Öffentliches Recht und Politik: Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428430246, 9783428030248

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Öffentliches Recht und Politik: Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428430246, 9783428030248

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FESTSCHRIFT FÜR HANS ULRICH SCUPIN

Offentliches Recht und Politik Festschrift für

HANS ULRICH SCUPIN zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Norbert Achterberg

DUNCKER

&

HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten 0 1973 Duncker & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1973 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlln 65 Prlnted in Germany ISBN 3 428 03024 9

Sehr verehrter, lieber Herr Scupin! Um ihren Amtsnachfolger hat sich eine Reihe Ihrer Fachkollegen versammelt - solcher des Münsterer Fachbereichs, solcher aus dem Kreise Ihrer ehemaligen Schüler, solcher aus der Schar derer, die mit Ihnen sonst im wissenschaftlichen Gespräch standen oder stehen -, um Ihnen zur Vollendung Ihres 70. Lebensjahres achtungsvolle und freundschaftliche Verbundenheit zu bekunden. Der Titel, unter dem die Beiträge dieser Ihnen zugedachten Gabe vereinigt sind, entspricht nicht nur der Bezeichnung des Instituts, dem Sie viele Jahre vorgestanden haben, sondern er versucht wie ihr Inhalt, die Weite Ihrer wissenschaftlichen Interessen widerzuspiegeln, die von der Rechtsphilosophie und der Rechtsgeschichte über das Völkerrecht und das Staatsrecht bis zum Verwaltungsrecht reichen und auch die Sozialwissenschaften, insbesondere die Politische Wissenschaft, einbeziehen. Sie haben durch die Vielfalt dieser Interessen und Ihrer Lehrtätigkeit sowohl an der Hochschule - die Universitäten Breslau, Posen und Münster rechneten Sie zu den Ihren- als auch an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Osnabrück manche jener Forderungen längst erfüllt, die heute zunehmend an den Universitätslehrer gerichtet werden. Für die mannigfachen Anregungen und Erkenntnisse, die Sie vermittelt haben, sind Ihnen Ihre Schüler, sind Ihnen Ihre Kollegen, ist Ihnen mancher, der gleich Ihnen sich um das Recht bemüht, zu Dank verpflichtet. Nehmen Sie, sehr verehrter, lieber Herr Scupin, diese Gabe bitte als den Ausdruck verehrungsvoller Zuneigung für den hochgeschätzten Fachkollegen und für den liebenswerten, gütigen Menschen, als den wir Sie unter uns wissen und dem unsere herzlichen Wünsche für viele weitere glückliche Jahre eines reich gesegneten Lebens gelten. Norbert Achterberg

Inhalt Prof. Dr. Norbert Achterberg, Münster: "Öffentliche Ordnung" im pluralistischen Staat. Analytische Bemerkungen zu einem Grundbegriff des Polizei- und Ordnungsrechts . . . . . .

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Privatdozent Dr. Günther Barbey, Münster: Zur Problematik der Übernahme von Grundsätzen des Weimarer Studentenschaftsrechts in das neue Hochschulrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Prof. Dr. Dr. Erich Becker, Speyer: Einige Beobachtungen bei der kommunalen Neugliederung

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Prof. Dr. Ralf Dreier, Göttingen: Zur Grundrechtssubjektivität juristischer Personen des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Prof. Dr. Dieter Grosser, Münster: Demokratietheorie in der Sackgasse? ................................ 107 Prof. Dr. Werner Hoppe, Münster: Zur Rechtskontrolle von Bebauungsplänen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Prof. Dr. Otto Kimminich, Regensburg: Menschenrechtsschutz im geteilten Deutschland ...................... 145 Prof. Dr. Friedrich Klein, Münster: Gleichheitssatz und föderative Struktur der Bundesrepublik Deutschland .............................................................. 165 Prof. Dr. Martin Kriele, Köln: Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Prof. Dr. Erich Küchenhoff, Münster: Kandidatenaufstellung und Wahlberechtigung. Zum Begriff "Wahlberechtigte Mitglieder der Partei im Wahlkreis" in §§ 22 I und 28 V i. V. m. 22 I Bundeswahlgesetz und in entsprechenden Landeswahlgesetzen .............................................................. 213 Prof. Dr. Günther Küchenhoff, Würzburg: Die Natur der Sache unter besonderer Berücksichtigung der Lehre von Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

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Inhalt

Prof. Dr. Bartholomeus Landheer, Groningen/Niederlande: Die Weltgesellschaft und die Wissensformen .......................... 237 Prof. Dr. Franz Mayer, Regensburg: Verfassungsrechtliche Probleme einer Reform des öffentlichen Dienstes 249 Prof. Dr. Boris Meissner, Köln: Die baltische Frage in der Weltpolitik ....... . .......... . ........... 281 Prof. Dr. Franz Ronneberger, Nürnberg: Föderative Politik als Handlungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Prof. Dr. Ulrich Scheuner, Bonn: Normative Gewährleistungen und Bezugnahme auf Fakten im Verfassungstext Ein Beitrag zur Auslegung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . 323 Prof. Dr. Heinhard Steiger, Münster: Welt und Umwelt. Zur Fortbildung des internationalen Handlungssystems und des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Prof. Dr. Georg Christoph von Unruh, Kiel: Die kommunale Selbstverwaltung im Grundgesetz und ihr genetisches Modell ............................................................ 391 Prof. Dr. Wilhelm Wegener, Saarbrücken: Sirnon Heinrich Musaeus von Steineck. Ein fast vergessener Vertreter des Natur- und Völkerrechts (1655- 1711) ............................ 421 Dieter Wyduckel, Münster: Veröffentlichungen von Hans Ulrich Scupin .......................... 441

"Öffentliche Ordnung" im pluralistischen Staat Analytische Bemerkungen zu einem Grundbegriff des Polizei- und Ordnungsrechts Von N orbert Achterberg, Münster Die kritische Aufarbeitung überkommener, in die gegenwärtige Rechtsordnung kaum reflektiert übernommener Dogmen ist in vollem Gange. Beschränkung des rechtserfüllten Raums auf das Außenverhältnis- und in ihm möglicherweise nur auf die "Eingriffsverwaltung" -, besonderes Gewaltverhältnis, dualistischer Gesetzesbegriff - These, Institut, Theorem, an die Staats- und Verwaltungsrechtier die Axt gelegt haben1 • Wenn nicht alles trügt, setzt sich dies hinsichtlich der "öffentlichen Ordnung" fort. Volkmar Götz hat den Angriff eröffnet, Gerhard Wacke ihm Einhalt geboten2 - Grund genug, um auf den Plan zu treten und an den schillerndsten Begriff des Polizei- und Ordnungsrechts die kritische Sonde zu legen. I. 1. Die polizeirechtlichen Gesetze in der Bundesrepublik stimmen darin überein, daß sie die öffentliche Ordnung zum Schutzobjekt polizeilichen Handeins erklären3 - alle gleichen sich freilich auch darin, daß sie sich 1 Um mir Beispiele zu nennen: Wider die Beschränkung des rechtserfüllten Raums auf das Außenverhältnis: Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, Tübingen 1965, diejenige auf die Eingriffsverwaltung: Jesch, Gesetz und Verwaltung, Tübingen 1961, das besondere Gewaltverhältnis: Fuß, Personale Kontaktverhältnisse zwischen Verwaltung und Bürger. Zum Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis, DÖV 72, 765 ff., den dualistischen Gesetzesbegriff: Achterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 73, 289 ff. 2 Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl., Göttingen 1973, § 3 III, S. 45 ff. Kritisch dazu Wacke in seiner Rezension dieses Buches, AöR 97, 599 f. (600). 3 §§ 1 Abs. 1 BWPolG 55 (GBl 249), 14 Abs. 1 BerlPVG 58 (GVBl 961), 1 Abs. 1 BremPolG 60 (GBl 73), 1 HambPVG 47 (GVBl 73), 1 Abs. 1 HSOG 64 (GVBl 209), 1 Abs. 1 Nds SOG 51 (GVBl 79), 20 Abs. 1 NWPolG (GVNW 740), 1 Abs. 1 NWOBG (GVNW 732), 1 Abs. 1 RhPfPVG 54 (GVBl 31), 14 Abs. 1 PrPVG (im Saarland fortgeltend), 1 Abs. 1 SHPolG 49 (SHGVOBl 61); Abdruck der vorgenannten Gesetze - wenn auch nicht stets in neuester Fassung - bei UZe-Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht (= v. Brauchitsch, Verwaltungsgesetze des Bundes und der Länder, hrsg. Ule, Bd. III/1), Köln - Berlin - Bonn- München 1965, S. 337 ff.- Art. 2 BayPAG i. d. F. 63 (GVB195).

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über den Inhalt dieses Begriffs ausschweigen. Die Rechtslehre deutet ihn überwiegend dahin, "öffentliche Ordnung" im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne umfasse "die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Zusammenlebens betrachtet wird", bei ihnen handele es sich nicht um Rechtsnormen. "Öffentliche Sicherheit" als das alternative Schutzobjekt wird demgegenüber als die "Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie der Veranstaltungen des Staates und der sonstigen Träger der Hoheitsgewalt" verstanden und mithin im Rechts-Bereich angesiedelt4 • Die solchermaßen getroffene Abgrenzung, die üblicherweise als "allgemeine Auffassung" deklariert5 , in ihrer gegenwärtigen Haltbarkeit zwar mitunter bezweifelt, auf ihre geschichtliche Richtigkeit dagegen nicht befragt wird, ist nicht erst neueren Datums. Sinngemäß ist sie vielmehr bereits in der Begründung zu§ 14 des Entwurfs des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931 anzutreffen, bei dessen Beratung im Ausschuß für Verfassungsfragen hierfür die Auslegung des § 10 II 17 PrALR durch das Preußische Oberverwaltungsgericht als Beleg angeführt wurde6 -dies indessen unreflektiert, ohne die Frage zu stellen, ob das Gericht sich mit ihr 7 nicht möglicherweise selbst auf schwankendem Boden befand. Der Zugang zum Thema- zur Bedeutung des polizei-und ordnungsrechtlichen Begriffs "öffentliche Ordnung" im pluralistischen Staat8 findet sich hiernach nur, wenn unter Anwendung der historischen und der teleologischen Methode die Fragen beantwortet werden, ob die erwähnte Auslegung des Begriffs "öffentliche Ordnung" der geschichtlichen Überlieferung entspricht (II), ob sie im modernen, pluralistischen Staat haltbar ist (III), ob schließlich- falls die erste und/oder die zweite Frage zu verneinen ist- der Begriff "öffentliche Ordnung" in einem so gearteten Staat überhaupt obsolet ist oder welcher Sinngehalt ihm sonst zukommt (IV). 4 Drews-Wacke, Allgemeines Polizeirecht, 7. Aufl., Berlin- Köln- München- Bonn 1961, § 5, 2, S.63 ff., § 6, 1, S. 73 f.; Götz, a.a.O., § 3 II, S. 34 ff., § 3 !II, S. 45 ff.; Ul.e-Rasch, a.a.O., § 14 PrPVG, RdZüf. 11 ff., S. 44 ff. Behutsamer Scupin, Das Polizeirecht in der Bundesrepublik Deutschland, in: Peters, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. II, Berlin - Göttingen Heidelberg 1957, § 85 III, S. 613 f. (614: "Als Ordnung ist ... die Ungestörtheit der Zusammenhänge des Lebens einer Allgemeinheit anzusehen"). 6 So Götz, a.a.o., § 3 III 1, S. 45. 1 Vgl. Pr.LT-Drucksache III/5933, Sp. 31, sowie den Bericht des Ausschusses für Verfassungsfragen, Pr.LT-Drucksache III/7081, Sp. 6. 7 s. dazu des näheren u. II 2 b. 8 Zu diesem Begrüf und seiner Abgrenzung zu dem geläufigeren "pluralistische Gesellschaft" Herzog, Pluralismus, in: Evangelisches Staatslexikon, hrsg. Kunst-Grundmann, Berlin 1966, Sp. 1541 ff. (1541).

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2. Gleichsam axiomatisch behandelt und nicht weiter in Frage gestellt werden sollen in diesem Zusammenhang zwei Probleme, denen hier nicht nachgegangen werden kann: a) Offen bleiben muß zum einen, welchen Stellenwert die Ordnung in den in pluralistischen Staaten denkmöglichen Wertsystemen im allgemeinen, welchen sie in der Bundesrepublik im besonderen einnimmt. Die Antwort hierauf hängt von dem Begriffsinhalt der Ordnung ab, mit dem sich die folgenden Überlegungen nur insoweit befassen sollen, wie er im Polizei- und Ordnungsrecht verstanden wird, erforderte im übrigen jedoch tiefgreifende Überlegungen zur Konzeption eben solcher Wertsysteme, die über das hier zu behandelnde Thema weit hinausreichen. Allgemein läßt sich nur sagen, daß dieser Stellenwert höchst unterschiedlich angesetzt sein kann und angesetzt wird: CampaneZla etwa beurteilte ihn anders als Morus, der Revolutionär wird ihn anders sehen als der Reaktionär. In der geltenden Staatsgrundordnung stehen "Freiheit und Ordnung" (Ernst Bloch)9 in dialektischem Verhältnis10 ; der polizeirechtliche Ordnungsbereich wirkt über den Transformator der Schrankentrias auf den grundrechtliehen Freiheitsbereich ein. Für den Anhänger der Uberschen Formel "in dubio pro libertate" 11 muß sich hieraus zwangsläufig ein "in dubio contra quietatem" ergeben - "Ruhe" in jenem Sinne, in dem dieser in § 10 II 17 PrALR noch neben "Sicherheit und Ordnung" stehende, seit § 14 PrPVG das beide überwölbende Schutzobjekt bezeichnende 12 Begriff im Polizeirecht seit jeher verstanden wird. b) Unerörtert bleiben muß zum anderen die Rechtsstaatskonformität unbestimmter Rechtsbegriffe, wie sie "öffentliche Sicherheit und Ord-

nung" darstellen. Auch hier stehen sich These und Antithese gegenüber -diejenige von der Rechtsstaatswidrigkeit unbestimmter Rechtsbegriffe

9 Bloch, Freiheit und Ordnung, Stuttgart - Harnburg - München 1972. Hier auch Bemerkungen zu Carnpanellas Sonnenstaat (abgedr. in: Der utopische Staat, Rowohlts Klassiker, Bd. 68/69, o. 0. 1960, S. 111 ff.) und zu Morus' Utopia (abgedr. ebd., S. 7 ff.). Vgl. zu diesem Thema auch noch Bumbacher, Die öffentliche Ordnung als Schranke der Freiheitsrechte, Diss. Zürich 1956. 1° Keiner Vertiefung bedarf, daß sie jedoch nicht in einem schlechthin antinomischen Verhältnis stehen: Auch die staatliche Ordnung dient der Freiheitsgewährung; "nur unter dem Schutz und in den Grenzen der staatlichen Ordnung ist zwischenmenschliche Freiheit möglich" (Bettermann, Freiheit unter dem Gesetz, in: Freiheit als Problem der Wissenschaft [= Abendvorträge der Freien Universität Berlin im Winter 1961/62], Berlin 1962, S. 63 ff. [65]) - eine Konsequenz, die sich letztlich aus der "Knappheit" ergibt, der auch die Freiheit wie andere materielle und immaterielle Güter des Lebens unterliegt. 11 Uber, Freiheit des Berufs, Harnburg 1952, S. 27 f. Die Richtigkeit dieser Prämisse sei dahingestellt. Sie wird, zumal nach den Erfahrungen der letzten Jahre, unterschiedlich beurteilt werden, doch sollte man sich hüten, sich hierbei allzu sehr vom Geist oder Ungeist der Zeit leiten zu lassen. 12 Pr.LT-Drucksache III/5933, Sp. 31. Ruhe und Ordnung werden auch in Art. 2, 16, 85 Ziff. 7, 102 Ziff. 10 SchweizBV synonym gebraucht, Bumbacher, a.a.O., S. 5.

