Fragmente eines Lebenswerks: Historischer Kommentar zur Universalgeschichte des Nikolaos von Damaskus [1 ed.] 9042941839, 9789042941830

In the course of his doctoral thesis, Shahin for the first time carried out an in-depth analysis of the 102 surviving fr

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Fragmente eines Lebenswerks: Historischer Kommentar zur Universalgeschichte des Nikolaos von Damaskus [1 ed.]
 9042941839, 9789042941830

Table of contents :
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Titel
Inhalt
1. Einleitung
2. Nikolaos von Damakus und sein Werk
3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-120
4. Schlussbetrachtung: Zu den Besonderheiten der Schrift
5. English Abstract
6. Quellenverzeichnis
7. Literaturverzeichnis
Collection Latomus

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COLLECTION LATOMUS

VOL. 362

FRAGMENTE EINES LEBENSWERKS

LATOMUS www.latomus.be

La Revue Latomus, ainsi que la Collection Latomus, sont publiées par la « Société d’études latines de Bruxelles – Latomus », A.S.B.L. La Revue paraît quatre fois par an. Elle forme annuellement un tome de 1000 à 1200 pages. Chaque article est signé et l’auteur en est seul responsable. Tout ouvrage intéressant les études latines adressé à la Revue fera l’objet d’un compte rendu dans la mesure du possible, mais aucune réplique ne pourra être insérée. Président honoraire de la Société : Carl Deroux. Conseil d’Administration de la Société : Pol Defosse (secrétaire), Marc Dominicy, Emmanuel Dupraz (président), Alain Martin (trésorier), Ghislaine Viré. Membres de la Société : La liste complète des membres effectifs et adhérents figure sur le site internet : www.latomus.be/membres. Comité de rédaction de la Revue et de la Collection : Pol Defosse, Marc Dominicy, Emmanuel Dupraz, Alain Martin, Ghislaine Viré, avec la collaboration de Anthony Álvarez Melero, Altay Coşkun, Jacques Elfassi, Philip Hardie, Alex McAuley, Dennis Pausch, Benoît Sans, Liana Tronci, Hélène Vial. Présentation des manuscrits pour la Revue et pour la Collection : Les auteurs sont priés d’envoyer une version électronique de leurs articles ou monographies au Prof. Emmanuel Dupraz et de leurs notes de lecture ou comptes rendus au Prof. Marc Dominicy . Nous les invitons à se conformer aux recommandations énoncées dans un document accessible sur le site internet, à partir de la rubrique « Infos & contacts » : www.latomus.be/infos-contact. Les articles, monographies et notes de lecture seront soumis à une expertise selon le principe de l’évaluation par les pairs (« peer review »). Contact postal : Les ouvrages pour compte rendu doivent être envoyés à : Prof. Marc Dominicy, Latomus, c/o Éditions Peeters, Kolonel Begaultlaan 61, B-3012 Leuven, Belgique. — Pour toute autre question relative à la Revue ou à la Collection, prière de s’adresser par voie électronique à : . Abonnements et commandes : Éditions Peeters, Bondgenotenlaan 153, B-3000 Leuven, Belgique  ; site internet : www.peeters-leuven.be. — Pour l’achat des tomes I-LI de la Revue : Schmidt Periodicals GmbH, Dettendorf, D-83075 Bad Feilnbach, Allemagne  ; site internet : www.periodicals.com. — La série complète de la Revue (à l’exception des dernières années) est accessible à partir du site internet de JSTOR : www.jstor.org/journal/lato. Droits de reproduction, de traduction et d’adaptation réservés pour tous pays. © Société d’études latines de Bruxelles – Latomus, 2020

COLLECTION LATOMUS VOLUME 362

Tino SHAHIN

Fragmente eines Lebenswerks Historischer Kommentar zur Universalgeschichte des Nikolaos von Damaskus

SOCIÉTÉ D’ÉTUDES LATINES DE BRUXELLES — LATOMUS 2020

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

ISBN 978-90-429-4183-0 eISBN 978-90-429-4184-7 D/2020/0602/92 Droits de traduction, de reproduction et d’adaptation réservés pour tous pays. Toute reproduction d’un extrait quelconque, par quelque procédé que ce soit et notamment par photocopie ou microfilm, de même que la diffusion sur Internet ou tout autre réseau semblable sont strictement interdites.

‫تقدیم به‬ ‫حسین شاهین و‬ ‫‬‬‬‬‬‬‪‎‎‬ژاله ‪‎‎‎‎‬نصرتی‬

[…] ἐν πολλῷ δὲ χρόνῳ φιλοπονήσας ἐξετέλεσεν αὐτήν, ἔλεγέ τε ὡς τοῦτον τὸν ἆθλον Εὐρυσθεὺς εἰ Ὸπρούτεινεν Ἡρακλεῖ, σφόδρα ἂν αὐτὸν ἀπέτρυσεν [...] Nik. Dam. FGrHist 90 F 135 [...] Nachdem er lange Zeit fleißig gearbeitet und sein Werk beendet hatte, sagte er: Hätte Eurystheus diese Arbeit Herakles auferlegt, hätte er ihm große Erschöpfung bereitet [...]

Inhalt Vorwort...................................................................................................... 

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1. Einleitung.............................................................................................. 1 2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk........................................... 5 2.1. Der Autor........................................................................................ 5 2.1.1. Leben und Wirken............................................................... 5 2.1.2. Schriften und Zeugnisse...................................................... 8 2.2. Die Universalgeschichte................................................................. 10 2.2.1. Zum Werk............................................................................ 10 2.2.2. Überlieferung........................................................................ 14 2.3. Zugänge zur Universalgeschichte.................................................. 26 2.3.1. Zusammenhängende Darstellungen.................................... 26 2.3.1.1. Lydische Geschichte.............................................. 26 2.3.1.2. Griechische Geschichte......................................... 32 2.3.2. Wiederkehrende Motive...................................................... 36 2.3.2.1. Wechsel von Geschlechterrollen........................... 36 2.3.2.2. Vorzeichen und Orakel......................................... 40 2.3.3. Theoretische Ansätze.......................................................... 45 2.3.3.1. Normen und Sanktionen........................................ 45 2.3.3.2. Konflikt und Konfliktregelung.............................. 51 3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F1-102....................... 57 3.1. Bücher 1-2 (F 1-6): Assyrer, Meder, Perser.................................. 57 3.2. Buch 3 (F 7-14): Mythische Anfänge bis zum Trojanischen Krieg.77 3.3. Bücher 4-5 (F 15-43): Lyder, Syrer, jüdische und griechische Frühgeschichte................................................................................ 94 3.4. Buch 6 (F 44-56): Lyder und archaisches Griechenland.............. 129 3.5. Buch 7 (F 57-70): Archaisches Griechenland, Lyder und Perser.161 3.6. Andere Bücher (F 71-81)............................................................... 202 3.7. Unklare Buchzahl (F 82-102)........................................................ 218 4. Schlussbetrachtung: Zu den Besonderheiten der Schrift............ 243 5. English Abstract ............................................................................... 251 6. Quellenverzeichnis..............................................................................  254 7. Literaturverzeichnis............................................................................  256

Vorwort Die vorliegende Publikation ist eine leicht veränderte Fassung meiner im September 2016 an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn eingereichten Dissertation. Der Untersuchung der von der Universalgeschichte des Nikolaos von Damaskus erhaltenen Fragmente war eine längere Phase der Übersetzungsarbeit vorausgegangen, deren Ergebnis bereits veröffentlicht worden ist. Anstoß zu dem Vorhaben, sich mit dem Geschichtswerk des Nikolaos zu beschäftigen, hatte mein Betreuer Winfried Schmitz gegeben, dem ich für seine mehrjährige Unterstützung zu Dank verpflichtet bin. Von Anfang an wurde ich bei meinem „Damaskuserlebnis“ von Wolfgang Will begleitet, der mir stets mit guten Ideen zur Seite stand. Konrad Vössing und Andrea Stieldorf erklärten trotz zahlreicher anderweitiger Verpflichtungen sogleich ihre Bereitschaft, meiner Prüfungskommission beizutreten, wofür ich ihnen verbunden bin. Ohne meinen früheren Dozenten Raban von Haehling, durch den ich zur Alten Geschichte gekommen bin, und meinen Griechischlehrer Heinz-Lothar Barth wäre diese Arbeit nicht entstanden. Erhellende Gespräche mit Johannes Engels und Jan Timmer haben zur Verbesserung des Buchs beigetragen. Maria Souto Böhm sowie Hossein Shahin gaben wichtige Hinweise bei der Korrektur. Die Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf förderte nicht nur das Forschungsprojekt durch ein Promotionsstipendium, sondern auch die Publikation der Ergebnisse durch einen Druckkostenzuschuss. Ich danke David Engels sowie Emmanuel Dupraz für die Möglichkeit, meine Ergebnisse in der Reihe Collection Latomus publizieren zu können. In der Bestrebung, ihrer Güte ein angemessenes Denkmal zu setzen, ist das Buch Jaleh Nosrati und Hossein Shahin gewidmet. Bonn, im Mai 2018. Tino Shahin

1. Einleitung Nur Bruchstücke sind vom umfangreichsten Geschichtswerk der Antike erhalten geblieben. Die 102 Fragmente der Universalgeschichte des Nikolaos von Damaskus, die F. Jacoby in seiner Edition zusammengestellt hat, 1 bilden einen kleinen Ausschnitt der ursprünglich 144 Bücher umfassenden Schrift. Gegenüber anderen verlorenen Werken, zu denen sich in den antiken Quellen häufig nicht mehr als einzelne Erwähnungen finden, ist die Zahl der Überlieferungen des Nikolaos aber hoch. Die Menge der Fragmente kommt dadurch zustande, dass sich mehrere Autoren in der Antike systematisch mit seinem Werk auseinandergesetzt haben. Noch am Ende der byzantinischen Zeit wurde auf die Schrift verwiesen, die laut Suda den Titel „Universalgeschichte“ [ἱστορία καθολική] hatte. 2 Ein Grund für die lange Beschäftigung mit diesen Historien war das Wirken des Verfassers. Nikolaos, der von 64 bis 4 v. Chr. lebte, war mit den wichtigsten Personen seiner Zeit verbunden. Er war als Lehrer der Kinder von Kleopatra VII. und Marcus Antonius tätig, er wurde zu einem engen Vertrauten des Herodes und er freundete sich mit Augustus an. Nikolaos trug entscheidend dazu bei, dass das angespannte Verhältnis des Augustus zu Herodes nicht zum Bruch zwischen Rom und Jerusalem führte. Neben seiner diplomatischen Betätigung verfasste Nikolaos mehrere Werke, unter denen die Universalgeschichte allein aufgrund ihres enormen Umfangs hervorragte. Die 144 Bücher, an denen der Autor über Jahre gearbeitet hat, lassen sich als Lebenswerk des Nikolaos betrachten. Ziel dieser Untersuchung ist es, durch die historische Kommentierung aller Fragmente der Universalgeschichte den Aufbau und Inhalt des Werks zu analysieren und die Besonderheiten auszuwerten, die zur Bewahrung der zahlreichen Überlieferungen beigetragen haben. Als „Fragmente“ werden dabei alle literarischen Zeugnisse verstanden, die Auskunft über den Inhalt des Werks geben. Grundlage der Untersuchung bildet die von F. Jacoby herausgegebene Fragmentsammlung (FGrHist 90 F 1-102). In seinen Historien thematisierte Nikolaos das Weltgeschehen von den mythischen Anfängen bis in seine eigene Zeit. Das Werk ist der Gattung der Universalgeschichte zuzuordnen, die in Bezug auf den Betrachtungsgegenstand sowie auf den zeitlichen und geographischen Rahmen sehr umfassend und am Ende des Hellenismus äußerst beliebt war. 3 Hintergrund dieser Tendenz war, dass im   Jacoby (1926a), S. 328-383. Zu Jacobys Vorgehen bei der Erstellung seiner Fragmentsammlung vgl. Jacoby (1909). 2   Suda s. v. Νικόλαος. 3   Zum Verständnis von „l’histoire universelle“ bzw. „Universalhistorie“ vgl. Inglebert (2014), S. 15-38; Engels (1999), S. 127. 1

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ausgehenden ersten Jahrhundert v. Chr. die Herrschaft des Augustus mit der Eroberung der bekannten Welt verbunden wurde. Neben Nikolaos verfassten auch Poseidonios von Apameia, Diodoros von Sizilien, Strabon, Pompeius Trogus, Dionysios von Halikarnassos und Timagenes von Alexandria Geschichtswerke mit universalhistorischen Ansätzen. Auffällig ist, dass keiner dieser Historiker aus Italien oder Griechenland stammte. 4 Die historiographische Entwicklung, in der die Betrachtung längerer Zeiträume und größerer geographischer Gebiete mit einer enormen Ausdehnung der Schriften einherging, erreichte mit den 144 Büchern des Nikolaos ihren Höhepunkt. Der immense Umfang des Werks verhinderte jedoch seine Tradierung. 5 Nur Exzerpte zu den ersten sieben Büchern und Zitate, die in andere antike Schriften aufgenommen wurden, sind überliefert. Im Jahre 1849 trug K. Müller die Zeugnisse des Nikolaos von Damaskus zusammen und brachte diese in den Fragmenta Historicorum Graecorum heraus. 6 Neben den Fragmenten des Nikolaos enthielt diese Ausgabe eine lateinische Übersetzung, Testimonia zum Autor und nützliche Kommentare. Kurze Zeit später übertrug F. Navet viele Fragmente ins Deutsche. 7 Im Jahre 1870 veröffentlichte L. Dindorf die Sammlung Historici Graeci Minores, die Zeugnisse des Nikolaos enthielt, aber keine wesentliche Verbesserung der Ausgabe von Müller war. 8 Dafür ermöglichte F. Jacoby 1926 einen wichtigen Erkenntnisgewinn zum Inhalt des Werks, indem er in den Fragmenten der griechischen Historiker neben 15 Testimonia (T) zu Nikolaos eine ergänzte und neu angeordnete Sammlung von 102 Fragmenten (F) der Historien publizierte, die bis heute maßgeblich ist. Im Zuge des laufenden Projekts Brill’s New Jacoby (BNJ) wird die Edition in absehbarer Zeit überarbeitet werden. Selbst dann werden die Diskussionen um das Quellenkorpus aber weitergehen, da bei einigen Fragmenten nicht mit Sicherheit zu entscheiden ist, ob sie der Universalgeschichte oder einer anderen Schrift des Nikolaos zuzuordnen sind. Andere Überlieferungen sind in Hinsicht auf ihre Authentizität zweifelhaft. Bei manchen Zitaten sind wiederum die Zitatgrenzen unklar, weil Markierungen durch ‚Verba dicendi‘ oder Quellenverweise fehlen. Deswegen berücksichtigt die hier vorgelegte Untersuchung auch den inhaltlichen Kontext, in dem die Fragmente überliefert worden sind. Außerdem werden die neuesten Forschungsergebnisse in Bezug auf zweifelhafte Zeugnisse, Textvarianten und Überlieferungen, die als Fragmente des Nikolaos in Frage kommen, in die Analyse einbezogen. Von den Werken des Nikolaos fand in der jüngeren Forschung vor allem die Augustus-Vita Beachtung. Zu dieser Quelle liegt auch eine Edition mit deutscher 4   Engels (2010), S. 77. Zur Gattung und Entwicklung der Universalgeschichte vgl. Alonso-Núñez (2002); Marincola (2007); Liddel / Fear (Hg.) (2010); Inglebert (2014). 5   Alonso-Núñez (1995), S. 4. 6   Müller (1849), S. 343-464. Zur Edition von Orelli (1804) und anderen Werken, die Müllers Arbeit vorangingen, vgl. Parmentier / Barone (2011), S. LVII-LIX. 7   Navet (1853). 8   Dindorf (1870), S. 1-92.

1. Einleitung3



Übersetzung von J. Malitz vor. 9 Bislang ist aber noch keine eigene Abhandlung zur Universalgeschichte veröffentlicht worden. Ein Grund dafür ist, dass nach wie vor eine separate Ausgabe der Historien fehlt, die einen individuellen Zugang zum Hauptwerk des Autors fördern würde. F. Jacoby hatte seiner Fragmentsammlung einen allgemeinen Kommentar beigefügt, in dem er sich vor allem mit der Frage nach den Vorlagen für die jeweiligen Überlieferungen und mit der Einordnung der Fragmente in die Historien befasste. 10 R. Laqueur untersuchte in einem ausführlichen Artikel zu Nikolaos einige der Fragmente und ging dabei kritisch auf die Vorarbeit von F. Jacoby ein. 11 Ähnlich wie in der frühen DiodorForschung ging es in den quellenkundlichen Betrachtungen zur Universalgeschichte vornehmlich darum, ob Nikolaos für einzelne Abschnitte auf eine oder mehrere Quellen zurückgegriffen hat. 12 Die letzte Monographie zum Leben und Werk des Nikolaos stammt von B. Z. Wacholder aus dem Jahre 1962. 13 Danach erschien eine Reihe von Aufsätzen zu Einzelaspekten der Universalgeschichte, darunter von J. M. Alonso-Núñez, M. Toher, D. Lenfant und É. Parmentier. 14 Im Jahre 2011 machten É. Parmentier und F. P. Barone das Werk des Nikolaos einem breiteren Forscherkreis zugänglich, indem sie eine französische Übersetzung aller Fragmente mit einigen philologischen und historischen Anmerkungen veröffentlichten. 15 Inzwischen ist auch eine deutsche Übertragung der historischen Fragmente des Nikolaos erschienen, welche die Ausgabe der Vita des Augustus von Malitz ergänzt. 16 Bereits 2007 wurde eine Konkordanz zu den Schriften des Nikolaos publiziert, die eine Suche nach Wörtern und eine Analyse ihrer Verwendung erleichtert. 17 Anders als im Falle der Universalhistoriker Strabon, Diodor und Pompeius Trogus, denen die umfassenden Habilitationsschriften von J. Engels, M. Rathmann und D. Hofmann gewidmet sind, 18 sowie Poseidonios von Apamea, zu dessen Werk K. Dowden einen ausführlichen Kommentar verfasst hat, 19 fehlt immer noch eine eingehende Analyse der Überlieferungen zur Universalgeschichte des Nikolaos. Deswegen wird mit dieser Abhandlung ein ausführlicher historischer Kommentar zu allen Fragmenten der Schrift vorgelegt. Zur Einführung folgt ein Kapitel zum Leben und zur Universalgeschichte des Nikolaos. Innerhalb dieses Teils geht es zuerst um die Biographie und die Schriften des Autors (Kap. 2.1.). Das Hauptwerk des Nikolaos ist Thema eines   Malitz (2003). Der Autor bietet in seinem Werk auch eine umfangreiche Bibliographie zu Nikolaos (Ebd., S. 15-24). 10   Jacoby (1926b), S. 229-291; speziell zu den Historien: S. 230-255. 11   Laqueur (1936). 12   Zur Ein- und Mehrquellentheorie bei Diodor vgl. Rathmann (2016), S. 4-7. 13   Wacholder (1962). 14   Siehe Bibliographie. 15   Parmentier / Barone (2011). Vorarbeiten für die Publikation leistete É. Parmentier schon im Zuge ihrer Dissertation, vgl. Parmentier (1998). 16   Shahin (2018a). 17   Famerie (2007). 18   Engels (1999); Rathmann (2016); Hofmann (2018). 19   Dowden (2016). 9

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eigenen Unterkapitels, in dem auch die erhaltenen Fragmente und ihre Überlieferungsgeschichte zu besprechen sind (Kap. 2.2.). Anschließend werden über drei Ansätze systematische Zugänge zum Werk aufgezeigt (Kap. 2.3.). Auf Grundlage der Themen der Fragmente lassen sich zusammenhängende Darstellungen der lydischen und griechischen Geschichte der archaischen Zeit rekonstruieren. Danach werden als wiederkehrende Motive die Diskurse über Geschlechterrollen und die Funktionen von Vorzeichen und Orakeln herausgearbeitet, um einen Zugang über Gestaltungsprinzipien zu ermöglichen. Schließlich wird die Universalgeschichte unter den theoretischen Aspekten „Normen und Sanktionen“ sowie „Konflikt und Konfliktregelung“ betrachtet, da mit diesen Ansätzen die meisten Überlieferungen zu erschließen sind. Die Frage nach Normen kann Aufschluss über soziale Ordnungen der Vergangenheit und Prozesse der Institutionalisierung geben, während eine Untersuchung von Konflikten Erkenntnisse über die Stabilität vergangener Systeme und die Funktionalität von Maßnahmen zur Konfliktregelung ermöglicht. Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet das dritte Kapitel, das für jedes der 102 Fragmente der Universalgeschichte einen eigenen historischen Kommentar beinhaltet, da nahezu jede Überlieferung in einen anderen inhaltlichen und zeitlichen Kontext einzuordnen ist. Die Analyse der einzelnen Fragmente ist methodisch gleich strukturiert. In einem Einordnungsteil geht es um die Herkunft des Fragments, das Thema, die Kontextualisierung der Handlung, die Einordnung in die Universalgeschichte, die Vorlage des Nikolaos sowie um Parallelüberlieferungen und mögliche Abhängigkeiten. Darauf folgt ein kommentierender Teil, der eine Inhaltswiedergabe, einen Vergleich des Fragments mit den Parallelüberlieferungen, sowie eine Untersuchung der Darstellung umfasst. Das Schlusskapitel beinhaltet eine Zusammenfassung der Ergebnisse, eine Reflexion über die Grenzen der Rekonstruktionsmöglichkeit sowie einen Vergleich mit ausgewählten Universalgeschichten, die im gleichen Zeitraum wie das Werk des Nikolaos entstanden sind. Für die Edition der 101 griechischen und des einen lateinischen Texts sei auf die maßgebliche Ausgabe von F. Jacoby verwiesen. Bei der Analyse und Auswertung ist zu beachten, dass die thematisch vielfältigen Darstellungen auf verschiedene Vorlagen des Nikolaos zurückgehen. Der Autor brachte ältere Überlieferungen in neue Zusammenhänge. Weil die erhaltenen Zeugnisse nur einen Ausschnitt der Historien bilden, bleiben viele Teile des Werks wie die Geschichte Ägyptens im Dunkeln. Jedem Fragment des Nikolaos lag ein Interesse des Autors zugrunde, der die Universalgeschichte als Quelle verwendet hat. Für die Annäherung an das Werk ist also eine Berücksichtigung aller Fragmente notwendig. Eine Betrachtung des umfangreichen Quellenmaterials ist unter vielen Gesichtspunkten möglich, sodass die Geschichtswissenschaft in Zukunft sicher ein größeres Interesse an den Überlieferungen des Nikolaos zeigen wird. Die hier vorgelegte Untersuchung soll als Plädoyer für eine weitere Beschäftigung mit der Universalgeschichte verstanden werden.

2.  Nikolaos von Damaskus und sein Werk 2.1.  Der Autor 2.1.1.  Leben und Wirken Über das Leben des Nikolaos geben die Fragmente seiner Autobiographie und verschiedene Einzelzeugnisse Auskunft. Er muss im Jahre 64 v. Chr. geboren worden sein, denn als Herodes 4 v. Chr. starb, war Nikolaos etwa 60 Jahre alt (F 136 § 8). Dass seine Eltern Antipatros und Stratonike hießen und sein Bruder Ptolemaios, erlaubt noch keine Schlussfolgerung über den Ursprung der Familie, denn die Namen waren nicht nur unter Griechen und Makedonen verbreitet. Auch die Zugehörigkeit zu einem Glauben ist nicht allein daraus abzuleiten, dass Antipatros eine Räucherweihgabe für Zeus aufstellen ließ (F 131 § 3) oder Nikolaos in einer Rede das Judentum in der ersten Person Plural verteidigte (F 142). 20 Vielleicht hatte Nikolaos nichtgriechische Wurzeln, aber die griechische Kultur hatte schon Antipatros, der in Damaskus durch seinen Dienst für die Polis zu Anerkennung und Reichtum gekommen war, geprägt. In der Zeit, als das Seleukidenreich unterging und Nabatäer, Hasmonäer und Ituräer um die Hegemonie über den geographischen Raum Syrien stritten, trat Antipatros für die Interessen seiner Stadt ein. Er durchlief alle lokalen Ämter, übernahm die Verantwortung für diplomatische Missionen und wurde Schiedsrichter in Streitfragen (F 131). Im Jahre 64 v. Chr. kamen die Römer unter Gnaeus Pompeius Magnus in die Region. Möglicherweise begegnete der römische Feldherr in Damaskus dem Vater des Nikolaos. In jedem Fall wuchs Nikolaos unter römischer Oberherrschaft auf. Antipatros sorgte dafür, dass sein Sohn eine umfassende griechischhellenistische Bildung erhielt, die neben Grammatik, Dichtkunst, Rhetorik, Musik und Mathematik auch Philosophie umfasste (F 132). Für die weitere Laufbahn des Nikolaos waren diese Schul- und Studienjahre eine grundlegende Voraussetzung. Offenbar war der Einfluss der peripatetischen Schule so stark auf Nikolaos, dass ihn spätere Autoren wie Athenaios „den Peripatetiker“ nannten (F 73; 77-78; 80; 94-95). Von den schriftstellerischen Leistungen des Nikolaos zeugen in seiner   Die ethnische und religiöse Zugehörigkeit des Nikolaos war vor allem im 19. Jahrhundert ein viel diskutiertes Thema. Karl Patsch kam in einem Aufsatz zu dem Ergebnis: „Auf Grund dieser Erwägungen wird es demnach gestattet sein, Nicolaus für die Griechen zu reclamieren“ (1890, S. 239). Zuletzt überlegte Alonso-Núñez, dass Nikolaos ein Jude sei, „der aber nicht als solcher erkannt werden wollte“ (1995, S. 4-5). Vgl. auch Wacholder (1962), S. 14-15; 28-29. 20

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Universalgeschichte vor allem die Elemente der tragischen Historiographie (F 68), die auf die Poetik des Aristoteles zurückgeht, und die Überreste der Reden. Im Verlaufe seines Lebens eignete sich Nikolaos wohl auch die lateinische Sprache an (F 80). Über den Lebensweg des Nikolaos bis zum Jahre 20 v. Chr. herrscht Ungewissheit. Es ist überliefert, dass er Lehrer der Kinder von Kleopatra und Marcus Antonius wurde, die 40 und 36 v. Chr. zur Welt gekommen waren (T 2). Vielleicht begegnete Nikolaos der ägyptischen Herrscherin, als diese 36 v. Chr. Antonius auf seinem Partherfeldzug bis zum Euphrat begleitete und dann nach Damaskus kam. 21 Vielleicht reiste Nikolaos aber auch im Zuge seiner Studien nach Alexandria, wo er eine Aufgabe am Herrscherhof erhielt. 22 Aus einer Frühdatierung der Lehrtätigkeit ließe sich folgern, dass Nikolaos einige Zeit in Alexandria verbracht hat, Ägypten aber vor der Schlacht bei Actium verließ, denn die Kinder der letzten Ptolemäerin hatten um 31 v. Chr. einen anderen Lehrer. 23 Möglich ist auch, dass Nikolaos erst nach dem Sieg Octavians im römischen Bürgerkrieg die Verantwortung für die Erziehung der Kinder von Kleopatra erhielt, denn ein Aufenthalt in Alexandria ist nicht belegt, während ein Vertrauensverhältnis zum römischen Princeps ab dem Jahre 20 v. Chr. als sicher gilt (F 100). Unklar ist weiterhin, wann die Verbindung des Nikolaos zu Herodes begann, die erst für das Jahr 14 v. Chr. sicher bezeugt ist (F 81). Schon der Vater des Nikolaos könnte Kontakte nach Judäa gepflegt haben, die eine Tätigkeit des Nikolaos bei Herodes ermöglichten. Ein großer Teil der Forschung geht davon aus, dass Nikolaos früh in die Dienste des Idumäers eintrat, der ihn dann zeitweise nach Alexandria schickte. 24 Nach Actium begegnete Nikolaos schließlich Octavian, der 27 v. Chr. den Namen Augustus annahm. Von entscheidender Bedeutung für den weiteren Werdegang des Nikolaos war, dass Octavian dem König von Judäa, der im römischen Bürgerkrieg auf der Seite von Antonius gestanden hatte, vergeben hat. Sowohl der Princeps als auch Herodes schenkten Nikolaos in der folgenden Zeit großes Vertrauen. Im Winter 20/19 v. Chr. war Nikolaos in Antiochia, als eine indische Gesandtschaft zu Augustus kam. Dabei hielt er sich im direkten Umfeld des Princeps auf, denn er konnte wichtige Dokumente von ihm einsehen (F 100). Vielleicht war Nikolaos damals im Auftrag von Herodes bei Augustus. 25 Als dieser 15 v. Chr. seinen Vertrauten Marcus Agrippa zu Herodes schickte, war wohl auch Nikolaos in Judäa. Sicher ist, dass Nikolaos 14 v. Chr. im Gefolge des Herodes war, als dieser Agrippa bei einer Reise durch Kleinasien begleitete. Die Einwohner von Ilion baten Nikolaos damals um Hilfe, denn Agrippa hatte ihnen eine hohe   Ios., ant. Iud. 15,4,2 (96); bell. Iud. 1,18,5 (362); vgl. Laqueur (1936), Sp. 365.   Wacholder (1962), S. 21. 23   Plut., Ant. 72,2. 24   Laqueur (1936), Sp. 367; Wacholder (1962), S. 23; Malitz (2003), S. 1. 25   Wacholder (1962), S. 23. 21 22



2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk7

Geldstrafe auferlegt, weil er ihnen vorwarf, sich nicht ausreichend um die Sicherheit seiner Frau Julia gekümmert zu haben. Für seine erfolgreiche Fürsprache wurde Nikolaos gemeinsam mit Herodes von den Bürgern der Stadt geehrt (F 134). Nikolaos hatte also maßgeblichen Anteil daran, dass Herodes unter den Griechen an Ansehen gewann. Als Agrippa und Herodes im Jahre 14 v. Chr. in die Provinz Asia kamen, brachten Vertreter ionischer Juden und Griechen, die sich um das Bürgerrecht in ihren Poleis stritten, ihre Klagen vor. Unter der Leitung von Agrippa wurde darauf ein Verfahren abgehalten, in dem Nikolaos die Interessen der Juden vertrat und durchsetzte, dass ihre Rechte nicht angetastet wurden (T 4; F 81; 142). Mit seinem Einsatz stärkte Nikolaos die Position des Herodes, der sich gegenüber den lokalen Herrschern als enger Verbündeter Roms und in Judäa als Verteidiger der jüdischen Diaspora darstellen konnte. 26 Im Jahre 12 v. Chr. reiste Nikolaos mit Herodes nach Rom, wo der König seine Söhne aus der Ehe mit Mariamme anklagte (F 135). Nikolaos nutzte diesen Aufenthalt sicher auch für die eigene wissenschaftliche Betätigung und knüpfte in der Stadt Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten. Herodes, der sich immer mehr mit Nikolaos verbunden fühlte, übte mit ihm Philosophie und Rhetorik. In dieser Zeit regte der König ihn auch dazu an, ein Geschichtswerk zu verfassen (F 135). Die Verbundenheit des Herodes zu Nikolaos kommt dadurch zum Ausdruck, dass Nikolaos in den Quellen als Vertrauter, Ratgeber, persönlicher Schreiber und Diplomat des Königs erscheint (T 1-2; F 71; 135-136). Offenbar gehörte auch Ptolemaios, der Bruder des Nikolaos, zu den engsten Vertrauten des Herrschers. 27 Nikolaos hatte in den folgenden Jahren einen wichtigen Anteil daran, dass die Freundschaft zwischen Herodes und Augustus bestehen blieb. Als Herodes wegen eines eigenmächtigen Feldzugs gegen die Nabatäer beim Princeps in Ungnade gefallen war, gelang es Nikolaos, den König von allen Vorwürfen zu befreien (F 136 § 1). Er freundete sich sogar selbst mit Augustus an und schickte ihm regelmäßig eine Sorte von Datteln, die Nikolaos zu Ehren seinen Namen erhielt (T 10). Im Jahre 7 v. Chr. trat Nikolaos dafür ein, dass Herodes seine Söhne aus der Ehe mit Mariamme verschone, allerdings konnte er ihre Hinrichtungen nicht verhindern (F 136 § 3-4). Nachdem Antipatros, der älteste Sohn des Herodes, im Jahre 4 v. Chr. einen Giftanschlag auf seinen Vater vorbereitet hatte, setzte Nikolaos vor dem syrischen Statthalter Publius Quinctilius Varus, dem Namensgeber der späteren Varusschlacht, seine Verurteilung durch (T 7; F 136 § 5-7; 143). Ein letztes Mal reiste Nikolaos nach dem Tod des Herodes nach Rom, wo er bei Augustus die Ernennung des Königssohnes Archelaos zum Ethnarchen 26   Zur Rolle des Nikolaos bei der Verteidigung der Juden in Ionien vgl. Schalit (1969), S. 426-428; Richardson (1996), S. 270-272; Günther (2005), S. 141; Baltrusch (2012), S. 210-211. Zu Nikolaos als Quelle für die Geschichte der Juden vgl. Wacholder (1962), S. 52-64; Stern (1974), S. 227-260. 27   Ios., ant. Iud. 17,9,4 (226); bell. Iud. 2,2,3 (21).

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erwirkte (T 8; F 136 § 8-11). Anschließend zog sich Nikolaos aus der Politik zurück und beschäftigte sich vermehrt mit Philosophie (F 136 § 8; 138). Dass er in den antiken Zeugnissen nach 4 v. Chr. nicht mehr in Erscheinung tritt, zeigt seine enge Verbindung zu Herodes. Nikolaos hatte aber wohl Nachfahren, denn es ist überliefert, dass sein Geschlecht noch viele Generationen angesehen war (T 2). 2.1.2.  Schriften und Zeugnisse 2.1.2.1.  Dramen und philosophische Abhandlungen Keines der Werke, die Nikolaos im Verlaufe seines Lebens verfasst hat, wurde vollständig überliefert. Die Tragödien und Komödien, die er bereits im jungen Alter schrieb (F 132), sind verloren. Von den philosophischen Werken konnte einzig De plantis (περὶ φυτῶν) mit syrischen, arabischen, hebräischen, lateinischen und griechischen Überlieferungen rekonstruiert werden. 28 Dieser Kommentar zu zwei Traktaten des Aristoteles über Pflanzen, für den Nikolaos auch auf Theophrast zurückgegriffen hat, konnte dem Autor nur zugeordnet werden, weil er im arabischen Raum als Aristoteliker in Erinnerung blieb. Als Titel weiterer philosophischer Abhandlungen sind περὶ τῆς Ἀριστοτέλους φιλοσοφίας, ferner περὶ θεῶν sowie περὶ τῶν ἐν τοῖς πρακτικοῖς καλῶν belegt, allerdings sind diese Schriften nicht erhalten. 29 2.1.2.2.  Biographie des Augustus Da kein antiker Historiker Augustus näher stand als Nikolaos, schenkte die Forschung der Biographie des Augustus (F 125-130) besondere Aufmerksamkeit. Dieses Werk wurde in der Antike nicht zitiert, sondern nur in den Excerpta de virtutibus et vitiis [περὶ ἀρετῆς καὶ κακίας] und Excerpta de insidiis (περὶ ἐπιβουλῶν κατὰ βασιλέων γεγονυιῶν) überliefert, die im 10. Jahrhundert unter dem byzantinischen Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos zusammengestellt wurden. Über den Titel ist nur sicher, dass er das Wort ἀγωγή enthielt. Möglicherweise nannte Nikolaos die Schrift parallel zu seiner Autobiographie (s.u.) περὶ πρώτης Καίσαρος ἀγωγῆς. Die erhaltenen Auszüge thematisieren die Kindheit und die frühe Jugend Octavians bis 45 v. Chr. Unklar sind Umfang und Ende der Darstellung. Möglicherweise stand am Schluss des Werks die Schlacht bei Actium im Jahre 31 v. Chr. oder der Beginn des Prinzipats im Jahre 27 v. Chr. Auch über die Abfassungszeit herrscht Unklarheit. Da Nikolaos   Alle Editionen mit englischen Übersetzungen und Kommentaren finden sich in Drossaart Lulofs / Poortman (Hg.) (1989). 29   Laqueur (1936), Sp. 423-424. 28

2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk9



und Augustus etwa gleichaltrig waren, hat der Autor die Biographie wohl kaum nach dem Tod des Princeps geschrieben. Es lässt sich vermuten, dass die Schrift bereits in den 20er Jahren v. Chr. verfasst wurde und eine Ergänzung zur Autobiographie des Augustus für den griechischen Osten bildete. Das Werk De vita sua des Princeps war die wichtigste Vorlage des Nikolaos. 30 2.1.2.3.  Autobiographie Unter dem Titel περὶ τοῦ ἰδίου βίου καὶ τῆς ἑαυτοῦ ἀγωγῆς verfasste Nikolaos weiterhin eine Autobiographie (F 131-139). Auszüge dieser Schrift sind in den byzantinischen Exzerpten den Überlieferungen seines Geschichtswerks vorangestellt. Weil Nikolaos die Autobiographie in einem hohen Alter verfasst hat (F 136 § 8; 137 § 2), kann sie weder als Einleitung noch als Schlussteil einer anderen Schrift konzipiert gewesen sein. Die Autobiographie wurde erst in der Überlieferung mit den Historien zusammengefasst und ist deswegen auch erhalten geblieben. Mehrere Artikel aus der Suda ergänzen die Exzerpte. In dem Werk, das als einheitliche Darstellung der Lebensführung des Nikolaos aufgebaut ist, gibt der Autor Auskunft über sein Studium und seine Philosophie. Es ist die früheste griechischsprachige Autobiographie, die zumindest in Teilen erhalten ist. 2.1.2.4.  Völkersitten Nikolaos hat weiterhin eine Sammlung besonderer Völkersitten (F 103-124) zusammengestellt, die Herodes gewidmet war und den Titel παραδόξων ἐθῶν συναγωγή (oder nur ἐθῶν συναγωγή) hatte. 31 Die Schrift, die vielleicht nicht zu Lebzeiten des Königs abgeschlossen wurde, ist fragmentarisch bei Johannes Stobaios überliefert. Ein starkes Interesse an Ethnographie kam bereits bei Herodot zum Ausdruck. Mit fremden Bräuchen hatte sich auch Aristoteles in seinem Werk νόμιμα βαρβαρικά auseinandergesetzt, sodass Nikolaos durch die Beschäftigung mit dem Thema in einer Tradition des Peripatos stand. 32 Als Vorlage hat er auf dieselbe Stoffsammlung zurückgegriffen, die auch seinem Hauptwerk zugrunde lag. 33   Zur Augustus-Vita des Nikolaos vgl. Sonnabend (2002), S. 121-123.   Zu den ἐθῶν συναγωγή vgl. Alonso-Núñez (1995), S. 13-15. 32   Zur Rolle des Aristoteles in der Geschichte der Ethnographie vgl. Müller (1972), S. 197-208. Zu den νόμιμα βαρβαρικά des Aristoteles (604-610 R3) vgl. Hose (2002), S. 250-252. 33   Zur Einordnung der Schriften des Nikolaos in die griechische Literaturgeschichte vgl. Schmid (1920), S. 374-376; Lesky (1963), S. 832-833; Dihle (1989), S. 153-154; Townend (1996), S. 908; B. Zimmermann / Rengakos (Hg.) (2014), S. 672. 30 31

10

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2.2.  Die Universalgeschichte 2.2.1.  Zum Werk 2.2.1.1.  Titel Bei den Historien des Nikolaos handelte es sich mit 144 Büchern (T 11; F 80) um das umfangreichste Geschichtswerk der Antike, allerdings sind von der Schrift (nach F. Jacobys Zählung) nur 102 Fragmente erhalten. Der Titel wird in den Überlieferungen nicht einheitlich zitiert. Nur in der Suda wird das Werk „allumfassende“ bzw. „Universalgeschichte“ [ἱστορία καθολική] genannt (T 1). Plutarch schreibt, dass Nikolaos ein „großes Geschichtswerk“ verfasst habe [ἱστορίαν συνέγραψεν πολλήν] (T 10a). Nach Athenaios sei es eine „Geschichte in vielen Bänden“ [ἐν τῇ πολυβίβλῳ Ἱστορίᾳ] gewesen (T 11). Wie bei Photios zu lesen ist, habe Nikolaos eine assyrische Geschichte [Ἀσσυριακὴ ἱστορία] in einem Buch mit vielen Zeilen [ἐν πολυστίχῳ βιβλίῳ] vorgelegt (T 13). In den Überresten der Autobiographie des Nikolaos ist das Werk nur als ἱστορία überliefert (F 135). Bei Stephanos Byzantios wird ebenfalls kein Adjektiv verwendet (F 18; 26). Flavius Josephus nennt die Schrift ἱστορία (T 12), doch bei ihm kommt auch der Plural ἱστορίαι vor (F 19; 20). Im Etymologicum Magnum steht, wie in den meisten Verweisen des Athenaios, der Plural (F 6; 73-78). Eine Scholie zu Strabon, welche die „Archäologie“ [Ἀρχαιολογία] des Nikolaos nennt, nimmt nur auf einen Teil des Werks Bezug (F 82). Mit Rücksicht auf diese Quellenlage scheint nur sicher zu sein, dass das Wort ἱστορία im Titel vorkam. Vermutlich gab Nikolaos seinem Werk aber einen spezifischen Namen, denn in der gleichen Zeit wählten auch Strabon und Diodor genauere Bezeichnungen für ihre Schriften. 34 Zwar ist das Adjektiv καθολικός als Bestandteil eines Werktitels in der Antike sonst nicht belegt, doch genügt dies nicht als Argument, um die Bezeichnung ἱστορία καθολική auszuschließen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass schon Polybios die Formulierung καθολικὴ καὶ κοινὴ ἱστορία verwendet hatte. 35 Wegen der zeitlichen und geographischen Breite der Darstellung des Nikolaos würde die Bezeichnung „Universalgeschichte“, die zumindest für die byzantinische Zeit belegt ist, durchaus passen. Leider geben die Überlieferungen aber keine sichere Auskunft über den Werktitel. 2.2.1.2.  Abfassungszeit Herodes regte Nikolaos zum Verfassen der Schrift an, nachdem der Autor ihm die Wichtigkeit der Erforschung vergangener Werke und Taten bewusst gemacht   Zum Titel antiker Geschichtswerke vgl. Engels (1999), S. 59; Rathmann (2016), S. 118-138; Engels (2018). 35   Polyb. 7,2,11. 34

2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk11



hatte. Die Arbeit zur Universalgeschichte begann vor ihrer gemeinsamen Reise nach Rom im Jahre 12 v. Chr., war aber in diesem Zeitraum bestimmt noch nicht abgeschlossen, obwohl sich die Autobiographie des Nikolaos so verstehen lässt (F 135). Chronologisch ist das letzte Ereignis, das in den Überlieferungen erwähnt wird, die Hinrichtung der Söhne von Mariamme im Jahre 7 v. Chr. (T 12; F 102). Mit Sicherheit wurden auch die Verhandlungen um die Nachfolge des Herodes im Jahre 4 v. Chr. thematisiert. Ob die Darstellung aber mit der Einsetzung des Archelaos zum Ethnarchen von Judäa endete oder die Arbeit über das Jahr 4 v. Chr. hinausging, ist umstritten. 36 Nikolaos selbst schreibt nur, dass er vor der Fertigstellung längere Zeit mit dem Werk beschäftigt war (F 135). Wahrscheinlich betrug die Abfassungszeit über zehn Jahre. 37 Nikolaos ließ Herodes wohl kaum lange warten, bevor er ihm seine Arbeit präsentierte. Möglicherweise beendete der Autor zuerst einen Teil des Werks und verfasste dann eine Fortsetzung. Es wurde vermutet, dass er die Zeitgeschichte nach 4 v. Chr. verfasst hat, um Herodes posthum zu rühmen. 38 Dagegen spricht aber, dass sich Nikolaos in dieser Zeit mehr der Philosophie zuwandte (s. o.) und wohl nur begrenztes Interesse an einer Lobschrift für den verstorbenen Herrscher hatte. Außerdem dienten die Abschnitte zur jüdischen Geschichte schon zu Lebzeiten des Herodes der Legitimierung dessen Politik. Und schließlich findet sich in der Autobiographie, die nach 4 v. Chr. verfasst wurde, auch Kritik am Herrscher (F 136). Aufgrund der mehrjährigen Arbeit und der hohen Buchzahl ist die Universalgeschichte jedenfalls als Hauptwerk des Nikolaos zu betrachten. Der Stolz des Autors auf seine Schrift drückt sich in der Anmerkung aus, dass sogar Herakles von der Arbeit erschöpft gewesen wäre, wenn Eurystheus ihm diese aufgetragen hätte (F 135). 2.2.1.3.  Inhalt und Aufbau In den Historien thematisierte Nikolaos die Weltgeschichte von den Assyrern bis in seine eigene Zeit. Er ging von einer Abfolge der Weltreiche aus (F 3; 66) und brachte die Vorstellung eines Verlaufs der Geschichte von Osten nach Westen zum Ausdruck, indem er mit den asiatischen Reichen begann und mit der römischen Herrschaft endete. Dabei sprach er dem ersten und letzten König jeder Dynastie eine besondere historische Bedeutung zu. Ähnlich wie bei Herodot diente ein lydischer Logos als verbindendes Element zwischen der medischen und persischen Herrschaft. Nikolaos war der einzige Universalhistoriker, der auch über die jüdische Geschichte von den Anfängen bis zu den Söhnen des Herodes schrieb. 39 Wichtige Ereignisse führte der Autor auf ihre jeweiligen historischen Wurzeln zurück. Allerdings waren ihm sachliche Zusammenhänge wichtiger als   Jacoby (1926b), S. 232-233; Laqueur (1936), Sp. 400.   Alonso-Núñez (1995), S. 12. 38   Toher (1987), S. 137-138. 39   Alonso-Núñez (1995), S. 10-11. 36 37

12

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die Einhaltung der Chronologie. Je mehr sich Nikolaos der Gegenwart näherte, desto umfangreicher wurde seine Darstellung, immerhin erreichte er bereits im siebten Buch die Herrschaft der Perser (F 66-68). In der Frühgeschichte, die mit dem Mythos verbunden wurde, nannte er Generationenfolgen zur Einordnung. Teile der Universalgeschichte, in denen es um komplexe Prozesse ging, waren wohl wie bei Diodor annalistisch-synchronistisch aufgebaut. Zur genaueren Datierung gab Nikolaos wie Flavius Josephus Olympiaden und Konsuln an (F 98). Die überlieferten Fragmente legen nahe, dass moralische und politische Aspekte im Fokus der Darstellungen standen. Dass sich in den Teilen zur Zeitgeschichte die enge Verbindung des Nikolaos zu Herodes zeigt, brachte ihm schon von Flavius Josephus den Vorwurf der einseitigen Geschichtsschreibung ein (T 12; F 96; 101-102). Aufgrund der tendenziösen Darstellungen kann Nikolaos als Hofhistoriker betrachtet werden. 40 Tabelle 1: Aufbau der Universalgeschichte Buch

Inhalt

F

1-2

Assyrer, Meder, Perser

1-6

3

Mythische Anfänge bis zum Trojanischen Krieg

7-14

4-5

Lyder, Syrer, jüdische und griechische Frühgeschichte 15-43

6

Lyder und archaisches Griechenland

44-56

7

Archaisches Griechenland, Lyder und Perser

57-68

Lyder

71

Geographie Armeniens (Mithridatische Kriege?)

72

103

Mithridatische Kriege (Mithridates)

73

104

Mithridatische Kriege

74

105-106

Mithridatische Kriege?

107

Mithridatische Kriege (Sulla)

75

108

Mithridatische Kriege (Pompeius?)

76

109

Mithridatische Kriege?

110

Mithridatische Kriege (Lucullus)

8-17 18? 19-95 96 97-102

111-113   Alonso-Núñez (1995), S. 12.

40

77-78

2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk13



Buch

Inhalt

F

114

Partherfeldzug (Crassus)

79

116

Gallischer Krieg (Caesar)

80

117-122

Römische Bürgerkriege und Prinzipat des Augustus?

123/124

Herrschaft des Herodes (Agrippa)

81

125-144

Herrschaft des Herodes

101-102

115

2.2.1.4.  Arbeitsmethode und Quellen In Anbetracht des enormen Umfangs der Universalgeschichte und des späten Abfassungsbeginns muss der Autor schnell gearbeitet haben. Nach eigener Aussage sammelte er zuerst das Material für das Werk (F 135). Dann griff er für die jeweiligen Darstellungen auf eine oder zwei Hauptquellen zurück. Nikolaos kannte die Schriften Homers und Hesiods. Sicher nutzte er die Historien Herodots. Hellenistische Bearbeitungen der Persika des Ktesias und der Lydiaka des Xanthos waren seine Vorlagen für die Geschichte der frühen asiatischen Reiche. In den Überlieferungen des Nikolaos wird auch die lydische Königsliste erwähnt. Für die griechische Geschichte nutzte er Ephoros und für die jüdische Geschichte zog er biblische Texte heran, wobei seine Vorlagen sicher über die fünf Bücher Mose hinausgingen. 41 Der Darstellung des gallischen Kriegs lag Caesars De bello Gallico zugrunde. Daneben kommen viele andere Autoren wie Hellanikos von Lesbos, Xenophon, Apollonios von Rhodos, Polybios und Poseidonios als Quellen in Frage, allerdings lässt sich aufgrund der fragmentarischen Überlieferung nur in wenigen Fällen bestimmen, wo Nikolaos selbst eine Quelle genutzt hat und wo der Einfluss einer Tradition vorliegt. Die Quellen, die mit Gewissheit verwendet wurden, zeigen, dass er auf die wichtigsten Schriften zurückgegriffen hat. Die hohe Buchzahl und die erhaltenen Zeugnisse legen nahe, dass er sein Werk wie Diodor weitgehend kompilierte. Dabei bereinigte er nicht alle Widersprüche, die sich aus der Nutzung verschiedener Vorlagen ergaben (s. etwa F 10 und 18). Nikolaos hat seine Quellen aber nicht nur abgeschrieben oder gekürzt, wie sich etwa an der Abweichung bei Lokalisierungen nachweisen lässt (F 3). Vereinzelt sind Kombinationen verschiedener Traditionen festzustellen, die vermutlich auf Nikolaos zurückgehen (F 66). An ausgewählten Stellen wollte der Autor seine eigenen literarischen Fähigkeiten demonstrieren, wie etwa durch die Anreicherung seiner Vorlagen mit Elementen der tragischen Historiographie deutlich wird (F 68). Nikolaos fügte den Geschichten Dialoge hinzu, die eine Identifikation 41

  Wacholder (1962), S. 58.

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mit den historischen Personen ermöglichen und die Handlungen veranschaulichen sollten. Zugleich zeigte er durch diese Darstellungsform sein rhetorisches Können. Das Interesse an den Charakterzügen der Personen ist mit dem Einfluss des Peripatos zu erklären. 42 Mit der Wiedergabe längerer Reden griff der Autor auf eine historiographische Tradition zurück, die bis Herodot und Thukydides zurückreicht. 2.2.2.  Die Überlieferung Die Fragmente der Universalgeschichte sind bei Strabon (1. Jh. v. Chr.), Flavius Josephus (* 37/38, † nach 100 n. Chr.), Plutarch (* um 45, † vor 125), Athenaios (3./2. Jh. v. Chr.), Sokrates Scholastikos (* nach 380, † nach 439), Stephanos Byzantios (6. Jh.), Konstantinos VII. Porphyrogennetos (* 905, † 959), im Etymologicum Magnum, in der Suda und in Scholien zu Homer und Strabon überliefert. Offenbar wurde das Werk vor allem von Griechen und Byzantinern gelesen. Daraus lässt sich folgern, dass sich Nikolaos mit seiner Universalgeschichte an ein Publikum im griechischen Teil des römischen Reiches richtete. 43 2.2.2.1.  Konstantinische Exzerpte Ein Großteil der Fragmente stammt wie die Überreste der Augustus-Vita und der Autobiographie aus byzantinischen Exzerptsammlungen, die zwischen 945 und 959 unter Konstantin VII. angefertigt wurden, um das Wissen antiker Autoren zusammenzufassen. Nur vier der 53 byzantinischen Teilschriften sind erhalten. 44 In den Excerpta de legationibus [περὶ πρέσβεων] und Excerpta de sententiis [περὶ γνωμῶν] gibt es keine Hinweise auf das Werk des Nikolaos, dafür finden sich in den Excerpta de virtutibus et vitiis [περὶ ἀρετῆς καὶ κακίας] 25 Fragmente und in den Excerpta de insidiis [περὶ ἐπιβουλῶν κατὰ βασιλέων γεγονυιῶν] 27 Fragmente. Diese Zusammenstellungen, die erst 1627 beziehungsweise 1843 wiederentdeckt wurden, 45 sollten Konstantin eine Richtlinie für moralisch und politisch richtiges Verhalten bieten. Die Fragmente thematisieren einen Zeitraum zwischen der Assyrerherrschaft unter Semiramis und der Eroberung Lydiens unter dem Perserkönig Kyros. Verweise in den Exzerpten zeigen, dass es auch in den Sammlungen περί δημηγοριῶν (F 1; 66), περί ἀνδραγαθημάτων (F 13; 66), περί πολιτικῶν (F 60) und περί στρατηγημάτων (F 4; 66) Auszüge aus den Historien des Nikolaos gab, allerdings sind diese Teilschriften verloren.   Alonso-Núñez (1995), S. 9. Die Peripatetiker beschäftigten sich vielfach mit Lebensschilderungen wie die Schriften der Gruppe „περὶ βίων“ belegen, vgl. Wehrli (2000), S. 468-470. 43   Alonso-Núñez (1995), S. 7. 44   Zu den byzantinischen Exzerpten vgl. Büttner-Wobst (1906), S. 88-120. 45   Parmentier (2000), S. 315; Parmentier / Barone (2011), S. LVII-LVIII. 42

2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk15



Weil die Schreiber Konstantins die Exzerpte nach bestimmten Kategorien angefertigt haben und nur an ausgewählten Themen interessiert waren, wurden viele Inhalte der Universalgeschichte nicht berücksichtigt. Ein Vergleich der sogenannten konstantinischen Exzerpte mit noch erhaltenen Werken zeigt aber, dass die byzantinischen Schreiber ihre Vorlagen teilweise wortgetreu abschrieben und in der Regel die Reihenfolge der Darstellungen einhielten. 46 In den Überlieferungen des Nikolaos lassen sich einige Abschreibefehler, Namensverwechslungen und Interpolationen nachweisen. Dennoch haben die Exzerpte für die Untersuchung der Universalgeschichte einen besonderen Wert, weil sie im Vergleich zu den anderen Fragmenten sehr ausführlich sind und systematisch zu den Büchern 1 bis 7 angefertigt wurden. Das Textkorpus bietet sich aufgrund seines Umfangs für neuere Fragestellungen (etwa nach sozialhistorischen Themen oder literarischen Motiven) an. 2.2.2.2.  Stephanos Byzantios Verhältnismäßig viele Fragmente sind in der Schrift Ethnika des Stephanos Byzantios erhalten. Dieser hatte auf Nikolaos verwiesen, um die Herkunft von Ortsnamen, Lokalisierungen oder die Verwendung von Ethnika zu belegen. Alle Stellenangaben der 19 Fragmente beziehen sich auf das vierte und fünfte Buch der Historien, sodass sich, zusammen mit den konstantinischen Exzerpten, ein genaueres Bild von diesem Teil des Werks ergibt. Allerdings bieten die kurzen Verweise des Stephanos überwiegend Aufschluss über Themen, die Nikolaos behandelt hat, kaum dagegen Details seiner Darstellungen. Tabelle 2: Fragmente bei Stephanos Byzantios (19 F, davon 1 auch an anderer Stelle überliefert) Quelle Ἀγαμήδη

F

Buch

42

5

Ἀμοργός

87

?

Ἀρκαδία

37

5

Ἀσκάλων

18

4

Ἀσκανία

26

4

Πελοπόννησος = Constant. Porph. De them. 2,6 Τόρρηβος

23

4

15

4

Νήραβος

17

4

Βωταχίδαι

39

5

46

  Malitz (2003), S. 12-13.

16

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Quelle

F

Buch

Θόρναξ

29

4

Καρνία

27

4

Λυκοσθένη

85

?

Μεσημβρία

43

5

Μεσόλα

32

4

Νηρίς

33

4

Παρώρεια

86

?

Σίφνος

40

5

Σκῦρος

41

5

῾Υπερδέξιον

88

?

2.2.2.3.  Flavius Josephus Die Schriften des Nikolaos gehörten offenbar zu den wichtigsten Vorlagen des Flavius Josephus, denn 15 Fragmente stammen aus den Werken Antiquitates Iudaicae und Contra Apionem. Josephus hat die Historien vor allem für die Geschichte des alten Israel und die Zeit von den Hasmonäern bis Herodes verwendet. In den Überlieferungen wird ein ambivalentes Bild des Nikolaos gezeichnet. Für länger zurückliegende Ereignisse stellt Josephus den Autor nämlich als zuverlässige Quelle dar, aber in Bezug auf die jüngere Geschichte wirft er Nikolaos vor, Darstellungen im Interesse des Herodes verzerrt zu haben. Aufgrund dieser frühen Kritik sind die Fragmente aus den Jüdischen Altertümern von großer Bedeutung. Für eine Annäherung an die Selbstdarstellung des Herodes bilden sie die wichtigsten literarischen Zeugnisse. Tabelle 3: Fragmente bei Flavius Josephus (15 F, davon 3 zweifelhaft) Quelle

F

Buch

Ios., ant. Iud. 1,3,9 (108)

141

? – zweifelhaft

Ios., ant. Iud. 1,3,6 (93-95)

72

96

Ios., ant. Iud. 1,7,2 (159-160)

19

4

Ios., ant. Iud. 7,5,2 (101-103)

20

4

Ios., ant. Iud. 12,3,2 (125-127)

81

123/124

Ios., ant. Iud. 13,8,4 (249-252)

92

?

Ios., ant. Iud. 13,12,6 (345-347)

93

?

2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk17



Quelle

F

Buch

Ios., ant. Iud. 14,1,3 (8-9)

96

?

Ios., ant. Iud. 14,4,3 (66-68)

98

?

Ios., ant. Iud. 14,6,4 (104)

97

?

Ios., ant. Iud. 16,2,4 (31-57)

142

? – Echtheit der Rede unklar

Ios., ant. Iud. 16,7,1 (179-183)

101

?

Ios., ant. Iud. 16,7,1 (185)

102

?

Ios., ant. Iud. 17,5,4-7 (99; 106-127)

143

? – Echtheit der Rede unklar

Ios., c. Ap. 2,82-84.

91

?

2.2.2.4.  Athenaios Im Werk des Athenaios gibt es 12 Fragmente, die auf eine Darstellung der Mithridatischen Kriege durch Nikolaos zurückgehen. Mit diesem Teil der Historien stand dem Autor der Deipnosophistai eine umfangreiche Quelle zur Verfügung. Athenaios interessierte sich vor allem für ungewöhnliche Anekdoten und zog thematisch vielfältige Textabschnitte aus dem Werk des Nikolaos heran. Die erhaltenen Fragmente lassen keine systematische Auseinandersetzung mit der Universalgeschichte erkennen. Tabelle 4: Fragmente bei Athenaios (12 F, davon beziehen sich 2 auf dieselbe Stelle) Quelle

F

Buch

Athen. 4,39 (153f-154a)

78

110

Athen. 6,54 (249a-b)

80

116

Athen. 6,61 (252d-e)

79

114

Athen. 6,61 (252f)

94

?

Athen. 6,91 (266e-f)

95

?

Athen. 6,78 (261c)

75

107

Athen. 6,109 (274e-f)

77 a

110

Athen. 8,6 (332f)

74

104

Athen. 10,9 (415e)

73

103

Athen. 12,61 (543a)

77 b 110

Athen. 13,64 (593a)

90

?

Athen. 15,28 (682a)

76

108

18

TINO SHAHIN

2.2.2.5.  Sonstige Zeugnisse Die übrigen Überlieferungen gehen auf verstreute Einzelzeugnisse zurück. Ein Bericht des Nikolaos hatte offenbar schon seinem Zeitgenossen Strabon als Quelle gedient. 47 Später haben Plutarch und Sokrates Scholastikos das Werk des Nikolaos als Vorlage verwendet. In der Suda gibt es ein kurzes Zitat, das thematisch nicht sicher einzuordnen ist. Vorlage für das byzantinische Nachschlagewerk waren die Exzerptsammlungen. 48 In der konstantinischen Schrift De thematibus [περὶ θεμάτων Άνατολῆς καὶ Δύσεως] über die byzantinischen Verwaltungsbezirke sind zwei Fragmente erhalten, die Namen der Themata erklären sollen. Schließlich sind im Etymologicum Magnum und in Scholien zu den Schriften Homers und Strabons Fragmente des Nikolaos erhalten. Tabelle 5: Sonstige Überlieferungen (7 F) Quelle Etym. m. p. 180,42 Suda s. v. ὠμή τις εἶναι. Schol. Strab. 7,3,6 (299C,8-9) Schol. Vindob. Homer. Od. 1,21 Sokr., hist. eccl. 7,25 Plut., Brut. 53,5-7 Strab. 15,1,73 (719C,21-720C,7)

F 6 82 83 84 89 99 100

Buch 2 ? ? ? ? ? ?

2.2.2.6.  Zusammenstellung in den FGrHist Insgesamt sind von den Historien also systematisch angefertigte Exzerpte und einzelne Zitate beziehungsweise Inhaltswiedergaben übriggeblieben. Die Universalgeschichte bot ein umfangreiches Quellenkorpus, das für verschiedene Darstellungen genutzt wurde. Einige Fragmente lassen sich allein über ihren Inhalt nicht genauer in die Historien einordnen. In vielen Überlieferungen finden sich jedoch Verweise auf den Autor, das Werk, die Buchzahl oder sogar eine relative Angabe zur Quellenstelle, die weitere Auskunft über die Universalgeschichte geben. Weil eine Überlieferung des Stephanos Byzantios einem Fragment aus dem Werk De thematibus entspricht, zwei Fragmente des Athenaios auf dieselbe Textstelle zurückgehen, zwei Reden bei Josephus nicht sicher aus den Historien stammen und ein Fragment bei Josephus zweifelhaft ist, zählt F. Jacoby in seiner Zusammenstellung 102 Fragmente der Universalgeschichte. Nach der   Engels (1999), S. 270.   De Boor (1912), S. 381-424.

47 48

2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk19



maßgeblichen Edition gibt es also 52 konstantinische Exzerpte, 2 Fragmente aus De thematibus, 18 von Stephanos Byzantios, 12 von Josephus, 11 von Athenaios, und 7 aus sonstigen Quellen. Allerdings gelten zwei konstantinische Exzerpte nicht mehr als Überlieferungen des Nikolaos und das bei Plutarch überlieferte Fragment gehört vermutlich zur Augustus-Biographie, sodass 99 Fragmente der Historien übrigbleiben. 2.2.2.7.  Neue Fragmente? Es gab mehrere Versuche, die bisher zusammengestellte Fragmentsammlung mit weiteren Überlieferungen zu ergänzen. A. Vogliano hatte erwogen, dass der Papyrus P. Mil. Vogl. II 46, der von einem Feldzug der Römer nach Äthiopien berichtet, auf das Geschichtswerk des Nikolaos zurückgehe. 49 Diese Vermutung stützte sich auf eine ungefähre zeitliche Einordnung der Quelle ins erste bis zweite Jahrhundert n. Chr. und auf die These, dass der Text aus einem literarischen Werk stammt. In der Forschung wurde Voglianos Vorschlag nicht aufgegriffen, weil die Indizien für eine Zuordnung zur Schrift des Nikolaos nicht ausreichen. 50 Nach A. Paradiso könnten mehrere Artikel in der Suda (wie die Lemmata zu Ἀλκαῖος, Ἀταλάντη, Ἀλυάττης und ἀδελφειός) über das lydische Königshaus auf die Universalgeschichte zurückgehen. 51 Ihre Argumentation ist durchaus plausibel, sodass die Überlieferungen als mögliche Fragmente des Nikolaos zu berücksichtigen sind. É. Parmentier hat auch auf weitere Abhängigkeiten hingewiesen, indem sie auf die inhaltliche Nähe zwischen der Darstellung des Flavius Josephus über die Nachfolge des Herodes und Teilen der Autobiographie des Nikolaos aufmerksam machte. 52 Dass Josephus die Schriften des Nikolaos verwendet hat, ohne dies explizit zu erwähnen, geht auch aus einer Passage über die Rolle des Nikolaos bei der Verurteilung der Söhne des Herodes hervor, denn die Parallelen zwischen Ios., ant. Iud. 16,11,3 (371-372) und F 136 § 3 sind bestechend. In antiken Quellen wie den Schriften des Josephus und der Suda können mit Sicherheit noch weitere Textstellen als Fragmente des Nikolaos gedeutet werden. Die Sammlung von F. Jacoby ist also noch zu erweitern, allerdings werden viele der neuen Fragmente strittig bleiben, da sie keine Verweise auf die Universalgeschichte enthalten. Auf das Gesamtbild, das eine Untersuchung der von Jacoby gesammelten Zeugnisse bietet, haben die Überlieferungen zwar nur geringen Einfluss, doch sie ermöglichen zumindest eine Überprüfung früherer Befunde, sodass sie bei einer Neuordnung der Fragmente unbedingt zu berücksichtigt sind.   P. Mil. Vogl. II 46; vgl. Vogliano (1940), S. 17-18.   Eide et al. (1998), Nr. 224, S. 932-935. 51   Paradiso (2015a); Paradiso (2015b); Paradiso (2016). 52   Parmentier (2006). 49 50

20

TINO SHAHIN

2.2.2.8.  Verlust des Werks Aus den erhaltenen Fragmenten lässt sich der Verlust der Universalgeschichte nachzeichnen. Von den ursprünglich 144 Büchern (T 11; F 80) stand Athenaios im dritten Jahrhundert nur ein Teil zur Verfügung, denn er zitiert lediglich aus den Büchern 103 bis 116. Stephanos Byzantios hatte in der Spätantike wohl nur die Bücher 4 und 5, denn auf diese nehmen all seine Stellenangaben zur Universalgeschichte Bezug. Dass unter Konstantin VII. im 10. Jahrhundert nur die ersten sieben Bücher zusammengefasst wurden, legt nahe, dass ein Großteil der Historien bereits verloren war. Wie der Suda zu entnehmen ist, wurde angenommen, dass das Werk des Nikolaos lediglich aus 80 Büchern bestanden habe (T 1). Eine Homer-Scholie belegt aber, dass es noch am Ende der byzantinischen Zeit Überlieferungen des Nikolaos gab, die inzwischen nicht mehr vorhanden sind (F 84). Die Überreste des Werks sind in Byzanz erhalten geblieben, weil dort die griechische Tradition bis ins 15. Jahrhundert fortbestand. 53 Für den Verlust der Historien, der schon in den ersten Jahrhunderten n. Chr. einsetzte, gibt es mehrere Gründe. Ein wichtiger Faktor war, dass der enorme Umfang des Werks eine Tradierung erschwerte und die Schrift gegenüber anderen antiken Quellen nicht attraktiv genug erschien, um sie zu bewahren. Einer Überlieferung stand auch die persönliche Nähe des Nikolaos zu Herodes entgegen, was durch das freundschaftliche Verhältnis des Autors zu Agrippa und Augustus nicht kompensiert werden konnte. Das Verdienst, dass Nikolaos die jüdische Geschichte thematisiert hat, wurde durch die Antiquitates Iudaicae des Flavius Josephus relativiert. Und schließlich ist die Entstehung der Historien im Kontext des augusteischen Oikumenereichs zu betrachten: Nach dem Tod des Princeps geriet die literarische Gattung der Universalgeschichte in eine Krise, die zum Verlust der meisten Schriften führte. Zwar verfassten auch weiterhin Geschichtsschreiber wie Appian und Kephalion 54 Werke mit universalhistorischen Ansätzen, doch nur die spätantiken Historiae adversum paganos des christlichen Autors Orosius sind in vollem Umfang erhalten. Der Umstand, dass es zu kaum einem anderen unvollständig überlieferten Geschichtswerk so viele Fragmente gibt wie zu den Historien des Nikolaos, zeigt wiederum das Interesse für die Schrift. Die Universalgeschichte gehörte demnach zu den beliebtesten der nicht erhaltenen Werke.

  Zur Wiederentdeckung und Rezeption der Fragmente des Nikolaos vgl. Parmentier (2000). 54   FGrHist 93. Zu Kephalion vgl. Squillace (2012). 53

2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk21



Tabelle 6: FGrHist 90 F 1-102 F

Buch

Quelle

Thematische Einordnung

1

1/2

Exc. de insidiis p. 3,24

Assyrer: Umsturzversuch unter Semiramis

2

1/2

Exc. de virtut. 1 p. 329,16

Assyrer: Die Lebensweisen von Sardanapal und Arbakes

3

1/2

Exc. de insidiis p. 4,23

Assyrer/Meder: Arbakes stürzt Sardanapal

4

1/2

Exc. de virtut. 1 p. 330,5

Meder/Perser/Babylonier: Streit zwischen Parsondes und Nanaros

5

1/2

Exc. de virtut. 1 p. 335,20

Meder/Saken: Die Liebe zwischen Stryangaios und Zarinaia

6

2

Etym. m. s. v. Ἄχαιμένης (180,42-45)

Perser: Achaimenes

7

3

Exc. de insidiis p. 6,17

Mythische Anfänge (Theben): Amphion und Zethos töten Lykos

8

3

Exc. de insidiis p. 7,1

Mythische Anfänge (Theben/Korinth): Ödipus tötet seinen Vater Laios

9

3

Exc. de virtut. 1 p. 336,25

Mythische Anfänge (Lykien/Argos): Bellerophon tötet die Chimäre und erhält die Herrschaft

10

3

Exc. de insidiis p. 7,24

Mythische Anfänge (Peloponnes): Pelops wandert aus und erobert Pisa

11

3

Exc. de virtut. 1 p. 337,4

Mythische Anfänge: Die Argonauten und die Frauen von Lemnos

12

3

Exc. de insidiis p. 8,25

Mythische Anfänge: Larisa tötet ihren Vater Piasos

13

3

Exc. de virtut. 1 p. 337,13

Mythische Anfänge (Theben/Tiryns): Tötungen des Herakles/Empfang bei Eurystheus

14

3

Exc. de virtut. 1 p. 338,9

Mythische Anfänge (Troja): Das Leid und der Tod der Dada

15

4

Steph. Byz. s. v. Τόρρηβος

Lyder: Torrhebos, der Sohn des Atys

16

4/5

Exc. de virtut. 1 p. 338,17

Lyder: Sturz des Tyrannen Meles und Herrschaft des Moxos

17

4

Steph. Byz. s. v. Νήραβος

Lyder/Syrer: Nerabos

18

4

Steph. Byz. s. v. Ἀσκάλων

Lyder/Syrer: Askalon

19

4

Ios., ant. Iud. 1,7,2 (159-160)

Syrer/Jüdische Geschichte: Habrames (Abraham) wird König von Damaskus

Datierung

22

TINO SHAHIN

F

Buch

Quelle

Thematische Einordnung

20

4

Ios., ant. Iud. 7,5,2 (101-103)

Syrer/Jüdische Geschichte: Adad und seine Nachfolger in Damaskus

21

4/5

Exc. de virtut. 1 p. 339,1

Gr. (Peloponnes?): Salmoneus und der Suizid seiner Tochter

22

4/5

Exc. de virtut. 1 p. 339,5

Lyder: Kannibalismus und Suizid des Kamblitas

23

4

Constant. Porph., De them. 2,6

Gr. (Peloponnes): Namen der Peloponnes

24

4/5

Exc. de virtut. 1 p. 339,16

Gr. (Peloponnes): Der Verstand der Amythaoniden

25

4/5

Exc. de insidiis p. 8,29

Gr. (Argos/Athen): Orestes rächt Agamemnon/Anklage vor dem Areopag

26

4

Steph. Byz. s. v. Ἀσκανία

Gr. (Askania)

27

4

Steph. Byz. s. v. Καρνία

Gr. (Karnia)

28

4/5

Exc. de virtut. 1 p. 339,21

Gr. (Rückkehr der Herakliden): Philonomos erhält das Gebiet Amyklai

29

4

Steph. Byz. s. v. Θόρναξ

Gr. (Rückkehr der Herakliden): Thornax

30

4/5

Exc. de insidiis p. 9,5

Gr. (Rückkehr der Herakliden): Sturz und Nachfolge des Temenos

31

4/5

Exc. de insidiis p. 9, 28

Gr. (Rückkehr der Herakliden): Sturz des Kresphontes und Rettung des Aipytos

32

4

Steph. Byz. s. v. Μεσόλα

Gr. (Rückkehr der Herakliden): Mesola

33

4

Steph. Byz. s. v. Νηρίς

Gr. (Rückkehr der Herakliden): Neris

34

4/5

Exc. de insidiis p. 10,22

Gr. (Messenien): Sturz des Aipytos und Versklavung der Messenier

35

4/5

Exc. de insidiis p. 10,27

Gr. (Argos/Korinth): Pheidon interveniert in Korinth und wird getötet

36

4/5

Exc. de insidiis p. 10,29

Gr. (Korinth): Sisyphos rächt Korinthos

37

5

Steph. Byz. s. v. Ἀρκαδία

Gr. (Arkadien)

38

5

Exc. de virtut. 1 p. 340,4

Gr. (Arkadien): Lykaon und der Frevel seiner Söhne

39

5

Steph. Byz. s. v. Βωταχίδαι

Gr. (Arkadien): Botachos

40

5

Steph. Byz. s. v. Σίφνος

Gr. Inseln (Siphnos): Siphnos, der Sohn des Sunios

Datierung

7./6. Jh. (?)

2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk23



F

Buch

Quelle

Thematische Einordnung

Datierung

41

5

Steph. Byz. s. v. Σκῦρος

Gr. Inseln (Skyros): Einwohner von Skyros

42

5

Steph. Byz. s. v. Ἀγαμήδη

Gr. Inseln (Agamede auf Lesbos): Eine Quelle mit dem Namen Agamede

43

5

Steph. Byz. s. v. Μεσημβρία

Pontos: Mesembria

44

6

Exc. de insidiis p. 10,32

Lyder: Usurpation des Spermos/Ardys und der Konflikt mit den Mermnaden

45

6

Exc. de insidiis p. 13,19

Lyder: Meles und der Versuch einer Einigung

46

6

Exc. de insidiis p. 13,34

Lyder: Myrsos lässt Daskylos verfolgen

47

6

Exc. de insidiis p. 14,4

Lyder: Rückkehr des Gyges und Sturz 7. Jh. des Sadyattes

48

6

Exc. de insidiis p. 17,6

Athen: Die athenischen Könige

49

6

Exc. de virtut. 1 p. 340,16

Athen: Hippomenes und der Verlust seines Amtes

40

6

Exc. de insidiis p. 17,11

Kyrene: Streit unter den Battiaden

51

6

Exc. de insidiis p. 17,18

Kyme: Frühgeschichte der Phoker

52

6

Exc. de insidiis p. 18,9

Milet: Sturz des Leodamas und Tyrannis des Amphitres

7. Jh.

53

6

Exc. de insidiis p. 19,15

Milet: Aisymnetie und Ende der Neleiden

7. Jh.

54

6

Exc. de insidiis p. 19,22

Thessalien (Peliaden): Iason und Medeia stürzen Pelias

55

6

Exc. de virtut. 1 p. 340,23

Thessalien (Peliaden): Peleus stürzt Akastos

56

6

Exc. de virtut. 1 p. 341,6

Sparta: Tod und Würdigung Lykurgs

um 600 (?)

57

7

Exc. de insidiis p. 20,6

Korinth: Königtum des Kypselos

7. Jh.

58

7

Exc. de virtut. 1 p. 342,22

Korinth: Tyrannis des Periandros

7. Jh.

59

7

Exc. de insidiis p. 21,18

Korinth/Korkyra: Die Söhne des Periandros/Revolte in Korkyra

um 600

60

7

Exc. de insidiis p. 22,4

Korinth: Nachfolge des Periandros und Ende der Kypseliden

um 600

61

7

Exc. de insidiis 22,14

Sikyon: Der listige Kleisthenes wird Tyrann

um 700

62

7

Exc. de virtut. 1 p. 343,6

Lyder: Entehrung des Magnes und Bestrafung der Täter durch Gyges

7. Jh.

63

7

Exc. de virtut. 1 p. 343,21

Lyder: Zügellosigkeit des Sadyattes und Flucht des Miletos

7. Jh.

6. Jh.

24

TINO SHAHIN

F

Buch

Quelle

Thematische Einordnung

Datierung

64

7

Exc. de virtut. 1 p. 344,5

Lyder: Alyattes bessert sich und erobert Smyrna

7/6. Jh.

65

7

Exc. de virtut. 1 p. 344,9

Lyder: Verleumdung und Aufstieg des 6. Jh. Kroisos unter seinem Vater

66

7

Exc. de insidiis p. 23,23

Perser/Meder: Aufstieg des Kyros und 6. Jh. Sturz des Astyages

67

7

Exc. de virtut. 1 p. 345,14

Perser: Das Wissen des Kyros

68

7

Exc. de virtut. 1 p. 345,19

Perser/Lyder: Kyros weint um Kroisos 6. Jh.

69

(7)

Exc. de virtut. 1 p. 349,9

Röm. Frühgeschichte – vermutlich nicht von Nikolaos

70

(7)

Exc. de virtut. 1 p. 351,21

Röm. Frühgeschichte – vermutlich nicht von Nikolaos

71

18?

Constant. Porph., De them. 1,3

Lyder/Myser: Name der Thrakesier/ Ansiedlung von Thrakern in Lydien

72

96

Ios., ant. Iud. 1,3,6 (93-95)

Geographie Armeniens: Überreste der Arche auf dem Baris

73

103

Athen. 10,9 (415e)

Mithridatische Kriege: Wettessen und -trinken mit Mithridates

89-63

74

104

Athen. 8,6 (332f)

Mithridatische Kriege: Erdbeben im phrygischen Apameia

63

75

107

Athen. 6,78 (261c)

Mithridatische Kriege: Sulla verschenkt Staatsland an Komiker

89-63

76

108

Athen. 15,28 (682a)

Mithridatische Kriege (?): Eine Blume in den Alpen

89-63 (?)

77a & b 110

Athen. 6,109 (274e-f); 12,61 (543a)

Mithridatische Kriege: Triumph des Lucullus und Einführung von Luxus

63

78

110

Athen. 4,39 (153f-154a)

Röm. Geschichte: Zweikämpfe bei römischen Gastmahlen und Totenfeiern

1. Jh.

79

114

Athen. 6,61 (252d-e)

Röm. Geschichte (Partherfeldzug des Crassus): Verrat des Andromachos von Carrhae

53

80

116

Athen. 6,54 (249a-b)

Röm. Geschichte (Gallischer Krieg): 56 Die Soliduroi sterben mit ihrem König

81

123/124 Ios., ant. Iud. 12,3,2 (125-127)

82

?

Suda s. v. ὠμή τις εἶναι

Jüdische Geschichte: Die ionischen Juden und das Wohlwollen Agrippas (?): Zitat über grausames Strafen

6. Jh.

14

2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk25



F

Buch

Quelle

Thematische Einordnung

Datierung

83

?

Schol. Strab. 7,3,6 (299C,8-9)

Hesiod lebte vor Homer

7. Jh.

84

?

Schol. Vindob. Homer. Od. 1,21

„Odysseus“ kommt von „odysseuo“

85

?

Steph. Byz. s. v. Λυκοσθένη

Lykostheneia in Lydien

86

?

Steph. Byz. s. v. Παρώρεια

Paroreia in Arkadien

87

?

Steph. Byz. s. v. Ἀμοργός

Amorgos und der „Amorgite“ Simonides

88

?

Steph. Byz. s. v. ῾Υπερδέξιον

Hyperdexion und „Hyperdexier“

89

?

Sokr., hist. eccl. 7,25

Chrysopolis am Bosporos

90

?

Athen. 13,64 (593a)

Diadochen: Demetrios (Poliorketes) 337-283 und seine Hetäre Myrrhine von Samos

91

?

Ios., c. Ap. 2,82-84.

Diadochen/Jüd. Geschichte: Plünderung des jüdischen Tempels durch Antiochos (IV.)

92

?

Ios., ant. Iud. 13,8,4 (249-252)

Diadochen/Jüd. Geschichte: Hyrkanos 130/129 unterstützt Antiochos (VII.) gegen die Parther

93

?

Ios., ant. Iud. 13,12,6 (345-347)

Diadochen/Jüd. Geschichte: Ptole103-101 maios (IX.) mordet in den Dörfern der Juden

94

?

Athen. 6,61 (252f)

Mithridatische Kriege: Sosipatros, der Schmeichler des Mithridates

89-63

95

?

Athen. 6,91 (266e-f)

Mithridatische Kriege: Mithridates erobert Chios

86

96

?

Ios., ant. Iud. 14,1,3 (8-9)

Jüdische Geschichte: Abstammung des Antipatros

vor 43

97

?

Ios., ant. Iud. 14,6,4 (104)

Röm. Geschichte: Feldzüge des Pompeius und Gabinius

64-54

98

?

Ios., ant. Iud. 14,4,3 (66-68)

Röm./Jüd. Geschichte: Eroberung Jerusalems/Gottesfurcht der Juden

63

99

?

Plut., Brut. 53,5-7

Röm. Geschichte: Suizid der Porcia – vermutlich nicht aus den Historien

42

100

?

Strab. 15,1,73 (719C,21-720C,7) Röm. Geschichte: Eine indische Gesandtschaft bei Augustus

101

?

Ios., ant. Iud. 16,7,1 (179-183)

Jüdische Geschichte: Ein Bauwerk des 40-4 Herodes

102

?

Ios., ant. Iud. 16,7,1 (185)

Jüdische Geschichte: Beschönigungen der Morde des Herodes

169/168

20/19

29-7

26

TINO SHAHIN

2.3.  Zugänge zur Universalgeschichte 2.3.1.  Zusammenhängende Darstellungen 2.3.1.1.  Lydische Geschichte Wie andere Universalhistoriker hielt sich Nikolaos von Damaskus an die klassische Abfolge der antiken Weltreiche und berichtete über die Assyrer, Meder und Perser. Das verbindende Element zwischen den Geschichten war eine Abhandlung über die Lyder, von der insgesamt 16 Fragmente aus den Büchern 3 bis 7 erhalten sind (F 10; 15-18; 22; 44-47; 59; 62-65; 68). Diese Darstellungen machen den größten Anteil an den Überlieferungen des Nikolaos aus. Eine Annäherung an sein Gesamtwerk muss also durch eine gesonderte Auswertung der lydischen Geschichte erfolgen. Durch eine Gegenüberstellung der erhaltenen Textauszüge mit dem lydischen Logos von Herodot lassen sich Besonderheiten der Universalgeschichte herausarbeiten. 55 Nikolaos führte die Geschichte Lydiens und die griechische Frühgeschichte auf gemeinsame Anfänge zurück, indem er im dritten Buch berichtete, dass Pelops infolge des trojanischen Kriegs von Lydien auf die Peloponnes ausgewandert sei (F 10). Im vierten Buch der Historien hat der Autor das lydische Geschlecht der Atyaden thematisiert. Angehörige dieser Familie waren Manes, sein Sohn Atys und dessen Sohn Torrhebos (F 15). Vielleicht gehörten auch die Lyderkönige Moxos (F 16), Akiamos (F 18), Kamblitas und Iardanos (F 22) zu der Dynastie. Bei Nikolaos gab es jedenfalls ein Geschlecht, das vor den Herakliden an der Macht war. Während Herodot nur einige Namen der frühen Herrscher erwähnte, 56 setzte sich Nikolaos ausführlich mit den inneren Streitigkeiten des Reiches auseinander, die etwa zum Sturz des Tyrannen Meles führten (F 16). Weiterhin berichtete Nikolaos, dass die Lyder ihr Herrschaftsgebiet unter Moxos und Akiamos bis nach Syrien ausdehnten (F 16-18). Bei der Darstellung dieser Expansion in den Büchern 4 und 5 thematisierte der Autor auch die Geschichte der Phönizier, Syrer und Juden. 57 Im sechsten Buch schilderte Nikolaos den Konflikt zwischen den lydischen Adelsgeschlechtern. Der Heraklide Ardys, dessen Herrschaft für wenige Jahre durch eine Usurpation des Spermos unterbrochen wurde, war mit dem Mermnaden Daskylos befreundet. Ein Sohn des Ardys ermordete aber Daskylos, da er   Zur Lydergeschichte bei Herodot vgl. Von Fritz (1967), S. 208-243; Will (2015), S. 198-199. 56   Hdt. 1,7. Eine Übersicht der Könige findet sich bei Parmentier (1995), S. 93. 57   Alonso-Núñez (1995), S. 8. Zur Frühgeschichte Lydiens vgl. Schubert (1884), S. 1-9; Borsay (1965), S. 67-68. Zu den archäologischen Zeugnissen vgl. Hanfmann (1960); Hanfmann / Waldbaum (1975); Hanfmann (1983); Guralnick (Hg.) (1987). Eine Zusammenstellung der literarischen Quellen zum antiken Sardeis bietet Pedley (1972). 55

2. Nikolaos von Damaskus und sein Werk27



um die Thronfolge besorgt war, worauf Ardys Verwünschungen gegen den ihm unbekannten Mörder aussprach und unwissend sein eigenes Geschlecht verfluchte (F 44). Aus Furcht vor den Herakliden flüchteten die Mermanden nach Phrygien und schließlich nach Pontos. Einigungsversuche scheiterten, sodass die Mermnaden sogar im Exil verfolgt wurden (F 45-46). Erst Gyges kam durch eine Adoption zurück nach Lydien, wo er als Lanzenträger des Heraklidenkönigs die Herrschaft übernahm (F 47). In der Darstellung des Nikolaos ging der Usurpation des Gyges also ein langer Machtkampf voraus. Herodot hat diese Vorgeschichte des Konflikts ausgespart und seinen lydischen Logos mit Gyges begonnen, weil es ihm nur um die Ursachen für den Untergang des Reiches ging. 58 Aufgrund der unterschiedlichen Konzeption der beiden Autoren weisen auch ihre Darstellungen über Gyges erhebliche Unterschiede auf. 59 In beiden Versionen bildet das Motiv des Konflikts zwischen Treue und Selbsterhaltung den Spannungshöhepunkt. Nach Herodot wollte der Lyderkönig Kandaules, dass sich sein Vertrauter Gyges ein Bild von der Schönheit seiner Frau mache. Daher zwang er ihn dazu, sie von einem Versteck beim Entkleiden zu beobachten. Die Königin merkte die Schandtat und stellte Gyges vor die Wahl, hingerichtet zu werden, oder ihren Mann zu töten und dessen Platz einzunehmen. 60 In die gleiche Situation gerät Gyges bei Nikolaos, doch nach seiner Darstellung beging der Mermnade eine Verfehlung, indem er versuchte, die Königsbraut zu verführen. Diese wies ihn zurück und berichtete dem König (in der Universalgeschichte heißt er Sadyattes) vom Fehlverhalten seines Vertrauten. Wie bei Herodot musste Gyges dann den Herrscher töten, um nicht selbst getötet zu werden (F 47 § 7-8). In der Version des Nikolaos fehlt jedoch das tragische Motiv, dass Gyges zu dem Mord gezwungen wird, obwohl er unschuldig ist. 61 Die Braut des Königs übernimmt hier nur eine passive Rolle. Dafür legt der Autor Wert auf Detailreichtum und märchenhafte Elemente wie das Erscheinen überaus großer Adler, die den Umsturz voraussagen (§ 6). Herodot reduziert die Handlung auf den Lyderkönig, dessen Frau sowie Gyges, während die Darstellung des Nikolaos komplizierter ist und weitere Personen wie Ardys, Lixos und eine Dienerin kennt. In der Universalgeschichte werden die Charaktere durch Gefühle geleitet. So versucht Gyges, mit der Frau des Königs zu schlafen, da er sie begehrt, und die Dienerin warnt Gyges vor seiner drohenden Hinrichtung, weil sie ihn liebt (F 47 § 7-8). Diese Affekte tragen zur Unterhaltung der Leser bei und ermöglichen eine bessere Identifikation mit den Personen.   Hdt. 1,8-1,14.   Zu den Unterschieden der antiken Gyges-Traditionen vgl. den Kommentar zu F 47. 60   Hdt. 1,9-11. 61   Nach Schadewaldt und Snell steht Herodots Darstellung, in der die Entscheidung des Gyges ins Zentrum der Handlung gerückt wird, unter dem Einfluss der griechischen Tragödie, vgl. Snell (1973), S. 201; Schadewaldt (1982), S. 183-184. 58 59

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Eine weitere Besonderheit der Universalgeschichte ist, dass es mit den Tyloniden ein drittes Geschlecht gibt, das an den Auseinandersetzungen in Lydien beteiligt ist. Als ein Heraklide für wenige Jahre ins Exil gehen musste, regierte der Tylonide Sadyattes als Regent. Nach einer vereinbarten Zeit gab er die Herrschaft zuverlässig zurück (F 45). Später leistete der Tylonide Lixos Widerstand gegen die Usurpation des Gyges, bis er sich diesem schließlich beugen musste (F 47). Der Machtzuwachs der dritten Familie geht mit dem Abstieg der Herakliden einher. 62 Insgesamt werden in den Fragmenten des Nikolaos vier Angehörige der Tyloniden genannt. Bei Herodot kommt das Geschlecht nicht vor, weil er den lydischen Logos auf die Geschichte der Mermnaden konzentriert. Insofern bildet die Version des Nikolaos den komplizierten Konflikt, der die Machtübernahme des Gyges ermöglichte, besser ab. Die bisher dargelegten Abweichungen zwischen den Überlieferungen sind damit zu erklären, dass Nikolaos eine hellenistische Bearbeitung der Lydiaka des Xanthos als Quelle nutzte. Im Zentrum dieser Schrift, deren Fragmente keine Verbindung zu den Historien Herodots aufweisen, standen Geschehnisse in und um Lydien. 63 Vermutlich hat Nikolaos die Vorlage überarbeitet und ausgeschmückt. Ein Hinweis darauf ist der Umstand, dass die konstantinischen Exzerptoren direkte Reden aus seinem Werk in die Sammlung περί δημηγοριῶν aufgenommen haben. Anders als in der Tradition, der Nikolaos folgte, bildete die lydische Geschichte bei Herodot in erster Linie eine Einleitung zur persischen Expansion. Der lydische Logos ist nämlich in eine Darstellung der Ursachen des Kriegs zwischen Hellenen und Barbaren eingebunden. Nikolaos und Herodot stimmen darin überein, dass das Orakel von Delphi für die Usurpation des Gyges eine Sühnung des Frevels in der fünften Generation voraussagte (F 47 § 10). 64 Bei Herodot erklärt der Götterspruch den Sturz der lydischen Mermanden. Dass das Orakel den Machtanspruch des Gyges stützte, kommt stärker bei Nikolaos zum Ausdruck. Schon das Erscheinen der Adler, das von den Sehern als Omen für einen neuen König betrachtet wurde, ist als nachträgliche Konstruktion zur Herrschaftslegitimierung zu deuten. Außerdem lässt die Vorgeschichte einen mermnadischen Standpunkt erkennen, denn der Daimon hatte die Herakliden dazu aufgefordert, für die Ermordung des Daskylos Sühne zu leisten (F 45). Das Ende des Lyderreiches thematisierte Nikolaos im siebten Buch. Nach Gyges waren Alyattes I., Sadyattes und Alyattes II. an der Macht (F 63-65). Die Kritik des Autors, dass diese zügellos gewesen seien, deutet den Niedergang   Schubert (1884), S. 24-25.   Zu Xanthos dem Lyder vgl. Lesky (1963), S. 208; 299; Meister (1990), S. 25; Lendle (1992), S. 25-28; Zimmermann (Hg.) (2011), S. 333. Zu den Lydiaka vgl. auch Seel (1956b); Von Fritz (1967), S. 348-377. 64   Hdt. 1,13. Zu den Orakelsprüchen für Gyges und Kroisos bei Herodot vgl. Klees (1965), S. 50-53; 62-68; Kirchberg (1965), S. 11-32. 62 63

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ihrer Herrschaft an. Als fünfter Mermnade herrschte schließlich Kroisos, dessen Aufstieg unter Alyattes II. ausführlich dargestellt wurde (F 65). Herodot verzichtete auf die Geschichte über die Jugend des Kroisos, um stattdessen über die Konflikte der Mermnaden mit den Griechen zu berichten. 65 In Bezug auf die Herrschaft des letzten Lyderkönigs gibt es aber wieder deutliche Parallelen zwischen den Überlieferungen: Aus den Fragmenten der Universalgeschichte lässt sich ableiten, dass Kroisos Weihgaben an mehrere Orakelstätte stiftete (F 65 § 4; 68 § 5). Außerdem bekam der Lyderkönig einen stummen Sohn, was als Hinweis auf den Fluch verstanden wurde, der seit der Usurpation des Gyges über den Mermnaden lag (F 68 § 6). 66 Nikolaos kannte auch die Verbindung zwischen Kroisos und Solon (F 68 § 9). Und schließlich ließ Kroisos das Orakel von Delphi fragen, ob er die Perser angreifen solle (F 68 § 13). Der Herrscher interpretierte die Antwort der Pythia falsch und leitete mit der Überquerung des Flusses Halys seinen prophezeiten Machtverlust ein. All diese Gemeinsamkeiten mit dem Werk des ersten Geschichtsschreibers legen einen Einfluss Herodots auf Nikolaos nahe. 67 Von der Darstellung des Nikolaos über den Krieg zwischen Lydern und Persern ist nichts erhalten. Erst mit der Begegnung zwischen dem gefangenen Kroisos und dem Perserkönig Kyros setzt die Überlieferung wieder ein (F 68). Hier wird deutlich, dass Nikolaos die Erzählung Herodots mit Elementen der tragischen Historiographie angereichert hat. 68 Im Vordergrund stehen die Trauer und das Leid der Lyder, die zusehen müssen, wie ihr geliebter Herrscher auf den Scheiterhaufen geführt wird. Als Zeichen ihres grenzenlosen Schmerzes reißen sie ihre Haare aus, sie schlagen sich auf die Köpfe und verbrennen ihre Kostbarkeiten. Den Gang des Kroisos zur Hinrichtungsstätte, der bei Herodot in wenigen Sätzen abhandelt wird, hat Nikolaos ausführlich beschrieben (§ 3-8). In der Universalgeschichte gibt es auch einen mitleiderregenden Dialog zwischen Kroisos und seinem Sohn, der seit der Niederlage der Lyder sprechen kann (§ 5-7). Dazu kommen Abweichungen, die auf die Verwendung einer anderen Tradition zurückgehen. So wird Kyros bei Nikolaos von der Schuld für die geplante Hinrichtung freigesprochen. Der Perserkönig will Kroisos verschonen, wird aber von seinen Untertanen zu der Tat gedrängt (§ 4; 9). Außerdem erscheint eine Sibylle, die eindringlich vor der Verbrennung des Kroisos warnt (§ 8). Vermutlich hat Nikolaos seine Vorlage bei Herodot mit einer Darstellung aus   Hdt. 1,15-25.   Zum Sohn des Kroisos in den antiken Quellen vgl. Allély (2009). 67   Bei Herodot finden sich die entsprechenden Parallelüberlieferungen in Hdt. 1,2933 (Solon-Geschichte); 1,52 (Weihgaben des Kroisos); 1,53 (missverstandener Orakelspruch) und 1,85 (der stumme Königssohn); vgl. Fontenrose (1978), S. 112-113. 68   Hdt. 1,86. Zur Begegnung des Kyros mit Kroisos vgl. Jacoby (1926b), S. 252-253; Laqueur (1936), S. 384-387; Toher (1989), S. 164-167. Zur tragischen Geschichtsschreibung vgl. Zegers (1959). Zum Einfluss der Tragödie auf die Historiographie vgl. Rutherford (2007). 65 66

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den Lydiaka kombiniert. Für den Einfluss von Xanthos spricht beispielsweise die große Zuneigung der Lyder zu Kroisos. Die Veränderungen lösen bei Nikolaos den Zusammenhang der Handlung mit der Vorgeschichte auf. Das Motiv, dass Kroisos auf dem Scheiterhaufen den Namen Solons ruft, hat nicht mehr den gleichen Stellenwert wie in der Parallelüberlieferung, weil Kyros den gefangenen König ohnehin nicht töten will. Herodot vermittelt mit dem Rückgriff auf die Begegnung zwischen Kroisos und Solon die Lehre, dass man sich nicht zu früh glücklich preisen soll. Diese Pointe geht in der Universalgeschichte verloren. Außerdem führt die dreifache Andeutung des Geschichtsausgangs durch das Orakel von Delphi (F 47), die Sibylle (F 68) und Solon zu einer Überladung der Handlung. Die in sich geschlossene Erzählung weicht bei Nikolaos der Darstellungskunst. Er will mit der Neufassung der bekannten Geschichte das tragische Geschehen veranschaulichen und sein rhetorisches Können demonstrieren. Die Abstraktion vom normativen Diskurs zur unterhaltsamen Geschichte, die als Bildungsgut tradiert wird, ist nicht ungewöhnlich für die hellenistische Zeit. Auch andere Universalhistoriker wie Diodor lösten Vorlagen aus ihrem ursprünglichen Kontext. 69 Alles in allem geben die Darstellungen des Nikolaos trotz ihrer fragmentarischen Überlieferung mehr Auskunft über die lydische Geschichte als die Historien Herodots. Bei den Textauszügen aus den Büchern 3 bis 5 handelt es sich um singuläre Zeugnisse. In den Fragmenten aus dem sechsten und siebten Buch weicht Nikolaos vielfach von Herodot ab. Diese Besonderheiten gehen auf die divergierenden Absichten der Autoren zurück. Im Gegensatz zum ersten Geschichtsschreiber, der seinen lydischen Logos als Vorgeschichte zur Expansion der Perser konzipiert hat, will Nikolaos im Zuge seiner universalhistorischen Abhandlung über alle bedeutenden Geschehnisse in Lydien berichten. Deswegen ist der Handlungsverlauf auch in einen größeren Rahmen eingebunden: Nachdem die Ermordung des Mermnaden Daskylos zu einem Fluch über den Herakliden geführt hatte, erfolgte die Vergeltung durch Gyges, die wiederum das Ende der Mermnaden einleitete. Unter den Überlieferungen ragt die KroisosGeschichte heraus. In diesem Teil zeigen sich Einflüsse verschiedener Traditionen, die miteinander kombiniert wurden. Dazu kommt, dass Nikolaos die Erzählung mit Elementen der tragischen Historiographie angereichert hat. Es sind wenige Stellen wie diese, die von der Eigenleistung des Nikolaos zeugen. Ans Ende der Abhandlung über die Lyder stellte der Autor die Aufnahme des Kroisos an den Hof des Kyros. Wie Herodot verknüpfte also auch Nikolaos das Ende der lydischen Geschichte mit seiner Darstellung der Perser. 70

  Zum methodischen Umgang Diodors mit seinen Vorlagen vgl. Rathmann (2016), S. 200-241. 70   Zur persischen Geschichte des Nikolaos vgl. Parmentier (2011). 69

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Tabelle 7: Lydische Adelsgeschlechter nach den Fragmenten des Nikolaos Atyaden

Unklare Zugehörigkeit

Tyloniden

Herakliden

Mermnaden

Manes (F 15) Atys (F 15) Torrhebos (F 15) Meles (F 16) Moxos (F 16) Akiamos (F 18) Tymenaios (F 18) ↓ Tantalos & Askalos (F 18) Kamblitas (F 22)

Adyattes I. (F 44) Gyges I. (F 44) ↓ ↓ Kadys & Ardys (F 44) Spermos (F 44) Tylonos (F 45)

Ardys (F 44) ↓ ↓ Adyattes II. (F 44)

Kadys (F 45) Meles (F 45) ↓ Sadyattes (F 45)

Myrsos (F 46) Lixos (F 47)

Fett ↓

Daskylos I. (F 44-46) & Ardys (F 47)

Sadyattes (F 47)

Bezeugte Herrschaft Bezeugte Herrschaftsübergabe an den Sohn

Daskylos II. (F 45-46) ↓ Gyges II. (F 46-47) ↓ Alyattes I. (F 63) ↓ Sadyattes (F 63) ↓ Alyattes II. (F 63-65; 71?) ↓ Kroisos (F 65; 68) ↓ stummer Sohn (F 68)

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2.3.1.2.  Griechische Geschichte Aus den Büchern 3 bis 7 der Historien sind zahlreiche Überlieferungen erhalten, die Aufschluss über die griechische Geschichte des Nikolaos geben. Dass es aus denselben Teilen des Werks Darstellungen zur medischen, persischen, phönizischen, syrischen und jüdischen Geschichte gibt, offenbart die synchronistische Arbeitsweise des Autors. Den Abhandlungen über die Griechen lagen möglicherweise die Werke des Hellanikos und Ephoros zugrunde. 71 Durch die Verbindung mehrerer Vorlagen erhielt die Universalgeschichte ihren individuellen Charakter. Die Besonderheiten des Werks werden durch eine Gegenüberstellung mit den Parallelüberlieferungen deutlich. Nikolaos ging von einem gemeinsamen Ursprung der Griechen und Asiaten aus, immerhin berichtete er, dass Pelops aus Lydien stammte und in die Peloponnes eingewandert sei (F 10; 23). Im dritten Buch hat der Autor seine Darstellungen mit dem Mythos verbunden. 72 Die Einbindung mythischer Erzählungen in die Historien ging mit einer Ratio­ nalisierung einher, wie an dem Fragment über Ödipus deutlich wird: Da Laios, der König von Theben, an Kinderlosigkeit litt, befragte er das Orakel von Delphi. Dieses sagte ihm voraus, dass er einen Sohn bekommen werde, der den Vater töten und die Mutter heiraten werde. Als der Herrscher tatsächlich ein Kind bekam, versuchte er, das Übel zu verhindern, indem er den Jungen aussetzte. Dieser überlebte jedoch, erhielt den Namen Ödipus und erfüllte die Prophezeiung (F 8). Wie im Drama von Sophokles ist das zentrale Motiv der Geschichte die Warnung vor dem Patrizid. Laios hätte das Unglück vermeiden können, wenn er enthaltsam gelebt hätte, doch er zeugte ein Kind und bekam dafür die prophezeite Strafe. 73 Nikolaos stimmt mit Sophokles darin überein, dass das Orakel neben dem Vatermord gleichzeitig den Inzest zwischen Sohn und Mutter voraussagte. 74 Eine Besonderheit der Universalgeschichte ist, dass einzig Laios die Prophezeiung erhält. Ödipus begegnet seinem leiblichen Vater auf der Suche nach Pferden. Am Ende des Fragments erscheint er sogar als Viehdieb, weil er die Maultiere des Laios wegführt. Diese Darstellungselemente muten „archaisch“ an und sprechen für den Einfluss einer alten Tradition auf das Werk des Nikolaos. 71   Zu Hellanikos und Ephoros vgl. Lesky (1963), S. 310-311; 576-577; Meister (1990), S. 41-42; 85-86; Lendle (1992), S. 63-71; 136-143; B. Zimmermann / Rengakos (Hg.) (2014), S. 335-336 (Hellanik.); Zimmermann (Hg.) (2011), S. 631-633 (Ephor.). 72   Auch Diodor wollte den Mythos nicht übergehen und behandelte am Anfang seiner Bibliotheke die ägyptischen Götter, vgl. Rathmann (2016), S. 83-84. Dagegen spielte der Mythos bei Strabon, der sein Geschichtswerk bewusst Hypomnemata und nicht Historiai nannte, keine Rolle; schließlich setzte er die Schrift des Polybios fort, vgl. Engels (1999), S. 59-60. 73   Flaig (1998), S. 24. 74   Soph., Oid. T. 790-793.



