daten zeigen, sind 2073 und 2254 jedenfalls eng verwandt und stimmen zu 94 % im Text überein. Ferner vermag nach dem bisher Gesagtem nicht mehr zu überraschen, dass die von Schmid genannten maßgeblichen Zeugen für die Herstellung des von Andreas Caes. zur Auslegung benutzten Apk-Textes überaus unterschiedliche Textzustände überliefern. Allein die divergierenden Anteile an LA-4mS vermitteln einen Eindruck von dem enormen Spektrum, das Schmid hier umgreift (in Klammern steht der Wert an LA-4mS gemäß TuT-Apk): 051 (73,2 %), 2026 (74,7 %), 2031 (76,2 %), 2038 (75,6 %), 2057 (82,9 %), 2060 (78 %), 2073 (73,1 %), 2091 (76,5 %), 2286 (78 %), 2302 (79 %), 2595 (77,2 %); vgl. TuT-Apk, 455–456. Der Anteil an LA-4mS schwankt zwischen 82,9 % als Höchst- und 73,1 % als Tiefstwert. Die Differenzen mögen auf den ersten Blick nicht übermäßig erscheinen, doch sorgen sie in vielen Fällen für erhebliche Unsicherheiten. Welche Handschrift bzw. welchen Handschriften ist der Vorzug zu geben, wenn sie an einer variierten Stelle abweichen? Muss notwendigerweise jede Lesart, die beispielsweise durch die Koine-Gruppe oder einem alten Zeugen gelesen wird, erst nachträglich in die Andreas-Tradition eingedrungen sein oder kann sie nicht auch den Ausgangspunkt für die weitere Binnenentwicklung bilden? Schließlich gibt Schmid selbst zu bedenken, dass es „überhaupt kein sicheres Kriterium für dessen Feststellung“ gibt, wenn „der Kommentar über den von Andreas wirklich vorgefundenen Text schweigt“. Dies will sagen: An Stellen, bei denen der Kommentar weder in Form von sequenziellen Zitaten oder der Auslegungen eine unmittelbare Auskunft über die Textkonstitution des Lemmas gibt, kann dieses auch nicht zweifelsfrei hergestellt werden. Insofern kann auch kein definitives Urteil über die historische und textgeschichtliche Bedeutung des von Andreas Caes. mutmaßlich zur Auslegung benutzen Apk-Textes gesprochen werden. Aufgrund der vielen Unwägbarkeiten räumt Schmid am Ende ein, dass sich der Text des Andreas Caes. „nicht mehr restlos mit gleicher Sicherheit wiedergewinnen läßt wie der K-Text“; siehe Schmid, Studien Ia, 338. Leider findet sich von dieser wichtigen Einschränkung über die Rekonstruktion und den Wert des Andreas-Textes in der erheblich wirkmächtigeren Gesamtdarstellung der Apk-Textgeschichte (gemeint Stämme) keine Spur; dort wird in erster Linie betont, dass der Andreas-Text „eine Rezension im eigentlichen Sinne, das Werk eines Mannes“ sei; siehe Schmid, Studien II, 53 (Zitat), 146.
Andreas-Gruppe
Abb. 2: Textentwicklung Andreas-Tradition Apk 5,1
.. Abgrenzung der Andreas-Gruppe Die Abgrenzung der Andreas-Gruppe bereitet große Schwierigkeiten, was ebenfalls zu den vielen Abweichungen zwischen Schmid und TuT-Apk beigetragen haben dürfte. Schmid bietet eine lange Liste von Sonderlesarten, die angeblich dem Andreas-Text eigentümlich sind.348 Dies erweckt den Eindruck, dass der Andreas-Text aufgrund der vielen Bindefehler sicher abzugrenzen ist und dessen Zeugen ohne Weiteres zu identifizieren sind. Geht man jedoch den einzelnen Lesarten in Schmids Edition des Andreas-Kommentars oder in TuT-Apk nach, so kommt in den allermeisten Fällen eine völlig disparate Bezeugung der vermeintlichen Sonderlesarten des Andreas-Textes zum Vorschein. Exempla-
348 Siehe Schmid, Studien II, 44–52.
Die Minuskeln risch sei hier auf Apk 5,6 verwiesen, wo τὰ ἀπεσταλμένα nach Schmid die Lesart des Andreas-Textes ist. Nach TuT-Apk verhält sich der Befund wie folgt:349 αποστελλομενα AndGHss τα απεσταλμενα AndGM τα αποστελλομενα AndGHss απεσταλμενα AndGHss
Zwar liest die Mehrheit der Andreas-Gruppe die Lesart τὰ ἀπεσταλμένα, die Schmid als Sonderlesart des Andreas-Textes aufführt, doch bieten daneben acht Andreas-Handschriften αποστελλομενα, sieben τὰ ἀποστελλόμενα und drei ἀπεσταλμένα. Ferner wird die angebliche Sonderlesart des Andreas-Textes τὰ ἀπεσταλμένα ebenso durch F1006, 2329, das Paar 469-2716 und weiteren eigenständigen Zeugen bekundet.350 Dementsprechend ist die Bezeugung von τὰ ἀπεσταλμένα mitnichten auf die Andreas-Gruppe beschränkt und kann daher auch nicht uneingeschränkt als Bindefehler einer spezifischen Gruppe angeführt werden; darüber hinaus zerfällt die Andreas-Gruppe auf mehrere verschiedene Lesarten, sodass die Gruppenlesart auch nicht widerspruchsfrei zu ermitteln ist. Da sich dieses Szenario an etlichen Stellen wiederholt,351 wäre zum einen Schmids Liste dahingehend zu begutachten, welche Lesarten tatsächlich der Andreas-Tradition zugeschrieben werden können, und zum anderen die Gruppendefinition des Andreas-Textes aufgrund von mutmaßlichen Bindelesarten insgesamt kritisch zu hinterfragen. Vollständige Zeugen der Andreas-Gruppe bieten in der Regel eine Quote von LA-4, die zwischen 62,5 % bis 75 % liegt und nur selten 80 % übersteigt.352 Ebenso liegt der Anteil an LA-4mS bei einem Mittel von ca. 75 %, wobei ab 73,1 % auch Zeugen in der Sortierungsliste stehen, die nicht mehr im engeren Sinne zu den Andreas-Handschriften gehören.353 Desgleichen weist die AndreasGruppe in sich eine schwache Geschlossenheit auf, da die Handschriften durch 349 Vgl. TuT-Apk, 80. 350 Der Apparat von Nestle-Aland28 vereinfacht das Zeugnis der Andreas-Tradition zu stark, indem 𝔐𝔐Α ausschließlich als Zeuge für τὰ ἀπεσταλμένα genannt wird. Des Weiteren ist die Notation von 2344 zu korrigieren, da die Handschrift ἀπεσταλμένα wie 01 und nicht τὰ ἀπεσταλμένα liest. 351 Siehe z.B. den Zusatz ἐν αἷς (Schmid, Studien II, 45) in Apk 2,13 vor ἀντίπας. Die Lesart wird zwar von der großen Mehrheit der Andreas-Gruppe bezeugt, doch machen 50 AndreasHandschriften immer noch weniger als die Hälfte aller 121 Handschriften aus, die diese Variante bekunden; vgl. TuT-Apk, 51. 352 Vgl. TuT-Apk, 449–450. 353 Vgl. TuT-Apk, 455–456.
Andreas-Gruppe
ihr individuelles Zeugnis mitunter weit auseinandergehen bzw. sich untereinander als deutlich weniger eng verwandt erweisen als die KoineHandschriften: In der Gruppenliste zur Andreas-Handschrift 2026 erscheinen beispielsweise lediglich 12 Vergleichshandschriften, mit denen sie mehr übereinstimmt als mit der relativen Mehrheit aller Handschriften, d.h. 2026 stimmt umgekehrt mit einem Großteil der Andreas-Handschriften weniger als mit der Mehrheit überein.354 Dass die spezifischen Lesarten der Andreas-Tradition offenbar nur äußerst inkohärent überliefert werden und die Andreas-Gruppe infolgedessen enorm auseinanderfällt, hat erhebliche Schwierigkeit bei der Bestimmung der den Lemmatext des Andreas Caes. kennzeichnenden Variantenschicht zur Folge. Allein durch die Teststellenkollationen ließen sich zehn Stellen nachweisen, an denen der von Schmid rekonstruierte Andreas-Text (Αν) vom Mehrheitszeugnis der Andreas-Gruppe (AndGM) abweicht:355 TST 20 (Apk 2,13): πιστος μου NA28] add. οτι πας μαρτυς πιστος Αν; om. μου AndGM TST 31 (Apk 4,9): δωσουσιν NA28 AndGM] δωσωσιν Αν TST 35 (Apk 5,6): [επτα] πνευματα του θεου NA28 AndGM] om. επτα Αν TST 44 (Apk 6,4): πυρρος NA28] πυρ[ρ]ος Αν; πυρος AndGM TST 70 (Apk 14,5): αμωμοι NA28] add γαρ AndGM; [γαρ] Αν TST 76 (Apk 14,7): και θαλασσαν NA28] και την θαλασσαν AndGM; και [την] θαλασσαν Αν TST 87 (Apk 14,19): του θυμου του θεου τον μεγαν NA28 Αν] του θυμου του θεου τον μεγαλην AndGM TST 91 (Apk 18,4): ο λαος μου εξ αυτης NA28] εξ αυτης ο λαος μου AndGM; [εξ αυτης ο] λαος μου Αν TST 94 (Apk 18,11): επ αυτην NA28] εφ εαυτοις AndGM; εφ εαυτους Αν TST 111 (Apk 21,4): ετι [οτι] τα πρωτα NA28] ετι οτι τα πρωτα AndGM; ετι τα πρωτα Αν
Die aufgeführten Stellen verdeutlichen unterschiedliche Probleme der AndreasTradition: In einem Fall (TST 31) geht die Mehrheit der Andreas-Gruppe gegen den von Schmid rekonstruierten Andreas-Text mit dem kritischen Text von NA28 zusammen; in Teststelle 87 verhält sich die Bezeugung umgekehrt und der von Schmid postulierte Andreas-Text liest mit NA28 gegen die Mehrheit der 354 Vgl. TuT-Apk, 681. Zum Vergleich sei auf die unmittelbar nachfolgende Koine-Handschrift 2027 verwiesen, zu der fast alle anderen Gruppenmitglieder als Vergleichshandschriften mit einem höheren Übereinstimmungswert als der relativen Mehrheit aufgeführt werden; vgl. TuTApk, 681–682. 355 Zusammenstellung nach TuT-Apk, 748–749. Auf den Fall TST 66 (Apk 13,18) wurde verzichtet, weil die Wiedergabe von griechischen Zahlen nicht offengelegten editorischen folgen kann und die Stelle deswegen ambivalent ist. Die aufgeführten Varianten für Αν sind entnommen aus Schmid, Studien Ib, 29, 52, 56, 61, 148–149, 157, 194, 197, 234.
Die Minuskeln Andreas-Gruppe. Darüber hinaus bietet NA28 in Teststelle 35 und 111 je eine unsichere Textkonstitution, während AndGM die eine und Αν die andere Variante der fraglichen Rekonstruktion stützen. An diesen vier variierten Stellen kommt dem Zeugnis der Andreas-Gruppe bzw. dem rekonstruierten AndreasText unmittelbare Relevanz für die Herstellung des Ausgangstextes der Gesamtüberlieferung zu. Folglich betreffen die Unsicherheiten bei der Feststellung des von Andreas Caes. zur Auslegung benutzten Lemmatextes keinen unbedeutenden Nebenschauplatz, sondern die Textkritik der Apk insgesamt. Daneben begegnen sechs Belegstellen, an denen die Andreas-Tradition in sich auseinandergeht und sich gleichfalls vom kritischen Text unterscheidet (TST 20, 44, 70, 76, 91 und 94). Dabei bietet Schmid selbst drei unsichere Rekonstruktionen des Andreas-Textes (TST 44, 70 und 76) und in zwei Fällen davon steht wiederum zur Disposition, ob Αν nach Schmid die Textherstellung von NA28 stützt oder nicht (TST 70 und 76). An den Teststellen 20, 91 und 94 bietet die AndreasTradition mehrere konkurrierende Varianten, die sich allesamt vom kritischen Text unterscheiden. Aus diesem komplexen Befund, der sich schon an der Oberfläche zu erkennen gibt, lassen sich zwei gravierende Schlussfolgerungen für den Gruppenbegriff der Andreas-Tradition sowie die textkritische Bedeutung des AndreasTextes ableiten: 1) Das Variationsverhalten der Andreas-Gruppe schließt eine Definition der Gruppe allein aufgrund von mutmaßlichen Bindefehlern aus, weil diese durch die Andreas-Handschriften überaus inkohärent und nachlässig überliefert werden. Da auch der Kommentar als solcher mangels verwertbarer Folgezitate356 in vielen Fällen keinen Anhaltspunkt für die Textkonstitution bietet und sich die Gruppe oftmals auf mehrere Varianten aufteilt, lässt sich der 356 Der Begriff „Folgezitate“ meint hier einen längeren oder kürzeren Abschnitt des Lemmatextes im Kommentar, den der Autor zur Auslegung wörtlich wiederholt. In einzelnen Fällen können diese Wiederholungen helfen, den variierten Lemmatext zu rekonstruieren. Die textkritische Bedeutung der sequenziellen Zitate darf aber nicht überschätzt werden, da auch diese variiert sein können und damit dieselben Unsicherheiten enthalten wie der Lemmatext. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf die Varianten πυρρός und πυρός in TST 44 (Apk 6,4) verwiesen. Die Andreas-Gruppe bietet für den Apk-Text beide Varianten, wobei πυρος im Verhältnis von 30 zu 24 Andreas-Handschriften etwas häufiger bezeugt wird. Andreas Caes. greift das Lexem im Kommentar wörtlich, wozu die Handschriften wiederum beide Varianten dokumentieren; siehe Schmid, Studien Ib, 62 mit Apparat zu den Zeilen 8 u. 9. Folglich können Folgezitate zusätzliche Informationen für die Textherstellung liefern, doch aufgrund der zum Lemmatext identischen Variantenbildung bleiben auch sie häufig ambivalent. Bezeichnenderweise sieht Schmid im sequenziellen Zitat des Kommentars von einer unsicheren Textkonstitution ab, obwohl sich die Handschriften im ähnlichen Ausmaß wie beim Lemmatext auf beide Varianten verteilen.
Andreas-Gruppe
vermeintliche Bindefehler ebenso häufig nicht mit Sicherheit ermitteln. 2) Der von Bousset als wertvoll eingestufte und durch Schmid rekonstruierte Text des Andreas, ist als Folge der vielen Unwägbarkeiten in Wirklichkeit nur höchst schwierig wiederzugewinnen und textkritisch diffizil einzuschätzen. Was schon zur Koine-Gruppe festgehalten wurde, trifft umso mehr auf die Andreas-Gruppe zu: Zur Gruppierung der Handschriften sind ihre Übereinstimmungsquoten nach quantitativer Auswertung aller Lesarten und keine mutmaßlichen Bindefehler ausschlaggebend, wodurch sich die vielen Korrekturen an Schmids Gruppierung ergeben.
.. Illuminationen in 2028, 2044, 2054 und 2083 Eine kurze Erwähnung verdienen die Handschriften 2028 (Paris, BNF, grec. 239), 2044 (Wien, ÖNB, theol. gr. 69), 2054 (Modena, Biblioteca Estense universitaria, α. W. 4. 21) und 2083 (Leiden, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Voss. gr. F° 48) aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die je einen vierteiligen Bildzyklus zur Apk enthalten: 1) Siebenköpfige Schlange mit eindeutigem Textbezug zu Apk 12,3, 2) zehngehörnte(r) Löwe oder Chimäre mit Bezug auf Apk 13,1, 3) zweigehörnter Drache bezogen auf Apk 13,11 und 4) die Hure Babylon in Hinblick auf Apk 17,1. Für alle vier Bilder ist der Textbezug offensichtlich und zweifelsfrei festzustellen. Die Bilder greifen je zentrale Elemente der Visionsschilderung auf und lehnen sich damit eng an den Wortlaut des Textes an.357 Obwohl beim Vergleich der Handschriften geringe Darstellungsvariationen in den einzelnen Bildern auffallen, steht die gemeinsame Traditionsgrundlage außer Frage.358 Die Zusammengehörigkeit der Handschriften wird außerdem durch den Apk-Text bestätigt: Nach TuT-Apk stimmen sie im Text bis zu 99 %
357 So auch das Urteil von G. V. Allen, Image, Memory, and Allusion in the Textual History of the Apocalypse: GA 2028 and Visual Exegesis, in: M. Sigismund/D. Müller (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse II, ANTF 50, Berlin/Boston 2017, 435–454, hier 444–445. 358 Siehe Allen, Image, 447. Größere Schwierigkeiten bereitet es jedoch, die kunsthistorischen Vorbilder für die Illuminationen in den Handschriften auszumachen. Allen verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Douce Apokalypse (Bodleian Lib., MS Douce 180). Zugänglich unter: https://medieval.bodleian.ox.ac.uk/catalog/manuscript_4550. Welchen kunstgeschichtlichen Einfluss lateinische Buchmalereien auf griechische Illuminationen haben, wäre von ausgewiesenen Experten und Expertinnen eigens zu diskutieren.
Die Minuskeln überein und teilen konsistent eine hohe Zahl an Sonderlesarten,359 wodurch sie als eng verwandte Gruppe innerhalb der Andreas-Tradition hervortreten. Die Bebilderung sticht deswegen so heraus, weil nur wenige Handschriften überhaupt Bilder zur Apk enthalten.360 Erstaunlicherweise handelt es sich in allen Fällen um Andreas-Kommentare mit Apk-Text, die die Illuminationen enthalten. Allen Vertritt die Ansicht, dass sich die Bilder unabhängig von der Auslegung des Andreas Caes. entwickelten.361 Dem ist insofern zuzustimmen, als dass die Bilder keinerlei darstellerische Motive enthalten, die unmittelbar auf den Kommentar rekurrieren; sämtliche Bildelemente ergeben sich durch den ApkText. Allerdings konnten bislang keine Belege beigebracht werden, in denen die Illuminationen nicht zusammenfallend mit dem Andreas-Kommentar erscheinen. Dies wiederum legt den Schluss nahe, dass der Kommentar und die Bilder eine komplementäre Einheit zur Deutung der Apk formen. Offenbar soll das Verständnis des Apk-Textes nicht nur durch die Auslegung, sondern zusätzlich durch die Visualisierung zentraler Visionen vertieft werden – Auslegung durch Text- und Bildinterpretation greifen aufs Engste ineinander.
.. Fazit Desgleichen bestätigt das Beispiel den schwankenden Zeugenwert der einzelnen Andreas-Handschriften. Doch zumindest einige Exemplare (vorwiegend aus Unterabteilung 1) haben für die Rekonstruktion des Apk-Textes insofern Gewicht, als sie an der einen oder anderen schwer zu entscheidenden Stelle einen Ausschlag zu geben vermögen. Im Durchschnitt weisen die AndreasHandschriften der beiden ersten Unterabteilungen im Gegensatz zu den KoineHandschriften eine deutlich höhere Quote an LA-2 und -2mS auf. Dieser Umstand ist ein Indiz dafür, dass die Andreas-Tradition die alte Textgrundlage etwas besser als die Koine-Gruppe bewahrt hat (siehe Teil II: 4.3.2). Es sei eigens betont, dass die textkritische Einschätzung der Andreas-Handschriften aus 359 Vgl. TuT-Apk, 682, 686, 689, 697. Außerdem wurden Wien, ÖNB, theol. gr. 69 (fol. 120v) und Modena, Biblioteca Estense universitaria, α. W. 4. 21 (fol. 68v) laut Kolophon von demselben Kopisten Andreas Darmarius angefertigt. 360 Einen Überblick bietet I. Spatharakēs, Corpus of dated illuminated Greek manuscripts to the year 1453, Byzantina Neerlandica 8,2, Leiden 1981. Zur demgegenüber reichen Ausstattung in lateinischen Handschriften siehe P. K. Klein, Introduction: The Apocalypse in Medieval Art, in: R. K. Emmerson/B. McGinn (Hgg.), The Apocalypse in the Middle Ages, London 1992, 159–199. 361 Allen, Image, 451.
Complutense-Gruppe
Unterabteilung 1 und eingeschränkt aus Unterabteilung 2 keinesfalls mit einem Urteil über den Textwert der Andreas-Tradition an sich gleichgesetzt werden darf. Das Urteil bezieht sich ausschließlich auf die einzelnen AndreasHandschriften, die nach TuT-Apk einen erhöhten Wert an prioritären Varianten im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Andreas-Gruppe oder sämtlichen Koine- und Complutense-Handschriften aufweisen. Welchen Wert der rekonstruierte Lemmatext des Andreas Caes. als historisches Dokument bzw. Hyparchetyp der Überlieferung hat,362 wäre eigens zu untersuchen und spielt hier letztendlich keine Rolle, da allein das Zeugnis der Einzelhandschriften für deren Bewertung und die Textkonstitution maßgeblich ist.
. Complutense-Gruppe Analog zu den beiden vorherigen Gruppen liegen auch für die ComplutenseGruppe durch Hoskier und Schmid bereits zwei Referenzgruppierungen vor.363 Die Gruppe verdankt ihren Namen dem Umstand, dass ihr Text eng mit dem Apk-Text der Complutensischen Polyglotte verwandt ist (siehe Teil I: 3.1.1 oben). Nach TuT-Apk umfasst die Complutense-Gruppe 32 Mitglieder und definiert die LA-5 in den Kollationsresultaten: Tab. 20: Vergleich Complutense-Gruppe Schmid vs. TuT-Apk Complutense-Gruppe nach Schmid
Complutense-Gruppe nach TuT-Apk
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362 Schmid betont einerseits die „Minderwertigkeit“ des Andreas-Textes im Vergleich zu 02 und 04, hebt aber andererseits hervor, dass er nicht „ohne selbständige Bedeutung für die Herstellung des Urtextes ist“; Schmid, Studien II, 53. Da sich diese Einschätzung auf den von Schmid selbst rekonstruierten Andreas-Text bezieht, ist sie ebenso wie die Textherstellung an sich auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu redigieren respektive zu präzisieren. 363 Siehe Hoskier, Text II, 1; Schmid, Studien II, 28. Ausführlich hat Schmid den Text der Gruppe untersucht in Schmid, Untersuchungen I, 51–59. Bei von Soden spielt die ComplutenseGruppe nur eine untergeordnete Rolle. Er erkannte zwar, dass die Handschriften 432, 2023, 2061 und 2821 näher miteinander verwandt sind, doch integrierte er sie als Untergruppe Ia in die Andreas-Tradition, die diesen Text mit der geringsten Treue bewahrt hat. Siehe Soden, Schriften I/3, 2051–2054. Die Bezeichnung „Complutense-Gruppe“ findet sich das erste Mal in der Literatur bei Hoskier, der damit als deren Namensvater gelten darf.
Die Minuskeln
Complutense-Gruppe nach Schmid
Complutense-Gruppe nach TuT-Apk
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Für gewöhnlich bieten sicher zu bestimmende Gruppen-Mitglieder in TuT-Apk einen Anteil an LA-5 von 100 % und an LA-5mS von mindestens 98,3 %. Allein diese außergewöhnlich hohen Übereinstimmungswerte demonstrieren die starke Geschlossenheit und Texttreue der Complutense-Gruppe. Eine Ausnahme bilden lediglich die Handschriften 432 und 1768. Die Handschrift 1768 war Schmid nicht bekannt,365 gehört aber mit gewissen Einschränkungen zur Complutense-Gruppe. Dasselbe gilt für die Handschrift 432, die schon Schmid zur Complutense-Gruppe zählt. In beiden Zeugen liegen Anteile an LA-5 bei 85,7 % und die an LA-5mS bei 95,1 %,366 womit sie sich augenfällig von den anderen Mitgliedern der Gruppe unterscheiden. Laut Lembke haben 432 und 1768 den Wortlaut der Gruppe in abgeschwächter Form bewahrt und lassen eine stärkere Verbindung zur Andreas-Tradition erkennen.367 Je an 25 Stellen weichen 432 und 1768 von der Lesart der Complutense-Gruppe ab und bieten stattdessen die Hauptlesart der Andreas-Gruppe.368 Der generelle Übereinstimmungswert von 95 % der beiden Handschriften deutet darauf hin,369 dass 432 und 1768 enger verwandt sind und eine spezifische Binnenentwicklung der ComplutenseGruppe bekunden.370 Im Vergleich zu Schmids Gruppenbildung haben sich die Mitglieder der Complutense-Gruppe gemäß TuT-Apk über 432 und 1768 zahlenmäßig reduziert. Der Grund dafür liegt in der hohen Kohärenz der Gruppe und der damit einhergehenden strengen Abgrenzung. Weil der Anteil an LA-5 bzw. 5mS in 35, 1384, 1732, 1903, 2023, 2196 und 2926 letztlich zu gering ausfällt, zählen die 364 Siehe Schmid, Neue griechische Apocalypsehandschriften, 257 (Nr. 12). 365 Lange galt 1768 als ap-Handschrift (Apostelgeschichte, Katholische und Paulinische Briefe) – so noch in Aland, Kurzgefaßte Liste I, 146. Es hat sich aber herausgestellt, dass sie auf den fol. 224r–249v auch die Apk enthält. In TuT-Apk wurde also der Apk-Text dieser altbekannten Handschrift das erste Mal umfänglich erschlossen. 366 Vgl. zu den genannten Daten TuT-Apk, 463. 367 Siehe Lembke, Apokalypsetext, 66. 368 Vgl. Lembke, Apokalypsetext, 65–66. 369 Vgl. TuT-Apk, 627, 659. 370 Mit Blick auf 432 erwägt Lembke, dass die Handschrift bzw. eine in ihrer Tradition stehendes Exemplar im letzten Textdrittel der Apk als Vorlage für den Druck der Complutensischen Polyglotte benutzt wurde; siehe Lembke, Apokalypsetext, 93–95.
Complutense-Gruppe
Handschriften in TuT-Apk nicht zur Complutense-Gruppe. Gleichwohl stehen sie der Gruppe äußerst nahe und können darum als erweiterte Zeugen dieser Texttradition gelten. Die nachstehende Tabelle gibt einen Überblick über den Textcharakter der genannten sieben Handschriften, wobei die für die Abgrenzung zur Complutense-Gruppe maßgeblichen Werte kursiv erscheinen: Tab. 21: Textcharakter 35, 1384, 1732, 1903, 2023, 2196 und 2926 Zeuge
LA- LA-mS LA-mS LA-mS LA-mS ,%
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Die beiden strittigsten Fälle sind die Handschriften 1903 und 2023, wobei auch deren Quoten an LA-5 oder -5mS im Vergleich zu eindeutig abgrenzbaren Complutense-Handschriften sichtbar verringert sind und sie damit sicher von der Complutense-Gruppe abgetrennt werden können. Dass sämtliche in der ersten Spalte aufgeführten Handschriften in enger Verbindung zur ComplutenseGruppe stehen bzw. mit dem Text dieser Gruppe verwandt sind, bestätigt die jeweils in der letzten Spalte genannte nächste verwandte Handschrift; sie gehört entweder zur Complutense-Gruppe oder es handelt sich um eine Handschrift aus der ersten Spalte der Tabelle. Auf diese Weise erweisen sich 1384 und 1732 als enger verwandtes Paar, die zu 100 % an den gemeinsam vorhandenen Teststellen übereinstimmen und aufs Ganze gesehen einen der ComplutenseGruppe nahestehenden Text bekunden.371 Schon Schmid erkannte, dass 1384 und 1732 ein Paar bilden, indem sie einen zumindest teilweise der Complutense-Tradition angehörigen Mischtext
371 Vgl. TuT-Apk, 647, 655. Die Handschrift 1384 (Andros, Panachrantu, 13) ist für die Apk nicht vollständig erhalten, weshalb sie nur an 59 Teststellen verglichen werden konnte; vorhanden sind 1,1–4,1; 16,15–22,12.
Die Minuskeln bezeugen.372 Beide Handschriften zeigen eine erhöhte Rate an Sonderlesarten, in deren Bezeugung sie stets mit einem Teil der Andreas-Gruppe oder wenigstens einigen Andreas-Handschriften zusammentreffen.373 Dieser Befund legt nahe, dass das Paar als Folge einer offensichtlich stärkeren Verbindung zu einem spezifischen Nebenstrang der Andreas-Tradition von der Complutense-Gruppe abweicht. Die kurze Gruppenliste zu 1732 gibt einen Hinweis, zu welchen Andreas-Handschriften das Paar in engerer Beziehung steht: 1685, 2036, 2047, 2074 und 2891.374 Ansonsten lässt sich aus Tabelle 21 (oben) leicht ersehen, warum die aufgeführten Handschriften in TuT-Apk nicht mehr zur Complutense-Gruppe gezählt werden: 2023375 und 2196 weisen einen erhöhten Anteil an LA-3mS auf und in 1384, 1903, 1732 und 2926 findet sich eine größere Quote an Sonderlesarten, während in 35 vor allem die Rate an LA-4mS vermehrt ist. Insofern tragen für die Korrektur an der Gruppierung Schmids verschiedene Ursachen eine Verantwortung, wobei die Abgrenzung der sieben aufgelisteten Handschriften von der Complutense-Gruppe durch TuT-Apk hinreichend begründet ist.
372 Siehe Hoskier, Text I, 628 (Nr. 191), 700–704 (Nr. 220). Ferner listet Hoskier einige weitere gemeinsame Sonderlesarten von 1384 und 1732 auf; vgl. a. a. O. 701. Schmid, Studien Ia, 57, bestätigt Hoskiers Beobachtung ohne Einschränkungen. 373 Vgl. die Teststellen 90 (LA 8), 94 (LA 6), 100 (LA 6), 111 (LA 7), 116 (LA 6) und 123 (LA 9) in TuT-Apk. 374 Vgl. TuT-Apk, 655. Auf diese Beziehung des Paares 1384 und 1732 zu den AndreasHandschriften 1685, 2036, 2047, 2074 und 2891 weist auch Schmid im Zusammenhang seiner Besprechung der Untergruppe Ανi hin; siehe Schmid, Studien Ia, 56–58. Aus welchem Grund Schmid 1384 und 1732 trotz dieser richtigen Erkenntnis letztlich in die Complutense-Gruppe einreiht, bleibt ein Rätsel. In der Publikation von 1956 (ebd.) wird das Zeugnis von 1384 und 1732 sowie dessen Beziehung zur Andreas-Tradition akkurat beschrieben, wohingegen eine Zugehörigkeit zur Complutense-Gruppe mit keinem Wort erwähnt wird. Womöglich hatte Schmid das Zeugnis der beiden Handschriften zunächst falsch eingeschätzt, weshalb er sie 1936 (Schmid, Untersuchungen I, 51) zur Complutense-Gruppe zählte, dann jedoch den Mischtext erkannte und seine frühere Gruppierung stillschweigend korrigierte (Schmid, Studien Ia, 58). Als irritierend erweist sich allerdings weiterhin, dass 1384 und 1732 sowohl in der maßgeblichen Liste der Andreas- als auch Complutense-Handschriften erscheinen; vgl. Schmid, Studien II, 26 gegen 28. 375 Die Handschrift 2023 (Moskau, Hist. Mus., V. 155) enthält den Apk-Text mit AndreasKommentar, wobei sich der Apk-Text deutlich vom durchschnittlichen Wortlaut der AndreasGruppe unterscheidet. Während Hoskier (Text I, 413) noch meinte, dass 2023 ein glaubwürdiger Zeuge des Andreas-Textes ist („a faithful witness to Andreas text“), stellte Schmid (Studien Ia, 33) klar, dass das genaue Gegenteil zutrifft. Nach seiner Einschätzung bietet 2023 einen „eklektischen Text“, was durch die Auswertung in TuT-Apk bestätigt wird.
Complutense-Gruppe
Schließlich kommt eine Handschrift zur Complutense-Gruppe hinzu, deren Text Schmid noch unzugänglich war. Von 2554 konnte Schmid zwar Notiz nehmen, doch den Text aufgrund fehlender Fotografien nicht untersuchen.376 Die Auswertung in TuT-Apk lässt angesichts der Quoten von 100 % an LA-5 und 99,1 % an LA-5mS keinen Zweifel daran, dass der Zeuge zur ComplutenseGruppe gehört.377
.. Geschlossenheit und Textcharakter der Complutense-Gruppe Die Complutense-Gruppe zeichnet sich durch ein außergewöhnlich hohes Maß an Geschlossenheit aus, die von einem weitgehend identischem Textzeugnis aller ihrer Mitglieder herrührt. Die nachfolgende Tabelle führt vier exemplarische Complutense-Handschriften mit den wesentlichen Eckdaten für ihre Klassifizierung auf: Tab. 22: Textcharakter Complutense-Handschriften Hs
LA- LA-mS LA-mS LA-mS LA-mS SoLA %
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Die Feststellung, dass die allermeisten Complutense-Handschriften an allen vorhandenen Teststellen einen im Prinzip völlig identischen Wortlaut bieten, wirkt angesichts des oben dargestellten Zahlenmaterials beinahe banal. Tatsächlich ist die Beobachtung aber alles andere als gewöhnlich für die ApkÜberlieferung, wie aus dem Vergleich zur Koine- und Andreas-Gruppe sogleich hervorgeht. Das außergewöhnliche Maß an Homogenität darf als hervorstechendstes Kennzeichen der Complutense-Gruppe gelten, wodurch sie sich von allen anderen Überlieferungstraditionen der Apk abhebt, und erinnert in Bezug auf die Treue der Textwiedergabe stark an die Charakteristik der sog. Kr-Gruppe
376 Siehe Schmid, Neue griechische Apocalypsehandschriften, 258. 377 Zu den Daten siehe TuT-Apk, 463.
Die Minuskeln in anderen Schriften des Neuen Testaments.378 Es gibt zwar manche Complutense-Handschriften, die geringfügig von dem dargelegten Befund abweichen und mal mehr Sonderlesarten (etwa 1551 SoLA 2,4 %) oder mal mehr LA-4mS (z. B. 1617 LA-4mS 68,8 %) bieten.379 Doch die abweichenden Lesartenanteile sind kaum der Rede wert, gehen auf individuelle Textänderungen zurück und liegen letztlich im Toleranzmaß kopialer Reproduktion, das auch einer ansonsten stark geschlossenen Gruppe zugestanden werden muss. Dank der außerordentlichen Homogenität der Complutense-Gruppe kann sie mühelos von anderen Traditionen abgegrenzt werden.380 In aller Regel stimmen Mitglieder der Complutense-Gruppe im Text zu 98 %–100 % überein. Das trifft auf folgende 24 Handschriften zu: 757, 824, 986, 1072, 1075, 1248, 1503, 1617, 1637, 1733, 1740, 1745, 1746, 1771, 1864, 1865, 2041, 2323, 2352, 2431, 2434, 2554, 2723, 2821. Dazu kommen sechs weitere Mitglieder der Gruppe, die immer noch zu 94 %–97 % an den Teststellen identisch sind: 1328 1551 1768 1774 1957 2035. Schließlich sind noch 432 und 2061381 zu nennen, deren Zeugnis die meisten Abweichungen vom Durchschnittswortlaut der Complutense-Gruppe aufweist. Gleichwohl stimmen sie zu 91 % bzw. 92 % mit dem Großteil der Complutense-Handschriften überein. Generell bekundet die Complutense-Gruppe einen Mischtext aus der Koineund Andreas-Tradition, wie schon Schmid richtig festgehalten hat.382 Ohne ins
378 Zu Charakter und Definition der Kr-Gruppe siehe Soden, Schriften I/2, 757–765; G. Parpulov, Kr in the Gospels, in: H. A. G. Houghton/D. C. Parker/H. Strutwolf (Hgg.), The New Testament in Antiquity and Byzantium. Traditional and Digital Approaches to its Texts and Editing – A Festschrift for Klaus Wachtel, Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung 52, Berlin/Boston 2019, 203–214. Soden beschreibt Kr treffend als „kirchliche revidierte Ausgabe“ und letzte Stufe der Ausformung des Koine-Textes. Weiterhin zeichne sich die Kr-Gruppe auch in den Evangelien durch ein viel kleineres Spektrum an Varianten und einer vergleichsweise stereotypen paratextlichen Ausstattung in Form von Lektionslisten aus. Dazu kommen zum Scholien-Apparat der Complutense-Handschriften vergleichbare Marginalnotizen zur „Erbauung und Bildung“ der Leserschaft (Soden, Schriften I/2, 761). Wie Parpulov hervorhebt, sind die Ursprünge und Quelle der Kr-Gruppe bislang kaum erforscht (Parpulov, Kr in the Gospels, 210). 379 Vgl. TuT-Apk, 462. 380 Vgl. zu den nachfolgend genannten Daten beispielhaft die Gruppenliste zu 1637 in TuTApk, 651–652. 381 Nach Schmid (Untersuchungen I, 52) hat 2061 diverse Sonderlesarten und einige Lesarten, die wohl auf der Koine- oder Andreas-Tradition nachträglich eingedrungen sind. 382 Siehe das Ergebnis in Schmid, Untersuchungen I, 59: „Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass durch die Formel Compl = Αν + K der Text der Complutenser Gruppe […] erklärt wird“.
Complutense-Gruppe
Detail gehen zu müssen, wird dieser Befund durch das Variantenprofil einer typischen Complutense-Handschrift wie 1637 durch TuT-Apk bestätigt:383 Tab. 23: Lesartenübersicht 1637 gemäß TuT-Apk LA
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Demnach bieten die Complutense-Handschriften lediglich zwölf Lesarten (LA-5 und -2/5), die nicht zugleich entweder der Hauptlesart der Koine(LA-3/5, -2/3/5) respektive Andreas-Gruppe (LA-4/5, -2/4/5) entsprechen oder von diesen zweien bereits gemeinsam (LA-3/4/5, -2/3/4/5) bezeugt werden. Was die LA-2/5 betrifft,384 darf stark bezweifelt werden, dass die ComplutenseHandschriften sie unmittelbar nach dem Ausgangstext gegen die Mehrheit der Andreas- und Koine-Gruppe bewahrt haben. Es handelt sich in allen Fällen um unwesentliche Auslassungen bzw. Einfügungen kleinerer Wörter (TST 11 om. σου; TST 29 add. τά; TST 71 add. ἄλλον) oder geringfügige graphemische Abweichungen (TST 44 πυρρός statt πυρός; TST 65 δύνηται anstelle von δύναται). Im Vergleich zu den Hauptlesarten der Koine- und Andreas-Gruppe bilden die LA-2/5 also durchweg wenig aussagekräftige Textänderungen, die zum einen je ebenfalls durch eine beträchtliche Menge an Koine- und/oder AndreasHandschriften bezeugt werden und zum anderen auch unbesehen ohne konkrete Vorlage durch die Schreiber der Complutense-Handschriften durchgeführt worden sein können. Für die Bewertung der Complutense-Tradition folgt daraus, dass eine direkte Abhängigkeit vom Ausgangstext in den LA-2/5 nicht zwingend nachweisbar ist, sondern darin vielmehr Verbindungen zu Nebensträngen der Koine- bzw. Andreas-Tradition zum Vorschein kommen. Schließlich verbleiben sieben Teststellen, an denen die ComplutenseGruppe scheinbar eine eigenständige Variante bekundet: TST 23 (Apk 2,24): βαλλω txt KoiGM AndGM] βαλω ComG KoiGpt AndGHss TST 64 (Apk 13,16): δωσιν αυτοις χαραγμα txt AndGM] δωσωσιν αυτοις χαραματα KoiGM ¦ δωσιν αυτοις χαραγματα ComG 383 Daten nach TuT-Apk, 293. 384 Betroffen sind die TST 11, 29, 44, 65 und 71.
Die Minuskeln TST 72 (Apk 14,6): ευαγγελισαι txt KoiG AndGM] ερχομενον ευαγγελισασθαι AndGpt ¦ ευαγγελισασθαι ComG AndGHss TST 80 (Apk 14,12): ιησου txt KoiG AndGM] του ιησου ComG ¦ ιησου χριστου AndGpt TST 103 (Apk 18,21): ουτως txt KoiG AndG] om. ComG TST 108 (Apk 21,3): μετ αυτων εσται KoiG] εσται μετ αυτων θεος αυτων AndGM ¦ εσται μετ αυτων ComG AndGpt TST 114 (Apk 21,6): η αρχη και το τελος txt AndGM KoiGHss] και η αρχη και το τελος KoiGM ¦ αρχη και τελος ComG AndGpt KoiGHss
Die Kollation erbringt den Nachweis, dass die LA-5, durch deren Bezeugung die Complutense-Gruppe je von der Hauptlesart der Koine- und Andreas-Gruppe abweicht, keine Sonderlesarten im engeren Sinne dieser Tradition sind. Mit Ausnahme der Zufügung des Artikels τοῦ in 14,12 und der Omission von οὕτως in 18,21 werden entweder alle übrigen LA-5 gleichermaßen von einem Teil der Andreas- und/oder Koine-Gruppe gelesen oder sie bilden Mischlesarten der beiden anderen Texttraditionen. Da weder der Artikel in 14,12 noch die Omission von οὕτως in 18,21 durch die Koine- bzw. Andreas-Tradition bezeugt werden, liegen hier allem Anschein nach eigentümliche Lesarten der ComplutenseTradition vor.385 Obgleich kein Einfluss anderer Texttraditionen nachweisbar ist, zeigen beide Varianten einen deutlich sekundären Anstrich. Die Verwendung von οὕτως vor dem instrumentalen Dativ ὁρμήματι ist ebenso ungewöhnlich wie der artikellose Eigenname ἰησοῦ, obgleich letzterer in der Apk gemäß NA28 stets ohne Artikel steht (vgl. 1,9; 12,17; 14,4; 17,6; 19,10; 20,4; 22,20; 22,21).386 Vor diesem Hintergrund verstehen sich beide Sonderlesarten als sprachliche Korrekturen und kommen keineswegs als potenzielle Kandidaten für den Ausgangstext in Betracht, zumal sie die Tendenz der Complutense-Tradition unterstreichen, einen unter philologischen Gesichtspunkten glatten Apk-Text zu bieten. Dass die Complutense-Tradition textgeschichtlich der Andreas- und KoineTradition nicht vorausgeht, sondern den zweien nachfolgt, beweisen einige
385 Eine kurze Liste mit weiteren Lesarten, die Schmid als Sonderlesarten der ComplutenseTradition einstuft, findet sich in Schmid, Untersuchungen I, 54–55. Schmid führt dort lediglich 15 Lesarten auf, worunter aber von den beiden obigen Fällen nur die Auslassung von οὕτως in 18,21 anzutreffen ist. Lembke (Apokalypsetext, 72) rechnet nur die Omission von οὕτως in 18,21 zu den Sonderlesarten der Complutense-Tradition, vermutlich weil die Einfügung des Artikels in 14,12 auch durch zwei Koine-Handschriften (1424 und 2071) sowie eine Andreas-Handschrift (1773) bezeugt wird. Da der Artikel τοῦ vor ἰησοῦ auch in neun weiteren Handschriften auftritt, die zu keiner der drei fraglichen Gruppen gehören, ist davon auszugehen, dass sich die naheliegende Ergänzung mehrfach unabhängig in der Überlieferung wiederholt hat. 386 Zum artikellosen Gebrauch des Eigennamens ιησου siehe Schmid, Studien II, 192.
Complutense-Gruppe
zusammengesetzte Lesarten. Als augenscheinliche Mischlesart erklärt sich aus der obigen Liste δῶσιν αὐτοῖς χαράγματα (Apk 13,16):
Abb. 3: Schaubild Konflation Complutense-Gruppe Apk 13,16
Die Grafik veranschaulicht, wie die LA-5 in TST 64 (Apk 13,16) durch Kompilation der LA-3 mit der LA-2/4 entstanden ist: Aus LA-3 stammt der Plural χαραγματα und aus 2/4 die Verbform δῶσιν. Obwohl die LA-5 von wenigen Ausnahmen abgesehen kein eigenständiges Textzeugnis darstellen, haben sie für die Definition der Complutense-Gruppe dennoch zentrale Bedeutung. Sie werden nämlich von den Mitgliedern der Complutense-Gruppe überaus kohärent überliefert. Sofern vorhanden und entzifferbar bieten ComplutenseHandschriften mit zweifelsfreier Gruppenzugehörigkeit an den Teststellen 7 von 7 LA-5.387 Wenngleich der Befund in 14,6 εὐαγγελίσασθαι und 21,3 ἔσται μετ᾽ αὐτῶν weniger offensichtlich auf der Hand liegt, handelt es sich ebenso bei diesen beiden Fällen um Mischlesarten aus der Koine- und Andreas-Tradition bzw. deren Unterstränge. Mit Blick auf εὐαγγελίσασθαι entstand die Lesart wohl durch eine Kombination aus den Varianten ἐρχόμενον εὐαγγελίσασθαι, die von einem beträchtlichen Teil der Andreas-Gruppe bezeugt wird, und der Variante εὐαγγελίσαι des Ausgangstextes und der Koine-Gruppe. Dabei verlief die Zusammenfügung so, dass die Verbform εὐαγγελίσασθαι aus der AndreasTeilgruppe und Auslassung von ἐρχόμενον nach der Koine-Gruppe erhalten blieb. Analog dazu lässt sich die Lesart ἔσται μετ᾽ αὐτῶν in 21,3 erklären, wobei die Sachlage in diesem Fall dadurch vereinfacht wird, dass die LA-5 bereits 387 Vgl. TuT-Apk, 462–463 (alle Handschriften von 757 bis 2821).
Die Minuskeln durch einen großen Teil der Andreas-Gruppe bezeugt wird und die Herkunft der Variante damit in diesem Unterstrang zu vermuten ist. Abschließend können drei wichtige Erkenntnisse über die ComplutenseTradition festgehalten werden: 1) Die Mitglieder der Complutense-Gruppe zeichnen sich durch ein außerordentlich hohes Maß an Kohärenz aus und weichen nur sehr selten von der Gruppenlesart ab; 2) die Complutense-Tradition leistet keinen von der Andreas- oder Koine-Gruppe unabhängigen Beitrag zur Textkonstitution und hat auch in den wenigen bezeugten Sonderlesarten keinen alten Text bewahrt;388 3) als überwiegender Mischtext aus Andreas- und Koine-Tradition ist die Complutense-Tradition textgeschichtlich überaus jung,389 zumal sich auch keine direkte Verbindung zum Ausgangstext nachweisen lässt, sondern sie diesen nur in Abhängigkeit von der Andreas- und/oder KoineTradition bewahrt hat.
.. Scholien und Alternativlesarten in Complutense-Handschriften Eine Erwähnung verdient das Auftreten diverser Anmerkungen zum Apk-Text, die auf den Seitenrändern vieler Complutense-Handschriften geschrieben sind. Sie bilden einen umfänglichen Scholien-Apparat, der sich beginnend mit Apk 1,1 auf die gesamte Schrift erstreckt und in 21 Mitgliedern der ComplutenseGruppe zu finden ist: 757, 824, 1072, 1075, 1248, 1503, 1551, 1617, 1637, 1652V390, 1740, 1745, 1746, 1771, 1864, 2041, 2323, 2352, 2431, 2554 und 2821. Darüber hinaus begegnen dieselben Glossen noch in der Handschrift 35 und den zwei Mitgliedern der Koine-Gruppe 1597 sowie 2048. Schon Schmid hat auf die Existenz
388 Zu diesem Urteil kommt auch Schmid, Untersuchungen I, 59: „Damit ist dann auch das Urteil über den Wert dieser Textform gefällt: […] für die Feststellung des Urtextes trägt sie neben Αν und K nichts bei“. 389 Ein genaues Datum für die Entstehung der Complutense-Tradition lässt sich freilich nur schwer ausmachen. Da die Texttradition physisch jedoch erst seit dem 11. Jh. belegt ist (35 und 1384) und das älteste erhaltene sicher einzuordnende Mitglied der Complutense-Gruppe 1740 aus dem 12. Jh. stammt, dürfte die Tradition als solche nicht wesentlich früher entstanden sein – womöglich im 10. Jahrhundert oder später. Für die Gruppe Kr geht Parpulov sogar von einer noch späteren Entstehung im 12. Jahrhundert aus; siehe Parpulov, Kr in the Gospels, 205–206. 390 In 1652 blieb lediglich Apk 1,1–3 erhalten: Athos, Lavra, Θ 152, fol. 253V. Da das Beschreibmaterial am linken Rand stark verunreinigt bzw. beschädigt ist, lassen sich auf der fotographischen Reproduktion nur rudimentäre Spuren eines Textes erkennen, die aber den Verdacht nahelegen, dass auch 1652 die besagten Glossen zur Apk enthält respektive enthalten hat.
Complutense-Gruppe
dieser Glossen hingewiesen, die jedoch bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren haben.391 Die Scholien haben sich also auch über die Complutense-Gruppe hinaus in der Apk-Überlieferung verbreitet. Gleichwohl legt das häufige Vorkommen dieses Scholien-Apparates in der Complutense-Gruppe die Vermutung nahe, dass er gewissermaßen zur paratextlichen Grundausstattung einer ComplutenseHandschrift gehört. Wie die Bespiele 757, 1637 und 2323 zeigen, wurden die Scholien in aller Regel von derselben Hand kopiert, die auch die Niederschrift des Apk-Textes angefertigt hat. Nach der Terminologie von Patrick Andrist zählen sie damit zur Kategorie der Paratexte, die bereits bei der Buchproduktion beigefügt wurden („book producers’ paratexts“). Zudem können die Glossen auf Grund ihrer relativen Verbreitung in der Complutense-Gruppe und darüber hinaus als „tradional paratexts“ der Apk-Überlieferung betrachtet werden.392 Unter Verwendung der Handschrift 2323 (Athen, Benaki Museum, Μπ. 46)393 liegt eine Erstedition dieser Scholien in Form einer diplomatischen Transkripti-
391 Siehe Schmid, Studien Ia, 87–88. Hoskier schenkte den Glossen soweit ersichtlich keine Aufmerksamkeit und erwähnte sie auch nicht im Zusammenhang seiner Handschriftenbeschreibungen. In der Handschrift 1597 (Athos, Vatopediu, 966) wurden einige Glossen von späterer Hand ergänzt. Schmid erhielt zwar Kunde von den Anmerkungen, konnte aber ihren Wortlaut nicht überprüfen. Die erste nachgetragene Anmerkung tritt bei Apk 1,15 zu dem Begriff χαλκολιβάνῳ auf und entspricht in ihrem Wortlaut dem Scholion, das an dieser Stelle in der oben erwähnten Glossen-Tradition steht. Weitere Prüfungen bestätigen diese Beobachtung. Folglich ist 1957 ein Beleg dafür, dass sich der Scholien-Apparat über die Complutense-Gruppe hinaus auch verbreitet hat und mitunter nach Beendigung der originären Buchproduktion später beigegeben worden ist. Andrist spricht in diesem Fall von einem „post-production paratext“; siehe P. Andrist, Toward a Definition of Paratexts and Paratextuality: The Case of Ancient Greek manuscripts, in: L. I. Lied/M. Maniaci (Hgg.), Bible as Notepad. Tracing Annotations and Annotation Practices in Late Antique and Medieval Biblical Manuscripts, Manuscripta Biblica 3, Berlin/Boston 2018, 130–150, hier 144–145. Anders stellt sich der Sachverhalt mit Blick auf den Codex Vatikan, BAV, Ottob. gr. 36, fol. 302–307 dar. Schmid meinte, dass die Scholien in dieser Handschrift von derselben Art seien wie die Anmerkungen in den Complutense-Handschriften; siehe Schmid, Studien Ia, 88. Diese Annahme hat sich als irrig erwiesen, da die Scholien in Ottob. gr. 36 ein eigenständiges und von den ComplutenseGlossen völlig unabhängiges Schriftstück bilden. Der Autor dieser Arbeit konnte fotographische Reproduktionen der betreffenden Seiten besorgen, die Scholien transkribieren und bereitet sie derzeit für die Publikation vor. 392 Zur paratextlichen Definition der Scholien-Tradition siehe die methodologischen Ausführungen bei Andrist, Definition, hier 140–146. 393 Online-Beschreibung des bemerkenswerten Codex: E. van Elverdinghe, Description ParaTexBib (GA 2323), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=8081, zuletzt abgerufen 24.03.2023.
Die Minuskeln on der kurzen Anmerkung durch Peter Malik mit Deutscher Übersetzung durch Edmund Gerke vor.394 Demnach verkörpern die Glossen von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen kurze Exzerpte, die aus dem Andreas-Kommentar entnommen sind, und erläutern zumeist wichtige Begriffe des Apk-Textes wie z.B. in Apk 1,16 das Wort ἀστέρας mit der Erklärung τοὺς τῶν ἐκκλησιῶν ἀγγέλους („Die Engel der Gemeinden.“)395. Insofern befördern die Scholien in erster Linie das Verständnis der Apk, zumal sie die Rezeption auch an entscheidenden Stellen wie 12,1 in eine bestimmte Richtung steuern und die himmlische Frau nach Andreas Caes. als Kirche in der apostolischen Tradition deuten.396 Eine detaillierte inhaltliche Erschließung der Scholien steht noch aus und muss die Frage klären, ob die einzelnen Glossen bedarfsweise nur einzelne Begriffe erläutern oder auch einem übergreifendem Auslegungsfaden folgen. Insgesamt unterstreicht der Scholien-Apparat das aus der Textuntersuchung kristallisierte Bild einer überaus homogenen und mit größtem Aufwand sowie höchster Sorgfalt produzierten Gruppe. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass die Complutense-Handschriften sowohl in Hinsicht auf den Apk-Text an sich als auch der weiteren paratextlichen Ausstattung eine bewusst gestaltete Edition der Apk bieten. Diese Edition zeichnet sich durch zwei zentrale Charakteristika aus, und zwar durch den über alle Maßen ausgeprägten Anspruch auf Texttreue – belegt durch die hohen Übereinstimmungsquoten der Gruppenmitglieder – und durch das nicht zu übersehende Anliegen eines geleiteten Textverständnisses mithilfe der vielen Glossen. Für die Textkritik spielen diese Scholien im Prinzip keine Rolle, da sie keine Varianten des Apk-Textes diskutieren (ihr Wortlaut selbst ist naturgemäß an einigen Stellen variiert397). Anders verhält es sich in Bezug auf Alternativlesarten, die manche Complutense-Handschriften (z.B. 1637, 1864 und 2041) interlinear zum Apk-Text bekunden:398
394 P. Malik/E. Gerke, Marginalglossen in GA 2323: Edition und Übersetzung, in: M. Sigismund/D. Müller (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse III, Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung 51, Berlin, Boston 2020, 371–415. 395 Siehe Malik/Gerke, Marginalglossen, 376. 396 So wird etwa die himmlische Frau (γυνή) in Apk 12,1 nicht mariologisch, sondern ekklesiologisch als Kirche (ἡ ἐκκλησία) gedeutet; Malik/Gerke, Marginalglossen, 400. Einen kurzen Überblick zu den wichtigsten Deutungen der Frau in der aktuellen Forschungsdiskussion geben Satake, Offenbarung, 281–282; Koester, Revelation, 542–543. 397 Exemplarisch sei auf die Omission von τὸ ἔδωκεν vor ἀνθρωπινότερον in 35 im Gegensatz zum transkribierten Text von 2323 hingewiesen; vgl. 35 mit Malik/Gerke, Marginalglossen, 375. 398 Die Aufstellung folgt Lembke, Apokalypsetext, 64. Am Beispiel von 1637 wurde das beschriebene Phänomen wie oben dargelegt verifiziert.
Complutense-Gruppe
4,8: λεγοντα 1637T AndGpt] λεγοντες 1637A 01 02 KoiG AndGM 7,17: ποιμανει 1637T 01 02 AndGM] ποιμαινει 1637A KoiG AndGHss 7,17: οδηγησει 1637T 01 02 AndGM] οδηγει 1637A KoiG AndGHss 9,5: παιση 1637T 01 02 KoiGM AndG] πληξη 1637A KoiGHss 14,14: καθημενον ομοιον 1637 01 02 KoiG AndGpt] καθημενος ομοιος 1637A AndGM 16,19: επεσαν 1637T P47 01CA 02 AndGpt] επεσον 1637A KoiG AndGM 17,10: επεσαν 1637T 01 02 AndGM] επεσον 1637A KoiG AndGHSS 17,16: ερημωμενην 1637T 01 02 KoiGM AndGpt] ηρημωενην 1637A KoiGHss AndGM 19,10: επεσα 1637T 01 02 KoiGpt AndGM] επεσον 1637A KoiGM AndGpt
Bedauerlicherweise findet sich keiner der aufgelisteten Fälle in der TeststellenAuswahl. Aus diesem Grund wurde die zur Beurteilung der Alternativlesarten relevante Bezeugung aus NA28 und Hoskier entnommen und auf die wichtigsten Informationen reduziert. In den letzten vier Fällen betreffen die Alternativlesarten belanglose orthographische Unterschiede (16,19; 17,10; 17,16; 19,10). In 4,8 ändert sich durch die Interlinearvariante das Subjekt: Während λέγοντα die vier Wesen vom Versanfang sprechen lässt, kommen für λέγοντες nur die ὀφθαλμοί als grammatisches Subjekt in Betracht. Die beiden Alternativlesarten in 7,17 ändern jeweils das Tempus von Futur zu Präsens und haben damit erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis der Stelle. Während der gegenwärtige kritische Text gestützt durch die wichtigsten Zeugen von einer zukünftigen Heilshoffnung spricht, kommt in den Alternativlesarten eine stärker ausgerichtete präsentische Eschatologie zum Vorschein. Die meisten Kommentare folgen NA28 und interpretieren Apk 7,17 als ein Bild, das der aktuellen Lage des Adressatenkreises vorgreift und auf zu erhoffendes, zukünftiges Heil vorausweist.399 Demgegenüber bezeugt allen voran die Koine-Tradition beide Verben im Präsens wie sie auch als Alternativlesarten in einigen Complutense-Handschriften erscheinen und formuliert somit eine performative Äußerung in der Gegenwart, die bis in die Zukunft des endgültigen Weidens und Leitens Christi hineinträgt. Wenngleich der Wortlaut der Koine-Tradition nicht als Ausgangstext in Frage kommt, ist er ein Beispiel für wesentliche theologische Varianten, die die Überlieferung bewahrt und die Exegese bereichern können. In 9,5 wird mit πλήξῃ ein alternatives, aber letztlich bedeutungsgleiches Lexem zu παίσῃ genannt. Das Wort πλήσσω kommt nur höchst selten im biblischen Sprachgebrauch vor (z.B. ExLXX 9,31; 1KgtLXX 4,2; JesLXX 9,12) und findet im gesamten Neuen Testament ausschließlich in Apk 8,12 Verwendung. Nicht viel
399 Zur zentralen eschatologischen Bedeutung der Aussage über das „Weiden“ Christi in Apk 7,17 siehe Giesen, Offenbarung, 200–201; Satake, Offenbarung, 235–236.