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und diejenige von der rechtsstaatlich gebotenen Offenheit gesetzgeberischer Entscheidungen13 • Ihre Richtigkeit sei gleichfalls dahingestellt: Auch sie zu untersuchen, bedürfte es einer gesonderten Abhandlung. Sicher ist jedoch, daß sich in beiden Thesen letztlich die unterschiedliche Akzentuierung des (subjektiven) Individualrechtsschutzes und des (objektiven) Gesetzmäßigkeitsprinzips widerspiegelt1 4 •

II. 1. Wer sich um die Deutung des Begriffs "öffentliche Ordnung" bemüht, wie er in den polizeirechtlichen Korliftkationen um das ausgehende 18. und beginnende 19. Jahrhundert anzutreffen ist16 , findet sich zu einem Rückgriff auf die älteren einschlägigen Normengefüge des Heiligen Römischen Reiches und seiner Territorien versucht. Indessen erweisen sich sowohl die Reichspolizeiordnungen als auch die Landes- und Polizeiordnungen der Territorien10 hierzu als ungeeignet, da sie den Begriff "öffentliche Ordnung" nicht verwenden. Der in ihnen enthaltene Wortteil "Ordnung" selbst aber ist bereits auf den ersten Blick deshalb unergiebig, weil er nur die Ermächtigung, nicht dagegen das Schutzobjekt polizeilichen Handeins bezeichnet. Äquivokationen solcher Art zu beseitigen, mag eine Aufgabe künftiger Semantik sein; die gegenwärtige Rechtswissenschaft- und nicht nur sie - wird sich mit ihnen noch abfinden müssen. Unergiebig ist ferner der Umstand, daß die in jenen Ordnungen enthaltenen, das polizeiliche Handeln determinierenden Normen Rechtsvorschriften, nicht aber Sittengesetze sind: Er belegt nichts anderes als die Binsenweisheit, daß der staatliche Gesetzgeber jegliche Norm zum Inhalt eines Rechtssatzes machen und ihm damit rechtliche Relevanz verleihen kann17 ; der Rückschluß, "öffentliche Ordnung" im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne umgreife eben nur Rechtsvorschriften, nicht 13 Vgl. einerseits Rupp, a.a.O., S. 213 ff.; ders., Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen- Bedeutung der Begriffe im Verwaltungsrecht, in: Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen (= Vorträge und Diskussionsbeiträge der 36. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer 1968), Berlin 1968, S. 116 ff., andererseits Krawietz, Unbestimmter Rechtsbegriff, öffentliches Interesse und Gemeinwohlklausel als juristisches Entscheidungsproblem, Staat 11, 349 ff. (357). 14 Zu erwägen bleibt immerhin, ob nicht beide im Rechtsstaatsprinzip mit angelegt sind und die beiden Thesen nur die bereits an anderer Stelle (Achterberg, Antinomien verfassunggestaltender Grundentscheidungen, Staat 8, 159 U. [163 ff.]) angedeuteten "inneren Antinomien" dieses Grundsatzes belecen. 11 Vgl. außer§ 10 II 17 PrALR auch§ 26 des Rheinischen Ressortreglements (Staatsministerialbeschluß v. 20. 7. 1818). 18 Abgedr. in: Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, begr. von Beyerle, Kunkel, H. Thieme, 2. Bd.: Polizei- und Landesordnungen, bearb. v. Schmelzeisen, Köln - Graz 1968/69. 17 Vgl. hierzu Soml6, Juristische Grundlehre, 2. Aufl., Leipzig 1927, S. 91.

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aber das Sittengesetz, läßt sich hieraus dagegen nicht ziehen. Vom Regelungszweck her erweisen die Reichspolizeiordnungen und die Landespolizeiordnungen lediglich den vor allem von Franz-Ludwig Knemeyer hervorgehobenen Umstand, daß als "Polizei" zunächst der von ihnen erstrebte Zustand "guter Ordnung im Gemeinwesen" begriffen wurde, wobei es dem Landesherrn freistand, welche Organe und Mittel er hierfür einsetzte, was hinsichtlich des Regelungsinhalts zu der Konsequenz führte, daß hierzu die gesamte innere Verwaltung gezählt wurde18 • 2. Die Generalklausel des Preußischen Allgemeinen Landrechts lag durchaus noch auf dieser Linie, wie sich zwar nicht aus ihrem Wortlaut, wohl aber aus dem Kontext der die Vorstellungen des Verfassers dieses Gesetzeswerks widerspiegelnden "Kronprinzenvorträge" von Carl Gottlieb Svarez ergibt18 : Durch Ausübung ihrer umfassenden Befugnisse wehrt die Polizei Gefahren ab und erhält sie die "öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung", die - wie das erwähnte Dogma von der Überwölbung von "Sicherheit und Ordnung" durch "Ruhe" zeigt- zumindest teilweise tautologische Begriffe darstellten. Mehr ist freilich auch den "Kronprinzenvorträgen" nicht zu entnehmen. Sie lassen weder erkennen, wie die Schutzobjekte des polizeilichen Handeins voneinander abzugrenzen waren, noch ob die Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung auch insoweit polizeiliche Aufgabe sein sollte, wie dieser Bereich nicht durch Rechts-, sondern durch Sittennormen konstituiert war. Auch der Rückgriff auf das damalige - und hinzuzufügen ist: - jeweilige Staatsverständnis ist für die Ausdeutung dieser Begriffe nur bedingt ergiebig. Zwar umreißt der Staatsaufgabenbereich den äußerst möglichen Polizeiaufgabenbereich, so daß die Wohlfahrtspolizei eine auf der eudämonistischen, die zur Wahrung auch der Moralnormen befugte Polizei eine auf der ethischen Theorie basierende Staatsauffassung voraussetzt. Die Einhaltung des Sittengesetzes insbesondere läge beispielsweise wohl nach dem Staatsverständnis Geo1·g Wilhelm Friedrich Hegels, nicht aber nach demjenigen Wilhelm v. Humboldts innerhalb der "Grenzen der Wirksamkeit des Staates" 20 • Auch wenn das der Fall ist, bedeutet 18 Drews-Wacke, a.a.O., § 1, 2-4, S. 2 f.; Götz, a.a.O., § 1 I, S. 11 f.; Knemeyer, Polizeibegriffe in Gesetzen des 15. bis 18. Jahrhunderts, AöR 92, 153 ff. (155 ff.); Rosin, Der Begriff der Polizei und der Umfang des polizeilichen Verfügungsund Verordnungsrechts in Preußen, VerwArch 3, 249 ff. (276 ff.); Scupin, a.a.O., S.606. 18 So der skizzierte Leitfaden zu dem mündlichen Vortrag über das Recht der Polizei, in: Vorträge über Recht und Staat von Carl Gottlieb Svarez (1746 bis 1798), hrsg. Conrad-Kleinheyer (= Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 10), Köln- Opladen 1960, S. 36 ff. (38). 20 S. einerseits Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. Hoffmeister(= Sämtliche Werke, Neue kritische Ausgabe, Bd. XII), 4. Aufl., Harnburg 1955, der das Staatsrecht überhaupt unter dem Oberbegriff der Sittlichkeit behandelt (§§ 257 ff.), andererseits W. v. Humboldt, Ideen zu einem Ver-

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es wegen der längst entfallenen Identität von noA.LtE"iu und Polizei aber noch nicht, daß sie damit notwendigerweise zu deren Aufgabenbereich zählt. a) Verfolgt man das Verständnis von der öffentlichen Ordnung auf dieser Grundlage weiter, so zeigen sich bei zahlreichen auf dem Boden der ethischen Staatszwecklehre stehenden Staatstheoretikern und Staatsrechtlern, für die auch die Erhaltung und die Förderung der Sittlichkeit Zweck des Staates und die Verwirklichung staatszweckgemäßer Ordnung Aufgabe der Polizei ist21 - diesen Zweck verneinende Publizisten22 können in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben-, zahlreiche für die spätere Zeit und noch für die Gegenwart bedeutsame Thesen: Zu ihnen gehört zunächst die widersprüchliche Beurteilung der Frage, ob die Sittenwahrung möglicherweise nur insoweit Gegenstand polizeilichen Handeins sein kann, wie das Sittengesetz im Gewand von Rechtsnormen erscheint: Für Friedrich Julius Stahl, in dessen auf die "Einheit von Recht und Sitte" gegründeter Auffassung vom Staat als "sittlichem Gemeinwesen", als "Reich der Sitte" die ethische Theorie kulminiert, für den die "Wirksamkeit des Staates die Totalität des menschlichen Gemeinlebens" umfaßt, der ihm "alle Verhältnisse und Ziele des menschlichen Lebens: Sicherheit, Wohlstand, Schutz gegen die Elemente, Sitte und Ehrbarkeit, Bildung" zuordnet und der demgemäß die "Handhabung der gebotenen Lebensordnung" - zu der für ihn "Zucht und Ehrbarkeit, sittliche Gestalt der Familie, Geltung und Ansehen der Religion und Kirche" zählen - zu seinen Aufgaben rechnet, kann der Staat die sittlichen Ideen zwar "nur in der Weise des Rechts, nämlich durch äußere zuletzt erzwingbare Gebote und Aufgaben und deshalb in beschränktem, nur negativem Umfange" verwirklichen. Andererseits räumt er der Polizei, in der für ihn die "eigentliche stete politische Thätigkeit besuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, hrsg. v. GleichenRußwurm, Berlin o. J., passim, der allein den Sicherheitszweck des Staates anerkennt und ihn aus dem Bereich der Sittlichkeit ausschließt (S. 98 ff.). Von Interesse ist in diesem Zusammenhang schließlich die in dem vor der Mittwochsgesellschaft gehaltenen Vortrag über den Zweck des Staats (abgedr. in: Vorträge über Recht und Staat [s.o. Anm. 19], S. 639 ff.) niedergelegte Auffassung von Svarez selbst, die auf eine Eingliederung der Sittenwahrung in die Wohlfahrtspflege hinausläuft. 21 Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechtes, Gießen 1845, § 103, S. 366. Ähnlich ("Versorgung des Gemeinwohls") Stahl, Die Philosophie des Rechts, 2. Bd., Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christllc:her Weltanschauung, 2. Abt., 4. Buch: Die Staatslehre und die Principien des Staatsrechts, 5. Aufl., Tübingen 1878, § 163, S. 587. 22 z. B. v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, Lehrbuch der allgemeinen Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1840, § 4, S. 59; H. A. Zachariit, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 1. Teil, 3. Auf!., Göttingen 1865, § 13 II, S. 48. - Kritik der ethischen Theorie auch bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck, Darmstadt 1960, S. 244 ff.

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steht, deren Aufgabe es ist, für die öffentliche Sicherheit, das Wachsen der Nation an Wohlstand und Bildung, die Wahrung der Sitte und Ehrbarkeit zu sorgen", im Einklang mit seiner bekannten Auffassung von der Funktion des Gesetzes lediglich als Schranke des Verwaltungshandeins die Befugnis ein, überhaupt ohne gesetzliche Ermächtigung tätig zu werden: "Ihre Thätigkeit ist ... schöpferisch und muß deswegen auch frei seyn. Nur Schranken dürfen ihr durch das Gesetz gezogen werden, aber den Inhalt ihrer Anordnungen und Thätigkeit darf das Gesetz nicht bestimmen, sondern der Geist und die freie Beurtheilung ihrer Lenker und Versorger, welche alle konkreten Umstände und den Erfolg erwägen23." - Ähnlich widerspruchsvoll ist die Auffassung Johann Caspar BZuntschZis, der die Einflußnahme des Staates auf die Sittlichkeit als für diese schädliche Überschreitung seiner Schranken ablehnt, allerdings unter die von der Polizei zu erhaltende öffentliche Ordnung nicht nur die Rechtsordnung, sondern auch die Ordnung des "Wohlanständigen" rechnet - dies freilich nur soweit, wie sie "nach dem Kulturzustand eines Landes oder eines Ortes als unerläßlich und daher erzwingbar betrachtet wird", wobei der Staat nicht über die ihm durch die Rechtsordnung gezogenen "naturgemäßen Schranken" hinausgreifen dürfe 24 • Hervorzuheben ist ferner die Warnung vor der gerade auch bei der Wahrung der Sittlichkeit bestehenden Gefahr übermäßiger Ausweitung polizeiZiehen HandeZns. Sie findet sich eindringlich schon bei KarZ SaZomo Zachariä, der die Abwendung dem Streben des Volkes nach höherer, geistiger und sittlicher Bildung entgegenstehender Hindernisse gleichfalls zu den polizeilichen Aufgaben zählt: "Soll oder will die Polizey alle diese Gefahren beseitigen oder wenigstens unschädlich machen, so muß sie unausbleiblich zum Äußersten in der Knechtschaft führen ... Denn fast alle polizeyliche Maßregeln sind unmittelbar oder mittelbar zugleich Beschränkungen der äußeren Freyheit der Unterthanen. Ueberdieß, je weiter eine Regierung ihre Polizeygewalt erstreckt, desto mehr überhebt sie die Unterthanen der Mühe, selbst für ihr Wohl zu sorgen, selbst wachsam, erfinderisch und waghaft zu seyn. Und ohnehin sind die Menschen zur Trägheit geneigt genug, als daß man ihnen erst ein Ruhebette zu bereiten brauchte. Die älteren Deutschen Schriftsteller über die Polizeywissenschaft ... fielen insgesamt in den Fehler, von der Polizey Alles zu fordern, Alles zu erwarten. Aber wer mögte wohl in einem Staate leben, dessen Polizey dem Ideale dieser Schriftsteller vollkommen entspräche?" Und er fährt fort: "In dem Wesen der menschlichen Freyheit liegt die Möglichkeit ihres Mißbrauchs 25 ." Stahl, a.a.O., §§ 36-39, S.131 ff., 150; §§ 163 -166, S. 587 ff.; § 173, S. 609. Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, 6. Aufl., durchges. v. Loening, Stuttgart 1886, S. 360 f.; Allgemeines Staatsrecht, 6. Aufl., durchges. v. Loening, 23

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Stuttgart 1885, S. 282 f., s. auch noch S. 296.

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Beachtenswert ist weiterhin, daß sich in der Rechtslehre des überall nach Verfeinerung der Systematik trachtenden Frühkonstitutionalismus und auch des Konstitutionalismus keinerlei Einigkeit über die systematische EinoTdnung polizeilieheT SittenwahTUng findet. Vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem man sich um die Unterscheidung von Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei bemühte21 - dieses Anliegen stand im Vordergrund, keineswegs dagegen die begriffliche Abgrenzung von Sicherheit und Ordnung -, schwankte die Auffassung darüber, ob die Sittenwahrung und die Sittenförderung auch der Sicherheitspolizei zugeordnet werden könnten; weithin Übereinstimmung bestand demgegenüber darin, sie jedenfalls der Wohlfahrtspolizei zuzurechnen27. Gleichwohl wurde in der Kreuzbergentscheidung die Chance vertan, sie mit dieser aus dem Polizeibegriff auszugliedern- und zwar deshalb, weil sie zu jener Zeit (zumindest auch) im Bereich der Sicherheitspolizei angesiedelt wurden28 • Schließlich aber findet sich gegenüber den vorher genannten widersprüchlichen Auffassungen von der Bedeutung der Sittlichkeit als Staatszwecks und polizeilicher Aufgabe ein zukunftsweisender Ansatz bei HeinTich Zoepfl, nach dem zwar "in keinem Staate die Rücksicht auf die Geltung und lebendige Entwicklung des Sittengesetzes jemals fehlen darf", der aber gleichwohl der ethischen Staatszwecklehre mit der wie eine Vorahnung des modernen Pluralismus anmutenden Bemerkung entgegentritt: "Es leidet jedoch diese Theorie an der Unsicherheit, daß der Begriff des Sittengesetzes selbst jederzeit nach der Verschiedenheit der philosophischen und theologischen Partbeistandpunkte verschieden bestimmt werden wird28 ." Die Konsequenz lag nahe - und wurde doch nicht gezogen: die Wahrung des Sittengesetzes aus den polizeilichen Aufgaben auszuscheiden, um damit zu einer ähnlich klaren Lösung zu kommen, wie sie Art. 105 der Französischen Verfassung von 1848 gefunden hatte: "Die öffentliche Macht, welche zur Aufrechterhaltung und Ordnung im Innern verwendet wird, handelt nur auf Aufforderung der 25 K. S. ZachaTiä, Vierzig Bücher vom Staate, 3. Bd., 2. Aufl., Heidelberg 1835, 27. Buch, S. 353, 358 f., 360. Ähnliche Warnungen bei Stahl, a.a.O., § 164, S. 590; Bluntschli, a.a.O., S. 279 f., 296. 28 S. z. B. KlübeT, Oeffentliches Recht des teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 2. Abt., 2. Aufl., Frankfurt/Main 1822, § 301, S. 615; Schmitthenner, a.a.O., § 103, S. 366 f.; H. A. ZachaTiä, a.a.O., 2. Teil, 3. Aufl., Göttingen 1867, § 180 I, S. 280.