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Den Historien zufolge kehrte Ödipus nach Korinth zurück, wo er den Rinderhirten Polybos weiterhin für seinen Vater hielt. Der Autor ordnete die Geschichte in die Anfangszeit Thebens und Korinths ein. 75 Das Motiv, dass dem Haus des Laios die Verwaisung droht, stellt einen Bezug zu Gyges her, der nach Lydien geht, um das Erbe des Mermnaden Ardys anzutreten. Die drohende Kindstötung verbindet Ödipus wiederum mit Herrschern wie Aipytos und Kypselos, die ebenfalls auf wundersame Weise gerettet werden (F 31; 57). Durch die unrühmliche Darstellung des Ödipus und die Parallelen zu anderen Teilen der Historien wird die Erzählung entmythisiert und in einen größeren historischen Rahmen eingebunden. Die Verbindungen der Hauptfigur zu anderen Herrschern sind auf die Redaktion des Nikolaos zurückzuführen. Erzählungen, die ursprünglich dem Mythos entstammen, finden sich auch unter den übrigen Fragmenten des Werks. So berichtete Nikolaos im dritten Buch über die Geschwister Amphion und Zethos (F 7), Bellerophon (F 9), die Argonauten (F 11) und Herakles (F 13). An seine Abhandlung über den trojanischen Krieg (F 14) knüpfte er die griechische Frühgeschichte, die er nach den Volksstämmen der Äolier, Ionier und Dorer abhandelte. 76 Mit dem Auszug der Äolier und den Geschehnissen auf der Peloponnes setzte er sich im vierten Buch auseinander (F 21; 23-27). Einige Textauszüge können auf eine Darstellung der Rückkehr der Herakliden zurückgeführt werden (F 28-33), die eine mythographische Konstruktion zur Erklärung der dorischen Herrschaft über der Peloponnes ist. 77 Gegenüber den Parallelüberlieferungen (vor allem Pausanias und Apollodor) sind die Fragmente hier besonders ausführlich. Nikolaos zufolge eroberten die Herakliden die Peloponnes und teilten die Halbinsel in mehrere Gebiete auf. Philonomos erhielt Amyklai (F 28), Temenos wurde König von Argos (F 30), während Kresphontes über Messenien herrschte (F 31). Den neuen Machthabern gelang es jedoch nicht, ihre Herrschaft dauerhaft zu konsolidieren. Dies wird besonders am Beispiel von Temenos deutlich, der sich in einem Fluss in einer menschenleeren Gegend wusch, als er von Übeltätern, die seine eigenen Söhne auf ihn angesetzt hatten, angegriffen wurde. Trotz seiner schweren Verletzungen blieb Temenos noch so lange am Leben, bis er seinen designierten Nachfolgern im Lager kriegsentscheidende Orakelsprüche mitteilen konnte (F 30). Der Autor verbindet die Darstellung des Thronfolgekonflikts mit narrativen Elementen wie dem badenden König, der rechtzeitigen Weitergabe der Geheimnisse und den göttlichen Weissagungen. Es existiert keine andere Quelle, die so viele Details zur Geschichte des frühen Argos bietet. 75   Zur Bedeutung der Ödipus-Sage für den thebanischen Gründungsmythos vgl. Kühr (2006), S. 150-166. 76   Alonso-Núñez (1995), S. 8-9. 77   Prinz (1979), S. 206-207.

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Neben den Auseinandersetzungen innerhalb der Adelsfamilien gab es nach Nikolaos auch Uneinigkeiten zwischen Einheimischen und Eroberern der Peloponnes. Den Historien zufolge brachte der messenische König Kresphontes durch eine Landverteilung beide Gruppen gegen sich auf (F 34). Die Einwohner töteten den Herrscher, fanden aber auch nach seinem Tod keinen Weg der Konfliktregelung, bis sie schließlich alle von den Lakedaimoniern versklavt wurden (F 34). Mit diesem Ausgang der Geschichte weicht der Autor von den übrigen Überlieferungen ab, um diskursiv darauf hinzuweisen, dass dauerhafter Konflikt in den Untergang führt. Wie in der Abhandlung über Argos erklärt Nikolaos die Streitigkeiten in Messenien mit der Eroberung der Herakles-Nachkommen. Die Darstellungen sind als Reminiszenz an die Einwanderung von Dorern auf die Peloponnes sowie als Erklärung für die Hegemonie Spartas zu verstehen. In Buch 5 befasste sich Nikolaos mit der Geographie Griechenlands (F 37-43). Aus diesem Teil der Universalgeschichte sind Fragmente über Siphnos, Skyros und Agamede auf Lesbos erhalten (F 40-42). Vermutlich hat er die griechischen Inseln wie Diodor nacheinander abgehandelt. 78 Die früheste Geschichte Athens (F 48-49) und Spartas (F 56) thematisierte Nikolaos im sechsten Buch. Der erhaltene Textauszug über Lykurg belegt, dass der Historiker an den Anfang jedes bedeutenden Reiches einen Heros beziehungsweise Gesetzgeber stellte. Um Korinth und Sikyon ging es im siebten Buch (F 57-61), in dem durch die Machtübernahme der Perser die Abfolge der ersten Weltreiche abgeschlossen wurde. Wichtige Informationen lassen sich den Überlieferungen zur archaischen Tyrannis entnehmen. Es sind Fragmente über Pheidon von Argos (F 35), Mennes und Ovatias von Kyme (F 51), Amphitres von Milet (52-53), die Kypseliden von Korinth (F 57-60) und Kleisthenes von Sikyon (F 61) erhalten. Bei den Textauszügen handelt es sich teilweise um singuläre Zeugnisse, die Auskunft über die Machtübernahmen, Stasis-Situationen, Konfliktregelungsverfahren und über Bilder der Tyrannen geben. Aufschluss über die Darstellungsweise des Nikolaos gibt vor allem das Fragment über Kypselos (F 57), zu dem sich Parallelüberlieferungen bei Herodot und Diodor finden. 79 Die Geschichte ist ähnlich wie die Ödipus-Sage vom Aussetzungsmythos geprägt: Kypselos soll als Kind getötet werden, doch er überlebt auf wundersame Weise und übernimmt später die Herrschaft. Auffällig ist, dass sein Name, wie der des Ödipus, mit seinem Schicksal zusammenhängt. Nikolaos leitet Οἰδίπους von οἰδέω und πούς ab, da die Füße des Jungen (vermutlich infolge einer Verstümmelung) geschwollen waren, und Herodot führt Κύψελος auf κυψέλη zurück, weil das Kind in einer Lade versteckt wurde. 80 Bei Herodot haben Ödipus und Kypselos auch die Gemeinsamkeit, dass Behinderungen die Illegitimität ihrer Herrschaft andeuten: So sind die Füße des Ödipus und die 78   Diodor thematisierte zahlreiche Inseln im fünften Buch seiner Bibliotheke. Zur Ordnung seines Materials vgl. Rathmann (2016), S. 241-254. 79   Hdt. 5,92; Diod. 7,9. 80   Hdt. 5,92ε.

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Lahmheit von Kypselos’ Mutter Labda (eine Ableitung vom Buchstaben Lamda, dessen „Beine“ unterschiedlich lang sind) unheilvolle Zeichen dafür, dass die Figuren nicht den rechten Weg gehen. Herodot hat seine Darstellung des Kypselos gezielt an die Ödipus-Sage angelehnt. 81 Dabei interessierte er sich nicht für die historischen Sachverhalte der korinthischen Herrschaft, sondern er rückte Motive der Tyrannentopik ins Zentrum der Geschichte. 82 Bei Nikolaos sind die Parallelen zwischen Kypselos und Ödipus weniger deutlich, dafür beschreibt der Autor den Machtwechsel in Korinth wesentlich ausführlicher als Herodot. 83 Laut Universalgeschichte wurde Kypselos nach seiner Rettung zu einem Schutzflehenden des Zeus. Er erhielt einen vorteilhaften Götterspruch und kehrte von Olympia nach Korinth zurück, wo er zum Polemarchos aufstieg und mit Hilfe seiner Hetairie den Vorsteher des herrschenden Bakchiaden-Geschlechts tötete. Aufgrund seiner Beliebtheit erklärte das Volk ihn schließlich zum König. Auffällig ist, dass Kypselos in dem Werk nie als τύραννος, sondern immer als βασιλεύς bezeichnet wird. Fragment 58, in dem Periandros die Herrschaft gemäß Primogenitur erhält, legt sogar ein Königtum mit genealogischer Thronfolgeregelung nahe. Damit ist zu verbinden, dass Kypselos laut Universalgeschichte selbst Bakchiade (und damit ein Nachfahre des Herakles) ist. Insgesamt weist die Geschichte auf eine nachträgliche Anerkennung der Usurpation hin. Der Einfluss der kypselosfreundlichen Tradition geht vermutlich auf Ephoros zurück. Gegenüber der Version von Herodot gibt das Fragment des Nikolaos auch genauere Auskunft über die inneren Verhältnisse in Korinth. Um seine Machtposition zu sichern, soll Kypselos Feinde der Bakchiaden aus dem Exil zurückgeholt und die eigenen Gegner in neu gegründete Kolonien geschickt haben. Als Vorsteher der ἀποικίαι setzte er seine unehelichen Söhne ein, die keine Aussicht auf die Herrschaft in Korinth hatten. Die Konsolidierungsmaßnahmen und Gesetzgebung, die Nikolaos beschreibt, lassen sich durchaus in die aristokratischen Konflikte der archaischen Tyrannis einordnen und sollten nicht als Konstruktionen der hellenistischen Zeit verworfen werden. 84 Sicher hatte Nikolaos auch Bücher zu den Perserkriegen, der Pentekontaetie, dem Peloponnesischen Krieg und dem Alexanderzug verfasst, doch diese sind gänzlich verloren. Dafür finden sich mehrere kurze Fragmente über die Diadochen (F 90-93). Die Erwähnungen des Antigoniden Demetrios Poliortketes, der Seleukiden Antiochos IV. Epiphanes sowie Antiochos VII., und des Ptolemäers Ptolemaios IX. belegen, dass die Nachfolgereiche Alexanders ausführlich thematisiert wurden.   Zum Einfluss des Ödipusmythos auf die Kypselos-Geschichte vgl. Vernant (1982), dessen Deutung auf der Untersuchung von Lévi-Strauss (1958), S. 235-236 basiert. 82   Schmitz (2010c), S. 30-31; Schmitz (2014), S. 77-78. 83   Herodot widmet dem eigentlichen Umsturz in Korinth nur wenige Sätze, vgl. Hdt. 5,92ε. 84   Eine kritische Haltung gegenüber den Fragmenten des Nikolaos nimmt dagegen De Libero (1996), S. 137-177 ein. 81

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Der Wert der Textauszüge zur griechischen Geschichte liegt insbesondere in ihrer Singularität und Komplexität. Sofern Parallelüberlieferungen zu den Darstellungen des Nikolaos vorhanden sind, erweisen sich die Fragmente der Historien vielfach als ausführlicher. Nikolaos verfolgte den Anspruch, die gesamte Geschichte Griechenlands von ihren Anfängen darzustellen. Deswegen griff er auch auf griechische Mythen zurück, die er rationalisiert und in sein Werk eingebunden hat. Besonders wichtig erscheinen die Fragmente zur Rückkehr der Herakliden und zur archaischen Tyrannis, da sich den Überlieferungen Informationen über die frühen Poleis entnehmen lassen. Nikolaos griff für seine Bücher auf verschiedene Quellen zurück, doch die Parallelen zwischen herausragenden Herrschern legen eine Überarbeitung der Vorlagen durch den Autor nahe. Bei den Teilen zur griechischen Geschichte handelt es sich nicht um reine Kompilationen, indessen sind die Wahl der Quellen und die Endredaktion als eigene Verdienste des Nikolaos anzuführen. 2.3.2.  Wiederkehrende Motive 2.3.2.1.  Wechsel von Geschlechterrollen A. Einführung Neben größeren Zusammenhängen, die sich aus den Fragmenten des Nikolaos rekonstruieren lassen, eignen sich wiederkehrende Motive wie der Wechsel von Geschlechterrollen für eine Untersuchung. Um Auskunft über die übergeordnete Funktion des darstellerischen Mittels im Werk des Nikolaos zu erhalten, müssen die Belege aus ihrem jeweiligen Kontext gelöst und nebeneinandergestellt werden. Ein Überblick über Geschlechterrollendiskurse in der Antike bildet die Grundlage für eine solche Annäherung. 85 Schon im griechischen Mythos waren Geschlechterrollen ein wichtiges erzählerisches Element. Während Apollon Männern den vorzeitigen Tod brachte, übernahm seine Schwester Artemis, die Göttin der Jagd, die gleiche Aufgabe für Frauen. Beide schossen Pfeile auf ihre Opfer, wie Homer schreibt, und der Bogen 85   Einen guten Forschungsüberblick über die Themen Sexualität und Gender in der Antike gibt Karras (2000). Hilfreiche Überlegungen zu aktuellen Ansätzen der Geschlechterforschung in der Alten Geschichte bieten Schmitt Pantel / Späth (2007). Zu den Anfängen von Gender vgl. Holmes (2012). Zahlreiche Einzeluntersuchungen zu antiken Geschlechterrollen finden sich in den Sammelbänden Ulf / Rollinger (Hg.) (2000), McClure (Hg.) (2002) und Ulf / Rollinger (Hg.) (2002). Vgl. auch Scheer (2011) und den ausführlichen RAC-Artikel Herter (1959). Zum Aspekt Gender im klassischen Perserbild vgl. Hall (1993). Zu den Darstellungen von Ktesias und Nikolaos im Speziellen vgl. Auberger (1993) und Truschnegg (2011). Zuletzt hat Albrecht die Konstruktion von Männlichkeit bei Titus Livius untersucht, vgl. Albrecht (2016). Das Motiv der Geschlechtsumwandlung thematisiert Emberger (2014).

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war ihr gemeinsames Attribut. 86 Häufig wurde auch Athene, die Schutzgöttin der Stadt, mit einer Waffe dargestellt. 87 Als Besonderheit galten aber eher kriegerische Frauen, die eine menschliche Natur hatten. Homer schreibt in seiner Ilias mehrfach von den „männergleichen“ Amazonen. 88 Apollodor hebt in der Bibliotheke hervor, dass Deianeira, eine Frau des Herakles, den Wagen lenkte und Krieg führte. 89 Umgekehrt konnte es als ungewöhnlich gelten, wenn sich Männer nicht kriegerisch verhielten. Herakles wurde zugeschrieben, von seiner Frau Omphale „entwaffnet“ worden zu sein. Nach lateinischen Überlieferungen soll er sogar Garn gesponnen und damit eine „weibliche“ Gewohnheit übernommen haben. 90 Einer späten Tradition zufolge sei der junge Achill in seinem Versteck auf Skyros als Mädchen verkleidet worden, um seinen prophezeiten Tod vor Troja zu verhindern. Er wurde entdeckt, als er bei einem vorgetäuschten Angriff zur Waffe griff und sich damit wie ein Mann verhielt. 91 Herodot zufolge beklagte Xerxes in Anbetracht der Tapferkeit von Artemisia bei der Schlacht von Salamis, dass seine Männer zu Frauen und die Frauen zu Männern geworden seien. 92 Über die Ägypter berichtete der Geschichtsschreiber, dass es bei ihnen entgegengesetzte Verhaltensweisen von Männern und Frauen gebe. 93 Diese Vorstellung übernahm Sophokles in seiner Tragödie Ödipus auf Kolonos. 94 Bekannt ist das Motiv des Geschlechterrollenwechsels auch aus den Komödien des Aristophanes. Im Stück Θεσμοφοριάζουσαι gibt sich Mnesilochos als Frau aus, um für Euripides herauszufinden, was die Athenerinnen im Sinn haben. Das Werk Ἐκκλησιάζουσαι handelt wiederum von Frauen, die sich als Männer verkleiden, um die Herrschaft durch eine Abstimmung in der Volksversammlung auf die Frauen zu übertragen. Nach Plutarch sei Aspasia, die Frau des Perikles, in Komödien mit Omphale und Deianeira verglichen worden. 95 Plutarch selbst verglich die Beziehung des Marcus Antonius zu Kleopatra mit der von Herakles zu Omphale. 96 In der römischen Literatur ist Cato der Ältere hervorzuheben, der in seiner Schrift De agricultura ein Ideal des römischen Bauern konstruiert, aus dem der tapfere Mann und der tüchtige Krieger hervorgeht. 97 Cicero schreibt in seiner philosophischen Abhandlung Tusculanae Disputationes, dass es nichts Schändlicheres   Hom., Il. 24,606; Od. 11,172; 15,410; vgl. Tripp (2012), Art. Artemis, S. 101-103.   Tripp (2012), Art. Athene, S. 113-117. 88   Hom., Il. 3,189; 6,186. 89   Apollod., bibl. 1,64 (1,8,1). 90   Tripp (2012), Art. Omphale, S. 391. Zu den archäologischen Zeugnissen zum Mythos vgl. Schauenburg (1960). 91   Ov., met. 13,162-170; Stat., Ach. 1,689-880. 92   Hdt. 8,88. 93   Hdt. 2,35. 94   Soph., Oid. K. 337-341. 95   Plut., Per. 24,9. 96   Plut., Ant. 90,4 (Syn. 3,4). 97   Cato, agr. praef. 4. 86

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gebe als einen weibischen Mann [effeminatus uir]. 98 In der hellenistischen Historiographie fand das Thema Eingang in das Werk Diodors, der den Mythos von den kriegerischen Amazonen rezipierte. 99 Gemeinsam ist allen erwähnten Autoren das zweigeteilte Bild, dass besondere Verhaltensweisen zur Zuweisung einer anderen Geschlechterrolle führen können, wobei es entweder Mannhaftigkeit oder Weiblichkeit gibt. B.  Das Motiv bei Nikolaos Nikolaos berichtete in den ersten Büchern seines Werks von Personen, die Gewohnheiten des jeweils anderen Geschlechts übernommen haben. Vorlage für diese Teile zur assyrischen und medischen Geschichte war Ktesias. Den Historien zufolge führte Semiramis ein Heer an, sie zog in den Krieg und trat ihren Verschwörern entschlossen entgegen (F 1). Sardanapal blieb dagegen in seinem Palast, wo er sein Gesicht einschmierte und seine Augen schminkte. Ihm wurde angelastet, dass er keine Waffe anrührte und nicht auf die Jagd ging. Außerdem soll er sich nur mit παλλακίδες und Eunuchen umgeben haben (F 2-3). Das „mannhafte“ Verhalten der Semiramis erklärt in der Darstellung, wie sie an die Macht kommen konnte, und stellt gleichzeitig eine Kritik an den Assyrern dar, die sich einer Frau untergeordnet haben. Repräsentativ für den Verfall des ersten Weltreichs steht Sardanapal, dessen Rasur und Körperpflege als Ausdruck von Weiblichkeit betrachtet wurde. 100 Semantisch kommt sein Wechsel der Geschlechterrolle etwa durch die Zuschreibung eines weiblichen [γυναικεῖον] Charakters zum Ausdruck (F 2). Nachdem die Assyrer von einer virilen Königin bis nach Indien geführt worden waren, verloren sie unter einem femininen König ihre Macht. Mit dieser Geschichte konstruiert Nikolaos diskursiv ein Männlichkeitsideal und unterstreicht zugleich die Fremdheit der Assyrer, indem er den Geschlechterrollendiskurs wie Herodot in die Ferne projiziert. In Fragment 4, das der medischen Geschichte zuzuordnen ist, wird dem babylonischen Statthalter Nanaros zum Vorwurf, dass er prächtige Kleidung anziehe, Ohrringe habe, sich gründlich rasiere und Schminke auftrage. Er gilt als weibisch [γυναικώδης], schwach [ἄναλκις] und wird sogar als Mannweib [ἀνδρόγυνος] beleidigt. Der Perser Parsondes will ihn absetzen, doch er gerät selbst in die Hände des Statthalters und wird als Strafe für die Diffamierungen gezwungen, ein weibliches Aussehen und Verhalten zu übernehmen. Die Darstellung des Nanaros ist an die des Sardanapal angelehnt. Beiden wird Tapferkeit beziehungsweise Mannhaftigkeit [ἀνδρεῖα] abgesprochen. Nanaros sah seine Lebensweise aber wohl nicht als „weiblich“ an, immerhin hätte er die Maßnahmen gegen Parsondes sonst kaum als Entehrung betrachtet. In diesem Teil der Überlieferung wird klar, dass   Cic., Tusc. 3,36.   Diod. 2,45-46; 3,53-55; 4,16; 4,28. 100   Zur Körperpflege der Männer vgl. Frass (2002), S. 472-473. 98 99

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sich der Vorwurf der Weiblichkeit vor allem gegen die Dekadenz des Babyloniers richtet. Parsondes wird in der Gefangenschaft die Erscheinung auferlegt, die er Nanaros zugeschrieben hatte. Durch die Rasur des Bartes verliert der Perser ein sichtbares Attribut, das ihn von Frauen und Eunuchen unterscheidet. Es sind aber vor allem der Gesang und das Spielen der Kithara sowie der Leier, die den Geschlechterrollenwechsel zum Ausdruck bringen. Die große Schande, die mit seiner erzwungenen Veränderung verbunden wird, äußert sich darin, dass Parsondes nach seiner Befreiung begründen muss, warum er keinen Suizid begangen hat (F 4). Ähnlich wie Sardanapal und Nanaros fällt in den Historien Magnes von Smyrna aufgrund seiner Erscheinung auf. Der Geliebte des Lyders Gyges trägt purpurfarberne Kleidung und ein goldenes Haarband. Weil er sich bei den Magnesiern unbeliebt macht, wird er entkleidet und kahlgeschoren (F 62). Mit den Lydern wurde in der Antike vielfach Tryphe verbunden, die dem griechischen Ideal eines Mannes entgegenstand. In diesem Kontext lässt sich ein anderes Fragment des Nikolaos verstehen, nach dem der korinthische Machthaber Periandros die Söhne seiner Feinde zum Lyderkönig Alyattes schickte, um sie kastrieren zu lassen (F 59). Lydien erscheint hier als Ort der „Entmannung“. Den Diskursen über Geschlechterrollenwechsel ist auch die Geschichte von Stryangaios und Zarinaia zuzuordnen. Die Königin der Saken zeigt „männliche“ Tugenden wie Vernunft und Besonnenheit, indem sie die Annäherungsversuche des Stryangaios zurückweist und ihn dazu auffordert, sich als Mann zu erweisen [ἀνδρίζεσθαι]. Stryangaios bleibt nicht standhaft, sondern er vertraut sich einem Eunuchen an und beschließt, Suizid zu begehen (F 5). Zarinaia hat mit der Assyrerkönigin Semiramis gemeinsam, dass sie den Männern in ihrer Umgebung überlegen ist. Beide vermeiden Liebesbeziehung, um ihre Machtposition nicht zu gefährden. Als Herrscherin wird in der Universalgeschichte auch Hypsipyle von Lemnos erwähnt, die nur mit Iason schläft, um ein Kind zu zeugen (F 11). Dass die Herrschaft einer Frau bei Nikolaos abgelehnt wird, lässt sich aus der Kritik des Eunuchen Satibaras ableiten, der Semiramis vorwirft, zügellos [ἀκόλαστος] zu sein (F 1). Eunuchen sind mit dem Thema zu verbinden, weil sie weder als vollwertige Männer noch als Frauen galten. Schon Polybios hatte in seinem Geschichtswerk angedeutet, dass Eunuchen in der Regel nicht sehr mannhaft seien. 101 Die Fragmente der Universalgeschichte legen nahe, dass Eunuchen die Herrschaft in Gefahr bringen können. Mehrfach sind sie aktiv an Intrigen wie der Verschwörung gegen Semiramis beteiligt (F 1). Parsondes wird durch die Hilfe eines Eunuchen aus der Gefangenschaft befreit. Letztlich verhindert aber der mächtige Eunuch Mitraphernes durch eine Bestechung seine Rache (F 4). Auffällig ist, dass sich insbesondere die Eunuchen als unzuverlässig erweisen, denen der  Nach Polyb. 22,22 stellte der Eunuch Aristonikos eine Ausnahme unter den Eunuchen dar. 101

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König großes Vertrauen schenkt. Arbakes schafft es mit einem Eunuchen aus der Gruppe der πιστότατοι, in Sardanapals Nähe zu kommen, um diesen zu stürzen (F 3). Kyros kann den Aufstand gegen die Meder vorbereiten, weil ihm aufgrund der Fürsprache eines Eunuchen erlaubt wird, den Hof zu verlassen (F 66). Sicher steht das negative Bild der Eunuchen damit in Zusammenhang, dass sie Sklaven sind, wie aus der Rede der Semiramis deutlich wird (F 1). Ursprünglich galten Eunuchen als vertrauenswürdig, weil sie ohne Nachkommen nur geringe Ambitionen auf eine Herrschaftsübernahme hatten. Die Fragmente des Nikolaos zeigen aber, dass sie durchaus Eigeninteressen verfolgen konnten, wie an der Adoption des Kyros durch den Eunuchen Artembares deutlich wird (F 66). Mehrfach ermöglichen Eunuchen in der Universalgeschichte die Usurpation „wahrer Männer“. 102 Die Bedeutung des Geschlechterrollendiskurses geht auch aus der Sammlung des Nikolaos über besondere Völkersitten hervor. So berichtet der Autor von matriarchalischen Strukturen bei den Lykiern (F 103k) und von einer nach Geschlechtern getrennten Herrschaft bei den Byaiern (F 103n). In den Historien stehen die „männlichen“ Frauen und „weiblichen“ Männer symbolisch für eine Verkehrung der Verhältnisse. Hinter den Vorwürfen der Weiblichkeit verbirgt sich eine Tryphe-Kritik, die sich gegen eine dekadente Lebensweise richtet. Männer, die von ihrer Geschlechterrolle abweichen, gelten bei Nikolaos als „verweichlicht“. Die Verortung des Phänomens in entfernten Gebieten betont die Fremdheit der jeweiligen Völker. Durch die Darstellung „männlicher“ Männer wie Arbakes wird ein Idealbild des Mannes gezeichnet (F 2-3). Ein Vergleich der dargelegten Quellenstellen zeigt, dass der Tausch der Geschlechterrolle vielfach in die Vorgeschichte von Usurpationen eingebunden ist. Das Motiv erfüllt also die Funktion, Machtwechsel vorauszusagen und zu rechtfertigen. Zur Deutung der Textpassagen als Zeichen für Dekadenz passt, dass Nikolaos in seiner römischen Geschichte das Jahr 63 v. Chr. als Zäsur betrachtete. 103 Der Autor führte nämlich den Niedergang Roms darauf zurück, dass Lucullus nach seiner siegreichen Rückkehr aus dem Dritten Mithridatischen Krieg Schwelgerei und Pracht in die Stadt einführte (F 77). 2.3.2.2.  Vorzeichen und Orakel A. Einführung Bei Nikolaos werden Ereignisse und Sprüche erwähnt, die die Erlangung von Kenntnissen über die Zukunft ermöglicht haben sollen. Derartigen Phänomenen ist in der Antike eine besondere Bedeutung beigemessen worden, weil sie als   Nach Guyot seien die Eunuchen „durchweg in fiktive Erzählungen eingebettet, so daß höchstens die Erinnerung an die Existenz des Hofeunuchentums bei den medischen Königen als historisch gelten kann“, vgl. Guyot (1980), S. 83. Zu den Eunuchen bei Ktesias, der eine wichtige Quelle des Nikolaos war, vgl. Lenfant (2012). 103   Alonso-Núñez (1995), S. 10. 102



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Botschaften der Götter verstanden wurden. 104 Die Verbindung zwischen Göttern und Menschen kommt in den antiken Quellen auf verschiedene Weise zustande. In Bezug auf die Form der Kommunikation lässt sich eine Unterscheidung zwischen Orakeln und Vorzeichen vornehmen. Als Orakel werden sprachlich verfasste Götterbotschaften verstanden, während Vorzeichen symbolische, also nichtsprachliche, Manifestationen der Götter sind. 105 Der Erkundung des göttlichen Willens diente die Divination, die meist von Experten durchgeführt wurde, um den Menschen bei ihrer Entscheidungsfindung zu helfen. In der griechischen Literatur waren Zukunftsvorhersagen auf Basis von Orakeln und Vorzeichen ein wichtiges narratives Mittel. 106 Schon bei Homer gab es eine Reihe göttlicher Botschaften, unter denen besonders der Vogelflug hervorragt. Beachtenswert ist etwa die Diskussion des Polydamas mit Hektor, wie das Erscheinen eines Adlers zu deuten sei, der eine Schlange fallen ließ. 107 Häufig ist die Bedeutung von Vorzeichen unklar, sodass ihr Sinn erst rückblickend erfasst wird. Dieses Motiv stellte der Geschichtsschreiber Herodot ins Zentrum seines Werks: Der Lyderkönig Kroisos führte seinen eigenen Untergang herbei, weil er die Sprüche der Pythia falsch interpretierte und einen Feldzug gegen die Perser begann. 108 Als Vorzeichen deutet Herodot auch Träume wie die des Perserkönigs Xerxes, die einerseits Warnungen geben, andererseits aber das Unglück durch die Beachtung der Zeichen erst anziehen. 109 Zukunftsvorhersagen und Divinationstechniken wurden in den hellenistischen Schriften noch stärker zu handlungstragenden Elementen. 110 Apollonios von Rhodos schreibt, dass Euphemos eine Erdscholle wegen eines Traums und einer Prophezeiung ins Meer warf, worauf die Insel Thera entstand. Anschließend wird in den Argonautika das Schicksal der Nachkommen von Euphemos geschildert. 111 Der Erzähler versetzt sich also in die Zeit der epischen Handlung 104   Zu Götterzeichen und Orakeln im antiken Griechenland vgl. Klees (1965); Parker (2000); Trampedach (2015). Zu Vorzeichen bei den Römern vgl. Rosenberger (1998); Engels (2007). 105   Trampedach (2015), S. 14-15. Nach Trampedach lässt sich auch unterscheiden, ob die Kommunikation vom Menschen ausgeht („provoziert“), oder von den Göttern („spontan“). Eine weitere Differenzierung richtet sich danach, ob Götterbotschaften durch Inspiration oder durch Beobachtung und Deutung gewonnen werden. Für Abgrenzungen und Definitionen vgl. auch Engels (2007), S. 38-59. In der Antike hatte schon Cicero eine Systematisierung der Wahrsagung vorgenommen (Cic., div. 1,109-110; 2,26). 106   Zur Funktion von Zukunftsvorhersagen in der antiken Literatur vgl. Brodersen (Hg.) (2001). Speziell zur griechischen Epik vgl. Th. Schmitz (2005). 107   Hom., Il. 12,200-250. 108   Hdt. 1,53; 55. Zur Funktion der Orakel bei Herodot vgl. Kirchberg (1965); Hollmann (2011), S. 94-117; Will (2015), S. 97-100; Kindt (2016), S. 16-54. Zur Religion bei Herodot im Allgemeinen vgl. Harrison (2000). 109   Zu den Träumen bei Herodot vgl. Frisch (1968); Hollmann (2011), S. 75-93; Will (2015), S. 92-96. Speziell zu den Träumen des Xerxes vgl. Roettig (2010). Zu Träumen im Prinzipat und in der Spätantike vgl. Weber (2000). 110   Th. Schmitz (2005), S. 115. 111   Apoll. Rhod. 4,1731-1764.

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zurück und blickt von dort in die Zukunft. 112 Das gleiche Motiv findet sich bei Vergil, der in der prophetischen Rede des Anchises die Entstehung Roms und die Entwicklung der Stadt vorwegnimmt. 113 Auch in der Historiographie stellten Vorzeichen ein wichtiges Erzählelement dar. In ihren Abhandlungen zur römischen Königszeit berichten Dionysios von Halikarnassos und Livius, dass Romulus und Remus aufgrund ihrer Gleichaltrigkeit über die Beobachtung der Vögel bestimmen wollten, wer die neu gegründete Stadt regieren solle. Da sich Remus auf die frühere Sichtung, Romulus aber auf die Anzahl der Vögel berief, war selbst dann nicht zu entscheiden, wer den Vorrang hatte. Der Konflikt führte zu einem Gewaltausbruch, der bewusst an den Anfang der römischen Geschichte gestellt wurde. 114 Im gleichen Zeitraum wie Livius und Dionysios verfasste Nikolaos seine Universalgeschichte, in der plötzliche Naturerscheinungen, besondere Begegnungen, Träume und Orakel vorkommen. Durch eine Untersuchung der Quellenpassagen können Schlussfolgerungen über die Funktion der Motive und die Darstellungsweise des Autors gezogen werden. B.  Das Motiv bei Nikolaos In seiner lydischen Geschichte schreibt Nikolaos, dass sich zwei überaus große Adler auf das Gemach der Königsbraut setzten, als sie von Gyges abgeholt wurde. Die Bedeutung dieser verschlüsselten Botschaft, die aus keiner anderen Quelle bekannt ist, wird von Experten erklärt: Nach Deutung der Seher [μάντεις] kündigten die Vögel einen Umsturz in der Hochzeitsnacht an (F 47 § 6). Das märchenhafte Motiv nimmt in der Darstellung das weitere Geschehen vorweg, ohne dass es konkret zu erfassen ist. Dies ruft Erwartungen der Leser hervor und erhöht die Spannung der Geschichte. Tatsächlich erfüllt sich die Voraussage, denn Gyges tötet den König und heiratet dessen Braut. Der folgende Handlungsverlauf legt nahe, dass es sich bei dem Erscheinen der Vögel um eine nachträgliche Legitimierung des Machtwechsels handelt: Die Lyder schickten eine Gesandtschaft nach Delphi, um das Orakel zu fragen, ob sie Gyges als König einsetzen sollten, und sie erhielten eine positive Antwort (F 47 § 10). Künftige Entwicklungen werden bei Nikolaos auch aus anderen Ereignissen abgeleitet. Den Historien zufolge träumte der Babylonier Belesys davon, dass ein Pferd Stroh zum Statthalter Arbakes trage. Da Belesys den Traum als Zeichen für eine Machtübernahme des Meders deutete, sicherte er sich durch seinen Beistand ein hohes Amt unter der neuen Herrschaft (F 3). Ein zentrales Element ist hier der Wissensunterschied zwischen den Personen: Belesys beherrscht eine besondere Deutungskunst, die auf seine chaldäische Herkunft zurückgeführt wird, und er kommt zu Erkenntnissen, die Arbakes vorerst verborgen bleiben.   Th. Schmitz (2005), S. 115.   Verg., Aen. 6,752-886. 114   Liv. 1,6,4-1,7,1; Dion. Hal., ant. 1,86-87. 112 113

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Durch Verhandlungen über die künftige Position des Belesys wird der Moment hinausgezögert, in dem das Wissen mit Arbakes geteilt wird. Einen ersten Wendepunkt der Geschichte bildet schließlich die Überraschung des Meders über das Vorzeichen und seine Auslegung. Als Erzählelement dient der Traum also der Unterhaltung, und innerhalb der Handlung erklärt er, wie es zum Bund gegen die assyrische Herrschaft kam. 115 Dass Träumen eine große Bedeutung beigemessen wurde, äußert sich ebenso in dem Fragment über den Aufstieg des Kyros (F 66). Die Mutter des Persers, die sich in der Zeit ihrer Schwangerschaft in ein Heiligtum gelegt hatte, glaubte im Schlaf, so viel zu urinieren, dass ein Strom Asien überschwemme. Auch in dieser Überlieferung wird ein Babylonier zurate gezogen, der erklärt, was es mit der Erscheinung auf sich hat (§ 9). Durch den Traum, der die Herrschaft des Kyros voraussagt, wird die Machtübernahme des Persers gezielt an die des Meders Arbakes angelehnt (F 3). 116 Zukunftsvorhersagen und Reaktionen auf Götterbotschaften scheinen aber auch sonst das zentrale Motiv der Kyros-Geschichte zu bilden. Nikolaos zufolge begegnete Kyros zufällig einem Landsmann namens Oibaras, dessen Name und Tätigkeit als Zeichen für Reichtum und Macht gedeutet wurden. Deswegen nahm Kyros den Mann zu sich und förderte ihn (F 66 § 13-14). Später brachte Kyros ein Opfer dar, worauf es von rechts blitzte und glückverheißende Vögel erschienen (§ 41). Der Umstand, dass sich das Opfer am Haus seines Vaters abspielt, ist ebenso wie die schnelle Verneigung des Kyros als Zeichen seiner Pietas zu verstehen. Infolge der Erscheinung gewannen die Perser Mut und setzten ihre Anstrengungen im Kampf um die Freiheit fort. Völlig anders zeichnet Nikolaos das Bild des Mederkönigs Astyages. Als dieser bei einem abendlichen Gelage einen Gesang über einen Löwen und einen Eber hörte, bezog er die Fabel auf sich und Kyros. Im Gegensatz zum Perser unterwarf sich Astyages dem göttlichen Willen nicht, sondern er versuchte, das Schicksal aufzuhalten, indem er seine Reiter gegen Kyros aussandte (§ 26). Dies beschleunigte aber nur den Eintritt der Prophezeiung und führte schließlich zum Untergang des Astyages. Vielfach berufen sich in den Historien Personen auf Zukunftsvorhersagen eines Orakels. Nikolaos zufolge vertraute Temenos von Argos seiner Tochter Hyrnetho und ihrem Mann Deïphontes besondere Weissagungen an, bevor er starb. Das Wohl der Herakliden hing von diesen Orakelsprüchen ab, da sie den Kriegsverlauf voraussagten (F 30). Die Nachkommen des Leodamas von Milet erhielten die Prophezeiung, dass sie im Kampf gegen Amphitres Unterstützung aus Phrygien bekämen. Als Onnes und Tottes mit Heiligtümern des Kabeiroi-Kultes zu ihnen kamen, konnten sich die Gegner des Amphitres auf göttliches Wohlwollen berufen (F 52). Über den Spartaner Lykurg wurde wiederum behauptet, dass er   Zum Traum des Belesys vgl. Weber (2000), S. 175-176.   Zu den Träumen in der Geschichte von Astyages, Mandane und Kyros vgl. Weber (2000), S. 139-140. 115 116

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für seine Gesetze göttlichen Rat eingeholt habe (F 56). Nikolaos kennt auch das berühmte Motiv, dass ein Orakelspruch missverstanden wird. Wie bei Herodot bittet der gefangene Lyderkönig Kroisos in der Universalgeschichte darum, seine Fußfesseln nach Delphi schicken zu dürfen, um den Gott zu fragen, warum er ihn betrogen habe (F 68 § 13). Sein Machtverlust wird damit erklärt, dass der König die Prophezeiungen aufgrund seiner Verblendung falsch gedeutet habe. 117 Das Orakel von Delphi kommt noch in weiteren Fragmenten vor (F 8; 47; 57). Auch im Geschichtswerk des Nikolaos wird die Bedeutung des Kultzentrums also deutlich. 118 Mit dem Glauben an Prophezeiungen verknüpft der Autor das Motiv, dass Frömmigkeit von den Göttern belohnt werde. Den Historien zufolge forderten Onnes und Tottes die Gegner des Amphitres dazu auf, ein Opfer nach althergebrachten Sitten darzubringen, wodurch sie den Sieg über Amphitres ermöglichten (F 52). Die Spartaner brachten jedes Jahr ein Opfer für Lykurg dar und behielten für 500 Jahre ihre Hegemonie in Griechenland (F 56). Außerdem rief Kroisos auf dem Scheiterhaufen Apollon an, der ihn vor der drohenden Verbrennung rettete (F 68). Dass das vorausgesagte Schicksal unumgänglich ist, demonstrieren insbesondere die Versuche der Kindstötung. Mehrfach soll in der Universalgeschichte ein Neugeborenes sterben, um prophezeite Machtübernamen zu verhindern. Da sich die Könige nicht durch eigenhändige Tötung mit einer Blutschuld beladen wollen, kommt es zur Aussetzung, die schon in den frühesten Quellen erwähnt wird und in engem Zusammenhang mit Vorzeichen steht. 119 Nikolaos zufolge habe Laios von Theben seinen Sohn Ödipus am Kithairon ausgesetzt, weil ihm die Tötung des Vaters und die Heirat mit der Mutter vorausgesagt worden war. Die Maßnahme führt aber erst zur Erfüllung des Schicksals, denn Ödipus wird gerettet und tötet Jahre später Laios im Streit (F 8). Ebenfalls am Kithairon wurden nach den Historien die Zwillinge Amphion und Zethos ausgesetzt (F 7). Als die Brüder herangewachsen waren, töteten sie Lykos und Dirke, die für das Leid ihrer Familie verantwortlich waren. Neben Amphion und Zethos sind auch andere Zwillinge wie Romulus und Remus dafür bekannt, ausgesetzt worden zu sein. 120 Außerdem kommen in den Fragmenten des Nikolaos Semiramis und Herakles vor, die den Parallelüberlieferungen zufolge ausgesetzt worden waren (F 1; 13). Vor allem aus der Geschichte des Kypselos geht hervor, dass das Motiv der drohenden Kindstötung eine legitimatorische Funktion erfüllt. Aufgrund eines Orakelspruchs versuchten die korinthischen Bakchiaden, ihn als Kleinkind zu töten. Die Soldaten bekamen allerdings Mitleid und verschonten den Jungen. Als Kypselos später zu hohem Ansehen kam und das Amt des Polemarchos   Wesselmann (2011), S. 202.   Zum Orakel von Delphi vgl. Fontenrose (1978); Price (1985); Scott (2014). 119   Zum Aussetzungsmythos vgl. Oswald (1997); Wesselmann (2011), S. 201-226. 120   Speziell zu Zwillingen in Aussetzungsmythen vgl. Binder (1964), S. 73-77; 146149. 117 118

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bekleidete, berief er sich auf den früheren Orakelspruch und übernahm die Herrschaft (F 57). Nikolaos berichtet weiterhin von Versuchen, Nachkommen früherer Herrscher zu ermorden. Nach den Historien brachte Aigisthos König Agamemnon um und stellte anschließend seinem Sohn Orestes nach (F 25). Die Dorer stürzten den messenischen Herrscher Kresphontes und beseitigten zwei seiner Kinder (F 31). Der milesische Tyrann Amphitres wollte nach seiner Machtübernahme die Kinder des Leodamas töten, da sie rechtmäßigen Anspruch auf den Thron hatten (F 52). Mehrere Usurpatoren bemühen sich also darum, eine Rückkehr des alten Herrschergeschlechts durch Kindstötungen zu verhindern, doch stets überlebt ein Königssohn, der das Erbe seines Vaters antritt. Alles in allem ist festzustellen, dass Vorzeichen und Orakel ein wichtiges Element in den Darstellungen des Nikolaos bilden, da ihre Erwähnungen vielfach mit den Spannungshöhepunkten verknüpft sind. Sie sind aber nicht nur ein Mittel der Unterhaltung, sondern haben eine legitimierende Funktion: Dass mehrere Machtwechsel durch Prophezeiungen vorausgesagt werden, weist auf eine nachträgliche Konstruktion zur Rechtfertigung von Usurpationen hin. Deutlich wird dies vor allem am Motiv der Aussetzung von Kindern, die auf wundersame Weise gerettet werden und Jahre später ihr Schicksal erfüllen, indem sie die Herrschaft übernehmen. Aus den Maßnahmen der Könige gegen die Kinder lässt sich eine Tyrannenkritik ableiten. Umgekehrt erscheinen positive Reaktionen auf Vorzeichen, wie die Proskynese des Kyros (F 66 § 41), als Zeichen der Frömmigkeit, die den Machtanspruch stützt. Zukunftsvorhersagen stellen auch intratextuelle Bezüge her, wie an den Träumen des Belesys (F 3) und der Argoste (F 66 § 9) deutlich wird. Einige Belege, wie die Orakelsprüche für Gyges und Kroisos, sind auf die Vorlagen des Nikolaos zurückzuführen. Andere Motive wie die Strafmaßnahmen des Daimons gegen ungerechte Menschen (F 38; 79; 95) gehen wohl auf den Autor der Universalgeschichte zurück. Seine Vorstellung vom Einfluss der Götter ist mit seiner Zugehörigkeit zum Peripatos zu verbinden. 121 2.3.3.  Theoretische Ansätze 2.3.3.1.  Normen und Sanktionen A. Einführung Soziale Normen geben Einstellungs- und Handlungsorientierungen vor, die im Sozialisationsprozess internalisiert werden und von überindividueller Gültigkeit sind. Einerseits dienen sie der Entlastung des Individuums, indem sie die Suche nach situationsgerechten Handlungen erleichtern und die Erwartungssicherheit erhöhen, andererseits üben sie Zwang und soziale Kontrolle aus, indem sie   So ging etwa Herakleides Pontikos, der einige Lehren des Peripatos teilte, davon aus, dass die Götter über das sittliche Verhalten der Menschen wachten, vgl. Wehrli (2000), S. 468. 121

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Handlungsmöglichkeiten einschränken und den Bezugspunkt für die Bestimmung konformen und abweichenden Verhaltens bilden. Als soziale Konstrukte sind Normen die Grundlage aller sozialen Handlungen und Beziehungen. Das Gegenstück zur Norm bildet die Sanktion, die eine Replik der sozialen Gruppe auf das Handeln des Einzelnen ist. Die Einhaltung von Normen wird durch materielle und immaterielle Gratifikationen positiv sanktioniert, während im Übertretungsfall negative Sanktionen durch Zurechtweisungen erfolgen. Sanktionen fördern die soziale Integration und halten das Normensystem aufrecht, weil sie vor Augen führen, was zu befürworten und was abzulehnen ist. Soziale Normen und Sanktionen bedingen sich gegenseitig, denn die Gültigkeit einer Norm wird erst durch die Abweichung davon ins Bewusstsein gerufen. Würden alle Normen befolgt werden, so gäbe es keine Devianz und damit weder Normen noch Sanktionen. Normbrüche sind also nicht nur negativ zu betrachten, sondern sie können durchaus funktional sein. 122 Eine Norm-Sanktion-Konstellation besteht in der Regel aus Normensetzern, Normensendern, Normenadressaten, Normenbenefiziaren, Sanktionssubjekten und Sanktionsobjekten. 123 Normen werden nach dem Grad ihrer Institutionalisierung, ihrer Verbindlichkeit und Sanktionsstärke, der Allgemeinheit ihres Geltungsanspruchs, ihrer Verwirklichung, ihrer Herkunft, sowie nach dem Bewusstsein, mit dem sie in der einzelnen Handlung präsent sind, klassifiziert. Zum System der Normen gehören auch Bräuche und Sitten, also verbreitete und anerkannte Gewohnheiten, deren Einhaltung in unterschiedlichem Maße gefördert und gefordert wird. 124 B.  Normen und Sanktionen in der Geschichte Für die Geschichtsforschung haben Normen eine besondere Relevanz, weil sie Aufschluss über soziale Ordnungen der Vergangenheit geben. 125 Schon in den frühesten Zeugnissen äußerten sich Vorstellungen von Normen; immerhin erfüllte 122   Die hier verwendete Definition geht auf Lucke (2014), S. 339 zurück, der dem interpretativen Paradigma folgt, nach dem Normen „handlungsleitende oder Einstellungen kanalisierende Funktionen“ besitzen. Peuckert (2001), S. 255 vertritt dagegen das normative Paradigma, nach dem die Norm als „mehr oder weniger verbindliche, allgemein geltende Vorschrift für menschliches Handeln“ definiert ist. Der umfassenden Bedeutung von „Sanktion“ weicht im Allgemeinen häufig ein rein negatives Verständnis als Mittel der Zurechtweisung, um Normkonformität zu erzwingen. Einen Überblick über verschiedene Normentheorien bieten Korthals-Beyerlein (1979), S. 60-74 und Opp (2000); vgl. auch Cohen (1968) und Lautmann (1971). Viele grundlegende Überlegungen stammen von Popitz (1980); Popitz (2006), S. 61-75. Zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen Normen und sozialem Verhalten vgl. Haller (1987) und Biebeler (2000). Zwei empirische Studien zum Sanktionsmechanismus bietet Spittler (1967). 123   Lucke (2014), S. 338. 124   Peuckert (2001), S. 256-257. 125  Zu theoretischen Überlegungen im Zuge altertumswissenschaftlicher Untersuchungen vgl. Schmitz (2004), S. 259-260 und Lundgreen (2011), S. 29-51.

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der Mythos in archaischer Zeit die Funktion, sie zu tradieren. Eigene Normen konnten durch die Konstruktion von „Gegenwelten“ zum Ausdruck gebracht werden, wie Homers Erwähnungen der Amazonen belegen, die durch ihr „männergleiches“ Verhalten eine Besonderheit darstellten. 126 Von Anfang an zeigten auch die Geschichtsschreiber Interesse an Normen. Herodot schrieb in seinen Historien, dass alle Völker ihre eigene Lebensart für die beste hielten, und führte als Beweis dafür eine Darstellung der unterschiedlichen Bestattungsweisen bei Hellenen und Indern an. 127 Ktesias thematisierte in den Persika die Verhältnisse am persischen Königshof und Xenophon berichtete in der Anabasis über Griechen, die sich gegen eine Übermacht feindseliger Barbaren behaupten mussten. Beide förderten durch ihre Darstellungen von Alterität eine Identifikation mit griechischen Normen. In hellenistischer Zeit beschäftigte sich Polybios mit der Verfassung und den Sitten der Römer, um ihre Herrschaft über weite Teile des Erdkreises zu erklären. 128 Normen wurden nun in Zusammenhang mit einem komplexen historischen Prozess gebracht. Die Universalhistoriker des ersten Jahrhunderts v. Chr. kombinierten für ihre strukturellen Betrachtungen ausgewählte Inhalte verschiedener Vorlagen. Sie waren also von den Intentionen früherer Verfasser abhängig, konnten aber durch die Selektion der Quellen individuelle Akzente setzen. 129 Da jede Tradierung auf eine Entscheidung des jeweiligen Autors zurückgeht, ist den Geschichtswerken auch zu entnehmen, welche Normen als wichtig erachtet wurden. Dass Nikolaos von Damaskus ein großes Interesse an Normen hatte, wird an seiner Sammlung besonderer Völkersitten deutlich. In Anbetracht dessen, dass er von Herodes zum Verfassen der Universalgeschichte angeregt wurde, lässt sich vermuten, dass er einen didaktischen Anspruch verfolgte, der eine Vermittlung von Normen implizierte. C.  Normen und Sanktionen bei Nikolaos Einige Textauszüge lassen auf eine normative Konstruktion von Herrschaft schließen. Nikolaos begründet den Sturz des assyrischen Königs Sardanapal damit, dass dieser in seinem Palast blieb und „weibliche Gewohnheiten“ annahm, statt an Kriegs- und Jagdzügen teilzunehmen. Der Autor stellt sein Verhalten explizit als Normbruch dar, indem er schreibt, dass Sardanapal nicht wie die früheren Könige handelte [οὐχ … ὥσπερ οἱ πάλαι βασιλεῖς]. Außerdem wird die Devianz durch den Verweis auf die früheren Bestimmungen angedeutet [τὰ πρότερον συντεταγμένα], die nicht von Sardanapal stammten. Den Historien zufolge ging die Herrschaft auf Arbakes über, der anders als der König an Unternehmungen   Hom., Il. 3,189; 6,186.   Hdt. 3,38; vgl. Lundgreen (2011), S. 32. 128   Der Autor macht schon zu Anfang seines Werks auf die Relevanz des Themas aufmerksam, vgl. Polyb. 1,1,5. 129   Rathmann (2016), S. 14. 126 127

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erfahren war (F 2-3). Offensichtlich konnte von Mitgliedern der Oberschicht die Anwendung physischer Gewalt gefordert werden, wobei selbst Herrscher der Verhaltenserwartung unterworfen waren. Abweichungen von der normierten Handlungsweise rechtfertigten eine Entmachtung, während Normkonformität einer Machtübernahme Legitimität verlieh. Dass das Erlegen wilder Tiere positiv sanktioniert wurde, legen auch Erwähnungen über Bellerophon (F 9), Herakles (F 13) sowie über den Perser Parsondes (F 4) und den Lyder Gyges (F 47) nahe. Mehreren Machthabern wird in Hinsicht auf ihr Sexualverhalten Maßlosigkeit, also eine Überschreitung der Normen, angelastet. Laut Universalgeschichte schlief die assyrische Königin Semiramis täglich mit jungen Männern (F 1); Periandros verkehrte mit der Leiche seiner Frau (F 58); Myron von Sikyon vergewaltigte unverhohlen Frauen und beging sogar Ehebruch mit seiner Schwägerin (F 61), und der Lyderkönig Sadyattes schändete seine Schwester, die verheiratet war, bevor er sie zu seiner eigenen Frau machte und dann zwei weitere Frauen heiratete, die Schwestern waren (F 63). Auffällig ist, dass einigen Personen in den Historien das Streben nach Inzest zugeschrieben wird: Oinomaos, der König von Pisa, ließ seine Tochter Hippodameia nicht heiraten, weil er sie selbst begehrte (F 10); Piasos liebte seine Tochter Larisa und hatte Geschlechtsverkehr mit ihr (F 12); und Salmoneus liebte seine Tochter und wollte sie heiraten (F 21). Die Verurteilung inzestuöser Beziehungen lässt sich daraus ableiten, dass Piasos gestürzt wird, Larisa ihren Vater ermordet und die Tochter des Salmoneus Suizid begeht, um der Schande zu entgehen. Anscheinend bestand ein Interesse an Darstellungen sexueller Devianz und ihrer negativen Folgen. Bestimmte Normvorstellungen in Bezug auf Ehe und Sexualität waren vielerorts auch gesetzlich verankert worden. 130 Wie an mehreren Stellen der Universalgeschichte deutlich wird, hing das Schicksal eines Reiches von der Bewahrung der Normen ab. So erklärt der Autor die 500 Jahre währende Hegemonie Spartas mit der Einhaltung der unter Lykurg festgelegten νόμοι (F 56). Im Umkehrschluss führte die Abweichung von den kodifizierten Rechtsnormen also zum Niedergang der Polis. Die Erwähnungen von Achaimenes, Moses und Minos lassen vermuten, dass auch am Anfang anderer Reiche Heroen oder Gesetzgeber standen, auf die die jeweilige soziale Ordnung zurückgeführt wurde (F 6; 72; 103aa). Dass Normkonformität in den Historien sogar über dem Prinzip der genealogischen Thronfolge steht, hatte schon die Entmachtung Sardanapals gezeigt (F 2-3). In einer Darstellung der Geschichte Arkadiens ist zu lesen, dass sich König Lykaon an die Vorschriften seines Vaters in Bezug auf die Gerechtigkeit [δικαιοσύνη] hielt. Die Söhne Lykaons begingen aber einen Frevel, indem sie das Fleisch eines Kindes mit dem von Opfertieren vermengten, um die Anwesenheit 130   So hatte etwa Solon in Athen die Ehe unter Vollgeschwistern verboten, vgl. Phil., De spec. leg. 3,22. Zur Heirat und Ehe im klassischen Athen, Sparta und hellenistischen Griechenland vgl. Schmitz (2007), S. 27-31; 48-52; 59-62.



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von Zeus zu prüfen. Für diese Tat wurden sie vom Daimon mit Blitzen erschlagen (F 38). Nikolaos führt hier einen historischen Umbruch auf die Devianz von Lykaons normierter Ordnung zurück. Die Königssöhne fordern Lykaon und den Gott heraus, indem sie einen Fall von Kannibalismus vorbereiten, also den Verzehr eines Wesens der gleichen Art mit gleichen Empfindungen. Mit einer solchen Handlung, für die sich bei Nikolaos noch ein weiterer Beleg findet (F 22), verstoßen sie gegen grundlegende Bedingungen für soziale Beziehungen. 131 Der Normbruch führt unvermeidbar zum Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft, weil eine Reintegration der Söhne unmöglich erscheint. Dass die Sanktionierung von Zeus selbst vollzogen wird, ruft den Grad der Devianz ins Bewusstsein. Die Geschichte, die auf eine längst vergangene Zeit projiziert wird, damit sie weniger unglaubwürdig erscheint, weist diskursiv auf den Stellenwert sozialer Normen hin. Der Umgang mit Normen bietet auch ein geeignetes Modell zur Interpretation der Kroisos-Geschichte (F 68). Der Lyderkönig hielt sich für den glücklichsten Menschen, er legte einen Orakelspruch fälschlicherweise zu seinen Gunsten aus und wagte es, die Perser anzugreifen. Weil Kroisos in seiner Verblendung meinte, über den Normen zu stehen, hörte er nicht auf die Warnungen des weisen Solon. Die Überquerung des Flusses Halys, der die natürliche Grenze des Lyderreiches bildete, führt in der Geschichte die Normtransgression des Königs bildlich vor Augen. Sein Handeln ist als Hybris, also als Form maßlosen Verhaltens, zu verstehen. Jenseits einer Norm stehen aus griechischer Perspektive aber auch die Untertanen des Königs. Nikolaos zufolge weinten die Lyder, als die Perser den gefangenen Kroisos zu seiner Hinrichtungsstätte brachten, sie schlugen sich auf die Köpfe und zerrissen sich die Kleidung (§ 3). Einige rissen sich sogar ihre Haare aus und warfen Gewänder sowie Schmuck auf den Scheiterhaufen (§ 7). Die Lyder kennen in der Darstellung kein Maß, denn ihre Trauer wirkt – anders als in den griechischen Poleis, in denen der Ausdruck von Emotionen reguliert war – grenzenlos. 132 Die Geschichte, die von allen Parallelüberlieferungen abweicht, geht auf Nikolaos selbst zurück und soll durch die besondere Anteilnahme der Lyder die Fremdheit des Volkes unterstreichen. Gleichzeitig wird durch die Darstellung von Alterität normkonformes Verhalten durch eine Mäßigung der Gefühle eingefordert. Das wichtigste Kriterium, an dem Normkonformität deutlich wird, ist seit den Anfängen der griechischen Literatur die Gastfreundschaft. 133 Mit Aufnahme und Schutz des ξένος wurde der Fremde „domestiziert“ und die Angst vor ihm 131   Zu Kannibalismus in der Antike vgl. vgl. Pöhl / Fink (Hg.) (2015). Zu diesem Aspekt speziell im Werk des Nikolaos vgl. Shahin (2018b). 132   In Athen hatte Solon Zeichen der Trauer wie das Zerkratzen des Gesichts verboten, vgl. Plut., Sol. 21,4. 133   So handelt Homers Ilias von einem Krieg, der ausbrach, weil ein Fremder das Gastrecht, das ihm gewährt wurde, missbrauchte. Die Odyssee thematisiert wiederum die lange Irrfahrt des Odysseus, dem in der Fremde eigentlich das Gastrecht zustand, aber meist nicht eingeräumt wurde.

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bewältigt. Historischer Hintergrund der Gastfreundschaft ist, dass wegen der geringen Institutionalisierung der archaischen Zeit jeder in die Situation eines Fremden geraten konnte. 134 Dass Gastgeber bestimmten Erwartungen nachzukommen hatten und ansonsten einen Normbruch begingen, zeigen mehrere Fragmente der Universalgeschichte. Nikolaos hebt hervor, dass Herakles schlecht behandelt wurde, obwohl er ein Gast des Eurystheus war (F 13). Der Lyder Lixos deutete es als Feindschaft, dass ihm Gyges nur karge Speisen zum Essen vorlegte (47 § 14). Die Herrscher Proitos und Amphianax wollten ihrem Gast Bellerophon zwar schaden, wagten es aber nicht, ihn bei sich zu töten, weil er unter ihrem Schutz stand (F 9). Dass ein Übergriff auf einen Gast als frevelhaft galt, ist mehreren Überlieferungen zu entnehmen (F 4; 44 § 2; 66 § 18). Ein Fragment über den Lyder Ardys vermittelt, dass sich gutes Verhalten darin äußert, einen Gast als Freund zu verabschieden (F 44 § 3). Erwähnungen von gemeinschaftlich vollzogenen Strafen zeigen das Interesse der sozialen Gruppe an der Aufrechterhaltung der Normen. In den Überlieferungen der Universalgeschichte ist zu lesen, dass Dirke von Theben (F 7), ein Bote des trojanischen Königs Skamandros (F 14) und Mennes von Kyme (F 51) gesteinigt wurden. 135 Den Sanktionierten wurden die Verursachung von Leid, die Schändung einer Frau und die Ausübung einer Tyrannis angelastet. Diese Vergehen wurden wohl als zu schwerwiegend betrachtet, um die Normbrecher wieder in ihr jeweiliges System zu integrieren. Nach einem Fragment aus der Sammlung besonderer Völkersitten spuckten die Kerketier einen Steuermann gemeinschaftlich an, weil dieser einen Fehler begangen hatte (F 103g). Ebenso wie die Steinigung hatte diese Strafmaßnahme den Zweck, eine Rache des Sanktionierten an einem Einzelnen zu verhindern. Nach einem Fragment zur lydischen Geschichte litt das Land unter der Herrschaft des Meles an einer schweren Hungersnot. Nachdem ein Orakel verkündet hatte, dass Sühne für einen früheren Mord zu leisten sei, ging Meles für drei Jahre ins Exil (F 45). Das kollektive Leid der Lyder deutet an, wie wichtig die Sanktionierung für die soziale Gruppe ist, denn das Fehlverhalten des Einzelnen hat negative Auswirkungen auf alle anderen. Die Blutschuld des Meles wird, wie in den Fragmenten 13 und 61, mit einer zeitlich befristeten Verbannung getilgt. Im Anschluss an die Maßnahme kann der Normbrecher wieder in die soziale Gemeinschaft aufgenommen werden, wie die erneute Machtübernahme des Meles belegt (F 45). Als soziale Sanktionen sind auch die Angriffe auf den Machthaber Aipytos zu deuten. Die Messenier stellten ihm, wie Nikolaos schreibt, unaufhörlich nach und brannten sein Haus nieder (F 34). Offenbar handelt es sich bei dem Vorgehen 134   Zur Gastfreundschaft vgl. Hiltbrunner et al. (1972). Eine Theorie der Fremdheit entwickelt Nakamura (2000). Zur Fremdheit in der Antike vgl. Gaudemet / Fascher (1972); Dihle (1994); Demandt (Hg.) (1995); Münkler / Ladwig (Hg.) (1997); Riemer / Riemer (Hg.) (2005); Baberowski et al. (Hg.) (2008). 135   Zur Steinigung im archaischen und klassischen Griechenland vgl. Schmitz (2004), S. 393-400.



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um einen Rügebrauch, also um eine gemeinschaftlich vollzogene Strafe, die „bei Verstößen gegen die allgemein für verbindlich erachtete Ordnung“ angewandt wird. 136 Die Annahme, dass es sich um eine solche Sanktionsform handelt, liegt nahe, weil die Strafe vom Volk geduldet oder sogar mitvollzogen wurde. Nikolaos deutet an, dass Aipytos die Sanktionen durch normkonformes Verhalten beenden könnte. Aus seiner Weigerung folgt aber als Strafe der Untergang der gesamten Stadt durch Versklavung, wie im letzten Satz zu erfahren ist. Im Zuge eines Rügebrauchs wurde bei Nikolaos auch das Haus des Tyrannen Andromachos von Carrhae in Brand gesteckt. (F 79). Außerdem werden die Häuser der Kypseliden in Korinth bei einem Rügebrauch eingerissen (F 60). All diese Darstellungen weisen auf eine Stasis-Situation hin, die mit dem Aspekt der Normen in Verbindung gebracht wird. Einige Normendiskurse in den Fragmenten sind auf die Quellen des Nikolaos zurückführen. So stammt etwa die Darstellung von Sardanapal und Arbakes (s. o.) aus dem Werk des Ktesias. Dieser hatte sein Augenmerk auf die normative Bedeutung der Geschichte gelegt. Ihre ursprüngliche Funktion geriet aber durch die Tradierung bei Nikolaos in den Hintergrund. Dem Autor der Historien ging es vor allem um eine Weitergabe des Geschehenen als Bildungsgut, sodass eine Abstraktion vom normativen Diskurs stattfand. Auf einer diskursiven Ebene kommt die Bedeutung von Normkonformität dennoch zum Ausdruck. Aus der Darstellung des Machtwechsels von den Assyrern zu den Medern lassen sich etwa Vorstellungen zu Idealen des Adels sowie Verhaltenserwartungen in Bezug auf den König ableiten. Nikolaos hatte seine Vorlagen bewusst ausgewählt und dachte bei der Arbeit an der Universalgeschichte sicher an Herodes, der ihn zum Verfassen des Werks ermutigt hatte und zu seinen ersten Lesern gehörte. Insofern ist bei der Betrachtung der Quellenpassagen, die Auskunft über Normen geben, die Bedeutung des konkreten historischen Kontextes unter der Herrschaft des Königs von Judäa hervorzuheben. 2.3.3.2.  Konflikt und Konfliktregelung A. Einführung Soziale Konflikte sind allgegenwärtige Prozesse der Auseinandersetzung, die auf unterschiedlichen Interessen beruhen und auf verschiedene Weise institutionalisiert und ausgetragen werden. Sie entstehen, wenn Personen oder Gruppen 136   Schmitz (2008), S. 160; vgl. auch Scharfe (1970). Zum Rügebrauch der Hauswüstung vgl. Schmitz (2004), S. 354-380. Am Ende der Wolken des Aristophanes wird ein Dachstuhl in Brand gesetzt (Aristoph., Nub. 1508). Der nomos aikeias des Charondas, durch den gewalttätige Angriffe auf Personen und Sachen unter Strafe gestellt werden, enthält das Delikt: „Wenn einer ein Haus in Brand steckt [...]“ (Herondas 2,48-54). In den Vögeln des Aristophanes und in Tragödien des Aischylos wird angedroht, dass Zeus das Dach des Hauses mit likymnischen Blitzen niederäschere (Aristoph., av. 1238-1242; Aischyl., Suppl. 647-650; Ag. 525-530), vgl. Schmitz (2004), S. 308; 375-376.

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unvereinbare Auffassungen über die Herstellung und Verteilung von Gütern, die Wahl der Mittel bei der Verwirklichung von Zielen, die grundsätzliche Legitimität von Bedürfnissen oder die Gültigkeit von Werthaltungen haben. Innerhalb eines Systems kann ein Konflikt als Protest, Streit, Kampf und Revolte erscheinen. Zwischen zwei Systemen äußert er sich durch Spannung, Gegnerschaft und Krieg. Konflikte lassen sich nach dem Gegenstand, der Ursache, Ebene, Erscheinungsform, Intensität, Gewaltsamkeit und der Form der Konfliktregelung unterscheiden. 137 Ihre Beurteilung ist äußerst kontrovers, doch es zeichnet sich die Tendenz ab, Konflikte als universelle Mittel des Interessenausgleichs zu betrachten. 138 Sie erfüllen demnach eine positive Funktion, weil sie zur Integration sozia­ ler Strukturen beitragen. Die Unterdrückung von Konflikten würde Frustrationen aufstauen und einen Wandel verhindern, sodass ihre Bewältigung durch eine Konfliktregelung erfolgen muss. 139 Dabei ist jedoch die Intensität des Konflikts zu berücksichtigen, weil er (etwa im Falle einer Revolution) so weit gehen kann, dass das System an ihm zerbricht. 140 B.  Konflikt und Konfliktregelung in der Geschichte Der Aspekt ‚Konflikt‘ bietet sich für die Untersuchung historischer Quellen an, um Erkenntnisse über die Stabilität vergangener Systeme zu gewinnen. Die Konfliktformen geben Auskunft über Prozesse der Institutionalisierung. Es lässt sich prüfen, welche Maßnahmen zur Konfliktregelung entwickelt wurden und wie funktional diese waren. 141 Reflexionen über Konflikte finden sich schon in den antiken Zeugnissen, immerhin thematisieren bedeutende Werke wie Homers Ilias oder Herodots Historien kriegerische Auseinandersetzungen. Quellen zum siebten Jahrhundert v. Chr. berichten immer wieder von Staseis, bei denen Aristokraten um Macht, politischen Einfluss und die Vorrangstellung in ihren Städten stritten. 142 137   Die hier verwendete Definition geht auf Lankenau / Zimmermann (2001) und Strasser (2010) zurück. 138   Einen Überblick über die zahlreichen Konflikttheorien bieten Krysmanski (1971); Bühl (1976); Bonacker (Hg.) (2005); Bonacker (2014); vgl. auch Bühl (Hg.) (1972); Messmer (2003). 139   Dieser Ansatz folgt der liberal-analytischen Konflikttheorie, in die auch Coser (1965), der von Simmels Soziologie (1908) ausging, sowie Dahrendorf (1972; 1968), einzuordnen sind, vgl. Strasser (2010), S. 486. Dahrendorf prägte später Collins in seinen Studien, vgl. Collins (1975; 2012). 140   Deswegen entwickelte Coser das Konzept von den „Sicherheits-Ventil-Institutionen“ vgl. Coser (1965), S. 54-55. 141   Einen konzisen Überblick über den Aspekt ‚Konflikt‘ in der Antike bietet Bühl (1976), S. 4. Zu sozialen Konflikten in Griechenland und Rom vgl. Raaflaub (Hg.) (1986); Gehrke (2001). 142  Zur Stasis in archaischer Zeit vgl. Stahl (2003), S. 76-88. Für das fünfte und vierte Jahrhundert v. Chr. vgl. Gehrke (1985). Eine Reihe von Einzeluntersuchungen zu Bürgerkriegen in Griechenland und Rom finden sich in Börm et al. (Hg.) (2016).

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Heraklit betrachtete den Krieg in klassischer Zeit als Vater und König aller, denn die einen erweise er als Götter und die anderen als Menschen; die einen mache er zu Sklaven und die anderen zu Freien. 143 Unblutige Formen des Konfliktaustrags entwickelten sich etwa in der Philosophie und Rhetorik. Der Sophist Protagoras vertrat als Erster die Lehre, dass es zu allem zwei Einschätzungen gebe, die einander entgegengesetzt seien. 144 Dieses Prinzip der Gegenüberstellung von Reden und Gegenreden lag dem sophistischen Traktat Dissoi Logoi zugrunde, das an der Wende vom fünften zum vierten Jahrhundert v. Chr. verfasst wurde. Der Agon um die stärkere Rede führte nicht zur Ausweglosigkeit, vielmehr wurde durch die Institutionalisierung des Widerspruchs (etwa vor Gericht) eine geordnete Entscheidung gewährleistet. 145 Mit Konflikten, die das politische System bedrohen, setzte sich Aristoteles im fünften Buch seiner Politika auseinander, indem er auf staatstheoretischer Ebene nach den Gründen für Änderungen von Verfassungen suchte. Eine kritische Haltung gegenüber inneren Konflikten nahm auch Cicero in seiner Schrift De re publica ein. Durch eine Rede von Vertretern der Demokratie brachte der Römer zum Ausdruck, dass der Zustand des Gemeinwesens bei Zwietracht niemals fest sei. 146 C.  Konftlikt und Konfliktregelung bei Nikolaos Seit ihren Anfängen zeigte die Historiographie Interesse an Konflikten, schließlich hoben bereits die ersten Geschichtsschreiber, Herodot und Thukydides, in ihren Proömien die Bedeutung des jeweiligen Kriegs, den sie thematisierten, hervor. 147 Die literarische Gattung der Universalgeschichte bietet aufgrund ihres umfassenden Charakters zahlreiche Belege für Konflikte. Als Zugang für das Werk des Nikolaos von Damaskus eignet sich das Phänomen, weil viele Überlieferungen Konflikte thematisieren. Die Fragmente berichten etwa von Thronstreitigkeiten innerhalb eines Herrschergeschlechts, die zum Gewaltausbruch führten. So tötete der Athener Thymoites, den Historien zufolge, seinen ehelich gezeugten Bruder, um König zu werden (F 48). Über Kleisthenes von Sikyon ist zu erfahren, dass er seine Brüder gegeneinander aufhetzte, um selbst die Macht zu übernehmen (F 61). Auch unter der Assyrerin Semiramis und dem Lyder Kadys soll es gewaltsame Versuche der Machtübernahme gegeben haben (F 1; 44). In allen Fällen kommt es zum Konflikt, weil sich ein Angehöriger der Königsfamilie   Herakl. fr. 53 DK.   Protag. fr. 1 DK = Diog. Laert. 9,51. 145  Zum Agon vgl. Buchheim (1986), S. 12-18. 146   Cic., rep. 1,32 (49). 147   Herodot wollte nicht, dass die Taten der Menschen in Vergessenheit geraten, und fragte nach den Ursachen, weswegen Hellenen und Barbaren gegeneinander Krieg führten (Hdt. 1,0). Thukydides hatte schon bei Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs die Erwartung, dass dieser bedeutend und denkwürdiger als alle vorangegangenen sein werde (Thuk. 1,1). 143 144

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nicht mit dem Prinzip der Primogenitur und seinem persönlichen Ausschluss von der Herrschaft abfinden will. Ursache der Auseinandersetzungen ist also die Uneinigkeit über die Zuweisung einer knappen Ressource: das Königtum. Die Konflikte sind besonders stark, weil die Akteure eine enge persönliche Beziehung zueinander haben. Ihr ehemaliges Übereinstimmen verstärkt den Gegensatz, denn mit Ausbruch des Konflikts werden feindselige Empfindungen, die zuvor unterdrückt wurden, mobilisiert. 148 Zum Konflikt kann es bei Nikolaos auch kommen, wenn die Befürchtung besteht, dass die genealogische Thronfolge nicht eingehalten wird. Weil Daskylos als enger Freund des lydischen Herrschers großen Einfluss hatte, wurde er vom Königssohn Adyattes getötet (F 44 § 11-12). Temenos, der König von Argos, musste sterben, da er seine Tochter Hyrnetho und ihren Mann Deïphontes mehr liebte als seine Söhne (F 30). Die Sorge vor dem Entzug der eigenen Stellung bewegt also einige designierte Thronfolger dazu, potenzielle Konkurrenten (und sogar den König selbst) zu ermorden. Gemeinsam ist den bisher erwähnten Auseinandersetzungen, dass sie überwiegend im Königshaus stattfinden. Mehrfach verbindet Nikolaos aber auch innere Konflikte mit auswärtigen. Laut Universalgeschichte nutzte Myrtilos einen feindlichen Angriff, um Oinomaos, den Herrscher von Pisa, zu stürzen (F 10). Ein Streit zwischen den Söhnen des Battos führte dazu, dass die Libyer nach Kyrene kamen (F 50). Ovatias verbündete sich mit den Phokern gegen seinen Bruder Mennes, den Tyrannen von Kyme (F 51). In jedem dieser Fragmente kommt es zu einer Zusammenarbeit mit einer auswärtigen Gruppe. Die jeweilige Person, die eine solche Vereinbarung eingeht, hat für ihren politischen Partner ein hohes Maß an Zuverlässigkeit, weil ihr in der eigenen Gemeinschaft der Vorwurf des Verrats begegnet und eine Einigung mit den inneren Gegner ausgeschlossen ist. Sie kann also nur in ihrer Heimat verbleiben, wenn der angestrebte Machtwechsel gelingt. 149 Eine besondere Relevanz für die Betrachtung haben die Fragmente, die über die Auseinandersetzungen zwischen den lydischen Adelsgeschlechtern berichten (F 44-47). Anders als in den Parallelüberlieferungen kommen in den Historien des Nikolaos nicht nur Herakliden und Mermnaden als Konfliktparteien vor, sondern mit den Tyloniden eine dritte Familie, die am Machtkampf in Lydien beteiligt ist. Dem Geschichtswerk ist zu entnehmen, dass das Herrschergeschlecht 148   Nach Simmel und Coser kann deswegen der Konflikt mit einem inneren Gegner unter Umständen sogar stärker ausfallen als mit einem äußeren. „Abtrünnige“ und „Häretiker“ stellen nämlich nicht nur die Werte und Interessen der Gruppe in Frage, sondern sie bedrohen auch ihre Einheit (Simmel [1908], S. 276-277  ; Coser [1965], S. 80-86). 149   Coser zufolge ist aus diesem Grund ein „Abtrünniger“ gegenüber der Außengruppe vielleicht sogar loyaler als eine Person, die schon immer Teil jener Gemeinschaft war. In den Augen seiner früheren Verbündeten ist der „Apostat“ besonders gefährlich, weil er die Außengruppe in ihrer Überzeugung von der Richtigkeit ihrer Sache stärkt (Coser [1965], S. 83; vgl. auch Simmel [1908], S. 276-277). Zum Aspekt ‚Auswärtige Macht und interner Kampf‘ in klassischer Zeit vgl. Gehrke (1985), S. 268-308.

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der Herakliden zwar zuverlässige Partner in den Tyloniden sah, aber die Konkurrenz der Mermnaden fürchtete. Aus diesem Grund wurden führende Vertreter der dritten Familie getötet. Dass es von mehreren Seiten Versuche der Einigung gab, weist auf den gemeinschaftlichen Wunsch hin, den Konflikt beizulegen. Allerdings wurde kein dauerhafter Kompromiss gefunden, sodass sich die Kämpfe fortsetzten, bis die Mermnaden die Macht übernahmen. Nach vergeblichem Widerstand mussten sich letztlich auch die Tyloniden den neuen Verhältnissen unterwerfen. Der intrasystemische Konflikt erscheint hier wesentlich komplexer, als Herodot ihn in seinem Werk beschreibt. Nikolaos geht nämlich von einem System mit drei Konfliktparteien aus, in dem unterschiedliche Bündniskonstellationen möglich sind. 150 Im Streit um politischen Einfluss setzt sich ein Geschlecht gegen die anderen durch, aber der Konflikt scheint auch dann nicht dauerhaft gelöst zu sein. Eine Unbeständigkeit der politischen Verhältnisse äußert sich auch in den Überlieferungen zur archaischen Tyrannis. Nach Nikolaos rief die Vorrangstellung des Leodamas von Milet die Rivalität des Amphitres hervor, der schließlich die Macht übernahm (F 52). Im oligarchisch regierten Korinth nutzte Kypselos seine Beliebtheit als Polemarchos, um mit seiner Hetairie die Machthaber zu stürzen (F 57). Die Tyrannen dieser Zeit konsolidierten ihre Herrschaft mit Verbindungen zu auswärtigen Bündnispartnern, wie aus mehreren Fragmenten hervorgeht (F 35; 52; 61). Nichtsdestoweniger setzten sich die Konflikte in Milet und Korinth fort. Nachdem Amphitres von den Söhnen des Leodamas getötet worden war, wählten die Milesier Epimenes zum Aisymneten. Mit besonderen Vollmachten ausgestattet, beendete dieser den Konflikt durch Konfiskationen und durch die Verfolgung von Herrscheraspiranten (F 53). Auch in Korinth wurde der Besitz des früheren Herrscherhauses konfisziert, als die Kypseliden in der dritten Generation gestürzt wurden. Nach Tötung des letzten Tyrannen arbeiteten die Bürger eine neue Verfassung aus, indem sie ein Vorberatungsgremium und einen Rat einsetzten (F 60). Den beiden Darstellungen lässt sich entnehmen, dass die Polis-Strukturen, die in archaischer Zeit noch nicht etabliert waren, durch dysfunktionale Konflikte in Gefahr gerieten. In Konkurrenzkämpfen der Aristokraten konnten sich mächtige Politiker über ihre Standesgenossen hinwegsetzen und Tyrannenherrschaften errichteten. Als Folge der Staseis wurden Institutionen eingeführt und Maßnahmen getroffen, die innenpolitische Konflikte auffangen und die Beständigkeit der politischen Organisation erhöhen sollte. Diese Entwicklung war geprägt von einem „zunehmenden Regelungsbedarf“ 151, der zur Verschriftlichung vieler Normen durch die frühen Nomotheten führte. 152   Zu Vereinigungen und Koalitionen in Konflikten vgl. Coser (1965), S. 166-179.   Hölkeskamp (1999), S. 280. 152   Zum „Rechtsgedanken“ als Gegenkraft zu den Konflikten der archaischen Zeit vgl. Stahl (2003), S. 87-88. Zu Versuchen der Überwindung innerer Kämpfe vgl. Gehrke (1985), S. 261-266. In den Prozess der Institutionalisierung sind auch die solonischen 150 151

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Die Komplexität der verschiedenen Konflikte, die in den Fragmenten des Nikolaos vorkommen, kann bei der Betrachtung anderer Quellen, wie den Historien Herodots, in denen etwa die Auseinandersetzung zwischen den lydischen Adelsgeschlechtern vereinfacht dargestellt ist, ein Korrektiv bilden. In Bezug auf die frühen griechischen Poleis weisen die Überlieferungen der Universalgeschichte auf eine besondere Konflikthaftigkeit hin. Gleichzeitig zeichnen sich aber auch Tendenzen zur Konfliktregelung im Rahmen des jeweiligen politischen Systems ab. 153 Dieser historische Konsolidierungsprozess verbindet sich in dem Geschichtswerk mit einem normativen Diskurs: Richtiges Verhalten setzt bei Nikolaos Kompromissbereitschaft voraus. Umgekehrt führen unaufhörliche Konflikte letztlich in den Untergang, wie durch die Geschichte des Messeniers Aipytos angedeutet wird, der sich solange mit seinen Mitbürgern stritt, bis sie alle von den Lakedaimoniern versklavt wurden (F 34). In der Universalgeschichte können also dauerhafte Auseinandersetzungen ein Zeichen politischer Unfähigkeit sein.

Gesetze einzuordnen, die inzwischen trotz verdienstvoller Arbeiten von Autoren wie Ruschenbusch (2010) einer Revision bedürfen. Zu Solons Bestimmungen zur Stasis vgl. etwa Schmitz (2011). 153   Zum inneren Krieg als Faktor der griechischen Geschichte vgl. Gehrke (1985), S. 355-359.

3.  Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102 3.1.  Bücher 1-2 (F 1-6): Assyrer, Meder, Perser 3.1.1.  Fragment 1 (Exc. de insidiis p. 3,24) Einordnung: In diesem Fragment, das in den Excerpta de insidiis überliefert und den ersten beiden Büchern des Nikolaos zugeordnet ist, geht es um die assyrische Königin Semiramis und ihre Söhne, die mit Hilfe eines Eunuchen die Herrschaft übernehmen wollen. Die Überlieferung belegt, dass Nikolaos wie andere Universalhistoriker von der klassischen Abfolge der Weltreiche ausging und sein Werk mit einer Darstellung der assyrischen Geschichte begann. 154 Wegen der vielen voneinander abweichenden Überlieferungen zu Semiramis hatte schon Diodor die widersprüchlichen Angaben über ihr Leben beklagt. 155 Die Unterschiede ergeben sich aus den verschiedenen Zielen, die die jeweiligen Autoren mit ihren Darstellungen verfolgten. Bei Herodot kommt die Königin an zwei Stellen seiner Historien vor. 156 Pompeius Trogus berichtet in seiner assyrischen Geschichte über sie. 157 Diodor und Kephalion berufen sich auf Ktesias, dessen Werk am Anfang der meisten Traditionen stand und in einer hellenistischen Überarbeitung wohl auch die Vorlage des Nikolaos war. 158 Der Name der Semiramis ist auf die assyrische Herrscherin Sammuramat zurückzuführen, die am Ende des neunten und zu Beginn des achten Jahrhunderts v. Chr. regierte. 159 Wie in den anderen Fragmenten zur assyrischen und medischen Geschichte ist auch hier der Wechsel der Geschlechterrolle ein wichtiges Motiv der Darstellung, denn Semiramis erscheint als „virile“ Frau (Kap. 2.3.2.1.). Im Zentrum der Überlieferung steht allerdings ihr moralisches Verhalten. 160 Eine Besonderheit des Textauszugs ist   Alonso-Núñez (1995), S. 8-9.   Diod. 2,20,5. Eine Liste der Quellen über Semiramis findet sich bei Pettinato (1988), S. 305-306. Für die wichtigsten Abweichungen zwischen den Überlieferungen vgl. Comploi (1999), S. 231-234; Lenfant (2000), S. 295-297. 156   Hdt. 1,184; 3,155. Wie beim ersten Beleg zu lesen ist, nahm Herodot sich vor, an anderer Stelle über die assyrischen Könige zu berichten, doch er kam dieser Ankündigung nicht nach. 157   Pomp. Trog. 1,2. 158   Diod. 2,4-20; FGrHist 93 F 1; vgl. Jacoby (1874), S. 196-200; Lenfant (2000), S. 295-297. 159   Edzard (2004), S. 200-201. 160   Truschnegg (2011), S. 433. 154 155

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der Ausschnitt einer Rede, die Semiramis an die Assyrer hält. Dieser Teil ist aus keiner anderen Quelle bekannt und geht wohl auf Nikolaos zurück. Das Fragment endet mit einem Verweis auf die nicht erhaltene Exzerptsammlung περί δημηγοριῶν, die auch in Fragment 66 und in der Augustus-Vita (F 130 § 100) erwähnt wird. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Schon die ersten Worte des Exzerpts machen die starke Kürzung durch die konstantinischen Schreiber deutlich, denn die Überlieferung setzt mit der Rückkehr der Semiramis aus dem Krieg gegen die Inder ein. Zur Vorgeschichte lässt sich der Parallelüberlieferung bei Diodor entnehmen, dass Semiramis, die als Kind ausgesetzt worden war, auf wundersame Weise gerettet wurde und später den Statthalter Onnes heiratete, mit dem sie zwei Söhne hatte. Der assyrische König Ninos verliebte sich in sie und brachte Onnes dazu, sich das Leben zu nehmen. Semiramis heiratete Ninos und bekam den Sohn Ninyas. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes übernahm sie die Herrschaft und führte Krieg gegen die Inder. 161 Die vorliegende Überlieferung knüpft an das Ende dieses Konflikts an. Laut Fragment gelangte Semiramis nach Medien, wo sie auf einen hohen Berg stieg, der auf allen Seiten, ausgenommen einer Stelle, steil abfiel. Sie musterte das Heer von einem Aussichtspunkt und ließ ein Lager errichten. In dieser Einleitung erinnert die detailreiche Beschreibung des Handlungsortes an eine Textstelle im 66. Fragment (§ 38), in der ebenfalls ein hoher Berg erwähnt wird. Semiramis erscheint wie in den Parallelüberlieferungen als Kriegerin. Nikolaos zufolge plante der Eunuch Satibaras mit den Söhnen des Onnes einen Umsturz [ἐπιβουλεύω], wobei er sagte, dass ihnen die Gefahr drohe, von Ninyas ermordet zu werden, wenn dieser an die Macht komme. Sie müssten Semiramis töten, um die Königsherrschaft zu erhalten, ansonsten sei es für sie sehr schändlich [αἴσχιστος], dass ihre zügellose [ἀκόλαστος] Mutter in ihrem Alter täglich junge Männer begehre. Der Name des Eunuchen ist nur im vorliegenden Textauszug überliefert. 162 Das Motiv des an einer Revolte beteiligten Eunuchen kommt auch in den Fragmenten 3, 4 und 66 vor, und soll demonstrieren, dass Vertrauen zu ihnen die Herrschaft gefährden kann. 163 Der Vorwurf der Wollust begegnet Semiramis auch bei Diodor und hängt damit zusammen, dass sie zweimal zur Frau genommen wurde. 164 Auffällig ist, dass die Beschuldigung der übermäßigen Begierde im vorliegenden Exzerpt von einem Eunuchen geäußert wird, der (sofern die Vorstellung einer Kastration im Kindesalter vorliegt) 165 den größtmöglichen Gegensatz   Diod. 2,4-19.   Jacoby (1926b), S. 235. 163   Zu den Eunuchen bei Nikolaos von Damaskus vgl. Guyot (1980), S. 83; Lenfant (2012). 164   Diod. 2,13,4; 2,18,1. 165   Nach Pirngruber verwenden die griechischen Autoren den Begriff εὐνοῦχοι im Sinne einer Titulatur. Das Wort bezieht sich also nicht ausdrücklich auf eine Kastration, vgl. Pirngruber (2011), S. 279-312. 161 162

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zu einer Wollüstigen darstellt. Satibaras regt zum Umsturz an, indem er es als αἴσχιστος auslegt, wenn nichts unternommen werde. Die Betonung des Altersunterschieds zwischen Semiramis und ihren Männern (gemeint sind die Soldaten) soll die Diffarmierung verstärken. Wie bei Diodor zu lesen ist, sei die Königin 62 Jahre alt gewesen. 166 Die Kritik des Eunuchen ist als Ablehnung der militärischen Führung durch eine Frau zu verstehen. Satibaras deutet den Matrizid als Ehrenmord und warnt vor der Gefahr, die durch Ninyas droht. Als Königssohn war dieser der designierte Thronfolger, während seine Halbbrüder kaum Hoffnung auf die Herrschaft hatten. Der Eunuch stellt die Nachkommen des Onnes vor die Wahl, das Fehlverhalten ihrer Mutter ungesühnt zu lassen oder einen Mutter- und Brudermord zu begehen. In beiden Fällen belasten sie sich mit Schuld. Laut Fragment erkundigten sich die Söhne, wie der Umsturz geschehen solle, und Satibaras antwortete, dass man Semiramis vom Berggipfel hinabstoßen müsse. Sie vereinbarten dies und bekräftigten ihren Bund vor einem Heiligtum. Ein Einschub weist in diesem Abschnitt darauf hin, dass sich Satibaras auf die Aufgabe beschränkte, die Söhne auf den Gipfel zu rufen. Wie bei Diodor zu lesen ist, lagerte die Königin stets an einer erhöhten Stelle. 167 Der Ort des Geschehens verleiht der Geschichte eine zweite Bedeutungsebene, denn Semiramis soll nicht nur politisch, sondern auch tatsächlich von der Spitze gestürzt werden. Im folgenden Teil kommt es zu einer Wende in der Handlung: Hinter dem Altar war ein Meder [ἀνὴρ Μῆδος], der alles hörte, auf ein Pergament schrieb und Semiramis zukommen ließ. Diese ließ die Kinder des Onnes am nächsten Tag bewaffnet zu sich kommen, und Satibaras freute sich, weil er dachte, dass ihr Vorhaben vom Gott gefördert würde. Als sie bei der Königin ankamen, befahl Semiramis dem Eunuchen, sich zu entfernen. Am Ende des Textauszugs hält die Königin den Verschwörern ihren Anschlagsversuch vor. In einer direkten Rede fordert sie ihre Söhne auf, sie vom Berg hinabzustoßen und ihren Bruder zu töten, um Ruhm zu erhalten und die Königsherrschaft zu übernehmen. In diesem Teil soll die Erwähnung des Heiligtums und des Altars auf den göttlichen Willen zur Aufdeckung der Verschwörung hinweisen. Damit steht in Zusammenhang, dass Semiramis die Erlangung ihrer Herrschaft gegenüber den Söhnen auf die Götter zurückführt. Dies wurde in der Forschung als „Theologie der Macht“ interpretiert. 168 Die Folgerung des Eunuchen, dass der Gott hinter dem Umsturzversuch stünde, erweist sich als voreilig. Dass die Handlung in Medien verortet wird und der Enthüller des Plans ein Meder ist, deutet den Übergang der Herrschaft von den Assyrern zu den Medern an (F 2; 3). Mit den Geschlechteraspekten der Geschichte ist zu verbinden, dass es ein Mann ist, der für die Herrscherin den Plan des Eunuchen aufdeckt.   Diod. 2,20,2.   Diod. 2,14,2. 168   Alonso-Núñez (1995), S. 8. 166 167

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In ihrer Rede nennt Semiramis ihren früheren Mann καλός κἀγαθός, während sie dessen Söhne und Satibaras abwertend als κακοί beziehungsweise κακός bezeichnet. Die positive Bewertung des Onnes erklärt sich damit, dass er ihr den Weg zur Herrschaft bereitete, denn erst als Frau des Statthalters konnte sie Ninos begegnen. 169 Der zynische Appell, die Mutter und den Bruder zu töten, erklärt, warum Semiramis ihre Söhne bewaffnet zu sich gerufen hatte. Eine Annäherung an das fehlende Ende der Geschichte ist über ein Fragment von Kephalion möglich: Semiramis tötete ihre Söhne – offenbar die Nachkommen des Onnes – und wurde selbst von ihrem Sohn Ninos getötet, der im vorliegenden Fragment mit Ninyas gleichzusetzen ist. 170 Bei Diodor ist dagegen zu lesen, dass Ninyas seine Mutter mit Hilfe eines Eunuchen ermorden wollte, doch Semiramis deckte den Plan auf, gab ihre Macht freiwillig ab und wurde zu den Göttern entrückt. 171 Gemeinsam sind den Überlieferungen die ἐπιβουλή und die Machtübernahme eines Sohnes der Semiramis. Auffällig ist, dass der Königin männliche Züge zugeschrieben werden: Sie befehligt ein Heer, führt Krieg und ist „manns genug“, den bewaffneten Verschwörern entgegenzutreten. Der Geschichte lag die Vorstellung zugrunde, dass Semiramis durch ihre „Mannhaftigkeit” zur Herrschaftsausübung befähigt war, während die assyrischen Männer nicht männlich genug waren, um die Macht zu übernehmen. Möglicherweise sollte die Darstellung durch das fremde weibliche Königtum Assoziationen zu Kleopatra, einer Zeitgenossin des Nikolaos, wecken. Mit den Geschlechteraspekten besteht jedenfalls eine Verbindung zu den nachfolgenden Fragmenten. 3.1.2.  Fragment 2 (Exc. de virtut. 1 p. 329,16) Einordnung: Der Darstellung der Semiramis folgt ein Textauszug, in dem es um Sardanapal, den letzten Herrscher der Assyrer, geht. Das Fragment wurde in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert und ist dem ersten und zweiten Buch des Nikolaos zugeordnet. Neben Semiramis ist Sardanapal der einzige assyrische Machthaber, dem in der Antike eine besondere historische Bedeutung zugeschrieben wurde. Deswegen beschränkten sich die meisten antiken Autoren wie Diodor und Nikolaos auf eine Darstellung der Anfangs- und Endzeit des ersten Weltreiches. 172 Nach Diodor und Trogus sei Sardanapal wie alle Könige in den 1300 Jahren der assyrischen Herrschaft Thronerbe seines Vaters gewesen. 173 Wie Fragment 3 zeigt, haben die konstantinischen Schreiber die Geschichte Sardanapals in zwei Exzerptsammlungen zusammengefasst. Im Zentrum der vorliegenden   Pettinato (1988), S. 86.   FGrHist 93 F 1. 171   Diod. 2,14,1. 172   Diod. 2,22,1; vgl. Rollinger (2011), S. 317. 173   Diod. 2,21,8; Pomp. Trog. 1,3. 169 170

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Überlieferung steht sein „weiblicher“ Charakter. 174 Dem König wird der Meder Arbakes gegenübergestellt, von dessen Machtübernahme das dritte Fragment handelt. Sein Name ist älteren Quellen entlehnt, denn schon bei Xenophon hieß ein medischer Satrap Arbakes. 175 Sardanapal hat seinen Namen von Assurbanipal, der im siebten Jahrhundert v. Chr. in Ninive herrschte, allerdings verbinden sich in den antiken Zeugnissen Vorstellungen von verschiedenen assyrischen Königen mit narrativen Elementen. Deswegen stellte schon Aristoteles den Wahrheitsgehalt der Darstellungen über Sardanapal in Frage. 176 Parallelüberlieferungen zu dem Fragment finden sich bei Trogus, Diodor und Athenaios, wobei am Anfang aller Traditionen Ktesias stand. 177 In Form einer Statue oder eines Reliefs gab es nach Strabon und den Alexanderhistorikern eine Darstellung Sardanapals, die durch eine Geste beziehungsweise Inschrift auf seine besondere Genusssucht hingedeutet hat. 178 Die Machtübernahme durch die Meder wird mit einer Entwicklung des Verfalls erklärt, und Sardanapal stand repräsentativ für diesen Niedergang. 179 In der Literatur wurde er zu einem Sinnbild für asiatische Weichlichkeit. 180 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment lebte Sardanapal, der die Herrschaft von Ninos und Semiramis übernahm, in Ninive, wo er die ganze Zeit innerhalb des Palastes blieb. Er griff nicht zu den Waffen und ging auch nicht zur Jagd hinaus wie die früheren Könige, sondern er schmierte sich das Gesicht ein, schminkte seine Augen, wetteiferte mit Konkubinen [παλλακίδες] um die Schönheit und beim Flechten, und hatte einen gänzlich weiblichen Charakter. Ninos kommt in den anderen Fragmenten nicht vor, aber die Erwähnung der Semiramis ist mit dem vorangegangenen Exzerpt über die ἐπιβουλή gegen die assyrische Herrscherin zu verbinden. Durch die Gegenüberstellung Sardanapals mit seinen Vorgängern wird der historische Umbruch angedeutet, der zum Untergang des Assyrerreiches führte. Der erste Satz des Fragments ist kein Beleg dafür, dass Sardanapal hier abweichend von den Parallelüberlieferungen unmittelbarer Nachfolger von Ninos und Semiramis war, sondern er geht auf die starke Kürzung durch die Exzerptoren zurück. 181 Aus der Kritik der Lebensweise Sardanapals lässt sich die Erwartung ableiten, dass der König auf Kriegs- und Jagdzüge gehen muss. 182 Der Bruch dieser Norm wird mit dem Wechsel der Geschlechterrolle verbunden, der bei Nikolaos ein Hauptmotiv der assyrischen und medischen   Lenfant (2000), S. 298.   Xen., an. 1,7,12; 7,8,25; vgl. Schmitt (2006), S. 129-130. 176   Aristot., pol. 5,1312 a1-5; vgl. Burkert (2009), S. 503. 177   Diod. 2,23-27; Pomp. Trog. 1,3; Athen. 12,38 (528f-529d). 178   Strab. 14,5,9 (672C 2-6); Arr., an. 2,5,4; Kallisthenes FGrHist 124 F 34; Amyntas FGrHist 122 F 2; Aristobulus FGrHist 139 F 9. 179   Truschnegg (2011), S. 428. 180   Burkert (2009), S. 505. 181   Parmentier / Barone (2011), S. 18-19. 182   Parmentier (2001), S. 94. 174 175

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Geschichte ist (Kap. 2.3.2.1.). Nachdem Semiramis als Königin mit „virilen“ Eigenschaften beschrieben wurde (F 1), geht es nun um einen „weiblichen“ Herrscher. Sardanapal erinnert an den babylonischen Statthalter Nanaros und den zur Bestrafung „verweiblichten“ Parsondes in Fragment 4. Ihnen fehlt allen ein Bart als sichtbares Attribut des Mannes, das sie von Frauen und von Eunuchen unterscheidet. Die besondere Körperpflege Sardanapals wird als Ausdruck von Weiblichkeit verstanden. 183 Auch die Parallelüberlieferungen betonen durch eine stereotype Darstellungsweise die Ähnlichkeit zwischen Sardanapal, Nanaros und Parsondes. 184 Bei Nikolaos wird Sardanapal durch das Wetteifern auf die gleiche Stufe wie παλλακίδες gestellt. Offenbar sind diese Frauen neben Eunuchen, die in Fragment 3 erwähnt werden, die einzigen, die sich im Umfeld Sardanapals aufhalten dürfen. 185 Nikolaos verknüpft die Lebensweise Sardanapals mit dem Untergang des assyrischen Weltreiches. Dabei wird nicht die allgemeine Tyrannentopik rezipiert, denn Sardanapal erscheint nicht als grausam, sondern er vernachlässigt seine Regierungsgeschäfte. 186 Aus dem zweiten Teil des Textauszugs geht hervor, dass sich die Satrapen gemäß den früheren Anordnungen vor dem Palast einfanden. Darunter war der medische Statthalter Arbakes, der im Leben besonnen [σώφρων] und an Unternehmungen erfahren [ἔμπειρος] war, weil er an Jagdzügen und Kriegen teilgenommen hatte. Er überlegte, dass Sardanapal nur mangels eines edlen [γενναῖος] Mannes über Asien herrsche, und plante, die Gesamtherrschaft an sich zu reißen. Mit den Worten τὰ πρότερον συντεταγμένα stellt Nikolaos einen Bezug zur langen assyrischen Geschichte her, die mit dem „verweichlichten“ Sardanapal endet. Wie bei Diodor zu erfahren ist, lagerten Abteilungen jedes Volkes für ein Jahr vor der Residenzstadt der Assyrer. 187 Der Begriff σατράπαι ist anachronistisch, da er persischen Ursprungs ist und erst in späterer Zeit Verwendung fand. Das Wort bringt die Vorstellung zum Ausdruck, dass das erste Weltreich eine archetypische Herrschaftsform hervorgebracht hatte. 188 Durch die Erwähnung von Jagd- und Kriegszügen als Zeichen für Männlichkeit wird ein Gegensatz zwischen Arbakes und Sardanapal konstruiert, da der Assyrer seinen Palast niemals verlässt. 189 Die Worte σώφρων und πολλά γενναῖα für das Verhalten und die lobenswerten Taten des Arbakes signalisieren, dass er Ideale des Adels erfüllt. Mit dem Meder werden positive Eigenschaften verbunden, während Sardanapal die gänzliche Abkehr von allen Verhaltenserwartungen verkörpert. Dass dem Verhalten des Königs größte Bedeutung zugemessen wird, äußert sich durch die Reflexion, dass ein edler Mann auf dem Thron fehle [ἀπορία γενναίου ἄνδρὸς].   Zur Körperpflege als Ausdruck einer Geschlechterrolle vgl. Frass (2002).   Madreiter (2011), S. 263; Lenfant (2012), S. 269. 185   Lenfant (2012), S. 261. 186   Bernhardt (2009), S. 3. 187   Diod. 2,21,3. 188   Madreiter (2011), S. 258. 189   Lenfant (2000), S. 299. 183 184

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Der Darstellung liegt die Auffassung zugrunde, dass nur besondere Persönlichkeiten historische Veränderungen bewirken können. Die Formulierung τὰ τῆς Ἀσιάς κράτη spiegelt eine Perspektive aus der Zeit des Nikolaos wider, denn Assyrer und Meder haben Asien nicht als politische Einheit in Abgrenzung zu Europa betrachtet. Die historische Zäsur, die am Ende des Textauszugs angedeutet wird, ist Thema des nächsten Fragments. 3.1.3.  Fragment 3 (Exc. de insidiis p. 4,23) Einordnung: Dieser Textauszug ist mit der vorangegangenen Darstellung der Lebensweise Sardanapals zu verbinden. Die byzantinischen Schreiber haben die Geschichte des assyrischen Königs thematisch in zwei Exzerptsammlungen separiert, wobei im vorliegenden Fragment aus den Excerpta de insidiis die ἐπιβουλή des Meders Arbakes im Zentrum steht. 190 Parallelüberlieferungen, die den Machtwechsel von den Assyrern zu den Medern erklären, finden sich bei Diodor, Trogus und Athenaios, der sich in seiner Ausführung auf Ktesias beruft. 191 Schon Aristoteles hatte den Wahrheitsgehalt der Geschichten über Sardanapal in Frage gestellt. 192 Die Tradition, der Nikolaos folgt, geht auf Ktesias zurück. Das Hauptmotiv der Handlung ist, wie in den anderen Fragmenten zur assyrischen und medischen Geschichte, der Geschlechterrollenwechsel, denn Sardanapal verwirkt seinen Machtanspruch durch seine „weibliche Lebensweise“ (Kap. 2.3.2.1.). Die Überlieferung beginnt mit einer Interpolation des konstantinischen Exzerptors, die in etwa dem vorletzten Satz des zweiten Fragments entspricht und die Vorgeschichte Sardanapals zusammenfasst. Einzig die historische Einordnung τὰ τῆς Ἀσσυρίας κράτη weicht ab, wobei die Variante τὰ τῆς Ἀσίας κράτη durch die implizierte Gegenüberstellung Asiens zu Europa ohnehin eher die Denkweise des Nikolaos als die der Assyrer oder Meder widerspiegelt (F 2). Der Wechsel von Ἀσίας und Ἀσσυρίας geht auf einen Abschreibefehler des byzantinischen Schreibers zurück. Gegenüber den Parallelüberlieferungen weist die vorliegende Version mehrere Dialoge und zahlreiche narrative Elemente auf. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Wie der Einleitung des Fragments zu entnehmen ist, war damals das tapferste Geschlecht nach dem assyrischen das medische. Der Meder Arbakes kam vor den Toren des Palastes mit Belesys, dem Befehlshaber über Babylonien, ins Gespräch. Belesys stammte von den Chaldäern ab, die Priester waren und höchste Ehre genossen. Gemeinsam planten Arbakes und Belesys, die Oberherrschaft von den Assyrern auf die Meder zu übertragen. Von allen Völkern waren die Babylonier die besten in der Astronomie und überlegen, was die Kenntnis über das Göttliche anging.   Lenfant (2000), S. 298.   Diod. 2,24-27; Pomp. Trog. 1,3; Athen. 12,38 (528f-529d). 192   Aristot., pol. 5,1312 a1-5. 190 191

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Dieser Abschnitt gibt Auskunft über Fremdenbild und Geschichtsauffassung des Autors, denn er bringt die Vorstellung einer Rangfolge der Völker hinsichtlich ihrer Tapferkeit zum Ausdruck. Der Autor rezipiert wie in Fragment 66 den Topos einer Abfolge verschiedener Weltreiche. 193 Den historischen Umbruch führt er auf die „Weiblichkeit“ des assyrischen Königs und die Machtübernahme eines Mannes aus dem zweittapfersten Geschlecht zurück. Ähnlich wie in den anderen Fragmenten, in denen der Geschlechterrollenwechsel ein Hauptmotiv bildet, bezieht sich das Adjektiv ἀνδρεῖος vor allem auf einen Aspekt der „Mannhaftigkeit“. Nach Sardanapal und Arbakes, die für die alte und neue Herrschaft stehen, wird mit Belesys die Person in die Geschichte eingeführt, die den Machtwechsel in die Wege leitet. Der Babylonier, der auch in der Überlieferung von Diodor vorkommt, erscheint zugleich als Priester und Heerführer. 194 Sein Name ist eine hellenisierte Form des babylonischen „Bēlšunu“ und entstammte älteren Quellen, denn schon in Xenophons Anabasis kommt ein syrischer Statthalter namens Belesys vor. 195 Χαλδαῖος war ursprünglich ein Ethnikon für einen Volksstamm in Babylonien. Später bezeichnete das Wort eine Gruppe babylonischer Gelehrter, deren Kenntnisse als kennzeichnendes Merkmal der gesamten Kultur wahrgenommen wurden. 196 Das Wort συνεδρίτης ist ein Hapax legomenon und bezeichnet einen Kollegen im Wachdienst. Wie bei Diodor zu lesen ist, ließen die assyrischen Könige von jedem Volk für ein Jahr Soldaten stellen, die vor der Residenzstadt lagerten. 197 Die Erwähnung des Plans zum Herrschaftswechsel ist eine Vorwegnahme des weiteren Handlungsverlaufs. Der zweite Teil des Exzerpts handelt von der Unterhaltung zwischen Belesys und Arbakes. Im Schlaf glaubte Belesys zu sehen, wie ein Pferd Stroh zu Arbakes brachte und einem anderen Pferd erklärte, dass Arbakes dazu bestimmt sei, die Herrschaft von Sardanapal zu übernehmen. Als Belesys aufgewacht war, ging er mit Arbakes am Tigris entlang, um mit ihm zu sprechen. Wie in diesem Abschnitt deutlich wird, spiegelt der Traum des Belesys den Ort seiner Begegnung mit Arbakes wider. Im Traum des Babyloniers können die Pferde, die der Babylonier zuvor gesehen hatte, sprechen und sie interagieren mit den Menschen. Die Darstellung geht auf Herodots „Pferdeorakel“ zurück, das Dareios zum König der Perser bestimmt, 198 und ist ein bedeutendes Zeugnis für Träume in der Antike (Kap. 2.3.2.2.). Weber betrachtet den Traum als „elaborierte Mischung aus einem ὄνειρος (Werfen von Spreu) und χρηματισμός, indem im Traum bereits die Deutung gegeben wird.“ 199 Zur Veranschaulichung   Alonso-Núñez (2002), S. 99.   Diod. 2,24-25; vgl. Weber (2000), S. 176. 195   Xen., an. 1,4,10; 1,7,12; 7,8,25; vgl. Madreiter (2011), S. 253. 196   Cicero nennt die Chaldäer am Anfang seines Werkes De divinatione als eines der Völker, die die Zukunft mit Hilfe von Zeichen voraussagen könnten, vgl. Cic., div. 1,2. 197   Diod. 2,21,3. 198   Hdt. 3,84-86. 199   Weber (2000), S. 176. 193 194