Die Minuskeln häufiger begegnet das Lexem παίω: Mt 26,68; Mk 14,47; Lk 22,64; Joh 18,10 und Apk 9,5. Hier wird also eine seltene Vokabel durch eine nicht minder ungewöhnliche ersetzt. Eventuell ist die Variante πλήξῃ unter Einfluss von 8,12 in die Überlieferung von 9,5 eingedrungen. Die Annahme ist aber keineswegs zwingend, da in 8,12 die Himmelsgestirne herabgeschleudert werden und in 9,5 der Skorpion einen Menschen sticht. Die unterschiedliche Semantik der beiden Äußerungen legt einen Quereinfluss der einen Stelle auf die andere in der Überlieferung nicht unbedingt nahe, schließt ihn aber auch nicht kategorisch aus, zumal beide Begriffe gleichermaßen unvertraut sind. Schließlich bietet die Alternativlesart καθήμενος ὅμοιος in 14,14 einen abweichenden Kasus zu καθήμενον ὅμοιον an. Die Variante καθήμενον ὅμοιον wird hauptsächlich durch die Andreas-Gruppe bezeugt und entspricht der Änderung von υἱόν zu υἱῷ bzw. υἱός in der Andreas-Tradition.400 Der Dativ υἱῷ findet sich auch in einigen anderen Handschriften (u.a. P47, 04, 1006, 1611, 2053). Ungeachtet der Frage, ob υἱόν oder υἱῷ zu lesen ist, stand am Anfang der Andreas-Tradition die Lesart υἱῷ, die καθήμενος ὅμοιος als Variante zu καθήμενον ὅμοιον nach sich zog und anschließend υἱός aufkommen ließ. Woher diese Alternativlesarten stammen und welche Funktion sie erfüllten, lässt sich nur schwer klären. Einige Indizien können helfen, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Lembke deutet die Alternativlesarten als Überbleibsel eines Überlieferungstandes, indem innerhalb der Complutense-Gruppe zwei konkurrierende Varianten umliefen.401 Ebenso denkbar wäre, dass die Alternativlesarten bereits bei Entstehung der Complutense-Tradition angefügt wurden, sich dann aber nicht durchgängig erhalten haben. Wieso sie anders als die Glossen in vielen Complutense-Handschriften fehlen, erklärt sich durch ihr ebenso akzidentell wirkendes wie unauffälliges Auftreten. In 4,8 wird die Alternativlesart λέγοντες beispielsweise wie im Fall von 1637 allein durch eine unscheinbare Ligatur über der Endsilbe τά von λέγοντα angezeigt, durch welche der Buchstabe α zu ες variiert wird. Im Zuge der durch die Paralleltranskription der Scholien ohnedies komplexen Textkopie bestand also die reelle Gefahr, die überaus dezent im interlinearen Raum eingetragenen Alternativlesarten zu übersehen. Im Kontrast zu den ansonsten ungemein sorgfältig angefertigten Complutense-Handschriften sticht jedenfalls die uneinheitliche Wiedergabe der Alternativlesarten ins Auge.
400 Vgl. Schmid, Studien Ia, 154. Demnach bieten nur einzelne Andreas-Handschriften υἱόν als Lesart. 401 Siehe Lembke, Apokalypsetext, 64.
Complutense-Gruppe
Anhand der selten bezeugten Variante πλήξῃ in 9,5 lassen sich zumindest weitergehende Vermutungen über die Herkunft und Verbreitung der Alternativlesarten in den Complutense-Handschriften anstellen. Laut Hoskier tritt die Lesart πλήξῃ nur in den folgenden Handschriften auf:402 203, 432, 452, 467, 506, 986, 1072, 1075mg, 1328, 1551, 1732, 1740mg, 1774, 1865, 2021, 2023, 2035, 2041, 2061, 2821, 2926. Davon gehören 432, 986, 1072, 1075, 1328, 1551, 1740, 1774, 1865, 2035, 2041, 2061 und 2821 zur Complutense-Gruppe. Anders als in 1637 steht πλήξῃ in 1075 und 1740 nicht im interlinearen Raum, sondern in margine auf dem Seitenrand, während die Textlesart παίσῃ lautet. Außerhalb der Complutense-Gruppe steht die Variante πλήξῃ in den Koine-Handschriften 203, 452, 467, 506 und 2021, die laut Schmid eine eng verwandte Untergruppe bilden (F203),403 sowie 2023 und 2926, die wiederum der Complutense-Gruppe nahestehen. Wie die Bezeugung von πλήξῃ in den Koine-Handschriften nahelegt, beeinflusste entweder beim Aufkommen der Complutense-Gruppe oder während der Überlieferung eine Koine-Handschrift die Textgestalt der ComplutenseTradition, die der Untergruppe F203 entsprach. Der Ursprung der Variante πλήξῃ liegt in der Koine-Tradition, von der sie in die Complutense-Tradition als Alternativlesart oder Textlesart immigriert ist. Über die Frage, ob die Alternativlesarten von Beginn an zur ComplutenseTradition gehörten oder erst im Laufe der Überlieferung aufgrund alternierender Textzustände in der Gruppe aufkamen, gibt die nachfolgende kurze Kollation der in 9,5 bei πλήξῃ auffällig gewordenen Handschriften Aufschluss:404 4,8: λεγοντες 986A 1072 1328 1740A 1774 1865mg 2035 2041A] λεγοντα 432 2821 986T 1075 1551 1740T 1865T 2041T 2061 2821 14,14: καθημενος ομοιος 432 986 1072 1075 1328A 1551 1740A 1865 2035 2041A 2061 2821] καθημενον ομοιον 1328T 1740T 2041T ¦ lac 1774
Demnach werden die betreffenden Varianten überaus disparat in der Complutense-Gruppe mal als Alternativ- und mal als Textlesart bezeugt, wobei der Status mithin in einzelnen Handschriften von Fall zu Fall wechselt: So bekundet beispielsweise 1328 in 4,8 λέγοντες als Textlesart, wohingegen dieselbe Handschrift in 14,14 καθήμενον ὅμοιον als Text- und καθήμενος ὅμοιος wie 1637 als
402 Vgl. Hoskier, Text II, 238. Die von Hoskier benutzten Sigla wurden hier zur besseren Nachvollziehbarkeit in GA-Nummern übertragen. 403 Schmid, Untersuchungen II, 174. Die enge Verwandtschaft der Handschriften auch innerhalb der Koine-Gruppe wird durch TuT-Apk bestätigt; vgl. die Gruppenliste zu 203 in TuT-Apk, 616. 404 Für diese Kollation wurden die Handschriften nach fotographischer Reproduktion durch den Autor überprüft, weil weder Hoskier noch Schmid die erforderlichen Informationen bieten.
Die Minuskeln Alternativlesart bietet. Umgekehrt verhält sich der Befund in der Handschrift 986, die λέγοντες als Alternativlesart aufweist, aber in 14,14 καθήμενος ὅμοιος ohne irgendeinen Hinweis auf den abweichenden Wortlaut καθήμενον ὅμοιον bezeugt. Diese ungleichmäßige Bezeugung der Alternativlesarten berechtigt zu der Vermutung, dass sie von Beginn an als solche in der Complutense-Tradition auftraten und sich ihr Status im Zuge der Gruppentransmission stellenweise in einzelnen Exemplaren veränderte. So blieben sie in manchen ComplutenseHandschriften als Alternativlesarten stehen, in anderen verdrängten sie den ursprünglichen Wortlaut der Gruppe und nahmen den Platz der Textlesart ein und in wieder anderen Fällen wanderten sie vom interlinearen Raum auf den Seitenrand als Marginallesarten. Für diese Entwicklung spricht weiterhin, dass die Hauptvarianten der Complutense-Gruppe, wie sie 1637 bewahrt hat, allem Anschein nach nie als Alternativlesart in anderen Complutense-Handschriften auftaucht. Das umgekehrte Erklärungsmodell, wonach sich die Alternativlesarten erst nachträglich in der Complutense-Gruppe als Folge alternierender Gruppenvarianten herausbildeten, lässt sich aufgrund der begrenzten Datengrundlage nicht völlig ausschließen, erscheint aber insgesamt weniger wahrscheinlich als die Annahme, dass sie bereits am Beginn der ComplutenseÜberlieferung als Produkt der Verschmelzung von Koine- und AndreasTradition als solche aufgenommen wurden und sich dann inkongruent in der Gruppe verbreitet haben.
.. Zusammenfassung Die Complutense-Gruppe zeichnet sich durch eine beachtliche Homogenität ihrer Mitglieder und Texttreue aus. Im Vergleich zu Koine- oder AndreasHandschriften bekunden Complutense-Handschriften deutlich höhere Übereinstimmungsquoten miteinander. Das Textzeugnis der Complutense-Gruppe leistet keinen eigenständigen Beitrag zur Textkonstitution und erklärt sich mit Ausnahme weniger Varianten als Mischtext der Koine- und Andreas-Tradition. Weitere herausstechende Merkmale der Complutense-Gruppe sind zum einen der umfängliche Scholien-Apparat, der in etlichen Mitgliedern den Apk-Text flankiert, und einige Alternativlesarten, die im Kontrast zur ansonsten vorherrschenden Sorgfalt bei der Textreproduktion überaus schwankend bezeugt werden. Der Glossen-Apparat hat seinen Ursprung in der Complutense-Tradition und bildete wohl schon sehr früh oder sogar von Beginn an als Paratext einen integralen Bestandteil des Produktionsprozesses einer Complutense-Handschrift, wenn-
Wichtige Familien
gleich er sich nicht in allen Mitgliedern der Gruppe erhalten hat. Außerhalb der Complutense-Gruppe konnten die Glossen bislang lediglich in zwei Handschriften nachgewiesen werden (1597 und 2048), wobei sie im Fall von 1597 erst sekundär beigefügt worden sind. Der Form nach stellen die Scholien in aller Regel kurze Exzerpte aus dem Andreas-Kommentar dar und sind in Zukunft genauer auf ihren theologischen Gehalt hin zu untersuchen. Ebenso wie der Glossen-Apparat gehörten wohl auch die Alternativlesarten zur produktionsseitigen Ausstattung einer Complutense-Handschrift wie in 1637. Im Verlauf der Gruppentransmission hat sich der Status der ursprünglichen Alternativlesarten inkongruent entwickelt, indem sie mal die originäre Textlesart verdrängten und mal als Marginallesarten auf dem Seitenrand erscheinen. Für keine der diskutierten Varianten ließ sich hingegen beobachten, dass in verdächtigen Handschriften die ursprüngliche Textlesart der Complutense-Gruppe als Alternativlesart auftaucht. Die Entwicklung fand stets in eine Richtung statt, und zwar begegnet immer nur einer der konkurrierenden Wortlaute als Alternativlesart. Dies spricht insgesamt dafür, dass die Alternativlesarten am Beginn der Complutense-Tradition standen und dann disparat durch die Gruppenmitglieder bewahrt wurden. Aus textgeschichtlicher Sicht kann die Bedeutung der Complutense-Gruppe kaum überschätzt werden, da sie unterschiedliche Lesarten der Andreas- und Koine-Tradition wieder zusammenführt. Sie bekundet damit das Bemühen um Textharmonisierung. In ihrer gesamten Charakteristik kann sie mit der aus anderen Schriften des Neuen Testaments bekannten Kr-Gruppe verglichen werden. Ferner stehen die Scholien in der Funktion, das Verständnis des Apk-Textes zu sichern und mitunter in eine spezifische Richtung zu leiten (siehe Apk 12,1). Schlussendlich lässt sich mit Blick auf die Rezeption der Apk in einer Complutense-Handschrift festhalten, dass man hier einen ebenso verlässlichen und treu bewahrten sowie exegetisch plausibilisierten Text antrifft.
. Wichtige Familien Zu den bisher beschriebenen Zeugen und Gruppen kommen noch einige nennenswerte Handschriften sowie Familien hinzu, auf die noch knapp hingewiesen sei.
Die Minuskeln .. Arethas-Handschriften An erster Stelle ist die Familie der Arethas-Handschriften zu erwähnen, die 14 Mitglieder umfasst: 91 175 242 256 314 617 664 1094 1934 2016 2017 2075 2077 (2419)405 Von den aufgeführten Handschriften enthalten 91, 314, 617, 1934, 2075, 2077 und 2419 neben der Apk auch den Kommentar des Arethas Caes.,406 woher die Familie ihren Namen trägt.407 Die Handschrift 314 wurde von John Anthony Cramer als Hauptvorlage für die letzte publizierte Ausgabe des ArethasKommentars im Jahr 1844 verwendet.408 Die Ausgabe kann modernen Ansprüchen an eine kritische Edition nicht gerecht werden und birgt zahlreiche Schwierigkeiten von der fraglichen Herkunft des Lemmatextes bis hin zur Kon 405 2419 ist ein Supplement in dem Codex Paris, BNF, Suppl. gr. 159, fol. 8–11 zu der ApkHandschrift 743. Während 743 an sich den Andreas-Kommentar enthält, hat man für das Supplement 2419 einen Arethas-Kommentar als Vorlage gewählt und anschließend das kopierte Textstück eingefügt, um eine Lücke von Apk 3,1–4,8 zu schließen. Davon abgesehen bietet der Codex eine bemerkenswerte Sammlung biblischer Schriften, indem er ausschließlich das Johannes-Evangelium, die drei Johannesbriefe und die Apk umfasst. Dieselbe Sammlung findet sich noch in 368 (Florenz, BR, 84), dort aber kombiniert mit Schriften Platons. Ob die Zusammenstellung ursprünglich oder erst sekundär entstanden ist, wäre noch zu erforschen. 406 Ferner beinhaltet auch 2066 (Vatikan, BAV, Ottob. gr. 283) ein Stück des ArethasKommentars auf den Folios 120–123. Wenngleich der Lemmatext in dieser Handschrift, die ansonsten den Andreas-Kommentar enthält, weitgehend auf der Abschrift einer gedruckten Ausgabe beruht (siehe Müller, Abschriften, 219), benutzte man für die Niederschrift des Arethas-Kommentars allem Anschein nach eine handschriftliche Vorlage; siehe Sigismund, Quaestiones Arethae I, 419. Eine Übersicht zu den Handschriften mit Arethas-Kommentar bietet J. Schmid, Die handschriftliche Überlieferung des Apokalypse-Kommentars des Arethas von Kaisareia, BNGJ 17 (1939), 72–81. 407 Durch TuT-Apk stehen über Schmid hinaus keine weiteren Handschriften im Verdacht zur Arethas-Familie zu gehören. Nach Schmid zählt noch die Handschrift 39A zur Arethas-Familie, die heute als verschollen gilt und deswegen oben nicht aufgeführt wird. Siehe J. Schmid, Unbeachtete Apokalypse-Handschriften, ThQ 117 (1936), 149–187, hier 150. Bei Mill und Wettstein findet sich die Handschrift unter dem Namen Codex Petavianus 2, weil sie sich einst im Besitz von Paul Petau befand. 408 J. A. Cramer, Catenae Graecorum Patrum in Novum Testamentum. Tomus VIII: Catena in Epistolas Catholicas, accesserunt Oecumenii et Arethae Commentarii in Apocalypsin, Oxford 1844. Wie Cramer selbst anmerkte, ist 314 mutiliert und bricht bei 20,1 ab (a. a. O. 468). Welche Vorlage Cramer für den Rest seiner Edition verwendete, bleibt ein ebenso wenig gelöstes Rätsel wie die Frage nach der Herkunft des abgedruckten Lemmatextes. Siehe dazu Sigismund, Quaestiones Arethae I, 413–414.
Wichtige Familien
stitution des Textes auf der Grundlage einer herangezogenen Haupthandschrift.409 Analog zur Complutense-Gruppe stellt auch der Apk-Lemmatext der Arethas-Familie einen Mischtext aus der Koine- und Andreas-Tradition dar. Bei Schmid heißt es: „Der Tatbestand wird durch die Formel Αρ = Κ + Αν restlos erfasst.“410 Da die Arethas-Handschriften in den Kollationsresultaten von TuTApk entweder bei den Koine- und/oder Andreas-Handschriften stehen, gibt es auch keinen Anlass zu einer anderslautenden Einschätzung des von Arethas Caes. zur Auslegung benutzten Lemmatextes.411 Außerdem bezeugen die Handschriften der Arethas-Familie nur dann LA-2, sofern diese durch eine der beiden anderen Traditionen bekundet wird. Folglich leisten die Arethas-Handschriften auch keinen eigenständigen Beitrag zur Textkonstitution, sondern der durch sie dokumentierte Apk-Text hat ausschließlich textgeschichtliche Bedeutung. Gewisse Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung der Arethas-Familie vom Rest der Überlieferung sowie die Teilung in zwei Substränge.412 Laut Schmid spaltet sich die Arethas-Familie wie folgt in zwei Glieder auf: 413 Αρ1: 91 175 242 256 617 1934 2017 Αρ2: 314 664 1094 2016 2075 2077 2419 Die Abgrenzungsproblematik lässt sich beispielhaft an 91 verdeutlichen:414 Am Kopfende der Gruppenlisten stehen zunächst weitere Arethas-Handschriften, bis sich recht bald unter den Vergleichshandschriften mit hohen Übereinstimmungsquoten auch Koine-Handschriften finden (z. B. 1760 an elfter Position). Das beschriebene Szenario wiederholt sich bei jeder anderen Arethas-Handschrift in derselben Weise. Folglich fällt die Abgrenzung der Arethas-Familie zum Rest der 409 Eine Übersetzung des Arethas-Kommentars ins Deutsche basierend auf der Edition von Cramer ist A. von Blumenthal, Arethas von Caesarea: Kommentar zur Offenbarung des Johannes, Berlin 2015. 410 Schmid, Untersuchungen I, 9. Schmids Annahme, der Lemmatext des Arethas-Kommentars sei durch den Autor selbst geschaffen worden (Schmid, Untersuchungen I, 7), liegt grundsätzlich im Bereich des Denkbaren, ist aber keineswegs zwingend. Ebenso besteht die Möglichkeit, dass Arethas Caes. bereits einen stark durch die Koine-Tradition beeinflussten Lemmatext in dem von ihm benutzten Andreas-Kommentar vorgefunden und schließlich für seine Auslegung übernommen hat. Denn wie oben erwähnt (siehe Teil II: 4.3.3), finden sich zahlreiche Mitglieder in der Andreas-Gruppe, deren Lemmatext mehr oder minder durch die Koine-Tradition beeinflusst ist. 411 Vgl. exemplarisch die Übersicht der bezeugten Varianten in den Resultaten der Kollation zu 91 und 314 in TuT-Apk, 240–241, 255. 412 Siehe dazu die Anmerkungen in TuT-Apk, 67*–69*. 413 Vgl. Schmid, Untersuchungen I, 6. 414 Vgl. TuT-Apk, 607.
Die Minuskeln Überlieferung, speziell zur Koine-Gruppe dementsprechend schwer, gelingt aber letztendlich unter synoptischer Beachtung sämtlicher Gruppenlisten der Arethas-Handschriften. Lediglich die Handschrift 2017 weicht häufiger als die übrigen Mitglieder vom gemeinsamen Wortlaut der Familie ab und steht deswegen im deutlichen Abstand inmitten weiterer Koine-Handschriften in den Gruppenlisten. Dieser Befund entspricht Schmids Beobachtungen, dass die Handschrift häufig von der Gesamtgruppe abweicht und stattdessen mit anderen Zeugen zusammengeht.415 2017 bietet einen im Unterschied zum Rest der Familie erheblich abgewandelten Textzustand, der offenbar stärker durch die KoineTradition beeinflusst ist. Als nächstverwandter Zeuge zu 2017 erscheint die Handschrift 1760 aus der Koine-Gruppe in der Gruppenliste, sodass von einer engeren Beziehung der beiden Handschriften auszugehen ist.416 Weil aber ansonsten sämtliche Mitglieder der Arethas-Familie als nächste Verwandte zu 2017 in der Gruppenliste aufgeführt werden, darf an der Einordnung von 2017 in diese grundsätzlich festgehalten werden. Damit wird Schmids Gruppendefinition der Arethas-Familie durch TuT-Apk prinzipiell bestätigt. Anders verhält es sich hingegen mit Blick auf die von Schmid postulierte Zweiteilung der Arethas-Familie. Die nachstehende Übereinstimmungsmatrix, in der die Übereinstimmungsquoten aller Arethas-Handschriften ohne Berücksichtigung der ohnedies gemeinsamen Mehrheitslesarten nach TuT-Apk aufgeführt sind, lässt Schmids Ansicht äußerst fraglich erscheinen.417
415 Siehe Schmid, Untersuchungen I, 11. 416 Vgl. TuT-Apk, 676. An erster Stelle steht das Supplement 93-S (siehe Teil II: 1.3), das jedoch für die Bewertung von 2017 keinerlei Bedeutung hat. Der Grund für die hohen Übereinstimmungswerte liegt darin, dass 93-S nur die ersten 14 Teststellen betrifft und dort jeweils den Koine-Wortlaut bekundet. Weil 2017 in diesen Teststellen – außer an der achten – ebenfalls stets die Koine-Lesart bietet, kommt es zu der starken Übereinstimmung zwischen den beiden an sich grundverschiedenen Zeugen. 417 Die Mitglieder der von Schmid angenommenen Substränge Αρ1 und Αρ2 stehen jeweils zusammen und sind um der besseren Übersichtlichkeit willen eingegraut.
Wichtige Familien
Tab. 24: Übereinstimmungsmatrix Arethas-Familie Hss
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In Bezug auf die Zweiteilung der Arethas-Familie lassen sich aus den obigen Daten keine eindeutigen Schlussfolgerungen ableiten. Doch es werden zumindest einige grundlegende Einzelaspekte in groben Zügen sichtbar. Zunächst weisen die Mitglieder des mutmaßlichen Unterstrangs Αρ1 untereinander im Durchschnitt höhere Übereinstimmungswerte auf als zu den Gliedern von Αρ2. Allerdings gibt es auch Ausnahmen von der allgemeinen Tendenz, da 617 beispielweise mit 664, 2075 und 2077 öfter zusammengeht als mit 256. Ferner weisen die Mitglieder des angenommenen Substrangs Αρ2 so geringe Übereinstimmungswerte zueinander auf, dass eine klare Zusammengehörigkeit der Handschriften ohne Schmids Vorannahme gar nicht zu erkennen wäre. Die Problematik der Unterteilung geht letztendlich auf einen Mangel an verwertbaren Bindelesarten zurück. Die Arethas-Familie bezeugt kaum Sonderlesarten und noch weniger Bindelesarten stehen zur Differenzierung der Unterstränge zur Verfügung. In TuT-Apk finden sich lediglich fünf Sonderlesarten, die für die Abgrenzung der Arethas-Familie von Bedeutung sind: TST 1 (Apk 1,4): απο NA28] add. του 91 242 617 1934* 2077 TST 64 (Apk 13,16): δωσιν αυτοις χαραγμα NA28] δωσωσιν αυτοις χαραγματα 175 256 314 617 664 1094 2017 2075 2077 KoiGM ¦ δωσουσιν αυτοις χαραγματα 91 242 KoiGpt TST 90 (Apk 18,3): πεπωκαν NA28] πεπτωκασιν 256 1094 2016 2017 KoiGM ¦ πεπωκασιν 91 175 242 617 664 1934 2075 2077 KoiGpt
Die Minuskeln TST 97 (Apk 18,13): οινον και ελαιον NA28] ελαιον και οινον 91 175 242 256 314 617 664 1094 1934 2016 2017 2075 2077 TST 100 (Apk 18,14): ου μη αυτα ευρησουσιν NA28] ου μη ευρης αυτα 91 175 242 256 314 617 664 1094 1934 2016 2017 2075 2077 AndGpt
Auf den ersten Blick vermitteln die obigen Teststellen einen Eindruck von der schwankenden Bezeugung des Lemmatextes des Arethas-Kommentars, dessen Rekonstruktion ein bislang ungelöstes Problem der Textforschung im engeren und der Arethas-Forschung im weiteren Sinne darstellt. In drei von fünf Fällen geht die Arethas-Familie mit dem Effekt auseinander, dass zwei Varianten als potenzielle Kandidaten für den ursprünglichen Wortlaut des Lemmatextes zur Debatte stehen. Ferner dokumentieren die Teststellen die im Vergleich zur Complutense-Gruppe deutlich verminderte Geschlossenheit der Arethas-Familie als Ganzes, die sich letztlich auf einem Niveau zwischen Andreas- und KoineGruppe einpendelt. Die Sonderlesarten in TST 64, 90 und 100 werfen ein Licht auf die Frage, welches Textstadium der Koine- oder Andreas-Tradition dem Lemmatext des Arethas als Mischtext zugrunde gelegen hat. In allen drei Fällen treffen einzelne Arethas-Handschriften mit einem kleineren Teil der Koine- oder AndreasGruppe zusammen. Die Datenbasis fällt allerdings zu schmal aus, um diese Frage mithilfe von TuT-Apk weiter zurückzuverfolgen. In TST 97 bekunden die Arethas-Handschriften mit ἔλαιον καὶ οἶνον eine Umstellung, die ansonsten nur noch in wenigen weiteren Handschriften auftritt. Jedoch trägt auch diese Variante in Bezug auf die Binnendifferenzierung kaum etwas aus, weil sie von der gesamten Familie bezeugt wird. Zudem kann die Transposition der Worte nicht als Beweis für Schmids Auffassung, dass Arethas Caes. seinen Lemmatext selbst erstellt habe, herhalten, weil sie auch in anderen Handschriften außerhalb der Arethas-Familie auftritt (nämlich 250 424 2084 2643). Schließlich ist noch der Zusatz τοῦ in Apk 1,4 (TST 1) zu verhandeln, der in den Arethas-Handschriften 91, 242, 617, 1934* und 2077 steht. Zwar begegnet der beigefügte Artikel überwiegend in den Mitgliedern des vermeintlichen Unterstrangs Αρ1 (91, 242, 617, 1934*), doch findet er sich auch in 2077 und fehlt in den übrigen Mitgliedern von Αρ1 (175, 256, 2017). Damit stützt auch diese Variante nur sehr begrenzt Schmids Ansicht über die Spaltung der Arethas-Familie in zwei Unterstränge. Letztlich als Scheinbeweis für seine Auffassung listet Schmid einzelne Belegstellen auf, an denen die Aufspaltung der Familie stärker zutage treten würde. Er nennt allen voran in Apk 6,8 die allein durch Αρ1 belegte Einfügung von καί nach ᾅδης, in 7,16 die ausschließlich durch Αρ2 dokumentierte Substitution
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von πᾶν durch τό und aus 15,8 noch die Umstellung ὁ ναός ἐκ τοῦ καπνοῦ in Αρ1 (ohne 256).418 An diesen Beobachtungen ist generell nichts falsch, doch fällt die Liste insgesamt so knapp aus, dass sie kaum als Begründung zur Untergliederung der Arethas-Familie in zwei Teilstränge taugt. Zudem gehen an allen weiteren Stellen, die Schmid in seiner undurchsichtigen Kollationsliste aufführt, die Mitglieder der einzelnen Substränge fortwährend auseinander und bezeugen unterschiedliche Varianten. Darüber hinaus meinte Schmid, dass Αρ1 weniger homogen ist, da die Mitglieder häufig Fremdeinflüsse aufweisen würden.419 Nach TuT-Apk liegt aber genau der gegenteilige Sachverhalt vor, dass nämlich die Handschriften aus Αρ1 weitaus geschlossener als diejenigen aus Αρ2 zusammenstehen. Stattdessen kristallisieren sich gemäß Übereinstimmungsquoten enger verwandte zweier, dreier und vierer Konstellationen unter den Arethas-Handschriften heraus: z. B. 91-242-1934; 175-617-2075 und mit Einschränkungen 2075-2077. Daneben stehen Einzelhandschriften wie 256, 314 und 2016, die mit keinem zweiten Exemplar der Arethas-Familie näher zusammengehen. Da Schmids Beweisführung in letzter Instanz nicht zu überzeugen vermag, die quantitative Analyse von TuT-Apk die Teilung der Arethas-Familie nicht schlüssig bestätigt und beide Untersuchungen mit Blick auf die Geschlossenheit des Substrangs Αρ1 zu divergierenden Ergebnissen kommen, darf die angenommene Zweiteilung der Arethas-Familie zumindest bezweifelt – wenn nicht sogar gänzlich in Frage gestellt – werden. Da aber weder der Lemmatext des Arethas Caes. in einer verlässlichen Rekonstruktion vorliegt noch die Textqualität der Arethas-Handschriften in dieser Hinsicht ermittelt ist, wäre diese Problematik der Apk-Überlieferung noch einmal eigens zu thematisieren.420 Im Grunde ist Schmids Auffassung das irreführende Resultat des methodischen Zugangs, Gruppenzugehörigkeiten allein auf der Grundlage von vermeintlichen Bindelesarten zu definieren. Wie schon bei der Koine- und Andreas-Gruppe kommt die Gruppendefinition nach mutmaßlichen Bindelesarten auch mit Blick auf die Arethas-Familie an ihre Grenzen. Schmid führt in seinen Kollationslisten wie der zur Unterteilung der Arethas-Familie ausschließlich solche Lesarten an, durch die einzelne Handschriften vordergründig verbunden erscheinen. Dagegen klammert er aber sämtliche Stellen aus, an denen sie aus-
418 Vgl. Schmid, Untersuchungen I, 16 nach Hoskier, Text I, 176, 213, 411. 419 Siehe Schmid, Untersuchungen I, 16. 420 Dass die Herstellung des Apk-Lemmatextes des Arethas Caes. sowie dessen Überlieferungsgeschichte ein Desiderat der Textforschung zur Apk darstellt, hält bereits Sigismund fest; Sigismund, Quaestiones Arethae I, 412.
Die Minuskeln einander- bzw. mit anderen Zeugen zusammengehen. Folglich bewertet der Auswertungsfokus ungleich stärker verbindende als trennende Lesarten spezifischer Handschriften und kann somit zu einem verzerrten Bild der Beziehungen führen. Demgegenüber berücksichtigt die quantitative Analyse von TuT-Apk gleichermaßen trennende wie verbindende Varianten der Handschriften, sodass die Nähe respektive Ferne der einzelnen Zeugen durch objektive und nicht vorselektierte Übereinstimmungsquoten ausgedrückt wird. Als enger verwandt und gruppierbar können nur solche Zeugen gelten, die sich durch hohe Übereinstimmungswerte über den Gesamttext hinweg auszeichnen und nicht nur an einzelnen Stellen in bestimmten Lesarten zusammentreffen. Dieser Sachverhalt gilt grundsätzlich für sämtliche Gruppierungen der Apk-Überlieferung (und darüber hinaus). Zusammengenommen lassen sich die Arethas-Handschriften auf der Grundlage ihrer wechselseitigen Übereinstimmungsquoten nach TuT-Apk als selbstständige Familie abgrenzen, womit die Gruppendefinition Schmids bestätigt wird. Als problematisch erweist sich die Untergliederung in zwei Substränge, wie von Schmid vorgeschlagen. Schließlich verbleiben die Desiderata, dass der Lemmatext des Arethas Caes. bislang nicht kritisch rekonstruiert ist und dessen Fortentwicklung damit noch weitgehend im Dunkeln liegt. Die ArethasHandschriften bekunden oftmals konkurrierende Varianten, was die Rückfrage nach der ursprünglichen Gestalt des Apk-Textes des Kommentators nur umso dringlicher erscheinen lässt. Mit Blick auf die Gesamtüberlieferung der Apk steht jedoch fest, dass die Arethas-Familie keinen eigenständigen Beitrag zur Textkonstitution liefert und insofern als textkritisch sekundär eingestuft werden kann. Textgeschichtlich wiederum hat die Arethas-Familie einen bemerkenswerten Mischtext aus Koine- und Andreas-Tradition in den Überlieferungsstrom eingezeichnet.
.. Das Cluster 104 (C104; ehemals F104/R) Laut Schmid bilden die folgenden zehn Handschriften eine engverwandte Familie, die er als Familie F104 oder R bezeichnet:421 104 459 680 922 2493 (R1) 336 582 620 628 1918 (R2) 421 Siehe Schmid, Untersuchungen I, 59. Von der Handschrift 2493 erlangte Schmid erst später Kenntnis, sortierte sie dann aber in die Familie 104 ein; siehe Schmid, Apokalypsehandschriften, 86.
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Wie schon bei der Complutense-Gruppe und der Arethas-Familie bildet das Textzeugnis der obigen Handschriften im Wesentlichen einen Mischtext aus der Andreas- und Koine-Tradition.422 Dass der Apk-Text in der Hauptsache aus einem Andreas-Kommentar entnommen wurde, belegen nicht zuletzt einige Kommentarabschnitte, die bei der Transkription in den Text eingedrungen sind: z. B. der Zusatz καὶ τῶν τῆς ἁμαρτίας κηλίδων λούσαντι τῇ ἐκχύσει τοῦ ζῳομοιοῦ αἵματος καὶ ὕδατος καὶ ποιήσαντι ἡμᾶς βασίλειον ἱεράτευμα vor λούσαντι in Apk 1,5. Die Einfügung entspricht wörtlich dem Andreas-Kommentar an dieser Stelle,423 woher sie offensichtlich aus Versehen ihren Weg in einige Textzustände von C104 gefunden hat. Diese eingefügten Kommentarabschnitte erlauben nicht nur Rückschlüsse auf die Herkunft des Textes, sondern spielen auch für die Abgrenzung des Clusters eine gewichtige Rolle. Wie 104 haben einige der oben aufgelisteten Handschriften potenziell alte Lesarten bewahrt, die weder von der Mehrzahl der Andreas- noch der KoineHandschriften gelesen werden. Die Liste ist zwar kurz, aber dennoch aufschlussreich: 2,27 (TST 24) συντρίβεται; 4,3 (TST 25) καὶ ὁ καθήμενος; 5,13 (TST 41) sine ἀμήν. In allen drei Fällen wird die betreffende Variante von einem Teil der Andreas- oder Koine-Gruppe bezeugt. Daraus ist entweder zu schließen, dass die fragliche Vorlagenkette von C104 in diesem Bereich der Überlieferung zu suchen ist oder ihre Mitglieder nachträglich dadurch beeinflusst wurden. Da beispielsweise 336 je andere alte Lesarten als 104 aufweist,424 erscheint der Tatbestand einer sekundären Beeinflussung etwas wahrscheinlicher. Doch wie schon Schmid zu bedenken gab, muss für den Einzelfall offenbleiben, aus welcher Quelle die Varianten des alten Textes herrühren.425 Dem Befund nach zu urteilen, reichen vermutlich einige alte Lesarten auf die gemeinsame Vorlagenkette der Handschriften zurück (womöglich 104 καὶ ὁ καθήμενος in 4,3), während andere nachträglich eingedrungen sind (evtl. 104 sine ἀμήν in 5,13) und wieder andere durch einen Irrtum beim Kopierprozess zufällig wieder hergestellt wurden (z. B. 336* τῆς νεφέλης in 14,16; 336C τὴν νεφέλην). Dazu stoßen Lesarten wie ἔχων in 4,8 (TST 30) bezeugt durch 104 oder ἀμέθυστος in 21,20 (TST 122) gelesen von 336, deren Überlieferung so zweifelhaft ist bzw. deren sprachlicher Charakter eher einem Orthographicum als einer Variante gleicht, dass sie keinerlei Rückschluss über ihre Herkunft erlauben.
422 Schmid, Untersuchungen I, 64: „Die ganze Familie R (sic. F104) ist, soweit sie geschlossen ist, ein Mischtext aus Αν und K“. 423 Vgl. Schmid, Studien Ib, 16, Z. 9–10. 424 Etwa 13,5 (TST 55) βλασφημίας; 18,11 (TST 94) ἐπ᾽ αὐτήν; 18,12 (TST 96) πορφύρας. 425 Siehe Schmid, Untersuchungen I, 75.
Die Minuskeln Die stark abweichenden Textzustände, die von den oben genannten Handschriften bezeugt werden, sind ein Indiz für die schwierige und mitunter fragliche Abgrenzung der Zeugen als eine eigene Familie. Die wichtigsten Anhaltspunkte für ihre Zusammengehörigkeit sind die in den Apk-Text interpolierten Kommentar-Abschnitte, die sie alle gemeinsam bezeugen. Neben der bereits erwähnten Interpolation ist noch auf eine zweite in 2,16 hinzuweisen, wo es am Schluss des Verses καὶ ἐν τῇ ἀπειλῇ ἡ φιλανθρωπία heißt. Auch diese Worte korrespondieren mit dem Andreas-Kommentar und wurden offenbar von dort versehentlich mit dem Apk-Text vermengt.426 Darüber hinaus listet Schmid nur äußerst wenige Lesarten auf, die durch sämtliche Mitglieder von C104 bezeugt und nicht zugleich durch andere Handschriften gestützt werden: 1,8 καὶ ὁ ὢν; 3,2 ἤμελλεν; 4,1 καὶ λεγούσης; 4,5 ἐξεπορεύοντο; 5,8 μεστάς (für γεμούσας); 18,2 πνεύματος δαιμονίου; 18,11 καὶ ἀγοράζει; 20,5 ὅτι αὕτη.427 In allen übrigen Fällen, die Schmid aufführt, gehen entweder die Handschriften der angenommenen C104 auseinander oder die betreffenden Varianten stehen ebenso in weiteren Zeugen. Alles in allem vermögen die wenigen und zuweilen gehaltlosen (etwa 3,2 oder 18,11) von Schmid vorgebrachten Bindefehler der Handschriften als Beweis für ihre Gruppierung zur C104 nicht restlos zu überzeugen. Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, dass die Handschriften zu einem gewissen Teil dieselbe Vorlagenkette teilen. In TuT-Apk finden sich nur zwei weitere relevante Sonderlesarten, die nicht in Schmids Kollationsliste erscheinen: 14,7 αὐτῷ τῷ ποιήσαντι und 14,18 ἤκμασαν αἱ σταφυλαὶ τῆς γῆς. Mit Blick auf 14,7 resultierte die Lesart wahrscheinlich aus einer Verschmelzung des Wortlauts der Koine-Gruppe αὐτὸν τὸν ποιήσαντα und τῷ ποιήσαντι, wie es in NA28 und der Mehrzahl der AndreasHandschriften heißt. Die Variante αὐτῷ τῷ ποιήσαντι findet sich neben den vermeintlichen Mitgliedern von C104 außerdem in 254 1795 2020 2917. Da diese Zeugen weder untereinander noch zu den oben angegebenen Handschriften in enger Verbindung stehen, ist von einer mehrfach unabhängigen Entstehung des Wortlautes auszugehen. Analog dazu erklärt sich in 14,18 die Variante ἤκμασαν αἱ σταφυλαὶ τῆς γῆς, bei der es sich erneut um eine offensichtliche Verschmelzung der beiden breit bezeugten Lesarten ἤκμασεν ἡ σταφυλὴ τῆς γῆς und ἤκμασαν αἱ σταφυλαὶ αὐτῆς handelt.428 Desgleichen findet sich diese zusammengefügte Variante in weiteren ansonsten fernstehenden Zeugen: 743, 2055, 2066*, 2196. Damit bestätigt die TuT-Kollation den fragwürdigen Charakter der 426 Vgl. Schmid, Studien Ib, 30, Z. 14. 427 Vgl. Schmid, Unbeachtete Apokalypse-Handschriften, 61–63. 428 Zur Bezeugung siehe TuT-Apk, 159–160.
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von Schmid angeführten Varianten als Bindefehler von C104. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gibt es keine signifikanten Varianten, die unmittelbar auf eine engere Verwandtschaft der von Schmid aufgeführten Mitglieder von C104 schließen lassen. Wie es um die Zusammengehörigkeit der mutmaßlichen Mitglieder von C104 nach quantitativer Analyse bestellt ist, verdeutlicht die nachstehende Übereinstimmungsmatrix:429 Tab. 25: Übereinstimmungsmatrix C104 HS
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Generell führen die Übereinstimmungsquoten die Teilung der Handschriften in zwei Unterstränge weitaus markanter vor Augen als ihre allgemeine Zusammengehörigkeit. Dem entspricht, dass schon Schmids Kollationsliste über die Teilung von F104 in zwei Substränge erheblich umfänglicher ausfällt als diejenige zur Abgrenzung des gemeinsamen Wortlautes aller Mitglieder gegen den Rest der Überlieferung.430 Insgesamt unterstreicht TuT-Apk die nähere Verbindung von 104, 459, 680, 922, 2493 auf der einen und 336, 582, 620, 628, 1918 auf der anderen Seite. Zudem lassen sich noch enger in Beziehung stehende Paare
429 Die angegebenen Übereinstimmungswerte ohne Berücksichtigung der ohnehin gemeinsamen Lesarten der relativen Mehrheit sind den jeweiligen Gruppenlisten der Handschriften aus TuT-Apk entnommen. 430 Vgl. Schmid, Untersuchungen I, 67–74. Ohne hier auf weitere Details eingehen zu müssen, lässt bereits der größere Umfang der Liste zur Teilung der vermeintlichen Familie 104 vermuten, dass diese sehr viel wahrscheinlicher ist als ihre allgemeine Zusammengehörigkeit.
Die Minuskeln ausmachen: 104–459, 336–582 sowie 620–1918.431 Demgegenüber bringen die TuT-Daten aber genauso deutlich zum Vorschein, dass die beiden Handschriftenreihen über weite Strecken sehr unterschiedliche Textzustände bekunden und ihre gegenseitigen Übereinstimmungsquoten in der Folge verhältnismäßig niedrig ausfallen. Ihre Zusammengehörigkeit zu einer mutmaßlichen Familie ist allenfalls noch schwach erkennbar. Insofern bestätigen die TuT-Daten den ambivalenten Eindruck, der sich aus der Besprechung der angenommenen Bindelesarten ergeben hat: Die Gruppierung der Handschriften zu einer Familie im technischen Sinne ist äußerst fraglich und lässt sich nur noch unter großen Vorbehalten aufrechterhalten. Schmid bringt seine Einschätzung über die Zusammengehörigkeit der zehn aufgelisteten Handschriften folgendermaßen auf den Punkt: „Die Existenz der Gruppe R (sic. C104) als einer eigenen Textfamilie steht damit fest“.432 Dieses Urteil ist aufgrund von TuT-Apk in textgeschichtlicher Hinsicht zu korrigieren bzw. zu präzisieren. Als erstes bleibt festzuhalten, dass die zehn betreffenden Handschriften trotz der zum Teil auffällig niedrigen Übereinstimmungsquoten untereinander stärker verwandt sind als sie mit der relativen Mehrheit zusammengehen.433 Dies darf als Indiz für eine noch näher zu qualifizierende Beziehung der Handschriften gedeutet werden und entspricht dem Befund an gleichlautenden Interpolationen von kurzen Kommentar-Abschnitten in den ApkText, der sich nur durch eine gemeinsame Herkunft erklären lässt. Dem steht allerdings die Tatsache gegenüber, dass der gemeinsame Wortbestand aller zehn Handschriften recht schmal ausfällt und ihre Teilung in zwei Ketten zu fünf Gliedern sowie Paarbildungen nach quantitativer Auswertung aller variierter Stellen deutlich ersichtlicher ist als ihre angenommene Zusammengehörigkeit zu einer Textfamilie. Textgeschichtlich erklären sich die kontradiktorischen Fakten am besten, wenn man teilweise eine gemeinsame Vorlagenkette der Handschriften voraussetzt, die die Interpolationen aus dem Andreas-Kommentar sowie einen Grundstock an potenziell alten Lesarten umfasst. In der weiteren Überlieferung haben sich die zehn Handschriften im unterschiedlichen Ausmaß von der gemeinsamen Vorlagenkette durch Fremdeinflüsse entfernt bzw. diese mit wechselnder 431 Die von Schmid (Untersuchungen I, 63) behauptete, aber nicht näher dargelegte Verbindung von 336, 582 und 628 lässt sich indes durch TuT-Apk angesichts der geringen Übereinstimmungswerte nicht bestätigen. 432 Schmid, Untersuchungen I, 63. 433 In allen entsprechenden Gruppenlisten von TuT-Apk weisen die Handschriften miteinander höhere Übereinstimmungswerte auf als ihr jeweiliger Anteil an Lesarten rM ausmacht; vgl. exemplarisch 104 in TuT-Apk, 610.
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Genauigkeit bewahrt. Aus diesem Grund bekunden sie zugleich sehr divergierende Textzustände. Es besteht also keine kategorische, sondern lediglich eine graduelle Differenz zwischen den Handschriften, die Schmid zur Familie 104 zusammengefasst hat. Um dieser gleichermaßen komplexen wie kontaminierten Entwicklung Rechnung zu tragen, sollte von einer Gruppenbildung der Handschriften im verwandtschaftlichen Sinne zu einer Textfamilie gemäß TuTApk abgesehen werden, zumal die weit auseinanderliegenden Textzustände unmöglich durch die summarische Angabe „F104“ adäquat erfasst werden können. Stattdessen lassen sich die zehn Handschriften als „lockerer“ Verbund bzw. wie hier vorgeschlagen als Cluster beschreiben.434 Die dazugehörigen Handschriften weisen eine schmale Schicht an gemeinsamen Varianten auf und gehen vermutlich auf eine gemeinsame Vorlagenkette zurück, an deren Ursprung die Abschrift des Lemmatextes aus einem Andreas-Kommentar gestanden hat. In diesem Zusammenhang sind auch einige Kommentar-Abschnitte verräterisch in den Apk-Text eingedrungen. Abschließend sei noch der Umstand erwähnt, dass 620, 628 und 1918 bilinguale Apk-Handschriften sind und den Apk-Text neben dem griechischen Original auch in einer lateinischen Version enthalten.435 Nach Schmid hat die lateinische Version in keiner der drei Handschriften, den griechischen Text beeinflusst.436 Ebensowenig lässt sich ein Einfluss der griechischen Fassung auf den lateinischen Wortlaut feststellen. In diesem Kontext ist vor allem auf die vorgenannten Zusätze aus dem Andreas-Kommentar im griechischen Apk-Text hinzuweisen, die je in der lateinischen Spalte fehlen. Eine Ausnahme bilden gewisse Korrekturen in 628 von späterer Hand, die womöglich nach der lateini-
434 Es fällt recht schwer, einen passenden Begriff für dieses textgeschichtliche Phänomen zu finden, der nicht zu stark in die eine oder andere Richtung durch die Literatur vorgeprägt ist. Am geeignetsten erscheint noch der Terminus „Cluster“ in der Definition von Epp: „[…] a cluster is a group NT MSS whose texts are more closely related to one another than the cluster – as a group, or as individual members – is related to other groups or to other MSS“; Epp, Textual Clusters: Their Past and, hier 571. Der Begriff Cluster bezieht sich in der vorliegenden Arbeit allen auf die Gruppierung der Handschriften zu C104 und ist keine textgeschichtliche Beschreibung ihrer Textzustände. 435 Ein neuerer paläografischer Überblick zu den Handschriften findet sich in M. Sigismund, Die griechisch-lateinischen Apk-Bilinguen (und andere mehrsprachige Manuskripte der Apk), in: M. Sigismund/M. Karrer/U. Schmid (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse, ANTF 47, Berlin/Boston 2015, 315–364, hier 326–332. In diesem Zusammenhang sei auch auf den Codex Paris, BNF, Armen. 27 (GA 256, 11.–12. Jh.) hingewiesen, der die Apk in griechischer, armenischer und einer frühen italienischen Version enthält. 436 Schmid, Untersuchungen I, 77, unter Rekurs auf Hoskier.
Die Minuskeln schen Version in den griechischen Text eingetragen wurden.437 Darüber hinaus untersuchte Sigismund den lateinischen Text der drei Handschriften und kam zu dem Ergebnis, dass sie jeweils „eine Art mittelalterlichen Standardtext bieten“, der mehr oder minder auf die Alkuin-Rezension zurückgehe.438 In Hinsicht auf die Bewertung von 620, 628 und 1918 sowie die Zusammensetzung des Verbundes 104 folgt daraus, dass Einflussnahmen aus der lateinischen Version nicht als Erklärung für die stark abweichenden griechischen Textzustände angeführt werden können, sondern sie aus innergriechischen Entwicklungen der Apk-Überlieferung resultieren. Der Verbund oder das Cluster 104 und die Zeugnisse seiner Angehörigen sind das Produkt einer hochkomplexen Texttransmission, die durch ein beträchtliches Ausmaß an Kontamination mit den entsprechenden Schwierigkeiten bei der Gruppendefinition heraussticht. Die Zusammengehörigkeit der genannten Handschriften lässt sich nichtsdestotrotz in TuT-Apk erkennen und darf als gesichert gelten – eine Familie im geprägten Sinne der Gruppenbildung lässt sich indes nicht festmachen.
.. Die Familie 172 (F172/O) Seit Soden werden die folgenden Handschriften zu einer Familie mit der Bezeichnung O oder F172 in zwei Unterstränge gruppiert:439 172 1862 1888 2018 2032 250 424 616 2084 437 Hoskier, Text I, 222, nennt in Apk 14,8 die Einfügung von ἐκείνη nach Βαβυλών und den Nachtrag ἥτις hinter μεγάλη in demselben Vers sowie in 16,7 die Addition ἄλλου τοῦ θυσιαστηρίου. Ferner führt er noch die Änderung von ξύλου zu λίθου in 18,12 auf. Alle Änderungen haben demnach die Tendenz, eine größere Konformität zwischen griechischem Text und lateinischer Version herzustellen. 438 Sigismund, Apk-Bilinguen, 353 (dort auch das Zitat). 439 Siehe Soden, Schriften I/3, 2056–2059; Bousset, Offenbarung, 151. Die Bezeichnung „O“ bei Soden rührt offenbar von einem Missverständnis des Apk-Kommentars her, der sich in einigen Mitgliedern der Familie findet. Cramer hat diesen mutmaßlich anonym überlieferten Kommentar aufgrund eines Trugschlusses einem gewissen Bischof Oecumenius von Trikka zugewiesen und so auf Basis von 250 publiziert: Cramer, Catenae, 497–582. Obwohl Franz Overbeck bereits 1864 den Nachweis erbracht hat, dass es sich bei dem fraglichen Text um Auszüge aus dem Andreas-Kommentar handelt, blieb das Siglum „O“ in der Textforschung erhalten. Siehe F. Overbeck, Die sogenannten Scholien des Oekumenius zur Apokalypse, Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 7 (1864), 193–201, hier 193: „Die Scholien des Cod. coislin. 224 (sic. GA 250) sind ein wörtlicher Auszug aus dem Commentar des Andreas von Caesarea […]“.
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Als hervorstechendes Ausstattungsmerkmal erweist sich die in mehrerlei Hinsicht spezifische Art des Kommentars, den die Handschriften 250, 424, 1862, 1888, 2018 und 2032 enthalten. Laut Schmid handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Andreas-Kommentars, die in allen Fällen in Rahmenform vorliegt.440 Overbeck vermutet, dass die Kürzungen des Epitomators dem Zweck dienen, dem Apk-Text einen kurzen Verständnisleitfaden zur Seite zu stellen.441 Dieses paratextliche Ausstattungsmerkmal unterstreicht die Zusammengehörigkeit der Handschriften über das eigentliche Textzeugnis hinaus und verdeutlicht analog zur Complutense-Gruppe und ihres Scholien-Apparates (siehe Teil II: 4.4.2) die Relevanz von wiederkehrenden Beitexten für die Gruppenbildung. Schmid zählte außerdem noch die Handschriften 1828, 2022, 2070 und 2305 zu dieser Familie, vermerkte aber bereits ihr stark abweichendes Textzeugnis im Vergleich zu den vorgenannten Handschriften.442 Weil die TuT-Auswertungen den andersartigen Text von 2070 und 2305 bestätigen und die Handschriften demnach der Koine-Gruppe viel näher stehen, werden sie nicht länger zu den Mitgliedern der Familie 172 gezählt.443 Dasselbe trifft auf den Zeugen 2022 zu, der ebenfalls enger mit der Koine-Gruppe als mit den Angehörigen der Familie 172 verwandt ist und infolgedessen zum Kreis der erweiterten Mitglieder der Koine-Gruppe gezählt werden kann.444 Deutlich schwieriger stellt sich der Sachverhalt indes mit Blick auf 1828 dar. Als nächste Verwandte zur Handschrift 1828 erscheinen ausschließlich die Mitglieder der F172 in der betreffenden Gruppenliste, wobei sie auch eine kleine Anzahl von deren Sonderlesarten teilt.445 Da sich die Übereinstimmungsquoten ohne Berücksichtigung der Lesarten rM von 1828 mit den Angehörigen der F172 auf höchstens 63 % (mit 1862) belaufen und häufig weit darunter liegen (51 % mit 250 und 424), steht die Handschrift in Bezug auf ihr individuelles Textzeugnis der Familie letztlich recht fern. Bei Schmid heißt es: „1828 hat einen ziemlich stark überarbeiteten Text.“446 Diese Einschätzung wird durch den in TuT 440 Siehe dazu die Beschreibungen der Handschriften bei Schmid, Studien Ia, 81–83. 441 Siehe Overbeck, Scholien, 193. 442 Siehe Schmid, Untersuchungen I, 27, 34, 44; Schmid, Studien II, 29. 443 In den Gruppenlisten zu den Handschriften 2070 und 2305 erscheinen außer die jeweils andere vorwiegend Koine-Handschriften mit höheren Übereinstimmungsquoten; vgl. TuT-Apk, 692, 702. 444 Vgl. TuT-Apk, 24 mit Anm. 1, 678. 445 Vgl. TuT-Apk, 663. Je nach Vergleichshandschrift teilt 1828 zwischen vier und sieben Sonderlesarten mit den einzelnen Mitgliedern der F172. 446 Schmid, Untersuchungen I, 27.
Die Minuskeln Apk erhobenen Befund insofern bestätigt, als dass 1828 nach quantitativen Maßstäben im Vergleich zum Rest der F172 einen weitgehend anderen Text bekundet. Dagegen behauptet Schmid, dass an der Zugehörigkeit von 1828 zur Familie 172 kein Zweifel bestehen könne.447 Da 1828 jedoch die erwähnte Kurzfassung des Andreas-Kommentars fehlt, liegt weder in textlicher noch paratextlicher Hinsicht für die Gruppendefinition ein zwingender Grund vor, die Handschrift als direkte Angehörige der F172 zu betrachten. Stattdessen steht 1828 über eine vielschichtige Vorlagenkette mit F172 in Verbindung, weist aber in letzter Instanz einen erheblich abweichenden Textzustand auf. Wie TuT-Apk aber nahelegt, bietet 1828 in textgeschichtlicher Perspektive ein hochrelevantes Zeugnis. Im Vergleich zu den Mitgliedern der Familie 172 weist 1828 nämlich einen erhöhten Anteil an LA-2mS von insgesamt 34 % auf, womit die Frage einhergeht, ob der Überschuss an alten Lesarten nachträglich in den Text von 1828 eingewachsen ist oder diese entgegengesetzt auf dem weiteren Überlieferungsweg zur F172 verloren gegangen sind. Anders gefragt: Zählt 1828 aufgrund des höheren Anteils an prioritären Lesarten zu den potenziellen Vorfahren der Mitglieder von F172 oder kommen die überschüssigen alten Varianten aus anderer Quelle und die Angehörigen der Familie 172 machen umgekehrt einen Teil der Vorlagenkette von 1828 aus? Die alternativen Erklärungsmodelle lassen sich grafisch wie folgt veranschaulichen:
Abb. 4: Schaubild zur Relation 1828 und F172
Wenn gleich die Frage hier nicht abschließend geklärt werden kann, da dazu eine umfängliche genealogische Analyse erforderlich ist, und die Grafik eine starke Vereinfachung abbildet, hat der Sachverhalt für die Bewertung der Familie 172 erhebliche Bedeutung. Denn von der Stellung, die der Textzustand 1828
447 Schmid, Untersuchungen I, 27.
Wichtige Familien
im Entwicklungsverlauf der Familie 172 einnimmt, hängt nicht unwesentlich ihre Verortung im Fluss der Überlieferung ab. Die folgende Übereinstimmungsmatrix soll die Zusammengehörigkeit der vorgenannten Handschriften als F172 belegen. Dabei kommt ebenso die Teilung der Familie in zwei Unterstränge zum Vorschein: Tab. 26: Übereinstimmungsmatrix Mitglieder F172 HSS
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Im Gegensatz zu dem Verbund/Cluster 104 können die oben aufgeführten Handschriften im gruppierungstechnischen Sinne weiterhin als Familie 172 definiert werden. Alle Mitglieder zeichnen sich durch relativ hohe Übereinstimmungsraten untereinander aus, wobei die innere Geschlossenheit der Familie in Etwa mit derjenigen der Koine-Gruppe vergleichbar ist. Daneben tritt genauso deutlich die Zweiteilung der Familie vor Augen, da 172-1862-1888-20182032 auf der einen und 250-424-616-2084 auf der anderen Seite untereinander je stärker übereinstimmen als alle Familienmitglieder im Durchschnitt. Schließlich bestätigt das Zahlenmaterial mit Blick auf 1828 die zuvor geschilderten Ausführungen, dass die Handschrift nur noch schwach mit den Angehörigen der F172 in Verbindung steht. Im Unterschied zu den eigentlichen Mitgliedern der Familie fallen die Übereinstimmungswerte deutlich niedriger aus, worin sich der andersartige Textcharakter von 1828 quantitativ niederschlägt. Seit Bousset wird das Zeugnis von F172 als Mischtext aus der Andreas- und Koine-Tradition eingestuft,448 was Schmid in seinem Fazit grundsätzlich unter 448 Siehe Bousset, Offenbarung, 151.