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KWber, a.a.o., f 302, s. 818; SC:hmitthenner, a.a.O., 1 103, S. 387 Anm.l.

Vgl. z. B. Koch, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 8. Aufl., 4. Bd., Berlin - Leipzig 1886, § 10 II 17 Anm. 5 I b. Ebenso PrOVGE 9, 353 (375 ff.). " Zoepjl, Grundsätze des allgemeinen und deutschen Staatsrechts, 1. Teil, 4. Aufl., Heidelberg- Leipzig 1855, § 24, S. 37. 28

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eingesetzten Behörden, indem sie den durch die Legislative bestimmten Anordnungen Folge leistet30 ." b) Die bei der Beratung des Entwurfs des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931 in Bezug genommene Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zu § 10 li 17 PrALR bewegte sich hiernach auf einem staatstheoretischen Boden, den man kaum anders als schwankend nennen kann. Der Umstand, daß Polizeirechtsprechung und Polizeiwissenschaft in ihrem Bemühen, den Begriff "öffentliche Ordnung" -der unter Abschwächung der ursprünglich vorgesehenen Formel "Verhütung von Störungen des öffentlichen Wohlstands" in das Preußische Allgemeine Landrecht aufgenommen worden war31 - mit Inhalt zu erfüllen und ihn von der "öffentlichen Sicherheit" abzugrenzen, nur tastend vorankamen, hat im übrigen zwei normimmanente Ursachen: Zum einen war in § 10 li 17 PrALR noch nicht von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung die Rede, sondern die "Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung" bildete die eine, die "Abwendung der dem Publico oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr" die andere Aufgabe der Polizei. Mithin beziehen sich zahlreiche gerichtliche Entscheidungen zum polizeilichen Aufgabenbereich zwar auf die Gefahrenabwehr, äußern sich jedoch nicht zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Zum anderen sah sich die Rechtsprechung durch die Aufzählung von "Ruhe, Sicherheit und Ordnung" als Schutzobjekten polizeilichen Handeins weithin der Mühe enthoben, einen polizeiwidrigen Zustand als Verletzung des ersten, zweiten oder dritten Rechtsguts zu subsumieren - und das auch, allerdings nur insoweit mit Recht, wie ihnen die erwähnte Tautologie zugrunde lag. Für die Auslegung des Begriffs "öffentliche Ordnung" unergiebig sind infolgedessen von vornherein alle diejenigen Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, in denen die Verletzung der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" undifferenziert geprüft wird, ohne daß beide Schutzobjekte gegeneinander abgegrenzt werden32 • Im übrigen finden sich in verschiedenen Urteilen Erörterungen darüber, ob bestimmte Tatbestände unter die öffentliche Ordnung gerechnet werden 30 Vgl. aber G. Zimmermann, Die Deutsche Polizei im neunzehnten Jahrhundert, 1. Bd., Hannover 1845, S. 266 f., der bei der Erörterung der Frage, ob auch die Erhaltung der Sittlichkeit zur Ordnung zählt, bemerkt: "Ich meine, die Ordnungsbehörde kann nur solche Fälle unter diese Befugniß reihen, wo es offenbar ist, daß die Ordnungsidee des bürgerlichen Lebens sie nicht dulden will. Besser scheint es indessen, wenn die gesetzgebende Gewalt [Hervorhebung von mir] hier Grenzen zieht, damit nicht Willkür oder zu feines Gefühl weitergeht, als dem öffentlichen Wesen zuträglich ist." 31 Rosin, VerwArch 3, 316. 32 So etwa PrOVGE 8, 403; 13, 424; 42, 419; 78, 261; 80, 177; 100,141.

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können33• Sie lassen einen induktiven Schluß auf das Verständnis von diesem Schutzobjekt zu, dessen Ergebnis sich mit dem Inhalt der freilich nur selten anzutreffenden allgemein gehaltenen Ausführungen zu dessen Begriffsinhalt deckt. Zu solchen gehören die Feststellungen, daß die öffentliche Sicherheit in der öffentlichen Ordnung eingeschlossen ist und als solche unter dem Schutz der Polizei steht, daß zur öffentlichen Ordnung die unentbehrlichen Voraussetzungen für das Zusammenleben einer größeren Anzahl von Menschen an einem Orte und für ihren amtlichen, gewerblichen und geselligen Verkehr zählen, daß gegen die öffentliche Ordnung das sittliche Gefühl verletzende, öffentliches Ärgernis erregende Handlungen verstoßen, daß auch die Wahrung politischer Überzeugungen unter die öffentliche Ordnung fällt und daß schließlich überhaupt Meinungsäußerungen dann der öffentlichen Ordnung zuwiderlaufen, wenn sie Anschauungskomplexe verletzen, die nach der allgemeinen Überzeugung als lebenswichtige Grundlage des Gemeinschaftslebens angesehen werden34 • Im Kreuzberg-Urteil ist überdies dargelegt, daß die öffentliche Ordnung allerdings keineswegs mit allem, "was die Interessen des öffentlichen Wohles, des Gemeinwohles angeht", identisch ist35 • c) Mit dieser Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts stimmt die zur Zeit der Einführung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes anzutreffende Verwaltungsrechtslehre überein: Hatte bereits Günther Heinrich v. Berg zur Wohlfahrtspolizei die "Sittenpolicey" gezählt und hatte später vor allem Robert v. Mohl die Förderung der sittlichen Bildung - sowohl durch Beseitigung von Hindernissen der Sittlichkeit als auch durch deren positive Förderung - zu den von ihm ausführlich untergliederten polizeilichen Aufgaben gerechnet3 6 , so ging die überwiegende Meinung bald dahin, die Polizei habe alles zu ver33 Beispiele: PrOVGE 4, 342 (Führung der Bezeichnung "Apotheker" im Firmenschild einer Drogerie); 7, 370 (Erregung öffentlichen Ärgernisses durch Konkubinat); 11, 382 (Erregung öffentlichen Ärgernisses und Beeinträchtigung des Straßenverkehrs durch Sektiererversammlung); 23, 409 (Störung kirchlicher Prozession); 45, 424 (Führung nichtamtlicher Straßenbezeichnung); 60, 286 (Aufstellung von Strandkörben ohne Badekonzession); 66, 341 (Entfalten und Tragen einer roten Fahne); 72, 241 (Einfriedung von Friedhöfen zur Verhinderung öffentliches Ärgernis erregender Grabstättenbeschädigung); 78, 272 (politische Überzeugungen verletzende Theateraufführung). Weitere Beispiele bei Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl., Tübingen 1928, S. 397 ff., Anm. 32 ff. 34 PrOVGE 7, 370 (372 f.); 45, 424 (427); 72, 241 (242 f.); 66, 341 (343 ff.); 78, 272 (277); 89, 238 (241). II PrOVGE 9, 353 (375 U.). 38 v. Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, 2. Aufl., 3. Teil, Hannover 1803, S. 1 ff.; v. Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats, 3. Aufl., 1. Bd., Tübingen 1866, §§ 89 ff., S. 611 ff. - Zu beiden Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft), Neuwied - Berlin 1966, S. 249 ff.

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hindern, "was gegen die herrschenden ethischen und sozialen Anschauungen ... verstößt" - wofür auch die soziale Wertung des durch die Störung angegriffenen Rechtsguts eine Rolle spiele - und was über das als notwendige Folge menschlichen Zusammenlebens zu ertragende Maß hinausgeht, wobei sich diese Anforderungen nach Ort und Zeit un terschieden37. Die hiervon abweichende Auffassung, "öffentliche Ordnung" sei auch oder sogar nur mit "Rechtsordnung" zu identifizieren, stellte demgegenüber eine Mindermeinung dar: Sie wurde insbesondere von Heinrich Rosin vertreten, für den "öffentliche Ordnung" sowohl den Gegensatz zu "Unordnung" bezeichnet und insoweit in der öffentlichen Sicherheit eingeschlossen ist als auch in den Bereich der Wohlfahrtsförderung hinübergreift und insofern - dies freilich in einer kaum mehr als tautologischen Formel - als Zustand "einer geordneten sozialen Existenz, ohne daß dabei zu unterscheiden ist, ob ihre Bewahrung vor Störungen mehr der Erhaltung oder der Befriedung der allgemeinen Wohlfahrt dienlich ist" zu begreifen ist, für den aber auch die Wahrung der Rechtsordnung, wie sie durch die im öffentlichen Interesse erlassenen Normen des Verwaltungsrechts und des Strafrechts konstituiert ist, zur öffentlichen Ordnung gehört38 • 3. Ließ die relativ geschlossene Gesellschaft, in die hinein das Preußische Allgemeine Landrecht geschaffen und von der es lange Zeit angewandt wurde, die Bezugnahme auf das Sittengesetz als noch hinnehmbar erscheinen - wenn auch nur von der Prämisse aus, auch Moralnormen könnten Staatsorgane verpflichtende Wirkung entfalten - , so konnte sich diese im nationalsozialistischen Staat, mit dessen Beginn der 37 Fleiner, a.a.O., § 24 II 3, S. 397 ff. Ähnlich Hatschek-Kurtzig, Lehrbuch des deutschen und preußischen Verwaltungsrechts, 7./8. Aufl., Leipzig 1931, § 20, 6, S. 135 f. - W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Berlin 1931, § 21 II, S. 467 ff., bemerkt, daß die Polizei im Rahmen der Sorge für die öffentliche Ordnung auch sittenpolizeiliche Anordnungen treffen könne, und rechnet hierzu Bekämpfung der Trunksucht, des unehelichen Geschlechtsverkehrs, der Tierquälerei, die Polizei der Vergnügungen sowie die Theater- und Lichtspielpolizei.- Rosin, VerwArch 3, 312, der gleichfalls die Sorge für Sitte und Sittlichkeit, Anstand, religiöses Empfinden und geistige Aufklärung zu den Polizeiaufgaben zählt, ordnet diese dem Begriff .,öffentliche Sicherheit" unter {im Einklang mit seiner zugleich darzustellenden Auffassung, öffentliche Ordnung sei Wahrung der Rechtsordnung). 38 Rosin, VerwArch 3, 316 ff. Im Anschluß an ihn ebenso Biermann, Privatrecht und Polizei in Preußen, Berlin 1897, S. 16 f.- Kritisch- da die Rechtsordnung durch die Rechtspflege, nicht aber durch die Polizei geschützt werden solle Friedrichs, Das Polizeigesetz, Berlin 1911, ALR II 17 § 10 Anm. 31. - Vgl. schließlich Wolzendorff, Der Polizeigedanke des modernen Staates, Breslau 1918, S. 186 ff., 197 ff., der auf der Grundlage einer genossenschaftlichen Deutung des Staates und des Polizeirechtsverhältnisses die .,eudämonistische, sittlich und wirtschaftlich bevormundende Polizei" ablehnt {S. 196), allerdings meint, die "notwendigen Grundlagen des staatlichen Zusammenlebens" im Wege "soziologischer Erkenntnis" erlangen zu können, S. 200.

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Erlaß des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes zeitlich nahezu zusammenfiel, zumindest in demselben Maße der "Verfassungskonformität" erfreuen - unter dem Vorbehalt jener "ideologischen Interpretation" freilich, dem das Sittengesetz in dieser Zeit unterworfen war. Mit anderen Worten: Der Nationalsozialismus bestimmte das Verständnis des Sittengesetzes, und dieses entsprach infolge der prinzipiellen Pluralismusfeindlichkeit des nationalsozialistischen Staates zugleich den "herrschenden Anschauungen", womit die Ausfüllung des Begriffs "öffentliche Ordnung" sich als weithin unproblematisch erwies39 • Die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts bestätigte dies denn auch durchaus. In einer noch bis in die Gegenwart zitierten Entscheidung bestimmte das Gericht unter Berufung auf Bill Drews den Begriff der öffentlichen Ordnung, der "nicht ein absoluter, seinem Inhalt nach ein für allemal fest abgegrenzter" sei, als Summe "jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beobachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens betrachtet wird", und hob hervor, daß seit der Beurteilung eines ähnlichen Sachverhalts wenige Monate zuvor inzwischen "mit dem Durchbruch der nationalen Revolution ein gewaltiger innerer Umschwung stattgefunden" habe, der sich gerade auf den Begriff der öffentlichen Ordnung ausgewirkt habe 40 • Ganz im gleichen Sinne lag es, wenn das Gericht später ausführte, daß sich der Kreis der von der Polizei zum Schutze der Volksgemeinschaft im Interesse der öffentlichen Ordnung zu wahrenden öffentlichen Belange nach nationalsozialistischer Auffassung erheblich erweitert habe 41 • Während eine Reihe weiterer in dieser Zeit ergangener Entscheidungen hieraus Konsequenzen für den jeweils entschiedenen Fall zog, zeichnete sich in der RechtsZehre das Bemühen ab, der Kasuistik das systematische Gerüst einzuziehen: Zur öffentlichen Ordnung wurden die Leichtigkeit des Verkehrs, die richtige Bezeichnung und Kennzeichnung von Personen, Betrieben, Waren und Örtlichkeiten, die Verhinderung der Obdachlosigkeit, das religiöse Empfinden, die ungestörte Totenruhe und schließlich die äffen tliche Sittlichkeit gerechnet42 , wobei ins besondere die Abgrenzung 38 Kennzeichnend Lehmann, Der alte und der neue Polizeibegriff, Berlin 1937, S. 82 ff., mit weiteren Hinweisen, der im Gegensatz zu anderen Autoren selbst im übrigen die interpretative Ausfüllung des§ 14 PrPVG mit nationalsozialistischem Gedankengut für unmöglich hielt: "nationalsozialistisches Gedankengut kann man in diesen vom Liberalismus geschaffenen Rahmen nicht gießen; beide sind unvereinbar miteinander" (S. 96). Vgl. ferner Hamel, Wesen und Rechtsgrundlagen der Polizei im nationalsozialistischen Staate, in: Frank, Deutsches Verwaltungsrecht, München 1937, S. 381 ff. 4o PrOVGE 91, 139 (140 f.). 41 PrOVGE 102, 179.