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der folgenden Gesprächssituation zwischen Belesys und Arbakes wird die nähere Umgebung des Tigris beschrieben, wohin sich der Handlungsort verlagert. Diodor folgt Ktesias und verortet die assyrische Residenzstadt Ninive am Euphrat. 200 Die Abweichung des Nikolaos belegt, dass der Autor seine Vorlagen nicht wörtlich abgeschrieben hat, sondern auch Änderungen vornahm. 201 Laut Fragment unterhielten sich Belesys und Arbakes bei ihrem Spaziergang am Tigris wie Kameraden [ἑταῖροι]. Belesys fragte nacheinander, was er zu erwarten hätte, wenn Arbakes Satrap von Kilikien, Satrap von Babylonien und König des gesamten Reichs würde. Die Einwände des Arbakes nehmen bei jeder Frage zu, bis Belesys ihm versichert, dass er ausgezeichnete Kenntnis über das Göttliche habe. Darauf verspricht Arbakes, dass er Babylonien und die davon abhängigen Gebiete verwalten könne. Dass Belesys aufgrund seines Traums einen Wissensvorteil gegenüber Arbakes hat, diesem aber noch nichts von dem Vorzeichen erzählt, steigert die Spannung, denn die erwartete Reaktion des Meders wird hinausgezögert. Auffällig ist, dass Belesys hier als Urheber der ἐπιβουλή erscheint, obwohl in Fragment 2 und am Anfang des vorliegenden Exzerpts nur Arbakes als Gegner von Sardanapal erwähnt wurde. Die Verwendung des Wortes σατράπης ist, wie im zweiten Fragment, anachronistisch, weil der Begriff aus dem Persischen kommt und die Statthalterschaft unter den späteren Achaimeniden bezeichnet. An dieser Stelle äußert sich die Vorstellung, dass Assyrien als erstes Weltreich eine archetypische Herrschaftsform hervorgebracht hatte. 202 Das Wort δεσπότης, das Belesys für den Herrscher verwendet und das auch in den Fragmenten 4, 8 und 66 vorkommt, ist in der Universalgeschichte stets mit einem Perspektivenwechsel vom Erzähler zu einer Person in der Darstellung verbunden, die in einem untergeordneten Machtverhältnis steht. 203 Die Erwartungen des Belesys, vom Aufstieg des Arbakes zu profitieren, steigern sich mit den Positionen, die er dem Meder im Verlaufe des Gesprächs zuträgt. Daraus lässt sich, wie beim Aufstieg des Kyros in Fragment 66, die Verhaltensforderung ableiten, dass der Einzelne im Erfolgsfall sein persönliches Umfeld begünstigt. Die Voraussetzungen für eine solche Zuwendung sind gegeben, wie die Anmerkung deutlich macht, dass sich die beiden wie ἑταῖροι unterhielten. Die Reihenfolge der Fragen und die Intensität der Einwände zeigen, dass die Position des babylonischen Statthalters höher war als die des kilikischen. Das Prestige einer Statthalterschaft war von der politischen und ökonomischen Bedeutung der jeweiligen Provinz abhängig. Nach Herodot hatte Babylonien als persische Satrapie überdurchschnittlich hohe Abgaben zu leisten. 204 Dies ist auf die   Diod. 2,27,1; vgl. Rathmann (2016), S. 46-47.   Jacoby (1874), S. 204-205; Lenfant (2000), S. 300; Parmentier / Barone (2011), S. 22. 202   Madreiter (2011), S. 258. 203   Parmentier (1991), S. 231. 204   Hdt. 3,92. 200 201

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wirtschaftliche Stärke der Verwaltungseinheit zurückzuführen, die unter assyrischer Herrschaft nicht grundlegend anders war als unter persischer. Indem Arbakes seinem Kameraden verspricht, Babylonien unter Abgabefreiheit verwalten zu lassen, stellt er ihm enormen Reichtum in Aussicht. Die Erlassung von Tributen, die bei Diodor erst nach dem Machtwechsel erwähnt wird, steigert diese Perspektive zusätzlich. 205 Das Versprechen des Arbakes an Belesys erinnert an Herodots Darstellung der Vereinbarung zwischen den persischen Verschwörern um Dareios. 206 Obwohl sich im Fragment ein vertrauensvoller Umgang zwischen den ἑταῖροι äußert, gibt es auch Zeichen der Distinktion. So antwortet Arbakes etwa auf eine Frage des Belesys, dass er es nicht für angemessen halte, als Meder von einem Babylonier verspottet zu werden. Diese Textstelle betont ihre Ungleichheit und ist eine Parallele zu Fragment 4, in dem der Perser Parsondes darüber erzürnt ist, zum Gespött eines Babyloniers geworden zu sein. Nach Nikolaos glaubten Perser und Meder also, eine bessere Herkunft zu haben als Babylonier. Unterschiede zwischen Arbakes und Belesys äußern sich weiterhin bei der Anrufung von Gottheiten: Arbakes fordert beim Zeus, nicht mehr verhöhnt zu werden, und Belesys versichert beim großen Belos, dass er ihn nicht verspotte. Mit der Erwähnung von Zeus wird eine Nähe zum griechischen Kulturraum hergestellt, während „Belos“ eine griechische Form des Gottesappellativs „Ba‘al“ ist, das seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. im syrisch-phönizischen Raum verbreitet war. Die Ähnlichkeit der Namen „Belos“ und „Belesys“ weist auf die religiöse Fremdheit des Babyloniers hin. Wie im letzten Teil des Textauszugs zu lesen ist, bat Arbakes einen der Eunuchen, denen das meiste Vertrauen geschenkt wurde [πιστότατοι], ihm den König zu zeigen. Der Eunuch verweigerte ihm dies mit der Begründung, dass niemand bisher Sardanapal zu Gesicht bekommen habe. Arbakes bat ihn weitere Male um den Gefallen und versprach ihm Gold und Silber, bis der Eunuch schließlich einwilligte. Die Zurückweisung des Wunsches ist mit Fragment 2 und den Parallelüberlieferungen zu verbinden, denen zu entnehmen ist, dass sich der Herrscher nur im Palast aufhielt. 207 Nach Athenaios hieß der Eunuch, den Arbakes bestochen hat, Sparameizos. 208 Das Motiv, dass ein Eunuch bei einer Intrige gegen den Machthaber Unterstützung leistet, kommt auch in den Fragmenten 1, 4 und 66 vor. Auffällig ist, dass sich Eunuchen aus der Gruppe der πιστότατοι bei Nikolaos stets als unzuverlässig erweisen, wie in den Fragmenten 5 und 66 deutlich wird. Dabei galten Eunuchen ursprünglich als vertrauensvoll, weil sie ohne Nachkommen kaum Ambitionen auf die Herrschaft hatten. 209 Das Ende des Fragments ist   Diod. 2,28,4.   Hdt. 3,84; vgl. Madreiter (2011), S. 261. 207   Athen. 12,38 (528f); Diod. 2,24,4. 208   Athen. 12,38 (528f). 209   Guyot (2010). Zur allgemeinen Einschätzung der Eunuchen vgl. Guyot (1980), S. 37-51; Lenfant (2012). 205 206

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bis zu den Worten ὤικει ἔνθα ἐτελεύτησεν verloren, sodass lediglich zu erfahren ist, dass Sardanapal an seinem Wohnort starb. Aus den Erwähnungen von Arbakes in den Fragmenten 4 und 66 wird aber deutlich, dass der Meder nach Sardanapal König wurde. Den Parallelüberlieferungen zufolge habe sich Sardanapal in seinem Palast verbrannt, um seinen Feinden nicht in die Hände zu fallen. 210 Historisch geht dieser Teil der Darstellung auf den Suizid eines babylonischen Königs zurück. 211 In den griechischen Quellen wurde Sardanapal neben Kroisos als einer der asiatischen Herrscher bekannt, die auf den Scheiterhaufen kamen (F 68). 212 Nach Fragment 100 des Nikolaos tötete sich ein Inder in einer Feuerstelle (F 100). Diese Form der Selbsttötung wurde wahrscheinlich in der römisch-griechischen Kultur als fremd wahrgenommen. Mit dem Ausgang der Geschichte beendet Nikolaos seine Abhandlung über die Assyrer und leitet zur Geschichte der Meder über. 3.1.4.  Fragment 4 (Exc. de virtut. 1 p. 330,5) Einordnung: Das Fragment, das dem ersten und zweiten Buch der Universalgeschichte zugeordnet ist, wurde in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert und handelt von der Auseinandersetzung zwischen dem Perser Parsondes und dem babylonischen Statthalter Nanaros. Durch die Einordnung der Handlung in die Herrschaftszeit des Mederkönigs Arbakes, der den Assyrerkönig Sardanapal stürzte, wird am Anfang des Textauszugs an die vorangegangenen Überlieferungen angeknüpft; allerdings findet Arbakes in der vorliegenden Darstellung nur als historischer Herrscher Erwähnung. Dafür wird mehrfach Artaios als König der Meder erwähnt, sodass die Einleitung als Irrtum des konstantinischen Schreibers zu deuten ist. 213 Alonso-Núñez betrachtet Parsondes als „Vertreter des Widerstands der Perser gegen Babylonien“. 214 Ein Hauptmotiv der Handlung ist wie in den Fragmenten 1 bis 3 der Geschlechterrollenwechsel, denn es geht um die „weibliche Lebensweise“ des Nanaros und die „Weiblichkeit“ des Parsondes (Kap. 2.3.2.1.). Am Anfang der Tradition, die auf eine alte vorderasiatische Erzählung zurückgeht, stand wohl ein Streit zwischen Vertretern verschiedener Altersklassen. Der Wechsel der Altersklasse konnte zu Generationenkonflikten führen, wobei Bartlosigkeit ein Ausschlusskriterium aus der Politik war. 215 Die älteste Überlieferung zu Nanaros findet sich in einem bei Athenaios überlieferten Fragment von Ktesias, in dem er Annaros heißt. 216 Auffällig ist, dass Ktesias wie   Diod. 2,27,2; Pomp. Trog. 1,3; Athen. 12,38 (529c-d).   Rollinger (2011), S. 340. 212   Parke (1984), S. 224. 213   Jacoby (1926a), S. 331; vgl. König (1972), S. 43; Parmentier / Barone (2011), S. 26. 214   Alonso-Núñez (1995), S. 8. 215   König (1972), S. 43-44. In der Komödie Ἐκκλησιάζουσαι von Aristophanes können die athenischen Frauen aufgrund ihrer falschen Bärte in der Volksversammlung abstimmen. 216   FGrHist 688 F 6 = Athen. 12,40 (530d). 210 211

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Nikolaos von 150 Frauen des Babyloniers berichtet. Nikolaos hat wahrscheinlich auf eine jüngere Umgestaltung der Persika zurückgegriffen. 217 Plutarch bringt Nanaros aufgrund seiner Lebensweise in Verbindung mit dem Assyrer Sardanapal. 218 Der Ausgang der Handlung ist bei Diodor in einer Darstellung des Streits zwischen Parsondes und dem Großkönig überliefert. 219 Wie Diodor erklärte Nikolaos mit der Geschichte die Feindschaft zwischen Medern und Kadusiern, auf die mehrfach im 66. Fragment Bezug genommen wird. In Fragment 66 findet sich auch der gleiche Verweis auf die konstantinische Sammlung der Feldherrentaten [περί στρατηγημάτων], wie am Ende des vorliegenden Textauszugs. Das Fragment des Nikolaos enthält mehrere Dialoge und zahlreiche narrative Elemente. Der Überlieferung sind wertvolle Informationen zum antiken Verständnis von Männlichkeit zu verdanken. 220 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut erstem Teil des Exzerpts wurde Parsondes in Medien und in Persien, woher er stammte, für seine Einsicht und für die Schönheit seines Körpers gelobt. Er war tüchtig darin, wilde Tiere zu erlegen und in der Schlacht zu kämpfen. Als er sah, dass der Babylonier Nanaros prächtige Kleidung und Ohrringe trug, sich gründlich rasierte und weibisch [γυναικώδης] und schwach [ἄναλκις] war, versuchte er, Artaios dazu zu bringen, ihm das Amt des Nanaros zu übertragen. Artaios wollte aber nicht die Beschlüsse des Arbakes antasten. Parsondes verkörpert hier, wie Arbakes in den Fragmenten 2 und 3, Ideale des Adels. Um seine Fähigkeiten in Kriegs- und Jagdzügen zu unterstreichen, wird ihm, wie Gyges in Fragment 47, zugeschrieben, dass er darin geübt gewesen sei, Pferde zu reiten. Die Hauptperson steht hier, anders als in den vorangegangenen Exzerpten, nicht dem Herrscher gegenüber, sondern Nanaros, der offenbar Babylonien verwaltet, während Artaios die Oberherrschaft im Reich hat. Parsondes besitzt zwar kein Amt, bezeichnet sich selbst aber in seiner späteren Botschaft an Artaios als dessen Freund. Die Erwähnung des Arbakes ist damit zu erklären, dass er Babylonien laut Fragment 3 Belesys versprochen hatte. Nanaros ist wohl ein Nachfolger von Belesys und hat damit legitimen Anspruch auf das Gebiet. Die Erblichkeit des Amtes kann mit archäologischen Zeugnissen gestützt werden. 221 Aus der Darstellung lässt sich folgern, dass Parsondes mit seiner unrechtmäßigen Forderung nach Veränderung der Verhältnisse scheitern muss. 222 Die Beschreibung des Nanaros weist auffällige Parallelen zu der des Sardanapal auf. Beiden wird nämlich vorgeworfen, weibliche Gewohnheiten angenommen zu haben (F 2; 3). Nanaros vernachlässigt seine Aufgaben als Statthalter und   Jacoby (1874), S. 206; König (1972), S. 43; Lenfant (2000), S. 303.   Plut., c. Epic. (mor. 1095D). 219   Diod. 2,33,1-6. 220   Truschnegg (2011), S. 434. 221   Madreiter (2011), S. 253. 222   Rollinger (2011), S. 324. 217 218

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disqualifiziert sich durch seine Lebensführung für das Amt. Mit dieser Darstellung konstruiert Nikolaos ein Bild des verweichlichten asiatischen Machthabers und rezipiert eine Form der Tryphe-Kritik. Die Erwähnung der Abstammung von Parsondes zeigt, dass Wert auf eine Differenzierung der Völker gelegt wurde. Der Textabschnitt deutet den Übergang der Herrschaft von den Medern zu den Persern an (F 66). Die Gegenüberstellung von Parsondes und Nanaros wurde in der Forschung mit ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Altersklassen erklärt. Demnach musste Parsondes in „wilden Gegenden“ Aufgaben bewältigen, weil er der „Jünglingsklasse“ angehörte. Er geriet in Streit mit Nanaros, als er in die „Männerklasse“ eintrat und die Position des Babyloniers anfechten wollte. 223 Nanaros fehlt in der Darstellung ein Bart als sichtbares Attribut des Mannes, das ihn von Frauen und Eunuchen unterscheidet. 224 Letztere nehmen im weiteren Verlauf der Handlung eine wichtige Rolle ein. Wie dem nächsten Abschnitt zu entnehmen ist, hat Nanaros von den Verleumdungen erfahren und seinen Händlern [κάπηλοι], die das Heer des Königs begleiteten, große Gaben versprochen, wenn sie Parsondes gefangennehmen. Jener kam nach göttlicher Fügung bei der Jagd auf einen Wildesel erschöpft zu den Händlern. Diese versorgten ihn und versprachen, dem König Auskunft über sein Verbleiben zu geben. Durch ausgiebige Speisen, Trank und hübsche Frauen brachten die Händler Parsondes dazu, die Nacht bei ihnen zu verbringen, um ihn im Schlaf zu überwältigen. In diesem Teil deutet der Marsch des Großkönigs mit seinem Heer und den Händlern auf ein Reisekönigtum hin. Zwar wird im Folgenden eine Residenzstadt genannt, aber die Herrscher der frühen asiatischen Reiche verzichteten wie die Achaimeniden auf einen dauerhaften Aufenthalt in einer Hauptstadt. Die Jagd des Parsondes erinnert an die Suche des Ödipus nach Pferden in Fragment 8, denn in beiden Fällen gelangen junge Männer aus dem Adel durch das Schicksal gelenkt an einen Ort, an dem es zu einer Wende in ihrem Leben kommt. 225 Der erlegte Wildesel sollte dem König überbracht werden, weil er am höchsten Festtag der Perser als Speise aufgetragen wurde, wie bei Herodot zu lesen ist. 226 Nikolaos zeichnet das Bild, dass κάπηλοι nicht einmal vor falschen Versprechungen zurückschrecken, um Geld zu verdienen. Das Motiv, dass Gäste bei einem Abendmahl zum Einschlafen gebracht werden, kommt auch in Fragment 66 (§ 27-28) vor. Der Angriff auf Parsondes weist auf seine Stärke hin, da niemand eine direkte Konfrontation wagt, und stellt durch den Verstoß gegen das Gastrecht einen besonderen Frevel dar.

  König (1972), S. 43-44.   Lenfant (2012), S. 269. 225   Parmentier / Barone (2011), S. 42. 226   Hdt. 1,133; vgl. Parmentier / Barone (2011), S. 28. 223 224

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Einen Spannungshöhepunkt bildet die folgende Begegnung zwischen Nanaros und dem gefangenen Parsondes. Dieser Teil, der mit dem Erwachen des Persers aus seinem Rausch beginnt, wird durch einen Dialog dramatisiert. Laut Exzerpt fragte Nanaros, weswegen Parsondes ein Unrecht begehe, indem er ihn ein Mannweib [ἀνδρόγυνος] nenne und ihm sein Amt streitig mache, obwohl er dieses von Arbakes erhalten habe. An dieser Textstelle zeigt sich die starke Kürzung des Exzerpts, da das Wort ἀνδρόγυνος bisher nicht vorgekommen ist. Indem Nanaros die politische Ordnung auf einen allgemein anerkannten König zurückführt, legitimiert er seine Teilherrschaft. Mit seinen rhetorischen Fragen lenkt Nanaros das Gespräch, obwohl Parsondes am Anfang der Darstellung noch überlegen war. Parsondes begründet seine schlechte Nachrede damit, dass er für den König tapferer [ἀνδρειότερος] und hilfreicher [ὠφελιμώτερος] sei als Nanaros mit seiner gründlichen Rasur, seinen mit Farbe untermalten Augen und seiner weiß geschminkten Haut. Der Komparativ ἀνδρειότερος (von ἀνδρεῖος) bezieht sich im Kontext dieser Geschichte vor allem auf einen Aspekt der „Mannhaftigkeit“. Nach der Vorstellung des Persers ist Nanaros aufgrund seines Aussehens und seiner Lebensweise für die Statthalterschaft ungeeignet. Ähnlich wie in den Fragmenten 2 und 3 drückt sich hier eine Verhaltensforderung gegenüber dem Machthaber aus. Nanaros führt die Kritik aber auf Parsondes selbst zurück, indem er ihn fragt, ob er sich nicht schäme, von einem schlechteren Mann gefangen worden zu sein, nachdem er seinem Bauch und seinem Geschlechtsteil nachgegeben habe. Der Babylonier erinnert mit diesen Worten an die Umstände der Gefangennahme des Parsondes beim Gastmahl. Nikolaos zufolge schwor Nanaros bei den Göttern Ba‘al und Molis, Parsondes zu bestrafen. Er befahl einem Eunuchen, ihn täglich zu waschen, zu rasieren, seinen Körper abzureiben und zu schminken. Außerdem wurde aufgetragen, Parsondes das Singen und Kitharaspielen beizubringen. Nach einiger Zeit wurde dieser weiß, weich und weibisch [λευκὸς καὶ ἁπαλὸς καὶ γυναικώδης]. Wie dieser Abschnitt zeigt, wollte Nanaros seinem Gegner die Erscheinung aufzwingen, die ihm selbst zum Vorwurf gemacht worden war. Er selbst betrachtete sich zwar nicht als „weiblich“, doch wurde in der Antike häufig eine besondere Körperpflege mit Weiblichkeit verbunden. 227 Die Kritik am Babylonier bezieht sich vorwiegend auf seine Dekadenz. Das Attribut γυναικώδης wurde dem Babylonier bereits am Anfang des Textauszugs angelastet. Parsondes vollzieht durch die Übernahme eines „weiblichen Äußeren“ und der „weiblichen Gewohnheiten“ einen Geschlechterrollenwechsel, der negativ bewertet wird. Der babylonische Gott Ba‘al wurde auch in Fragment 3 erwähnt. Molis ist nach Nikolaos mit Aphrodite gleichzusetzen, die als griechische Göttin der Liebe für ihre Schönheit bekannt ist und somit einen Bezug zur Veränderung des Parsondes   Zum Zusammenhang zwischen Körperpflege und Weiblichkeit vgl. Frass (2002).

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hat. Wie bei Herodot zu lesen ist, hieß Aphrodite bei den Assyrern Mylitta. 228 Das Wort δεσπότης, das für Nanaros verwendet wird, bringt wie in den Fragmenten 4, 8 und 66 einen Perspektivenwechsel vom Erzähler zu einem Perser zum Ausdruck. 229 Laut Fragment stellte Artaios eine hohe Belohnung in Aussicht, wenn jemand Parsondes finde. Irgendwann ging der König davon aus, dass Parsondes, den er für den tapfersten [ἀνδρειότατος] hielt, von Löwen oder anderen Tieren getötet worden sei. Nach sieben Jahren Gefangenschaft bat Parsondes einen Eunuchen, den Nanaros ausgepeitscht hatte, Artaios auszurichten, dass er schmählich behandelt werde, weil er eine Lebensweise mit Sängerinnen teile. Das Wort ἀνδρειότατος weist wie der Komparativ ἀνδρειότερος im ersten Dialog auf die Gegenüberstellung von Parsondes und Nanaros hinsichtlich ihrer „Mannhaftigkeit“ hin. Der Zahl Sieben kam in der Antike eine hohe symbolische Bedeutung zu. 230 Das Motiv, dass ein Eunuch bei einer Intrige gegen den Machthaber Unterstützung leistet, kommt auch in den Fragmenten 1, 3 und 66 vor. Die Gewalt, die Nanaros gegen den Eunuchen anwendet, ist als Kritik am Statthalter zu interpretieren, der nicht in der Lage ist, den Frieden in seinem eigenen Wohnsitz zu bewahren. Nikolaos zufolge freute sich Artaios über das Lebenszeichen von Parsondes, beklagte aber zugleich seine Schande [λώβη]. Der Herrscher schickte einen Boten nach Babylonien, um Parsondes zu befreien. Nanaros leugnete, jenen gesehen zu haben, aber Artaios schickte einen größeren und mächtigeren Boten, der Nanaros einen Brief mit dem Befehl überreichte, seine babylonische Täuschung aufzugeben. Außerdem befahl Artaios dem Boten, Nanaros beim Gürtel zu ergreifen und hinzurichten, sollte er Parsondes nicht freilassen. Die Anmerkung des Nikolaos, dass mit ἄγγαρος ein Bote des Herrschers bezeichnet wird, erklärt sich damit, dass das Wort persischen Ursprung ist und königliche Eilboten von den Achaimeniden eingesetzt wurden, wie Herodot berichtet. 231 Der Brief des Artaios bezieht sich darauf, dass Nanaros mit dem Pronomen ἐκεῖνος, das im Maskulin steht, nur Parsondes in seiner früheren Erscheinung meint. Die äußerliche Veränderung des Persers wird im Wortwechsel zwischen Herrscher und Statthalter auch durch die Worte ἀνήρ und ἄνθρωπος angedeutet. Das Ergreifen des Gürtels bedeutete eine Entwaffnung und war ein Symbol der Verurteilung. 232 Nikolaos zufolge lud Nanaros den Boten zu einem Gastmahl ein, bei dem 150 Kitharaspielerinnen auftraten. Unter den Frauen war Parsondes, der alle an 228   Hdt. 1,131; 1,199; vgl. Parmentier / Barone (2011), S. 30; Rollinger (2011), S. 340-341. 229   Parmentier (1991), S. 231. 230   Zur Bedeutung der Zahl Sieben vgl. etwa Reinhold (Hg.) (2008). 231   Hdt. 8,98. 232   Parmentier / Barone (2011), S. 33.

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Schönheit und Kunstsinn übertraf. Nanaros unterhielt sich mit dem Boten darüber, welche Frau hinsichtlich ihrer Erscheinung und Musikalität die beste sei. Dass sich der Bote für Parsondes entschied, sorgte für große Unterhaltung bei Nanaros, der seinen Gast schließlich über die Identität von Parsondes aufklärte. Kitharaspielerinnen kommen bei Nikolaos auch in Fragment 66 (§ 26) am Hof des letzten Mederkönigs Astyages vor. Die hohe Zahl von 150 Frauen, die auch Ktesias nennt, bringt eine Vorstellung von asiatischem Luxus zum Ausdruck. 233 Das Hinauszögern der Aufklärung und die Erwartung der Reaktion des irritierten Boten erhöht die Spannung der Geschichte. Aus seiner Frage, wie Parsondes am Leben bleiben und sich nicht töten konnte, lässt sich die Erwartungshaltung ableiten, dass bei langandauernder Schande ein Suizid vorzuziehen sei. Offenbar stellte die Übernahme der weiblichen Geschlechterrolle eine solche Schande dar. 234 Die Vorstellung, dass ein Weiterleben nicht immer erstrebenswert ist, findet sich auch bei Plinius. 235 Artaios, zu dem Parsondes schließlich gebracht wird, äußert den gleichen Gedanken. Eine letzte Herabwürdigung stellt die Fahrt des Parsondes in einer Kutsche [ἁρμάμαξα] dar, weil in der Regel Frauen und Eunuchen in einer ἁρμάμαξα reisten. 236 Die Angabe, dass sich die Königsresidenz in Susa befunden habe, ist anachronistisch, da Susa erst unter den Achaimeniden zu einem Herrschaftssitz wurde. In Fragment 66 (§ 11) wird Ekbatana als Residenzstadt der Meder genannt. Parsondes begründet sein Überleben mit dem Ausspruch, dass sogar die Götter der Notwendigkeit unterworfen seien. Laut Fragment wollte er mit Hilfe des Königs Rache an Nanaros nehmen. Nach kurzer Zeit erhielt Parsondes seine männliche Natur [ἀνδρεία φύσις] zurück. In einem Prozess verteidigte sich Nanaros damit, dass er zuerst verleumdet worden sei, aber Artaios gab Parsondes Recht und sagte, dass er dem Babylonier nach zehn Tagen sein Urteil verkünden werde. Die Zahl Zehn, die auch in einer Darstellung von Diodor über die Astrologie der Chaldäer genannt wird, ist ein Hinweis darauf, dass Gerichtsprozesse in Zusammenhang mit der Sterndeutung gebracht wurden. 237 Laut Exzerpt bat Nanaros dann Mitraphernes, den vermögendsten Eunuchen, um Fürsprache, wobei er ihm und dem König enorme Geld- und Sachversprechungen machte. Artaios wurde von der Todesstrafe abgebracht und sprach Parsondes eine Entschädigung von 100 Talenten zu. Dieser schüttelte den Kopf und verfluchte den Entdecker des Goldes, da er wegen diesem zum Gespött eines Babyloniers geworden sei. Das Fragment endet mit der Anmerkung, dass Parsondes auf eine gute Gelegenheit zur Rache wartete und Vergeltung übte.   FGrHist 688 F 6 = Athen. 12,40 (530d); vgl. Vössing (2004), S. 39.   Truschnegg (2011), S. 430. 235   Plin., nat. 28,9 (2). 236   Parmentier / Barone (2011), S. 34; Truschnegg (2011), S. 430. 237   Diod. 2,30,6; vgl. König (1972), S. 44. 233 234

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Mitraphernes ist aus keiner anderen Quelle bekannt. Auffällig ist, dass Nanaros von einem Eunuchen verraten wurde und nun einen anderen Eunuchen darum bittet, Einfluss auf den Herrscher zu nehmen. 238 In beiden Fällen sind Eunuchen an Intrigen beteiligt. Dass Eunuchen mit Reichtum verbunden wurden, geht auch aus Fragment 66 (§ 7) hervor. Der Verweis von Parsondes auf die Herkunft des Nanaros erinnert an Fragment 3, in dem Arbakes nicht von einem Babylonier verspottet werden will. Nach Nikolaos glaubten Meder und Perser also, den Babyloniern überlegen zu sein. Über den Ausgang der Geschichte, der in der Sammlung über Feldherrentaten zusammengefasst wurde, gibt Diodor Auskunft: Parsondes fühlte sich vom König beleidigt, floh zu den Kadusiern und stürzte Artaios mit ihrer Hilfe. 239 Am Ende der Darstellung herrscht wieder Gerechtigkeit. Parsondes führte nämlich den Sturz des Herrschers herbei, der ihm zwar Rache versprochen hatte, aber durch Bestechung davon abgerückt war. Nanaros, der sich durch seine Lebensführung für die weitere Machtausübung disqualifiziert und Parsondes ohne Rücksprache mit Artaios gedemütigt hatte, wird von seinem Konkurrenten bestraft. Parsondes musste viele Jahre Schande erdulden, erhält aber schließlich Genugtuung. Aufgrund der unterschiedlichen Verhaltensweisen der schwer durchschaubaren Charaktere ist das Fragment in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert worden. Das Hauptmotiv der vertauschten Geschlechterrollen steht für eine Verkehrung der Verhältnisse. 3.1.5.  Fragment 5 (Exc. de virtut. 1 p. 335,20) Einordnung: Dieses in den Excerpta de virtutibus et vitiis überlieferte Fragment, das dem ersten und zweiten Buch des Nikolaos zugeordnet ist, handelt von Stryangaios und seiner unerfüllten Liebe zu Zarinaia. Wie dem ersten Satz zu entnehmen ist, war Zarinaia Nachfolgerin des Marmares, des Königs der Saken. Stryangaios, dessen Name nicht sicher herzuleiten ist, war laut Textauszug mit Rhotaia, der Tochter des Astibaras, verheiratet. Eusebius von Caesarea, der sich auf Alexander Polyhistor beruft, erwähnt Astibaras als Verbündeten des babylonischen Königs Nebukadnezar II. 240 Bei Nikolaos kommt Astibaras als vorletzter Mederkönig in Fragment 66 vor. Stryangaios war demnach mit dem medischen Königshaus verbunden. Der historische Hintergrund der Darstellung ist der Parallelüberlieferung bei Diodor zu entnehmen, bei dem die Königin der Saken Zarina heißt: Die Parther fielen um 600 v. Chr. von den Medern ab und schlossen sich den Saken an. Darauf kam es zum Krieg zwischen Saken und Medern, bis die Parther wieder auf die Seite der Meder wechselten. 241 Die Liebesgeschichte   Lenfant (2012), S. 261.   Diod. 2,33,1-6. 240   Eus., pr. ev. 9,39. 241   Diod. 2,34,1-5. 238 239

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von Stryangaios und Zarinaia, die wohl auf eine alte vorderasiatische Erzählung zurückgeht, wurde mit diesen Auseinandersetzungen verknüpft. Am Anfang der Tradition, der Nikolaos folgte, stand Ktesias. Dieser berichtet, dass ein Meder namens Stryaglios in eine Sakerin verliebt gewesen sei. 242 Bei Ktesias kommt auch Zarinaia vor, und der Autor zitiert wie Nikolaos den Brief, den Stryangaios an seine Geliebte schrieb. 243 Ein Papyrus aus Oxyrhynchus, der die Botschaft in einer längeren Version überliefert, geht ebenfalls auf Ktesias zurück. 244 Mit Semiramis hat Zarinaia gemeinsam, dass sie durch den Tod des Herrschers an die Macht kam (F 1). Wie die anderen Quellen zeigen, zeichnete sich Zarinaia auch durch ihre Kriegsführung aus. 245 Die novellistische Darstellung des Nikolaos ist ausführlicher als die Parallelüberlieferungen; allerdings bricht das Fragment mit einem unvollendeten Satz ab, dessen Ergänzung mit Fragment 82 F. Jacoby zufolge „durchaus nicht sicher“ ist. 246 An dieser Stelle ist wohl ein Blatt des konstantinischen Werks verloren gegangen (F 9). 247 Durch Geschichten wie die über Zarinaia und Stryangaios wurde die Liebe zu einem wichtigen Motiv in der griechischen Literatur. 248 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Der Textauszug setzt unmittelbar mit dem Hauptmotiv der Geschichte ein: Stryangaios empfand lange Zeit Liebe [ἔρως] für Zarinaia, und jene für ihn. Als sich Stryangaios der Stadt Roxanake näherte, wo der Palast der Saken war, begegnete ihm Zarinaia, die ihn vor aller Augen küsste. Zusammen fuhren sie auf einem Wagen zum Palast. Wegen seiner Liebe [ἔρως] zu Zarinaia teilte sich Stryangaios dem Eunuchen mit, dem er das meiste Vertrauen schenkte [πιστότατος]. Dieser ermutigte ihn, seine Scheu abzulegen und mit Zarinaia zu sprechen. Die Liebe des Stryangaios zu Zarinaia wird sehr bildhaft beschrieben. Die Anmerkung, dass Zarinaia ihn öffentlich küsste, zeigt, dass ihre innige Begrüßung nicht den Normen entsprach. Ort des Geschehens ist Roxanake, wobei es sich wohl um die Residenzstadt der Saken handelt. Die Stadt wird bei Stephanos Byzantios erwähnt und befand sich möglicherweise auf dem Gebiet des heutigen Iran. 249 Eunuchen, die mit dem Attribut πιστότατοι beschrieben werden, kommen auch in den Fragmenten 3 und 66 vor. In allen Fällen erweisen sie sich gegenüber dem Herrscher als unzuverlässig, da ihr Verhalten zum Machtwechsel beiträgt. Offenbar sollte den Lesern gezeigt werden, dass sogar dem besten Eunuchen 242   FGrHist 688 F 7; 8a. Zu den Namensvarianten vgl. Jacoby (1874), S. 208-209; König (1972), S. 46; Lenfant (2000), S. 304. 243   FGrHist 688 F 7; 8a. 244   P. Oxy. 22,2330 = FGrHist 688 F 7; 8a; 8b; vgl. Biltcliffe (1969). 245   Truschnegg (2011), S. 412. 246   Jacoby (1926b), S. 255; Pignataro (2000), S. 302. 247   Jacoby (1926a), S. 338. 248   Musche (1999), S. 79. 249   Steph. Byz. s. v. Ῥοξονοκαὶα; vgl. Pignataro (2000), S. 304.

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nicht zu trauen ist. Die Kritik an dem Vertrauensverhältnis wird durch die Anmerkung unterstrichen, dass Stryangaios nicht standhaft geblieben sei. Ein Gespräch über Liebeskummer zwischen Machthaber und Eunuch wird als unangemessen dargestellt. Im Weiteren ist zu erfahren, dass Stryangaios auf Vorschlag des Eunuchen zu Zarinaia ging und sagte, dass er aufgrund seiner Liebe [ἔρως] vor Sehnsucht nach ihr brenne. Zarinaia antwortete, dass eine Affäre [τὸ πρᾶγμα] für sie selbst schändlich und schädlich sei, für jenen aber noch viel schändlicher und schädlicher, weil er Rhotaia, die Tochter des Astibaras, zur Frau habe, die ausgesprochen schön sei. Er müsse sich nicht nur gegen Feinde als Mann erweisen [ἀνδρίζεσθαι], sondern auch dann, wenn ihm etwas auf der Seele liege, und er solle nicht wegen eines kurzen Vergnügens, das er auch mit Nebenfrauen [παλλακίδες] haben könne, lange betrübt sein, wenn Rhotaia dahinter komme. Zarinaia weist in dieser Darstellung die Annäherungsversuche des Stryangaios zurück. Anders als er erkennt die Herrscherin die Risiken einer Affäre. In der Sehnsucht des Mannes sieht Zarinaia keine emotionale Liebe, sondern nur ein sexuelles Begehren. Das Wort ἔρως, das mehrfach im Textauszug vorkommt, signalisiert, dass Stryangaios von einem sinnlich-erotischen Verlangen geleitet ist. Zarinaia wirkt durch ihre Zurückweisung vernünftiger. 250 Der Verweis auf die παλλακίδες impliziert, dass Geschlechtsverkehr mit Nebenfrauen keinen Treuebruch darstellte. 251 Eine Affäre wäre in der Darstellung nicht mit der Machtposition Zarinaias zu vereinbaren, da sie in den polygamen Lebensverhältnissen des Stryangaios, die eine Hierarchisierung der Frauen zum Ausdruck bringt, eine Position unter der seiner Frau Rhotaia einnehmen würde. 252 Bemerkenswert sind die rhetorischen Stilmittel, die in der Rede der Königin vorkommen. So wird das kurze Vergnügen der langen Betrübtheit gegenübergestellt. Außerdem warnt Zarinaia ihren Verehrer, indem sie die ohnehin negative Bewertung des Ehebruchs mit Hilfe der Komparative αἴσχιον und βλαβερώτερον steigert. Der Vergleich zwischen der Zuneigung des Stryangaios und einer Begegnung mit einem Feind ist mit dem Bild Zarinaias als Kriegerin zu erklären. 253 Aus dem letzten Teil des Exzerpts geht hervor, dass Stryangaios ruhig Abschied von Zarinaia nahm. Er beklagte sich beim Eunuchen und schrieb etwas auf ein Pergament. Den Eunuchen ließ er schwören, Zarinaia das Pergament zu überbringen, sobald er selbst ums Leben gekommen sei. Die Botschaft wird in der ersten Person wiedergegeben und ihr Inhalt stimmt mit der Überlieferung bei Ktesias überein. 254 Laut dem Brief habe Stryangaios durch die Rettung Zarinaias Gutes bewirkt, Zarinaia habe ihn aber getötet. Er wünsche ihr Glück, wenn sie   Musche (1999), S. 79; 181.   Parmentier / Barone (2011), S. 39. 252   Truschnegg (2011), S. 414. 253   Truschnegg (2011), S. 410-411. 254   FGrHist 688 F 8a; 8b; vgl. Biltcliffe (1969), S. 87-88. 250 251

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gerecht gehandelt habe, verfluche sie aber, wenn sie Unrecht begangen habe. Diesen Brief legte er unter sein Kissen und verlangte ein Schwert, um tapfer [ἀνδρείως] in den Hades zu gehen. Das Fragment bricht nach den Worten ὁ δὲ εὐνοῦχος ab, sodass unklar bleibt, wie der Eunuch auf den Befehl reagierte. Aus dem δὲ wurde abgeleitet, dass er Stryangaios von seinem Vorhaben abbringen wollte. 255 In den Überlieferungen, die auf Ktesias zurückzuführen sind, tötete sich der Herrscher jedoch. 256 Wie im Falle des Stheneboias in Fragment 9 führte wohl auch hier eine maßlose Leidenschaft zum Suizid. Der Brief des Stryangaios enthält wie die Rede Zarinaias rhetorische Stilmittel. Die Satzanfänge ἐγὼ und σὺ unterstreichen die Gegenüberstellung des Verhaltens der Herrscherin und des Meders. Durch die folgenden Konditionalsätze wird nahegelegt, dass Stryangaios über alle Eventualitäten nachgedacht habe. Auf ähnliche Weise richtete sich Kamblitas in Fragment 22 vor seinem Suizid an die Lyder. Der Teil καὶ γάρ μοι παρῄνεσας τοιοῦτον γενέσθαι ist ein Euphemismus für die Selbsttötung des Stryangaios. 257 Die Rettung Zarinaias lässt sich mit der Überlieferung bei Ktesias erklären, nach der Stryangaios eine Sakerin vom Pferd gestürzt, aber am Leben gelassen habe. 258 Das Adverb ἀνδρείως, das Stryangaios verwendet, knüpft an das Verb ἀνδρίζεσθαι an, mit dem Zarinaia ihn aufforderte, sich als Mann zu erweisen. Wie im ersten Fragment gehört auch hier eine Herrscherin zu den Hauptpersonen der Darstellung. In beiden Fällen geht es weniger um die aktive Rolle von Frauen als um die moralische Bewertung ihres Verhaltens. 259 Geschlechteraspekte sind aber auch hier von Bedeutung, denn Zarinaia verkörpert wie Semiramis „männliche“ Tugenden (Kap. 2.3.2.1.). Während sie über ihren Gefühlen steht und Stryangaios vor den Konsequenzen einer Affäre warnt, kann dieser seine Gefühle nicht kontrollieren und entschließt sich, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Durch ihr Verhalten demonstriert Zarinaia Vernunft und Besonnenheit. Dabei erscheint sie aber nicht als kaltherzige Frau, die einen verdienten Mann abweist. Der Ausgang der Geschichte macht deutlich, dass Nikolaos an den Folgen von Leid und an den emotionalen Krisen seiner Charaktere interessiert war. 260 Aufgrund der unterschiedlichen Bewertungen der Personen ist das Fragment in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert worden. 3.1.6.  Fragment 6 (Etym. m. s. v. Ἄχαιμένης [180,42-45]) Einordnung: Im Artikel Ἄχαιμένης des byzantinischen Werks Etymologicum Magnum wird auf das zweite Buch des Nikolaos verwiesen. Der kurze Textauszug handelt vom Heros eponymos der Achaimeniden, den schon Herodot erwähnt   König (1972), S. 46; Lenfant (2000), S. 303.   FGrHist 688 F 7; 8a; 8b. 257   Pignataro (2000), S. 304; Parmentier / Barone (2011), S. 40. 258   FGrHist 688 F 8a. 259   Truschnegg (2011), S. 433. 260   Toher (2009), S. 74-75. 255 256

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hatte. 261 Dareios I. berief sich in der Bistun-Inschrift auf einen Vorfahren namens Achaimenes. 262 Bei Platon steht, wie bei Nikolaos, dass Achaimenes ein Nachkomme des Perseus sei. 263 Als Söhne des Perseus nennt die Bibliotheke des Apollodor dagegen Perses und dessen Sohn Kepheus, von dem die Könige der Perser abstammten. 264 Nach Stephanos Byzantios sei Achaimenes der Sohn des Königs Aigeus gewesen, und Aelian berichtet, dass er von einem Adler ernährt worden sei. 265 Horaz bringt seinen Namen mit persischem Reichtum in Verbindung, und Ovid schreibt von „Städten des Achaimenes“. 266 Vielleicht stützte sich Nikolaos in seiner Darstellung auf Hellanikos, wie schon F. Jacoby vermutet hat. 267 Inhaltswiedergabe und Kommentar: In dem kurzen Text ist zu lesen, dass Achaimenes der Heros war, von dem die persischen Achaimeniden ihren Namen hatten. Er war ein Sohn des Perseus und erhielt seinen Namen, da sein Stammvater aus Achaia stammte. Bei dieser Herleitung handelt es sich um eine Populäretymologie, denn „Achaimenes“ kommt in Wirklichkeit vom altpersischen „Hakhāmanis“. Perseus wird auch in den Fragmenten 10 und 13 des Nikolaos erwähnt. Laut Mythos stammte er aus Argos auf der Peloponnes. 268 Schon vor der persischen Geschichte im siebten Buch (F 66-67) führte Nikolaos den Stammvater der Achaimeniden ein. Unklar ist, in welcher Beziehung Achaimenes in den Historien zu Kyros stand, denn letzterer ist bei Nikolaos, anders als bei Herodot, nicht adliger Herkunft (F 66). Das Fragment macht deutlich, dass sich Nikolaos näher mit der Geschichte Persiens und dem Ursprung der Achaimeniden beschäftigt hat. 269 3.2.  Buch 3 (F 7-14): Mythische Anfänge bis

zum

Trojanischen Krieg

3.2.1.  Fragment 7 (Exc. de insidiis p. 6,17) Einordnung: In diesem Textausschnitt, der in den Excerpta de insidiis dem dritten Buch der Universalgeschichte zugeordnet ist, geht es um Antiope und ihre Zwillingssöhne Amphion und Zethos, die aus dem griechischen Mythos bekannt sind. Zwillinge waren ein beliebtes Motiv in der Antike und kommen bei Nikolaos auch in Fragment 44 vor. Die vorliegende Darstellung ist wie die   Hdt. 3,75; 7,11.   Dareios, Bīsutūn-Inschrift § 2F; vgl. Schmitt (2009), S. 37. 263   Plat., Alk. 1,120e. 264   Apollod., bibl. 2,49 (2,4,5). 265   Steph. Byz. s. v. Ἀχαιμενία; Ael., NA 12,21. 266   Hor., carm. 3,1,44; Ov., met. 4,212. 267   FGrHist 4 F 59-60; Jacoby (1926b), S. 235. 268   Tripp (2012), Art. Perseus, S. 423-427. 269   Alonso-Núñez (1995), S. 8. 261 262

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Fragmente 8 und 57 vom griechischen Aussetzungsmythos geprägt. Amphion und Zethos werden ausgesetzt, überleben aber und erlangen schließlich die Herrschaft. 270 Euripides hatte diese Handlung in seiner fragmentarisch erhaltenen Tragödie Antiope verarbeitet. 271 Nacherzählungen des Dramas finden sich bei Pausanias und in einem Fragment, das Kephalion zugeschrieben wird. 272 Eine Besonderheit des Exzerpts besteht darin, dass Laios als König von Theben regiert, während Lykos seine Herrschaft bereits verloren hat. Anders als bei Euripides ist Lykos hier also „privatmann geworden“, wie F. Jacoby feststellt. 273 Laios kommt im nachfolgenden Textauszug als Vater des Ödipus vor. Als Vorlage hat Nikolaos wohl auf eine rationalisierte Prosaerzählung zurückgegriffen. Jacoby zufolge komme Hellanikos als Quelle in Frage. Einen Einfluss von Sophokles, der nach C. Robert in der Darstellung zu erkennen sei, hält Jacoby für zweifelhaft. 274 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Mythos regierte Lykos als Regent in Theben, solange Laios nicht selbst das Königtum übernehmen konnte. Zeus schlief mit Antiope, die infolge ihrer Schwangerschaft die Stadt verlassen musste. 275 An diesen Teil der Geschichte knüpft das vorliegende Fragment an. Antiope brachte Amphion und Zethos unterwegs zur Welt, sah sich aber gezwungen, diese auszusetzen. Nachdem Lykos seine Herrschaft verloren hatte und Laios von den Kadmeern als König eingesetzt worden war, gingen Amphion und Zethos vom Kithairon nach Theben. Die Brüder erfuhren vom Schicksal ihrer Mutter, die unter strenger Aufsicht Dirkes stand. Im Garten des Lykos gab Antiope ihnen Wasser. Die Mutter beklagte ihr Unglück und fiel ihren Söhnen in die Arme, sobald sie die beiden erkannte. Amphion und Zethos wurden zornig und töteten Lykos. Dann steinigten sie Dirke und warfen sie in einen Fluss, der seitdem nach ihr benannt ist. Bei den καδμεῖοι, die am Anfang des Textauszugs erwähnt werden, handelt es sich um das Herrschergeschlecht in Theben, das seinen Namen vom mythischen König Kadmos ableitete. Das Kithairon-Gebirge, in dem Amphion und Zethos aufwachsen, ist laut Fragment 8 auch der Aussetzungsort des Ödipus. Die starke Kürzung des Exzerpts zeigt sich vor allem durch den zeitlichen Sprung zwischen der Kindheit der Brüder und ihrer Reise nach Theben, der durch den Machtwechsel von Lykos zu Laios möglich wurde. Wahrscheinlich zogen Amphion und Zethos nicht wie bei Pausanias mit einem Heer nach Theben, denn sie geraten in dieser Darstellung nicht in Konflikt mit dem Herrscher Laios. 276 F. Jacoby stellt sich die beiden als „räuberhauptleute oder φυγάδες“   Zu Zwillingen in Aussetzungsmythen vgl. Binder (1964), S. 73-77; 146-149.   Eur. fr. 179-227 Seeck. 272   Paus. 2,6,1-4; 9,5,4-6; FGrHist 93 F 5; vgl. Squillace (2012). 273   Jacoby (1926b), S. 236. 274   Jacoby (1926b), S. 237; Robert (1920), S. 118. 275   Tripp (2012), Art. Antiope [1], S. 55-56; Kühr (2006), S. 123. 276   Paus. 9,5,6. 270 271

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vor. 277 Antiope befand sich jedenfalls in der Gewalt von Lykos und seiner Frau Dirke. Als Grund für ihr Unglück gibt sie die Geburt ihrer Kinder an. Möglicherweise war Dirke eifersüchtig auf Antiope und behandelte sie deswegen grausam. Den Spannungshöhepunkt bildet das Motiv der Wiederbegegnung, das auch aus anderen Erzählungen, wie dem Ödipus-Mythos, bekannt ist. Mit dem κῆπος und der Wasserstelle wird ein idealisierter Handlungsraum konstruiert, der dem Leid der Antiope gegenübersteht. Antiopes Reaktion auf das unerwartete Wiedersehen mit ihren Kindern soll das Mitgefühl der Leser erwecken. Der Fluss, der Nikolaos zufolge nach Dirke benannt sei, befindet sich südwestlich der antiken Stadt Theben und wurde im Mythos und in der Dichtung eng mit der Polis verbunden. In den Parallelüberlieferungen wird Dirke an einen Stier gebunden, durch den sie umkommt. 278 Die Steinigung ist bei Nikolaos als Kollektivstrafe zu begreifen, welche die Gemeinschaft vollzog, um eine spätere Rache an einem Einzelnen auszuschließen. Die Hinrichtungsform macht deutlich, dass die Sanktionierung im Interesse der sozialen Gruppe lag (Kap. 2.3.3.1.). Aufgrund der Tötung von Lykos und Dirke wurde das Exzerpt der byzantinischen Sammlung über ἐπιβουλαί hinzugefügt. Wie am Ende des Textauszugs zu lesen ist, habe Laios die Taten der beiden Brüder gebilligt und ihnen für das Unrecht, das ihnen zugefügt worden sei, das Haus von Lykos und Nykteus gegeben. Nykteus ist als Vater der Antiope und Bruder des Lykos bekannt. 279 Die Übernahme des Hauses ist als Erbe zu verstehen, denn Antiope war nach dem Tod von Nykteus und Lykos zur Erbtochter geworden. Sie war zwar nicht selbst vermögensfähig, doch der Besitz konnte auf ihre Söhne übergehen. 280 Die abschließende Anmerkung, dass die Söhne ihre Mutter gerettet hätten, weist auf die Wiederherstellung von Gerechtigkeit hin. 3.2.2.  Fragment 8 (Exc. de insidiis p. 7,1) Einordnung: Dieses konstantinische Exzerpt gehört zum dritten Buch der Universalgeschichte und thematisiert den Mythos von Ödipus, der unwissentlich seinen Vater Laios tötete und seine Mutter zur Frau nahm. Laut dem vorangegangenen Fragment hat Laios nach Lykos die Herrschaft über Theben übernommen. Wie im bekannten Drama des Sophokles ist auch hier das zentrale Motiv der Handlung, dass ein Orakel den Patrizid und Inzest des Ödipus voraussagt. Die Versuche, das Unglück zu verhindern, führen zu dem tragischen Ergebnis, dass das Unglück herbeigeführt wird. Gegenüber den zahlreichen Parallelüberlieferungen weist das Exzerpt die Besonderheit auf, dass Laios sowohl seine Ermordung durch seinen Sohn als auch dessen Heirat mit der Mutter prophezeit   Jacoby (1926b), S. 236.   Tripp (2012), Art. Dirke, S. 166; Kühr (2006), S. 204. 279   Tripp (2012), Art. Nykteus, S. 366-367. 280   Schmitz (2007), S. 33. 277 278

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werden. Bei Sophokles ist es dagegen Ödipus, der beide Voraussagen erhält. 281 Nikolaos nennt die Mutter gemäß der homerischen Form Epikaste, während sie bei Sophokles Iokaste heißt. 282 Außerdem fällt auf, dass Laios zusammen mit seiner Frau auf Ödipus trifft. F. Jacoby zufolge machen die vielen Besonderheiten „mindestens teilweise einen altertümlichen eindruck“. 283 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Weil Laios und Epikaste laut Exzerpt keine Kinder bekamen, befragte der König das Orakel von Delphi. Dieses verkündete, dass Laios ein Kind zeugen werde, das den Vater töten und die Mutter heiraten werde. Als Epikaste daraufhin einen Sohn bekam, setzte Laios diesen am Kithairon aus. Das Kind wurde von Rinderhirten gefunden, die im Dienste des Polybos standen, von dem man sagte, dass er der Sohn des Hermes sei. Polybos zog das Kind auf und gab ihm wegen seiner geschwollenen Füße den Namen Ödipus. Ähnlich wie in Fragment 47 leidet auch in dieser Darstellung ein Mann an Kinderlosigkeit, weil es keine Klarheit über sein Erbe und die Zukunft seines Hauses gibt. Am Kithairon wurden laut Fragment 7 auch Amphion und Zethos ausgesetzt. 284 Die βουκόλοι hatten wegen des Werts von Rindern einen höheren sozialen Status als etwa Ziegenhirten, denen Kyros in Fragment 66 angehört. Während die Herkunft des Kyros auf seine Armut hinweist, sagt die Rettung des Ödipus durch Rinderhirten einen sozialen Aufstieg voraus. Mit der Einordnung des Polybos als Sohn des Gottes Hermes erhält die Geschichte eine weitere Verbindung zum griechischen Mythos. Polybos ist als König von Korinth bekannt, doch sein Herrschaftsgebiet wird im vorliegenden Fragment erst am Ende erwähnt. Die Verwendung der Bezeichnung δεσπότης für Polybos geht auf einen Perspektivenwechsel zu den Rinderhirten zurück. 285 Die besondere Zuwendung zu Ödipus lässt vermuten, dass Polybos keine eigenen Kinder hatte. Wie in der Parallelüberlieferung bei Sophokles spielte also auch hier das Motiv der Kinderlosigkeit eine Rolle. 286 Die Etymologie des Namens von Ödipus ist bei Nikolaos genauer als im Werk des Sophokles oder in Apollodors Bibliotheke, denn Οἰδίπους wird vom Verb οἰδέω und dem Substantiv πούς hergeleitet. Es fehlt allerdings die Erklärung, dass die Füße des Ödipus vor seiner Aussetzung verstümmelt worden waren. 287 281   Soph., Oid. T. 790-793; vgl. Jacoby (1926b), S. 237; Parmentier / Barone (2011), S. 43. 282   Hom., Od. 11,271. 283   Jacoby (1926b), S. 237; Parmentier / Barone (2011), S. 44. 284   Zum Motiv der Aussetzung des Ödipus vgl. Binder (1964), S. 142-144; Wesselmann (2011), S. 209-210. Zur Aussetzung in der Antike vgl. Eyben (1980), S. 12-19; Patterson (1985); Th. Schmitz (2005). Einen Forschungsüberblick gibt Oldenziel (1987). 285   Parmentier (1991), S. 231. 286   Soph., Oid. T. 1024. 287   Soph., Oid. T. 1032-1036; Apollod., bibl. 2,49 (3,5,7).

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Der zweite Teil der Handlung beginnt mit einem zeitlichen Sprung: Ödipus ging auf der Suche nach Pferden nach Orchomenos in Böotien. Zufällig begegnete ihm Laios, der mit Epikaste auf dem Weg nach Delphi war. Der Herold des Königs forderte Ödipus auf, beiseite zu gehen, aber Ödipus erschlug ihn in seinem Hochmut [μεγαλοφροσύνη] und tötete auch Laios. Als wenig später das Gefolge hinzukam, suchte Epikaste den Mörder, fand ihn aber nicht. Dann bestattete sie Laios und den Herold am Laphystion und kehrte nach Theben zurück. Das Motiv, dass sich Ödipus auf die Suche nach Pferden begibt, geht nach C. Robert auf eine alte Tradition zurück. Ödipus suchte nach Pferden, die aus Korinth geraubt worden waren, oder er wollte selbst Pferde rauben. 288 Wie Parsondes, der laut Fragment 4 auf der Jagd nach einem Wildesel war, gelangt auch hier die Hauptperson durch das Schicksal gelenkt an einen Ort, an dem der weitere Handlungsverlauf bestimmt wird. Bei Nikolaos sind es typischerweise junge Männer aus dem Adel, die ihre Heimat für Kriegs- oder Jagdzüge verlassen und dann gefährliche Abenteuer erleben. 289 Das Motiv für die zweite Fahrt des Laios zum Orakel von Delphi bleibt unklar. Im Mythos wird die Begegnung des Königs mit seinem Sohn damit erklärt, dass Ödipus Korinth verlassen habe, um seinem prophezeiten Schicksal zu entgehen. 290 In der Überlieferung fehlt der Name des Herolds. Die Lokalisierung der Handlung bei Orchomenos und am Laphystion sind weitere Besonderheiten des Fragments. 291 Der Berg in Böotien ist als Todes- und Bestattungsort schlüssig, wenn Laios von Theben nach Delphi zog und Ödipus von Korinth auf dem Weg nach Orchomenos war. Nach É. Parmentier / F. P. Barone ist aber das Motiv der Weggabelung, an der sich Vater und Sohn treffen, verloren gegangen. 292 Die Anwesenheit Epikastes bei dem Konflikt könnte auf eine Vermischung verschiedener Traditionen zurückgehen. 293 Dass Ödipus in einem Wald verschwunden sei, wie in dem Fragment steht, ist aus keiner anderen Quelle bekannt. Am Ende des Textauszugs ist zu erfahren, dass Ödipus auf dem Maultiergespann des Laios nach Korinth zurückkehrte und dieses Polybos übergeben habe. Im letzten Satz gibt es eine korrupte Stelle, die mit der Konjektur διετέλει συνὼν den Sinn ergibt, dass Ödipus weiterhin bei Polybos lebte und ihn nach wie vor für seinen Vater hielt. 294 Möglicherweise hatte sich Ödipus im Auftrag des Polybos auf seine Reise begeben. Aufgrund der starken Kürzung des Exzerpts fehlt in der Darstellung die vorausgesagte Heirat mit Epikaste. Dass Ödipus und Laios zufällig in einen Konflikt miteinander geraten, ohne sich zu erkennen, führt wie in den anderen Quellen zum tragischen Patrizid. Dieses Schicksal ist darauf   Robert (1921b), S. 887; Rudhardt (1983), S. 131-139.   Parmentier / Barone (2011), S. 42. 290   Tripp (2012), Art. Oidipus/Oidipodes, S. 384-386. 291   Jacoby (1926b), S. 237. 292   Parmentier / Barone (2011), S. 42. 293   Parmentier / Barone (2011), S. 44. 294   Parmentier / Barone (2011), S. 44. 288 289

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zurückzuführen, dass Laios ein Kind zeugte, obwohl ihn das Orakel davor gewarnt hatte. 295 Seine Ermordung ist jedenfalls der Grund für die Überlieferung des Fragments in den Excerpta de insidiis. 3.2.3.  Fragment 9 (Exc. de virtut. 1 p. 336,25) Einordnung: Das Fragment aus dem dritten Buch des Nikolaos ist in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert und thematisiert den Mythos von Bellerophon, der die Chimäre tötet. Der Beginn der Überlieferung fehlt, wie an der Disjunktion εἲτε deutlich wird, die einen Nebensatz einleitet. F. Jacoby zufolge ist an dieser Stelle des konstantinischen Werks ein Blatt verloren gegangen, sodass nur das Ende des Exzerpts überliefert ist (F 5). 296 Den Kampf zwischen Bellerophon und der Chimäre hatte schon Homer in der Ilias thematisiert. 297 Eine Besonderheit des Fragments ist, dass der König von Lykien Amphianax heißt. Nach der Bibliotheke des Apollodor sei dies ein alternativer Name für Iobates. 298 Die Königin von Argos wird hier Stheneboia genannt, während sie bei Homer Anteia heißt. 299 Laut Bibliotheke sei Stheneboia der Name, den die Tragödiendichter verwendeten. 300 Euripides hat Stheneboia ein Drama gewidmet, das nur in Fragmenten erhalten ist. 301 Dass Pegasos in diesem Fragment fehlt, spricht dafür, dass Nikolaos einer von Homer geprägten Tradition folgte, denn bei ihm kommt das mythische Pferd ebenfalls nicht vor. Möglich ist auch, dass Nikolaos die Geschichte rationalisiert hat, worauf am Ende des Fragments die Selbsttötung der Stheneboia hindeutet, die ansonsten nur in den Fabulae des Hyginus erwähnt wird. 302 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Mythos wollte Stheneboia, die Königin von Argos, Bellerophon verführen. Weil er sie zurückwies, verleumdete sie ihn bei ihrem Mann Proitos, der seinen Gast nicht töten konnte. Er schickte Bellerophon also zu Amphianax, dem König von Lykien, doch auch dieser wagte keinen direkten Übergriff und forderte ihn auf, gegen die Chimäre zu kämpfen. 303 An diese Erzählung knüpft das vorliegende Fragment an, dem zu entnehmen ist, dass Bellerophon die Chimäre tötete und Lykien von den Ängsten befreite. Amphianax bewunderte den Edelmut [τὸ γενναῖον] des Bellerophon und gab ihm seine Tochter zur Frau, sodass Bellerophon die Königsherrschaft erlangen konnte.   Flaig (1998), S. 24.   Jacoby (1926a), S. 338. 297   Hom., Il. 6,155-220. 298   Apollod., bibl. 2,25 (2,2,1). 299   Hom., Il. 6,160; vgl. Robert (1920), S. 182. 300   Apollod., bibl. 2,25 (2,2,1). 301   Eur. fr. 661-672 Seeck. 302   Hyg., fab. 57; vgl. Jacoby (1926b), S. 237. 303   Tripp (2012), Art. Bellerophon/Bellerophontes, S. 127-129. 295 296

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Darauf wurden die Liebe [ἔρος] der Stheneboia, die sich erhängte, und die Rechtschaffenheit Bellerophons offenkundig. Schließlich ist zu lesen, dass Proitos bereit war, Bellerophon sein Recht zu gewähren. Aus der Vorgeschichte wird deutlich, dass dem Gastrecht eine besondere Bedeutung beigemessen wurde, denn Proitos und Amphianax hatten Skrupel davor, Bellerophon Gewalt zuzufügen. Um ihn dennoch zu beseitigen, beauftragte ihn der lykische König, die Chimäre zu töten. Wie Bellerophon wurde auch Herakles in der Erwartung ausgesandt, dass er nicht zurückkehrt. 304 Die Gefahr für Bellerophon wird in dem Textauszug durch die Erwähnung der Ängste angedeutet. Nach Homer war die Chimäre göttlicher Abkunft, sie hauchte mit furchtbarer Gewalt Feuer aus und glich vorne einem Löwen, in der Mitte einer Ziege und hinten einer Schlange. 305 Schon in den frühesten literarischen Zeugnissen war die Chimäre ein Ausdruck irrationaler Ängste, die durch ihre Tötung bewältigt wurden. Die Zuschreibung τὸ γενναῖον für Bellerophon ist ein Ideal des Adels, das erklären soll, wie die Chimäre besiegt werden konnte. Die Tochter des Amphianax, die in dem Fragment erwähnt wird, war eine Schwester der Stheneboia und hieß Philonoe, wie in der Bibliotheke des Apollodor zu lesen ist. 306 Bei Homer ist zu erfahren, dass Bellerophon von Amphianax die Tochter und die Hälfte der Königswürde erhalten habe. 307 Die Zuwendung war wohl in ein System des Gabentauschs eingebunden. 308 Laut Bibliotheke habe Bellerophon das Königtum nach dem Tod des Amphianax erhalten. 309 Spätestens mit dem Tod des lykischen Königs erlangte Bellerophon jedenfalls die Herrschaft. Dass sich Stheneboia laut Exzerpt das Leben nimmt, weicht von den bekannten Darstellungen ab. 310 Ähnlich wie in Fragment 4 führt auch hier eine unerfüllte Liebe zum Suizid. Mit ἔρος ist ein sinnlich-erotisches Verlangen zu verstehen. Nachdem weder die Annäherungsversuche noch die Verleumdungen Stheneboias erfolgreich waren, konnte sie nicht länger ertragen, dass ihre Zuneigung unerwidert blieb. Diese Darstellung belegt, dass Nikolaos an den emotionalen Krisen seiner Charaktere interessiert war. 311 Eine Selbsttötung der Stheneboia durch Strangulation ist nur hier belegt. Die Königin wird Bellerophon gegenübergestellt, denn letzterer steht für Gerechtigkeit, während Stheneboia in maßloser Liebe Ehebruch begehen will und Bellerophon zu Unrecht verleumdet. Der letzte Satz des Fragments bleibt unklar, weil nicht erläutert wird, welche δίκαι von Proitos gewährt wurden.   Tripp (2012), Art. Bellerophon/Bellerophontes, S. 127-129.   Hom., Il. 6,179-182. 306   Apollod., bibl. 2,33 (2,3,2). 307   Hom., Il. 6,192-193. 308   Ein Mitgiftsystem entstand aber erst im Laufe des fünften Jahrhunderts. Brautgaben sind für die nachhomerische Zeit nicht mehr belegt, vgl. Schmitz (2007), S. 12; 34. 309   Apollod., bibl. 2,33 (2,3,2). 310   Jacoby (1926b), S. 237. 311   Toher (2009), S. 74-75. 304 305

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Möglicherweise nimmt die Anmerkung darauf Bezug, dass Proitos die Sühnung eines Unrechts gewährte, das Bellerophon schon vor seiner Ankunft in Argos begangen hatte. 312 3.2.4.  Fragment 10 (Exc. de insidiis 7,24) Einordnung: Die byzantinischen Schreiber haben dieses Exzerpt dem dritten Buch der Historien zugeordnet. Das Fragment handelt vom Auszug des Pelops, dem Sohn des Tantalos und Enkel des Tmolos, aus Lydien sowie seiner Einwanderung auf die Peloponnes, die er gegen den Willen des Oinomaos, des Königs von Pisa, durchsetzte. Auf diese Geschichte, die aus dem griechischen Mythos bekannt ist, wird in Fragment 23 Bezug genommen. 313 Die familiäre Einordnung des Pelops im vorliegenden Textauszug steht in Widerspruch zu Fragment 18, in dem Tantalos Sohn des Tymenaios beziehungsweise Hymenaios ist. Diese Unvereinbarkeit ist darauf zurückzuführen, dass Nikolaos für seine Historien auf verschiedene Quellen zurückgegriffen hat. 314 Die hier überlieferte Geschichte lässt sich bis auf Hellanikos zurückführen, wie das Motiv des „großen Reichtums“ belegt, mit dem Pelops seine Heimat verlässt. 315 Auch Thukydides erwähnt das große Vermögen des Pelops und seine Eroberung der Peloponnes, aber es ist unklar, auf welche Vorlage er zurückgegriffen hat. 316 Ob Nikolaos die Darstellung von Hellanikos oder eine spätere Überarbeitung seines Werks übernahm, bleibt offen. 317 Parallelüberlieferungen finden sich etwa in der Bibliotheke des Apollodor und bei Hyginus. 318 Nikolaos hat den Mythos rationalisiert, denn Pelops gerät nicht wegen einer Frau in Konflikt mit Oinomaos, sondern wegen seiner Einwanderung auf die Halbinsel. Der König von Pisa stirbt auch nicht durch einen Unfall bei einem Wettbewerb, sondern durch eine ἐπιβουλή, die den Grund für die Überlieferung des Fragments in den Excerpta de insidiis bildet. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Am Anfang des Textauszugs nimmt die zeitliche Einordnung Bezug auf Perseus, der in Fragment 6 als Vater des Achaimenes erwähnt wurde. Laut dem erstem Teil der Überlieferung wurde Tantalos im Krieg gegen Ilos von Troja besiegt. Daher plante er, auf die Peloponnes auszuwandern, aber aufgrund seines hohen Alters blieb er in Lydien und entsandte seinen Sohn Pelops dorthin. Dieser brach aus Sipylos auf und gab seine Schwester Niobe, die er mit großem Reichtum bei sich führte, dem Thebaner Amphion zur Frau.   Tripp (2012), Art. Bellerophon/Bellerophontes, S. 127-129.   Tripp (2012), Art. Pelops, S. 416-419. 314   Jacoby (1926b), S. 241. 315   FGrHist 4 F 157. 316   Thuk. 1,9; vgl. Jacoby (1926b), S. 237. 317   Jacoby (1926b), S. 237. 318   Apollod., epit. 2; Hyg., fab. 84. 312 313

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Die Anmerkung, dass man nach Tmolos, dem Vater des Tantalos, einen Berg in Lydien benannt habe, deutet auf eine Personifikation des Bergs als König hin. Der antike Tmolos im westlichen Kleinasien ist mit dem heutigen Bozdağ identisch. Ilos, den Nikolaos mit seiner Stadt und seinem Volk einordnet, ist der Heros eponymos und Gründer Ilions beziehungsweise Trojas. Aus der Schilderung wird deutlich, dass es in Lydien infolge des Konflikts mit den Trojanern Auszugsbestrebungen gab. Einige Einwohner wanderten jedoch nicht aus, wie der Verbleib des Tantalos in seinem Reich zeigt. Das Motiv, dass Alleinherrscher ihre Söhne mit einem Teil ihres Volks in andere Gebiete ausziehen ließen, ist aus den Quellen zur griechischen Kolonisation bekannt. Von Amphion und seinem Zwillingsbruder Zethos handelt das siebte Fragment des Nikolaos. Die Heirat zwischen Niobe und Amphion ist ein Motiv aus dem griechischen Mythos. 319 Das große Vermögen, das Nikolaos im Zusammenhang mit Niobe erwähnt, geht wohl auf eine Zuwendung innerhalb eines Systems des Gabentauschs zurück. 320 Pelops bezweckte mit der Verheiratung seiner Schwester, dass ihm Amphion den Durchzug durch Theben gewährte. Der folgende Teil des Fragments handelt vom Konflikt zwischen Pelops und Oinomaos. Nach Nikolaos wollten viele in Pisa Hippodameia, die Tochter des Oinomaos, heiraten. Darunter war auch Myrtilos, ein Verwandter des Königs. Oinomaos begehrte seine Tochter selbst [ἐράω] und gab sie niemandem zur Frau. Hippodameia konnte ihrem Vater jedoch entgehen. Das Motiv, dass ein Vater seine Tochter begehrt und diese ihn zurückweist, findet sich auch in den Fragmenten 12 und 21. Das Interesse an Hippodameia zeigt, dass sie das Heiratsalter erreicht hatte. Eine Heirat mit ihr versprach Aussichten auf die Herrschaft, denn über einen Sohn des Oinomaos ist bei Nikolaos nichts zu erfahren. Die Furcht vor einer Teilung der Macht bietet aber keine Erklärung für das Verhalten des Oinomaos, immerhin wird betont, dass Myrtilos ein συγγενής des Königs war. Zwar bleibt der Verwandtschaftsgrad der beiden unklar, aber der Umstand, dass Myrtilos in anderen Quellen ein Sohn des Hermes ist und hier ein Sohn des Hyperochides, deutet erneut auf eine Rationalisierung des Mythos hin. 321 Statt Hippodameia einem anderen Mann zur Frau zu geben, strebt Oinomaos nach Inzest. Auffällig ist, dass Oinomaos die Norm brechen will, während seine Tochter versucht, diese einzuhalten (Kap. 2.3.3.1.). Es liegt also eine Verkehrung der Verhältnisse vor, welche das Ende der Geschichte durch das inzestuöse Bestreben des Oinomaos vorherbestimmt. In diesem Zusammenhang ist eine Gegenüberstellung des Königs mit Pelops zu erkennen, denn letzterer hatte seine Schwester bereitwillig mit Amphion verheiratet. 319 320

34.

321

  Tripp (2012), Art. Amphion [1], S. 45-46.   Zur Brautgabe und Mitgift im antiken Griechenland vgl. Schmitz (2007), S. 12;   Tripp (2012), Art. Myrtilos, S. 356.

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Laut Exzerpt wurde Myrtilos zu Pelops geschickt, um zu erfahren, weswegen er komme. Oinomaos erwartete, dass Pelops ihn um die Hand seiner Tochter bitte, doch Pelops sagte, dass er sich in dem Land ansiedeln wolle. Der folgende Teil der Überlieferung bildet den Spannungshöhepunkt, denn Myrtilos, der zuvor vergeblich um Hippodameia geworben hatte, erkennt seine Chance und bietet Pelops Unterstützung an, wenn er ihm dafür die Tochter des Königs verspreche. Ihr gemeinsames Interesse, Oinomaos zu entmachten, führt in der Handlung zur ἐπιβουλή, die zuerst nicht näher erläutert wird, um die Spannung zu erhöhen. In der weiteren Handlung sammelt Oinomaos seine Truppen, um Pelops zu vertreiben, doch vor Beginn der Schlacht erschlägt Myrtilos seinen König. Myrtilos läuft dann zu Pelops über, der Pisa ohne Widerstand einnimmt. Später entscheidet sich Pelops dazu, Hippodameia selbst zu heiraten, während Hippodameia Rache für die Ermordung ihres Vaters wünscht. Deswegen wird Myrtilos von Pelops auf hoher See ins Meer geworfen [ποντόω]. Wie die Geschichte zeigt, wurde das Verhalten des Oinomaos gegenüber seiner Tochter und ihren Verehrern mit seiner Ermordung bestraft. Neben Oinomaos belastet sich aber auch Myrtilos mit einer Schuld, denn er übt Verrat an seinem eigenen König. Der äußere Konflikt zwischen Pelops und Oinomaos wird mit dem inneren Konflikt zwischen dem König und seinem Umfeld verbunden (Kap. 2.3.3.2.). Das Verhalten des Myrtilos wirkt besonders frevelhaft, weil er ein enger Vertrauter des Oinomaos ist. Obwohl Hippodameia unter ihrem Vater litt, fordert sie Rache. Dadurch kommt die Erwartungshaltung zum Ausdruck, dass Myrtilos für seinen Verrat bestraft werden muss. Die Heirat zwischen Hippodameia und Pelops hat in der Geschichte die Funktion, eine Verbindung zwischen ihr und dem Mörder ihres Vaters zu verhindern. Die Ehe verleiht dem Eroberer von Pisa Legitimität, wobei Nikolaos die Beziehung nicht direkt auf die Eroberung zurückführt. 322 Aus der Heirat gehen die Pelopiden hervor, die später die Herrschaft über Argos übernehmen. 323 Auch in der Bibliotheke des Apollodor steht, dass Myrtilos ins Meer geworfen worden sei. Das Meer habe darauf den Namen „Myrtoisches Meer“ erhalten. Vor seinem Tod verfluchte Myrtilos den Herrscher. 324 Die Tötungsform, jemanden ertrinken zu lassen, kommt auch in Fragment 16 vor, in dem die Worte οἷα ἀθέους darauf hindeuten, dass die Strafe als entehrend betrachtet wurde. Durch den Tod im Meer konnte nämlich keine Bestattung stattfinden. Das Verb ποντόω findet sich nur in diesen beiden Fragmenten des Nikolaos sowie an einer Stelle bei Quintus von Smyrna. 325 Eine Besonderheit des vorliegenden Textauszugs ist, dass der Sturz des Oinomaos mit dem Auszug der Lyder verbunden wird. Die Geschichte weist diskursiv darauf hin, dass frevelhaftes Verhalten nicht ungesühnt bleibt.   Parmentier / Barone (2011), S. 46.   Jacoby (1926b), S. 238. 324   Apollod., epit. 2,8. 325   Q. Smyrn. 14,604. 322 323

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3.2.5.  Fragment 11 (Exc. de virtut. 1 p. 337,4) Einordnung: In diesem konstantinischen Exzerpt zum dritten Buch des Nikolaos geht es um die Ankunft der Argonauten auf Lemnos, das laut Darstellung gänzlich von Frauen bewohnt war. Die Handlung ist aus dem Mythos von Iason und dem Goldenen Vlies bekannt. Iason kommt bei Nikolaos auch in den Fragmenten 54 und 55 vor. Bei Homer, der an zwei Stellen seiner Ilias Bezug auf Iason nimmt, wird wie im vorliegenden Textauszug Euneos, der Sohn Iasons mit der lemnischen Herrscherin Hypsipyle, erwähnt. 326 In der Bibliotheke des Apollodor findet sich ein kurzer Abschnitt über die Begegnung der Argonauten mit den Lemnierinnen. 327 Auch Hyginus berichtet in seinen Fabulae über die Episode. 328 Bei der ausführlichsten Parallelüberlieferung handelt es sich um die Argonautika des Apollonios von Rhodos, die möglicherweise die Vorlage des Nikolaos waren. 329 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Im ersten Teil des Fragments wird die Vorgeschichte in wenigen Worten zusammengefasst: Die Argonauten landeten bei ihrer Fahrt nach Kolchis auf Lemnos, das ausschließlich von Frauen bewohnt war und von Hypsipyle beherrscht wurde. Zuvor hatten die lemnischen Männer mit den Thrakerinnen geschlafen und ihre Frauen eifersüchtig gemacht [ζηλοτυπία]. Außerdem ist zu lesen, dass die Lemnierinnen von ihren Männern verlassen worden waren [καταλείπω]. Laut Mythos landete Iason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies mit seiner Mannschaft auf Lemnos, wo die Männer ihre Frauen verschmäht und Thrakerinnen bevorzugt hatten. Infolgedessen töteten die lemnischen Frauen alle Männer, sodass Hypsipyle, die Tochter des Königs, Herrscherin wurde. 330 Vor diesem Hintergrund hat A. Korais (Corais) vorgeschlagen, das Verb κατέλιπον im ersten Abschnitt des Fragments mit κατέκτειναν zu ersetzen. 331 Immerhin schreibt auch Apollonios, der das Motiv der Eifersucht [ζηλοτυπία] nennt, dass die Frauen ihre Männer töteten. 332 Möglich ist aber auch, dass Nikolaos einer Tradition folgte, nach der die Männer von Lemnos die Insel verlassen hatten. 333 Hypsipyle ist neben Semiramis und Zarinaia eine der wenigen Herrscherinnen bei Nikolaos, die ohne Mann regieren (F 1; 5). Nach Fragment 103n aus der Sammlung besonderer Völkersitten herrschte bei den Byaiern ein Mann über die Männer und eine Frau über die Frauen. In der vorliegenden Darstellung erscheint   Hom., Il. 7,468-469; 23,747.   Apollod., bibl. 1,114-115 (1,9,17). 328   Hyg., fab. 15. 329   Apoll. Rhod. 1,600-915; Robert (1921b), S. 850-851; Jacoby (1926b), S. 238. 330   Tripp (2012), Art. Argonauten, S. 74-93, hier S. 75-76. 331   Jacoby (1926a), S. 339. 332   Apoll. Rhod. 1,616-619. 333   Parmentier / Barone (2011), S. 48. 326 327

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die Geschlechterhomogenität als Problem, denn die Lemnierinnen wollten Kinder bekommen: Hypsipyle brachte laut Fragment Iason mit Geschenken dazu, bei ihr zu liegen und die anderen Männer zum Beischlaf mit den übrigen Lemnierinnen zu bewegen [πείθω]. Darauf zeugte Iason mit Hypsipyle den Sohn Euneos. Die Argonauten vereinigten sich mit den Lemnierinnen und segelten nach kurzer Zeit fort. Auch Apollonios erwähnt δῶρα, die Gastgeschenke in Form von Proviant und Wein waren und die Argonauten zum Verbleib auf der Insel bewegen sollten. 334 Das Verb πείθω weist darauf hin, dass Iason und seine Mannschaft eigentlich danach strebten, ihre Reise fortzusetzen. Ebenso bringt dies die Anmerkung zum Ausdruck, dass die Argonauten nur kurze Zeit auf Lemnos blieben. Dass die Fortsetzung der Reise als tugendhaft wahrgenommen wurde, ist ein Grund dafür, dass das Fragment in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert ist. Sogar die Verlockung der Hypsipyle und die Aussicht auf die Herrschaft auf Lemnos brachten Iason nicht von seinem Ziel ab, das Goldene Vlies zu finden. Dagegen konnten die Männer von Lemnos den Verlockungen durch die Thrakerinnen nicht widerstehen. Das Verhalten Iasons steht in der Darstellung also dem der Lemnier gegenüber. 3.2.6.  Fragment 12 (Exc. de insidiis p. 8,25) Einordnung: Das Exzerpt zum dritten Buch der Historien handelt vom Herrscher Piasos, der sich an seiner eigenen Tochter vergeht. Laut Suda war Piasos ein thessalischer König, der eine ungesetzliche und unselige Liebe zu seiner Tochter hatte. 335 Bei Euphorion und Parthenius werden Larisa und der Geschlechtsverkehr mit ihrem Vater erwähnt. 336 Die wichtigste Parallelüberlieferung zu dem Fragment findet sich bei Strabon, der schreibt, dass Piasos König der Pelasger war und in der phrikonischen Stadt Larisa verehrt wurde. 337 Strabon stellt den Konflikt zwischen Piasos und seiner Tochter ähnlich dar wie Nikolaos, aber in der vorliegenden Version werden Sklaven erwähnt, die beim Geographen nicht vorkommen. Außerdem unterscheiden sich die Darstellungen in Hinsicht auf die Tötung des Königs. Dass Nikolaos, wie in Fragment 100, die Vorlage des Geographen war, hält F. Jacoby für unwahrscheinlich. 338 Nikolaos und Strabon haben wohl eher auf eine dritte Schrift zurückgegriffen, die nicht überliefert ist. Das Fragment könnte nach Jacoby zur Pelasger- oder Argonautengeschichte des Nikolaos gehören. 339   Apoll. Rhod. 1,675-696.   Suda s. v. ἀθέμιστα. 336   Euph. fr. 9 = Schol. Apoll. Rh. 1,1063; Parth. 28. 337   Strab. 13,3,4 (621C 24-27). 338   Jacoby (1926b), S. 238. 339   Jacoby (1926b), S. 238. 334 335

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment wurde Larisa von ihrem Vater Piasos begehrt [ἔραμαι] und vergewaltigt. Infolge ihres Leids gewann sie einige Sklaven für sich und tötete ihren Vater, indem sie ihn auf den Kopf schlug, als er sich in ein Weinfass beugte [εἰς πίθον οἴνου]. Dieser Mord ähnelt der Tötung des Usurpators Spermos in Fragment 44 (§ 6), denn in beiden Fällen erfolgt ein Schlag auf den Kopf des Herrschers, der sich bückt und damit für einen kurzen Moment wehrlos ist. Nach Strabon sei Piasos von seiner Tochter ins Weinfass geworfen worden, als er sich hineinbeugte. Auffällig ist in der Darstellung der Zusammenhang zwischen dem Namen des Königs und dem Weinfass. Πίασος ist vom Verb πίνειν abgeleitet und deutet eine Trinksucht des Herrschers an. 340 Der Übergriff und der Alkoholkonsum weisen demnach auf die Maßlosigkeit des Piasos hin. Das Motiv, dass sich ein Vater an seiner Tochter vergehen will, kommt auch in den Fragmenten 10 und 21 vor. Die Funktion der Sklaven, die in den Parallelüberlieferungen nicht vorkommen, bleibt unklar. Larisa ist in der Geschichte unschuldig, bis sie den Verursacher ihres Leids tötet und dadurch selbst zur Täterin wird. Das Mitleid, das sie erregt, macht die Bewertung ihres Vergehens schwierig, obwohl sie einen Patrizid begeht. Der Vorwurf des sexuellen Übergriffs begegnet in den antiken Zeugnissen typischerweise Tyrannen. Aristoteles sieht einen Zusammenhang zwischen den Schändungen, die Alleinherrscher begingen, und ihrem Sturz. 341 Die ἐπιβουλή, die den Grund für die Überlieferung des Fragments in den Excerpta de insidiis bildet, führt in der Geschichte zum gerechten Ende von Piasos. 3.2.7.  Fragment 13 (Exc. de virtut. 1 p. 337,13) Einordnung: Das in den Excerpta de virtutibus et vitiis überlieferte Fragment ist dem dritten Buch der Universalgeschichte zugeordnet und thematisiert den Mythos von Herakles, der im Wahn seine Familienangehörigen tötete. Die Darstellung des Nikolaos über die Arbeiten, die Herakles zur Sühnung leisten musste, wurden von den konstantinischen Exzerptoren in der nicht überlieferten Sammlung über Heldentaten zusammengefasst, auf die am Ende des Textauszugs verwiesen wird [ζήτει ἐν τῷ περὶ ἀνδραγαθημάτων]. In den Fragmenten 66 (§ 44) und 125 des Nikolaos finden sich ebenfalls Verweise auf diese Sammlung. Herakles wird auch in den Fragmenten 30 und 54 erwähnt. F. Jacoby verbindet die vorliegende Quelle mit einem Fragment des Pherekydes, nach dem Herakles seine Kinder ins Feuer geworfen habe. 342 Außerdem finden sich in einer Scholie, die sich vermutlich auf Asklepiades von Tragilos bezieht, Gemeinsamkeiten mit dem Textauszug. 343 Diodor schreibt wie Nikolaos, dass Herakles versuchte,   Hanslik (1941).   Aristot., pol. 5,1311 b5-10. 342   FGrHist 3 F 14; vgl. Jacoby (1926b), S. 238. 343   FGrHist 12 F 27. 340 341

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seinen Neffen Iolaos zu töten, der allerdings noch rechtzeitig entkommen konnte. 344 Am nächsten steht dem Fragment eine Darstellung aus der Bibliotheke des Apollodor, die mit der Überlieferung des Nikolaos darin übereinstimmt, dass Herakles außer seinen eigenen Nachkommen auch zwei Kinder seines Halbbruders Iphikles tötete. 345 Die Zahl der Kinder des Herakles, die Aufschluss über die Vorlage des Nikolaos geben könnte, fehlt in dem Exzerpt. 346 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Im ersten Satz werden durch die Disjunktion εἲτε - εἲτε mögliche Ursachen für die Morde des Herakles angegeben: Nach seiner Heirat lief Herakles die Galle [χολή] über oder er verlor auf eine andere Art den Verstand und wurde wahnsinnig. Schon in Homers Ilias stand χολή für den Zorn im Körper. 347 Einige antike Mediziner vermuteten, dass die Galle Fieber und Wahnsinn bewirke. 348 Die Taten des Herakles und ihre Folgen standen im Fokus dieser Darstellung, denn die Ursachen für seinen Wahn bleiben unbestimmt. Ob Nikolaos wie Diodor und die Bibliotheke des Apollodor die Tradition wiedergab, dass der Anfall des Herakles auf die Göttin Hera zurückzuführen sei, bleibt unklar. 349 Die Verwendung des Wortes κλέος am Ende des Textauszugs könnte aber auf die Etymologie des Namens Herakles anspielen (s.u.). Wie in den meisten Parallelüberlieferungen gerät Herakles jedenfalls auch hier unbeabsichtigt in seine tragische Situation. Dem Fragment ist weiter zu entnehmen, dass Iphikles nur Iolaos, seinen ältesten Sohn, vor Herakles retten konnte. Seine übrigen Söhne tötete Herakles. Auch Megara wäre getötet worden, wenn Iphikles nicht eingeschritten wäre. Besonderes Mitleid erregt in dieser Darstellung die Tötung des hilflosen Kleinkindes, das die Mutter zu schützen versucht. Indem Herakles grundlos äußerste Gewalt gegen sein Haus anwendet und seine Blutsverwandten tötet, belastet er sich mit einer schweren Schuld. Nikolaos zufolge kam Herakles nach dem Anfall zur Besinnung und war wegen des Unglücks entsetzt. Iphikles und Likymnios rieten ihm dazu, nachdem er die Stadt für ein Jahr verlassen hatte [ἀπενιαυτίζω ἔξω] und entsühnt sei [καθηράμενος], wie es der Rechtsbrauch [νόμος] vorschreibe, nach Theben zurückzukehren. Likymnios ist als Halbbruder der Alkmene, der Mutter des Herakles, bekannt. Bei Nikolaos müssen auch der Lyderkönig Meles und Isodemos von Sikyon für eine festgelegte Zeit ins Exil gehen (F 45; 61). Der Begriff νόμος ist als normierte Rechtsauffassung zu verstehen, denn im Folgenden ist zu lesen, dass Herakles   Diod. 4,11,1.   Apollod., bibl. 2,72 (2,4,12). 346   Jacoby (1926b), S. 238. 347   Hom., Il. 4,24. 348   Leven (2005), Art. Galle, S. 322-323, hier S. 322. 349   Apollod., bibl. 2,72 (2,4,12); Diod. 4,11,1. 344 345

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-10291



zuerst nicht auf Iphikles und Likymnios hörte. Der Versuch, Herakles zum Verlassen der Stadt zu bewegen, bringt die Erwartungshaltung der sozialen Gruppe zum Ausdruck, dass für die Tötungen Sühne zu leisten sei. Damit hängt auch die spätere Anmerkung zusammen, dass Likymnios und Alkmene Herakles um ihrer Verwandtschaft [συγγένεια] willen dazu brachten, nach Tiryns zu ziehen. Ähnlich wie Herakles wird auch Isodemos in Fragment 61 von einem Freund dazu überredet, die Stadt für ein Jahr zu verlassen. Die Flucht des Herakles könnte aber auch in Zusammenhang mit einem schriftlich überlieferten Gesetz stehen. Das drakontische Recht sah nämlich vor, dass man für eine Tötung ohne Vorsatz in die Verbannung gehen müsse. 350 Dadurch wurde die Polis von der Befleckung durch die Blutschuld eines Täters befreit. 351 Anders als es das Verb ἀπενιαυτίζω bei Nikolaos zum Ausdruck bringt, kennt die Strafe bei Drakon aber keine zeitliche Begrenzung. Dafür sieht sie die Möglichkeit einer Begnadigung des Verurteilten vor, wenn die nächsten männlichen Verwandten des Todesopfers ihr Einverständnis dazu geben. 352 Die befristete Verbannung bei Nikolaos könnte darauf hinweisen, dass es in der Praxis nicht selten Einigungen zwischen dem Schuldigen und den Hinterbliebenen gab (F 45; 61). Es sind nicht die konkreten Tötungen, die auf Herakles lasten und Entsühnung fordern, sondern vor allem die Zerstörung der Familie als allgemein anerkannte Institution. 353 Auffällig ist, dass Herakles von Iphikles, Likymnios und Megara in die Verbannung begleitet wird. 354 Die Anmerkung, dass Megaras Mutter untersagte, mit Herakles wegzugehen, während Megaras Vater Kreon, der König Thebens, seine Erlaubnis dazu gab, zeigt, dass der Umgang mit den Tötungen umstritten war. Die folgenden Sätze machen die starke Kürzung des Exzerpts deutlich: Als Eurystheus erfuhr, was Herakles widerfahren war, rief er ihn zu sich nach Tiryns. Herakles erinnerte sich an den Orakelspruch, der Amphitryon erteilt worden war und besagt hatte, dass er Folge leisten müsse und wieder großen Ruhm [μέγα κλέος] erlangen werde. Die letzten Worte dieses Textabschnitts spielen darauf an, dass Ἡρακλῆς von Ἥρα und κλέος abgeleitet ist, wie auch Diodor schreibt. 355 Amphitryon war der Mann Alkmenes, der Mutter des Herakles. Die Weissagung, die ihm gemacht wurde, fehlt in dem Exzerpt. Nach der Bibliotheke des Apollodor ging Herakles zum Orakel von Delphi, um Rat einzuholen. 356 Einen Bezug zum Gott Apollon, der nach antiker Vorstellung eine reinigende Funktion hatte, bestand jedenfalls auch in dieser Darstellung. 357   IG I³ 104, Z. 11. Zum athenischen Blutrecht vgl. Koerner (1993), S. 27-41.   Schubert (2012), S. 22. 352   IG I³ 104, Z. 13-14. 353   Parker (1983), S. 109. 354   Jacoby (1926b), S. 239. 355   Diod. 4,10,1. 356   Apollod., bibl. 2,72 (2,4,12). 357   Parker (1983), S. 138-139. 350 351

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Laut Fragment empfing Eurystheus zwar Likymnios und Iphikles freundlich, Herakles wurde aber abwertend behandelt. Eurystheus ordnete ihm an, die Strapazen [πόνοι] zu vollbringen, die wir Arbeiten [ἆθλοι] nennen. Schließlich ist zu lesen, dass Herakles gehorchte und dem Orakelspruch nachkam. Das Verhalten des Eurystheus lässt sich nicht damit vereinbaren, dass er Herakles zu sich gerufen hat. Vielleicht steht die schlechte Behandlung damit in Verbindung, dass Eurystheus als Sohn des Sthenelos und Enkel des Perseus eingeordnet wird. Sthenelos hatte laut Mythos Amphitryon, den Vormund des Herakles, von der Herrschaft verdrängt. 358 Die Spannung zwischen Herakles und Eurystheus ist also als Fortsetzung der Auseinandersetzung ihrer Väter zu deuten. Nach den griechischen Normen hatte Herakles beim Herrscher von Tiryns Anspruch auf Gastfreundschaft, aber Eurystheus lässt in der Darstellung das Hauptkriterium, an dem normkonformes Verhalten deutlich wird, unerfüllt und wird dadurch selbst zum Normbrecher (Kap. 2.3.3.1.). 359 Ob er dafür bei Nikolaos auf gleiche Weise bestraft wurde wie in den Parallelüberlieferungen, bleibt offen. Die ἆθλοι des Herakles werden auch als πρόσταγμα umschrieben, wie etwa bei Diodor zu lesen ist. 360 3.2.8.  Fragment 14 (Exc. de virtut. 1 p. 338,9) Einordnung: Diese Darstellung des Skamandros, des ersten Königs der Trojaner, der mit Samon die Troas erobert, geht auf das dritte Buch des Nikolaos zurück und wurde in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert. Skamandros als Name eines trojanischen Herrschers ist nur in diesem Exzerpt belegt. In Homers Ilias war Skamandros ein Flussgott. 361 Dieser personifizierte einen gleichnamigen Fluss in der Troas, der in Fragment 134 der Autobiographie des Nikolaos erwähnt wird. Im Zentrum der Überlieferung steht das Schicksal Dadas, der Frau Samons, die sich infolge einer Vergewaltigung tötet. Auch für ihre Geschichte ist das Fragment ein singuläres Zeugnis. Der Textauszug lässt sich der frühesten Geschichte Trojas zuordnen, die wahrscheinlich wie bei Hellanikos einer Darstellung des Trojanischen Kriegs vorausgegangen ist. 362 In Fragment 10 wurde bereits König Ilos erwähnt, der als Heros eponymos Ilions beziehungsweise Trojas galt. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Textausschnitt unterwarf Skamandros die Bevölkerung der Troas mit dem Beistand Samons [συνεργός]. Als letzterer in einer Schlacht gestorben war, schickte Skamandros dessen Frau Dada nach Polion, damit sie heirate, wen sie wolle. Der Herold vergewaltigte sie aber auf   Tripp (2012), Art. Sthenelos [1], S. 488.   Hiltbrunner et al. (1972), S. 1082-1083. 360   So etwa Diod. 4,12,1; 4,13,1; 4,16,1. 361   Hom., Il. 5,77; 20,73. 362   FGrHist 4 F 23-26; vgl. Jacoby (1926b), S. 239. 358 359



3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-10293

der Reise [αἰσχύνω]. Dada ergriff das Schwert des Mannes und tötete sich. Später steinigten die Kreter den Herold und nannten seinen Todesort „Platz der “. Die Erwähnung der Kreter am Ende des Fragments deutet auf die Herkunft der Trojaner hin. Es bestand die Vorstellung, dass diese von den Kretern abstammten. Nach Vergil und Lykophron wanderte Teukros, der Sohn des Flussgottes Skamandros, in die Troas ein. 363 Bei Nikolaos könnte sich diese Theorie zum Ursprung der Trojaner im Namen Samons ausdrücken, der womöglich mit dem Gebiet Σαλμώνιον beziehungsweise Σαμώνιον auf Kreta zusammenhängt. Andererseits gab es ein gleichnamiges Gebiet in der Troas, wie bei Strabon zu lesen ist. 364 Samon wird jedenfalls durch das Wort συνεργός und durch seinen Tod als treuer Verbündeter des Skamandros dargestellt. Damit steht in Verbindung, dass Dada die Erlaubnis erhält, selbst einen Mann zu wählen. Als Witwe Samons wurde sie wohl besonders ehrenvoll behandelt, wie sich auch aus der Anmerkung ableiten lässt, dass sie die Mutter seiner Kinder gewesen sei. Die Erlaubnis der freien Partnerwahl weist auf die Norm der Wiederverheiratung von Witwen hin. Dada war in einem Alter, in dem sie noch Kinder bekommen konnte, wie sich aus der Bezeichnung νεανίσκοι für ihre Nachkommen ableiten lässt. Auch Penelope hat in Homers Odyssee Einfluss auf die Wahl ihres Ehepartners: Sie soll nämlich unter ihren Freiern denjenigen heiraten, den ihr Vater bestimmt und dem sie selbst zugeneigt ist. 365 Möglicherweise liegt bei Nikolaos auch eine Reflexion des solonischen Gesetzes vor, das Erbtöchtern freistellt, mit einem männlichen Angehörigen ihres Mannes zu schlafen, wenn der vom Gesetz bestimmte Ehemann impotent ist. 366 Die Stadt Polion, in die Dada zog, lag Strabon zufolge in der Troas und wurde später Polisma genannt. Entgegen der Intention des Skamandros erfährt Dada auf ihrer Reise erneut Leid, denn sie wird vom Herold vergewaltigt. Dieser begeht einen frevelhaften Vertrauensbruch, immerhin steht er im Dienst des Königs und soll Dada schützen. Dass sie sich in ihrer Not selbst tötet, wurde wohl wie die Selbsttötung der Tochter des Salmoneus, die laut Fragment 21 der Schändung entgehen wollte, positiv bewertet. Die Form des Suizids mit Hilfe eines Schwertes kommt auch in den Fragmenten 5 und 22 vor. Die Steinigung des Herolds ist als Kollektivstrafe zu verstehen, welche die Gemeinschaft vollzog, um eine spätere Rache an einem Einzelnen auszuschließen. Durch diese Hinrichtungsform wurde das allgemeine Interesse an der Sanktionierung deutlich (Kap. 2.3.3.1.). Der Name des Todesortes ist nicht sicher, denn bei dem Wort Ἀναιδείας handelt es sich um eine Konjektur. Die Umbenennung des Platzes zeigt aber, dass auch spätere Generationen an 363   Verg., Aen. 3,104-105; Lykoph. Alex. 1302f; vgl. Tripp (2012), Art. Teukros/ Teucer [1], S. 501. 364   Strab. 10,3,20 (472C 28-30). 365   Hom., Od. 2,113-114. 366   Plut., Sol. 20,2-3.

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den Frevel des Herolds erinnert werden sollten, um sie auf die Verbindlichkeit der Normen hinzuweisen und vor den Konsequenzen von Normbrüchen zu warnen. Die konstantinischen Exzerptoren haben das Fragment überliefert, weil es Beispiele für tugendhaftes und tugendloses Verhalten bot. Dada steht im Verlaufe der Darstellung zwischen Samon, der bei der Erfüllung seiner Pflicht stirbt, und dem Herold, der seine Pflichten verletzt. Da sie schuldlos Leid erfährt, erregt ihr Schicksal allgemein Mitleid. 3.3. Bücher 4-5 (F 15-43): Lyder, Syrer,

jüdische und griechische

geschichte

Früh-

3.3.1.  Fragment 15 (Steph. Byz. s. v. Τόρρηβος) Im Artikel zur lydischen Stadt Τόρρηβος von Stephanos Byzantios ist zu lesen, dass sich an dem Ort ein Heiligtum des Karios befindet, der laut viertem Buch des Nikolaos ein Sohn des Zeus und der Torrhebia war. Nach Stephanos erwähnte Nikolaos in diesem Buch auch Manes, Atys und Torrhebos. Karios habe den Klang von Nymphen [μοῦσαι] vernommen und den Lydern die Musik [μουσική] gebracht. Mit dem Namen Torrhebos wird in dem Textauszug die Mutter des Karios verbunden, die Torrhebia heiße; weiterhin ein See, der Torrhebia genannt werde, weil Karios um ihn gegangen sei; und schließlich die Torrhebia-Melodien, die Karios den Lydern brachte. Der fragmentarische Charakter der Überlieferung wird dadurch deutlich, dass der See und die Melodien ihren Namen nur von Torrhebos erhalten haben können und nicht von Karios. Bei der Verbindung der Worte μοῦσαι und μουσική handelt es sich um eine Populäretymologie. 367 Manes gilt als Vater des lydischen Königs Atys, der wiederum Torrhebos zum Sohn hatte, wie im ersten Satz des Textauszugs zu lesen ist. Auch bei Herodot steht, dass Manes der Vater des Atys sei, allerdings heißt der Sohn des Atys bei ihm Tyrsenos, weshalb der Autor als Vorlage des Nikolaos auszuschließen ist. 368 Aus einer Überlieferung von Xanthos ist zu erfahren, dass Torhebos (sic) zusammen mit seinem Bruder Lydos die Herrschaft von seinem Vater Atys erbte. 369 Dies allein belegt aber noch nicht, dass die Darstellung des Nikolaos auf die Lydiaka zurückgeht. 370 Der inhaltliche Bezug zum griechischen Mythos und der Vergleich mit den Parallelüberlieferungen zeigen, dass das Fragment der lydischen Frühgeschichte zuzuordnen ist. Nikolaos hatte offenbar über ein Herrschergeschlecht   Jacoby (1926b), S. 240.   Hdt. 1,94. 369   FGrHist 765 F 16. 370   Jacoby (1926b), S. 240. 367 368

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-10295



der Lyder berichtet, das den Herakliden voranging. 371 R. Schubert bezeichnet diese Machthaber nach Atys als „atyadische“ Könige. 372 3.2.2.  Fragment 16 (Exc. de virtut. 1 p. 338,17) Einordnung: Mit Moxos, der den Tyrannen Meles stürzte, thematisiert dieses konstantinische Exzerpt, das dem vierten und fünften Buch der Universalgeschichte zugeordnet ist, einen Teil der lydischen Frühgeschichte. In einem bei Athenaios überlieferten Fragment des Xanthos wird ein Lyder namens Mopsos erwähnt, der wie Moxos im vorliegenden Textauszug einen erfolgreichen Feldzug führte und seine Feinde in einen See stürzte. 373 Es wurde weiterhin vermutet, dass Moxos dem Herrscher Mukšuš, der in Keilschrifttexten genannt wird, oder dem Seher Mopsos, der aus dem griechischen Mythos bekannt ist, entspreche, doch diese Gleichsetzungen lassen sich nicht stützen. 374 H. Herter sieht in den verschiedenen Überlieferungen ein Indiz dafür, dass die Sagen über Moxos auf einen historischen Kern zurückgehen. 375 Meles kann nicht mit dem Hethiter Malizitis identifiziert werden und er ist auch nicht der Meles, den Herodot in seinem ersten Buch nennt. 376 Aus chronologischen Gründen kann ferner ausgeschlossen werden, dass Meles mit dem gleichnamigen König identisch ist, über den Nikolaos in Fragment 45 schreibt. Dass das hier genannte Motiv der Dürre zu der Hungersnot in jenem Exzerpt passt, legt aber die Vermutung nahe, dass am Anfang beider Traditionen derselbe Meles stand. 377 Das Auftreten verschiedener Herrscher, die Meles hießen, zeigt, dass der Name in Lydien verbreitet war. 378 Als Vorlage hat Nikolaos wahrscheinlich auf eine hellenistische Bearbeitung der Lydiaka von Xanthos zurückgegriffen. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Anders als Spermos, der laut Fragment 44 die Macht gewaltsam übernommen hat, wird Moxos wegen seines Sturzes des Meles nicht negativ dargestellt. Vielleicht hat Nikolaos ihm eine Zugehörigkeit zum Geschlecht der Atyaden zugeschrieben und ihn somit als legitimen Herrscher dargestellt. Andererseits wird auch der Usurpator Gyges in Fragment 47 gelobt. Die vielen und guten Taten des Moxos, die im ersten Satz der Überlieferung erwähnt   Jacoby (1926b), S. 245.   Schubert (1884), S. 5. 373   FGrHist 765 F 17 = Athen. 8,37 (346e). 374   Strobel (1976), S. 35; Parmentier / Barone (2011); Tripp (2012), Art. Mopsos [2], S. 352-353. 375   Herter (1975), S. 538-539. 376   Hdt. 1,84; vgl. Strobel (1976), S. 35. 377   Alexander (1913), S. 21-22; Jacoby (1926b), S. 240. 378   Schubert (1884), S. 4; Jacoby (1926b), S. 240. 371 372

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werden, sind eine Parallele zur Beschreibung des Mederkönigs Arbakes, der vor seiner Machtübernahme vieles Edle bewirkte (F 2; 3). Die Betonung der Tapferkeit und Gerechtigkeit des Lyders weckt Assoziationen mit Herrschern wie Kyros und Akimios (F 44; 66-67). Zudem zeigt die Anmerkung, dass Moxos viele Feldzüge geführt habe, dass er sich auch in Kriegen durchzusetzen wusste. Nikolaos bezeichnet die Herrschaft des Meles als τυραννίς. Meles konnte sich entweder nicht auf eine genealogische Thronfolge berufen oder er verlor die Akzeptanz seines Königtums durch eine schlechte Regierung. Nikolaos zufolge befahl Moxos den Lydern nach seiner Machtübernahme, den Göttern den Zehnten [δεκάτη] abzugeben, wie er es zuvor gelobt hatte. Die Lyder erhoben also bei der Zählung ihrer Besitztümer die δεκάτη und opferten diese. Offenbar war die Weihgabe an den erfolgreichen Sturz des Meles gebunden. Eine Parallele dazu findet sich in Fragment 65, in dem der Lyder Kroisos nach seinem Herrschaftsantritt sein Gelübde erfüllt, indem er das Haus eines Gegners der Göttin Artemis weiht. Moxos verfolgte mit der Entrichtung der δεκάτη das Ziel, den Lydern zu demonstrieren, dass die neue Herrschaft in Einklang mit den Göttern stand. Die Weihgabe bringt in der Geschichte seine Frömmigkeit zum Ausdruck und soll seiner Macht Legitimität verleihen. Zudem ist die Maßnahme als Versuch zu deuten, die unrechtmäßige Herrschaftsübernahme zu sühnen. Die Zählung der Besitztümer und die Entrichtung der δεκάτη sind Belege für frühe Formen politischer und religiöser Organisation in Lydien. Nikolaos schreibt weiter, dass es zu einer sehr großen Dürre [αὐχμός] in Lydien kam. Dass diese Katastrophe mit der Usurpation in Verbindung steht, liegt durch den Vergleich mit Fragment 44 nahe; immerhin gibt es auch unter der Herrschaft des Spermos eine Dürre. In beiden Fällen wird das kollektive Leid als göttliche Strafe gedeutet, denn die Lyder suchen Zuflucht bei einem Orakel. Nach F. Jacoby kann der αὐχμός in dieser Darstellung nicht die Folge eines Betrugs bei der Entrichtung der δεκάτη sein, weil im Text keine direkte Verbindung zwischen den beiden Teilen besteht. 379 Die Hintergründe der Dürre ließen sich mit der Antwort des Orakels klären, die hier wie in den Fragmenten 45 und 47 (§ 10) wiedergegeben wurde. Nach den Worten οἱ ἄνθρωποι ἐπὶ μαντείαν κατέφευγον folgt aber eine längere Lücke. Moxos wird dann nicht mehr namentlich genannt, aber er ist wohl mit οὗτος ὁ ἀνήρ gemeint, denn das Ende der Geschichte ähnelt der Parallelüberlieferung bei Xanthos. Der Usurpator scheint bei Nikolaos göttlichen Zuspruch erhalten zu haben – zumindest gibt es keinen Hinweis darauf, dass seine Herrschaft noch gefährdet war. Möglicherweise wurde das Ende der Dürre mit der Einführung eines neuen Kultes unter Moxos erklärt. 380 In Fragment 52 wird die Rückkehr der Nachfahren des Leodamas nach Milet mit der Aufstellung besonderer Heiligtümer verbunden.