Die Minuskeln streicht: „Im Ganzen betrachtet ist O [sic. F172] nichts anderes als eine Mischung aus Αν und K […]“.449 Auf elementarer Ebene wird diese Einschätzung der Forschung durch TuT-Apk bestätigt. Alle Mitglieder der Familie weisen vergleichsweise hohe Anteile an LA-3mS und 4mS auf, die zwischen 46,1 % und 62,6 % ihres Textes ausmachen. Im Kontrast zur Complutense- oder Arethas-Familie, die im textgeschichtlichen Sinne vollständige Mischtexte aus der Andreas- und Koine-Tradition darstellen, fallen die Variantenschichten aus diesen beiden Überlieferungssträngen in den Mitgliedern der F172 deutlich geringer aus. Schon Schmid räumte ein, dass die Familie 172 ebenfalls vereinzelt Lesarten bekundet, die nicht aus alleiniger Abhängigkeit von der Koine- und AndreasTradition erklärt werden können, sondern auf andere Verbindungen schließen lassen. 450 Wenngleich diese Beziehungen zu anderen Zweigen der Überlieferung nur selten zum Vorschein kommen und dementsprechend schwach ausfallen, haben sie für die Bewertung der Familie 172 dennoch gewisse Relevanz. Die nächste Liste führt darum sämtliche Teststellen auf, an denen die F172 oder einzelne ihrer Mitglieder gegen die Mehrheit der Koine- und Andreas-Gruppe mit alten Zeugen zusammengeht: TST 5 (Apk 1,9): sine δια ante την ματυριαν ιησου F172 02 04 AndGpt NA28 ¦ lac. 2032 TST 26 (Apk 4,4): θρονους F172 01 02 AndGHss NA28 TST 41 (Apk 5,13): sine αμην F172 01 02 AndGHss NA28 TST 56 (Apk 13,6): εις βλασφημιας F172 01 02 04 AndGHs NA28 ¦ lac. 2032 TST 73 (Apk 14,6): επι τους καθημενους F172 P47 01 02 04 NA28 ¦ lac. 172 2032 TST 78 (Apk 14,8): μεγαλη η F172 02 04 KoiGHss AndGHss NA28 ¦ lac. 172 2032 TST 94 (Apk 18,11): επ αυτην 1862 1888C 2084 01 04 KoiGHss AndGHs NA28 ¦ επ αυτη 250 424 616 KoiGM AndGHss ¦ επ αυτης 172 1888* 2018 KoiGHs ¦ lac. 2032 TST 95 (Apk 18,12): μαργαριτων 172 1862 1888 2018 01 AndGHs NA28 ¦ μαργαριτου 250 424 616 2084 KoiGM AndGM ¦ lac. 2032 TST 96 (Apk 18,12): πορφυρας F172 01 04 AndGHss NA28 ¦ lac. 2032 TST 100 (Apk 18,14): ου μη αυτα ευρησουσιν 172 1862 1888 2018 01 02 NA28 ¦ ου μη ευρησουσιν αυτα 250 424 616 2084 ¦ lac. 2032 TST 117 (Apk 21,9): νυμφην την γυναικα του αρνιου F172 01 02 NA28 ¦ lac. 2032
Nachweislich geht die Familie 172 respektive einzelne ihrer Mitglieder an elf Teststellen mit alten Zeugen (u. a. 01, 02, 04) zusammen, auf deren Grundlage der Text von NA28 steht. In manchen Fällen wird die betreffende Variante auch von einem Teil oder wenigstens einigen Handschriften der Koine- und/oder Andreas-Tradition bezeugt. Da dies aber nicht auf sämtliche Belegstellen zu-
449 Schmid, Untersuchungen I, 33. 450 Siehe Schmid, Untersuchungen I, 33.
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trifft, kann das Zeugnis der F172 nicht ausschließlich aus Abhängigkeit von den beiden Haupttraditionen der Überlieferung erklärt werden. An den Stellen 18,11; 18,12 und 18,14 teilt sich die Familie auf mehrere Lesarten auf, wobei der ursprüngliche Wortlaut in allen drei Fällen sicher festgestellt werden kann. Mit Blick auf 18,11 haben 1862, 1888C, 2084 den alten Text bewahrt, während 250, 424, 616 eine Anpassung an die Mehrheit der Koine-Gruppe und 172, 1888*, 2018 einen Fehler bieten. In 18,12 haben 250, 424, 616, 2084 erneut den eigentlichen Wortlaut der Familie, den 172, 1862 1888, 2018 erhalten haben, an die Mehrheitslesart angeglichen. Schließlich liegt in 18,14 eine Entwicklung innerhalb der F172 vor: Dabei bieten 172, 1862, 1888, 2018 mit höherer Wahrscheinlichkeit den ursprünglichen Wortlaut der Familie, wohingegen 250, 424, 616, 2084 eine nachträgliche Umstellung bezeugen. Der geschilderte Befund entspricht Schmids Beobachtung, der zufolge der Unterstrang 250, 424, 616, 2084 ab Apk 17,3 einen mitunter stark überarbeiteten Text bekundet und häufig vom ursprünglichen Wortlaut der Familie abweicht.451 Der andere Subzweig 172, 1862, 1888, 2018 hat hingegen den Familientext weiterhin größtenteils unverändert erhalten. Als weitere Gründe führt Schmid an, dass die Handschriften 172, 1862, 1888, 2018 über das Gesamtzeugnis hinweg ein konstantes Variationsverhalten zeigen und sich greifbare Querverbindungen zu anderen Traditionen ab Apk 17 nur in 250, 424, 616, 2084 nachweisen lassen.452 Was die vier zuletzt genannten Zeugen angeht, sind möglicherweise verstärkt Lesarten aus der Arethas-Familie in ihren Wortlaut eingedrungen. Hierfür spricht beispielsweise in 18,13 (TST 97) die Umstellung ἔλαιον καὶ οἶνον, die von den vorgenannten vier Handschriften und ansonsten nur noch von dem Paar 792-2643 und den Mitgliedern der Arethas-Familie bezeugt wird.453 In Hinsicht auf die textgeschichtliche Einordnung der Familie 172 hat dies gravierende Konsequenzen, weil sich ihr Textzeugnis nicht als reiner Mischtext aus der Andreas- und Koine-Tradition ergibt. Schmid deutet den vorfindlichen Befund dahingehend, dass zunächst in den Wortlaut der Familie als Ganzer 451 Siehe die Aussagen bei Schmid, Untersuchungen I, 38, 43. 452 So Schmid, Untersuchungen I, 43–44. 453 Vgl. TuT-Apk, 183. Schmid (Untersuchungen I, 43) gibt außerdem als Grund für einen Einfluss der Arethas-Familie auf die Handschriften 250, 424, 616, 2084 folgende Lesarten an: 19,13 ἐν αἵματι; 20,5 ἀνθρώπων statt νεκρῶν; 21,5 εἰσιν τοῦ θεοῦ am Versende; vgl. zur Bezeugung der angegebenen Lesart auch Hoskier, Text II, 530, 554, 579. Als besonders signifikant erweist sich in diesem Zusammenhang die Änderung von νεκρῶν zu ἀνθρώπων in 20,5. Da sich diese Abwandlung ausschließlich in 250, 424, 616, 2084 und den Angehörigen der ArethasFamilie findet, liegt die Annahme einer direkten Verbindung zwischen den Zeugengruppen nahe.
Die Minuskeln nachträglich wieder alte Lesarten eingedrungen seien und der Unterstrang 250, 424, 616, 2084 anschließend nochmals vor allem nach der Arethas-Tradition überabreitet worden sei. Schlussendlich datiert er den ursprünglichen Text der Familie 172 als Rezension ins späte 10. oder in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts.454 Unter der Annahme, dass auch spezifische Texttraditionen sich kontinuierlich entwickelnde Überlieferungsströme darstellen, lässt sich das Zeugnis der Familie 172 viel leichter erklären, wenn man von einer Abspaltung auf dem Weg zur Koine- und Andreas-Tradition an einem vorhergehenden Knotenpunkt ausgeht.
Abb. 5: Mögliches Entstehungsschema zu F172 454 Siehe dazu die Ausführungen in Schmid, Untersuchungen I, 47: „Ist mit dem genau feststehenden Datum des Arethas-Kommentars […] auch ein fester terminus post quem für das Alter der beiden Gruppen von O [sic. F172] gewonnen, so folgt andererseits aus dem Alter mehrerer Handschriften von O […], dass beide Untergruppen dem 10. oder der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts angehören“ (Tippfehler im Zitat stillschweigend korrigiert). Aus heutiger Sicht kommt Schmid bei der Datierung des Textes der Familie 172 zu einem methodisch fragwürdigen Urteil, indem er von dem Alter der Handschriften als physische Objekte auf das Alter des durch sie überlieferten Textes zurückschließt.
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Die Abbildung 5 (oben) ist eine vereinfachte Darstellung der Verästelung, an der sich F172 vom Hauptstrom zur Entwicklung der Koine- und Andreas-Tradition abgespalten hat. Der Knotenpunkt hatte demnach eine überlieferungsgeschichtlich zentrale Gestalt. Denn in diesem Stadium waren noch ältere Lesarten vorhanden, die F172 anders als die beiden späteren Traditionen noch bezeugt, und zugleich waren bereits etliche jüngere Lesarten in Differenz zu den ältesten Zeugen ausgebildet, die sich dann auch in der Koine- und Andreas-Gruppe wiederfinden. Hierzu dürften auch bereits einzelne Lesarten gehören, die sich entweder nur im Koine- oder nur im Andreas-Zweig erhalten haben. Nicht zuletzt besitzt dieser Knotenpunkt hohe Relevanz für die Verortung der Textzustände diverser Minuskeln, die noch einen hohen Anteil an alten Lesarten bekunden, aber gleichfalls schon ausgeprägte Fortentwicklungen in Richtung der jüngeren Überlieferungszweige von Koine- und Andreas-Tradition erkennen lassen. Dass die Familie 172 jünger als die Arethas-Familie sein muss, ist, anders als Schmid annimmt, keineswegs zwingend. Schmid stützt seine Ansicht auf eine einzige Stelle, und zwar auf den Zusatz οὗτοί εἰσιν οἳ ἀκολουθοῦντες τῷ ἀρνίῳ am Ende von 14,5. Die Lesart stellt eine Interpolation aus 14,4 dar, die ausschließlich in einem Teil der Arethas-Familie und F172 auftritt.455 Sodann postuliert er aufgrund dieser Bezeugung, dass „sie in O [sic. F172] nur aus Αρ1 eingedrungen sein können“ und deswegen die Familie 172 in ihrer vorliegenden Gestalt nicht „vor dem Beginn des 10. Jahrhunderts entstanden sein kann“.456 An diesem Argumentationsgang sind mehrere Vorannahmen kritisch zu hinterfragen: – Warum muss das Abhängigkeitsverhältnis von einem Teil der ArethasTradition in Richtung F172 laufen? Obgleich 250, 424, 616, 2084 einen stärkeren Einfluss der Arethas-Tradition ab Apk 17 aufweisen, muss dies weder für vorangehende Kapitel noch für die ganze Familie 172 gelten. Insofern erscheint der umgekehrte Weg genauso denkbar. – Warum ist überhaupt von einem Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Traditionslinien bei dem fraglichen Zusatz auszugehen? Auf den ersten Blick mag die Bezeugung der Einfügung am Ende von 14,5 vielsagend erscheinen, doch vor dem Hintergrund der völlig analogen Formulierung in 14,4 kann die Wiederholung der Worte in beiden Traditionssträngen auch unabhängig erfolgt sein. Im Arethas-Kommentar liegt zudem das Sonderproblem vor, dass der Exeget die betreffenden Worte in seiner Auslegung zu Apk 14,4–5 noch einmal wörtlich aufgreift, was schon zu Irritationen inner 455 Vgl. Hoskier, Text II, 373. 456 Schmid, Untersuchungen I, 47.
Die Minuskeln
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halb der Arethas-Familie geführt haben könnte.457 In diesem Fall lägen in F172 und einem Teil der Arethas-Familie zwei völlig unterschiedliche Entwicklungen mit demselben Ergebnis vor. Mit welcher Begründung wird der Zusatz ins 9. Jahrhundert datiert? Schmid impliziert hier seine andernorts geäußerte Annahme, dass Arethas Caes. „selbst der Schöpfer“ seines eigenen Apk-Textes sei und die Interpolation am Ende von 14,5 deswegen nicht älter sein könne.458 In dieser Voraussetzung kommt Schmids Texttheorie, wonach die Apk-Überlieferung auf einer Vielzahl von klar abgrenzbaren Rezensionen mit teils eindeutig zu identifizierenden Akteuren beruhe, in voller Klarheit zum Vorschein. Fällt jedoch diese textgeschichtliche Vorannahme weg, so wird der Blick für die Möglichkeit frei, dass Arethas Caes. den Zusatz am Ende von 14,5 bereits in seinem zur Auslegung benutzten Text vorgefunden haben kann und er die Worte erst aufgrund der markanten Doppelung auch in seinem Kommentar zu der Stelle aufgegriffen hat. Damit verliert das vorausgesetzte Abhängigkeitsverhältnis der F172 von einem Teil der Arethas-Tradition immer mehr an Plausibilität und an Schmids Datierung der Familie 172 wachsen zunehmend Zweifel. Letztlich gewinnt der Zusatz in 14,5 erst durch Schmids verengte Sicht der Textgeschichte überhaupt an Bedeutung, da ansonsten das Abhängigkeitsverhältnis offenbleiben muss bzw. die scheinbar gemeinsame Bezeugung ebenso auf einem Zufall beruhen kann. Wieso sollte der Einzelfall einer undurchsichtigen Lesart die erheblich umfangreiche Schicht an alten Varianten im Zeugnis der Familie 172 bei ihrer textgeschichtlichen Verortung solchermaßen überwiegen? Schmid erklärt die Bezeugung von alten Lesarten in F172 durch eine nachträgliche Einarbeitung mit teils ungeklärter Herkunft aus verschiedenen Quellen. Wie bereits erwähnt, gilt auch in dieser Hinsicht, dass sich der Textzustand von F172 viel leichter unter Annahme einer frühzeitigen Abspaltung erklärt. Es ist davon auszugehen, dass die Familie in ihrer Grundschicht einen Teil alter Lesarten bewahrt hat, die im Zuge der fortschreitenden Entwicklung zur Andreas- und Koine-Tradition (von denen die Arethas-Familie weitestgehend abhängt) verloren gingen, und sich die Familie 172 demzufolge früher von diesem Entwicklungszweig getrennt hat.
457 Vgl. Cramer, Catenae, 387–388. Die Handschrift 242 aus der Arethas-Familie bietet die Einfügung am Schluss von 14,5 ebenfalls, obwohl sie nicht den Kommentar als solchen enthält. 458 Siehe Schmid, Untersuchungen I, 7. Dass diese Annahme keineswegs notwendig und letztlich irrig ist, wurde bereits oben diskutiert (Teil II: 4.5.1).
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Die Rückfragen an Schmids Argumentation wecken beträchtliche Zweifel an seiner Datierung von F172 und erhärten auf Basis der TuT-Daten den Verdacht, dass der Grundstock an Varianten dieser Familie erheblich früher anzusetzen ist. Vieles deutet darauf hin, dass die Angehörigen von F172 einen zum Teil alten Text erhalten haben, der sich frühzeitig im Überlieferungsstrom zur Andreas- und Koine-Tradition sowie davon abhängiger Gruppen abgespalten hat. Schließlich kommen bei Schmid selbst Bedenken an seiner vorgeschlagenen Datierung der Familie 172 auf. Er sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass F172 häufiger mit der syrischen Version zusammengeht, nämlich der Philoxeniana, und dabei allem Anschein nach den älteren Text bietet. Ungeachtet der Fachfrage, für welchen Zeitraum die Entstehung der Philoxeniana anzusetzen ist, kommt Schmid infolgedessen zu dem Schluss, dass der Grundtext der Familie 172 älter als die Arethas-Tradition sein muss und lediglich die überkommenen Angehörigen in den zwei Teilsträngen jünger sind.459 Im Endeffekt teilt Schmid damit die hier vertretene Auffassung, dass die Grundschicht des Textes F172 ein hohes Alter und eine dementsprechende Textqualität besitzt. Dazu bildet auch der in einigen Handschriften der Familie 172 vorhandene Andreas-Kommentar in der spezifischen gekürzten Fassung keinen Widerspruch, weil er genauso später hinzugefügt worden sein kann. Für die nachträgliche Beifügung im rezeptionsleitenden Sinne als Verständnisleitfaden spricht zum einen, dass er sich in sämtlichen Handschriften, die ihn in dieser Sonderform enthalten (250, 424, 1862, 1888, 2018, 2032), auf dem Rahmen befindet. Dieser Umstand verdient insofern Beachtung, als eine vergleichbar uniforme Tradierung des Andreas-Kommentars oder auch sonstiger Kommentare in allen anderen Handschriften-Gruppen nicht gegeben ist, da stets Rahmen- und alternierende Form nebeneinander auftauchen. Zum anderen fehlt er in einigen Mitgliedern der F172 (172, 616, 2084). Sowohl die markante Platzierung auf den Rahmen als auch die ungleichmäßige Verteilung der Kurzfassung des AndreasKommentars lassen seine nachträgliche Zufügung wahrscheinlicher erscheinen als die gegenteilige Annahme, dass er den Apk-Text der Familie von Beginn an begleitet hat. 459 Siehe Schmid, Untersuchungen I, 49 Anm. 2: „Ist demnach zwar O [sic. F172] selbst älter als Αρ, so sind doch die zwei Gruppen von O jünger als Αρ“. Die Argumentation hinterlässt einen fahrigen Eindruck, weil Schmid seine ursprüngliche Ansicht, die er zwei Seiten zuvor verschriftet hatte, selbst in Zweifel gezogen sieht. Auch in diesem an sich textgeschichtlich überschaubaren Zusammenhang kommt die Texttypentheorie offenkundig an ihre Grenzen, da sie das Verhältnis zwischen den Textzuständen der F172 und der Andreas-Gruppe letztendlich nicht aufzuklären vermag. Schmid behilft sich deswegen mit einem weiteren Hyparchetyp, um die Lücke notdürftig zu schließen.
Die Minuskeln Ferner gibt die weitere paratextliche Ausstattung von 250 zur Apk Aufschluss über die Beziehungen zur Arethas-Tradition. Soweit es ersichtlich ist, enthalten die Handschriften 1862460, 1888 und 2018 die Kurzfassung des Andreas-Kommentars ohne voranstehende Beitexte,461 die die Kombination aus Apk und begleitende Auslegung in irgendeiner Weise einleiten würden. Ganz anders stellt sich hingegen die Situation in 250 dar. Hier begegnet vor der Apk als erstes ein kurzer Prolog eines anonymen Verfassers (fol. 329r–330r), der daneben nur noch durch die engverwandte Handschrift 424 bezeugt wird (fol. 312v–313v).462 Danach folgt in 250 ein Paratext mit folgender Überschrift (fol. 330v–332v): 460 Was die Handschrift 1862 betrifft, wurden dem Codex nachträglich einige Paratexte („post production paratexts“) in gezielter Ausrichtung beigefügt. Laut einem produktionsseitigem Beitext („book producers paratext“) im Anschluss an die Apokalypse stammt die Abschrift entweder von einer byzantinischen Kaiserin oder der Codex ist ihr gewidmet. Der betreffende Text lautet: σταυρὲ φύλαττε βασίλισσαν μαρίαμ („Kreuz, bewahre die Kaiserin Maria“). Die byzantinische Geschichtsschreibung kennt zwei Kaiserinnen mit Namen Maria, und zwar die Frau Konstantins VI. (780–797) und Maria Bagrationi (genannt Alanien), die zuerst mit Michael VII. Dukas (1071–1078) und anschließend mit Nikephoros III. Botaneiates (1078–1081) verheiratet war. Infolge politischer Turbolenzen wurden beide Frauen ins Kloster verbannt. Die Produktion der Abschrift im elften Jahrhundert legt nahe (zur Datierung Schmid, Studien Ia, 81), dass sich der Paratext auf Maria von Alanien bezieht. Es scheint sich dabei eher um einen Gebetsruf zu handeln, der um Schutz für die Kaiserin bittet, als um eine Information über die mögliche Kopistin des Codex; zur Diskussion siehe Karrer, Text (2017), 219–220. Jedenfalls war dieser kurze Text Anlass genug, um im 19. Jh. diverse Beitexte in die Handschrift mit dem Ziel einzutragen, dass ein Buch der byzantinischen Kaiserin Maria, nämlich der Frau Konstantins (siehe den Text links neben dem ursprünglichen Gebetsruf), vorläge. Dazu gehört auch ein Nachtrag auf dem Buchvorsatz, der aus einem Inhaltsverzeichnis und dem einschlägigen Hinweis besteht, dass Maria die Kaiserin im 8. Jh. den Codex geschrieben habe (ἐγράφη δὲ παρὰ Μαρίας βασιλίσσης ἐν ἔτει σωτηρίῳ ω: + 800). Nach Einschätzung von P. Kerameus dienen diese Paratexte der Fingierung einer Fälschung, um den Wert des Codex für den Verkauf zu steigern; vgl. P. Kerameus, Ἀνύπαρκτος κῶδιξ Μαρίας βασιλίσσης τοῦ 800-οῦ ἔτους, ByZ 14 (1905), 260–270, hier 269. 461 Über 2032 lässt sich keine sichere Aussage treffen, da der Buchanfang in dieser Handschrift verloren ist. 462 Ein Transkript des Textes auf der Basis von GA 250 findet sich in B. de Montfaucon, Bibliotheca Coisliniana, olim Segueriana; sive manuscriptorum omnium Graecorum, quae in ea continentur, accurata descriptio, ubi operum singulorum notitia datur, aetas cuiusque manuscripti indicatur, vetustiorum specimina exhibentur, aliaque multa annotantur, quae ad palaeographiam grecam pertinent. Acced. anecdota bene multa ex eadem bibliotheca desumta cum interpretatione latina, Paris 1715, 276–277. Dass sich dieser eigentümliche Prolog nach derzeitigem Kenntnisstand nur in 250 und 424 findet, bestätigt erneut die Relevanz von Paratexten als zusätzliche Indizien für die Gruppierung von Handschriften. Zudem teilen die beiden Codices weitere Beitexte zur Apk, und zwar ein Glossarium zu hebräischen Begriffen und ein Glossar zu den Gemmen. Schließlich befindet sich am Schluss beider Handschriften eine kalendarische
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Ἐκ τῶν Οἰκουμενίῳ τῷ μακαρίῳ ἐπισκόπῳ Τρίκκης Θεσσαλίας θεοφιλῶς πεπονημένων εἰς τὴν Ἀποκάλυψιν Ἰωάννου τοῦ Θεολόγου σύνοψις σχολικὴ μετὰ τῆς δεούσης ὅσον κατὰ σύνοψιν ἀνελλιποῦς αὐταρκείας.
Bei diesem Text handelt es sich um die sogenannte σύνοψις σχολική der aus dem Kommentar des Oecumenius entnommenen Auslegung, die vermutlich ursprünglich für den Arethas-Kommentar angefertigt wurde (sie findet sich z. B. auch in GA 314).463 Auf dem Rahmen zur besagten σύνοψις σχολική befindet sich in 250 außerdem die Liste der Kephalaia zum Arethas-Kommentar unter dem Titel τὰ κεφάλαια τῆς ὀπτανθείσης ἐν Πάτμῳ τῷ εὐαγγελιστῇ Ἰωάννη Ἀποκαλύψεως (fol. 330v).464 All diese Beitexte lassen auf einen verstärkten Kontakt zur Arethas-Tradition schließen. Man kann also vermuten, dass die vermehrt bezeugten Arethas-Lesarten im Unterstrang 250, 424, 616, 2084 im Zusammenhang mit der paratextlichen Erweiterung der Kurzfassung des AndreasKommentars in den Grundtext der Familie 172 eingearbeitet wurden. Freilich können die paratextlichen Erweiterungen und das Eindringen der ArethasLesarten im Unterstrang 250, 424, 616, 2084 völlig unabhängig voneinander erfolgt sein, jedoch treten beide Phänomene verdächtigerweise nur hier auf. Zwar fehlt in 424 die σύνοψις σχολική des Oecumenius-Kommentars sowie 616 und 2084 ausschließlich den Apk-Text enthalten, doch dokumentiert 250 reichhaltig den intensiven Kontakt zur Arethas-Tradition und könnte gewissermaßen das buchgeschichtliche Szenario abbilden, in dem letztere auch in Form von Lesarten verstärkt in die Familie 172 eingedrungen ist. Nachdem nun die Beziehung zur Arethas-Tradition sowohl textgeschichtlich als auch paratextlich beleuchtet wurde, bleibt noch Schmids Mutmaßung über eine nähere Verbindung von F172 und F1678 zu thematisieren. Laut Schmid besteht zwischen den beiden Familien eine verwandtschaftliche Beziehung, zu deren Erweis er einige Lesarten aufführt.465 In der gesamten Liste fin Synopse, eine Erläuterung zu den hebräischen Buchstaben, eine Liste der Erzengel sowie die Aufstellung der vier Flüsse des Paradieses. Siehe dazu die Online-Beschreibungen von D. Müller, Description ParaTexBib (GA 250). Paris, BNF, Coisl. 224, https://www.manuscriptabiblica.org/manuscript/?diktyon=49365 (zuletzt abgerufen am 25.11.2021). 463 Zur handschriftlichen Bezeugung der σύνοψις σχολική des Oecumenius und kritischen Edition siehe M. de Groote, Die σύνοψις σχολική aus dem Kommentar des Oecumenius zur Apokalypse, Sacris erudiri 32 (1991), 107–119. Demnach findet sich der Text neben 250 noch in 254, 314, 452, 467, 506 und 2021. Alle Handschriften enthalten weitere paratextliche Elemente wie Pinax und σύνοψις σχολική des Andreas, die einen nicht zu übersehenden Kontakt zur Arethas-Tradition dokumentieren. 464 Vgl. die Kephalaia-Titel von 250 mit der Edition Cramer, Catenae, 177–180. 465 Schmid, Untersuchungen I, 49–50.
Die Minuskeln den sich lediglich drei Varianten, die der angegebenen Bezeugung zufolge ausschließlich in F172 und F1678 auftreten: 3,16: μελλω σε εμεσαι NA28] add. και ελεγχω σε 250C 616 2084 F1678 18,14: σου της επιθυμιας της ψυχης NA28] σου της επιθυμιας της ψυχης σου 172 1862 1888 2018 F1678 21,9: εις εκ NA28] ο πρωτος 172 1862 1888 2018 F1678 Alle übrigen von Schmid genannten Lesarten werden gleichfalls durch zahlreiche andere Zeugen bekundet, sodass eine direkte Verbindung von F172 und F1678 für diese Fälle nicht zwingend angenommen werden muss bzw. sich kaum nachweisen lässt. Mit Blick auf die oben aufgeführten Varianten stellt sich die Bezeugung so dar, dass sie jeweils nur von einem Teilstrang der F172 bezeugt werden. In F1678 gehören sie indes zum festen Textbestand. Den Zusatz καὶ ἐλέγχω σε in 3,16 lesen 250C, 616, 2084, wobei die Korrektur in 250 augenfällig von späterer Hand auf dem inneren Seitenrand ergänzt wurde. Die beiden anderen Lesarten stehen jeweils in 172, 1862, 1888, 2018. Da die betreffenden Lesarten immer nur von einem Teil der F172 bezeugt werden, liegt die Vermutung einer sekundären Beeinflussung des Grundtextes von F172 nahe. Damit ist aber noch keineswegs sichergestellt, dass diese Lesarten in F172 nach dem Zeugnis von F1678 eingedrungen sind. Eine nähere Betrachtung der Stelle führt vielmehr zu dem Schluss, dass Teile von F172 und F1678 trotz scheinbarer Signifikanz der Varianten sie dennoch unabhängig voneinander bezeugen. In Hinsicht auf die Worte καὶ ἐλέγχω σε ist festzustellen, dass 2329 sie anstelle von μέλλω σε ἐμέσαι und nicht als Addition bietet.466 Womöglich sind sie also auf einer ansonsten verborgenen Vorlagenkette in das Zeugnis von F1678 und unabhängig davon in den Text von 250C, 616, 2084 gewandert.467 Dabei zeichnet sich für die zuletzt genannten Handschriften eine klare Entwicklungslinie ab, indem sich die fragliche Variante ausgehend von einer ursprünglichen Marginalkorrektur allmählich in den späteren Kopien dieses Zweigs als feste Textlesart etabliert hat.468 Obgleich die doppelte Bezeugung von σου in 18,14
466 Vgl. Hoskier, Text II, 110 (Nr. 200 = 2329). 467 Anders Schmid, Untersuchungen I, 50, in der Auffassung, dass F1678 die Mischlesart μέλλω σε ἐμέσαι καὶ ἐλέγχω σε geschaffen habe und 250C, 616, 2084 wiederum von F1678 abhängig seien. Diese Ansicht ist nicht zwingend, wenn man bedankt, dass καὶ ἐλέγχω σε in 250 als Korrektur auf dem Seitenrand steht und sich erst allmählich und nicht in allen Mitgliedern des Teilstrangs von F172 verbreitet hat. 468 Im Gegensatz zur Handschrift 250, deren Niederschrift im 11. Jh. erfolgte, sind 616 mit Datierung in das Jahr 1434 und 2084 ebenfalls 15. Jh. vergleichsweise späte Produktionen. Für
Wichtige Familien
(ὀπώρα σου τῆς ἐπιθυμίας τῆς ψυχῆς σου) auf eine Verbindung zwischen 172, 1862, 1888, 2018 und F1678 hindeuten mag, können beide Zeugengruppen die Lesart auch unabhängig voneinander bezeugen. Es handelt sich dabei um eine Mischlesart, aus dem Wortlaut σου τῆς ἐπιθυμίας τῆς ψυχῆς (01, 02, 04) und dem Zeugnis der Handschriftenmehrheit τῆς ἐπιθυμίας τῆς ψυχῆς σου.469 Da 172, 1862, 1888, 2018 und F1678 je für sich mit 01, 02, 04 sowie der relativen Mehrheit in Verbindung stehen, muss eine direkte Beziehung zur Bezeugung der Mischlesart nicht zwingend vorausgesetzt werden. Dasselbe gilt für die Variante ὁ πρῶτος statt εἷς ἐκ in Apk 21,9. In vielen Handschriften – zu denen auch einige nähere Verwandte von 172, 1862, 1888, 2018 bzw. F1678 gehören – fehlt die Präposition ἐκ, womit die Formulierung εἷς τῶν ἑπτὰ ἀγγέλων insgesamt unvollständig wirkt. Die Substitution von εἷς durch ὁ πρῶτος kann als wiederum auf eine naheliegende separate Korrektur in beiden Zeugengruppen zurückgehen. Ungeachtet der Frage, ob man der hier vorgebrachten Argumentation zur unabhängigen Bezeugung der Varianten in allen drei Fällen zustimmt, besteht zwischen F172 bzw. deren Teilsträngen und F1678 allenfalls eine schwache Verbindung. Dies bestätigen nicht zuletzt die Auswertungsdaten in TuT-Apk, da weder in den Vergleichslisten zu F172 noch zu F1678 die jeweils anderen Handschriften als nächste Verwandte auftauchen.470 Folglich teilen beide Familien nur eine sehr schmale Textbasis, die je auf ihre textgeschichtliche Einordnung keine maßgebliche Auswirkung hat. Damit kann das Textzeugnis von F172 folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Familie lässt sich auch gemäß quantitativer Analyse sicher vom Rest der Überlieferung abgrenzen, womit ihre Existenz in Übereinstimmung mit der bisherigen Forschung als gesichert angesehen werden darf. Ferner teilt sich F172 erkennbar in zwei Teilstränge: 172-1862-1888-2018 und 250-424-616-2084. Dabei enthalten einige Mitglieder (250, 424, 1862, 1888, 2018, 2032) je in Rahmenform den Andreas-Kommentar in einer spezifisch gekürzten Fassung, der dem Apk-Text vermutlich später als Verständnisleitfaden beigegeben wurde. Da diese Kommentarfassung ausschließlich in den Mitgliedern der Familie 172 vorkommt, untermauert sie die Gruppierung der Handschriften. Der Zeuge 1828
die dazwischen liegenden Reproduktionszyklen ist ohne Weiteres denkbar, dass sich die anfängliche Marginalkorrektur zur Textlesart entwickelte. 469 Vgl. dazu TuT-Apk, 186–187. 470 Vgl. TuT-Apk, 524–579 passim. Demnach belaufen sich die Übereinstimmungswerte zwischen den Mitgliedern F172 und F1678 auf höchstens 45 %.
Die Minuskeln steht zwar in enger Beziehung zu F172, kann der Familie aber aufgrund eines stark abgewandelten Textzeugnisses nicht mehr eindeutig zugeordnet werden. Im Gegensatz zur Complutense-Gruppe, Arethas-Familie oder dem Cluster 104 ergibt sich das Zeugnis von F172 nicht ausschließlich aus einem Mischtext der Andreas- und Koine-Tradition. Stattdessen haben die Angehörigen der F172 daneben eine kleine Schicht alter Lesarten bewahrt. Obgleich sie im Hinblick auf die Textqualität damit trotzdem nicht zu den wertvolleren Zeugen für die Apk gehören, hat diese Variantenschicht gravierende Auswirkungen auf ihre textgeschichtliche Einordnung. Demzufolge hat sich die F172 im Überlieferungsstrom zur Andreas- und Koine-Tradition an einem frühen Knotenpunkt abgespalten und infolgedessen noch einige ältere Lesarten erhalten. Für die Darstellung der Apk-Überlieferung hat diese Beobachtung wegweisende Bedeutung, weil sie die schrittweise Entwicklung der jüngeren Texttraditionen dokumentiert. Des Weiteren weist der Teilstrang 250-424-616-2084 vermehrt Lesarten der Arethas-Familie auf, die wahrscheinlich im Kontext einer umfänglichen paratextlichen Ausgestaltung des gekürzten Andreas-Kommentars eingedrungen sind. Die von Schmid beobachtete engere Verbindung zu F1678 ließ sich hingegen nicht bestätigen. Von den zuletzt besprochenen Zeugengruppen hat F172 damit textgeschichtlich die größte Bedeutung, weil ihre Abspaltung der endgültigen Ausbildung der Koine- und Andreas-Tradition noch vorausgeht.
. Weitere Zeugen Im folgenden Abschnitt sollen nicht sämtliche verbliebene Handschriften der Apk besprochen werden, sondern nur solche, deren Textzeugnis sich in TuTApk oder durch angrenzende Studien als auffällig erwiesen hat. .. Abschriften von Druckausgaben In einigen Handschriften entpuppt sich die Apk als Kopie nach einer gedruckten Vorlage, und zwar wurden vornehmlich frühneuzeitliche Editionen in der Drucktradition des Erasmus oder der Complutensischen Polyglotte handschriftlich reproduziert.471 Durch Studien von Lembke und Müller haben sich insge 471 Bei mehreren Apk-Handschriften stand der Verdacht, dass sie auf Abschrift einer Druckvorlage basieren, schon länger im Raum: Siehe Schmid, Studien II, 34, 39 mit Anm. 2; Schmid, Studien Ia, 92; Heide, Bibeltext, 293–296. Hoskier (Hoskier, Text I, 474) vertrat dagegen die eigenwillige Auffassung, dass Erasmus zur Textherstellung seiner Erstausgabe die Handschrift 2049 als Vorlage für den in 2814 fehlenden Abschnitt Apk 22,16–21 benutzt habe. Bekanntlich
Weitere Zeugen
samt 13 Abschriften der Apk als Reproduktionen eines frühneuzeitlichen Drucks aus dem 16. Jahrhundert oder später erwiesen.472 In manchen Fällen kopierte man nicht die gesamte Apk nach einer Druckedition, sondern nur Teilstücke. Dies gilt für 1903 bis Apk 5,11; für 2656 bis 2,12; für 2669 ab 22,11 und für 2926 bis 3,11. Diesbezüglich sei erwähnt, dass es sich jeweils um die ursprüngliche Buchproduktion handelt, bei der bis zu einem oder ab einem bestimmten Punkt eine Druckausgabe als Vorlage für die Niederschrift benutzt wurde, und nicht um supplementierte Einzelseiten.473 Während in 1903, 2669 und 2926 ansonsten wohl eine konventionelle griechische Handschrift als Vorlage fungierte, tauschte man bei der Produktion von 2656 eine gedruckte Vorlage gegen eine andere ein.474 Die nachstehende Tabelle führt die betreffenden Handschriften auf und nennt in der letzten Spalte die Druckedition, die gemäß den vorgenannten Untersuchungen wahrscheinlich als Vorlage für die Kopie der Apk benutzt wurde: Tab. 27: Handschriftliche Kopien frühneuzeitlicher Drucke GA
Shelf-ID; Datierung
Benutzte Edition als Vorlage
Paris, BNF, Gr. & ; . Jh.
Colines
Athos, Kutlumusiu, ; . Jh.
vermutl. ein Nachdruck der Complutensis
Athos, Panteleimonos, ; . Jh. ()
Beza –Elzevir
Athos, Panteleimonos, ; . Jh.
Beza –Elzevir
Athos, Xeropotamu, ; . Jh. ()
Apk ,–,: Erasmus
Athen, Parlamentsbibliothek, , fol. –
Stephanus
gingen von dem Codex Augsburg, Universitätsbibliothek, I.1.4° 1 (GA 2814; 12. Jh.) die letzten Blätter mit dem Schluss der Apk verloren. Wie Erasmus mehrfach selbst zur Verteidigung seiner Edition dargelegt hat, hat er den betreffenden Abschnitt durch Rückübersetzung aus der lateinischen Version wieder hergestellt und nicht durch Verwendung einer anderen griechischen Handschrift. Zur Widerlegung der These Hoskiers siehe Heide, Bibeltext, 105–109; Karrer, „Codex Reuchlin“, 121–123. Dagegen konnte der Anfangsverdacht mit Blick auf 2075 (Athos, Iviron, 370; 14. Jh.) nicht bestätigt werden. Für potenziell verdächtig hielt die Handschrift R. Borger, NA26 und die neutestamentliche Textkritik, ThR 52 (1987), 1–58, hier 39. Zur Anfertigung der supplementierten Blätter in diesem Arethas-Kommentar ist nach eingehender Prüfung keine Druckedition für den Apk-Text als Vorlage benutzt worden; siehe Müller, Abschriften, 182–186. 472 Siehe Lembke, Apokalypsetext, 88–91; Müller, Abschriften, 245. 473 Im Fall von 2926 bildet die gesamte Apk ein Supplement in dem Codex Jerusalem, Orthodoxes Patriachat, Saba 676 (GA 1894; 12. Jh.), für dessen Herstellung man zunächst eine gedruckte und anschließend eine handschriftliche Vorlage verwendete. 474 Dazu Müller, Abschriften, 190; Lembke, Apokalypsetext, 89.
Die Minuskeln
GA
Shelf-ID; Datierung
Benutzte Edition als Vorlage
; . Jh. Vatikan, BAV, Ottob. gr. ; . Jh. ()
Erasmus od. Stephanus nebst einem Andreas-Kommentar
Athos, Dochiariu, , fol. –; . Jh. ()
Beza –Elzevir
New Haven, CT, Yale University Library, Beinecke MS ; . Jh.
Text: Erasmus Marginallesarten: Erasmus
Athen, Nationalbibliothek, EBE ; . Jh. ()
Apk ,–,: Beza –Elzevir Apk ,–,: vermutl. Nachdruck der Complutensis
Athos, Lavra, Λ , fol. –; . Jh.
Apk ,–: Stephanus (Editio Regia)
Athos, Panteleimonos, , fol. –; . Jh. Erasmus Jerusalem, Orthod. Patriarchat, Saba , fol. –, –; . Jh.
Apk ,–,: Erasmus
Für die Konstitution des Ausgangstextes und der Darstellung der Überlieferungsgeschichte der Apk haben die aufgeführten Handschriften selbstverständlich keinerlei Bedeutung und sind dementsprechend vom konventionellen Handschriftenbestand zu separieren. Welche Absichten oder Interessen die Anfertigung einer Abschrift der Apk nach einer gedruckten Edition vorantrieben, dürfte von Buchprojekt zu Buchprojekt unterschiedlich gewesen sein. Sicher ist die Annahme nicht falsch, dass der im lateinischen Westen gedruckte griechische Text des Neuen Testaments auch in östlichen Kirchengebieten eine gewisse Neugier weckte. Um den neuen Text zugänglich zu machen, reproduzierte man ihn offenbar in gewohnter Manier per handschriftlicher Kopie. Dabei legte man den seit der Mitte des 17. Jahrhunderts so bezeichneten Textus Receptus sogar umfangreiche Kommentierungen zugrunde, wie die Handschrift 1776 und 2072 beweisen. Beide Athos-Codices aus dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts umfassen mit der Apk eine riesenhafte Auslegung des Kommentators Johannis Lindius.475 Überhaupt fällt auf, dass man auf dem Athos offenbar 475 Siehe dazu A. Argyriu, Les exégèses grecques de l’Apocalypse à l’époque turque, 14531821. Esquisse d’une histoire des courants idéologiques au sein du peuple grec asservi, Epistēmonikai pragmateiai Seira philologikē kai theologikē 15, Thessalonikē 1982, 457–458. Derselbe Kommentar findet sich augenscheinlich auch in 1777, wurde dort aber nur bis zur Hälfte kopiert. Die Abschrift endet abrupt nach Apk 10,11 und einem kurzen Stück nachstehendem Kommentar auf der Mitte der Folgeseite.
Weitere Zeugen
keine Scheu hatte, den westlichen Editionstext als Vorlage zur Produktion von Apk-Handschriften zu verwenden. Denn von 13 Druckabschriften befinden sich allein sieben auf dem Athos (1064, 1776, 1777, 1903, 2072, 2669, 2909). Sicherlich sollte die Bedeutung des Befunds nicht überstrapaziert werden, doch dürfte darin eine grundsätzliche Offenheit für den im Westen hergestellten Drucktext des Neuen Testaments bzw. der Apk zum Vorschein kommen. Der ansehnliche und mit markanten Schmuckornamenten für die Initialtitel aller Schriften ausgestattete Doppelcodex Paris, Bibl. Nat., grec. 123/124 (GA 296) verdankt seine Existenz wohl bibliophilen Vorlieben. Die Buchproduktion geht auf den berühmten Kopisten Ἄγγελος Βεργίκιος (Angelus Vergecius)476 zurück und befand sich zeitweise in dem Besitz von Jean-Baptiste Colbert.477 Aus einem ähnlichen bibliophilen Interesse entstand wohl die Handschrift 2066, in welcher der Text des Erasmus mit dem Andreas-Kommentar zusammensteht. An einigen Stellen wurden bei der Zusammenfügung Lesarten der gedruckten Vorlage wahrscheinlich durch solche aus der handgeschriebenen Vorlage des Andreas-Kommentars ersetzt.478 Die Buchproduktion wurde von dem Kopisten Ἰωάννης Εὐριπιώτης im November des Jahres 1574 auf Chios fertiggestellt, der sich selbst in einem Kolophon nennt (fol. 123r),479 und befand sich zunächst im Besitz von Guglielmo Sirleto und gehörte anschließend dem Grafen Giovanni Angelo d’Altemps.480 Für die Anfertigung von 2619 benutzte man mit der Erstausgabe des Erasmus nicht nur einen Druck als Vorlage für die Niederschrift des Apk-Textes, sondern wahrscheinlich unter Benutzung seiner dritten Auflage von 1522 wurden auch diverse weitere Marginallesarten auf den Rand geschrieben.481 Hierin dürfte sich ein gewisses textkritisches bzw. editionsgeschichtliches Interesse Ausdruck verleihen. Letzteres trifft auch auf diverse Marginallesarten in der
476 Zu dem Kopisten Ἄγγελος Βεργίκιος und seinen Werken in der Pariser Nationalbibliothek siehe Gamillscheg/Harlfinger, Repertorium II/A, 25–27. 477 Siehe Omont, Inventaire, 15. 478 Dazu Müller, Abschriften, 216–219. Nicht sämtliche Änderungen gegenüber dem Text des Erasmus in 2066 müssen notwendigerweise auf eine handschriftliche Vorlage zurückgehen. So können etwa Ergänzungen und Omissionen von Artikeln allein auf das Konto des Schreibers gehen. 479 Die Datierung in dem Kolophon wird bemerkenswerterweise in westlicher Jahreszählung angegeben (͵αφοδ = 1574). 480 Siehe S. Lucà, La silloge manoscritta greca di Guglielmo Sirleto: un primo saggio di ricostruzione, in: Miscellanea bibliothecae apostolicae vaticanae, 19, Città del Vaticano 2012, 317–355, 345. 481 Dazu ausführlich Müller, Abschriften, 224.
Die Minuskeln Handschrift 61 zur Apk zu. Die zusätzlichen Lesarten auf dem Seitenrand treten vorrangig bis einschließlich Apk 5 auf und wurden allem Anschein nach unter Verwendung von Erasmus’ Erstauflage beigefügt.482 Die gezielte Untersuchung der Apk-Handschriften im Hinblick auf ihre Abhängigkeit von gedruckten Ausgaben führt zu einer weiteren nicht minder erstaunlichen Erkenntnis: Von den insgesamt ca. 60 Handschriften, die laut KGFL II ins 16. Jh. oder später datiert sind,483 wurden lediglich 13 Reproduktionen der Apk ganz oder teilweise nach einer Druckvorlage hergestellt. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass der weitaus größere Teil dieses vergleichsweise späten Handschriftenmaterials zur originären Überlieferungsgeschichte gehört oder anders gesagt unter Benutzung konventioneller Handschriften als Vorlagen angefertigt wurde. Demnach sind Druckabschriften im Handschriftenbestand der Apk ein seltenes Phänomen. Trotz der Erfindung des Buchdrucks und der zunehmenden Verbreitung von Literatur in gedruckter Form setzte sich die handschriftliche Buchproduktion der Apk in der griechischen Überlieferung unter Einsatz handgeschriebener Vorlagen als dominante Erscheinungsform noch bis in späte 17. Jahrhundert fort.
.. Philocalia-Fragment und vernakular-griechische Handschriften In der KGFL II stehen weitere Apk-Handschriften, die analog zu den vorgenannten Druckabschriften vom herkömmlichen Handschriftenmaterial zu trennen sind. Wie Marcus Sigismund durch zwei Spezialstudien nachzuweisen vermochte,484 gehören hierzu:
482 Dazu D. Müller/P. Malik, Rediscovering Paratexts in the Manuscripts of Revelation, Early Christianity 11 (2020), 247–264, hier 258–262. 483 Vgl. die Aufstellung in Müller, Abschriften, 166. 484 M. Sigismund, Das sog. Apk-Fragment GA 2408, in: M. Sigismund/M. Karrer/U. Schmid (Hgg.), Studien zum Text der Apokalypse, ANTF 47, Berlin/Boston 2015, 135–146; M. Sigismund, Neue Freunde. Annäherung an die „Early Modern Greek“ Apk-Hss. der Kurzgefassten Liste, in: M. Sigismund/M. Karrer/U. Schmid (Hgg.), Studien zum Text der Apocalypse, ANTF 47, Berlin/Boston 2015, 397–407.
Weitere Zeugen
Tab. 28: Sonderzeugen in der ‚Kurzgefassten Liste‘ GA
Shelf-ID
Kurzhinweis
Oxford, Bodleian Lib., Ms. Barocci , fol. 485
Philocalia-Fragment
Athen, Ethnikê Bibl. tês Hellados, (Diktyon )486
Apk-Text in vernakular-griechischer Fassung
Chicago, IL, University of Chicago Lib., Ms. Apk-Text in vernakular-griechischer Fassung; (Goodspeed; Diktyon )487 Elizabeth Day McCormick Apocalypse Athen, Nationalhist. Museum, , fol. – 488
Apk-Text in vernakular-griechischer Fassung
Demnach stellt 2408 kein Fragment einer Apk-Handschrift dar, sondern bietet einen kurzen Auszug aus der Philocalia-Überlieferung des Origenes mit dazugehörigem Apk-Zitat. Der Zeuge gehört also in den Bereich der Patristik, bleibt aber über diesen Umweg ein wichtiges traditionshistorisches Dokument der ApkTransmission. Hierfür spricht nicht zuletzt, dass 2408 nach der Kollation von Sigismund ein von jüngeren Einflüssen weitgehend unberührtes Zeugnis der Philocalia-Tradition mit hoher Textqualität bewahrt hat. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf das Fehlen von sog. Epiphanius-Varianten hinzuweisen.489 Schließlich enthalten 2114, 2402490 und 2449 den Apk-Text in einer frühen vernakular-griechischen Übersetzung und nicht mehr in altgriechischer Originalform.491 In allen drei Handschriften ist der Apk-Text außerdem mit einem 485 Farbaufnahmen unter: https://digital.bodleian.ox.ac.uk/objects/f14a04bf-7553-4a31-9a8b9cfd143cffcd/surfaces/1ced65e6-964e-4817-8e15-d166c721af3e/, zuletzt abgerufen 24.03.2023. 486 Farbaufnahmen unter: https://manuscripts.csntm.org/manuscript/View/GA_2114, zuletzt abgerufen 24.03.2023. 487 Farbaufnahmen unter: https://goodspeed.lib.uchicago.edu/ms/index.php?doc=0931, zuletzt abgerufen 24.03.2023. 488 Farbaufnahmen unter: https://manuscripts.csntm.org/manuscript/View/GA_2449, zuletzt abgerufen 24.03.2023. 489 Siehe zur textkritischen Einschätzung Sigismund, Das sog. Apk-Fragment GA 2408, 143. 490 Zur Bedeutung der sog. Elizabeth Day McCormick Apocalypse siehe E. J. Goodspeed/H. R. Willoughby/E. C. Colwell, The Elizabeth Day McCormick Apocalypse, JBL 52 (1932), 81–107; H. R. Willoughby, A unique miniatured Greek Apocalypse, Byzantion 14 (1939), 153–178; H. R. Willoughby/E. C. Colwell, The Elizabeth Day McCormick Apocalypse, Chicago/IL 1940. 491 In die Reihe der oben genannten Handschriften gehört wohl auch der Codex Tirnavos (Thessalien), Stadtbibliothek, cod. 40. Zur Beschreibung siehe Z. Melissakis, Catalogue of Manuscripts of the Tyrnavos Municipal Library, National Hellenic Foundation/Institute for Byzantine Research, Sources 8, Athen 2007, 233–239. Laut Einschätzung von Argyriou verdient
Die Minuskeln Kommentar verbunden, der vermutlich von Maximos Peloponnesios verfasst wurde.492 Schmid und Willoughby/Colwell kommen übereinstimmend zu dem Urteil, dass die vernakular-griechische Version in den drei Handschriften texthistorisch auf der Andreas-Tradition fußt.493 Wenngleich solche Zuordnungen aus textgeschichtlicher Perspektive mit Vorsicht zu betrachten sind, können die Handschriften im traditionshistorischen Sinne als versionelle Zeugen für die Apk nach der Einschätzung von Sigismund durchaus „hilfreich bei der Bestimmung der textlichen Entwicklung sein“.494 Gleichwohl besteht zwischen diesen Handschriften und den Zeugen für die originäre Überlieferung ein erheblicher gradueller Unterschied, sodass sie keinesfalls auf einer Stufe mit letzteren stehen. Mit Schmid ist in Rechnung zu stellen, dass die von ihnen bezeugte vernakular-griechische Fassung vermutlich auf einem stark kontaminierten Unterzweig der Andreas-Tradition beruht und damit überlieferungsgeschichtlich entsprechend schwer einzuordnen ist. Ferner wäre zunächst die Binnenentwicklung der durch 2114, 2402 und 2449 gebotenen Version aufzuklären, da sie gemäß einer synoptischen Gegenüberstellung von Sigismund mitunter stark divergierende Wortlaute bieten.495 Demnach sind 2402 und 2114 enger verwandt, während 2449 häufig einen anderslautenden Text tradiert. .. Einzelzeugen und Paare ... Scholia in Apocalypsin – 2351 In dem Codex Meteora, Metamorphosis, 573, fol. 245v–290 (10. Jh.), finden sich einige Scholia zur Apk, deren Herkunft und Verfasserschaft der Forschung einige Rätsel aufgeben. Im Fokus des hiesigen Interesses steht ohnedies das Textzeugnis der Handschrift.
die Handschrift zur Erschließung der vernakular-griechischen Version der Apk durchaus Beachtung, bietet aber letztlich einen „texte défectueux“; Argyriu, exégèses grecques, 132. 492 Zur problematischen Identifikation des Autors siehe Sigismund, Neue Freunde, 401. 493 Siehe Willoughby/Colwell, McCormick Apocalypse, vol. II, 57–59, 106–121; Schmid, Studien Ia, 98. Die Hinweise zur möglichen Textgrundlage der Übersetzung erwecken auf den ersten Blick den Eindruck, dass verschiedene traditionshistorische Bezüge angegeben werden. Willoughby/Colwell geben unter Benutzung von Hoskier an, dass der Text der F2067 nahestehe, während Schmid seine Untergruppe d der Andreas-Überlieferung als mutmaßliche Grundlage angibt. De facto kommen beide Untersuchungen zu demselben Ergebnis, weil F2067 ein Teil von Schmids Untergruppe d bildet; vgl. Schmid, Studien II, 26. 494 Sigismund, Neue Freunde, 402. 495 Vgl. Sigismund, Neue Freunde, 403–405.
Weitere Zeugen
Tab. 29: Lesarten-Anteile 2351 HS
LA-mS LA-mS LA-mS LA-mS SoLA ,%
,%
,%
,% ,%
Die Handschrift 2351 enthält begleitend zur Apokalypse 39 Scholien aus der Hand eines unbekannten Kompilators.496 Die Produktion ist so gestaltet, dass sich Apk-Text und Scholien stetig abwechseln,497 wobei Inhalt und Aufbau der Ausführungen kein ordnendes Prinzip erkennen lassen. Es entsteht der Eindruck einer mehr oder minder eklektischen Kompilation von Sentenzen zur Apk ohne argumentativen Zusammenhang im engeren Sinne.498 In einigen Beitexten des Codex findet zudem ein Mönch namens Cassian Erwähnung (z.B. fol 1r; 118v). Ob es sich bei diesen Notizen um Besitzvermerke handelt, die den Eigentümer des Codex nennen, oder sie auch als Autorenangaben im literarischen Sinne verstanden werden können, ist eine bislang ungelöste und höchst umstrittene Frage.499 Dies gilt ebenso für den Ursprung der Scholien, der in der Forschung kontrovers diskutiert wird. Während Harnack meinte, die Scholien seien Reste des verlorenen Apk-Kommentars des Origenes,500 wurde diese Ansicht in der weiteren Diskussion zunehmend bestritten, zumal sich einige Stücke dem Œuvre von Irenaeus oder Clemens Alexandrinus zuweisen lassen.501 496 Edition der Scholien: Diobouniotis/Harnack, Scholien-Kommentar; Tzamalikos, Commentary. Edmund Gerke legte eine deutsche Übersetzung der Scholien vor: Gerke/Müller, Übersetzung. Eine Übersicht zur Verteilung der Scholien auf den Apk-Text findet sich a. a. O. 487–488. 497 Zum Aufbau des Codex siehe die Übersicht in: Allen, Reception, hier 145; und mit einigen Korrekturen Gerke/Müller, Übersetzung, 478. In einem Ornament über dem ersten Werk ist die Aufschrift Κασσιανου μοναχου βιβλιον zu sehen, die von späterer Hand ergänzt in leicht abgewandeltem Wortlaut Κασσιανοῦ βιβλίον ebenfalls auf dem Buchvorsatz erscheint. Schließlich wird diese Information nochmals auf Folio 290r wiederholt, wo es am oberen Seitenrand abermals von späterer Hand nachgetragen Κασσιανου Ρωμαιου μο(ναχ)ου βιβλιον heißt. Zitationen nach Abbildungen in: Tzamalikos, The Real Cassian Revisited: Monastic, 532.548 (schwankende Akzentsetzung folgt den Abbildungen). 498 Siehe dazu Allen, Reception, 160. 499 Laut Tzamalikos ist der in Metamorphosis 573 erwähnte Cassian ein bislang unbekannter griechischer Kirchenvater und als Autor diverser Texte des Codex anzusehen: Tzamalikos, A Newly Discovered Greek Father, 78–151. 500 Siehe Diobouniotis/Harnack, Scholien-Kommentar, 45. 501 Anderslautende Urteile sind: Stählin, Scholion-Kommentar; Wohlenberg, ScholienKommentar; Boysson, commentaire d’ Origéne. Stählin und Boysson zogen die alleinige Urheberschaft des Origenes in Zweifel und brachten stattdessen Clemens Alexandrinus als weiteren potenziellen Autor ins Spiel, da zumindest das Scholion V ein nahezu wörtliches Zitat aus den
Die Minuskeln Schließlich hat Tzamalikos den in den Beitexten erwähnten Cassian als möglichen Autor der Scholien in die Diskussion eingeführt. Demnach sei Cassian ein bislang unbekannter griechischer Kirchenvater, der der origenistischen Denkschule nahestehe.502 Nachdem Tzamalikos seine Autorenhypothese über die Scholien publiziert hatte, nahm die Debatte wieder an Fahrt auf und ist bislang zu keinem abschließenden Ergebnis gelangt.503 Womöglich wird sich auch nie eine endgültige Antwort auf die Frage finden, da es sich einerseits um eine Kompilation aus Stücken der patristischen Literatur und andererseits um kurze Aphorismen handelt, die ebenso gut auf einen unbekannten Autor wie den erwähnten Cassian zurückgehen können.504 Solange keine weiteren Beweisgründe aus dritten Quellen beigebracht werden können, lässt sich das Rätsel über die literarische Herkunft der Scholien nur begrenzt aufklären. Ungeachtet dessen gehen die erste Kopie der Apk vollständig, die zweite wenigstens anfänglich sowie die übrigen Schriften des Codex auf die Arbeit des bereits erwähnten Kopisten Theodosios zurück (siehe Teil I: 2.2.2).505
Stromata darstelle. Wohlenberger verzichtete grundsätzliche auf eine affirmative Zuschreibung der Scholien in das Œuvre eines bestimmten Autors, sondern vertrat die Meinung, dass sich für die Texte überhaupt kein Urheber im engeren Sinne finden lasse, da sie eine Sammlung ganz verschiedener Auslegungen bzw. Anmerkungen zur Apk verkörpern. Schließlich erweiterte Junod die Auswahl der möglichen Verfasser um den Autor Didymus der Blinden, der laut den Textfunden von Tura ebenfalls beabsichtigt habe, einen Apk-Kommentar zu verfassen; Junod, scolies. 502 Tzamalikos, Commentary, 9. Einen belastbaren Beweis für seine Behauptung bringt Tzamalikos leider nicht vor, weshalb seine Ansicht recht kritisch aufgenommen wurde; siehe G. V. Allen, Review of An Ancient Commentary on the Book of Revelation: A Critical Edition of the Scholia in Apocalypsin by P. Tzamalikos, http://www.thetwocities.com/book-reviews/review-ofan-ancient-commentary-on-the-book-of-revelation-a-critical-edition-of-the-scholia-in-apocalypsinby-p-tzamalikos/, zuletzt abgerufen 24.03.2023; Allen, Reception, 143 mit Anm. 6. 503 Allen, Reception, 142–143. 504 So Gerke/Müller, Übersetzung, 487. 505 Die Handschrift 2351 weist mehrere paläografische Besonderheiten auf: Zum einen wurde der Apk-Text auf den ersten Seiten im Gegensatz zu den Scholien in Auszeichnungsminuskel geschrieben. Da die Buchstabenformung der Minuskelschrift, in der die Scholien kopiert wurden, identisch zu derjenigen in 2329 ausfällt, dürfte Theodosios zunächst auch die Abschrift 2351 angefertigt haben. Um den Apk-Text innerhalb der umstehenden Scholien besser ausmachen zu können, hat er zwei alternative Schreibstile benutzt. Ab Folio 248r wird das Schriftbild sehr unregelmäßig; es ist daher anzunehmen, dass Theodosios die Kopie entweder in großer Eile weitergeführt oder der Schreiber gewechselt hat. Beides ist möglich, da sich die Unregelmäßigkeiten auf fol. 260r, 264r, 269r und 278r fortsetzen. Zur weiteren kodikologischen Beschreibung der Handschrift siehe E. van Elverdinghe, Description ParaTexBib (GA 2351), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=41983, zuletzt abgerufen am 24.03.2023.