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dieses letzten Bereichs Zweifeln unterlag, zu deren Überwindung mitunter auf die Quantität der Störung als - freilich nur allzu vages Korrektiv gegen fehlerhafte Maßnahmen abgestellt wurde 43 • 4. Vom Wandel der Staatsgrundordnung scheinbar unberührt, übernahm die Polizeigesetzgebung in der Nachkriegszeit den vom historischen Vorbild überkommenen Begriff der öffentlichen Ordnung, die Polizeirechtsprechung dessen tradierte Auslegung. Otto Mayers Erkenntnis: "Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht" bewahrheitete sich wieder einmal- was allein schon Anlaß sein sollte, die auf einem gründlichen Mißverständnis dieser Formel beruhende Kritik aufzugeben: Der Zusammenhang zeigt, daß hier nicht das Gesollte, sondern lediglich die Beobachtung des Seienden gemeint war, so daß kein Widerspruch zu Fritz W erners nicht minder brillanter Formulierung des Gesollten, des "Verwaltungsrechts als konkretisierten Verfassungsrechts" vorliegt. Indessen mag die Frage, ob der durch die verfassunggestaltenden Grundentscheidungen für die Demokratie, den Sozialstaat und den Bundesstaat sowie durch die Grundrechte eröffnete Wandel zum pluralistischen Staat Rückwirkungen auf das Verständnis von der "öffentlichen Ordnung" ausüben muß, zunächst auf sich beruhen. Zuvor ist der Nachweis des Verbarrens in tradiertem Verständnis zu führen, der freilich leicht gelingt: a) In den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen geht - soweit diese nicht weiterhin nur undifferenziert einen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bejahen44 - die Kasuistik kaum über die bereits vorher bekannten Fälle hinaus45 , und es werden auch nur selten 42 Franzen, Lehrkommentar zum Polizeiverwaltungsgesetz, Greifswald 1932, S. 182 ff. (der sich S. 182 ausdrücklich dagegen wendet, die Begriffe "Ordnung" und "Rechtsordnung" zu identifizieren, und die Aufrechterhaltung der Strafrechtsordnung der öffentlichen Sicherheit zurechnet); Friedrichs, Polizeiverwaltungsgesetz, 2. Aufl., Berlin 1932, § 14 Anm. 22 ff.; Klausener-KerstiensKempner, Das Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. Juni 1931, Berlin 1932, § 14 Anm.9. 43 Kennzeichnend etwa PrOVGE 88, 217 ff., nach dem die öffentliche Ordnung nicht nur die Verhinderung von Gesundheitsgefahren, sondern auch von Geruchsbelästigungen fordert, sofern diese über das zurnutbare Maß hinausgehen. Vgl. ferner PrOVGE 101, 129 ff. (131). 44 Vgl. z. B. OVG Münster, OVGE 9, 90; 16, 289; 18, 294; 20, 129; OVG Lüneburg, OVGE 11, 292; 12, 340; 16, 471; 17, 444; Hess. VGH, ESVGH 1, 232; 4, 199; 15,222. 45 AlsBestandteil der öffentlichen bzw.alsVerstoß gegen die öffentliche Ordnung werden gewertet: Damenringkampf: WürttBad. VGH, VRspr. 2, 71; Sittlichkeit im geschlechtlichen Bereich: WürttBad. VGH, ESVGH 6, 106; VGH BadWürtt., ESVGH 10,67; OVG Münster, OVGE 8, 320; 14, 69; gesundheitsschädlicher Lärm: Hess. VGH, ESVGH 10, 152; 18, 147; Verstoß gegen materielles Baurecht: Hess. VGH, ESVGH 21, 31; Obdachlosigkeit: OVG Lüneburg, OVGE 7, 436; OVG Münster, OVGE 9, 130; Leichtigkeit des Verkehrs: OVG Münster, OVGE 9, 180; Führung unerlaubter Berufsbezeichnung: OVG Münster, OVGE

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grundlegende Ausführungen zur Bedeutung der "öffentlichen Ordnung" gemacht. Zu ihnen gehört die aus der früheren Rechtsprechung übernommene Bemerkung, zu ihr zählten alle Normen, die nach herrschender Anschauung für das Zusammenleben in der Gemeinschaft unentbehrlich sind, auch wenn diese nicht ausdrücklich in der Rechtsordnung festgelegt sind, zu ihrer Erhaltung müsse der Staatsbürger "manches tun oder unterlassen, auch wenn es nicht durch spezielle Rechtsvorschriften von ihm gefordert wird". Der Begriff "öffentliche Ordnung" sei ein "relativer Blankettbegriff", der stets der Ausfüllung durch nach Ort und Zeit einem dauernden Wechsel unterliegende Werturteile bedürfe, wodurch er sich gerade von dem Begriff "öffentliche Sicherheit" unterscheide; über die "öffentliche Ordnung" könne das Polizeirecht an verschiedene Staats- und Lebensformen, an Weltanschauungen und zeitgebundene Auffassungen angepaßt werden46 • Zu erwähnen ist ferner die Äußerung, einen ordnungswidrigen Zustand stelle jede Betätigung der individuellen Freiheit dar, "die gegen die herrschenden ethischen und sozialen Anschauungen verstößt, also geeignet ist, die gute Ordnung des Gemeinwesens und das gesellschaftliche Zusammenleben zu stören"; dies sei insbesondere der Fall, wenn "in einer Weise, daß die Öffentlichkeit davon Kenntnis nehmen kann, die allgemeinen Ordnungsnormen auf dem Gebiet der Ethik ... verletzt" werden47 • Weiterhin ist hierzu die Erkenntnis zu rechnen, daß bestimmte Anschauungskomplexe auf dem Gebiet der Religion, Ethik und Sittlichkeit zur öffentlichen Ordnung zählen, wenn sie "nach der Überzeugung des überwiegenden Teils der Bevölkerung in dem betreffenden Gebiet und zu der betreffenden Zeit als lebensnotwendige Grundlagen der Gemeinschaft angesehen werden", wobei die Polizei freilich nicht aufgerufen sei, eine "Erzeugung laxer Ansichten" zu verhindern, sondern nur bei einer darüber hinausgehenden, materielle Rechtsgüter unmittelbar verletzenden Wirkung zum Einschreiten befugt sei48 • Die Verwischung zwischen dem rechtlichen und außerrechtlichen Bereich zeigt sich hierin bereits deutlich, sie kommt auch in solchen Entscheidungen zum Ausdruck, in denen keineswegs 11, 106; Ausübung einer Berufstätigkeit ohne Erlaubnis: OVG Münster, OVGE 12, 112; 14, 11; städtebauliche Planung: OVG Lüneburg, OVGE 15·, 433; richtige Straßenbezeichnung und Hausnumerierung: OVG Münster, OVGE 21, 23; 24, 68; Tanzveranstaltung an Trauertag: VG Freiburg, BWVB164, 187. 48 WürttBad. VGH, ESVGH 6, 106 (109). Im gleichen Sinne die besonders knappe und klare Definition der öffentlichen Ordnung bei OVG RheinlandPfalz, VRspr.18, 567 (580). 47 VGH BadWürtt., ESVGH 10, 67 (68); ähnlich OVG Münster, OVGE 8, 320 (323), nach dem es gerade das Kennzeichen des Polizeirechts ist, "daß auf weiten Bereichen des öffentlichen Lebens, die durch besondere Vorschriften des bürgerlichen, öffentlichen oder Strafrechts nicht ausdrücklich [?] geordnet sind, doch Störungen der öffentlichen Ordnung und damit polizeiwidrige Gefahren entstehen können". 48 LVG Rheinland-Pfalz, VRspr. 4, 733 (738 f.).

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nur außerrechtliche Normen der öffentlichen Ordnung zugerechnet werden, beispielsweise indem auch gesundheitsschädigender Lärm oder die Verletzung von Normen des materiellen Baurechts als Störung dieses Schutzobjekts betrachtet werden49 • b) Die Rechtslehre, insbesondere die Kommentarliteratur zu den deutschen polizei- und ordnungsrechtlichen Vorschriften - von denen § 1 Abs. 1 S. 1 BadWürttPolG ausdrücklich "Recht oder Ordnung" als Schutzobjekte gegenüberstellt, während umgekehrt der Bundesgrenzschutz im Rahmen des Schutzes der öffentlichen Ordnung strafbare Handlungen und Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen50 , mithin die Rechtsordnung zu wahren hat- stimmt hiermit überein; mitunter allerdings wird dabei noch in der Weise differenziert, daß die öffentliche Ordnung weder durch Rechtsnormen, noch durch Sittlichkeitsnormen, sondern durch "Wertvorstellungen" konstituiert werde, deren Befolgung von den innerhalb eines Polizeibezirks wohnenden Menschen als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben angesehen werden51 • Ob man indessen "Sittennormen" in "Wertvorstellungen" umetikettiert, ist in diesem Zusammenhang unerheblich; entscheidend ist allein, daß die Ordnungsnormen nicht Rechtsnormen sein sollen. Daß dieser tradierte oder in der genannten Art geringfügig modifizierte Inhalt des Begriffs "öffentliche Ordnung" auch im modernen pluralistischen Staat Geltung zu beanspruchen vermag, wird demgegenüber erst vereinzelt in Zweifel gezogen. Zu den Kritikern zählt vor allem Erhard Denninger, für den die öffentliche Ordnung - "Ruhe des Bourgeois" - zu den zwar rechtsstaatlich, aber nicht demokratisch durchgebildeten Rechtsgrundlagen der Bundesrepublik zählt, deren Deutung im übrigen noch immer auf einer der konstitutionellen Monarchie verhafteten und daher den Ordnungsnotwendigkeiten einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht gerecht werdenden theoretischen s. die einschlägigen Entscheidungen o. Anm. 45. Vgl. Dienstanweisung über Aufgaben und Befugnisse des Bundesgrenzschutzes (DA-BGS) vom 5. 7. 1962 (Erl. d. BMdl vom 5. 7. 1962- VI B I 61111 - B - 81/62 -, GMBl 271, abgedr. auch bei UZe-Rasch, a.a.O., S. 264 ff.) 49

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in 1. 51 s. z. B. Drews- Wacke, a.a.O., § 6, S. 73 ff. m. ausführlicher Systematik; Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Besonderes Verwaltungsrecht, hrsg. v. Münch, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1972, S. 140 ff. (161); Müller-HeideZberg-Clauss, Das Niedersächsische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2. Aufl., Hannover 1956, § 1 Anm. 2 g; Reiff-WöhrZe, Kommentar zum Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 2. Aufl., Stuttgart 1971, § 1 RdZiff. 13 ff.; Rietdorf, Gesetz über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden - Ordnungsbehördengesetz - für das Land Nordrhein-Westfalen, Stuttgart- Hannover 1957, § 1 Anm. 6; Samper, Kommentar zum bayerischen Polizeiaufgabengesetz - PAG -, 2. Aufl., München 1969, Art. 2 RdZiff. 22 ff.; UZe-Rasch, a.a.O., § 14 PrPVG RdZiff. 11 ff.; Wolff, Verwaltungsrecht III, 3. Aufl., München 1973', § 125 li a 2, S. 48 ff.

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Basis beruht. Er kritisiert die Behandlung dieses Begriffs, der in Verbindung mit dem Gefahrenbegriff die zentrale Transformationsstelle sei, durch die gesellschaftliche Ordnungs- und Wertvorstellungen in juristisch faßbare Formeln umgesetzt werden, als den nur scheinbar zeitlos möglichen, in Wirklichkeit dagegen auf einem überkommenen Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft beruhenden Versuch, ein rein formales, wert- und ideologieneutrales Verständnis der öffentlichen Ordnung zu formulieren. Infolge seiner prinzipiell restaurativen Wirkung vermöge er keine brauchbaren Handlungsmaßstäbe für polizeiliche Interventionen im Bereich politischer Aktivität des Bürgers zu liefern, sondern sei allenfalls geeignet, dem Ruhebedürfnis einer saturierten Gesellschaft zu genügen, insofern zwar ein Agieren im status constitutus, nicht aber im gleichrangigen status constituens zu ermöglichen. "Diese Vorstellung von öffentlicher Ordnung geht von einer Statik und Homogenität der politischen Verhältnisse, der sozialethischen, religiösen und ästhetischen Wertungen aus, die in idealtypischer Zuspitzung zur geschichtslosen Erstarrung einer Gesellschaft führen müßte und insofern utopisch ist52 ." 5. Die geschichtliche Entwicklung des Begriffs "öffentliche Ordnung" läßt nach allem erkennen, daß die Einbeziehung der Sittlichkeit in diese im Schnittpunkt der älteren polizeirechtlichen Lehre, Polizei sei gute Ordnung des Staatswesens in jeder Hinsicht, und der ethischen Staatszwecktheorie anzusiedeln ist; sie zeigt indessen auch die demgegenüber anzutreffenden Restriktionsbemühungen, bei denen zwar die Chance vertan wurde, die Sittlichkeitswahrung mit der Wohlfahrtspflege aus dem Polizeibegriff auszugliedern, die aber insbesondere in der Variante der Identifizierung von öffentlicher Ordung und Rechtsordnung und der Hervorhebung der Schwierigkeit, sich im außerrechtlichen Bereich auf einheitliche oder auch nur überwiegende Anschauungen zu stützen, deutlich in Erscheinung treten. Allerdings blieb solche Erkenntnis bisher vereinzelt; die herrschende Meinung geht- wie die geschichtliche Entwicklung erweist, staatstheoretisch und staatsrechtlich freilich nur unzulänglich abgesichert - durchaus in die Richtung der eingangs erwähnten Deutung des Begriffs "öffentliche Ordnung". 52 Denninger, Polizei in der freiheitlichen Demokratie, Frankfurt/M. - Berlin 1968 (insbes. S. 8, 22, 25 f., 28); ders., Polizei und demokratische Politik, JZ 70, 145 ff. Gegen ihn H. H. Klein, Zur Auslegung des Rechtsbegrüfs der "Öffentlichen Sicherheit und Ordnung", DVBl. 71, 233 ff.- Gegen die tradierte Deutung des Begriffs "öffentliche Ordnung" ferner Schiedermair, Einführung in das bayerische Polizeirecht, München - Berlin 1961, S. 81 ff., der die öffentliche Ordnung (ähnlich wie bereits Rosin und Biermann) durch Rechtsnormen konstituiert sieht; Dietel, Ermessensschranken bei Eingriffen in das Versammlungs- und Demonstrationsrecht, DVBl. 69, 569 ff. (576), im Hinblick auf den Pluralismus.

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III. Der historische Befund entbindet nicht von der Verpflichtung, die Berechtigung der tradierten Auslegung des Begriffs "öffentliche Ordnung" im modernen, pluralistischen Staat in Frage zu stellen. Dabei würde der theoretische Ansatz allerdings unzulässig verkürzt, wollte man sie nur im Hinblick auf ihre Pluralismuskonformität in Zweifel ziehen. Die Fragestellung muß vielmehr gestaffelt sein und dahin lauten, ob (1.) die Wahrung von Sittennormen oder Wertvorstellungen, jedenfalls aber von außerrechtlichen Normen überhaupt Aufgabe des Staates undfalls dies zu bejahen ist - solche der Polizei sein kann, und - sofern diese Frage als ganze zu bejahen ist- (2.) dies auch unter den Bedingungen des pluralistischen Staates gilt. Beide Fragen sind deshalb zu trennen, weil immerhin die Denkmöglichkeit besteht, daß es entgegen der ethischen Staatszwecktheorie nicht nur dem pluralistischen Staat, sondern dem Staat überhaupt versagt ist, durch Wahrung außerrechtlicher Normen in den Selbstregelungsbereich der Gesellschaft hinüberzugreifen. Beide sind ferner in sich deshalb nach Staatsaufgaben und Polizeiaufgaben zu untergliedern, weil nicht ausgemacht ist, daß eine Staatsaufgabe automatisch eine solche ist, die der Staat durch seine Polizeiorgane wahrnehmen zu lassen vermag. 1. Die Beantwortung der Frage nach der unmittelbaren, mithin durch keine Umsetzung in Rechtsnormen vermittelten Wahrungsfähigkeit von Moralnormen durch den Staat - und sie bedingt diejenige durch die Polizei - erfordert, den Unterschied von Moralnormen und Rechtsnormen in das Bewußtsein zu rücken. Dabei bleibt die Überlegung solange vordergründig, wie allein darauf abgehoben wird, daß beide Normenkategorien dem Bereich der Sollensordnung angehören- und zwar auch die Moralnormen, weil Wertungen als jene Akte, durch die ein Verhalten als normgemäß oder normwidersprechend beurteilt wird, zwar Seinstatsachen sind (was übrigens in gleicher Weise auch für die Rechtsnormen gilt), weil aber jene diesen Wertungen zugrunde liegenden Maßnahmen ein Sollen vorschreiben53 • Man muß sich diesen Unterschied klar machen um zu erkennen, daß die inderneueren Polizeirechtsliteratur anzutreffende Umetikettierung der "Sittennormen" in "Wertvorstellungen" als Inhalt der öffentlichen Ordnung keinen Unterschied in dem diese konstituierenden Normbereich auslöst, sondern allein eine - übrigens der Logik schlicht widersprechende - Verschiebung 53 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 25 ff., 60 ff.; ders., Recht und Moral, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, hrsg. Klecatsky, Marcic, Schambeck, Bd. 1, Wien -Frankfurt -Zürich- Salzburg-München 1968, S. 797 ff. Die scheinbare Modifl.zierung bei Verdross, Die systematische Verknüpfung von Recht und Moral, ebd., S. 515 ff., wirkt sich nur auf der Ebene der hypothetischen Grundnorm aus.