379 380

  Jacoby (1926b), S. 240.   Schubert (1884), S. 4.

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Wie im letzten Teil zu lesen ist, zog Moxos erneut gegen Krabos und er zerstörte die Stadt nach einer langen Belagerung. Ihre Einwohner führte Moxos zu einem nahegelegenen See und stürzte sie als Gottlose hinein. Krabos ist als Ort unbekannt und vermutlich mit Nerabos, das in Fragment 17 erwähnt wird, zu verbessern. 381 Das Wort αὖθις zeigt, dass Nikolaos von mehreren Feldzügen gegen die syrische Stadt berichtet hat. Der Autor ging offenbar von einer großen Ausdehnung des Lyderreiches in der archaischen Zeit aus, doch ein Krieg in Syrien ist zweifelhaft. 382 Nach Xanthos habe Moxos nur die Herrscherin Atargatis und ihren Sohn Ichtyos in den See geworfen. Seine Version ist glaubwürdiger, weil die lydischen Eroberer wohl vorgezogen hätten, nur die Herrscher umzubringen, als alle Stadtbewohner zu töten. Die Abweichung ist damit zu erklären, dass Nikolaos die Geschichte dramatisieren wollte, oder die konstantinischen Exzerptoren die Tötungen mit den wenigen Worten τοὺς δὲ ἀνθρώπους verallgemeinerten. Die Strafe, jemanden ertrinken zu lassen, kommt auch in Fragment 10 vor. Ansonsten ist das Verb ποντόω in den antiken Zeugnissen nur ein Mal bei Quintus von Smyrna belegt. 383 Die Worte οἷα ἀθέους zeigen, dass die Tötungsform als besonders entehrend galt, denn die Körper der Toten konnten nicht bestattet werden. Durch ihre Gottlosigkeit werden die Opfer dem lydischen Herrscher gegenübergestellt, der durch seine Abgabe der δεκάτη als frommer König erscheint. Das Fragment ist ein singuläres Zeugnis für den Machtwechsel von Meles zu Moxos und den Konflikt der Lyder mit Nerabos. Ein zentrales Motiv der Handlung ist die Religiosität der Personen, denn die Herrschaftsübernahme von Moxos erhält durch seine besondere Frömmigkeit Legitimität, während die Niederlage seiner Feinde durch den Vergleich mit Gottlosen erklärt wird. In den Fragmenten zur lydischen Geschichte des Nikolaos kommt es an dieser Stelle zum ersten Mal zu einem Bruch der genealogischen Thronfolge, der sicher als Erklärung für spätere Ereignisse herangezogen wurde. 3.3.3.  Fragment 17 (Steph. Byz. s. v. Νήραβος) In der knappen Inhaltsangabe zum Artikel Νήραβος verweist Stephanos Byzantios auf Nikolaos, der die Stadt in seinem vierten Buch erwähnte. Die Erwähnung von Krabos im vorangegangenen Fragment ist wohl mit Nerabos zu verbessern. Nerabos ist mit dem heutigen Nairab, südlich von Aleppo, identisch. Weil Stephanos Byzantios keine andere Belegstelle nennt, lässt sich folgern, dass Nikolaos an dieser Stelle die wichtigste Quelle für ihn war. Das angegebene Ethnikon von Νήραβος scheint Nikolaos verwendet zu haben, da der Grammatiker keine andere Variante angibt.   Schubert (1884), S. 4; Jacoby (1926b), S. 241.   Schubert (1884), S. 3; Jacoby (1926b), S. 241. 383  Q. Smyrn. 14,603. 381 382

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3.3.4.  Fragment 18 (Steph. Byz. s. v. Ασκάλων) Stephanos Byzantios erklärt in seinem Artikel zu Askalon, das er in Syrien bei Judäa verortet, den Namen der Stadt und verweist dabei auf das vierte Buch des Xanthos und auf das vierte Buch des Nikolaos. Laut Fragment waren Tantalos und Askalos Söhne des Tymenaios beziehungsweise, nach einer anderen Lesart, des Hymenaios. 384 Der lydische König Akiamos schickte Askalos auf einen Feldzug nach Syrien, wo er sich verliebte und eine Stadt gründete, die er nach sich benannte. Zusammen mit dem 16. Fragment belegt diese Überlieferung, dass Nikolaos von einer großen Ausdehnung des Lyderreiches in der archaischen Zeit ausging. Ein Krieg der Lyder in Syrien hat aber vielleicht nie stattgefunden. Akiamos ist von Akimios, der in Fragment 44 (§ 10) erwähnt wird, zu unterscheiden. Ob Akiamos zum Geschlecht der Atyaden gehörte, die vor den Herakliden an der Macht waren, bleibt unklar. Die Geschichte des Tantalos lässt sich kaum mit der des Tantalos in Fragment 10 vereinbaren. Nikolaos hat offenbar nicht alle Widersprüche bereinigt, die sich durch die Nutzung verschiedener Vorlagen ergaben. 385 Seine hier überlieferte Darstellung geht auf Xanthos zurück, denn das τὰ αὐτὰ im letzten Satz des Textauszugs macht deutlich, dass die Fassungen beider Autoren miteinander übereinstimmten. Beide haben wohl auch dieselben Ethnika verwendet, die Stephanos angibt. Neben Fragment 26 ist dies der einzige Textauszug, in dem Stephanos Byzantios einen Titel für das Werk des Nikolaos nennt [ἐν δ Ἱστορίᾳ]. Auffälligerweise verwendet er den Singular für den Namen der Schrift und verzichtet in beiden Fällen auf den bestimmten Artikel. 386 3.3.5.  Fragment 19 (Ios., ant. Iud. 1,7,2 [159-160]) Einordnung: Als Quelle für dieses Zitat über Abram, dem Stammvater der Israeliten, der ab Genesis 17,5 Abraham genannt wird und bei Nikolaos Habrames heißt, gibt Flavius Josephus in seinen Antiquitates Iudaicae das vierte Buch der Universalgeschichte an. Die Historien des Nikolaos waren offenbar eine wichtige Vorlage für Josephus, immerhin ist bei ihm eine Reihe von Fragmenten überliefert. 387 Der Beginn des Zitats ist eindeutig, weil er durch den Verweis auf Nikolaos markiert ist. Die hintere Zitatgrenze wäre gemäß der älteren Übersetzung von H. Clementz nach τὰ ἱστορούμενα zu setzen, 388 doch wahrscheinlich endete die Wiedergabe erst nach Ἁβράμου οἴκησις λεγομένη, wie es in den Editionen von F. Jacoby, É. Parmentier / F. P. Barone und H. St. J. Thackeray zu lesen ist. 389   Jacoby (1926a), S. 341.   Jacoby (1926b), S. 241. 386   Billerbeck (2006), S. 277. 387   Bloch (1879), S. 108. 388   Clementz (1899), S. 160. 389   Thackeray (1961), S. 80-81; Parmentier / Barone (2011), S. 56-57. Vgl. dazu Wacholder (1962), S. 53. 384 385

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Das Thema der Überlieferung deutet wie in den Fragmenten 20 und 72 darauf hin, dass Nikolaos biblische Texte als Quellen heranzog. Josephus verweist in seiner Thematisierung von Abram auch auf Hekataios von Abdera sowie auf Berossos, der ein weiteres Mal in Fragment 72 mit Nikolaos erwähnt wird. 390 Ob die Darstellung mit den lydischen Feldzügen in Syrien zusammenhing, auf die die Fragmente 16 und 17 hinweisen, ist unklar. 391 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Nikolaos zufolge herrschte Abram als König [βασιλεύω], nachdem er mit einem Heer vom Land der Chaldäer nach Damaskus gezogen war, und er siedelte dann mit seinem Volk nach Chananäa über, das jetzt Judäa heißt. Sein Name wird auch jetzt noch im Gebiet um Damaskus in Ehren gehalten, und es wird ein Dorf gezeigt, das man nach ihm „Wohnsitz des Habrames“ [Ἁβράμου οἴκησις] nennt. Weil das Verb βασιλεύω die Ausübung einer Königsherrschaft zum Ausdruck bringt, lässt sich vermuten, dass Nikolaos einer jüdischen Tradition folgte. Trogus, der schreibt, dass die Juden ursprünglich aus dem Land um Damaskus kämen, folgte ebenfalls jüdischen Quellen. 392 Chananäa ist der gängige Name im Werk des Josephus. Die Gleichsetzung mit Judäa wird hier als Folge der Eroberung durch die Hasmonäer dargestellt. 393 Die Anmerkung des Nikolaos, dass die Darstellung an anderer Stelle vertieft werde, bezieht sich auf den unmittelbar vorangegangen Teil. Das bedeutet, dass der Autor auch über den Auszug Abrams und seines Volkes von Damaskus nach Judäa geschrieben hat, an dieser Stelle aber nur die Herrschaft Abrams über Damaskus thematisierte. Womöglich stand das Fragment in Zusammenhang mit einer Darstellung lydischer Feldzüge in Syrien. F. Jacoby geht davon aus, dass Nikolaos seiner „vaterstadt“ bereits an einer frühen Stelle der Historien einen „ehrenplatz“ sichern wollte, und deswegen schon hier Damaskus erwähnte. 394 Anders als in den Fragmenten 96, 101 und 102 richtet sich Josephus nicht mit einer Kritik gegen Nikolaos. Der vorliegende Teil seines Werks wurde als zuverlässige Quelle betrachtet und daher direkt zitiert. Auch das nächste Fragment enthält direkte Zitate aus dem vierten Buch der Universalgeschichte. 3.3.6.  Fragment 20 (Ios., ant. Iud. 7,5,2 [101-103]) Einordnung: Wie das vorangegangene Fragment handelt auch diese Überlieferung, die den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus entnommen ist und auf das vierte Geschichtsbuch des Nikolaos verweist, von Auseinandersetzungen   Mason / Feldman (2000), S. 59. Zu Berossos vgl. Haubold et al. (Hg.) (2013).   Jacoby (1926b), S. 241. 392   Pomp. Trog. 36,2; vgl. Stern (1974), S. 234; Mason / Feldman (2000), S. 59390 391

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  Stern (1974), S. 234.   Jacoby (1926b), S. 241.

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in Syrien. Der Textauszug besteht aus einem Einleitungssatz, einem Zitat des Nikolaos, das durch einen Einschub des Josephus unterbrochen wird, und einem zweiten Zitat, auf das schließlich eine Bewertung zur Authentizität der Darstellung folgt. Durch die Kommentare des Josephus sind die Zitatgrenzen eindeutig markiert. In dem Teil, aus dem das Fragment stammt, geht es um die Ausdehnung des Reiches von König David und den Konflikt mit Adad, dem König von Damaskus und Syrien. Nikolaos wird in diesem Zusammenhang als einzige Quelle genannt. Über die Niederlage Adads ist auch im zweiten Buch Samuel sowie im ersten Buch der Chronik zu lesen. 395 Achab, der am Ende des Fragments vorkommt, ist mit Ahab, dem Herrscher Israels, identisch, der zeitlich ins neunte Jahrhundert v. Chr. eingeordnet wird. Das Thema der Darstellung zeigt wie die Fragmente 19 und 72, dass Nikolaos für sein Werk auf biblische Texte zurückgegriffen hat. Unklar ist, ob Nikolaos die Geschichte mit den Feldzügen in Zusammenhang brachte, welche die Lyder in Syrien führten (F 16; 17). 396 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Dem ersten Zitat zufolge gewann Adad an Macht und herrschte über Damaskus und das übrige Syrien. Gegen David, den König von Judäa, trug er viele Schlachten aus, letztlich wurde er aber am Euphrat geschlagen. Adad stand in dem Ruf, der beste König hinsichtlich seiner Stärke und Tapferkeit gewesen zu sein. Die Beschreibung ∆αμασκοῦ τε καὶ τῆς ἄλλης Συρίας, ἔξω Φοινίκης, ἐβασίλευσε war Vorlage für eine vorausgegangene Textstelle bei Josephus. 397 F. Jacoby vermutet, dass Nikolaos seiner Heimat durch die Erwähnung von Damaskus einen frühen Platz in den Historien sichern wollte (F 19). 398 Adad, der in der Bibel als Hadadezer bekannt ist, hat seinen Namen vom westsemitischen Gott Hadad. Er war der mächtigste der aramäischen Könige, die gegen David kämpften. Damaskus gehörte zwar zu seinem Einflussbereich, aber er war Herrscher von Zobah. 399 Wie Adad zeichnet sich auch Parsondes in Fragment 4 durch seine ῥώμη und ἀνδρεία aus. Die Aussage im folgenden Einschub des Josephus, dass Adads Nachkommen die Herrschaft und den Namen ihres Vaters geerbt hätten, nimmt einen Teil des nächsten Textauszugs vorweg. 400 Der wörtlichen Wiedergabe ist zu entnehmen, dass die Nachfolger Adads durch die Übernahme seines Namens mit den Ptolemäern in Ägypten die gleiche Tradition teilten. Außerdem berichtet Nikolaos, dass der dritte Nachfahre Adads die meiste Macht besaß und zur Wiedergutmachung der Niederlage seines Stammvaters einen Feldzug gegen die Juden führte, bei dem er das Land verwüstete, das Samaria genannt wird.  2 Sam 8,3; 1 Chr 18,3; vgl. Begg (2004), S. 235.   Jacoby (1926b), S. 241. 397   Ios., ant. Iud. 7,5,2 (100); vgl. Begg (2004), S. 235. 398   Jacoby (1926b), S. 241. 399   Stern (1974), S. 235; Parmentier / Barone (2011), S. 57. 400   Begg (2004), S. 235. 395 396

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Dass die ägyptischen Herrscher ihren Namen von Ptolemaios übernommen haben, ist auch an einer anderen Textstelle des Josephus zu lesen. 401 Zum Zitat des Nikolaos merkt Josephus an, dass die Darstellung der Wahrheit entspreche, denn Adad habe den Feldzug in der Zeit Achabs, des Königs der Israeliten, geführt. Nikolaos wurde offenbar als zuverlässige Quelle für diesen Teil wahrgenommen, wie auch die Tatsache nahelegt, dass er der einzige Autor ist, den Josephus hier erwähnt. Im letzten Satz des Fragments nimmt Josephus Bezug auf eine andere Stelle seines Werks, in der Nikolaos aber nicht mehr erwähnt wird. 402 3.3.7.  Fragment 21 (Exc. de virtut. 1 p. 339,1) Einordnung: In diesem konstantinischen Exzerpt, das dem vierten und fünften Buch der Historien zugeordnet ist, geht es um Salmoneus, der seine eigene Tochter begehrt. F. Jacoby vermutet, dass die Fragmente 21 und 22 umzustellen seien, weil die vorliegende Überlieferung wegen einer möglichen Verortung in die Peloponnes zu den Fragmenten 23 und 24 gehören könnte. 403 Eine sichere Einordnung des Textauszugs ist aber aufgrund der starken Kürzung nicht möglich. Schon Homer hatte Salmoneus mit seiner Tochter Tyro erwähnt. 404 Nach Hesiod war Salmoneus ungerecht und forderte Zeus heraus. 405 Diodor zufolge habe er Tyro schlecht behandelt, und er sei übermütig sowie gottlos gewesen. Zeus habe ihn mit einem Blitz erschlagen, weil er den Gott mit Donnerschlägen nachahmte. 406 Ergänzend dazu ist bei Vergil und Hyginus zu erfahren, dass Salmoneus auf einem Wagen mit Fackeln Blitzstrahlen vortäuschte, während er durch die Stadt Elis gefahren sei. 407 Ähnliche Vorwürfe finden sich bei Euripides und in der Bibliotheke des Apollodor. 408 In nahezu allen Überlieferungen wird Salmoneus also mit einer Hybris in Verbindung gebracht, doch das Motiv, dass er nach Inzest strebte, ist nur hier überliefert. Das verbindende Element zwischen den verschiedenen Traditionen ist das Fehlverhalten des Königs. Seine Geschichte wurde in den Historien als Beispiel für berühmte Frevler rezipiert. Die konstantinischen Exzerptoren betrachteten den Suizid der Königstochter, deren Name hier fehlt, als tugendhaft. Sie wird in der Darstellung dem Frevler Salmoneus gegenübergestellt. Aus diesem Grund ist das Fragment in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert worden.   Ios., ant. Iud. 8,6,2 (156); vgl. Begg (2004), S. 235.   Ios., ant. Iud. 8,14,1 (363). 403   Jacoby (1926b), S. 241. 404   Hom., Od. 11,235-236. 405   Hes. fr. 10,27; 26; 27,16-23 Most. 406   Diod. 4,68,2; 6 fr. 6-7. 407   Verg., Aen. 6,585-594; Hyg., fab. 61. 408   Eur., Aiolos fr. 14; Apollod., bibl. 1,89 (1,9,7). 401 402

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment begehrte Salmoneus seine eigene Tochter. Diese brachte sich vor Ratlosigkeit um, bevor es zur Heirat kam. Der Vater ordnete an, ihr zu Ehren alljährlich ein Volksfest zu veranstalten. Eine Besonderheit dieser Darstellung ist, dass Salmoneus gegenüber anderen Quellen als zurückhaltend erscheint, denn er begeht keinen unmittelbaren Übergriff auf seine Tochter, sondern er wartet auf die Hochzeit. 409 Der Nebensatz πρὶν γάμου κυρῆσαι ist so zu deuten, dass die Tochter noch nicht das nötige Heiratsalter erreicht hat. 410 Da eine Verbindung zwischen Vater und Tochter sicher unzulässig war, ist das Vorhaben des Königs als Hinweis auf seine Lasterhaftigkeit zu verstehen. Das Motiv, dass ein Vater seine eigene Tochter begehrt, kommt auch in den Fragmenten 10 und 12 vor, aber nur in diesem Exzerpt stirbt die Tochter und nicht der Vater. Ihre Selbsttötung wird in der Geschichte positiv bewertet, weil sie der drohenden Schändung entgeht. Die Erwähnung des Volksfestes, das für sie veranstaltet wurde, deutet die positive Bewertung ihres Verhaltens an. Das Wort ἀμηχανία signalisiert ihre ausweglose Lage. Der Suizid lässt sich mit dem der Dada in Fragment 14 vergleichen, denn beide Frauen wollen nicht als Opfer einer Vergewaltigung leben. 3.3.8.  Fragment 22 (Exc. de virtut. 1 p. 339,5) Einordnung: Dieses konstantinische Exzerpt ist dem vierten und fünften Buch der Universalgeschichte zugeordnet und handelt vom Lyderkönig Kamblitas, der laut Darstellung seine Frau aufgegessen und sich auf dem Marktplatz getötet hat. 411 Nikolaos zufolge verspotteten ihn einige als Gefräßigen [γαστρίμαργος], während ihn andere, die vermuteten, dass Iardanos ihn vergiftet habe, bemitleideten. Unter dem Namen Kambles kommt der Lyder auch bei Aelian vor, der ihn in einer Aufzählung gefräßiger Persönlichkeiten [ἀδηφάγοι] nennt, sowie in einem Fragment des Xanthos, das bei Athenaios erhalten ist und wie der vorliegende Textauszug vom Kannibalismus und Suizid des Königs berichtet. 412 Eustathios von Thessalonike nannte den Herrscher im 12. Jahrhundert fälschlicherweise Kambyses, ansonsten stimmt er weitgehend mit der Überlieferung des Xanthos überein. 413 Offenbar wurde der König in den antiken Quellen mit einer unersättlichen Essgier verbunden. Iardanos ist als Vater Omphales bekannt, aber seine Feindschaft zu Kamblitas ist nur hier belegt. 414 Als Vorlage hat Nikolaos auf eine hellenistische Bearbeitung der Lydiaka zurückgegriffen. 415 Neben inhaltlichen Parallelen gibt es eine fast wörtliche Übereinstimmung des Teils περιβοήτου   Jacoby (1926b), S. 241.   Parmentier / Barone (2011), S. 58. 411   Vgl. zu dem Fragment auch Shahin (2018b). 412   Ael. VH 1,27; FGrHist 765 F 18 = Athen. 10,8 (415c-d). 413   Eustath., Hom. 1630,15 (Rhaps. 9 356,17). 414   Tripp (2012), Art. Omphale, S. 391. 415   Diller (1956), S. 74; Lendle (1992), S. 26. 409 410

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τοῦ πράγματος γενομένου. Nur durch das Wort πρᾶγμα anstelle von πρᾶξις weicht dieses Exzerpt von Xanthos ab. Die Darstellung des Nikolaos ist ausführlicher als die anderen Überlieferungen. Möglicherweise hat der Autor seine Vorlage mit zusätzlichen Motiven angereichert. 416 Weil die Version des Xanthos aber sehr kurz ist und die Exzerpte der byzantinischen Schreiber nach F. Jacoby „recht schlecht“ sind, ist dies nicht zu belegen. 417 Zeitlich lässt sich die Handlung nicht sicher einordnen. Vielleicht gehen die beiden Namensformen „Kamblitas“ und „Kambles“ auf einen lydischen Herrschertitel zurück, der von Kandaules, dem ersten König der Herakliden, abgeleitet ist. 418 Kamblitas gehörte demnach zur Heraklidendynastie. L. Alexander ordnet ihn dagegen in die Zeit des Gyges ein und hält es für möglich, dass er ein Mermnade war. 419 Nach R. Schubert gehörte Kamblitas wiederum zu den früheren Atyaden (F 15), denn Nikolaos bringt ihn mit Iardanos in Verbindung, der vor Herakles geboren worden war. Diese Erklärung ist in Anbetracht der Reihenfolge, in der die Fragmente des Nikolaos in den konstantinischen Exzerpten überliefert sind, am wahrscheinlichsten. 420 Nach Herodot stammten die Herakliden von Herakles und einer Sklavin des Iardanos ab. 421 Vermutlich war Iardanos also bei Xanthos und Nikolaos der Nachfolger des Kamblitas. 422 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment sagten einige, dass Kamblitas so ungemein gefräßig war [σφόδρα γαστρίμαργος], dass ihm sogar das Verlangen kam, seine eigene Frau aufzuessen. Er selbst meinte, vergiftet worden zu sein, und stellte sich, nachdem die Tat bekannt geworden war, mit einem Schwert auf den Marktplatz, wo er sich nach einem Gebet zu Zeus umbrachte. Die einen verspotteten ihn darauf als Gefräßigen [γαστρίμαργος], die anderen bemitleideten ihn aber als Wahnsinnigen [φρενοβλαβής], der vergiftet worden war. Sie vermuteten, dass Iardanos ihm dies aus Hass angetan habe. Nikolaos vermeidet es in der Darstellung, sich auf eine Erklärung für den Kannibalismus festzulegen, indem er die Möglichkeiten der Polyphagie und der Vergiftung durch die Worte οἱ μέν [...] οἱ δέ einander gleichwertig gegenüberstellt. Kamblitas wird also nicht von der Schuld an dem Mord freigesprochen, wie in der Forschung gefolgert wurde, 423 vielmehr überlässt Nikolaos es dem Leser, sich für eine der Erklärungen zu entscheiden. Diese Methode, die auf Herodot zurückgeht, 424 kommt auch in Fragment 13 vor, in dem unbestimmt bleibt, was Herakles dazu brachte, seine Angehörigen zu töten.   Toher (1989), S. 169.   Jacoby (1926b), S. 241. 418   Anderson (2004), S. 137. 419   Alexander (1913), S. 28; 35. 420   Schubert (1884), S. 5. 421   Hdt. 1,7. 422   Jacoby (1926b), S. 242. 423   Zimmermann (2013), S. 138. 424   Hdt. 7,152. 416 417

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Dass Kamblitas seine Frau aus Gefräßigkeit verspeiste, legen die Parallelüberlieferungen nahe. Xanthos nennt den König πολυφάγος, πολυπότης sowie γαστρίμαργος und Aelian zufolge gehört er zu den ἀδηφάγοι. Der Vorwurf der Polyphagie hängt mit einer Verurteilung von Fettleibigkeit zusammen. Bei Nikolaos wird übermäßige Körperfülle in einer Darstellung über die Iberer in der Sammlung besonderer Völkersitten missbilligt (F 105). Polyphagie wurde mit Maßlosigkeit verbunden, die in den antiken Überlieferungen vielfach Tyrannen zugeschrieben wird. 425 Dass es bei Nikolaos vor allem asiatische Herrscher sind, die als gefräßig erscheinen, zeigt Fragment 73, in dem Mithridates VI. ein Wettessen und -trinken ausrichtet, aus dem er selbst als Sieger hervorgeht. Es wurde vermutet, dass es sich bei der Erzählung über Kamblitas um einen Argumentationstopos handelt, „der die angeblich endemische Gefahr der lydopatheia, bei einer Infizierung mit ihr in die totale Perversion und Willkür abzugleiten, als eine historische Realität ausgibt.“ 426 Gegen diese Interpretation ist aber die lydische Herkunft des Xanthos vorzubringen, auf den die Tradition des Nikolaos zurückgeht. Die Forschung hat die Geschichte auch in Zusammenhang mit früheren Menschenopfer bringen wollen. 427 Um diese Vermutung zu stützen, ist die Quellenlage aber nicht ausreichend. Die Handlung wird durch die persönliche Beziehung zwischen Täter und Opfer dramatisiert, denn Kamblitas verspeist seine eigene Frau. Xanthos veranschaulicht die Tat, indem er schreibt, dass der Herrscher am nächsten Tag eine Hand in seinem Mund gefunden habe. Das Fehlen dieses Motivs in der vorliegenden Version hängt nicht mit einem sinkenden Vergnügen an Gewaltbildern zwischen dem fünften und dem ersten Jahrhundert v. Chr. zusammen, immerhin gibt es Überlieferungen des Nikolaos, in denen das Abschneiden von Körperteilen erwähnt wird (F 4; 44; 66; 93). Der Vergleich zwischen den Fassungen von Nikolaos und Xanthos könnte auf eine Verschiebung der „Gewichtung von Gewaltakt und ethischer Aufbereitung“ 428 hinweisen, aber vielleicht ist das Motiv der abgetrennten Hand auch nur aufgrund der starken Kürzung weggefallen. Der Gewaltexzess steht jedenfalls nicht im Zentrum der Darstellung, sondern die Ungewissheit, was Kamblitas zum Kannibalismus verleitet hat. 429 Die Möglichkeit, dass er vergiftet wurde, drückt sich in der direkten Rede des Königs und im Mitleid einiger Lyder aus, die von einem Anschlag auf ihn ausgingen. Nach F. Jacoby sind die φαρμακοί kein Zusatz des Nikolaos, sondern sie gehen auf seine Quelle zurück. 430 Bei Xanthos könnte das Wort πολυπότης darauf   Schon der Dichter Alkaios war in einem Gedicht über den dicken Tyrannen Pittakos hergezogen (Alk. fr. 429 LP). Herodot bezeichnete Tyrannen mehrfach als παχέες (Hdt. 5,30; 5,77; 6,91; 7,156), vgl. Kistler (2012), S. 66-67. 426   Kistler (2012), S. 68. 427   Borsay (1965), S. 80-81. 428   Zimmermann (2013), S. 138. 429   Toher (1989), S. 169. 430   Jacoby (1926b), S. 242. 425

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hindeuten, dass der Herrscher seine Frau in einem nächtlichen Alkoholrausch getötet hat. In jedem Fall tötete er ohne Vorsatz, wie am Motiv der Hand im Mund des Königs deutlich wird. Unwissentlicher Kannibalismus wird auch in Fragment 38 thematisiert, in dem die Söhne des Lykaon das Fleisch eines Knaben mit dem von Opfertieren vermengen, um die Anwesenheit des Zeus zu prüfen. Nach Herodot legte der Mederkönig Astyages seinem ahnungslosen Untertanen Harpagos dessen Sohn als Speise vor. 431 Der Verzehr von Menschen stand schon in den frühesten literarischen Quellen den Grundwerten der griechischen Kultur entgegen. 432 Das Motiv, unbeabsichtigt zum Kannibalen geworden zu sein, lässt sich als Ausdruck der Angst vor diesem Phänomen deuten. Kamblitas hat mit Herakles gemeinsam, dass er in der eigenen Familie mordet und anschließend Reue zeigt (F 13). Laut vorliegendem Exzerpt sagte der Lyderkönig vor seinem Suizid, dass er freiwillig die Strafe auf sich nehme, falls er aus eigenem Antrieb gehandelt habe. Wenn er aber vergiftet worden sei, so sollten diejenigen dafür leiden, die ihm dies angetan hätten [φαρμάξαντες]. Die Konditionalsätze, die an den Brief des Stryangaios in Fragment 5 erinnern, demonstrieren, dass Kamblitas alle Möglichkeiten berücksichtigt hat. Er übernimmt Verantwortung für das Geschehene, obwohl er meint, Opfer eines Anschlags geworden zu sein. Wie in den Erzählungen zu Herakles liegt hier die Auffassung zugrunde, dass Kamblitas auch dann Schuld trägt, wenn er ohne Vorsatz gehandelt hat. Der Entschluss zum Suizid hängt mit dem Bekanntwerden der Tat zusammen, wie der ‚Genetivus absolutus‘ περιβοήτου τοῦ πράγματος γενομένου zeigt. Kamblitas hatte ein Bewusstsein für soziale Normen, denn er fürchtete eine Bestrafung. 433 Den möglichen Forderungen nach einer Sanktionierung kam er durch seinen Suizid zuvor (Kap. 2.3.3.1.). Diejenigen, die ihn vielleicht vergifteten, belegte er mit einem Fluch, der vom obersten olympischen Gott mitgetragen werden sollte, wie der Zeus-Appell deutlich macht. Durch den Ausgang der Handlung ist die Sühnung der Tötung gewährleistet, denn der Täter nimmt sich das Leben, und Iardanos kann sich seiner Strafe sicher sein, falls er eine Schuld trägt. Mit seiner letzten Handlung demonstriert Kamblitas also die Bindekraft der sozia­ len Normen. Deswegen bringt er sich auch mitten auf dem belebten Marktplatz um. Die Anwesenheit einer größeren Gruppe äußert sich durch die Anmerkung,   Hdt. 1,118-119.   In Homers Odyssee werden die Gefährten des Protagonisten vom Kyklopen Polyphem getötet, in Stücke geschnitten und gegessen. Diese Taten werden als entsetzlich [σχετλία] bewertet und stehen damit in Zusammenhang, dass sich der Kyklop weder um Gastfreundschaft noch um die Götter kümmert, vgl. Hom., Od. 9,273-295. Bei Herodot ist zu lesen, dass die Hellenen um keinen Preis, ihre toten Väter verspeisen würden. Er schreibt diese Sitte aber den Kallatiern und den Issedonen zu und betont so die Fremdheit dieser weit entfernt lebenden Völker, vgl. Hdt. 3,38; 4,26. Zu Kannibalismus in der Antike vgl. Pöhl / Fink (Hg.) (2015). 433   Zimmermann (2009), S. 164. 431 432

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dass sich der König vor aller Augen tötete. Wie in Fragment 47 zu lesen ist, fanden an diesem Ort die Volksversammlungen der Lyder statt. Das Handeln des Kamblitas wurde auf den Verlust seiner „anrührende[n] Liebe“ zurückgeführt, doch diese Deutung lässt sich nicht stützen. 434 Weil dem König mit der Absprache seiner Regierungsfähigkeit und dem Ausschluss aus der Gemeinschaft Konsequenzen drohten, die zumindest sozial seinen Tod bedeuteten, zog er es vor, sich durch seinen Suizid als Opfer darzustellen. Dass er damit zumindest bei einigen Lydern Erfolg hatte, zeigt das ihm entgegengebrachte Mitleid. Die Selbsttötung mit einem Schwert ist in zwei weiteren Fragmenten des Nikolaos belegt und war im Gegensatz zur Selbstverbrennung keine fremde Form des Suizids (F 3; 14). Weil der Charakter des Kamblitas undurchschaubar bleibt und der Hintergrund der Handlung nicht aufgeklärt wird, ist das Fragment in den Excerpta de virtutibus et vitiis und nicht in den Excerpta de insidiis überliefert worden. 3.3.9.  Fragment 23 (Constant. Porph., De them. 2,6 = Steph. Byz. s. v. Πελοπόννησος) Einordnung: Zusammen mit Fragment 71 ist dieser Textauszug, in dem es um die verschiedenen Namen für die Peloponnes geht, die einzige Überlieferung des Nikolaos, die im Werk De thematibus des byzantinischen Kaisers Konstantin VII. über die Verwaltungsbezirke erhalten ist. Die gleiche Wiedergabe aus dem Werk des Nikolaos findet sich auch in einem Artikel des Stephanos Byzantios. 435 Der Beginn des Zitats wird im ersten Satz durch das Verb γράφει markiert. Das Ende des Fragments ergibt sich durch einen Themenwechsel [Ἔστι δὲ χερρόνησος...]. Bei der Stellenangabe, die auf das vierte Buch des Nikolaos verweist, geht der Werktitel vermutlich auf Stephanos zurück, denn er steht wie in den Fragmenten aus den Ethnika im Singular [ἱστορία]. 436 Parallelüberlieferungen, die sich mit dem Namen der Halbinsel beschäftigen, finden sich etwa bei Thukydides, Strabon und in der Bibliotheke des Apollodor. 437 Der Textauszug geht auf eine Darstellung des Nikolaos über die früheste griechische Geschichte zurück. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Nikolaos zufolge erhielt die Peloponnes ihren Namen von den Pelopiden. Unter Apis, dem Sohn des Phoroneus, war sie Apia genannt worden, und unter Pelasgos, dem Autochthonen, hatte sie den Namen Pelasgia. Außerdem nannte man sie auch Argos. Ihren endgültigen Namen bekam sie dann von Pelops.   Zimmermann (2013), S. 138.   Steph. Byz. s. v. Πελοπόννησος. 436   Billerbeck (2006), S. 277. 437   Thuk. 1,9,2; Apollod., bibl. 2,2-3 (2,1,1-2); Strab. 7,7,1 (321C 3-20); 8,5,5 (365C 12-18). 434 435

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Mit den Πελοπίδαι meint Nikolaos die Nachfahren des Pelops, dessen Einordnung als Bezwinger des Oinomaos einen Bezug zum dritten Buch herstellt (F 10). Dass auch die übrigen Personen, die in der Quelle erwähnt werden, an weiteren Stellen der Universalgeschichte vorkamen, legt die Erwähnung von Pelasgos als Vater des Lykaon in Fragment 38 nahe. Fragment 37 ist zu entnehmen, dass Arkadien einst Pelasgia genannt worden sei. Apis, Argos und Pelasgos sind als mythische Herrscher der Peloponnes bekannt. 438 Dass Pelops αὐτόχθων war, steht ebenfalls in einem Fragment Hesiods, das in Apollodors Bibliotheke überliefert ist. 439 3.3.10.  Fragment 24 (Exc. de virtut. 1 p. 339,16) Einordnung: In dem konstantinischen Exzerpt zum vierten beziehungsweise fünften Buch des Nikolaos wird das Geschlecht des Amythaon erwähnt und ein Zitat Hesiods wiedergegeben, das nicht Bestandteil seiner überlieferten Werke ist. 440 Die Darstellung ist, wie in der vorangegangenen Überlieferung, auf der Peloponnes zu verorten. Dadurch, dass Amythaon im griechischen Mythos als Sohn der Tyro und Enkel des Salmoneus bekannt ist, gibt es einen Bezug zu Fragment 21. 441 Deswegen hatte F. Jacoby vermutet, dass Fragment 21 um eine Position zu verschieben sei. 442 Von den Atriden, die am Ende des Hesiod-Zitats genannt werden, stammte Agamemnon ab, um den es in der nachfolgen Überlieferung geht. Amythaon wird bei Homer und Pindar erwähnt. 443 Seine Nachfahren kommen bei Herodot, Pherekydes von Athen und in der Bibliotheke des Apollodor vor. 444 Dasselbe Hesiod-Zitat wie im vorliegenden Textauszug findet sich in der Suda unter dem Artikel Ἀλκή, sodass von einer Übernahme des Fragments in das byzantinische Nachschlagewerk auszugehen ist. 445 Zusammen mit Fragment 83 zeigt das Exzerpt, dass Nikolaos für seine Universalgeschichte auf Hesiods Werk zurückgegriffen hat. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut vorliegendem Textauszug haben die Amythaoniden in Bezug auf den Verstand [φρόνησις] in früheren Zeiten den ersten Platz unter den Hellenen eingenommen. Um dies zu belegen, wird Hesiod zitiert: Stärke habe der Olympier den Aiakiden gegeben, Verstand [νόος] den Amythaoniden, Reichtum aber in den Besitz der Atriden. 446 Die Exzerptoren   Tripp (2012), Art. Apis, S. 62; Art. Argos [1], S. 95; Art. Pelasgos, S. 412.   Apollod., bibl. 2,2 (2,1,1); vgl. Parmentier / Barone (2011), S. 60. 440   Hes. fr. 249 Most. 441   Tripp (2012), Art. Amythaon, S. 50. 442   Jacoby (1926b), S. 241. 443   Hom., Od. 11,259; Pind. P. 4,127. 444   Hdt. 9,34; Apollod., bibl. 1,96-102 (1,9,11-12); FGrHist 3 F 33. 445   Suda s. v. Ἀλκή; vgl. De Boor (1912). 446   Hes. fr. 249 Most. 438 439

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haben das kurze Fragment wohl nicht mit der Wiedergabe Hesiods angereichert, sondern das Zitat aus dem Werk des Nikolaos entnommen. Hinsichtlich der Aufzählung fällt auf, dass die drei Teilsätze mit dem jeweiligen Objekt anfangen, während am Ende die Sippennamen stehen, die alle mit dem Buchstaben Alpha beginnen und von Aiakos, Amythaon und Atreus abgeleitet sind. Ολύμπιος steht natürlich für den obersten Gott Zeus. Mit den Worten φρόνησις und νόος, die hier synonym verwendet werden, wird den Nachfahren des Amythaon eine besondere Denkkraft zugeschrieben. 3.3.11.  Fragment 25 (Exc. de insidiis p. 8,29) Einordnung: In diesem Fragment aus den Excerpta de insidiis, das dem vierten und fünften Buch der Universalgeschichte zugeordnet ist, geht es um Aigisthos, der Agamnenon, den König von Argos, tötet und dessen Sohn Orestes bedroht. Die Handlung ist aus dem griechischen Mythos und aus der Tragödie bekannt. 447 Aigisthos kam bereits in Homers Odyssee vor und ist eine Hauptfigur in den Dramen Orestie von Aischylos und Elektra von Sophokles sowie im Werk Agamemnon, das Seneca zugeschrieben wird. 448 Auch in Euripides’ Drama Elektra geht es um den Konflikt in Argos. Ansonsten finden sich etwa bei Pindar, Pherekydes von Athen, Herodoros von Herakleia, Hellanikos und Dictys Cretensis eine Reihe kurzer Erwähnungen. 449 Der vorliegende Textauszug weicht von den Parallelüberlieferungen ab. Bei Dictys gibt es zumindest die Parallele, dass der Retter des Orestes Talthybios ist. 450 Als Quelle des Nikolaos kommt Hellanikos in Frage, denn beide berichten, dass Orestes im vierten Mordprozess, den es in Athen gegeben habe, angeklagt worden sei. 451 Dieses Gerichtsverfahren ist wohl eine Rationalisierung des göttlichen Gerichts, das Aischylos in den Eumeniden thematisiert. Auch die zweite Vertreibung des Orestes, die Nikolaos auf die Freunde des Aigisthos zurückführt (und nicht wie andere Autoren auf die Erinnyen) belegt, dass es sich bei diesem Textauszug um eine rationalisierte Umgestaltung des Mythos handelt. Die Erwähnung der Erinnyen in der vorliegenden Quelle stammt F. Jacoby zufolge von den Exzerptoren. 452 Fragment 48 knüpft durch die Erwähnung des Muttermords von Orestes und seiner Ankunft in Athen an diese Überlieferung an. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Am Anfang des Fragments steht, dass Aigis­ thos den König Agamemnon tötete und auf Ratschlag seiner Frau Klytaimnestra   Tripp (2012), Art. Aigisthos, S. 30.   Hom., Od. 1,29-43; 3,249-275; 4,524-537. 449   Pind. P. 11,16; Pherekydes FGrHist 3 F 134; Herodoros FGrHist 31 F 11; Hellanikos FGrHist 4 F 169; Dict. Cret. 6,2. 450   Dict. Cret. 6,2; vgl. Lange (2002), S. 76-77. 451   FGrHist 4 F 169; vgl. Jacoby (1926b), S. 242. 452   Jacoby (1926b), S. 242. 447 448

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auch Orestes, den Sohn des Herrschers, beseitigen wollte. Orestes wurde aber von Talthybios gerettet und nach Phokis gebracht. Agamemnon ist als Sohn des Atreus bekannt, dessen Geschlecht im 24. Fragment des Nikolaos erwähnt wird. Dem Mythos zufolge wurde Agamemnon nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg von Aigisthos getötet, der Klytaimestra verführt hatte. 453 In der vorliegenden Darstellung hat die Frau des Königs die jüngere Namensform Klytaimnestra. Orestes wird auch bei Dictys von Tal­ thybios gerettet, während der Königssohn bei anderen Autoren wie Euripides und Pindar von einer Amme oder einem Greis in Sicherheit gebracht wird. 454 Talthybios kommt auch in der Orestie des Aischylos vor. Nach Herodot war Tal­ thybios ein Herold Agamemnons. 455 Wie bei Aischylos und Euripides wird Orestes auch in diesem Exzerpt zu Strophios, dem König von Phokis, gebracht. 456 Nach Homer hielt sich Agamemnons Sohn in Athen auf, und Dictys zufolge sei er dem Kreter Idomeneus in Korinth übergeben worden. 457 Die singuläre Angabe des Herodoros, dass Orestes bei seiner Rettung drei Jahre alt gewesen sei, kann mit diesem Fragment nicht gestützt werden. 458 Nikolaos zufolge sei Orestes nämlich nach zehn Jahren mit Pylades, dem Sohn des Strophios, in seine Heimat zurückkehrt, und die folgende Handlung lässt vermuten, dass Orestes in dieser Zeit bereits erwachsen war. Laut Odyssee war Orestes seiner Heimat nur sieben Jahre fern. 459 Wie im Weiteren zu lesen ist, tötete Orestes seine Mutter und Aigisthos, bevor er die Herrschaft übernahm. Anders als beim geplanten Matrizid in Fragment 1 ist hier die Bewertung der Handlung nicht eindeutig. Einerseits handelte es sich beim Muttermord um einen der schlimmsten Frevel, andererseits musste Orestes die Tötung seines Vaters rächen. Diese Ambivalenz kam schon in älteren Quellen zum Ausdruck, wie Aischylos, bei dem der Protagonist am Ende des Dramas wahnsinnig wird. 460 In diesem Fragment zeigt sich die Kritik an Orestes durch die Anmerkung, dass ihn die Freunde des Aigisthos wie einen Fluchbeladenen vertrieben. Diese Textstelle deutet die besondere Blutschuld des Muttermords an. Dass Orestes für sein Vergehen ein Orakel einholen musste, äußert sich darin, dass er auf Weisung Gottes nach Athen kam. Orestes war sich der Notwendigkeit der Sühnung bewusst. Auch zu Beginn von Aischylos’ Eumeniden geht Orestes zum Orakel von Delphi.   Tripp (2012), Art. Agamemnon, S. 21-22.   Dict. Cret. 6,2; Eur., El. 16; Pind., P. 11,17-18; vgl. Parmentier / Barone (2011), S. 62. 455   Hdt. 7,134. 456   Eur., El. 18; Aischyl., Ag. 879-881; FGrHist 31 F 11; vgl. Jacoby (1926b), S. 242. 457   Hom., Od. 3,307; Dict. Cret. 6,2. 458   FGrHist 31 F 11. 459   Hom., Od. 3,106. 460   Aischyl., Choeph. 1021-1022. 453

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Am Ende des Fragments ist zu lesen, dass Orestes wegen Mordes vor dem Areopag angeklagt und freigesprochen wurde, und dass es sich dabei um den vierten Mordprozess in Athen handelte. Die drei früheren Verfahren werden in der Parallelüberlieferung bei Hellanikos erwähnt. 461 Historischer Hintergrund dieser Darstellungen ist, dass Solon die Entscheidung über Fälle vorsätzlicher Tötung dem Areopag übertragen hat. 462 In Fragment 48 wird die Ankunft des Orestes in Athen in die Zeit der Königsherrschaft Demophons eingeordnet. Die Datierung im Marmor Parium zur Anklage des Orestes vor dem Areopag ist korrupt. 463 Die Darstellung des Nikolaos enthält mehrere ἐπιβουλαί, die den Grund der Überlieferung in der konstantinischen Sammlung bilden: Erstens den Sturz Agamemnons durch Aigisthos und Klytaimnestra, zweitens die Rache des Orestes und drittens seine Vertreibung durch die Freunde des Aigisthos. Diese Umstürze sind Hinweise für die politische Instabilität im archaischen Argos (Kap. 2.3.3.2.). Der Wert des Fragments besteht vor allem darin, dass es eine Entwicklungsstufe des Mythos um Aigisthos, Agamemnon und Orestes aufzeigt. Das Exzerpt des Nikolaos entspricht nämlich keiner anderen Überlieferung und ist die einzige Version aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. 3.3.12.  Fragment 26 (Steph. Byz. s. v. Ἀσκανία) Im Artikel zur troischen Stadt Ἀσκανία, in dem Stephanos Byzantios einen Teil aus dem vierten Buch des Nikolaos zitiert, wird Skamandrios als Sohn Hektors und Andromaches eingeordnet. Laut Fragment stammten Skamandrios, Hektor und Andromache vom Ida, aus Daskyleion und aus einer Stadt namens Askania, die Askanios, der Sohn des Aeneas, gegründet habe. 464 Askania sei aber der Name mehrerer Landschaften und Seen, wie Stephanos im Anschluss an die wörtliche Wiedergabe feststellt. Die in dem Zitat erwähnten Personen stehen alle in Zusammenhang mit dem Trojanischen Krieg. Skamandrios ist bekannter unter dem Namen Astyanax. 465 In der Ilias heißen zwei Verbündete der Trojaner Askanios. 466 Erst in der Zeit nach Homer ging der Name auf den Sohn des Aeneas über. Dieser wurde unter dem Namen Iulus zum Ahnherrn der römischen Iulier. 467 Eine Verbindung von Skamandrios und Askanios gibt es auch in einem Fragment des Hellanikos, der vielleicht die Quelle des Nikolaos war. 468 Nach diesem   Ares sei wegen Mordes an Halirrhothios angeklagt gewesen, Kephalos wegen der Tötung seiner Frau Prokris und Daidalos wegen der von Talos, vgl. FGrHist 4 F 169. 462   Schmitz (2014), S. 59. 463   Marm. Par. A25. 464   Die Ortsangaben sind wohl nicht wie bei Parmentier / Barone (2011, S. 62) als Reiseroute des Skamandros zu deuten, vgl. Billerbeck (2006), S. 279. 465   Tripp (2012), Art. Astyanax, S. 107. 466   Hom., Il. 2,862; 13,792. 467   Tripp (2012), Art. Aeneas/Aineias, S. 17-20, hier S. 19-20. 468   FGrHist 4 F 31 = Dion. Hal., ant. 1,47,5; vgl. Jacoby (1926b), S. 242. 461

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Textauszug war Askanios der Heros eponymos der Stadt Askania. F. Jacoby vermutet, dass das Fragment auf eine Darstellung der Äolischen Wanderung zurückgeht. 469 Der Textauszug ist neben Fragment 18 die einzige Quelle, in der Stephanos Byzantios einen Titel für das Werk des Nikolaos nennt [Νικόλαος δ Ἱστορίᾳ]. Auffällig ist, dass ἱστορία im Singular steht und keinen bestimmten Artikel hat. 470 Von Geschehnissen in Ionien handelt auch die nachfolgende Überlieferung. 3.3.13.  Fragment 27 (Steph. Byz. s. v. Καρνία) Stephanos Byzantios verweist im Artikel zu Καρνία, welches er in Ionien verortet, auf das vierte Buch des Nikolaos. Nach F. Jacoby gehört das Fragment, wie die vorangegangene Überlieferung, zu einer Darstellung der Äolischen Wanderung. 471 Sicher ist, dass es in diesem Teil der Historien um Geschehnisse in Ionien ging. 3.3.14.  Fragment 28 (Exc. de virtut. 1 p. 339,21) Einordnung: Diesem Fragment, das die konstantinischen Exzerptoren dem vierten und fünften Buch des Nikolaos zugeordnet haben, ist zu entnehmen, dass die Herakliden Philonomos als Entlohnung für einen Verrat das Gebiet um Amyklai überließen. Laut griechischem Mythos war es den Nachkommen des Herakles nach mehreren Versuchen gelungen, die Peloponnes zu erobern. 472 Amyklai war seit vorgriechischer Zeit besiedelt und lag in der Nähe Spartas. Pausanias thematisiert die Gründung der Stadt und die Eroberung durch die Spartaner. 473 Die Darstellung des Nikolaos basiert wahrscheinlich auf Ephoros, von dem zwei Fragmente bei Strabon überliefert sind, die den Verrat des Philomenos erklären und das vorliegende Exzerpt ergänzen. 474 Als Parallelüberlieferung findet sich ansonsten ein Textauszug bei Photios, der auf Konon zurückgeht und Philonomos sowie das Gebiet Amyklai erwähnt. 475 Zur Darstellung der Rückkehr der Herakliden, die als mythographische Konstruktion zur Erklärung der dorischen Herrschaft über die Peloponnes zu deuten ist, gehören auch die Fragmente 29 bis 33. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Am Anfang des Exzerpts ist zu erfahren, dass Philonomos Amyklai gemäß einer Vereinbarung mit den Herakliden erhielt.   Jacoby (1926b), S. 242.   Billerbeck (2006), S. 277. 471   Jacoby (1926b), S. 242. 472   Tripp (2012), Art. Herakliden/Herakleidai, S. 240-242. 473   Paus. 3,1,3; 3,2,6. 474   FGrHist 70 F 117-118. 475   FGrHist 26 F 1 (§ 36). 469 470

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Wegen seines Verrats [προδοσία] schämte sich Philonomos aber und zeigte sich nirgends. Die Herakliden teilten darauf das Land erneut auf und vergaben auch Amyklai. Bei Ephoros ist zu erfahren, dass die Herakliden, die Lakonien in Besitz genommen hatten, Eurysthenes und Prokles gewesen seien. Philonomos habe ihnen das Gebiet ausgeliefert, indem er den früheren Herrscher dazu überredete, unter dem Schutz eines Abkommens mit den Achaiern nach Ionien auszuwandern. Lakonien sei dann in sechs Gebiete aufgeteilt worden, von denen sich die Herakliden Sparta genommen und Amyklai für Philonomos bestimmt hätten. 476 Die Zwillingsbrüder Eurysthenes und Prokles kommen auch bei Pausanias vor. 477 Mit Ionien meint Ephoros nicht die kleinasiatische Landschaft, sondern das Gebiet, das den Namen Achaia bekam. 478 Bei Nikolaos nimmt Philonomos das ihm versprochene Land zuerst nicht an. Offenbar empfand er Reue für den begangenen Vertrauensbruch. Das Wort προδοσία und die Bezeichnung des Philonomos als προδότης im ersten Satz kennzeichnen ihn als Verräter. Die negative Bewertung seines Verhaltens kommt hier stärker zum Ausdruck als in den Parallelüberlieferungen. Laut Fragment erhielt Philonomos, der mit seinem Gefolge aus Lemnos zurückgekehrt war, das Land von den Herakliden zurück. Das Ende des Nebensatzes ὅντινα ἐπὶ τῇ ἴσῃ καὶ ὁμοίᾳ ist korrupt, kann aber nach H. Valois (Valesius) mit ἧγε μεθ᾽ ἑαυτοῦ ergänzt werden. Demnach sorgte Philonomos bei der Landverteilung für völlige Gleichheit [τῇ ἴσῃ καὶ ὁμοίᾳ]. Aus diesem Abschnitt geht hervor, dass Philonomos nach einiger Zeit doch Anspruch auf Amyklai erhob, und die Herakliden ihm das Gebiet überließen. Die Insel Lemnos kommt auch in Konons Textauszug vor, dem zu entnehmen ist, dass Philonomos lemnische und imbrische Siedler nach Amyklai rief. 479 Diese Kolonisten erinnern an die Minyer, die nach Herodot die Insel Thera besiedelten und (wie die Siedler bei Konon) nach wenigen Generationen erneut eine neue Heimat suchten. 480 Bei Nikolaos zeigen die Worte τῇ ἴσῃ καὶ ὁμοίᾳ, dass Philonomos Wert auf eine gleiche und demzufolge gerechte Landverteilung legte. Das Partizip βασιλεύων im letzten Satz belegt, dass er die Königsherrschaft über Amyklai übernahm. Obwohl Philonomos am Anfang der Handlung noch einen Verrat begangen hat, erscheint er nun als gerechter König, sodass sein sprechender Name „Freund des Rechtsbrauchs“ Gültigkeit erhält. Diese Entwicklung vom schlechten zum guten Verhalten war offenbar der Grund dafür, dass das Fragment in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert wurde. Vielleicht hat Nikolaos die Geschichte mit dem Motiv der Scham angereichert und Philonomos ins Zentrum des Geschehens   FGrHist 70 F 117-118; vgl. Sakellariou (1990), S. 146-147.   Paus. 3,1,7-8. 478   FGrHist 70 F 118; vgl. Radt (2007), S. 446. 479   FGrHist 26 F 1 (§ 36). 480   Hdt. 4,147-153. 476 477

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102113



gerückt. Der Machtwechsel und die Erwähnung der Kolonisten in Amyklai sind Hinweise auf frühe Migrationsbewegungen in Griechenland und in der Ägäis. 3.3.15.  Fragment 29 (Steph. Byz. s. v. Θόρναξ) In dieser Überlieferung aus dem Werk des Stephanos Byzantios steht, dass der Thornax ein Berg in Lakonien sei und Nikolaos ihn im vierten Buch erwähne. Das folgende Ethnikon Thornakier, das der Grammatiker angibt, hat Nikolaos wohl verwendet, denn es wird keine alternative Schreibform angegeben. Offenbar ging es im vierten Buch der Universalgeschichte auch um Geschehnisse auf der Peloponnes. F. Jacoby vermutet, dass die Überlieferung mit dem vorangegangenen Fragment zusammenhängt. 481 Die geographische Angabe legt zudem nahe, dass es hier wie in den Fragmenten 30 bis 33 darum ging, die dorische Herrschaft über die Peloponnes auf die Rückkehr der Herakliden zurückzuführen. Wegen der Kürze der Quelle ist aber keine sichere Zuordnung möglich. 3.3.16.  Fragment 30 (Exc. de insidiis p. 9,5) Einordnung: Nach dieser konstantinischen Überlieferung, die zum vierten und fünften Buch des Nikolaos gehört, kam es im Haus des Temenos zu einem Konflikt, weil er größere Zuneigung zu seiner Tochter Hyrnetho und ihrem Mann Deïphontes zeigte als zu seinen Söhnen. Laut Mythos war der Heraklide Temenos in die Peloponnes eingefallen und König von Argos geworden. 482 In byzantinischer Zeit wurde die ἐπιβουλή gegen ihn als zentraler Aspekt der Geschichte wahrgenommen, immerhin ist das Fragment in die Excerpta de Insidiis aufgenommen worden. Zusammen mit den beiden vorangegangenen Überlieferungen und den Fragmenten 31 bis 33 gehört der Textauszug zu einer Darstellung der Rückkehr der Herakliden, die sich als mythographische Erklärung für die Herrschaft der Dorer über die Peloponnes betrachten lässt. Parallelüberlieferungen zu dem Fragment finden sich bei Pausanias, Diodor und in der Bibliotheke des Apollodor, der wohl den Inhalt der nicht überlieferten Tragödie Τημενίδαι des Euripides wiedergab. 483 Quelle des Nikolaos war wahrscheinlich Ephoros, der Deïphontes sowie Agaios, den jüngsten Sohn des Temenos, als Gründer der Gemeinwesen an der ἀκτή nennt. Außerdem spricht er wie Nikolaos von der Rückkehr der Herakliden. 484 Von besonderem Wert ist das Fragment, weil es ausführlicher ist als die anderen Quellen und Hinweise auf frühe Konflikte auf der Peloponnes bietet.   Jacoby (1926b), S. 243.   Tripp (2012), Art. Temenos [1], S. 500. 483   Paus. 2,19,1; Diod. 7 fr. 13,1; Apollod., bibl. 2,8,5 (179); vgl. Robert (1921a), S. 666. 484   FGrHist 70 F 18; vgl. Jacoby (1926b), S. 241; Luraghi (2008), S. 235. 481 482

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Mit der Einleitung, dass Temenos von seinen Kindern getötet wurde, wird schon am Anfang des Fragments das wichtigste Motiv der Handlung vorweggenommen. Dadurch verliert die Geschichte aber nicht ihre Spannung, denn es geht vor allem um die Geschehnisse vor dem Tod des Temenos. Wie bei Diodor werden hier Kissos, Phalkes, Kerynes und Agaios als Königssöhne genannt. 485 In der Bibliotheke des Apollodor sind dagegen die drei Namen Agelaos, Eurypylos und Kallias zu lesen. 486 Pausanias erwähnt lediglich Keisos, der mit Kissos gleichzusetzen ist. 487 Deïphontes ist in den meisten Überlieferungen der Schwiegersohn des Temenos. Nikolaos führt die Herkunft des Deïphontes auf Herakles zurück und deutet damit seine besondere Bedeutung für das weitere Geschehen an. Wie den folgenden Zeilen des Fragments zu entnehmen ist, liebte der König Hyrnetho und Deïphontes viel mehr [στέργω] als seine Söhne und begegnete ihnen auch fortwährend in jeder Hinsicht so. Die Söhne fühlten sich gekränkt und wollten Temenos von Übeltätern beseitigen lassen. Aus der Bibliotheke des Apollodor und den Überlieferungen bei Diodor und Pausanias lässt sich ableiten, dass die besondere Zuneigung des Temenos zu Deïphontes mit dessen militärischen Fähigkeiten und Rückhalt im Heer zusammenhing. 488 Das Hauptmotiv für die ἐπιβουλή ist demnach die Eifersucht der Königssöhne. Wahrscheinlich bestand die Befürchtung, dass Deïphontes die Königsherrschaft übernehmen werde, wie in der Überlieferung des Pausanias zu lesen ist. 489 Aus einem ähnlichen Grund wird bei Nikolaos ein Freund des Lyderkönigs Ardys ermordet (F 44 § 11). Das Verhalten der Söhne erscheint jedenfalls als äußerst frevelhaft, weil sie gegen den Vater aufbegehren und sogar seine Ermordung planen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Erwähnung der κακοῦργοι, die den Mord gegen Bezahlung [ἐπὶ μισθῷ] ausführen sollen. Die Anmerkung des Nikolaos, dass Agaios keinen Anteil an dem Plan hatte, könnte auf ein Motiv aus dem Drama, und demzufolge auf Euripides, zurückzuführen sein. 490 Nikolaos zufolge wurde Temenos an einem Fluss in einer menschenleeren Gegend überfallen. Mit schweren Verwundungen brachte man ihn zurück ins Lager, wo er starb, ohne seinen Mörder gekannt zu haben. In dieser Darstellung tragen die Wehrlosigkeit des Opfers, das unerwartete Überleben des Angriffs und die Ahnungslosigkeit, dass der Mordplan vom eigenen Haus ausging, zur Dramatisierung bei. Dass Temenos bei dem Überfall nur verwundet wurde, steht auch bei Diodor. 491   Diod. 7 fr. 13,1.   Apollod., bibl. 2,8,5 (179). 487   Paus. 2,19,1. 488   Diod. 7 fr. 13,1; Paus. 2,19,1; Apollod., bibl. 2,8,5 (179). 489   Paus. 2,19,1. 490   Robert (1921a), S. 666. 491   Diod. 7 fr. 13,1. 485 486

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Im zweiten Teil der Darstellung erklärt Nikolaos den Machtwechsel zu Hyrnetho und Deïphontes: Temenos hinterließ ihnen die Herrschaft und teilte ihnen die Orakelsprüche [τὰ λόγια] über den Krieg mit. An einer weiteren Textstelle ist von Orakelsprüchen die Rede, nach denen Hoffnung auf Rückkehr bestand. Beide Erwähnungen der λόγια nehmen Bezug darauf, dass die Nachfahren des Herakles aus ihrer Heimat vertrieben worden und erst unter Temenos auf die Peloponnes zurückgekehrt waren. Den Ausgang ihrer Kriege hatten Orakelsprüche vorausgesagt. 492 Bei Nikolaos hängt das Wohl der Herakliden von dem Wissen um diese Weissagungen ab. 493 Zur Legitimierung der Herrschaft scheinen die λόγια bedeutender zu sein als das Prinzip der patrilinearen Thronfolge. Durch die Weitergabe der Orakelsprüche erhalten Hyrnetho und Deïphontes Anspruch auf das Königtum (Kap. 2.3.2.2.). Nikolaos macht deutlich, dass die drei ältesten Königssöhne von der Herrschaft ausgeschlossen wurden: Nach einer Untersuchung des Mordes habe man allgemein wahrgenommen, dass der Plan von einer Gruppe um Kissos ausgegangen sei. Das Wort nach dem Teil καὶ οἱ μὲν διὰ τὴν Τημένου ist korrupt, doch aus dem Kontext geht hervor, dass es um die Tötung des Königs geht. Wie in Apollodors Bibliotheke zu lesen ist, spielte auch der Rückhalt unter den Soldaten eine Rolle beim Machtwechsel, denn nach seiner Version habe es das Heer für gerecht gehalten, dass Hyrnetho und Deïphontes die Herrschaft erhielten. 494 Dagegen steht bei Pausanias, dass Kissos infolge der ἐπιβουλή König geworden sei. 495 Die Überlieferung von Ephoros lässt wiederum vermuten, dass Deïphontes verdrängt wurde – immerhin gründete er zusammen mit Agaios, den er wohl als Mitregenten bestimmte, die Gemeinwesen an der ἀκτή. 496 Damit lässt sich die Fassung des Nikolaos vereinbaren, denn durch die Anmerkung, dass die Söhne des Temenos den Mord leugneten und sich nicht der neuen Herrschaft fügten, deutet der Autor eine Fortsetzung des Konflikts an, der vielleicht mit der Flucht des Deïphontes endete. Vielleicht liegt bei Pausanias eine Kürzung der Geschichte vor, wenn er die Herrschaft des Deïphontes übersprungen und Kissos als unmittelbaren Nachfolger des Temenos dargestellt hat. Am Ende des Fragments steht, dass Deïphontes heimlich Gesandte nach Troizen, Asine, Hermion und zu allen Dryopern in dem Gebiet schickte, während er sich von den Argivern fernhielt, um nicht zusammen mit ihnen von den Dorern vertrieben zu werden. In die Auseinandersetzungen um das Königshaus von Temenos wurden offenbar die umliegenden Einwohner auf der Peloponnes involviert. Deïphontes versuchte, seine Herrschaft mit Hilfe von Bundesgenossen gegen die Söhne des Temenos abzusichern. Allerdings wurde er später von den Temeniden   Tripp (2012), Art. Herakliden/Herakleidai, S. 240-242.   Robert (1921a), S. 666. 494   Apollod., bibl. 2,8,5 (179); vgl. Parmentier / Barone (2011), S. 65. 495   Paus. 2,19,1. 496   FGrHist 70 F 18; vgl. Robert (1921a), S. 668. 492 493

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verdrängt. 497 Die Geschichte lässt sich als Reminiszenz an Konflikte zwischen Argos und anderen Bewohnern der Peloponnes vor der Einwanderung der Dorer deuten. 498 Nikolaos bringt dabei eine Perspektive gegen Argos und die Teminiden zum Ausdruck. Nach Pausanias haben die Asineer Argos verwüstet, bevor die Argiver zurückschlugen und Asine zerstörten. 499 Mit Kresphontes, dem Bruder des Temenos, knüpft das nachfolgende Fragment an diesen Textauszug an. 3.3.17.  Fragment 31 (Exc. de insidiis p. 9,28) Einordnung: Dieses Exzerpt ist dem vierten und fünften Buch des Nikolaos zugeordnet und hat eine Verbindung zur vorangegangenen Überlieferung, denn es geht um den messenischen König Kresphontes, der im griechischen Mythos als Bruder des Temenos bekannt ist. 500 Zusammen mit den Fragmenten 28 bis 30 sowie 31 bis 33 ist der Textauszug auf eine Darstellung der Rückkehr der Herakliden zurückzuführen, die die dorische Herrschaft über die Peloponnes erklären sollte. Laut Fragment kam es infolge einer neuen Landverteilung auf der Peloponnes zu einem Aufstand gegen Kresphontes. Da diese ἐπιβουλή in konstantinischer Zeit als zentraler Aspekt der Handlung wahrgenommen wurde, ist das Fragment in der Sammlung Excerpta de insidiis überliefert worden. Die Verteilung der Gebiete auf der Halbinsel unter der Vorherrschaft der Herakliden war bereits Thema des 28. Fragments. Von Aipytos, dem einzigen Sohn des Kresphontes, der in der vorliegenden Darstellung die Verfolgung der Dorer überlebt, handelt Fragment 34, in dem auch der Fortgang des Konflikts in Messenien geschildert wird. Kypselos, der hier als Herrscher der arkadischen Stadt Trapezus erwähnt wird, ist vom gleichnamigen Tyrannen von Korinth zu unterscheiden, der in den Fragmenten 57 und 58 vorkommt, und ebenso vom Nachfolger des Korinthers Periandros, um den es in Fragment 60 geht. Die Sage von Kresphontes hat Euripides in einer Tragödie verarbeitet, von der nur kurze Passagen erhalten sind. 501 Parallelüberlieferungen zum Exzerpt finden sich bei Pausanias, Hyginus, Polyaen und in der Bibliotheke des Apollodor. 502 Als Quelle hat Nikolaos wahrscheinlich auf Ephoros zurückgegriffen, von dem ein Fragment über Kresphontes erhalten ist. 503 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Die Einleitung des Exzerpts, nach der Kresphontes König aller Messenier war, knüpft an die Vorgeschichte der Handlung an: Laut Mythos war es nach der Einname der Peloponnes zu einer Aufteilung   Paus. 2,19,1-2; FGrHist 70 F 149 = Strab. 10,4,18 (481C 22-23).   Parmentier / Barone (2011), S. 67-68. 499   Paus. 2,36,4-5; 3,7,4. 500   Tripp (2012), Art. Kresphontes, S. 299. Zum antiken Messenien vgl. Luraghi (2008). 501   Eur. fr. 449-459 Seeck. 502   Paus. 4,3,3-8; Apollod., bibl. 2,8,5 (180); Hyg., fab. 137; Polyain., strat. 1,6. 503   FGrHist 70 F 116. 497 498

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der Halbinsel gekommen, in deren Folge Argos an Temenos ging und Messenien an Kresphontes. 504 Wie bei Nikolaos zu lesen ist, teilte Kresphontes seinen Herrschaftsbereich wiederum in fünf Gebiete auf (an dieser Stelle ist das Wort πόλεις oder μέρη zu ergänzen). 505 Über eine Aufteilung berichtet auch Ephoros, der die fünf Städte Stenyklaros, Pylos, Rhion, Mesola und Hyameitis angibt. 506 Dass es in Messenien fünf πόλεις gab, ist auch im 32. und 33. Fragment des Nikolaos überliefert. In Fragment 33 wird die messenische Stadt Neris genannt, die in der Aufzählung von Ephoros nicht vorkommt, aber vielleicht mit Rhion gleichzusetzen ist. Bei Strabon steht, dass die Messenier in der Zeit der Rückkehr der Herakliden und der Landverteilung Melanthos als König hatten und unabhängig waren. 507 F. Jacoby zufolge haben die Exzerptoren den folgenden Teil der Einleitung bis zu den Worten εἰς ὃ συνετέλουν οἱ λοιποί „unvernünftig verkürzt“ 508. Eine Ergänzung mit ἀγανακτούντων τῶν Δωριέων würde den Sinn ergeben, dass Kresphontes das Land zwischen Dorern und den anderen Völkern gleichmäßig aufteilte. Nachdem sich die Dorer gegen ihn aufgelehnt hätten, bereute er aber seine Entscheidung. Kresphontes änderte seinen Entschluss, indem er mit scheinbar guter Intention sagte, was auch die Bewohner von Lakedaimon sagten: Es sei nicht gerecht, dass die Einheimischen den gleichen Anteil am Land hätten wie die Dorer. Die Worte ἅπερ καὶ οἱ ἐν Λακεδαίμονι weisen darauf hin, dass es im Zuge der Dorischen Wanderung auch in anderen Gebieten Auseinandersetzungen um die Grenzen gab. Das Adjektiv εὐπρεπής signalisiert, dass die Begründung des Kresphontes für die Änderung seiner Pläne vorgeschoben war. Sein hier überlieferter Ausspruch ist aber ohnehin nicht eindeutig, weil beide Seiten die gleichmäßige Landverteilung als ungerecht empfinden konnten: Die Einheimischen, weil sie schon immer in dem Gebiet wohnten, und die Dorer, da sie die Einheimischen besiegt und die Peloponnes erobert hatten. Damit hängt wohl zusammen, was Nikolaos über das weitere Geschehen berichtet. Laut Fragment brachte der Herrscher sowohl die Einheimischen als auch die Dorer gegen sich auf. Letztere empörten sich gewaltsam [βίᾳ] gegen ihn, weil sie sich die gleichmäßige Verteilung des Gebietes [τὸ ἰσόμοιρον] nicht gefallen ließen. Schon längst hatten sie Anstoß daran genommen, dass er sich ohne sie mit den Einheimischen beraten und ihnen den gleichen Anteil am Land zugesprochen hatte. Wie hier deutlich wird, führte der Versuch des Kresphontes, die Grenzen zu ändern, zu einer Revolte. Auch bei Ephoros ist überliefert, dass die Dorer über die Aufteilung Messeniens ungehalten gewesen seien. Er führt dies darauf zurück,   Tripp (2012), Art. Herakliden/Herakleidai, S. 240-242. Zur Rolle des Kresphontes im Mythos von der Rückkehr der Herakliden vgl. Luraghi (2008), S. 61-67. 505   Jacoby (1926a), S. 344. 506   FGrHist 70 F 116. 507   Strab. 8,4,1 (359C 2-5). 508   Jacoby (1926a), S. 344. 504

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dass Kresphontes den anderen Königen die gleichen Rechte gewährte. 509 Pausanias erklärt, dass sich Kresphontes in seiner Regierung mehr um das Volk kümmerte als um die Besitzenden. 510 Nach seiner Darstellung ist die Handlung als Konflikt zwischen besitzenden Dorern und weniger besitzenden Einheimischen zu verstehen, wobei Kresphontes letztere durch eine Bodenreform stärkte. Dass die antiken Autoren den Umsturz mit ethnischen, politischen und sozialen Ursachen erklären, zeigt, wie unterschiedlich die Traditionen der Geschichte sind. 511 In der vorliegenden Fassung führen die Auseinandersetzungen zu der Situation, die von den Exzerptoren bereits vorweggenommen worden war. Kresphontes versuchte, die Lage durch die Rücknahme seines Beschlusses zu beruhigen. Dies brachte aber die Einheimischen gegen ihn auf, da sie sich durch die Reform Landgewinne versprochen hatten. Für die Dorer kam wiederum der Rückzug zu spät, denn sie wollten sich dem Herrscher nicht mehr fügen. Wie Nikolaos berichtet, entschieden sie sich, Kresphontes zu beseitigen und in Hinblick auf das Land nichts zu verändern. Mit Kresphontes starben auch die Pläne für eine neue Landverteilung, denn die Dorer tasteten die Grenzen nicht an, wie durch die Worte κατὰ χώραν ἀτρεμεῖν zum Ausdruck kommt. Im zweiten Teil des Fragments geht es um die Verfolgung der Nachkommen des Herrschers. Nikolaos zufolge waren die Söhne des Kresphontes mit seiner schwangeren Frau bei seinem Schwiegervater Kypselos in Trapezus, um Opfer für Zeus Akraios darzubringen [θύειν]. Mit Trapezus ist nicht die kleinasiatische Stadt gemeint, sondern ein Ort in Arkadien, den auch Pausanias nennt. 512 Akraios ist eine Epiklese für Götter, deren Heiligtümer auf Anhöhen stehen. In der Forschung wurde dieser Teil der Handlung missverstanden, denn es wurde angenommen, dass Kypselos seine Enkel als Opfer darbringen wollte. Das Relativpronomen οὓς wurde als Objekt von θύειν verstanden. 513 Diese Deutung ist aber falsch, weil θύειν hier, wie in den meisten Fällen, intransitiv ist und das Opfern der Enkel für Kypselos keinen Sinn ergibt. 514 Außerdem wäre ein Menschenopfer nicht mit den Parallelüberlieferungen und dem weiteren Handlungsverlauf zu vereinbaren. Laut Exzerpt wollten die Mörder die Söhne des Kresphontes töten und gaben bei Kypselos vor, dass Kresphontes seine Söhne wieder nach Messenien holen lasse, um Opfergaben darzubringen. Kypselos übergab den Mördern seine beiden älteren Enkel, die daraufhin getötet wurden. Aipytos dagegen behielt der Großvater als einziges Kind bei sich, weil er noch im Windelalter war. Aus diesem Abschnitt geht hervor, dass sich die Nachricht vom Sturz des Kresphontes noch nicht ins benachbarte Arkadien verbreitet hatte. Die neuen   FGrHist 70 F 116.   Paus. 4,3,7. 511   Parmentier / Barone (2011), S. 69. 512   Paus. 8,5,4. 513   Jost (1985), S. 254. 514   Hughes (1991), S. 234. 509 510

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Machthaber in Messenien fürchteten, dass die Nachkommen des Kresphontes zurückkehren und sich für den Umsturz rächen könnten. Um die Herrschaft zu konsolidieren, sollten die Königssöhne also getötet werden. Die falsche Erklärung, dass sie an einem Opfer für die Götter teilnehmen müssten, wurde wohl als Frevel wahrgenommen und sollte das Mitgefühl der Leser für die Kinder wecken. Auch der Korinther Kypselos sollte laut Fragment 57 als Kind ermordet werden. Dass Aipytos im Gegensatz zu seinen Brüdern nicht in die Hände seiner Verfolger gerät, deutet eine schicksalhafte Wende an. Ergänzend zu dieser Darstellung ist bei Pausanias und in der Bibliotheke des Apollodor zu erfahren, dass Aipytos schließlich König von Messenien wurde und die Mörder seines Vaters bestrafte. 515 Einer anderen Tradition folgte offenbar Isokrates, denn nach einer Erwähnung von ihm erhielten die Söhne des Kresphontes Schutz in Sparta. 516 Bei allen Autoren erlangte Aipytos aber wohl die Herrschaft, sodass am Ende der Geschichte wieder Gerechtigkeit herrschte. Die vorliegende Quelle ist aufgrund der Details zur Verfolgung der Königssöhne von besonderem Wert. Ein Hauptmotiv der Geschichte ist die Frage nach der Landverteilung in Messenien. Zusammen mit Fragment 30 bildet der Textauszug die ausführlichste Darstellung der Rückkehr der Herakliden bei Nikolaos. 3.3.18.  Fragment 32 (Steph. Byz. s. v. Μεσόλα) In diesem Artikel des Stephanos Byzantios ist zu lesen, dass Mesola eine von fünf Städten in Messenien sei und Nikolaos sie im vierten Buch erwähne. Nikolaos hat wohl das Ethnikon Μεσολάτης verwendet, denn Stephanos gibt keine andere Schreibform an. Ephoros bestätigt, dass es in Messenien fünf Städte gab und zählt Stenyklaros, Pylos, Rhion, Mesola und Hyameitis auf. 517 Im nachfolgenden Fragment des Nikolaos wird aber die Stadt Neris in Messenien erwähnt, die in der Parallelstelle nicht vorkommt (s.u.). Beide Überlieferungen stehen wohl mit der Aufteilung Messeniens in Verbindung, von welcher das 31. Fragment handelt. Die Fragmente 28 bis 33 thematisieren Geschehnisse auf der Peloponnes und sind auf eine Darstellung der Rückkehr der Herakliden zurückzuführen, die als literarischer Ausdruck der Dorischen Wanderung zu deuten ist. 3.3.19.  Fragment 33 (Steph. Byz. s. v. Νηρίς) Über die Stadt Neris schreibt Stephanos Byzantios, dass sie sich in Messenien befinde und im vierten Buch des Nikolaos erwähnt werde. Dem vorangegangenen Fragment war zu entnehmen, dass es in Messenien fünf Städte gab und darunter Mesola war. Ephoros zählt zwar fünf Städte in Messenien auf, erwähnt aber   Apollod., bibl. 2,8,5 (180); Paus. 4,3,8.   Isokr., or. 4,23. 517   FGrHist 70 F 116 = Strab. 8,4,7 (361C 15-19). 515 516

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nicht Neris (F 32). 518 Möglicherweise lässt sich Neris in der Parallelüberlieferung mit Rhion gleichsetzen. 519 Die fünf Städte sind jedenfalls für die Aufteilung Messeniens, die in Fragment 31 thematisiert wird, von Bedeutung. Zusammen mit den Fragmenten 28 bis 32 geht der vorliegende Textauszug auf eine Darstellung der Rückkehr der Herakliden zurück. Mit ihrer Eroberung der Peloponnes wurde die Herrschaft der Dorer erklärt. 3.3.20.  Fragment 34 (Exc. de insidiis p. 10,22) Einordnung: Dieser Textauszug, der in den Excerpta de insidiis überliefert ist und zu den Büchern 4 und 5 des Nikolaos gehört, berichtet von Konflikten unter der Herrschaft des Aipytos, die letztlich zur Versklavung der Messenier durch die Lakedaimonier führten. Aipytos war nach Fragment 31 der einzige Sohn des Kresphontes, der die Verfolgung durch die Dorer überlebte. Laut griechischem Mythos übernahm Aipytos später die Herrschaft in Messenien und bestrafte die Mörder seines Vaters. 520 An diese Vorgeschichte knüpft das vorliegende Fragment an. Die Rückkehr des Königssohns wurde von Euripides im Drama Κρεσφόντης verarbeitet, das nur fragmentarisch überliefert ist. 521 Vorlage des Nikolaos war wohl Ephoros, der die früheste griechische Geschichte nach der Rückkehr der Herakliden dargestellt hatte. 522 Auf Ephoros geht wohl auch die negative Darstellung des Aipytos zurück. 523 Parallelüberlieferungen zum vorliegenden Exzerpt finden sich bei Pausanias, Isokrates und in der Bibliotheke des Apollodor. 524 Der Wert der Überlieferung des Nikolaos besteht vor allem darin, dass eine StasisSituation in Messenien beschrieben wird, die in der Forschung bisher kaum Berücksichtigung gefunden hat. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Nikolaos stellt die Herrschaft des Aipytos als äußerst konfliktreich dar: Aipytos war Nachstellungen ausgesetzt und sein Haus wurde in Brand gesteckt, aber er konnte entkommen. Abermals gab es Nachstellungen [αὖθις δὲ πάλιν], sowohl gegen ihn selbst als auch gegen seine Nachkommen. Die Beteiligten ließen nicht davon ab, einander zu bekämpfen [διαστασιάζω], bis sie alle von den Lakedaimoniern versklavt wurden. Auffällig ist in dieser Darstellung, dass es mehrere ἐπιβουλαί gibt. Diese Besonderheit wird mit den Worten αὖθις δὲ πάλιν betont. Die Formulierung ἐπιβουλῆς ἀνώτερος γέγονεν bringt zum Ausdruck, dass sich Aipytos nach einem   FGrHist 70 F 116.   Parmentier / Barone (2011), S. 70. 520   Tripp (2012), Art. Aipytos, S. 31-32. 521   Eur. fr. 449-459 Seeck. 522   Jacoby (1926b), S. 243. 523   Luraghi (2008), S. 64. 524   Paus. 4,3,8; 8,5,7; Isokr., or. 6,23; 6,31; Apollod., bibl. 2,8,5 (180). 518 519



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ersten Angriff retten konnte. Die ἀπόγονοι des Herrschers werden hier nicht näher bestimmt. Das Inbrandsetzen des Hauses lässt sich wie in Fragment 79 mit einem Rügebrauch erklären. Für diese Sanktionsform spricht der gemeinschaftliche Vollzug der Strafe, der mit einem Verstoß des Aipytos gegen die als verbindlich erachtete Ordnung zusammenhängen könnte. 525 Nach Fragment 60 rissen die Korinther die Häuser der gestürzten Kypseliden ein. In der vorliegenden Darstellung wird angedeutet, dass die Sanktionen enden würden, sobald sich Aipytos wieder normkonform verhalte. Aus seiner Weigerung folgt aber als Strafe der Untergang der gesamten Stadt durch ihre Versklavung. Die Geschichte weist auf die Verbindlichkeit von Normen hin und stärkt somit diskursiv Normkonformität (Kap. 2.3.3.1.). Der politische Charakter der Auseinandersetzung kommt durch das Verb διαστασιάζω zum Ausdruck. Offenbar kam es nach der Rückkehr des Aipytos zu einer Stasis in Messenien. Wahrscheinlich hatte der Konflikt aber schon unter Kresphontes begonnen. Dieser wurde getötet, weil er infolge einer neuen Landverteilung Dorer und Einheimische gegen sich aufgebracht hatte (F 31). Aipytos versuchte wohl, die Politik seines Vaters fortzusetzen, und stieß dabei auf Widerstand, der Nikolaos zufolge vom Volk ausging. Dieser Darstellung steht aber die Überlieferung des Pausanias gegenüber: Nach seiner Version habe Aipytos sowohl das Volk als auch diejenigen, die im Ansehen standen, für sich gewonnen, und er sei zu solch einer Ehre gekommen, dass seine Nachkommen Aipytiden statt Herakliden genannt worden seien. 526 Pausanias zufolge hat Aipytos also die verschiedenen Interessengruppen in Messenien miteinander versöhnt, weswegen ihm sogar posthum Ehre erwiesen wurde. Nikolaos verbindet Aipytos dagegen mit dem Ende der messenischen Freiheit. Bei Isokrates gibt es eine Parallele zu dem Exzerpt, denn er bringt die Rückkehr der Nachkommen des Kresphontes nach Messenien in Zusammenhang mit der Eroberung des Landes: Um ihren Vater zu rächen, baten die Königssöhne die Spartaner um Hilfe, die ihnen Schutz gewährten, Messenien eroberten und so in den Besitz des Landes gekommen seien. 527 Diese Überlieferung aus einer Rede, die dem spartanischen König Archidamos zugeschrieben wird, offenbart einen Rechtfertigungsversuch für die Herrschaft über Messenien. Die Spartaner intervenierten demnach im Interesse des gestürzten Königshauses. Durch eine Veränderung des Mythos um Aipytos verliehen die Spartaner ihrer Eroberung Legitimität. Nikolaos folgte offenbar einer Tradition, die von einer solchen Propaganda beeinflusst war. 528 Den Untergang Messeniens erklärte er, wie in den Darstellungen dynastischer Zäsuren, mit der Politik des letzten Herrschers. Dass es in 525   Scharfe (1970); Schmitz (2008), S. 160. Zum Rügebrauch der Hauswüstung in den antiken Quellen vgl. Schmitz (2004), S. 354-355. 526   Paus. 4,3,8. 527   Isokr., or. 6,23; 6,31. 528   Parmentier / Barone (2011), S. 70.

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Messenien mehrere Interessengruppen gab, die sich in Bezug auf die Beziehungen zu Sparta uneinig waren, ist durchaus vorstellbar. Das Fragment ist ein wichtiger Hinweis für die Konflikthaftigkeit griechischer Poleis (Kap. 2.3.3.2.). 3.3.21.  Fragment 35 (Exc. de insidiis p. 10,27) Einordnung: In diesem Exzerpt zu den Büchern 4 beziehungsweise 5 geht es um Pheidon, der im korinthischen Bürgerkrieg intervenierte und dabei starb. Da Pheidon nach Korinth zieht, ist er vom gleichnamigen korinthischen Herrscher zu unterscheiden, der im frühen siebten Jahrhundert v. Chr. an der Macht war. In dieser Darstellung ist Pheidon von Argos gemeint, der vor allem durch Aristoteles bekannt ist und zu den Herrschern der „Älteren Tyrannis“ gehört. 529 Die These, dass die beiden Machthaber gleichzusetzen seien, hat sich in der Forschung nicht durchgesetzt. 530 Pheidon von Argos wird auch in der Parischen Chronik genannt und kommt bei Herodot, Pausanias und Ephoros vor. Letzterer war vermutlich die Vorlage des Nikolaos. 531 Die Datierung seiner Lebenszeit geht in den Quellen stark auseinander. 532 Nach Pausanias riefen die Eleer Pheidon in der achten Olympiade, also in der Zeit zwischen 748 und 745 v. Chr., zu sich. Bei Herodot ist Pheidon ins späte siebte und frühe sechste Jahrhundert v. Chr. einzuordnen und dem Marmor Parium zufolge herrschte er im neunten Jahrhundert v. Chr. Herodot und Pausanias bezeichnen Pheidon als den größten Hybristes unter den Tyrannen in Griechenland. 533 Grund dafür ist, dass er Einfluss auf die Austragung der Olympischen Spiele nahm, wie auch bei Ephoros überliefert ist. 534 Herodot und Ephoros schreiben dem Herrscher zu, für die Peloponnesier Maß und Gewicht [τὰ μέτρα] festgelegt zu haben. Im Marmor Parium findet sich ebenfalls ein Hinweis darauf, denn an der Stelle, an der Pheidon genannt wird, lässt sich das Wort μέτρα rekonstruieren. 535 Der vorliegende Textauszug ist nach F. Jacoby der argivischen und korinthischen Geschichte zuzuordnen, die im nachfolgenden Fragment mit der Herrschaft des Korinthos fortgesetzt wird. 536 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment kam Pheidon den Korinthern, die sich in einem Bürgerkrieg befanden, aus Freundschaft zur Hilfe und starb bei einem Angriff seiner Freunde. Mit der Überlieferung des Ephoros lassen sich   Aristot., pol. 5,1310 b25.   Jacoby (1926b), S. 243; Zörner (1971), S. 71. 531   Marm. Par. A45; Hdt. 6,127; Paus. 6,22,2; FGrHist 70 F 115. 532   Jacoby (1904), S. 158-159; De Libero (1996), S. 207-208. 533   Hdt. 6,127; Paus. 6,22,2. 534   FGrHist 70 F 115. 535   Hdt. 6,127; FGrHist 70 F 115; Marm. Par. A45. 536   Jacoby (1926b), S. 243. Zur Geschichte von Argos vgl. Gehrke (1986), S. 113116. 529 530

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die Hintergründe dieser kurzen Darstellung nachvollziehen. Pheidon war ein Nachfahre des Temenos, um den es in Fragment 30 geht. Als er für sich beanspruchte, die Olympischen Spiele abzuhalten, bewaffneten sich die Eleer und leisteten Widerstand. Die Spartaner unterstützten die Eleer und halfen dabei, Pheidon zu stürzen. Ephoros zufolge habe er nämlich Sparta die führende Stellung auf der Peloponnes genommen. 537 Zwar ist der Konflikt nach diesem Fragment in Korinth zu verorten, aber die übrigen Motive von Ephoros sind mit der Überlieferung des Nikolaos zu verbinden. So ist die Anmerkung, dass Pheidon den Korinthern aus Freundschaft zur Hilfe gekommen sei, auf innere Parteikämpfe zu beziehen, in die er sich einmischte. 538 Das Partizip στασιάζων macht den politischen Charakter der Auseinandersetzung klar. Sparta, das sich in Konkurrenz zu Argos befand, unterstützte wahrscheinlich auch hier die Gegner Pheidons. Für die Todesumstände des Herrschers ist das vorliegende Fragment ein singuläres Zeugnis. 539 Die Anmerkung, dass Pheidon bei einem Angriff seiner Freunde gestorben sei, wurde so interpretiert, dass er von seinen eigenen Verbündeten getötet wurde. 540 Dass das Fragment aus den Excerpta de insidiis stammt, spricht aber gegen eine versehentliche Tötung während der Stasis und legt eine ἐπιβουλή im Umfeld des Königs nahe. Möglicherweise unterstützte Pheidon die Bakchiaden beim Aufstand des Kypselos, um den es in Fragment 57 geht. Nach einer anderen Meinung wollte er die Gruppe der Demokraten unterstützen. 541 Aufgrund der starken Kürzung der Quelle lässt sich die Parteinahme aber nicht näher bestimmen. Die Erwähnung der Stasis weist ebenso wie das vorangegangenen Fragment auf die Konflikthaftigkeit der archaischen Poleis hin (Kap. 2.3.3.2.). 3.3.22.  Fragment 36 (Exc. de insidiis p. 10, 29) Einordnung: Dieses konstantinische Exzerpt zum vierten und fünften Buch des Nikolaos thematisiert wie die vorangegangene Überlieferung einen frühen Teil der korinthischen Geschichte. 542 Es geht nämlich um Sisyphos, der für die Ermordung des Korinthos Rache nimmt. Korinthos wird am Anfang des Fragments als Heros eponymos der Stadt Korinth eingeordnet. Sisyphos ist aus dem griechischen Mythos als korinthischer Herrscher bekannt, der im Hades wegen eines Betrugs bestraft wurde. Bei Pausanias, der sich auf Eumelos beruft, folgte er aber nicht Korinthos auf den Thron, sondern Medeia und Iason, nachdem diese die Herrschaft des kinderlos verstorbenen Korinthos erhalten hatten. 543 Auch in der   FGrHist 70 F 115.   Jacoby (1926b), S. 243. 539   De Libero (1996), S. 210; Parmentier / Barone (2011), S. 71. 540   Lenschau (1938), Sp. 1943. 541   Lenschau (1938), Sp. 1943; Zörner (1971), S. 71-72. 542   Jacoby (1926b), S. 243. 543   Paus. 2,3,10-11. 537 538

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Darstellung Theopomps kommt Medeia zusammen mit Sisyphos vor. 544 Dem Etymologicum Magnum ist zu entnehmen, dass die Kinder des Korinthos und seiner Frau Gorge ermordet worden seien. 545 Vielleicht starb Korinthos auch bei Nikolaos ohne Erben. Medeia und Iason sind jedenfalls nach Fragment 54 von der Herrschaft über Korinth auszuschließen. F. Jacoby führt dies auf den Einfluss der griechischen Tragödie zurück und interpretiert die vorliegende Überlieferung als Rationalisierung des Mythos. 546 Inhaltswiedergabe und Kommentar: In dem kurzen Fragment steht, dass Korinthos von den Einheimischen infolge einer Nachstellung ermordet wurde. Außerdem ist zu erfahren, dass Sisyphos Rache genommen hat, indem er die Täter bestrafte, und nach dem Tod des Korinthos das Königtum erlangte. Der Konflikt, der zur ἐπιβουλή gegen Korinthos führt, wird in dem Fragment nicht näher erläutert. Dass die Nachstellung von den Einheimischen ausgeht, zeigt aber, dass es hier wie in Fragment 31 um eine Auseinandersetzung zwischen Einheimischen und Einwanderern geht. Womöglich hängt der Konflikt mit der Rückkehr der Herakliden zusammen, die als literarische Konstruktion zur Erklärung der dorischen Herrschaft über die Peloponnes zu interpretieren ist. In jedem Fall weist das Fragment wie die vorangegangenen Exzerpte auf die Konflikthaftigkeit griechischer Poleis in archaischer Zeit hin (Kap. 2.3.3.2.). Unklar bleibt, in welchem Verhältnis Sisyphos und Korinthos zueinander stehen. Das Verb τιμωρέω legt nahe, dass Sisyphos ein persönliches Interesse daran hatte, den Mord an Korinthos zu rächen. 3.3.24.  Fragment 37 (Steph. Byz. s. v. Ἀρκαδία) Stephanos Byzantios erwähnt in seinem Artikel zu Arkadia, dass es Pelasgia genannt wurde, wie im fünften Buch des Nikolaos steht. Offenbar ging Nikolaos in seiner Darstellung der arkadischen Geschichte, zu der auch die beiden nachfolgenden Fragmente gehören, bis zu den mythischen Anfängen zurück, denn der Name Πελασγία ist von Pelasgos, dem Sohn des Zeus und der Niobe, abgeleitet. 547 Schon in Fragment 23 war zu lesen, dass die Peloponnes unter Pelasgos, dem Autochthonen, Pelasgia genannt wurde. Andere Quellen, wie Hellanikos, Ephoros und Charax, kennen Pelasgos ebenfalls als Eponym für Landschaftsnamen. 548 In der nachfolgenden Überlieferung kommt Pelasgos als König der Arkader vor.

  FGrHist 115 F 356a.   Etym. m. s. v. Ἐσχατιῶτις (384,32-41). 546   Jacoby (1926b), S. 243. 547   Zur Geschichte Arkadiens vgl. Gehrke (1986), S. 151-154. 548   Hellanikos FGrHist 4 F 4; 36; Ephoros FGrHist 70 F 113; Charax FGrHist 103 F 15; vgl. Jacoby (1926b), S. 243. 544 545



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3.3.25.  Fragment 38 (Exc. de virtut. 1 p. 340,4) Einordnung: Nikolaos greift in diesem konstantinischen Exzerpt, das dem fünften Buch der Historien zugeordnet ist, den Mythos von Lykaon, dem König der Arkader, auf. 549 Weil Lykaon in den antiken Quellen mit einem Menschenopfer in Verbindung gebracht wird, fällt seine Bewertung überwiegend negativ aus. 550 Die älteste Tradition der Kindstötung wird bei Pausanias wiedergegeben, der die Glaubwürdigkeit seiner Darstellung damit betont, dass sie seit frühester Zeit von den Arkadern erzählt werde. Pausanias zufolge verwandelte sich Lykaon nach dem Opfer in einen Wolf. 551 Auch Ovid und Hyginus schreiben, dass Lykaon zu einem Wolf geworden sei. Bei Hyginus steht weiterhin, dass Zeus die Söhne des Königs als Strafe für seine Tat mit einem Blitz erschlagen habe. 552 Nach der Bibliotheke des Apollodor trafen die Blitze Lykaon und all seine Söhne, ausgenommen den jüngsten. 553 Nach Nonnos von Panopolis habe es sich bei dem Opfer um einen Sohn des Lykaon gehandelt. 554 Dagegen schreibt Ovid, dass es eine Geisel aus dem Stamm der Molosser gewesen sei. 555 Nikolaos weicht in einem wichtigen Aspekt von den meisten anderen Quellen ab, denn Lykaon ist in seiner Darstellung unschuldig. Das Menschenopfer wird nämlich nur den Söhnen des Herrschers zugeschrieben und deswegen erleiden auch nur sie eine Strafe. Der altertümlich wirkende Mythos weist keine Verbindung zu anderen Sagen auf und war wohl auf Arkadien beschränkt. Später wurde er in der griechischen Tragödie rezipiert. 556 Der Name des Königs kommt vom griechischen Wort λύκος für Wolf. Sowohl dem Tier als auch dem Herrscher wurden in frühester Zeit grausame Charaktereigenschaften zugeschrieben. 557 Dieser Zusammenhang ist bei Nikolaos verloren gegangen, denn in dem Exzerpt kommt kein Wolf vor. Dafür gibt es andere Elemente, die sich ebenso in den Parallelüberlieferungen finden: Die Blitze der Gottheit werden auch bei Hyginus und in der Bibliotheke des Apollodor erwähnt. Zudem steht bei Nikolaos wie in der Bibliotheke, dass Lykaon 50 Kinder gehabt habe. 558 Die Worte ὥς φασιν und φασὶ weisen auf eine distanzierte Haltung des Nikolaos zu seiner unbestimmten Vorlage hin. Insgesamt lässt sich das Fragment wie die Fassung des Hyginus als Rationalisierung des Mythos bewerten. 559 Zusammen mit den Fragmenten 37 und 39 ist die Überlieferung der arkadischen Geschichte zuzuordnen. 549   Zum Lykaon-Mythos vgl. Burkert (1972), S. 98-108. Zu diesem Fragment im Speziellen vgl. auch Shahin (2018b). 550   Gronau (2015), S. 79. 551   Paus. 8,2,3-4. 552   Ov., met. 1,237; Hyg., fab. 177. 553   Apollod., bibl. 3,99 (3,8,1). 554   Nonn. 18,20-24. 555   Ov., met. 1,226. 556   Hughes (1991), S. 101. 557   Schmidt (1927), Sp. 2251. 558   Apollod., bibl. 3,99 (3,8,1); Hyg., fab. 177. 559   Jacoby (1926b), S. 243.

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Am Anfang des Textauszugs wird Lykaon als Sohn des Pelasgos eingeordnet, der vermutlich mit dem gleichnamigen Herrscher in Fragment 23 identisch ist. 560 Von seinem Namen ist Pelasgien abgeleitet, das in der vorangegangenen Überlieferung als alternative Bezeichnung für Arkadien angegeben wurde. Wie in dem Exzerpt zu lesen ist, hielt Lykaon an den Vorschriften seines Vaters in Hinsicht auf die Gerechtigkeit fest. Er wollte auch die Untertanen vom Unrecht abbringen und behauptete, dass Zeus ihn in Gestalt eines Gastfreundes [ξένος] aufsuche. Irgendwann sagte der Herrscher, dass er ein Opfer darbringen und den Gott bei sich aufnehmen wolle. Lykaon erscheint durch seinen Wunsch, die väterlichen Vorschriften zu bewahren und die Arkader zur Gerechtigkeit zu führen, als guter König. Gerechtigkeit und Frömmigkeit sind in der Handlung eng miteinander verbunden. Das Abbringen der Bevölkerung von der ἀδικία wird mit einer Verbreitung des Zeuskults verbunden. Zeus ist aus dem Mythos dafür bekannt, Menschen in anderer Gestalt aufzusuchen. 561 Nikolaos rationalisiert die Geschichte insofern, als Lykaon die Anwesenheit des Gottes vorgibt, damit die Arkader gottgefällig leben. Wie im Weiteren zu lesen ist, habe Lykaon 50 Söhne von verschiedenen Frauen gehabt. Diese Zahl ist topisch und zeigt, dass der arkadische Herrscher mit großem Kinderreichtum verbunden wurde. In der Bibliotheke werden die Namen der Söhne aufgezählt, um die Authentizität der Darstellung zu betonen. 562 Dagegen ist Nikolaos vorsichtiger und verweist mit den Worten ὥς φασιν auf nicht näher bestimmte Quellen. Nach F. Jacoby ist aber davon auszugehen, dass Nikolaos wie andere Autoren die Rolle der Söhne als Namensgeber für Landschaften kannte. 563 Während Lykaon in der Handlung die Vorschriften seines Vaters befolgt, verhält es sich bei seinen Söhnen anders. Durch die Missachtung der väterlichen εἰσηγήματα werden sie Lykaon und Pelasgos gegenübergestellt. Laut Fragment wollten die Söhne wissen, ob Lykaon wirklich einen Gott bei sich aufnehme. Deswegen töteten sie einen Knaben und vermengten sein Fleisch mit dem eines Opfertieres, damit es ihnen nicht entgehe, wenn ein Gott zu ihnen käme. Der Daimon richtete sie dafür mit heftigen Gewittern und Blitzen zugrunde. In dieser Darstellung führt der Zweifel der Söhne an der Gegenwart des Gottes zu dem frevelhaften Versuch, Zeus zu prüfen. Sie legen also den Teilnehmern des Opfermahls Menschenfleisch vor, um zu beobachten, ob und wie darauf reagiert wird. Die Söhne begehen also nicht nur ein Menschenopfer, sondern sie machen andere ohne ihr Wissen zu Kannibalen. Das Phänomen der Anthropophagie stand den Grundwerten der griechischen Kultur entgegen und galt als einer der schlimmsten Normbrüche. Laut Fragment 93 befahl Ptolemaios IX.   Jacoby (1926b), S. 243.   Tripp (2012), Art. Zeus, S. 543-548. 562   Apollod., bibl. 3,96-97 (3,8,1). 563   Jacoby (1926b), S. 243. 560 561

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seinen Soldaten, Menschen zu zerstückeln und in siedendes Wasser zu werfen, um die Feinde in Furcht zu versetzen. Der Lyder Kamblitas behauptete nach Fragment 22, seine Frau nur aufgrund einer Vergiftung gegessen zu haben. Bei Herodot legt der Mederkönig Astyages einem ahnungslosen Untertanen dessen Sohn als Speise vor. 564 Das Motiv, dass Gottheiten ein Kind zum Mahl vorgesetzt wird, ist aus dem griechischen Mythos bekannt: Nach einer Tradition, die Pindar wiedergibt, habe Tantalos den Göttern seinen Sohn Pelops als Speise vorgelegt. 565 Im vorliegenden Fragment erhalten die Söhne ihre Strafe vom Daimon, der mit den Blitzen das Hauptattribut des Zeus hat. Auch in den Fragmenten 79 und 95 stellt der Daimon wieder Gerechtigkeit her. Bei Nikolaos greift also eine Gottheit in die Geschichte ein. Das wichtigste Motiv der Geschichte ist die Gottesfurcht, die mit einer gerechten Lebensweise verbunden wird. Die Vorgabe des Lykaon, eine persönliche Beziehung zu Zeus zu haben, soll seiner Herrschaft Legitimität verleihen. Demselben Zweck dient die Betonung der Verbundenheit mit den väterlichen Vorschriften. Die Geschichte wird durch das instrumentelle Verhältnis zum Glauben rationalisiert. Auffällig ist, dass sich das Motiv des Menschenopfers im Vergleich zu seiner ursprünglichen Funktion gewandelt hat: In älteren Überlieferungen erscheint die Tötung des Knaben als maßloses Opfer für Zeus, doch bei Nikolaos werden Lykaon und der Gott durch den Frevel auf die Probe gestellt. Aufgrund der Gegenüberstellung Lykaons und seiner Söhne ist das Fragment in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert worden. 3.3.27.  Fragment 39 (Steph. Byz. s. v. Βωταχίδαι) Dieses kurze Zitat aus dem fünften Buch des Nikolaos ist im Artikel Βωταχίδαι des Stephanos Byzantios überliefert. Laut Fragment hat der Ort Botachidai im arkadischen Tegea seinen Namen von Botachos, dem Sohn des Iokritos und dem Enkel Lykurgs. Letzterer kommt im 56. Fragment des Nikolaos vor. Wie bei Pausanias zu lesen ist, sagten die Tegeaten, dass ihr Land nach Tegeates benannt sei, aber die Bewohner des Gebietes würden nach ihren Dörfern bezeichnet werden. Als Beispiel nennt er unter anderem die Potachidai, die wohl mit den Botichidai bei Nikolaos gleichzusetzen sind. 566 Das Zitat des Nikolaos soll bei Stephanos belegen, dass es sich bei dem Ortsnamen Botichidai um ein Eponym handelt. Wie die beiden vorangegangenen Textauszüge lässt sich die Überlieferung der arkadischen Geschichte zuordnen. Nikolaos ist auch in diesem Teil seiner Darstellung bis zu den mythischen Anfängen zurückgegangen. 567   Hdt. 1,118-119.   Pind., O. 1,37-66. 566   Paus. 8,45,1. 567   Jacoby (1926b), S. 243. 564 565

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3.3.28.  Fragment 40 (Steph. Byz. s. v. Σίφνος) In diesem Artikel zur Insel Siphnos bei Kreta erwähnt Stephanos Byzantios, dass sie ihren Namen von Siphnos, dem Sohn des Sunios, hat, wie im fünften Buch des Nikolaos steht. Die folgende Anmerkung, dass die Insel früher Merope genannt wurde, stammt nicht mehr von Nikolaos. 568 Gleiches berichtet aber Plinius der Ältere. 569 Siphnos und sein Vater Sunios sind nur aus diesem Textauszug bekannt. Möglicherweise gab es schon in der Zeit des Stephanos keine Parallelüberlieferung mehr zum vorliegenden Fragment. Die Erwähnung des Oikisten Siphnos zeigt, dass im fünften Buch des Nikolaos die Gründungsgeschichte der Siedlung thematisiert wurde. Wie dieser Textauszug handeln auch die beiden nachfolgenden Fragmente von griechischen Inseln. 3.3.29.  Fragment 41 (Steph. Byz. s. v. Σκῦρος) Dieses Zitat aus dem fünften Buch des Nikolaos wurde bei Stephanos Byzantios im Artikel zur Insel Skyros überliefert. Nikolaos zufolge lebten in früheren Zeiten Pelasger und Karer auf Skyros. Bei Thukydides ist zu lesen, dass die meisten Inseln von den Karern bewohnt waren, und Cornelius Nepos schreibt, dass Doloper auf Skyros lebten. 570 Nach Diodor, der vielleicht Ephoros als Vorlage hatte, seien dort Doloper und Pelasger gewesen. 571 Sicher ist, dass es im fünften Buch der Universalgeschichte um mehrere Inseln ging, wie die Fragmente 40 und 42 zeigen. 3.3.30.  Fragment 42 (Steph. Byz. s. v. Ἀγαμήδη) Stephanos Byzantios erwähnt in seinem Artikel zum Ort Agamede bei Pyrrha auf Lesbos, dass es nach dem fünften Buch des Nikolaos auch eine Wasserquelle mit diesem Namen gebe. Die Wasserquelle wurde wie der Ort nach der Tochter der Makaria und der Enkelin des Herakles benannt. 572 Bei Plinius ist zu lesen, dass Pyrrha vom Meer verschlungen worden und Agamede zugrunde gegangen sei. 573 Zusammen mit den beiden vorangegangenen Textauszügen belegt dieses Fragment, dass Nikolaos seine Darstellung der griechischen Inseln mit dem Mythos verbunden hat.