Weitere Zeugen
Was die Textqualität von 2351 angeht, kann die Handschrift nach TuT-Apk nicht mehr zu den wertvollen Zeugen für die Apk gezählt werden.506 Schon Schmid urteilte über das Zeugnis von 2351, dass es „von geringem Wert“ sei.507 Wieso sich die Handschrift dennoch unter den ständigen Zeugen für die Apk in NA28 befindet, erscheint darum umso fraglicher. An einzelnen Stellen hat 2351 zwar alte Lesarten zusammen mit 01, 02 und 04 bewahrt, die somit weit in die Frühphase der Transmission zurückreichen, doch fällt diese Variantenschicht verhältnismäßig schmal aus. Tatsächlich bekundet 2351 lediglich einen Anteil von 24,6 % an LA-2mS,508 der zum Vergleich deutlich unter demjenigen der Angehörigen von F172 (siehe Teil II: 4.5.3) liegt. Demgegenüber beläuft sich die Rate an LA-3mS auf 67,6 %.509 Wie ein Blick in die Gruppenliste verrät, hat 2351 keine echten nahen Verwandten. Die höchsten Übereinstimmungsquoten von 73 % bis 74 % weist 2351 zu Angehörigen der Koine-Gruppe auf, und zwar 632 (74 %), 046 (73 %), 110 (73 %), 506 (73 %). Wenngleich die Problematiken bei der Untergruppenbildung thematisiert wurden (siehe Teil II: 4.2.2), gehören die vier vorgenannten Koine-Handschriften auch laut Schmid keinem spezifischen Unterstrang der Koine-Tradition an. Aus der quantitativen Auswertung von 2351 lässt sich also keine Relation zu bestimmten Koine-Handschriften ersehen, die auf eine textspezifisch engere Verbindung hindeuten würde. Folglich ist 2351 als ein der Koine-Gruppe nahestehender Individualzeuge mit einem geringen Anteil an alten Lesarten zu klassifizieren. Der Wert der Handschrift liegt damit ganz auf dem Gebiet der Textgeschichte, indem sie augenscheinlich einen älteren Textzustand mit deutlicher Entwicklungstendenz zur Koine-Tradition erhalten hat. ... Das sog. Sonderpaar 792 und 2643 792: Athen, Ethnikê Bibl. tês Hellados, 107 (13. Jh.)510 2643: Riverside, CA, University of California Riverside, UCR MS 4 (13. Jh.; 1289)511
506 Siehe dazu auch das Urteil bei Müller, Apokalypse-Handschriften, 388. 507 Schmid, Studien II, 25. 508 Vgl. TuT-Apk, 433. 509 Vgl. TuT-Apk, 433. 510 Zur Beschreibung der Handschrift siehe E. van Elverdinghe, Description ParaTexBib Athen, EBE, 107 (GA 2351), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=2403, zuletzt abgerufen 24.03.2023. 511 Zur Beschreibung der Handschrift siehe E. van Elverdinghe, Description ParaTexBib Riverside (CA), University of California, MS 04 (GA 2643), https://www.manuscriptabiblica.org/manuscript/?diktyon=55891, zuletzt abgerufen 24.03.2023.
Die Minuskeln Tab. 30: Lesarten-Anteile 792 und 2643512 HS
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Die beiden Handschriften sind eng miteinander verwandt, was sich sogar in der Buchproduktion spiegelt. Noch vor dem Öffnen der Codices fallen ihre geringen Abmessungen auf. Weil sie in der Breite weniger als ca. 7 cm messen, können 792 und 2643 gemäß der geläufigen Kategorisierung von Turner als „Miniaturbücher“ betrachtet werden.513 Zudem enthalten sie jeweils die vier kanonischen Evangelien des Neuen Testaments mit der Apk, wobei in 792 noch einige Septuaginta-Exzerpte aus den Prophetenbüchern, der Genesis und den Weisheitsschriften angeschlossen sind. Die Septuaginta-Auszüge bilden in diesem Fall keine Beitexte im buchgeschichtlichen Sinne, sondern sie sind weitere Haupttexte und markieren den größeren schrifttheologischen Bezugsrahmen der Buchproduktion und ihrer anschließenden Rezeption. Da sich darunter Abschnitte wie Jes 1,1–20; Dan 7,1–28 und Hiob 42,12ff. befinden, entsteht der Eindruck einer bewussten bußtheologisch-soteriologischen Sammlung mit klarer christologischer Ausrichtung auf die Evangelien und die Apk. Es liegt eine offensichtlich theologisch ausgerichtete Sammlung biblischer Schriften vor, in der das Wirken Christi in den Schriftexzerpten programmatisch fundiert, in den Evangelien irdisch entfaltet und in der Apk soteriologisch zum Abschluss gebracht wird. Ob die Septuaginta-Auszüge in 2643 bereits produktionsseitig weggelassen worden oder erst im Nachhinein verloren gegangen sind, ist schwer zu ermessen. Die gesamte Produktion der Handschriften lässt jedenfalls die Wünsche von begüterten Privatpersonen erkennen, die hier zwei besondere kleinformatige Codices in Auftrag gaben. Mit Blick auf den Apk-Text stimmen 792 und 2643 zu 90 % überein und teilen diverse Sonderlesarten.514 Während Schmid über das genaue Verhältnis der
512 Daten entnommen aus TuT-Apk, 433. 513 Laut KGFL hat 792 eine Breite von 7 cm und 2643 sogar nur von 6,7 cm; vgl. Aland, et al., Kurzgefaßte Liste II, 93, 201. Zur allgemein anerkannten Definition von Miniaturbüchern siehe Turner, Typology, 22. Demnach gilt als ein Miniaturbuch ein Codex, der in der Breite weniger als 10 cm misst. 514 Vgl. TuT-Apk, 640, 711.
Weitere Zeugen
beiden Handschriften noch unsicher war,515 hält Jeff Cate sie für „Schwestern“, also Handschriften, die nach derselben Vorlage kopiert wurden.516 Aufgrund zahlreicher gemeinsamer Fehler und anderer Auffälligkeiten liegt diese Annahme durchaus nahe. Beide Handschriften teilen diverse längere Omissionen oder Umformulierungen: etwa Apk 4,2–3 καὶ ὁ καθήμενος ἐπ᾽ αὐτῷ für καὶ ἐπὶ τὸν θρόνον καθήμενος καὶ ὁ καθήμενος oder 13,3 ὡς οἱ ἐσφραγισμένοι für ὡς ἐσφαγμένην.517 Daneben finden sich aber auch signifikante Abweichungen, die nur in einer der beiden Handschriften auftreten: z.B. in Apk 1,17 ἐπ᾽ ἐμὲ τὴν δεξιὰν αὐτοῦ 792 oder 4,7 τρίτον ζῷον ὅμοιον ἀετῷ πετομένῳ (Text dazwischen ausgelassen) 792. Dazu kommen Lesarten, die nur scheinbar aussagekräftig für das Verhältnis von 792 und 2643 sind: In Apk 5,13–14 lesen beide Handschriften τοὺς αἰῶνας ἀμήν anstelle des üblichen Textes τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων καὶ τὰ τέσσαρα ζῷα ἔλεγον ἀμήν und treffen dabei zufällig mit 1626*, 2256 und 2843 zusammen. Diese Stelle belegt, dass selbst umfängliche Auslassung oder Umformulierungen nicht uneingeschränkt als Bindefehler zum Erweis einer Beziehung zweier Zeugen herhalten können. Es ist stets die Möglichkeit in Rechnung zu stellen, dass derartige Übereinstimmungen wie im letztgenannten Beispiel auf einem Zufall beruhen können, weil Schreiber/Schreiberinnen denselben Fehler unabhängig voneinander wiederholt haben. Für Cates Theorie spricht indes, dass 792 und 2643 allem Anschein nach in demselben Skriptorium oder gar von derselben Hand angefertigt worden sind.518 Als Erklärung für die Unterschiede zwischen den Handschriften wäre in diesem Fall anzunehmen, dass dem Kopisten bei der Reproduktion jeweils auch unterschiedliche Fehler unterlaufen sind. Da dies ohne weiteres denkbar ist, müssen die Differenzen im Apk-Text zwischen 792 und 2643 nicht zwangsläufig Cates Ansicht widersprechen. Für die Bewertung der beiden Handschriften im Sinne von TuT-Apk spielte diese Frage letztlich nur eine untergeordnete Rolle. Denn nach TuT-Apk bilden 792 und 2643 ohnedies ein markantes Sonderpaar, dass der Koine-Gruppe bei einem Anteil an LA-3mS von 58,1 % bzw. 63,9 % am nächsten steht.519 Daneben findet sich eine breite Schicht an Sonderlesarten. 515 Siehe Schmid, Neue griechische Apocalypsehandschriften, 257–258. Schmid erwägt, ob nicht 792 auch die Vorlage von 2643 gewesen sein könnte. 516 J. Cate, Sisters Separated from Birth. An examination of 792 abd 2643 as Private Miniature Manuscripts, in: T. J. Kraus/M. Sommer (Hgg.), Book of Seven Seals. The Peculiarity of Revelation, its Manuscripts, Attestation, and Transmission, WUNT 363, Tübingen 2016, 71–92, 79. 517 Weitere Belege bei Cate, Sisters, 89–91. 518 Siehe Cate, Sisters, 79. Tatsächlich ist das Schriftbild in beiden Handschriften sehr ähnlich und deutet auf dieselbe Produktionsstätte oder ausführende Hand hin. 519 Vgl. TuT-Apk, 433.
Die Minuskeln Diese gehen zum größten Teil auf die gemeinsame Vorlagenkette zurück, aus der die zwei Abschriften hervorgegangen sind. Schließlich fällt eine kleine Zahl an LA-2 auf, die die Zeugen 792 und 2643 entweder zusammen oder je für sich bekunden: TST 10, 30, 40, 45, 83, 95, 110. Dabei ist nicht immer eindeutig zu eruieren, auf welcher Grundlage sie die betreffende Variante bezeugen. Wenngleich sie die Lesart des mutmaßlichen Ausgangstextes bieten, müssen sie diese nicht zwangsläufig nach diesem bewahrt haben. Denn in einigen Fällen liegt die Vermutung nahe, dass sie gewissermaßen durch ein Versehen bei der Kopie wieder hergestellt haben. Beispielsweise verzichtet 792 in Apk 1,18 (TST 10) auf ἀμήν am Versende in Übereinstimmung mit 01*, 02, 04 und diversen weiteren Zeugen, auf denen der gegenwärtige kritische Text in NA28 basiert. Da jedoch 2643 das Schlusswort ἀμήν bietet, fällt das Zeugnis der beiden Handschriften ambivalent aus. Es muss daher offen bleiben, ob 792 gegen die Vorlage das Wort ἀμήν versehentlich omittiert hat und deswegen wieder zufällig mit den ältesten Zeugen zusammentrifft oder ob 2643 es in Übersteinstimmung mit der Mehrheit sekundär hinzugefügt hat. Analog dazu verhält sich die Bezeugung von ἔχον bzw. ἔχων in Apk 4,8. Während 2643 wie die Mehrheit ἔχον liest, heißt es in 792 ἔχων.520 Wiederum besteht die Möglichkeit, dass 792 in Folge eines Schreibfehlers ἔχων bezeugt, zumal die Verwechselung von Omega und Omikron ein gängiger Lautfehler in der Überlieferung ist (siehe Teil III: 3.2.2.1). In Apk 14,13 (TST 83) gehen die beiden Handschriften erneut auseinander, wobei 2643 diesmal mit καὶ τὰ statt τὰ γάρ oder τὰ δέ eine Singulärlesart bietet.521 792 liest mit P47, 01, 02 und 04 τὰ γάρ wie in NA28. An den verbliebenen vier Stellen bezeugen 792 und 2643 je gemeinsam die Variante des kritischen Textes. Da der Gesamtanteil an LA-2mS in beiden Handschriften leidglich bei 21,2 % liegt und die Bezeugung von LA-2 an mehreren Stellen ambivalent ausfällt, spielt diese Variantenschicht für die Bewertung von 792 und 2643 allenfalls eine untergeordnete Rolle. Gleichwohl unterstreicht der geschilderte Befund den eigentümlichen Textzustand, den 792 und 2643 als Sonderpaar erhalten haben. Doch anders als Cate meint, stehen die beiden Handschriften nicht abseits der Überlieferung.522 Zwar bekunden 792 und 2643 eine beachtliche Zahl an 520 Vgl. TuT-Apk, 69. 521 Vgl. TuT-Apk, 155. 522 Cate, Sisters, 91–92, kommt aufgrund der vielen Besonderheiten von 792 und 2643 zu dem Schluss, dass sie abseits der Überlieferung und kirchlichen Tradition stehen: „[…] these two manuscripts represent text that was circulating in private hands apart from the tradition and canon of the church at the time“. Dass 792 und 2643 zwei Handschriften verkörpern, die im privaten Gebrauch zirkulierten, mag zutreffen, doch die weiteren Vorannahmen dieser Urteils-
Weitere Zeugen
Sonderlesarten, doch werden diese entweder auch durch weitere Handschriften bezeugt (etwa om. τῶν αἰώνων in Apk 1,6) oder erklären sich als triviale Fehler ohne echte Überlieferung wie die offensichtlich durch Parablepsis verursachte Omission von ἔχων τὸ πρόσωπον ὡς ἀνθρώπου καὶ τὸ τέταρτον ζῷον (NA28) in Apk 4,7. Da die allermeisten Sonderlesarten der beiden Handschriften so ähnlich geartet sind, lässt sich die These einer abseitigen Texttradition nur schwer aufrechterhalten; sie sind vielmehr das Produkt einer fahrigen Textreproduktion. Letztendlich können 792 und 2643 sicher im Überlieferungsstrom verortet werden, da sie einen der Koine-Tradition nahestehenden Textzustand bekunden. Abgesehen davon dokumentieren nur wenige LA-2 die verbliebenen Spuren einer alten Textgrundlage. Damit haben die beiden Handschriften vor allem textgeschichtlichen Wert im weiteren Sinne für die Genese der Koine-Tradition. ... Das Paar 469 und 2716 469: Paris, Bibl. Nat., grec. 102A (14. Jh.) 2716: Meteora, Monê Hagias Triados, 25 (14. Jh.)
bildung sind kritisch zu hinterfragen. Zunächst wäre zu klären, wie der Kanon der Kirche im 13. Jahrhundert aussah und welche Schriften er umfasste. Ein Blick in die Handschriften führt eine Fülle von Kombinationsmöglichkeiten vor Augen. Demnach konnten verschiedene Schriften bzw. Teile des Neuen Testaments in einer Handschrift physisch verbunden werden: eapr, eap, apr, ap usw. (siehe dazu die Übersichten bei Schmid, Studien II, 39–42; Elliott, Distinctiveness, 121–124). Auch die Kombination von Apk und Evangelien ist keineswegs auf 792 und 2643 beschränkt, sondern ist im 13. Jahrhundert beispielsweise noch durch 2323 dokumentiert. Die Codices enthalten die Schriften des Neuen Testaments also in unterschiedlichen Zusammenstellungen und mit verschiedenen Variationen an Beitexten, ohne dass sich daraus unmittelbare Implikationen über den Kanon der Kirche ableiten ließen. Zum anderen bekunden 792 und 2643 mit Blick auf die Apk auch keinen Textzustand, der abseits der Tradition stehen würde. Es finden sich zwar einige markante Lesarten (z. B. Apk 3,7 ὁ ἀνοίγων καὶ οὐδεὶς κλείσῃ αὐτήν εἰ μὴ ὁ ἀνοίγων ohne abschließendes καὶ οὐδεὶς ἀνοίγει), doch lässt sich eine flächendeckende Überarbeitung des Textes nicht erkennen. So könnte die Umformulierung in 3,7 theologische Gründe haben, um dem Missverständnis vorzubeugen, dass Christus selbst natürlich die von ihm geöffnete Tür wieder zu schließen vermag. Denn der fehlende Nachsatz καὶ οὐδεὶς ἀνοίγει birgt die Gefahr eines Irrtums, dass nämlich Christus das, was er geöffnet oder geschlossen hat, nicht selbst wieder rückgängig machen könne. Da es sich in 3,7 jedoch um einen Einzelfall handelt und die allermeisten Sonderlesarten aus Fehlern im Abschreibprozess herrühren, lässt sich die Tradierung eines mutmaßlich abseitigen Textes durch 792 und 2643 nicht festmachen, zumal Schreibversehen wie eindeutig als Parablepsis erklärbare Omissionen eo ispo keine genalogische Überlieferung haben.
Die Minuskeln Tab. 31: Lesarten-Anteile 469 und 2716523 HS
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Während Schmid 469 noch zur Koine-Gruppe zählte (siehe Teil II: 4.2), zeigen die TuT-Daten, dass 469 und 2716 ein der Koine-Tradition verwandtes Paar bilden. Die beiden Handschriften stimmen zu 95 % im Text überein und lassen sich klar vom Rest der Überlieferung als verwandtes Paar abgrenzen.524 Der Anteil an LA-3mS fällt mit 66 % (469) bzw. 54 % (2716) am größten aus. Obwohl 469 und 2716 nicht in die Koine-Gruppe eingeordnet werden können, stehen dieser Tradition dennoch am nächsten. Von 2716 ging bedauerlicherweise ein Großteil des Apk-Textes verloren; es blieben lediglich 1,1–7,13 und 20,2–21,12 erhalten. Beide Abschriften sind vergleichsweise schlicht gestaltet und weisen keine nennenswerten Beitexte zur Apk auf. Im Fall von 469 bildet die Apk in dem Codex Paris, BNF, Gr. 102A eine spätere Ergänzung zur vorangehenden Buchproduktion mit Apostelgeschichte und Briefen aus dem 13. Jahrhundert.525 Überdies zeichnen sich 469 und 2716 durch einen hohen Anteil an Sonderlesarten aus. 469 bekundet insgesamt 17 Sonderlesarten, wobei nur zwei davon für die Beziehung von 469 und 2716 signifikant sind: Apk 4,3 συντριβήσονται (TST 24); 4,7 τὸ πρόσωπον ἀνθρώπου (TST 27); 6,4 σφάζωσιν (TST 45). Die drei Varianten werden durch 469 und 2716 und nur wenigen weiteren Handschriften bezeugt. Als gemeinsame Sonderlesarten von 469 und 2716 unterstreichen sie dementsprechend die engere Verwandtschaft der zwei Zeugen.526 In Apk 21,3 ist 523 Daten entnommen aus TuT-Apk, 431. 524 Vgl. TuT-Apk, 631, 714. Schmid ist 2716 erst spät bekannt geworden; siehe Schmid, Neue griechische Apocalypsehandschriften, 256–257. Nach einer kurzen Betrachtung des Textes kommt er zu dem Schluss, dass 2716 aufgrund der großen Verwandtschaft entweder eine direkte Kopie oder Schwester von 469 darstellt. Die quantitative Auswertung lässt keine Antwort auf diese Frage zu, weil dazu das gemeinsame Textzeugnis an signifikanten Einzelstellen erheblich detaillierter zu analysieren wäre. TuT-Apk belegt aber, dass 469 und 2716 überaus eng verwandt sind und eine gemeinsame Vorlagenkette teilen. Sie werden daher in der vorliegenden Arbeit als Paar definiert. 525 Siehe die Beschreibung D. Müller, Description ParaTexBib Paris, BNF, Gr. 102A (GA 469), https://www.manuscripta-biblica.org/manuscript/?diktyon=49666, zuletzt abgerufen24.03.2023. 526 Bei Hoskier findet sich eine lange Liste auffälliger Lesarten, durch deren Bezeugung sich 469 vom Großteil der Überlieferung unterscheidet. Vgl. Hoskier, Text I, 173–175. Bedauerlicherweise war 2716 Hoskier noch nicht bekannt, weshalb die Handschrift in der Liste nicht als Zeuge auf-
Weitere Zeugen
nicht mehr mit Sicherheit zu ermitteln, welche der beiden Handschriften die gemeinsame Vorlagenkette korrekt erhalten hat. 2716 liest mit 02 und zwei weiteren Zeugen die Variante μετ᾽ αὐτῶν ἔσται αὐτῶν θεός, wohingegen 469 mit F2053 und 2846 μετ᾽ αὐτῶν ἔσται αὐτῶν ὁ θεός bietet. Der Unterschied zwischen den zwei Varianten ist minimal und beschränkt sich auf den strittigen Artikel vor θεός. Diesen kann 469 ebenso gut ergänzt wie 2716 ausgelassen haben. Als gesichert darf allerdings gelten, dass 469 und 2716 aus einer weit verzweigten Vorlagenkette herrühren, deren Ursprünge mindestens auf 02 zurückreichen. Dass 469 und 2716 auf eine alte und verzweigte Vorlagenkette zurückgehen, belegen noch einige weitere gemeinsam bezeugte Lesarten:527 TST 7 (Apk 1,15): πεπυρωμενω 469 2716 01 F2053 TST 30 (Apk 4,8): εχοντα 469 2716 1611 F1678 2344 2846 TST 35 (Apk 5,6): πνευματα του θεου 469 2716 02 F1006 1611 F1678 AndGpt TST 37 (Apk 5,9): ημας τω θεω 469 2716 C104 F172 TST 42 (Apk 6,1–2): και ιδε και ειδον 469 2716 01 AndGpt TST 109 (Apk 21,4): ο θεος 469 2716 02 F1006 2846 AndGpt
Demnach gehen 469 und 2716 neben 01 und 02 auch wiederholt mit anderen Zeugen wie 1611, 2846, F1006, F1678 und F2053 zusammen, die einen größeren Anteil an alten Lesarten bewahrt haben. Wenngleich nicht sämtliche der vorgenannten Varianten als Ausgangstext in Betracht kommen, dokumentiert die Bezeugung – zu der auch 469 und 2716 gehören – dennoch ihren texthistorisch frühen Ursprung. Wie schon Schmid vermerkt hat, bieten 469 und 2716 eine deutlich ersichtliche Schicht aus alten Lesarten.528 Laut TuT-Apk belaufen sich die Quoten der beiden Handschriften an LA-2mS auf 27,6 % (469) bzw. 30,3 % (2716).529 Dass 2716 prozentual eine geringfügig höhere Rate an LA-2mS als 469 bekundet, taucht. Gemäß dem Befund von TuT-Apk darf aber davon ausgegangen werden, dass die meisten dieser Sonderlesarten auf die gemeinsame Vorlagenkette der beiden Handschriften zurückgehen. 527 Hoskier weist in diesem Zusammenhang noch auf einige Lesarten hin, die 469 allein mit 01 oder 02 teilt; siehe Hoskier, Text I, 175. Ferner nimmt Hoskier für manche Lesarten an, dass sie unter lateinischem Rückeinfluss stehen; siehe die kurze Liste Hoskier, Text I, 172. Diese Sondermeinung ist stark zu bezweifeln, da die meisten der aufgeführten Lesarten breit in der griechischen Überlieferung belegt sind (z. B. 5,10 βασιλείαν 01 02 1611*V 2846 F1678 oder ἀψίνθιον 01 1611 2329 F1678 C104) und sich der Text von 469 damit problemlos aus ebendieser ergibt. Um das Zeugnis von 469 zu erklären, ist die Annahme eines wie auch immer gearteten lateinischen Rückeinflusses nicht erforderlich. 528 Siehe Schmid, Studien II, 25. Schmid meint, dass 469 die alten Lesarten durch einen Einfluss von F1006 bekundet. 529 Vgl. TuT-Apk, 431.
Die Minuskeln dürfte dem kleinerem Bestand an verwertbaren Lesarten von 2716 wegen der Beschädigung geschuldet sein. Es besteht jedenfalls kein Grund zu der Annahme, dass 2716 ein älteres Stadium der gemeinsamen Vorlagenkette als 469 erhalten hätte. Nimmt man 469 aufgrund des vollständigen Textzeugnisses als Richtschnur für die textgeschichtliche Einordnung des Paares, so hat es durch seine Vorlagenkette insgesamt einen etwas geringeren Anteil an alten Lesarten als die Mitglieder F172 bewahrt. Die Differenz ist aber letztendlich so schmal, dass sie keine nennenswerten Auswirkungen auf die Verortung von 469 und 2716 im Strom der Textgenese hat. Vieles deutet darauf hin, dass sich die Vorlagenkette des Paares nur wenig später als F172 vom Hauptentwicklungszweig der Koine- und Andreas-Tradition abgelöst und damit einen ähnlich ausgebildeten Textzustand wie F172 konserviert hat (siehe Teil II: 4.5.3). Dabei lässt der im Vergleich zu F172 etwas höhere Anteil an LA-3mS des Paares 469-2716 erkennen, in welche überlieferungsgeschichtliche Richtung die Vorlagenkette der zwei Zeugen fortentwickelt ist. Demnach bekunden 469 und 2716 einen Textzustand, der bereits eine breitere Schicht an Koine-Lesarten aufweist und damit textgeschichtlich etwas jünger als F172 ist. Damit lässt sich zusammenfassen, dass 469 und 2716 gemäß TuT-Apk eng verwandt sind, eine gemeinsame Vorlagenkette mit beträchtlichen Verzweigungen teilen und der Koine-Tradition in der Summe am nächsten stehen. Da die beiden Handschriften aber zugleich eine breite Schicht alter Lesarten oder sehr früher Entwicklungen bekunden, haben sie hohen textgeschichtlichen Wert. Ihre Bedeutung liegt im Wesentlichen darin, die Genese der Andreas- und Koine-Tradition auf der Basis vorausgehender Textzustände genauer erschließen zu können. ... 2436 und 2078 2078: Athos, Konstamonitu, 29, fol. 375–396 (16. Jh.) 2436: Athos, Vatopedi, 637, fol. 53–80 (15. Jh.; 1418) Tab. 32: Lesarten-Anteile 2078 und 2436530 HS
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530 Daten entnommen aus TuT-Apk, 432.
Weitere Zeugen
Die Apk-Handschrift 2436 befindet sich in einem umfänglichen Codex, der ansonsten Texte verschiedener Kirchenschriftsteller enthält (u. a. Chrysostomos, Gregor von Nyssa, Palamas Gegorius, Ephraem Graecus, Andreas von Kreta, Johannes Damacsenus). Ebenso steht die Apk in dem Codex Athos, Konstamonitu, 29 inmitten unter diversen Schriften mehrerer Kirchenschriftsteller. Die Architektur der beiden Buchprojekte ist bislang noch weitgehend unerforscht, sodass vorläufig offen bleiben muss, aus wie vielen Produktionseinheiten die Codices bestehen und zu welcher die Apk in beiden Fällen gehört. Da mit Blick auf Athos, Vatopedi, 637 unmittelbar an die Apk in der nächsten Spalte auf derselben Seite ein von dergleichen Hand kopierter Text (überschrieben mit ἐγκώμιον ἐις τὸν ἁγίον καὶ πανεύφημον ἀπόστολον καὶ εὐαγγελίστον Ἰωάννην τὸν θεολόγον) anschließt,531 scheinen wenigstens diese zwei Niederschriften der gleichen Produktionseinheit anzugehören. Abgesehen von der Apk enthalten die beiden Codices divergente Inhalte. Auch die zwei Zeugen 2078 und 2436 der Apk sind eng miteinander verwandt. Sie sind zu 95 % im Text identisch und lassen sich dementsprechend sicher von den übrigen Handschriften abgrenzen.532 Laut Schmid bildet 2078 eine direkte Abschrift von 2436.533 Diese Relation der beiden Handschriften ist zumindest denkbar, wie einige gemeinsame Sonderlesarten und andere Auffälligkeiten demonstrieren: 1,1: αποκαλυψις] add. του κυριου ημων 2078 2436C 1,2: ειδεν] add. και ατινα εισιν και ατινα χρη γενεσθαι μετα ταυτα 2078 2436C 1,4: α] add. εισιν 2078 2436C 14,19 (TST 87): του θυμου του θεου τον μεγαν] του οινου του θυμου του θεου του μεγαλου 2078 2436 18,6 (TST 92): τα διπλα] αυτη τα διπλα ως και αυτη 2078 2436 21,4 (TST 109): εξαλειψει] add. εξ αυτων 2078 2436
Nach dieser kurzen Liste teilen 2078 und 2436 gemäß TuT-Apk zum einen überaus seltenbezeugte Sonderlesarten (14,19; 18,6; 21,4) und zum anderen bietet 2078 an einigen Stellen Textlesarten, die in 2436 noch als Korrekturen vermerkt sind. Folglich sind die zwei Zeugen aufs engste verwandt und 2078 könnte eine 531 Als Schreiber des Codex gilt ein gewisser Γρηγόριος Βατοπαιδινός; siehe E. Lamberz, Die Handschriftenproduktion in den Athosklöstern bis 1453, in: G. Cavallo (Hg.), Scritture, libri e testi nelle aree provinciali di Bisanzio. Atti del seminario di Erice (18 - 25 settembre 1988), Biblioteca del Centro per il Collegamento degli Studi Medievali e Umanistici nell’ Università di Perugia 5, Spoleto 1991, 25–78, hier 62. Akzentsetzung folgt der Handschrift. 532 Vgl. TuT-Apk, 695, 707. 533 Siehe zu dieser Einschätzung Schmid, Untersuchungen II, 439.
Die Minuskeln Abschrift der Handschrift 2436 unter Berücksichtigung einiger ihrer Korrekturen darstellen. Um das etwaige Abschreibverhältnis allerdings mit Sicherheit feststellen zu können, bedarf es einer dahingehenden Detailuntersuchung des Textes beider Zeugen.534 Wenngleich das genaue Verhältnis der beiden Handschriften hier nicht abschließend aufgeklärt werden kann, kann gemäß der generell hohen Übereinstimmungswerte und der gemeinsamen Bezeugung spezifischer Sonderlesarten an der nahen Verwandtschaft von 2078 und 2436 jedoch kein Zweifel bestehen. Hoskier, der 2436 als erster verglichen hat, attestiert der Handschrift große Bedeutung: „of paramount importance“.535 Die zwei Handschriften 2078 und 2436 haben zwar einen Anteil an LA-2mS von 25,4 % bzw. 27,4 %, doch ist ihre Textqualität tatsächlich eher gering einzuschätzen. Denn an keiner Teststelle haben die beiden Zeugen unabhängig von der Andreas- oder Koine-Tradition eine potenziell alte Lesart erhalten; das gilt auch für die vier Fälle (TST 25, 55, 84, 96), in denen sie eine LA-2 bieten, da die betreffenden Lesarten je auch von einem Teil der Andreas- bzw. Koine-Tradition bezeugt werden. Laut Schmid bekunden 2078 und 2436 einen auf diese beiden Handschriften beschränkten Mischtext aus der Andreas- und Koine-Tradition.536 Dass 2078 und 2436 einen dementsprechenden Mischtext aufweisen, legen mehrere Indizien nahe. Zum einen sind die Anteile an LA-3mS und LA-4mS in beiden Handschriften nahezu gleichstark ausgeprägt. Zum anderen wurde bei dem Ausgleich zwischen Koine-
534 Schon Hoskier schwankte bei der Bestimmung des Verhältnisses von 2078 und 2436, indem er 2078 zunächst als Kopie von 2436 einstuft (siehe Text I, 580), dann aber über 2078 als eine Schwester von 2436 spricht (so Text I, 672). 535 Hoskier, Text I, 675. 536 Siehe Schmid, Untersuchungen II, 439. Dabei geht Schmid davon aus, dass die Grundschicht auf der Koine-Tradition basiere und diese später nach der Andreas-Tradition umfänglich überarbeitet worden sei. Für seine Annahme spricht die Schicht an LA-3, die in beiden Handschriften deutlich stärker als diejenige an LA-4 ausgeprägt ist; vgl. TuT-Apk, 367, 389– 390. Ferner lassen manche Sonderlesarten bzw. Abschreibfehler im Zeugnis der beiden Handschriften darauf schließen, dass die Koine-Tradition die Grundsicht des gemeinsam bezeugten Mischtextes bildet. In 2,20 bekunden 2078 und 2436 den Wortlaut λέγει, bei dem es sich augenscheinlich um eine fehlerhafte Abschrift der Variante ἣ λέγει handelt, wie sie von den meisten Textzuständen der Koine-Gruppe bezeugt wird (vgl. TST 22). Analog dazu erklärt sich in 14,4 die Variante ὑπὸ τοῦ ἰησοῦ, bei der 2078 und 2436 zur dominierenden Variante ὑπὸ ἰησοῦ in der Koine-Gruppe noch den Artikel τοῦ ergänzt haben (TST 69). Da den ältesten Zeugen und dem Gros der Andreas-Tradition ὑπὸ ἰησοῦ fehlt, kommt in erster Linie die Koine-Lesart als Vorlage für ὑπὸ τοῦ ἰησοῦ in Betracht. Dieselbe Entwicklung zeigt sich auch innerhalb der Koine-Gruppe, da mit 2845 auch eine Koine-Handschrift ὑπὸ τοῦ ἰησοῦ bietet. Alle aus TuT-Apk ersichtlichen Indizien bestätigen also Schmids Ansicht in diesem Fall.
Weitere Zeugen
und Andreas-Lesarten scheinbar eine ähnliche Strategie wie bei der Entstehung der Complutense-Tradition verfolgt, weshalb 2078-2436 viele Lesarten mit der Complutense-Tradition teilen.537 Schließlich erscheinen in den Gruppenlisten zu 2078 und 2436 jeweils Arethas-Handschriften als weitere nächste Verwandte. Wie 2078 und 2436 bekunden auch die Arethas- oder ComplutenseHandschriften ein ähnliches Textprofil, woraus sich die Nähe der an sich grundverschiedenen Zeugnisse ergibt. Des Weiteren tritt der Mischcharakter von 2078 und 2436 auch in der Bezeugung einzelner Lesarten deutlich vor Augen. So lesen die beiden Handschriften beispielsweise in 5,6 die Variante τὰ ἀποστελλόμενα, die aus dem Artikel der Andreas-Lesart τὰ ἀπεσταλμένα und der Partizipialform der meisten Textzustände aus der Koine-Gruppe ἀποστελλόμενα zusammengefügt ist.538 Damit bestätigt TuT-Apk grundsätzlich Schmids Einschätzung über das Zeugnis von 2078 und 2436, das einen zur Complutenseund Arethas-Familie analogen Mischtext aus Andreas- und Koine-Tradition darstellt. Wann sich das Textzeugnis der beiden Handschriften ausgebildet hat, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Es entspringt sicherlich nicht erst der Anfertigung von 2436, sondern dürfte auf eine längere Vorlagenkette zurückgehen, von der allerdings kaum weitere Spuren in der Überlieferung zu finden sind. Da der spezifische Mischtext von 2078 und 2436 zudem durch keine weiteren bekannten Apk-Handschriften bezeugt wird, hat er offensichtlich auch nur eine sehr eingeschränkte (wohl auf den Athos eingrenzbare) Verbreitung erfahren. Wie die Complutense- oder Arethas-Tradition setzt auch das Zeugnis von 2078-2436 die Koine- und Andreas-Tradition überlieferungsgeschichtlich voraus, sodass es in jedem Fall diesen genealogisch nachfolgt. Auch die weiteren in TuT-Apk dokumentierten Sonderlesarten von 2078-2436 in TST 42, 58, 78 und 116 lassen keine etwaigen Fremdeinflüsse oder die Erhaltung älterer Textzustände unabhängig von der Koine- oder Andreas-Tradition erkennen. Denn an allen vier Teststellen wird die durch 2078-2436 bezeugte Lesart genauso durch einen Teil der Andreas-Gruppe bekundet.539 Es ist damit als wahrscheinlich
537 Anders als man aufgrund des Anteils an LA-5mS vermuten könnte, stehen 2078 und 2436 nicht primär der Complutense-Tradition nahe. Keine der beiden Handschriften bezeugt im traditionsgeschichtlichen Sinne Lesarten der Complutense-Gruppe, sondern trifft immer nur mit ihren Lesarten zusammen, wenn diese entweder durch Andreas- oder Koine-Tradition belegt sind; vgl. dazu TuT-Apk, 367, 389–390. 538 Vgl. dazu TuT-Apk, 79–80. 539 TST 42 (Apk 6,1–2) και ειδον NA28] και ιδε και ειδον 2078 2436 01 AndGpt; TST 58 (13,10) αποκτανθηναι αυτον εν μαχαιρη NA28] αποκτε(α)ινει δει αυτον εν μαχαιρα 2078 2436 01 AndGpt;
Die Minuskeln anzusehen, dass diese breit dokumentierten Sonderlesarten nach einem spezifischen Unterstrang der Andreas-Tradition in das Zeugnis von 2078-2436 gelangt sind. Aus dem Gesagten lässt sich keine Datierung des Zeugnisses von 2078-2436 im texthistorischen Sinne ableiten. Um dies zu leisten, wären erheblich mehr Informationen nötig, als das verhältnismäßig schmale Datenset zu dieser Spezialfrage hergibt. Womöglich lässt sich die Entstehung des Textes 2078-2436 auch nicht näher eingrenzen, weil in der Überlieferung kaum zusätzliche Hinweise über dessen Herkunft auszumachen sind.540 Schon Schmid äußerte sich verhalten über den Versuch, den Ursprung des Textes 2078-2436 zu bestimmen.541 Ganz gleich aus welchem Winkel man von TuT auf den Text von 2078-2436 blickt, lassen sich keine weiteren Verbindungen in der Überlieferung erkennen, die über seine Entstehung nähere Auskunft geben könnten. Es handelt sich vielmehr um einen ausgesprochenen Mischtext aus der Andreas- und KoineTradition, der ausschließlich durch die beiden Handschriften 2078 und 24536 beschränkt wird. Durch 2436 ist er jedenfalls physisch seit Beginn des 15. Jahrhunderts belegt und hat sich darüber hinaus nur in 2078 erhalten. Was seine Genese angeht, setzt er als vollständiger Mischtext aus Andreas- und Koine-Tradition keine anderweitigen Quellzeugnisse als diese zwei voraus. Damit ist sowohl der textkritische als auch der textgeschichtliche Wert des Textes 2078-2436 erhoben: Die Zeugen leisten keinen von der Andreas- und Koine-Tradition unabhängigen Beitrag zur Textkonstitution und können dementsprechend vernachlässigt werden. Als dargelegter Mischtext aus Andreas- und Koine-Tradition stellt das Zeugnis von 2078 und 2436 zudem eine vergleichsweise junge Entwicklungslinie dar, die überlieferungsgeschichtlich parallel zur Complutense- und Arethas-Tradition verläuft. In diesem Zusammenhang verdienen die beiden Handschriften sehr wohl Beachtung, dokumentieren sie doch
TST 78 (14,8) η NA28] οτι 2078 2436 AndGpt; TST 116 (21,9) των γεμοντων NA28] τας γεμουσας 2078 2436 AndGpt. Vgl. die genannten Teststellen in TuT-Apk. 540 Die nächsten Verwandten von 2078 und 2436 sind hauptsächlich Complutense- (1774) oder Arethas-Handschriften (314). Doch in beiden Fällen sinken die Übereinstimmungswerte ohne Berücksichtigung der Mehrheitslesarten so drastisch ab, dass sie nur bei 20 % oder noch darunter liegen. Vgl. TuT-Apk, 695. Folglich ist die Beziehung dieser Handschriften vor allem durch die Koine- und/oder Andreas-Tradition vermittelt, mit der sie allesamt gemeinsame Lesarten teilen. Dass 2078-2436 auf eine Vor- oder Nebenform der Complutense- bzw. Arethas-Tradition zurückgehen, lässt sich also zumindest auf der Grundlage von TuT-Apk nicht plausibilisieren. 541 Siehe Schmid, Untersuchungen II, 439. Schmid legt sich nicht fest, ob der Text bei der Anfertigung der Handschrift 2436 selbst erstellt worden ist oder man ihn aus einer Vorlage übernommen hat.
Weitere Zeugen
ebenfalls die ausgiebigen Bemühungen um einen Ausgleich zwischen der Andreas- und Koine-Tradition in der Spätphase der Überlieferung.
Teil III: Beobachtungen zur Genese des Apk-Textes
Das Kernproblem der Apk-Überlieferung Während im vorangegangenen Abschnitt die Bedeutung der Handschriften als Zeugen für die Textkonstitution und ihre Gruppierung gemäß quantitativer Auswertung im Mittelpunkt stand, richtet sich das Erkenntnisinteresse nun schwerpunktmäßig auf die Genese der Andreas- und Koine-Tradition. Dabei gilt es den Nachweis zu erbringen, dass die Andreas- und Koine-Andreas – anders als Schmid postulierte – keine isolierten Rezensionen darstellen, sondern aus der kontinuierlichen Entwicklung fortschreitender Textzustände beginnend mit den ältesten Zeugen hervorgingen. Zum Zweck einer konsistenteren Darstellung der Apk-Überlieferung sollen durch Auswertung zentraler Textzustände die maßgeblichen Entwicklungslinien aufgedeckt und genealogisch nachgezeichnet werden. Die textgeschichtliche Untersuchung richtet ihr Hauptaugenmerk aus zwei Gründen auf die Andreas- und Koine-Tradition: 1) Die meisten erhaltenen Handschriften gehören einer dieser beiden Traditionen an oder sind zumindest stark durch sie beeinflusst. Dazu gehören auch Textgruppen, die spätere Mischtexte der Andreas- und Koine-Tradition darstellen (z. B. die ComplutenseGruppe oder die Arethas-Familie). 2) Ferner bilden sie den bipolaren Fluchtpunkt der Überlieferung, auf den hin sich die Textzustände durch die unzähligen Kopierzyklen allmählich entwickelt haben. Da die Wurzeln der Andreas- und Koine-Tradition in den Textzuständen der ältesten erhaltenen Handschriften liegen, werden selbstverständlich auch diese detailliert in den Blick genommen. Allerdings werden die Handschriften P47 01, 02, und 04 nur insofern in den Blick genommen, als ihr Zeugnis für die Aufklärung der Genese von Andreas- und Koine-Tradition relevant ist. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch die Frage nach ihrer Relation. Wie schon in TuT-Apk angedeutet wird, lässt die Neuauswertung der vier Handschriften Zweifel an ihrer bisherigen Verortung aufkommen:1 Ob die Zuordnung P47-01 auf der einen und 02-04 auf der anderen Seite als Vertreter zweier nachweisbarer Texttypen im Sinne Schmids weiterhin so akzeptiert werden kann, ist auch im Hinblick auf die Genese der Andreas- und Koine-Tradition zu prüfen. Schmids Darstellung der Apk-Textgeschichte basiert auf zwei Grundannahmen: a) Die gesamte Überlieferung erklärt sich durch die Annahme von vier Texttypen oder Stämmen: A-Text, S-Text, Andreas (Αν)- und Koine-Text (K). b) Die vier Texttypen bilden im Grunde unabhängige Rezensionen, wobei sich die
1 Siehe die kurzen Ausführungen in TuT-Apk, 66*–67*. https://doi.org/10.1515/978311119430-010
Das Kernproblem der Apk-Überlieferung beiden jüngeren (Andreas- und Koine-Text) nicht als Fortentwicklungen der beiden älteren (A- und S-Text) erklären.2 Dabei geht er davon aus, dass auch der Andreas- und Koine-Text spätestens im 4. Jahrhundert vorlagen.3 Als ungelöstes Problem verbleibt bei Schmid die Tatsache, dass alle vier Stämme wechselseitige Beziehungen aufweisen. Die Existenz dieser Verbindungen hat er wohl beobachtet und nicht bestritten, doch vermochte er sie nicht zu erklären.4 Weil Schmid an seiner Grundannahme von vier an sich unabhängigen Rezensionen unbeirrt festhielt, musste letztlich auch jeder Erklärungsversuch für die Beziehungen der Stämme untereinander scheitern. Wenn man jedoch von der Ansicht ablässt, dass P47-01 und 02-04 zwei getrennte Texttypen bezeugen, sowie die Ausformung der Andreas- und Koine-Tradition als kontinuierliche Entwicklung fortschreitender Textzustände betrachtet, ermöglicht die genealogische Auswertung eine neue Darstellung der Apk-Überlieferung. Das Resultat wird ungleich komplexer als Schmids textgeschichtliches Modell aus vier Stämmen ausfallen, doch bietet es eine konsistente Erklärung für die Relationen der verschiedenen Textzustände. Naturgemäß geht die Textgenese von einem spezifischen Ausgangspunkt aus. In Ermangelung des Autographen muss dieser Ursprungszustand für die Apk wie bei allen anderen neutestamentlichen Schriften erst mühsam rekonstruiert werden. In Form von NA28 liegt glücklicherweise eine solche Rekonstruktion vor, auf deren Basis die Handschriften nicht zuletzt in TuT-Apk profiliert wurden. Obwohl an manchen Stellen der Text neu zu konstituieren sein wird, wird aus pragmatischen Gründen dennoch NA28 als vorläufiger Ausgangstext für die Untersuchung betrachtet.5 Zu erwartende Schwierigkeiten lassen sich durch eine zurückhaltende Berücksichtigung von Zweifelsfällen in der gegenwärtigen Textkonstitution kompensieren, zumal der Text auch an der Vielzahl der Stellen unverändert bleiben wird. Damit steht die zentrale Aufgabe der textgeschichtlichen Untersuchung dieser Arbeit klar vor Augen: Zum Ziel einer konsistenteren Darstellung der Apk-Überlieferung gilt es, zum einen die ältesten Zeugen neu zu verorten und zum anderen den Entwicklungsverlauf der
2 Schmid, Studien II, 147: Andreas und Koine sind keine „späteren Formen des in AC und P47 S vorliegenden ‚älteren‘ Textes“. 3 Siehe Schmid, Studien II, 135: „Aus den Stellen, an denen eindeutig klar wird, daß S von K abhängig ist, folgt, daß K ebenso wie Av älter ist als S, also wenigstens ins 4. Jh. hinaufreicht.“ 4 Siehe z. B. Schmid, Studien II, 97.127.134.148: „Wir können hier wie in anderen Fällen wohl das Problem als solches feststellen, müssen uns aber mit seiner Unlösbarkeit bescheiden“ (ebd. 127). 5 Es wird auch eine Aufgabe der ECM der Apk sein, die hier geäußerten Beobachtungen aufgrund des Datensets aller variierten Stellen zu präzisieren.
Das Kernproblem der Apk-Überlieferung
überkommenen Textzustände durch Beachtung ihrer Relationen konsequent herauszuarbeiten. Nachdem Schmid die Besprechung der vier von ihm vermeintlich ausgemachten Textformen abgeschlossen hat, formuliert er ein erstes Fazit. In diesem Zwischenergebnis finden sich einige höchst bemerkenswerte Gedanken zum Kernproblem der Apk-Überlieferung. Weil sie im Schlussresultat nicht wieder aufgegriffen werden, haben sie vermutlich in der weiteren Forschungsdiskussion seither keine Rolle gespielt. Dabei bringt Schmid hier zum Ausdruck, dass er die Grundproblematik der Apk-Überlieferung nicht zu lösen vermochte. Dort heißt es nämlich: Das eigentliche Problem der Apk-Textüberlieferung bildet gerade das gegenseitige Verhältnis der verschiedenen Textformen zueinander. Hier treten alle überhaupt denkbaren verwandtschaftlichen Beziehungen nebeneinander auf. […] Das eben beschriebene Problem wird noch mehr kompliziert dadurch, daß auch A und C sowie P47 und S öfters auseinandergehen und dabei jeweils verschiedene von den übrigen Textformen an ihrer Seite haben. […] Aus all dem folgt, daß es nicht möglich ist, die gegenseitigen Beziehungen der alten Hauptstämme der griechischen Apk-Textüberlieferung restlos genau zu bestimmen und sie alle miteinander in ein Stemma einzuordnen.6
Das Phänomen, welches Schmid hier beschreibt, ist in der modernen Terminologie als Kontamination bekannt. Demnach vertritt kein Einzelzeuge in vollem Umfang und ausnahmslos eine spezifische Textform und keine Textform ist völlig isoliert, sondern es treten immer Verbindungen zu anderen Typen der Überlieferung auf. In den einzelnen Zeugen treten Varianten stets in einem mehr oder minder starken Mischverhältnis auf, d. h. ein enormer Grad an Kontamination ist das elementare Kennzeichen der handschriftlichen Überlieferung.7 Zwar vermochte Schmid trotz seiner starren Einteilung der ApkÜberlieferung in vier Textformen und der konsequenten Einsortierung aller Zeugen in dieses System das Problem grundsätzlich festzustellen, doch lösen konnte er es gerade deswegen nicht. Die gegebene Kontamination wirkt sich auf Schmids Erklärungsmodell in mehreren Aspekten aus und hat beträchtliche Konsequenzen für seine Erkenntnisse. Das Ausmaß an Kontamination kann abhängig von der Zahl der Zeugen und ihrer Beziehung sehr unterschiedlich ausfallen, wie die nachfolgende Abbildung exemplarisch zeigt:
6 Schmid. Studien II, 148. 7 Wachtel, Development, 440: „Contamination is the rule, not the execption in rich manuscript traditions of which the New Testament ia a prime example“.
Das Kernproblem der Apk-Überlieferung
Abb. 1: Schaubild zu möglichen Kontaminationsszenarien8
Von links nach rechts nimmt das Maß an Kontamination stetig zu. Während im ersten Beispiel der Zeuge Z3 Varianten aus zwei anderen Zeugen enthält, liegen in der letzten Grafik schon mehrere Kontaminationsstufen vor, aus denen sich ein komplexes Zeugengeflecht ergibt. Zudem ist der reale Umstand in Rechnung zu stellen, dass sich in einer kontaminierten Überlieferung Varianten des potenziellen Vorfahren posterioritär zum Nachfahren verhalten bzw. umgekehrt der Nachfahre prioritäre Varianten zum Vorfahren enthält. Letzteres trifft zu, wenn der gestrichelte Pfeil in der rechten Darstellung nicht von Z2 zu Z4, sondern in die entgegengesetzte Richtung verläuft. In einer Überlieferung mit etlichen Zeugen ergibt sich somit eine Vielzahl an Möglichkeiten in welchem Verhältnis die einzelnen Zeugen zueinander stehen. Aus diesem Grund muss der Textfluss, der sich aus dem Verhältnis von prioritären zu posterioritären Varianten ableiten lässt, zwischen jedem einzelnen Zeugen ermittelt werden, um so sukzessive die Vorfahren-Nachfahren-Relationen aufzuklären. In Übertragung auf Schmids Darstellung der Apk-Transmission mündet dies bereits bei sechs angeführten Textzeugen in ein kaum überschaubares Maß an Kontamination, wobei mit dem Andreas- und Koine-Text noch Textformen und keine Einzelzeugen berücksichtigt sind:
8 Grafiken in Anlehnung an Mink, Problems, 50, erstellt.
Das Kernproblem der Apk-Überlieferung
Abb. 2: Mögliche Kontaminationsszenarien in Schmids Textmodell
Dem Schaubild nach hat jeder Zeuge bzw. Texttyp Varianten an jeden anderen weitergegeben, womit allein in Schmids Erklärungsmodell bereits fünf mögliche Verbindungslinien ohne Zwischenstufen und Quervermischungen denkbar sind. So kann 01 Varianten an P47, 02, 04, Αν und K vererbt haben. Da die Relation aber nicht linear in eine Richtung verläuft, sondern 01 ebenso von den anderen fünf Zeugen seinerseits Varianten vermacht bekommen hat und diese sich auch noch untereinander Varianten überlassen haben, lässt sich ihre Beziehung nicht mehr ohne Weiteres ermessen. Um die Problematik wohl auf ein überschaubares Maß zu reduzieren, unternahm Schmid den Versuch einer Rekonstruktion von mehreren Hyparchetypen der Überlieferung.9 Am Ende der Studie musste er jedoch einräumen, dass sich das erhoffte Ziel so nicht erreichen lässt und das eigentliche Problem der Beziehung der Textzeugen sowie ihr stemmatischer Ort auf diesem Wege ungelöst bleibt.
9 Bei aller berechtigten Kritik an Schmid, darf nicht vergessen werden, dass seine Arbeit aus dem Vorcomputerzeitalter stammt und er keine Möglichkeit hatte, umfangreiche Daten mithilfe der Informationstechnik zu modellieren. Die Kritik muss sich vielmehr darauf richten, dass Schmid die Problematik der Kontamination bzw. ungelösten Zeugenrelationen erkannte und trotzdem seinen Ansatz nicht entscheidend in Frage gestellt hat.
Das Kernproblem der Apk-Überlieferung Warum Schmid diese Barriere nicht durchbrechen konnte, lässt sich an zwei prägnanten Stellen verdeutlichen:10 TST 57 (Apk 13,7): και εδοθη αυτω ποιησαι πολεμον μετα των αγιων και νικησαι αυτους 01 K] om. P47 02 04 Αν TST 39 (Apk 5,10): βασιλευσουσιν 01 Αν K] βασιλευουσιν 02
In Apk 13,7 lassen P47, 02, 04 und Αν gegen 01 und K den ersten Teilvers aus. In Schmids textgeschichtlichen Modell stellt sich nun die Frage: Ist P47 sekundär durch 02, 04 und Αν beeinflusst oder 01 durch K? Schmid erklärt das Problem damit, dass es sich bei der Omission um einen Fehler handeln würde und 01-K den ursprünglichen Text erhalten hätten. Ferner habe 01 diesen aber nicht von sich aus bewahrt, sondern sei sekundär durch K beeinflusst, weil P47 nicht aus Zufall mit 02 und 04 zusammentreffen könne und der eigentliche S-Text darum in der Auslassung zu suchen sei.11 Folglich geht Schmid davon aus, dass die Auslassung ein Fehler ist und sich ebendieser nicht mehrfach unabhängig wiederholt haben kann. Aus diesem Grund muss P47 in seinem Erklärungsmodell den ursprünglichen S-Text gegen 01 bezeugen und 01 wiederum sekundär durch K beeinflusst sein. Daraus folgt wiederum, dass K als einziger Zeuge den Wortlaut der Stelle von seinem Ursprung her bewahrt hat, K nachträglich auf 01 eingewirkt habe und der S- sowie A-Text je die Omission vertreten. Die Stelle führt anschaulich vor Augen, auf welch vielschichtige Argumentationen Schmid mitunter zurückgreifen muss, um selbst eine so schlichte Aufspaltung der Textzeugen auf zwei Varianten zu erklären. Dabei findet sich in seinen Ausführungen keine Notiz dazu, dass auch drei Koine-Handschriften gegen die Mehrheit der Gruppe den Versteil auslassen und immerhin 22 AndreasHandschriften gegen den von ihm rekonstruierten Αν-Text den Langtext bekunden.12 Dies können Anzeichen einer mehrfach unabhängigen Entstehung der Auslassung von 13,7a sein, was rückbezogen auf Schmids Erklärung bedeuten würde, dass das Zeugnis von P47 anders einzuschätzen und somit auch der SText anders zu bestimmen wäre. Dass sich die Zeugen für den angenommenen Andreas- und Koine-Text an etlichen Stellen stark aufspalten, ist ein unbestreitbares Faktum mit gravierenden Folgen für Schmids Erklärungsmodell der Apk-Überlieferung. Besonders 10 Die angegebene Bezeugung für die Lesarten entspricht Schmid, Studien Ib, 57. 11 Siehe Schmid, Studien II, 120–121. 12 Zur Bezeugung siehe Hoskier, Text II, 343; TuT-Apk, 112–113. Auch in Hoskier war für Schmid ersichtlich, dass ein ebenfalls zahlenmäßig großer Teil der Andreas-Handschriften 13,7a bekundet und der Versteil in 3 Koine-Handschriften (61, 69, 2027 bei Hoskier 92, 14, 61) fehlt.
Das Kernproblem der Apk-Überlieferung
deutlich tritt dieses Phänomen in Apk 5,10 zum Vorschein. Während Schmid βασιλεύσουσιν als Variante von Αν angibt, schlägt er βασιλεύουσιν dem K-Text zu.13 Die Aufteilung von 01 und 02 auf die beiden Varianten ist in diesem Fall zweitrangig. Viel wichtiger ist der Umstand, dass sich die Handschriften der Andreas- und Koine-Gruppe bereits in Hoskier nicht zu übersehen je auf beide Varianten aufgliedern.14 Die Koine-Gruppe ist fast genau zur Hälfte gespalten, wobei laut TuT-Apk mit 40 Koine-Handschriften sogar zwei mehr die Variante βασιλεύσουσιν als βασιλεύουσιν haben.15 Aus der Andreas-Gruppe lesen indes die meisten Mitglieder βασιλεύσουσιν, wohingegen nur ein kleiner Teil bestehend aus 19 Handschriften gemäß TuT-Apk βασιλεύουσιν aufweist.16 Nach welcher Entscheidungsgrundlage Schmid die beiden Varianten derart eindeutig dem Andreas- und Koine-Text zugewiesen hat, bleibt ein Rätsel.17 Womöglich hat seine Grundannahme über den Andreas- und Koine-Text als zwei getrennte Textformen die Entscheidung diktiert, indem er die beiden Varianten nach der etwas klareren Bezeugung in der Andreas-Gruppe entsprechend zugeordnet hat – weil Αν βασιλεύσουσιν liest, muss K der inneren Logik der Texttypentheorie wegen βασιλεύουσιν lauten. Das wahre Gewirr der Bezeugung und die damit einhergehende beachtliche Kontamination, die in beiden Texttraditionen an dieser Stelle vorherrscht, hat er damit allerdings bis zur Unkenntlichkeit übermalt. Weil Apk 5,10 in diesem Zusammenhang gewiss kein Einzelfall ist, muss die strenge Trennung der Andreas- und Koine-Tradition zu zwei Textformen der Überlieferung grundsätzlich hinterfragt werden bzw. darf nicht als Grundlage für ein textgeschichtliches Erklärungsmodell fungieren. Demgegenüber verspricht die genealogische Auswertung der ApkÜberlieferung nach dem Vorbild der CBGM entscheidende Vorteile. Der größte Fortschritt zu Schmid liegt in der Beschreibung der Relationen zwischen den einzelnen Zeugen, die sich auf ihrem jeweiligen Anteil an prioritären und posterioritären Varianten ergeben. Um das Verhältnis der Zeugen zu ermitteln, bedarf
13 Vgl. Schmid, Studien II, 123. Dem folgt die Angabe der Bezeugung im Apparat von NA28 z. St. 14 Siehe Hoskier, Text II, 157. 15 Vgl. TuT-Apk, 85. Zur Aufspaltung der Koine-Handschriften an dieser Stelle siehe auch Lembke, Apokalypse-Wortlaut, 345. 16 Vgl. TuT-Apk, 85. 17 Im Andreas-Kommentar steht zwar im anschließenden Kommentarabschnitt zu Apk 5,10 der Infinitiv Futur βασιλεύσειν, doch ist die Rekonstruktion durch Schmid (Studien Ib, 57 Z. 10) nicht unstrittig. Wie nämlich aus dem Apparat hervorgeht, bietet ein großer Teil der AndreasKommentare stattdessen den Infinitiv Präsens βασιλεύειν. Insofern sind Schmids Textentscheidungen sowohl im Lemma- als auch Kommentar-Text zu hinterfragen, da sie womöglich auf einem irrigen Zirkelschluss beruhen.