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des Sollensbereichs auf den Seinsbereich darstellt, der an der Sache selbst nicht das Geringste ändert. Im Vordergrund bleibt die Argumentation aber auch noch, solange nur berücksichtigt wird, daß nicht nur die Verletzung von Rechtsnormen, sondern auch diejenige von Moralnormen Sanktionen auslöst, wenn diese auch unterschiedlicher Natur sind: Die in einer Gesellschaftsordnung statuierten Sanktionen haben -mit Hans Kelsen gesprochen54 - gesellschaftstranszendenten Charakter, soweit sie nach dem Glauben der ihnen unterworfenen Menschen von einer übermenschlichen Instanz ausgehen, gesellschaftsimmanenten, sofern dies nicht zutrifft. Jenes gilt nur für Moralnormen, dieses für Moral- oder Rechtsnormen; nur unterscheiden sich auch die gesellschaftsimmanenten Sanktionen bei Moral- und Rechtsnormen dadurch, daß jene wiederum allein in der Billigung oder Mißbilligung durch die übrigen Glieder der menschlichen Gesellschaft, diese dagegen in besonders geregelten, in einem besonderen Verfahren ergehenden Akten bestehen. ,Allein das erweckt schon Zweifel, ob die Wahrung von Moralnormen ohne entsprechende Sanktion dem Wesen des Staates noch entspricht, dieser seines Wesens als Zwangsordnung hierdurch nicht entkleidet wird. Die erforderliche Argumentationstiefe wird in diesem Zusammenhang jedoch erst erreicht, wenn die - keineswegs nur im "pluralistischen" Staat bestehende - Relativität der Moralnormen in Betracht gezogen wird55 • Erkennt man an, daß es absolute Moralnormen nur insoweit geben kann, wie sie als von einer transzendenten Autorität gedacht sind, daß sie ihre Absolutheit aber auch nur dem gegenüber äußern, der sich dieser Autorität unterstellt, so folgt hieraus notwendigerweise, daß aus sich selbst absolut wirkende Moralnormen nicht denkbar sind. Allgemeingültige, die Möglichkeit einer anderen ausschließenden Moral kann es nicht geben; Moralnormen sind zeitgebunden, ortsgebunden, auch klassengebunden und - was aber erst in späterem Zusammenhang erörtert werden soll - im pluralistischen Staat interessengebunden sowie von mancherlei anderen Umständen abhängig. Man mag die Rechtsordnung für so geschlossen halten, wie immer man will, die Moralordnung jedenfalls ist stets eine notwendigerweise offene. Diese - bewußte oder unbewußte - Erkenntnis liegt letztlich der in der geschichtlichen Entwicklung des Begriffs "öffentliche Ordnung" immer wieder anzutreffenden These zugrunde, jene "herrschenden Anschauungen", nach denen die Unerläßlichkeit der Beachtung ungeschriebener Regeln für das staatsbürgerliche Zusammenleben zu beurteilen sei, seien in Raum und Zeit 54 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 289 fi. i. V. m. S. 34 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, § 5, S. 16 ff., § 23 C, S. 130; ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 2. Aufl., Tübingen 1928, S. 75 ff. 55 s. hierzu Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 65 ff.

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variabel: Bei Licht besehen, wird hiermit nichts anderes als die Offenheit der Moralordnung angesprochen. Die tendenzielle Geschlossenheit der Normenordnung des Staates schließt mithin aus, daß die Moralnormen als solche die Staatsordnung konstituieren. Mehr als das, man würde sogar Bedenken hegen müssen, wenn der Staat durch globale Rezeption der Moralordnung eine scheinbare Rechtsordnung errichtete: Sie würde dem Bestimmtheitserfordernis nicht genügen und könnte infolgedessen auch kaum als Rechtsordnung angesprochen werden. Ist der Staat mithin nicht fähig, durch seine Behörden unmittelbar Moralnormen anwenden zu lassen, so bedeutet dies nicht, daß jede Verbindung von Recht und Moral geleugnet wird. Nur setzt die Wahrnehmbarkeit von Moralnormen deren Transformation in Rechtsnormen voraus, und diese kann allein durch parlamentarischen Hoheitsakt erfolgen58. Die gesetzliche Einführung eines Blankettbegriffs und seine Ausdeutung durch Rechtsprechung und Rechtslehre reichen hierzu nicht aus; insbesondere werden die Moralnormen auch nicht dadurch zu Rechtsnormen, daß sie als Gegenstand der öffentlichen Ordnung betrachtet werden. Gewiß ist es zutreffend, daß jede Norm eine potentielle Rechtsnorm ist, weil jeder Inhalt einer Moralnorm positives Recht wird, sobald er im Rechtserzeugungsprozeß in die Rechtsordnung aufgenommen wird. Gleichwohl kann die vereinzelt vertretene Auffassung57 nicht geteilt werden, der Rechtsbegriff "öffentliche Ordnung" sei schon allein durch Hinweis auf Normen der Moral oder Konvention fähig, diese in sich aufzunehmen, und die aufgenommenen Moralnormen erhielten hierdurch den Charakter von Rechtsnormen. Auf welche Weise eine derart geheimnisvolle Transsubstantiation stattfinden soll, ist nicht ersichtlich. Noch immer bedurftees-vom Gewohnheitsrecht einmal abgesehen- der Tätigkeit des Gesetzgebers, um einer Norm Rechtssatznatur zu verleihen. Das bedeutet nicht, daß der Gesetzgeber alle Regelungen expressis verbis selbst vornehmen müßte und ihm eine durch Verweisung vorgenommene Rezeption versagt wäre. Nur muß er ihre Geltung zumindest in seinen Willen aufgenommen haben, und wie das in diesem Zusammenhang angesichts der geschilderten Offenheit der Moralordnung möglich sein soll, bleibt schlechthin unerfindlich. Freilich müssen sich diese Thesen noch dem Einwand stellen, daß der Verfassunggeber selbst an einer zentralen Stelle - nämlich in der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG- global auf das Sittengesetz Bezug genommen hat. Man mag diese Verweisung, die sicherlich nicht nur ein Relikt der ethischen Staatszwecktheorie darstellt, sondern in der sich 51 Zu der hierbei gebotenen Zurückhaltung Werner, Recht und Toleranz, in: Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentags, Hannover 1962, Bd. IIIB, Tübingen 1964, S. 11. 57 Von Bumbacher, a.a.O., S. 28 f.

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das Bemühen widerspiegelt, rechtliche Fehlentwicklungen wie im nationalsozialistischen Staat tunliehst zu verhindern, für eine verfassungsrechtlich mißglückte, da nicht realisierbare Entscheidung halten und ihre Beseitigung den Themen eines Verfassungsreformkatalogs zuschlagen - die bestehende Rechtsordnung muß sich mit ihr abfinden. Immerhin ist es kennzeichnend, daß die Verfassungsrechtsprechung mit dem Sittengesetz als Grundrechtsschranke bisher wenig anzufangen wußte, obwohl es vom Boden der Immanenzlehre aus keineswegs nur Schranke des Art. 2 GG, sondern solche auch der sonstigen Freiheitsrechte ist58 • Die im Schrifttum zur Bedeutung des Sittengesetzes im Sinne Art. 2 Abs. 1 GG angebotenen Vorschläge gehen über diejenigen zur Bedeutung der öffentlichen Ordnung im polizeirechtlichen Sinne nicht hinaus; sie unterliegen mithin denselben Bedenken, wie sie soeben im Zusammenhang mit dieser skizziert wurden. Aber auch der Verzicht auf das Sittengesetz als Grundrechtsschranke brauchte nicht notwendigerweise zu jenem "hemmungslosen Sichaustoben" zu führen, wie es mitunter als Schreckgespenst an die Wand gemalt wird 59 • Noch immer bleibt der Gesetzesvorbehalt, soweit die Grundrechte einem solchen unterworfen sind und es erscheint keineswegs unbillig, dem Gesetzgeber eine entsprechende Regelung abzuverlangen, wo eine Schranke als notwendig erscheint -, noch immer bleibt auch das gesamte übrige Schrankensystem, und zwar unter Einschluß der "Rechte anderer" und der "verfassungsmäßigen Ordnung". Das Bundesverfassungsgericht beginnt soeben einen 58 Dürig, Art. 2 des Grundgesetzes und die Generalermächtigung zu allgemeinpolizeilichen Maßnahmen, AöR 79, 57 ff.; Maunz-Dürig-Herzog, Grundgesetz, München 1971, Art. 2 Abs. 1 RdZiff. 72 ff. - Auf die Kritik an der Immanenzlehre (insbes. durch W. R. Beyer, Anm. zu BGH, NJW 54, 713; Löffler, Darf die Verwaltung in das Grundrecht der Pressefreiheit eingreifen?, DÖV 57, 897 ff. [der, S. 899, die Begriffe "öffentliche Sicherheit und Ordnung" geradezu als magna charta aller totalitären Staaten bezeichnet]; Rohde-Liebenau, Grundrechte und Polizei, DÖV 57, 472ff.; K. Zeidler, Zur Problematik des Art. 2 Abs. 1 GG, NJW 54, 713), die sich weniger auf die Immanenz des Sittengesetzes als auf diejenige der verfassungsmäßigen Ordnung - zu der auch die öffentliche Sicherheit und Ordnung gezählt wird - bezieht, braucht in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen zu werden. Nur soviel sei gesagt, daß immerhin wenig von der Immanenz übrig bleibt, wenn schon nicht mehr die "verfassungsmäßige Ordnung" im Sinne aller formell und materiell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetze als immanente Schranke verwandt wird und auch gegen das Sittengesetz als solche erhebliche Vorbehalte bestehen. 59 Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart- Köln 1950, S. 24, sowie Maunz-Dürig-Herzog, a.a.O., Art. 2 Abs. 1 RdZüf. 81 Anm. 3. Zur Bedeutung des Sittengesetzes im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG dies., a.a.O., Art. 2 Abs. 1 RdZiff. 16; Hamann-Lenz, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 3. Aufl., Neuwied- Berlin 1970, Art. 2 Anm. B 7, deren These, bei der Bestimmung des Sittengesetzes müsse ein allgemeiner Maßstab angelegt werden, und es dürfe nicht auf örtliche Anschauungen abgestellt werden, zwar das Wünschenswerte, nicht aber das Realisierbare umschreibt; v. Mangoldt-KZein, Das Bonner Grundgesetz, 1. Bd., 2. Aufl., Berlin- Frankfurt/M. 1966, Art. 2 Anm. IV 3.

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ähnlichen Weg zu beschreiten, indem es statt des überkommenerweise als systematische persönliche Gewährleistungsschranke gedeuteten besonderen Gewaltverhältnisses die gesetzliche Regelung als Grundrechtsschranke fordert80 • 2. Das Ergebnis ist hiermit bereits gefunden: Schon allein die Offenheit oder- abermals mit Hans Kelsen gesprochen- Relativität der Moralordnung verbietet es, die "öffentliche Ordnung" im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne als (wenn auch nur teilweise) durch Moralnormen konstituiert zu betrachten. Das ist vorab allen denen entgegenzuhalten, die lediglich auf die Offenheit der Gesellschaftsordnung8 1 rekurrieren, um zu demselben Ergebnis zu gelangen. Indessen ergeben die Bedingungen des pluralistischen Staates zusätzliche Argumente, die es stützen; ihnen soll daher im folgenden nachgegangen werden. Die Frage nach dem Geltungsgrund des "Strafrechts in einer offenen Gesellschaft" hat vor einigen Jahren bereits Adolf Arndt aufgeworfen82 , sie stellt sich auch für denjenigen des "Polizeirechts in einer offenen Gesellschaft". Die Formulierung zeigt, daß es sich hier nicht allein um ein Thema der Rechtswissenschaft, sondern auch um ein solches der Sozialwissenschaften handelt; die Deduktionen sind mithin um eine Dimension zu bereichern, die der Polizeiwissenschaft des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts durchaus geläufig war- Hans Maier gebührt das Verdienst, das auch demjenigen ins Bewußtsein gerückt zu haben63 , der hiermit weniger vertraut ist -, die dagegen dem positivrechtlichen Fragestellungen zugewandten Konstitutionalismus - von Ausnahmen, wie Kurt Wolzendorff 64 , abgesehen- entglitten war. Das Grundgesetz, das die Bundesrepublik und ihre Verfassungsordnung zwar mit Attributen wie "freiheitlich", "demokratisch", "sozial" versieht, enthält sich ihrer ausdrücklichen Bezeichnung als "pluralistisch". Gleichwohl kann kein Zweifel bestehen, daß die geltende Verfassungsstruktur auch eine pluralistische ist. Im Gegensatz zu einer verbreiteten 80 BVerfGE 33, 1 (14: "Eine Differenzierung nach der sittlichen Qualität der Meinungen würde [den] umfassenden Schutz [durch Art. 5 Abs. 1 GG] weitgehend relativieren. Abgesehen davon, daß die Abgrenzung von ,wertvollen' und ,wertlosen' Meinungen schwierig, ja oftmals unmöglich wäre, ist in einem pluralistisch strukturierten und auf der Konzeption einer freiheitlichen Demokratie beruhenden Staatsgefüge jede Meinung, auch die von etwa herrschenden Vorstellungen abweichende, schutzwürdig"). 81 Zu den Begriffen der "Offenheit" und "Geschlossenheit" bereits M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., 1. Hlbbd., Tübingen 1956, § 10, S. 23 ff. 62 Arndt, Strafrecht in einer offenen Gesellschaft, in: Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentags, Nürnberg 1968, Bd. II/J, München 1968. Er gebraucht den Begrüf "offen" ausdrücklich im Sinne von "pluralistisch" (S. 5). 83 Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft), Neuwied- Berlin 1966. 64 Wolzendorff, a.a.O., passim.

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Auffassung, die den Pluralismus aus der Demokratie und aus dem Rechtsstaat herleitet, ihn geradezu als" Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie" 85 betrachtet, muß allerdings angemerkt werden, daß beide verfassunggestaltenden Grundentscheidungen keinesfalls den Pluralismus voraussetzen: Für die Rechtsstaatlichkeit bedarf dies keiner weiteren Darlegung, für die Demokratie gilt es gleichermaßen, wie schon allein der Umstand zeigt, daß antike Demokratien keineswegs einen auf ihrerseits erst durch moderne Technologie ermöglichte Kommunikation beruhenden Pluralismus kannten 66 • Das Bekenntnis zu einem solchen ergibt sich indessen aus einer Summe verfassungskonstituierender Elemente, von denen insbesondere die Grundrechte, aber auch die Dezentralisation genannt seien. Ist der pluralistische Staat durch seine Offenheit für unterschiedliche, oftmals gegenläufige Wertvorstellungen gekennzeichnet, so entsteht unausweichlich die Frage, auf die Seite welcher er sich hierbei schlagen soll. Sie mag insoweit relativ leicht zu beantworten sein, wie man der in der Pluralismustheorie verbreiteten Auffassung folgt, es gebe trotz der Vielfalt der in der pluralistischen Gesellschaft anzutreffenden Interessen und Vorstellungen eine Art Maximalkonsens über einen Mindeststandard von Gemeinsamkeit: So bemerkt etwa Ernst Fraenkel, die pluralistische Demokratie erkenne die Notwendigkeit eines generell akzeptierten Wertkodex an, der neben verfassungsrechtlichen Verfahrensvorschriften und Spielregeln eines fair-play auch ein Minimum von regulativen Ideen generellen Charakters enthalten müsse87 • Die pluralistische Theorie des Gemeinwohls bestreitet demgemäß überwiegend nicht, daß es Gebiete des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens gibt, 85 So der Titel des Festvortrags von Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatliehen Demokratie, in: Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentags, Karlsruhe 1964, Bd. II/B, München - Berlin 1964. Ähnlich Denninger, Polizei in der freiheitlichen Demokratie, S. 8, der - wie erwähnt- eine demokratischen und "deshalb" pluralistischen Vorstellungen nicht genügende Unterbilanz im Verständnis der Rechtsgrundlagen der Polizei feststellt; ähnlich ferner Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 369; Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972, S. 256; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., München 1971, § 19 Il, S.101. 66 Nur am Rande sei vermerkt, daß dies auch für das Mittelalter und was in diesem Zusammenhang wichtiger ist- die vorindustrielle Neuzeit nicht galt: Die Auffassung, der Pluralismus sei nur eine durch die Gewaltenteilung modifizierte Fortschreibung des Korparatismus der Ständegesellschaft - so Shell, Pluralismus, in: Handlexikon für Politikwissenschaft, hrsg. Görlitz, München 1970, S. 306 f!. (308 f.) - erscheint unzutreffend. Mit Recht a. M. z. B. v. d. Gablentz, Einführung in die Politische Wissenschaft, Köln - Opladen 1965, S. 67. Der nachfolgende Absolutismus aber war überhaupt pluralismusfeindlich, s. dazu Shell, a.a.O., S. 307, der mit Recht die Bedeutung des Pluralismus als Antithese zu dem monistischen Staats- und Souveränitätsbegriff Robbesscher Prägung hervorhebt. 67 Fraenkel, a.a.O., S. 8.