  Jacoby (1926b), S. 243.   Plin., nat. 4,22 (66). 570   Nep., Cim. 5. 571   Thuk. 1,8,1; Diod. 11,60,2. 572   Tripp (2012), Art. Herakliden/Herakleidai, S. 240-242. 573   Plin., nat. 5,39 (139). 568 569

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3.3.31.  Fragment 43 (Steph. Byz. s. v. Μεσημβρία) Im Artikel zur pontischen Stadt Mesembria schreibt Stephanos Byzantios, dass Nikolaos sie in seinem fünften Buch erwähnt. In der folgenden Erklärung, die nicht sicher auf Nikolaos zurückzuführen ist, wird der Name Mesembria von Melsos sowie von „Bria“, dem thrakischen Wort für Stadt, abgeleitet. Melsos war nach dieser Darstellung der Stadtgründer oder ein namensgebender Herrscher. In einer Parallelüberlieferung bei Strabon ist zu lesen, dass der Ort einst Menebria hieß. Der Geograph leitet den Namen von Menas, dem Gründer der Stadt, ab und erklärt den Teil „Bria“ genauso wie der vorliegende Textauszug. 574 Bei Herodot ist zu lesen, dass Byzantiner und Kalchedonier gegen Ende des Ionischen Aufstands eine Stadt namens Mesambria besiedelten. 575 Nach F. Jacoby war die Stadtgründung bei Nikolaos aber früher; immerhin wurde sie in der Universalgeschichte bereits im fünften Buch thematisiert. Die etymologische Herleitung zeigt, dass Nikolaos in seiner Darstellung bis zu den mythischen Anfängen zurückging. 576 3.4.  Buch 6 (F 44-56): Lyder

und archaisches

Griechenland

3.4.1.  Fragment 44 (Exc. de insidiis p. 10,32) Einordnung: Mit dieser Quelle, die in den Excerpta de insidiis überliefert ist und einen Teil des sechsten Buchs der Historien zusammenfasst, beginnt die Schilderung des lydischen Machtkampfs, an dessen Ende im 47. Fragment die Usurpation des Gyges steht. Die Auseinandersetzung wurde als einheitliche Darstellung exzerpiert, wobei der Anfang des Konflikts zwischen den Geschlechtern der Herakliden und der Mermnaden erst in § 11 beginnt. Die lange Vorgeschichte zeigt ebenso wie die Zahl der Herrscher, die in den Fragmenten vorkommen, dass die lydische Geschichte des Nikolaos nicht so komprimiert und zugespitzt war wie die von Herodot. 577 Das Exzerpt nennt zuerst Adyattes als Machthaber, anschließend seine Söhne Kadys und Ardys, dann den Usurpator Spermos, der für zwei Jahre herrschte, und schließlich wieder Ardys, dessen Königsherrschaft nach den antiken Chronographen zwischen 778 und 775 v. Chr. begann. 578 Die Darstellung der ἐπιβουλαί, die den Grund für die Überlieferung in der konstantinischen Sammlung bilden, weist viele narrative Elemente auf. Als Vorlage hat Nikolaos auf die Lydiaka oder auf eine hellenistische Überarbeitung zurückgegriffen. In § 7 wird die lydische Königsliste als Quelle ausgeschlossen, weil Spermos nicht in diese   Strab. 7,6,1 (319C 13-17).   Hdt. 6,33. 576   Jacoby (1926b), S. 244. 577   Jacoby (1926b), S. 244-245. 578   Schwartz (1894), S. 41. 574 575

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aufgenommen worden sei. O. Seel folgert daraus: „[…] dort, wo die Kritik nicht darum herumkäme zu zweifeln, ob wirklich das Berichtete in irgendwie authentischen Quellen zu finden war, ist ausdrücklich bezeugt, daß es tatsächlich nicht darin zu finden war.“ 579 Aus der Fragmentstelle lässt sich aber auch ableiten, dass Nikolaos oder seine Vorlage die Königsliste kannte, aber anderen Quellen den Vorzug gegeben hat. 580 Für die Usurpation des Spermos ist der Textauszug ein singuläres Zeugnis. Nach F. Jacoby könnte ein Abschnitt bei Herakleides Lembos an diese Überlieferung anknüpfen, doch Herakleides nennt keinen Namen, der sich mit dieser Geschichte verbinden lässt. 581 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Wie am Anfang des Fragments zu lesen ist, hinterließ der Lyder Adyattes die Herrschaft seinen Zwillingssöhnen Kadys und Ardys, die einander liebten und von der Bevölkerung geliebt wurden (§ 1). Damonno, die Frau des Kadys, ließ sich aber von Spermos, einem ansehnlichen Cousin ihres Mannes, zum Ehebruch verführen, und zusammen beschlossen sie, Kadys zu töten (§ 2). Die gleichberechtigte Herrschaft der Zwillinge ergab sich aus ihrem gleichen Alter. Dass die Macht vom König auf seine Nachkommenschaft übergeht, entspricht dem Ideal einer Monarchie, doch in der Unklarheit, welcher Sohn den Vorrang hat, erkennen antike Traditionen auch Konfliktpotenzial, wie die Geschichten von Romulus und Remus sowie von Kain und Abel zeigen. 582 Der Darstellung einer konfliktfreien kollegialen Herrschaft von Kadys und Ardys liegt vielleicht die Vorstellung zugrunde, dass Lydien geographisch in Verwaltungsgebiete geteilt war. In der Geschichte endet diese Organisationsform durch die Frau des Kadys. Die ἐπιβουλή wirkt besonders frevelhaft, weil sie vom direkten Umfeld des Herrschers ausgeht und mit einem Ehebruch verbunden wird. Obwohl Damonno als Königsfrau keine höhere Position erreichen kann, lässt sie sich von einem Verwandten ihres Mannes verführen. Dass dafür sein Aussehen entscheidend ist, deutet das Attribut εὐπρεπής an. Damonno ist aber nicht nur passive Mittäterin der ἐπιβουλή, sondern sie beteiligt sich im Folgenden aktiv am Umsturz. Nikolaos zufolge vergiftete sie Kadys und beseitigte den Arzt, von dem der Herrscher Linderung erhalten hatte. Dazu breitete sie über einer Grube ein Lager aus und lud den Arzt ein, der schließlich in die Grube fiel (§ 2). Danach starb Kadys und Damonno bestach viele Lyder, um Ardys zu vertreiben. Schließlich heiratete sie Spermos und erklärte ihn zum König (§ 3). Das Motiv der Vergiftung kommt auch in den Fragmenten 22 und 50 vor. Zudem ist der pontische König Mithridates VI. dafür bekannt, dass er sich vor   Seel (1956b), S. 228.   Herter (1975), S. 548; Dorati (2009), S. 47-48. 581   Heraclid. Lemb. fr. 36; 378 (Πολ. Κυμ.) Dilts; vgl. Jacoby (1926b), S. 245. 582   Liv. 1,6,4; 1,7,2; Gen 4,1,8; Koran 5:30. 579 580

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der drohenden Ergreifung durch die Römer vergiften wollte. 583 Auffällig ist, dass es in keinem der Fälle zum Tod kommt. Die Verwendung von Gift als Mittel eines Anschlags galt als besonders hinterlistig, weil sich der Täter nicht zu erkennen gab und das Opfer wehrlos war. Die Art, in der Damonno den Leibarzt des Kadys beseitigt, entspricht der Ermordung des babylonischen Traumdeuters in Fragment 66 (§ 18). Auch diese Tötungsform wurde als Frevel verstanden, weil das Gastrecht, das den Besucher unter einen besonderen Schutz stellte, aufs Äußerste verletzt wurde. 584 Ob Damonno ihren Mann Kadys ermordete, wird aus der Darstellung nicht deutlich, doch sie trug entscheidend zum Herrschaftswechsel bei. Spermos erhält in der Geschichte die Macht, indem er wie Gyges in Fragment 47 (§ 11) eine Verbindung mit der Frau des gestürzten Königs eingeht. Laut Fragment floh Ardys mit seiner Frau und seiner Tochter nach Kyme, wo er zuerst als Wagner und später als Gastwirt arbeitete. Die Lyder, die zu ihm kamen, verabschiedete er alle als Freunde (§ 3). Spermos beauftragte den Räuber Kerses damit, Ardys zu töten. Als Bezahlung verlangte Kerses die Tochter des Usurpators und tausend Stater. Weil er aber in Kyme von Ardys freundlich behandelt wurde und Gefallen an dessen Tochter fand, versprach er, sich in höchstem Maße [τὰ μέγιστα] zu revanchieren, wenn er seine Tochter zur Frau bekäme (§ 5). Wie aus diesem Teil deutlich wird, zeichnet sich Ardys trotz des Machtverlustes und der Notwendigkeit, arbeiten zu müssen, durch eine besondere Gastfreundschaft und Philanthropie aus. Der Usurpator Spermos erscheint dagegen maßlos, weil er seinen Gegner sogar außerhalb Lydiens verfolgen lässt. Das Motiv, dass Herrscher ihren Feinden im Exil nachstellen, kommt auch in den Fragmenten 46 und 63 vor. Der Räuber Kerses will die Tochter des Spermos wohl nur aufgrund ihrer Beziehung zum neuen Machthaber heiraten. Die 1000 Stater verlangt er als Zuwendung beim üblichen Gabentausch im Zuge der Eheschließung. 585 Der Räuber verliebt sich jedoch unerwartet in die Tochter des Ardys. In § 5 wird klar, dass Ardys gegen eine Verbindung der beiden ist, denn er stellt der Minderwertigkeit [φαυλότης] des Kerses die gute Abkunft seiner Tochter gegenüber [ἐπ᾽ εὐγενείαι μέγα φρονῶν]. Diese Textstelle belegt, dass sich adlige Familien in der Regel gegenüber den unteren Schichten abschlossen. Ardys und Spermos unterscheiden sich insofern, als der gestürzte König die Norm einhalten will, aber mit dem Räuber übereinkommt, weil er in einfachen Verhältnissen lebt und Aussicht auf eine besondere Erkenntlichkeit erhält. Dass Spermos keine Bedenken bezüglich einer Ehe seiner Tochter mit dem Räuber hat, weist durch die Normabweichung auf die Illegitimität seiner Herrschaft hin (Kap. 2.3.3.1.).   Dazu Liv., per. 102; Pomp. Trog. 37,1; 37,2; Flor. 1,40,26; Eutr. 6,12,3; Oros. 6,1,29; 6,5,6. 584   Hiltbrunner et al. (1972), S. 1079. 585   Zur Brautgabe und Mitgift im antiken Griechenland vgl. Schmitz (2007), S. 12; 34. 583

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Nach § 5 und 6 offenbarte der Räuber Ardys seinen Auftrag, sagte aber, dass er für eine Heirat mit seiner Tochter bereit sei, ihm den Kopf des Spermos zu bringen. Ardys willigte ein und Kerses fertigte aus den abgeschnittenen Haaren des Ardys einen falschen Kopf. In Lydien behauptete der Räuber, dass er den Auftrag erfüllt habe. Als Spermos verlangte, ihm den Kopf des Ardys zu zeigen, lockte Kerses ihn in seine Wohnung und erschlug ihn, als er sich über den falschen Kopf beugte. An dieser Stelle wird die starke Kürzung des Exzerpts deutlich, denn der Befehl des Usurpators, den Kopf des Ardys zu bringen, ist weggefallen und hätte diesem Abschnitt in § 4 vorausgehen müssen. Das Abschneiden des Hauptes sollte die Erfüllung des Auftrags nachweisen und andere Gegner des Usurpators in Furcht versetzen. In § 6 kommt nämlich zum Ausdruck, dass das Zeigen eines abgeschlagenen Kopfes in der Öffentlichkeit befremdlich war [ἄτοπος]. Die Lyder teilten nach dieser Geschichte mit den Griechen die Norm, äußerste Gewalt nach Möglichkeit zu vermeiden. In den Fragmenten 4 und 66 (§ 26) wird ebenfalls angedroht, dass der Kopf eines Kontrahenten abgetrennt wird. In beiden Fällen sind es asiatische Herrscher, die diese Drohung aussprechen. Offenbar wurde eine solche Tat vor allem Barbaren zugeschrieben. Das Motiv des Zerschneidens von Körpern, das auch in den Fragmenten 54 und 93 vorkommt, weckt Assoziationen mit Kannibalismus, der den Grundwerten der griechischen Kultur entgegenstand. Dass Spermos getötet wird, während er sich über den falschen Kopf beugt, erinnert an Fragment 12, in dem ein Moment der Wehrlosigkeit für einen Mord genutzt wird. Auffällig ist das Motiv, dass Spermos, der die Herrschaft geraubt hatte, nun von einem Räuber ermordet wird. Mit dem Tod des Usurpators kommt es in der Geschichte zu einer Wende: Laut § 7 ging Kerses mit dem Kopf des Spermos weg. Als die Lyder die Leiche des Usurpators entdeckten, freuten sie sich, immerhin war Spermos der schlimmste Schurke [κάκιστος], zumal es unter seiner Herrschaft eine Dürre gab. Er herrschte für zwei Jahre, wurde aber nicht in die Königsliste aufgenommen. Die schlechte Bewertung des Spermos zeigt sich nicht nur am Superlativ κάκιστος, sondern auch an der Darstellung, dass sich die Lyder offenbar erst nach längerer Zeit trauten, das Haus zu betreten, in das der Usurpator gegangen war. Die Dürre ist eine Parallele zur Hungersnot unter Meles in Fragment 45 und wurde als Sanktionierung durch eine höhere Macht verstanden. Infolge des kollektiven Leids kommt es in der Darstellung zu einer gemeinschaftlichen Sanktionierung, denn das Fehlen des Spermos in der lydischen Königsliste weist auf eine Memoriastrafe hin. 586 Wie in § 8 und 9 zu lesen ist, gelangte Kerses zu einem Verkaufsstand, wo er sich aus Freude betrank und gegenüber dem Kleinhändler [κάπηλος] Thyessos mit seiner Tat prahlte. Als der κάπηλος begriff, dass Ardys nun König war, tötete er Kerses. Thyessos ging dann mit den Köpfen des Usurpators und des Räubers 586

  Herter (1975), S. 548.

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zu Ardys, und sagte ihm, dass er mit den besten Geschenken komme. Ardys entgegnete, dass die besten Geschenke wären, dass Spermos tot sei und Kerses nicht sein Schwiegersohn würde. Die Pointe der Geschichte besteht nun in der Antwort des Thyessos, dass er ihm genau dies bringe. Die Dialoge zwischen Kerses und Thyessos sowie zwischen Ardys und Thyessos sollen die Handlung lebendiger gestalten und eine bessere Identifikation mit den Charakteren ermöglichen. Zwar verfährt der κάπηλος Thyessos ähnlich brutal wie Kerses, indem er mordet und den Kopf der Leiche abschneidet, doch anders als der Räuber prahlt er nicht mit seiner Tat und fordert laut § 9 auch nicht die Tochter oder das Gold des Ardys. Durch das Verhalten des Thyessos entsteht nach H. Diller ein Abstand zum „Märchenprinzip des Wünschens“. 587 Dass Bescheidenheit sich letztlich auszahlt, soll die Anmerkung belegen, dass Thyessos durch seinen Verkaufsstand, den er fortan steuerfrei betreiben durfte, zu Reichtum gekommen sei. Ihm wird auch eine besondere Frömmigkeit zugeschrieben, denn es ist zu lesen, dass er ein Heiligtum für Hermes baute (§ 9). Der κάπηλος stieg wohl zu einem einflussreichen Händler auf. 588 Mit dem Ausgang des ersten Teils scheint wieder Gerechtigkeit hergestellt worden zu sein, denn der Usurpator Spermos und der Räuber Kerses sind tot, Thyessos wird belohnt und Ardys hat sein Königtum zurückerhalten. Zu letzterem sei nach § 9 eine lydische Gesandtschaft gekommen, unter der auch einige Herakliden gewesen seien. Diese Anmerkung zeigt nach F. Jacoby, dass Nikolaos die Vorgänger des Gyges zum Geschlecht der Herakliden zählte. 589 H. Diller fasst die Darstellung bis zu dieser Stelle mit den Worten „Unrecht Gut gedeiht nicht“ und „Untreue schlägt den eigenen Herrn“ zusammen. 590 Mit § 10 beginnt die Darstellung des innerlydischen Konflikts, der in Fragment 47 mit der Machtübernahme durch Gyges endet. In dem Abschnitt wird die Regierungszeit des Ardys in wenigen Sätzen zusammengefasst: Er war der beste König nach Akimios, ihm lagen die Lyder äußerst am Herzen [καταθύμιος] und er liebte die Gerechtigkeit sehr. Außerdem ließ er das lydische Heer zählen und ermittelte eine Zahl von 30.000 Reitern. Das positive Bild des Ardys ähnelt dem des Leodamas in Fragment 52 und ist damit zu erklären, dass mit seiner Rückkehr an die Macht wieder die genealogische Thronfolge eingehalten wird. Die Tradition, der Nikolaos folgte, war offenbar von einer Perspektive des Ardys geprägt. 591 Bei Akimios handelt es sich wohl um denselben mythischen Herrscher, den Xanthos in einer Überlieferung Alkimos nennt. 592 Die Zuverlässigkeit der Zahl des lydischen Heeres bleibt durch die Worte ὥς φασι offen.   Diller (1956), S. 71.   Parmentier / Barone (2011), S. 80. 589   Jacoby (1926b), S. 245. 590   Diller (1956), S. 69. 591   Schubert (1884), S. 21. 592   FGrHist 765 F 19; vgl. Schubert (1884), S. 2-3. 587 588

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Wie in § 11 zu lesen ist, war Ardys als alter Mann mit dem Mermnaden Daskylos, dem Sohn des Gyges, befreundet. Da Adyattes, der Sohn des Ardys, fürchtete, dass Daskylos nach dem Tod seines Vaters die Macht übernehmen könnte, tötete er ihn. Die schwangere Frau des Daskylos floh aus Furcht in ihre Heimat nach Phrygien. Ardys verfluchte die Schuldigen und sprach in einer Volksversammlung jedem das Recht zu, sie zu töten. Schließlich starb er nach 70 Jahren Herrschaft. Dass Adyattes als Sohn des Ardys vor § 11 nicht vorkommt, zeigt erneut die starke Kürzung des Exzerpts. Die antiken Chronographen kennen ihn unter dem Namen Alyattes. 593 Nach § 10 folgt ein zeitlicher Sprung, der am hohen Alter des Königs, an der Sorge des Adyattes in Bezug auf die Thronfolge, und an der Anmerkung, dass Ardys zur Volksversammlung getragen worden sei, deutlich wird. Die Angabe, dass Ardys 70 Jahre lang herrschte, ist mit einer Idealisierung des Königs zu erklären. Den antiken Chronographen zufolge regierte er 36 Jahre lang. 594 Aus dem letzten Teil des Fragments lässt sich ableiten, dass Daskylos als Mermnade eine bedeutende Funktion am Hof des Ardys hatte. Der Königssohn Adyattes verursachte aber den Bruch zwischen dem Geschlecht und der Herrscherdynastie, indem er Daskylos tötete. Dieser Mord wird auch in Fragment 46 erwähnt, in dem der Sohn des Ardys aber Sadyattes heißt. Der gleiche Namenswechsel kommt mehrfach in Fragment 47 vor. Das Motiv, dass Söhne des Herrschers um ihre Thronfolge bangen und einen Mord begehen, kommt ebenfalls in Fragment 30 vor. Wie sich den nachfolgenden Textauszügen entnehmen lässt, wurde Phrygien zum Zufluchtsort der Mermnaden. Dass Ardys durch seine Verwünschungen unwissend das eigene Geschlecht verfluchte, ist ein Motiv, das aus der Tragödie bekannt ist und den Sturz der Herakliden in Fragment 47 erklärt. Der wahre Kern der Handlung ist der Machtkampf zwischen Geschlechtern der lydischen Oberschicht, der offenbar schon sehr früh begann. 595 Die Geschichte der Auseinandersetzungen der Herakliden mit den Mermnaden wird im nachfolgenden Fragment fortgesetzt. 3.4.2.  Fragment 45 (Exc. de insidiis p. 13,19) Einordnung: Dieses konstantinische Exzerpt zum sechsten Buch der Universalgeschichte knüpft an die vorangegangene Überlieferung an, denn es berichtet von einer Hungersnot als Folge der Ermordung des Daskylos durch den Sohn des Lyderkönigs Ardys. Laut Fragment musste Meles ins Exil gehen, weil über ihm der Fluch lag, den Ardys laut Fragment 44 (§ 11) unwissend gegen sein eigenes Geschlecht ausgesprochen hatte und der nach Fragment 47 zum Sturz der Herakliden führte. Meles war vielleicht ein Enkel des Ardys, denn in Fragment 44   Schwartz (1894), S. 41.   Schwartz (1894), S. 41; Jacoby (1926b), S. 245. 595   Herter (1975), S. 552. 593 594

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(§ 10) rechnete noch Adyattes damit, an die Macht zu kommen. Den antiken Chronographen zufolge habe Meles zwischen 728 und 725 v. Chr. die Herrschaft erhalten und für 12 Jahre regiert. 596 Offenbar haben die byzantinischen Schreiber bei ihrer Exzerpierung der Historien die Herrschaft des Adyattes übersprungen, weil in seiner Zeit nichts Relevantes in Bezug auf die Auseinandersetzung zwischen Herakliden und Mermnaden geschehen war. 597 Meles ist auch der Name von zwei anderen Herrschern, die in Fragment 16 des Nikolaos sowie in einem Abschnitt bei Herodot vorkommen. 598 Die Tradition, der Nikolaos folgte, geht auf die Lydiaka des Xanthos zurück. Eine Hungersnot in Lydien wird in einem anderen Zusammenhang bei Herodot erwähnt. 599 Zu der vorliegenden Darstellung liegt keine Parallelüberlieferung vor, sodass der Textauszug von besonderer Bedeutung für Untersuchungen zur lydischen Geschichte ist. Die Quelle ist trotz des Fehlens einer ἐπιβουλή in den Excerpta de insidiis überliefert, weil die Auseinandersetzung der lydischen Geschlechter als einheitliche Darstellung exzerpiert wurde. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Dem Fragment ist zu entnehmen, dass die Lyder aufgrund einer Hungersnot ein Orakel konsultierten. Dieses hielt die Könige dazu an, für die Tötung des Daskylos Buße zu tun. Der König sollte für drei Jahre in die Verbannung gehen und Daskylos, den Sohn des Daskylos, zur Rückkehr nach Lydien bewegen. Der jüngere Daskylos sagte aber, dass es nicht angemessen sei, sich in einen Konflikt einzumischen, der sich vor seiner Geburt zugetragen habe. Schließlich ist zu erfahren, dass Meles ins Exil nach Babylon ging und nach drei Jahren die Herrschaft von seinem Regenten Sadyattes zurückerhielt. In der Darstellung wird die Hungersnot auf die Ermordung des älteren Daskylos zurückgeführt (F 44). Auch in der vorangegangenen Überlieferung wurde eine Katastrophe mit dem Vergehen eines Herrschers in Zusammenhang gebracht. Dass unter der göttlichen Sanktionierung alle Lyder leiden, soll die Sühnung des begangenen Frevels erzwingen: Entweder der König geht in die Verbannung oder er bleibt für das kollektive Leid der Lyder verantwortlich und wird womöglich gestürzt. Das Orakel befand sich vermutlich in Telmessos; immerhin erhielten die Lyder nach Herodot mehrfach Weissagungen von dort. 600 Die Befristung des Exils auf drei Jahre zeigt, dass der Ausschluss aus der Gemeinschaft wegen einer Blutschuld in der Regel zeitlich begrenzt war. Darauf weisen auch die Fragmente 13 und 61 hin, in denen Herakles und Isodemos von Sikyon ihre Heimat für jeweils ein Jahr verlassen müssen. Eine historische Parallele zu diesen Sanktionen findet sich im drakontischen Recht, das im Falle einer   Schwartz (1894), S. 41.   Jacoby (1926b), S. 244. 598   Hdt. 1,84; vgl. Alexander (1913), S. 21-22. 599   Hdt. 1,94. 600   Hdt. 1,78; 1,84; vgl. Parmentier / Barone (2011), S. 82. 596 597

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unvorsätzlichen Tötung die Rückkehr des Täters aus der Verbannung ermöglichte, wenn sich die Hinterbliebenen des Opfers mit ihm aussöhnten. 601 Dass Daskylos (II.) den gleichen Namen hatte wie sein Vater, steht auch in Fragment 46. Er wurde in Phrygien geboren, nachdem seine Mutter dorthin geflohen war (F 44 § 11). Weil er es in der Darstellung ablehnt, nach Lydien zu kommen, kann Meles nicht alle Bedingungen für die vom Orakel geforderte Buße erfüllen. Daskylos meinte zwar, dass er sich mit seiner Entscheidung aus dem Konflikt zwischen den lydischen Geschlechtern heraushalte, doch die Herakliden betrachteten dies offenbar als Provokation. Die Zurückweisung der Einigung führt nämlich in den nachfolgenden Überlieferungen zu einer Zuspitzung des Konflikts (F 46-47). Der Regent Sadyattes wird in dem Exzerpt den Tyloniden zugeordnet, die zumindest zeitweise Verbündete der Herakliden waren. Erstens riskierten sie nämlich nicht ihr Verhältnis zum Herrscherhaus und gaben freiwillig die Macht an Meles zurück, und zweitens leisteten sie laut Fragment 47 Widerstand gegen die Usurpation des Mermnaden Gyges. R. Schubert wertet den Machtzuwachs der Tylondien als Symptom für den Niedergang der Heraklidendynastie. 602 Das Exil des Meles deutet darauf hin, dass die Herakliden infolge eines inneren Konflikts Lydien verlassen mussten. 603 Möglicherweise war Meles ein Usurpator, der für wenige Jahre aus dem Land vertrieben wurde. 604 In jedem Fall äußert sich in dem Fragment ein mermnadischer Standpunkt der Geschichte, weil das Orakel auf der Seite von Daskylos steht. 605 3.4.3.  Fragment 46 (Exc. de insidiis p. 13,34) Einordnung: Zusammen mit den Fragmenten 44, 45 und 47 handelt dieser Textauszug, der in konstantinischer Zeit zum sechsten Buch des Nikolaos verfasst wurde, vom lydischen Machtkampf zwischen dem Herrschergeschlecht der Herakliden und den Mermnaden. Wie die anderen Überlieferungen zur Geschichte Lydiens geht auch diese Darstellung auf Xanthos zurück. Am Anfang der Quelle wird der Lyderkönig Myrsos genannt, der wie Meles in Fragment 45 nur in Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen den lydischen Geschlechtern vorkommt. 606 Dass er bei Nikolaos als vorletzter Herrscher vor der Usurpation des Gyges erscheint (F 47), macht eine Einordnung des Geschehens ins ausgehende achte Jahrhundert v. Chr. möglich. 607

  IG I³ 104, Z. 11. Zum athenischen Blutrecht vgl. Koerner (1993), S. 27-41.   Schubert (1884), S. 24-25. 603   Schubert (1884), S. 23. 604   Alexander (1913), S. 32. 605   Schubert (1884), S. 23. 606   Jacoby (1926b), S. 244. 607   Schwahn (1933).

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Exzerpt fürchtete Daskylos, der Sohn des ermordeten Daskylos, eine Nachstellung [ἐπιβουλή] der Herakliden. Er floh aus Phrygien nach Pontos, wo er eine Syrerin heiratete und Gyges als Sohn bekam. Auch Herodot schreibt, dass Daskylos der Vater des Gyges war, und dass Myrsos vor dem letzten Heraklidenkönig herrschte. 608 Dass Daskylos II. den gleichen Namen hatte wie sein Vater, war bereits in Fragment 45 zu lesen. Die Erwähnung, dass Daskylos I. von Sadyattes ermordet worden sei, ist eine Parallele zu Fragment 44, allerdings hieß der Mörder dort Adyattes. Die Exzerptoren verwechselten die Namen auch an mehreren Stellen des 47. Fragments. Aufgrund des Motivs der drohenden ἐπιβουλή wurde der Textauszug in den Excerpta de insidiis überliefert. Offenbar ließ Myrsos die Mermnaden auch nach ihrer Flucht aus Lydien verfolgen, weil Daskylos II. zuvor eine Einigung mit dem Herrschergeschlecht ausgeschlagen hatte (F 45). Diese Ablehnung der Übereinkunft betrachteten die Herakliden womöglich als Provokation. Die Verfolgung des Daskylos in Phrygien ist eine Parallele zur Nachstellung des Ardys in Fragment 44 und deutet auf die Maßlosigkeit des Herrschers hin, der keine Grenzen kennt. Aus der Darstellung ist abzuleiten, dass Phrygien in archaischer Zeit unter den Einfluss Lydiens geriet, während die Syrer außerhalb des phrygischen Machtbereichs blieben. 609 Auffällig ist, dass der jüngere Daskylos wie sein gleichnamiger Vater in die Fremde flieht, wo er eine Einheimische heiratet. Mit der Usurpation des Gyges endet in der nachfolgenden Überlieferung der Machtkampf zwischen den lydischen Geschlechtern. 3.4.4. Fragment 47 (Exc. de insidiis p. 14,4) Einordnung: Als Thema des Fragments, das in den Excerpta de insidiis überliefert und dem sechsten Buch des Nikolaos zugeordnet ist, wird im ersten Satz der Sturz des Sadyattes angegeben, wobei dieser nicht der letzte König der Lyder war, wie dem Teil ὁ ἔσχατος βασιλεὺς Λυδῶν zu entnehmen ist, sondern der letzte Herrscher der Herakliden. Die Darstellung des Konflikts zwischen den lydischen Geschlechtern, der in Fragment 44 begann, endet mit dieser Überlieferung, denn der Fluch des Ardys, auf den in § 8 Bezug genommen wird, erfüllt sich durch die Machtübernahme des Mermnaden Gyges, der als historischer König des siebten Jahrhunderts v. Chr. bezeugt ist. 610 Bei Nikolaos wird er auch in den Fragmenten 62 und 63 erwähnt. Sadyattes ist wohl der Nachfolger des Myrsos, der in Fragment 46 vorkam. Bei Herodot und den antiken Chronographen heißt der letzte Heraklidenkönig Kandaules, wobei Herodot anmerkt, dass er den Griechen als Myrsilos bekannt sei. 611 Dass es in diesem   Hdt. 1,7-8.   Herter (1975), S. 559. 610   Zur Datierung des Gyges vgl. Spalinger (1978). 611   Hdt. 1,7; vgl. Schwartz (1894), S. 41; Seel (1956a), S. 55. 608 609

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Fragment mit „Adyattes“ (§ 1; 5; 8) und „Sadyattes“ (§ 4; 5-6; 8; 11) zwei Namen für denselben König gibt, ist, wie die Namenswechsel in den Fragmenten 44/46, 57 und 59/60, auf Fehler der konstantinischen Exzerptoren zurückzuführen. Da im hier überlieferten Textauszug häufiger „Sadyattes“ vorkommt, wird diese Form vorgezogen. 612 Laut § 8 herrschte Sadyattes vor seiner Ermordung für drei Jahre. Dass die antiken Chronographen als Regierungsdauer 17 Jahre angeben, erklärt sich damit, dass er in anderen Überlieferungen mit dem Herrscher Myrsos zusammengefasst wurde (F 46). Die Tradition, der Nikolaos für die symbolisch aufgeladene Handlung folgte, geht auf Xanthos zurück. Ein Verweis von Stephanos Byzantios (s.u.) legt nahe, dass das zweite Buch der Lydiaka seine Vorlage war. Die wichtigsten Parallelüberlieferungen zum Dynastiewechsel finden sich bei Platon, dessen Version auch von Cicero wiedergegeben wird, und Herodot, der wohl die Quelle des Trogus war. 613 Zwar weisen die anderen Traditionen erhebliche Unterschiede zum Fragment des Nikolaos auf, doch das Motiv in § 10, dass die Mermnaden nach fünf Generationen bestraft werden, zeigt den Einfluss Herodots. 614 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Im ersten Teil des Exzerpts ist zu lesen, dass Ardys aufgrund seiner Kinderlosigkeit den König bat, Daskylos adoptieren zu dürfen, damit sein Haus nicht verwaise. Er forderte Sadyattes auf, mit ihnen Frieden zu schließen, denn auch die Vorfahren des Königs riefen ihre Gegner nach Lydien zurück. Sadyattes gab ihm die Erlaubnis zur Adoption, aber Daskylos entsandte an seiner Stelle seinen Sohn Gyges nach Sardeis (§ 1-2). Ardys wird im ersten Abschnitt als Sohn des älteren Gyges eingeordnet, der in Fragment 44 (§ 10) Erwähnung fand, sowie als Onkel des nach Pontos ausgewanderten Daskylos II., der in Fragment 46 vorkam. Wie in den vorangegangenen Fragmenten zu lesen war, wurden die Mermnaden von den Herakliden verfolgt. Ardys bemüht sich nun um ein Weiterbestehen seines Geschlechts. Mit den Vorfahren des Sadyattes ist insbesondere Meles gemeint, der nach Fragment 45 den jüngeren Daskylos nach Lydien einlud. Die Herakliden wollten den Konflikt mit den Mermnaden beenden. Durch den Einigungsversuch des Sadyattes und den Adoptionswunsch des Ardys rückt Gyges ins Zentrum des Geschehens. Die Angabe in § 2, dass Gyges etwa 18 Jahre alt gewesen sei, belegt, dass Adoptionen üblicherweise in einem Alter erfolgten, in dem abzuschätzen war, ob die jungen Männer die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen konnten. 615 Auch Kyros   Parmentier (1995), S. 87; Parmentier / Barone (2011), S. 84-85.   Plat., pol. 2,359d-360b; Cic., off. 3,9 (38-39); Hdt. 1,7-1,14; Pomp. Trog. 1,7. Zu den Unterschieden der verschiedenen Erzählungen vgl. Schubert (1884), S. 25-26; Seel (1956a); Seel (1956b); Reinhardt (1960b), S. 139-143; Von Fritz (1967), S. 212213; Schadewaldt (1982), S. 176-184; Pichler (1986), S. 5-8; Erbse (1992), S. 3-9; Will (2015), S. 198-199. 614   Jacoby (1926b), S. 246. 615   Schmitz (2007), S. 32. 612 613

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wird in Fragment 66 als junger Mann adoptiert und erlebt dann einen sozialen Aufstieg. Beide Adoptionen entsprechen den griechischen Normen, weisen aber gleichzeitig auf die Illegitimität der Herrschaftswechsel hin. Ein historischer Kern der Darstellung ist, dass Gyges mit seiner Rückkehr nach Lydien einen Machtanspruch der Mermnaden vertrat. 616 Laut § 3 und 4 zeichnete Gyges sich durch Schönheit und Größe aus, er war in Kriegsangelegenheiten vortrefflich, übte das Reiten sowie den Gebrauch von Waffen und übertraf all seine Altersgenossen. Da Sadyattes ihn bewunderte, nahm er ihn unter die Lanzenträger [δορυφόροι] auf. Der König legte ihm später aber seinen Edelmut zur Last und versuchte ihn durch die Auferlegung von Strapazen zu beseitigen, doch Gyges vollbrachte alle Aufgaben und wurde schließlich mit Land belohnt. Die Charakterisierung des Gyges, die seine Aufnahme am Königshof erklären soll, entspricht den Idealen des Adels und erinnert an die Darstellung des Meders Arbakes im zweiten und dritten Fragment. Gyges erhält wie Kyros, der laut Fragment 66 (§ 4) als Leuchtenträger [λυχνοφόρος] und nach Athenaios als Stabträger [ῥαβδόφορος] tätig war, 617 ein Amt unter dem König, den er später stürzen wird. Die persönlichen Eigenschaften von Gyges, Arbakes und Kyros sind bei Nikolaos die Voraussetzung für ihre Machtübernahmen. Die positive Darstellung des Gyges bringt eine Parteinahme für die Mermnaden zum Ausdruck. 618 Herodot nennt den Lyder αἰχμοφόρος, schreibt aber, dass sein Volk mit δόρατα μεγάλα kämpfte. 619 Durch die Tätigkeit des Gyges und seine Adoption erscheint der Herrschaftswechsel als unrechtmäßig. Bei der Integration des Gyges am lydischen Königshof kommt es zu einem Konflikt, für den das Motiv des Neids [φθόνος] (§ 3; 5) eine zentrale Rolle spielt. Gyges wurde wohl als Rivale betrachtet. 620 Der Versuch des Königs, sein Verhalten durch die Übergabe von Ländereien an Gyges wiedergutzumachen, bringt die negative Bewertung von φθόνος zum Ausdruck. In den antiken Zeugnissen impliziert φθόνος wie Hybris einen maßlosen Konkurrenzgedanken. 621 Gyges erhält durch seine spätere Machtübernahme Genugtuung, weil er die Herrschaft über diejenigen erlangt, die ihm aus Neid schaden wollten. Die Bewältigung von Strapazen, wie das Erlegen wilder Tiere, verbindet Gyges mit Bellerophon und Herakles (F 9; 13). Als bedeutendster Gegner des Gyges wird in § 5 Lixos genannt, der nach Nikolaos vom Geschlecht der Tyloniden abstammte. Wie aus Fragment 45 geht auch aus diesem Textauszug hervor, dass es neben den Herakliden und den Mermnaden eine dritte Familie gab, die an den Auseinandersetzungen um die Herrschaft in Lydien beteiligt war. Dass Gyges von Lixos als Erbfeind [ἐχθρός   Schadewaldt (1982), S. 179.   Athen. 14,33 (633d). 618   Schubert (1884), S. 24. 619   Hdt. 1,8; 1,79; vgl. Jacoby (1926b), S. 246. 620   Porter (2003), S. 83. 621   Cairns (1996), S. 19. 616 617

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πατρῷος] bezeichnet wird, zeigt, dass der Konflikt auch nach der Migration des Gyges nach Sardeis Bestand hatte. Die Feindschaft zwischen Gyges und Lixos ist auf ihre Konkurrenz um die Sympathie des Herrschers zurückzuführen. Für R. Schubert ist der Aufstieg der Tyloniden mit dem Niedergang der HeraklidenDynastie verbunden. 622 Trotz der Verleumdungen durch das königliche Umfeld erhielt Gyges laut § 6 den Befehl, Tudo, die Tochter des Myserkönigs Arnossos, als Braut des Sadyattes nach Sardeis zu bringen. Bei der Abfahrt des Gyges setzten sich aber zwei überaus große Adler auf das Gemach der Tudo und die Seher sagten voraus, dass sie in ihrer Hochzeitsnacht die Frau zweier Könige sein werde. Aus diesem Teil ist abzuleiten, dass der Lyderkönig durch die Heirat das nahegelegene Mysien an sein Haus binden wollte. Der Vorgang, dass Gyges auf einem Wagen zum Haus der Braut fährt und der Vater ihm seine Tochter für die Heirat übergibt, reflektiert eine traditionelle Form der Eheschließung. Das Ritual erscheint als öffentliche Handlung, wobei die Teilnehmer des Hochzeitszugs Zeugen der neuen Verbindung sind. Die Patrilokalität der Ehe weist darauf hin, dass die Macht auf den Bräutigam konzentriert werden sollte. 623 Das Wort φασὶ signalisiert die Unbestimmtheit der Vorlage für die Darstellung des märchenhaften Vorzeichens. Das Erscheinen von Adlern wurde schon von Homer als höchste Verheißung gedeutet. Deswegen bezeichnete der Autor sie auch als liebste Vögel des Zeus. 624 Nikolaos unterstreicht ihre Besonderheit durch das Attribut ὑπερμεγέθεις für ihre ungewöhnliche Größe. Dass die beiden Adler gemäß der Interpretation der Seher für Sadyattes und Gyges stehen, deutet den Herrschaftswechsel an (Kap. 2.3.2.2.). Auch in Fragment 66 (§ 41) prophezeit das Erscheinen von Vögeln die bevorstehende Machtübernahme. Die Anmerkung in § 6, dass Arnassos die Stadt Ardynion in der Ebene Thebens gegründet habe, stimmt mit einem Artikel von Stephanos Byzantios überein, der auf das zweite Buch des Xanthos verweist. 625 Nikolaos muss auf diesen Teil der Lydiaka zurückgegriffen haben. Den Spannungshöhepunkt der Geschichte bildet in § 7 und 8 das berühmte Motiv des Konflikts zwischen Treue und Selbsterhaltung. 626 Nikolaos zufolge verliebte sich [ἔρως] Gyges auf dem Rückweg nach Sardeis in die Braut und versuchte, mit ihr zu schlafen. Diese wies ihn zurück und berichtete dem König davon, nachdem sie angekommen waren. Sadyattes wollte Gyges am nächsten Morgen hinrichten lassen, aber Gyges wurde von einer Dienerin gewarnt und zog es vor, Sadyattes zu töten, anstatt selbst von ihm getötet zu werden. In diesem Abschnitt wird Gyges dazu gezwungen, zwischen zwei Wegen zu wählen, die beide ins Unglück führen: Entweder er begeht einen frevelhaften Mord oder er muss selbst sterben. Auch Herodot erzählt von dem Dilemma, aber   Schubert (1884), S. 24-25.   Schmitz (2007), S. 29. 624   Hom., Il. 8,247; 24,310. 625   Steph. Byz. s. v. Ἀρδύνιον; vgl. Jacoby (1926b), S. 246. 626   Schadewaldt (1982), S. 180. 622 623

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in seiner Version wird Gyges „unschuldig schuldig“ 627. Der Herrscher zwingt ihn nämlich dazu, die Königin beim Entkleiden zu beobachten. Diese bemerkt den Frevel und verlangt von Gyges, zwischen seinem Leben und dem des Königs zu wählen. 628 Das Motiv, dass eine äußere Bedrohung den Protagonisten zu einer solchen Entscheidung zwingt, entstammt der griechischen Tragödie. 629 Anders als bei Herodot geht bei Nikolaos durch den Fehltritt des Gyges ein zentraler Aspekt der Tragik verloren. Vielleicht liegt eine Verkehrung der BellerophonGeschichte vor, in der es um eine falsche Verleumdung der Königin geht (F 9). 630 Das Wort ἔρως signalisiert, dass Gyges einem sinnlich-erotischen Verlangen nachgab. Auffällig ist, dass die Frau des Herrschers hier nur eine passive Rolle hat, weil sie selbst keine Macht ausübt. Die Aufgabe, den Protagonisten vor die Wahl zwischen Mord und Tod zu stellen, wird in der vorliegenden Fassung von einer Dienerin erfüllt, die laut Exzerpt große Zuneigung zu Gyges empfand (§ 8). In den Fragmenten zur Universalgeschichte kommen mehrfach Vertraute des Herrschers als Wegbereiter eines Umsturzversuches vor, doch meist handelt es sich bei ihnen um Eunuchen (F 1; 3-4; 66). Das Motiv, dass Gyges die Frau seines Königs begehrt, erinnert an die Darstellung des Myrtilos aus der Bibliotheke des Apollodor. 631 Auch in der späteren Erzählung von Tristan und Isolde steht die Beziehung zwischen der Königsbraut und ihrem Begleiter im Zentrum. Nach § 8 bat Gyges seine Freunde um Hilfe bei dem Umsturz und erinnerte sie daran, dass Ardys die Mörder des Daskylos verflucht hatte. Dann ging er zu Sadyattes und tötete ihn. Die Erwähnung des Ardys nimmt Bezug auf Fragment 44, in dem der Heraklidenkönig unwissend einen Fluch über seine Nachfolger legte. Durch diesen Verweis stellt Gyges die ἐπιβουλή, die den Grund für die Überlieferung des Fragments in den Excerpta de insidiis bildet, als Sanktionierung eines begangenen Unrechts dar. 632 Die Konzentration des Geschehens auf den Zeitraum zwischen Sonnenuntergang und dem nächsten Morgen trägt zur Dramatisierung der Geschichte bei. 633 Wie in § 9 zu lesen ist, kam es dann zu einem gewaltsamen Prozess der Herrschaftskonsolidierung: Gyges tötete einige Freunde des Königs und gewann andere durch Geschenke als Verbündete. Bei einer Volksversammlung auf den Marktplatz gerieten die Bürger zuerst in Aufruhr wegen des Umsturzes, aber sie beruhigten sich, weil sie sich nach Klarheit sehnten und die Soldaten fürchteten (§ 9). Eine Befragung des Orakels von Delphi ergab, dass sie Gyges als König einsetzen sollten, aber die Herakliden in der fünften Generation die Strafe [τίσις] erhalten würden (§ 10).   Schadewaldt (1982), S. 184.   Hdt. 1,9-11. 629   Snell (1973), S. 201; Schadewaldt (1982), S. 183-184. 630   Porter (2003), S. 84. 631   Apollod., epit. 2,8; vgl. Jacoby (1926b), S. 246. 632   Diller (1956), S. 74. 633   Snell (1973), S. 199. 627 628

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Der dargestellte Ablauf des Umsturzes ist durchaus vorstellbar, da ähnliche Vorgänge auch von anderen Machtwechseln bekannt sind. 634 Viele Lyder waren wohl gegen den Umsturz, aber Gyges konnte seine Macht festigen, indem er Vertreter der früheren Herrschaft beseitigte, Anhänger um sich sammelte und die Lyder mit seinen Soldaten einschüchterte. Gleichzeitig war er darum bemüht, seiner Herrschaft Legitimität zu verleihen, indem er sich an die Volksversammlung wandte und ein Orakel einholen ließ (Kap. 2.3.2.2.). 635 Wie in § 11 zu lesen ist, habe Gyges auch die Braut des Sadyattes geheiratet. Durch die Verbindung mit der Frau des gestürzten Königs erfüllte sich die Deutung der Seher in § 6. Gyges knüpft durch die Ehe, wie Spermos in Fragment 44, an die vorangegangene Herrschaft an. Die Agora wird auch in Fragment 22 als zentraler Ort von Sardeis genannt. Für den Frevel des Gyges wird eine göttliche Sanktionierung vorausgesagt, die im 66. Fragment seinen Nachfahren Kroisos trifft. Das Motiv des Fluchs über die Mermnaden als Folge des Umsturzes, geht auf Herodot zurück. 636 Dass Gyges seine Familie mit dem prophezeiten Schicksalsschlag belastet, stellt eine Verflechtung der Darstellung mit den vorangegangenen Teilen dar: Die Ermordung des Daskylos I. führte zu einem Fluch über die Herakliden (F 44) und die Rache durch Gyges führt hier zu einem Fluch über die Mermnaden. 637 Diese Konzeption weist den tragischen Grundgedanken auf, dass die Personen der Handlung gänzlich äußeren Einflüssen unterworfen sind. Der Textauszug endet mit einer längeren Episode über den Konflikt und die Versöhnung des Gyges mit Lixos, die eine Reihe narrativer Elemente enthält. Laut Exzerpt schwor der Usurpator aufgrund ihrer früheren Gegnerschaft, Lixos dort zu begraben, wo er ihn das nächste Mal sehe (§ 11). Da Lixos ihm aber ständig auswich, begab sich Gyges auf Wege, die Lixos häufig nahm (§ 12). Dann trafen sie aufeinander, aber Gyges wurde von seinen Freunden davon abgebracht, Lixos zu töten. Um sich dennoch an seinen Schwur zu halten, einigten sie sich darauf, Lixos erst nach seinem natürlichen Tod an dem Ort zu begraben, wo er ihm begegnet war (§ 13). Gyges lud Lixos schließlich zu einem Gastmahl ein und ließ ihm karge Speisen bringen. Als Lixos sagte, dass er so speise, wie es bei einem Feind zu erwarten sei, lachte Gyges, und ließ bessere Speisen bringen (§ 14). Der letzte Teil erklärt sich mit dem Vorwurf des Lixos in § 13, dass sich Gyges bei seiner Verfolgung auf Wege begeben habe, die sich nicht für einen König gebührten. Die Pointe besteht darin, dass Gyges die Erwartungen des Lixos bei dem Gastmahl bewusst enttäuscht. Mit den direkten Reden wollte der Autor eine bessere Identifikation mit den Charakteren ermöglichen und die   Schadewaldt (1982), S. 179.   Zu den Beziehungen zwischen Korinth und Delphi unter Gyges vgl. Scott (2014), S. 58. 636   Hdt. 1,13; vgl. Jacoby (1926b), S. 246. 637   Laqueur (1936), Sp. 388; Diller (1956), S. 73-74. 634 635

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Handlung lebendiger gestalten. Historischer Hintergrund der Einigung zwischen Gyges und Lixos ist, dass sich die Tyloniden letztlich den neuen Machtverhältnissen beugen mussten. An mehreren Stellen des Fragments wird deutlich, dass die Macht des Lyderkönigs begrenzt ist: So kann Sadyattes laut § 4 Gyges nicht beseitigen, weil keine Schuld vorliegt. Nach § 12 kann Gyges wiederum Lixos nicht festnehmen lassen, da er damit gegen seinen Beschluss verstoßen würde (§ 12). Dass der Außenwirkung von Entscheidungen eine große Bedeutung beigemessen wird, äußert sich darin, dass Sadyattes Gyges nicht offen [φανερός] beseitigen will (§ 4) und Gyges Lixos öffentlich warnt [προεῖπον], vor sein Angesicht zu treten (§ 11). Sowohl Sadyattes als auch Gyges versuchen ihre Ziele auf anderen Wegen zu erreichen: Der eine will seinen Gegner beseitigen, indem er ihm gefährliche Aufgaben auferlegt (§ 4) und der andere nimmt die Verfolgung seines Feindes auf, um ihn gemäß seinem Schwur zu töten (§ 12). Der pragmatische Umgang mit früheren Anordnungen zeigt sich auch darin, dass Gyges damit einverstanden ist, Lixos erst zu begraben, sobald dieser eines natürlichen Todes gestorben sei (§ 13). Sadyattes und Gyges sind also bestrebt, das Königtum nicht als Willkürherrschaft erscheinen zu lassen. 3.4.4.1.  Vergleich mit den Parallelüberlieferungen Gegenüber den Parallelüberlieferungen gibt das vorliegende Fragment mehr Auskunft über die lydische Geschichte. Die Beteiligung der Tyloniden am Machtkampf wird nur bei Nikolaos thematisiert. Während Herodot die Handlung auf drei Personen reduziert, kommen in diesem Textauszug weitere Personen wie Ardys, Lixos und die Dienerin vor, die für das Verständnis der Darstellung von Bedeutung sind. 638 Für Herodot war es notwendig, dem Leser zu erklären, dass der Anblick von Nacktheit bei den Lydern eine große Schande sei, während bei Nikolaos universellere Motive wie die Liebe des Gyges zur Braut des Königs vorkommen. 639 Beide Autoren rücken das Motiv der Wahl zwischen frevelhaftem Mord und dem eigenen Tod ins Zentrum der Handlung, aber in der Fassung des Nikolaos geht durch das Vergehen des Gyges ein entscheidender Aspekt der Tragik verloren. Gyges wird nämlich nicht unschuldig zu einer Entscheidung gezwungen. 640 Auch in den Überlieferungen von Platon und Trogus ist Gyges nicht frei von Schuld, da er die Frau des Königs zum Ehebruch verleitet. 641 Ansonsten entspricht die Darstellung des Trogus in weiten Teilen derjenigen Herodots. Bei Platon ist die Erzählung von Gyges, anders als bei den anderen Autoren, nicht in die Vorgeschichte der Entmachtung des Kroisos eingearbeitet,   Schadewaldt (1982), S. 182.   Hdt. 1,8-11; vgl. Pichler (1986), S. 42. 640   Reinhardt (1960b), S. 143. 641   Plat., pol. 2,359d; Pomp. Trog. 1,7. 638 639

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denn seine märchenhafte Darstellung hat eine völlig andere Funktion: Platons Geschichte von Gyges und dem Ring, der seinen Besitzer unsichtbar macht, soll demonstrieren, dass Menschen nur gerecht sind, wenn sie sich vor Strafen fürchten. 642 Diese Funktion der Erzählung hatte schon Cicero erkannt. 643 Fasst man die Unterschiede zwischen dem vorliegenden Fragment und den anderen Quellen zusammen, so lässt sich nach G. Anderson feststellen: „There are no magic rings or ʻbedroom historyʼ here, though a personal impulse triggers off direct political consequences.“ 644 In der Forschung gab es die Tendenz, aus den Abweichungen der Quellen eine Entwicklung der Gyges-Geschichte abzuleiten. Demnach habe historisch zuerst die märchenhafte Form bestanden, die bei Platon überliefert ist, dann die von Xanthos und schließlich die rationalisierte Novelle Herodots. 645 Diese These konnte sich aber nicht durchsetzen, da die verschiedenen Formen auch nebeneinander existierten. 646 Noch im ersten Jahrhundert v. Chr. sind die drei Traditionen bei Trogus, Nikolaos und Cicero nachzuweisen. Durch den Vergleich der Überlieferungen lässt sich aber ein historischer Kern der Geschichte rekonstruieren: Gyges, der Sohn des Daskylos, war ein hoher Beamter am lydischen Hof, der den Herrscher mit Unterstützung einer Frau aus dem königlichen Umfeld stürzte. Wie W. Schadewaldt feststellt, wurden die historischen Begebenheiten nach der Machtübernahme des Gyges „einerseits in verhältnismäßig realer Form weitererzählt, aber auch wild ausgeschmückt und ins Phantastische erhoben.“ 647 Die überlieferten Fassungen der Geschichte sind folglich auf parallel existierende Traditionen zurückzuführen, die sich auseinander entwickelten, aber auch Einfluss aufeinander nahmen. 648 3.4.5.  Fragment 48 (Exc. de insidiis p. 17,6) Einordnung: Dieses Fragment, das in konstantinischer Zeit als Exzerpt zum sechsten Buch des Nikolaos verfasst wurde, beinhaltet eine genealogische Aufzählung der drei Könige Demophon, Oxyntes und Thymoites, die als mythische Herrscher von Athen bekannt sind. 649 Unklar ist, ob die starke Kürzung des Textauszugs auf die Vorlage des Nikolaos zurückgeht oder auf die Exzerptoren. Eine Datierung der Herrschaft Demophons im Marmor Parium ist korrupt. 650 Pausanias schreibt, dass Thymoites, der Sohn des Oxyntes, der letzte aus dem   Diller (1956), S. 77.   Cic., off. 1,9 (38-39). 644   Anderson (2004), S. 76. 645   Reinhardt (1960a), S. 176-177; Reinhardt (1960b), S. 139-140. 646   Diller (1956), S. 78; Seel (1956b), S. 231-233. 647   Schadewaldt (1982), S. 179; vgl. auch Von Fritz (1967), S. 212. 648   Schadewaldt (1982), S. 180. 649   Jacoby (1902), S. 421. 650   Marm. Par. A25; vgl. Jacoby (1904), S. 149-150. 642 643

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Geschlecht des Theseus gewesen sei. Nach ihm habe Melanthos die Herrschaft an sich gerissen. 651 In einem bei Athenaios überlieferten Fragment von Demon ist zu lesen, dass Thymoites seinen Stiefbruder Apheidas, der als König regierte, umbrachte. 652 Nach Kastor habe Apheidas für ein Jahr geherrscht. 653 F. Jacoby zufolge lassen sich die Autoren, die Apheidas als König von Athen nennen, als Quelle des Nikolaos ausschließen, weil der Herrscher in diesem Exzerpt nicht vorkommt. 654 Der Anfang des Textauszugs knüpft mit der Erwähnung, dass Orestes seine Mutter getötet habe und nach Athen gekommen sei, an Fragment 25 an. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Der Überlieferung ist zu entnehmen, dass Demophon bei der Ankunft des Oresthes König von Athen war. Nach ihm war Oxyntes König, und dann Thymoites. Weil dieser wusste, dass das Königtum beim Tod des Vaters seinem ehelich gezeugten [γνήσιος] Bruder zustand, übernahm er die Herrschaft, indem er den Bruder meuchlerisch ermordete [δολοφονέω]. Nikolaos stimmt mit den Parallelüberlieferungen darin überein, dass es einen Konflikt zwischen zwei Söhnen des Oxyntes gab, die verschiedene Mütter hatten. Weil Thymoites seinem Bruder in der Thronfolge nachgestellt war, tötete er ihn, um selbst König zu werden. Die Vorrangstellung des Bruders kommt durch das Wort γνήσιος zum Ausdruck, während das Verb δολοφονέω die Intriganz des Thymoites unterstreicht. Das Motiv des Fratrizids begegnet in den Fragmenten 1, 50 und 61. Aufgrund der ἐπιβουλή ist das Fragment in den Excerpta de insidiis aufgenommen worden. Nach O. Ribbeck ist der Mythos mit der Bedeutung der Namen der aristokratischen Theseiden zu deuten: In ihnen soll sich „die Erbitterung des gedrückten Volkes“ ausdrücken, denn Thymoites heiße „der Leidenschaftliche“, Oxyntes „der Scharfe“ und Apheidas „der Schonungslose“. Nach dem Ende ihrer Herrschaft seien die volksfreundlichen Neleiden an die Macht gekommen. 655 Die früheste Geschichte Athens wird im nachfolgenden Fragment mit Hippomenes fortgesetzt. 3.4.6.  Fragment 49 (Exc. de virtut. 1 p. 340,16) Einordnung: Wie diesem Textauszug aus dem sechsten Buch des Nikolaos zu entnehmen ist, habe der athenische Archon Hippomenes seine Tochter von einem Pferd fressen lassen, weil sie Schande über sich gebracht habe. Hippomenes war der vierte der sieben Zehn-Jahres-Archonten und bekleidete sein Amt von etwa 723 bis 714 v. Chr. Er kommt in einer Textstelle bei Aischines, einem   Paus. 2,18,9.   FGrHist 327 F 1 = Athen. 3,50 (96d). 653   FGrHist 250 F 4. 654   FGrHist 250 F 4; vgl. Jacoby (1926b), S. 246. 655   Ribbeck (1809), S. 12. 651 652

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konstantinisches Exzerpt von Diodor und einer Epitome von Herakleides Lembos zur Politika des Aristoteles vor. 656 Weiterhin wird im Werk Ibis von Ovid die Bestrafung der Tochter erwähnt. 657 Möglicherweise stand am Anfang der verschiedenen Traditionen Ephoros. 658 Herakleides zufolge lautete der Name der Tochter Λειμώνη und Ovid nennt sie in der lateinischen Form Limone. Bei Aischines, der Hippomenes nicht namentlich nennt, soll die Darstellung belegen, dass die Athener in der Vergangenheit das Schändliche verabscheuten, und die Sittlichkeit ihrer Kinder für äußerst wichtig erachteten. 659 Die harte Bestrafung erscheint damit als Ausnahmefall, der die Verbindlichkeit der Normen demonstrieren sollte. Nach Herakleides gehörte Hippomenes zum Königsgeschlecht der Kodriden. Mit der Verhängung der Strafe habe Hippomenes die Beschuldigung von sich weisen wollen, dass die Herrscher schwächlich und weich geworden seien. Sein Handeln wird damit als Reaktion auf die Kritik an den Königen Athens verstanden. Bei Nikolaos hat die Geschichte eine andere Funktion: Die maßlose Bestrafung soll erklären, wie es zur Entmachtung des Hippomenes kam. Dass Hippomenes bei Nikolaos und Diodor athenischer Archon ist, während er in der Überlieferung des Herakleides als König erscheint, deutet, ebenso wie die Kontextualisierung der Handlung bei Herakleides, darauf hin, dass die Geschichte in die Zeit des Übergangs Athens aus der Königsherrschaft einzuordnen ist. Inhaltswiedergabe und Kommentar: In dem Exzerpt ist zu lesen, dass die Tochter des Hippomenes mit einem Bürger Schande über sich brachte [αἰσχύνω]. Aus Zorn fesselte der Archon seine Tochter und schloss sie mit einem Pferd in eine Kammer ein. Das Pferd vertilgte schließlich das Mädchen aus Hunger, bevor es selbst starb. Danach wurden sie in ihrer Behausung begraben und der Ort erhielt den Namen „Platz des Pferdes und des Mädchens“. Aischines nennt ebenfalls den Todesort und erläutert die αἰσχύνη der Tochter damit, dass sie vor der Heirat Geschlechtsverkehr hatte. 660 Nikolaos macht die Kritik an der außerehelichen Beziehung mit den Worten τῶν ἀστῶν τινος λάθρα deutlich. Die Tochter traf sich im Geheimen mit einem Mann, der vermutlich nur einfacher Herkunft war, denn seine Identität bleibt unklar. Trotz der αἰσχύνη wurde die Bestrafung der Tochter durch Hippomenes als κακία betrachtet, wie die Überlieferung des Fragments in den Excerpta de virtutibus et vitiis nahelegt. Schon im ersten Satz des Exzerpts wird das Verhalten des Hippomenes mit dem Verlust seines Archontats in Verbindung gebracht. Dass die Strafe zu grausam   Aischin., orat. 1,182; Diod. 8 fr. 22; Heraclid. Lemb. fr. 1 Dilts = Aristot., Ath. pol. epit. 1. 657   Ov., Ib. 459. 658   Parmentier / Barone (2011), S. 92; Parmentier (2014), S. 830-831. 659   Ghiron-Bistagne (1994), S. 3. 660   Aischin., orat. 1,182. 656

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war, äußert sich auch in der Fassung Diodors. 661 Der Name Hippomenes, der wohl von ἵππος und μαίνομαι kommt, steht mit dem Schicksal seiner Tochter in Zusammenhang. 662 Auch Limone ist ein sprechender Name, denn er ist vom Wort λιμός für Hunger abgeleitet. Womöglich findet sich bei Pausanias, der über das Eingraben eines lebenden Pferdes als Opfer berichtet, ein wahrer Kern der Handlung. Das ἵππου μνῆμα, das er nennt, könnte der Ursprung des Namens Hippomenes sein. 663 Dass die Überlieferungen von Nikolaos und Diodor in konstantinischen Exzerpten überliefert sind, zeigt, dass die Diskurse über Unsittlichkeit und die übermäßig harte Strafe in byzantinischer Zeit als zentrale Aspekte der Geschichte wahrgenommen wurden. 3.4.7.  Fragment 50 (Exc. de insidiis p. 17,11) Einordnung: In diesem konstantinischen Exzerpt, das dem sechsten Buch des Nikolaos zugeordnet ist, geht es um den Battiaden Arkesilaos, der infolge der Konflikte mit seinen Brüdern eine Niederlage im Kampf gegen die Libyer erlitten hat. Arkesilaos ist als König Kyrenes bekannt und lebte im sechsten Jahrhundert v. Chr. Seine Herrschaft erhielt er von Battos II., der Teile Libyens unter seine Herrschaft gebracht hatte und am Anfang des Fragments erwähnt wird. Parallelüberlieferungen zu dem Exzerpt finden sich bei Herodot, Diodor, Plutarch und Polyaen. 664 Die Darstellung des Nikolaos geht ursprünglich auf Herodot zurück, denn bei beiden Autoren ist Learchos der Bruder des Arkesilaos. Außerdem handelt Nikolaos die ἐπιβουλή gegen Arkesilaos auf ähnlich kurze Weise ab wie Herodot. 665 Und schließlich stimmen die Historiker in den Details, wie der Zahl der gefallenen Kyrenaier, überein. Das Exzerpt passt inhaltlich nicht zwischen die athenische und ionische Geschichte, sondern gehört eher hinter die Fragmente 54 und 55, in denen es um die Peliaden geht. 666 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Textauszug hatten die Söhne des Battos, Arkesilaos und seine Brüder, einen Streit [στασιάζω] und sie entfachten einen Kampf, wodurch die Libyer zu ihnen kamen. Die Kyrenaier erlitten eine Niederlage und verloren 7000 Soldaten. Arkesilaos nahm ein Mittel [φάρμακον] zu sich. Weil er aber im Sterben lag [δυσθνητέω], erwürgte ihn sein Bruder Learchos. Darauf wurde Learchos von Eryxo, der Frau des Arkesilaos, getötet. Schließlich übernahm Battos, der Sohn des Arkesilaos, der lahm [χωλός] war, die Herrschaft.   Diod. 8 fr. 22.   Parmentier / Barone (2011), S. 92. 663   Paus. 3,20,9; vgl. Eitrem (1913). 664   Hdt. 4,160; Diod. 8 fr. 29-30; Plut., De mul. vir. (mor. 260-261D); Polyain., strat. 8,41. 665   Jacoby (1926b), S. 246. 666   Jacoby (1926b), S. 247. 661 662

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Über die Auseinandersetzungen unter den Battiaden ist bei Herodot zu erfahren, dass es Kämpfe zwischen Arkesilaos und seinen Brüdern gegeben habe, bis letztere Kyrene verließen und die Libyer zum Kampf gegen Kyrene aufriefen. 667 Diodor zufolge habe es einen Bürgerkrieg gegeben, der schließlich geschlichtet worden sei. 668 Vermutlich kam es in Kyrene zu einem Thronfolgekonflikt, in dessen Folge die Libyer versuchten, die Gebiete zurückgewinnen, die sie an Battos II. abgetreten hatten. Die Erwähnung des Mittels, das Arkesilaos nach der Schlacht zu sich nahm, macht die starke Kürzung der Geschichte deutlich: Handelt es sich bei φάρμακον um Medizin, so ist in der Überlieferung weggefallen, dass Arkesilaos krank beziehungsweise verletzt war. Die Deutung des Wortes als Heilmittel lässt sich mit Herodot stützen, denn bei ihm wird durch das Partizip κάμνων auf eine Krankheit hingewiesen. 669 Demnach nahm Arkesilaos ein Mittel ein, da es ihm schlecht ging, und danach wurde er von Learchos erwürgt. Dass Learchos nicht die Intention hatte, Arkesilaos von seinen Qualen zu erlösen, legt das Ende der Darstellung nahe, denn er wird für seine Tat ermordet. Das Wort φάρμακον wurde aber auch als Gift gedeutet. 670 Für diese Variante spricht das Partizip von δυσθνητέω im darauf folgenden Satz, das ansonsten nicht belegt ist. Der langsame Tod des Arkesilaos war vielleicht die Folge eines missglückten Anschlags oder Suizidversuchs. Der Umstand, dass das Fragment in den Excerpta de insidiis überliefert ist, kann damit erklärt werden, dass Learchos seinem Bruder mit dem Gift nachstellte. Bei Nikolaos findet sich das Motiv der Vergiftung auch in den Fragmenten 22 und 44. Über den pontischen König Mithridates VI. wird berichtet, dass er vergeblich versucht hatte, sich mit einem Gift zu töten, bevor er mittels eines Schwertes starb. 671 Die Tötung des Königs erscheint als Frevel, weil sie von seinem eigenen Bruder begangen wird und Arkesilaos wehrlos ist. Das Motiv des Fratrizids kommt bei Nikolaos in den Fragmenten 1, 48 und 61 vor. Im hier überlieferten Fall rächt Eryxo, die Witwe des Königs, den Brudermord. Dadurch geht die Herrschaft auf Battos über, dessen Lahmheit in Zusammenhang mit der Redeflussstörung des gleichnamigen Dynastiebegründers zu betrachten ist. Battos I. soll nämlich gestottert haben, wobei schon Herodot die Deutung des Namens Βάττος als Stotterer bezweifelt hat. 672 Trotzdem ist auffällig, dass den Battiaden zwei Fälle von Behinderungen nachgesagt wurden. Womöglich sollte dies auf einen Fluch über dem Geschlecht hinweisen. Die weitere Geschichte der Dynastie fehlt bei Nikolaos. Bei Herodot ist aber zu erfahren, dass das Geschlecht wenige Generationen später seine Macht verlor. 673   Hdt. 4,160.   Diod. 8 fr. 30. 669   Hdt. 4,160. 670   Parmentier / Barone (2011), S. 92. 671   Flor. 1,40,26. 672   Hdt. 4,155; vgl. Laes (2013), S. 170. 673   Hdt. 4,164. 667 668

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3.4.8.  Fragment 51 (Exc. de insidiis p. 17,18) Einordnung: Dieses konstantinische Exzerpt geht auf das sechste Buch der Universalgeschichte zurück und handelt von Männern in Phokis, die als Bastarde vertrieben wurden und sich in Ionien ansiedelten, wo sie einen Teil des Reiches von Mennes, dem Herrscher Kymes, in Besitz nahmen. Mennes kommt ebenso wie sein Bruder Ovatias [Οὐατίας], der den König am Ende der Handlung stürzt, nur in der vorliegenden Überlieferung vor. 674 Die Namen von Mennes und Ovatias sind nicht griechischen Ursprungs. 675 Bei Herodot gibt es durch die Erwähnung von Φωκεῖς ἀποδάσμιοι eine Verbindung zu dieser Darstellung. 676 Des Weiteren finden sich im Werk des Pausanias zwei Stellen, die vom Auszug der Phoker nach Kleinasien berichten. 677 In dem Fragment stellen die Worte ὁμοῦ τοῖς Ἴωσιν ἐξέπλευσαν einen Bezug zur griechischen Kolonisation in Kleinasien dar. Der Textauszug gehört damit zu den Quellen über die Migrationsbewegungen, die in der Forschung als „Ionische Wanderung“ zusammengefasst wurden. 678 Auffällig ist, dass der Auszug der Phoker wie die Gründung Tarents durch die Parthenier mit einer Darstellung über uneheliche Verbindungen erklärt wird. 679 Spannungshöhepunkt der Geschichte ist der Sturz des Tyrannen Mennes, der auch den Grund für die Überlieferung des Textauszugs in den Excerpta de insidiis bildet. Das Fragment ist für die Forschung von besonderer Bedeutung, weil es ein singuläres Zeugnis zur Frühgeschichte der Phoker darstellt. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Textauszug machten die Phoker im Krieg gegen die Orchomenier viele Frauen der Feinde zu Konkubinen [καταπαλλακεύω] und zeugten mit ihnen Kinder. Später wurden die Bastarde [νόθοι] von den rechtmäßigen Söhnen vertrieben. Die Auseinandersetzung wird damit erklärt, dass die Zahl der νόθοι nicht gering war und die rechtmäßigen Söhne Furcht vor ihnen bekamen. Nikolaos zufolge zogen die νόθοι nach Thorikos in Attika, setzten Anführer an ihre Spitze und segelten mit vielen Peloponnesiern zum Fluss Hermos, wo sie eine kleine Insel nahe des Festlandes erreichten. Aus diesem Teil lässt sich ableiten, dass die unehelichen Söhne in Phokis nur eingeschränkte Rechte besaßen. Möglicherweise hatten sie einen ähnlichen Status wie die Parthenier und Epeunakten in Sparta. 680 Die Vertreibung der νόθοι, die   Zur Geschichte des kleinasiatischen Kyme vgl. Kaletsch (1999); Lagona (2000).   Blok (1996), S. 94. Der Umschrift „Ovatias“ für den Namen Οὐατίας, die nur bei Nikolaos belegt ist, folgen auch Parmentier / Barone (2011), S. 94-95. Von WilamowitzMoellendorff (1906), S. 56 entschied sich für „Uatias“. Möglich erscheint aber auch die Variante „Vatias“. 676   Hdt. 1,146. 677   Paus. 7,2,4; 7,3,10. 678   Hanslik (1931). 679   Sakellariou (1958), S. 355. 680   Sakellariou (1958), S. 355; Malkin (1985), S. 245. Auskunft über den Status von Pallakai gibt Drakons Gesetz über die Tötung, vgl. Schmitz (2004), S. 331. Zur Stellung 674 675

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Einsetzung einer Führung und der Beitritt der Peloponnesier führten zum Zusammenschluss einer Gemeinschaft, die nach einer neuen Heimat suchte. Dass die Vertriebenen als geschlossene Gruppe wahrgenommen wurde, zeigt der weitere Verlauf des Geschehens: Nach ihrer Ankunft gingen viele Barbaren gegen sie vor, doch die Phoker hielten ihnen stand. Danach besetzten sie eine Anhöhe auf dem Festland und versuchten das Gebiet zu befestigen, aber Mennes, der Tyrann von Kyme, hielt sie davon ab. Mit dessen Bruder Ovatias schlossen die Phoker ein Freundschafts- [φιλία] und Heiratsabkommen [ἐπιγαμία] unter der Bedingung, Mennes zu stürzen und den Phokern ein eigenes Land zu überlassen. Diese Handlung zeigt ein mögliches Verlaufsschema früher Migrationen wegen innerer Streitigkeiten: Die Kolonisten erreichten eine Insel in der Nähe des Festlandes, wo es zu Auseinandersetzungen mit den Einheimischen kam. Wenn sie sich durchsetzen konnten, führten sie mit der lokalen Herrschaft Verhandlungen über eine mögliche Ansiedlung. Nach Herodot segelten auch die Kolonisten aus Thera zuerst zur Insel Platea an der libyischen Küste, bevor sie auf dem Festland Kyrene gründen konnten. 681 Eine Besonderheit der vorliegenden Darstellung ist, dass es bei der Ankunft der Phoker bereits einen Konflikt in Kyme gibt, denn das Königshaus ist in Bezug auf die Fremden uneins. 682 Während Mennes keine Gebiete abtreten will, setzt Ovatias seine Hoffnung auf ein Abkommen mit den Phokern, da er wohl kaum Aussichten auf die Herrschaft hat. Er verspricht ihnen einen Teil des Herrschaftsgebietes, um ihre Unterstützung bei einer ἐπιβουλή gegen Mennes zu erhalten. Dass dieser als τύραννος bezeichnet wird, deutet den Machtwechsel an. Pausanias stützt diesen Teil der Geschichte, indem er schreibt, dass die Phoker ihr Land nicht durch Krieg, sondern durch eine Vereinbarung mit den Kymeern erhielten. 683 Wie im Weiteren zu lesen ist, ging Ovatias gegen Mennes vor. Auch das Volk stellte sich gegen den Herrscher. Nach einer erfolgreichen Schlacht übergab Ovatias seinen Bruder den Kymeern. Sie steinigten Mennes und setzten Ovatias als König [βασιλεύς] ein. Dieser setzte durch, dass das Abkommen mit den Phokern erfüllt und ihnen das Land überlassen werde. Nach Nikolaos war Ovatias eng mit dem Volk verbunden, denn er kämpfte mit den Kymeern gegen Mennes, er übergab ihnen seinen Bruder und er erhielt von ihnen das Königtum. Aufgrund dieser Einsetzung wird Ovatias βασιλεύς genannt und nicht wie sein Bruder τύραννος. Da Ovatias keinen Fratrizid beging, sondern dem Volk die Verurteilung von Mennes überließ, erscheint die neue Ordnung als rechtmäßig. Die ionische Geschichte wird mit zwei Darstellungen über Milet fortgesetzt. von Pallakai im klassischen Athen vgl. Hartmann (2002), S. 218-235. Zu Bastarden im antiken Griechenland vgl. Ogden (1995); Ogden (1996). 681   Hdt. 4,151-158; vgl. Bernstein (2004), S. 171-222. 682   Gras (1985), S. 437. 683   Paus. 7,3,10.

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3.4.9.  Fragment 52 (Exc. de insidiis p. 18,9) Einordnung: Das Exzerpt, das in byzantinischer Zeit zum sechsten Buch des Nikolaos angefertigt wurde, handelt vom Sturz des Leodamas in Milet sowie von der Usurpation durch Amphitres. Hintergrund der Darstellung sind die milesischen Machtkämpfe, die im siebten Jahrhundert v. Chr. zu einer Tyrannis führten. 684 Offenbar begann der Konflikt mit Auseinandersetzungen innerhalb eines Geschlechts, bei dem es sich nach Fragment 53 um das der Neleiden handelte. 685 Bei Konon findet sich eine Parallelüberlieferung über die Herrschaft des Leodamas und seine Gegnerschaft zu Phitres, der mit Amphitres identisch ist. Leodamas und sein Kontrahent sind bei Konon königlicher Abstammung, demnach also wohl Brüder. 686 Nikolaos und Konon haben auf Quellen zurückgegriffen, in denen Leodamas als legitimer Herrscher erscheint, dem Amphitres gegenübergestellt wird. 687 Die hier überlieferte Geschichte enthält zahlreiche narrative Elemente. Ihr Ausgang lässt sich als Wiederherstellung von Gerechtigkeit deuten, da der Usurpator von den Söhnen des Leodamas getötet wird. Von besonderer Bedeutung ist die Erwähnung der ἱερὰ Καβείρων, die aus Phrygien in die Region um Milet gebracht werden. Das Fragment belegt damit die phrygische Herkunft des Kabeiroi-Kultes. 688 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut erstem Teil des Fragments plante Amphitres die Ermordung des beliebten Leodamas und tötete diesen, als er am Festtag von Apollon eine Hekatombe für den Gott mit sich führte. Mit seinen Mitstreitern [στασιῶται] nahm Amphitres die Stadt ein und wurde durch die Machtübernahme zum Tyrannen. Die ἐπιβουλή bildet den Grund für die Überlieferung des Fragments in den Excerpta de insidiis. Mit der Beschreibung, dass Leodamas in höchstem Maße gelobt wurde, weil ihm die Stadt am Herzen lag [καταθύμιος] und er gerecht war [δίκαιος], wird die Legitimität seiner Herrschaft angedeutet. Die Attribute δίκαιος und καταθύμιος werden auch dem lydischen König Ardys in Fragment 44 zugeschrieben. Dass Leodamas eine Hekatombe als besonderes Opfer darbringen will, weist auf seine Frömmigkeit hin. Die Leitung des Festzugs ist ebenso wie das Verb βασιλεύω ein Hinweis für seine anerkannte Vorrangstellung im Gemeinwesen. Das religiöse Engagement muss jedoch Rivalen hervorgerufen haben, denen in der Geschichte Amphitres vorsteht. 689 Dieser nutzte das Fest als Gelegenheit, um den Machthaber zu erschlagen. 690 Die Usurpation erscheint durch die Verbindung   De Libero (1996), S. 356. Zur Geschichte Milets vgl. Gehrke (1986), S. 133-136.   Plass (1895), S. 226; Berve (1967), S. 100; Seibert (1979), S. 421. 686   FGrHist 26 F 1 (§ 44). 687   De Libero (1996), S. 355. 688   Kern (1919), Sp. 1402. 689   De Libero (1996), S. 355-356. 690   De Libero (1996), S. 394. 684 685

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zwischen Mord und Kulthandlung als besonders frevelhaft. Wie sich aus dem Wort στασιῶται und aus der Parallelüberlieferung bei Konon ableiten lässt, begann die Stasis-Situation aber nicht erst mit dem Sturz des Leodamas, sondern sie hatte eine längere Vorgeschichte. 691 Die Unrechtmäßigkeit des Machtwechsels wird durch die Bezeichnung des Amphitres als τύραννος betont. Im folgenden Teil des Exzerpts ist zu lesen, dass die Kinder und die Freunde des Leodamas nach Assesos flohen, wo der Machthaber [ἄρχων] von Leodamas eingesetzt worden war. Amphitres folgte ihnen mit einem Heer und belagerte sie. Ein Orakel sagte den Geflohenen voraus, dass sie Hilfe aus Phrygien erhalten und Rache für den Mord an Leodamas nehmen würden. Später kamen Tottes und Onnes, die erklärten, dass sie im göttlichen Auftrag kabirische Heiligtümer brächten, um Leodamas zu rächen. Nach Herodot sei Assesos im Land der Milesier zu verorten, aber die Stadt konnte bisher nicht lokalisiert werden. 692 Der ἄρχων von Assesos war offenbar mit Hilfe von Leodamas an die Macht gekommen und hatte eine Tyrannis errichtet. 693 Weil Leodamas und der ἄρχων Verbündete waren, erhielten die Anhänger des gestürzten Königs Schutz in Assesos. Dem Usurpator Amphitres war bewusst, dass ihm Gefahr aus der Stadt drohte, und deswegen verfolgte er seine Gegner. 694 Das Erscheinen von Tottes und Onnes führt in der Geschichte zu der Wende, die bereits vom Orakel angekündigt worden war. Dass sich die Jungen zuerst bei den Wachen um Einlass in die Stadt bemühen müssen, verzögert den weiteren Handlungsverlauf und erhöht dadurch die Spannung. Die Erläuterung, dass die Geschwister nicht wussten, wer Leodamas ist, stammt von den konstantinischen Exzerptoren. Auch die Anmerkung, dass die Orakelsprüche für die Milesier und für Tottes und Onnes miteinander übereinstimmten, geht auf die byzantinischen Schreiber zurück. Durch die Aufnahme der Jungen in Assesos werden zwei Erzählstränge miteinander verbunden, wobei die Vorgeschichte von Tottes und Onnes nicht überliefert ist. Die ἱερὰ Καβείρων, die laut Darstellung in einer Kiste mitgebracht wurden, stehen mit dem Kabeiroi-Kult in Verbindung, der nicht griechischen Ursprungs ist. Das Exzerpt zeigt, dass sich der Kult schon in archaischer Zeit in der Region um Milet verbreitet hatte. 695 Oft dürfen kultisch relevante Behältnisse in den antiken Quellen nur zu bestimmten Anlässen geöffnet werden. Weil das Öffnen durch Unbefugte Gefahr bedeutet, gelten Kisten in zahlreichen Mythen als Zeichen der Bedrohlichkeit. 696 Auf die Bedeutung der Heiligtümer weist der Ausgang der Geschichte hin: Tottes und Onnes forderten die Milesier dazu auf, ein Opfer gemäß ihren Sitten darzubringen, damit die Prophezeiungen in Erfüllung gehen. Sie brachten das Opfer   FGrHist 26 F 1 (§ 44).   Hdt. 1,19; vgl. De Libero (1996), S. 356. 693   Seibert (1979), S. 20; De Libero (1996), S. 356. 694   De Libero (1996), S. 356. 695   Kern (1919), Sp. 1408. 696   Wesselmann (2011), S. 222-223.

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dar und zogen gegen ihre Feinde, wobei sie die Heiligtümer vor ihrer Phalanx mit sich führten. Die Anhänger des Amphitres wurden in die Flucht geschlagen, weil sie Angst vor dem Göttlichen bekamen. Nach dieser Darstellung bildete die Verehrung der ἱερὰ Καβείρων den Grund für den Sieg über Amphitres. Die Geschichte bringt den Versuch der Anhänger des Leodamas zum Ausdruck, ihrem Machtanspruch mit Hilfe des Kabeiroi-Kultes Legitimität zu verleihen, denn die Einführung der Heiligtümer wird mit ihrer Rückkehr nach Milet verbunden (Kap. 2.3.2.2.). Am Ende der Geschichte bewahrheiten sich die Orakelsprüche, denn die Söhne des Leodamas töten Amphitres und beenden damit die Tyrannis. Die Auseinandersetzungen in der Polis setzten sich aber auch danach fort, wie das nächste Fragment zeigt. 3.4.10.  Fragment 53 (Exc. de insidiis p. 19,15) Einordnung: Dieses konstantinische Exzerpt, das auf das sechste Buch des Nikolaos zurückgeht, schließt an die vorangegangene Überlieferung an und handelt von der Zeit nach der Ermordung des Tyrannen Amphitres in Milet. Am Anfang der Auseinandersetzungen in der Polis stand ein Machtkampf unter den Neleiden, der zur Stasis und schließlich zur milesischen Tyrannis führte. 697 Danach wurde laut vorliegendem Fragment Epimenes zum Aisymneten gewählt. Aristoteles definierte die Aisymnetie als eine aus Wahlen hervorgegangene Tyrannis, wie die des Pittakos um 600 v. Chr. in Mytilene. 698 Epimenes ist nur aus dieser Überlieferung bekannt. Seine hier thematisierten Maßnahmen entsprechen den Vorschriften eines Dekrets aus dem fünften Jahrhundert v. Chr., die von der Behörde der ἐπιμήνιοι umgesetzt wurden. 699 Da es keine Parallelüberlieferung zu der Darstellung gibt, ist der Textauszug von besonderem Wert für Untersuchungen zum archaischen Milet. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Dem Fragment ist zu entnehmen, dass Epimenes vom Volk zum Aisymneten gewählt wurde und das Recht erhielt, zu töten, wen er wollte. Die Kinder des Amphitres flohen, doch Epimenes beschlagnahmte ihren Besitz [δημεύω] und setzte ein Kopfgeld auf sie aus. Er tötete drei der Mordkomplizen und zwang die anderen zur Flucht. Auf diese Weise wurden die Neleiden gestürzt. Aus dem letzten Satz des Exzerpts geht hervor, dass Amphitres zum Geschlecht der Neleiden gehörte. Nach Konon war er königlicher Abstammung (F 52). 700 Die Wahl des αἰσυμνήτης und seine weitreichenden Kompetenzen weisen in diesem Fragment auf den Ausnahmezustand hin, der infolge der Stasis in Milet   Berve (1967), S. 100; Seibert (1979), S. 421; De Libero (1996), S. 356.   Aristot., pol. 3,1285 a29-b1. 699   Meiggs / Lewis 43. 700   FGrHist 26 F 1 (§ 44). 697 698

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herrschte. Offenbar wurden die Söhne des Amphitres als Bedrohung wahrgenommen, sodass ihr Besitz eingezogen und ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt wurde. 701 Das Verb δημεύω, das bei Nikolaos auch in Fragment 57 vorkommt, bezieht sich nicht auf eine Verteilung von Landgütern an breitere Bevölkerungsschichten. 702 Der Teil τῶν δὲ κοινωνῶν τοῦ φόνου τρεῖς ἀπέκτεινε wurde so gedeutet, dass die Söhne umgebracht und drei ihrer Mörder getötet worden seien. 703 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es um drei Anhänger des Usurpators Amphitres geht, die sich an der Ermordung des Leodamas beteiligt hatten und im Zuge der politischen Neuordnung unter Epimenes hingerichtet wurden. Immerhin ist im vorherigen Satz zu lesen, dass der Aisymnet die Kinder des Amphitres nicht ergreifen konnte. Dass die Darstellung des Epimenes an die antike Tyrannentopik angelehnt ist, weist auf einen Einfluss der Anhänger des Amphitres auf die Überlieferung hin. 704 Über das archaische Milet geben die Fragmente des Nikolaos keine weitere Auskunft, doch sicher hat der Autor auch die Tyrannis des Thrasybulos thematisiert, die um 600 v. Chr. errichtet wurde. 705 3.4.11.  Fragment 54 (Exc. de insidiis p. 19,22) Einordnung: Das konstantinische Exzerpt, das dem sechsten Buch des Nikolaos zugeordnet ist, berichtet davon, dass Medeia die Töchter des Königs Pelias dazu brachte, ihren Vater zu töten. Die Darstellung geht auf den Mythos von Iason und dem Goldenen Vlies zurück. Medeia ist als kolchische Zauberin bekannt, die in Iason verliebt war und ihn bei seinem Konflikt mit dem Herrscher von Iolkos unterstützte. 706 Iason kommt bei Nikolaos auch in den Fragmenten 11 und 55 vor. Nach F. Jacoby stammt der Textauszug zusammen mit der nachfolgenden Überlieferung aus einer „fortlaufenden darstellung der sagengeschichte“ über die Peliaden. 707 Die Worte ὥς φασιν erlauben aber keine Bestimmung der Vorlage. Das Werk Argonautika des Dionysios Skytobrachion, das unter dem Einfluss des Dramas von Euripides über die Peliaden stand, kann als Quelle ausgeschlossen werden, da Akastos, der hier die Herrschaft seines Vaters Pelias übernimmt, bei Dionysios nicht als König von Iolkos vorkommt. 708 Der Textauszug stimmt weitgehend mit der Bibliotheke des Apollodor überein. 709 In einer Überlieferung Diodors wird auf Schriften von Mythographen verwiesen, die unbestimmt   De Libero (1996), S. 356.  Zu Konfiskationen als Elemente des inneren Krieges in klassischer Zeit vgl. Gehrke (1985), S. 210-214. 703   Seibert (1979), S. 20. Zu Tötungen im Zuge von Staseis in klassischer Zeit vgl. Gehrke (1985), S. 234-236. 704   Berve (1967), S. 101; De Libero (1996), S. 356. 705   Seibert (1979), S. 20; De Libero (1996), S. 357. 706   Tripp (2012), Art. Medeia/Medea, S. 328-332. 707   Jacoby (1926b), S. 247. 708   FGrHist 32 F 14; Eur. fr. 601-616 Seeck; vgl. Jacoby (1926b), S. 243. 709   Apollod., bibl. 1,144 (1,9,27). 701

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bleiben. 710 Eine Besonderheit dieses Fragments ist, dass Iasons Motiv für die ἐπιβουλή die Machtübernahme in Iolkos ist. 711 Auffällig ist, dass das Reich nicht mit dem Tod des Pelias untergeht, sondern erst unter seinem Sohn Akastos, wie in Fragment 55 zu lesen ist. Außerdem gibt es in den Fragmenten 35 und 36 des Nikolaos keinen Hinweis darauf, dass Iason wie in den Parallelüberlieferungen Anteil an der Herrschaft über Korinth erhalten hat. 712 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Am Anfang des Fragments ist zu erfahren, dass die Argonauten dem König das Vlies brachten und Iason den Entschluss fasste, Pelias zu töten, um dessen Herrschaft zu übernehmen. Medeia sicherte ihm darauf zu, dies mühelos zu erreichen. Mit dem Adverb ἀνιδρωτί deutet sie eine kampflose Beseitigung des Königs an. Die Worte τῆς ἀρχῆς πέρι bringen das Interesse Iasons an der Herrschaft von Iolkos zum Ausdruck. Gegenüber der Darstellung in der Bibliotheke des Apollodor, nach der Iason den Tod seiner Eltern rächen will, lässt sich dies als Rationalisierung deuten. 713 Der nächste Teil des Exzerpts stimmt mit den anderen Überlieferungen überein: Medeia überredete die Töchter des Königs, ihren Vater mit Hilfe eines Zaubermittels [διὰ φαρμάκων] jünger zu machen. Wie behauptet werde, verwandelte sie alte Schafe in Lämmer. Weil die Töchter dadurch überzeugt worden waren, schnitten sie ihren Vater – gemäß den Anweisungen Medeias – in Stücke und warfen ihn in einen Kessel mit siedendem Wasser. 714 Dass Nikolaos mit den Worten ὥς φασιν auf nicht näher bestimmte Quellen verweist, lässt sich als Distanzierung von der märchenhaften Darstellung der Verwandlung der Tiere interpretieren. Das Motiv des Zerschneidens und Kochens eines Menschenkörpers erinnert an Fragment 93, in dem Ptolemaios seinen Soldaten befiehlt, Frauen und Kinder zu zerstückeln und in siedendes Wasser zu werfen, um seine Feinde in Furcht zu versetzen. Beide Darstellungen wurden mit Kannibalismus verbunden, der den Grundwerten der griechisch-römischen Kultur entgegenstand. Dass es in der vorliegenden Überlieferung der eigene Vater ist, den die Töchter töten und zerschneiden, verstärkt die Angst vor diesem Phänomen. Ein Hauptmotiv des Textauszugs ist der folgende Diskurs über die Intention und die Schuldlosigkeit der Töchter. Nikolaos zufolge waren sie in großer Trauer, weil nicht geschehen ist, was sie bezweckt hatten. Medeia und Iason wurden zur Flucht gezwungen. Den Töchtern trugen die Iolkier aber nichts nach, denn sie töteten den Vater unvorsätzlich [ἀέκων], als sie ihn vor dem Tod durch das Alter retten wollten. Die Besten [ἄριστοι] heirateten die Töchter in der Meinung, dass sie durch den Mord unbefleckt seien [καθαραί].   Diod. 4,52,2.   Parmentier / Barone (2011), S. 100. 712   Jacoby (1926b), S. 243. 713   Apollod., bibl. 1,144 (1,9,27). 714   Apollod., bibl. 1,144 (1,9,27); vgl. Diod. 4,52,1-2. 710 711

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In diesem Abschnitt kommt eine Differenzierung von vorsätzlicher und unabsichtlicher Tötung zum Ausdruck. Die Worte ἀκακία, ἀέκων und καθαραί weisen darauf hin, dass keine Mordabsicht bestand, weil die Töchter davon überzeugt waren, dass sie dem Vater eine gute Tat erweisen und ihm seine Jugend zurückgeben. Nach Diodor habe die Tochter Alkestis Zweifel gehabt und sich nicht an der Tat ihrer Schwestern beteiligt, aber im Exzerpt des Nikolaos kommt diese nicht vor. 715 Der Einschub, dass Medeia und Iason infolge ihrer Verbannung nach Korinth gegangen seien, geht wohl auf die konstantinischen Exzerptoren zurück. Das Gleiche über ihr Schicksal steht auch im letzten Satz der Überlieferung. An die sehr großen ἆθλα, die es Nikolaos zufolge nach dem Tod des Königs gegeben habe, erinnert auch Stesichoros in seinem Werk Ἆθλα ἐπὶ Πελίᾳ. 716 Am Ende der Überlieferung ist zu erfahren, dass Pelopeia, eine der Töchter des Pelias, Kyknos als Kind bekommen habe, mit dem Herakles in Itonos, in Achaia, kämpfte. Auch die Bibliotheke des Apollodor berichtet von einem Zweikampf zwischen Herakles und Kyknos, dem Sohn des Ares und der Pelopeia. 717 Nikolaos hatte diese Auseinandersetzung vielleicht im dritten Buch wiedergegeben, in dem die Geschichte des Herakles thematisiert wurde (F 13). Bei Dionysios Skytobrachion gibt es unter den Peliaden niemanden mit dem Namen Pelopeia. 718 Akastos, der am Ende des Fragments erwähnt wird, kommt auch in der nächsten Überlieferung vor. 3.4.12.  Fragment 55 (Exc. de virtut. 1 p. 340,23) Einordnung: Dieses konstantinische Exzerpt, das dem sechsten Buch des Nikolaos zugeordnet ist, knüpft mit der Herrschaft des Akastos, des Sohns des Pelias, an die vorangegangene Überlieferung an. Das Fragment stammt nach F. Jacoby aus einer „fortlaufenden darstellung“ über die Peliaden in Iolkos. 719 Akastos, der das Königtum seines Vaters übernahm, kommt auch bei Diodor und Hyginus vor. 720 Das Hauptmotiv der Handlung bildet die Verleumdung des Peleus durch die Frau des Akastos. Ihre falsche Beschuldigung, dass Peleus versucht habe, mit ihr zu schlafen, wird auch in der Bibliotheke des Apollodor thematisiert. Laut Parallelüberlieferung hieß die Königin Astydameia. 721 Nach Pindar sei ihr Name dagegen Hippolyte gewesen. 722 A. Paradiso verbindet das vorliegende Fragment mit einem Suda-Artikel und folgert daraus, dass der Name der Frau bei Nikolaos Ἀταλάντη lautete. 723 Die Bibliotheke und Nikolaos stimmen in Bezug auf den Ausgang der   Diod. 4,52,2.   PMGF 178-180. 717   Apollod., bibl. 2,155 (2,7,7). 718   Jacoby (1926b), S. 243. 719   Jacoby (1926b), S. 247. 720   Diod. 4,53,1; Hyg., fab. 24,5. 721   Apollod., bibl. 3,160-165; 3,173. 722   Pind., N. 4,57. 723   Paradiso (2016). 715 716

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Geschichte mit Pherekydes überein, denn in allen Überlieferungen erobert Peleus zusammen mit Iason und den Tyndariden (in der Bibliotheke heißen sie Dioskuren) das Königreich Iolkos. 724 Dadurch sind allerdings keine Rückschlüsse auf die Quelle des Nikolaos möglich, denn die Darstellung sei F. Jacoby zufolge „vulgata“. 725 Iason kommt auch in den Fragmenten 11 und 54 vor. Vermutlich war die Darstellung des Nikolaos eine Vorlage für mehrere Artikel der Suda. 726 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Exzerpt verliebte sich die Frau des Akastos in Peleus [ἔραμαι] und versuchte, ihn dazu zu bringen, mit ihr zu schlafen. Als jener sie zurückwies, fürchtete sie, dass Peleus ihrem Mann davon berichte. Sie verleumdete ihn also bei Akastos [προδιαβάλλω], der Peleus nachstellte [ἐπιβουλεύω]. Peleus erfuhr davon und rief die Tyndariden und Iason zu Hilfe. Er eroberte schließlich Iolkos und brachte die Frau des Akastos um. Die Geschichte weist Parallelen zu Fragment 9 über Bellorophon auf, denn in beiden Überlieferungen führt eine unerwiderte Liebe zu einer Verleumdung. Der Tötungsversuch ist in dieser Darstellung auf die Worte λόχον ὑφείσας und ἐπιβουλεύω reduziert. Aus Apollodors Bibliotheke ist ergänzend zu erfahren, dass Peleus zuvor eine unabsichtliche Tötung begangen hatte, für die er durch Akastos Sühnung erhielt. Deswegen konnte der König ihn nicht töten, als er die Vorwürfe hörte. Akastos versuchte also den Tod des Peleus herbeiführen, indem er auf der Jagd das Schwert des Peleus versteckte. 727 Offenbar standen die früheren Gefährten des Peleus ihrem Freund im Kampf gegen Akastos bei. Nikolaos erklärt diesen Hilfedienst mit einer Anmerkung über ihre gemeinsame Fahrt auf der Argo. Aufgrund des Beistands und des lasterhaften Verhaltens der Königin ist der Textauszug in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert worden. Das Schicksal des Akastos bleibt in allen Quellen unklar, doch die Herrschaft der Peliaden endete nach dem Konflikt mit Peleus. Die Rache an der Königin, die Peleus verleumdet hatte, erscheint am Ende des Fragments als Wiederherstellung der Gerechtigkeit. 3.4.13.  Fragment 56 (Exc. de virtut. 1 p. 341,6) Einordnung: Mit dieser Darstellung des Todes des Spartaners Lykurg endete laut dem letztem Satz des konstantinischen Schreibers die Exzerpierung des sechsten Buchs. Nikolaos zufolge verhinderte Lykurg durch seinen Suizid eine Veränderung der Gesetze, damit Sparta gemäß einem Orakelspruch glücklich werde. Sein positiver Einfluss auf die Stadt wird mit der Schilderung eines Vergleichs zweier Hunde belegt, der den Spartanern die richtige Lebensführung vor Augen   FGrHist 3 F 62; Apollod., bibl. 3,173.   Jacoby (1926b), S. 247. 726   Paradiso (2016). 727   Apollod., bibl. 3,164-167; vgl. Tripp (2012), Art. Akastos, S. 34-35. 724 725

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halten sollte. Über die Datierung der Lebenszeit Lykurgs gibt es in den antiken Zeugnissen widersprüchliche Angaben, sodass er häufig in die Zeit zwischen dem elften und achten Jahrhundert v. Chr. eingeordnet wurde. 728 In der neueren Forschung zeichnet sich sogar eine Spätdatierung in die Zeit um 600 v. Chr. ab. 729 Lykurg als Schöpfer einer neuen Ordnung wurde bereits von Herodot thematisiert. 730 Xenophon befasste sich in seiner Λακεδαιμονίων Πολιτεία mit der Verfassung der Spartaner. Nach F. Jacoby beruht die vorliegende Darstellung auf Ephoros, der ebenso wie Nikolaos von der Selbsttötung Lykurgs sowie von einem Heiligtum schreibt, das für den Spartaner errichtet wurde. 731 R. Laqueur zufolge gehen der Schwur der Spartaner, ihre Gesetze bis zur Rückkehr ihres Gesetzgebers beizubehalten, und Lykurgs Vergleich der Hunde auf verschiedene Traditionen zurück. 732 Die ausführlichste Parallelüberlieferung ist Plutarchs Lykurg-Vita, die wie dieses Fragment vom Schwur der Spartaner berichtet. Plutarch und Nikolaos stellen die spartanische Hegemonie als Folge der guten Gesetzgebung dar und sie stimmen darin überein, dass Sparta für 500 Jahre die Vorherrschaft über Griechenland hatte. 733 Dieselbe Zahl nennt Diodor in seiner Darstellung des Niedergangs der Stadt. 734 Diodor hatte auch vom Einfluss Lykurgs auf die Lebensführung der Spartaner geschrieben. 735 Die Episode über die zwei Hunde ist aus Plutarchs Moralia bekannt. 736 Wie Fragment 99 belegt, nutzte Plutarch das Werk des Nikolaos als Quelle. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Im ersten Abschnitt des Fragments geht es um das Motiv für den Suizid Lykurgs: Als er sich Gott über weitere Gesetze erkundigen wollte, ließ er die Lakedaimonier schwören, bis zu seiner Rückkehr keines der Gesetze aufzuheben. Vom Orakel erfuhr er, dass die Stadt glücklich [εὐδαίμων] werde, wenn man an den bestehenden Gesetzen festhalte. Lykurg beschloss, nicht mehr zurückzukehren, um die Aufrechterhaltung des Schwurs zu gewährleisten. Er ging nach Krisa, wo er sich umbrachte (§ 1). In diesem Teil erinnert das Fernbleiben von der Stadt an die Geschichte Solons, der Athen verlassen hatte, damit sich die Bürger unabhängig von ihm an die neuen Gesetze gewöhnten. 737 Auch die frühen Gesetzgeber Charondas von Katane, Diokles von Syrakus und Zaleukos von Lokroi sind ins Exil gegangen   Thommen (2003), S. 31.   Schmitz (2017). 730   Hdt. 1,65-66. 731   FGrHist 70 F 118; 175; vgl. Jacoby (1926b), S. 247. 732   Laqueur (1936), Sp. 390-391. 733   Plut., Lyk. 29,10. 734   Diod. 15,1,3; 15,65,1. 735   Diod. 7, fr. 12. 736   Plut., De liberis educandis 4 (mor. 3A-B); Apophthegmata Laconica (mor. 225F226B). 737   Plut., Sol. 25,6; vgl. Parmentier / Barone (2011), S. 102. 728 729

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oder haben sich getötet. 738 Zudem ist das Motiv des freiwilligen Exils vom römischen Praetor Genucius Cipus bekannt, der die politische Ordnung Roms bewahren wollte und nie mehr in die Stadt kam, weil ihm prophezeit worden war, dass er nach seiner Rückkehr König werde. 739 Bei Nikolaos zeigt die Erwähnung der Stadt Krisa, dass Lykurg das Orakel im nahegelegenen Delphi einholte. Die Angabe, dass er weitere Gesetze mit Apollon abstimmen wollte, soll der spartanischen Ordnung eine besondere Legitimität verleihen (Kap. 2.3.2.2.). Parallel dazu empfängt in Fragment 103aa aus der Sammlung besonderer Völkersitten der Kreter Minos Gesetze von Zeus. Auch anderen frühen Nomotheten wie Zaleukos wurde eine göttliche Inspiration zugeschrieben. 740 Lykurgs Suizid wird bei Nikolaos positiv bewertet, weil er zum Wohle der Spartaner erfolgt. Die guten Gesetze erhalten durch seinen Tod ewige Geltung. In den folgenden Zeilen wird Lykurg für sein Wirken gewürdigt: Die Lakedaimonier weihten ihm für seine besondere Tugend [ἀρετή] und seinen freiwilligen Tod einen Tempel, sie errichteten einen Altar und brachten ihm dort wie einem Heroen jedes Jahr ein Opfer dar (§ 2). Wegen Lykurg hatten die Spartaner nämlich ihre allgemeine Tugend und ihre Vormachtstellung bekommen, denn ihre ursprünglichen Bestimmungen waren nicht besser als die der anderen (§ 3). Nikolaos verbindet die Tugend der Spartaner mit der persönlichen Tugend ihres Gesetzgebers. Dass sich dessen Bestimmungen von den Gesetzen anderer Städte unterschieden, steht auch in Xenophons Schrift über die Verfassung der Spartaner. Außerdem leitet Xenophon wie Nikolaos die Hegemonie Spartas von den Gesetzen der Stadt ab. 741 Plutarch und Pausanias bestätigen, dass die Spartaner ein Heiligtum für den Nomotheten errichteten und dass er wie ein Gott [ὡς θεῷ] verehrt worden sei. 742 Der Vergleich mit einem Heros in diesem Fragment ist wohl auf die ältere Überlieferung von Ephoros zurückzuführen, der den Orakelspruch bei Herodot vor Augen hatte, dass Lykurg weder Mensch noch Gott zu nennen sei. 743 Eine kultische Verehrung Lykurgs ist jedenfalls schon bei Herodot und Ephoros belegt. 744 Nachdem die Bewahrung der Gesetze auf einen Schwur zurückgeführt worden ist, folgt im nächsten Abschnitt eine andere Erklärung dafür, dass die Spartaner die νόμοι einhielten – sogar diejenigen unter ihnen, die dagegen waren [ἄκοντες]. Nikolaos zufolge trennte Lykurg zwei Hundewelpen voneinander. Während der eine im Haus Braten bekam, wurde der andere mit auf die Jagd genommen.   Hölkeskamp (1999), S. 52.   Val. Max. 5,6,3; Ovid., met. 15,565-621. 740   Hölkeskamp (1999), S. 47-48. 741   Xen., Lak. pol. 1,1-2. 742   Plut., Lyk. 31,4; Paus. 3,16,6. 743   Hdt. 1,65; vgl. Jacoby (1926b), S. 247. 744   Hdt. 1,66; FGrHist 70 F 118; vgl. Parmentier / Barone (2011), S. XLIII. 738 739

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Bei einer Versammlung, in der die Spartaner über einen Krieg mit den Periöken berieten [ἐκκλησιάζω], ließ Lykurg die beiden Hunde los, worauf sich der eine Hund auf ein Tier stürzte und der andere auf zubereitetes Fleisch. Was Lykurg damit zeigen wollte, wird in zwei Ausschnitten einer Rede an die Lakedaimonier erläutert: Dem Gesetzgeber zufolge unterschieden sich die Hunde nur hinsichtlich ihrer Erziehung. Auch Menschen könnten entweder Anstrengungen unternehmen oder sich der Weichlichkeit [τρυφή] hingeben. Das eine verbindet Lykurg mit Freiheit und Überlegenheit, das andere verurteilt er dagegen als sklavisch und schlecht (§ 3). Ähnlich wie in diesem Exzerpt wird auch in Plutarchs Moralia eine Analogie zwischen dem Verhalten der Hunde und den möglichen Lebensweisen der Spartaner hergestellt. Lykurg spricht sich für ein einfaches Dasein der Spartaner aus und lehnt Formen der τρυφή wie Bequemlichkeit und Genuss ab. Als Anlass für die Demonstration nennt Nikolaos Beratungen über den Krieg mit den περίοικοι. Bei diesen handelt es sich nicht um die Periöken, die später unter der Herrschaft der Spartaner standen, sondern um die benachbarten Völker auf der Peloponnes, die noch unabhängig waren. Auffällig ist das Verb ἐκκλησιάζω, denn Sparta hatte anders als Athen keine ἐκκλησία, sondern die Apella. 745 Nikolaos bringt jedenfalls zum Ausdruck, dass es Beratungen in Hinsicht auf die Außenpolitik gab. Lykurgs Kommando, die Hunde freizulassen, geht an einen κυνουλκός. Bei dieser Bezeichnung für denjenigen, der die Hunde führte, handelt es sich um ein Hapax legomenon. Eine wörtliche Rede Lykurgs ist auch bei Plutarch überliefert. 746 Im vorliegenden Exzerpt stammen die beiden Zitate wohl aus einer längeren Rede, die Nikolaos wiedergegeben hat. Die Auszüge legen nahe, dass Lykurg für eine expansive Außenpolitik eintrat. Dem letzten Abschnitt zufolge brachte Lykurg die Spartaner dazu, ihre bestehende Lebensweise zu verändern und sich an bessere Gesetze zu gewöhnen. Sie waren dann nicht nur gegenüber den Periöken sehr tüchtig, sondern auch gegenüber allen Hellenen (§ 4). Ähnlich wie in den Parallelüberlieferungen entwickelt sich auch in dieser Darstellung die spartanische Verfassung nicht aus einem politischen Prozess heraus, sondern sie wird allein auf Lykurg zurückgeführt. Die Verdienste Lykurgs werden mit seiner besonderen Tugend verbunden, während seine νόμοι als Grund für die Tugend der Spartaner betrachtet werden. Diese nachträgliche Konstruktion sollte die besonderen Verhältnisse in Sparta sowie die lange währende Hegemonie der Stadt über Griechenland erklären. Dass Lykurg ins Zentrum der frühesten spartanischen Geschichte gerückt wird, hängt mit dem Konzept des Nikolaos zusammen, an den Anfang jeden Reiches einen Heros beziehungsweise einen Gesetzgeber zu stellen. 745   Auch Thukydides und Xenophon verwenden durchgehend das Wort ἐκκλησία. Zur Apella in Sparta vgl. Schulz (2003), S. 60-61; Thommen (2003), S. 108-111. Zur Diskussion über den Namen der Institution vgl. Welwei (1997); Luther (2006). 746   Plut., De liberis educandis 4 (mor. 3B); Apophthegmata Laconica (mor. 225F226B).