Das Kernproblem der Apk-Überlieferung es keine Bindefehler. Wie Wachtel festhält, muss die Untersuchung nicht von vornherein wissen, welche Varianten Fehler und welche ursprüngliche Wortlaute des Textes sind.18 Ungeachtet durch welche Zeugen bestimmte Varianten gelesen werden und unbenommen ihrer Verbreitung in der HandschriftenTradition können zwischen zwei Zeugen an jeder variierten Stelle aufgrund ihrer Varianten drei potenzielle Beziehungen bestehen: – B hängt von A ab (A → B), wenn A zu B die prioritäre Variante hat. – A hängt von B ab (A ← B), wenn B zu A die prioritäre Variante hat. – A und B stimmen überein (A = B), wenn A und B dieselbe Variante haben. Aus der Summe aller variierten Stellen zweier Zeugen lässt sich auf diese Weise der generelle Textfluss zwischen ihnen bestimmen. Dabei kommen als potenzielle Vorfahren solche Zeugen in Betracht, die einen höheren Anteil an prioritären Varianten im Verhältnis zum Vergleichszeugen haben. Nach diesem Schema lassen sich sukzessive sämtliche Textzustände in Relation setzen. Ob zwischen einer potenziellen Vorfahren-Nachfahren-Relation auch eine stemmatische Verbindung besteht, lässt sich erst klären, wenn sämtliche Textzustände analysiert sind und für jeden Zeugen abschließend geklärt ist, welche Vorfahren zwingend zur Erklärung seines Textes erforderlich sind.19 Das Grundproblem der Apk-Überlieferung liegt in dem hohen Grad an Kontamination, die in allen Zeugen vorherrscht. Schmid konnte dieses Problem mithilfe der Bindefehler-Methode nicht lösen, sondern nur den Umstand von allerlei Querverbindungen zwischen den Zeugen beobachten. Die genealogische Auswertung im Sinne der CBGM ist ein Beitrag dazu, die Kontamination der Überlieferung zu heilen („The contribution that the CBGM claims to make […] is a cure against contamination […]“) und zumindest ein wegweisender Ansatz, um stemmatologische Untersuchungen in einer kontaminierten Überlieferung zu ermöglichen („[…] or at least a way to do stemmatological analysis in a contaminated tradition“).20
18 Wachtel, Development, 439. Wachtel hebt diesen Punkt neben einigen anderen als maßgeblichen Vorteil gegenüber der Gruppierung mittels Bindelesarten (siehe Teil I: 5.3) hervor. Indem Varianten nicht a priori klassifiziert oder als eigentümliche Lesarten einer spezifischen Textform verbucht werden, können sie im Hinblick auf ihre Filiation geordnet werden und daraus das Verhältnis der sie bezeugenden Textzustände ermittelt werden. 19 Zur Funktion eines optimalen Substemma in der CBGM siehe Wasserman/Gurry, Introduction, 98–102. 20 Zitate aus Wachtel, Development, 439.
Vorbemerkungen zur Auswertung der Textgenese Beobachtungen zur Relation der einzelnen Textzustände sind ein Kernelement der modernen Textkritik und ermöglichen es, ihr genealogisches aus ihrem Verhältnis an prioritären und posterioritären zu bestimmen und daraus die Richtung der Textentwicklung abzuleiten. Die in diesem Abschnitt vorgenommene genealogische Auswertung darf nicht mit der vollumfänglichen Anwendung der CBGM gleichgesetzt werden. Sie basiert im Wesentlichen auf dem Vergleich bestimmter Zeugen und setzt diese gemäß ihren jeweiligen Anteilen an prioritären und posterioritären Varianten zueinander in Relation. Das Vorgehen entspricht dem, was beim INTF als „Comparison of Witnesses“ bezeichnet wird.21 Analog dazu werden die Ergebnisse der genealogischen Auswertung in Tabellenform dargestellt, um der vermeintlichen Verwechselung mit einer stemmatischen Verortung bei grafischer Darstellung vorzubeugen.
. Auswahl der relevanten Zeugen Obwohl die Auswertung nur auf 123 variierten Stellen beruht, ist es im Rahmen der vorliegenden Arbeit aus mehreren Gründen weder sinnvoll noch technisch möglich sämtliche Zeugen auszuwerten.22 Daher beschränkt sich die durchgeführte Auswertung auf wenige ausgewählte Zeugen, die gemäß der Untersuchung in Teil II eine wichtige textkritische und textgeschichtliche Rolle spielen. Eine weitere Maßgabe für die Auswahl ist, dass die Zeugen möglichst vollständig erhalten und somit an allen 123 Teststellen kollationiert sind. Dies erlaubt zweierlei: Zum einen lassen sich die Probleme an Schmids Darstellung so an gezielt ausgewählten Textzuständen klar herausarbeiten. Zum anderen konzentriert sich die Analyse auf eine überschaubare Menge an Textzuständen, sodass die Eckpfeiler des Neuentwurfs zur Darstellung der Apk-Textgeschichte präzise herausgearbeitet werden und stets kontrollierbar bleiben. Die so erarbeitete Blaupause kann im Kontext der ECM-Apk ohne Weiteres durch zusätzliche Textzustände und Beobachtungen ergänzt werden.
21 Siehe dazu folgenden Link: http://intf.uni-muenster.de/cbgm/actsPh3/Comp4.html, zuletzt abgerufen 24.03.2023. 22 Die Reduktion auf gezielt ausgewählte Textzustände bietet die Möglichkeit, diese viel detaillierter in den Blick zu nehmen, als dies in einem umfänglichen Datenset denkbar wäre. https://doi.org/10.1515/978311119430-011
Vorbemerkungen zur Auswertung der Textgenese Basierend auf TuT-Apk wurden für die genealogische Untersuchung die folgenden 16 Zeugen ausgewählt: P47, 01, 02, 04, 025, 82, 367, 1006, 1611, 1876, 2019, 2053, 2055, 2081, 2351 und 2846.23 Obwohl P47 und 04 an etlichen Teststellen aufgrund ihrer fragmentarischen Erhaltungszustände nicht kollationiert werden konnten, liegt ihre Auswahl als wichtige Zeugen für die Apk auf der Hand und braucht hier nicht näher erläutert werden. Dass auch 2019 und 2351 in der Auswahl stehen, hat textgeschichtliche Gründe. Die Auswertungsdaten in TuT-Apk lassen erahnen, dass die beiden Textzustände für die Genese der Andreas- und Koine-Tradition überaus aufschlussreich sind. Als wichtige Zwischenzustände wurden 025, 1006, 1611, 2053 und 2846 ausgewählt, wobei die Auswertung mit Blick auf 025, 1611, 2053 und 2846 zu dem Ergebnis führt, dass diese Textzustände auf einem Niveau mit 01 stehen (025, 1611) oder diesen Zeugen sogar an Wert übertreffen (2053, 2846; siehe Teil II: 4.1.1). Für die Koine-Tradition finden sich 82 und 367 in der Auswahl. Der Textzustand 82 bietet nach TuT-Apk den höchsten Anteil an LA-3 und führt gewissermaßen als erster vollständiger Zeuge auch die Sortierung nach LA-3mS an.24 Schon Soden hat beobachtet, dass 82 die Koine-Tradition „in singulärer Reinheit bietet“25; diese Einschätzung wird durch Schmid26 und TuT-Apk bestätigt. Daneben steht 367 mit einem vergleichsweise geringen Anteil an LA-3 (79,4 %) und LA-3mS (83,7 %) unter den letzten Mitgliedern der Koine-Gruppe in den entsprechenden Sortierungslisten. Insofern bilden 82 und 367 das Variantenspektrum der Koine-Gruppe an den beiden Polen ab und eignen sich darum besonders gut zur Darstellung des Entwicklungsverlaufs der Koine-Tradition. Was die Andreas-Tradition angeht, wurden die Zeugen 1876, 2055 und 2081 ausgesucht. Die Auswahl entspricht den drei erkennbaren Textstadien innerhalb der Andreas-Gruppe im Hinblick auf den Anteil an LA-2mS. Dabei bekundet 2081 einen Textzustand mit einem vergleichsweise hohen Anteil an LA-2mS, 1876 mit einer mittleren Quote und 2055 mit einer geringen Rate. Diese drei Zeugen decken die Hauptmerkmale im Variantenspektrum der Andreas-
23 Der Zeuge 2329 ist deswegen nicht berücksichtigt worden, weil dessen Entwicklungslinie bereits durch 2846 und 1611 ausreichend abgedeckt ist. Zudem scheinen die zwei zuletzt genannten Zeugen aufgrund ihrer Positionierung in der Sortierung nach LA-2 textgeschichtlich aufschlussreicher zu sein, weil sie einen etwas höheren Anteil an LA-2 und zugleich klar erkennbare Verbindungen zu jüngeren Texttraditionen aufweisen. Damit stellen sie wichtige Bindeglieder zwischen frühen und späten Textzuständen dar. 24 Vgl. TuT-Apk, 435, 442. 25 Soden, Schriften I/3, 2043. 26 Siehe Schmid, Untersuchungen II, 431.
Vorgehen
Tradition ab, sodass sich wesentlichen Entwicklungslinie dieser Tradition klar herausarbeiten lassen. Diese Auswahl steht klar im Dialog mit Schmid und hat das Ziel, den Entwurf einer konsistenteren Darstellung der Apk-Überlieferung vorzulegen; sie erbringt den Nachweis, dass sich die Transmission der Apk als fortschreitende Genese von frühen zu späten Textzuständen erklärt. Schmids Erklärungsmodell von vier Stämmen, durch die sich die gesamte Apk-Überlieferung erklären lässt, wird dem tatsächlichen Befund der Textzustände in seiner enormen Komplexität nicht gerecht und deswegen durch eine moderne textgeschichtliche Darstellung zu ersetzen sein.
. Vorgehen Um die vorgenannten Zeugen auswerten zu können, waren beträchtliche Vorarbeiten erforderlich. Zunächst wurden zu allen 123 Teststellen die sog. lokalen Varianten-Stemmata erstellt.27 Dabei wurde die derzeitige Textkonstitution von
27 Bei der Erstellung der Varianten-Stemmata ist analog zu TuT-Apk weitestgehend auf Normalisierungen verzichtet worden, um möglichst den gesamten Textraum auszuwerten. Der Ansatz orientiert sich an dem Votum von U. Schmid nicht a priori zu viele Varianten und angrenzende Texterscheinungen von der Auswertung auszugrenzen: siehe dazu U. B. Schmid, Genealogy by Chance! On the Significance of accidental Variation (Parallelisms), in: P. van Reenen/A. Hollander/M. van Mulken (Hgg.), Studies in Stemmatology II, Philadelphia 2004, 128–143, hier 140-141. Gleichwohl stellt diese Verfahrensweise bei einigen Teststellen eine gewisse Herausforderung dar. Exemplarisch sei diesbezüglich auf TST 66 in Apk 13,18 hingewiesen: An dieser Stelle werden ἐστὶν χξϛʹ (LA-4/5), ἐστὶν ἑξακόσια ἑξήκοντα ἕξ (LA-9) und ἐστὶν ἑξακόσια ἑξήκοντα καὶ ἕξ (LA-10) als drei separate Lesarten in den Kollationsresultaten aufgeführt (TuT-Apk, 131), obwohl es sich de facto in allen drei Fällen um dieselbe Variante handelt. Der Unterschied zwischen den drei Lesarten besteht einzig in der Schreibweise der Tiereszahl, nämlich in Form von griechischen Zahlbuchstaben (χξϛʹ), als Zahlworte oder als Zahlworte mit additivem καί für die letzte Nummer. Für die Erstellung des unregularisierten Varianten-Stemmas bedeutet dies, dass die drei verschiedenen Schreibweisen derselben Variante in Beziehung zueinander gesetzt werden mussten. Dazu wurde sich an der Mehrzahl der Zeugen für eine bestimmte Schreibung grundorientiert, weshalb LA-4/5 (74 Zeugen) als prioritäre Lesart zu LA-9 (29 Zeugen) und diese wiederum als prioritäre Lesart zu LA-10 (3 Zeugen) angesehen wird. Mit Blick auf die Interpretation des Stemmas folgt daraus, dass LA-4/5, LA-9 und LA-10 dieselbe Variante darstellen und innerhalb dieser Variante zwischen drei Schreibweisen genealogisch differenziert wird. Dieses Prozedere wurde analog bei der Erstellung von Varianten-Stemmata an vergleichbaren Teststellen angewendet, um die Überprüfbarkeit der Ergebnisse sicherzustellen. Inwiefern diese Herangehensweise auf die ECM und die vollumfängliche Anwendung der CBGM übertragbar ist, wäre eigens zu diskutieren. Was Apk 13,18
Vorbemerkungen zur Auswertung der Textgenese NA28 trotz ihrer nachweislichen Probleme als Ausgangspunkt gewählt, d. h. der Wortlaut von NA28 gilt an allen Teststellen als Ausgangstext der Überlieferung. Als Referenzpunkt für die Kontrolle der Auswertung sowie für den kritischen Diskurs mit Schmid bietet es sich an, NA28 als Startpunkt für die erste genealogische Betrachtung der Apk-Überlieferung zu wählen. Wenngleich sich in Zukunft an einigen Stellen die Textkonstitution ändern wird und damit auch die Relation einzelner Varianten, ist nicht anzunehmen, dass sich die Beziehungen der Zeugen deswegen fundamental verschieben werden. Denn grundsätzlich berücksichtigt die Auswertung sämtliche Varianten einer variierten Stelle und nicht nur die Variante des Ausgangstextes. Für die genealogischen Beziehungen der Zeugen sind auch Varianten in der zweiten und dritten Ebene des Varianten-Stemmas maßgeblich, die von einer möglichen Textänderung unberührt bleiben. Angenommen es gibt drei Varianten zu einer Stelle (a, b und c), wobei c von b abhängt und a und b als mögliche Varianten des Ausgangstextes in Frage kommen. Unabhängig davon für welche Variante man sich in diesem Fall als Ausgangswortlaut entscheidet, wird c immer noch von b abhängen. Folglich bleibt die Relation der Zeugen b-c von der Textänderung völlig unberührt. Mit anderen Worten heißt dies, dass potenzielle Textänderungen an einzelnen Stellen nur einen geringen Einfluss auf die Relationen der Gesamtüberlieferung haben. Im zweiten Schritt wurden alle 16 Handschriften an sämtlichen Teststellen verglichen und gemäß der erstellten lokalen Varianten-Stemmata in Relation zueinander gesetzt. Dabei sind vier Relationsszenarien denkbar: a) Beide Zeugen haben denselben Wortlaut (Z1 = Z2), b) Zeuge 2 hat gegenüber Zeuge 1 die prioritäre Variante (Z1 < Z2), c) Zeuge 1 hat gegenüber Zeuge 2 die prioritäre Variante (Z1 > Z2), d) zwischen Zeuge 1 und Zeuge 2 besteht keine Verbindung, weil eine Variante entweder nicht im Stemma verordnet werden konnte oder die Zeugnisse in keiner direkten Verbindung stehen (Z1 NV Z2). Letzteres gilt auch dann, wenn beide Zeugen unterschiedliche Varianten bekunden, die aber auf dieselbe Quellvariante zurückgehen: Beispielsweise hat Z1 Variante b und Zeuge 2 Variante c, die beide auf Variante a zurückgehen. In diesem Fall verhalten sich b und c je posterioritär zu a, aber zwischen b und c besteht keine genealogische Relation im Sinne eines Abhängigkeitsverhältnisses. Dass zwei Zeugen an einzelnen Stellen nicht in Verbindung stehen (NV) kann verschiedene Ursachen haben, die im Zweifelsfall genauer zu ergründen sind.
betrifft, sind die Schwierigkeiten bei der Erstellung des Varianten-Stemmas ein weiteres Argument für die Annahme von Zahlbuchstaben als Ausgangstext.
Stellen mit unsicherer Textkonstitution in NA28
Das Ergebnis dieses Verfahrens wird in mehreren Vergleichstabellen abgebildet und sukzessive textgeschichtlich ausgewertet. Dabei gilt es stets zu beachten, dass genealogische Relationen zwischen einzelnen Zeugen nicht unmittelbar texthistorische Entwicklungen spiegeln. Vielmehr sind sie ein wichtiger Teilaspekt neben anderen Beobachtungen wie das Variationsverhalten einzelner Zeugen oder der Einordnung von Korrekturen, um die Textgeschichte aufzuhellen. Im Rekurs auf Schmid verspricht aber gerade die genealogische Untersuchung der Zeugen große Fortschritte in der Darstellung der Textgeschichte, weil sie nicht von vorgefassten Texttypen ausgeht, sondern das Primat der Textzustände gilt und diese ihrem Zeugnis gemäß in den Blick nimmt.
. Stellen mit unsicherer Textkonstitution in NA28 Einen Sonderfall für die genealogische Auswertung stellen solche Teststellen dar, an denen die Textkonstitution in NA28 offen gelassen ist. Das betrifft folgende 9 Fälle: TST 2 (Apk 1,4): εις τους αιωνας] + των αιωνων TST 35 (Apk 5,6): πνευματα του θεου] επτα πνευματα του θεου TST 51 (Apk 13,1): ονομα] ονοματα TST 68 (Apk 14,3): ως] om. TST 108 (Apk 21,3): μετ αυτων εσται] + αυτων θεος TST 111 (Apk 21,4): ετι οτι τα πρωτα] ετι τα πρωτα TST 113 (Apk 21,6): γεγοναν εγω ειμι] om. ειμι TST 118 (Apk 21,12): τα ονοματα] om. TST 123 (Apk 21,27): ο ποιων] ποιων
Diese Teststellen erweisen sich insofern problematisch, als dass kein eindeutiger Startpunkt der Überlieferung festgelegt ist und die beiden Varianten, die nach NA28 als möglicher Ausgangstext in Betracht kommen, per Definition daher in keiner direkten genealogischen Verbindung stehen können. Dies hat zur Folge, dass die Zahl unverbundener Stellen (NV) beim Vergleich bestimmter Zeugen deutlich erhöht ist. Bei der Interpretation der NV-Fälle zweier Zeugen ist dieser Aspekt gesondert zu berücksichtigen, da er nur bedingt auf eine genealogische Trennung hindeutet. Sämtliche lokalen Varianten-Stemmata zu diesen Stellen sind so angelegt, dass der fragliche Ausgangstext mit Sternchen plus Fragezeichen („*?“) markiert ist und die beiden von NA28 vorgeschlagenen Ausgangsvarianten je am Kopf eines Zweigs der Variantenbildung stehen. Diese Varianten-Stemma bilden an den betroffenen Stellen die Grundlage für die genealogische Untersuchung; basierend auf den neuen Erkenntnissen wurde
Vorbemerkungen zur Auswertung der Textgenese jeweils ein alternatives Varianten-Stemma zu den 9 vorgenannten Stellen entworfen (markiert durch „*Alt“), indem die Textentscheidung basierend auf den Ergebnissen der genealogischen Auswertung zugunsten einer Ausgangslesart eindeutig gefällt wurde. Die Entscheidungen bilden kein Präjudiz für die anstehende ECM, sondern schlagen eine fundierte Hypothese über die Textentwicklung vor, die im Zuge der ECM nochmals zu prüfen ist.
Die ältesten Textzustände Wie erwähnt unterscheidet Schmid zwei ältere Textformen, und zwar den von ihm so bezeichneten A- und S-Text. Ihm zufolge überragt der A-Text an Wert alle übrigen Textformen und wird vom ihm als „neutraler Text“ eingestuft.28 Die Hauptzeugen für den A-Text sind die Handschriften 02 und 04 sowie der Text des Oecumenius, der mit diesen „im ganzen identisch“29 sei. Wie zu zeigen sein wird, bietet die Oecumenius-Tradition allerdings einen von 02 und 04 deutlich abweichenden Textzustand und ist nur begrenzt mit diesen beiden Handschriften verwandt. Überdies weist die Begründung für den mutmaßlichen A-Text schwerwiegende argumentative Schwächen auf. Schmid äußerst sich über die Feststellung des A-Textes wie folgt: „An einigen Stellen endlich ist […] der Text von A (sic. 02) allein als Repräsentant dieses Texttyps (gemeint A-Text) anzuführen.“30 Der Satz trägt zum einen der Hochschätzung von 02 Rechnung und ist zum anderen dem Problem geschuldet, dass 04 eben ein größerer Teil der Apk fehlt. Allerdings wirft er auch die methodische Rückfrage auf, wie das Zeugnis lediglich einer Handschrift einen ganzen Texttyp der Überlieferung konstituieren kann. Schmids Aussage führt letztlich klar vor Augen, auf welcher schmalen Grundlage seine Beweisführung steht und das Postulat des A-Texttyps mit einem großen Fragezeichen zu versehen ist. Für den S-Text nennt Schmid P47 und 01 als primäre Zeugen, die häufig durch den von Origenes benutzten Apk-Text begleitet würden.31 Der S-Text bilde zwar auch einen „alten“ Text der Überlieferung, weise aber anders als der A 28 So Schmid, Studien II, 147: „An einer erheblichen Anzahl von Stellen haben AC allein den Urtext bewahrt“. 29 Schmid, Studien II, 147. 30 Schmid, Studien II, 85. 31 Schmid, Studien II, 110. Schmid schließt sich hier der Überzeugung Boussets an, der zufolge „die unmittelbare Textgrundlage von S mit der Vorlage des Origenes identisch war“; Bousset, Offenbarung, 158. Doch bereits Schmids Auflistung der vermeintlichen Sonderlesarten des S-Text, durch die er sich von allen übrigen Textformen der Apk unterscheide, lässt nachhaltige Zweifel an dieser Annahme aufkommen. Denn für keine der aufgeführten Varianten erscheint Origenes als Zeuge (vgl. Schmid, Studien II, 111–112), weil er den betreffenden Abschnitt entweder gar nicht zitiert oder aber einen anderen Wortlaut bietet (vgl. dazu die Aufstellung der Origenes-Zitate in Schmid, Studien II, 152–156). Welchen textkritischen Wert die Apk-Zitate des Origenes haben und wo sie in der Überlieferung texthistorisch zu verordnen sind, wäre durch eine entsprechende patristische Spezialuntersuchung zu ergründen. Der von Bousset und Schmid vertretenen Auffassung, für die sich zumindest aus den bei Schmid ersichtlichen Informationen kein Begründungszusammenhang entnehmen lässt, sollte jedenfalls bis auf Weiteres mit großer Skepsis begegnet werden. https://doi.org/10.1515/978311119430-012
Die ältesten Textzustände Text bereits eine „beträchtliche Zahl von Korrekturen“32 auf. Demnach betrachtet Schmid den S-Text bereits als sekundäre Entwicklung und hält ihn für weniger wertvoll als den „neutralen Text von AC“33. Analog zum A-Text sieht sich Schmid genauso hinsichtlich des S-Textes mit dem Problem konfrontiert, dass in P47 ein Großteil des Apk-Textes verloren gegangen ist. So hält er einschränkend in einem unauffälligen Satz fest: „Nur für den Teil des Gesamttextes der Apk, der auch in dem Fragment P47 steht, können wir die Textform P47 S genau bestimmen.“34 Wie aber lässt sich ein Texttyp nachweisen, wenn er in ca. Zweidrittel des Textes gar nicht festgestellt werden kann? Auf diese Frage gibt Schmid keine Antwort, obwohl er um die Unzuverlässigkeit von 01 weiß und die Begründung damit ebenfalls von Anfang an auf tönernen Füßen steht. Behelfsmäßig verweist er auf verschiedene Minuskeln wie F1006, 2344, F1678, 1611 und 1854 sowie die koptische Version, die P47 und 01 angeblich häufig begleiten würden.35 Wie Malik nachweist, bestehen tatsächlich gewisse Verbindungen zwischen der sahidischen Übersetzung und P47.36 Doch ist diese Beziehung kein Beleg für einen gemeinsamen Texttyp, sondern als wenig überraschende historische Begebenheit zu werten. Erwartungsgemäß benutzte man in Ägypten zur Anfertigung der sahidischen Übersetzung offensichtlich einen Zeugen dessen Text demjenigen von P47 verhältnismäßig nahestand.37 Desgleichen können die von Schmid genannten Minuskeln kaum als belastbare Stützen für den S-Text eingesetzt werden, da sie wie 1611 wesentlich von 01 abweichen: Die Übereinstimmungsquote von 1611 mit 01 liegt deutlich unter 50 %, weshalb 01 auch gar nicht als Vergleichshandschrift in der Gruppenliste von 1611 erscheint.38 Folglich gilt für den S-Text dasselbe ungelöste Problem wie für den A-Text, dass Schmid nämlich für weite Teile des Apk-Textes meint, einen Texttypen auf der Basis des Zeugnisses einer einzigen Handschrift feststellen zu können. In beiden Fällen weckt schon die bedenkliche Ausgangslage in Schmids Beweisführung erhebliche Zweifel, an der postulierten Existenz des A- und STextes als Texttypen der Apk-Überlieferung. In der nachfolgenden Analyse wird der Beweis angetreten, dass sich weder der A- noch der S-Text in der Überliefe 32 Schmid, Studien II, 109. 33 Schmid, Studien II, 112. 34 Schmid, Studien II, 112. 35 Schmid, Studien II, 113. 36 Siehe Malik, P.Beatty III, 194–221. Darunter finden sich auch vier signifikante Singulärlesarten von P47, die in der sahidischen Version wohl gespiegelt werden und auch ein deutliches Indiz für eine engere Verbindung sind (vgl. die Kollationsliste a. a. O. 201–204). 37 Dazu Malik, P.Beatty III, 221. 38 Vgl. TuT-Apk, 650.
02 und 04
rung nachweisen lassen und die Verhältnisse der Zeugen P47, 01, 02 und 04 dementsprechend neu zu bestimmen sind.
. 02 und 04 Gemäß allgemein anerkannter Forschungsmeinung sind 02 und 04 die besten Zeugen für die Apk.39 Diese Sicht wird durch TuT-Apk prinzipiell bestätigt: 02 und 04 haben mit deutlichem Abstand die höchsten Anteile an LA-2 und LA2mS von allen erfassten Handschriften. Während sich die Rate an LA-2 in 02 auf 83 % beläuft und der Zeuge damit an der Spitze der gleichlautenden Sortierungsliste steht, weist 04 mit 85,7 % die höchste Quote an LA-2mS sämtlicher Handschriften auf.40 Der Wert an LA-2 oder LA-2mS reduziert sich entsprechend um alle Fälle, in denen die künftige Textherstellung eventuell von 02 und/oder 04 abweicht. Da dies aber Einzelfälle betrifft und an anderen Stellen womöglich der Text wiederum zugunsten von 02 und/oder 04 geändert wird, ist keine umstürzende Änderung in der Einschätzung ihres Textwertes zu erwarten. Damit werden sie trotz anstehender Textänderung mit einhergehender Neubewertung der lokalen Variantenbildungen in jedem Fall ausgangstextnahe Zeugen bleiben. Darüber hinaus bestätigt die TuT-Auswertung zwar, dass 02 und 04 eng verwandte Zeugen sind und zu 72 % an allen Teststellen übereinstimmen,41 doch fällt der Zusammenhalt niedriger als erwartet aus und lässt Zweifel an ihrer Zuordnung als Vertreter einer gemeinsamen Textgruppe aufkommen.42 Die Problematik vergrößert sich durch den Umstand, dass ebenso die von Schmid postulierte Nähe von 02-04 und F2053 (Oecumenius-Text) in den TuT-Daten nicht auszumachen ist. Tatsächlich bezeugt F2053 einen erheblich von 02-04 abweichenden Textzustand. Es soll darum zunächst die Beziehung von 02 und 04 sowie ihre Verbindung zur Oecumenius-Tradition (F2053) kritisch überprüft
39 Die Auffassung über den hohen Wert von 02 und 04 hat sich editorisch seit Lachmann immer stärker durchgesetzt und ist durch Schmid textgeschichtlich bestätigt worden. 40 Vgl. dazu die Daten in TuT-Apk, 422, 429. Dies gilt allerdings nur unter der Einschränkung, dass manche Textentscheidungen in NA28 auf Basis von 02 und/oder 04 kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu treffen sind. 41 Vgl. TuT-Apk, 602. 42 Siehe dazu schon die anfänglichen Bedenken in TuT-Apk, 67*. Die hier vorgebrachten Bedenken an Schmids A-Text hat Hernández jüngst aufgegriffen und sich ihnen angeschlossen: Hernández, Corrections, hier 117.
Die ältesten Textzustände werden, um sie anschließend in Hinsicht auf die Genese der Andreas- und Koine-Tradition genealogisch zu verorten.
.. Verbindende und trennende Lesarten von 02 und 04 Zur Feststellung der Verbindung von 02 und 04 ist zu beachten, dass 04 ein Teil der Apk fehlt und die Handschrift deswegen nur an 87 von 123 Teststellen verzeichnet werden konnte.43 Um die Relation der zwei Zeugen festzustellen, können ausschließlich die Stellen berücksichtigt werden, an denen beide vorhanden sind. Da auch 02 in zwei Fällen fehlt,44 in denen 04 vorhanden ist, teilen sie insgesamt 85 Teststellen. Ferner können zunächst alle Fälle ignoriert werden, an denen sie zusammen den mutmaßlichen Ausgangstext der Überlieferung bezeugen. Da sich aus der Bezeugung von Varianten des Ausgangstextes keine textgeschichtlich weiterführenden Aussagen über die Relationen von Zeugen unmittelbar ableiten lassen, außer dass sie diesen mehr oder minder treu bewahrt haben, ist dieser Sachverhalt für die nähere Bestimmung des Verhältnisses von 02 und 04 erst einmal unerheblich. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Zeugnisse von 02 und 04 in TuT-Apk wie folgt dar: – Gemeinsame Varianten von 02 und 04 identisch mit NA28: TST 1, 3, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 23, 24, 42, 43, 45, 46, 47, 48, 52, 53, 56, 59, 60, 61, 62, 63, 65, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 86, 87, 93, 97, 98, 99, 101, 105. – 02 weicht von 04 ab, wobei 04 die Variante von NA28 bietet: TST 4, 21, 44, 50, 55, 77, 91, 92, 94, 96, 104. – 04 weicht von 02 ab, wobei 02 die Variante von NA28 bietet: TST 49, 54, 58, 66, 84, 85, 100, 102. – 02 und 04 weichen voneinander ab, wobei in NA28 eine unsichere Textkonstitution; vorliegt: TST 2, 51. – 02 und 04 weichen gemeinsam von NA28 ab: TST 57, 90. – 02 und 04 weichen je mit verschiedenen Varianten von NA28 ab: 89, 95. – 02 oder 04 fehlt: 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 64 (lac. 02), 88, 103 (lac. 02), 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123.
43 Vgl. TuT-Apk, 232. 44 02 fehlt in TST 64 und 103. Aufgrund kleinerer Beschädigungen an den Seitenrändern, fehlt hier ein Stück Text in 02.
02 und 04
Gemäß dieser Aufstellung teilen 02 und 04 jenseits der Schicht an Varianten, die den Text von NA28 bildet, kaum gemeinsame Lesarten. Lediglich in zwei Fällen (TST 57 und 90) bekunden sie dieselbe von NA28 abweichende Variante: In Apk 13,7 (TST 57) lassen 02 und 04 zusammen mit P47 und 46 weiteren Handschriften (u. a. AndGM) die erste Vershälfte καὶ ἐδόθη αὐτῷ ποιῆσαι πόλεμον μετὰ τῶν ἁγίων καὶ νικῆσαι αὐτούς weg, wohingegen NA28 dem Zeugnis von 01 und der Mehrheit folgt. Unbeschadet der Frage, ob diese Entscheidung begründet ist oder der Text in Zukunft anders zu rekonstruieren und eventuell die kürzere Lesart zu bevorzugen ist,45 hat das Fehlen von 13,7a keine durchschlagende Beweiskraft für die Beziehung von 02 und 04. Zum einen kann der Kurztext auf einer schlichten Parablepsis aufgrund der viermal wiederholten Wendung καὶ ἐδόθη αὐτῷ in 13,5–7 beruhen und das Zusammentreffen damit einem Zufall geschuldet sein. Zum anderen steht der kürze Wortlaut in diversen anderen Zeugen, sodass er aufgrund der breiten Bezeugung schwerlich als signifikante Lesart zur Verhältnisbestimmung von 02 und 04 infrage kommt. Desgleichen sieht man sich in Apk 18,3 (TST 90) mit einer äußerst fraglichen Textentscheidung in NA28 konfrontiert. Während 01 und die Mehrheit der Handschriften πεπτώκασιν lesen, gibt NA28 unter Einfluss von Schmid lediglich der durch 1828 und 2329 bezeugten Variante πέπωκαν den Vorzug.46 Vieles spricht dafür, 45 Karrer (Johannesoffenbarung I, 63) hält die Bezeugung für den Langtext in Apk 13,7 für schwach und weist auf einen möglichen Einfluss aus DanLXX 7,8 hin, unter dem 13,7a sekundär (eventuell als Glosse) in den Text eingedrungen ist. Er plädiert deswegen für eine Revision der Textkonstitution zugunsten des durch P47, 02 und 04 bezeugten Kurztextes. Tatsächlich erscheint die Langtextbezeugung durch 01 und dem Hauptteil der Koine-Gruppe etwas schwächer, wohingegen der längere Wortlaut die Variantenbildung an dieser Stelle besser als die Kurzfassung erklärt. Ausgehend vom Langtext erklärt sich sowohl dessen Auslassung in P47, 02, 04 u. a. als auch die Umstellung von πόλεμον ποιῆσαι in einem Teil sowie die Ergänzung von ἐξουσία in Anlehnung an 13,7b in einem anderen Teil der Handschriften; vgl. dazu TuTApk, 112–113. Andererseits spielt der Langtext weder in der Auslegung des Oecumenius noch des Andreas Caes. zu Apk 13,7 eine Rolle, was wiederum ein Indiz für dessen nachträgliche Entstehung sein könnte. Schmid rekonstruiert den Lemmatext des Andreas-Kommentars im Einklang mit der Mehrheit der Andreas-Handschriften und der Auslegung, in der sich ebenfalls kein Anhaltspunkt für den Langtext findet, folgerichtig ohne Apk 13,7a (vgl. Schmid, Studien Ib, 139). Da die Abwägung der Varianten offensichtlich schwerfällt, argumentiert Karrer völlig zurecht, dass die Textkonstitution in Apk 13,7 kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls künftig nach dem Zeugnis von P47, 02 und 04 zu entscheiden ist. 46 Schmid widmet der Variantenbildung einen für seine Verhältnisse längeren Exkurs mit dem Ergebnis, dass πέπωκαν trotz der schlechten Bezeugung weiterhin zu bevorzugen ist (Schmid, Studien II, 141–143). Er begründet seine Auffassung durch Verwerfung der übrigen Varianten, die entweder eine Anpassung an den Kontext oder an die Parallelstelle 14,8 bilden: Demnach sei πεπτώκασιν eine Anpassung an das vorangehende ἔπεσεν ἔπεσεν aus 18,2 (Ein-
Die ältesten Textzustände dass der Text an dieser Stelle in Zukunft anders zu rekonstruieren ist, zumal 02 und 04 mit dem Orthographicum πεπτώκαν das Zeugnis von 01 stützen. Dies bedeutet allerdings erneut, dass die übereinstimmende Bezeugung von πεπτώκαν durch 02 und 04 keine stichhaltigen Argumente für ihre Verhältnisbestimmung liefert. Die orthographische Form πεπτώκαν statt πεπτώκασιν mag zwar ein mögliches Indiz für eine engere Verbindung sein, doch markiert sie keinesfalls einen Leitfehler, durch den sich 02 und 04 vom Rest der Überlieferung abgrenzen ließen. Die Beobachtungen bestätigen sich größtenteils durch eine kurze von Tregelles zusammengestellte Liste an auffälligen Lesarten, die 02 und 04 gemeinsam bezeugen.47 Über den gesamten Apk-Text verteilt umfasst die Aufstellung 24 solcher Varianten,48 die Tregelles kritisch bewertet und trotz der Bezeugung durch 02 und 04 für die Textkonstitution verworfen hat. Aus heutiger Sicht müssen die Varianten differenziert betrachtet werden, zumal sie in manchen Fällen wie ἑστός in 14,1 oder μαργαρίτῃ in 18,16 durch 01 bestätigt werden und damit wohl gesichert den Ausgangstext darstellen.49 Neben Varianten enthält die Liste im philologischen Sinne ungewöhnliche Formen und diverse Ortho-
fügung von Tau) und πέπωκεν eine Harmonisierung zu Apk 14,8. Andererseits erklärt sich πέπωκαν ebenso gut als semantische Angleichung an οἴνου, weil man Wein vorzugsweise trinkt (Auslassung von Tau). Sataka (Offenbarung, 357 Anm. 652) argumentiert inhaltlich für πέπωκεν, da Apk 18,3 das Vergehen der ἔθνη beschreibt und nicht ihre Strafe (πεπτώκασιν). Dabei kann πεπτώκασιν nicht minder das Vergehen verbalisieren, in dem es einen Zustand völliger zu Fall gekommener Trunkenheit ausdrückt. Schließlich vermag auch der Hinweis auf 14,8 als Argument gegen πέπωκεν nicht restlos zu überzeugen. Zwar entspricht die Änderung im Numerus der Formulierung πεπότικεν in 14,8, doch bieten in 18,3 erst sehr junge Handschriften durch Bezeugung von πεπότικεν eine vollständige Angleichung an 14,8. Insofern gibt es handfeste Gründe, die Lesart πεπτώκα(σι)ν als Ausgangspunkt der Variantenbildung anzunehmen. Sie erklärt als inhaltlich und sprachlich schwierigere Lesart, die Entstehung von πέπωκαν, πέπωκεν und πεπότικεν insgesamt am besten, zumal sie durch 01, 02 und 04 auch mit Abstand am stärksten bezeugt ist. 47 Vgl. Tregelles, Book of Revelation, xxxiii–xxxiv. 48 Darunter befinden sich auch sechs Fälle, die zur Teststellen-Auswahl gehören: Apk 1,15 (TST 7) πεπυρωμένης; 2,13 (TST 20) μου post πιστός; 13,7a (TST 57) om. καὶ ἐδόθη αὐτῷ ποιῆσαι πόλεμον μετὰ τῶν ἁγίων καὶ νικῆσαι αὐτούς; 14,1 (TST 67) ἑστός; 18,3 (TST 90) πέπωκαν; 18,16 (TST 101) μαργαρίτῃ. 49 In 18,16 bevorzugte Tregelles gegen 02 und 04 (01 war ihm im Jahr 1844 noch nicht bekannt) die Variante μαργαρίταις der Handschriftenmehrheit, die sich jedoch wohl aus Angleichung an 17,4 ergeben hat; so bereits R. H. Charles, A Critical and Exegetical Commentary on the Revelation of St. John with Introduction, Notes, and Indices. Also the Greek Text and English Translation, Vol. 2, Edinburgh 1920, 105; Schmid, Studien II, 80; D. E. Aune, Revelation 17– 22, WBC 52c, Nashville, TN 1998, 971.
02 und 04
graphica: 1,11 θυάτ(ε)ιραν; 1,13 ἐμμέσῳ; 1,13 χρυσᾶν; 2,1 ἐμμέσῳ; 2,1 χρυσεῶν; 3,9 διδῶ50 (Ableitung von διδόω); 6,6 ἐμμέσῳ; 12,5 ἄρσεν51. Wenngleich Schreibalternativen mit gewisser Vorsicht zu betrachten sind, darf zumindest das wiederholte ἐμμέσῳ als Indiz dafür gewertet werden, dass 02 und 04 manche Lesarten scheinbar aufgrund einer gemeinsamen Grundlage teilen. Gleichwohl sollte dem Befund nicht zu viel Gewicht beigemessen werden, da ἐμμέσῳ laut Hoskier in 2,1 außerdem durch 2060 und in 6,6 durch 2329 dokumentiert wird.52 Folglich ist das Orthographicum keine allein auf 02 und 04 eingrenzbare Erscheinung, zumal 2060 die Schreibweise aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch eine Verbindung zu 02 oder 04 aufweist.53 Wie schwierig die Bezeugung von Orthographica einzuschätzen ist, zeigt ein Blick auf die übrigen Belege: Während χρυσεῶν und διδῶ nach Hoskier ausschließlich durch 02 und 04 dokumentiert 50 Seit Westcott/Hort wird die ungewöhnliche Form διδῶ von allen kritischen Ausgaben außer Soden bevorzugt. Unter Verweis auf 22,2 ἀποδιδοῦν beruht die Textkonstitution wohl auf der Annahme, dass die usuelle Form δίδωμι demgegenüber als sekundäre Korrektur durch die Überlieferung bewertet wird. So z. B. Schmid, Studien II, 88. Diese Argumentation wirft allerdings die Frage auf, warum ἀποδιδοῦν in 22,2 im Zuge der Transmission nur ganz selten zu ἀποδιδόντα korrigiert wurde (vgl. Hoskier, Text II, 618). Folglich kann das allein durch 02 und 04 bezeugte διδῶ ebenso denkbar auf einen Schreibfehler zurückgehen, indem die Endsilbe μι bei der Transkription versehentlich ausgefallen ist. In diesem Fall wäre διδῶ als markanter Fehler ein einschlägiger Anhaltspunkt, der auf eine engere Verbindung von 02 und 04 hindeuten würde. 51 Die ungewöhnliche Schreibung ἄρσεν steht zwar ausschließlich in 02 und 04 (vgl. Hoskier, Text II, 315) und wird von NA28 als Textlesart bevorzugt, dürfte aber auf einer fehlerhaften Abschrift des analogen Orthographicums ἄρσενα beruhen bzw. ist mit diesem identisch (ἄρσεν’ kann Akk. Mask. Sg. darstellen); letzteres wird durch diverse Handschriften als Alternative zu ἄρρενα dokumentiert (vgl. a. a. O.). Schon Weiss (Textkritische Untersuchungen, 97) stuft ἄρσεν als Schreibfehler ein. Denkbar wäre auch eine Anpassung an JesLXX 66,7 (καὶ ἔτεκεν ἄρσεν). Anders Schmid (Studien II, 90), der ἄρσεν wegen der Jesaja-Stelle für ursprünglich hält. Die Argumentation von Schmid kann nicht überzeugen, da 02 und 04 auch in 12,13 ἔτεκεν τὸν ἄρσενα lesen. Obwohl der Wortlaut hier JesLXX 66,7 viel näher steht, weicht die Formulierung in der Apk ab und wird auch nicht in der Überlieferung – soweit aus Hoskier (Text II, 326) ersichtlich – in keiner Handschrift an den mutmaßlichen Prätext angepasst. Demgegenüber ist die Annahme sehr viel wahrscheinlicher, dass in 12,5 α nach ν oder vor ὃς zur Vermeidung des Hiatus aus Versehen fehlt. Tischendorf (Novum Testamentum II, 971) hält ἄρσεν für einen Solözismus, der die Aussage nicht umständlicher als an vergleichbaren Stellen in der Apk formuliere. Wenn man jedoch in Rechnung stellt, dass ἄρσεν in 02 und 04 auf fehlerhafter Abschrift beruhen kann und es in 12,13 korrekt τὸν ἄρσενα heißt, sollte die gegenwärtige Textkonstitution nochmals kritisch überdacht werden. 52 Vgl. Hoskier, Text II, 55, 172. In 1,13 findet sich ἐμμέσῳ außerdem noch im Kommentarabschnitt von 2060. 53 Die Handschrift 2060 gehört zur Andreas-Gruppe und steht in keiner quantitativ feststellbaren Verbindung zu 02 oder 04; vgl. TuT-Apk, 690–691.
Die ältesten Textzustände sind, wird θυάτ(ε)ιραν von einer Vielzahl an Handschriften gelesen und χρυσᾶν steht zumindest noch in 01*.54 Im Endeffekt fällt die Menge an prägnanten Orthographica, die 02 und 04 gemeinsam vertreten, so gering aus, dass sich aus dem Befund kaum beweiskräftige Informationen über das Verhältnis der beiden Handschriften herauskristallisieren lassen. Überdies ist das Phänomen nicht auf das gemeinsame Zeugnis von 02 und 04 beschränkt, sondern die zwei Handschriften teilen je auch eigentümliche Orthographica mit anderen Zeugen: In Apk 1,9 dokumentieren beispielsweise 01 und 04 die Schreibweise συνκοινωνός gegen 02 mit συγκοινωνός.55 Der diskrepante Befund verlangt eine zurückhaltende Auswertung der Orthographica als mögliche Kennzeichen für die Zusammengehörigkeit spezifischer Zeugen; denn analog zu Varianten können sie ein Indiz für deren engere Verwandtschaft sein, doch trifft dies offenbar keineswegs in jedem Fall zu. Für das Verhältnis von 02-04 folgt daraus, dass die beiden Handschriften durch ἐμμέσῳ einerseits markant verbunden und durch die Schreibungen συνκοινωνός bzw. συγκοινωνός andererseits wiederum getrennt sind. ... Verbindende Lesarten von 02 und 04 Grundsätzlich fällt es jenseits des Ausgangstextes schwer, weitere Spuren einer engeren Verbindung zwischen 02 und 04 ausfindig zu machen. Die folgende Übersicht führt zumindest drei Varianten aus Schmids und Tregelles’ Listen auf, die ausschließlich durch diese beiden Textzustände dokumentiert sind: Apk 2,17: νικωντι] νικουντι 02 04 Apk 3,2: τα εργα] om. τα 02 04 Apk 13,5: αυτω] αυτη 02 04
Mit νικοῦντι liegt in 2,17 ein weiteres auffälliges Orthographicum vor (Ableitung von νικέω), das 02 und 04 gemäß derzeitigem Kenntnisstand gegen den Rest der Überlieferung teilen.56 Weil die beiden Handschriften jedoch in 2,7 in Bezug auf die Schreibung abweichen, sollte der Beleg in 2,17 mit entsprechendem Bedacht interpretiert werden. Während 02 in 2,7 ebenfalls νικοῦντι bietet, liest 54 Vgl. zur Bezeugung Hoskier, Text II, 42, 44, 54, 101. 55 Nach Hoskier (Text II, 37) begegnet die Schreibung συνκοινωνός außerdem in: 88, 2036, 2047, 2048, 2329, 2919. 56 Laut Hoskier (Text II, 72) tritt νικοῦντι ausschließlich in 02 und 04 auf. Einige Handschriften weisen außerdem die Schreibung νικοντι (Akzentsetzung variiert zwischen Akut oder Zirkumflex auf Omikron), bei der es sich um eine typische Omega-Omikron-Verschreibung von νικῶντι handelt.
02 und 04
04 wie die allermeisten Handschriften νικῶντι.57 In 3,2 weisen zwar lediglich 02 und 04 den Ausfall des Artikels τά vor ἔργα auf,58 doch kann der anzunehmende Schreibfehler bestenfalls als weiterer Verdachtsmoment einer noch schwer durchschaubaren Relation der beiden Handschriften herhalten. Dasselbe gilt für αὐτῇ statt αὐτῷ in 13,5;59 die Änderung des Personalpronomens zum Feminin ist als Schreibfehler zu werten und könnte auf eine mechanische Angleichung an das Wort γῆ zurückgehen, das mehrfach im Kontext der Stelle auftaucht.60 Demnach können die drei Stellen als Indizien mit geringer Beweiskraft für eine mutmaßliche Beziehung von 02 und 04 jenseits des Ausgangstextes angesehen werden, doch lässt sich auf dieser schmalen Basis schwerlich eine gemeinsame Textgruppe begründen. Da alle übrigen von Schmid für den A-Text angeführten Varianten auch in diversen anderen Handschriften begegnen, sind diese weder für das Verhältnis von 02 und 04 im engeren Sinne beweiskräftig noch vermögen sie die Existenz eines mutmaßlichen Texttyps überzeugend nachzuweisen.61 Dazu kommen zwei fragliche Stellen, an denen das gemeinsame Zeugnis von 02 und 04 die gegenwärtige Textkonstitution in NA28 bestimmt: TST 7 (Apk 1,15): πεπυρωμενης 02 04 NA28] πεπυρωμενω 01 ¦ πεπυρωμενοι rM TST 13 (Apk 2,3): και ου κεκοπιακες 02 04 NA28] και ουκ εκοπιασας 01 rM
57 Auch dazu vgl. Hoskier, Text II, 60. Ferner lesen 02 und 04 in 2,11; 2,26; 3,5; 3,12; 3,21 stets νικῶν (und nie νικοῦν). 58 Vgl. Hoskier, Text II, 93. Lachmann und Westcott/Hort geben dem Zeugnis von 02-04 für die Textkonstitution den Vorzug und werden dabei durch Weiss (Textkritische Untersuchungen, 108, 165) bestätigt, der die Beifügung des Artikels für eine sekundäre Anpassung an 3,1 hält. Dagegen spricht vieles für einen Lapsus bei der Textkopie, durch den τά schlichtweg ausgefallen ist (so richtig Schmid, Studien II, 87). 59 Laut Weiss (Textkritische Untersuchungen, 136) soll auch 025 αὐτῇ lesen, was sich aber weder anhand des Transkriptes von Tischendorf (Monumenta sacra inedita. Nova Collectio VI, 55) noch aus der Kollation von Hoskier bestätigen lässt. 60 Als Schreibfehler bewerten αὐτῇ: Westcott/Hort, Introduction, Appendix 138; Schmid, Studien II, 91. Schmid hält auch eine Anpassung an μάχαιρα (13,10) für denkbar. Weiss (Weiss, Textkritische Untersuchungen, 136) versucht αὐτῇ durch Annahme einer fraglichen Konjektur Sinn beizumessen, indem er eine freie Verkürzung im Sinne von τῇ εἰκόνι τοῦ θηρίου postuliert. Die Erklärung ist komplex und keinesfalls erforderlich, um αὐτῇ als unsinnigen Schreibfehler zu betrachten. 61 Vgl. die Liste in Schmid, Studien II, 86–96. Schmid gibt selbst häufig an, dass Varianten des vermeintlichen A-Textes in diversen anderen Handschriften und Überlieferungszweigen außer 02 und 04 vertreten sind. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass 04 an etlichen Stellen der Liste fehlt.
Die ältesten Textzustände In Apk 1,15 bezeugen 02 und 04 das Partizip πεπυρωμένης, das wegen seiner sprachlichen Schwierigkeiten häufig als lectio difficilior angesehen wird.62 In dem ganzen Vers findet sich zu dem Genitiv kein konkordantes Bezugswort, weshalb die Variante als Beleg für einen Solözismus angeführt oder auch zu den sprachlichen Insuffizienzen der Apk gezählt wird.63 Dabei wird angenommen, dass der Genitiv hier anstelle des Dativs benutzt wurde.64 Als weitere mögliche Erklärung für den Genitiv schlägt Mussies vor, das Partizip als Substantiv nach ַ aufzufassen („im Schmelzofen“).65 Bildung des aramäischen Äquivalents צרף Ferner erwägt Karrer die stilistische Figur einer Ellipse, wonach ein Bezugswort wie μορφή gedanklich zu ergänzen ist.66 Demgegenüber bietet 01 mit πεπυρωμένῳ ein syntaktisch mögliches Partizip, das sich wohl auf χαλκολιβάνῳ beziehen soll, ebenso wie die Mehrheit der Handschriften mit πεπυρωμένοι in Bezug auf πόδες. Sofern es sich nicht um einen Fehler handelt, stellt πεπυρωμένης hier sicherlich die schwierigste Lesart dar und erklärt als solche die Bildung von πεπυρωμένῳ oder πεπυρωμένοι als grammatikalische Korrekturen der Überlieferung. Doch wie schon Schmid hervorgehoben hat, ist die Tatsache nicht zu leugnen, „daß der Text von AC sprachlich unkorrekt ist“.67 Dem pflichtet jüngst Klaus Wengst bei und verwirft πεπυρωμένης als „unsinnigen grammatischen
62 Siehe exemplarisch zur Begründung B. M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament. A Companion Volume to the United Bible Societies' Greek New Testament, Stuttgart 1994, 663–664. 63 W. Bauer/K. Aland/B. Aland, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6., völlig neu bearbeitete Auflage, Berlin 1988, Sp. 1462: „πεπυρωμένης gehört zu den sprachlichen Unzulänglichkeiten der Apk“ (im Zitat Abkürzungen aufgelöst). 64 Siehe dazu die Ausführungen bei Moț, Irregularities, 136–138. Als Bezugspunkt für πεπυρωμένης kommen entweder χαλκολιβάνῳ (falls Femininum) oder wahrscheinlicher καμίνῳ in Betracht. 65 Siehe Mussies, Morphology, 98–99. 66 So Karrer, Johannesoffenbarung I, 252. Des Weiteren wird auf die lateinische Tradition als Zeuge für πεπυρωμένης hingewiesen, auf dessen Grundlage sich die Übersetzung fornace ignea am besten erkläre; Bousset, Offenbarung, 196. Allerdings ist diese Lesart nur durch Primasius belegt, während andere gewichtige altlateinische Stränge camino succensus est (X), fornace conflato (Y) oder fornace igneo (K) lesen; vgl. Gryson, Apocalypsis Johannis, 139. Folglich kann die lateinische Version nur äußerst bedingt als Stütze für den Genitiv von 02 und 04 als Ausgangslesart herangezogen werden. Nicht zuletzt könnte Primasius hier einem Irrtum der griechischen Überlieferung erlegen sein. 67 Schmid, Studien II, 245. Schon Tregelles (Book of Revelation, 33) hielt anfangs πεπυρωμένης für einen „bloßen Fehler (mere erratum)“.
02 und 04
Fehler“.68 Wenn man sich die Varianten in Majuskelschrift vor Augen führt, liegt ein Schreibfehler als mögliche Ursache für den Genitiv sehr wohl nahe. Die graphemischen Unterschiede sind nicht so groß, dass aus den Endungen ω/ωι bzw. οι durch fehlerhafte Transkription oder eine schwer zu entziffernde Vorlage nicht -ης bei der Abschrift hätte entstehen können.69 Gegen den Genitiv von 02 und 04 spricht außerdem, dass sprachliche Auffälligkeiten in der Apk normalerweise einem höheren rhetorischen Zweck dienen (z. B. ἀπὸ ὁ ὤν 1,4 oder Enallage in 1,10–11 durch Bezug von λεγούσης auf σάλπιγγος). Weil dieses Kriterium im Fall von πεπυρωμένης als Ausgangstext in 1,15 allerdings nicht zum Tragen kommt, bleibt die Frage, welche Aussageabsicht der Text mit diesem ungewöhnlichen bzw. grammatikalisch falschen Genitiv verfolgen sollte, die nicht auch durch die beiden anderen Varianten zum Ausdruck käme. Schließlich birgt auch die Variante πεπυρωμένῳ durch den Bezug auf das Hapax legomenon χαλκολιβάνῳ mit unklarem Genus gewisse Schwierigkeiten. Da der Begriff außerhalb der Apk nicht belegt ist,70 könnte auch dieser ansonsten unbekannte Begriff die Variantenbildung ausgelöst haben. In diesem Fall ließe sich πεπυρωμένης als missglückte Korrektur verstehen, um den syntaktischen Bezugspunkt auf καμίνῳ zu ändern. Die Frage nach der Rekonstruktion des Ausgangstextes in 1,15 hat außerdem Konsequenzen für das Verhältnis von 02 und 04. Wenn man dem obigen Vorschlag folgt und πεπυρωμένης als sekundäre Entwicklung betrachtet, dann ist der Genitiv ein belastbarer Indikator für eine Verbindung der beiden Handschriften jenseits des Ausgangstextes. Da nur schwer vorstellbar ist, dass sich 68 K. Wengst, „Wie lange noch?“ Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010, 116. 69 Die Verschreibung von τω πρι ησαντι von 01 für τῷ ποιήσαντι darf als weiterer anschaulicher Beleg dafür gelten, welche sinnlosen Lesarten im Abschreibprozess entstehen konnten. Genauso zu nennen sind die im Kontext unsinnigen Lesarten μαργαρίταις von 02 in Apk 18,12 (TST 96) sowie ἔτι τὰ πρόβατα von 01 in Apk 21,4 (TST 111). Zu letzterer hielt schon Metzger trefflich fest: „an example of what nonsense scribes can produce“; B. M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, London 1975, 764 Anm. 1. Überdies dokumentiert 02 in 14,18 (TST 86) eine weitere merkwürdige Verschreibung, und zwar ἤχμασαν statt ἤκμασαν. In Anbetracht dieser Nachweise erscheint die Annahme, dass die Lesart πεπυρωμένης in Apk 1,15 durch einen schlichten Schreibfehler entstanden ist, keineswegs abwegig, sondern sie liegt vielmehr auf der Hand. Nicht zuletzt zeigt dieser Fall sachbezogen, dass unsinnige Schreibfehler oder orthographische Ungenauigkeiten nicht vorschnell zu einer naheliegenden Quellvariante normalisiert werden sollten, da sie sehr wohl dazu beitragen, das Variationsverhalten eines Zeugen besser verstehen zu können. 70 Laut Bauer/Aland/Wachtel, Wörterbuch, Sp. 1746. Zur Deutung des schwierigen Begriffs siehe die ausführliche Darlegung in Kraft, Offenbarung, 46.
Die ältesten Textzustände der Fehler zweimal unabhängig entwickelt hat, dürften 02 und 04 ihn aufgrund einer gemeinsamen Vorlagenkette bezeugen. Wie breit diese Gemeinsamkeiten ausgeprägt sind und welche Qualität sie haben, ist damit nicht entschieden. Allerdings lassen sich πεπυρωμένης und vergleichbare Sonderlesarten im Zeugnis der beiden Handschriften nicht als Kennzeichen für ihre zumindest teilweise identische Abstammung ignorieren. Eine weitere Lesart, die in diesem Zusammenhang zu nennen ist, findet sich in Apk 2,3. Dort lesen 02 und 04 καὶ οὐ κεκοπίακες, wohingegen 01 und die Mehrzahl der Handschriften καὶ οὐκ ἐκοπίασας bieten. Das Perfekt κεκοπίακες wird allgemein als Ausgangslesart angesehen, weil sich der Aorist ἐκοπίασας leicht als kontextuelle Harmonisierung erkläre (Anpassung an ἐβάστασας).71 Dabei kann sich die Variante κεκοπίακες genauso durch Angleichung an das Umfeld ergeben haben, da wenige Worte später in 2,4 ἀφῆκας steht. Die Variantenbildung beruht vermutlich auf einer naheliegenden Schreibirritation bedingt durch die Zuordnung von κ zur vorangehenden Negation oder zum nachstehendem Verb. Hiervon zeugt bereits eine unauffällige Korrektur in 02, durch die mittels eines kleinen oberlinigen Punktes die Trennung zu και ουκ εκοπιακες angezeigt wird.72 Als auffällig erweist sich an der Perfektbildung ferner die Endsilbe -κες statt -κας, die zu erwarten wäre.73Abgesehen von 02 und 04 findet sich κεκοπίακες ansonsten nur in einer weiteren Handschriften – 2759.74 Da 2759 zur Andreas-Gruppe gehört und in keiner erkennbaren Beziehung zu 02 und 04 steht, muss die Bezeugung der Variante als inkohärent eingestuft werden. Dies wiederum lässt darauf schließen, dass das Perfekt durch 2759 unabhängig von 02 und 04 bezeugt wird und dementsprechend wohl mehrfach in der Überlieferung entstanden ist. Alle Anzeichen deuten also auf eine sekundäre Entstehung von κεκοπίακες hin, weshalb der durch 01 und die Handschriftenmehrheit bezeugte Aorist in Zukunft größere Beachtung bei der Textkonstitution verdient. Analog zu 1,15 müsste das Perfekt in 2,3 als nachträgliche Entwicklung ebenfalls zu den stichhaltigen Indizien für eine unbestimmte Verbindung von 02 und 04 abseits des Ausgangstextes gezählt werden. Obwohl 2759 die Variante unabhängig bietet, ist mit Blick auf die allgemeine Übereinstimmungsquote zwischen 02 und 04 davon auszugehen, dass diese beiden Zeugen κεκοπίακες aufgrund einer gemeinsamen Vorlagenkette bekunden. Gleichwohl vermitteln
71 Siehe z. B. Schmid, Studien II, 86; Aune, Revelation I, 135. 72 Die Korrektur wurde offensichtlich unvollständig durchgeführt, da die Endung -κες unberührt blieb. 73 Bousset (Offenbarung, 205) schlägt κεκοπίακας als Konjektur vor. 74 Vgl. TuT-Apk, 44.