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über die ein consensus omnium besteht, sondern hält den Staat im Gegenteil überhaupt nur für lebensfähig, wenn über ein Minimum fundamentaler, darüber hinaus möglicherweise sogar über einige detaillierte Probleme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Übereinstimmung herrscht. Man mag hierzu stehen, wie immer man will: Auch wenn man dies anerkennt, bleiben weite Gebiete staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, über deren Regelung zwischen den einzelnen Gruppen Meinungsverschiedenheiten bestehen, und sie nimmt der Pluralismus- so nochmals Ernst Fraenkel - "nicht nur mit Gleichmut hin, sondern erachtet dies als unvermeidlich, ja geradezu als ein Indiz eines in Freiheit pulsierenden öffentlichen Lebens" 68 • Die Konsequenz ist evident: Allenfalls soweit es um jenen Minimalstandard geht, können außerrechtliche Wertvorstellungen polizeiliches Handeln determinieren. Nur eines Blicks auf die Diskussion um die Strafrechtsreform- etwa§ 218 StGB- bedarf es indessen um zu erkennen, wie schwer ein solcher zu umreißen ist - Rechtsprechung und Rechtslehre zeigen dasselbe Bild hinsichtlich jener außerrechtlichen Normen und Wertvorstellungen, denen die "öffentliche Ordnung" konstituierende Wirkung insinuiert wird. Damit aber bleibt das Erfordernis sonstiger Abgrenzung, wobei im Grunde nur zwei Kriterien diskussionswürdig erscheinen: a) Das erste bildet die von Adolf Arndt für sein Thema- das Strafrecht in der offenen Gesellschaft - erörterte Sozialschädlichkeit, die er im Anschluß an Thomas von Aquino in einer nicht mehr monolithisch durch denselben Glauben geeinten offenen Gesellschaft als einzigen Legitimationsgrund für alle unter "Strafrecht" zusammengefaßten Maßnahmen bezeichnet, wobei er sich freilich der "bitteren und erschreckenden Wahrnehmung" bewußt ist, daß zu ihrer Definition keine exakte Formulierung zur Verfügung steht69 • Schon allein diese Schwierigkeit hindert ihre Verwendbarkeit in dem hier in Rede stehenden Zusammenhang; hinzu kommt, daß sie auf das Kriterium der Öffentlichkeit und damit lediglich auf einen Bestandteil der über dieses hinausgehenden "öffentlichen Ordnung" hinweist. b) Damit bleibt in der Tat nur die Bezugnahme auf die "herrschenden Anschauungen", die- wie dargelegt- in Rechtsprechung und Rechtslehre in zwei Varianten erscheint: zum einen in der Weise, daß es auf die herrschenden Anschauungen unter Berücksichtigung ihrer örtlichen und zeitlichen Bedingtheit ankomme, zum anderen dergestalt, daß diese dann unbeachtlich seien, wenn eine zwar im Bezirk der zuständigen 58 Fraenkel, a.a.O., S. 8. Ähnlich SheH, a.a.O., S. 306. s. in diesem Zusammenhang auch Schlaich, a.a.O., S. 244, nach dem die pluralistische oder "neutrale Offenheit" heute Aufgabe einer freiheitlichen Verfassung ist. 59 Arndt, a.a.O., S.lO, 32.

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Polizeibehörde von der Mehrheit gebilligte Anschauung in "krasser Weise" von derjenigen auf supralokaler, insbesondere staatlicher Ebene abweicht70 - wofür immerhin spricht, daß der Begriff "Öffentlichkeit" auf Ubiquität verweist, der gegenüber Partikularinteressen zurüCkzustehen haben. Die Widersprüchlichkeit der beiden Formeln zeigt an, daß es der Rechtslehre mit der zuvor hypostasierten Relativität der "herrschenden Anschauungen" nicht mehr so ganz wohl ist, und dieses Unwohlsein ist im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz auch unausweichlich, will man nicht eine in zahlreichen Fällen der Überzeugungskraft entbehrende, angeblich sachlich gebotene Differenzierung der Wertvorstellungen und damit der polizeilichen Handlungsbefugnis behaupten. Schwerer als die in diesen beiden Varianten zum Ausdruck kommende Unsicherheit der Rechtslehre wiegt indessen, daß sich beide der Frage stellen müssen, wie denn eigentlich die herrschende Anschauung- sei es diejenige auf lokaler, sei es diejenige auf supralokaler Ebene - zu ermitteln ist. Beliebt geworden ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Demoskopie71 , der die hinreichende Exaktheit zugetraut wird zu ermitteln, welche Anschauungen herrschend sind. Indessen: So überzeugende Beweise für ihre Genauigkeit die Demoskopie bei neueren Wahlergebnishochrechnungen auch geliefert haben mag, hier geht es nicht um die Frage ihrer Exaktheit, sondern ihrer Tauglichkeit überhaupt. Sie zeigt zwar die Addition von Meinungen, nicht aber den Konsens an, was die bis zum Überdruß wiederholte Formel, daß sich mit ihrer Hilfe zwar die volonte de tous, nicht aber die volonte generale ermitteln läßt, längst hätte erweisen sollen. Der dialektische Prozeß der divergierenden Ideen und Interessen, als deren Ergebnis sich das Gemeinwohl in einer pluralistischen Gesellschaft zeigt7 2 , setzt mehr voraus als die demoskopische Umfrage. Hinzu kommt, daß sich der Verfassunggeber nun einmal für die parlamentarische Repräsentation, nicht aber für das Plebiszit entschieden hat. Der Weg der Demoskopie, den auch das Parlament - trotz der in seinen hearings zum Ausdruck kommenden institutionellen Offenheit für den Pluralismus- nicht geht, kann schon gar kein solcher sein, auf dem sich Exekutivbehörden ein Alibi für nicht hinreichend gesetzlich determiniertes Handeln verschaffen.

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Drews-Wacke a.a.O., § 6, 4, S. 76; H. H. Klein, DVBI. 71, 239. Götz, a.a.O., § 3 III 2 a, S. 46. Auch Friauf, a.a.O., S. 1&3, und H. H. Klein,

DVBI. 71, 239, lassen dies anklingen. 72 Fraenkel, a.a.O., S. 8; Huber, Staat und Verbände, Tübingen 1958, S. 17; Zippelius, a.a.O., § 19 II, S. 101. - Auch Dürig, AöR 79, 64, hebt hervor, daß das öffentliche Interesse als Ermächtigung jeden Staatshandeins mehr ist als eine bloße Summierung parallel laufender oder sich deckender Einzelinteressen.

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Damit ist der letztlich entscheidende Gedanke angesprochen: Mit einer Majorität läßt sich keine Legitimität. polizeilichen Handeins erzielen. Inwieweit das Majoritätsprinzip der Demokratie verhaftet ist, sei dahingestellt- wenn es auch als erwiesen erscheint, daß es keineswegs allein in dieser Staatsform verwurzelt ist, sondern als Rechtfertigungsgrund von Beschlüssen Bestandteil des aus germanischen, romanischen und kanonischen Quellen gespeisten mittelalterlichen, wie später naturrechtliehen Denkens ist7 3 • Selbst wenn man das Majoritätsprinzip aber als zumindest auch demokratisch verortet, pluralistisch ist es nicht, denn der Pluralismus ist gerade durch die prinzipielle Gleichrangigkeit der Interessen gekennzeichnet?'. Wie es in der pluralistischen Gesellschaftsordnung keine monopolisierte oder auch nur oligopolisierte, majoritätsdeterminierte Definitionskompetenz für das Gemeinwohl gibt, so gibt es auch keine solche für die öffentliche Ordnung, Die Frage, ob in einem pluralistischen Staat sogar das Parlament keine solche besitzt, braucht - da es hier nicht um dieses, sondern um die Polizeibehörden geht- in diesem Zusammenhang nicht im einzelnen erörtert zu werden. Soviel sei aber gesagt: .Der von der Pluralismustheorie mitunter vertretenen, auf einer Gleichstellung von Parlament und Interessengruppen beruhenden These, auch ihm komme keine derartige Zuständigkeit zu, kann nicht gefolgt werden. Gewiß ist der Pluralismus nicht erst unterhalb der Schwelle des Parlaments angesiedelt; strukturelle und personelle Verflechtungen mancher Art- letztere solche, durch die dieses eine "Verbandsfärbung" erhält- sind hierfür deutlicher Gegenbeweis. Dennoch kann das Parlament auch im pluralistischen Staat nicht auf dieselbe Ebene wie Interessengruppen gestellt werden. In einem Staat, der unterschiedlichen Interessen und Wertvorstellungen Raum gibt, damit aber die Gesellschaft noch nicht der.;_ zumindest die Chancengleichheit aller ihrer Kräftefelder voraussetzenden - Selbstregulierung75 ausliefert, ist das Parlament - und hier treffen Pluralismustheorie und Repräsentationstheorie aufeinander - das kompetente Organ, um das Gemeinwohl und ebenso die öffentliche Ordnung zu artikulieren, wobei es zwar unterschiedliche Vorstellungen berücksichtigen soll, sich aber nicht in ihrer Integration zu erschöpfen braucht78 • Hieraus ergibt sich zugleich, 73 Zur geschichtlichen Entwicklung des Mehrheitsprinzips ausführlich Baltzer, Der Beschluß als rechtstechnisches Mittel organschaftlieber Funktion im Privatrecht, Diss. Marburg 1964, S. 186 ff. 14 s. z. B. Sontheimer, Pluralismus, in: Staat und Politik, hrsg. FraenkelBracher, 176. bis 226. Tausend, Frankfurt/M. 1964, S. 254. 75 Hierzu Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt/M.1971, S. 54 ff.; Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1966, § 29, S. 504 ff., § 32 U 1, S. 629 ff. 18 Skeptisch gegenüber der Integrationsfähigkeit des Parlaments einer Frage, die hier nicht vertieft werd(m kann- Herzog, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1545 f. A. M. z. B. Loewenstein, a.a.O., S. 368, der sie für möglich hält und den Gruppen hierbei die Rolle einer Schranke gegenüber dem all-

3 Festschrift für H. U. Scupin

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daß sich die Forderung, die Elemente der öffentlichen Ordnung in Rechtsnormen zu kleiden, im Parlament an den richtigen Adressaten wendet. Aus den vorstehenden Überlegungen folgt weiterhin, daß der als Gegenargument gegen die Bezugnahme auf die "herrschenden Anschauungen" anzutreffende Ruf nach einem Minderheitenschutz77 schlicht verfehlt ist. Zwar ist keineswegs allein der Parlamentarismus auf einen solchen abonniert, wie schon der Umstand zeigt, daß es außer parlamentarischen nationale Minderheitenrechte gibt. Der Rückgriff auf den Minderheitenschutz wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß dieser in der Demokratie verankert wäre. Der Hinweis auf sie ist vielmehr wenig ergiebig; denn wenn schon nicht das ganze Volk oder seine Repräsentanz zu derselben Sachentscheidung kommt, so entspricht es dem Willen des gesamten Volkes jedenfalls eher, wenn derjenige der Mehrheit und nicht derjenige einer Minderheit zur Grundlage einer Entscheidung gemacht wird78 • Doch ergibt sich gerade hieraus, daß gegen die Mehrheit ausübbare Minderheitenrechte sich nur auf Verfahrens-, nicht aber auf Sachfragen beziehen können, wie dies im Parlamentsrecht auch der Fall ist. Daraus aber folgt weiterhin, daß der Minderheitenschutz im Bereich der öffentlichen Ordnung nicht nur durch das Opportunitätsprinzip abgefangen werden kann- woran die Befürworter eines solchen immerhin auch noch hätten denken können -, sondern daß er zur Lösung der Problematik ebenso irrelevant ist wie sein Korrelat, das Mehrheits,prinzip. Nach allem ergeben auch die Bedingungen des pluralistischen Staates die Unhaltbarkeit der These, die öffentliche Ordnung werde durch Wertvorstellungen oder durch außerrechtliche Normen der Sittlichkeit konstituiert. Sollen solche zum Schutzobjekt polizeilichen Handeins werden, so ist ihre vorherige Transformation in Rechtsnormen unerläßlich, und eine solche vermag allein das Parlament vorzunehmen. Ohne sie bleibt die Toleranz der alleinige Ordnungsfaktor für die Konkurrenz unterschiedlicher Wertvorstellungen und damit der Maßstab für das Unterlassen der Polizei wie für das Handeln des Gesetzgebers: "Der Gesetzgeber sollte es bedenken, daß wir in der Aufbruchsituation zu neuen mächtigen Leviathan zuerkennt. - Der Gegensatz, den beispielsweise Shell, a.a.O., S. 307, zwischen Pluralismus und Gemeinwohlartikulation durch den Staat sieht, ist nur vom Boden der Selbstregulierungsthese aus vertretbar. 77 Er findet sich z. B. bei Denninger, a.a.O., S. 31 f.; Krämer-Müller, Ordnungsbehördengesetz NW, 2. Auß., Köln 1971, § 1 RdZiff. 12. ,. .zu.m ~ehrheitsprinzl)l ~ au~n·Minderheitenachutz Im parla'mentartachen

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R8ilm Achte'rbet"Q, ·Gnmc!Zele ·det PVI~ta. Mllir'dlen •ttn,• s. ft; -Die Verankerung des Minderheitenrechts nicht in der Demokratie, sondern in der Rechtsstaatlichkelt nehmen zutreffend auch Denninger, a.a.O., S. 31; H. H. Klein, DVBl. 71, 239 vor; zu seiner Bedeutung nur für Verfahrens-, nicht

aber für Sachentscheidungen auch Schäfer, Der Bundestag, Köln - Opladen 1967, s. 74,80 f.

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Wertvorstellungen stehen, die der modernen Industriegesellschaft entsprechen. Wir leben in einer Übergangszeit, und die Toleranz gehört zur Ethik von Übergangszeiten711." IV.

Ist es nach den vorhergehenden Ausführungen unmöglich, daß die öffentliche Ordnung durch Normen der Sittlichkeit oder durch Wertvorstellungen konstituiert ist, so entsteht die Frage, ob sie als Grundbegriff des Polizei- und Ordnungsrechts infolgedessen überhaupt obsolet ist oder welcher Sinngehalt ihr sonst zukommt. Bereits vorab läßt sich dazu sagen, daß der These, sie sei als "Auffangtatbestand" unentbehrlich80, jedenfalls solange nicht gefolgt werden kann, wie nicht präzisiert ist, was denn überhaupt aufgefangen werden soll. Der über den Bereich der Sittlichkeit hinausgehende Inhalt der öffentlichen Ordnung wurde jüngst von Volkmar Götz darauf geprüft, ob er die Aufrechterhaltung dieses Schutzobjekts gebietet81 . Seinen Ausführungen - die zu einem negativen Ergebnis kommen- ist im ganzen zuzustimmen; einige Ergänzungen und Akzentverlagerungen sind allerdings geboten. 1. Die von Götz mit an den Anfang gestellte Frage, ob undgegebenenfalls inwieweit die Wahrung des religiösen Empfindens und des religiösen Friedens zur öffentlichen Ordnung zählt, bedarf- da in die allgemeine Problematik des Verhältnisses von Staat und Kirche eingebettet -einiger Vertiefung. Der Polizeirechtler, der sich bei der Erörterung des hier behandelten Themas bereits mit der Staatstheorie, der Philosophie und den Sozialwissenschaften konfrontiert sah, gerät unversehens auf das Feld des Staatskirchenrechts - Beweis für die wie ein Netzwerk erscheinende vielfältige Verflochtenheit des Polizei- und Ordnungsrechts mit juristischen und nichtjuristischen Nachbardisziplinen.