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102161



3.5.  Buch 7 (F 57-70): Archaisches Griechenland, Lyder

und

Perser

3.5.1.  Fragment 57 (Exc. de insidiis p. 20,6) Einordnung: Bei diesem konstantinischen Exzerpt zum siebten Buch des Nikolaos handelt es sich um eine der wichtigsten Quellen zur Machtübernahme des Kypselos in Korinth und zum Sturz der Bakchiaden. Zusammen mit den Fragmenten 58 bis 60 gehört die Überlieferung zu einer Darstellung der korinthischen Geschichte. 747 Die Herrschaft des Kypselos, die ins siebte Jahrhundert v. Chr. einzuordnen ist, gilt als erste Tyrannis in Griechenland. Wie die Fragmente 7 und 8 ist das Exzerpt vom griechischen Aussetzungsmythos geprägt: Kypselos soll als Kind beseitigt werden, doch er überlebt, kehrt nach einiger Zeit aus dem Exil in seine Heimat zurück und übernimmt schließlich die Herrschaft. 748 Gegenüber der Überlieferung Herodots handelt es sich bei der hier erhaltenen Version um eine Rationalisierung, worauf etwa der Teil über die Rettung des Kypselos hindeutet. 749 Als Vorlage hat Nikolaos womöglich das Werk des Ephoros verwendet. 750 Noch stärker als die Parallelüberlieferungen lässt das Fragment auf eine nachträgliche Anerkennung der Usurpation des Kypselos schließen. Die positive Darstellung des Machtwechsels in Korinth bringt eine kypselosfreundliche Perspektive zum Ausdruck. 751 Diese äußert sich etwa darin, dass Kypselos nicht als τύραννος, sondern als βασιλεύς bezeichnet wird. Auffällig ist, dass dem gestürzten Vorsteher der Bakchiaden in dem Textauszug zwei verschiedene Namen gegeben werden: In § 1 heißt er Hippokleides und in § 6 wird er Patrokleides genannt. Ähnlich wie die Namenswechsel der Könige in den Fragmenten 44/46, 47 und 59/60 ist dies auf einen Fehler der konstantinischen Schreiber zurückzuführen. Auch mit den Parallelüberlieferungen ist nicht zu rekonstruieren, wie der Bakchiade hieß. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Der erste Satz des Fragments gibt als Thema der Darstellung den Sturz des letzten Bakchiaden und die Machtübernahme durch Kypselos an, der über die weibliche Verwandtschaft selbst ein Bakchiade war. Dass Kypselos zum korinthischen Herrschergeschlecht gezählt wird, verleiht seiner Machtübernahme Legitimität. Über die Vorgeschichte ist bei Diodor zu erfahren, dass die Bakchiaden über längere Zeit das politische Oberhaupt Korinths stellten, bis sie eine Form kollektiver Herrschaft von 200 Vertretern der Sippe einführten, die von Kypselos beendet worden sei. 752 Dies lässt sich   Zur Geschichte Korinths vgl. Gehrke (1986), S. 128-133.   Zum Motiv der Aussetzung des Kypselos vgl. Binder (1964), S. 150-151. Zur Darstellung Herodots im Speziellen vgl. Wesselmann (2011), S. 203-204. 749   Hdt. 5,92; vgl. Jacoby (1926b), S. 248. 750   Jacoby (1926b), S. 248. 751   Berve (1967), S. 16; De Libero (1996), S. 140. 752   Diod. 7,9. 747 748

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mit der Überlieferung bei Herodot verbinden, der von einer Oligarchie der Bakchiaden berichtet. 753 Offenbar berief sich das Herrschergeschlecht auf Herakles, obwohl der Name der Bakchiaden von König Bakchis abgeleitet war, wie bei Herakleides Lembos zu lesen ist. 754 Dieser Umstand weist auf einen früheren Machtwechsel hin. Ein Sturz der Herakliden durch ein konkurrierendes Geschlecht würde die Änderung des Dynastienamens erklären. Schon vor der Usurpation durch Kypselos bestand offenbar das Bedürfnis, die Herrschaft genealogisch zu legitimieren. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass es in der Oberschicht eine Reihe innerer Konflikte gab. 755 Bei Nikolaos legen die Verben βασιλεύω (§ 1; 6) sowie das Substantiv βασιλεύς (§ 6) nahe, dass Kypselos König von Korinth wurde, während Aristoteles, Diodor und Herodot seine Herrschaft als Tyrannis bezeichnen. 756 Dass mit Hippokleides beziehungsweise Patrokleides ein Korinther genannt wird, der die Macht verliert, lässt sich mit einer Vorrangstellung, ähnlich der eines Archon basileus, erklären. Die Bezeichnung Prytanis für den höchsten Amtsträger kommt bei Nikolaos nicht vor. Kypselos stürzte wohl eine Oligarchie, die durch Ämter organisiert war, und errichtete ein Königtum. Dass der Machtwechsel positiv erscheint, ist darauf zurückzuführen, dass Nikolaos die Herrschaftsübernahme des Kypselos als Wiederherstellung einer früheren Ordnung in Form einer anerkannten Alleinherrschaft darstellt. In den § 1-2 geht es um einen Orakelspruch, der den Bakchiaden ihren Sturz voraussagt. Laut Exzerpt versuchten sie ihrem Schicksal zu entgehen, indem sie den neu geborenen Kypselos beseitigen. Als Bewaffnete jedoch ins Haus des Aetion, des Vaters des Kypselos, gingen, bekamen sie Mitleid und ließen von ihrem Vorhaben ab. Wie die Prophezeiung für Kypselos in § 4 ist wohl auch der Orakelspruch im ersten Teil des Fragments auf das Orakel von Delphi zurückzuführen. Von der Weissagungsstätte wurde offensichtlich ein Machtwechsel in Korinth begrüßt. 757 Der Versuch, das vorausgesagte Schicksal zu umgehen, beschleunigt wie in den Fragmenten 8 und 66 den Eintritt der Prophezeiung. Die Verfolgung des Kindes und seine Rettung werden von Herodot ausführlicher beschrieben. Das Motiv, dass ein Kind aus Mitleid verschont wird, ist auch aus seiner Darstellung des Kyros bekannt. 758 Außerdem sind bei Herodot die Worte der Pythia überliefert. Nikolaos hat in seiner Darstellung ausgelassen, dass die Bewaffneten zu Kypselos zurückkehren, um ihn zu ermorden. Auch die Herleitung seines Namens von κυψέλη, der Lade, in der Kypselos versteckt wurde, fehlt. In der Universalgeschichte soll auch Aipytos in Fragment 31 als Kind ermordet werden. Mit   Hdt. 5,92ε.   Heraclid. Lemb. fr. 19 Dilts. 755   Bernstein (2004), S. 76; Schmitz (2010c), S. 24-25. 756   Aristot., pol. 5,1315 b25; Diod. 7,9,6; Hdt. 5,92ε. 757   Zu den Beziehungen zwischen Korinth und Delphi im siebten Jahrhundert v. Chr. vgl. Scott (2014), S. 57-58. 758   Hdt. 1,112. 753 754

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Ödipus hat Kypselos gemeinsam, dass er trotz seiner adligen Abstammung verstoßen wird. 759 Das Erzählmotiv, dass es unter den Labdakiden und Kypseliden Fälle von Behinderungen gibt, die den Untergang des Geschlechts andeuten, legt nahe, dass die Geschichte des Kypselos an die des Ödipus angelehnt ist. 760 Bei Nikolaos soll die drohende Kindstötung Mitleid beim Leser erwecken und die Spannung der Geschichte steigern. Die märchenhafte Rettung des Kypselos deutet die Erfüllung des Orakelspruchs an. In den § 3-4 geht es um den Aufstieg des Kypselos. Nikolaos zufolge brachte sein Vater ihn nach Olympia, wo er wie ein Schutzflehender aufgezogen wurde. Als Jüngling zeichnete sich Kypselos vor allen anderen aus. Er vernahm aus Delphi einen vorteilhaften Götterspruch und ging nach Korinth. Dort wurde er zu einem angesehenen Bürger, weil er als tapfer, besonnen und gemeinnützig galt. Dagegen verfuhren die anderen Bakchiaden übermütig und gewalttätig. Der hier beschriebene Machtzuwachs des Kypselos weist Parallelen zum Aufstieg des Gyges in Fragment 47 und des Kyros in Fragment 66 auf: Die Protagonisten zeichnen sich durch ihr Äußeres sowie durch ihre Tätigkeit für den König aus, sie steigen im Ansehen und erreichen schließlich Positionen, in denen sie die Herrschaft anfechten können. Attribute wie ἀνδρεῖος und σώφρων sind Ideale des Adels und entsprechen den Eigenschaften guter Herrscher wie Arbakes im zweiten und dritten Fragment. Kypselos wird bei Nikolaos den Bakchiaden gegenübergestellt, obwohl er zu ihrem Geschlecht gehört, wie die Worte τοὺς ἄλλους Βακχιάδας erneut deutlich machen. Die Herrschenden verwirken ihren Machtanspruch durch Hybris und Gewalt, während Kypselos als geeigneter Kandidat für die politische Führung über Korinth erscheint. 761 Sein Aufenthaltsort in Olympia, dem bedeutendsten Ort für den Zeuskult, weist wie die Orakelsprüche aus Delphi darauf hin, dass Kypselos Rückhalt bei den Weissagestätten hatte. Laut § 5 bekam Kypselos das Amt des Polemarchos und führte dieses besser aus als alle vor ihm. Bei den Korinthern bestand der Rechtsbrauch, dass Verurteilte zum Polemarchos geführt werden, der sie wegen der Strafzahlungen [ἐπιτιμία] einsperrte, von denen auch ihm ein Teil zustand. Kypselos ließ aber weder jemanden einsperren noch fesseln, sondern er akzeptierte Bürgen. Er wurde selbst zu einem Bürgen und erließ allen seinen Anteil. Aus dem Textabschnitt geht hervor, dass Kypselos durch die Bekleidung eines hohen Amtes in die politische Elite Korinths eintrat. Nikolaos stellt ihn aber als volksnah dar, wie die Erwähnung seiner Beliebtheit in der Menge [πλῆθος] zeigt. Statt Verurteilte in Haft zu nehmen, die ihren vom Gericht verhängten Strafzahlungen [ἐπιτιμία] nicht nachkamen, akzeptierte er als Alternative zum gängigen Verfahren Bürgen und bekam ein hohes Ansehen, weil er niemanden durch eine Fesselung entehrte. Kypselos vertrat die Interessen der Verurteilten,   Binder (1964), S. 151; Vernant (1982), S. 26-27.   Zu den Gemeinsamkeiten des Kypselos mit Ödipus vgl. Schmitz (2014), S. 77. 761   Schmitz (2010c), S. 28. 759 760

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indem er auf seinen Anteil an der Strafzahlung verzichtete. Die Erwähnung der Entschädigung für den πολέμαρχος in Korinth ist bemerkenswert, weil sie auf eine rechtshistorische Entwicklung hindeuten könnte, an deren Ende die Zahlung der Strafsumme an eine öffentliche Kasse stand. Die Zulassung von Bürgen lässt auf ein frühes Stadium der rechtlichen Entwicklung schließen. Dass der πολέμαρχος für ein δικαστήριον die Strafzahlung eintreiben sollte, wird in der Forschung mehrheitlich akzeptiert. 762 L. de Libero weist den Bericht jedoch zurück, weil er einem institutionalisierten Denken des vierten Jahrhunderts v. Chr. entstamme. 763 Im vorletzten Teil des Fragments (§ 6) geht es um den Machtwechsel in der Polis: Bei Ausbruch des inneren Konflikts stellte sich Kypselos auf die Seite der Menge. Er erzählte den Korinthern von seiner früheren Verfolgung und vom Orakelspruch, nach dem er dazu bestimmt sei, die Bakchiaden zu stürzen. Die Korinther waren ihm ohnehin zugetan und folgten ihm. Kypselos stellte eine Hetairie zusammen und tötete den Herrscher Patrokleides, der lästig und gesetzlos war. Offenbar kam es in Korinth zu einer Stasis zwischen Anhängern der Bakchiaden und anderen Korinthern. Kypselos äußerte einen Machtanspruch und berief sich dabei auf das Orakel von Delphi, wie die Verbreitung der Prophezeiung nahelegt (Kap. 2.3.2.2.). Dass er als Polemarchos gegen die übrige Herrscherelite aufbegehrte, stellt einen Missbrauch seines Amtes dar, sofern es sich bei dem Archontat nicht um eine spätere Konstruktion handelt. 764 Ähnlich wie bei anderen Vertretern der archaischen Tyrannis bildete wohl auch für Kypselos eine hohe militärische Position die Voraussetzung für seine Machtübernahme. 765 Nikolaos spricht der Herrschaft der Bakchiaden, denen hier Patrokleides vorangestellt wird, mit den Worten ἐπαχθής und παράνομος die Legitimität ab. Bei der Hetairie handelt es sich um einen Zusammenschluss gleichgesinnter Aristokraten, die in ihrer Gegnerschaft zu den Herrschenden mit Kypselos verbunden waren. Welche Gruppen Kypselos noch hinter sich vereinigen konnte, wurde in der Forschung kontrovers diskutiert. 766 Vielleicht hoffte die ländliche Bevölkerung auf eine wirtschaftliche Entlastung durch die Machtkonzentration und die damit einhergehende Schwächung des Adels. 767 Die Auseinandersetzungen sind jedenfalls nicht auf einen ethnischen Konflikt zurückzuführen. 768 Wie am Ende von § 6 zu lesen ist, sei Kypselos vom Volk als König eingesetzt worden. Auch Laios in   Schmitz (2010c), S. 27; Berve (1967), S. 16; Zörner (1971), S. 54; Bockisch (1982), S. 65. 763   De Libero (1996), S. 140. 764   De Libero (1996), S. 140. 765   Anderson (2005), S. 195-196. 766   Zörner (1971), S. 89-99; Salmon (1984), S. 192-193; De Libero (1996), S. 140141. Zum Anteil der Bürger und den Grundlagen ihrer Mobilisierung in klassischer Zeit vgl. Gehrke (1985), S. 339-351. 767   De Libero (1996), S. 400. 768   Schmitz (2010c), S. 27. 762

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Fragment 7 und Gyges in Fragment 47 können sich als Könige auf eine Einsetzung durch den δῆμος berufen. Am Ende des Fragments geht es um die Herrschaft des Kypselos (§ 7-8). Er gab den Geflohenen, die von den Bakchiaden für rechtlos erklärt worden waren, ihre Rechte zurück, und schickte seine Gegner in die Kolonien Leukas und Anaktorion. Seine unehelichen Söhne Pylades und Echiades setzte er als Kolonievorsteher [οἰκισταί] ein. Die Bakchiaden, deren Besitz er konfiszierte [δημεύω], vertrieb er nach Korkyra. Kypselos regierte für 30 Jahre und er hinterließ vier Söhne, von denen einer rechtmäßig und die anderen Bastarde waren. Dieselbe Angabe der Herrschaftsdauer ist auch bei Herodot überliefert. 769 Kypselos konsolidierte seine Macht, indem er die Gegner der Bakchiaden aus dem Exil zurückkommen ließ und somit für eine größere Akzeptanz seiner Herrschaft sorgte. Gleichzeitig vertrieb er die Oligarchen und brachte seine Feinde dazu, in Kolonien zu ziehen. Die Stadt Korkyra, in die die Bakchiaden flohen, war eine solche Kolonie. Für die weitere Geschichte Korinths ist Korkyra von besonderer Bedeutung, wie die Fragmente 59 und 60 zeigen. Das Verb δημεύω drückt bei Nikolaos eine Einziehung des Besitzes seiner Gegner aus und meint nicht, wie vermutet wurde, dass er Landgüter an bedürftige Kleinbauern verteilte. 770 Dass er zwei seiner unehelichen Söhne als οἰκισταί einsetzte, sollte den Handel mit den Kolonien sichern und Thronfolgekonflikten in Korinth vorbeugen. Wie Fragment 58 belegt, konnte auf diese Weise eine konfliktfreie Machtübergabe an den ältesten Sohn Periandros erfolgen. 771 Anaktorion und Leukas werden auch bei Strabon in Zusammenhang mit einer Kolonisation der Korinther unter Kypselos erwähnt. 772 Mit der Anmerkung, Kypselos habe auf milde Weise ohne Leibwache [δορυφόροι] geherrscht, bringt Nikolaos am Ende zum Ausdruck, dass seine Position in Korinth weitgehend akzeptiert war. Den Verzicht auf eine Leibwache erwähnt auch Aristoteles. 773 Insgesamt lässt sich dem vorliegenden Exzerpt entnehmen, dass es in Korinth eine Oligarchie gab, unter der Kypselos aufstieg, großen Rückhalt bei den Einwohnern bekam und schließlich die Macht an sich riss. Anders als in den Parallelüberlieferungen wird seine Herrschaft nicht als Tyrannis bezeichnet, vielmehr weist das nachfolgende Fragment, in dem Periandros die Herrschaft gemäß Altersvorrecht erhält, auf ein Königtum mit genealogischer Thronfolgeregelung hin. Nikolaos schreibt Kypselos eine Abstammung von den Bakchiaden (und damit von Herakles) zu. Insbesondere die gerechte Machtausübung soll Kypselos aber   Hdt. 5,92ζ.   Brandt (1989), S. 210. 771   Die Gründung mehrerer griechischer Kolonien ist darauf zurückführen, dass jüngere Söhne eines Herrscherhauses Anhänger um sich sammelten und in die Fremde zogen, weil sie keine Aussicht auf die Herrschaft hatten, vgl. Schmitz (2014), S. 46-47 (Speziell zur Entsendung der unehelichen Söhne des Kypselos: S. 79). 772   Strab. 10,2,8 (452C 8-13). 773   Aristot., pol. 5,1315 b25-30. 769 770

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in der Darstellung Legitimität verleihen. 774 Wie die Überlieferung des Fragments in den Excerpta de insidiis nahelegt, waren die konstantinischen Schreiber vorwiegend an den ἐπιβουλαί in der Geschichte interessiert. Infolge der Nachstellungen kam es zu einer Alleinherrschaft, deren Fortgang im nächsten Fragment thematisiert wird. 3.5.2.  Fragment 58 (Exc. de virtut. 1 p. 342,22) Einordnung: Mit einer Darstellung des korinthischen Herrschers Periandros, dem Sohn des Kypselos, setzt dieses konstantinische Exzerpt zum siebten Buch die vorangegangene Überlieferung fort. Zusammen mit den beiden nachfolgenden Fragmenten behandelt der Textauszug die Geschichte Korinths. Unter Periandros erlebte die Polis im siebten Jahrhundert v. Chr. einen wirtschaftlichen und militärischen Aufschwung. Es gibt eine Vielzahl von Überlieferungen über Periandros. Schon Herodot hatte über ihn geschrieben. 775 Aristoteles nennt ihn exemplarisch für die griechische Tyrannenherrschaft. 776 Als Quelle hat Nikolaos wohl auf Ephoros zurückgegriffen, von dem zwei Fragmente bei Diogenes Laertius erhalten sind. 777 Ephoros berichtet wie Nikolaos von einer Umwandlung der korinthischen Monarchie in eine Tyrannis. 778 Obwohl die Machtübernahme des Periandros gemäß Altersvorrecht in diesem Textauszug auf ein rechtmäßiges Königtum hindeutet, wird ihm die Legitimität seiner Herrschaft mit Motiven, die aus der Tyrannentopik bekannt sind, abgesprochen. Diese Narrative ähneln denen, die Peisistratos, dem Tyrannen von Athen, zum Vorwurf gemacht wurden. 779 Von besonderer Bedeutung ist das Exzerpt aufgrund der Erwähnung eines Verbots des Sklavenhandels. Zu diesem Gesetz gibt es bei den anderen Tyrannen keine Parallele. 780 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Wie dem Fragment zu entnehmen ist, verwandelte Periandros die Königsherrschaft in eine Tyrannis. Er hatte 300 Speerträger. Den Bürgern verbot er, Sklaven zu erwerben und Muße zu haben. Aus Furcht bestrafte Periandros jeden, der sich auf der Agora niederließ. Mit dem Leichnam seiner Frau soll er Geschlechtsverkehr gehabt haben. Außerdem zog er unaufhörlich ins Feld und ließ Trieren bauen, mit denen er beide Meere befuhr. Nikolaos zufolge werde fälschlich behauptet, dass er zu den Sieben Weisen gehöre.   Parmentier (2001), S. 97.   Hdt. 5,92ζ-θ; 5,95. 776   Aristot., pol. 5,1315 b25-30; vgl. Hölkeskamp (1999), S. 157. 777   FGrHist 70 F 178-179 = Diog. Laert. 1,96-98. 778   FGrHist 70 F 179. 779   Jacoby (1926b), S. 249; Anderson (2005), S. 197. 780   Schmitz (2010c), S. 39. 774 775

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Der Anfang des Fragments legt nahe, dass die Begriffe βασίλεια und τυραννίς bei Nikolaos qualitativ unterschieden werden: Kypselos, dessen Herrschaft in Fragment 57 positiv geschildert wurde, erscheint in der Universalgeschichte (anders als in den Parallelüberlieferungen) als βασιλεύς, und nun wird Periandros als τύραννος bezeichnet, um ihn seinem Vater gegenüberzustellen. Die Verwendung der Worte hängt dabei mit der Akzeptanz der Herrschaft zusammen. Kypselos war laut Fragment vom Volk zum βασιλεύς ernannt worden, Periandros machte sich dagegen mit seinen Maßnahmen bei den Korinthern unbeliebt. 781 Die Erwähnung der 300 δορυφόροι hat die Funktion, die Gegensätzlichkeit zwischen Kypselos und Periandros zu betonen, denn nach Fragment 57 hatte Kypselos auf eine Leibwache verzichtet. Bei Aristoteles ist zu lesen, dass Kypselos ohne Leibwache regierte, sein Sohn aber wie ein Tyrann herrschte. 782 Auch Herodot, Ephoros und Herakleides Lembos nennen die δορυφόροι des Periandros. 783 Die Einrichtung einer persönlichen Wachmannschaft, die den Schutz des Herrschers gewährleistete und seine Macht demonstrierte, gehörte zu den typischen Maßnahmen eines Tyrannen. Die negativen Wertungen dieser Vorkehrung lassen sich auf spätere Verurteilungen zurückführen. 784 Der Vorwurf, dass Periandros mit ὠμότης und βία regierte, soll darauf hinweisen, dass er die Korinther gewaltsam unterdrückte. Auch in den Fragmenten 61 und 79 wird die Tyrannenherrschaft mit ὠμότης und βία verbunden. Das Verbot, Sklaven zu erwerben, kennt auch Herakleides Lembos, der die Maßnahme in Verbindung mit einer Beschränkung von Luxus [τρυφή] bringt. 785 Auch in der Forschung wurde das Gesetz als Maßnahme gegen übermäßigen Luxus gedeutet. 786 Daneben kam die These auf, dass Periandros Handwerker beziehungsweise freie Landarbeiter vor Konkurrenz durch Sklavenbetriebe schützen wollte. Periandros könnte das Ziel verfolgt haben, die „traditionelle bäuerliche Arbeitsorganisation“ abzusichern, indem er „den Erwerb von Sklaven verbot und Angehörige der unterbäuerlichen Schicht von der Agora verwies.“ 787 Für diese Interpretation spricht der Zusammenhang der Bestimmungen mit dem Verbot des Müßiggangs. Ein Gesetz gegen Untätigkeit findet sich auch bei Solon, der die wirtschaftliche Stabilität der bäuerlichen Höfe sichern wollte. 788 Periandros hielt mit seiner Reform Landarbeiter von der Stadt fern und beschränkte gleichzeitig auf drastische Weise den aufwendigen Lebensstil der Adligen. 789 Ob sich   Zörner (1971), S. 156-157. Zur Verwendung der Begriffe βασιλεύς und τύραννος bei Nikolaos vgl. Parmentier (1991). 782   Aristot., pol. 5,1315 b25-30. 783   Hdt. 5,92η; FGrHist 70 F 179; Heraclid. Lemb. fr. 20 Dilts. 784   Schmitz (2010c), S. 37. 785   Heraclid. Lemb. fr. 20 Dilts. 786   Salmon (1984), S. 200. 787   Schmitz (2010c), S. 40. 788   Schmitz (2004c), S. 190-202. 789   Zörner (1971), S. 207. 781

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die Maßnahme jedoch mehr gegen Landbesitzende oder gegen Arme richtete, lässt sich nicht bestimmen. 790 In jedem Fall sind die Neuerungen als Teil einer konsolidierenden Innenpolitik zu verstehen, mit der eine Anfechtung der Herrschaft durch konkurrierende Adlige oder einfache Korinther erschwert wurde. Die Erklärung des Nikolaos für die Vertreibung der Bürger von der Agora ist zu vernachlässigen, denn die Maßnahme erscheint nicht als geeignetes Mittel, um einen Anschlag auf Periandros zu verhindern. 791 L. de Libero hält die Verbote des Müßiggangs und des Sklavenerwerbs für Konstruktionen, die Ansichten des vierten Jahrhunderts v. Chr. zum Ausdruck bringen. 792 Außerdem sei „eine Beschränkung der von Luxus geprägten Lebensweise durch einen aristokratisch bestimmten Tyrannen […] sehr unwahrscheinlich.“ 793 K.-J. Hölkeskamp lässt die Frage der Historizität offen, bezweifelt aber, dass die Gesetze über formelle Verfahren verabschiedet wurden. 794 Innerhalb der Darstellung erfüllt die Wiedergabe der Gesetze die Funktion, den massiven Eingriff des Tyrannen in die Rechte der Korinther deutlich zu machen. 795 Für den Vorwurf der Nekrophilie, der auch bei Herodot vorkommt, gibt es mehrere Deutungen. 796 Der Geschlechtsverkehr mit dem Leichnam der Frau kann als Zeichen der Maßlosigkeit des Periandros und damit als Motiv der Tyrannentopik betrachten werden, wenn gezeigt werden soll, dass der Herrscher keine Grenzen kannte. Diese These lässt sich mit den Worten ὑπ ̓ ἔρωτος für die übermäßige Leidenschaft des Periandros stützen. Durch die sexuelle Devianz gibt es eine Verbindung zu Ödipus, der seine eigene Mutter zur Frau genommen hat (F 8). 797 Der Frevel weist aber auch auf die Unfähigkeit des Tyrannen hin, einen Thronfolger zu zeugen. Wie im nachfolgenden Fragment zu lesen ist, konnte er keinem seiner vier Söhne die Herrschaft hinterlassen. Nach Herodot, der nur zwei Söhne des Tyrannen kennt, sei einer erschlagen worden und der andere sei stumpfsinnig gewesen. 798 Dieses Schicksal deutet wie beim Lyderkönig Kroisos auf einen Fluch über dem Herrscherhaus hin (F 65-66). Herodot erklärt die Nekrophilie mit der Metapher, dass Brote in einen kalten Ofen geschoben werden. 799 Der Vergleich stützt die Interpretation der Darstellung als Kritik an der erfolglosen Nachfolgesuche und der gestörten sozialen Ordnung. 800 Die Anmerkung des Nikolaos, dass sich Periandros im Krieg auszeichnete [πολεμικός], bietet eine Erklärung für die korinthische Expansion in archaischer   Schmitz (2010b).   Schmitz (2010c), S. 39. 792   De Libero (1996), S. 158-159. 793   De Libero (1996), S. 157. 794   Hölkeskamp (1999), S. 157-158. 795   Schmitz (2010c), S. 37. 796   Hdt. 5,92η. 797   Vernant (1982), S. 29. 798   Hdt. 3,53. 799   Hdt. 5,92η. 800   Schmitz (2010c), S. 44. 790 791

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Zeit. Aristoteles nennt Periandros ebenfalls πολεμικός und erläutert damit seine lange Regierung. 801 Die Erwähnung des Baus von Trieren, mit denen beide Meere befahren wurden, soll zeigen, wie die Polis zur Seemacht aufgestiegen ist. Dieser Prozess war eine Voraussetzung für die Kolonisationspolitik und den Seehandel Korinths zwischen der Ägäis und dem Ionischen Meer. Nach Thukydides seien die Korinther die ersten gewesen, die griechische Trieren bauten und mit diesen in See stachen. 802 Dass Periandros, wie andere Gesetzgeber und Tyrannen seiner Zeit, zu den Sieben Weisen gezählt wurde, ist auch bei Diogenes Laertius zu lesen. 803 Auffällig ist, dass Nikolaos dem Herrscher die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe abspricht. Dies hängt mit der insgesamt negativen Darstellung des Tyrannen zusammen. 804 Schon Platon hatte Periandros aus dem Kreis der Sieben Weisen gestrichen und ihn mit Myson von Chen ersetzt. 805 Plutarch zufolge zählten einige, die Periandros nicht zu der Gruppe rechnen wollen, Epimenides von Phaistos dazu. 806 Die κακία des Periandros bilden jedenfalls den Grund für die Überlieferung des Fragments in den Excerpta de virtutibus et vitiis. Im nachfolgenden Textauszug wird die Darstellung der schlechten Herrschaft des Periandros mit seiner Nachfolgesuche fortgesetzt. 3.5.3.  Fragment 59 (Exc. de insidiis p. 21,18) Einordnung: Nachdem im vorangegangenen Fragment die Herrschaft des Korinthers Periandros thematisiert wurde, geht es in diesem konstantinischen Exzerpt, das dem siebten Buch zugeordnet ist, um das Schicksal seiner Söhne Euagoras, Lykophron, Gorgos und Nikolaos. Zusammen mit den Fragmenten 57, 58 und 60 ist die Überlieferung auf eine Darstellung der Geschichte Korinths zurückzuführen. Das Hauptmotiv des Textauszugs wurde bereits im vorangegangenen Fragment mit dem Vorwurf der Nekrophilie angedeutet, denn im Zentrum steht nun das Scheitern des Periandros bei der Suche eines Nachfolgers. Ähnlich wie in den Fragmenten 8 und 47 droht auch hier einem Adelshaus die Verwaisung. In den Parallelüberlieferungen bei Herodot und Diogenes Laertius kommen nur zwei Söhne vor. Herodot nennt den jüngeren Lykophron, hat aber keinen Namen für den älteren. Laertius, der sich auf Herakleides Pontikos beruft, kennt ebenfalls Lykophron und nennt dessen Bruder Nikolaos. 807 Möglicherweise hat Herakleides die Tradition mit dem Namen des Nikolaos ergänzt. Euagoras und Gorgos, die der Verfasser des vorliegenden Exzerpts als weitere Söhne nennt, wurden als Koloniegründer kultisch verehrt. Vielleicht waren sie wie Pylades und Echiades,   Aristot., pol. 5,1315 b25-30.   Thuk. 1,13. 803   Diog. Laert. 1,13. Zu den Sieben Weisen vgl. Althoff / Zeller (Hg.) (2006). 804   Zörner (1971), S. 44-45. 805   Plat., Prot. 343a. 806   Plut., Sol. 12,4. 807   Hdt. 3,50; Diog. Laert. 1,94. 801 802

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die in Fragment 57 als uneheliche Söhne des Kypselos Kolonien gründen, νόθοι des Periandros. Dies würde erklären, warum sie in den Parallelüberlieferungen nicht erwähnt werden. Als Quelle hat der Autor womöglich auf Ephoros zurückgegriffen. 808 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Wie dem einleitenden Satz zu entnehmen ist, verlor Periandros all seine Söhne, als er bereits im hohen Alter war. Herodot und Diogenes Laertius erwähnen ebenfalls das Greisenalter des Periandros und machen damit klar, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, um einen Nachfolger zu finden. 809 Bei Nikolaos wird Periandros, anders als sein Vater Kypselos, nicht als βασιλεύς (F 57), sondern als τύραννος bezeichnet. Dies hängt mit seiner Unbeliebtheit bei den Korinthern zusammen, die schon in Fragment 58 deutlich wurde und in diesem Textauszug durch die Anmerkung zum Ausdruck kommt, dass Periandros mit einem Aufbegehren der Korinther rechnete (§ 2). Die Todesumstände dreier Söhne des Tyrannen werden am Anfang der Überlieferung in Kürze abgehandelt: Euagoras starb, als er einen Verband von Kolonisten [ἀποικία] nach Potidaia führte, Lykophron, als er eine Tyrannis bei anderen Bewohnern der Gegend errichten wollte, und Gorgos, als er einen Wagen lenkte und auf den Kopf stürzte. Der Auszug des Euagoras weist wie die Handlung in Fragment 58 auf die korinthische Kolonisationspolitik in der archaischen Zeit hin. Die Gründung von Potidaia, die in die Zeit um 600 v. Chr. zu datieren ist, wird mit dieser Textstelle auf den Sohn des Periandros zurückgeführt. 810 Herodot und Diogenes Laertius berichten von einem Vater-Sohn-Konflikt zwischen Periandros und Lykophron. Dass letzterer laut vorliegendem Exzerpt nach einer eigenen Tyrannis strebte, ist der wahre Kern ihrer Darstellungen. Im Gegensatz zu den Parallelüberlieferungen steht hier aber nicht Lykophron im Zentrum der Handlung, sondern Nikolaos. Am Ende von § 1 wird als Thema des Exzerpts der Tod des Sohnes Nikolaos genannt, dessen Lebensende detaillierter als das seiner Brüder beschrieben wird. Laut Fragment war Nikolaos der maßvollste Sohn und er wurde von den Einwohnern Korkyras hinterlistig ermordet [δολοφονέω] (§ 1). Periandros dachte, dass die Korinther Nikolaos wegen seiner Milde als König akzeptieren würden, und beschloss nach Korkyra zu gehen. Einige Einwohner Korkyras schlossen sich aber für die Freiheit ihrer Heimatstadt zusammen und töteten Nikolaos (§ 2). Darauf nahm Periandros die Stadt ein und tötete 50 Einwohner, die schuldig waren. Ihre Söhne schickte er zum Lyder Alyattes, um sie kastrieren zu lassen. Auf Samos erhielten sie aber als Schutzflehende der Hera Schutz (§ 3).   Jacoby (1926b), S. 249.   Hdt. 3,53; Diog. Laert. 1,95. 810   Salmon (1984), S. 211-212. 808 809

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In diesem Textabschnitt wird Nikolaos durch die Zuschreibung von ἐπιείκεια seinem Vater gegenübergestellt. Das Adjektiv μετριώτατος zeichnet Nikolaos als besonders maßvoll aus und das Verb βασιλεύω für die geplante Herrschaftsausübung grenzt ihn von der Tyrannis seines Vaters ab. Dass sich ein Sohn des Periandros in Korkyra aufhielt und dort ermordet wurde, ist auch bei Herodot und Diogenes Laertius zu lesen, allerdings ist es in den Parallelüberlieferungen der Sohn Lykophron. 811 É. Parmentier und F. P. Barone fragen, ob dieser Unterschied auf einen Fehler der konstantinischen Exzerptoren zurückzuführen ist, aber dies ist nicht zu belegen. 812 Nach Korkyra waren die Bakchiaden laut Fragment 57 geflohen, als Kypselos an die Macht kam. Die Bezeichnung μητρόπολις ist darauf zurückzuführen, dass Korkyra eine korinthische Kolonie war. Der Mord des Sohnes des Periandros steht mit einem Fortgang des Konflikts zwischen dem gestürzten Herrschergeschlecht und den neuen korinthischen Machthabern in Verbindung. Bestrafungen von Feinden durch Kastration sind aus dem Alten Ägypten bekannt. 813 In dem Exzerpt wird nicht die Zahl der Kinder angegeben, die Periandros aus Rache für den Tod seines Sohnes kastrieren lassen wollte. Nach Herodot und Plutarch, der sich in seinen Moralia auf ersteren beruft, seien es 300 gewesen. 814 Bei Diogenes Laertius wird durch einen direkten Artikel suggeriert, dass es alle Kinder gewesen seien. 815 Die Rachsucht und die Bestrafung der Kinder sind tyrannenfeindliche Motive für die grausame Herrschaft des Periandros. Dass in diesem Exzerpt aber nur die Nachkommen der Mörder kastriert werden sollen, spricht gegenüber der Darstellung Herodots für ein weniger verzerrtes Bild des Tyrannen. Die Erwähnung Lydiens ist damit zu erklären, dass die antiken Autoren ihre Tyrannenkritik vielfach mit der verschmähten lydischen Tryphe in Verbindung brachten. 816 Mit Alyattes können zwei Könige gemeint sein, die in den Fragmenten der Universalgeschichte vorkommen: Der Vater des Sadyattes (F 63) sowie der Vater des Kroisos (F 63-65). Auch bei Herodot wird nicht deutlich, zu welchem Lyderkönig Periandros Kontakte pflegte. 817 Die historische Bedeutung des jüngeren Alyattes spricht aber dafür, dass der Vater des Kroisos gemeint ist. Der Hera-Tempel auf Samos war ein wichtiges Heiligtum, wie der archäologische Befund zeigt. Durch die Rettung der Kinder auf der Insel werden Assoziationen mit Fragment 57 geweckt, denn auch Kypselos war seinen Gegnern als Schutzflehender entkommen. Dass es nun sein eigener Enkel ist, der anderen Kindern Leid zufügen will, deutet den Niedergang der Herrschaft und das Ende der Kypseliden an (F 60).   Hdt. 3,52-53; Diog. Laert. 1,95.   Parmentier / Barone (2011), S. 110. 813   Bullough (2002), S. 6. 814   Hdt. 3,48; Plut., De Herod. mal. (mor. 859E-F); vgl. Dewald (2003), S. 37. 815   Diog. Laert. 1,95. 816   De Libero (1996), S. 162. 817   Hdt. 3,48. 811 812

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Aufgrund der Ermordung des Nikolaos ist das Fragment in den Excerpta de insidiis überliefert worden. Auch bei Herodot wird ein Sohn des Periandros erschlagen, während der andere als stumpfsinnig dargestellt wird. 818 Den Überlieferungen von Herodot und Nikolaos ist damit gemeinsam, dass Periandros nicht in der Lage ist, seine Macht weiterzugeben. Das Fragment endet mit der Anmerkung, dass Periandros seinem Neffen Psammetichos, dem Sohn des Gorgos, Korkyra überlassen habe und wieder nach Korinth gegangen sei. Psammetichos sollte als korinthischer Statthalter die Herrschaft über Korkyra konsolidieren. Der Schluss leitet zum nächsten Fragment über, in dem der Nachfolger des Periandros mit einem Mal Kypselos heißt. 3.5.4.  Fragment 60 (Exc. de insidiis p. 22,4) Einordnung: Mit diesem konstantinischen Exzerpt zum siebten Buch enden bei Nikolaos die Überlieferungen zur korinthischen Geschichte, um die es in den Fragmenten 57 bis 59 ging. Am Ende der Darstellung steht eine historische Zäsur in der Polis, denn laut Textauszug sei Kypselos, der Nachfolger des Periandros, von den Korinthern getötet worden, und das Volk habe eine neue politische Ordnung errichtet. Kypselos ist mit Psammetichos gleichzusetzen, den Periandros im vorangegangenen Fragment als Statthalter Korkyras eingesetzt hatte (F 59). In § 1 ist nämlich zu lesen, dass Kypselos aus Korkyra nach Korinth gekommen sei. Zudem wird er wie Psammetichos als Sohn des Gorgos, des Bruders des Periandros, eingeordnet. Aristoteles nennt den letzten Kypseliden Psammitichos (sic) und erwähnt ebenfalls die Abkunft von Gorgos. 819 Wahrscheinlich wurde Psammetichos in diesem Auszug mit Kypselos verwechselt. Ähnliche Fehler der konstantinischen Exzerptoren finden sich auch in den Fragmenten 47 und 57. Nach anderen Erklärungen gab sich Psammetichos mit seinem Herrschaftsantritt den Namen seines berühmten Großvaters, oder der letzte Tyrann von Korinth hieß tatsächlich Kypselos und nannte sich zu Ehren des ägyptischen Königs Psammetichos. 820 Quellen zur Herrschaftsdauer des Periandros und seines Vaters erlauben eine Einordnung des Geschehens ins frühe sechste Jahrhundert v. Chr. 821 Nach F. Jacoby war die Vorlage des Nikolaos wie in den vorangegangenen Teilen Ephoros. 822 Von besonderer Bedeutung ist das Fragment für die Geschichte der korinthischen Verfassung und das politische Gremium der πρόβουλοι. Das Fragment endet mit einem Verweis auf das Buch über Staatsangelegenheiten [περί πολιτικῶν], in dem die konstantinischen Exzerptoren Besonderheiten historischer Staatsverwaltungen zusammengefasst haben.   Hdt. 3,53.   Aristot., pol. 5,1315 b25-30. 820   Berve (1967), S. 21; 527; Austin (1970), S. 15; Salmon (1984), S. 229; De Libero (1996), S. 167; 176. 821   De Libero (1996), S. 138. 822   Jacoby (1926b), S. 250. 818 819

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Dem kurzen Exzerpt ist zu entnehmen, dass einige Korinther den Tyrannen Kypselos töteten und die Stadt befreiten. Das Volk riss die Häuser der Tyrannen ein und konfiszierte ihren Besitz. Kypselos wurde unbestattet über die Grenze gebracht und die Knochen seiner Vorfahren wurden aus ihren Gräbern geworfen (§ 2). Gemäß einer neuen Verfassung [πολιτεία] setzte das Volk ein Gremium von acht Vorberatern [πρόβουλοι] ein und wählte von den übrigen Männern einen Rat [βουλή] † von 9. Die Angabe, dass Kypselos kurze Zeit Tyrann gewesen sei, lässt sich mit der Überlieferung bei Aristoteles verbinden, der drei Jahre als Herrschaftsdauer angibt. 823 Der Sturz des Monarchen ist damit zu erklären, dass er aufgrund seiner langen Abwesenheit keinen ausreichenden Rückhalt in Korinth hatte. 824 Durch die Verweigerung einer ordentlichen Bestattung wurde Kypselos nach antiker Vorstellung jegliche Menschlichkeit vorenthalten. 825 Bei den τινὲς τῶν Κορινθίων, die ihn ermorden, handelt es sich wohl um Aristokraten. Die weiteren Maßnahmen werden in der Darstellung aber auf den δῆμος zurückgeführt. Deswegen deutete É. Parmentier die Absetzung des Herrschers als „une révolution démocratique“ 826. Beim Einreißen der οἰκίαι handelt es sich, wie in den Fragmenten 34 und 79, in denen die Wohnungen zweier Tyrannen in Brand gesetzt werden, um einen Rügebrauch (Kap. 2.3.3.1.). Dass der Adel aber einen wichtigen Anteil an der politischen Umgestaltung hatte, lässt sich aus der weiteren Entwicklung ableiten. Zu den πρόγονοι des Kypselos zählt auch der gleichnamige Dynastiebegründer. Dass das Volk das Grab des älteren Kypselos schändete, ist bemerkenswert, denn nach Fragment 57 war seine Herrschaft weitgehend anerkannt gewesen. Wahrscheinlich wirkte die Aristokratie auf diese Maßnahme hin. Auch die Landverteilung, die Zerstörung der Herrscherhäuser und die Konfiskation der Besitztümer gehen vermutlich auf die Aristokratie zurück. Die mehrfache Erwähnung des δῆμος erfüllt die Funktion, die neue Herrschaft mit dem Volkswillen zu legitimieren, da die Maßnahmen von einem Großteil der Korinther getragen wurden. Das Verb ἐλευθερόω für den politischen Wechsel bringt eine tyrannenfeindliche Perspektive zum Ausdruck. Aufgrund des Sturzes der Kypseliden ist das Fragment in den Excerpta de insidiis überliefert worden. Die πρόβουλοι sind nach Aristoteles ein oligarchisches Element im Wechsel der Verfassungen. 827 In Korinth könnte diese Gruppe, die laut Exzerpt aus acht Männern bestanden habe, aus Vertretern der Phylen zusammengesetzt gewesen sein. In der Suda heißt es nämlich, dass Korinth auf die Verbindung von Phylen zurückgehe. 828 Die Angabe bei Nikolaos, dass neun Männer in der βουλή gewesen seien, ist korrupt. Nach der Konjektur von É. Will besagt der letzte Satz,   Aristot., pol. 5,1315 b25-30.   De Libero (1996), S. 176. 825   Stickler (2010), S. 282-283. 826   Parmentier (1991), S. 236. 827   Aristot., pol. 4,1298 b26-41; 4,1299 b35-40; 6,1322 b16; 6,1323 a7. 828   Suda s. v. πάντα ὀκτώ. 823 824

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dass aus den übrigen Bürgern ein Rat von je neun Männern aus jeder Phyle zusammengestellt wurde. 829 Somit bildeten die 72 Bürger aus den Phylen zusammen mit den acht πρόβουλοι einen Rat von insgesamt 80 Männern (jede Phyle stellte also neun Ratsmitglieder und einen πρόβουλος). Auch Argos hatte in klassischer Zeit eine Versammlung von 80 Männern. Nach einer früheren Deutung ist das Zahlzeichen ‚Θ‘ im Fragment mit ‚Ο‘ zu korrigieren: Dann wären es 70 Männer aus sieben Phylen, die zusammen mit 10 πρόβουλοι aus der achten Phyle einen Rat mit 80 Mitgliedern bilden würden. 830 Die Stärke des Rates geht allerdings nicht aus dem Fragment hervor. Auch die Überlegung, dass das Gremium der πρόβουλοι kooptiert und die Ratsmitglieder gewählt wurden, ist nicht zu belegen. 831 Möglicherweise war das politische Organ der πρόβουλοι der βουλή gegenübergestellt. Beide Gremien bestanden vielleicht schon vor dem Sturz der Kypseliden. Über die Kompetenzen der Institutionen gibt das Fragment keine Auskunft, doch mit Sicherheit hatten sie nach dem Ende der Tyrannis eine große Bedeutung. 832 H. Berve vermutete, dass es sich bei der neuen Regierungsform um eine „gemäßigte Oligarchie“ gehandelt habe. 833 Darauf nahm É. Will in seiner Abhandlung Bezug, wobei er selbst die Bezeichnung „Oligarchie“ vermied, weil sie einem späteren Denkmuster entstammte. 834 Zuletzt kam Stickler zum Resultat, „daß es auf der gegenwärtigen Informationsbasis nicht möglich ist, eine Beschreibung der korinthischen Verfassung nach Art der athenischen oder auch nur der lakedaimonischen oder boiotischen Verfassung zu leisten.“ 835 Hinter dem abschließenden Verweis auf das Buch über Staatsangelegenheiten [περί πολιτικῶν] ist möglicherweise das Wort διοικήσεως zu ergänzen, das hier weggelassen wurde. 836 Fragmente zur weiteren Geschichte Korinths sind bei Nikolaos nicht erhalten. Vermutlich entwickelte sich dort eine stabile aristokratische Ordnung. Dass die Entwicklung Korinths von der anderer Poleis wie etwa Athen abwich, ist auf die lange Herrschaft der Bakchiaden und Kypseliden zurückzuführen. 837 3.5.5.  Fragment 61 (Exc. de insidiis p. 22,14) Einordnung: Dieses Fragment, das auf das siebte Buch zurückzuführen ist und in den Excerpta de insidiis überliefert wurde, handelt vom Sturz des Myron, des Herrschers von Sikyon, sowie von der Machtübernahme durch dessen Bruder   Will (1955), S. 609-615; vgl. Stickler (2010), S. 28.   Busolt (1893), S. 658; Lutz (1896); Will (1955), S. 614-615. 831   Will (1955), S. 614; vgl. Stickler (2010), S. 28. 832   Berve (1967), S. 17; Salmon (1984), S. 205-209; 231-239; 413-419; Anderson (2005), S. 199. 833   Berve (1967), S. 25. Schon Busolt (1893, S. 658) war von einer „gemäßigt oligarchische[n] Verfassung“ ausgegangen. 834   Will (1955), S. 617-618; vgl. Gehrke (1985), S. 82; Stickler (2010), S. 31. 835   Stickler (2010), S. 33. 836   Büttner-Wobst (1906), S. 114. 837   Schmitz (2014), S. 91. 829 830

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102175



Kleisthenes, der für seine Beteiligung am Ersten Heiligen Krieg bekannt ist. 838 Nikolaos zufolge führte Myron seine Abstammung auf Orthagoras zurück. Auch in Plutarchs Moralia ist Myron ein Nachfahre des Orthagoras. 839 Bei Herodot und Pausanias werden Vorfahren des Kleisthenes und des Myron aufgezählt, darunter ihr Vater Aristonymos. 840 Nach F. Jacoby schließt der vorliegende Textauszug an ein Papyrus-Fragment über die Tyrannenzeit an. 841 Mit den Parallelüberlieferungen lassen sich Myron, Kleisthenes und ihr Bruder Isodemos, über den nur Nikolaos schreibt, in die Zeit zwischen dem ausgehenden siebten und dem ersten Drittel des sechsten Jahrhunderts v. Chr. einordnen. 842 Laut der Politika des Aristoteles dauerte die Herrschaft des Orthagoras und seiner Söhne einhundert Jahre, und ihre Tyrannis habe sogar länger bestanden als die der Kypseliden. 843 Auffällig ist, dass Nikolaos den Charakter des Myron als böse, den des Isodemos als gutmütig und den des Kleisthenes als listig darstellt, wobei sich der listige Kleisthenes im Thronstreit durchsetzt. Die ἐπιβουλή gegen Myron hängt gemäß einer Passage bei Aristoteles, in der es um den Sturz von Tyrannen geht, mit den Schandtaten des Herrschers zusammen. 844 Der Vorwurf sexueller Übergriffe durch Myron ist demnach der Tyrannentopik zuzuschreiben. 845 Als Quelle des Nikolaos kommt Ephoros in Frage, der die Geschichte vermutlich mit Isodemos ergänzt hat. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Wie in § 1 betont wird, war Myron in Bezug auf Frauen wie in jeder anderen Hinsicht zügellos [ἀκόλαστος]. Er schändete sie nicht nur heimlich, sondern auch unverhohlen [φανερῶς]. Sogar mit der Frau seines Bruders Isodemos beging er Ehebruch. Dass Myron im ersten Satz als βασιλεὺς bezeichnet wird, hängt mit seinem Anspruch zusammen, von Orthagoras abzustammen. 846 In § 3 wird für seine Herrschaftsausübung das Verb τυραννεύω verwendet. Myrons Verhalten erscheint als besonders frevelhaft, weil er nicht einmal danach strebt, seine Übergriffe zu verbergen, und weil er sogar seine Schwägerin schändet. Selbst in seinem eigenen Haus kann er also keinen Frieden halten. Auch der Lyderkönig Sadyattes verging sich nach Fragment 63 an Frauen aus seiner eigenen Familie. Bei Herodot begehrt der Perserkönig Xerxes seine Schwägerin. 847 Myron erscheint durch die Vorwürfe bereits zu Beginn der Darstellung als gewaltsamer Tyrann, der seinen Herrschaftsanspruch verwirkt hat.   Skalet (1928), S. 55. Zur Geschichte Sikyons vgl. Gehrke (1986), S. 138-140.   Plut., De sera numinis vindicta (mor. 553B). 840   Hdt. 6,126; Paus. 2,8,1. 841   FGrHist 105 F 2; vgl. Jacoby (1926b), S. 250. 842   De Libero (1996), S. 181. 843   Aristot., pol. 5,1315 b10-25. 844   Aristot., pol. 5,1311 b5-10. 845   De Libero (1996), S. 186. 846   Carlier (1984), S. 400. 847   Hdt. 9,108. 838 839

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Die folgenden Reaktionen erklärt der Autor mit den Charaktereigenschaften der Königsbrüder: Isodemos war von seiner Art her einfach [ἁπλοῦς] und harmlos [ἄκακος], Kleisthenes dagegen listig [δόλιος]. Kleisthenes stachelte Isodemos an, indem er sagte, dass er Rache am Täter nehmen würde (§ 2). Über das Motiv des Kleisthenes ist zu erfahren, dass er dadurch die Tyrannis erlangen wollte, dass der eine Bruder sterbe und der andere aufgrund der Ermordung seines Bruders den Göttern keine Opfer mehr darbringen könne. Wie in diesem Abschnitt deutlich wird, war die Erfüllung kultischer Aufgaben eine Voraussetzung für die Machtausübung. Lag eine Blutschuld vor, so führte dies nach Nikolaos zu einem Ausschluss von der politischen Führung. L. de Libero hält diese Folgerung für eine Projektion späterer Verhältnisse auf die Zeit der archaischen Tyrannis. 848 Die Vorstellung einer kultischen Befleckung durch Tötung ist allerdings schon für das sechste Jahrhundert v. Chr. durch ein Sakralgesetz aus Kleonai belegt. 849 Kleisthenes war wohl der jüngste der drei Brüder, denn er rechnet in der Geschichte erst mit seiner Machtübernahme, wenn Myron stirbt und Isodemos seinen Herrschaftsanspruch aufgibt. Auffällig ist, dass er letzteren stark in seinem Handeln beeinflussen kann. Damit steht in Zusammenhang, dass an mehreren Stellen des Fragments von der gutmütigen [εὐήθεια] und harmlosen [ἄκακος] Art des Isodemos zu lesen ist (§ 2; 3; 5). Laut § 3 hatte Kleisthenes Erfolg mit seinem Plan, denn Isodemos tötete Myron, nachdem dieser sieben Jahre als Tyrann geherrscht hatte. Obwohl Isodemos den Göttern nun keine Opfer mehr darbringen konnte, teilte Kleisthenes die Herrschaft mit ihm, weil Isodemos großes Bedauern äußerte und er Kleis­ thenes von seiner Ehrlichkeit überzeugte. Das Motiv des Fratrizids taucht mehrfach in der Universalgeschichte auf (F 1; 48; 50). Ähnlich wie in Fragment 50 bleibt der vorliegende Fall nicht ohne Folgen. Aus den letzten beiden Abschnitten wird deutlich, dass die Mitbeteiligung des Isodemos an der Macht nur eine Verschleierung der Absichten des Kleisthenes war (§ 4-5). In der Anmerkung, dass die Einwohner vor allem dem furchterregenden [φοβερός] und tatkräftigen [δραστήριος] Kleisthenes ergeben waren, äußert sich seine starke Dominanz gegenüber Isodemos. Nach Nikolaos fasste Kleisthenes den Plan, sich mit Chairedemos, einem Freund des Isodemos, zu verbünden. Chairedemos sollte Isodemos dazu bewegen, wegen des Mordes gemäß ihrer Sitte [ἔθος] für ein Jahr ins Exil zu gehen, um die Herrschaft für sich und seine Kinder zu sichern (§ 4). Auch Herakles und der Lyderkönig Meles müssen in der Universalgeschichte ihre Heimat für eine bestimmte Zeit verlassen (F 13; 45). Statt ἔθος wird in Fragment 13 der Begriff νόμος verwendet. Vermutlich beziehen sich beide Wörter nicht auf ein kodifiziertes Gesetz, sondern auf eine normierte Rechtsauffassung. Die Regelung hängt aber auch mit dem schriftlich überlieferten drakontischen Recht zusammen, das 848 849

  De Libero (1996), S. 187.   IG 4 1607, vgl. Koerner (1993), S. 93-95.

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102177



für eine Tötung ohne Vorsatz eine Verbannung vorsah. 850 Ein Exil sollte die Polis von der Befleckung durch die Blutschuld eines Mörders befreien. 851 Die zeitliche Befristung weist darauf hin, dass der Ausschluss aus der Stadtgemeinschaft in der Regel begrenzt war. In der Zeit der Abwesenheit des Isodemos sollte sein Bruder Kleisthenes die Stadt regieren, doch anders als Meles in Fragment 45 erhält der Exilant seine Herrschaft hier nicht wieder zurück: Laut Exzerpt warf Kleisthenes seinem Bruder vor, dass dieser in Korinth mit den Kypseliden eine Intrige gegen ihn plane [ἐπιβουλεύω]. Mit einem Heer hinderte Kleisthenes ihn daran, zurückzukehren. Von allen Tyrannen war Kleistehenes der gewalttätigste [βιαιότατος] und grausamste [ὠμότατος]. Er schickte viele Hilfstruppen aus und hatte Bundesgenossen. Seine Herrschaft endete schließlich nach 31 Jahren (§ 5). Am Ende des Fragments kommt es also zu einer zweiten ἐπιβουλή, die sich gegen Isodemos richtet. Der historische Kern der Überlieferung könnte darin liegen, dass Kleisthenes nach Myrons Sturz einige Gegner für sich gewann und andere zur Flucht zwang. Die Bündnispolitik deutet die Expansionsbestrebungen an, die zu Konflikten mit Argos und der Beteiligung des Kleisthenes am ersten Heiligen Krieg führten. Die Erwähnung der Kypseliden legt eine enge Verbindung der Tyrannen von Sikyon zu den korinthischen Herrschern nahe. Der Vorwurf der Grausamkeit ist topisch: Die Worte ὠμότης und βία werden auch in den Fragmenten 58 und 79 mit der Tyrannenherrschaft verbunden. Aristoteles nennt die Machtübernahme des Kleisthenes als Beispiel dafür, dass eine Tyrannis in eine zweite Tyrannis umschlagen kann. 852 In diesem Zusammenhang ist der Name des Isodemos als Hinweis auf seine politische Gegnerschaft zu Kleisthenes zu verstehen. Während letzterer die brutale Alleinherrschaft verkörpert, stellt der Namensbestandteil δῆμος in Isodemos einen Bezug zum Volk her. Damit steht die einfache Art des Isodemos in Verbindung, die sich negativ als Einfalt und Naivität deuten lässt. Am Ende der Geschichte hat der listige Kleisthenes die Macht des bösen Myron und des gutmütigen Isodemos übernommen. Über das weitere Geschehen in Sikyon finden sich in den Fragmenten des Nikolaos keine Hinweise. 3.5.6.  Fragment 62 (Exc. de virtut. 1 p. 343,6) Einordnung: Das konstantinische Exzerpt ist dem siebten Buch des Nikolaos zugeordnet und handelt von Magnes aus Smyrna, der aufgrund seiner Schönheit und seiner Dichtkunst zum Geliebten des Gyges wurde, bevor die Magnesier ihn angriffen und ihm Schande zufügten. Der Lyderkönig Gyges, von dessen Machtübernahme Fragment 47 berichtet, ist als historischer Herrscher des siebten   IG I³ 104, Z. 11. Zum athenischen Blutrecht vgl. Koerner (1993), S. 27-41.   Schubert (2012), S. 22. 852   Aristot., pol. 5,1315 a30. 850 851

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Jahrhunderts v. Chr. belegt. Magnes ist als athenischer Dichter der Alten Komödie bekannt, der insgesamt elf Siege bei den Festen des Dionysos feierte, von denen zwei auf die Jahre 472 und 471 v. Chr. zu datieren sind. Die Ähnlichkeit der Namen des Magnes und der Magnesier ist auffällig. Nach F. Jacoby könne dies auf einen Fehler der konstantinischen Exzerptoren zurückgehen. 853 Die Entehrung des Magnes durch das kleinasiatische Volk sollte möglicherweise die Expansion der Lyder unter Gyges erklären, allerdings berichtet Herodot nichts von einem Krieg der Lyder gegen Magnesia. 854 Die novellistische Darstellung des Nikolaos lässt sich kaum mit historischen Fakten stützen. Parallelüberlieferungen zu dem Fragment gibt es nicht und die Vorlage für den Textauszug ist nicht zu identifizieren. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment schmückte Magnes seinen Körper mit purpurner Kleidung und sein langes Haar mit einem goldenen Band. Er wurde zu einem Geliebten [παιδικός] des Gyges. Die Magnesier rissen ihm die Kleidung vom Körper und schoren ihm die Haare ab, weil er mit ihren Frauen geschlafen hatte, wobei sie ihm vorwarfen, dass er in Gedichten über den Kampf gegen die Amazonen die Lyder pries, die Magnesier aber nicht erwähnte. Aufgrund der Entehrung [λώβη] des Magnes unterwarf Gyges die Magnesier. Mit seiner Schönheit, Dichtung und Musik erfüllt Magnes zwar Ideale des Adels, doch durch seine Bezeichnung als παιδικός des Gyges äußert sich auch eine Abweichung von der männlichen Geschlechterrolle. Seine Beschreibung erinnert an den Assyrerkönig Sardanapal, der aufgrund seiner Weichlichkeit gestürzt wird (F 2-3). Der Zusammenhang der Geschichte mit dem Lyderkönig Gyges ist ein Hinweis auf die lydische Tryphe, die vielfach von antiken Autoren geschmäht wurde. 855 Der Reichtum des Magnes ist auf seine Beziehung zum Usurpator Gyges zurückzuführen. Diesem begegnete er auf seinen Reisen als Wanderdichter, wie dem Exzerpt zu entnehmen ist. Gyges rächte sich an den Magnesiern, weil er die Entehrung des Magnes als Angriff auf seine eigene Herrschaft betrachtete. Das Zufügen der λώβη steht in Zusammenhang mit der Normtransgression des Magnes: Die purpurne Kleidung und das Goldband des Magnes sind als Zeichen übersteigerten Verhaltens durch die Zurschaustellung von Luxus zu verstehen. Sein Äußeres brachte durch das Purpur und das Gold einen Machtanspruch zum Ausdruck und seine Gedichte berücksichtigten vor allem die Leistungen der Lyder, mit denen Magnes durch seine Beziehung zu Gyges verbunden war. Unklar ist, warum die Magnesier dies als Vorwand nutzten, wenn sie Magnes für ein Sexualvergehen bestraften. Dass es vor allem um den Ehebruch ging, zeigt das Kahlscheren, das auch aus anderen Quellen als Strafe für μοιχεία bekannt ist. 856   Jacoby (1926b), S. 250.   Bekannt sind Feldzüge gegen Milet, Smyrna und Kolophon, vgl. Hdt. 1,14. 855   De Libero (1996), S. 162. 856   Zum Kahlscheren von Ehebrechern in Athen vgl. Schmitz (1997), S. 93-94. 853 854

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102179



Die Entkleidung galt bei den Lydern und anderen Völkern als große Schande, wie bei Herodot steht. Dass Magnes nackt erblickt wurde, stellt einen Bezug zu Gyges her, der im Werk Herodots die lydische Königin beim Ausziehen beobachtet hatte. 857 Die Entkleidung des Magnes wurde auch als Ritual beim Eintritt in das Erwachsenenalter interpretiert, während der Angriff auf ihn als Generationenkonflikt gedeutet wurde. 858 Nach É. Parmentier und F. P. Barone spiegelt das Fragment dagegen die alte Auseinandersetzung zwischen Lydern und Griechen wider. Einerseits repräsentiere Magnes durch seine Kleidung den lydischen Luxus und erscheine in dieser Hinsicht als ungriechisch, andererseits weise er durch seine Dichtung auf die Verbindung der Lyder zum griechischen Mythos hin, wie an der Verherrlichung des Kampfs gegen die Amazonen deutlich werde. 859 Die Überlieferung des Fragments in den Excerpta de virtutibus et vitiis ist darauf zurückzuführen, dass die Rache des Gyges an denen, die seinem Geliebten Schaden zufügten, als tugendhaft wahrgenommen wurde. Näheres zu dem Geschehen ist in den antiken Zeugnissen nicht zu finden. 3.5.7.  Fragment 63 (Exc. de virtut. 1 p. 343,21) Einordnung: In diesem Fragment aus den Excerpta de virtutibus et vitiis, das dem siebten Buch des Nikolaos zugeordnet ist, geht es um den Lyderkönig Sadyattes, der sich zügellos [ἀκόλαστος] in Bezug auf Frauen verhalten habe. Sadyattes, der Nikolaos zufolge ein Sohn des Alyattes I. war, gehörte zur Dynastie der Mermnaden. Herodot schreibt über Sadyattes, dass er einen Krieg gegen Milet begonnen habe, den sein Sohn fortsetzte. 860 Als Parallelüberlieferung findet sich ansonsten ein Fragment des Xenophilos, der berichtet, dass Alyattes (oder nach einer anderen Lesart Sadyattes) seine eigene Schwester Lyde heiratete und mit ihr den Sohn Alyattes zeugte. 861 Das Motiv des Inzests findet sich auch in dem SudaArtikel ἀδελφειός, der offenbar auf das Fragment des Nikolaos zurückgeht. 862 Der Vorwurf des sexuellen Übergriffs ist Bestandteil der gängigen Tyrannentopik. 863 Von besonderer Bedeutung ist der vorliegende Textauszug, weil er eine Auseinandersetzung am lydischen Hof erwähnt, die aus keiner anderen Quelle bekannt ist. Die Vorlage des Nikolaos geht wahrscheinlich auf eine Tradition von Xanthos zurück. 864   Hdt. 1,10.   Dodd / Faraone (2003), S. 121-122. 859   Parmentier / Barone (2011), S. 116-117. 860   Hdt. 1,17-18. 861   FGrHist 767. 862   Paradiso (2015). 863   De Libero (1996), S. 186. 864   Schubert (1884), S. 42. 857 858

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Textauszug war Sadyattes zwar in Kriegsangelegenheiten vortrefflich, in anderer Beziehung aber zügellos [ἀκόλαστος]. Er rief seine Schwester, die Frau des Miletos, zu einem Heiligtum, schändete sie und behielt sie fortan als Frau (§ 1). Miletos floh nach Daskyleion und später nach Prokonnesos (§ 2). Kurze Zeit später heiratete Sadyattes zwei andere Frauen, die Schwestern waren. Von diesen bekam er die Bastarde Attales und Adramys, von seiner Schwester aber den rechtmäßigen Sohn Alyattes (§ 3). Aufgrund der differenzierten Bewertung des Sadyattes in § 1 ist das Fragment in der konstantinischen Sammlung überliefert worden. Wie Sadyattes soll auch Gyges nach Fragment 47 in Kriegsangelegenheiten vortrefflich [γενναῖος] gewesen sein. Als ἀκόλαστος wird wiederum Myron, der König von Sikyon, in Fragment 61 bezeichnet, weil er seine Schwägerin vergewaltigte. Weder Myron noch Sadyattes sind bei Nikolaos dazu in der Lage, den Frieden in ihren eigenen Häusern zu bewahren. Das Verhalten des Sadyattes erscheint als besonders frevelhaft, weil er seine Schwester in ein Heiligtum lockt, um sie zu vergewaltigen. Wegen der Abhängigkeit des Suda-Eintrags ἀδελφειός vom Fragment des Nikolaos schlägt Paradiso vor, das Wort ἀδελφή mit ἀδελφιδή zu korrigieren. Der Lyderkönig habe also nicht seine Schwester, sondern seine Nichte geschändet. 865 Das Motiv, dass Übeltaten in Kultstätten begangen werden, kommt auch in den Fragmenten 1 und 91 vor (Kap. 2.3.2.2.). Miletos muss am lydischen Hof in hohem Ansehen gestanden haben, denn er war ein Nachkomme des Gyges und bekam die Schwester des Sadyattes zur Frau. Offenbar geriet er aber in Ungnade, denn Sadyattes löste seine Ehe, vertrieb ihn aus Sardeis und verfolgte ihn sogar in seinem Exil in Daskyleion, wie die zweite Flucht des Miletos auf die Insel Prokonnesos zeigt. 866 Auffällig ist, dass Μίλητος in dieser Überlieferung eine Person ist, während bei Herodot die Stadt Milet gemeint ist, die von Sadyattes angegriffen wird. 867 Dass Herrscher ihre Gegner fern der Heimat verfolgen, ist auch in den Fragmenten 44 und 46 zu lesen. Dieses Motiv weist ebenso auf Maßlosigkeit hin wie die Erwähnung der Verbindung des Sadyattes mit zwei weiteren Frauen, die Schwestern waren. Dabei richtet sich die Kritik wohl weniger gegen die Polygamie als gegen den Umstand, dass alle Frauen des Herrschers entweder untereinander oder mit ihm selbst verwandt waren. Nach Herodot hatte auch der Perserkönig Kambyses zwei seiner Schwestern geheiratet. 868 Die überwiegend negative Darstellung des Sadyattes soll auf den Fluch der Mermnaden hinweisen, der in Fragment 68 zum Sturz des Kroisos und zum Machtverlust der Dynastie führt. Verkehrte Verhältnisse äußern sich auch in der Anmerkung, dass Alyattes als Kind aus der Inzestbeziehung zwischen Sadyattes und seiner Verwandten zum rechtmäßigen Sohn   Paradiso (2015).   Paradiso (2015). 867   Hdt. 1,17-18. 868   Hdt. 3,31. 865 866

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102181



erklärt wird, während die anderen Söhne des Königs als νόθοι bezeichnet werden. Adramys war möglicherweise der Namensgeber der Stadt Adramyteion, aber nach Stephanos Byzantios war der Eponym Sohn des Alyattes und Bruder des Kroisos. 869 Mit Alyattes II., der bei Nikolaos die Nachfolge des Sadyattes übernimmt, wird die Geschichte Lydiens im nachfolgenden Fragment fortgesetzt. 3.5.8.  Fragment 64 (Exc. de virtut. 1 p. 344,5) Die byzantinische Überlieferung ist dem siebten Buch des Nikolaos zugeordnet und gehört zur lydischen Geschichte, denn es geht um den Mermnadenkönig Alyattes II., den Nachfolger des Sadyattes. Laut Exzerpt war Alyattes in seiner Jugend ein Frevler [ὑβριστὴς] und verhielt sich zügellos [ἀκόλαστος], aber als Mann war er sehr besonnen [σωφρονέστατος] und gerecht [δικαιότατος]. Er führte einen Krieg gegen Smyrna und nahm die Stadt ein. Diese Darstellung stimmt in etwa mit einem Abschnitt aus der Suda überein. 870 Bei Herodot werden die Eroberung Smyrnas und weitere Kriegszüge des Alyattes erwähnt. 871 Ein Fragment des Xenophilos berichtet über die Entwicklung des Alyattes vom ὑβριστὴς zum gerechten König: Er habe die Kleidung anderer Lyder zerrissen und sie bespuckt, bis er sich aus Liebe zu seiner Mutter Lyde geändert habe. 872 Die Schilderung ist wohl auf die lydische Geschichte des Xanthos zurückzuführen. Auffällig ist, dass Alyattes durch das zügellose Verhalten eine Gemeinsamkeit mit seinem Vater aufweist (F 63). Dass er im Mannesalter zu einem guten König wird, ist als Emanzipation von der Herrschaft des Sadyattes zu verstehen. Die Besonnenheit und Gerechtigkeit legitimieren seine Machtausübung und erklären den militärischen Erfolg gegen Smyrna. Seine Bezeichnung als ὑβριστὴς weist jedoch darauf hin, dass er wie sein Vater dem Fluch der Mermnaden unterworfen ist, der in Fragment 68 zum Sturz des Kroisos führt. Aufgrund der differenzierten Bewertung des Alyattes ist die vorliegende Darstellung in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert worden. 3.5.9.  Fragment 65 (Exc. de virtut. 1 p. 344,9) Einordnung: Das Exzerpt, das in konstantinischer Zeit zum siebten Buch des Nikolaos verfasst wurde, handelt vom Lyder Kroisos, der sich von den Verleumdungen seiner Gegner freisprechen und gemäß dem Befehl seines Vaters Alyattes II. ein Heer nach Sardeis führen will. Der Mermnadenkönig Alyattes wurde bereits im vorangegangenen Fragment genannt. In Fragment 68 gibt Kroisos als letzter Angehöriger seiner Dynastie die Herrschaft an den Perser Kyros ab.   Steph. Byz. s. v. Ἀδραμύτειον; vgl. Jacoby (1926b), S. 250.   Suda s. v. Ἀλυάττης. 871   Hdt. 1,16-22. 872   FGrHist 767; vgl. Schubert (1884), S. 43. 869 870

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Die hier überlieferte Geschichte geht wohl auf die Lydiaka des Xanthos zurück. 873 Eine Parallelüberlieferung findet sich bei Herodot, der davon berichtet, dass Kroisos das Vermögen eines Feindes, der seinen Halbbruder Pantaleon zum König machen wollte, den Göttern stiftete. 874 Dies passt zum vorliegenden Textauszug, dem zu entnehmen ist, dass Kroisos das Haus eines Fernhändlers der Göttin Artemis weihte (§ 4). Bei Aelian ist zu lesen, dass Kroisos von Pamphaes ein Geldgeschenk erhalten habe und ihm dafür nach seinem Herrschaftsantritt einen Wagen voll Gold schenkte. 875 Auch bei Nikolaos wird Pamphaes für seine Unterstützung mit dem Gold belohnt (§ 4). Der Befehl des Alyattes an seinen ältesten Sohn Kroisos, ein Heer nach Sardeis zu bringen, ist auch in einem Eintrag der Suda überliefert, der wohl auf die Universalgeschichte des Nikolaos zurückgeht. 876 Die vorliegende Darstellung enthält viele narrative Elemente wie den ἔμπορος, der badet, während Kroisos vor den Toren warten muss (§ 2). Von besonderer Bedeutung ist der Textauszug, weil er die ausführlichste Quelle zum Aufstieg des Kroisos unter seinem Vater Alyattes ist. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Textauszug befahl Alyattes seinen Männern, an einem festgelegten Tag mit einem Heer nach Sardeis zu kommen, um einen Feldzug nach Karia zu führen. Unter ihnen war auch Kroisos, der die Herrschaft über Adramyttion sowie über die Gegend um Theben erhielt. Kroisos wurde aber verleumdet, denn man behauptete, dass er wegen seiner Zügellosigkeit [ἀκολασία] dem Befehl nicht folgen könne (§ 1). Diese Darstellung stimmt mit einem Abschnitt aus der Suda überein, der zusätzlich die Erläuterung enthält, dass Alyattes die Stadt Priene belagerte. 877 Das Wort ἄρχων ist im Sinne einer Statthalterschaft zu verstehen, die Kroisos über Teilgebiete des Lyderreiches hatte. Kroisos war also schon zu Lebzeiten seines Vaters an der Herrschaft beteiligt. 878 Der Vorwurf der ἀκολασία wurde auch dem Vater und dem Großvater des Kroisos gemacht, um den Niedergang der Herrschaft anzudeuten (F 63-64). Die Verleumdungen gegen Kroisos stehen wohl mit seinem jungen Alter in Zusammenhang. Nikolaos zufolge brauchte Kroisos, der die Beschuldigung entkräften wollte, Söldner. Um sich Geld zu leihen, ging er zum reichen Fernhändler Sadyattes. Dieser forderte ihn auf, draußen zu warten, solange er bade. Dann sagte er, dass er ihm nichts geben könne, weil Alyattes viele Kinder habe und sein Vermögen nicht ausreiche, sollten sie ihn alle um Geld bitten (§ 2-3). Die Not des Kroisos zeigt, dass seine Mittel, die ihm als Statthalter zur Verfügung standen, verbraucht waren und dass er vom Befehl seines Vaters überrascht   Parke (1984), S. 218.   Hdt. 1,92. 875   Ael., VH 4,27. 876   Suda s. v. Ἀλυάττης; vgl. Paradiso (2015). 877   Suda s. v. Ἀλυάττης. 878   Schubert (1884), S. 59. 873 874

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wurde. 879 Möglicherweise hatten die Vorwürfe seiner Gegner eine Berechtigung. Da er unter seinen Untertanen keine ausreichende Zahl von Soldaten rekrutieren konnte (vielleicht war das lydische Heer bei Adyattes vor Priene), musste er auf irreguläre Truppen zurückgreifen, für deren Entlohnung er sich in der Darstellung an Sadyattes wendet. Bei diesem handelt es sich nicht um eine historische Person, vielmehr soll die Darstellung des badenden ἔμπορος, der Kroisos warten lässt, demonstrieren, dass überhebliches Verhalten nicht folgenlos bleibt. Der ἔμπορος erscheint als schlechter Gastgeber und die Begründung seiner Zurückweisung ist abwegig. Seine Gegnerschaft zu Kroisos wird am Ende der Geschichte mit dem Verlust seiner Macht bestraft. Der königliche Name des ἔμπορος ist ein Indiz für seine Identifikation mit dem Anhänger des Pantaleon, den Herodot nennt. 880 Den folgenden Abschnitten ist zu entnehmen, dass Kroisos auf seiner Geldsuche nach Ephesos kam und gelobte, Artemis das Haus des Fernhändlers zu stiften, wenn er König werde. Der Ionier Pamphaes, ein überaus reicher Freund des Kroisos, bat seinen Vater Theocharides um tausend Stater. Dieses Geld gab er dann Kroisos (§ 3-4). Dass der Freund des Kroisos aus Ionien stammte, weist auf eine griechische Perspektive der Geschichte hin. Sowohl Sadyattes als auch Pamphaes können auf große Geldmittel zurückgreifen, doch der lydische Fernhändler weist Kroisos aus Geiz zurück, während der Grieche ihn bereitwillig unterstützt. Aelian berichtet, dass Pamphaes aus Priene stammte und Kroisos 30 Minen schenkte. 881 Nach § 4 erhielten Pamphaes und Sadyattes ihre jeweilige Entlohnung: Pamphaes habe einen Wagen voll Gold bekommen, während Kroisos das Haus des Fernhändlers der Artemis stiftete. Die Anmerkung, dass Kroisos gemäß dem Gelübde selbst die Grundmauern übergab und nichts übrigließ, soll auf seine Frömmigkeit hinweisen. Er gab nämlich den gesamten Erlös aus dem Verkauf des Hauses weiter, ohne selbst einen Anteil zu behalten. Auf die Frömmigkeit des Kroisos wird in Fragment 68 (§ 5) durch eine Rede seines Sohnes Bezug genommen. Wie in § 5 zu lesen ist, stellte Kroisos mit dem Geld des Pamphaes ein Heer zusammen und rückte gemeinsam mit seinem Vater in Karia ein. Infolge dieser Tat wurde er mächtiger als diejenigen, die ihn verleumdet hatten. Mit dem Ausgang der Handlung ist die Gerechtigkeit wiederhergestellt, denn Kroisos kann die Verleumdungen entkräften und nimmt seinen verdienten Platz an der Seite seines Vaters ein. Das Fragment zeigt, dass Nikolaos Interesse an märchenhaften Darstellungen hatte. 882 Wie bei Herodot spielte Kroisos auch in der Universalgeschichte eine wichtige Rolle für die Darstellung des Hegemonie­ wechsels von den Medern zu den Persern. In den nachfolgenden Überlieferungen thematisierte Nikolaos nämlich die Jugend und die Machtübernahme des Kyros, um ihn dann in Fragment 68 auf seinen Kontrahenten Kroisos treffen zu lassen.   Parke (1984), S. 218.   Hdt. 1,92; vgl. Parmentier / Barone (2011), S. 118-119. 881   Ael., VH 4,27. 882   Parke (1984), S. 218. 879 880

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3.5.10.  Fragment 66 (Exc. de insidiis p. 23,23) Einordnung: Dieses Fragment, das aus den Excerpta de insidiis stammt und dem siebten Buch der Universalgeschichte zugeordnet ist, thematisiert die „große Wende“ (§ 1), die zum Sturz des Meders Astyages und zur Herrschaft der Perser unter Kyros führt. Wie in Fragment 3 kommt auch hier die Vorstellung zum Ausdruck, dass es eine Abfolge verschiedener Weltreiche gab. 883 Historischer Hintergrund der Darstellung ist die Entstehung des Achaimenidenreiches im sechsten Jahrhundert v. Chr. Offenbar gab es in byzantinischer Zeit ein großes Interesse an der dynastischen Zäsur, denn das vorliegende Exzerpt ist die längste Überlieferung des Nikolaos. Kyros galt zwar als besonders guter Herrscher, wie aus Fragment 67 hervorgeht, aber mehrere Motive wie die geringe Herkunft des Persers weisen auf die Illegitimität des Machtwechsels hin. Das Exzerpt zeigt, dass Nikolaos dem ersten und dem letzten Vertreter jedes Königsgeschlechts eine besondere historische Bedeutung zusprach. In § 1 ist nämlich zu lesen, dass Astyages der edelste nach Arbakes gewesen sei. Der Vorgänger des Astyages, der durch eine korrupte Stelle am Anfang des Exzerpts fehlt, hieß Diodor zufolge Astibaras. 884 Nikolaos zog Parallelen zwischen der Machtübernahme des Arbakes (F 2-3) und dem medisch-persischen Dynastiewechsel: So denkt Kyros an den Sturz Sardanapals (§ 12); wieder wird ein Traum eines Babyloniers als Vorzeichen für einen Umsturz gedeutet (§ 9); das Gespräch des Kyros mit seinem Vertrauten Oibaras erinnert an die Unterhaltung zwischen Arbakes und Belesys (§ 15); und in beiden Geschichten treten Vorzeichen auf, die in Zusammenhang mit Pferden stehen (§ 13). Einige Motive wie der Aufstieg des Usurpators aus der Armut lassen sich bis auf babylonische Quellen des fünften Jahrhunderts v. Chr. zurückverfolgen. 885 Dass es in der Antike zahlreiche Berichte über Kyros gab, hatte schon Herodot geschrieben, auf den die meisten griechischen Überlieferungen zurückgehen. 886 Die Tradition, der Nikolaos folgte, war aber von Ktesias geprägt, der die Version Herodots stark verändert hatte. Dies zeigt sich darin, dass Kyros bei Nikolaos und Ktesias nicht adliger Abstammung ist (§ 3). 887 Nach F. Jacoby liegt hier eine reine Exzerpierung ohne besondere Veränderungen vor. 888 R. Laqueur meint dagegen, dass Nikolaos zwei Quellen miteinander verbunden habe, weil das Kyrosbild Widersprüche aufweise. 889 An längeren Parallelüberlieferungen findet sich eine Darstellung von Trogus. 890 Eine Besonderheit des Fragments sind die   Alonso-Núñez (2002), S. 99.   Diod. 2,34,6. 885   Drews (1974), S. 391-392. 886   Hdt. 1,95; 1,214. Zur Kyros-Biographie bei Herodot vgl. Will (2015), S. 190-191. 887   FGrHist 688 F 9; vgl. Lenfant (2000), S. 304-309. 888   Jacoby (1926b), S. 251. 889   Laqueur (1936), Sp. 382-383. 890   Pomp. Trog. 1,4-5. 883 884

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zahlreichen Dialoge, die zur Dramatisierung des Geschehens beitragen, indem sie eine bessere Identifikation mit den Charakteren ermöglichen. In § 31 und 44 gibt es Verweise auf konstantinische Sammlungen, die allerdings nicht überliefert sind. Inhaltswiedergabe und Kommentar: 3.5.10.1.  Der Aufstieg des Kyros (§ 2-7) Der Geschichte ist eine Darstellung eines medischen Rechtsbrauchs [νόμος] vorangestellt: Um sein Überleben zu sichern, konnte sich ein Armer [πένης] in den Schutz eines Wohlhabenden begeben. Er wurde dann als Sklave betrachtet, konnte aber gehen, wenn er keine ausreichende Verpflegung erhielt (§ 2). Bei dieser Form der abhängigen Arbeit handelt es sich möglicherweise um die eines freien Gesindes, das durch eine mündliche Übereinkunft für eine festgelegte Zeit in die Gemeinschaft eines Hauses eintrat. Solche Vereinbarungen sicherten dem Gesinde neben Nahrung und Kleidung auch einen Lohn zu. Durch Abschluss derartiger Verträge hatte der Hausherr den Vorteil, keinen hohen Preis für Sklaven aufwenden zu müssen und dennoch eine gewisse Sicherheit zu haben, die Arbeitskraft über einen festgelegten Zeitraum einsetzen zu können. Zugleich bot freies Gesinde die Flexibilität, ihren Einsatz nach Vertragsende erneut dem Arbeitskräftebedarf anpassen zu können. 891 Für die Historizität des medischen Brauchs spricht, dass die archäologischen Zeugnisse im iranischen Raum vielfältige Formen der Lohnarbeit kennen. 892 Die Darlegung dieses νόμος soll den weiteren Lebensweg des Kyros erklären. Kyros stammt hier anders als bei Herodot nicht vom Mederkönig Astyages ab. 893 Laut Fragment sei Kyros vom Stamm der Mardoi der Sohn des Atradates, der aus Armut raubte, und der Ziegenhirtin Argoste gewesen (§ 2). „Atradates“ ist wohl eine falsche Form von „Mithradates“ beziehungsweise „Mithridates“. Bei Herodot ist dies der Name des Mannes, von dem Kyros aufgezogen wurde. 894 Der Name „Argoste“ geht wahrscheinlich auf „Artoste“ beziehungsweise „Artystone“ zurück, die Herodot als Tochter des Kyros erwähnt. 895 Die Mardoi sind als persischer Nomadenstamm bekannt. 896 Zur Abstammung des Kyros steht im Widerspruch, dass sich das Haus seiner Vorfahren laut § 41 in Pasargadae befand. Daher wurde vermutet, dass in der Tradition, der Nikolaos folgte, aus dem altpersischen „Martiya“ für Vasall das Ethnikon Μάρδος geworden ist. 897   Schmitz (2004), S. 33-38; Schmitz (2010a).   Koch (2000), S. 54-55. 893   Hdt. 1,112-113. 894   Hdt. 1,110. 895   Hdt. 7,69. 896   Hdt. 1,125. 897   König (1972), S. 47; 49. 891 892

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Nach Herodot lebte Kyros zeitweise bei Rinderhirten, die wegen des Werts von Rindern einen höheren sozialen Status hatten als Ziegenhirten. 898 Während in Fragment 8 die Rettung des Ödipus durch Rinderhirten seinen Aufstieg voraussagt, weist die Herkunft des Kyros auf seine Armut hin. Die Abstammung von einem Räuber und einer Ziegenhirtin steht für die zwei Seiten der Herrschaft: Kyros raubte die Macht und die Länder anderer Könige, regierte aber wie ein Hirte, der sich um seine Herde kümmert. Die Räubermetapher ist auch bei Augustinus überliefert, der fragt, wo der Unterschied zwischen einem Reich und einer großen Räuberbande sei. 899 Auf die Abstammung des Kyros wird im Verlaufe der Darstellung mehrfach angespielt. Wie im Weiteren zu lesen ist, ging Kyros als junger Bursche [μειρακίσκος] zu einem königlichen Diener, der für die Schönheit des Palastes verantwortlich war (§ 3). Er begab sich in seinen Schutz und verschönerte den Palast sorgfältig. Später wurde Kyros demjenigen überstellt, der für die Schönheit im Inneren zuständig war. Weil Kyros bei ihm häufig ausgepeitscht wurde, kam er schließlich unter die Leuchtenträger (§ 4). Dieser Aufstieg des Kyros, der mit dem νόμος in § 2 zu verbinden ist, erinnert an eine Darstellung von Athenaios, der sich auf Dinon beruft: Nach seiner Version war Kyros erst Befehlshaber der Stabträger und später Vorsteher der königlichen Leibwache. 900 Außerdem gibt es eine Parallele zu Fragment 47, denn als Lanzenträger wurde auch Gyges im Palast des Königs aufgenommen, den er später stürzte. Das Auspeitschen des Kyros lässt sich wie in Fragment 4 als Kritik am Machthaber deuten, der keinen Frieden in seinem eigenen Haus halten kann. Das Partizip von καλλύνω erlaubt verschiedene Deutungen und wurde als Bezeichnung einer Gruppe von Palastkehrern, Fegern, Gärtnern und Dekorateuren verstanden. 901 In jedem Fall steht es für eine Tätigkeit der Verschönerung. Die wichtigste Phase des Aufstiegs des Kyros bildet seine Arbeit unter dem königlichen Mundschenk: Als Kyros auch unter den Leuchtenträgern einen guten Ruf bekommen hatte, ging er zu Artembares, dem obersten Eunuchen, der dem König die Trinkschale reichte (§ 5). Als Artembares alt und krank geworden war, nahm Kyros dessen Position ein (§ 6). Bevor der Eunuch starb, adoptierte er Kyros. Der König gab ihm das gesamte Vermögen des Artembares, sodass Kyros mächtig wurde (§ 7). Bei Herodot ist Artembares der Vater eines Spielkameraden von Kyros. 902 Die vorliegende Darstellung zeigt, dass die Arbeit in unmittelbarer Umgebung des Königs mit besonderem Prestige verbunden wurde. Artembares, der bereits zu Reichtum gekommen war, wollte für eine klare Erbregelung sorgen. Dieser   Hdt. 1,110-114.   Aug., civ. 4,4. 900   Athen. 14,33 (633d). 901   Laqueur (1936), Sp. 376; König (1972), S. 47; Drews (1974), S. 392; Parmentier / Barone (2011), S. 122. 902   Hdt. 1,114. 898 899

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Abschnitt belegt, dass Eunuchen am Königshof Kinder adoptieren und damit Eigeninteressen vertreten konnten. 903 Der königliche Mundschenk hatte eine emotionale Bindung zu Kyros, wie der Anmerkung zu entnehmen ist, dass er liebevoll zu ihm gewesen sei wie zu einem Sohn (§ 6). Kyros hatte inzwischen ein Alter erreicht, in dem abzusehen war, dass er die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen konnte: Der Wechsel seiner Beschreibung als μειρακίσκος in § 3 zu νεάνισκος in § 5 und 6 weist auf eine längere Tätigkeit im Palast hin. Die Adoption des Kyros soll wie die des Gyges in Fragment 47 die Illegitimität des Herrschaftswechsels unterstreichen. Das Wort δεσπότης, das für den Herrscher verwendet wird, ist wie in den Fragmenten 3, 4 und 8 mit einem Perspektivenwechsel vom Erzähler zu einer Person in der Darstellung zu erklären. 904 3.5.10.2.  Zur Familie des Astyages (§ 8) Durch die kurze Erwähnung der Tochter des Astyages und ihres Mannes Spitamas in § 8 wird die massive Kürzung der Quelle deutlich, denn weder die Tochter noch der Schwiegersohn des Königs kommen erneut vor. Weil ihnen im Zusammenhang mit der ἐπιβουλή keine große Bedeutung zugemessen wurde, haben die Exzerptoren sie im Folgenden weggelassen. Nach Ktesias, der Spitamas erwähnt, hieß die Tochter des Königs Amytis. Den Persika zufolge haben Amytis und Spitamas nach dem Machtwechsel bei der Suche nach Astyages geholfen, und Amytis sei zur Frau des Kyros geworden. 905 3.5.10.3.  Erstes Vorzeichen und Deutung (§ 9-12) Laut Textauszug ließ Kyros nach dem Tod des Artembares seine Eltern zu sich kommen. Die Mutter erzählte ihm von einem Traum, den sie in der Zeit ihrer Schwangerschaft hatte: Sie träumte so viel zu urinieren, dass ein Strom ganz Asien überflutete. Ein Chaldäer aus Babylonien sagte, dass die Verheißung großes Glück bedeute und geheim zu halten sei, damit der König sie nicht umbringe (§ 9). Das gleiche Vorzeichen wie in diesem Abschnitt ist auch bei Herodot überliefert, allerdings ist es bei ihm Astyages, der träumt, dass seine Tochter Mandane (die Mutter des Kyros) so stark Wasser lasse. Herodot erzählt auch von einem zweiten Traum, der ebenso bei Trogus überliefert ist, aber in der hier erhaltenen Tradition ausgelassen wurde. 906 Die Abweichung hängt mit der divergierenden Funktion der Träume zusammen: Bei Herodot werden die Maßnahmen des Königs gegen die Verheißungen zur Bedingung seines Sturzes. Seiner Darstellung   Pirngruber (2011), S. 383.   Parmentier (1991), S. 231. 905   FGrHist 688 F 9. 906   Hdt. 1,107-108; Pomp. Trog. 1,4. Zu den verschiedenen Versionen der Traumgeschichte vgl. Weber (2000), S. 139-140. 903 904

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liegt also das tragische Motiv zugrunde, dass alle Versuche, das von den Göttern verhängte Leid vermeiden zu wollen, ins Unglück führen. 907 In diesem Exzerpt erscheint der Traum dagegen wie im dritten Fragment einer Person im Umfeld des Protagonisten. Mit der Auskunft über das Vorzeichen wird Kyros dazu gebracht, die Macht zu übernehmen. Wie in Fragment 3 wird der Traum von einem Babylonier gedeutet, der laut § 11 besondere Kenntnisse in der Vorzeichendeutung hatte. Nikolaos hat das Wissen der Chaldäer auf alle Babylonier projiziert. Auffällig ist, dass der Babylonier nur bei der ersten Erwähnung als Chaldäer bezeichnet wird. 908 Das Traumbild musste in der Antike nicht näher erläutert werden: Die Assoziation vom Urin mit dem Samen und dem Nachkommen geht auf eine alte asiatische Tradition zurück. 909 Das Motiv der Überflutung ist als Eroberungszug zu deuten. Insofern passt der Traum besser in die Version des Nikolaos als in die von Herodot. Bei letzterem wird nämlich nicht klar, warum Astyages in Furcht gerät und wieso er seine Tochter heiraten lässt. 910 Im vorliegenden Fragment konkretisiert der Babylonier seine Deutung, indem er sagt, dass es das Schicksal des Kyros sei, Astyages zu stürzen und seine Königsherrschaft zu übernehmen (§ 12). Ähnlich wie Arbakes im dritten Fragment verspricht Kyros, dass er den Babylonier belohnen werde, sobald er König geworden sei. Die Erwähnung Asiens bringt eine Perspektive des Nikolaos zum Ausdruck. Laut Fragment machte Kyros seinen Vater zum Satrapen von Persien und seine Mutter zur vornehmsten Perserin (§ 10). Obwohl die Kadusier Feinde des Königs waren, stand ihr Befehlshaber Onaphernes auf der Seite des Astyages. Letzterer entsandte Kyros für einige Zeit zu den Kadusiern, um den Verrat des Onaphernes zu unterstützen (§ 11). Kyros reflektierte, dass Arbakes in früherer Zeit Sardanapal gestürzt hatte und die Meder nicht mächtiger gewesen seien als die Perser (§ 12). Die Erhebung der Eltern in § 11 weist auf die Norm hin, dass das persönliche Umfeld am Erfolg des Einzelnen zu beteiligen ist (Kap. 2.3.3.1.). Wie bei Arbakes und Belesys im dritten Fragment steigern sich die Zuwendungen mit dem Machtzuwachs: Zuerst befreite Kyros seine Eltern aus ihrer Armut, indem er sie zu sich holte (§ 9), und nun verleiht er ihnen Ehrenpositionen. Das Verhalten des Kyros soll seine besondere Achtung vor den Eltern demonstrieren. 911 Die Ursache des kadusisch-medischen Konflikts wird in Fragment 4 auf den Streit zwischen Parsondes und dem Mederkönig Artaios zurückgeführt. Der Vorwurf, dass Onaphernes Verrat beging, weist auf die lang andauernde Feindschaft der Kadusier zu den Medern hin. Der Hinweis in § 12 auf die Machtübernahme   Frisch (1968), S. 8.   Laqueur (1936), Sp. 378. 909   Oppenheim (1956), S. 265; Frisch (1968), S. 9. Die Geschichte kann allerdings auch auf Herodot selbst zurückzuführen sein, vgl. Weber (2000), S. 139-140. 910   Weber (2000), S. 139-140. 911   Truschnegg (2011), S. 422. 907 908

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des Arbakes zeigt, dass Nikolaos die Darstellung gezielt an den assyrischmedischen Herrschaftswechsel anlehnte. 3.5.10.4.  Zweites Vorzeichen und Aufnahme des Oibaras (§ 13-17) Auf dem Weg zu den Kadusiern traf Kyros einen gegeißelten Mann. Als er erfuhr, dass er Perser sei und Oibaras heiße, freute er sich, denn sein Name bedeutete „Überbringer der guten Botschaft“ [ἀγαθάγγελος]. Der Babylonier sagte, dass auch die anderen Zeichen positiv seien: Er sei ein Landsmann des Kyros, und der Pferdemist prophezeie Reichtum und Macht (§ 13). Schon in § 10 wurde Kyros πλοῦτος und δύναμις zugeschrieben, um die Erhebung seiner Eltern in bedeutende Positionen zu erklären. In diesem Abschnitt stellt der Babylonier ihm noch eine Vergrößerung seiner Mittel Aussicht. Der Name des Persers wurde auch mit einer Aspiration als „Hoibaras“ gelesen, aber Oibaras ist nach R. Schmitt die korrekte Form. 912 Seine Geißelung steht symbolisch für die Unterdrückung der Perser durch die Meder. Pferde hatten schon für das Vorzeichen im dritten Fragment eine wichtige Bedeutung (Kap. 2.3.2.2.). Nikolaos zufolge vereinbarte Kyros mit Onaphernes den Verrat. Später unterhielt er sich mit Oibaras über die schlechte Behandlung der Perser durch die Meder (§ 14). Oibaras sagte, dass die Meder zu stürzen seien, wenn man sich mit den Kadusiern verbünde und die Perser unter Waffen stelle (§ 15). Darauf enthüllte ihm Kyros sein Vorhaben und machte ihn zu seinem Ratgeber (§ 16). In Bezug auf den Babylonier schlug Oibaras vor, jenen umzubringen, um das Vorzeichen geheim zu halten (§ 17). Unklar ist in § 14, ob Onaphernes durch den Verrat auf der Seite von Astyages stand oder ob er ein Bündnis mit Kyros geschlossen hatte. 913 In der Überlieferung wird Onaphernes nicht mehr erwähnt. Der Dialog zwischen Kyros und Oibaras erinnert an das Gespräch zwischen Belesys und Arbakes, da eine Person, die von dem Vorzeichen weiß, die andere auf die Probe stellt. Anders als im dritten Fragment ist es hier aber der Protagonist, der Fragen stellt, ohne etwas von dem Traum zu erzählen. Die Erklärung des Oibaras in § 15, dass es keinen aufstrebenden Mann gebe, der entschlossen sei, die Meder zu stürzen, erinnert an die Überlegung des Arbakes, dass Sardanapal mangels eines edlen Mannes regiere (F 2; 3). In beiden Textstellen kommt das Geschichtsbild zum Ausdruck, dass Herrschaftswechsel nur von herausragenden Persönlichkeiten herbeizuführen sind. Kyros schreibt Oibaras wegen des Vorzeichens ein besonderes Wissen zu und entlockt ihm einen Plan für die Revolte. Indem Oibaras in seiner Rede Kenntnisse über die geographischen Verhältnisse und die militärische Stärke der Perser offenbart, erscheint er wie Belesys im dritten Fragment als Wegbereiter des Umsturzes. Auffällig ist, dass Oibaras einen ähnlichen Aufstieg wie Kyros 912 913

  Schmitt (2006), S. 113-115; dagegen Laqueur (1936), Sp. 379.   König (1972), S. 47.