02 und 04
die beiden zuletzt besprochenen Stellen ein trügerisches Bild über das Verhältnis von 02 und 04. Denn tatsächlich beschränken sich signifikante Gemeinsamkeiten der beiden Handschriften auf wenige Einzelstellen, die gewissermaßen als Randerscheinungen kein Urteil über den gesamten Textbefund erlauben bzw. durch eine Fülle an trennenden Lesarten zu kontrastieren sind. ... Trennende Lesarten von 02 und 04 An einer Vielzahl an Teststellen und weiteren Belegen weisen 02 und 04 unterschiedliche Varianten auf. Obgleich sich Schmid dieser Tatsache bewusst ist und sie sogar ausführlich darlegt, hat sie keine erkennbaren Auswirkungen auf seine Schlussfolgerungen. Dabei springt schon in seiner Beweisführung ins Auge, dass die Liste der Abweichungen zwischen 02 und 04 erheblich umfangreicher als diejenige der vermeintlich signifikanten Gemeinsamkeiten ausfällt.75 Um einen Eindruck von den Abweichungen zwischen den beiden Handschriften zu vermitteln, werden sämtliche in der Teststellenkollationen erfassten Differenzen in der nachstehenden Kollationsliste aufgeführt: TST 2 (Apk 1,6): των αιωνων 04 AndGM KoiGM [NA28]] om. 02 KoiGpt AndGpt TST 4 (Apk 1,9): εν ιησου 04 NA28] εν χριστου 02 TST 21 (Apk 2,20): γυναικα ιεζαβελ 04 AndGM NA28] γυναικα σου την ιεζαβελ 02 TST 44 (Apk 6,4): πυρρος 04 AndGpt KoiGpt NA28] πυρος 02 AndGM KoiGM TST 49 (Apk 6,11): ινα αναπαυσονται 02 AndGM KoiGpt NA28] ινα αναπαυσωνται 04 01 AndGpt KoiGM TST 50 (Apk 6,17): αυτων 04 NA28] αυτου 02 AndGM KoiGM TST 51 (Apk 13,1): ονομα 04 AndGM [NA28]] ονοματα 02 AndGHSS KoiGM TST 54 (Apk 13,3): εθαυμασθη ολη η γη 02 NA28] εθαυμαστωθη ολη η γη 04 TST 55 (Apk 13,5): βλασφημιας 04 KoiGHSS NA28] βλασφημα 02 AndGpt TST 58 (Apk 13,10): αποκτανθηναι αυτον εν μαχαιρη 02 NA28] αποκτενει δει αυτον εν μαχαιρα 04 (μαχαιρη) AndGM TST 66 (Apk 13,18): εξακοσιοι εξηκοντα εξ 02 NA28] εστιν εξακοσιαι δεκα εξ 04 TST 77 (Apk 14,8): αγγελος δευτερος 04 (δευτερον) AndGM NA28] δευτερος αγγελος 02 KoiGM AndGpt TST 84 (Apk 14,16): της νεφελης 02 AndGpt NA28] την νεφελην 04 KoiGHSS AndGM TST 85 (Apk 14,18): φωνη 02 NA28] κραυγη 04 AndGM KoiGpt TST 89 (Apk 18,3): του θυμου της πορνειας 02 NA28] της πορνιας του θυμου 04 TST 91 (Apk 18,4): ο λαος μου εξ αυτης 04 NA28] εξ αυτης ο λαος μου 02 AndGM KoiGM TST 92 (Apk 18,6): τα διπλα 04 NA28] διπλα 02 TST 94 (Apk 18,11): επ αυτην 04 NA28] εν αυτη 02
75 Die Aufstellung der Differenzen zwischen 02 und 04 findet sich in Schmid, Studien II, 98– 109. Die Liste umfasst nicht nur mehr Druckseiten, sondern auch entschieden mehr Einzelbelege als diejenige zu den Gemeinsamkeiten.
Die ältesten Textzustände TST 95 (Apk 18,12): μαργαριτας 04 NA28] μαργαριταις 02 TST 96 (Apk 18,12): πορφυρας 04 AndGHSS NA28] om. 02 TST 100 (Apk 18,14): ου μη αυτα ευρησουσιν 02 NA28] αυτα ου μη ευρησουσιν 04 TST 102 (Apk 18,21): μυλινον 02 NA28] μυλικον 04 TST 104 (Apk 18,22): και πας τεχνιτης πασης τεχνης 04 AndGM KoiGM NA28] και πας τεχνιτης 02
An einer Reihe von Stellen liegen vermutlich schlichte Schreibfehler oder individuelle Abweichungen des einen oder anderen Kopisten vor, die für die Differenzen zwischen 02 und 04 verantwortlich sind: TST 276, 4, 21, 44, 49, 54, 89, 92, 96, 95, 100, 102 und 104. Bekräftigt wird dieser Verdacht durch den Umstand, dass sich darunter auch einige Singulärlesarten finden: TST 4 (02), 54 (04), 89 (04), 96 (02). Dabei weist 02 im Vergleich zu 04 etwas häufiger Schreibversehen oder unikale Texteingriffe auf: In TST 4 passt 02 die Formulierung wahrscheinlich an paulinischen Sprachgebrauch an (vgl. Röm 3,24 u. ö.), während dem Zeugen in TST 92, 96 und 104 einzelne Worte wohl aus Unachtsamkeit bei der Abschrift fehlen.77 Als Beispiel für einen möglicherweise theologisch motivierten Eingriff lässt sich TST 21 anführen: 02 ergänzt hier nach γυναῖκα die Worte σου τήν, wodurch Ἰεζάβελ entweder als Frau des Gemeindeengels oder der ganzen Gemeinde zu verstehen ist.78 Der Bezug auf ἄγγελος (2,18) hätte den 76 In Apk 1,6 weist NA28 eine unsichere Textkonstitution auf. Die Worte τῶν αἰώνων fehlen neben 02 außerdem in P18 sowie einigen Koine- und Andreas-Handschriften. Der semantische Unterschied zwischen beiden Varianten ist gering. Für beide Fassungen der Ewigkeitsformel finden sich Parallelen; so steht εἰς τοὺς αἰῶνας Röm 16,27 näher, während εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων inkl. bekräftigendem ἀμήν durch Gal 1,5 dokumentiert ist. An 11 weiteren Belegstellen in der Apk (1,18; 4,9.10; 5,13; 7,12; 10,6; 11,15; 15,7; 19,3; 20,10; 22,5) findet sich ausschließlich die Langfassung der Ewigkeitsformel. 77 Z. B. bewertet auch Elliott (Elliott, Textual Commentary, 82) die Auslassung von πάσης τέχνης in 18,22 als Versehen bedingt durch Parablepsis als Folge des dreimaligen -ης. Ebenso Schmid, Studien II, 107; Aune, Revelation III, 972. 78 Die sekundäre Ergänzung von σου findet sich in einer Vielzahl von Handschriften, deren ältester Vertreter 02 ist; vgl. Hoskier, Text II, 79. Sie ist als Fortsetzung des häufigen σου im unmittelbaren Kontext der Stelle (2,19–20) leichter als die Auslassung zu erklären. Mit Metzger, Textual Commentary II, 664 gegen Elliott, Textual Commentary, 74, der σου für wahrscheinlich ursprünglich hält („probably original“). Das ebenfalls eingefügte τήν geht auf das Konto des Schreibers und soll vermutlich die sprachliche Unregelmäßigkeit abmildern, dass Ἰεζάβελ undekliniert nach τὴν γυναῖκα steht. Auch an anderen Stellen hat der eigentümliche Gebrauch von Eigennamen bzw. spezifischer Wendung in der Funktion als solche zur Variantenbildung beigetragen: In 1,4 ergänzen diverse Handschriften nach ἀπό mit θεοῦ den erforderlichen Genetiv, um den Anschluss von ὁ ὢν im Nominativ sprachlich abzufedern; vgl. TuT-Apk, 26. Zur Funktion des eingefügten θεοῦ als stilistische Verbesserung der Überlieferung siehe Aune, Revelation I, 24; Karrer, Johannesoffenbarung I, 204.
02 und 04
Effekt, dass der Gemeindeengel dadurch gewissermaßen als irdische Person identifizierbar wird („deine Ehefrau“). Bei einer Deutung auf die Gemeinde wäre die Aussage so zu verstehen, dass diese als Ganze Mitverantwortung für das Verhalten der Frau trägt („die Frau in deiner Verantwortung“79). In jedem Fall begrenzt das eingefügte Personalpronomen die Fähigkeit der Frau Ἰεζάβελ eigenverantwortlich zu handeln und gibt der Gemeinde bzw. dem Gemeindeengel eine große Teilschuld, ihr Wirken toleriert zu haben. Ein schwieriger Sonderfall liegt in TST 95 (Apk 18,12) vor, da hier sowohl 02 als auch 04 je einen Fehler bzw. Umarbeitung bekunden. Mit μαργαρίτας bietet 04 einen Akkusativ Plural, der im Kontext einer längeren Umformulierung steht. Vermutlich unter Einfluss von γόμον liest 04 χρυσοῦν καὶ ἀργυροῦν καὶ λίθους τιμίους καὶ μαργαρίτας.80 Demgegenüber liest 02 mit μαργαρίταις einen Dativ Plural, der als grammatikalischer Fehler an dieser Stelle eingestuft werden muss. Die Konstruktion erfordert einen Genitiv, wie er durch die meisten Handschriften in Form von μαργαριτῶν (01 F1006 1611 F1678 2846) oder μαργαρίτου (rM) bezeugt wird.81 Womöglich beruht μαργαρίταις in 02 auf einer unbedachten Angleichung an 17,4.82 In welcher Abhängigkeit 02 und 04 zueinander stehen, ist schwer entscheidbar. Da 02 nach γόμον zunächst im Genitiv formuliert, ist eine direkte Abhängigkeit von 04 ziemlich unwahrscheinlich.83
79 Nach Karrer, Johannesoffenbarung I, 329. 80 Als Ausgangstext kommt die Variante μαργαρίτας nicht in Betracht, da sie als Teil einer über mehrere Worte ausgedehnten Umarbeitung zu verstehen ist und auf einem Missverständnis der Stelle beruht; so auch Schmid, Studien II, 80. 81 Vgl. zur Bezeugung von μαργαριτῶν und μαργαρίτου TuT-Apk, 179. Der Text von NA28 stützt sich auf das Zeugnis von 01. Schmid (Studien II, 80) hält den Plural allerdings für fraglich, da 01 auch βυσσίνων statt βυσσίνου bekundet. Allerdings erklärt sich μαργαρίτου ebenso als Anpassung an den wiederholten Singular im unmittelbaren Kontext (χρυσοῦ, ἀργύρου, λίθου τιμίου, βυσσίνου πορφύρας, σιρικοῦ und κοκκίνου). Weil μαργαριτῶν in 01, F1006, 1611, F1678 und 2846 stark vertreten ist und überdies durch wichtige lateinische Zeugen gestützt wird (margaritarum in C- und I-Strang der Vetus Latina; vgl. Gryson, Apocalypsis Johannis, 625), darf die Textkonstitution von NA28 als gesichert gelten. 82 Grammatikalisch erweckt das Zeugnis von 02 den Anschein der lectio difficilior. Weil der Dativ an dieser Stelle jedoch keinen Sinn ergibt und μαργαρίταις eine Singulärlesart ist, stellt sie höchstwahrscheinlich nicht den Ausgangstext dar, sondern einen Fehler oder unbedachte Angleichung an 17,4. Siehe dazu auch Mussies, Morphology, 99. 83 Anders Schmid, Studien II, 93: „Der Text von A wird bloßer Schreibfehler sein, der die Lesart von C P voraussetzt.“ Da 02 γόμον χρυσοῦ καὶ ἀργύρου καὶ λίθου τιμίου καὶ μαργαρίταις und damit anders als 04 liest, ist Schmids Erklärung schwer nachzuvollziehen. Sie vermag nicht zu erklären, wieso 02 im Gegensatz zu 04 zunächst abhängig von γόμον drei Genitive aufweist und dann das μαργαρίτας von 04 fehlerhaft durch μαργαρίταις in 02 ersetzt ist. Viel wahrscheinli-
Die ältesten Textzustände Dagegen könnte 04 den fehlerhaften Text von 02 bzw. eine Entwicklungsstufe davon vorgefunden und insofern korrigiert haben, dass der ungrammatische Dativ beseitigt und der Teilsatz mit weiteren Akkusativen immer noch sperrig, aber sprachlich möglich an den Kasus von γόμον angeglichen wurde. Da diese Annahme insgesamt ein komplexes Textgeschehen voraussetzt und zudem die Tatsache zu berücksichtigen ist, dass 025 denselben Text wie 04 bietet,84 ist auch eine unabhängige Entstehung der Zeugnisse von 02 und 04 zu erwägen. In diesem Fall würden 02 und 04 je für sich auf die Varianten μαργαριτῶν oder μαργαρίτου zurückgehen und dementsprechend eigenständige Textänderungen aufweisen. Mit Ausnahme der letztgenannten Stelle müssen die bislang angeführten Varianten als ableitbare Schreibversehen oder singuläre Eingriffe der Kopisten nicht zwangsläufig für eine tiefgreifende Aufspaltung von 02 und 04 sprechen, doch können sie als trennende Faktoren auch nicht völlig ignoriert werden. Dabei ist der Befund insgesamt vor dem Hintergrund zu beurteilen, dass sich außerdem eine Fülle von Stellen mit komplexen Differenzen zwischen den zwei Handschriften findet: TST 50, 51, 55, 58, 66, 77, 84, 85, 91, 94. In diesen zehn Fällen können die Unterschiede zwischen 02 und 04 nicht durch die Annahme einfacher Schreibfehler oder zufälliger Textänderungen erklärt werden; es ist vielmehr von verzweigten Entwicklungen auszugehen, aufgrund derer die beiden Handschriften verschiedene Varianten aufweisen. In 6,17 (TST 50) liest 02 mit der Mehrheit der Handschriften αὐτοῦ, während 04 nebst 01, 1611, F1678, 2053, 2329 und 2344 den Ausgangstext αὐτῶν bewahrt hat.85 Die Änderung ergibt sich zwar unschwer durch Angleichung an die Aussage τῆς ὀργῆς τοῦ ἀρνίου aus dem vorangehenden Vers, doch spricht die breite Bezeugung von αὐτοῦ dafür, dass 02 und 04 aufgrund verschiedener Vorlagenreihen und nicht wegen eines akzidentellen Texteingriffs abweichen. Ebenso wenig dürften die beiden Handschriften in 13,1 (TST 51) durch einen einfachen Schreibfehler bedingt auseinander gehen. 04 liest wie P47, 01 und diverse Minuskeln (u. a. F1006, 2329, 2846) den Plural ὀνόματα, wohingegen 02 inklusive der Handschriftenmehrheit ὄνομα bekundet. Weiss erklärt den Ausfall der Endsilbe -τα als mechanischen Schreibfehler, doch mit Blick auf 13,18 dürfte eine cher erscheint daher die Annahme, dass 02 μαργαρίταις unabhängig von 04 als unbedachte Angleichung an 17,4 bekundet oder umgekehrt 04 eine Entwicklungsstufe von 02 voraussetzt. 84 Vgl. Hoskier, Text II, 488. 85 Schmid (Studien II, 100) hält αὐτοῦ für ursprünglich, weil in 6,16 von τῆς ὀργῆς τοῦ ἀρνίου („Zorn des Lammes“) die Rede ist. Dabei ist in 6,17 die Bezeugung für αὐτῶν stärker einzuschätzen und der Singular erklärt sich als kontextuelle Anpassung bzw. Vereinfachung des mehrdeutigen αὐτῶν; so auch Metzger, Textual Commentary II, 668; Aune, Revelation I, 386.
02 und 04
bewusste Formulierung gleichsam als Klammer um das gesamte Kapitel vorliegen. Ob der Singular – wie Schmid und Aune meinen86 – eine bewusste Korrektur ist oder den Ausgangstext darstellt, spielt für das Verhältnis von 02 und 04 keine Rolle. Wie im vorherigen Fall scheinen die beiden Handschriften divergierende Varianten aufgrund unterschiedlicher Vorlagenketten zu bezeugen. Analog zu den zwei geschilderten Fällen legt sich der Befund auch an den restlichen Stellen dar, wobei 04 (TST 55, 77, 91, 94) etwas häufiger als 02 (TST 84, 85) den Text von NA28 stützt. Einen genaueren Blick verdienen noch Apk 13,10 (TST 58) und 13,18 (TST 66): In 13,10 bietet 02 mit εἴ τις ἐν μαχαίρῃ ἀποκτανθῆναι αὐτὸν ἐν μαχαίρῃ ἀποκτανθῆναι eine ebenso sprachlich unerträgliche wie inhaltlich fatalistische Lesart (wer mit dem Schwert gemordet werden soll, der soll auch mit dem Schwert gemordet werden),87 die aufgrund ihrer Schwierigkeiten häufig als lectio difficilior und damit ursprüngliche Variante angesehen wird.88 Die Probleme an dieser Lesart betreffen vor allem den sprachlich unmöglichen Infinitiv ἀποκτανθῆναι im Vorsatz und das Fehlen von δεῖ als Bedingung für den zweiten Infinitiv im Nachsatz.89 Ungeachtet der theologisch nur schwer erträglichen Schicksalsergebenheit, die in 02 auf die Spitze getrieben wird, sollte dem Zeugnis der Handschrift an dieser Stelle mit Skepsis be 86 Siehe Schmid, Studien II, 104; D. E. Aune, Revelation 6–16, WBC 52b, Nashville, TN 1998, 716. Dagegen lässt sich der Plural als kontextuell motivierte Anpassung an διαδήματα καὶ ἐπὶ τὰς κεφαλάς oder die Parallelstelle 17,3 (ὀνόματα βλασφημίας) erklären. In 17,3 bezeugen die Handschriften entweder ὀνόματα oder ὀνομάτων, was nicht zuletzt gegen die Annahme eines mechanischen Ausfalls von τα nach μα in 13,1 spricht. Für eine gespaltene Textkonstitution plädiert Metzger, Textual Commentary II, 673. 87 Die Kriegsmetaphorik der Aussage ist evident und könnte nach Karrer Erfahrungen des Jüdischen Krieges aufgreifen; Karrer, Johannesoffenbarung I, 63. 88 So Schmid, Studien II, 139–141. Charles (Charles, Commentary I, 355) deutet die Lesart von 02 nach Jer 15,2 als ausgeprägten Hebraismus, der dem Autor der Apk zuzurechnen ist. Eine ausführliche Diskussion der Stelle findet sich außerdem in J. Delobel, Le texte de l’Apocalypse: Problèmes de méthode, in: J. Lambrecht (Hg.), L’Apoclaypse Johannique et L’Apocalyptique dans le Nouveau Testament, BETL 53, Leuven 1980, 151–166, hier 162–165. Viele Kommentare deuten den Text von 02 als Ausweglosigkeit, die nach Jer 15,2 im Ratschluss Gottes begründet ist: Bousset, Offenbarung, 364–365; E. Lohmeyer, Die Offenbarung des Johannes, HNT 16, Tübingen 1953, 113; Giesen, Offenbarung, 308; P. Prigent, Commentary on the Apocalypse of St. John, Tübingen 2001, 412–413 Koester, Revelation, 588. Der Gedanke, dass das Martyrium widerstandslos zu akzeptieren ist, wenn es kommt, scheint die Exegese zu faszinieren. 89 Zur Kritik an der Bevorzugung der Singulärlesart von 02 in Apk 13,10 siehe Karrer, Textgeschichte, 63–65. Karrer weist mit Recht darauf hin, dass diese Singulärlesart in einer Reihe weiterer Singulärlesarten steht, die 02 im Kontext der Stelle aufweist. Es entsteht dadurch der Eindruck, dass der Zeuge 02 in diesem Teilabschnitt auf einer korrupten Vorlage beruht und ihm darum hier zu misstrauen ist.
Die ältesten Textzustände gegnet werden, zumal die Lesart von einer schlichten Dittographie herrühren könnte. Zum einen gibt 02 hier eine Singulärlesart wieder, die als solche wegen ihrer fraglichen Überlieferung kritisch zu betrachten sind.90 Aus Gründen der inneren Kritik besteht kein Anlass an dieser Singulärlesart festzuhalten, da der Sinn auch durch die Variante ἀποκτενεῖ δεῖ von 04 und der Mehrzahl der Handschriften oder derjenigen von 01 ἀποκτείνει δεῖ hinreichend gesichert ist. Während 13,10a den Gedanken zum Ausdruck bringt, dass alle Gläubigen – gleich welches Schicksal sie trifft – stets darin den Ratschluss Gottes zu erkennen haben, weitet 13,10b die Aussage aus und verheißt die ausgleichende Gerechtigkeit Gottes für alle Opfer systematischer Unterdrückung und Ungerechtigkeiten. Als Subjekte des ἀποκτενεῖ sind Personen zu denken, die symbolisiert durch das Schwert den Heiligen schwere Gewalt antun;91 diese werden nach dem Richterspruch Gottes (δεῖ) selbst ausgleichendes Leid erfahren. Die darin ausgesprochene Talion ist christologisch zu fundieren und nicht absolut aufzufassen: Die Opfer müssen für ihre Gerechtigkeit nicht selbst sorgen, sondern werden diese nach dem Vorbild Christi durch Gott erfahren. Die Annahme, dass beide Versteile denselben Gedanken in Worte fassen, ist angesichts der komplexen Adressatensituation hingegen unnötig und theologisch eindimensional. Karrer gibt insofern mit Recht zu bedenken, dass „die Radikalität der gegenwärtigen Not differenzierter zu fassen ist“,92 zumal dem Ausgangstext der Apk an allen einschlägigen Stellen die Vorstellung zahlloser christlicher Märtyrer und Märtyrerinnen weitgehend fremd ist (6,9–10; 18,24) und wohl erst durch die Überlieferung in die Theologie der Apk Einzug hielt.93
90 In der ECM werden Singulärlesarten grundsätzlich als sekundär beurteilt, wobei Ausnahmen von dieser Regel durch starke innere Argumente begründet sein müssen; siehe dazu K. Wachtel, Text-Critical Commentary, in: H. Strutwolf/G. Gäbel/A. Hüffmeier/G. Mink/K. Wachtel (Hgg.), Novum Testamentum Graecum. Editio Critica Maior, III: Die Apostelgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 2017, 1–38, hier 1. 91 Satake (Offenbarung, 302) nennt beispielsweise das „Tier und die Seinigen“. 92 Karrer, Johannesoffenbarung I, 78. 93 Siehe dazu die überzeugende Situationsanalyse der Apk in Karrer, Johannesoffenbarung I, 56–65. Wie Karrer anhand der textgeschichtlichen Analyse zum Abschnitt 6,9–10 nachweist, sind martyriumstheologische Aussagen der Apk erst durch Variantenbildung der Überlieferung in den Text eingedrungen. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang auf den Zusatz τοῦ ἀρνίου nach διὰ τὴν μαρτυρίαν (046 und Koine-Gruppe; vgl. Hoskier, Text II, 179) hinzuweisen, der dem Gedanken eine deutliche christologische Färbung verleiht. Dies wiederum öffnet den Textraum zur Assoziation unzähliger Martyrien; denn die Seelen unter dem Altar lassen sich nun als Opfer verstehen, die wegen ihres christlichen Glaubens dahingeschlachtet wurden.
02 und 04
Zum anderen ist die Lesart von 02 sprachlich so entartet, dass sie entweder auf einer korrupten Vorlage beruht oder als bewusster Eingriff in Rekurs auf 13,10a und Jer 15,2 gestaltet ist. Im letzten Fall geht die stärker idiomatische Ausdruckweise auf das Konto von 02 bzw. der Vorlagenkette, welcher der Zeuge entspringt. Dabei greift 02 das Prophetenwort Jer 15,2 nicht wörtlich auf, sondern appliziert die sprachliche Form und den darin enthaltenen Sinn auf die Formulierung einer analogen Aussage. Schließlich lassen die vielen ungelösten Probleme einer angenommenen hebräischen Ausgangsformulierung, die 02 in Apk 13,10b in griechischer Sprachgestalt und zugespitzter inhaltlicher Ausrichtung bieten soll,94 ernsthafte Zweifel aufkommen, dass das Zeugnis von 02 gleichsam den Ausgangstext darstellt. Ein weiterer interessanter Fall liegt in Apk 13,18 vor, wo 02 und 04 erneut zwei verschiedene Varianten bieten. Während 02 ἑξακόσιοι ἑξήκοντα ἕξ liest, bekundet 04 die Variante ἐστὶν ἑξακόσιαι δέκα ἕξ. Die Differenzen zwischen den beiden Handschriften betreffen mehrere Aspekte und deuten auf eine getrennte Textentwicklung hin: 02 bekundet den Zahlenwert „666“, wobei der Hunderter maskulin dekliniert ist. Demgegenüber weist 04 den Zusatz ἐστιν auf, der auch durch eine Vielzahl anderer Handschriften dokumentiert wird.95 Ferner bietet 04 den Hunderter als Femininum und hat den Zahlenwert „616“. Die Unterschiede im Genus der ersten Ziffer erklären sich am besten durch die Annahme, dass in der Entwicklungslinie beider Zeugen anfänglich griechische Ziffern an einem bestimmten Punkt der Überlieferung in Zahlworte umgewandelt wurden. Wie P47 (χξϛʹ) und P115 (η χιϛʹ)96 belegen, nennen die ältesten erhaltenen Handschriften die Tiereszahl in Form von griechischen Zahlbuchstaben und nicht in ausgeschriebenen Zahlworten.97 Da die abgekürzte Schreibweise geschlechtsindifferent ist, kam erst durch Ausschreibung bei Zahlworten die Notwendigkeit auf, der ersten Zahl ein Geschlecht zuzuweisen. Dabei entstanden offenbar drei verschiedene Deutungen: als Maskulinum (ἑξακόσιοι) 02, als Femininum (ἑξακόσιαι) 01 und 04, sowie als Neutrum (ἑξακόσια) 025 und einige Minuskeln. In NA28 werden die Deutungen als Femininum und Neutrum in den Apparat verbannt,98 was angesichts der Bezeugung
94 Siehe dazu J. Schmid, Zur Textkritik der Apokalypse, ZNW 43 (1950), 112–128, hier 124–125. 95 Zur Bezeugung von ἐστιν vgl. Hoskier, Text II, 364; TuT-Apk, 130–133. 96 Zum fraglichen η siehe Teil II: 2.2.3. 97 Zur Vermutung, dass die Überlieferung der Tiereszahl in Apk 13,18 von griechischen Zahlbuchstaben ausgeht, siehe auch Karrer, Text (2017), 232. 98 Die Zehner- und Einerziffern sind in diesem Fall geschlechtsindifferent, weshalb sie in der Diskussion keine Rolle spielen und auch nicht bei der Textentscheidung helfen.
Die ältesten Textzustände nochmals zu prüfen ist (in den Hauptzeugen überwiegt das Femininum),99 zumal die Tiereszahl womöglich im Ausgangstext in der Form von Zahlbuchstaben stand. Die Beseitigung der Ellipse durch Ergänzung von ἐστιν ist früh entstanden, da sie neben 04 auch durch P47 vertreten wird. Später hat sich die Variante vor allem in der Andreas-Tradition durchgesetzt.100 Da die Hinzufügung in 02 fehlt, sind beide Handschriften durch das abweichende Zeugnis getrennt. Im Gegensatz zu 02 partizipiert 04 hier offenbar an einem frühen Entwicklungsstrang, der einen breiten Teil der Überlieferung formt. Dass 04 die Zahl des Tieres auf „616“ und nicht wie 02 auf „666“ beziffert, markiert einen weiteren Unterschied zwischen den beiden Handschriften in dieser Varianteneinheit. Die Variante „616 (χιϛʹ)“ hat ein hohes Alter und war bereits Irenaeus bekannt. Welcher Zahlenwert den Ausgangstext darstellt, muss hier nicht entschieden werden.101 Allein auf die Tatsache kommt es an, dass 02 und 04 hinsichtlich der Tiereszahl in 13,18 durch drei gravierende Differenzen (ἑξακόσιοι oder ἑξακόσιαι, Zusatz ἐστιν und „666“ oder „616“) deutlich auseinandergehen. An dieser Stelle sammeln sich drei trennende Faktoren der beiden Handschriften, die als markante Indizien für zwei getrennte Entwicklungslinien zu werten sind.
99 Aune (Revelation II, 722) hält die maskuline Form für ursprünglich, weil sie dem Geschlecht von ἀνθρώπου entspricht. Das Argument ist nicht stichhaltig, weil es ebenso gut die Entwicklung vom Femininum zum Maskulinum als kontextuelle Harmonisierung erklärt. 100 Der Zusatz ἐστιν steht in den allermeisten Andreas-Handschriften, die sich primär durch die Wiedergabe der Tiereszahl als Zahlbuchstaben oder Zahlworte unterscheiden; vgl. TuT-Apk, 131. 101 Weil auch P115 die Variante kennt, hält Parker (Introduction, 242–244) „616 (χιϛʹ)“ als Ausgangstext für denkbar. Die Variantenbildung erklärt sich leicht, wenn man Zahlbuchstaben als Ursprung annimmt (Verschreibung von ξ zu ι oder umgekehrt). Möglich sind aber auch bewusste Änderungen, um das Tier im gematrischen Sinne mit der einen oder anderen Person zu identifizieren. Für eine isopsephische Deutung plädieren Blumell/Wayment, Number, 124– 129. Die jüngeren Kommentare nach Bekanntwerden von P115 bevorzugen die Variante „666 (χξϛʹ)“: Satake, Offenbarung, 305–307; Koester, Revelation, 538–540. Karrer (Johannesoffenbarung I, 78) hält die Entscheidung noch offen. Erwähnung verdient ferner der Versuch von Witulski beide Varianten zu einer Deutung zu verbinden, wonach sich die Zahl 666 auf den Kaiser Hadrian beziehe und 616 implizit die Gestalt des Nero redivus aufgreife; siehe dazu T. Witulski, Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian: Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalpyse, FRLANT 221, Göttingen 2007, 181-186, 236. Auch Witulski erkennt in 13,18 eine isopsephische Bedeutung der Zahl. Die Konsequenzen, die Witulski aus seiner Auslegung für die Datierung der Apk zieht, sind ein eigens zu diskutierendes Thema. Die Entstehung der Varianten könnte auch auf unterschiedliche Vorstellung der hebräischen Schreibweise des Namens Neron Caesar zurückgehen: dazu Metzger, Textual Commentary II, 676.
02 und 04
Die Analyse der Stellen, an denen 02 und 04 in der Teststellenkollation zwei verschiedene Lesarten aufweisen, führt zu einem ambivalenten Ergebnis. Auf der einen Seite stehen einige Fälle, bei denen sich die Unterschiede durch Annahme einfacher Schreibfehler oder halbbewusster Texteingriffe ergeben. Insofern müssen diese Differenzen nicht zwangsläufig von verschiedenen Entwicklungslinien herrühren, aus denen 02 und 04 hervorgegangen sind. Daneben finden sich aber auf der anderen Seite kaum weniger Stellen, wo die Abweichungen zwischen den beiden Zeugen eindeutige Kennzeichen divergierender Textgenesen sind. Schmids Postulat, dass 02 und 04 zwei Vertreter ein und derselben Textgruppe sind (A-Text) erscheint damit insgesamt höchst fraglich, zumal sich die signifikanten Gemeinsamkeiten von 02 und 04 abseits des Ausgangstextes auf wenige Einzelfälle beschränken. Wie die Auswertung der Oecumenius-Tradition, die Schmid ebenfalls als Vertreter seines A-Textes einstuft, zeigen wird, ist das Verhältnis der Zeugen neu zu bestimmen und unter Schmids Versuch einer textgeschichtlichen Rekonstruktion des vermeintlichen A-Textes kann ein Schlussstrich gezogen werden. .. Die Familie 2053 in Relation zu 02 und 04 Laut Schmid vertritt auch die Oecumenius-Tradition (F2053) den mutmaßlichen A-Text der Apk-Überlieferung.102 Zugegebenermaßen spielt das Zeugnis von F2053 nur eine untergeordnete Rolle in Schmids Beweisführung, doch kommt ihm neben anderen Minuskeln gewisse Bedeutung an den Stellen zu, wo 04 Lücken aufweist.103 Im Folgenden wird das Verhältnis der OecumeniusTradition zu den Handschriften 02 und 04 anhand der Handschrift 2053 als einzig vollständiger Hauptzeuge der Oecumenius-Tradition ermittelt, weil den übrigen Oecumenius-Handschriften ein Großteil des Apk-Textes fehlt.104 Da die
102 Siehe Schmid, Studien II, 85. 103 Schmids Einschätzung und textgeschichtliche Verortung der Oecumenius-Tradition weist schwer zu harmonisierende Widersprüche auf: Derweil er ihr Zeugnis zunächst mit gewisser Zurückhaltung seinem angenommenen A-Text zuordnet, postuliert er später, dass „der Text des Oecumenios im ganzen identisch“ sei mit 02 und 04. Im unmittelbar nachfolgenden Satz fügt er dann einschränkend hinzu, dass „an einer erheblichen Zahl von Stellen AC allein den Urtext bewahrt“ haben. Beide Zitate in Schmid, Studien II, 147. Wenn aber 02 und 04 an einer Fülle an variierten Stellen den ursprünglichen Text allein erhalten haben, so kann die Oecumenius-Tradition nicht mit diesen beiden restlos übereinstimmen. Da Schmid diesen Gegensatz nicht auflöst, bleibt in seiner Argumentation unklar, welche Aussage nun auf den Oecumenius-Text zutrifft. 104 In 1824, 2062, 2350 und 2403 fehlt je 2,2–14,20; vgl. TuT-Apk, 10–18.
Die ältesten Textzustände Oecumenius-Handschriften an den Teststellen, an denen sie alle vorhanden sind, weitgehend denselben Wortlaut bekunden, stellt dies kein gravierendes Problem für die Untersuchung dar.105 Denn mit Ausnahme von vier Fällen bekunden sie ansonsten dieselbe Variante: – In TST 90 (Apk 18,3) liest 2053* πέπωκεν, was der Schreiber (2053C) selbst zur Lesart πέπτωκεν korrigiert; letzteres wird von allen OecumeniusHandschriften bezeugt. – In TST 92 (Apk 18,6) lässt 2350 wohl aus Versehen αὐτά aus, während die übrigen Oecumenius-Handschriften αὐτὰ διπλᾶ bekunden. – In TST 104 (Apk 18,22) ergänzt 2053 ein καί nach τεχνίτης, während die übrigen Oecumenius-Handschriften wie NA28 καὶ πᾶς τεχνίτης πάσης τέχνης lesen. Da das zusätzlich epexegetische καί lediglich durch zwei weitere fernstehende Handschriften bezeugt wird, dürfte die Ergänzung auf das Konto des Kopisten von 2053 gehen. – In TST 118 (Apk 21,12) findet sich der einzige Beleg für ein Auseinandergehen der Oecumenius-Handschriften. Während 2053, 2350 und 2403 τὰ ὀνόματα vor τῶν δώδεκα lesen, fehlt der Artikel τά in 1824 und 2062. Da der Artikel auch in der Koine-Gruppe ausgelassen ist, könnte entweder eine Anpassung an die Koine-Lesart vorliegen oder der Ausfall basiert in 1824 und 2062 je auf einem Schreibversehen. Vieles spricht dafür, dass 2053, 2350 und 2403 den ursprünglichen Text der Familie bewahrt haben.106 Wie schon die hohen Übereinstimmungsquoten der Oecumenius-Handschriften vermuten lassen,107 haben sie den Text der Familie offenbar überaus treu bewahrt. Gemäß Teststellenkollation ist eine Teilung der Familie äußerst selten (nur TST 118) und auch Abweichungen einzelner Handschriften bilden eine punktuelle Ausnahme, die meist aus Schreiberversehen resultieren und keinen Einfluss einer anderen Texttradition erkennen lassen. Folglich nimmt die Auswertung keinen Schaden, wenn die Analyse aus pragmatischen Gründen auf einen Vergleich von 2053 mit 02 und 04 beschränkt wird. Schon die geringen Übereinstimmungswerte von 2053 mit 02 und 04 lassen erahnen, dass 2053 mit den beiden anderen Handschriften höchstens eine
105 An folgenden Teststellen sind alle Oecumenius-Handschriften vorhanden: TST 1–10 und 88–123 (= 46 Teststellen). Ausgenommen sind singuläre Schreibfehler (z. B. HomoioteleutonFehler wie in TST 1 von 2062) und Filmfehler bzw. anderweitige Schwierigkeiten, weshalb die Lesart einer Handschrift nicht sicher entziffert werden konnte. 106 So auch Groote, Commentarius, 269 Z. 458. 107 Vgl. exemplarisch die Gruppenliste zu 2053 in TuT-Apk, 689.
02 und 04
schmale gemeinsame Textbasis teilt: Mit 02 stimmt 2053 zu 53 % überein und mit 04 zu 58 %.108 Dass 2053 mit 02 und 04 keine gemeinsame Textgruppe bildet, wird durch Beachtung der Einzelstellen bestätigt. In der nachfolgenden Tabelle 1 ist genau aufgeschlüsselt, an welchen Teststellen die Handschrift 2053 mit den Zeugen 02 und 04 zusammengeht, an welchen sie nur mit einem von beiden übereinstimmt und an welchen sie von beiden abweicht:109 Tab. 1: Teststellen-Übersicht 2053 mit 02 und 04 Kategorie geht mit und/oder zusammen:
Teststellen , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , 110, , , , , , , , , , (= TST)
geht mit zusammen ( weicht ab):
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geht mit zusammen ( weicht ab):
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weicht von und ab:
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weicht von ab ( fehlt):
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Offensichtlicher Fehler in
, (= TST)
Demnach geht 2053 in 61 Fällen mit 02 und/oder 04 zusammen, wobei 04 an einigen Teststellen fehlt (kursiv). Dazu kommen 6 Stellen, an denen 2053 mit 02 gegen 04 übereinstimmt, und 7 Belege, wo 2053 mit 04 gegen 02 dieselbe Variante bekundet. Obgleich auf den ersten Blick scheinbar diverse Gemeinsamkeiten zwischen den drei Zeugen bestehen, darf man sich keiner Illusion hingeben. Denn unter diesen Übereinstimmungen finden sich kaum signifikante Lesarten, die auf eine engere Relation jenseits des Ausgangstextes hindeuten würden. Mit 108 Vgl. TuT-Apk, 689. 109 In der Auswertung sind Lücken von 04 berücksichtigt und betreffenden Teststellen durch Kursivierung in Tabelle 1 markiert. 110 In Teststelle 103 fehlt ausnahmsweise 02.
Die ältesten Textzustände zwei Ausnahmen in Teststelle 57 und 89 weist 2053 ausschließlich dieselbe Variante wie 02 und/oder 04 auf, wenn diese gleichfalls den Text in NA28 bildet (LA-2 bzw. LA-2mS). Es ist zwar zu vermuten, dass sich der Text an der einen oder anderen Stelle in Zukunft ändert, doch steht das Gesamtbild außer Frage: 2053 ist vorrangig mit 02 und 04 durch den Ausgangstext verbunden, während signifikante Verbindungen zwischen den drei Zeugen abseits davon überaus selten sind. Diese Tatsache spricht deutlich gegen die Ansicht, dass 2053 mit 02 und 04 eine gemeinsame Textgruppe der Überlieferung vertritt. Auch die wenigen gegenläufigen Tendenzen können diesen Sachverhalt nicht entscheidend in Zweifel ziehen. In Apk 13,7 (TST 57) lässt 2053 wie 02 und 04 die erste Vershälfte aus. Obwohl die drei Handschriften dieselbe Variante bekunden, sagt das gemeinsame Zeugnis kaum etwas über ihre Beziehung aus. Zum einen steht die kürzere Lesart im Verdacht, den Ausgangstext darzustelle, und zum anderen wird sie außerdem durch P47 und einen Großteil der AndreasGruppe bezeugt. Wegen der breiten Bezeugung der Variante lässt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen, aus welcher Verbindung sie von F2053 und 02 bezeugt wird. Ferner spart die gesamte Oecumenius-Familie zusammen mit 02, 1611, 2582, 2625 und 2846 in Apk 18,3 (TST 89) die Worte τοῦ οἴνου aus.111 Die Omission beruht wohl auf Parablepsis bedingt durch τοῦ θυμοῦ im direkten Umfeld und erklärt sich ebenso aufgrund der Wortstellung τοῦ οἴνου τοῦ θυμοῦ τῆς πορνείας von 01 und der Koine-Gruppe wie τοῦ θυμοῦ τοῦ οἴνου τῆς πορνείας der Andreas-Tradition. 04 bekundet die Singulärlesart τῆς πορνείας τοῦ θυμοῦ, die auf einer Umstellung der durch 02 bezeugten Variante beruhen dürfte. Wiederum ist das Zusammentreffen der Oecumenius-Tradition mit 02 nicht sonderlich beweiskräftig, da es womöglich von einem Zufall herrührt. Gewisse Zweifel an der Bezeugung wecken die Handschriften 2582 und 2625, die zur Familie 1006 gehören. Da die übrigen Mitglieder von F1006 τοῦ οἴνου τοῦ θυμοῦ τῆς πορνείας lesen, entspringt die Auslassung von τοῦ οἴνου in 2582 und 2625 wahrscheinlich einem Schreiberversehen. Derselbe Fehler könnte auch das gleichlautende Zeugnis von F2053 und 02 verursacht haben, welches infolgedessen als akzidentell anzusehen wäre. Selbst wenn F2053 und 02 die Auslassung nicht rein zufällig teilen, vermag diese Einzelstelle keine engere Verbindung der Zeugen und in keiner Weise die Angehörigkeit zu einem gemeinsamen Texttyp zu begründen. Dass F2053 deutlich von 02 und 04 abweicht und diese Differenzen häufig anderweitige Entwicklungslinien zu erkennen geben, beweist die nachstehende Kollationsliste: 111 Vgl. zur Bezeugung TuT-Apk, 166.
02 und 04
TST 1 (Apk 1,4): απο 02 04 NA28] add. θεου 2053 KoiGM TST 4 (Apk 1,9): εν ιησου 04 NA28] om. 2053 ¦ εν χριστω 02 TST 6 (Apk 1,13): μεσω των 02 04 NA28] add. επτα 2053 01 KoiGM TST 7 (Apk 1,15): πεπυρωμενης 02 04 NA28] πεπυρωμενω 2053 01 TST 8 (Apk 1,16): δεξια χειρι αυτου 02 (χιρει) 04 NA28] δεξια αυτου 2053 AndGpt TST 13 (Apk 2,3): και ου κεκοπιακες 02 04 NA28] και ουκ εκοπιασας 2053 01 KoiGM AndGM TST 16 (Apk 2,9): εκ 02 04 NA28] om. 2053 AndGM TST 24 (Apk 2,27): συντριβεται 02 04 NA28] συντριβησεται 2053 KoiGM AndGM TST 45 (Apk 6,4): σφαξουσιν 02 04 NA28] σφαξωσιν 2053 KoiGM AndGM TST 47 (Apk 6,10): εκραξαν 02 04 NA28] εκραζον 2053 AndGM TST 54 (Apk 13,3): εθαυμασθη ολη η γη 02 NA28] εθαμβηθη ολη η γη 2053 ¦ εθαυμαστωθη ολη η γη 04 TST 55 (Apk 13,5): βλασφημιας 04 NA28] βλασφημια 2053 ¦ βλασφημα 02 AndGpt TST 56 (Apk 13,6): εις βλασφημιας 02 04 NA28] εις βλασφημιαν 2053 KoiGM AndGM TST 58 (Apk 13,10): αποκτανθηναι αυτον εν μαχαιρη 02] αποκτενειν δει αυτον εν μαχαιρα 2053 ¦ αποκτενει δει αυτον εν μαχαιρη 04 TST 66 (Apk 13,18): εξακοσιοι εξηκοντα εξ 02 NA28] εστιν εξακοσια εξηκοντα εξ 2053 ¦ εστιν χξϛ AndGM ¦ εστιν εξακοσιαι δεκα εξ 04 TST 67 (Apk 14,1): εστος 02 04 NA28] εστως 2053 P47 AndGM TST 68 (Apk 14,3): ως 02 04 NA28] om. 2053 KoiGM TST 76 (Apk 14,7): και θαλασσαν 02 04 NA28] και την θαλασσαν 2053 KoiGM AndGM TST 81 (Apk 14,13): ναι λεγει 02 04 NA28] και λεγει 2053 TST 82 (Apk 14,13): αναπαησονται 02 04 NA28] αναπαυσωνται 2053 KoiGM AndGM TST 87 (Apk 14,19): του θυμου του θεου τον μεγαν 04 (μεγα) 02 NA28] του θυμου του θεου την μεγαλην 2053 AndGM TST 90 (Apk 18,3): πεπωκαν 2329 NA28] πεπτωκαν 02 04 ¦ πεπωκεν 2053 AndGpt TST 92 (Apk 18,6): τα διπλα 04 NA28] διπλα 02 ¦ αυτα διπλα 2053 TST 94 (Apk 18,11): επ αυτην 04 NA28] εν αυτη 02 ¦ επ αυτη 2053 KoiGM TST 95 (Apk 18,12): μαργαριτων 01 NA28] μαργαριτου 2053 ¦ μαργαριτας 04 ¦ μαργαριταις 02 TST 99 (Apk 18,14): σου της επιθυμιας της ψυχης 02 04 NA28] της επιθυμιας της ψυχης σου 2053 KoiGM AndGM TST 100 (Apk 18,14): ου μη αυτα ευρησουσιν 02 NA28] αυτην ου μη ευρησουσιν 2053 ¦ αυτα ου μη ευρησουσιν 04
In den allermeisten Fällen ist evident, dass 2053 mit anderen Traditionen in Verbindung steht und deswegen von 02 und 04 abweicht. Dem stehen lediglich sieben Teststellen gegenüber, an denen die Überlieferungssituation komplexer ausfällt und sie deswegen genauer zu besprechen sind: 4, 54, 55, 58, 81, 92 und 100: In Apk 1,9 (TST 4) lässt die Oecumenius-Familie im Vergleich zu NA28 geschlossen die Worte ἐν ἰησοῦ nach ὑπομονῇ aus. Da sich die Auslassung in allen erhaltenen Oecumenius-Handschriften findet, muss sie in einem frühen Glied der Vorlagenkette entstanden sein. Ob die Worte versehentlich durch Parablepsis ausgefallen oder vor dem nächsten Kommentarabschnitt bewusst entfallen sind, ist schwer zu ermessen. Die Omission erklärt
Die ältesten Textzustände sich jedoch am besten auf Basis der Variante ἐν ἰησοῦ, wie sie auch durch 04 bezeugt wird, zumal es im nachstehenden Kommentarstück expressis verbis ἐν ἰησοῦ heißt.112 Eine vergleichsweise komplexe Bezeugungssituation liegt in Apk 13,3 (TST 54) vor. Während 02 mit P47 die Variante ἐθαυμάσθη ὅλη ἡ γῆ liest, heißt es in 2053 ἐθαμβήθη ὅλη ἡ γῆ und in 04 ἐθαυμαστώθη ὅλη ἡ γῆ. Die Lesart von 2053 wird außerdem noch durch die fernstehende Handschrift 1732 bezeugt. Sowohl die Singulärlesart von 04 als auch der seltene Wortlaut von 2053 dürften auf einen Fehler bzw. Schreibereingriff zurückgehen, der die Variante ἐθαυμάσθη voraussetzt. Mit βλασφημία bietet 2053 in Apk 13,5 (TST 55) eine Variante, die außerdem noch durch sechs Koine-Handschriften bezeugt wird.113 Ein direkter Bezug zwischen diesen Handschriften und 2053 ist nicht zu erkennen. Die Variante entspringt einer unabhängigen Anpassung an den Kasus von στόμα wenige Worte zuvor. Ob der Wortlaut von 2053 auf der Variante βλάσφημα von 02, die wohl durch Anpassung an das unmittelbar vorausgehende μεγάλα entstanden ist, oder auf der Variante βλασφημίας von P47, 01 und 04 beruht, lässt sich nicht sicher entscheiden. Als ein bisschen wahrscheinlicher darf die Entwicklung nach βλασφημίας gelten, da sich βλασφημία in diesem Fall einfach durch Streichung des Sigmas herausgebildet hätte. Ebenfalls schwer einzuschätzen ist das Zeugnis von 2053 in Apk 13,10 (TST 58). Die Handschrift bietet die grammatikalisch dubiose Singulärlesart ἀποκτενεῖν δεῖ αὐτὸν ἐν μαχαίρα, für deren Herkunft zwei Erklärungen denkbar sind. Sie könnte entweder aus dem Versuch einer Korrektur der Lesart ἀποκτανθῆναι αὐτὸν ἐν μαχαίρῃ von 02 entstanden sein oder – was wahrscheinlicher ist – auf einem Fehler der durch 04 und vielen anderen Handschriften bezeugten Variante ἀποκτενεῖ δεῖ αὐτὸν ἐν μαχαίρα beruhen. Da ἀποκτενεῖν in jedem Fall die Kenntnis von ἀποκτενεῖ voraussetzt und sich der merkwürdige Infinitiv wohl durch irrtümliche Beifügung des Buchstabens Ny herausgebildet hat, scheint 2053 hier die Variante von 04 et al. vorauszusetzen. In 14,13 (TST 81) hat 2053 die Lesart καὶ λέγει statt ναὶ λέγει, wie es in 02, 04 und diversen weiteren Handschriften heißt. Im Vergleich zur Wortstellung λέγει ναί der Koine-Gruppe setzt 2053 die Variante von 02 und 04 voraus, wobei καί entweder durch einen simplen Transkriptionsfehler oder als sprachliche Vereinfachung („und der Geist spricht“) entstanden ist. Anstelle von διπλᾶ (02) oder τὰ διπλᾶ (01 04) bietet die Oecumenius-Familie in Apk 18,6 (TST 92) geschlossen die Lesart αὐτὰ διπλᾶ. Womöglich geht dieser Wortlaut auf eine Vermischung der Varianten τὰ διπλᾶ und αὐτῇ διπλᾶ (Andreas-Tradition) zurück, indem das indirekte Objekt αὐτῇ im Hinblick auf den Artikel τά durch das Demonstrativum αὐτά als Mittel der Emphase ausgetauscht wurde („und gebt dies zweifach zurück“). Denkbare wäre natürlich auch, dass in einem frühen Stadium der Oecumenius-Tradition αὐτά den
112 Vgl. das Kommentarstück zu Apk 1,9a in Groote, Commentarius, 74 Z. 252. 113 Vgl. TuT-Apk, 109.
02 und 04
Artikel τά ersetzt hat und αὐτῇ wiederum eine darauf basierende Fortentwicklung als Angleich an den Versanfang (ἀπόδοτε αὐτῇ) darstellt. Die umgekehrte Genese von αὐτῇ zu αὐτά als sprachliche Erschwernis scheint dagegen unwahrscheinlich zu sein. In Apk 18,14 (TST 100) lesen die Oecumenius-Handschriften αὐτήν οὐ μὴ εὑρήσουσιν. Der Wortlaut setzt die Wortstellung der Variante αὐτά οὐ μὴ εὑρήσουσιν von 04 im Unterschied zu οὐ μὴ αὐτὰ εὑρήσουσιν von 01 und 02 voraus, wobei αὐτήν aus Anpassung an ὀπώρα in der ersten Vershälfte resultiert sein dürfte.
Die Durchsicht der Stellen führt zweierlei vor Augen: Die Bezeugung der vorgenannten Sonderlesarten ist weitgehend auf 2053 bzw. die Oecumenius-Familie und davon abhängiger Texttraditionen (F1678) beschränkt. Dabei erklären sich sämtliche Varianten als naheliegende Texteingriffe oder schlichte Fehler, die keinen Einfluss anderer Überlieferungstraditionen zu erkennen geben. Mit Ausnahme der Stelle 18,6 (TST 92), an der die Variante der Oecumenius-Tradition nicht sicher in der Textgenese zu verorten ist, steht in allen übrigen Fällen eine direkte Abhängigkeit vom Ausgangstext außer Frage. Entscheidend ist jedoch die Tatsache, dass 2053 bzw. die Oecumenius-Tradition auch an diesen Stellen keine Abhängigkeit von eigentümlichen Lesarten der Handschriften 02 und 04 durchblicken lässt.114 Alle Sonderlesarten von 2053 respektive der OecumeniusTradition erklären sich als Entwicklungen, die direkt vom Ausgangstext ausgehen. Dass 2053 durch Sonder- oder Individuallesarten spezifische Gemeinsamkeiten mit 02 und/oder 04 verloren hätte, kann indes an keiner Stelle nachgewiesen werden. Es sind also auch in dieser Hinsicht keine Spuren einer gemeinsamen Textgruppe zu finden, die 02, 04 und die Oecumenius-Tradition angeblich teilen würden. Damit erweist sich nicht zuletzt Schmids Urteil, wonach der Text des Oecumenius mit dem von 02-04 „im ganzen identisch“ sei, als unzutreffend.115 114 Es ist außerdem festzuhalten, dass 2053 häufiger von einer Ausgangslesart abhängt, die von 04 und nicht von 02 bezeugt wird. Da diese Beobachtung zur Urteilsbildung jedoch ein größeres Datenset erfordert, kann sie hier nicht weiter verfolgt werden. Gleichwohl darf sie als Indiz angesehen werden, dass durch 02 bezeugte Singulärlesarten stets zu misstrauen ist. Dies gilt auch für solche Fälle, in denen die derzeitige Textkonstitution von NA28 noch Singulärlesarten der Handschrift 02 den Vorzug gibt. Wie die Analyse von 2053 exemplarisch vor Augen führt, gibt der Befund deswegen Anlass zur Skepsis, weil Singulärlesarten von 02 scheinbar auch entwicklungsgeschichtlich isoliert sind und nur selten zur Bildung weiterer Varianten in möglichen Nachfahren beigetragen haben. 115 Bezeichnenderweise präzisiert Schmid sein anfängliches Urteil in einer späteren Untersuchung selbst: J. Schmid, Der Apokalypse-Text des Oikumenius, Bib. 40 (1959), 935–942. Darin hält er fest, dass der Text des Oecumenius zwar 02-04 am nächsten steht, doch sich durch diverse Lesarten der Andreas- und Koine-Tradition davon unterscheidet (a. a. O. 941). Da dieses
Die ältesten Textzustände Die Relationen von 2053 zu 02 und 04 beschränken sich von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen (siehe 18,3, TST 89 oben) weitgehend auf Varianten des Ausgangstextes, die etwas mehr als 50 % des Gesamttextes ausmachen. Daneben weist 2053 zahlreiche Fortentwicklungen auf, die sich in der Koine- und Andreas-Tradition wiederfinden. Alles zusammengenommen ist die Oecumenius-Tradition aus einer Vorlagenkette erwachsen, deren Grundschicht dem Ausgangstext noch sehr nahe steht und die auch 02 und 04 zu einem gewissen Grad teilen. Durch diese teilweise gemeinsame Vorlagenkette ergeben sich die Verbindungen der drei Zeugen, die Schmid irrtümlich als Beleg für einen Texttyp gedeutet hat. Die Tatsache, dass sich die Textzustände von 02, 04 und 2053 partiell aus denselben Quelllinien speisen, ist kein hinreichender Beweis für die Existenz eines gemeinsamen Texttyps; stattdessen dokumentiert sie eine kontinuierliche Entwicklung des Apk-Textes.
.. Beobachtungen zur Textgenese von 02, 04 und 2053 Für den Vergleich und die Feststellung der Zeugenrelation gilt die Grundregel, dass sich der Text von dem Zeugen mit einem höheren Anteil an prioritären Varianten zu dem mit einem niedrigen Anteil an prioritären Varianten entwickelt hat. Wenn der Anteil in beiden Zeugen nahezu ausgeglichen ist, dann lässt sich die Entwicklungsrichtung nicht sicher bestimmen. Auf diese Weise werden in der nachstehenden Tabelle zunächst die Zeugen 02, 04 und 2053 in Hinblick auf ihre Relation verglichen:116
Spätwerk aber von der Forschung kaum wahrgenommen wurde, verfestigte sich die Überzeugung, dass 02-04-Oec eine gemeinsame Textgruppe vertreten. 116 Die Abkürzungen in Tabelle 2 sind wie folgt aufzuschlüsseln: „Z1“ meint Zeuge 1 und „Z2“ Zeuge 2; „Richt.“ steht für Richtung der Textentwicklung und Relation der Zeugen; „Proz.“ gibt den Prozentsatz der identischen Varianten von beiden Zeugen an; „Ident.“ nennt die genaue Zahl der identischen Varianten beider Zeugen, „VarSt“ benennt die Gesamtzahl der Stellen, an denen beide Zeugen auswertbaren Text bieten; „Z1 < Z2“ gibt an, an wie vielen Stellen Z2 eine prioritäre Variante gegenüber Z1 hat; „Z1 > Z2“ gibt entsprechend an, an wie vielen Stellen Z1 eine prioritäre Lesart gegenüber Z2 hat; „NV“ nennt die Fälle, an denen zwischen Z1 und Z2 keine direkte Verbindung besteht. Das Darstellungsschema folgt dem Vorbild „Comparison of Witnesses“ zur Apostelgeschichte, wie es im Internet unter folgendem Link zugänglich ist: http://intf.unimuenster.de/cbgm/actsPh3/guide_en.html#Witnesses, zuletzt abgerufen 15.06.2023. Das System gilt für alle weiteren Tabellen dieser Art.
02 und 04
Tab. 2: Vergleich 02, 04 und 2053 Z
Richt.