Geht man davon aus, daß die verfassungsrechtlich vorgesehene Trennung von Staat und Kirche nicht im Sinne eines Laizismus zu verstehen ist, auf den sie neuerdings ein sich unter dem Deckmantel des Liberalismus verbergender handfester Antiklerikalismus zurückführen möchtesz, 7t Wemer, a.a.O., S. 12. S. ferner S. 6, 7, 13, zur Bedeutung der Toleranz als Aufgabe für Staat und Recht, insbes. als Rechtsauslegungsmaßstab in der offenen Gesellschaft. Auf Wemerbezieht sich auch Amdt, a.a.O., S.8; die Verbindung zwischen Pluralismus und Industriegesellschaft ziehen auch Fraenkel, a.a.O., S. 29; Loewenstein, a.a.O., S. 372; Shell, a.a.O., S. 309 (der freilich, S. 310, auch auf die von einigen Pluralismustheoretikern vertretene These von der Unfähigkeit des modernen techno-strukturierten Staates zu "genuin pluralistischer Differenzierung" hinweist). Noch weitergehend Schlaich, a.a.O.,

s. 254.

so Wacke, AöR 97, 600. Götz, a.a.O., § 3 III 2 c, S. 47 ff.

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Der Vorgang bestätigt exemplarisch die auch von wissenschaftlicher Seite

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so bleibt als Sinn der Trennung die Nichtidentifikation des Staates mit einer bestimmten Religionsgesellschaft oder- sofern überhaupt denkmöglich - mit mehreren bestimmten Religionsgesellschaften. Dieser Tatbestand, über den weithin bestehende Einigkeit konstatiert werden kann 83 , besitzt- wie sich sogleich zeigen wird- polizeirechtliche Relevanz. Dabei kann die mit diesem Ergebnis noch nicht beantwortete Frage auf sich beruhen, wie sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche auf der Grundlage der Nichtidentifikation im einzelnen darstellt: ob als solches der Koordination-wie es die Staatskirchenrechtslehre der ersten zwanzig Nachkriegsjahre von Rudolf Smend über Werner Weber und Hans Peters bis zu Alexander Hollerbach überwiegend sah - oder als solches staatlicher Superiorität - wie es unter Hinweis auf die Souveränität, auf die sich aus der Neutralität des Staates ergebende Pflicht zur Wahrung der Parität sowie auf diejenige zur Garantie der religiösen Freiheitsrechte seit den "roaring sixties" vor allem von Helmut Quaritsch, aber auch von Ernst-Werner Fuß, Herbert Krüger und Klaus Obermayer betrachtet wird84 • Man mag die Koordinationsthese oder die Subordinationsthese vertreten85 - in keinem Fall wird eine Superiorität der Kirche längst aufgedeckte Beziehung zwischen Laizismus und Antiklerikalismus, vgl.

v. Campenhausen, Laizismus, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1203 f. (1203). 83 s. z. B. Fuß, Kirche und Staat unter dem Grundgesetz, DOV 61, 734 ff. (736); Hesse, Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen. Zur Gegenwartslage des Verhältnisses von Staat und Kirche in der Bundesrepublik, ZevKR 11, 337 ff. (354 f., 357); ders., Kirche und Staat, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 904 ff. (920 ff.); Obermeyer, in: Bonner Kommentar, Harnburg 1950 ff., Art. 140 RdZiff. 78; Schlaich, a.a.O., S. 237 ff. 84 Kennzeichnend Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, ZevKR 1, 4 ff. (= ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1954, S. 411 ff.); Weber und Peters, Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, VVDStRL 11, 153 ff., 177 f.; Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1965, sowie demgegenüber Quaritsch, Kir-

chen und Staat. Verfassungs- und staatstheoretische Probleme der staatskirchenrechtlichen Lehre der Gegenwart, Staat 1, 175 ff., 289 ff.; ders., Neuesund Altes über das Verhältnis von Kirchen und Staat, Staat 5, 451 ff.; Fuß, DOV 61, 734 ff.; Krüger, Rezension zu Hesse: Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, ZevKR 6, 72 ff.; ders., Verfassungsänderung und Verfassungsauslegung, DOV 61, 721 ff. (727); Obermayer, Staatskirchenrecht im Wandel, DOV 67, 9 ff. Vorbehalte gegen die Koordinationsthese, die "koordinierende Dyarchie öffentlicher Gewalten", aus anderem Grunde- der Inkommensurabilität von Staat und Kirche - bei Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, Göttingen 1956, S. 64 ff., insbes. S. 81 f.; ders., ZevKR 11, 361 f. Zahlreiche der zuvor genannten Abhandlungen sind auch enthalten in: Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, hrsg. Quaritsch-Weber (=Dokumentationen zum öffentlichen Recht, hrsg. Lerche, Bd. 1), Bad Homburs v. d. H. - Berlln - ZQrtc:h 198'1. -.Ubersldlt über die ne~re Ent\Vkklung Uhd das ein~lgtg~ ~ audf'&et Bt' "1819 gegründete Gesamtorganisation der deutschen Einzelstudentenschaft bzw. Allgemeinen Studentenausschüsse" (S. 225). In der Tat verstand sich die Deutsche Studentenschaft in der 1. Würzburger Verfassung v. 19. Juli 1919 (bei Volkmann, S. 179) unbefangen als "Vertretung der deutschen Studentenschaft" (§ 2) - nämlich der ,.Studierenden deutscher Abstammung und Muttersprache 11

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Das Weimarer Studentenschaftsrecht hatte so die Funktion, mittels der Kombination von staatlicher Anerkennung der lokalen Studentenschaften als eines verfassungsmäßigen Gliedes ihrer jeweiligen Hochschule (§§ 1 Abs. 1 und 2, 5 StudVO 1920) und dem Recht dieser lokalen Studentenschaften, sich zu einer allgemeinen oder zu einer deutschen Studentenschaft zu vereinigen (§ 1 Abs. 3 StudVO 1920), die Deutsche Studentenschaft als politischen Studentenverband durch mittelbare staatliche Anerkennung als Repräsentanz der gesamten deutschen Studentenschaft zu monopolisieren und damit gegenüber anderen politischen Studentengruppierungen auf Reichsebene zu privilegieren14 • Durch das preußische Studentenschaftsrecht war damit "der feste Unterbau der als Gesamtverband der staatlichen Anerkennung ja nicht zugänglichen Deutschen Studentenschaft gesichert" 16• Infolge dieser Bedingtheiten - die mit der allgemeinen politischen Geschichte der Republik von Weimar eng verflochten sind und hier nicht im einzelnen dargestellt werden können- fungierten die Normen des staatlichen Studentenschaftsrechts auf der politischen Bühne als Versatzstücke, deren Verwendbarkeit davon abhing, ob sie sich der durch die wechselnden Verfassungen der Deutschen Studentenschaft18 geprägten Szenerie einfügten oder nicht. Wo der Toleranzrahmen des staatlichen Rechts zu eng gezogen zu werden drohte, wußten die maßgebenden Kräfte der Deutschen Studentenschaft entweder dies zu verhindernso bei der drohenden Verschärfung des Studentenschaftsrechts im Zusammenhang mit der sog. Göttinger Notverfassung- oder der Beschneider Hochschulen des deutschen Sprachgebietes" (§ 1) -, die aus der Gesamtheit der einzelnen Vertretungen der deutschen Studentenschaften aller deutschen Hochschulen gebildet war (§ 2), um in allen der deutschen Studentenschaft gemeinsamen Angelegenheiten, insbesondere in bildungs- und wirtschaftspolitischen Fragen, Stellung zu nehmen und entsprechende Maßnahmen durchzuführen. 14 Insofern ist die Geschichte des Weimarer Studentenschaftsrechts ein negatives Lehrstück dafür, daß die Mitwirkung (lediglich) der "Betroffenen" keineswegs den ihr vielfach zugesprochenen Demokratisierungseffekt hat, weil die speziellen Interessen der "Betroffenen" auf diese Weise nicht durch ständige Rückbindung an die Interessen der Allgemeinheit relativiert, sondern absolut gesetzt und damit hypertroph werden. 15 Zorn, S. 266. Vgl. auch .Bartsch, S. 17 f.; Kersten, S. 106 ff.; Schapals, S. 42 f.; Thieme, Deutsches Hochschulrecht 1956, S. 333. 11 Bis zur Verfestigung der Deutschen Studentenschaft als eines mehrheitlich eindeutig völkisch ausgerichteten Verbandes spiegelt sich ihre Entwicklung in den folgenden Verfassungen bzw. Verfassungsentwürfen: (1.) Würzburger Verfassung v. 19. Juli 1919 (Volkmann, S. 179); Göttinger Verfassung v. 22./27. Juli 1920 (Volkmann, S. 213); Erlanger Verfassung v. 30. Juni/ 7. Juli 1921 (Volkmann, S. 239, 244); Göttinger Notverfassung v. 18. Januar 1922 (Volkmann, S. 265); Rheinische Verfassung v. 31. Mai 1922 (Volkmann, S. 276); (2.) Würzburger Verfassung v. 23. Juli 1922 (Volkmann, S. 287). Zur Verfassungsgeschichte der Deutschen Studentenschaft: Volkmann, passim; Schwan, S. 233 ff.; Zorn, S. 247 ff.

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dung der von ihnen in Anspruch genommenen Rechte notfalls unter Preisgabe der staatlichen Anerkennung zu entgehen- so bei der Ablehnung der preußischen Studentenschaftsverordnung von 1927. Die klarsichtige Bemerkung Volkmanns, die preußische Studentenschaftsverordnung von 1920 bilde (in der durch die Studententage markierten Verfassungsentwicklung der Deutschen Studentenschaft) einen "Abschluß nur insofern, als sie das wn der Studentenschaft vorbereitete Studentenrecht von Staats wegen schafft" 17, umreißt die Schwäche dieses Studentenschaftsrechts, das den örtlichen Gliederungen eines außerhalb der Hochschulen stehenden politischen Studentenverbandes vergeblich den Charakter innerakademischer Glieder beizulegen versuchte und kurzerhand - in der Abstimmung über die Bildung von Studentenschaften nach der Studentenschaftsverordnung von 1927 18 - beiseitegeschoben wurde, als es mit den Strukturprinzipien der Deutschen Studentenschaft in einen unüberbrückbaren Gegensatz geriet19 • Nur wegen dieser gleichmäßigen, vereinheitlichenden Bezogenheit auf die Struktur der Deutschen Studentenschaft ist es überhaupt berechtigt, das buntscheckige Formenkonglomerat20 , in dem sich die staatliche Studentenpolitik der Weimarer Zeit niedergeschlagen hatte und das vom Gesetz21 über Verordnungen22 bis zur bloßen- an den Grundsätzen der preußischen Studentenschaftsverordnung von 1920 ausgerichteten - ministeriellen Praxis23 reichte, unter der vereinheitlichenden Bezeichnung "Weimarer Studentenschaftsrecht" zusammenzufassen. Hier erwuchs· die vereinheitlichende Kraft der preußischen Studentenschaftsverordnung von 1920 aus dem Umstand, daß sie auf einer Übereinkunft der Deutschen Studentenschaft mit dem preußischen Kultusministerium beruhte, daß die in dieser Übereinkunft beschlossene Privilegierung der im gesamten Reich und über dessen Grenzen hinaus wirkenden Deutschen Studentenschaft als in seinen Untergliederungen staatlich anerkannter Verband nur sinnvoll war, wenn sie nicht nur für Preußen, sondern im gesamten Reich 17 18

Volkmann, S. 78.

Preußische Verordnung über die Bildung von Studentenschaften v.

23. September 1927, ZBl. UV S. 325. Mit Ausnahme der Akademie Braunsberg

lehnten die Preußischen Studentenschaften die Bildung von Studentenschaften neuen Rechts ab bzw. machten (Aachen und Münster) durch Wahlenthaltung die Abstimmung ungültig (Zorn, S. 292 f.; Schapals, S. 54 ff.). te Dazu noch weiter unten im Text. 10 KeTaten, S. 106 ff. ' ~ Hambui'sisd'les Hodladlulgesetz vom, rmel ohne weiteres in das nationalsozialisttadle Studen~eeetz ~en. werden. Vgl.~Utiten Note 82. 11 § 1 der (1.) Würzbu~er V~rfasiWlg. · · · · · · ·· ' · · ' az Bartsch, S. 17; Inner-Benecke, S. 92; Volkmann, S. 19 ff.; Zorn, S. 262. aa § 1 der Göttinger Verfassung. 34

Volkmann, S. 78,45 f.; Schwarz, S. 238.

as § 5 StudVO 1920.

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poration zu schaffen, ohne jedoch diese Korporation auf einen akademischen Status zu gründen, macht nicht nur die Unaufrichtigkeit der Studentenschaftsverordnung von 1920 aus36, sondern spaltete von der Gruppe der voll immatrikulierten Studenten die Ausländer und Staatenlosen soweit diese nicht nach § 1 Abs. 2 StudVO 1920 Mitgliedschaftsrechte erlangtenl7 - als akademische Bürger minderen Rechts: Die Studentenschaft nahm mit der "Vertretung der Gesamtheit der Studierenden" 38 auch die Interessen der ihr möglicherweise mitgliedschaftlieh nicht zugehörigen Ausländer und Staatenlosen wahr, oder besser: bestimmte darüber, was als Interessen dieser Studierenden angesehen und wie diese Interessen berücksichtigt werden sollten. Die der Bemäntelung dieses - von der Deutschen Studentenschaft mit klarerem Ausdruck gewünschten3g - Zustandes dienende Vorschrift, die Studentenschaft werde von dem zuständigen Minister "als Zusammenschluß aller (!) an der Hochschule zugelassenen (!) Studierenden anerkannt"'0, verdeckt nicht, sondern zeigt, daß es der preußischen Studentenschaftsverordnung nicht um die Bildung einer innerakademischen Korporation, sondern um die Institutionalisierung außeruniversitärer Gruppierungen im akademischen Raum ging. Wenn die Studentenschaft die an der Hochschule immatrikulierten deutschen Staatsangehörigen 18 Nach Derichsweiter (S. 74 f.) hob der Osterreichische Verfassungsgerichtshof durch Entscheidung vom 20. Juni 1931 die vom akademischen Senat der Universität Wien erlassene Studentenordnung - die die Studierenden in Studentennationen einteilte und die Zugehörigkeit der einzelnen Studierenden zu diesen Nationen auf Abstammung und Muttersprache gründete- als gesetzwidrig auf, da es sich bei den Studentennationen nicht um ,.innerakademische Gebilde" handele. 17 § 1 Abs. 2 StudVO diente der Durchsetzung der Beschlüsse des Dresdener und des Göttinger Studententages. Das bei lrmer-Benecke (S. 131) abgedruckte Muster einer Studentenschaftssatzung sieht vor, daß ,.die voll eingeschriebenen Studierenden deutscher Staatsangehörigkeit sowie die nicht eingebürgerten volleingeschriebenen Studierenden deutscher Abstammung und Muttersprache" die Studentenschaft bilden. Die Denkschrift des Vorstandes der Deutschen Studentenschaft zur Neuregelung des preußischen Studentenrechts v. 17. August 1922 (Volkmann, S. 233) bemerkt, ,.die übergroße Mehrzahl" der preußischen Studentenschaften lasse außer den Reichsangehörigen nur die Ausländer deutscher Abstammung und Muttersprache zu. ss § 2 Abs. 1 Buchst. a StudVO 1920. 31 Der Dresdener Studententag hatte folgende Fassung vorgeschlagen (vgl. Irmer-Benecke, S. 93 ff.): ,.Die immatrikulierten Studierenden deutscher Staatsangehörigkeit sowie diejenigen deutscher Abstammung und Muttersprache einer Universität oder einer Technischen Hochschule bilden die ,Studentenschaft'. Die Studentenschaft wird vom Minister ... als Zusammenschluß dieser Studenten staatlich anerkannt, wenn sie darauf anträgt und sich eine Satzung gegeben hat, die den Vorschriften dieser Verordnung entspricht. Den Studentenschaften der einzelnen preußischen Hochschulen steht es frei, sich untereinander sowie mit entsprechenden Organisationen zu einer allgemeinen oder zu einer deutschen Studentenschaft zu vereinigen." co § 1 Abs. 1 S. 2 StudVO 1920.