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erlebt, denn er schafft zuerst Mist weg (§ 13), erhält dann Geschenke (§ 14), befehligt später ein Heer (§ 32) und bekommt nach dem Krieg die Aufsicht über die Mitnahme der medischen Besitztümer (§ 45). 3.5.10.5.  Ermordung des Babyloniers und Vorbereitung der ἐπιβουλή (§ 18-23) In der folgenden Zeit speisten und lebten Kyros, Oibaras und der Babylonier zusammen. Oibaras fürchtete, dass der Babylonier dem König vom Traum der Argoste berichten könnte und gab vor, nachts ein Opfer für Selene darbringen zu wollen. Er grub eine tiefe Grube, breitete darüber ein Strohlager aus und machte den Babylonier betrunken. Dieser legte sich über die Ruhestätte und fiel in das Loch (§ 18). Der Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit des Babyloniers, der schon in § 17 zum Ausdruck kam, brachte Oibaras dazu, ihn zu ermorden. Das Motiv der Tötung durch eine versteckte Grube kommt auch in Fragment 44 vor und wurde als frevelhafter Übergriff auf einen Gast verstanden. Das Opfer für die Mondgöttin war für Oibaras die Gelegenheit, den Mord im Schutze der Nacht zu begehen. Das Lebensende des Babyloniers macht klar, dass seine Funktion geringer ist als die von Belesys im dritten Fragment, weswegen sein Name auch nicht genannt wird. Laut § 19 wurde Kyros wegen der Tötung des Babyloniers zornig, er vergab Oibaras aber schließlich. Der Frau des Babyloniers wurde gesagt, dass ihr Mann von Räubern ermordet worden sei. Oibaras riet Kyros dazu, Astyages um eine Befreiung von seinen Aufgaben zu bitten, um nach Persien zu gehen (§ 20). Mit Hilfe des Eunuchen, dem am meisten Vertrauen geschenkt wurde [πιστότατος], erreichte Kyros, dass der König ihm eine fünfmonatige Abwesenheit vom Hof erlaubte (§ 21-22). Das Motiv, dass ein Eunuch bei einer Intrige gegen den Machthaber mitwirkt, kommt auch in den Fragmenten 1, 3 und 4 vor. Bei Nikolaos erweisen sich vor allem Eunuchen aus der Gruppe der πιστότατοι als unzuverlässig, wie das fünfte Fragment zeigt. Dieser scheinbare Widerspruch soll demonstrieren, dass leichtfertiges Vertrauen die Herrschaft gefährden kann. Die Vorgabe, dass der Babylonier von Räubern ermordet wurde, ist insofern korrekt, als Oibaras dem Sohn eines Räubers folgt (§ 3). Auch der Hinweis auf die Bestattung des Babyloniers in § 20 ist nicht falsch, weil er in einer Grube überschüttet wurde. Ähnlich wie Oibaras behauptet auch Kyros, Opfer darbringen zu wollen, um in Wirklichkeit anderen Zielen nachzugehen. Die Anmerkung in § 23, dass Kyros ἐπιμελητής geworden sei, nimmt Bezug auf den medischen Brauch in § 2 und erinnert an seinen Aufstieg aus der Armut. Die Entlassung des Kyros vom Königshof, ist auch bei Herodot überliefert, allerdings soll er in der Parallelüberlieferung zu seinen leiblichen Eltern zurückkehren. 914 914

  Hdt. 1,121.

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3.5.10.6.  Aufdeckung der ἐπιβουλή (§ 24-29) Der Babylonier hatte laut § 24 seiner Frau das Wissen vom Traumbild der Argoste weitergegeben. Nach seinem Tod heiratete die Witwe ihren Schwager, dem sie von dem Vorzeichen erzählte. Dieser ging wiederum zu Astyages und teilte ihm mit, was er erfahren hatte (§ 25). Beim königlichen Abendmahl sagte eine der Tänzerinnen und Kitharaspielerinnen in ihrem Gesang, dass ein Löwe einen Eber entkommen ließ, und der Eber schließlich überlegen zurückkehrte. Astyages schickte dann sofort 300 Reiter aus, um Kyros zurückzubringen oder zu töten (§ 26). Wie in diesem Teil deutlich wird, führte die Ermordung des Babyloniers zur Weitergabe der Traumdeutung, obwohl Oibaras mit seiner Tat das Gegenteil bezweckt hatte. Er konnte nicht wissen, dass der Babylonier den Schwur gebrochen hatte, durch den er nach § 9 zur Verschwiegenheit verpflichtet war. Durch das Bekanntwerden des Vertrauensbruchs wird die Tötung des Babyloniers nachträglich gerechtfertigt. Die Verbindung der Witwe mit ihrem Schwager erinnert an eine Leviratsehe, welche die Funktion hatte, den Besitz nach dem Tod des Mannes in der Familie zu behalten. Die Konzentration des Geschehens zwischen Nacht und Morgen steigert die Spannung. Im fabelhaften Gesang beim Abendtrunk des Astyages steht der Löwe für den König und der Eber für Kyros. Das Motiv des Entkommens vor den Löwenpranken ist mit dem Weggang des Kyros vom Königshof zu verstehen. Athenaios, der sich auf Dinon beruft, schreibt ebenfalls, dass in einem Gesang ein wildes Tier erwähnt wurde und dieses für Kyros stand. 915 Wie in § 27 zu lesen ist, holten die Reiter Kyros ein, der vorgab, mit ihnen zurückkehren zu wollen. Bei einem Gastmahl machte er sie aber betrunken und floh. Seinem Vater ließ er mitteilen, dass er auf Befehl des Königs nahe Hyrba Soldaten bereitstellen solle (§ 28). Am nächsten Tag nahmen die Reiter die Verfolgung auf, aber die Perser schlugen sie zurück und töteten 250 von ihnen (§ 29). In dieser Darstellung wird deutlich, dass der Versuch des Astyages, das vorausgesagte Schicksal zu verhindern, den Eintritt der Prophezeiung sogar noch beschleunigt. Kyros bleibt nämlich keine andere Wahl mehr, als offen gegen Astyages zu rebellieren. Die Anmerkung in § 27, dass Kyros die Reiter nach persischer Art bewirtet habe, bezieht sich auf das üppige Essen, das die Gäste zum Einschlafen bringt. Das gleiche Motiv kommt auch in Fragment 4 vor. Die hohe Zahl von 300 Reitern soll zeigen, dass Kyros der Gefahr nur durch eine List entkommen konnte. Die Vorgabe, dass Atradates einen Befehl des Königs erhalten habe, zeigt, dass Kyros seinen Vater noch nicht in den Umsturzplan eingeweiht hatte. 916 Für die Stadt Hyrba findet sich in den antiken Zeugnissen kein anderer Beleg. 915 916

  Athen. 14,33 (633d-e).   Rollinger (2011), S. 321.

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3.5.10.7.  Krieg zwischen Persern und Medern (§ 30-44) Ein Großteil des Exzerpts handelt vom Krieg zwischen den Medern und Persern: Astyages stellte ein Heer zusammen und ärgerte sich darüber, dass er Kyros einst aufgenommen hatte (§ 30). Die Perser waren bereits von Atradates unter Waffen gestellt worden (§ 31). Oibaras ließ die Engpässe und die Berggipfel besetzen, er führte das Volk in die gut geschützten Städte und er legte Befestigungen an (§ 32). Die verlassenen Orte wurden von Astyages niedergebrannt, der Boten entsandte, um Kyros und seinem Vater ihre frühere Armut vorzuhalten (§ 33). In seinem Zorn griff Astyages an und erlitt viele Verluste (§ 34). Dann mussten sich die Perser in eine Stadt zurückziehen. Kyros und Oibaras forderten ihre Männer dazu auf, ihre Kinder und Frauen nach Pasargadae zu schicken (§ 35). Am nächsten Tag wurde Atradates schwer verwundet und zu Astyages gebracht, während die Perser nach Pasargadae flohen (§ 36). Vor seinem Tod bedauerte Atradates den Abfall und bat Astyages um eine gute Bestattung. Astyages bekam Mitleid und kam seinem Wunsch nach (§ 37). In diesem Abschnitt gibt es mehrere direkte Reden, die die Darstellung dramatisieren. Einem Verweis in § 31 lässt sich entnehmen, dass Nikolaos sogar eine längere Ansprache des Kyros an die Perser wiedergegeben hat. Auf die byzantinische Sammlung von Reden [περί δημηγοριῶν] wird auch in Fragment 1 verwiesen. Astyages erscheint in dieser Darstellung als sehr ungehalten und nimmt mehrfach Bezug auf die ärmliche Herkunft der Perser, um sie zu diskreditieren (§ 30; 33-34). Kyros wirkt dagegen besonnen, wenn er etwa in § 33 die Worte seines Gegners aufgreift und sagt, dass die Ziegenhirten nach göttlicher Weisung handelten. Obwohl das Heer des Astyages nach den Angaben in § 30-31 besser ausgerüstet war als das der Perser, erleiden die Meder einige Verluste. Die Zahlen, die Nikolaos angibt, sind jedoch stark übertrieben und sollen die Spannung steigern. Die Erklärung in § 35, dass Pasargadae der höchste Berg gewesen sei, ist in den antiken Zeugnissen singulär. 917 J. M. Alonso-Núñez leitet aus den geographischen Angaben die Vorstellung von einem Stufenmodell für die Abfolge der Weltreiche ab: Demnach erscheine „Medien [...] auf einer mittleren und Persien auf der obersten Stufe“ 918. Das Bedauern des sterbenden Atradates, das das Mitgefühl des Herrschers erweckt, hängt damit zusammen, dass Kyros ihm den Umsturzversuch ursprünglich verschwiegen hatte (§ 27). Laut Darstellung rückte Astyages zum Pasargadae vor, doch die Perser unter Oibaras hielten ihn auf (§ 38). Darauf umgingen die Meder den Berg und fanden einen Weg zum Gipfel, doch in der Nacht hatten sich die Perser bereits abgesetzt (§ 39). Das Heer des Astyages folgte ihren Spuren und griff die Perser an (§ 40). Später gelangte Kyros zum Haus seiner Vorfahren. Als er dort ein Opfer darbrachte, blitzte es plötzlich und glückverheißende Vögel erschienen (§ 41). 917 918

  Parmentier / Barone (2011), S. 138.   Alonso-Núñez (1995), S. 8.

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Am nächsten Tag verhinderten die Perser den Aufstieg der Meder, die von Astyages unter Todesdrohung zum Kämpfen gezwungen wurden (§ 42). Die Perser flüchteten auf den Gipfel, wo ihre Frauen ihre Kleider hochzogen und fragten, ob sie dorthin fliehen wollten, woher sie gekommen seien. Wegen dieses Ereignisses schenken die Perserkönige den Frauen Gold, wenn sie nach Pasargadae kommen (§ 43). Die Männer schämten sich nämlich und schlugen die Meder zurück. Der Abschnitt endet mit einem Verweis auf die konstantinischen Sammlungen der Heldentaten und Feldherrentaten [περί ἀνδραγαθημάτων καὶ στρατηγημάτων] (§ 44). Zwischen § 44 und 45 ist ein inhaltlicher Bruch, weil das Kriegsende für die byzantinischen Excerpta de insidiis nicht relevant war. Auf die Sammlung περί ἀνδραγαθημάτων wird auch in den Fragmenten 13 und 125 verwiesen. Die detailreiche Beschreibung des Bergs in § 38 erinnert an den Handlungsort in Fragment 1, an dem Semiramis gestürzt werden sollte. Um eine Vorstellung vom Kampf zwischen Persern und Medern zu ermöglichen, wird auch in § 40 die Umgebung genau beschrieben. Das Betreten des οἴκημα πατρῷον in § 41 weist wie die Opferhandlung und die Proskynese nach dem Vorzeichen auf die besondere Frömmigkeit des Kyros hin. Anders als Astyages, der versuchte, das Schicksal abzuwenden (§ 26), unterwirft sich Kyros dem göttlichen Willen. Durch die Vögel, die sich auf sein Haus setzen, wird er sogar in seinem Handeln bestärkt. Ein ähnliches Vorzeichen gibt es in Fragment 47 (§ 6). Auffällig ist, dass die Meder unter Todesdrohung zum Kampf angetrieben werden müssen, obwohl sie den Persern schon mehrfach überlegen waren. 919 Die Darstellung der Frauen in § 43, die Schamgefühle bei ihren Männern wecken, ist auch aus anderen Quellen bekannt und soll die Geldgeschenke der Achaimenidenherrscher an die Perserinnen erklären. 920 Nikolaos berichtet in seiner Sammlung besonderer Völkersitten davon, dass Frauen beim Volksstamm der Triballer in der letzten Schlachtenreihe standen, um ihre Männer von der Flucht abzuhalten (F 116). In Hinsicht auf die Zahl der Kämpfe, die laut Exzerpt ausgetragen wurden, gab es in der Forschung verschiedene Meinungen. 921 Sinnvoll erscheint es, von vier Schlachten auszugehen (§ 34-35; 36; 40; 42-44), die dem Gefecht bei Hyrba (§ 29) folgten. 3.5.10.8.  Machtübernahme des Kyros (§ 45-46) Im letzten Teil des Exzerpts steht, dass Kyros sich auf den Thron des Astyages setzte und das Zepter an sich nahm. Oibaras krönte ihn und sagte, dass Gott ihm die Krone wegen seiner Tugend gegeben habe. Unter der Aufsicht des Oibaras trugen die Perser die Güter weg und entfernten aus den Zelten unermesslichen   Rollinger (2011), S. 322.   Plut., Alex. 69,1; Pomp. Trog. 1,6; vgl. König (1972), S. 48. 921   Rollinger (2011), S. 321. 919 920

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Besitz (§ 45). Nach der Flucht des Astyages schlossen sich Befehlshaber verschiedener Satrapien Kyros an. Kurze Zeit später wurde Astyages als Gefangener zu ihm geführt (§ 46). Nach dieser Darstellung übernahm Kyros die Königsinsignien, um seiner Herrschaft durch die sichtbaren Zeichen der Macht Legitimität zu verleihen. Die Warnung des Kyros in § 33, dass Astyages Sklave werden und alles verlieren würde, bewahrheitet sich am Ende der Geschichte. Der Meder wird nämlich wie Kroisos in Fragment 68 als Gefangener zu Kyros geführt. Auch bei Herodot wird Astyages von den Persern gefangen genommen. 922 Die Wiederbegegnung mit dem früheren Gegner sollte den Sieg der Perser veranschaulichen. Durch die vielen Ähnlichkeiten der Geschichte zum assyrisch-medischen Machtwechsel sollten die dynastischen Zäsuren parallelisiert werden. Die Vorzeichen, die eine Herrschaftsübernahme voraussagen, die Traumdeutung durch einen Babylonier und die Reflexion über Sardanapals Sturz sind intratextuelle Bezüge zu den ersten beiden Büchern der Universalgeschichte. Während die einfache Herkunft, die niederen Arbeiten und die Adoption des Kyros auf die Illegitimität seiner Herrschaft hinweisen, erklären die positiven Zuschreibungen, dass er Besonnenheit [σωφροσύνη] und Mut [ἀνδρεία] zeigte (§ 6), von Natur aus edel [γενναῖος] und aufstrebend [μεγαλόφρων] war (§ 12) und in der Schlacht gegen die Meder große Tapferkeit [ἀνδρεία] an den Tag legte (§ 29), seinen Aufstieg zur Macht. Offenbar wurden zwei Kyrosbilder aus verschiedenen Traditionen miteinander verbunden. 923 Dies wird auch in den nachfolgenden Exzerpten deutlich, die von der Herrschaft des Kyros handeln. 3.5.11.  Fragment 67 (Exc. de virtut. 1 p. 345,14) Einordnung: Die kurze Wiedergabe eines Teils aus dem siebten Buch des Nikolaos wurde in den Excerpta de virtutibus et vitiis überliefert und handelt von den Tugenden des Perserkönigs Kyros. Zusammen mit den Fragmenten 66 und 68 stammt der Textauszug aus der persischen Geschichte des Nikolaos. Der Abschnitt ist nicht mit der Schilderung über die Jugendzeit des Kyros bei den mardischen Ziegenhirten oder bei seinem Adoptivvater Artembares in Fragment 66 zu vereinbaren. 924 Zwar passt ein Bericht Herodots über die persische Erziehung zu dem Exzerpt, aber Herodots Darstellung über die Jugend des Kyros, auf den Diodor zurückgegriffen hat, war wohl nicht die Vorlage des Nikolaos. 925 Auch Xanthos und Ktesias sind F. Jacoby zufolge als Quellen unwahrscheinlich. Schon in der Zeit des Ktesias waren die Darstellungen des Kyros nicht einheitlich. 926 Im Werk des Nikolaos sind verschiedene Traditionen miteinander verbunden worden.   Hdt. 1,128-129.   Laqueur (1936), Sp. 382-383. 924   Jacoby (1926b), S. 251. 925   Hdt. 1,123; 1,136; Diod. 9,22. 926   Jacoby (1926b), S. 251. 922 923

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Überlieferung wurde Kyros von den Magiern in der Philosophie unterrichtet. Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit [ἀλήθεια] erlernte er nach althergebrachten Sitten (§ 1). Er ließ auch die Sibylle von Ephesos kommen, die Weissagerin namens Herophile (§ 2). Die Sibylle, die auch im nachfolgenden Fragment vorkommt (§ 8-9; 11), wurde offenbar von Kyros zu sich gerufen. 927 Tatsächlich ist bei Herakleides Pontikos zu lesen, dass die Sibylle vom Hellespont in der Zeit von Solon und Kyros lebte. 928 In der Tradition, der Nikolaos folgte, bestand die Vorstellung, dass die Sibylle von Ort zu Ort zog. 929 Der Name Herophile wurde im Verlaufe der Zeit mehreren Sibyllen zugeschrieben. 930 Die ἀλήθεια hatte nach den antiken Quellen eine große Bedeutung für die Erziehung der Perser. Zusammen mit der δικαιοσύνη kennzeichnet sie Kyros in dieser Darstellung als guten Herrscher. Die Bildung des Kyros legt nahe, dass er die Lehren Zarathustras kannte, die im nachfolgenden Exzerpt erwähnt werden (§ 12). Kyros wird wie Kypselos in Fragment 57 weniger durch seine Abstammung als durch seine gute Machtausübung Legitimität zugesprochen. 931 Außerdem soll das positive Bild des Königs erklären, dass er seinem Gegner Kroisos in Fragment 68 das Leben schenkt. 3.5.12.  Fragment 68 (Exc. de virtut. 1 p. 345,19) Einordnung: Mit diesem Textauszug, der dem siebten Buch des Nikolaos zugeordnet ist und in den Excerpta de virtutibus et vitiis erhalten wurde, wird die lydische Geschichte mit der persischen verbunden, denn Kroisos, um den es bereits in Fragment 65 ging, erscheint als Gefangener des Kyros, von dem die vorangegangenen Exzerpte handelten. Aufgrund des positiven Bilds von Kyros und Kroisos ist das Fragment in der konstantinischen Sammlung überliefert worden. Historischer Hintergrund der Darstellung ist die Expansion der Perser im sechsten Jahrhundert v. Chr. Die Handlung setzt die Eroberung von Sardeis voraus, aber dieser Teil ist bei Nikolaos nicht erhalten. Die Geschichte von Kroisos, dem auf dem Scheiterhaufen das Leben geschenkt wird, ist durch Herodot bekannt. 932 Die vorliegende Version wurde aber mit zahlreichen Elementen der tragischen Geschichtsschreibung angereichert. 933 Außerdem kommen die Sibylle, Thales und Zarathustra, die Nikolaos erwähnt (§ 8-12), bei Herodot nicht vor.   Parke (1984), S. 226-227.   Herakl. Pont. fr. 131 Wehrli. 929   Jacoby (1926b), S. 251. 930   Sittig (1912). 931   Parmentier (2001), S. 97. 932   Hdt. 1,86. 933   Jacoby spricht vom „stile der tragischen historie“, vgl. Jacoby (1926b), S. 252. Zur „tragischen Geschichtsschreibung“ vgl. Zegers (1959). Gegen den Begriff richtet sich Meister (1990), S. 99-100. Den Zusammenhang von Tragödie und Historiographie untersucht Rutherford (2007). Zur Ausgestaltung der Geschichte bei Nikolaos vgl. Toher (1989), S. 164-167. 927 928

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F. Jacoby zufolge sei nicht auszuschließen, dass Nikolaos die Episode als einer seiner „glanzszenen“ selbstständig ausgestaltet habe, aber es ließe sich nicht bestimmen, wo es sich um eine Eigenleistung handele und wo eine hellenistische Bearbeitung Herodots verwendet worden sei. 934 Neben Herodot kommt als Quelle eine Tradition von Xanthos in Frage, denn es ist belegt, dass Zarathustra in den Lydiaka vorkam. 935 Auf den lydischen Autor weisen auch die Liebe der lydischen Untertanen zu ihrem König (§ 3) und der mitleiderregende Dialog zwischen Kroisos und seinem Sohn hin (§ 5-7). Nach F. Jacoby sei schließlich in § 7 ein Einfluss von Xanthos zu erkennen, 936 der vielleicht (entsprechend den ältesten Zeugnissen bei Bakchylides und dem Bildnis auf der Amphora des Myson) von einer heroischen Selbstverbrennung des Kroisos ausging. 937 Bei dem Fragment handelt es sich um das letzte konstantinische Exzerpt, das der Universalgeschichte des Nikolaos zuzuordnen ist. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Der einleitende Satz, dass Kyros mit dem Lyderkönig Kroisos aufgrund seiner persönlichen Tugend Mitleid hatte, nimmt den Ausgang der Geschichte vorweg und stammt wohl vom byzantinischen Schreiber. Bei den Abschnitten § 2 bis § 7 handelt es sich um eine Ausgestaltung der Darstellung Herodots. 938 Laut Exzerpt errichteten die Perser einen Scheiterhaufen für Kroisos (§ 2). Als die Lyder ihren gefesselten König sahen, schlugen sie sich unter Wehklage und Gejammer auf die Köpfe. Sie zerrissen sich die Kleidung und einige rissen sich sogar die Haare aus. Von einer Vielzahl von Frauen waren Trauerbekundungen und Wehgeschrei zu hören, während Kroisos mit einem ernsten Blick vorschritt (§ 3). In der griechischen Historiographie ist Kroisos nach Sardanapal (F 3) der zweite asiatische Herrscher, der auf den Scheiterhaufen kommt. 939 Bei Nikolaos steht wie bei Herodot, dass Kroisos von zweimal sieben Lydern begleitet wurde. 940 Die Zahl war kultisch bedeutsam und könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich der Lyderkönig in Wirklichkeit selbst verbrannte. 941 Auf Herodot ist auch der Satz zurückzuführen, dass die Lyder um ihren König trauerten, als ob sie in ihm ihren Vater gesehen hätten. 942 Offenbar besteht in der Geschichte die Erwartungshaltung, dass Emotionen nach außen getragen werden. Das Zerreißen der Kleidung und das Ausreißen der Haare sind normierte Zeichen der Trauer. Während der Ausdruck von Emotionen in der griechisch-römischen Welt reguliert war,   Jacoby (1926b), S. 234; 252.   FGrHist 765 F 32 = Diog. Laert. 1,2. 936   Jacoby (1926b), S. 252. 937   Bakchyl., epin. 3,29-30; vgl. Toher (1989), S. 164. 938   Hdt. 1,86; vgl. Jacoby (1926b), S. 252. 939   Parke (1984), S. 224. 940   Hdt. 1,86. 941   Zur Bedeutung der Zahl Sieben im Alten Orient vgl. Reinhold (Hg.) (2008). 942   Hdt. 1,155. 934 935



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scheint das Leid bei den Lydern in dieser Darstellung grenzenlos zu sein. 943 Die große Anteilnahme betont aber nicht nur die Fremdheit des Volkes, sondern sie soll im Sinne einer tragischen Geschichtsschreibung das Mitgefühl des Lesers wecken (s.u.). Nikolaos zufolge wollte Kyros, dass die Perser Mitleid mit Kroisos bekommen. Als der Lyderkönig seinen Sohn sah, brach er zum ersten Mal in Tränen aus. Der Sohn zweifelte am Nutzen der Frömmigkeit von Kroisos, verwies auf seine frühere Stummheit und sagte, dass er dem Vater Kummer bereitet habe. Kroisos tröstete ihn und meinte, dass noch Hoffnung bestehe (§ 4-6). Die Darstellung, dass Kyros den gefangenen Lyderkönig von Anfang an verschonen will, geht wohl auf Nikolaos zurück, denn bei Herodot hat der Perser keine Skrupel, den Scheiterhaufen anzünden zu lassen. 944 Kyros wird hier von dem Vorwurf freigesprochen, Kroisos zum Tode verurteilt zu haben. 945 Über das Schicksal des Sohns berichtet ein Abschnitt bei Herodot. 946 Die Stummheit ist auf den Fluch der Mermnaden zurückzuführen, deren Sturz bei Nikolaos in Fragment 47 vorausgesagt wurde. Wie in der Parallelüberlieferung sollte die Dynastie in der fünften Generation nach Gyges die Strafe für die Usurpation des Gyges erhalten. 947 Die Erwähnung des Kummers weist auf das Scheitern des Lyderkönigs hin, für eine anerkannte Nachfolge zu sorgen. Die Frage des Sohns, was die Frömmigkeit seines Vaters gebracht habe, nimmt Bezug auf die vielen Weihgaben, die Kroisos nach Herodot, Athenaios und Diodor stiftete. 948 Laut Fragment 65 weihte Kroisos der Göttin Artemis das Haus eines Gegners. Wie den folgenden Sätzen zu entnehmen ist, warfen die Lyder als Zeichen der Trauer Kostbarkeiten auf den Scheiterhaufen. Kroisos stieg ruhig auf die Hinrichtungsstätte, während sein Sohn, der den Gott Apollon anrief und auf die Opfer des Kroisos verwies, ferngehalten werden musste (§ 7). Die Perser zündeten den Scheiterhaufen trotz Warnungen einer Sibylle an (§ 8). Kroisos stöhnte mehrfach den Namen Solons, und Kyros weinte, weil er erkannte, dass er zu etwas Strafwürdigem gezwungen werde (§ 9). Danach forderten die Perser, das Feuer zu löschen, aber sie konnten sich den Flammen nicht mehr nähern (§ 10). Dass Kroisos gelassen und ohne direkten Zwang auf die Feuerstelle geht, ist ein weiteres Indiz dafür, dass am Anfang der Tradition eine Selbsttötung des Lyderkönigs stand. Bei Herodot ist es nicht der Sohn des Königs, sondern Kroisos selbst, der Bezug auf seine Frömmigkeit nimmt (§ 7). 949 Die direkte Rede der 943   Der athenische Gesetzgeber Solon hatte verboten, als Zeichen der Trauer das Gesicht zu zerkratzen, Klagelieder zu singen und bei Begräbnissen mitzuheulen, vgl. Plut., Sol. 21,4. 944   Hdt. 1,86; vgl. Jacoby (1926b), S. 252; Paradiso (2017), S. 541. 945   Laqueur (1936), Sp. 385. 946   Hdt. 1,85. 947   Hdt. 1,13. 948   Hdt. 1,92; Diod. 16,56,6; Athen. 6,20 (231f-232a). 949   Toher (1989), S. 165.

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Sibylle in § 8 wurde wohl von Nikolaos erdichtet, aber ihr Auftreten geht vielleicht auf Xanthos zurück. 950 In seiner Version könnte sie das Orakel von Delphi ersetzt haben. Bei Nikolaos hat die Sibylle jedenfalls schon vor der Errichtung des Scheiterhaufens Warnungen ausgesprochen. 951 Laut Fragment 67 war ihr Name Herophile und sie hielt sich bei Kyros auf. Mit Phoibos nennt die Sibylle eine Epiklese für Apollon, der durch seine Verbindung zum Licht beziehungsweise zur Sonne zum Motiv der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen passt. Aufgrund seiner schützenden Funktion wird Apollon auch von Kroisos und seinem Sohn angerufen (§ 7; 10). Dass die Sibylle in ihrer Warnung Amphiaraos nennt, hängt damit zusammen, dass Kroisos nach der Überlieferung Herodots Gesandte zur Orakelstätte des Sehers geschickt und dem Heiligtum kostbare Gegenstände gestiftet hatte. 952 Die Erwähnung Solons nimmt Bezug auf die fehlende Vorgeschichte. Nach Herodot habe Solon den Lyderkönig davor gewarnt, sich für glücklich zu halten, bevor er die Umstände seines Todes kenne. 953 In der Universalgeschichte hat Kyros vielleicht schon vor dem Anzünden des Scheiterhaufens von dem Gespräch zwischen Kroisos und Solon erfahren. 954 Die Erkenntnis des Kyros in § 9, dass Kroisos ihm im Glück nicht nachgestanden habe, ist eine Übernahme von Herodot, wobei Nikolaos das Wort τύχη statt εὐδαιμονίη verwendet. 955 Dass der Herrscher erst befiehlt, das Feuer zu löschen, nachdem die Perser dies fordern, wurde in der Forschung als Manipulation der Untertanen interpretiert. Nach dieser Deutung sei die Darstellung anachronistisch, weil sie Verhältnisse aus der Zeit des Autors reflektiere. 956 Das späte Einschreiten des Kyros erklärt sich aber eher mit seiner begrenzten Macht, die in der Darstellung die tragische Konzeption zum Ausdruck bringt, dass selbst der siegreiche Eroberer äußeren Einflüssen unterworfen ist. 957 Die Warnung der Sibylle und die Bedenken des Kroisos deuten eine Strafe der Götter an. Das Wort θέμις in der direkten Rede der Herophile zeigt, dass die Perser gegen ein göttliches Recht verstoßen, das anders als ein menschliches universell bindend ist. Zudem warnt sie davor, dass die Perser ein schlimmes Schicksal erleiden und jenseits von Gott untergehen würden (§ 8). Kyros bewertet die Verbrennung wiederum als νεμεσητός, also als Tat, die eine Nemesis nach sich ziehe (§ 9). Ähnliches steht bei Herodot, wobei er das Wort τίσις verwendet. 958   Parke (1984), S. 227.   Jacoby (1926b), S. 252. Zur Warnung der Sibylle bei Nikolaos vgl. Fontenrose (1978), S. 171. 952   Hdt. 1,46; 1,52; vgl. Parke (1984), S. 212. Zu den Weihgaben des Kroisos vgl. Scott (2014), S. 84-85; 93-94. 953   Hdt. 1,32; vgl. auch Plut., Sol. 27. 954   Laqueur (1936), Sp. 382-387. 955   Hdt. 1,86. 956   Toher (1989), S. 166. 957   Parke (1984), S. 226. 958   Hdt. 1,86. 950 951

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F. Jacoby wertet den folgenden Abschnitt als „sehr amüsante rationalisierung“ durch Herodot. 959 Dem Exzerpt zufolge bat Kroisos Apollon um Hilfe, weil ihm sogar seine Feinde nicht helfen könnten. An jenem Tag zog seit dem frühen Morgen ein Unwetter auf, das plötzlich begann und den Scheiterhaufen löschte (§ 10). Die Menschen spannten einen purpurfarbenen Baldachin über Kroisos auf und gerieten in Aufruhr. Einige behaupteten, dass Thales den Platzregen vorausgesagt habe. In Verehrung für Zarathustra war es den Persern verboten, Leichen zu verbrennen (§ 12). In der Darstellung erscheint das heftige Unwetter als göttliche Sanktionierung des Versuchs, das Feuer zu verunreinigen. Das Verbot, menschliche Körper zu verbrennen, wird auch von Herodot erwähnt. 960 Das Unwetter, in dessen Folge nach § 11 sogar Menschen umkamen, erzwingt die Wiedereinhaltung der Bräuche. Wie Fragment 67 nahelegt, kannte Kyros die Lehren Zarathustras. Der purpurfarbene Baldachin weist darauf hin, dass Kroisos wieder den Platz erhielt, der ihm als König gebührte. Bakchylides erwähnt ebenfalls ein Feuer, das von einem Gott gelöscht wird, allerdings ist es bei ihm Zeus. 961 In der vorliegenden Überlieferung äußert sich im Regen, der das auf Kroisos lastende Übel wegspült, die heilende Funktion des Phoibos. 962 Dass der Lyderkönig gerettet wird, ist eine Folge seiner mehrfach erwähnten Frömmigkeit und Gottesfurcht, an deren Nutzen sein Sohn gezweifelt hatte (§ 5). Als Lehre der Geschichte lässt sich festhalten, dass an der Hoffnung und am Glauben festzuhalten ist. Die Voraussage des Thales ist eine adaptierte Übernahme von Herodot, bei dem der Philosoph eine Sonnenfinsternis im Krieg zwischen den Lydern und Medern ankündigt. 963 Dem Ende des Textauszugs ist zu entnehmen, dass sich Kyros mit Kroisos anfreundete und ihn dazu aufforderte, nicht zu zögern, wenn er etwas wünsche. Kroisos sagte, dass er seine Fußfesseln als Kriegsbeute nach Delphi schicken wolle, um den Gott zu fragen, warum er ihn mit den Orakelsprüchen betrogen habe, sodass er einen Feldzug gegen die Perser führte. Kyros lachte und gewährte ihm den Wunsch. Einige behaupteten, dass Kyros ihm sogar Sardeis überlassen hätte, wenn er nicht einen Aufruhr befürchtet hätte (§ 13-14). Dieser Abschnitt nimmt erneut Bezug auf die fehlende Vorgeschichte. 964 Nach Herodot hatte Kroisos einen Orakelspruch falsch gedeutet und seinen eigenen Untergang eingeleitet, indem er den Krieg gegen die Perser begann. 965 Das Motiv der Fußfesseln verbindet Kroisos mit dem Hybristes Xerxes, der am Hellespont Fußfesseln versenken ließ, um das Meer zu bändigen und die Überquerung zu   Jacoby (1926b), S. 252.   Hdt. 3,16. 961   Bakchyl., epin. 3,55. 962   Parker (1983), S. 139. 963   Hdt. 1,74; vgl. Jacoby (1926b), S. 252. 964   Paradiso (2017), S. 543. 965   Hdt. 1,53. Zum doppeldeutigen Orakelspruch bei Herodot vgl. Will (2015), S. 99. 959 960

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ermöglichen. 966 Die Überlegung, dass es in Lydien zu einem Aufruhr kommen könnte, ist ein Hinweis auf den lydischen Aufstand, über den Herodot schreibt. 967 Die Versöhnung zwischen Kyros und Kroisos erinnert an Fragment 47, in dem sich der Usurpator Gyges mit seinem früheren Gegner Lixos anfreundet. 3.5.12.1.  Elemente der tragischen Historiographie Auffällig ist, dass Nikolaos die Darstellung Herodots, die selbst schon unter dem Einfluss der griechischen Tragödie stand, 968 mit Elementen der tragischen Geschichtsschreibung ausgestaltet hat. Nikolaos folgte der aristotelischen Poetik, indem er das Geschehen durch die Erzielung bildhafter Deutlichkeit vor Augen führte [πρὸ ὀμμάτων τιθέναι]. 969 Dies zeigt sich etwa im Gang des Kroisos auf den Scheiterhaufen, den Herodot kurz abhandelt, während er in diesem Textauszug ausführlich beschrieben wird (§ 3-8). Das plötzliche Unwetter thematisiert Herodot in einem Satz, während Nikolaos dem Ereignis und seinen Folgen einen größeren Raum in der Darstellung widmet (§ 10-11). 970 Zur Dramatisierung der Geschichte trägt weiterhin das Erregen von Mitleid und Furcht durch den drohenden Verwandtenmord bei. Nach Aristoteles weckt das Motiv des Leids von Familienangehörigen besonderes Mitgefühl. 971 Deswegen übernahm Nikolaos die Anmerkung Herodots, dass die Lyder in Kroisos einen Vater gesehen haben (§ 3). 972 Vor allem wird das Mitleid aber durch den lydischen Trauerzug, das Zerreißen der Kleidung, das Ausreißen der Haare und den Hinweis, dass die Wehklage nicht einmal bei der Eroberung der Stadt so groß gewesen sei, hervorgerufen (§ 3). Ein geeignetes Mittel für den gleichen Effekt ist nach der aristotelischen Theorie das Motiv, dass Kyros und Kroisos weinen (§ 5; 9). 973 Das Gespräch zwischen Kroisos und seinem Sohn dramatisiert die Handlung, indem es eine bessere Identifikation mit den Charakteren ermöglicht. 974 Direkte Reden sind typisch für die tragische Historiographie und können als Nachahmung der Dialoge in der Tragödie gedeutet werden. Um die Handlung nicht zu unterbrechen, werden aber längere Reden vermieden. 975 Die Wendung des Kroisos vom Glück ins Unglück, die in § 6 erwähnt wird, ist ein Motiv, das auf die griechische Tragödie zurückzuführen ist. Diese Peripetie beruht nicht auf der Bösartigkeit des Charakters, sondern auf einzelnen Verfehlungen. 976 Diese   Hdt. 7,35.   Hdt. 1,155. 968   Schadewaldt (1982), S. 162; Fisher (1992), S. 357. 969   Aristot., poet. 1455 a19; vgl. Jacoby (1926b), S. 252; Zegers (1959), S. 15-16. 970   Hdt. 1,86-87; vgl. Toher (1989), S. 166. 971   Aristot., poet. 1453 b19; vgl. Zegers (1959), S. 11. 972   Hdt. 1,155. 973   Baumgarten (2006), S. 209. 974   Allély (2009), S. 22. 975   Zegers (1959), S. 52-52. 976   Zegers (1959), S. 27-28. 966 967

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ἁμαρτίαι des Kroisos sind zwar bei Nikolaos nicht überliefert, aber in dem Textauszug gibt es mehrere Hinweise darauf. In § 9 wird Solon erwähnt, der – Herodot zufolge – Kroisos davor gewarnt hatte, sich für glücklich zu halten. Außerdem nennt Nikolaos in § 13 den Orakelspruch, den der Lyder nach Herodot aus Hochmut falsch gedeutet hatte. 977 Den Spannungshöhepunkt der Geschichte bildet die Anrufung Solons, die gemäß der Lehre des Aristoteles mit einem Übergang eines Charakters von der Unwissenheit in den Zustand des Wissens verbunden ist. 978 Nikolaos stellt den Sturz des Kroisos als Folge der Usurpation des Gyges dar. Zwar trägt Kroisos keine persönliche Schuld an den Taten seines Vorfahren, doch als fünfter Mermnadenkönig ist er dem Fluch unterworfen, der auf seiner Dynastie lastet. Dieses Motiv des aufgeschobenen Schicksalsschlags stammt aus der athenischen Tragödie. 979 Während Herodot mit seiner Darstellung die Lehre aus der Geschichte von Kroisos und Solon ziehen wollte, leistete Nikolaos mit seiner Version einen pathetischen Beitrag zur Veranschaulichung und Unterhaltung. Dem Autor ging es weniger um die Charaktere als um die tragische Gesamtsituation, in die jeder hineingeraten konnte. Herodots Pointe, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben solle, geht hier verloren. Dafür vermittelt das Exzerpt, dass man seine Hoffnung und seinen Glauben selbst in der schlimmsten Situation nicht verlieren sollte. Wie Nikolaos hat auch Duris von Samos seine Darstellungen mit Elementen aus der Tragödie angereichert. Offenbar war die tragische Historiographie eine beliebte Darstellungsform bei Peripatetikern. Mit der vorliegenden Überlieferung enden die byzantinischen Exzerpte zur Universalgeschichte, denn die beiden nachfolgenden Fragmente gehen nicht auf Nikolaos zurück. 3.5.13.  Fragment 69 & 70 (Exc. de virtut. 1 p. 349,9; 1 p. 351,21 = Dion. Hal., ant. 1,82,3-1,84,2; 2,32,1-2,34,1) Diese Textauszüge aus den Excerpta de virtutibus et vitiis, welche die römische Frühgeschichte thematisieren, stimmen mit zwei längeren Abschnitten von Dionysios von Halikarnassos überein. Nikolaos hat das Werk seines Zeitgenossen wohl nicht in dieser Form abgeschrieben, denn seine Arbeitsweise deutet darauf hin, dass er seine Vorlagen in der Regel verändert hat. 980 Nach F. Jacoby sei dies noch keine ausreichende Widerlegung für eine wörtliche Übernahme, aber es sei dennoch sehr unwahrscheinlich, dass Nikolaos hier so vorgegangen ist. 981 Vermutlich liegt ein Fehler der konstantinischen Schreiber vor: Wie der Subscriptio   Hdt. 1,30; 1,53.   Aristot., poet. 1452 a30. 979   Snell (1973), S. 205. Bei Herodot scheint der Tod des Atys nur eine Folge des hybriden Verhaltens von Kroisos zu sein, nicht aber eine Vergeltung für den Mord des Gyges, vgl. Kirchberg (1965), S. 16. 980   Laqueur (1936), Sp. 392. 981   Jacoby (1926b), S. 253. 977 978

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am Ende von Fragment 70 zu entnehmen ist, endete mit diesen Überlieferungen die Exzerpierung des siebten Buches des Nikolaos [τέλος τοῦ ζ ̄ λόγου τῆς Νικολάου ἱστορίας]. Daraus lässt sich folgern, dass die byzantinischen Schreiber zwei Exzerpte des Dionysios unter dem falschen Autorennamen einsortiert haben. Die Blätter gerieten an diese Stelle, weil im Werk des Nikolaos die römische Geschichte folgte. 982 Der abschließende Verweis der byzantinischen Schreiber auf die Überlieferungen zur griechischen Geschichte [ζήτει τὰ λείποντα περὶ ἑλληνικῆς ἱστορίας] nimmt wohl auf die Werke anderer antiker Autoren Bezug, denn die Universalgeschichte des Nikolaos war im 10. Jahrhundert nicht mehr vollständig erhalten. 983 3.6.  Andere Bücher (F 71-81) 3.6.1.  Fragment 71 (Constant. Porph., De them. 1,3 p. 22) Einordnung: Wie Fragment 23 stammt dieser Textauszug aus dem Werk De thematibus des byzantinischen Herrschers Konstantin VII. Als Quelle wird im letzten Satz der Überlieferung Nikolaos von Damaskus angegeben, wobei die Stellenangabe, die vielleicht auf das 18. Buch der Universalgeschichte verweist, korrupt ist. Der Zusammenhang mit der lydischen Geschichte spricht dafür, dass das Fragment einem früheren Teil der Historien zuzuordnen ist. 984 Inhaltlich geht es um den Namen des Verwaltungsbezirks Thrakesien, der in früherer Zeit Kleinasien [Ασία μικρὰ] genannt wurde. Über den Lyderkönig Alyattes ist zu lesen, dass er von den Fähigkeiten einer Thrakerin erstaunt gewesen sei und daraufhin andere Thraker bei sich ansiedelte. Beide Herrscher, die bei Nikolaos den Namen Alyattes haben – der Vater des Sadyattes (F 59; 63) sowie der Vater des Kroisos (F 63-65) – kommen im siebten Buch der Historien vor. Mit jenem Teil des Werks enden auch die konstantinischen Exzerpte, sodass sich folgern lässt, dass das siebte Buch der Universalgeschichte das letzte war, das im 10. Jahrhundert in Byzanz zur Verfügung stand. 985 Den thrakischen König Kotys, der erwähnt wird, hält F. Jacoby für eine „phantasielose erfindung“, weil es keinen anderen Beleg für einen Herrscher dieser Zeit mit jenem Namen gibt. 986 Die Vorlage des Nikolaos war vielleicht Herodot, allerdings stimmen die Details der vorliegenden Darstellung nicht mit der Parallelüberlieferung überein: In Herodots Version geht es um eine Frau aus dem Land der Paionen, die den Perserkönig Dareios trifft. 987 Bei dieser Überlieferung handelt es sich aber nicht um eine   Jacoby (1926b), S. 253.   Parmentier (2002), S. 474. 984   Parmentier / Barone (2011), S. 154. 985   Jacoby (1926b), S. 253. 986   Jacoby (1926b), S. 253-254. 987   Hdt. 5,12-14; vgl. Parmentier / Barone (2011), S. 153. 982 983

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fehlerhafte Übertragung von Herodot, wie E. Meyer vermutet hatte. 988 Nach F. Jacoby komme vielmehr Ktesias als Quelle in Frage, während Xanthos als Vorlage auszuschließen sei. 989 Bei der Anmerkung, dass Nikolaos der Schreiber [ὑπογραφεύς] des Königs Herodes war, handelt es sich um das dritte Testimonium. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Dem Textauszug ist zu entnehmen, dass eine Familie das thrakische Mysien verließ und nach Sardeis kam. König Alyattes staunte über die Frau, weil sie zur selben Zeit einen Wasserkrug auf ihrem Kopf trug, mit ihren Händen Garn spann und ein Pferd zur Quelle führte. Der Herrscher schickte eine Gesandtschaft zum Thrakerkönig Kotys, der wiederum eine große Menschenmenge zu ihm entsandte. Seitdem wurden die Bewohner Kleinasiens Thrakesier genannt. Im ersten Teil des Fragments werden zur Einordnung Mysiens die Worte „Nahekämpfender Myser und trefflicher Hippemolgen“ aus der Ilias zitiert. 990 Dasselbe Zitat von Homer, einschließlich des darauf folgenden Verses, wird in Fragment 104 aus dem Werk des Nikolaos über besondere Völkersitten wiedergegeben. Dass der Autor das Werk Homers kannte, zeigen auch die Fragmente 83 und 84. Der Volksstamm der Myser siedelte wohl ursprünglich auf der Balkanhalbinsel, südlich der Donau, und später in der Landschaft Mysien im Nordwesten Kleinasiens, die auch in Fragment 47 erwähnt wird. Der Textauszug enthält narrative Elemente, wie die zufällige Begegnung der Thrakerin mit dem König und die vielen Arbeiten, die sie verrichtet. Das Fragment legt nahe, dass der Name Θραικήσιον von Θρᾷξ und Ἀσία abgeleitet ist. Damit bietet die Überlieferung als einzige Quelle eine Erklärung für den Namen des Verwaltungsbezirks. Am Ende des Fragments äußert sich in einer Anmerkung über die Tätigkeiten der Thrakesier Anerkennung für das Volk. Bei Herodot kommt die Bewunderung in der Frage des Königs zum Ausdruck, ob alle Myserinnen so arbeitsam seien wie diese Frau. 991 Ein historischer Kern der Geschichte könnte darin liegen, dass eine Migrationsbewegung zwischen Thrakien und Kleinasien mit einem Wissenstransfer von einem Volk auf der Balkanhalbinsel zu den Lydern einherging. 3.6.2.  Fragment 72 (Ios., ant. Iud. 1,3,6 [93-95]) Einordnung: Flavius Josephus nennt in diesem Teil der Jüdischen Altertümer, in dem es um die Sintflut und die Arche geht, neben dem Chaldäer Berossos, dem Ägypter Hieronymos und Mnaseas auch das 96. Buch des Nikolaos als Beleg für seine Darstellung. Die Überlieferungen von Berossos, Hieronymos und Mnaseas,   Meyer (1892), S. 168.   Jacoby (1926b), S. 253-254; Von Fritz (1967), S. 354-355. 990   Hom., Il. 13,5-6 übers. v. Rupé (2004), S. 423. 991   Hdt. 5,13. 988 989

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die Josephus zufolge Geschichtswerke über die Barbaren verfasst haben, sind nicht erhalten. Hieronymos ist nicht mit dem griechischen Geschichtsschreiber Hieronymos von Kardia gleichzusetzen und nur aus dieser Quelle bekannt. 992 Das Zitat des Nikolaos, das in dem Textauszug wiedergegeben wird, legt wie die Fragmente 19 und 20 nahe, dass der Autor für seine Universalgeschichte auf biblische Texte zurückgegriffen hat. Durch das Verbum dicendi λέγω wird die vordere Zitatgrenze markiert. Auf Nikolaos geht auch die Anmerkung über denjenigen zurück, der auf der Arche gefahren ist. Womöglich stammt das Fragment aus einem geographischen Exkurs über Armenien, denn für eine Darstellung über Noah ist die Buchzahl, die Josephus in der Stellenangabe nennt, zu hoch. Immerhin kam Abraham bereits im vierten Buch vor, wie in Fragment 19 zu lesen ist. Außerdem gibt es auch in der Darstellung des Trogus über die Parther einen Exkurs zu Armenien. 993 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Im ersten Teil des Fragments lässt die Aufzählung der Autoren der βαρβαρικαί ἱστορίαι vermuten, dass Nikolaos selbst auf die Werke von Berossos, Hieronymos und Mnaseas zurückgegriffen hat und die Verweise aus der Universalgeschichte stammen. 994 Allerdings kannte Josephus die Schrift des Berossos, wie aus den Jüdischen Altertümern hervorgeht. 995 Die Herkunft der vier Autoren aus Babylonien, Ägypten, Kleinasien und Syrien zeigt die Verbreitung der Geschichte. Diese soll wie der zeitliche Abstand von fast drei Jahrhunderten zwischen den Werken der Schriftsteller die Authentizität der Darstellung belegen. Als weiterer Nachweis für die Glaubwürdigkeit dient das direkte Zitat des Nikolaos, dem eine vergleichsweise präzise Stellenangabe vorangeht. Der wörtlichen Wiedergabe ist zu entnehmen, dass es in Armenien einen hohen Berg gibt, der Baris genannt wird. Während der Sintflut ist ein Mann mit einer Arche auf dem Berggipfel gestrandet und die Überreste seines Schiffes sind dort erhalten geblieben. Wie im letzten Satz des Zitats zu lesen ist, handelte es sich beim Lenker des Schiffs möglicherweise um denjenigen, über den der jüdische Gesetzgeber Moses geschrieben hat. Die Ortsangabe Μινυάδα ist vom Volk der Minyer abgeleitet und bezieht sich auf eine Region südwestlich der Stadt Artaxata in der Nähe des Urmiasees. Baris ist der antike Name für den Ararat, den höchsten Berg Armeniens. 996 Die Anmerkung, dass viele auf den Berg geflüchtet seien, widerspricht der Darstellung des Josephus, dass nur Noah und seine Familie die Sintflut überlebt   Berossos FGrHist 680; Hieronymos von Ägypten FGrHist 787; vgl. Mason / Feldman (2000), S. 34. 993   Pomp. Trog. 42,2; vgl. Jacoby (1926b), S. 254. 994   Mason / Feldman (2000), S. 34. 995   FGrHist 680; vgl. Bloch (1879), S. 62-65. Zu Berossos vgl. Haubold et al. (Hg.) (2013). 996   Parmentier / Barone (2011), S. 154; Mason / Feldman (2000), S. 35; Stern (1974), S. 237. 992

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haben. 997 Zum Namen Μωυσῆς bemerkt Josephus an einer anderen Stelle, dass es sich dabei um die ägyptische Form für Moses handele. 998 3.6.3.  Fragment 73 (Athen. 10,9 [415e]) Einordnung: In diesem Textauszug aus den Deipnosophistai, in dem sich Athenaios auf das 103. Buch des Nikolaos beruft, geht es um den Sieg des Mithridates VI. bei einem Wettessen und Wetttrinken. Die Erwähnung des Königs von Pontos und die hohe Buchzahl legen nahe, dass Athenaios bei Nikolaos auf eine Darstellung der Mithridatischen Kriege zurückgegriffen hat. Für frühere Ereignisse hatte Athenaios die Universalgeschichte nicht als Vorlage, denn in den Deipnosophistai sind nur Fragmente aus den Büchern 103 bis 116 erhalten. 999 Nach T. Reinach stand Mithridates im Fokus der Bücher 100 bis 110, immerhin geht es in den Fragmenten 73 bis 78 um die Zeit des Herrschers. 1000 Auffällig ist in der vorliegenden Quelle, dass Nikolaos ohne Ethnikon genannt wird, dafür aber mit dem Zusatz ὁ περιπατητικός. Anders als bei Stephanos Byzantios (F 18; 26) steht der Name seines Geschichtswerk bei Athenaios immer im Plural [τῶν Ἱστοριῶν]. Parallelüberlieferungen zu dem Fragment finden sich bei Appian, der von Wettessen des Mithridates berichtet, und Aelian, der (wie Nikolaos) Kalamodrys aus Kyzikos erwähnt. 1001 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Textauszug überließ Mithridates VI. nach seinem Sieg bei einem Wettessen und Wetttrinken das Preisgeld von einem Talent Silber dem Zweitplatzierten, Kalamodrys von Kyzikos. Offenbar ist Nikolaos wie die meisten antiken Autoren der Schreibform Μιθριδάτης gefolgt, obwohl der zweite Vokal (gemäß der Ableitung des Namens von „Mithra“) „α“ lauten müsste. 1002 Appian berichtet von Goldpreisen bei Wettessen und -trinken des Mithridates. 1003 Die Erwähnung der Veranstaltung ist im vorliegenden Fragment als Kritik am Herrscher zu deuten, da Mithridates weniger als König und mehr als Athlet erscheint. Der Wettbewerb, in dem er sich misst, ist nur durch maßloses Essen und Trinken zu gewinnen. Dass er als Sieger hervorgeht, zeigt demzufolge, dass er in seiner Maßlosigkeit nicht zu übertreffen ist. Wie in Fragment 22 über den lydischen König Kamblitas wird auch hier der Herrscher als besonders gefräßig dargestellt. In beiden Fällen handelt es sich um asiatische Machthaber, was auf einen Topos der Maßlosigkeit fremder Herrscher hindeutet. Eine Überlieferung Aelians stützt diese Vermutung, denn in einer Aufzählung   Ios., ant. Iud. 1,76-77; vgl. Mason / Feldman (2000), S. 35.   Ios., ant. Iud. 2,9,6 (228); vgl. Bar-Kochva (1996), S. 314. 999   Jacob (2000), S. 92. 1000   Reinach (1895), S. 437. 1001   App., Mithr. 66,280; Ael., VH 1,27. 1002   Justi (1895), S. 209. 1003   App., Mithr. 66,280. 997 998

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gefräßiger Personen [ἀδηφάγοι] werden Kambles, Mithridates sowie Kalamodrys aus Kyzikos erwähnt. 1004 Letzterer ist einzig aus dem vorliegenden Fragment und der Nennung Aelians bekannt. 1005 Die Überlegenheit des Mithridates in dem Wettbewerb lässt sich auch als „Illustration seines Auftretens als ‚Neuer Dionysos‘“ interpretieren. 1006 Nach dieser Deutung sollte der König durch seinen Lebensgenuss göttergleich erscheinen. Den Römern waren überaus große Festmahle fremd, wie eine Überlieferung Appians zeigt, nach der Aulus Gabinius die Teilnahme an einem Festmahl von Mithridates ablehnte. 1007 Dass der König von Pontos den Gewinn in diesem Fragment an den Zweitplatzierten abtritt, demonstriert einerseits seinen Reichtum, da er den Preis nicht nötig hat, und andererseits seine Anerkennung für Kalamodrys. 3.6.4.  Fragment 74 (Athen. 8,6 [332f]) Einordnung: In dieser Überlieferung aus den Deipnosophistai gibt Athenaios ein Zitat aus dem 104. Buch des Nikolaos über die Folgen von Erdbeben im phrygischen Apameia wieder. Der Beginn des Textauszugs wird durch das Verbum dicendi φησὶ markiert. Das Ende des Zitats ist eindeutig, weil Athenaios im nachfolgenden Satz zu einem anderen Autor überleitet. Die Stadt Apameia lag im Westen Kleinasiens und ist auch als Apameia Kibotos bekannt. Eine Parallelüberlieferung findet sich bei Strabon, der schreibt, dass Apameia wiederholt von Erdbeben betroffen gewesen sei und Mithridates einst 100 Talente für den Wiederaufbau der Stadt gezahlt habe. 1008 Auch Cassius Dio und Orosius erwähnen ein heftiges Erdbeben, das sich auf 63 v. Chr. (das Todesjahr des Mithridates) datieren lässt. 1009 Nach K. Müller komme Poseidonios, der in Fragment 95 erwähnt wird, als Vorlage des Nikolaos in Frage. 1010 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Wie in dem Textauszug zu lesen ist, ereigneten sich während der Mithridatischen Kriege Erdbeben. Dabei entstanden neue Gewässer und frühere Gewässer verschwanden. Außerdem sind Fische und Muscheln zum Vorschein gekommen, obwohl das Meer weit von den Orten entfernt ist. Die zeitliche Einordnung macht klar, dass sich die Erdbeben irgendwann zwischen 89 und 63 v. Chr. ereigneten. Nikolaos erklärte wohl das plötzliche Aufkommen und Verschwinden der Gewässer mit unterirdischen Wasserströmen, die schon Demokrit als Ursache für Erdbeben genannt hatte. 1011 Nach Strabon   Ael., VH 1,27.   Marquardt (1836), S. 140; Reinach (1895), S. 273. 1006   Vössing (2004), S. 154. 1007   App., Mithr. 66 (280); vgl. Vössing (2004), S. 154. 1008   Strab. 12,8,18 (579C 13-16). 1009   Cass. Dio 37,11,4; Oros. 6,5,1; vgl. Saprykin (1998), S. 396. 1010   Müller (1849), S. 416. 1011   Demokr. 55,97 DK = Aristot., meteor. 365 b. 1004 1005

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habe es in der Region viele Höhlen unter der Erde gegeben. 1012 Über Tote oder Gebäudeschäden gibt der Textauszug keine Auskunft. Das Fragment zeigt aber, dass es in der Universalgeschichte Exkurse über geographische Verhältnisse und Naturkatastrophen gab. In der Parallelüberlieferung von Strabon soll die Erwähnung des Wiederaufbaus der Stadt die Philanthropie des Mithridates zum Ausdruck bringen. 1013 3.6.5.  Fragment 75 (Athen. 6,78 [261c]) Einordnung: Dieses Fragment aus dem Gastmahl der Gelehrten, das Athenaios dem 107. Buch des Nikolaos entnommen hat, nennt den römischen Feldherrn Lucius Cornelius Sulla. Zusammen mit der Stellenangabe legt diese Erwähnung nahe, dass der Textauszug wie die vorangegangenen Überlieferungen aus einer Darstellung der Mithridatischen Kriege stammt. Wie in Fragment 79 fehlt auch hier eine Einordnung des Nikolaos als ὁ ∆αμασκηνὸς oder ὁ Περιπατητικὸς. Der Titel seines Werks steht im Plural und entspricht damit den meisten Belegen für die Universalgeschichte [τῶν Ἱστοριῶν]. Eine Parallelüberlieferung zu dem Fragment findet sich bei Plutarch, der ebenso wie Nikolaos berichtet, dass Sulla Staatsland an Künstler verschenkt habe. 1014 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Textauszug war Sulla von Parodisten begeistert und lachte gerne über Possenreißer, sodass er ihnen große Teile des Staatslandes schenkte. Über seine Heiterkeit geben die Satyr-Komödien Aufschluss, die er in der Sprache seiner Vorfahren verfasst hat. Die Erwähnung der verschenkten Parzellen lässt sich als Kritik am römischen Diktator deuten, weil er öffentliche Güter wie persönlichen Besitz verschenkte. Für die Komödien, die ihm zugeschrieben werden, finden sich in den antiken Zeugnissen keine Belege. Möglicherweise handelt es sich also beim letzten Satz des Fragments um ein Missverständnis: In Sullas Zeit wurden zwar die Atellanae fabulae verfasst, aber er hat sie nicht persönlich geschrieben. 1015 3.6.6.  Fragment 76 (Athen. 15,28 [682a]) Einordnung: Dem Fragment aus den Deipnosophistai ist zu entnehmen, dass Athenaios auf das 108. Buch des Nikolaos zurückgegriffen hat. Aus der kurzen Anmerkung über eine Pflanze, die an einem bestimmten See wächst, geht nicht hervor, in welchem Kontext der Textauszug stand. Die Nennung der Alpen und die Position der Quelle zwischen dem 103. und 110. Buch sind Hinweise dafür, dass Athenaios eine Darstellung der Mithridatischen Kriege als Vorlage hatte.   Strab. 12,8,19 (580C 1-3).   McGing (1986), S. 109-110. 1014   Plut., Sull. 33,3. 1015   Teuffel (1882), S. 250. 1012 1013

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Die Frage von F. Jacoby, ob hier der Alpenübergang des Pompeius geschildert wurde, ist nicht sicher zu beantworten. 1016 Seine Vermutung ist darauf zurückzuführen, dass Nikolaos nach den Fragmenten 97 und 98 über die Taten aus der Zeit des Pompeius berichtete. Mit der ungenauen Größenangabe zu dem See bleibt unklar, welches Gewässer der Autor meinte. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment gibt es in der Alpenregion einen See mit einer Größe von vielen Stadien. An seinem Rand finden sich sehr duftende und farbenprächtige Blumen, ähnlich den sogenannten „Kalchai“. Die Angabe, dass die Blumen δι᾽ἔτους wachsen, spricht für eine periodische Wachstumsphase, denn ein durchgehendes Wachstum ist aus botanischer Sicht auszuschließen. Andererseits hatte Nikolaos Interesse an märchenhaften Darstellungen, sodass sich auch die zweite Deutung begründen ließe. Der Autor vergleicht die Blumen mit den κάλχαι, bei denen es sich wohl um die Chrysanthemon coronarium handelt. 1017 In der Schrift De materia medica von Dioskurides findet sich unter dem Artikel Χρυσάνθεμον als alternativer Name Χάλκας. 1018 Wenn die Buchstaben Κ und Χ vertauscht wurden, handelt es sich um dieselbe Pflanze. Als weiteren Namen wird in dem Abschnitt etwa die römische Bezeichnung Caltha genannt. Unter dem Eintrag Βούφθαλμον schreibt Dioskurides, dass einige die Pflanze κάχλας nennen. 1019 Offenbar ist dies eine weitere Schreibvariante, denn die Inhalte beider Einträge weisen deutliche Parallelen auf. Plinius bestätigt in seinem Werk, dass die Pflanze Buphthalmos auch chalca genannt werde. 1020 Weitere Erwähnungen finden sich bei Athenaios, der sich auf Alcman [κάλχη] und Nikander [χαλκάς] beruft. 1021 Den Quellen lassen sich zwar Angaben zum Aussehen und zum Habitat der Pflanze entnehmen, doch mit den wenigen Merkmalen ist eine artspezifische Identifikation nicht möglich. Im Wiener Dioskurides liegen immerhin zwei Abbildungen der Chrysanthemon/Chalkas und des Buph­ thalmon aus dem sechsten Jahrhundert vor. 1022 In botanischen Nachschlagewerken wird die Chrysanthemon coronarium teilweise unter dem Namen Glebionis coronaria aufgeführt, aber die erste Bezeichnung wird in der Forschung vorgezogen. 1023 3.6.7.  Fragment 77a & b (Athen. 6,109 [274e-f]; 12,61 [543a]) Einordnung: Diese beiden Textauszüge aus den Deipnosophistai des Athneios müssen auf dieselbe Vorlage in der Universalgeschichte zurückgehen, denn in   Jacoby (1926b), S. 254.   LSJ (91940; ND: 1951), Art. κάλχη, , S. 871. 1018   Diosk., mat. med. 4,58; Berendes geht davon aus, dass dieser Teil später eingeschoben worden ist, vgl. Berendes (1902), S. 394. 1019   Diosk., mat. med. 3,139. 1020   Plin., nat. 25,82. 1021   Athen 15,28 (682a); 15,31 (684c). 1022   Mazal (1998), f. 75v (Buphthalmon); f. 373r (Chrysanthemon/Chalkas). 1023   Turland (2004). 1016 1017

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ihrer Darstellung über den römischen Feldherrn Lucius Licinius Lucullus stimmen sie teilweise wörtlich miteinander überein. In Fragment 77a findet sich eine Quellenangabe, die auf das 110. Buch der Historien verweist. Der Titel des Werks steht wie in den meisten Überlieferungen im Plural [τῶν Ἱστοριῶν]. Nikolaos wird in beiden Versionen wie in Fragment 73 mit dem Zusatz ὁ Περιπατητικὸς eingeordnet. Bei dem Konflikt mit Mithridates, der in Fragment 77a genannt wird, handelt es sich um den Dritten Mithridatischen Krieg (74-63 v. Chr.). Die Erwähnung der Seeschlacht in Fragment 77b bezieht sich auf eine militärische Auseinandersetzung in den 70er Jahren v. Chr., bei der die Flotte des Mithridates bei Lemnos geschlagen wurde. 1024 Der Triumphzug des Lucullus, der in beiden Fassungen genannt wird, fand im Jahre 63 v. Chr. statt, nachdem seine politischen Gegner in der Hauptstadt ihren Widerstand gegen die Ehrung aufgegeben hatten. Ereignisse, die im selben Jahr stattfanden, werden in Fragment 98 thematisiert. Die Verbindung von Lucullus mit der Einführung von verschwenderischem Luxus in Rom ist ein Topos, der auch bei Plutarch und Velleius Paterculus überliefert ist. 1025 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Den Fragmenten ist zu entnehmen, dass Lucullus nach seinen Siegen gegen den pontischen König Mithridates und den armenischen König Tigranes einen Triumph in Rom feierte. Durch die Aneignung des Reichtums der Herrscher kam Lucullus von seiner besonnenen Haltung [σωφροσύνη] ab und wurde zu einem Vorreiter für Schwelgerei [τρυφή]. Dass Lucullus dem Senat Bericht über den Krieg erstattet habe, wie in beiden Fassungen zu lesen ist, entspricht dem gängigen Verfahren in der späten römischen Republik. 1026 Die Eroberung des Ostens erscheint in den antiken Zeugnissen vielfach als Ursache für den Sittenverfall in Rom, aber Nikolaos gehört zu den frühesten Autoren, die darüber berichten. 1027 Bei ihm durchläuft Lucullus eine Entwicklung von der σωφροσύνη zum Wegbereiter der τρυφή. Der Reichtum, den der Feldherr in Asien erbeutete, verleitete ihn nach dieser Darstellung zu einer Lebensführung, die den römischen Normen entgegenstand. Lucullus erscheint dadurch als Erbe der asiatischen Könige Mithridates und Tigranes. 1028 Seine Schwelgerei bedeutete einen Bruch mit den Verhaltenserwartungen und eine Schwächung des Normensystems, da seiner Maßlosigkeit keine Sanktionierung folgte (Kap. 2.3.3.1.). Im Jahre 63 v. Chr. wurde nach Nikolaos also eine Phase des Niedergangs eingeleitet. Dabei reflektierte der Autor sicher, dass seine Heimat in dieser Zeit von den Römern erobert wurde. 1029   Bürchner (1899), Sp. 2487.   Vell. 2,33,4; Plut., Luc. 37,3-6; 39,2. 1026   Beard (2007), S. 200-202. Zum römischen Triumph vgl. auch Itgenshorst (2005); Östenberg (2009); Lange / Vervaet (Hg.) (2014). 1027   Will (1991), S. 13-14. 1028   Vössing (2004), S. 250. 1029   Alonso-Núñez (1995), S. 10. 1024 1025

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3.6.8.  Fragment 78 (Athen. 4,39 [153f-154a]) Einordnung: Dieser Teil aus dem 110. Buch ist in den Deipnosophistai des Athenaios überliefert und berichtet von Zweikämpfen, die bei römischen Gastmahlen abgehalten wurden. In der Darstellung werden zwei Testamente wiedergegeben, die Verfügungen über Totenfeiern beinhaltet haben und wahrscheinlich in die späte römische Republik einzuordnen sind. Im einleitenden Satz des Fragments wird Nikolaos (ausführlicher als in den meisten anderen Fragmenten des Athenaios) als Angehöriger der peripatetischen Schule eingeordnet. Bei dieser Quellenstelle handelt es sich nämlich um die erste Erwähnung des Nikolaos im Gastmahl der Gelehrten. Athenaios hat den Autor offenbar mehr als Philosophen und weniger als Geschichtsschreiber oder als Vertrauten des Herodes wahrgenommen. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment hatten die Römer von den Etruskern die Sitte übernommen, sich in Festversammlungen und Theatern Zweikämpfe anzuschauen. Bei Gastmählern veranstalteten die Römer Zweikämpfe, wenn die Gäste genug vom Essen und Trinken hatten. Der Begriff μονόμαχος geht auf die gängige griechische Übersetzung des lateinischen Wortes munus zurück. In der Forschung wurde die Textstelle als Beleg für den etruskischen Ursprung der Gladiatorenkämpfe herangezogen. Außerdem wurde gefolgert, dass Gladiatoren als Personengruppe (trotz der Beliebtheit von Gladiatorenspielen und einzelnen Gladiatoren) einen schlechten Ruf in Rom hatten, weil sie in einer etruskischen Tradition standen. 1030 Aufgrund bildlicher Überlieferungen aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. wird inzwischen vermutet, dass der Gladiatorenkampf in der Umgebung der samnitisch-oskischen Bevölkerung Süditaliens entstanden ist. Die Kämpfe bei Gastmählern dienten der Unterhaltung wohlhabender Schichten und bildeten den Höhepunkt des Abends. Funde von Wandmalereien und Mosaiken mit Darstellungen von Gladiatoren bestätigen, dass die Vorführung von Zweikämpfen einen wichtigen Platz im Alltag reicherer Bevölkerungsschichten ausmachte. 1031 Als besonderes Beispiel für ein solches Ereignis wird in dem Fragment ein Römer erwähnt, der in seinem Testament [διαθῆκαι] verfügte, dass die hübschesten seiner Frauen [εὐπρεπέσταται] nach seinem Tod gegeneinander kämpfen sollten. Nikolaos bezieht sich damit auf munera gladiatorum, die für bedeutende Repräsentanten der römischen Nobilität eine Erweiterung der Totenfeiern bildeten. Die Kämpfe wurden zu Ehren der Verstorbenen und zur Unterhaltung der   Junkelmann (2000), S. 32; Wiedemann (2001), S. 44; Shadrake (2005), S. 38. In Wirklichkeit gab es wohl kein einheitliches Bild der Gladiatoren, wie auch die Einstellung der römischen Gesellschaft zu den Histrionen nahelegt, vgl. Leppin (1992), S. 135159. 1031   Wiedemann (2001), S. 37. 1030

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Lebenden ausgerichtet. Dass die Frauen in der vorliegenden Quelle Sklavinnen sind, wird durch die Verfügungsgewalt des Römers und durch das Verb ἐκέκτητο von κτάομαι deutlich. Um Eindruck zu erwecken, bestimmte er für den Kampf die εὐπρεπέσταται – also die Frauen, die er aufgrund ihrer Schönheit als besonders kostbaren Besitz betrachtete. In der späteren römischen Geschichte waren Kämpferinnen ein Indiz für die Qualität von Gladiatorenspielen. Häufig wird in den Quellen das Auftreten von Frauen in der Arena mit Luxus und hohen Kosten verbunden. 1032 Dass der Römer, der in diesem Textauszug genannt wird, durch sein Testament eine Weitergabe der Sklavinnen an einen anderen Besitzer verhindern wollte, lässt sich nicht belegen. Laut Darstellung verfügte ein anderer Römer in seinem Testament, dass seine Knaben, die er als Geliebte hatte, gegeneinander in einem Zweikampf antreten sollten. Diese Unsittlichkeit [παρανομία] habe das Volk aber unterbunden, indem es das Testament für ungültig erklärte. Der Terminus technicus ἄκυρον τὴν διαθήκην ἐποίησεν, der die Intervention gegen das Testament beschreibt, ist auch beim athenischen Rhetor Isokrates überliefert. 1033 Der Fall, den Nikolaos darstellt, lässt sich in die späte römische Republik einordnen, in der mehrere Gesetze die munera einschränkten, nachdem sie zuvor immer häufiger für Wahlkämpfe instrumentalisiert worden waren. Marcus Tullius Cicero verbot durch die Lex Tullia de ambitu, dass Gladiatorenspiele in den zwei Jahren vor einer Amtsbewerbung ausgerichtet werden, wenn die Kämpfe nicht testamentarisch auf einen Tag in dieser Zeit festgesetzt waren. 1034 Dieses Gesetz belegt, dass es in römischen Testamenten des ersten Jahrhunderts v. Chr. Bestimmungen über munera gab und die vorliegende Darstellung in diesen Zeitraum gehören könnte. Unklar bleibt die Form der beiden Verfügungen, denn sicher ist nur, dass sie schriftlich verfasst waren [γέγραφεν]. Entweder handelt es sich bei διαθήκη um ein klassisches Testament oder um ein Kodizill, also um „einseitige letztwillige Anordnungen ohne Erbeinsetzung.“ 1035 Die Unwirksamkeit des zweiten Testaments wird mit παρανομία begründet. Gemäß dem ius civile konnten einzelne Bestimmungen wegen verbotswidriger und unsittlicher Bedingungen gestrichen werden, wobei das Geschäft im Allgemeinen bestehen blieb. 1036 Auch der letzte Wille des hier erwähnten Römers verlor nicht zwingend seine gesamte Gültigkeit. Aus dem Einspruch lässt sich ableiten, dass es Altersgrenzen bei Zweikämpfen gab. Das jugendliche Alter der Knaben [παῖδες] wird mit dem Adjektiv ἄνηβοι unterstrichen. Für die Intervention spielte aber wohl keine Rolle, dass die Jungen Geliebte ihres Besitzers waren.   Briquel (1992), S. 47-53; McCullough (2008), S. 202-203.   Isokr., or. 19,3. 1034   Cic., Sest. 133; Cic., Vatin. 37. 1035   Kaser / Knütel (2003), S. 421; vgl. Hausmaninger / Selb (1997), S. 443. 1036   Kaser / Knütel (2003), S. 85; 420-421. 1032 1033

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Die Unterbindung beziehungsweise Sanktionierung von Normbrüchen gehörte zur Tätigkeit des Censors, aber im vorliegenden Fragment deutet das Wort δῆμος darauf hin, dass die Ablehnung des Testaments von einer anderen Institution ausging. Im sechsten Buch des Polybios ist δῆμος die Entsprechung des lateinischen populus, aber das Wort bezeichnet im konkreteren Sinne die Volksversammlung. 1037 Der Senat war erst seit augusteischer Zeit für die Genehmigung privater munera zuständig. Ursprünglich kümmerte sich die comitia curiata um testamentarische Angelegenheiten, aber seit der Königszeit hat die Versammlung an Bedeutung verloren. Die Verwendung des Begriffs δῆμος, der sich nicht eindeutig auf ein Gremium beziehen lässt, 1038 könnte damit zusammenhängen, dass Nikolaos einen Konsens in der Ablehnung des Testaments suggerieren wollte. Es war demnach die Gesamtheit der sozialen Gruppe, die den Normbruch unterbunden hat (Kap. 2.3.3.1.). Die ausführliche Darstellung der römischen Sitte und die Erklärung, dass das Vergnügen der Zuschauer im Tod des unterlegenen Kämpfers bestünde, zeigen, dass der Zweikampf dem griechischen Leser als Unterhaltung fremd war. Einerseits bringen die beiden Beispiele für munera eine distanzierte Haltung zu den Vorführungen zum Ausdruck, andererseits zeigt sich ein Interesse des Autors an römischen Sitten. 1039 3.6.9.  Fragment 79 (Athen. 6,61 [252d-e]) Einordnung: In diesem Fragment, das bei Athenaios überliefert ist und durch eine Stellenangabe dem 114. Buch des Nikolaos zugeordnet werden kann, geht es um Andromachos von Carrhae, der den römischen Feldherrn und Triumvirn Marcus Licinius Crassus verraten hat. Das Ereignis ist auf das Jahr 53 v. Chr. zu datieren. Crassus, der eigenmächtig einen Feldzug gegen die Parther begonnen hatte, gelangte nach Carrhae im nordwestlichen Mesopotamien, wo er schließlich getötet wurde. Dass das nachfolgende Fragment eine frühere Zeit thematisiert, spricht nicht für eine fehlerhafte Stellenangabe des Athenaios, denn die Universalgeschichte war nicht durchgehend chronologisch aufgebaut. 1040 Nikolaos wird hier, wie in Fragment 75, weder als Peripatetiker noch mit der Angabe seiner Herkunft aus Damaskus eingeordnet. Außerdem fehlt im vorliegenden Textauszug wie in den Fragmenten 77b, 90 und 94 der Titel seines Werks. Die einzige Parallelüberlieferung, in der Andromachos vorkommt, ist die Crassus-Vita von Plutarch. 1041 Wie in Fragment 99 hat Plutarch wohl auch hier die Universalgeschichte des Nikolaos als Vorlage verwendet. Über die Schlacht bei Carrhae gibt es eine Vielzahl von Quellen, weil sie als eine der größten militärischen Niederlagen der Römer bekannt wurde. 1042   Polyb. 6,14.   Ville (1981), S. 263. 1039   Alonso-Núñez (1995), S. 10. 1040   Jacoby (1926b), S. 254. 1041   Plut., Crass. 29,2-5. 1042   Weissbach (1919), Sp. 2014. 1037 1038

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment war Andromachos ein Schmeichler des Crassus. Bei einem Feldzug gegen die Parther wurde Crassus von Andromachos an die Parther ausgeliefert und schließlich getötet. Der Daimon hat Andromachos aber nicht straflos davonkommen lassen. Nachdem er als Lohn für seine Tat die Herrschaft über seine Heimatstadt Carrhae erhalten hatte, wurde er von den Einwohnern wegen seiner Grausamkeit und Gewalttätigkeit [διὰ τὴν ὠμότητα καὶ βίαν] mit seinem ganzen Haus verbrannt. Das Wort κόλαξ bezeichnet eine Person, die jemandem schmeichelt, um daraus einen Vorteil zu ziehen. Die Einwohner Carrhaes waren Nachfahren makedonischer Kolonisten. 1043 Der Verrat des Andromachos an Crassus ist ausführlicher bei Plutarch überliefert: Andromachos täuschte die Römer, indem er sie auf lange Märsche führte, die sie nicht an ein Ziel bringen, sondern erschöpfen sollten. Währenddessen stand er mit den Parthern unter ihrem Feldherrn Surenas in Kontakt, der Crassus schließlich bei Carrhae besiegte. 1044 Der Tod des Andromachos erscheint in dieser Überlieferung als gerechtes Ende. Er war nämlich unehrlich und führte seine römischen Bundesgenossen durch Verrat in den Untergang. Außerdem unterdrückte er seine Mitbürger als Tyrann, indem er mit ὠμότης und βία regierte. Beide Worte werden auch in den Fragmenten 58 und 61 mit der Tyrannis verbunden. Als Instanz, die den Ausgang der Geschichte beeinflusst hat, nennt der Autor wie in den Fragmenten 38 und 95 den Daimon, der wieder Gerechtigkeit herstellt. Dass das Haus des Andromachos in Brand gesetzt wurde, ist als Rügebrauch zu deuten. Darauf weist der gemeinschaftliche Vollzug der Strafe für den Verstoß gegen die als verbindlich erachtete Ordnung hin. Offenbar handelt es sich um ein tyrannenfeindliches Motiv, denn auch das Haus des messenischen Tyrannen Aipytos wurde laut Fragment 34 bei der Vollstreckung eines Rügebrauchs verbrannt. Die Häuser der Kypseliden in Korinth wurden laut Fragment 60 eingerissen. Es scheint, als werde die Niederlage der Römer in der Darstellung des Nikolaos allein auf den Verrat des Andromachos zurückgeführt. 1045 3.6.10.  Fragment 80 (Athen. 6,54 [249a-b]) Einordnung: In dieser Quelle, die in den Deipnosophistai des Athenaios überliefert ist und aus dem 116. Buch des Nikolaos stammt, geht es um Adiatomos, den König der keltischen Sotianer, dessen Gefolge durch ein Gelübde auf Leben und Tod an ihn gebunden war. In De bello Gallico nennt Caesar denselben König Adiatuanus. 1046 Der Name des Herrschers ist wahrscheinlich ein Kompositum aus ad sowie ia(n)tu und bedeutet „eifrig strebend“. Die Sotianer sind mit den Sotiates beziehungsweise Sottiates identisch und waren eine Völkerschaft in Aquitanien.   Cass. Dio 37,5,5; vgl. Tubach (1986), S. 132-133.   Plut., Crass. 29,2-7. 1045   Engels (1999), S. 268. 1046   Caes., Gall. 3,22. 1043 1044

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Über die Vorstellung des Nikolaos von den Kelten geben zwei Fragmente aus seinem Werk über besondere Völkersitten Auskunft (F 103e; 109). Die Parallelüberlieferung in De bello Gallico über die Unterwerfung Aquitaniens durch den Legaten Publius Licinius Crassus erlaubt eine Datierung der Handlung auf das Jahr 56 v. Chr. Damit geht die Darstellung zeitlich dem 79. Fragment voraus. Weil die Universalgeschichte aber nicht durchgehend chronologisch aufgebaut war, gibt es keinen Grund an den Stellenangaben des Athenaios zu zweifeln. Nikolaos wollte wohl zuerst die Geschehnisse in Asien thematisieren (F 79), bevor er den gallischen Krieg als Einheit und den römischen Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius darstellte. 1047 Am Anfang des Textauszugs wird Nikolaos durch seine Herkunft sowie durch seine Zugehörigkeit zum Peripatos eingeordnet. Bei der folgenden Stellenangabe, die die Gesamtzahl der Bücher der Universalgeschichte nennt, handelt es sich um das 11. Testimonium. Der Titel der Schrift steht (anders als in den anderen Fragmenten, die bei Athenaios überliefert sind) im Singular [ἱστορία]. Als Vorlage hat Nikolaos wohl auf De bello Gallico zurückgegriffen, wie die inhaltliche Parallele im letzten Teil des Fragments nahelegt. 1048 Für die Wahl der Quelle spielte sicher eine Rolle, dass Caesar der Adoptivvater seines Freundes Augustus war. 1049 Außerdem hatte Herodes, für den Nikolaos tätig war, die Stellung seines Hauses Caesar und Augustus zu verdanken. 1050 Das Fragment zeigt, dass Nikolaos lateinische Werke für seine Historien heranzogen hat. 1051 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment hatte Adiatomos 600 Männer bei sich, die in der Sprache der Kelten Soliduroi [σολιδοῦροι] genannt würden, was „die an ein Gelübde gebundenen“ [εὐχωλιμαῖοι] bedeute. Zur Erläuterung des Gelübdes folgt ein Zitat aus dem Werk des Nikolaos. Demnach teilten die Männer mit dem König die Macht, zogen die gleiche Kleidung an und führten die gleiche Lebensweise. Sie stürben sogar mit ihm, egal, ob er infolge einer Krankheit, in einem Krieg oder auf irgendeine andere Weise umkomme. Und niemand kann sagen, dass sich einer vor dem Tod gefürchtet oder sich ihm entzogen hätte, wenn der König umgekommen sei. Ebenso wie Nikolaos nennt auch Caesar die Zahl von 600 Männern, die dem König als soldurii unterstanden. Von den Römern wurden diese auch deuoti genannt. 1052 Die Worte οἱ βασιλεῖς am Anfang des Zitats und οὐδεὶς εἰπεῖν τινὰ am Ende der Überlieferung zeigen, dass es schon vor der Herrschaft des Adiatomos Gelübde gab, die das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den σολιδοῦροι und   Jacoby (1926b), S. 254.   Jacoby (1926b), S. 254; Keune (1931), Sp. 990; Laqueur (1936), Sp. 392. 1049   Alonso-Núñez (1995), S. 10. 1050   Engels (1999), S. 273. 1051   Nikolaos’ Zeitgenosse Diodor hat Caesars De bello Gallico offenbar nicht verwendet, vgl. Rathmann (2016), S. 28-29. 1052   Fiebiger (1927). 1047 1048

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ihrem jeweiligen König regelten. Das Phänomen, dass sich eine Anhängerschaft an das Schicksal des Königs kettete, ist auch aus anderen Quellen bekannt. 1053 Durch die Vereinbarung konnten sich die Herrscher der Loyalität ihres Gefolges sicher sein, weil die Männer am Wohlergehen des Königs interessiert waren. Die Abhängigen konnten wiederum davon ausgehen, ein hohes Maß an Sicherheit und eine königliche Versorgung zu erhalten, solange der Herrscher lebte. Dass sie sich über die Reichweite ihrer Bindung im Klaren waren, wird in der Darstellung durch ihre Bereitschaft deutlich, den König in den Tod zu begleiten. Offenbar wurde der Suizid verlangt, wenn der König etwa durch eine Krankheit umkam. In einer politischen Ordnung, die ein solches Treueverhältnis forderte, musste der König keine Gefahr aus seinem direkten Umfeld fürchten. Andererseits war sein Tod mit hohen personellen Verlusten für die Kelten verbunden, wenn es wirklich 600 σολιδοῦροι gab. Nikolaos idealisiert die Verhältnisse unter den Fremden, indem er Abweichungen von den Verhaltensforderungen ausschließt und damit einen dauerhaften Konsens suggeriert. In seinem Bericht über den gallischen Krieg wollte der Geschichtsschreiber die Leser wohl auch durch Exkurse über besondere Völkersitten unterhalten. 3.6.11.  Fragment 81 (Ios., ant. Iud. 12,3,2 [125-127]) Einordnung: Bei dem Textausschnitt aus den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus handelt es sich um das letzte Fragment, das eine Stellenangabe zu den Historien des Nikolaos enthält. Der Verweis auf die hohen Buchzahlen 123 und 124 am Ende der Überlieferung zeigt wie die Beteiligung des Autors am Geschehen, dass die Handlung in die Zeitgeschichte des Nikolaos einzuordnen ist. Die Stellenangaben belegen, dass Athenaios den Umfang der Historien in Testimonium 11 und Fragment 80 korrekt angegeben hat. Eine genaue Datierung der Handlung ist durch den Inhalt des Fragments möglich: Die Auseinandersetzung zwischen der jüdischen Diaspora und den Griechen in Ionien führte im Jahre 14 v. Chr. zu dem Verfahren, das hier dargestellt wird. Marcus Agrippa war zuvor mit Herodes in Ephesos (die Hauptstadt der Provinz Asia) eingetroffen, wo eine Gesandtschaft ihre Klage vorbrachte. Die Griechen in Ionien bestanden auf einer Beteiligung aller Bürger an den Kulthandlungen, doch für die Juden war diese Forderung nicht vereinbar mit ihrem Glauben. Nachdem beide Seiten in einer Verhandlung ihre Position vorbringen konnten, entschied Agrippa zu Gunsten der Juden. Josephus nennt den Prozess als Beleg dafür, dass die Juden in der Vergangenheit von den Herrschern geehrt worden seien. 1054 Exemplarisch hatte Josephus zuvor die römischen Principes Vespasian und Titus genannt, auf deren Politik sich die Worte ὅμοιον δέ τι τούτῳ im ersten Satz der Überlieferung beziehen. Eine Parallelquelle zu dem Fragment findet sich im 16. Buch der 1053 1054

  Fiebiger (1927).   Ios., ant. Iud. 16,3,1-2 (119).

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Jüdischen Altertümer, die den Prozess ausführlich darstellt und eine Rede des Nikolaos wiedergibt (F 142). 1055 Außerdem bezieht sich Testimonium 4 auf das Ereignis. Die Quellenstellen sind wichtige Zeugnisse für die Politik des Herodes gegenüber den Juden außerhalb seines Reiches. 1056 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Dem Textausschnitt zufolge baten die Ionier Agrippa darum, das Bürgerrecht [πολιτεία] auf die Griechen zu beschränken, weil die Juden ihre Götter verehren müssten, falls sie ihren gleichwertigen Status [συγγενεῖς] behalten wollten. Ihr Bürgerrecht hatten sie von Antiochos, der bei den Griechen Theos genannt wird, erhalten. Nach Josephus wurde infolge der Klage eine Verhandlung abgehalten, in der Nikolaos von Damaskus als Verteidiger das Recht der Juden durchsetzte, ihre Bräuche auszuüben. Agrippa erklärte nämlich, dass er nichts in der Angelegenheit ändern könne. In der Darstellung wird auf den Seleukiden Antiochos II. Theos Bezug genommen, der von 261 bis 246 v. Chr. regierte und der Sohn des Antiochos I. Soter sowie der Enkel des Seleukos war. Aufgrund seiner Bestimmung besaßen die Juden dieselben Rechte wie die Griechen und durften ihre Religion frei ausüben. Wie aus der Überlieferung deutlich wird, stellten die Griechen aber ihren Status in Frage, indem sie ein unteilbares Bürgerrecht in den Poleis forderten. 1057 Immerhin war die πολιτεία im griechischen Normensystem mit der Beteiligung an den Kulthandlungen verbunden. Aus Perspektive der Griechen waren die Juden keine συγγενεῖς, sondern sie mussten den Status von Fremden bekommen, weil sie nicht dieselben Götter verehrten wie sie. Gegen diese Forderung wehrten sich die Juden und setzten schließlich durch, dass die Gleichbehandlung ihrer Gemeinde mit dem griechischen Bürgerverband bestehen blieb. 1058 Mit seinem Richterspruch demonstrierte Agrippa eine Orientierung am geltenden Recht, indem er nichts Neues verordnete, sondern nur die bestehenden Verordnungen bekräftigte. Auf diese Weise stärkte er gleichzeitig die Position der Römer, deren Entscheidungen nach E. Baltrusch für „Konstanz, Verläßlichkeit und Berechenbarkeit“ standen. 1059 Die Darstellung im 16. Buch des Josephus enthält weitere Einzelheiten zu der Verhandlung. Nach dieser Quellenstelle beschwerten sich die Juden bei Agrippa darüber, dass sie zum Heeresdienst und zu Arbeiten gezwungen würden. Am Sabbat müssten sie zum Gericht gehen, und ihnen würde das Geld genommen, das sie für ihren Tempel sammelten. Sie könnten also nicht nach ihren Bräuchen leben, obwohl die Römer ihnen dies ausdrücklich erlaubt hätten. 1060   Ios., ant. Iud. 16,2,3-5 (27-66).   Gruen (2009), S. 22. 1057   Schuol (2007), S. 124-125; Baltrusch (2012), S. 210. 1058   Baltrusch (2012), S. 210. 1059   Baltrusch (2012), S. 211. 1060   Ios., ant. Iud. 16,2,3 (28). 1055 1056

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Nach dieser Darstellung gibt Josephus eine Rede des Nikolaos wieder, die Agrippa von der Rechtmäßigkeit ihres Anliegens überzeugte. F. Jacoby hat das Zitat in seiner Fragmentsammlung als „Anhang“ aufgenommen, weil die Authentizität der Rede unklar ist (F 142). Sicher ist aber, dass Nikolaos seinen persönlichen Einsatz hervorhob, als er im 123. und 124. Buch über den Konflikt berichtete. Die Verhandlung wird im vorliegenden Fragment als δίκη bezeichnet, während Josephus in seinem 16. Buch betont, dass es sich nicht um eine gerichtliche Auseinandersetzung handelte, sondern um eine Art Bittgesuch zur Abwehr von Gewalttätigkeiten. 1061 Agrippa trat jedenfalls als Richter auf, während Nikolaos mit der Verteidigung der jüdischen Seite beauftragt war. Nach Josephus waren auch verschiedene Könige und Fürsten anwesend. 1062 Die Römer suchten offenbar nach einer politischen Ordnung in Übereinstimmung mit den lokalen Eliten, um ihrer Oberherrschaft Legitimation zu verleihen. Das Verfahren sollte für künftige Fälle dieser Art richtungsweisend sein. 1063 Dass Agrippa in Begleitung des Herodes auf die Gesandtschaft traf, war ebenso wenig ein Zufall wie der Umstand, dass Nikolaos die Verteidigung der Juden übernahm. Der Vertraute des Herodes nimmt in seiner Rede mehrfach Bezug auf den König. 1064 Dieser hatte den Verlauf der Verhandlung sorgfältig vorbereitet und sein Verhältnis zu dem römischen Entscheidungsträger verbessert. Vor dem letzten Winter war Agrippa nach Judäa gereist, wo er von Herodes reich beschenkt worden war. 1065 Dass die Freundschaft der beiden eine wichtige Rolle für das Urteil spielte, wird im 16. Buch des Josephus deutlich. 1066 Nach der Verhandlung stellte Agrippa seine enge Beziehung zu Herodes demonstrativ zur Schau, um den König in der Region aufzuwerten. 1067 In Judäa, wo die Herrschaft des Herodes umstritten war, konnte sich der König nun als Patron präsentieren, der das Judentum in der Diaspora verteidigte. Als Vertreter der jüdischen Gemeinden wurde Herodes künftig enger in die Verwaltungsstrukturen des römischen Reiches einbezogen. 1068 Nikolaos konnte sich wiederum als bedeutender Akteur am Hofe des Herodes profilieren. Die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte er durch seine erfolgreiche Verteidigungsrede. Spätestens bei dieser Gelegenheit begegnete er auch Agrippa. Für seinen weiteren Werdegang und seine freundschaftliche Beziehung zu Augustus (s. T. 10) war dieses Ereignis von großer Bedeutung.

  Ios., ant. Iud. 16,2,5 (58).   Ios., ant. Iud. 16,2,3 (30). 1063   Baltrusch (2012), S. 211. 1064   Ios., ant. Iud. 16,2,4 (50-52); 16,2,4 (57). 1065   Ios., ant. Iud. 16,2,4 (50-52); 16,2,1-2 (13-16). 1066   Ios., ant. Iud. 16,2,5 (60); vgl. Gruen (2009), S. 21. 1067   Ios., ant. Iud. 16,2,5 (61); vgl. Baltrusch (2012), S. 212. 1068   Baltrusch (2012), S. 213. 1061 1062

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3.7. Unklare Buchzahl (F 82-102) 3.7.1.  Fragment 82 (Suda s. v. ὠμή τις εἶναι) Diese wörtliche Wiedergabe aus dem Werk des Nikolaos ist in der Suda unter dem Artikel ὠμή τις εἶναι überliefert und enthält eine Warnung vor den Folgen einer Bestrafung. Es gibt keine Stellenangabe und es ist unklar, wer Sprecher und wer Adressat ist. Die Wörter ὠμή und τιμωρουμένη zeigen, dass eine Frau angesprochen wird. Daher vermutete H. Valois (Valesius), dass es sich bei diesem Fragment um eine direkte Rede des Eunuchen aus Fragment 5 handelt, der Zarinaia den Brief des verstorbenen Stryangaios übergibt [Verba sunt Eunuchi ad Zarinaeam]. Nach F. Jacoby sei diese Deutung aber „durchaus nicht sicher“. 1069 3.7.2.  F  ragment 83 (Schol. Strab. 7,3,6 [299C,8-9]: Parisinus gr. 1397, fol 299, 1.7.) Diese Scholie zu Strabons Geographika stammt aus einem Pariser Manuskript aus dem 10. Jahrhundert und bezieht sich auf eine Textstelle, der zu entnehmen ist, dass man sich über Homers Darstellungen nicht wundern müsse, wenn auch die späteren Autoren unwissend gewesen seien und Märchen erzählten. Laut Scholie lebte Hesiod nach Homer, was Nikolaos von Damaskus in seiner „Archäologia“ [Ἀρχαιολογία] nicht glauben wollte, obwohl er Zeitgenosse des Geographen Strabon gewesen sei. Strabon wurde ungefähr in der gleichen Zeit wie Nikolaos geboren, lebte aber einige Jahre länger und kannte die Universalgeschichte, wie Fragment 100 belegt. Die Bezeichnung Ἀρχαιολογία bezieht sich wohl auf den Anfangsteil der Historien und ist nur in diesem Fragment überliefert. Auf diese „Archäologia“ konnte der Kommentator offenbar noch im 10. Jahrhundert zurückgreifen. Mit der Annahme, dass Homer nach Hesiod lebte, folgte Nikolaos der Tradition des Ephoros. 1070 Strabon vertrat die umgekehrte Ansicht, die heute als allgemein anerkannt gilt. Dass Nikolaos die Werke Homers und Hesiods verwendet hat, belegen auch mehrere andere Fragmente (F 24; 71; 84). 3.7.3.  Fragment 84 (Schol. Vindob. Homer. Od. 1,21) Einordnung: Diese Wiener Scholie zu Homers Odyssee, in der es um die Etymologie von „Odysseus“ geht, bezieht sich auf die Worte „ἀντιθέῳ Ὀδυσῇ“ im 21. Vers des ersten Gesangs. An dieser Textstelle kommt Odysseus zum ersten Mal in dem Werk vor. F. Jacoby fragt aufgrund einer Parallele in einer anderen Scholie, ob es sich beim Autor der Notiz um Tzetzes aus dem 12. Jahrhundert 1069 1070

  Jacoby (1926b), S. 255.   FGrHist 70 F 101; vgl. Jacoby (1926b), S. 255.