Z Proz. Ident. VarSt Z < Z Z > Z NV
NA
→
,
/
/
/
NA
→
,
/
/
/
NA
→
,
/
/
/
←
,
→
,
→
,
Was den Vergleich der drei Zeugen betrifft, führt die Auswertung zu einem klaren Ergebnis. Die Zeugen 02 und 04 lassen sich an 85 Teststellen miteinander vergleichen, an denen sie in 62 Fällen denselben Wortlaut bieten (72,94 % Übereinstimmung). Wie bereits dargelegt, handelt es sich dabei in den allermeisten Fällen um Varianten des kritischen Textes von NA28, wodurch sich beide Zeugen als ausgangstextnahe Zeugen erweisen. Bei einem Verhältnis von 10 prioritären Lesarten, die 04 gegenüber 02 hat, und 7 prioritären Varianten, die 02 gegenüber 04 aufweist, lässt sich die Entwicklungsrichtung des Textes zwischen den zwei Zeugen nicht sicher ermitteln. Dazu kommen 6 Fälle, in denen zwischen 02 und 04 keine direkte Verbindung besteht und ihr Verhältnis damit nicht sicher festgestellt werden kann. Dieser Befund legt den Schluss nahe, dass 02 und 04 vor allem durch den angenommenen Ausgangstext verwandt sind, aber ansonsten keine eindeutige genealogische Relation zwischen den beiden Zeugen besteht. Da 04 etwas häufiger zu 02 eine prioritäre Variante bekundet, erhärtet sich der Eindruck, dass die Textqualität von 04 im Vergleich zu 02 etwas höher anzusetzen ist. Dieser Aspekt spielt bei der Textentscheidung vor allem dann eine Rolle, wenn 04 und 02 auseinandergehen. Sofern sich für die Varianten eine direkte Verbindung feststellen lässt, hat 04 nach obigem Vergleich in diesen Fällen etwas wahrscheinlicher die prioritäre Variante bewahrt. Ein bemerkenswerter Befund ergibt sich für 2053. Demnach konnten 2053 und 02 an 121 Teststellen ausgewertet werden, wobei die zwei an 65 variierten Stellen oder in 53,71 % denselben Wortlaut haben. An weiteren 34 Stellen bietet 02 gegenüber 2053 die prioritäre Variante und nur an 5 Teststellen weist 2053 zu 02 die prioritäre Lesart auf. Mit Blick auf 04 und 2053 ließen sich beide Zeugen an 87 Teststellen untersuchen, wobei sie in 51 Fällen oder 58,62 % denselben Text bekunden. Überdies liest 04 an 21 Stellen zu 2053 die prioritäre Variante und 2053 zu 04 lediglich in 3 Fällen. Schließlich besteht an 17 Teststellen keine direkte Verbindung zwischen 2053 und 02 bzw. an 12 Teststellen zwischen 2053
Die ältesten Textzustände und 04. Die Ergebnisse der Untersuchung von 2053 widersprechen somit Schmids Annahme, dass die Oecumenius-Tradition mit 02-04 identisch sei. Die Gemeinsamkeiten von 2053 mit 02 oder 04 beschränken sich auf etwas mehr als die Hälfte des variierten Textbestandes. Ferner liest 2053 an diversen Stellen im Verhältnis zu 02 und/oder 04 posterioritäre Varianten und bekundet damit augenscheinlich ein späteres Textstadium als diese beiden Zeugen. Weil 2053 zudem eine Reihe an Varianten bekundet, die sich weder durch Abhängigkeit von 02 noch 04 erklären lassen, haben sich offensichtlich auch anderweitige Einflüsse im Text dieses Zeugen niedergeschlagen. Insgesamt bietet 2053 einen deutlich abgewandelten Textzustand, wobei der Zeuge in vielerlei Hinsicht ein direkter Nachfahre von 02 und 04 ist. Die durchgeführten Einzelanalysen der Zeugen 02, 04 und 2053 sowie ihre abschließende Verhältnisbestimmung berechtigen zu der Annahme, dass sie keine gemeinsame Textgruppe vertreten. Im Gegensatz zu Schmid sind sie weitestgehend als individuelle Zeugen zu betrachten, deren übereinstimmender Textbestand im Wesentlichen vom Ausgangstext herrührt. Daneben bezeugen sie nur selten signifikante gemeinsame Sonderlesarten. Während für 02 und 04 keine eindeutige Relation ermittelt werden kann bzw. je der angenommene Ausgangstext ihr direkter Vorfahre ist, darf für 2053 und die OecumeniusTradition vermutet werden, dass sie zum größten Teil einen Nachfahren von 02 und 04 mit einigen sonstigen Einflüssen darstellt.
. P47 und 01 Wie bereits zu Anfang des Kapitels dargelegt, vertreten P47 und 01 nach Ansicht von Schmid ebenfalls eine gemeinsame Textgruppe, die sich von 02-04 „durch eine beträchtliche Zahl von Korrekturen unterscheidet“117. Gemäß TuT-Apk weisen P47 und 01 allerdings eine relativ niedrige Übereinstimmungsquote auf, die bei Auslassung der Mehrheitslesarten höchstens 61 % erreicht.118 Schon in der Einleitung zu TuT-Apk werden Bedenken an Schmids Auffassung formuliert, da die Indizien der quantitativen Auswertung sie nicht stützen.119 Es stellt sich damit die Frage, wie das Verhältnis der beiden Zeugen tatsächlich zu bestimmen ist. Um dem Problem auf den Grund zu gehen, empfiehlt sich ein Vorgehen in drei Schritten: Zunächst werden die Textzeugnisse von P47 und 01 für sich
117 Schmid, Studien II, 109. 118 Vgl. TuT-Apk, 602. 119 Siehe dazu die kurzen Ausführungen in TuT-Apk, 67*.
P47 und 01
beleuchtet, weil vor allem 01 durch eine Vielzahl an Sonder- und Singulärlesarten hervorsticht und diese eigens zu beurteilen sind. Im zweiten Schritt soll das Verhältnis der beiden Zeugen zueinander näher betrachtet werden. Abschließend geht es darum, ihre Textgenese durch erste Beobachtungen genealogisch einzuordnen.
.. Der Textcharakter von P47 Mit Blick auf die physische Anfertigung gehört P47 zu den ältesten erhaltenen Handschriften der Apk. Trotz seines hohen Alters ist das Zeugnis des Papyrus differenziert zu bewerten, wie sich bereits aus dem Urteil Schmids über seinen Wert ersehen lässt: „Die Lesarten aber, mit denen P47 mit AC gegen S und die beiden jüngeren Familien Αν und K zusammengeht, erhalten durch ihn erhöhte Autorität und die bisherige Beurteilung der einzelnen Gruppen des Apk-Textes wird durch [!] ihn bestätigt. Zu tiefgehenden Korrekturen am Text der modernen Ausgaben gibt P47 keinen Anlass.“120
Demnach unterstreicht P47 den Wert von 02 und 04,121 wenn der Papyrus mit diesen beiden Zeugen zusammengeht. Weicht er hingegen ab, so bezeugt P47 in aller Regel sekundäre Varianten.122 Obwohl P47 an 34 Teststellen erfasst ist und damit das notwendige Mindestmaß zur Auswertung (zehn Teststellen) deutlich überschreitet, bleibt es ein schwieriges Unterfangen, seinen Textcharakter zu bestimmen. Die nachfolgende Tabelle 3 stellt die Textzusammensetzung des Papyrus nach TuT-Apk im Überblick dar:
120 J. Schmid, Der Apokalypsetext des Chester Beatty P47, BNGJ 11 (1934), 81–108, hier 108. 121 „Einmal bestätigt 𝔓𝔓47 damit den hohen Wert von 02 und 04 als den beiden besten ApkHss.“; Schmid, Apokalypsetext P47, 97. 122 Unter den Stellen, an denen P47-01 gegen 02-04 zusammengehen, befinden sich laut J. Schmid „nur wenige Lesarten, die als Urtext zu gelten haben“ (Schmid, Apokalypsetext P47). Einen weiteren textgeschichtlichen Aspekt, der in diesem Zusammenhang zu nennen ist, hat Malik beobachtet. Er weist darauf hin, dass P47 signifikante Gemeinsamkeiten mit der sahidischen Version bekundet. Aus historischen Gründen mag es nicht überraschen, dass ein in Ägypten angefertigter Papyrus der Apk textliche Similaritäten mit der sahidischen Übersetzung zeigt; gleichwohl dokumentiert der Befund die größere Verbreitung dieses Textzustands in ägyptischer Provenienz. Als Beleg für einen lokalen Texttyp reichen die Übereinstimmungen allerdings nicht aus. Siehe dazu die Kollationen und Erläuterungen in Malik, P.Beatty III, 194– 221.
Die ältesten Textzustände Tab. 3: Textzusammensetzung P47123 Lesarten Anzahl
Lesarten Anzahl
LA-
LA-mS
LA-
LA-mS
LA-
LA-mS
SoLA
SingLA
LA- LA-mS
Auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass P47 einen komplexen Text bietet. Was die Anzahl an LA-2 betrifft, überwiegt diese diejenigen an LA-3 und LA-4 deutlich. Unter Berücksichtigung von Schnittmengen halten sich indes LA-2mS und LA-4mS mit je 16 Übereinstimmungen die Waage. Dass laut Leitzeile der Vergleichsliste dennoch der Anteil an LA-2mS mit 50 % dominiert,124 hat eine methodische Ursache: An zwei betroffenen Stellen findet sich in NA28 eine unsichere Textkonstitution; da solche Fälle bei den Auswertungen in TuT-Apk ignoriert sind, beruht die Berechnung der Übereinstimmungen zwischen P47 und LA-2 auf 16 von 32 Stellen, wohingegen diejenige mit LA-4mS auf 16 von 34 Stellen basiert und sich deswegen nur auf 47 % beziffert. Überdies stimmt P47 an 14 Stellen mit dem Zeugnis der relativen Mehrheit überein,125 wobei in sieben Fällen rM und NA28 identisch sind. Am häufigsten, nämlich 11mal, geht P47 mit rM zusammen, wenn diese Lesart zugleich durch die Mehrzahl der Andreas-Handschriften gestützt wird. Demgegenüber bezeugt P47 nur in 8 bzw. 10 Fällen den Wortlaut der relativen Mehrheit, wenn dieser von der Hauptmasse der Koine- oder Complutense-Handschriften gelesen wird. Wenngleich das gezeichnete Bild an den Rändern unklar bleibt, erlaubt es dennoch einen Rückschluss auf die Einordnung von P47. Da der Anteil an Mehrheitslesarten geringer ausfällt als derjenige an LA-2mS und LA-4mS, muss der Papyrus in erster Linie in seinem Verhältnis zum kritischen Text von NA28 und der Andreas-Tradition bewertet werden.
123 Daten nach TuT-Apk, 230. 124 Vgl. TuT-Apk, 518. 125 In folgenden Stellen bietet P47 die Variante der relativen Mehrheit: TST 60 LA 3/5; TST 61 LA-2/4; TST 68 LA-3/5; TST 70 LA-3/4/5; TST 74 LA-2/4/5; TST 75 LA-2/4/5; TST 76 LA-3/4/5; TST 78 LA-3/4/5; TST 79 LA-2/3; TST 80 LA-2/3/4; TST 85 LA-4/5; TST 86 LA-2/4/5; vgl. TuTApk, 755.
P47 und 01
Insoweit bestätigt die TuT-Auswertung Schmids Einschätzung: In der Sortierungsliste nach dem Anteil an LA-2 steht P47 hinter 02, 04, 01 und 2846 an fünfter Position, wohingegen er in der Sortierung nach LA-2mS erst an 17. Position erscheint und somit von diversen Minuskeln übertroffen wird. An wirklich hoher Position steht P47 also nur, wenn ausschließlich die vorwiegend durch 02 und 04 bezeugten LA-2 für die Sortierung ausschlaggebend sind. Insgesamt stimmt P47 an 16 von 32 Stellen mit dem kritischen Text von NA28 überein, wobei die betreffende Variante je 14-mal ebenso in 02 und/oder 04 sowie 12-mal in 01 steht. Betrachtet man stattdessen die Stellen, an denen P47 von NA28 abweicht, ändert sich das Bild erheblich: Es liegen dann sieben Übereinstimmungen mit 01, drei mit 04 und lediglich eine mit 02 vor. Gemessen an NA28 bietet P47 vorwiegend bei Übereinstimmung mit 02-04 potenziell ursprungsnahe Varianten. Diese Feststellung kann als Richtwert gelten, wie P47 im Einzelfall zu gewichten ist; sie bildet aber keineswegs ein abschließendes Urteil über die textkritische Qualität des Papyrus. Davon abgesehen bietet P47 an vier Stellen mit LA-4 eine mehrheitlich bezeugte Variante der Andreas-Tradition:126 TST 51 (Apk 13,1): ονομα P47 01 04; TST 52 (Apk 13,2): ομοιον P47; TST 57 (Apk 13,7): om. και εδοθη αυτω ποιησαι πολεμον μετα των αγιων και νικησαι αυτους P47 02 04; TST 67 (Apk 14,1): εστως P47.
Keine dieser Varianten zählt Schmid (auch nicht 13,2 und 14,1) zu den eigentümlichen Lesarten des Andreas-Textes, obwohl sie jeweils durch die Mehrzahl der Andreas-Handschriften gelesen werden. Dies hat seinen Grund zum einen in der komplexen Zeugenkonstellation und zum anderen in der Charakteristik der Varianten selbst: In 13,1 und 13,7 finden sich die fraglichen Varianten neben P47 und der Überzahl der Andreas-Handschriften ebenso in 01/04 bzw. 02/04; im 126 In 14,6 (TST 72) liest P47 außerdem die Variante εὐαγγελίσασθαι statt εὐαγγελίσαι, die vorrangig durch die Complutense-Handschriften bezeugt wird und deswegen als LA-5 in den Kollationsresultaten steht. Da diese Variante ebenfalls in 01 (εὐαγγελίσασθε) steht, ist auch in diesem Fall von einer frühen Textentwicklung auszugehen. Sie findet sich überdies in F172 und wurde in der Überlieferung des Andreas-Kommentars zu ἐρχόμενον εὐαγγελίσασθαι weiterentwickelt. Die Textänderung zur gewöhnlichen Ausdrucksweise εὐαγγελίσασθαι ist naheliegend (vgl. Lk 4,18; Apg 16,10; Röm 1,15), da die Aktivform des Verbs im gesamten Neuen Testament nur hier und in Apk 10,7 steht (außerdem noch in Apg 16,17 als v. l. durch 05 bezeugt; vgl. Strutwolf, et al., ECMActa I, 597). Zur Verwendung des Aktivs als Ersatz für das Medium siehe BDR, § 309.1.
Die ältesten Textzustände Sinne Schmids können sie deswegen für keinen Überlieferungsstamm als eigentümliche Lesarten verbucht werden, sondern dokumentieren vielmehr deren Verbindung. Mit Blick auf die Varianten in 13,2 und 14,1 geht Schmid jeweils davon aus, dass in P47 ein Schreibfehler vorliegt und er deswegen zufällig mit dem Andreastext zusammentrifft.127 Zwar kann dieser Umstand für keinen der beiden Fälle ausgeschlossen werden: Für ἑστώς wäre die durch 01, 02 und 04 bezeugte Variante ἑστός als Vorlage anzunehmen und die versehentliche Omission von ἦν vor oder nach ὅμοιον in 13,2 ist ebenfalls denkbar. Allerdings besteht ebenso die Möglichkeit, dass P47 an beiden Stellen bereits eine frühe Textentwicklung bekundet, die sich vorwiegend in der Andreas-Tradition durchgesetzt hat. Die Annahme eines Fehlers ist in beiden Fällen nicht zwingend, um das Zeugnis von P47 zu erklären. Hierfür spricht ferner, dass P47 auch an anderen Stellen jüngere Varianten der Andreas- oder anderer Traditionen aufweist bzw. diese sogar voraussetzt (z. B. TST 66, 70, 71, 72, 76 und 78). Insofern können die Belege in den vier oben genannten Stellen auch als Indiz früher bereits durch P47 bezeugter Textentwicklungen gewertet werden. In jedem Fall werfen die vier Stellen ein bemerkenswertes Licht auf die Textgeschichte: Durch P47 sind nachweislich Varianten belegt, die sich später in der Mehrzahl der Andreas-Handschriften durchgesetzt haben. Dies ist ein erster wichtiger Beleg für die Ansicht, dass sich die Andreas- und KoineTradition allmählich aus älteren Textzuständen entwickelt haben und keine Rezension im technischen Sinne darstellen. Wegen der geringen Anzahl an Teststellen muss die Auswertung des Textzustands von P47 jedoch mit Vorsicht betrieben werden.128 ... Singulärlesarten (SingLA) Eine kurze Erläuterung sei den drei in TuT verzeichneten Singulärlesarten von P47 gewidmet: TST 56 (Apk 13,6): εις βλασμημιας NA28] βλασφημησαι P47 ¦ εις βλασμημιαν KoiGM AndGM ComG
In Apk 13,6a (TST 56) liest P47 die Singulärlesart βλασφημῆσαι, für die zwei Quellvarianten infrage kommen: εἰς βλασφημίαν oder εἰς βλασφημίας (01, 02, 127 So Schmid, Studien II, 117 ohne überzeugende Begründung. 128 Wegen des geringen Textumfangs stellen Papyrusfragmente häufig ein Problem für genealogische Auswertungen dar und werden deswegen zumeist davon ausgeklammert und auf andere Weise analysiert; siehe dazu die Überlegung in B. Aland, Kriterien zur Beurteilung kleinerer Papyrusfragmente des Neuen Testaments, in: A. Denaux (Hg.), New Testament Textual Criticism and Exegesis (FS J. Delobel), BETL 161, Leuven 2002, 1–13.
P47 und 01
04). Die Textänderung geht vermutlich auf das Konto des Schreibers und vereinfacht das Satzgefüge durch einen Infinitiv mit Finalsinn.129 Sie erklärt sich als Anpassung an den Kontext (13,6b ebenfalls βλασφημῆσαι).130 TST 63 (Apk 13,14): της μαχαιρης και εζησεν NA28] της μαχαιρ[?]ς και ζησας P47
Zudem weist P47 eine Singulärlesart in Apk 13,14 auf, wobei der Wortlaut in diesem Fall nicht sicher zu erschließen ist: Der Text lautete entweder τῆς μαχαίρης καὶ ζήσας oder τῆς μαχαίρας καὶ ζήσας. Die Änderung von Indikativ Aorist ἔζησεν, wie er mit Ausnahme von 2495 (ἐζήτησεν) und 93 (om.) ansonsten uneingeschränkt bezeugt wird, zum Partizip ζήσας geht vermutlich auf eine Konfusion durch die vorstehende Genitivwendung zurück oder stellt eine schlichte Substitution dar.131 Auch in diesem Fall kommt es zu keiner nennenswerten Sinnänderung des Textes in P47. TST 66 (Apk 13,18): αριθμος γαρ ανθρωπου εστιν, και ο αριθμος αυτου εστιν εξακοσια εξηκοντα εξ NA28] αριθμος γαρ ανθρωπου εστιν εστιν δε χξϛʹ P47
Schließlich bekundet P47 in Apk 13,18 singulär den Wortlaut ἀριθμὸς γὰρ ἀνθρώπου ἐστίν ἔστιν δὲ χξϛʹ. Die Teststelle fragt nach der Zahl des Tieres, die P47 in der Mehrheitsfassung als Buchstabenziffern χξϛʹ (‚666‘) angibt.132 Die Singulärlesart resultiert wohl aus einer Parablepsis, indem der Schreiber die Worte καὶ ὁ ἀριθμὸς αὐτου irrtümlich übersprungen hat.133 Demnach wäre ἀριθμὸς γὰρ ἀνθρώπου ἐστίν καὶ ὁ ἀριθμὸς αὐτοῦ ἐστίν χξϛʹ als Vorlagentext anzunehmen,134 wobei der Schreiber von P47 zur Abmilderung der Juxtaposition nach dem zweiten ἔστιν noch δέ ergänzt hat. Auf eine andere Erklärung macht Malik aufmerksam: Da 01 mit ἀριθμὸς γὰρ ἀνθρώπου ἐστίν ἑξακόσιαι ἑξήκοντα ἕξ eine sehr ähnliche Singulärlesart bietet, sind beide Handschriften bis auf ἔστιν δέ und Schreibweise der Tiereszahl identisch. Möglicherweise gehen P47 und 01 hier auf dieselbe Vorlagenkette zurück,135 womit sie sich näher stehen, 129 Nach Verben der Bewegung hat der Infinitiv sehr häufig finale Bedeutung und drängt sich daher in 13,6a als sprachliche Vereinfachung auf: ἤνοιξεν τὸ στόμα αὐτοῦ βλασφημῆσαι πρὸς τὸν θεὸν; siehe BDR, § 388. 130 So bereits Malik, P.Beatty III, 142. 131 Siehe dazu die Einschätzung in Malik, P.Beatty III, 133. 132 Vgl. TuT-Apk, 130. 133 So Royse, Scribal Habits, 388. 134 Die Kopula vor der Tiereszahl wird auch durch 04, 1611, 2329, F1006 und die Mehrzahl der Andreas-Handschriften bezeugt; vgl. TuT-Apk, 131. 135 Malik, P.Beatty III, 138.
Die ältesten Textzustände als es auf den ersten Blick scheint. Folgt man Maliks Einschätzung, so kann diese Stelle als indirekter Beleg für die Verbindung der beiden Zeugen gewertet werden. Allerdings kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass P47 und 01 zwei unabhängige Fehler durch Parablepsis bekunden. Aus diesem Grund sollte die Stelle in jedem Fall mit Vorsicht betrachtet werden. ... Sonderlesarten (SoLA) Ebenso bedürfen die drei durch P47 bezeugten Sonderlesarten einen genaueren Blick: TST 77 (Apk 14,8): αγγελος δευτερος NA28] δευτερος P47 01 ¦ δευτερος αγγελος KoiGM
In Apk 14,8 lässt P47 das Wort ἄγγελος aus. Da dieselbe Omission auch durch 01 bezeugt wird, ist sie als gemeinsame Sonderlesart von P47 und 01 zu bewerten. Weil die Auslassung ebenfalls in 911, drei Mitgliedern von F1006 (1006, 1841 und 2794) sowie 2344 begegnet,136 ist sie nicht auf P47 und 01 beschränkt. TST 81 (Apk 14,13): ναι λεγει NA28] λεγει ναι KoiGM ¦ λεγει P47 01
In Apk 14,13 lässt P47 ebenfalls gemeinsam mit 01 und 5 weiteren Handschriften das Wort ναί aus.137 Wenngleich auch in diesem Fall nicht P47 und 01 allein diese Sonderlesart bezeugen, kann sie dennoch als Beleg für eine engere Verbindung der beiden Zeugen jenseits des Ausgangstextes angesehen werden. TST 87 (14,19): του θυμου του θεου τον μεγαν NA28] του θυμου του θεου του μεγαλου P47 ¦ του θυμου του θεου την μεγαλην 01 AndGM
Wie jedoch die Sonderlesart von P47 in Apk 14,19 zeigt, ist das Verhältnis zu 01 mitunter erst auf dem Weg der Variantenfiliation zu bestimmen. Während 01 mit der Mehrzahl der Andreas-Handschriften τὴν μεγάλην liest, bietet P47 τοῦ μεγάλου. Die Textänderung beruht vermutlich auf einer mechanischen Anpassung an den Kontext, wobei der Bezug des Attributs von τὴν ληνὸν zu τοῦ θυμοῦ oder τοῦ θεοῦ (letzteres weniger wahrscheinlich) wechselt. Da keine andere Lesart als Quellvariante in Betracht kommt, geht der Wortlaut von P47 direkt auf τὴν μεγάλην zurück und setzt damit das Zeugnis von 01 und der Mehrzahl der Andreas-Handschriften voraus.
136 Vgl. TuT-Apk, 147. 137 Zur Bezeugung siehe TuT-Apk, 152.
P47 und 01
.. Der Textcharakter von 01 Trotz seines Alters gilt 01 als zweitrangiger Zeuge für die Apk. Dafür tragen vor allem zwei Faktoren Verantwortung: a) die oftmals mäßige Schreibertätigkeit, aus der etliche Fehler und Singulärlesarten hervorgegangen sind, und b) die erhöhte Anzahl an sekundären Varianten. So hat bereits Weiss den Schluss gezogen, „dass der emendierte Text bereits in bedeutendem Umfang auf ℵ eingewirkt hat“.138 Schmid bestätigt diese Einschätzung, indem auch er 01 „viele Korrekturen“ attestiert und das Zeugnis infolgedessen „vom Original weiter entfernt“ steht.139 Die TuT-Daten untermauern diese Beobachtungen einerseits, ziehen aber andererseits auch gewisse Präzisierungen an der Bewertung von 01 nach sich. Einen Gesamteindruck der Textzusammensetzung gemäß TuT-Apk vermittelt die nachfolgende Tabelle 4:140 Tab. 4: Textzusammensetzung 01 nach TuT-Apk Lesarten Anzahl
Lesarten Anzahl
LA-
LA-mS
LA-
LA-mS
LA-
LA-mS
LA-
SoLA
SingLA
LA-mS
Demnach bietet 01 am häufigsten LA-2 und LA-2mS; die Quote beläuft sich auf ca. 55 % (68 von 123 Teststellen). Am zweithöchsten fällt der Anteil an LA-4 und LA-4mS aus, derweil die Raten an LA-5 und LA-5mS leicht sowie an LA-3 und LA-3mS stärker dahinter zurückbleiben. Weil 01 nur wenige eigentümliche Lesarten der Koine- oder Andreas-Tradition aufweist, steht der Zeuge noch in deutlicher Distanz zu diesen Gruppen, obwohl er augenscheinlich einen jüngeren Textzustand als 02 und 04 erhalten hat. Laut Sortierungslisten liegen die Quoten von 01 an LA-3mS bei 22,7 %, an LA-4mS bei 36,5 % und an LA-5mS bei 33,3 %. Die Verbindung zur Koine-Tradition ist also in 01 noch am schwächsten ausgeprägt. Da neben den Übereinstimmungen mit dem Text von NA28 (LA-2
138 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 92. 139 Schmid, Studien II, 121. 140 Angaben gemäß TuT-Apk, 231.
Die ältesten Textzustände und LA-2mS) die Anteile an LA-2mS und Lesarten-5mS am deutlichsten hervortreten, ist 01 in diesem Dreieck zu profilieren. Die Begutachtung der von 01 bezeugten Lesarten rM macht deutlich, dass die Verbindungslinien zu den Überlieferungszweigen mehr oder minder auf einem Level liegen. An 42 Teststellen geht 01 mit dem Wortlaut der relativen Mehrheit zusammen, was eine Quote von 34,1 % ergibt. Prozentual liegt der Anteil an rM somit über den Quoten an LA-mS und LA-mS; lediglich die Rate an LA-2mS und LA-4mS übertrifft diejenige an rM. Die Übereinstimmungen mit rM setzten sich dabei folgendermaßen zusammen: NA
LA-mS
LA-mS
LA-mS
Treffer mit rM = , % = , % = , % = , %
Augenscheinlich bietet 01 vor allem solche Varianten der relativen Mehrheit, die von einer breiten Masse an Zeugen gestützt werden. Die Prozentwerte dürfen nicht zu dem Fehlschluss führen, dass 01 in besonderer Verbindung zur Complutense-Tradition (LA-5mS) steht. Die Sachlage verhält sich vielmehr so, dass die Complutense-Tradition als Mischtext aus Andreas- und Koine-Überlieferung besonders häufig die Lesart der relativen Mehrheit stützt. Insgesamt können die rM-Varianten von 01 keiner bestimmten Überlieferungsschicht zugeordnet werden.141 Am häufigsten sind die Kombinationen aus LA-2/3/4/5 (TST 2, 35, 39 = 3mal), LA-3/4/5 (TST 5, 13, 15, 18, 20, 37, 45, 70, 76 = 9mal) und LA-2/4/5 (28, 33, 48, 63, 74, 86, 93, 97, 98, 109, 115, 118, 120 = 13mal) unter den Mehrheitslesarten von 01. Es zeichnet sich also keine eindeutige Tendenz ab, wo der Anteil an rM von 01 zu verorten ist. Die Frage nach der Herkunft dieses Befundes kann auf 141 In Apk 18,3 (TST 90) bezeugt 01 die Variante πεπτώκασιν, die von 103 weiteren Handschriften gelesen wird und damit die Mehrheitslesart an dieser Stelle darstellt. Folglich konstituieren in diesem Fall weniger als die Hälfte aller Handschriften, nämlich nur 40 % des Gesamtbestandes die Mehrheitsvariante (vgl. TuT-Apk, 753). Darunter bilden die 56 KoineHandschriften die größte Untermenge, weshalb die Lesart zugleich als LA-3 in den Kollationsresultaten definiert ist. Gleichwohl darf das Zusammentreffen von 01 mit den KoineHandschriften an dieser Stelle aus mehreren Gründen nicht überbewertet werden. 1) Mit 56 Repräsentanten bildet die Koine-Gruppe zwar den Hauptzeugen für die Variante, doch machen sie insgesamt nur geringfügig mehr als die Hälfte aller Zeugen aus. 2) Die Variante πεπτώκασιν wird außerdem von 9 Andreas-Handschriften und verschiedenen Familien wie F1006 und F1678 bezeugt. Ferner dürfen auch 02 und 04 als Zeugen derselben Variante gelten, die sie mit πεπτώκαν lediglich in einer anderen orthographischen Form aufweisen. Schließlich fällt das Zeugnis der Koine-Gruppe nicht einhellig aus, da immerhin 16 Handschriften abweichen und stattdessen πεπώκασιν lesen.
P47 und 01
zweierlei Weise beantwortet werden: 1) 01 bietet einen mehrschichtigen Text. Zu dieser Einschätzung neigt Schmid, dem zufolge 01 einen stark durch Koine- und Andreas-Tradition beeinflussten Text bezeugt.142 2) Eine andere Erklärung könnte lauten, dass 01 ein frühes Textstadium bewahrt hat, das deutliche Fortentwicklung des Ausgangstextes aufweist und insofern eine frühe Vorstufe sich allmählich differenzierenden Überlieferungszweigen darstellt. Wie die genealogische Auswertung zu zeigen vermag, erweist sich das zweite Erklärungsmodell als zutreffend. ... Singulärlesarten von 01 Zu den auffälligsten Merkmalen von 01 gehören die diversen Singulärlesarten. Bei der Auswertung dieser Lesarten liegt das Augenmerk hauptsächlich auf zwei Aspekten: die Profilierung der Schreibertätigkeit und mögliche Implikationen für die Textinterpretation. Dabei stellt beispielsweise Hernández fest, dass der Schreiber von 01 in der Apokalypse deutlich häufiger Text omittiert als welchen hinzugefügt hat.143 Des Weiteren erwecken zumindest einzelne Singulärlesarten den Eindruck, dass der Text hier aus einer theologischen Motivation heraus verändert wurde. Hernández nennt immerhin vier solcher Stellen (2,13, 2,22; 3,14b; 3,16b), von denen zwei möglicherweise antiarianisch zu verstehen sind (3,14b; 3,16b).144 Mit überaus drastischen Worten brandmarkt Schmid die Beschaffenheit der Abschrift und schreibt, der Text sei „überaus liederlich geschrieben“ und weise „eine Unmenge von Sonderlesarten“ auf.145 Mit Blick auf die in TuT-Apk erfassten 142 Siehe Schmid, Studien II, 134–135. 143 Siehe das Urteil bei Hernández, Scribal Habits, 87. 144 Zur inhaltlichen Diskussion der genannten Stellen siehe Hernández, Scribal Habits, 89– 93, 196–198. Es bleibt die Frage bestehen, inwiefern die betreffenden Singulärlesarten tatsächlich auf das Konto des Schreibers von 01 zurückgehen oder ob er sie bereits aus seiner verlorenen Vorlage übernommen hat. Wie U.B. Schmid zu bedenken gibt, ist nicht immer sicher zu entscheiden, woher eine bestimmte Lesart stammt. Vieles spricht dafür, dass die überlieferten Singulärlesarten aus einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Akteure der Überlieferung resultieren (Schmid, Scribes, hier 23) und nicht a priori dem „Schreiber/-in“ im technischen Sinne zugeschrieben werden können: „Before using the fashionable ‘some scribes changed’ prose, ask yourself,: who contributed what and when to a manuscript?“. 145 Schmid, Studien II, 110. Was die Anzahl an Sonderlesarten angeht, bezieht sich Schmid auf Statistiken von Weiss und Charles, deren Zählung zwischen 515 (Weiss, Textkritische Untersuchungen, 1) und 472 (Charles, Commentary I, 164) schwankt. Tatsächlich sprechen Weiss, Charles und Schmid hier von Singulärlesarten – also Textfassungen, die nach derzeitigem Kenntnisstand ausschließlich durch 01 bezeugt werden. Durch spätere Handschriftenfunde wie P47 und einige Minuskeln hat sich die Zahl der Singulärlesarten beträchtlich reduziert, sodass
Die ältesten Textzustände Singulärlesarten lässt sich der Befund in 01 sehr genau überprüfen. Die Quote an Singulärlesarten beläuft sich auf 8,1 % (10/123), die nur vier Handschriften noch übertreffen.146 Insofern dokumentiert auch TuT-Apk eine Vielzahl an Singulärlesarten für 01. Um welche Textfassungen es sich hierbei handelt, zeigt die folgende Aufstellung: Tab. 5: Singulärlesarten von 01 in TuT-Apk Apk
TST/LA Text
Quellvariante
,
/
την εκ
εκ
LA-/
,
/
εν ταις
εν αις
LA-/
,
/
το προσωπον ως ομοιον ανθρωπω το προσωπον ως ανθρωπω
, /
προσκυνιν147
unklar
, /
εξακοσιαι εξηκοντα εξ
unklar148
,
τω πατρι ησαντι
τω ποιησαντι
/
LA in TuT
LA-
LA-//
Hernández (Scribal Habits, 60) lediglich noch 201 solcher Textfassungen zählt. Wichtig zu beachten ist, dass Singulärlesarten nicht eo ipso die Textqualität eines Zeugen mindern müssen. Dies gilt vor allem für solche singulären Erscheinungen, die sich sicher in der Variantenfiliation einer Stelle verorten lassen. 146 Auswertungsbedingt schwankt in TuT-Apk die Zahl zwischen neun oder zehn Singulärlesarten, die 01 aufweist. Während ἔμπροσθεν καὶ ὄπισθεν (5,1; TST 32) in der Verzeichnenden Beschreibung als Sonderlesart definiert ist, weil sie in abgewandelter Form ebenso durch 01CA bezeugt wird, zählt sie in den weiteren Auswertungslisten als Singulärlesart; dort zählen nämlich nur die Lesarten der ersten Hand. Die auffällige Textänderung in 01 beruht wohl auf einer Anpassung an Apk 4,6 (ὀφθαλμῶν ἔμπροσθεν καὶ ὄπισθεν). Die Mehrheit der Handschriften bietet das komplementäre Wortpaar ἔσωθεν καὶ ἔξωθεν statt ἔσωθεν καὶ ὄπισθεν (NA28). Einen höheren Anteil an Singulärlesarten haben die vier folgenden Handschriften: P47 (8,8 %), 2919 (11,3 %), 1824 (11,7 %) und 2843 (16,3 %). Mit Ausnahme von 2919 handelt es sich bei diesen Handschriften um kürzere Fragmente, weshalb ihre Quoten an Singulärlesarten letztlich schwer einschätzbar sind. Gleichwohl bietet 2843 mit 16,3 % (8/49) eine bemerkenswert hohe Anzahl an Singulärlesarten, die sich in aller Regel als sinnlose Schreibfehler erklären (2,24 om. ὡς λέγουσιν οὐ βάλλω ἐφ᾽ ὑμᾶς ἄλλο βάρος [V.25] πλὴν ὃ ἔχετε; 4,9 δωσισι; 5,6 αποστελλωμενη; 5,13 ο εστιν). 147 Die Singulärlesart προσκυνῖν stellt eine itazistische Schreibweise für den Infinitiv Präsens aktiv προσκυνεῖν dar und erklärt sich als attizierende Glättung für die nachklassische Umschreibung der Zweckangabe durch ἵνα mit Konjunktiv προσκυνήσωσιν oder Indikativ προσκυνήσουσιν. Siehe dazu auch Schmid, Studien II, 220. 148 Es lässt sich nicht sicher abschätzen, ob ἑξακόσιοι ἑξήκοντα ἕξ (NA28) oder ἑξακόσια ἑξήκοντα ἕξ als Vorlage vorauszusetzen ist. Am besten erklärt sich die Variantenbildung, wenn man die Ziffernschreibung χξϛʹ als Ausgangstext annimmt.
P47 und 01
Apk
TST/LA Text
Quellvariante
LA in TuT
,
/ ετι τα προβατα
ετι τα πρωτα
LA-[]/
, /
αμεθυστινος
αμεθυστος
, /
ο ποιωσει
ο ποιων
LA-[]/
Abgesehen von drei Ausnahmen (13,12; 13,18; 21,20) kann für alle übrigen Singulärlesarten eine wahrscheinliche Quellvariante bestimmt werden.149 Diese Beobachtung ist in mehrfacher Hinsicht relevant: Zum einen belasten die Singulärlesarten die genealogische Auswertung des Textes nicht übermäßig, da sie sich meistens im lokalen Variantenstemma der jeweiligen Stelle verorten lassen. Zum anderen folgt daraus nicht unwesentliche Nachjustierung, was die Beurteilung der Sonderfehler von 01 betrifft. Problematisch wird das Zeugnis von 01 ausschließlich an den wenigen Stellen, an denen sich die Quellvariante einer Singulärlesart nicht eindeutig eruieren lässt. Wo die Quellvariante allerdings klar festzumachen ist, muss die Singulärlesart nicht notwendigerweise als Negativmerkmal bewertet werden. Stattdessen kann 01 als indirekter Zeuge150 der Quellvariante eingestuft und entsprechend gewichtet werden. Es ist mit methodischer Sorgfalt vorzugehen und es müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein, damit 01 (oder auch andere Handschriften) als indirekter Zeuge einer Quellvariante gelten kann: Der bezeugte Wortlaut stellt eine Singulärlesart dar und wird höchstens durch versionelle Zeugen gestützt. Außerdem darf sich die betreffende Lesart allenfalls geringfügig von der wahrscheinlichen Quellvariante unterscheiden. Sinnlastige und komplexe Textänderungen deuten dagegen in der Regel auf einen mehrschichtigen Entstehungsprozess hin und werden daher besser als individuelle Sondererscheinungen taxiert. Als weitere Einschränkung kommt hinzu, dass die Singulärlesart in Relation zur postulier-
149 Als „Quellvariante“ wird hier diejenige Variante aufgefasst, auf deren Grundlage sich die Singulärlesart in 01 im Unterschied zu allen anderen Lesarten der variierten Stelle am besten erklärt. Der Begriff darf hier nicht in dem Sinne aufgefasst werden, dass er die konkrete Vorlage des Schreibers von 01 bezeichnet. Aufgrund des Verlustes vieler Handschriften können wir im Einzelfall nicht mit Sicherheit feststellen, zu welchem Zeitpunkt eine tradierte Singulärlesart tatsächlich aufkam. Diese methodologische Grenze will besagen: Es ist gut möglich, dass der Schreiber von 01 einzelne Singulärlesarten bereits aus seiner verlorenen Vorlage(nkette) übernommen hat. Insofern meint ‚Vorlage‘ in diesem Kontext eigentlich die Vorlagenkette, auf die sich eine Singulärlesart im Gegenüber zu anderen Varianten einer Stelle zurückführen lässt. 150 Als indirekter Zeuge ist ein Zeuge zu verstehen, der aufgrund eines Fehlers oder vergleichbaren Ungenauigkeiten eine eigentümliche Abwandlung bietet, deswegen minimal von der wahrscheinlichen Quellvariante abweicht und sie nur indirekt bezeugt. Er darf als Zeuge dieser Variante gelten, wenn er zweifelsfrei auf diesen Wortlaut im Unterschied zu allen anderen Lesarten einer variierten Stelle zurückgeführt werden kann.
Die ältesten Textzustände ten Quellvariante als kontextuelle Textänderung naheliegt und darum leicht entstanden sein kann. Idealerweise verkörpert die Singulärlesart eine Nonsenslesart, die entweder morphologisch, philologisch und/oder semantisch inkorrekt ist; in solchen Fällen deuten zumeist alle Indizien darauf hin, dass sie tatsächlich von einem Schreiberirrtum herrührt. Schließlich muss sich die Singulärlesart zweifelsfrei auf eine bestimmte Vorlage im Unterschied zu allen übrigen Varianten einer Stelle zurückführen lassen. Sobald mehrere Ableitungen möglich sind, kann der Zeuge für keine der infrage kommenden Varianten als indirekter Zeuge verbucht werden. Bei einzelnen komplexeren Erscheinungen wäre zu diskutieren, ob sie bewusste oder semibewusste Abwandlungen des Schreibers sind und als solche aus einer spezifischen Quellvariante resultieren. Selbstverständlich sind solche Fälle mit besonderer Vorsicht zu behandeln. Als Kontrollmechanismus für die Rückführung der Singulärlesarten auf eine bestimmte Quellvariante dient der Vergleich mit dem sonstigen Variationsverhalten des Zeugen. Wenn sich die Quellvariante in den allgemeinen Textcharakter einfügt, ist die Ableitung als wahrscheinlich anzusehen. Sollte sich der Befund dagegen merklich unterscheiden, so wäre die Rückführung nochmals kritisch zu überprüfen und im Zweifelsfall zu ignorieren. Wo die aufgeführten Kriterien auf eine Singulärlesart zutreffen, kann 01 als indirekter Zeuge für die identifizierte Quellvariante verbucht werden. Auf diese Weise lässt sich die defizitäre Schreibertätigkeit zumindest in Einzelfällen durch Anwendung der lokalgenealogischen Methodik überwinden.
Demgemäß kann für sieben Singulärlesarten von 01 die Quellvariante erschlossen werden. In zwei Fällen entsprach die Vorlage des Schreibers höchstwahrscheinlich dem kritischen Text von NA28 (2,9; 14,7), je dreimal wird sie durch die Mehrzahl der Andreas- und Complutense-Handschriften (2,13; 4,7; 14,7) gestützt und an zwei Stellen durch die Koine-Gruppe (2,9; 21,27). Überdies fällt die Rückfrage nach der Quellvariante einer Singulärlesart von 01 mit zwei unsicheren Textkonstitutionen in NA28 zusammen (21,4, 21,27). Berücksichtigt man in beiden Fällen 01 als indirekten Zeugen, so wäre das Zeugenverhältnis neu zu gewichten.151
151 In 21,4 lässt NA28 offen, ob der Text ἔτι ὅτι τὰ πρῶτα oder ἔτι τὰ πρῶτα lautet. Während die Mehrheit der Handschriften den längeren Text bekundet, lassen 02, F1006, 1611, 2053, 2329, 2846 und einige Andreas-Handschriften ὅτι aus. 01 liest singulär ἔτι τὰ πρόβατα und darf damit als indirekter Zeuge für die kürzere Lesart gelten. Die Waage der äußeren Bezeugung neigt sich also eindeutig zu ἔτι τὰ πρῶτα als Ausgangstext. Die Einfügung von ὅτι könnte durch Angleichung an Apk 18,23 (ἔτι ὅτι οἱ ἔμποροί σου) entstanden sein. Anders Schmid (Studien II, 137), der die Auslassung von ὅτι nach ἔτι ohne nähere Begründung als Versehen beurteilt. In 21,27 schwankt die Textkonstitution von NA28 zwischen ὁ ποιῶν und ποιῶν ohne vorausgehenden Artikel. Der Artikel wird maßgeblich durch die Koine-Gruppe bezeugt, während er in 02, F1006, 2329 und 2846 fehlt. 01 liest ο ποιωσει und stützt damit den Artikel. In diesem Fall vermag 01 keinen entscheidenden Beitrag zur Textentscheidung liefern, obgleich die Bezeugung für den Artikel gestärkt wird. Laut Schmid (Schmid, Studien II, 134) entspricht der Artikel dem Sprachgebrauch der Apk: vgl. etwa 2,29; 3,1; 3,21; 13,17.18 u. ö. Vor diesem Hintergrund ließe sich
P47 und 01
Ferner fügen sich die rekonstruierten Quellvarianten in das sonstige Variationsverhalten von 01 ein:152 Je in drei Fällen lässt sich die betreffende Lesart auf Varianten zurückführen, welche durch etliche Textzustände der Andreas- und Complutense-Gruppe gelesen werden (2,13; 4,7; 14,7). Zweimal zählt die Quellvariante entweder zum Text von NA28 (2,9; 14,7) oder wird durch die KoineGruppe bezeugt (2,9; 21,27). Insgesamt dokumentieren die Singulärlesarten von 01 vielschichtige Verbindungen des Textes und können nicht einer spezifischen Variantenschicht zugeschlagen werden. Was die Textinterpretation angeht, wandeln die Singulärlesarten den Sinn einer Stelle nur selten ab. Im Regelfall haben sie keinerlei Auswirkungen auf den Inhalt, sondern stellen lediglich philologische Modifikationen dar (2,9; 2,13; 4,7; 13,12; 13,18; 21,20). Nirgends bergen die in TuT-Apk verzeichneten Singulärlesarten derart weitreichende christologische Konnotationen, wie sie Hernández für einzelne Stellen aufzeigen konnte.153 In 14,7 bringt 01 eine sinnentstellende Singulärlesart, deren Buchstabenbestand wohl als τω πρι (πατρι) ησαντι aufzu-
auch umgekehrt argumentieren, dass der Artikel in 21,27 deswegen erst sekundär eingefügt wurde (so Aune, Revelation III, 1139). 152 Nach der Aufstellung von Hernández (Scribal Habits, 209) werden zwei der in Tabelle 5 aufgeführten Singulärlesarten durch versionelle Bezeugung gestützt: τὴν ἐκ in 2,9 durch den Sinai-Syrer und προσκυνεῖν in 13,12 durch die Armenische Version wie auch die Vulgata. 153 Hernández dokumentiert vier Stellen (2,13; 2,22; 3,14; 3,16), die potenziell christologische Implikationen spiegeln; siehe Hernández, Scribal Habits, 89–93. In 2,13 liest 01 statt καὶ κρατεῖς τὸ ὄνομά μου („und du hältst fest an meinem Namen “) die Singulärlesart καὶ κρατεῖς τὸ ὄνομά σου („und du hältst fest an deinem Namen“). Die Textänderung ist, wie schon Weiss (Textkritische Untersuchungen, 51) festgestellt hat, ein bloßer Schreibfehler und wahrscheinlich den umgebenden Verbformen in der 2. Pers. Sg. geschuldet (κατοικεῖς, κρατεῖς ἠρνήσω). Sie ergibt aber einen bemerkenswerten Nebensinn, dass Christus nicht greifbar, sondern in seiner Souveränität geradezu unfassbar ist. Schwer zu erklären ist die Abwandlung in 2,22, wo 01 anstelle von βαλῶ („ich werde werfen“) καλῶ („ich werde rufen“) hat. Weiss (Textkritische Untersuchungen, 58) hält die Textänderung für „ganz unerklärlich“, zumal 01 an keiner vergleichbaren Stelle das Verb κάλλω für βάλλω liest (2,10; 2,24; 6,13; 14,16 u. ö.). Letzteres spricht aber vielleicht gerade deswegen dafür, dass es sich um einen einmaligen Schreibfehler handelt, der als Ausnahme die Regel bestätigt. Hernández (Scribal Habits, 92) sieht in καλῶ ein Signal, die Christuswürde unangetastet zu lassen, indem die Berührung mit der sündhaften Frauengestalt vermieden wird. Dagegen ließe sich die Textänderung soteriologisch auch so lesen, dass Isebel durch Christus aufs Krankenbett gerufen wird, wie man einen Patienten bei medizinischer Notwendigkeit ins Klinikum einweist (ruft). Beides geschieht aus wohlwollender Absicht heraus, um die Person zu kurieren. Die zwei verbliebenen Singulärlesarten in 3,14 (ἡ ἀρχὴ τῆς ἐκκλησίας) und (παῦσαι ἐκ τοῦ στόματός σου) in 3,16 zielen nach Auffassung von Hernández (Scribal Habits, 90.196f.) auf die Hoheit Christi und rühren womöglich aus dem Kontext der arianischen Kontroversen her.
Die ältesten Textzustände lösen ist.154 Obwohl πρι durch Oberstrich augenfällig als nomen sacrum markiert ist, führt die philologische Analyse zu keiner sinnvollen Lesart („betet den Vater an, der [ησαντι]“).155 Wahrscheinlich beruht der vorfindliche Text auf einer eigentümlichen Verschreibung von ποι-ήσαντι, der folgerichtig noch im Skriptorium zu τῷ ποιήσαντι (01S1) verbessert wurde. Zwei weitere merkwürdige Singulärlesarten begegnen in 21,4 (πρόβατα) und 21,27 (ποιώσει).156 Das Wort πρόβατα ist zwar morphologisch korrekt gebildet, ergibt aber im Kontext der Stelle keinen Sinn. Es handelt sich um einen obskuren Schreibfehler, der als Nonsenslesart gelten muss.157 Mit Blick auf ποιώσει zeigt der Schreiber erneut, dass ihm die richtige Wortbildung offenbar schwerfiel. Eventuell dachte er an den Indikativ Futur 3.Pers Sg., der allerdings ποιήσει lauten müsste; die Verbform ποιώσει ist jedenfalls sonst in der griechischen Sprachüberlieferung nicht belegt. Insofern kann auch diese morphologisch fragwürdige Singulärlesart, die einer konkreten Erklärung trotzt, als Nonsens betrachtet werden.158 Die Problematik der zwei Stellen blieb über die Jahrhunderte nicht verborgen, sondern der Korrektor ca verbesserte beide Singulärlesarten zu den gängigen Varianten τὰ πρῶτα (01CA) und ὁ ποιῶν (01CA). Obwohl der Sinaiticus vielfach sonderbare Lesarten in der Apk aufweist, muss dies aus textkritischer Sicht nicht per se als Negativmerkmal gewertet werden. Es bestätigt sich vielmehr die obige Feststellung, dass nur wenige Singulärlesarten von 01 die Semantik verändern und so eine neue Interpretation
154 Die Mitglieder von C104 bezeugen αὐτῷ τῷ ποιήσαντι und singulär 2329 τῷ θεῷ τῷ ποιήσαντι. Beide Wortlaute dürften ebenso wie derjenige von 01 eine Modifikation der durch P47, 02, 04 bezeugten Variante τῷ ποιήσαντι darstellen. Die Koine-Gruppe liest indes mehrheitlich die Variante αὐτὸν τὸν ποιήσαντα, die aber augenscheinlich nicht als Quelle für die Singulärlesart von 01 in Frage kommt. 155 Im Anschluss an προσκυνήσατε ergibt immerhin noch τῷ πρι (πατρι) als Adressat der Anbetung einen Sinn, während sich die nachstehende Buchstabenkombination ησαντι weder formal noch semantisch erschließt. Es existiert kein Lexem, zu dem der Dativ ησαντι passen würde. Mit Fantasie ließe sich aus dem Buchstabenbestand vielleicht das Partizip Dativ Aorist Sg. aktiv von εἰμί ableiten. Allerdings stünde diese ohnedies zweifelhafte Verbform angesichts der nachfolgenden Akkusative (οὐρανόν, γῆν, θάλασσαν) ohne syntaktischen Bezug im Text und bliebe damit semantisch weiterhin fragwürdig. 156 Nach Hernández (Scribal Habits, 65) bilden 21,39 % aller durch 01 bezeugten Singulärlesarten orthographische Fehler oder Nonsenslesarten. 157 Als „nonsense in context“ bewertet Hernández (Scribal Habits 64 Anm. 87) mit Recht die Singulärlesart τὰ πρόβατα. In der zweiten Auflage des Textual Commentary wird diese Singulärlesart von 01 nicht mehr erwähnt; vgl. Metzger, Textual Commentary II, 689. 158 Hernández konstatiert nicht ohne Grund, dass es für die Textänderung keine einfache Erklärung gibt; Hernández, Scribal, Habits, 65.
P47 und 01
des Textes eröffnen. In den allermeisten Fällen haben sie keine Auswirkung auf das Textverständnis und selbst dort, wo sie den Sinn entstellen (14,7; 21,4; 21,27), lässt sich für gewöhnlich eine bestimmte Quellvariante eruieren. Folglich mindern die Singulärlesarten die Textqualität nur marginal, derweil das Zeugnis von 01 trotz ihrer außergewöhnlich hohen Anzahl in aller Regel genealogisch verortetet und damit für die Textkonstitution fruchtbar gemacht werden kann.159 ... Sonderlesarten von 01 An siebzehn Stellen bezeugt 01 nach der Definition von TuT-Apk eine Sonderlesart, die in der nachstehende Tabelle 6 überblicksweise zusammengefasst sind: Tab. 6: Sonderlesarten von 01 in TuT-Apk Apk
TST/LA Text
Bezeugung (neben )
,
/
πεπυρωμενω
Min., darunter auch
,
/
ειχον
Min., vor allem Abschriften des Textus receptus160
159 Es sei angemerkt, dass die Bewertung der Singulärlesarten von 01 für das Textverständnis dieses Zeugen zu einem beträchtlichen Maß von der Leserperspektive und -situation abhängen. Aus Sicht der modernen Textkritik, die mithilfe der Computertechnik die Gesamtüberlieferung erfasst und so selbst dubiose Lesarten einordnen kann, stellen die unzähligen Singulärlesarten kein gravierendes Problem dar. Einen völlig anderen Effekt müssen vor allem die sinnentstellenden Wortlaute auf Leserinnen und Leser früherer Zeiten gehabt haben, die die Apk womöglich allein durch die Abschrift im Codex Sinaiticus kannten. Sie waren mit einem außerordentlich schwer verständlichen Text konfrontiert, der sich wiederholt gegen eine vernünftige Rezeption sperrte. Insofern erklären sich die massenhaften Korrekturen, die mehrere Hände über die Jahrhunderte eingefügt haben, nicht zuletzt aus dem Bedürfnis, einen verständlicheren Text herzustellen. Dass dutzende korrumpierte Stellen dabei unverbessert blieben oder ursprüngliche Varianten aus heutiger Sicht fälschlicherweise durch sekundäre ersetzt wurden, liegt in der Natur der Sache. 160 01 und die Abschriften des Textus Receptus treffen zufällig zusammen; ihre Zeugnisse sind daher unterschiedlich zu beurteilen. 2814, die Vorlage des Erasmus, bietet die Variante ἔχων, die im Editionsprozess vermutlich durch die eigenwillige Zusammenschreibung der Buchstaben ε und χ zu εἶχον verlesen wurde. Siehe außerdem Brown, Novum Testamentum, 541. Der gesamte Wortlaut ἕν καθ᾽ ἑαυτὸ εἶχον bildet eine Sonderlesart des Textus Receptus, die durch keine griechische Handschrift vor dem 16. Jahrhundert bezeugt wird (01 hat ἕν ἕκαστον αὐτῶν εἶχον). Auf welcher Grundlage 01 die Variante εἶχον bietet, lässt sich nicht mehr sicher entscheiden. Jedenfalls besteht zwischen 01 und den Abschriften des Textus Receptus an dieser
Die ältesten Textzustände
Apk
TST/LA Text
Bezeugung (neben )
,
/
δωσωσιν
AndGpt
,
/
εμπροσθεν και οπισθεν [και]
CA
,
/
απεσταλμενα
Min., bes. F
,
/
βασιλιαν και ιερατειαν
161
,–
/
και ιδε και ειδον
AndGpt
,–
/
και ιδε και ιδον και ιδου
Min., auch F
,
/
αποκτεινει δει αυτον εν μαχαιρα
Min., AndGpt
,
/ δωσιν αυτω χαραγμα
F
,
/
δευτεροκ
P F
,–
/
HOM. ηκολουθησεν (V.) ... ηκολουθησεν (V.)
KoiGHSS
,
/
λεγει
P 162
,
/ λιθον
*163
,
/ οτι ουτωϲ
F
,
/ και πας τεχνιτης
,
/ ην η] ην
164
Auf den ersten Blick wird ersichtlich, dass 01 in den Sonderlesarten mit verschiedenen Zeugenkonstellationen zusammentrifft. Auffällig ist vor allem das dreimalige Zusammentreffen mit F1678, was allerdings weniger über den Text von 01 als mehr über denjenigen der Minuskelfamilie aussagt; offensichtlich
Stelle keine direkte Beziehung, sondern die Variante entstand mehrfach unabhängig voneinander. 161 Das Zusammentreffen von 01 und 2344 als einzige Zeugen für die Variante βασιλείαν καὶ ἱερατείαν („Königreich und Priesterschaft“) ist schwer zu deuten. Beide Handschriften zeigen keine sonderlich hohe Übereinstimmungsquote zueinander, haben aber wie in diesem Fall wiederholt gemeinsame Sonderlesarten. Wenngleich die Änderung von ἱερεῖς zu ἱερατείαν nach βασιλείαν gewissermaßen auf der Hand liegt, könnte sie auch auf einer semantischen Annäherung an den möglichen Referenztext ExLXX 19,6 βασίλειον ἱεράτευμα beruhen (vgl. auch 1Petr 2,9); dazu Charles, Commentary I, 16–17; Beale, Book of Revelation, 360–364. 162 Die Handschriften 336 582 620 628 1918 sind enger verwandt und bilden einen Teilstrang des Clusters 104 (siehe Teil II: 4.5.2). Da keine enge Verwandtschaft zwischen ihnen und 01 besteht, kam die Variante λέγει statt ναί λέγει oder λέγει ναί wohl mehrfach unabhängig auf. 163 Die Fassung λίθον statt μύλινον bildet in 01 und 2014* einen je individuellen Schreibfehler, der auf Konfusion mit den unmittelbar vorgehenden Worten ἰσχυρὸς λίθον beruht. 164 Die Lesart ἦν statt ἦν ἡ tritt unabhängig voneinander in 01* und 2031 auf und geht auf einen simplen Schreibfehler zurück.