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zur Vertretung der Gesamtheit aller an der Hochschule zugelassenen Studierenden zusammenfaßte, so waren damit die von der Studentenschaft wahrzunehmenden Aufgaben- auch soweit diese hochschulbezogen waren- nicht als akademische, sondern als staatsbürgerlich-nationale Aufgaben definiert und mithin letztlich auch nicht auflokaler, sondern auf nationaler Ebene zu erledigen. Die Vorschrift des § 1 Abs. 3 StudVO 1920, die den lokalen Studentenschaften die Befugnis gab, sich mit entsprechenden Organisationen "zu einer allgemeinen oder zu einer deutschen Studentenschaft" zu vereinigen- d. h. nicht nur einem nationalen Dachverband, sondern einem nationalen Zentralverband beizutreten und damit zu Untergliederungen dieses nationalen Studentenverbandes zu werden41 - , schuf hierfür die Voraussetzungen. Die so bestimmte Struktur der lokalen Studentenschaften deutet bereits auf die in sich widersprüchlichen Verschränkungen hin, in die die Studentenschaften nach dem Weimarer Studentenschaftsrecht eingeflochten waren: Als lokale - in dieser Hinsicht eigenständige - Studentenschaft und als Glied ihrer Hochschule war die örtliche Studentenschaft nach der Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft, ihrer Zuordnung nur zu einem begrenzten örtlichen Bereich und ihrer Einfügung in die Organisation einer bestimmten Hochschule nicht dazu berufen, als Untergliederung eines auf nationaler Ebene wirkenden politischen Studentenverbandes zur Durchsetzung der Ziele dieses Verbandes zu sprechen und tätig zu werden. Soweit dieselbe Studentenschaft dagegen als Untergliederung des nationalen politischen Studentenverbandes nicht lediglich zur Mitarbeit in dessen Organen, sondernzur AusführungundDurchsetzung der Verbandspolitik im Rahmen ihrer Hochschule tätig werden wollte, konnte sie sich hierfür nicht auf die Aufgaben berufen, die ihr als einem Glied ihrer Hochschule zugewiesen waren42 • Da das Weimarer Studentenschaftsrecht diese beiden in ganz unterschiedliche Aufgabenbereiche, Aufgabenstrukturen und Erledigungszusammenhänge eingebetteten Bezüge nicht voneinander trennte, sondern schon in den Bestimmungen über die Organisation der Studentenschaft kombinierte und kumulierte, gab es den lokalen Studentenschaften die Möglichkeit, als örtliche Agenturen des nationalen politischen Studentenverbandes - der Deutschen Studentenschaft - in den hochschulinternen studentischen und akademischen Angelegenheiten tätig zu werden. b) Diese schon in der Organisation der lokalen Studentenschaften an-

gelegte Vberlagerung und Verdrängung ihrer Tätigkeit als Glieder ihrer 41 Tatsächlich war die Deutsche Studentenschaft bei Erlaß der Studentenschaftsverordnung längst als ein solcher Zentralverband konstituiert. Die Vorschrift des § 1 Abs. 3 StudVO 192() brachte nur die Legalisierung -dieses Zustandes. 42 Vgl. in diesem Zusammenhang Köttgen, S. 165 ff.

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Hochschule durch ihre Tätigkeit als örtlicher Untergliederungen der Deutschen Studentenschaft wurde durch den in § 2 StudVO 1920 aufgeführten Aufgabenkatalog des Studentenschaftsrechts abgerundet. Organisationsbestimmungen und Aufgabenzuweisungen wirkten dahin zusammen, daß der Charakter der Studentenschaften als örtlicher Zusammenschlüsse zur Erledigung lokaler innerakademischer bzw. innerstudentischer Angelegenheiten immer mehr hinter ihrer Funktion als örtlicher Untergliederungen der Deutschen Studentenschaft zurücktrat. Für diesen Sachverhalt ist vornehmlich die Vorschrift des § 2 Abs. 1 Buchst. d StudVO 1920 kennzeichnend, die der lokalen(!) Studentenschaft die "Einigung über die Parteien hinaus zur Mitarbeit am kulturellen und wirtschaftlichen Aufbau Deutschlands" zuwies. Tatsächlich waren mit dieser - im Verordnungsentwurf des Kultusministeriums nicht enthaltenen und erst auf Wunsch der Deutschen Studentenschaft eingefügten43 Bestimmung unter dem Vorwand einer angeblich überparteilich-nationalen, in Wahrheit jedoch notorisch" antiparlamentarischen Zielsetzung grundlegende politische Tendenzen der Deutschen Studentenschaft45 in das staatliche Studentenschaftsrecht eingebracht und deren Verwirklichung den örtlichen Untergliederungen der Deutschen Studentenschaft als staatlich anerkannten lokalen Studentenschaften ermöglicht worden. Überhaupt ist die "Einigungs"-Formel, deren politische Zielsetzung sich erst in der konkreten Analyse erschließt, ein symptomatisches Beispiel für die Indienstnahme des Staates für die Zwecke der Deutschen Studentenschaft, die sich durch die Vereinbarung vager oder mehrdeutiger Formulierungen einerseits den gewollten Aktionsraum geschaffen, andererseits aber nicht auf die staatliche Interpretation dieser Übereinkunft festgelegt hatte. Es kennzeichnet nur die Schwäche des staatlichen Studentenschaftsrechts, wenn Wende den durch die "Einigungs"-Formel geschaffen Irmer-Benecke, S. 100 f.

44 Irmer-Benecke kommentieren (S. 100 f.): "Es mag auf den ersten Blick überraschen, daß eine derartige Bestimmung in einer Staatsministerialverordnung enthalten ist: sie fehlt auch tatsächlich in dem ersten Entwurf und ist erst auf ausdrücklichen Wunsch des Studententages eingefügt. Der Vorl!itzer der Deutschen Studentenschaft schreibt in seiner Denkschrift: ,Die Deutsche Studentenschaft hat, so lange es deutsche Hochschulen gibt, es als ihre vornehmste Aufgabe betrachtet, alle Kräfte dem Vaterland zu weihen. Es wäre verwunderlich, wenn in Deutschlands schwerster Zeit die Studentenschaft anders denken würde ... ' Die Studentenschaft steht in ihrer überwiegenden Mehrheit dem Parlamentarismus ablehnend gegenüber. ,Wir wissen', so heißt es an einer anderen Stelle der Denkschrift, ,daß nicht die Parteien uns das Heil bringen können, sondern nur selbstlose Arbeit zum Wohle des Ganzen'." 45 Nach§ 2 der Göttinger Verfassung behandelt die Deutsche Studentenschaft "aus der Grundeinstellung einer immer engeren Verknüpfung der Hochschule und ihrer Bürger mit der Volksgemeinschaft ... alle die Studentenschaft bewegenden vaterländischen, sozialen und Kulturfragen.... Fragen des Glaubensbekenntnisses und der Parteipolitik sind von der Behandlung ausgeschlossen".

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nen Sachverhalt noch 1930 -nach dem offenen Scheitern des preußischen Studentenschaftsrechts - dahin umschreibt, es habe sich bei dieser Vorschrift um ein Zugeständnis "an die unter den Verhältnissen von 1920 besonders lebhaft betonte Bereitwilligkeit der akademischen Jugend zu einer überparteilichen Mithilfe an der Erneuerung des Vaterlandes" gehandelt'8 • Es bedeutete unter diesen Umständen auch wenig, daß den örtlichen Studentenschaften die Verfolgung parteipolitischer Zwecke untersagt war' 7• Auch diese Bestimmung korrespondierte mit entsprechenden Vorschriften der Satzung der Deutschen Studentenschaft'8 und erhielt über diese nicht eine überparteiliche, sondern eine antiparlamentarische Tendenz. Die Bestimmung des § 2 Abs. 1 Buchst. d StudVO 1920 hinderte so nicht, sondern ermöglichte es den lokalen Studentenschaften als örtlichen Agenturen48 der spätestens seit der 2. Würzburger Verfassung vom 23. Juli 1922 mehrheitlich völkisch-nationalistisch-großdeutsch bestimmten Deutschen Studentenschaft, unter dem Titel "vaterländischer" bzw. "nationalpolitischer" Aufgaben10 richtungspolitisch tätig zu werden11 • Demgegenüber traten die Aufgaben der Studentenschaften auf den Gebieten der akademischen und der sog. studentischen Selbstverwaltung aus verschiedenen Gründen zurück. Schon früh wurden die soziale Fürsorge und die wirtschaftliche Selbsthilfe in örtlichen "Wirtschaftskörpern" mit einem eigenständigen Zentralverband-der Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft e. V. - organisatorisch verselbständigt und gingen ihre eigenen Wege, die schließlich mit der Gründung der Studentenwerke zur völligen Lösung von den Studentenschaften führten12. Die studien- und fachspezifische Tätigkeit der Fachschaften war von untergeordneter Bedeutung und spielte im Bereich der Studentenschaften keine nennenswerte Rollen. c) Hatte sich die Deutsche Studentenschaft so mit Hilfe mehrdeutiger, unterschiedlich interpretierbarer vager Formulierungen des staatlichen 48 47

Wende, Grundlagen des preußischen Hochschulrechts, 1930, S. 183.

§ 2 letzter S. StudVO 1920. § 2 Abs. 4 der Göttinger Verfassung;

48 Stück 3 Abs. 2 S. 2 der (2.) Würzburger Verfassung. 41 (Nur) "in örtlichen Fragen" blieb die Selbständigkeit der einzelnen Studentenschaften unberührt (§ 3 der Göttinger Verfassung; Stück 4 der [2.] Wür&Dw1er VerfasauDI), • !'JIHMne, S. 132; CGftfi~ Da preu.Bt.Cb.e Studentenredlt. 1925, S. 20. 11 Instruktiv in diesem Zusammenhang Volkmann, S. 166 f. 11 Volkmann, S. 48 ff.; Schapals, S. 45 ff.; Wende, S. 188; vgl. auch Gerber, I, S. 129, und Schulze-Ssymank, Das deutsche Studententurn V-OP den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, 1932, S. 488. 63

Volkmann, S. 71 ff., 165.

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Studentenschaftsrechts64 einen Toleranzrahmen erkämpft, dessen Variationsbreite die Richtungskämpfe innerhalb dieses großdeutsch angelegten Verbandes bis hin zu der völkisch bestimmten Variante der Göttinger Verfassung von 1920 und der 2. Würzburger Verfassung v. 23. Juli 1922 abdecken konnte, so sah sie den hierdurch staatlich eingehegten und geschützten Aktionsraum als politischer Studentenverband als ihr eigentliches Tätigkeitsfeld an. Die Abschiebung ganzer- unpolitischer- Sachbereiche auf andere Träger und die Überbürdung der studien- und fachspezifischen Arbeit auf die Fachschaften berührte sie nicht. Dagegen wendete sie sich gegen alle Versuche, den von ihr in Anspruch genommenen und durch das staatliche Studentenschaftsrecht abgedeckten politischen Tätigkeitsraum zu verengen oder ihre Tätigkeit auf die Wahrnehmung spezifischer studentischer Interessen- auf eine abschätzig als "gewerkschaftlich"" gekennzeichnete Tätigkeit - einengen zu lassen. Dafür ist einmal der Kampf um die und die schließliehe Abwehr der sog. Göttinger NotverfassungH kennzeichnend, deren Annahme die (nach diesem Verfassungskonzept kleindeutsch strukturierte) Deutsche Studentenschaft und die örtlichen Studentenschaften auf die Wahrnehmung von staatlich besonders zugewiesenen akademischen Angelegenheiten, die wirtschaftliche Fürsorge für ihre Mitglieder, die Mitwirkung in den Wohlfahrtseinrichtungen für die Studierenden sowie die Pflege der Beziehungen zu ausländischen Studentenschaften beschränkt und somit Gelegenheit geboten hätte, den demgegenüber weiteren Toleranzrahmen des staatlichen Studentenschaftsrechts entsprechend zu verengen57. Zum anderen entzog sich die preußische Studentenschaft - mit Ausnahme der Akademie Braunsberg - der nach Jahren des Zauderns und der Unentschiedenheit58 viel zu spät mit der Studentenschaftsverordnung v. 23. September 19275' eingeleiteten Reduktion des staatlicherseits zugestandenen Tätigkeitsrahmenseo. Hierzu zählen insbesondere: a) § 1 Abs. 2 StudVO 1920, b) § 2 Abs. 1 Buchst. a StudVO 1920, c) § 2 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 StudVO 1920. 55 Vgl. etwa Schulze-Ssymank, S. 490. 58 Vom 18. Januar 1922, abgedruckt bei Volkmann, S. 265. 57 Entsprechende Anträge der preußischen Regierungsparteien lagen vor: Zorn, S. 272. Vgl. im übrigen zu der Entwicklung von der Erlanger Verfassung über die Göttinger Verfassung und die Rheinische Verfassung zur (2.) Würzburger Verfassung, in der sich die völkische Mehrheit endgültig konsolidierte: Schwarz, S. 239 ff.; Volkmann, S.llO ff.; Zorn, S. 271 ff. 58 Vgl. Zorn, S. 272 ff., 294; Schwarz, S. 239 ff. 58 ZBl. UV S. 325. 80 Vgl. zu diesen Vorgängen Zorn, S. 292 f.; auch Schapals, S. 54 ff. 54

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d) Schließlich ist zum Beleg dafür, daß das staatliche Recht die örtliche Studentenschaft letztlich nicht als Glied der universitären Korporation gebildet, sondern umgekehrt einer bereits vorgefundenen politischen Studentenorganisation durch deren örtliche Untergliederungen den Weg in die Hochschulen eröffnet hatte, das Ende der Deutschen Studentenschaft als vom NSD-Studentenbund "betreute Organisation" aufschlußreich81. Hatte das Reichsgesetz über die Bildung von Studentenschaften an den wissenschaftlichen Hoch- und Fachschulen62 die örtlichen Studentenschaften an den Hochschulen im Reichsgebiet als unmittelbar kraft Gesetzes konstituierte Glieder der Hochschulen auf der Grundlage der im völkischen Sinne interpretierten Zugehörigkeitsformel der 1. Würzburger Verfassung wiederhergestellt63, so zeigte sich doch schnell, daß die Studentenschaften und die Deutsche Studentenschaft ihre Grundlage verloren, sobald nicht mehr eine Vielfalt gesellschaftlicher Gruppierungen auch innerhalb des Rahmens der Deutschen Studentenschaft um die Durchsetzung ihrer politischen Forderungen rangen, sondern eine zur Staatspartei erhobene Gruppe das Monopol politischer Gestaltung für sich in Anspruch nahm. Mit dem Wegfall der die Deutsche Studentenschaft in der Weimarer Zeit tragenden unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen als möglicher Träger eines politischen Studentenverbandes mußte die Deutsche Studentenschaft selbst als selbständiger politischer Willensverband abtreten und zum Werkzeug der Staatspartei werden. 3. Als die örtlichen Studentenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Tätigkeit aufnahmen, war die Deutsche Studentenschaft auch als Organisation beseitigt84 • Mit ihr waren zugleich die Strukturprobleme, die von ihr auf die mitgliedschaftliehe Ausgestaltung und die Aufgaben der lokalen Studentenschaften ausgestrahlt hatten, verschwunden: Die neuen lokalen Studentenschaften konstituierten sich nicht mehr als Zusammenschlüsse der vollimmatrikulierten Studenten "deutscher AbWie Note 26. Vom 22. April1933, RGBl. I S. 215. Der vollständige Text lautet: § 1: "Die bei einer wissenschaftlichen Hochschule voll eingeschriebenen Studenten deutscher Abstammung und Muttersprache bilden unbeschadet ihrer Staatsangehörigkeit die Studentenschaft dieser Hochschule." § 2: "Die Studentenschaft ist Glied der Hochschule und vertritt die Gesamtheit der Studenten. Sie hat mitzuwirken, daß die Studenten ihre Pflichten gegen Volk, Staat und Hodlschule erfüllen." § ~-';.Das' Nllhet