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handelt. 1071 Dagegen spricht aber, dass das Papier des Wiener Exemplars aus Italien in der Zeit um 1300 stammt. Außerdem wurden die zahlreichen Randbemerkungen und Interlinearglossen von verschiedenen Scholiasten zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert verfasst. 1072 Der kodikologische Befund belegt aber, dass die Historien des Nikolaos noch am Ende der byzantinischen Zeit zumindest in Teilen überliefert waren. Die Erwähnungen Homers in anderen Fragmenten zeigen, dass Nikolaos das Werk des Autors kannte (F 71; 83). Inhaltswiedergabe und Kommentar: Homer bezieht sich mit dem Attribut ἀντίθεος auf physische Qualitäten des Odysseus wie seine Schönheit und Stärke. 1073 Die Notiz zu dieser Textstelle bietet zwei etymologische Herleitungen von „Odysseus“. Der ersten Ableitung zufolge komme der Name von ὁδός und ὔω, dem Regen [τὸ βρέχω]. Man sage nämlich, dass er auf einem Weg [ὁδός] geboren worden sei. Dieser Erklärung stellt der Verfasser des Kommentars seine eigene Position entgegen, die auch der von Nikolaos entspreche: „Odysseus“ sei auf das Verb ὀδυσσεύω zurückführen, das „Hassen“ [μισῶ] bedeute. Der Name hänge damit zusammen, was ihm widerfahren sei. Als Beleg wird schließlich auf die Rhapsodien verwiesen. Mit dem letzten Teil des Fragments wird auf den Zorn angespielt, dem Odysseus auf seiner langen Heimreise (insbesondere seitens Poseidon) ausgesetzt war. 1074 Tatsächlich hatte schon Homer einen Zusammenhang zwischen dem Namen „Odysseus“ und dem Verb ὀδύσσομαι gesehen. 1075 Allerdings lässt sich diese Erklärung sprachwissenschaftlich ebensowenig stützen wie die erste, die in der Notiz wiedergegeben wird. Beide Deutungsversuche gehen auf Populäretymologien zurück, denn in Wirklichkeit ist der Name „Odysseus“ wohl nicht griechischen Ursprungs. 1076 Das Fragment zeigt, dass die Universalgeschichte des Nikolaos auch für etymologische Fragestellungen herangezogen wurde. 3.7.4.  Fragment 85 (Steph. Byz. s. v. Λυκοσθένη) Im Artikel Λυκοσθένη des Stephanos Byzantios steht, dass es eine Stadt in Lydien sei, die Xanthos im ersten Buch seiner Lydiaka erwähne, und die von Nikolaos auch Lykosteneia genannt werde. Im Folgenden ist zu lesen, dass die Lyder ein anderes Ethnikon für die Einwohner der Stadt verwendeten als andere. Nikolaos hatte zwar eine hellenistische Bearbeitung der Lydiaka als Vorlage, aber er ist auch vom Werk des Xanthos abgewichen, wie dieser Textauszug belegt.   FGrHist 27 F 1; vgl. Jacoby (1926a), S. 380.   Bick (1920), S. 113; Hunger (1961), S. 176. 1073   Heubeck et al. (1988), S. 74. 1074   Parmentier / Barone (2011), S. 164. 1075   Hom., Od. 1,62; 5,340; 5,423; 19,275; 19,407; vgl. Robert (1921b), S. 1053; Jacoby (1926a), S. 380. 1076   Robert (1921b), S. 1053. 1071 1072

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Kürzere Namensformen, die auch Hekataios bevorzugt, weisen auf das Alter der Quelle hin. 1077 Weil der Verweis auf Nikolaos keine Stellenangabe enthält, lässt sich das Fragment nicht genauer in die Universalgeschichte einordnen. 3.7.5.  Fragment 86 (Steph. Byz. s. v. Παρώρεια) Stephanos Byzantios schreibt in seinem Artikel zur arkadischen Stadt Paroreia, dass Nikolaos das Ethnikon Παρωρεάτας statt Παρωρεῖς verwende. Weil es keine Stellenangabe gibt, kann nur spekuliert werden, auf welchen Teil der Historien sich Stephanos bezieht. Nach F. Jacoby könnte die Überlieferung vor Fragment 50 einzuordnen sein, in dem es um die Battiaden in Kyrene geht. Bei Herodot wird nämlich eine griechische Migrationsbewegung in der Zeit von Theras zu den Paroreaten erwähnt. 1078 Jacoby zufolge sei aber auch eine Zuordnung zu den Fragmenten 38 und 39 möglich, in denen die arkadische Geschichte thematisiert wird. Bei Stephanos sind nämlich nur Fragmente aus dem vierten und fünften Buch der Universalgeschichte erhalten. 1079 Paroreia beziehungsweise Paroria wird auch von Pausanias erwähnt. 1080 3.7.6.  Fragment 87 (Steph. Byz. s. v. Ἀμοργός) Dem Artikel zur Kykladeninsel Ἀμοργός des Stephanos Byzantios ist zu entnehmen, dass Nikolaos einer alternativen Schreibform folgte. Nach M. Billerbeck bezieht sich die Angabe aber nicht auf den Inselnamen, wie die Forschung bisher angenommen hat, sondern auf Simonides. Demnach habe Nikolaos den Jambographen Ἀμοργίτης genannt. 1081 In dem Textauszug ist keine Stellenangabe zur Universalgeschichte überliefert, sodass unklar bleibt, in welchem Zusammenhang Nikolaos den Dichter erwähnte. Die Lebenszeit des Simonides ist aber ins siebte Jahrhundert v. Chr. zu datieren. 3.7.7.  Fragment 88 (Steph. Byz. s. v. ῾Υπερδέξιον) Stephanos Byzantios schreibt im Artikel zu Hyperdexion auf Lesbos, dass Nikolaos das Ethnikon Υπερδεξίους im Plural verwende. Der Name wird in dem Textauszug von der Epiklese für Zeus und Athene abgeleitet. Weil eine Stellenangabe fehlt, lässt sich nicht bestimmen, auf welchen Teil der Historien das Fragment Bezug nimmt.   FGrHist 1 F 59; 123; vgl. Jacoby (1926b), S. 255.   Hdt. 4,148. 1079   Jacoby (1926b), S. 255. 1080   Paus. 8,27,3; 8,35,6. 1081   Billerbeck (2006), S. 185. 1077 1078

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102221



3.7.8.  Fragment 89 (Sokr., hist. eccl. 7,25) Das vorliegende Fragment ist das einzige, das in der Historia ecclesiastica des Sokrates Scholastikos überliefert ist. Der spätantike Autor schreibt zur Hafenstadt Chrysopolis, dass sie am Eingang des Bosporos liege und von vielen antiken Autoren, wie Strabon, Nikolaos von Damaskus und Xenophon, erwähnt werde. Mit den kurzen Erwähnungen, die bei Strabon und Xenophon überliefert sind, lässt sich nicht ermitteln, in welchem Zusammenhang Nikolaos die Stadt nannte. 1082 Aufgrund der Lage von Chrysopolis könnte sie bei der Darstellung einer Überfahrt von Europa nach Asien (oder umgekehrt) erwähnt worden sein. Weitere Quellen zu der Stadt werden in einem Artikel des Stephanos Byzantios aufgezählt. 1083 Chrysopolis wurde später Scutari genannt und ist mit dem heutigen Üsküdar, einem asiatischen Stadtteil von Istanbul, identisch. 3.7.9.  Fragment 90 (Athen. 13,64 [593a]) Einordnung: In diesem Fragment, das in den Deipnosophistai des Athenaios überliefert ist, werden der Diadoche Demetrios und seine Hetäre Myrrhine von Samos genannt. Bei dem Herrscher handelt es sich um Demetrios Poliorketes, der von 337/336 bis 283 v. Chr. lebte und im Werk des Athenaios schon an zwei anderen Stellen erwähnt wurde. 1084 Die wichtigste Quelle über den König ist Plutarchs Demetrios-Vita, in der Ausschweifungen des Herrschers und sein Umgang mit Prostituierten erwähnt werden, aber an keiner Stelle eine Hetäre namens Myrrhine vorkommt. 1085 Vermutlich handelt es sich bei ihr um dieselbe Myrrhine, die bei Athenaios zwei weitere Male ohne Angabe ihrer Herkunft genannt wird. 1086 Ansonsten ist sie den antiken Zeugnissen unbekannt. Das Fragment stammt wohl aus einer Darstellung des Nikolaos über die Diadochen. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Textauszug hatte Demetrios, der letzte in der Nachfolge Alexanders, Myrrhine von Samos als Hetäre, und er teilte mit ihr, ohne dass sie ein Diadem trug, die Königsherrschaft. Die Worte ὁ τῆς διαδοχῆς τελευταῖος erklären sich damit, dass Demetrios, der sich im Jahre 286 v. Chr. seinem Gegner Seleukos ergab und in Gefangenschaft starb, sein Königreich nicht einem Nachkommen hinterlassen konnte. Insofern war Demetrios nach seinem Vater Antigonos tatsächlich der letzte Herrscher in der Nachfolge Alexanders. Er war wohl auch der letzte König, der das Ziel verfolgte, das Weltreich Alexanders zu erobern. Weil Myrrhine nach dieser Darstellung an der Herrschaft des Antigoniden beteiligt war, wurde sie in der Forschung auch als „ungekrönte   Xen., an. 6,3,16; 7,1,1; hell. 1,1,22; 1,3,12; Strab. 12,4,2 (563C 17).   Steph. Byz. s. v. Χρυσόπολις. 1084   Athen. 13,38 (577c-d); 13,40 (578a). 1085   Plut., Demetr. 24,1. 1086   Athen. 13,22 (567f); 13,58 (590c); vgl. Jacoby (1926b), S. 255. 1082 1083

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Königin Athens“ bezeichnet. 1087 Hetären werden in den antiken Quellen häufig mit sagenhaftem Reichtum verbunden. 1088 Auch in der vorliegenden Quelle kommt durch die Worte ἔξω τοῦ διαδήματος zum Ausdruck, dass Myrrhine nur das Diadem nicht zu ihrem Besitz zählen konnte. 1089 Der Textausschnitt lässt sich als Kritik am Herrscher deuten, da er seine Macht mit einer Hetäre teilte, aber keinen legitimen Nachfolger hinterließ. Die Beteiligung Myrrhines an der βασιλεία erscheint als unrechtmäßig, weil sie keine Herrschaftsinsignie hat. Nikolaos wollte die Diskrepanz zwischen Herrschaftsbeteiligung und -legitimität aufzeigen. 3.7.10.  Fragment 91 (Ios., c. Ap. 2,82-84) Einordnung: Bei seiner Verteidigung der Juden gegen die Vorwürfe des alexandrinischen Grammatikers Apion stützt sich Josephus in diesem Teil aus dem Werk Contra Apionem 1090 auf Polybios, Strabon, Timagenes, Kastor, den Athener Apollodor und auf Nikolaos von Damaskus. Das Fragment ist das einzige Zeugnis zur Universalgeschichte, das in lateinischer Sprache erhalten ist, denn Contra Apionem ist zum Teil ins Lateinische übersetzt worden. Die Erwähnung des Königs Antiochos IV. Epiphanes, der von 175 bis 164 v. Chr. regierte, deutet darauf hin, dass Josephus auf einen Teil der seleukidischen Geschichte des Nikolaos zurückgegriffen hat. Dem Abschnitt geht eine Wiedergabe von Apions Vorwurf voraus, dass im jüdischen Tempel ein goldener Eselkopf aufgestellt gewesen sei, den die Gläubigen angebetet hätten, bis Antiochos das Heiligtum geplündert habe. Diese Plünderung wird auch im ersten, zweiten und vierten Buch der Makkabäer thematisiert, sowie in den Werken Antiquitates Iudaicae und Bellum Iudaicum des Josephus. 1091 Weiterhin ist in zwei Fragmenten des Polybios zu lesen, dass Antiochos viele Tempel geplündert habe und göttlichen Unwillen erleiden musste. 1092 Aufgrund der widersprüchlichen Angaben zur Datierung bleibt unklar, ob Antiochos im Anschluss an den ersten Ägyptenfeldzug im Jahre 169 v. Chr. nach Jerusalem zog oder im Jahre 168 v. Chr., als der Krieg mit den Ptolemäern bereits beendet war. 1093 Die Quellenstellen von Strabon, Timagenes, Kastor und Apollodor, auf die verwiesen wird, sind nicht erhalten. 1094   Schneider (1903), Sp. 1355.   Reinsberg (1989), S. 153-154. 1089   Schuller (2008), S. 71; 80. 1090   Dies ist eigentlich nur die Überschrift des zweiten Buches. Zur Frage nach dem Werktitel vgl. Gerber (1997), S. 66-67. 1091  1 Makk 1,20-24; 2 Makk 5,11-16; 4 Makk 4,21-22; Ios., ant. Iud. 12,5,3 (246247); Ios., bell. Iud. 1,1,1 (31-32). 1092   Polyb. 31,9 und 30,26,9 sind möglicherweise auf die Tempelplünderung in Jerusalem zu beziehen. 1093   Mittag (2006), S. 250. John Barclay hält es für wahrscheinlich, dass Antiochos den Tempel nach seinem Ägyptenfeldzug plünderte, vgl. Barclay (2006), S. 214-215. 1094   Strabon FGrHist 91 F 10; Timagenes FGrHist 88 F 4; Kastor FGrHist 250 F 13; Apollodoros FGrHist 244 F 79. 1087 1088

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102223



Als Antwort auf die judenfeindliche Darstellung Apions berichtet Josephus in diesem Textauszug von der Plünderung des Tempels. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Der Darstellung ist zu entnehmen, dass Antiochos nicht aus einem gerechten Grund die Plünderung durchgeführt habe, sondern aus Geldnot. Er griff die Juden an, obwohl sie seine Helfer und Freunde waren [auxiliatores suos et amicos]. Antiochos fand aber nichts im Tempel, worüber man hätte spotten können [nec aliquid dignum derisione illic inuenit]. Dies bezeugen auch viele angesehene Autoren [multi et digni conscriptores super hoc quoque testantur] wie Polybios von Megalopolis, Strabon von Kappadokien, Timagenes, der Chronist Kastor, Apollodor und Nikolaos von Damaskus. Im letzten Satz wird betont, dass Antiochos die Abmachungen mit den Juden gebrochen hat [transgressus foedera], weil er Geld brauchte. Durch das Motiv der Geldnot, das der gerechten Handlungsweise gegenübergestellt wird [neque iustam fecit], erscheint die Plünderung des Tempels als besonders verwerfliche Handlung. Die finanziellen Schwierigkeiten des Seleukidenkönigs sind insbesondere auf seine Ausgaben für den Sechsten Syrischen Krieg zurückzuführen, den er von 169 bis 168 v. Chr. gegen die Ptolemäer führte. 1095 Um diese zu begleichen, wollte er die Tribute eintreiben, denen die Juden in den letzten Jahren nicht nachgekommen waren. Antiochos zog also mit seinem Heer nach Jerusalem, wo er einen Teil des Tempelschatzes entnahm. Besonderen Anstoß erregte er damit, dass er das Innere des Heiligtums betrat. Zum einen lässt sich dies in der vorliegenden Quelle aus der Verwendung der dritten Person [nec aliquid dignum derisione illic inuenit] ableiten, zum anderen wird in den Parallelüberlieferungen explizit auf sein Eindringen in den Tempel hingewiesen. 1096 Viele Juden betrachteten diese Handlung als religiösen Frevel, während der Herrscher selbst wohl nur eine fiskalische Angelegenheit darin sah. 1097 Josephus zufolge hatte noch der Vater des Antiochos den Tempel unter Schutz gestellt und Fremden [ἀλλόφυλος] das Betreten des Heiligtums verboten. 1098 Die Anmerkung am Ende des Fragments, dass Antiochos IV. Abmachungen mit den Juden gebrochen habe [transgressus foedera], reflektiert sicher auch sein Eindringen in das Heiligtum. Josephus bezieht sich durch das Personalpronomen nos in die Gruppe der Geschädigten ein. Der Ausdruck amicos ist nicht im Sinne einer amicitia zwischen zwei gleichrangigen Reichen zu verstehen, vielmehr waren die Juden tributpflichtige Untertanen, seitdem das Gebiet Palästina im Jahre 198 v. Chr. von den Ptolemäern erobert worden war. Viele Einwohner begrüßten zunächst den Herrschaftswechsel, der mit Steuererleichterungen und einer Förderung ihres   Zu den Einnahmen und Ausgaben des Seleukidenkönigs vgl. Mittag (2006), S. 86-87. 1096  1 Makk. 1,21; 2 Makk. 5,15; Ios., bell. Iud. 1,1,1 (32). 1097   Mittag (2006), S. 251. 1098   Ios., ant. Iud. 12,3,4 (145). 1095

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Glaubens verbunden war. Später kam es aber zu innerjudäischen Auseinandersetzungen um kulturelle Fragen, den Posten des Hohepriesters und das Verhältnis zum König. Die seleukidische Oberherrschaft war nicht unumstritten, doch es gab Bemühungen, den Verpflichtungen nachzukommen. Dazu zählte, dass die Juden durch Auxiliartruppen militärische Unterstützung leisteten. Auch im Sechsten Syrischen Krieg kämpften wohl Soldaten aus Judäa für Antiochos. Auf der Bucheum-Stele 9 ist über die Zeit nach Abzug des Seleukidenkönigs zu lesen, dass „der Tempel des Amun [nicht] unter Ausländern aus Jahu (Jhw) war.“ 1099 Wenn „Jahu“ mit Judäa zu identifizieren ist, so reflektiert Josephus mit den Worten auxiliatores suos et amicos, dass Antiochos das Heiligtum in Jerusalem plünderte, obwohl die Juden dem Seleukidenreich noch kurz zuvor Soldaten für seinen Feldzug in Ägypten gestellt hatten. Der Vorwurf des Frevels wäre dann noch schwerwiegender. Wenn nach Josephus nichts im Tempel gewesen sei, worüber man hätte spotten können, kann Antiochos dort auch keinen Eselkopf gefunden haben. 1100 Der Spott [derisio], dem die Juden von Seiten der Griechen und Ägypter ausgesetzt waren, ist auf die Klage zurückzuführen, dass die Juden nicht dieselben Götter anbeten würden wie sie. Dieser Vorwurf führte auch zu der Auseinandersetzung in Ionien, die in den Fragmenten 81 und 142 thematisiert wird. Dass Apion von einem Eselkopf als Objekt der Anbetung ausgeht, gehörte zu den gängigen Behauptungen über die Juden. 1101 Um einer möglichen Kritik der einseitigen Darstellung vorzubeugen, verweist Josephus nicht nur auf Nikolaos, der durch seine Tätigkeit für Herodes eine Verbindung zu den Juden hatte, sondern auch auf die Autoren Polybios, Strabon, Timagenes, Kastor und Apollodor. Die Zuverlässigkeit dieser Gewährsmänner bringt Josephus mit dem Adjektiv dignus zum Ausdruck. Mit der hohen Zahl von sechs Verweisen, die sich auf Schriftsteller aus zwei Jahrhunderten beziehen, will Josephus deutlich machen, dass seine Darstellung glaubwürdig ist, weil sie einer älteren und weit verbreiteten Tradition folgt. Nikolaos gehörte für Josephus zu einem festen Autorenkanon. Zusammen mit Strabon wird er in mehreren Fragmenten als Quelle genannt (F 89; 93; 97-98). 1102 3.7.11.  Fragment 92 (Ios., ant. Iud. 13,8,4 [249-252]) Einordnung: Dieser Textausschnitt aus den Jüdischen Altertümern des Josephus berichtet von dem Freundschafts- und Bündnisabkommen, das der Hohepriester Johannes Hyrkanos I. nach der Belagerung Jerusalems mit dem Seleukidenkönig Antiochos VII. geschlossen hatte. Josephus belegt mit einem direkten Zitat   Blasius (2002), S. 54.   Barclay (2006), S. 215. 1101   Bickermann (1927), S. 255-264; Bar-Kochva (1996); Schäfer (1998), S. 55-56. 1102   Zu Strabon und Nikolaos als Quellen des Josephus vgl. Engels (1999), S. 269-273. 1099 1100

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102225



des Nikolaos, dass Hyrkanos infolge dieser Vereinbarung den Herrscher auf den Feldzug begleitete, den er um 130 v. Chr. gegen die Parther führte. Die fordere Zitatgrenze wird mit dem Verb ἱστορέω markiert und die hintere durch eine Erläuterung des Josephus zur Pentekoste. Die Schlacht am Lykos, die in der wörtlichen Wiedergabe erwähnt wird, lässt sich nicht datieren. 1103 Parallelüberlieferungen bei Trogus und Appian geben zumindest Auskunft über den Anlass für den Feldzug: Antiochos versuchte, seinen Bruder Demetrios II. aus parthischer Gefangenschaft zu befreien, und Hyrkanos leistete dabei militärische Unterstützung. 1104 Aufgrund der Formulierung Ὑρκανοῦ τοῦ Ἰουδαίου wurde vermutet, dass das Fragment nicht aus der jüdischen Geschichte des Nikolaos stammt, sondern aus der seleukidischen. 1105 Vielleicht erklärt sich der Ausdruck aber damit, dass der Autor die religiösen Unterschiede zwischen Hyrkanos und Antiochos betonen wollte. 1106 Aus welchem Teil der Universalgeschichte das Fragment stammt, ist jedenfalls nicht sicher festzustellen. Inhaltswiedergabe und Kommentar: Wie im ersten Teil des Textauszugs zu lesen ist, hatte Hyrkanos mit Antiochos ein Freundschafts- und Bündnisabkommen geschlossen und das Heer des Seleukiden in die Stadt aufgenommen. Hyrkanos begleitete den Herrscher auf einen Feldzug gegen die Parther. Josephus hatte zuvor berichtet, dass Antiochos anlässlich des Laubhüttenfestes Opfertiere ins belagerte Jerusalem schickte und die Juden daraufhin seine edle Gesinnung und seine Gottesfurcht erkannten. 1107 Mit dieser Darstellung beschönigt der Autor das Abkommen, das in Wirklichkeit einer Anerkennung der seleukidischen Oberhoheit gleichkam. Immerhin stand Judäa unter militärischer Bedrängnis, als φιλία und συμμαχία vereinbart wurden. Hyrkanos, der erst um 135 v. Chr. seine Macht erhalten hatte, musste sich also bereits wenige Jahre später dem Seleukidenkönig unterwerfen. 1108 Das positive Bild des Hasmonäers wird durch die Anmerkung verstärkt, dass Hyrkanos dem Heer des Antiochos alles freigiebig und eifrig zuteil werden ließ. Josephus macht hier deutlich, dass der Hohepriester seinen Verpflichtungen, die mit der φιλία und συμμαχία einhergingen, nachkam. Deswegen erwähnt er auch die militärische Unterstützung des Hyrkanos und belegt diese mit dem Zitat des Nikolaos. Laut Fragment errichtete Antiochos am Fluss Lykos ein Siegesdenkmal, nachdem er Indates, den Feldherrn der Parther, besiegt hatte. Dort sei er für zwei Tage geblieben, weil der Jude Hyrkanos wegen eines alten Feiertags, an dem die Juden nicht ausrücken dürften, darum gebeten habe.   Fischer (1970), S. 48.   Pomp. Trog. 38,9-10; App., Syr. 68,359; vgl. Ehling (2008), S. 203. 1105   Patsch (1890), S. 236-237; Wacholder (1962), S. 59. 1106   Stern (1974), S. 240; Parmentier / Barone (2011), S. 169. 1107   Ios., ant. Iud. 13,9,2-3 (243-245). 1108   Sasse (2004), S. 208-209. 1103 1104

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Der Name des parthischen Feldherrn, der auch als Form von „Sindas“ gedeutet wurde, ist nur aus diesem Zitat bekannt, während der Lykos als linker Nebenfluss des Tigris mehrfach in den antiken Überlieferungen vorkommt und auch „Großer“ oder „Oberer Zab“ genannt wird. 1109 Die Erklärung des Marschverbots zeigt, dass Nikolaos in seinem Werk keine Kenntnisse über das Judentum voraussetzte. Josephus betrachtet die Quellenstelle als Beleg für die Authentizität des Berichts, denn seiner Erläuterung zufolge sei die Pentekoste auf den Tag nach einem Sabbat gefallen sei, und die Juden dürften an keinem der beiden Tage reisen. Außerdem unterstreicht er den Wahrheitsgehalt seiner Vorlage mit den Worten καὶ ταῦτα μὲν οὐ ψεύδεται λέγων. Die Nennung des Nikolaos soll die Darstellung stützen, dass sich Hyrkanos stets vertragstreu verhalten habe. Ähnlich wie im vorangegangenen Fragment betont Josephus also auch hier die Zuverlässigkeit des Nikolaos. Zusammen mit den Fragmenten 91 und 93 weist die Überlieferung darauf hin, dass Nikolaos die Konflikte der Diadochenreiche um Judäa ausführlich dargestellt hatte. 3.7.12.  Fragment 93 (Ios., ant. Iud. 13,12,6 [345-347]) Einordnung: In diesem Textauszug, in dem es um einen Raubzug des Ptolemaios IX. in Judäa geht, merkt Josephus an, dass Nikolaos und Strabon seine Schilderung bestätigen würden. 1110 Da Nikolaos in den Jüdischen Altertümern mehrfach mit Strabon erwähnt wird (F 89; 91; 97-98), lässt sich schlussfolgern, dass ihre Darstellungen teilweise miteinander übereinstimmten. Strabons Version zur Auseinandersetzung in Judäa ist nicht erhalten. 1111 Dafür gibt es im Jüdischen Krieg des Josephus eine kurze Erwähnung des Konflikts zwischen Ptolemaios und dem Hasmonäerkönig Alexander Iannaios. 1112 Der Einfall in Judäa, von dem das Fragment berichtet, ist in die Zeit zwischen 103 und 101 v. Chr. einzuordnen. Alexander Iannaios hatte sein Reich auf Kosten der Seleukiden, die sich in einem Thronfolgekonflikt befanden, und der Nachbarn an der Mittelmeerküste sowie im Ostjordanland ausgedehnt. Als er die Stadt Ptolemais, das heutige Akko, belagerte, baten die Bürger Ptolemaios IX. um Hilfe. Dieser stand in Konflikt mit seiner Mutter, der ägyptischen Königin Kleopatra III., und war nach Zypern geflohen. Von dort setzte er nach Syrien über und besiegte mit seinen Truppen das Heer des Alexander Iannaios. 1113 Wie die vorangegangenen Textauszüge stammt auch dieses Fragment des Nikolaos aus einer Darstellung der Diadochenreiche.   Marcus (1943), S. 353; Fischer (1970), S. 36; Ehling (2008), S. 202.   Vgl. zu diesem Fragment auch Shahin (2018b). 1111   FGrHist 91 F 12. 1112   Ios., bell. Iud. 1,4,2 (86-87). 1113   Van ’t Dack et al. (1989), S. 29-30; Huss (2001), S. 646; Hölbl (2004), S. 187-188. 1109 1110

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment ließ sich Ptolemaios mit seinen Soldaten am Abend nach dem Sieg gegen Alexander Iannaios in einigen Dörfern in Judäa nieder und befahl, alle Frauen und Kinder zu töten, in Stücke zu schneiden und ein Opfer darzubringen [ἀπάρχομαι], indem sie die Körperstücke in Kessel mit siedendem Wasser warfen. Ptolemaios ordnete dies an, damit die Feinde glaubten, dass sie Menschenfleisch verspeisten [σαρκοφάγοι] und somit in Schrecken gerieten. Die Betonung des Siegs über Alexander Iannaios hängt mit der Verbindung des Nikolaos zu Herodes zusammen. 1114 Unabhängig davon wirkt die Art der Kriegsführung des Ptolemaios verwerflich, weil er die wehrlosen Angehörigen seiner Gegner töten lässt und ihre Leichen schändet. Das Motiv der abgeschlagenen Körperteile kommt in mehreren Überlieferungen des Nikolaos vor (F 4; 22; 44; 66), wobei Fragment 44 (§ 6) deutlich macht, dass derartige Gewaltakte als befremdlich galten. Ptolemaios hat die griechische Norm, dass übermäßige Brutalität zu vermeiden ist, bewusst gebrochen, um seine Gegner einzuschüchtern. Er stellte sich und seine Soldaten als σαρκοφάγοι dar, da das Phänomen der Anthropophagie den Grundwerten der griechischen und jüdischen Kultur entgegenstand (F 22; 38). Schon bei Herodot findet sich ein Beleg dafür, dass im Zuge einer kriegerischen Auseinandersetzung die Kinder des Gegners abgeschlachtet wurden, aber die Darstellung des Nikolaos ist wohl nicht an diese Episode angelehnt. 1115 Josephus befürchtete möglicherweise, dass seine Darstellung für unglaubwürdig gehalten werde, und verwies deswegen auf zwei Autoren, die dasselbe berichteten wie er. Dies deutet darauf hin, dass die Quellen ein einheitliches Bild des Ptolemaios vermittelten. 3.7.13.  Fragment 94 (Athen. 6,61 [252f]) Laut Deipnosophistai war ein Gaukler namens Sosipatros der Schmeichler des Herrschers Mithridates. Als Beleg für diese Aussage wird Nikolaos angeführt, den Athenaios als Peripatetiker einordnet. Der pontische König Mithridates VI. kommt in den Überlieferungen zur Universalgeschichte auch in den Fragmenten 73, 74, 77 und 95 vor. Als Vorlage für die kurze Anmerkung hat Athenaios wohl auf eine Darstellung der Mithridatischen Kriege zurückgegriffen. Sosipatros ist aus keiner anderen Überlieferung bekannt. Der Begriff κόλαξ ist wie in Fragment 79 negativ besetzt. Gleiches gilt für das Wort γόης, das auch als „Betrüger“ beziehungsweise „Schwindler“ übersetzt werden kann und auf die Unehrlichkeit des Sosipatros hinweist. Aus der Erwähnung des Sosipatros bei Mithridates lässt sich eine Kritik am König von Pontos ableiten. 1114 1115

  Engels (1999), S. 271.   Hdt. 3,11; vgl. Parmentier / Barone (2011), S. 169.

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3.7.14.  Fragment 95 (Athen. 6,91 [266e-f]) Einordnung: Dieser Textausschnitt aus den Deipnosophistai thematisiert die Eroberung von Chios durch Mithridates VI. von Pontos. Athenaios beruft sich am Anfang der Quelle auf Nikolaos, den er als Peripatetiker einordnet, sowie auf den Stoiker Poseidonios von Apamea, dessen Werk nur fragmentarisch überliefert ist. 1116 Athenaios nahm beide Autoren mehr als Philosophen und weniger als Geschichtsschreiber wahr. Dass sie Angehörige verschiedener Denkschulen waren und dennoch das gleiche berichteten, soll die Authentizität der Schilderung unterstreichen. Die Erwähnung des Mithridates, der bereits in den Fragmenten 73, 74, 77 und 94 vorkam, legt nahe, dass Athenaios auf eine Darstellung der Mithridatischen Kriege durch Nikolaos zurückgegriffen hat. Nach Appian seien die Chier im Jahre 86 v. Chr. während des Ersten Mithridatischen Kriegs versklavt worden, sodass sich die Handlung des vorliegenden Textauszugs auf dieses Jahr datieren lässt. 1117 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment wurden die Chier von Mithridates unterjocht, in Fesseln gelegt und an ihre eigenen Sklaven übergeben, um sie in Kolchis anzusiedeln. So ließ der Daimon seinen Zorn an ihnen aus, weil sie die ersten waren, die Sklaven kauften, während die meisten anderen ihren Aufgaben selbst nachkamen. Im Gegensatz zu Appian, der die Versklavung der Bürger mit ihrer Parteinahme für die Römer begründet, erklären Nikolaos und Poseidonios ihre Unterwerfung damit, dass sie erstmals Menschen als Sklaven erworben hatten. 1118 Diese Kritik bezieht sich nicht auf die Sklaverei im Allgemeinen, sondern auf den Sklavenhandel, der, ähnlich wie die Einführung von Luxus im Fragment 77, als Unglück dargestellt wird. Das Motiv, dass der Daimon in die Geschichte eingreift und wieder Gerechtigkeit herstellt, kam auch in den Fragmenten 38 und 79 vor. Eine Besonderheit dieser Überlieferung ist, dass die Chier dasselbe erleiden, was sie zuvor anderen angetan hatten, denn sie müssen diejenigen, von denen sie erworben wurden, in die Fremde begleiten. Bei Appian ist zu lesen, dass die Chier am Schwarzen Meer angesiedelt wurden. 1119 Ideengeschichtlich äußert sich hier die Vorstellung einer göttlichen Instanz, die den Menschen die gerechte Strafe für ihre Vergehen zukommen lässt. 3.7.15.  Fragment 96 (Ios., ant. Iud. 14,1,3 [8-9]) Einordnung: Josephus berichtet in dem Fragment, das aus einem Teil der Jüdischen Altertümer stammt, von dem Konflikt zwischen den Hasmonäern Aristobulos II. und Johannes Hyrkanos II. Dabei kritisiert er eine Darstellung des   FGrHist 87 F 38. Zum Fragment des Poseidonios vgl. Engels (1999), S. 179; 184.   App., Mithr. 46-47 (180-187). 1118   App., Mithr. 46; 47 (180-184). 1119   App., Mithr. 47 (186). 1116

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Nikolaos, nach der Antipatros, der Vater des Herodes, von den ersten Juden abstammte, die aus Babylon nach Judäa zurückgekehrt seien. Nikolaos war eine wichtige Quelle für die Thronstreitigkeiten, zu denen es nach dem Tod der Salome Alexandra im Jahre 67 v. Chr. gekommen war, da er zeitnah zu den Geschehnissen lebte. Seine Verbindungen zum Hause des Herodes bringen ihm aber im vorliegenden Textauszug wie im 12. Testimonium und in den Fragmenten 101 und 102 den Vorwurf der tendenziösen Geschichtsschreibung ein. Insbesondere für die Selbstdarstellung des Herodes ist dieses Fragment ein wichtiges Zeugnis. Vorlage des Josephos war ein Teil der Historien über die Vorgeschichte der römischen Intervention unter Pompeius in Judäa. 1120 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Josephus zufolge hatte Hyrkanos einen idumäischen Freund namens Antipatros, der sich aus Sympathie zu Hyrkanos feindselig gegenüber Aristobulos verhielt. Nikolaos behaupte, dass Antipatros von den ersten Juden abstamme, die aus Babylon nach Judäa zurückgekehrt waren. Dies sage er aber nur, um Herodes, der zufällig König der Juden geworden sei, einen Gefallen zu erweisen. Aus dem Textauszug geht hervor, dass Nikolaos die Abstammung des Vaters des Herodes thematisiert hatte. Dabei nannte er wohl auch die weiteren Glieder seines Stammes und berichtete vom Schicksal seines Geschlechts. 1121 Sicher hat Nikolaos in seinem Werk hervorgehoben, dass Antipatros bei den Thronstreitigkeiten im Hasmonäerreich loyal zu Hyrkanos II. gestanden hatte. Die positive Darstellung des Antipatros ging für Josephus aber zu weit. Anhand seiner Kritik wird deutlich, dass sich Herodes nicht auf eine alte jüdische Abkunft berufen konnte. 1122 Die Mutter des Königs war nämlich Nabatäerin und Antipatros stammte aus Idumäa, das seit etwa 130 v. Chr. zum Hasmonäerreich gehörte und erst danach judaisiert wurde. Vor allem die frommen jüdischen Kreise stellten deswegen die jüdische Identität des Herodes in Frage. Durch die Zuschreibung einer lange zurückliegenden jüdischen Bindung zu denjenigen, die von Nebukadnezar II. im Jahre 587 v. Chr. nach Babylonien gebracht wurden, versuchte Nikolaos, der Herrschaft des Herodes Legitimität zu verleihen. Gegen diesen Versuch richtet sich die Anmerkung des Josephus, dass Herodes ἐκ τύχης τινος König geworden sei, denn er bringt damit zum Ausdruck, dass der Machtwechsel von den Hasmonäern zu Herodes zufällig und damit illegitim war. Die Behauptung des Nikolaos offenbart den Versuch, die Stellung des Herodes in seinem Reich durch eine propagandistische Darstellung zu stärken. 1123 Dass sich die Kritik auf Schilderungen über das erste Jahrhundert v. Chr. beschränkt und Nikolaos in den Fragmenten 91 und 92 als zuverlässiger Autor gilt, weist auf die inhaltliche Auseinandersetzung des Josephus mit seiner Vorlage hin. 1124   Jacoby (1926b), S. 255.   Bloch (1879), S. 111. 1122   Zur Herkunft des Herodes vgl. Ilan (1998), S. 224-225. 1123   Baltrusch (2012), S. 33-34. 1124   Bloch (1879), S. 106-107. 1120 1121

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3.7.16.  Fragment 97 (Ios., ant. Iud. 14,6,4 [104]) Diese kurze Anmerkung des Josephus, dass Nikolaos und Strabon miteinander übereinstimmend über die Feldzüge des Pompeius und Gabinius gegen die Juden geschrieben hätten, stammt aus den Jüdischen Altertümern. Vor diesem Textabschnitt war von den Unruhen in Judäa zu lesen, die Aulus Gabinius bis 54 v. Chr. als römischer Statthalter von Syrien niederschlug. Weil der Abschnitt bei Strabon, auf den hier verwiesen wird, nicht erhalten ist, lässt sich auch die Darstellung des Nikolaos nicht rekonstruieren. 1125 Der Teil der Universalgeschichte, in der Pompeius vorkam, war auch Vorlage für die nachfolgende Überlieferung. Nikolaos und Strabon erlebten als Kinder, wie die Römer nach Vorderasien kamen. Ihre Werke, die teilweise miteinander übereinstimmten, waren wichtige Quellen für Josephus, wie aus mehreren Fragmenten deutlich hervorgeht (F 89; 91; 93; 98). Im vorliegenden Textauszug stützt Josephus durch die Erwähnung der Einheitlichkeit ihrer Darstellungen seine eigene Ausführung. Wenn Nikolaos und Strabon in ihren Berichten nicht voneinander abgewichen sind, so haben sie entweder dieselben Quellen verwendet oder Strabon hat auf die Universalgeschichte zurückgegriffen. Immerhin lebte Strabon länger und kannte das Werk des Nikolaos, wie Fragment 100 belegt. 3.7.17.  Fragment 98 (Ios., ant. Iud. 14,4,3 [66-68]) Einordnung: Dieses in den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus überlieferte Fragment thematisiert die Eroberung Jerusalems unter dem römischen Feldherrn Pompeius Magnus, der im Zuge des Dritten Mithridatischen Krieges (7463 v. Chr.) nach Asien kam. Nachdem Pompeius bei den Thronstreitigkeiten in Judäa für den Hasmonäer Johannes Hyrkanos II. Partei ergriffen hatte, eroberte er den Tempelbezirk, in dem sich die Anhänger des Thronanwärters Aristobulos II. verschanzt hatten. Durch die Anmerkung, dass die Stadt in der 179. Olympiade, unter dem Konsulat von Gaius Antonius und Marcus Tullius Cicero, eingenommen wurde, ist eine Datierung des Ereignisses auf das Jahr 63 v. Chr. möglich. 1126 In Fragment 77 geht es ebenfalls um diese Zeit. Nikolaos hatte wohl wie Josephus Olympiaden und Konsuln angegeben, um Ereignisse zu datieren. Von den historiographischen Schriften des Strabon, Nikolaos und Livius, auf die am Ende des Fragments verwiesen wird, ist lediglich eine Zusammenfassung des 102. Buchs von Livius überliefert. 1127 Dass Strabon mehrfach zusammen mit Nikolaos als Quelle genannt wird (F 89; 91; 93; 97), zeigt die Bedeutung der beiden Autoren als Vorlagen des Josephus. Parallelüberlieferungen zur Eroberung Jerusalems und des Tempels finden sich an einer weiteren Stelle in den Geographika sowie im Werk von Cassius Dio. 1128   FGrHist 91 F 13.   Zur Datierungsfrage vgl. Marcus (1943), S. 480-481; Radt (2009), S. 191. 1127   FGrHist 91 F 15; Liv., per. 102. 1128   Strab. 16,2,40 (762C 35-763C 10); Cass. Dio 37,16,1-4. 1125 1126

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Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Fragment töteten die Römer nach der Einnahme Jerusalems alle Juden, die im Tempel waren (66). Die Juden fürchteten sich aber nicht und wollten lieber an den Altären sterben, als einen ihrer Bräuche [νόμιμα] zu übergehen (67). Mit einem Verweis auf Strabon, Nikolaos und Livius betont Josephus, dass es sich bei dieser Darstellung nicht nur um Gerede handele, das eine Verherrlichung falscher Frömmigkeit [εὐσέβεια] zum Ausdruck bringe, sondern um die Wahrheit (68). Die εὐσέβεια der Juden, die sicher auch Nikolaos in seiner Darstellung thematisiert hatte, unterstreicht Josephus durch zwei Aspekte, die er mit den Partikeln οὔτε - οὔτε aneinander reiht: Diejenigen, die im Tempel Kulthandlungen ausübten, ließen sich weder aus Furcht um ihr Leben noch aufgrund der Zahl der schon Getöteten zur Flucht verleiten (67). Das Wort πλῆθος weist auf eine unbestimmt hohe Zahl von Toten hin. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Juden trotz der Bedrohung an Ort und Stelle blieben, denn nach Überwindung der Mauern durch die Römer gab es für die Verteidiger ohnehin keine Hoffnung auf eine Rettung. Die Einordnung des Ereignisses auf einen Fasttag im dritten Monat der Belagerung ist nach É. Parmentier und F. P. Barone bemerkenswert: Der Sabbat, an dem das Ereignis stattfand, wurde vor allem von nichtjüdischen Autoren als Fasttag bezeichnet, aber Josephus kannte wie Strabon und Nikolaos die Bedeutung des Ruhetags. 1129 Vor diesem Textabschnitt hatte Josephus die Einnahme des Tempels damit erklärt, dass die Juden am Sabbat militärisch untätig blieben, während sich die Römer auf den entscheidenden Angriff vorbereiteten (63-65). Dass die Eroberung mit der Einhaltung des jüdischen Feiertags zusammenhing, ist auch bei Strabon und Cassius Dio überliefert. 1130 Dio bringt wie Josephus die eingeschränkte Verteidigung mit der Gottesfurcht der Juden in Verbindung. Dadurch wird angedeutet, dass die Einnahme der Festung verhindert worden wäre, wenn es keinen Sabbat gegeben hätte (63). Zumindest bei Josephus und Nikolaos werden die besondere Gottesfurcht der Juden und die strenge Einhaltung ihrer Bräuche aber auch gelobt. Die Darstellung des Massakers lässt sich als Kritik an der Eroberung Jerusalems interpretieren. Mit dieser Kritik durfte Josephus aber nicht zu weit gehen, weil Rom im Denken seiner Zeit mit dem Princeps gleichgesetzt wurde; und mit jenem war Josephus persönlich verbunden. 1131 Um den Wahrheitsgehalt der Darstellung zu belegen, verweist er auf Nikolaos. Auch dieser kann in Anbetracht seiner Freundschaft zu Augustus die Eroberung Jerusalems nicht offen kritisiert haben. Sicher reflektierte er aber, dass das Ereignis in dieselbe Zeit fiel, in der auch seine Heimatstadt Damaskus von den Römern erobert wurde. 1132   Parmentier / Barone (2011), S. 172.   Strab. 16,2,40 (763C 3-5); Cass. Dio 37,16,2-4. 1131   Eck (2011), S. 47. 1132   Alonso-Núñez (1995), S. 10. 1129 1130

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3.7.18.  Fragment 99 (P lut., Brut. 53,5-7) Einordnung: Der vorliegende Textauszug ist in Plutarchs Biographie des Marcus Iunius Brutus überliefert. In dem Fragment gibt der Autor wieder, was Nikolaos, der als Philosoph eingeordnet wird, und Valerius Maximus über die Selbsttötung Porcias, der Frau des Brutus, berichteten. Die kurze Darstellung ist also in die römischen Bürgerkriege einzuordnen, die nach der Ermordung Caesars durch Brutus und seine Vertrauten im Jahre 44 v. Chr. erneut ausgebrochen waren. In der Auseinandersetzung gegen die Caesar-Anhänger Marcus Antonius und Octavian verlor Brutus 42 v. Chr. die entscheidende Schlacht bei Philippi und ließ sich anschließend töten. Weil es in der Quelle keine Stellenangabe gibt, ist eine genauere Einordnung des Fragments in das Werk des Nikolaos nicht möglich. Nach F. Jacoby stammt es wohl eher aus der Augustus-Vita als aus den Historien. 1133 Dass Plutarch die Schriften des Nikolaos als Vorlage genutzt hat, legten bereits die Fragmente 56 und 79 nahe. Der Verweis auf Valerius bezieht sich auf eine Textstelle im Werk Facta et dicta memorabilia, die weitgehend mit dem vorliegenden Fragment übereinstimmt. 1134 Weitere Parallelüberlieferungen zum Suizid Porcias finden sich bei Martial, Appian und Cassius Dio. 1135 Der Kirchenvater Hieronymus erwähnt in seiner Schrift Adversus iovinianum, dass Porcia nicht ohne Brutus leben konnte. 1136 Die Verbreitung der Geschichte ist ein Hinweis dafür, dass sie ursprünglich nicht auf Nikolaos zurückgeht. 1137 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Laut Textauszug berichteten Nikolaos und Valerius Maximus, dass Porcia sterben wollte. Weil ihre Freunde dies nicht zuließen, schnappte sie glühende Kohlen aus dem Feuer und verschluckte diese. Sie schloss den Mund, hielt ihn zu und starb auf diese Weise (5). Allerdings wird ein Brief vorgebracht, in dem Brutus ihren Freunden Vorwürfe macht, denn Porcia sei vernachlässigt worden und habe wegen einer Krankheit beschlossen, aus dem Leben zu scheiden (6). Es scheint, dass sich Nikolaos hinsichtlich der Zeit irrt, weil das Briefchen [ἐπιστόλιον] – sofern es echt ist – auf das Leid [πάθος] und die Liebe [ἔρως] der Frau sowie auf die Art ihres Lebensendes schließen lässt (7). Offenbar gab es in der Zeit Plutarchs widersprüchliche Angaben darüber, ob sich Porcia vor oder nach der Niederlage ihres Mannes das Leben genommen habe. 1138 Bei Nikolaos starb sie wie in der Darstellung des Valerius nach dem Tod des Brutus. Auch Appian, Martial und Cassius Dio folgten dieser Tradition. 1139 Martial erwähnt den Schmerz [dolor], den Porcia durch den Verlust ihres Mannes erlitten habe. Motive für den Suizid waren nach diesen Darstellungen die   Jacoby (1926b), S. 231.   Val. Max. 4,6,5. 1135   Mart. 1,41; App., Civ. 4,136 (574); Cass. Dio 47,49,3. 1136   Hier., adv. Iovin. 1,46. 1137   Jacoby (1926b), S. 255. 1138   Kytzler (1994), S. 141. 1139   Mart. 1,41; App., Civ. 4,136 (574); Cass. Dio 47,49,3. 1133 1134

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Liebe zu Brutus beziehungsweise die Trauer um sein Lebensende. Porcias besondere Zuneigung zu ihm kommt bei Valerius und Plutarch durch die Erzählung zum Ausdruck, dass sie sich vor den Iden des März selbst verletzte, um Brutus ihre Liebe [amor] und Verbundenheit [χάρις] zu demonstrieren. 1140 Im vorliegenden Textauszug wird die Liebe [ἔρως] Porcias im letzten Abschnitt genannt. Der Ausdruck ἔρως bezeichnet hier mehr als nur eine sinnlich-erotische Begierde wie in den Fragmenten 5 und 9, in denen es um Selbsttötungen aus Liebeskummer geht. Neben Porcia sind weitere römische Frauen bekannt, die sich wegen ihrer Trauer das Leben nahmen. Dagegen gibt es für den griechischen Raum keinen Beleg für einen solchen Suizid. 1141 Im Gegensatz zu den meisten Überlieferungen legt der von Plutarch erwähnte Brief nahe, dass Porcia vor ihrem Mann starb. Es ist auch ein Kondolenzschreiben Ciceros an Brutus überliefert, wobei nicht sicher ist, dass es darin um Porcia geht. 1142 Laut dem Brief des Brutus, der bei der zweiten Erwähnung in der diminutiven Form als ἐπιστόλιον bezeichnet wird, habe sich Porcia wegen einer Krankheit umgebracht. Ihr Leid [πάθος], das Plutarch am Ende des Textauszugs nennt, ging vielleicht von körperlichen Beschwerden aus. Allerdings gibt es weder in der vorliegenden Quelle noch bei Cicero Hinweise auf die Art der Krankheit. Wahrscheinlich wurde der Suizid Porcias im Gegensatz zu den Selbsttötungen in den Fragmenten 5 und 9 positiv bewertet. Nach der Parallelüberlieferung des Valerius habe sie mit weiblichem Mut den mannhaften Tod ihres Vaters nachgeahmt, und ihre Tat sei sogar noch tapferer gewesen. 1143 Außerdem erwähnt Valerius im Kapitel De fortitudine, dass sie frei von weiblichen Schwächen gewesen sei. 1144 Nach einer Textstelle bei Plutarch habe Porcia gesagt, dass die weibliche Natur als schwach gelte, aber eine gute Erziehung und ein edler Umgang zu einem guten Charakter führten. 1145 Auch bei Nikolaos stand weniger die Rolle Porcias als Ehefrau im Zentrum der Darstellung, als ihre Bedeutung als Vertraute des Brutus. Hinsichtlich der Form der Selbsttötung entsprechen sich die Quellen weitgehend. Valerius bestätigt, dass Porcia glühende Kohlen [ardentes carbones] schluckte, da man ihr keine Waffe gegeben habe. 1146 Allerdings gibt es in Plutarchs Darstellung mehr Details, sodass sich schlussfolgern lässt, dass diese aus der Version des Nikolaos stammen. Martial, Appian und Cassius Dio berichten ebenfalls von einem Suizid durch das Verschlucken glühender Asche [fauillae] beziehungsweise Kohlen [ἄνθρακες]. 1147 Der Brief des Brutus habe Plutarch zufolge Aufschluss über ihr Lebensende gegeben, doch Genaueres wird nicht berichtet.   Plut., Brut. 13,5-11; Val. Max. 3,2,15.   Van Hooff (1990), S. 63. 1142   Cic., Brut. 1,9. 1143   Val. Max. 4,6,5. 1144   Val. Max. 3,2,15. 1145   Plut., Brut. 13,9. 1146   Val. Max. 4,6,5. 1147   Mart. 1,41; App., Civ. 4,136 (574). 1140 1141

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Den verschiedenen Darstellungen ist zu entnehmen, dass Porcia unter Aufsicht stand und sich nur mit den glühenden Kohlen umbringen konnte. Die Verwendung einer Waffe, nach der Porcia bei Martial und Valerius zuerst auch verlangt hatte, war offenbar eine bekannte Form des Suizids, während ihre Methode nicht in Betracht gezogen wurde. 1148 Wie Valerius anmerkt, starb sie auf eine neue Weise [nouus genus mortis], die tapferer war als eine übliche [usitatus]. 1149 Womöglich soll die Erzählung zeigen, dass mit Tapferkeit vieles zu erreichen ist. 1150 3.7.19.  Fragment 100 (Strab. 15,1,73 [719C,21-720C,7]) Einordnung: In diesem bei Strabon überlieferten Textauszug geht es um eine Gesandtschaft des indischen Königs Poros, die im Winter 20/19 v. Chr. nach Antiochia kam, um dort Augustus zu treffen. Strabon ergänzt in diesem Teil der Geographika seine Darstellung Indiens mit einem Bericht des Nikolaos, der nach eigener Aussage bei der Begegnung dabei gewesen sei, wie dem ersten Satz zu entnehmen ist. Die Tatsache, dass Strabon seinen Zeitgenossen Nikolaos zitiert, bedeutet, dass die Universalgeschichte schon zu Lebzeiten des Geschichtsschreibers oder zumindest kurz nach seinem Tod als Quelle genutzt wurde. Die gemeinsamen Erwähnungen von Nikolaos und Strabon in anderen Fragmenten legen nahe, dass der Geograph mehrere Teile der Historien als Vorlage verwendet hat (F 89; 91; 93; 97-98). 1151 Der Beginn des vorliegenden Fragments ist durch die Nennung des Nikolaos klar definiert. Die hintere Zitatgrenze ist davon abhängig, ob es sich beim letzten Verbum dicendi um φασί handelt (also um die dritte Person Plural von φημί) oder um φησί (die dritte Person Singular). 1152 In jedem Fall ist aufgrund der Sinneinheit des Textauszugs für die Auswertung auch eine Untersuchung der von F. Jacoby als Zusätze markierten Zeilen nötig. An Parallelüberlieferungen zum Eintreffen der Gesandtschaft bei Augustus findet sich eine weitere Erwähnung bei Strabon, in der als Name des Inderkönigs auch Pandion angegeben wird. 1153 Zudem gibt es eine Darstellung von Cassius Dio, der die Begegnung auf   Mart. 1,41; Val. Max. 4,6,5.   Val. Max. 4,6,5. 1150   Van Hooff (1990), S. 104. 1151   Gaggero (2007), S. 65. 1152   Strab. 15,1,73 (719C 34). Jacoby behält in seiner Edition (1926), S. 383 φασί bei und deutet die folgenden Zeilen, die in einer kleineren Schriftgröße gedruckt sind, nicht mehr als Worte des Nikolaos. Auch bei Parmentier / Barone (2011), S. 176-177 ist φασί zu lesen, doch die französischen Autorinnen übersetzen die Textstelle trotzdem mit „raconte Nicolas“ und lassen das Fragment erst bei Strab. 15,1,73 (720C 7) enden. In der StrabonEdition von Rath (2005), S. 226 / (2009), S. 208 steht zwar φασί, aber der Herausgeber merkt in seinem Kommentar an, dass φησί „gut das Richtige treffen“ könne. Die Herausgeber der Loeb-Ausgabe haben sich für φησί entschieden und beziehen das Folgende durch die Übersetzung „according to him“ mit in das Zitat ein (Jones [1930], S. 126). 1153   Strab. 15,1,4 (686C 13-14). 1148 1149

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Samos verortet und ergänzt, dass es schon zuvor diplomatische Kontakte gegeben habe. 1154 Letzteres wird von Orosius bestätigt, der eine indische Gesandtschaft nennt, die um 26 v. Chr. in Tarraco, in der Provinz Hispania citerior, bei Augustus erschienen sei. 1155 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Im ersten Teil der Überlieferung geht es um den Brief, den die Inder Augustus überbrachten. Dieser hat deutlich werden lassen, dass ihre Zahl ursprünglich höher war. Es haben aber nur drei überlebt, die Nikolaos gesehen hat. Die übrigen starben größtenteils durch die lange Wegstrecke. Der Brief war auf Griechisch verfasst und auf einem Pergament geschrieben. Er besagte, dass der Verfasser Poros sei, der trotz seiner Herrschaft über 600 Könige dennoch viel darum gebe, Caesar ein Freund zu sein, und er sei bereit, ihm Durchzug zu gewähren, wo er wolle, und bei allem mitzuwirken, was gut sei. Der zweite Abschnitt des Fragments handelt von den Geschenken, die überbracht wurden. Acht Diener, die mit Duftstoffen bestreut und nur mit Schurzen bekleidet waren, trugen diese herbei. Sie überbrachten Hermas, dem als Kleinkind die Arme von den Schultern abgenommen worden waren, und eine Reihe exotischer Tiere, die in dem Textauszug aufgezählt werden. Im letzten Abschnitt, den F. Jacoby als Zusatz gekennzeichnet hat, wird davon berichtet, dass sich einer der Inder in Athen verbrannte. Nach seiner Grabinschrift lautete sein Name Zarmanochegas, und er stammte aus Bargosa. Nachdem in seinem Leben bis zu jener Zeit alles nach seinem Wunsch verlaufen war, tötete er sich, damit ihm künftig nichts Unerwünschtes widerfahre, wenn er noch länger lebe. Wie am Anfang der Überlieferung deutlich wird, war Nikolaos Augenzeuge des Treffens. Dabei hatte er offenbar Einsicht in die Dokumente des Princeps, denn er gibt den Brief der Inder wieder. Dies setzt ein Vertrauensverhältnis zwischen Augustus und dem Autor voraus. Die Besonderheit der Begegnung von Römern mit Indern wird in den antiken Überlieferungen vielfach hervorgehoben. 1156 Als Grund dafür erscheint die große geographische Distanz zwischen dem indischen Subkontinent und dem Imperium Romanum, die im vorliegenden Textauszug durch die Erwähnung der langen Reise zum Ausdruck kommt. 1157   Cass. Dio 54,9,8-9.   Oros. 6,21,19. 1156   Augustus schreibt in seinen Res gestae, dass die Könige Indiens oft Gesandte zu ihm geschickt hätten, die man noch nie zuvor bei einem anderen römischen Feldherrn gesehen habe (Aug., RG 31; vgl. Schmitthenner [1979], S. 104). Nach Suet., Aug. 21 habe man die Inder nur aus Erzählungen gekannt. Umgekehrt sei den Indern der Name der Römer unbekannt gewesen, wie in Eutr. 7,10 zu lesen ist. Bei Plinius dem Älteren und Pomponius Mela ist überliefert, dass einige Inder schon im Jahre 62 v. Chr. nach einem Unglück auf See als Sklaven ins römische Reich kamen (Plin., nat. 2,170 [67]; Mela 3,45; vgl. Bengtson [1954]). 1157  Nach Oros. 6,21,19 haben die Inder den ganzen Erdkreis überquert, bevor sie zu Augustus gelangten. Florus schreibt, dass sie als Ehrerweis nichts höher anrechneten als 1154 1155

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Dass das Treffen in Kleinasien stattfand und wenige Jahre zuvor eine erste Gesandtschaft aus Indien auf der iberischen Halbinsel bei Augustus eingetroffen war, belegt, dass sich das Zentrum der Macht von Rom auf den Aufenthaltsort des Princeps verlagert hat. Nicht der römische Senat, sondern der Alleinherrscher erscheint in den Quellen zu dieser Zeit als entscheidende Instanz für auswärtige Beziehungen. Dass der Brief auf Griechisch verfasst war, ist durchaus möglich, denn das Griechische hatte sich in hellenistischer Zeit als Diplomatiesprache weit verbreitet. Mit Sicherheit wurde noch in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. am Hof des Indo-Griechischen Königreichs Griechisch gesprochen, als auch die letzten indo-griechischen Münzen im Punjab geprägt wurden. Die Anmerkung, dass der Brief aus Leder war, kann mit archäologischen Funden wie dem einer griechischen Steuerempfangsbestätigung aus dem hellenistischen Baktrien gestützt werden. 1158 Wieviele Gesandte ursprünglich aus ihrer Heimat aufgebrochen waren, bleibt unklar. Der indische Herrscher ließ die diplomatische Mission sicher gut vorbereiten, aber in Anbetracht der vielen Risiken auf der Reise erscheint die Erklärung der Verluste mit der langen Wegstrecke plausibel. In der Forschung wurde vermutet, dass es sich bei den Gesandten um Betrüger handelte, welche die Todesopfer erdichtet hätten, um ihre Strapazen zu unterstreichen. 1159 Diese Deutung lässt sich allerdings nicht stützen. Auffällig ist der Name des indischen Monarchen. Poros war ein indischer Herrscher, den Alexander der Große im Jahre 326 v. Chr. besiegt und zu seinem Bundesgenossen gemacht hatte. Ein zeitgenössischer König mit diesem Namen ist nicht bekannt. Zwar könnte „Poros“ ein Titel sein, aber wahrscheinlich steht der Name in Zusammenhang mit einer Alexander-Imitatio. 1160 So finden sich auch in der zweiten Darstellung der Geographika zur Gesandtschaft sowie in der Überlieferung von Orosius Verweise auf Alexander. 1161 Der römische Princeps hat die Parallelen zum Eintreffen der Inder bei Alexander sicher betont. 1162 Die Verbindung des Nikolaos zum augusteischen Hof könnte für eine Redaktion des Herrschernamens sprechen. 1163 Dies trifft aber nicht unbedingt auf die 600 Könige zu, über die Poros laut dem Brief herrschte. Zwar handelt es sich die Dauer ihrer Reise, und er gibt an, dass sie vier Jahre unterwegs waren (Flor. 7,2). Diese Angabe ist wohl übertrieben, aber die Inder waren sicher viele Monate auf ihrem beschwerlichen Weg. Dass es zu diplomatischen Beziehungen zwischen Rom und Indien kam, steht in Zusammenhang mit der Ausdehnung des Seehandels im Indischen Ozean. Nachdem die Römer von der Regelmäßigkeit der Monsunwinde erfahren hatten, etablierten sie sich im ersten Jahrhundert v. Chr. als wichtige ökonomische Größe im Meer südlich von Arabien, vgl. Bengtson (1954), S. 233-234; Thorley (1969), S. 212. Wie in Strab. 2,5,12 (118C 10-14) zu lesen ist, gab es unter Augustus bereits einen intensiven Seeverkehr zwischen Ägypten und Indien, vgl. Friedlaender (1921), S. 8-9. 1158   Rea et al. (1994). Zu den Schreibmaterialien in Indien vgl. Smith (1908), S. 133. 1159   Friedlaender (1921), S. 8-9. 1160   Kinzelbach (2009), S. 114. 1161   Strab. 15,1,4 (686C 15-16); Oros. 6,21,19. 1162   Weippert (1972), S. 249-250. 1163   Gardthausen (1891), S. 480-481.

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bei der runden Zahl offensichtlich um eine Übertreibung, doch diese ist womöglich auf die Selbstdarstellung des indischen Monarchen zurückzuführen. 1164 In jedem Fall nutzte die Betonung der Macht des Poros auch Augustus, immerhin bat der Inder ihn um seine Freundschaft. Die Intention des indischen Königs war Nikolaos zufolge der Abschluss eines Freundschaftsabkommens. Cassius Dio zufolge wurde die φιλία auch abgeschlossen. 1165 Sueton und Florus bestätigen, dass die Inder mit der Bitte um Freundschaft [amicitia] bei Augustus erschienen. 1166 Im vorliegenden Fragment sind die Gewährung des Durchziehens [δίοδος] und das Angebot der Unterstützung weitere Parallelen zum Abkommen Alexanders mit den Indern. Diese Vereinbarungen waren nämlich nicht Bestandteil der römischen amicitia und sollten Augustus schmeicheln. 1167 Dass es der Princeps ist, der in den Quellen die auswärtigen Beziehungen regelt, weist erneut auf die Machtverlagerung vom römischen Senat auf den Alleinherrscher hin. Bei den acht Indern, die die Geschenke zu Augustus brachten, handelte es sich eher um Diener als um Sklaven. 1168 Die περιζώματα, die sie als einzige Kleidungsstücke trugen, waren wohl um die Hüften gebundene Schurze. Eine Vorstellung ihres Aussehens bietet ein Relief der Apadana in Persepolis, das jedoch aus deutlich früherer Zeit stammt. Offenbar dienten die ἀρώματα, mit denen die Inder bestreut waren, als Repräsentationsmittel. Die Erwähnung der Duftstoffe zeigt, dass sie als Besonderheit wahrgenommen wurden. In Bezug auf Hermas, der als Geschenk übergeben wurde, deuten das Verb ἀφαιρέω und die relative Altersangabe ἐκ νηπίου auf eine Amputation der oberen Gliedmaßen im Kindesalter hin. Sein Name ist wohl von den armlosen Hermesstatuen abgeleitet, die in der griechischen Welt verbreitet waren. Strabon unterstreicht den Wahrheitsgehalt der Darstellung, indem er anmerkt, dass er Hermas selbst gesehen habe. Cassius Dio berichtet über ihn, dass er seine Füße wie Hände benutzen, Pfeile von einem Bogen schießen und eine Trompete blasen konnte. 1169 Beide Überlieferungen zeigen, dass Hermas als Sensation wahrgenommen wurde. Gleiches lässt sich in Hinsicht auf die übrigen Geschenke feststellen: Die Inder hätten Augustus große Nattern und eine zehn Ellen lange Schlange gebracht. Zudem schenkten sie ihm eine drei Ellen lange Flussschildkröte und ein Rebhuhn, das größer gewesen sei als ein Geier. Die Längenangabe für die Schlangen, die etwa 4,70 Metern entspricht, ist je nach Natternart glaubwürdig. 1170 Ob die   Lassen (1858), S. 60.   Cass. Dio 54,9,8-9. 1166   Suet., Aug. 21; Flor. 7,2. 1167   Dahlheim (1968), S. 136-137; Albert (1980), S. 9. 1168   Dass es in Indien keine Sklaven gab, wie in Strab. 15,1,34 (701C 31-33) und 15,1,59 (712C 27-29) zu lesen ist, stimmt vermutlich nicht, aber die Sklaverei war sicher weniger verbreitet als in Griechenland, vgl. Radt (2009), S. 191. 1169   Cass. Dio 54,9,8-10. 1170  Nach dem Basilikos-System entspricht der Pechys Metrios einer Länge von 47,41 Zentimetern, vgl. Lelgemann (2011), S. 77. Den abweichenden Angaben bei Kinzelbach (2009), S. 115 liegt wohl das römische Längenmaßsystem zugrunde. 1164 1165

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Schlangen als Geschenke überreicht wurden, weil sie in Teilen Indiens als heilige Tiere galten, lässt sich nicht feststellen. 1171 Mit der Flussschildkröte ist möglicherweise die Ganges-Weichschildkröte [Aspideretes gangeticus] gemeint, die im nördlichen Teil des indischen Subkontinents verbreitet ist und der von Nikolaos angegebenen Länge von 1,40 Metern mit knapp einem Meter zumindest nahekommt. 1172 Cassius Dio erwähnt unter den Geschenken auch Tiger, wobei er anmerkt, dass die Römer, und wahrscheinlich auch die Griechen, solche nie zuvor gesehen hätten. 1173 Die Schenkung exotischer Tiere an Herrschende war ein alter Brauch, der dem Beschenkten Prestige brachte. Eine öffentliche Präsentation solcher Tiere, die durch den materiellen Aufwand des Fangs und Transports einen hohen ideellen Wert hatten, war für viele Römer eine Besonderheit. Deswegen wurde die Tierwelt der besiegten Territorien auch bei römischen Spielen und Triumphzügen einbezogen. 1174 Sueton rühmt Augustus dafür, dass er mehrmals Tiere herbeibringen ließ, die niemand zuvor gesehen hätte. Der Princeps habe etwa ein Nashorn auf dem Platz für die Volksversammlungen präsentiert, einen Tiger auf der Theaterbühne oder eine äußerst lange Schlange auf dem Comitium. 1175 Aufgrund der Unbekanntheit solcher Tiere in Rom sind die Geschenke für Augustus in die literarischen Quellen eingegangen. Im letzten Teil des Textauszugs wird die Selbstverbrennung eines der Inder thematisiert. Nikolaos erklärt, dass sich einige Inder bei Misserfolg [κακοπραγία] verbrennen würden, und andere bei Wohlergehen [εὐπραγία]. Auf dem Grab des Gesandten stehe, dass hier Zarmanochegas, ein Inder aus Bargosa, liege, der sich gemäß althergebrachter Bräuche unsterblich gemacht habe. Nach der Darstellung des Nikolaos beschlossen also einige Inder aufgrund einer nicht lebenswerten Existenz oder aufgrund der Sorge, Lebenswertes zu verlieren, sich selbst zu verbrennen. Die Grabinschrift deutet darauf hin, dass es sich bei dem Suizid um ein indisches Ritual handelte. Auch Cassius Dio nennt als mögliches Motiv, dass der Inder als alter Mann nach Vätersitte sterben wollte. 1176 Weitere Hintergründe zu der Selbstverbrennung lassen sich vom Namen des Gesandten ableiten. „Zarmanochegas“ wird auf skt. śramaṇakarya zurückgeführt, das „Lehrer der śramaṇa“ bedeutet. 1177 Die śramaṇa bildeten ab etwa 800 v. Chr. eine Gruppe religiöser Experten, die asketisch lebten, um allem Irdischem zu entsagen und Erlösung zu erlangen. 1178 Nach Strabon, der sie Sarmanen nennt und sich auf den griechischen Autor Megasthenes beruft, seien sie indische Philosophen gewesen. 1179 Der Geograph schreibt in der Parallelüberlieferung zu   Lassen (1858), S. 59.   Das (2001), S. 78-79; Kinzelbach (2009), S. 115. 1173   Cass. Dio 54,9,8. 1174   Thorley (1969), S. 222; Kinzelbach (2009), S. 111-112. 1175   Suet., Aug. 43. 1176   Cass. Dio 54,9,10. 1177   Lassen (1858), S. 60; Radt (2009), S. 208. 1178   Notz (1998). 1179   Strab. 15,1,59 (712C 10). 1171 1172

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dem Fragment, dass derjenige, der sich verbrannt habe, ein indischer Weisheitslehrer [σοφιστής] gewesen sei. 1180 Cassius Dio nennt den Inder verkürzt Zarmaros und erwähnt, dass er aus dem Geschlecht der Weisheitslehrer stammte. 1181 Nach diesen Überlieferungen war die Selbstverbrennung gemäß einer indischen Lehre ein Weg zur Erlösung. Die Autoren reflektieren in ihren Berichten sicher die Witwenverbrennungen, die etwa bei Diodor beschrieben werden. 1182 Auffällig ist, dass ein anderer Fall von Selbstverbrennung in Zusammenhang mit Alexander geschildert wird. Auf diese Parallele weist neben Strabon auch Plutarch hin, der berichtet, dass sich viele Jahre nach Kalanos ein anderer Inder in Athen verbrannt habe. Sein Grab sei noch zu Plutarchs Zeit Besuchern gezeigt worden. 1183 Die indischen Gesandten hatten Augustus wohl nach Athen begleitet. Auf ihrem Weg gelangten sie vielleicht auch nach Samos, das Cassius Dio als Begegnungsort zwischen dem Princeps und den Indern nennt. 1184 Die Details der Darstellung, dass der Inder lachend, nackt und gesalbt auf den Scheiterhaufen gesprungen sei, zeigen, dass diese Form der Selbsttötung als äußert fremd wahrgenommen wurde. In den griechisch-römischen Quellen werden Selbstverbrennungen überwiegend von Asiaten begangen. 1185 Auch die Könige Sardanapal und Kroisos, die bei Nikolaos in den Fragmenten 3 und 68 vorkommen, haben sich womöglich selbst verbrannt. Der Tod des Gesandten weist in der Darstellung auf die kulturellen Unterschiede zwischen Römern und Indern hin. Unklar ist, aus welcher Region in Indien die diplomatische Mission aufgebrochen war. Lautete der Name des indischen Königs Pandion, wie bei Strabon als Möglichkeit angegeben wird, 1186 ist dies ein Hinweis darauf, dass sein Herrschaftsgebiet beim Volk der Pandiones an der Ostküste Indiens zu verorten ist. Indische Könige trugen nicht selten den Namen ihres Herrschaftsgebietes beziehungsweise ihres Volkes. 1187 Ein anderer Anhaltspunkt für die Heimat der Inder ist der Grabstein. „Bargosa“ ist möglicherweise eine andere Form von Barygaza, das ein bedeutendes Handelszentrum an der Mündung des Narmada-Flusses im Westen Indiens war, wo es Schiffsanbindungen zum Roten Meer gab. 1188 Die ökonomische Bedeutung des Ortes macht Barygaza als Heimat des Herrschers wahrscheinlich. Falls aber der Name Poros für den Herrscher authentisch ist, und er ein Nachfahre des Königs aus der Zeit Alexanders war, lag sein Reich im westlichen Punjab. 1189 Nach dieser Deutung war er Indo-Skythe, und die Angabe, dass er über 600 Könige herrschte, würde unter Berücksichtigung der numismatischen   Strab. 15,1,4 (686C 15); vgl. Gardthausen (1896), S. 832.   Cass. Dio 54,9,10. 1182   Diod. 19,33-34. 1183   Strab. 15,1,4 (686C 13-15); Plut., Alex. 69,8; vgl. Gardthausen (1896), S. 832. 1184   Cass. Dio 54,9,8-9. 1185   Van Hooff (1990), S. 57-58. 1186   Strab. 15,1,4 (686C 13). 1187   Hanslik (1982). 1188   Kinzelbach (2009), S. 114-115; Radt (2009), S. 208. 1189   Lassen (1858), S. 60. 1180 1181

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Quellen passen, da sich indo-skythische Herrscher häufig ΒΑΣΙΛΕΩΣ ΒΑΣΙΛΕΩΝ nannten. Ins römische Reich gelangten die Gesandten wohl über den Seeweg, der teuer und gefährlich war. 1190 Dabei nahmen sie vermutlich die Route, die in umgekehrter Richtung im Werk Periplus Maris Erythraei aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. beschrieben wird. 1191 Die Authentizität des vorliegenden Berichts wird dadurch bekräftigt, dass Nikolaos als Augenzeuge der Begegnung erscheint und Strabon nach eigener Aussage den Hermas gesehen habe. Andererseits wurde die Überlieferung im Sinne des Augustus verfasst, wie sich etwa darin äußert, dass die Exklusivität seiner Beziehung zu den Indern ins Zentrum der Darstellung gerückt wird. Von besonderer Bedeutung ist der Textauszug vor allem, weil er zu den wichtigsten Quellen für die Beziehungen zwischen Rom und den asiatischen Reichen gehört. 3.7.20.  Fragment 101 (Ios., ant. Iud. 16,7,1 [179-183]) Einordung: In diesem Fragment aus den Jüdischen Altertümern des Josephus wird geschildert, dass Herodes das Grab Davids plünderte, um seine hohen Ausgaben zu begleichen. Die Geschichte enthält eine Reihe narrativer Elemente: So soll Herodes eines Nachts das Grab geöffnet haben, er sei nach einer sorgsameren Suche zu den Gebeinen Davids und Salomos vorgedrungen und eine Flamme habe seine beiden Lanzenträger getötet (180-182). Josephus verzichtet auf eine Angabe seiner Quelle [ὡς ἐλέγετο] (182). Nikolaos wird dafür kritisiert, dass er nichts von der Grabplünderung berichtete, sondern nur das Denkmal [μνῆμα] am Eingang des Grabs erwähnte (183). Das Fragment sagt also mehr über die Sichtweise des Josephus auf Herodes und seinen Geschichtsschreiber aus als über das Werk des Nikolaos, denn inhaltlich ist über die Universalgeschichte lediglich zu erfahren, dass ein μνῆμα erwähnt wurde. Im ersten Teil der Überlieferung findet sich ein Bezug zu einer Textstelle im 13. Buch des Josephus über den Hohepriester Johannes Hyrkanos I., der in Fragment 92 vorkommt. 1192 Die Kritik an Nikolaos, die Josephus nach dem Textabschnitt fortsetzt, hat F. Jacoby als 12. Testimonium aufgenommen.   Thorley (1969), S. 213-214; Warmington (1974), S. 6-7.   Casson (1989), S. 13. Entlang der arabischen Südküste segelten die Inder wohl ins Rote Meer, wo es um die Zeitenwende keinen funktionsfähigen Kanal durch Ägypten ins Mittelmeer gab. Wie in Plut., Ant. 69,3-4 zu lesen ist, konnte Kleopatra VII. nämlich nach der Schlacht bei Actium im Jahre 31 v. Chr. nicht mit den Resten ihrer Flotte ins Rote Meer fliehen, vgl. Schörner (2000), S. 36. Die Inder mussten also einen Teil ihres Wegs auf dem Land zurücklegen. Handelswaren konnten vom ägyptischen Hafen Myos Hormos mit Lasttieren bis nach Koptos am Nil transportiert und dann auf Schiffe umgeladen werden, die größere Mittelmeerhäfen wie Alexandria anfuhren. Von dort war schließlich Antiochia zu erreichen, vgl. Strab. 17,1,45 (815C 17-25); Plin., nat. 6,102f (26). 1192   Ios., ant. Iud. 13,8,4 (249). 1190 1191

3. Historischer Kommentar zu den FGrHist 90 F 1-102241



Inhaltswiedergabe und Kommentar: Dem Fragment ist zu entnehmen, dass Herodes hohe Ausgaben für innere und auswärtige Erfordernisse hatte. Er hörte, dass Hyrkanos einst 3000 Talent Silber aus dem Grab Davids genommen hätte und öffnete daraufhin die Ruhestätte, um viele Kostbarkeiten wegzuschaffen. Als zwei seiner Begleiter umkamen, flüchtete Herodes und errichtete zur Sühnung ein Denkmal am Eingang. Diese Geschichte über Herodes ist darauf zurückzuführen, dass die Aufwendungen des Königs für seine vielen Bauten großen Eindruck erweckten. Zur Erklärung seiner Zahlungsfähigkeit wurde ihm eine Grabplünderung zugeschrieben, in deren Folge ein weiterer beeindruckender Bau als angebliches Sühnezeichen stand. 1193 Die Besonderheit dieses letzten Denkmals äußert sich erstens durch die Erwähnung der hohen Kosten und zweitens durch das Material, bei dem es sich wohl um weißen Marmor handelte. Neben den Ausgaben des Königs und dem Bau des Denkmals wurden mit der Grabplünderung auch die späteren Leiden des Herodes in seinem Familienleben und in der Zeit seiner Erkrankung erklärt. Anders als bei der öffentlichen Ausstellung des Sarkophags Alexanders dem Großen durch Augustus 1194 oder der Öffnung des Grabs Karls des Großen durch Otto III. im 10. Jahrhundert spielte eine Verehrung des verstorbenen Königs keine Rolle für das Betreten der Ruhestätte. Die Geschichte gibt vor allem Auskunft darüber, wie Herodes in gegnerischen Kreisen wahrgenommen wurde. 1195 Durch den Zweifel an seiner Frömmigkeit wurde ihm die Legitimität seiner Herrschaft abgesprochen. Am Ende des Textausschnittes richtet sich Josephus ebenso wie in den Fragmenten 96 und 102 gegen Nikolaos, indem er ihm eine einseitige Geschichtsschreibung vorwirft. Damit erklärt er, warum in der Universalgeschichte, die er mehrfach zitiert hatte, nichts von der Grabplünderung des Herodes zu lesen ist. Josephus distanziert sich von Nikolaos, indem er betont, dass er sich – anders als jener – der Wahrheit verpflichtet fühle (187). Diese Kritik offenbart aber zugleich, dass Josephus das Werk des Autors genau kannte. 1196 Immerhin beziehen sich die Vorwürfe der tendenziösen Darstellung nur auf die Zeitgeschichte des Nikolaos. Dies wird auch im nachfolgenden Fragment deutlich, das demselben Buch des Josephus entnommen ist. 3.7.21.  Fragment 102 (Ios., ant. Iud. 16,7,1 [185]) Einordnung: Nur wenige Sätze nach dem vorangegangen Fragment aus den Jüdischen Altertümern findet sich diese kurze Erwähnung über die Morde des Herodes in seiner Familie. Flavius Josephus richtet sich in der Überlieferung gegen Nikolaos, indem er ihm wie im 12. Testimonium sowie in den Fragmenten 96 und 101 vorwirft, falsche Darstellungen im Sinne des Herodes verfasst zu haben.   Baltrusch (2012), S. 196.   Suet., Aug. 18,1; Cass. Dio 51,16,5. 1195   Suet., Aug. 18,1; Cass. Dio 51,16,5. 1196   Bloch (1879), S. 106-107. 1193 1194

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Der Textauszug belegt, dass es in den Historien auch um Geschehnisse am Hofe des Königs von Judäa ging. Hintergrund der Auseinandersetzung ist, dass die Heirat des Herodes mit der Hasmonäerin Mariamme ursprünglich eine zentrale Legitimationsstrategie des Herrschers in seinem Reich bildete. 1197 Auf Herodes lastete danach aber stets ein hasmonäischer Machtanspruch, bis er seine Herrschaft durch die Einigung mit Octavian nach der Schlacht bei Actium absicherte. Im Jahre 29 v. Chr. ließ der König schließlich seine Frau hinrichten. Ihre Söhne Alexander und Aristobulos hatte er anfangs noch als Nachfolger bestimmt, doch nach weiteren Konflikten am Hof, bei denen womöglich auch Mordpläne gegen ihn eine Rolle spielten, ließ er sie 7 v. Chr. töten. 1198 Inhaltswiedergabe und Kommentar: Josephus kritisiert, dass Nikolaos die Morde des Herodes an seiner Frau Mariamme und ihren Kindern beschönigte, indem er eine Lüge über ihre Zügellosigkeit [ἀσέλγεια] und Verschwörungen [ἐπιβουλαί] der Söhne verbreitete. Nach dieser Darstellung waren Alexander und Aristobulos Opfer von Intrigen am Königshof. Wahrscheinlich war das Geschehen jedoch komplizierter als Josephus suggeriert. 1199 Der König hatte seinen Einfluss auf die beiden Söhne verloren und war mit seinem Versuch gescheitert, den hasmonäischen Teil seiner Familie mit dem idumäischen zu versöhnen. Außerdem vereitelten die Hasmonäer alle Versuche einer politischen Neuordnung, sodass Herodes keinen anderen Ausweg sah als seine Herrschaft durch die Hinrichtungen zu sichern. 1200 Dass sich Josephus von der Darstellung des Nikolaos distanziert, offenbart Details zum herodianischen Standpunkt. Der Vorwurf der Zügellosigkeit ist darauf zurückzuführen, dass Herodes zwei Mal von den Bewachern Mariammes hintergangen wurde. Sie erzählten ihr nämlich von dem Befehl, dass sie getötet werden solle, falls der König sterbe. 1201 Darauf warf Herodes seinen Wachen und seiner Frau Untreue vor. Laut der Autobiographie des Nikolaos sprach sich der Geschichtsschreiber vergeblich dafür aus, die Söhne Mariammes zu verschonen (F 136 § 3). Da dieses Werk nach dem Tod des Herodes verfasst wurde, konnte Nikolaos auch die Ermordung der Söhne kritisieren (§ 4). 1202 In der Universalgeschichte war es dem Autor nicht möglich, sich gegen den König zu richten. Die Kritik der tendenziösen Darstellung trifft demnach zu, allerdings wurde Nikolaos von Josephus trotzdem zu den zuverlässigen Autoren gezählt, sofern es nicht um Darstellungen über das erste Jahrhundert v. Chr. ging (F 91; 92). Dies zeigt das pragmatische Verhältnis des Josephus zum Werk des Nikolaos.   Baltrusch (2012), S. 252.   Baltrusch (2012), S. 295-296. Zum Tod der Söhne Mariammes bei Josephus und Nikolaos vgl. Ilan (1998), S. 234-236. 1199   Günther (2005), S. 153. 1200   Baltrusch (2012), S. 309. 1201   Ios., ant. Iud. 15,3,6 (69); 15,7,1 (205). 1202   Jacoby (1926b), S. 255; Parmentier / Barone (2011), S. 178. 1197 1198

4. Schlussbetrachtung: Zu den Besonderheiten der Schrift T. Mommsen widmete Nikolaos in seiner mehrbändigen Römischen Geschichte, die 1902 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, einen einzigen Satz, der aber viele richtige Gedanken in sich vereinigt: „Nikolaos von Damaskos, selber ein Heide und ein namhafter Vertreter der aristotelischen Philosophie, führte nicht bloß als Litterat (sic) und Diplomat des Königs Herodes bei Agrippa wie bei Augustus die Sache seines jüdischen Patrons und der Juden, sondern es zeigt auch seine historische Schriftstellerei einen sehr ernstlichen und für jene Epoche bedeutenden Versuch den Orient in den Kreis der occidentalischen Forschung hineinzuziehen, während die noch erhaltene Schilderung der Jugendjahre des ihm auch persönlich nahe getretenen Kaisers Augustus ein denkwürdiges Zeugniß der Liebe und der Verehrung ist, welche der römische Herrscher in der griechischen Welt fand.“ 1203

Wie der Altertumswissenschaftler konstatiert, ist Nikolaos der Nachwelt in Erinnerung geblieben, weil er sich als Philosoph, Schriftsteller und politischer Akteur auf gleich drei Feldern erfolgreich betätigt hatte. Dabei bewegte er sich zwischen der jüdischen und der griechischen Welt, zwischen dem Orient und dem Okzident, und zwar in der Zeit des ausgehenden Hellenismus und des Übergangs von der römischen Republik zum Prinzipat. Mit seiner Universalgeschichte setzte Nikolaos nicht das Werk eines früheren Autors fort, sondern er thematisierte das Weltgeschehen von den mythischen Anfängen bis in seine eigene Lebenszeit und erklärte so die Herrschaft Roms über den Mittelmeerraum und die des Herodes über das geographische Gebiet Palästinas. Durch ihren allumfassenden Charakter sollte die Schrift einen literarischen Beitrag dazu leisten, Judäa stärker an das Imperium Romanum anzubinden. Insofern ist die Konzeption des Werks zu einem gewissen Teil Herodes zu verdanken, der laut der Autobiographie des Geschichtsschreibers den Anstoß zum Verfassen der Historien gab. Der König versprach sich von seinem Vertrauten eine Rechtfertigung seiner Taten, immerhin findet sich unter den erhaltenen Fragmenten eine Reihe apologetischer Darstellungen. Vielleicht versuchte Nikolaos, seinen Patron sogar als zweiten David zu präsentieren. 1204 Dabei versäumte er es jedenfalls nicht, seine eigenen Verdienste als Diplomat zwischen Jerusalem und Rom herauszustellen, denn die Überlieferungen bezeugen seine erfolgreiche Tätigkeit als Interessenvertreter und politischer Berater. 1203 1204

  Mommsen (1885), S. 494.   So die These von Ilan (1998).

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Näheren Aufschluss über die Intention und Methode des Nikolaos würde ein Proömium oder Methodenkapitel geben, allerdings enthalten die überlieferten Fragmente keine Hinweise auf diese Teile. Das Wort ἱστορία im Titel der Schrift verbindet Nikolaos mit älteren Autoren wie Ephoros, Polybios und Poseidonios. 1205 Aufgrund der Sprache der Universalgeschichte und des Umstands, dass fast alle Exzerpte und Zitate im Osten tradiert wurden, lässt sich in Bezug auf die Zielgruppe folgern, dass sich Nikolaos an eine griechische Leserschaft richtete. 1206 In quantitativer Hinsicht zeichnete sich der Autor mit seinen Historien vor allen anderen Geschichtsschreibern aus, indem er 144 Bücher verfasste. Diese in der Antike unübertroffene Zahl geht auf das anspruchsvolle Anliegen zurück, die asiatische, griechische, römische und jüdische Geschichte miteinander zu verbinden. Nikolaos konnte dieses Vorhaben nur bewerkstelligen, weil er viele Inhalte aus älteren Schriften übernahm. Hier lässt sich ein Indiz für die Qualität der Universalgeschichte ausmachen, denn ihre Güte hing vom Niveau und der Anzahl der Quellen sowie von der sachlichen Zuverlässigkeit der Zitate und Exzerpte ab. 1207 Als Vorlagen wurden Homer, Hesiod, Herodot, hellenistische Bearbeitungen der Werke von Ktesias und Xanthos, Ephoros, Hellanikos, Caesar und biblische Texte herangezogen. Diese Zusammenstellung zeigt, dass Nikolaos die wichtigsten Quellen seiner Zeit in die Historien eingearbeitet hat. Das Werk hatte einen chronologischen Aufbau und begann mit der Geschichte der frühesten Weltreiche. Die Überlieferung der ersten sieben Bücher ist verhältnismäßig gut, immerhin sind fast 69% der nach F. Jacoby erhaltenen Fragmente (exklusive F 69, 70 und 99) diesem Teil der Schrift zugeordnet. Die konstantinischen Exzerpte lassen erschließen, dass die Buchgrenzen vielfach das Ende in sich geschlossener Darstellungen markierten. Lange Herrschaftszeiten von Völkern wie den Medern oder Lydern bildeten größere Einheiten, die sich über mehrere Bücher erstreckten. Es ist vor allem der erste Teil der Universalgeschichte, der eine stark kompilatorische Arbeitsweise aufweist. An einigen Stellen veränderte Nikolaos seine Vorlagen, indem er sie mit anderen Quellen kombinierte oder durch die Anreicherung mit neuen Elementen individuelle Akzente setzte. Infolge der schnellen Abfassung hat es der Geschichtsschreiber versäumt, Widersprüche zu bereinigen, die sich aus der Nutzung mehrerer Schriften ergaben. Seine eigene literarische Bildung demonstrierte er etwa, indem er bekannte Handlungen (wie die Kroisos-Geschichte) mit Motiven der griechischen Tragödie veränderte. 1208 Vermutlich stammen auch die Dialoge und Reden, die aus keiner anderen Quelle bekannt sind, aus der Feder des Nikolaos. Je mehr sich der Autor der Zeitgeschichte näherte, desto kreativer arbeitete er. Seine Darstellungen wurden in den höheren Büchern umfangreicher (in den Büchern 123 und 124 ging es bereits um die Zeit   Engels (1999), S. 266-267.   Zur Zielgruppe seines Zeitgenossen Diodor vgl. Rathmann (2016), S. 142-147. 1207   So auch Engels zur Qualität der Hypomnemata von Strabon, vgl. Engels (1999), S. 70. 1208   Toher (1989), S. 165. 1205 1206

Schlussbetrachtung: Zu den Besonderheiten der Schrift245



des Prinzipats), allerdings sind von diesen Teilen der Historien nur verstreute Einzelzeugnisse erhalten. Eine Besonderheit stellte die Einbeziehung des Judentums in die Weltgeschichte dar. Als Vertrauter des Herodes konnte Nikolaos persönliche Erfahrungen und Erlebnisse in sein Werk einbringen. Insgesamt legt die Struktur der Schrift nahe, dass sich die Weltgeschichte vom Osten in den Westen verlagerte, schließlich stand am Anfang das Assyrerreich und am Ende die römische Herrschaft. Judäa nahm als formell unabhängiges Königreich eine Sonderrolle zwischen Europa und Asien ein. 1209 Die zusammenhängenden Darstellungen, die sich aus den Zeugnissen des Nikolaos rekonstruieren lassen, sind von großer Bedeutung, weil sie mehr Auskunft über die lydische und griechische Geschichte der archaischen Zeit geben als andere Quellen (Kap. 2.3.1.). Trotz fragmentarischer Überlieferung können aus den erhaltenen Teilen der Historien einige wiederkehrende Motive herausgearbeitet werden (Kap. 2.3.2.). Darstellungen „männlicher“ Frauen und „weiblicher“ Männer sollten die Fremdheit der Asiaten unterstreichen und diese von den Griechen abgrenzen. Weiterhin kommen in den Zeugnissen Vorzeichen und Orakel vor, die mit den Spannungshöhepunkten der jeweiligen Darstellungen verknüpft sind. Prophezeite Machtwechsel, wie der des Kypselos in Korinth, weisen auf nachträgliche Konstruktionen zur Rechtfertigung von Usurpationen hin. Zwar fand in den Geschichtswerken der hellenistischen Zeit vielfach eine Abstraktion von vergangenen Diskursen statt, weil es vor allem um eine Weitergabe von Geschehenem als Bildungsgut ging, doch äußert sich in den Fragmenten des Nikolaos ein hoher Stellenwert von Normkonformität (Kap. 2.3.3.1.). Mehrere Textauszüge lassen auf eine normative Konstruktion von Herrschaft schließen, immerhin werden Entmachtungen mit Abweichungen von normierten Handlungsweisen gerechtfertigt, und Machtübernahmen mit der Wiederherstellung der Normen legitimiert. Die Komplexität der Konflikte, die in den Fragmenten thematisiert werden, bildet etwa bei der Untersuchung des Streits zwischen den lydischen Adelsgeschlechtern der Herakliden und Mermnaden ein Korrektiv zur vereinfachten Darstellung Herodots. In Bezug auf die frühen griechischen Poleis deuten die Fragmente eine besondere Konflikthaftigkeit an. Gleichzeitig verzeichnen die Zeugnisse aber auch Tendenzen zur Konfliktregelung im Rahmen der jeweiligen politischen Systeme (Kap. 2.3.3.2.). Das Werk des Nikolaos ist ein Ausdruck der Konstituierung der Universalgeschichte in augusteischer Zeit. Mit dem Vorhaben, eine allumfassende Geschichte darzulegen, kam der Autor einem Bedürfnis seiner Zeit nach, als die Eroberung der bekannten Welt durch die Römer nahezu abgeschlossen war. 1210 Nikolaos verfasste seine Historien in nächster Nähe zu Herodes und sprach sicher Teile seiner Darstellungen mit dem König ab. 1211 Ihrem Charakter nach war die   Zu den Charakteristika der Universalgeschichte vgl. Kap. 2.2.1.   Alonso-Núñez (1995), S. 7; 15. 1211   Ilan (1998), S. 198. 1209 1210

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Schrift keine pragmatische Geschichtsschreibung im Sinne des Polybios, allerdings zeigen die Befunde zu den theoretischen Aspekten ‚Normen und Sanktionen‘ sowie ‚Konflikt und Konfliktregelung‘, dass die Universalgeschichte einen didaktischen Nutzen erfüllte (Kap. 2.3.3.). Der Autor hat seine Vorlagen nicht einfach abgeschrieben, sondern vielfach mit eigener Rhetorik verändert und durch pathetische Ausschmückungen ergänzt. 1212 Dass Nikolaos Wert auf Persönlichkeiten legte und von einem göttlichen Einfluss auf die Geschichte ausging, ist mit seiner peripatetischen Prägung zu erklären. Alles in allem verbindet das Geschichtswerk also anspruchsvolles philosophisches Gedankengut mit rhetorisch ausgefeilten Darstellungen und Motiven der griechischen Tragödie, die zur Unterhaltung der Leser beitragen sollten. Solche Elemente finden sich auch in anderen Werken der hellenistischen Historiographie. 1213 Für den Verlust der Universalgeschichte gibt es eine Reihe von Gründen: Wesentliche Aspekte sind ihr enormer Umfang, der die Abschrift erschwerte, das Ende der Dynastie des Herodes, mit dem Nikolaos eng verbunden war, die erfolgreiche Schrift Antiquitates Iudaicae des Josephus, der den Darstellungen des Nikolaos kritisch gegenüberstand, und der Niedergang der literarischen Gattung der Universalgeschichte, nachdem Augustus gestorben war. Aufgrund der fragmentarischen Überlieferung ist eine Beurteilung des Gesamtwerks nur in begrenztem Maße möglich. Die Zeugnisse zu den ersten sieben Büchern sind zahlreich, ausführlich und zuverlässig, weil sie systematisch angefertigt wurden, um diesen Teil der Historien zu bewahren. Allerdings sind die konstantinischen Exzerpte nach den Kategorien ‚Tugenden und Lasterhaftigkeiten‘ sowie ‚Nachstellungen‘ verfasst worden, sodass das ohnehin eingeschränkte Bild der Universalgeschichte noch einmal thematisch verengt wird. Es ist nicht immer mit Sicherheit zu entscheiden, welche Kürzung auf Nikolaos zurückgeht und was von den byzantinischen Schreibern ausgelassen wurde. Auch bei Abweichungen von älteren Traditionen ist oft nicht klar, ob Nikolaos seine Vorlage verändert hat, oder ob die Veränderung in seiner Quelle beinhaltet war. Vielfach stellt sich die Frage, wie repräsentativ die Überlieferungen sind, die es von der Universalgeschichte gibt. Sagen die Fragmente nicht mehr über Exzerptoren und Autoren aus, bei denen sie tradiert sind, als über Nikolaos selbst? Erst recht ist Skepsis gegenüber den Fragmenten angebracht, die als Zitate aus den Zusammenhängen der höheren Bücher gerissen wurden. Es sind lediglich 18 Bücher der Schrift, denen mehr oder weniger eindeutig Fragmente zuzuordnen sind, was dem geringen Wert von 8% der ursprünglich 144 Bücher entspricht (Tab. 6). Für die Aussagekraft der Fragmente ist wiederum vorzubringen, dass jede Entscheidung, einen Text zu zitieren, im Originalwerk selbst begründet ist. Das bedeutet, dass die Teile, die aus der Universalgeschichte überliefert sind, von antiken Autoren und Schreibern als „erhaltenswert“ erachtet wurden und dass die 1212 1213

  Toher (1989), S. 160.   Zur Beurteilung der Universalgeschichte vgl. auch Engels (1999), S. 266.



Schlussbetrachtung: Zu den Besonderheiten der Schrift247

Nutzung der Historien als Vorlage „erwähnenswert“ war. Es mutet banal an, aber Fragmente sind bis zu einem bestimmten Grad repräsentativ für ein Gesamtwerk, weil sie Inhalte des Gesamtwerks wiedergeben. Zwar ist keine der hellenistischen Universalgeschichten vollständig erhalten, doch haben die Fragmente jedes Werks eine eigene Prägung. Annäherungen an verlorene Schriften sind über Gesamtauswertungen möglich, doch je spezifischer die Fragestellungen werden, desto weniger Fragmente lassen sich mit ihnen erfassen. Eine Erweiterung des Befunds ist durch den Vergleich verschiedener unvollständig erhaltener Geschichtswerke möglich, weil so die besonderen Merkmale der Schriften herausgearbeitet werden können. 1214 Um die Eigenheiten der Historien des Nikolaos deutlich zu machen, bietet sich ein Blick auf die Zeugnisse seiner Zeitgenossen Diodor und Strabon an. 4.1.  Vergleich

mit

Diodor

Diodor stammte nach eigener Angabe aus Agyrion auf Sizilien. 1215 Er kam also wie Nikolaos aus einer römischen Provinz, gehörte aber, anders als jener, keiner angesehenen Familie an – zumindest ist nichts über Vor- oder Nachfahren Diodors überliefert. Seine genauen Lebensdaten sind unbekannt, aber er war sicher einige Jahre älter als Nikolaos, denn in der 180. Olympiade, also in der Zeit zwischen 60 und 56 v. Chr., hielt er sich bereits in Ägypten auf. 1216 Das späteste Ereignis, das Diodor erwähnt, ist auf das Jahr 36 v. Chr. zu datieren. 1217 Für eine persönliche Bekanntschaft zu Nikolaos gibt es keine Hinweise. Diodor nannte sein Werk nicht Historia(-i), sondern Bibliotheke. 1218 Die 40 Bücher der Schrift machen weniger als ein Drittel der Buchzahl des Nikolaos aus. Dafür arbeitete Diodor fast 30 Jahre an ihnen, 1219 während die Universalgeschichte des Nikolaos in deutlich kürzerer Zeit entstand (Kap. 2.2.1.). Vollständig erhalten sind von der Bibliotheke die Bücher 1 bis 5 sowie 11 bis 20. Offenbar gingen Diodor und Nikolaos bei der Abfassung auf ähnliche Weise vor, denn sie fertigten große Teile ihrer Werke durch die Kompilation verschiedener Quellen an. Dabei haben sie ihre Vorlagen weitgehend zuverlässig übernommen. Diodor verfasste eine durchdachte Einleitung, die Auskunft über die Inhalte seiner Bücher gab. Die Bibliotheke begann mit der Entstehung der Welt und endete mit der Zeitgeschichte des Autors. Eine solch umfassende Betrachtung lag auch der Universalgeschichte zugrunde. In einer Hinsicht kann Diodor aber 1214   Zu den begrenzten Rekonstruktionsmöglichkeiten der Hypomnemata von Strabon vgl. Engels (1999), S. 76-89. 1215   Diod. 1,4,3. 1216   Diod. 1,44,1; 1,46,7; 1,83,9. 1217   Diod. 16,7,1. 1218  Zur Bibliotheke Diodors vgl. Sacks (1990); Marincola (2007); Inglebert (2014), S. 236-240; Rathmann (2016). 1219   Diod. 1,4,1. Zur Abfassungsdauer und Publikation der Bibliotheke vgl. Rathmann (2016), S. 61-63.

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als Wegbereiter des Nikolaos betrachtet werden, immerhin beschäftigte er sich (anders als frühere Autoren wie Ephoros, Polybios und Poseidonios) mit den mythischen Anfängen und den ersten asiatischen Reichen. 1220 Im ersten Buch thematisierte er die ägyptische Geschichte, während Nikolaos sich dem Reich der Assyrer widmete. 1221 Für bestimmte Darstellungen aus seiner eigenen Lebenszeit konnte sich Diodor wie Nikolaos auf eine ‚Autopsie‘ berufen, wobei Nikolaos im Zuge seiner diplomatischen Tätigkeit wohl häufiger Reisen unternommen hat. Viele Darstellungen des Nikolaos deckten sich mit dem Werk Diodors, wie der Kommentar gezeigt hat, aber eine Abhängigkeit der Historien von der Bibliotheke ist nicht zu belegen. Die Parallelen erklären sich damit, dass Nikolaos und Diodor auf die gleichen Quellen (etwa Ktesias und Ephoros) zurückgegriffen haben. Beide verfolgten auch ähnliche Absichten, denn sie wollten ihren Lesern einen Überblick über die Essenzen älterer Schriften bieten und sich eine eigene Auseinandersetzung mit den Quellen ersparen. Da komplexe Prozesse bei Diodor annalistisch-synchronistisch aufgebaut waren, lässt sich Gleiches von der Universalgeschichte vermuten. Sicher spielte aber die jüdische Geschichte in der Bibliotheke nicht eine ebenso große Rolle wie im Werk des Nikolaos, immerhin gehörte nur letzterer zu den Hauptquellen des Josephus. 4.2.  Vergleich

mit

Strabon

Der andere Zeitgenosse des Nikolaos, mit dem sich ein Vergleich anbietet, ist Strabon. Seine Heimat war das pontische Amaseia, wie er selbst schreibt. 1222 Im Gegensatz zu Diodor erwähnt Strabon auch Vorfahren, die offenbar Beziehungen zum pontischen Königshaus und zu führenden Vertretern der römischen Republik hatten. Einige Erwähnungen und Zeitangaben Strabons legen nahe, dass er wenige Jahre vor Nikolaos geboren wurde. 1223 Er nutzte aber die Schrift des Nikolaos als Quelle, wie aus Fragment 100 der Universalgeschichte hervorgeht. Strabon ist hauptsächlich als Verfasser der Geographika in Erinnerung geblieben, da seine umfangreichen Historika hypomnemata fast vollständig verloren sind. 1224 F. Jacoby hat dem 47 Bücher umfassenden Geschichtswerk nur 19 Fragmente zuordnen können. 1225 Neben Poseidonios von Apameia und Dionysios von Halikarnassos gehört Strabon zu den Autoren, die an das Werk des Polybios anknüpften. Die Hypomnemata setzten sich also mit der Zeit ab 145/144 v. Chr.   Diod. 1,4,6; vgl. Engels (1999), S. 208; Inglebert (2014), S. 237.   Inglebert (2014), S. 242. 1222   Strab. 12,3,15 (547C); 12,3,39 (561C). 1223   Zu den Vorfahren Strabons und zur Datierung seiner Lebenszeit vgl. Engels (1999), S. 17-26. 1224   Zu den Hypomnemata Strabons vgl. Engels (1999) und Jacobys Kommentar zu FGrHist 91 (1926, S. 291-295). 1225   FGrHist 91 F 1-19. 1220 1221

Schlussbetrachtung: Zu den Besonderheiten der Schrift249



auseinander und thematisierten die Geschichte bis nach den römischen Bürgerkriegen. 1226 Dies ist einer der Unterschiede zur Schrift des Nikolaos, der auch über deutlich frühere Zeiten schreiben musste, um die Anfänge des Judentums darzulegen. Nichtsdestoweniger gehörte Strabon mit Nikolaos zu den Autoren, die Auskunft über die jüdische Geschichte gaben, denn Josephus hebt mehrfach hervor, dass beide dasselbe sagten. 1227 Strabon hat die Geographie in eine eigene Schrift ausgelagert, während die Historien des Nikolaos auch geographische Exkurse enthielten. Dafür hatte Nikolaos seinem paradoxographisch-ethnographischen Quellenmaterial eine separate Sammlung besonderer Völkersitten gewidmet. 1228 Gemeinsam ist den Autoren, dass sie als Philosophen bekannt wurden. 1229 Im Proömium der Geographika hatte Strabon seine Werke als Teile der Philosophie aufgefasst. 1230 Sein Selbstverständnis als „Philosoph“ ist aber im umfassenden Sinne eines „Gelehrten“ zu verstehen. Er hatte sich zwar mit der Philosophie beschäftigt und philosophische Gedanken verschriftlicht, doch es ging ihm vor allem darum, nicht als Autor von Fachbüchern wahrgenommen zu werden. 1231 Dagegen muss die philosophische Betätigung des Nikolaos deutlich intensiver gewesen sein, wie sein Schriftenverzeichnis, seine Ermahnungen des Herodes und sein Aufenthalt in Rom zeigen (Kap. 2.1.). Dass Nikolaos bei einigen Autoren als „Peripatetiker“ in Erinnerung blieb, steht auch mit seinen philosophischen Reflexionen in der Universalgeschichte in Verbindung. Gemeinsam ist den Universalhistorikern Diodor, Strabon und Nikolaos, dass sie alle aus Provinzen stammten und die römische Weltherrschaft als Beginn einer neuen Epoche betrachteten. Als Diplomat und Ratgeber hatte Nikolaos die größte Einsicht in die ökonomischen und politischen Veränderungen, die in jener Zeit die Mittelmeerwelt prägten. Als Vertrauter des Herodes war er aber auch befangener als seine Zeitgenossen. In den Historien kommt dies etwa in der jüdischen Geschichte zum Ausdruck, die eine Neuheit gegenüber anderen Werken bildete, aber auch von einer Propagandatätigkeit für den König von Judäa zeugt. Trotz dieser Nähe zu Herodes, der bei vielen unbeliebt war, blieb die Familie des Nikolaos über mehrere Generationen anerkannt. Dieser Umstand ist mit seinem Lebenswerk zu erklären, denn die Universalgeschichte war zumindest in ihrer Ausführlichkeit unübertroffen. Zwar sind weite Teile der Schrift verloren, aber die erhaltenen Fragmente bilden dennoch ein umfangreiches Textkorpus, das sich für die Bearbeitung zahlreicher   FGrHist 91 F 18-19. Zum Berichtzeitraum Strabons vgl. Engels (1999), S. 80-84.   Yarrow (2006), S. 74. 1228   Engels (1999), S. 264. 1229   Strabon wird etwa von Plutarch als Philosoph bezeichnet, vgl. Plut., Luc. 28,7; Caes. 63,2. 1230   Strab. 1,1,1 (1-2C). 1231   Zur Bezeichnung Strabons als „Philosoph“ und zum Begriffsverständnis von „Philosophie“ vgl. Engels (1999), S. 40-44. 1226 1227

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Fragestellungen anbietet. Die Vielfalt der Themen, die in den Fragmenten angesprochen werden, kann Anstöße für weitere Forschungen geben. Förderlich für eine solche Entwicklung wären eine separate Edition der Universalgeschichte und eine konsequente Zitierweise des Werks durch die Quellenangabe „Nik. Dam.“. Die vorliegende Abhandlung soll einen Beitrag dazu leisten, die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf einen vielfach vergessenen Autor zu lenken.

5.  English Abstract In the course of working on my doctoral dissertation, I carried out an in-depth analysis of the 102 (according to F. Jacoby’s count) surviving fragments of the originally 144 books of the Universal History by Nicolaus of Damascus (644 BC). This study was definitely needed, because, while there are older contributions (e.g. Wacholder’s extensive monograph from 1962) as well as a number of more recent articles about individual aspects of Nicolaus’ work, the fragments have not been thoroughly examined up to now. Nicolaus was one of a number of historians of the antiquity including Poseidonius of Apameia, Diodorus Siculus, Strabo of Amaseia, Pompeius Trogus, Dionysius of Halicarnassus and Timagenes of Alexandria who, towards the end of the Hellenistic era, wrote extensive works with universal historical approaches. The transmission of Nicolaus’ ἱστορία καθολική – its title according to the Suda – failed due to its enormous scope. When compared to other ancient works it did not seem attractive enough to be worth preserving. Another stumbling-block was Nicolaus’ friendship with Herod the Great, the King of Judaea, which apparently could not even be compensated for by the friendly relationship that the historian had with both Augustus and Marcus Agrippa. The fact that Nicolaus even broached the topic of Jewish history, which was unusual at that time, was relativised by the Antiquitates Iudaicae of Flavius Josephus. And finally, one must also consider the writing of the Historia in the context of the Augustinian Oikoumene. After the death of the first emperor Augustus, the genre of ‘universal history’ underwent a crisis that resulted in the loss of almost all works. The only work that has been completely preserved is that of the Christian author Orosius of the late Antiquity. Of Nicolaus’ Historia we now have only excerpts which (under the Byzantine emperor Constantine VII Porphyrogenitus) were systematically made from the first seven books, as well as a number of scattered quotations that occur in the works of ancient authors like Strabo, Josephus, Plutarch, Athenaeus, Socrates of Constantinople and Stephanus of Byzantium. The fact that there is hardly any other lost work on history from which we have so many surviving fragments as from Nicolaus’ Universal History shows how much interest it aroused in antiquity. Apparently, it belonged to the most popular of the no longer existing works. The aim of my research was to analyse the Universal History in terms of both its structure and content by means of (a) composing a commentary on all of the fragments and (b) evaluating their respective, distinctive characteristics which contributed to their preservation. I based my work on F. Jacoby’s Die Fragmente der griechischen Historiker, which is still the main authority. My analysis takes into account the textual context in which the fragments were transmitted, as well

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as recent research findings about doubtful references, textual variants and transmissions, which if they are fragments might be the work of Nicolaus. I identified as ‘fragments’ any literary evidence that can be used to obtain information about the content of the Historia. My dissertation opens with an introduction (chapter 1), followed by a chapter on the life of Nicolaus and his work, Universal History (chapter 2). Within this part, the biography and other writings of the author are treated first (2.1). His main work is the subject of subchapter 2.2., within which also the surviving fragments and their transmission history are dealt with. In the last subchapter I suggest three methodical approaches to the Historia (subchapter 2.3). On the basis of the fragments, I was able to reconstruct narratives of Lydian and Greek history in archaic times. After that, reoccurring motives were identified in order to enable me to pinpoint patterns of narrative elements. Finally, I examined the Universal History through the lens of two pairs of theoretical aspects: ‘social norms and sanctions’, and ‘conflict and conflict settlement’. With these approaches, it was possible to make a large number of the transmissions accessible. Looking at norms can give insights into the social order in past times and the processes of institutionalisation, while an analysis of conflicts can provide information about the stability of ancient systems and the functionality of measures for conflict settlement. The main focus of my research is provided in chapter 3, which contains for each fragment of the Universal History its own commentary. This was necessary as almost every fragment had a distinct textual and chronological context of its own. The analysis of each individual fragment follows the same methodological structure: a section on classification discusses the fragment’s background and content, followed by a contextualisation of the narrative, its likely position in the Universal History, Nicolaus’ source, as well as parallel transmissions and possible dependences. This is always followed by a section of commentary in three parts: a summary, a comparison of the fragment with the parallel transmissions, and an analysis of the narrative. The final chapter contains a summary of the results, a reflection upon the limits of the possibility of reconstruction, as well as a comparison with selected universal histories that originated in the same period as Nicolaus’ one (chapter 4). An analysis of the surviving fragments shows that Nicolaus’ topic was the history of the world from its mythic beginnings down to his own time. Inherent in the structure of the Historia (which begin with the Assyrian Empire and end with Roman rule) is the concept of a progression of history from east to west. Nicolaus’ work is largely a compilation. His sources include Homer, Hesiod, Herodotus, Hellenistic versions of Ctesias and Xanthus, Ephorus, Hellanicus, Caesar, and biblical texts. This list of names indicates that Nicolaus used the most important sources of his time. Numerous passages in his text show marked distinctions to parallel transmissions. There are places where Nicolaus changed his sources by combining them with other material or, by adding new elements, he created individual accents. Contradictions that resulted from his use of more than



5. English Abstract253

one source were not always ironed out. He demonstrated his own literary education by decorating his material with elements from tragic historiography. Dialogues and speeches the source of which we do not know are quite possibly original works of Nicolaus. Numerous fragments – e.g. those about tyrannis in the archaic period – are unique texts. Nicolaus is the only ancient author of universal history who wrote extensively on Jewish history. This, as well as the fact that he described events from his own time in a manner sympathetic to Herod, is probably the result of his close ties to the king of Judaea. All of these aspects explain why Nicolaus’ Universal History became part of the “source-canon” of authors like Josephus, Athenaeus and Stephanus of Byzantium. The reconstruction of narratives shows that Nicolaus’ Historia contain a greater amount of information about Lydian history and about events during the time of archaic tyrannis than parallel transmissions do. My search for narrative elements allowed me to identify discourses about gender role-switching. There are several instances where Nicolaus mentions “masculine” women and “feminine” men, in order to stress the cultural otherness of peoples in Asia and to distinguish them from the Greeks. The work also contains a large number of omens and oracles that are tied to the moments of high suspense of each particular narrative. Instances where a prophecy predicts a seizing of power (e.g. in the case of Cypselus in Corinth) are in fact indicators for later literary constructions in order to legitimise usurpations. Ancient universal histories were principally concerned with the presentation of past events for educational purposes. As such, they frequently contained abstractions of past discourses, but, through the theoretical part of my analysis, I was able to show that in the Historia, Nicolaus stresses to a higher than usual degree the importance of conformity to norms. A large number of excerpts suggest a normative construction of power: after all, a ruler’s fall from power is usually justified on the basis of deviance from normative conduct, while assumptions of power are legitimised with re-establishments of social norms. The complexity of the conflicts that are the subject of Nicolaus’ fragments can serve as a corrective – to name one example – to Herodotus’ simplified version of the dispute between the noble Lydian families, the Heraclides and the Mermnades. Conflicts occur with particular frequency in the fragments about the early Greek poleis; but the fragments also demonstrate tendencies towards conflict-resolution within each of the political systems concerned. Working with Nicolaus’ writings has been particularly challenging, since the fragmentary form of the transmission sets methodological limits in a variety of ways. By comparing the extant fragments with the works of Diodorus Siculus and Strabo, however, I have found it possible to gain a clearer concept of the Universal History of Nicolaus of Damascus. Future additions to F. Jacoby’s collection of fragments may enable further insights. This study is to be understood as a plea for further engagement with the Historia and to direct scholarly attention to an author who has been forgotten too often.

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55 € 80 € 68 € 64 € 40 € 68 € 100 € 68 € 30 € 30 €

63 € 55 € 55 € 30 € 55 € 30 € 65 € 65 € 65 € 67 € 39 € 55 €

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78 € 40 € 30 € 62 € 50 € 30 € 71 € 57 € 42 € 60 € 80 € 54 € 41 € 40 € 30 € 89 € 40 € 57 € 40 € 30 € 71 € 80 € 63 €

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40 € 63 € 76 € 106 €

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