P47 und 01
folgt sie gelegentlich alten Sonderformen, deren ältester Zeuge 01 ist. Ansonsten kann dem Befund keine besondere Beziehung von 01 zu einer bestimmten Überlieferungsschicht entnommen werden; er unterstreicht vielmehr das bisherige Bild: Der Text von 01 zeichnet sich auf allen Ebenen durch viele nebeneinander liegende und engmaschige Verbindungslinien aus, die ein vielfältiges Variantennetz ergeben. Bezeichnenderweise bietet 01 mehrfach Varianten, die auch zahlreiche Vertreter der Andreas-Gruppe bekunden. In der obigen Liste trifft dies auf fünf Sonderlesarten zu: 1,15; 4,9; 6,1–2; 6,3–4; 13,10. In allen Fällen weichen einige Andreas-Handschriften vom Rest der Gruppe ab und treffen dabei mit 01 zusammen. Auch dieser Befund ist weitaus relevanter für die textgeschichtliche Beurteilung der Andreas-Tradition als für 01. An einzelnen Stellen weist 01 Textfassungen auf, die teils textgeschichtlich schwer zu fassen sind und teils zu sonderbaren Verbindungen führen. In Apk 5,1 treffen gleich mehrere Textabwandlungen aufeinander: Zunächst ließ der Schreiber die Worte βιβλίον γεγραμμένον mit der Folge aus, dass das Partizip κατεσφραγισμένον ohne Bezugspunkt im Satz steht.165 Im Gegensatz zur Handschriftenmehrheit, die im Anschluss an ἔσωθεν („innen“) das zweite Adverb ὄπισθεν („hinten“) durch ἔξωθεν („außen“) ersetzt, bietet 01 stattdessen als einzige griechische Handschrift ἔμπροσθεν („vorne“) als Alternative zu ἔσωθεν. Vielleicht wurde die Modifikation durch die Parallelstelle 4,6 hervorgerufen, wo es ebenfalls ἔμπροσθεν καὶ ὄπισθεν („vorne und hinten“) heißt. Ob die Änderung auf das Konto des Kopisten von 01 geht, stellt eine diffizile Frage dar. Die Lesart ἔμπροσθεν καὶ ὄπισθεν in 5,1 wird nämlich ebenfalls durch 01CA und laut Schmid auch von Origenes bestätigt. Demnach scheint die Variante in begrenztem Rahmen verbreitet gewesen zu sein und 01 könnte sie nach einer ansonsten verlorenen Vorlagenkette bezeugen.166 Als problematisch erweist sich ferner die Sonderlesart in 18,22; 01 bietet hier die Kurzfassung καὶ πᾶς τεχνίτης, indem πάσης τέχνης im Vergleich zu NA28 ausgelassen ist. Der Kurztext wird außerdem noch durch 02 und 2672 bezeugt. Während Westcott/Hort den kürzeren Wortlaut als potenziellen Ausgangstext in 165 01* ist der einzige griechische Zeuge, der βιβλίον γεγραμμένον auslässt. Laut Hoskier soll noch Tyc3 die Omission stützen (Hoskier, Text II, 141); Hernández (Scribal Habits, 209) listet die Stelle deswegen unter Singulärlesarten des Sinaiticus mit versioneller Bezeugung. Weil Gryson (Apocalypsis Johannis, 270) keinen lateinischen Zeugen für die Auslassung von librum scriptum nennt und sich Hoskiers Angabe infolgedessen nicht verifizieren lässt, wäre die Bezeugung nochmals genau zu überprüfen. 166 Für Schmid zählt ἔμπροσθεν καὶ ὄπισθεν zu den bedeutenden Varianten, die von 01 und dem mutmaßlichen Text des Origenes geteilt werden; Schmid, Studien II, 156.
Die ältesten Textzustände Erwägung ziehen,167 bewerten ihn Schmid und Metzger als „Mißverständnis“168 bzw. zufällig gemeinsamen Fehler169 von 01 und 02. Da sich die versehentliche Auslassung der beiden Wörter πάσης τέχνης leichter erklärt als ihre Hinzufügung zu einem weitaus komplexeren Ausdruck und die Zeugen für den kürzeren Wortlaut keinen Zusammenhang erkennen lassen, trägt er alle Anzeichen einer sekundären Variante. Überdies wird der Langtext καὶ πᾶς τεχνίτης πάσης τέχνης ansonsten durch sämtliche griechische Handschriften inklusive 04 bezeugt. Demnach ist Schmid und Metzger zuzustimmen und der Kurztext καὶ πᾶς τεχνίτης als Fehler anzusehen, der wahrscheinlich auf einem versehentlichen Augensprung beruht.170 Dass schließlich einige der aufgelisteten Sonderlesarten aus Tabelle 6 kaum Relevanz haben, geht aus den zwei folgenden Sachverhalten hervor: 1) Die fraglichen Textfassungen werden lediglich von wenigen zeitlich wie auch textlich fernstehenden Handschriften bezeugt; 2) sie erklären sich zudem unmittelbar aus dem Abschreibprozess als Fehler oder vermeintlich absichtliche Textänderungen. Zur letzten Kategorie können die Lesarten in 5,10; 18,21 und 21,18 gezählt werden. Das Zusammentreffen von 01 mit anderen Zeugen deutet hier keineswegs auf eine direkte Beziehung hin, sondern basiert wohl auf Zufälligkeit. Fallweise trifft dies auch auf Lesarten zu, die von mehreren Handschriften bezeugt werden und daher scheinbar weitläufiger dokumentiert sind. Hierzu zählt beispielsweise die umfängliche Omission in 14,8–9, die auf einem Schreibfehler beruht; durch die Symmetrie der Formulierung (mehrfaches ἠκολούθησεν) kam es zu einem Augensprung und die verschiedenen Schreiber ließen einen Teil des Verses aus. Analog zu den Singulärlesarten können zumindest für einige Sonderlesarten die potenziellen Quellvarianten identifiziert werden:
167 Westcott/Hort, New Testament, 532, setzen πάσης τέχνης in eckige Klammern und markieren damit gewisse Unsicherheiten bei der Textkonstitution. 168 Siehe Schmid, Studien II, 107. 169 Siehe Metzger, Textual Commentary II, 684. 170 Auch die Auslassung in 02 dürfte auf dem mehrheitlich bezeugten Langtext beruhen. Demgegenüber bietet 2053 als Hauptzeuge der Oecumenius-Tradition die Sonderlesart καὶ πᾶς τεχνίτης καὶ πάσης τέχνης zusammen mit 2039 und 2138 (beides Koine-Handschriften). Die Ergänzung von καί ist eine unabhängige Korrektur, die ebenfalls je auf den Mehrheitstext zurückgeht. De Groote rekonstruiert den Lemmatext des Oecumenius-Kommentars nach dem Zeugnis von 2053 mit eingeschobenem καί.
P47 und 01
–
–
– –
Mit Blick auf die Omission in 14,8–9 lässt sich der Vorlagentext nicht ermitteln; denn die Auslassung ist zu umfangreich, zumal sich gleich mehrere variierte Stellen in dem übersprungenen Zwischenraum befinden.171 Mit Blick auf 5,10 lässt sich die Quellvariante für 01 sicher bestimmen. Nach NA28 lautet der Ausgangstext βασιλείαν καὶ ἱερεῖς und umfasst zwei variierte Wörter. Im Gegensatz zur Mehrheit, die βασιλεῖς bekundet, lesen 02 und zwölf weitere Handschriften (inkl. F1678 1611 1854 2329 2846) βασιλείαν,172 wobei alle Handschriften außer 01 und 2344 ἱερεῖς statt ἱερατείαν lesen. Dementsprechend ist die Quellvariante für die Sonderlesart von 01 eindeutig zu bestimmen und lautet βασιλείαν καὶ ἱερεῖς wie in 02. 01 kann damit als indirekter Zeuge für den Text von NA28 gegen die Mehrheit der Handschriften angesehen werden. Für λίθον in 18,21 ist nicht zu entscheiden, ob die Quellvariante wie in 02 μύλινον oder μύλον nach der Mehrheit der Handschriften lautet. In 21,18 schwanken die Zeugen zwischen den Textfassungen καὶ ἡ ἐνδώμησις (NA28; 02 025 1611 2053) oder καὶ ἦν ἡ ἐνδόμησις (rM). Demnach muss die Quellvariante von 01 (ην η] ην) dem Mehrheitszeugnis entsprechen, da die Sonderlesart καὶ ἦν ἐνδώμησις die Verbform ἦν voraussetzt und der Artikel vermutlich durch Parablepsis (ἦν ἡ) ausgefallen ist.
Demnach können für zwei Sonderlesarten die Quellvarianten eindeutig ausgemacht werden, wobei 01 einmal (5,10) indirekt den kritischen Text von NA28 stützt und einmal (21,18) den Wortlaut der Handschriften-Mehrheit. Damit illustrieren auch diese wenigen Stellen, dass 01 einen überaus komplexen Text bezeugt, indem nahezu ein Gleichgewicht aus prioritären und posterioritären Varianten herrscht; die genealogische Auswertung im weiteren Fortgang ist dementsprechend schwierig.
.. Beziehung von P47 und 01 Vergleichbar zu 02-04 ist das Verhältnis von P47-01 schwer zu bestimmen. Erste wichtige Erkenntnisse über die Verbindung von P47 zu anderen Handschriften liefert die Gruppierung nach Übereinstimmungsquoten in TuT-Apk.173 Es werden
171 Vgl. dazu die Auflistungen der Varianten bei Hoskier, Text II, 377–381. 172 Zur Bezeugung vgl. TuT-Apk, 83–84. 173 Vgl. zu den Daten TuT-Apk, 602.
Die ältesten Textzustände dort 15 Vergleichshandschriften aufgeführt, mit denen P47 eine höhere Übereinstimmungsrate als mit der relativen Mehrheit hat: Tab. 7: Gruppenliste P47 Hs. P
VHs. Ü.ges. Ü.o.rM
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
rM
%
---
Vier Aspekte sind hier besonders herauszustellen: 1) Wie die aufs Ganze gesehen niedrigen Prozentwerte demonstrieren, existiert zu P47 keine engverwandte Vergleichshandschrift. Sobald die Kalkulation ohne rM-Varianten (Spalte Ü.o.rM) erfolgt, sinken die Übereinstimmungsraten außer bei 01, 02 und 04 sogar nochmals deutlich ab. 2) Des Weiteren zeigt P47 zu diversen Vergleichshandschriften, die miteinander korreliert wiederum sehr unterschiedliche Zeugnisse bekunden, in Etwa dasselbe Übereinstimmungsniveau (häufig 50 %). 3) Auffälligerweise befinden sich unter den gelisteten Vergleichshandschriften einige Mitglieder der Andreas-Gruppe (2038 2595 2920) oder zumindest solche mit einem hohen Anteil an LA-4mS (1678 1778 2080). 4) Den höchsten Übereinstimmungswert hat P47 zwar mit 01, doch erreicht dieser maximal eine Quote von 64 % und fällt damit deutlich niedriger, als erwartet aus. Einen umfänglicheren Vergleich hat Kenyon in seiner Erstpublikation des Papyrus zusammengestellt, um die Übereinstimmungen und Abweichungen
P47 und 01
von P47 zu ausgewählten Handschriften zu zeigen.174 Demnach sind P47 und 01 an 378 Stellen verglichen und stimmen davon in 182 überein, was eine Quote von lediglich 48,1 % ergibt. Also nach Kenyons Berechnung stimmen P47 und 01 in weniger als der Hälfte des Textes überein. Darüber hinaus haben P47-02 bei 377 Stellen 167mal denselben Wortlaut und P47-04 bei 328 Stellen 157mal, woraus Übereinstimmungsquoten von 44,4 % bzw. 47,8 % resultieren. In diesen Vergleichsdaten fällt auf, dass P47 zu 01 und 04 bei einer Differenz von 50 Stellen nahezu dieselbe Übereinstimmungsquote hat. Weiterhin weicht P47 von allen drei Handschriften offenbar häufiger ab, als er mit ihnen zusammengeht. Kenyon kommt deswegen zu folgendem Schluss: „[...] the papyrus is to be classed rather with the four earlier MSS. ℵACP than with 046 or ϛ [sc. Textus receptus]. […] The most that can be said is that it is on the whole closest to ℵ and C, with P next, and A rather further away“.175 Bezeichnenderweise entsprechen sich die Auswertung von TuT-Apk und Kenyons Vergleich von P47 trotz unterschiedlicher Ansätze in einem wesentlichen Ergebnis: P47 zeigt zu 01 und 04 ähnliche Übereinstimmungsraten. Wie lässt sich diese Tatsache interpretieren? Vieles spricht dafür, dass P47 ein Zeuge mit eigenständigen Textcharakter ohne nahe Verwandte ist. Diese Feststellung zeigt unweigerlich die Problematik an Schmids Verhältnisbestimmung von P47 und 01 als Vertreter derselben Textgruppe auf. Aus den maßgeblichen Auswertungsdaten von TuT-Apk lässt sich weder eine sonderlich enge noch eindeutige Beziehung der beiden Zeugen erkennen. Um das Problem konkret zu veranschaulichen, enthält die nachfolgende Liste sämtliche Teststellen, an denen P47 mit 01, 02 und/oder 04 zusammengeht: TST 51 (Apk 13,1): ονομα P47 01 04 TST 53 (Apk 13,3): ως P47 01 02 04 TST 54 (Apk 13,3): εθαυμασθη ολη η γη P47 02 TST 55 (Apk 13,5): βλασφημιας P47 01 04 TST 57 (Apk 13,7): om. και εδοθη αυτω ποιησαι πολεμον μετα των αγιων και νικησαι αυτους P47 02 04 TST 59 (Apk 13,12): ινα προσκυνησουσι(ν) P47 02 04
174 Schon F. G. Kenyon, The Chester Beatty Biblical Papyri: Descriptions and Texts of Twelve Manuscripts on Papyrus of the Greek Bible. Fasc. 3/1; Pauline Epistles and Revelation: Text, London 1936, xiii. 175 Kenyon, Chester Beatty 3/1, xiii. Als problematisch an Kenyons Vergleich erweist sich allerdings, dass er undifferenziert sämtliche Lesarten (auch offensichtliche Schreibfehler usw.) der Auswertung zugrunde gelegt hat. Deswegen können die Unterschiede zwischen Handschriften größer erscheinen als sie bei Betrachtung ECM-gemäßer Variantendefinition tatsächlich sind.
Die ältesten Textzustände TST 61 (Apk 13,14): πλανα sine add. P47 01 02 04 TST 62 (Apk 13,14): την πληγην P47 02 04 TST 65 (Apk 13,17): δυνηται P47 01 02 04 TST 68 (Apk 14,3): αδουσιν ως] αδουσιν P47 01 TST 70 (Apk 14,5): αμωμοι] + γαρ P47 01 TST 71 (Apk 14,6): αγγελον P47 01 TST 73 (Apk 14,6): επι τους καθημενους P47 01 02 04 TST 74 (Apk 14,7): θεον P47 01 02 04 TST 75 (Apk 14,7): τω ποιησαντι P47 02 04 ¦ τω πρι ησαντι 01 TTS 76 (Apk 14,7): την θαλασσην P47 01 TST 79 (Apk 14,12): εστιν sine add. P47 01 02 04 TST 80 (Apk 14,12): Ιησου P47 01 02 04 TST 82 (Apk 14,13): αναπαησονται P47 01 02 04 TST 83 (Apk 14,13): τα γαρ εργα P47 01 02 04 TST 84 (Apk 14,16): της νεφελης P47 01 02 TST 85 (Apk 14,18): κραυγη (κραυη P47) 04 TST 86 (Apk 14,18): ηκμασαν αι σταφυλαι αυτης P47 01 04
Die Aufstellung umfasst 23 variierte Stellen, zu denen noch zwei gemeinsame Sonderlesarten von P47 und 01 hinzukommen.176 Die Gesamtzahl beläuft sich also auf 25 relevante Varianten in TuT-Apk, um das Verhältnis von P47 und 01 näher zu bestimmen. In neunzehn Fällen davon stimmt P47 mit 01 überein (= 76 %),177 in fünfzehn mit 02 (= 60 %) und schließlich in siebzehn mit 04 (= 68 %).
176 Statt ἄλλος ἄγγελος δεύτερος oder ἄλλος δεύτερος ἄγγελος lesen P47 und 01 (sowie einige weitere Handschriften) in 14,8a (TST 77) ἄλλος δεύτερος, indem sie ἄγγελος auslassen. Als Grund für die Omission von ἄγγελος darf die mehrfach gleichlautende Endung -ος gelten. Nach Schmid (Studien II, 104–105) erklärt sich der Ausfall von ἄγγελος wegen der Ähnlichkeit zu ἄλλος leichter, wenn man die Wortstellung ἄλλος ἄγγελος δεύτερος voraussetzt. Dagegen ist einzuwenden, dass sich die Buchstabenkombinationen ΑΓΓ und ΑΛΛ einigermaßen unterscheiden lässt und die Wortstellung ἄλλος ἄγγελος deswegen nicht zwangsläufig als Grund für die Omission von ἄγγελος vorauszusetzen ist, zumal der mutmaßliche Augensprung nicht aufgrund des ähnlichen Anfangs, sondern ebenso nach dem gleichlautenden Ende erfolgt sein kann. Insofern lässt sich die Auslassung von ἄγγελος im lokalen Varianten-Stemma nicht sicher verorten. Schmid (Studien II, 112-113) zählt die Stelle jedenfalls zu den sechsunddreißig Varianten, die P47 und 01 als eigenständige Textgruppe gemeinsam haben. Nicht minder kompliziert stellt sich die Sachlage in 14,13 (TST 81) dar. Hier lesen P47 und 01 mit wenigen anderen Handschriften λέγει anstelle von ναὶ λέγει oder λέγει ναί. Da in diesem Fall alle nächsten Verwandten der Zeugen für λέγει die Variante ναὶ λέγει bekunden, dürfte diese Wortstellung als Quellvariante für die Auslassung von ναί vorauszusetzen sein. 177 Das ungeklärte Zusammentreffen in 14,13 ist eingerechnet, da P47 und 01 formal dieselbe Variante bezeugen. In 14,19 (TST 87) kommt ein weiterer Problemfall hinzu. P47, 1611 und 2920* lesen die Textfassung τοῦ θυμοῦ τοῦ θεοῦ τοῦ μεγάλου, die auf der Variante τοῦ θυμοῦ τοῦ θεοῦ τὴν μεγάλην der meisten Andreas-Handschriften basiert. Die Änderung als gemein-
P47 und 01
Diese Statistik verdichtet die Schwierigkeiten, das Verhältnis von P47 und 01 zu greifen: Schmid behauptet, dass nach Abzug aller Sonder- und Singulärlesarten nur ein „relativ geringer Rest von Stellen übrig[bleibt], an denen P47 und S auseinandergehen“.178 Nach der obigen Liste zeigen P47 und 01 zwar den höchsten Grad an Gemeinsamkeiten, doch belaufen sich die Differenzen immer noch auf 24 % und damit auf knapp ein Viertel des Textes. Zudem weist P47 ebenfalls eine starke Verbindung zu 04 nach Abzug aller Singulär- und Sonderlesarten auf. Insofern führt auch das von Schmid zugrunde gelegte Verfahren zu keinem eindeutigen Ergebnis. Trotz Eingrenzung der Teststellen auf Übereinstimmungen mit 01, 02 und/oder 04 steht P47 keiner von diesen Handschriften so nahe und den beiden anderen so fern, dass sich P47 und 01 sicher als Vertreter einer gemeinsamen Textgruppe abgrenzen ließen. Schließlich vermag auch Schmids Kollationsliste zur Abgrenzung von P47 und 01 als Textgruppe vom Rest der Überlieferung im Endeffekt nicht zu überzeugen.179 Die Aufstellung umfasst nach Schmids eigener Zählung 36 Varianten, durch die sich P47 und 01 gemeinsam vom Rest der Überlieferung unterscheiden. Ohne tiefgreifende Analyse wirft bereits die geringe Zahl an abgrenzbaren Varianten die Frage auf, ob es in Anbetracht des Gesamttextes überhaupt methodisch legitim ist, zwei Zeugen aufgrund einer so schmalen Grundlage als Textgruppe zu bestimmen.180 Es erweckt jedenfalls den Anschein, dass Schmid hier deutlich über das Ziel hinausschießt und wenige gemeinsame Sonderlesarten zweier Zeugen als Indiz für eine flächendeckende gemeinsame Textgruppe überbewertet. Bei einem genaueren Blick auf die Liste zeigt sich zudem, dass die allermeisten von Schmid angegebenen Varianten gar nicht ausschließlich durch P47 und 01 bezeugt werden, sondern ebenfalls in verschiedenen anderen Handschriften begegnen. Dass die Bezeugung dabei wechselt, ist ein Indiz für die unabhängige Entstehung der Varianten. Dies wiederum zieht Zweifel darüber nach sich, ob P47 und 01 die fraglichen Varianten tatsächlich aufgrund
samen Bindefehler der drei Handschriften anzusehen, geht an der Sachlage vorbei, da sie ansonsten in keiner signifikanten Beziehung steht. Wesentlich ist dagegen, dass 01* mit τοῦ θυμοῦ σοῦ θεοῦ τὴν μεγάλην eine Singulärlesart bezeugt, die ebenfalls τοῦ θυμοῦ τοῦ θεοῦ τὴν μεγάλην als Vorlage voraussetzt. Dem Befund zufolge gehen P47 und 01 hier auf dieselbe Quellvariante zurück, die wiederum die Hauptlesart der Andreas-Tradition bildet. 178 Schmid, Apokalypsetext P47, 88. 179 Alle folgenden Angaben und Varianten sind entnommen aus Schmid, Studien II, 111–112. 180 Schmid (Studien II, 112) schätzt, dass sich die Gesamtzahl der Sonderlesarten auf ca. 110 erhöhen würde, wenn P47 vollständig erhalten wäre. Da diese Schätzung aber rein spekulativ bleibt, kommen überhaupt nur die 36 aufgeführten Stellen als möglicher Nachweis für eine gemeinsame Textgruppe von P47 und 01 in Betracht.
Die ältesten Textzustände einer gemeinsamen Herkunft bezeugen oder sie nicht auch zufällig zusammengehen. Davon abgesehen sind in Schmids Liste vier Stellen anzutreffen, an denen P47 und 01 strenggenommen verschiedene Lesarten bekunden und eine mutmaßliche gemeinsame Textgrundlage nur über Umwege abzuleiten ist: Apk 9,11: ονομα αυτω NA 28] ω ονομα P47 ¦ ω ονομα αυτω 01 Apk 11,7: το θηριον NA28] τοτε το θηριον P47 ¦ θηριον τοτε 01 Apk 11,17: κυριε NA28] ο κυριος P47 ¦ κυριος 01 Apk 12,9: ο δρακων ο μεγας ο οφις NA28] ο δρακων ο οφις ο μεγας P47 ¦ ο δρακων ο μεγας οφις 01
Diesem Befund nach teilen P47 und 01 eine zum Teil abgewandelte Vorlagenkette, doch überliefern sie im texthistorischen Sinne sicher keinen gemeinsamen Texttyp. Im Fall von 12,9 ist sogar von zwei verschiedenen Vorgängen bei der Variantenbildung auszugehen, die auf eine getrennte statt gemeinsame Entwicklung der beiden Zeugen hindeuten. Während in P47 die Worte ὁ μέγας nach ὁ ὄφις transponiert sind, fehlt in 01 lediglich der Artikel vor ὄφις wegen einer versehentlichen Auslassung bei ansonsten gleicher Wortstellung wie in NA28. Tatsächlich verbleiben unter den von Schmid aufgeführten Stellen nur 7 Varianten, die ausschließlich durch P47 und 01 bezeugt werden: Apk 9,17: επ NA28] επανω P47 01 Apk 9,20: ταυταις NA28] αυτων ταυταις P47 01 Apk 9,20: χαλκα NA28] χαλκεα P47 01 Apk 11,2: εδοθη NA28] εδοθη και P47 01 Apk 11,5: αυτους αδικησαι NA28] αδικησαι αυτους P47 01 Apk 11,18: ωργισθηασαν NA28] ωργισθη P47 01 Apk 16,13: ως βατραχοι NA28] ωσει βατραχους P47 01
Wenngleich Schmid der Meinung ist, dass seine Liste „den Text von P47 S als eigenen Stamm innerhalb der Apk-Überlieferung klar hervortreten“181 lässt, kann sie nach kritischer Prüfung diesem Urteil in keiner Weise standhalten. Mit χαλκέα finden sich selbst unter den auf P47 und 01 begrenzten Sonderlesarten noch ein vorsichtig zu deutendes Orthographicum (9,20) und die Addition eines wenig signifikanten καί (11,2). Alles in allem verfügen also lediglich 5 Varianten über die notwendige Beweislast, um die Annahme eines engeren Verhältnisses zwischen P47 und 01 zu begründen. Alle weiteren Varianten haben den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Weil die Forschung seit Schmid dazu geneigt ist, dass P47 und 01 181 Schmid, Studien II, 112.
P47 und 01
eine separate Textgruppe der Überlieferung vertreten, werden alle Übereinstimmungen dieser beiden Zeugen als mutmaßlicher Beweis für ihre Zusammengehörigkeit gedeutet. Trägt man jedoch den Beobachtungen von Kenyon, der quantitativen Auswertung von TuT-Apk und der kritischen Prüfung von Schmids Beweisführung Rechnung, so muss Schmids Urteil über die Beziehung von P47 und 01 weitgehend revidiert werden. Das Verhältnis der beiden Zeugen wird analog zu 02-04 am trefflichsten beschrieben, wenn man einige Singulärund Sonderlesarten als Indizien für eine teilweise engere Beziehung deutet (z. B. TST 66, 77, 81 und 89). Dieses Verhältnis rührt von einer schmalen Textgrundlage her, die P47 und 01 aufgrund einer ansonsten verlorenen gemeinsamen Vorlagenkette bewahrt haben. Darüber hinaus zeigen sie Verbindungen zu diversen anderen Zeugen und sind nur schwach miteinander verbunden. Ein mutmaßlicher Texttyp der Überlieferung lässt sich aus diesem Befund weder plausibel nachweisen noch unstrittig rekonstruieren; stattdessen sind P47 und 01 von wenigen Einzelstellen abgesehen als zwei eigenständige Zeugen zu beurteilen. .. Beobachtungen zur Textgenese von P47 und 01 Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführung lässt sich das Verhältnis der Zeugen P47, 01, 02 und 04 durch einen genauen Vergleich der Textzustände weiter profilieren. Das Ergebnis der Untersuchung ist in der nachfolgenden Tabelle 8 zusammengefasst: Tab. 8: Vergleich von P47, 01, 02 und 04 Z
Richt.
Z Proz. Ident. VarSt Z < Z Z > Z NV
NA
→
,
/
/
/
NA
→
P ,
/
/
/
→
P ,
→
,
→
,
→
P ,
→
P ,
Um ein möglichst vollständiges Bild zu bekommen, konzentriert sich die Auswertung zunächst auf 01 und 02. Die beiden Zeugen haben an 121 Teststellen auswertbaren Text und haben dabei in 54 Fällen denselben Wortlaut (Quote =
Die ältesten Textzustände 44,62 %).182 An weiteren 37 Teststellen liest 02 die prioritäre Variante im Vergleich zum Zeugen 01, der 02 in lediglich 12 Fällen vorausgeht. Obwohl 01 als physisches Objekt den ältesten vollständig erhaltenen Zeugen für die Apk verkörpert, ist der bezeugte Textzustand deutlich jünger als derjenige von 02. Obwohl sich der rekonstruierte Ausgangstext voraussichtlich an einigen Stellen zugunsten von 01 ändern wird, ist der Textfluss von 02 in Richtung 01 dennoch insgesamt so deutlich ausgeprägt, dass auch diese neuen Textentscheidungen nichts an dem Gesamtbild zu ändern vermögen. Als auffällig erweist sich indes die hohe Zahl an Teststellen, an denen 01 und 02 aufgrund ihrer Varianten in keiner direkten Verbindung stehen. Die 18 fraglichen Stellen sind sehr unterschiedlich zu beurteilen: – Offene Textentscheidungen in NA28 mit Aufspaltung von 01 und 02 auf die beiden potenziellen Ausgangsvarianten: TST 2 (Apk 1,6); TST 35 (Apk 5,6); TST 51 (Apk 13,1); TST 68 (Apk 14,3); TST 108 (Apk 21,3); TST 113 (Apk 21,6); TST 118 (Apk 21,12); TST 123 (Apk 21,27). – 01 oder 02 haben eine Sonder- bzw. Singulärlesart, die nicht direkt mit der Variante des jeweils anderen Zeugen verbunden ist: In TST 19 (Apk 2,13) bietet 01* mit ἐν ταῖς eine Singulärlesart (LA-6), die auf LA-4/5 beruht.183 02, 04, 2053 und 2846 stützen dagegen den Text von NA28. Die Singulärlesart von 01 erklärt sich aus der Entwicklung von LA-2 zu LA-4/5 und dann zu LA-6 (01*). Ferner bietet 02 in TST 21 (Apk 2,20) die Sonderlesart σου τήν (LA-7), die auf LA-3/5 (σου) beruht.184 Demgegenüber stützen 01 und 04 den Text von NA28 (LA-2/4). Die Sonderlesart von 02 hat sich aus der Textgenese von LA-2/4 zu LA-3/5 und schließlich zu LA-7 ergeben. Außerdem liest 01 182 02 fehlt an zwei Teststellen wegen kleiner Beschädigungen: TST 64 (Apk 13,16) und 103 (Apk 18,21). In beiden Fällen kann erfreulicherweise 04 die Lücke schließen. 183 Der Korrektor 01CA verbesserte den Fehler von 01* zu LA-4/5 (ἐν αἷς); vgl. TuT-Apk, 51. Nach Weiss (Textkritische Untersuchungen, 62, 97) basiert ἐν ταῖς auf einer mechanischen Anpassung an ἐν ταῖς ἡμέραις, wohingegen sie Schmid (Studien II, 239) als „Hebraismus“ bezeichnet. Hernández schließt sich der Meinung von Weiss an und bewertet die Singulärlesart von 01* als kontextveranlasste Änderung; Hernández, Scribal Habits, 66. 184 Die Ergänzung des Artikels τήν nach dem Pronomen in 02 dürfte dem Bemühen geschuldet sein, den Anschluss von Ἰεζάβελ sprachlich zu glätten. Nichtsdestotrotz unterstreicht 02 die Bedeutung der Lesart σου (LA-3/5) gegen die Zeugen 01 und 04, in denen das Pronomen ausgespart ist. T. Zahn, Die Offenbarung des Johannes, Bd. 1, Erlangen 1924, 286–288, sieht in dem Pronomen einen Beleg dafür, dass unter dem Adressat τῷ ἀγγέλῳ tatsächlich der Gemeindevorsteher in Thyatira als reale Person zu verstehen sei. W. M. Ramsay, The Letters to the Seven Churches, London 1904, 341, hält σου sogar für die ursprüngliche Lesart; die Auslassung des Pronomens erkläre sich dagegen als Bemühung der Kopisten, die Bezeichnung von Ἰεζάβελ als Frau der Gemeinde zu vermeiden.
P47 und 01
–
–
in TST 30 (Apk 4,8) die Sonderlesart εἶχον (LA-8).185 Da sowohl ἔχων (LA-2) wie auch ἔχον (LA-3/4/5) als mögliche Quellvarianten in Frage kommen, kann LA-8 nicht sicher im Varianten-Stemma der Stelle eingegliedert werden. Dazu kommt noch ein Fall in TST 102 (Apk 18,21), wo 01 die Sonderlesart λίθον anstelle von μύλινον (LA-2) oder μύλον (LA-3/4/5) bekundet. Obgleich μύλον als Quellvariante näher liegt, lässt sich dies nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmen, zumal 04 mit μύλικον eine vierte Variante (LA-9) aufweist. 01 und 02 sind durch eine unterschiedliche Textgenese getrennt: In TST 58 (Apk 13,10) folgt der derzeitige Text von NA28 einer dubiosen Singulärlesart von 02, während 01 mit LA-6 (ἀποκτείνει δεῖ αὐτὸν ἐν μαχαίρα) eine jüngere Textentwicklung bekundet, die auf die Variante LA-4/5 (ἀποκτενεῖ δεῖ αὐτὸν ἐν μαχαίρα) zurückgeht. Vermutlich ging das Zeugnis von 01 aus einem schlichten Schreibfehler hervor, indem ει statt ε kopiert wurde.186 In TST 77 (Apk 14,8) liegt der seltene Umstand vor, dass 01 mit δεύτερος (LA-7) und 02 mit δεύτερος ἄγγελος (LA-3) zwei unverbundene, sekundäre Varianten bekunden. Da sich die Auslassung von ἄγγελος ebenso gut auf einer fehlerhaften Kopie der Variante LA-3 wie LA-2 (ἄγγελος δεύτερος) erklärt, lässt sich LA-7 nicht sicher im Varianten-Stemma integrieren, d.h. die Textgenese von 01 muss mit einem Fragezeichen versehen werden. 01 oder 02 weisen arbiträre Fehler auf, weshalb sich der Text des einen oder anderen Zeugen nicht sicher im lokalen Varianten-Stemma einordnen lässt: In TST 78 (Apk 14,8) fehlt 01 nach ἠκολούθησεν in 14,8 aufgrund von Parablepsis ein Großteil des Textes bis einschließlich ἠκολούθησεν in 14,9. Dagegen hat 02 in TST 89 (Apk 18,3) die Worte τοῦ οἴνου aus Versehen übersprungen,187 wobei die Quellvariante nicht eindeutig bestimmt werden
185 Die Variante εἶχον stellt in jedem Fall eine sprachliche Vereinfachung dar, indem sie die partizipiale Formulierung zu einem finiten Verb abändert, und ist damit eindeutig als sekundäre Entwicklung einzustufen. Unabhängig von 01 begegnet εἶχον außerdem in diversen Abschriften des Textus receptus, weil bei der Drucklegung von Erasmus’ Erstausgabe die Lesart ἔχων der Vorlage 2814 wohl veranlasst durch den lateinischen Text und etwaigen sprachlichen Bedenken zum finitem Verb korrigiert wurde; dazu Brown, Novum Testamentum, 541. 186 Für ἀποκτενεῖ δεῖ αὐτὸν ἐν μαχαίρα als Ausgangstext spricht außerdem, dass die Singulärlesart ἀποκτενεῖν δεῖ αὐτὸν ἐν μαχαίρα von 2053 diesen Wortlaut voraussetzt. 187 Der Ausfall von τοῦ οἴνου findet sich außerdem in 1611, 2053, 2846 und einem Teil von F1006 (2582 und 2625). Wenngleich die Omission einer gewissen Nachlässigkeit geschuldet ist, hat sie sich scheinbar in mehreren 02 nahestehenden Textzuständen verbreitet (1611, 2053, 2846). Dass die Worte auch in 2582 und 2625 fehlen, geht auf einen unabhängigen Fehler zurück, da sie sich in 1006, 1841 und 2794 (LA-2/3) finden.
Die ältesten Textzustände kann. Dasselbe gilt in TST 96 (Apk 18,12) für das Überspringen der Worte καὶ πορφύρας oder καὶ πορφυροῦ in 02.188 Des Weiteren liest 01 in TST 121 (Apk 21,18) statt ἦν ἡ nur ἦν und übergeht somit den nachfolgenden Artikel aufgrund eines Irrtums. Da 01 ἦν bezeugt, steht LA-3/4/5 gegen LA-2 (Aussparung von ἦν) als Quellvariante für das Zeugnis von 01 außer Frage. Die hohe Zahl der Fälle,189 aufgrund derer 01 und 02 als Folge einer unsicheren Textkonstitution in NA28 aus methodischen Gründen getrennt sind, lässt durchblicken, dass die derzeitigen Unsicherheiten in erster Linie in den divergierenden Varianten dieser beiden Zeugen begründet sind. Mit Ausnahme der arbiträren Fehler sind die übrigen Trennungen zwischen 01 und 02 ein Indikator dafür, dass 02 kein direkter Vorfahre von 01 ist. Vielmehr bekundet 02 einen deutlich älteren Textzustand als 01, der sich weitgehend durch seine Verbindung zu 04 erklärt und daneben scheinbar diverse isolierte Textentwicklungen aufweist. Dass 01 und 02 keine enge Verbindung haben, unterstreicht nicht zuletzt der vergleichsweise geringe Prozentsatz an gemeinsamen Varianten bzw. die schwache prägenealogische Kohärenz von 44,62 %. Grundsätzlich stimmt 01 mit keinem Zeugen außer P47 stärker überein als mit NA28. Doch auch die prägenealogische Kohärenz zwischen den Zeugen 01 und P47 ist letztlich so schwach, dass keine enge Verwandtschaft zwischen ihnen anzunehmen ist. Bevor die Beziehung der Zeugen 01 und P47 genauer in den Blick genommen wird, sei noch das Verhältnis von 01 zu 04 näher erläutert. Aufgrund der Lücken von 04 basiert die Auswertung der beiden Zeugen nur auf 87 Teststellen, an denen 01 und 04 in 45 Fällen dieselbe Variante bezeugen (51,72 %). An erstaunlichen 30 Stellen hat 04 die prioritäre Variante gegenüber 01 und lediglich in 5 Fällen geht 01 dem Zeugen 04 voraus. Das Gefälle zwischen 01 und 04 ist demnach noch stärker ausgeprägt als bei 01 und 02: Insgesamt verhält sich 04 in 34,48 % aller auswertbaren Teststellen prioritär zu 01. An weiteren 7 Test-
188 Die Auslassung geht wohl auf einen Augensprung zurück. Auf den ersten Blick mag die Annahme naheliegen, die Variante καὶ πορφυροῦ wegen dem unmittelbar vorausgehenden βυσσίνου als Quellvariante anzusehen. Allerdings kommt als möglicher Grund für die Omission nicht nur die Endung des vorausgehenden Wortes in Betracht, sondern auch die ständige Wiederholung von καί in der polysyndetischen Reihung. Daher kann das Zeugnis von 02 an dieser Stelle nicht sicher im Varianten-Stemma eingeordnet werden. 189 Mit Ausnahme von TST 111 (Apk 21,4) verteilen sich 01 und 02 an allen Teststellen, die eine unsichere Textkonstitution in NA28 betreffen, je auf die zwei konkurrierenden Varianten, die als möglicher Ausgangstext in Betracht kommen. In Apk 21,4 bietet 01 mit ἔτι τὰ πρόβατα eine singuläre Nonsenslesart im Kontext, die auf der durch 02 e. a. bezeugten Variante ἔτι τὰ πρῶτα (LA-[2]/6) beruht.
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stellen lässt sich keine direkte Verbindung zwischen den zwei Zeugen 01 und 04 nachweisen: TST 19, 54, 66, 77, 78, 89 und 102. Da 04 in Teststelle 19 dieselbe Variante wie 02 bietet, bedarf es hier keiner weiteren Erklärungen. Dasselbe gilt für die Teststellen 77 und 78. An den Teststellen 54, 89 und 102 sind 01 und 04 je durch Sondervarianten bzw. Singulärlesarten getrennt: TST 54 (Apk 13,3): εθαυμασεν ολη η γη 01] εθαυμαστωθη ολη η γη 04190 TST 89 (Apk 18,3): του οινου του θυμου της πορνειας 01] της πορνιας του θυμου 04191 TST 102 (Apk 18,21): λιθον 01] μυλικον 04192
In zwei Fällen hat 04 eine Singulärlesart (TST 54 und 89), durch die der Zeuge von 01 getrennt ist. In TST 102 haben sowohl 01 als auch 04 eine Singulärlesart, wobei der Wortlaut von 04 höchstwahrscheinlich auf LA-2 (μύλινον) zurückgeht. Die Lesart von 01 lässt sich hingegen nicht sicher ins Varianten-Stemma einordnen. Darüber hinaus bieten 01 und 04 in TST 66 (Apk 13,18) zwei unterschiedliche Fassungen der Tiereszahl, die nicht direkt miteinander verbunden sind: LA-8 und LA-13.193 Wenn man indes die orthographische Differenzierung an dieser Stelle auflöst, so würde 01 als Zeuge für die Variante „666“ gelten, aus 190 Weiss, Textkritische Untersuchungen, 51, sieht in ἐθαυμαστώθη einen schwer erklärbaren Schreibfehler von 04. Das Wort findet sich ansonsten nur in 2KgtLXX 1,26; 2ChrLXX 26,15 und PsLXX 138,6. Dass eine Beeinflussung durch diese Stellen auf das Zeugnis von 04 in Apk 13,3 vorliegt, lässt sich zwar nicht völlig ausschließen, ist aber wegen der unterschiedlichen Semantik höchst unwahrscheinlich. In der bezeugten Passivform ἐθαυμαστώθη kann das eigentlich divergierende Lexem solchermaßen als Synonym zu ἐθαυμάσθη verstanden werden, dass eine komplexe Textentstehung gar nicht erwogen werden muss und die Änderung vermutlich auf das Konto des Kopisten von 04 geht. Zur Bedeutung von ἐθαυμαστώθη siehe F. Montanari, The Brill Dictionary of Ancient Greek, Leiden/Boston 2015, 927. Schon Schmid (Studien II, 137) ordnet die durch 04 bezeugte Singulärlesart als Schreibfehler von ἐθαυμάσθη ein. Siehe dazu auch Hernández, Scribal Habits, 151 Anm. 113. 191 Hernández (Scribal Habits, 147 Anm. 93) erklärt die Lesart von 04 damit, dass es bei der Kopie vom Tau des ersten Artikels (τοῦ) zu einem Augensprung zum Tau des letzten Artikels (τῆς) gekommen sei, der/die Schreiber/-in dann den Fehler bemerkt und umgehend τ0ῦ θυμοῦ ergänzt, aber τοῦ οἴνου weiterhin ausgelassen habe. Dieses Szenario ist zwar denkbar, lässt aber außer Acht, dass die Umstellung von 04 ebenso auf dem durch 02 e. a. bezeugten Kurztext τοῦ θυμοῦ τῆς πορνείας beruht und sich τοῦ οἴνου schon gar nicht mehr in der Vorlage von 04 befunden hat. Aus diesem Grund kann das Zeugnis von 04 nicht eindeutig im lokalen Varianten-Stemma eingeordnet werden. 192 Die durch 04 bezeugte Singulärlesart μύλικον ist wohl eine Korrektur der schwer verständlichen Lesart μύλινον (02); anders Weiss, Textkritische Untersuchungen, 58, der μύλινον als Schreibfehler bewertet und μύλικον als ursprüngliche Lesart ansieht. Schmid (Studien II, 81) hält mit Recht fest, dass sich μύλικον leichter als Korrektur von μύλινον erklärt als umgekehrt. 193 Vgl. TuT-Apk, 131–132.
Die ältesten Textzustände der die Variante „616“ von 04 hervorgegangen ist.194 In diesem Fall würde 01 die prioritäre Variante zu 04 bezeugen. Insgesamt fällt die Zahl der unverbundenen Stellen von 01 und 04 im Vergleich zu 01 und 02 deutlich geringer aus und die Gründe für die Trennung sind weniger gravierend. Aus dem Befund kann sicherlich nicht abgeleitet werden, dass 04 ein potenzieller oder gar ein stemmatischer Vorfahre von 01 ist. Doch verglichen mit 02 deuten alle Indizien darauf hin, dass der Textfluss stärker von 04 in Richtung 01 als umgekehrt erfolgte und auch stärker von 04 zu 01 als von 02 zu 01. Demnach ist das Zeugnis von 01 in die von 04 ausgehende Entwicklungslinie einzusortieren und auf ebendieser textgeschichtlich einzuordnen. Dass zwischen 01 und 04 ein enges genealogisches Verhältnis besteht, ist überaus unwahrscheinlich, da die prägenealogische Kohärenz zwischen den beiden Zeugen nur schwach ausgeprägt und der Textfluss zudem stark gerichtet ist. Nach Mink kann zwischen zwei Zeugen nur dann von Kohärenz ausgegangen werden, wenn die Übereinstimmung zwischen ihnen hoch bis sehr hoch und der Textfluss kaum oder gar nicht gerichtet ist.195 Schließlich ist noch das Verhältnis von 01 und P47 zu analysieren. Nach den Daten in Tabelle 8 konnten die beiden Zeugen an 34 Teststellen ausgewertet werden und haben davon in 20 Fällen dieselbe Variante, was eine prägenealogische Kohärenz von 58,82 % ergibt. An vier Stellen liest P47 die prioritäre Variante zu 01 und in 8 Fällen hat 01 die prioritäre Variante zu P47. Aufgrund der wenigen Teststellen müssen die Zahlen mit großer Vorsicht interpretiert werden. Gleichwohl scheint 01 in Relation zu P47 etwas häufiger prioritäre Varianten zu bekunden, weshalb sich der Text tendenziell stärker von 01 zu P47 als umgekehrt entwickelt hat. Insofern ist 01 zu den potenziellen Vorfahren von P47 zu zählen.196 An zwei weiteren Teststellen besteht keine direkte Verbindung zwischen den beiden Zeugen: TST 66 (Apk 13,18): P47 αριθμος γαρ ανθρωπου εστιν εστιν δε χξϛʹ197 TST 78 (Apk 14,8–9): 01 om. λεγων ... ηκολουθησαν
194 Zur möglichen Deutung von „616“ als Transliterat des Wortes θηρίον oder des Namens Caligula siehe Aune, Revelation II, 722. Wenngleich „616“ nach Angaben von Irenaeus (Adv. Hear. 5.30.1) durch einige griechische Handschriften bezeugt und indirekt durch P115 gestützt wird, muss die Bezeugung im Vergleich zu derjenigen für „666“ dennoch als unterlegen eingestuft werden. 195 Mink, Textkritik, 51. 196 Als potenzielle Vorfahren kommen grundsätzlich alle Zeugen in Betracht, die einen höheren Anteil an prioritären Varianten haben (Mink, Problems, 31). 197 Zu dieser Singulärlesart siehe Teil III: 3.2.1.1.
P47 und 01
In 13,18 setzt P47 eine komplexe Textgenese voraus, bei der auch ein gewisser Einfluss des Schreibers auf die Singulärlesart nicht gänzlich auszuschließen ist.198 Der bezeugte Text unterscheidet sich jedenfalls deutlich von 01 und steht in keiner direkten Verbindung zu diesem Zeugen. In Apk 14,8–9 fehlt 01 ein längerer Abschnitt infolge von Parablepsis, indem der Text nach ἠκολούθησεν in 14,8 unwillkürlich zu αὐτοῖς in 14,9 springt.199 Analog zu 04 fällt auch mit Blick auf P47 und 01 das Datenset letztendlich zu schmal aus, um das Verhältnis der beiden Zeugen genau zu bestimmen. Ob zwischen 01 und P47 eine direkte genealogische Beziehung besteht, wäre im Zuge der Erstellung der ECM-Apk zu prüfen. Die Indizien deuten aber nicht darauf hin. Denn die geringe Übereinstimmung von 58,82 % und der gerichtete Textfluss von 01 zu P47 stehen einem unmittelbaren Vorfahren-NachfahrenVerhältnis entgegen.200 Die Analyse der Teststellenkollation legt aber sehr wohl die Auffassung nahe, dass zwischen 01 und P47 eine gerichtete Kohärenz besteht, wobei sich der Text deutlich stärker von 01 in Richtung P47 als umgekehrt entwickelt hat. Damit ist der Textzustand von 01 trotz seiner vielen Unzulänglichkeiten im Vergleich zu P47 höher anzusiedeln. P47 hat indes ein späteres Stadium dieser Entwicklungslinie bewahrt, die noch genauer zu bestimmen sein wird (siehe Teil III: 3.3). 198 Siehe Malik, P.Beatty III, 138, 150. 199 Das ausgefallene Textstück wurde später von dem Korrektor 01CA am unteren Seitenrand mit drei eklatanten Varianten nachgetragen: επεσεν επεσεν NA28] επεσεν 01CA μεγαλη η NA28] μεγαλη 01CA πεποτικεν NA28] πεπτωκαν 01CA. Die Auslassung von ἔπεσεν wird ebenfalls durch 04 und die Koine-Gruppe bezeugt. Die Omission von ἣ ist in TuT-Apk, 148, dokumentiert und entspricht den Zeugnissen von P47 und der Zeugenmehrheit. Als besonders auffällig erweist sich die Variante πεπτώκαν, die ansonsten noch durch P47 und 1854 bekundet wird. Da unwahrscheinlich ist, dass 01CA die Variante nach dem Zeugnis von P47 kannte, ist von einer unabhängigen Bezeugung durch 01CA auszugehen. Aus welcher Quelle die Korrektur stammt, ist schwer zu beurteilen. Diese Textänderung von 01CA wurde von Hernández (Corrections, 117–120) übersehen und wäre in seiner Liste der Korrekturen zu ergänzen. 200 Mink, Textkritik, 51–52; Mink, Problems, 37. Es kann kaum stark genug betont werden, dass nicht jeder potenzielle Vorfahre eines Zeugen als stemmatischer oder direkter Vorfahre in Betracht kommt. Es muss eine hohe Grundübereinstimmung zwischen zwei Zeugen vorliegen, um aus dem Textfluss ein unmittelbares genealogisches Verhältnis ableiten zu können. Insofern darf bei der Interpretation des Textflusses zwischen zwei Zeugen keineswegs das Maß an prägenealogischer Kohärenz außer Acht gelassen werden, sondern ist stets zu berücksichtigen und bildet die substanzielle Grundlage des Verhältnisses.
Die ältesten Textzustände
. Weitere frühe Textzustände Um die Textgenese der Koine- und Andreas-Tradition zu ermitteln, sind zunächst die wichtigen Textzustände 025, 1006, 1611, 2019, 2053, 2351 und 2846 genauer in den Blick zu nehmen. In der quantitativen Auswertung von TuT-Apk fallen sie durch einen verhältnismäßig hohen Anteil an LA-2mS auf und bilden – wie die Analyse zeigen wird – in vielerlei Hinsicht Brückenglieder zur Koineund Andreas-Tradition. Im ersten Schritt gilt es ihr Verhältnis zu den Zeugen 01 und 02 zu klären, um den Textfluss von den Anfängen der Überlieferung her zu untersuchen. Die Zeugen P47 und 04 werden aufgrund ihres geringeren Textumfangs für diesen Teil der Untersuchung zurückgestellt und nur in Ausnahmefällen ergänzend beigezogen. In der nachfolgenden Tabelle finden sich zuerst die Vergleiche mit 01 und anschließend mit 02. Weil diese zu dem Ergebnis führen, dass 025, 2053 und 2846 einen höheren Anteil an prioritären Varianten als der Zeuge 01 aufweisen und damit als seine potenziellen Vorfahren in Betracht kommen, wird auch ihre gegenseitige Relation am Ende der Tabelle dargestellt: Tab. 9: Vergleiche von 01 und 02 mit 025, 1006, 1611, 2019, 2053, 2351, 2846 Z
Richt.
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Weitere frühe Textzustände
Als erstes wichtiges Ergebnis der Untersuchung ist festzuhalten, dass 025, 2053 und 2846 jeweils einen höheren Anteil an prioritären Varianten als 01 aufweisen. Damit kommen die drei Zeugen als potenzielle Vorfahren von 01 in Betracht, wobei das Resultat mit Vorsicht zu interpretieren und durch ein umfangreiches Datenset zu kontrollieren ist. Denn während der Textfluss zwischen 2846 und 01 vergleichsweise stark gerichtet ist, besteht zwischen 025 und 01 nur noch ein denkbar geringfügiges Gefälle. Es erscheint allerdings denkbar, dass ein stärker gerichteter Textfluss zwischen 025 und 01 in einem größeren Datenset deutlicher zu Tage treten kann. Dasselbe gilt für den Vergleich von 01 und 1611. Auch zwischen diesen beiden Zeugen liegt nur ein äußerst schwacher Textfluss vor, der in einem umfangreicheren Datenset sicherlich ebenfalls augenfälliger zum Vorschein kommen dürfte. In allen übrigen Vergleichskonstellationen erweisen sich 01 und 02 aufgrund eines höheren Anteils an prioritären Varianten als ältere Textzustände bzw. potenzielle Vorfahren. Generell sticht ins Auge, dass zwischen den verglichenen Zeugen nur eine geringe prägenealogische Kohärenz besteht – mit einer Ausnahme: 02 und 2846. An 80 von 121 betrachteten Teststellen bieten 02 und 2846 dieselbe Variante, was sich auf eine Übereinstimmungsquote von 66,11 % beläuft. Für diese beiden Zeugen kann also eine engere Verwandtschaft angenommen werden. Ob sie auch in stemmatischer Verbindung stehen, lässt sich aufgrund der vorhandenen Daten nicht ermessen und wäre daher noch genauer zu untersuchen. Aus dem Vergleich der drei Zeugen 025, 2053 und 2846 geht hervor, dass 2846 zu 025 und 2053 je den höheren Anteil an prioritären Varianten bekundet und damit einen potenziellen Vorfahren zu beiden Zeugen bildet. Ferner erweist sich 025 als potenzieller Vorfahre zu 2053. Aus diesem Befund ergibt sich eine bemerkenswerte Ordnung der Zeugen: An der Spitze steht 04 dicht gefolgt von 02. Danach folgen 2846 und 025, während 2053, 01 und P47 etwas dahinter zurückstehen. Da der Textfluss zwischen 01 und 025 sowie 01 und 2053 sehr schwach ist, muss die Relation der Zeugen hier offen bleiben und ist im Zuge der ECM der Apk noch genauer zu untersuchen.
.. Der Textzustand 01 Als stemmatische Vorfahren von 01 kommen 025, 2053 und 2846 aller Voraussicht nicht in Betracht, da die prägenelogische Kohärenz mit höchstens 51,21 % vergleichsweise schwach ausfällt und die Zeugen zudem an einigen Stellen in keiner direkten Verbindung zu 01 stehen. Gleichwohl leisten sie als potenzielle Vorfahren einen wesentlichen Beitrag, die Genese des Textzustandes von 01
Die ältesten Textzustände aufzuklären. Obwohl das Verhältnis zwischen 01 und 025 noch ungeklärt ist, empfiehlt es sich dennoch den Textzustand 01 davon ausgehend genauer in den Blick zu nehmen. Denn zwischen 01 und 025 besteht nur ein geringer Textfluss und die beiden Zeugen stehen nur in wenigen Fällen in keiner direkten Verbindung. Um die Genese des Textzustandes von 01 zu erhellen, sind in erster Linie zwei Arten von variierten Stellen relevant, und zwar: – Teststellen, an denen sich 01 prioritär zu 025 verhält (22, 24, 26, 40, 44, 47, 50, 55, 56, 57, 65, 82, 84, 85, 88, 89, 92, 95, 100, 106, 107, 110, 114); – und Teststellen, an denen zwischen 01 und 025 keine direkte Verbindung besteht (2, 7, 16, 27, 30, 32, 35, 59, 66, 77, 78, 90, 102, 112, 121, 123). Nur an diesen Stellen lässt sich der Textzustand von 01 nicht aus dem Zeugen 025 erklären. Alle verbliebenen Fälle können demgegenüber von 025 aus betrachtet vernachlässigt werden, weil 025 und 01 entweder denselben Wortlaut bekunden oder sich 025 prioritär zu 01 verhält und die betreffenden Stellen damit zur Aufklärung von 01 weniger relevant sind. An sämtlichen Stellen, an denen sich 01 prioritär zu 025 verhält, liest der Zeuge 01 die NA28-Variante und hat damit den vorläufigen Ausgangstext bewahrt. Dabei trifft 01 in Fällen mit 02 und/oder in 10 Fällen mit 04 zusammen. An lediglich drei Teststellen folgt NA28 dem Zeugen 01 gegen 02 und/oder 04: TST 40, 57 und 89. Überdies gibt NA28 in TST dem Zeugnis von 01 den Vorzug, wobei 01 in diesem Fall von F1006, 1611 und 2846 begleitet wird. Demnach verbleiben aus 123 Teststellen tatsächlich nur drei, in denen 01 ohne Begleitung eines potenziellen Vorfahren den vorläufigen Ausgangstext erhalten hat. Mit Blick auf die Stellen, an denen 01 und 025 durch Varianten ohne direkte Verbindung getrennt sind, sind vier Szenarien zu differenzieren: 1) In zwei Fällen ist die Trennung einer unsicheren Textkonstitution in NA28 geschuldet, wobei 01 entweder von 04, 2053 und 2846 (TST 2) oder 2053 und 2846 (TST 35) begleitet wird. 2) An den allermeisten Stellen hängt die durch 01 bezeugte Variante unmittelbar von einem durch 02, 04 und/oder 2846 bezeugten Wortlaut ab: TST 7, 16, 27, 32, 59, 66, 90, 112 und 121.201 3) In vier Sonderfällen lässt sich das Zeugnis von 01 aufgrund individueller Besonderheiten nicht im lokalen Varian-
201 Besonders zu nennen ist die Teststelle 121 in Apk 21,18. Hier liest 01 ἦν ἐνδόμησις, indem der Artikel ἡ wohl aus Versehen ausgefallen ist. Das bezeugte ἦν setzt gegen das Fehlen des Verbs in NA28 offensichtlich die Variante ἦν ἡ ἐνδόμησις der Handschriften-Mehrheit voraus, die unter allen potenziellen Vorfahren ausschließlich durch 2846 bezeugt wird. Damit beweist diese Stelle, dass zur Erklärung des Textes von 01 auch 2846 zwingend als potenzieller Vorfahren heranzuziehen ist.
Weitere frühe Textzustände
ten-Stemma der betreffenden Stelle integrieren, d. h. die Herkunft der Sonderoder Singulärlesart ist mit einem Fragezeichen versehen: TST 30, 77, 78 und 102.202 4) Lediglich an einer Stelle bietet 01 eine Variante, deren Quellvariante durch keinen der bislang identifizierten potenziellen Vorfahren bezeugt wird: TST 123.203 Schließlich ergibt sich aus der Betrachtung der Stellen, an denen sich 025 prioritär zu 01 verhält, dass 025 neben 02, 04 und 2846 zwingend zu den potenziellen Vorfahren zu zählen ist. Denn in TST 19 hängt das Zeugnis von 01 (LA-6) unmittelbar von einer durch 025 bezeugten Lesart ab (LA-4/5), während 02, 04, 2053 und 2846 ihrerseits wiederum eine zu 025 prioritäre Variante (LA-2) aufweisen. Aus dem dargelegten Befund lässt sich ein provisorisches Substemma für 01 ableiten:
Abb. 3: Provisorisches Substemma 01
Vorweg sei ausdrücklich und entschieden gesagt, dass die obige Abbildung 3 kein optimales Substemma im methodischen Sinne der CBGM darstellt.204 Die 202 Zu den Schwierigkeiten des Zeugnisses von 01 an den oben genannten Teststellen siehe Teil III: 3.2.2.1 und 3.2.2.2. 203 In Teststelle 123 bekundet 01 die Singulärlesart ο ποιωσει, die sich am besten durch Abhängigkeit von der Variante ὁ ποιῶν erklärt (siehe Teil III: 3.2.2.1). Bei der Variante handelt es sich um die Hauptlesart der Koine-Gruppe, die in NA28 neben ποιῶν (01CA, 02, 2846) als etwaige Textlesart erscheint. Die Singulärlesart von 01 sollte nicht überbewertet werden, da sie an einer ohnedies problematischen Stelle als indirektes Zeugnis für eine mögliche Ausgangsvariante zu sehen ist. Da sich das Zeugnis von 01 aber formal aus keinem der bislang identifizierten potenziellen Vorfahren herleiten lässt, besteht die Möglichkeit, dass noch weitere potenzielle Vorfahren zu 01 infrage kommen und diese in einem größeren Datenset aufzuspüren sind. 204 In der CBGM verbinden die sog. optimalen Substemmata sämtliche potenziellen Vorfahren mit einem Nachfahren. Ein Substemma kann dann als ideal gelten, wenn die kleinstmögliche Menge an Vorfahren den Textzustan